»Wenn man zu schnell geht, bekommt man Falten«, sagte eine Nachbarin zu mir. Um mir das mitzuteilen, hatte sie mich auf...
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»Wenn man zu schnell geht, bekommt man Falten«, sagte eine Nachbarin zu mir. Um mir das mitzuteilen, hatte sie mich auf dem West Broadway angehalten. »Tatsächlich«, sagte ich. »Davon bin ich fel senfest überzeugt«, antwortete sie. Ich sah ihr Gesicht an. Sie ist um die Sechzig. Ihr Gesicht war verhältnismäßig faltenlos. »Ich kenne Sie«, sagte sie. »Sie gehen immer sehr schnell.« Damit hatte sie recht. Ich gehe gern schnell. Es ist gar nicht so einfach, auf den überfüllten Straßen Manhattans schnell zu gehen. Ein Jahr lang hat Lily Brett in der Wochenzeitung Die Zeit über ihr Leben in New York berichtet. Die Texte zeichnen ein Bild der Stadt und ihres Lebensgefühls; sie fügen sich aber gleichzeitig auch zu einem Selbstporträt der Autorin, die mit ihrer Offenheit und ihrem Mut die Herzen ihrer Leserinnen und Leser für sich gewonnen hat. Lily Brett, geboren 1946 in Deutschland, wo ihre Eltern, nachdem sie Auschwitz überlebt hatten, sich in einem Durchgangslager wiedertrafen. 1948 wanderte die Familie nach Australien aus. Mit neunzehn begann Lily Brett als Journalistin für Rockmagazine zu arbeiten. Heute lebt sie in New York. Im Suhrkamp Verlag erschien 1999 ihr Roman Einfach so (st 3033) und 2000 Zu sehen (st 3148). Ihr letzter Roman, Zu viele Männer, er schien 2001 im Deuticke Verlag.
Lily Brett
New York
Aus dem Englischen von Melanie Walz
Umschlagfoto:
© Die Zeit/Ashkan Sahihi
»Toiletten« wurde von Anne Lösch übersetzt
Für David,
den Gefährten meiner New Yorker
Tage und Nächte.
suhrkamp taschenbuch 32.91
Erste Auflage 2001
© 2000 Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m. b. H., Wien-München
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
der Franz Deuticke Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien-München
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vertrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen
sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz: MZ-Verlagsdruckerei, Memmingen
Druck: Ebner Ulm
Printed in Germany
1 2 3 4 5 6 - 06 05 04 03 01 01
Inhalt Auf dem Land 7
Ausschuß 10
Das Auto 13
Bazillen 16
Botschaften 19
Chers Mutter 22
Chinatown 25
Ehestiften 28
Erinnerung 31
Falten 34
Familie 37
Fettarm 40
Frauen 43
Genossenschaftswohnungen 46
Gerüche 49
Geschenke 52
Großartig 55
Die Hamptons 58
Hypochondrie 61
Instantregeneration 64
Kinder 67
Kleidergrößen 70
Lärm 73
Lebensmittel 76
Leopardenhosen 79
Lügen 82
Ein Mann 85
Ein Mobiltelefon 88
Monica 91
Muße 94
New York 97
Obdachlosenpaar 100
Orientierungssinn 103
Probleme 106
Psychohygiene 109
Radieschen 112
Religiosität 115
Schilder 118
Sex 121
Shorts 124
Silvester 127
Sport 130
Streß 133
Stricken 136
Tierhaltung 139
Toiletten 142
Ungesund 145
Untersuchungen 148
Vater 151
Yankees 154
Zwischenmahlzeit 157
Auf dem Land Ich erwachte mit dem dringenden Wunsch, aus der Stadt herauszukommen. Mehr Himmel zu sehen. Dieser Wunsch war untypisch für mich. Ich bin ein Stadtmensch. Wenn ich nicht in der Stadt bin, fühle ich mich schnell einsam. Trotzdem war ich unruhig und kam mir eingesperrt vor. »Laß uns übers Wochenende wegfahren«, sagte ich zu mei nem Mann. Wir entschieden uns für Bethlehem in Pennsyl vanien. Die Vorstellung, nach Bethlehem zu fahren, gefiel mir. Besagtes Bethlehem liegt zwei Fahrstunden von New York entfernt. Wir mieteten einen Wagen. Einen Ford Explorer. Wie die meisten New Yorker fahren wir selten. Einen Wagen zu mieten hat etwas Aufregendes. Ich steige in den Ford Ex plorer. Ich empfinde ein Glücksgefühl. Bisher läßt das Wo chenende sich gut an. Zehn Minuten nachdem wir Manhattan verlassen ha ben, verspüre ich Hunger. Reisen macht mich hungrig. Ich habe etwas zum Essen eingepackt. Ich öffne die Tasche mit dem Essen. Mein Mann sieht herüber und hebt die Augen brauen. Ich habe Flaschen mit Wasser, Bananen, Karotten, Äpfel, Brot und Käse eingepackt. »Wir fahren nicht bis zum Mars«, sagt er. Er sieht, daß in einer Seitentasche Popcorn steckt. »Warum hast du Popcorn mitgenommen?« fragt er. »Popcorn gibt es überall, wo es irgendwas zu kaufen gibt.« »Nicht diese Marke«, sage ich. Wir fahren eine Zeitlang schweigend weiter. Ich esse ei nen Apfel und ein paar Karotten. Die Gegend sieht bereits ländlich aus. Weniger Häuser, viele Bäume. New York fehlt mir. New York fehlt mir jedesmal, wenn ich wegfahre. Oft fehlt mir New York schon, bevor ich fahre. Bereits beim Packen fehlt mir die Stadt. Ich vergesse den Gestank in
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manchen Stadtteilen, wenn es warm wird. Ich vergesse das Gedränge und die Angespanntheit. Wir kommen an noch mehr Bäumen vorbei. »In Pennsyl vanien gibt es ziemlich viele Bäume«, sage ich zu meinem Mann. »Ich habe Birnbäume, Tannenbäume, Magnolienbäume, Fichten und Hartriegel gesehen«, sagt er. »Sind diese ganzen Bäume notwendig?« sage ich zu ihm. Wir sind von Grün umzingelt. So viel Grün. Überall Grün. Ich mag Grün nicht. Mir wird vom Fahren übel. Vom Grün. Ich mag Bäume nicht sonderlich. Letztes Jahr haben wir Freunde in San Francisco besucht. Sie haben uns den Redwood Forest gezeigt. Die Bäume waren alt und groß. Sehr groß, und mir war ängstlich und bedrückt zu mute. Ich konnte nicht hochsehen, ohne Reizbarkeit zu empfinden. Als wir den Wald verließen und ein Cafe auf suchten, kehrten meine Lebensgeister wieder. Ich fühle mich auf dem Land nicht wohl. Und das Land fühlt sich in meiner Gegenwart nicht wohl. Alles, was Flü gel hat, sticht mich. Jede Mücke, jede Wespe, jeder Mos kito, jede Fliege und jeder Floh sticht mich. Wenn Schmet terlinge und Motten stechen könnten, würden auch sie mich stechen. Und ich reagiere auf die Stiche. Ich schwelle zusehends an. Ich entwickle Beulen und Höcker. Sie brennen und juk ken tagelang. Ich kann nicht schlafen. Ich liege im Bett, und meine Haut juckt. Ich habe es mit Eispackungen auf den Stichen versucht und dabei Frostbeulen bekommen. Letz ten Sommer habe ich auf Shelter Island, einer kleinen Insel zwei Fahrstunden östlich von New York, ein insektenab weisendes Armband getragen. Das Armband sollte für dreißig Stunden alle Insekten der näheren Umgebung fern halten. Nach zwei Minuten wurde ich gestochen. Ich legte mehr Armbänder an. Eines um jedes Handge lenk, zwei um jeden Knöchel und eines im Haar. Die Arm
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bänder sahen aus wie Namensschilder im Krankenhaus. Ich sah aus wie einer Irrenanstalt entflohen. Ich trug die Namensschilder den ganzen Sommer lang. In Bethlehem steigen wir in einem reizenden Gasthaus ab. Wir machen einen Spaziergang. Bethlehem ist sehr hübsch. Es hat einen Fluß und anheimelnde alte Häuser. Ich genieße den Spaziergang. Dennoch ist mir nicht behag lich zumute. Wir gehen früh zu Bett. Am Morgen fühle ich mich isoliert, entwurzelt. Ich frage den Gastwirt, ob die Rettungswagen in der Gegend mit ei nem Defibrillator ausgestattet sind. »Haben Sie ein Herzleiden?« fragt er. »Nein«, sage ich. »Ich wollte es nur wissen.« Wir verlassen Bethlehem früher als beabsichtigt. Als wir uns New York nähern, fahren wir an vier Polizeiwagen vorbei, die mit eingeschaltetem Blaulicht im Pulk am Stra ßenrand stehen. Es geht mir viel besser.
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Ausschuß Manche Leute freuen sich auf neue Dinge. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ganz egal, um was es sich handelt - ein neues Jahr, einen neuen Mantel, ein neues Haus. Es stimmt mich traurig, das Alte aufzugeben. Ich trauere um das alte Jahr, den alten Mantel, das alte Haus. Dem Neuen mißtraue ich. Veränderungen sagen mir nicht zu. Überraschungen sagen mir nicht zu. Und das Un gewisse sagt mir überhaupt nicht zu. Ich weiß, daß es zur menschlichen Erfahrung gehört. Zur condition humaine. Aber es sagt mir nicht zu. Ich will Gewißheit. Je besser ich meine Freunde kenne, um so wohler fühle ich mich. Manchmal habe ich den Eindruck, daß das Ausmaß meiner Neugier meinen Freunden Unwohlsein bereitet. In New York ist es nicht schwer, über Leute, die man seit Jahren kennt, so gut wie nichts zu wissen. Ich weiß gern über die Rituale und Routine anderer Be scheid. Ich weiß gern darüber Bescheid, was sie mittags es sen. Ich mag Familiarität. Ich finde sie beruhigend. Ich mag den Umstand, daß das Käsegeschäft Joe's Dairy in der Sullivan Street mittags geschlossen ist. Den Laden gibt es seit Jahren in SoHo. Jeden Tag werden dort mehrere hundert Pfund frischer und geräucherter Mozzarella herge stellt. Und jeden Tag ist der Laden zwischen zwölf Uhr und ein Uhr mittags geschlossen. Joe's Dairy ist eines der letzten Relikte der ehemaligen Nachbarschaft. Von den einstigen Nachbarn sind auch nicht mehr viele übrig. In SoHo wimmelte es früher von Künstlern und Schriftstellern. Heute scheint es, als wären die einzigen übriggebliebenen Exemplare dieser Spezies mit männlichen und weiblichen Bankern oder Anwälten ver heiratet.
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Silvester 1999 sah es in SoHo so aus wie immer. Bis auf ein paar Einheimische waren die Straßen so gut wie men schenleer. Es war so ruhig und friedvoll. Ich war glücklich trotz des Umstands, daß das ganze neue Jahr, neue Jahr hundert, neue Millennium ein bißchen zu viel Neues für meinen Geschmack war. Ich war das alte Millennium, das alte Jahrhundert ge wohnt. So viele Neuanfänge schüchterten mich ein. Was galt es zu entrümpeln, um das Neue zu begrüßen ? Das Alte ? Die Vergangenheit ? Die Frage machte mir zu schaffen. Es fällt mir schwer, Dinge wegzuwerfen. Ich hänge nicht allzusehr an Gegenständen. Ich habe keinen Hamstertrieb. Wenn Gläser oder Teller oder Vasen zerbrochen werden, rege ich mich nicht auf. An diesen Dingen hänge ich nicht. Meine Eltern wußten um den begrenzten Wert materiel len Besitzes. In Auschwitz war das einzige, was beide besa ßen, ihre Seele. Sie war das einzige, was ihnen geblieben war. Und das wichtigste. Bei uns zu Hause legte niemand großen Wert darauf, Ge genstände anzusammeln. Tische, Stühle oder Spielsachen waren nicht das Wesentliche. Im großen und ganzen habe ich diese Haltung beibehalten. Ich hänge nicht an Gegen ständen. Schwerer fällt es mir, von persönlicheren Besitztümern Abschied zu nehmen. In meinem Kleiderschrank habe ich zwei Paar Schuhe meiner verstorbenen Mutter. Ich be wahre sie auf, als weilten die Füße meiner Mutter noch in ihnen. Blumen, die mir geschenkt wurden, habe ich aufbe wahrt, bis sie nicht nur welk waren, sondern sich zersetz ten. Beim Anblick verwelkter Rosensträuße dachte ich an verlassene Ballerinen, an schäbig gewordene Brautjungfern. Ich mußte andere darum bitten, die Blumen wegzu werfen. Die Mailbox meines Handys ist fast verstopft, weil ich es
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nicht über mich bringe, bestimmte Nachrichten zu löschen. Nachrichten von meinem Mann und meinen Kindern. Ich kann es einfach nicht. Ich bewahre sie auf. Es ist ein biß chen lächerlich. Es ist abzusehen, daß man mir bald keine Nachrichten mehr wird hinterlassen können. Ich werde ler nen müssen, alle Nachrichten zu löschen. Manchmal sind wir selbst der Ausschuß, der entsorgt wird. Das kann ich nicht ertragen. Ich kann es nicht ertra gen, wenn Leute plötzlich auf die Idee kommen, daß sie mich nicht mögen. Wenn jemand, mit dem ich auf freund schaftlichem Fuß verkehrt habe, plötzlich unfreundlich wird. Ohne Vorwarnung, ohne Erklärung. Das macht mich hilflos. Ich glaube, Eltern kommen sich oft hilflos und ausgeson dert vor. Bis zu einem bestimmten Alter brauchen die Kin der einen, und danach beginnen sie einen zu entsorgen. Sich damit abzufinden ist nicht leicht. Ich weinte, als meine jüngste Tochter nach Philadelphia zog, wo sie das College besuchte. Ich konnte nicht wissen, daß ich überglücklich sein würde, keine Kinder mehr zu haben. Es gibt neue Erfahrungen, die rundum erfreulich sind.
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Das Auto Im Sommer, als ich nach Monaten zum erstenmal wieder in Shelter Island war, gab mein Auto auf dem SupermarktParkplatz den Geist auf. Shelter Island ist ein ruhiger Flecken, zwei Stunden Fahr zeit von Manhattan entfernt. Jedes Jahr verbringe ich einen Teil des Sommers dort. Der Puls der Insel spiegelt sich im Polizeibericht, der einmal wöchentlich im Shelter Island Reporter veröffentlicht wird. Letzte Woche meldete der Polizeibericht drei verschie dene Unfälle, bei denen ein Wildtier von einem Automobil angefahren worden war. Und es wurde berichtet, daß je mand sich über Hundegebell beschwert hatte und daß ein Arbeiter der Telefongesellschaft von einem Truthahn ange fallen worden war. »Der Besitzer des Aggressors konnte den Vogel einfangen. Schadenersatz wurde nicht geltend gemacht«, schloß der Bericht. Daß mein Auto den Geist aufgab, ärgerte mich maßlos. Ich hatte mich auf Ruhe und Einsamkeit gefreut. Immer wieder drehte ich den Zündschlüssel in der Hoffnung, den Wagen doch noch zu starten. Der Motor gab keinen Mucks von sich. Meine Bemühungen waren aussichtslos. Ich mag mein Auto nur, wenn es funktioniert. Jedes wär mere Gefühl, das ich einmal für diesen Wagen empfunden haben mag, hat sich rapide abgekühlt, seit er begonnen hat auseinanderzufallen. Es ist ein Lincoln Continental, Baujahr 1986. Er soll viele Dinge können. Er soll einem die Außentemperatur und die Fahrtrichtung mitteilen können. Aber die Temperatur, die die Elektronik des Wagens mel det, paßt nie zum Wetter. Und der Orientierungssinn dieses Autos ist mehr als fragwürdig.
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Ich bin schon im Kreis gefahren, bis mir schwindlig wurde, um zu sehen, ob der Wagen angeben konnte, daß wir nach Süden oder Südwesten fuhren. Er konnte es nicht. Als er auf dem Supermarkt-Parkplatz den Geist aufgab, war ich erbost. Das war der letzte Tropfen. Ich starrte das Auto zornig an. Nichts geschah. Ein Auto einzuschüchtern ist ähnlich schwer, wie die eigenen er wachsenen Kinder einzuschüchtern. Ich stieg aus und trat gegen einen der Reifen. Es brachte mir keine Erleichterung. Ich versuchte mich zu beruhigen. Mich daran zu erin nern, daß ich hergekommen war, um Ruhe zu finden. Um gewöhnliche Dinge zu tun. Zum Beispiel einen Autome chaniker anzurufen und auf ihn zu warten. »Wagen defekt?« fragte ein Mann, der an mir vorbei kam. Ich nickte finster. »Ich glaube, die Batterie ist leer«, sagte ich. Er ging zu seinem Wagen, um ein Starthilfekabel zu holen. Als er fünf Minuten später wiederkam, hatten mittler weile drei Leute angeboten, einen Automechaniker für mich zu holen. Aber das Starthilfekabel genügte. Der Wa gen sprang an. Ich fuhr rückwärts aus meiner Parklücke. Ich hatte ge rade genug Zeit, ein Gefühl des Triumphs zu empfinden, bevor der Wagen stehenblieb. Ich befand mich noch immer auf dem Parkplatz. Ich stieg aus. Die allgemeine Meinung auf dem Parkplatz war die, daß ich eine neue Batterie benötigte. Die Stimmung rings um mein streikendes Auto war munter und ausgelassen. Ich merkte, daß es mir Spaß machte. Alle waren so fröh lich und so hilfsbereit. Auf diesem Supermarkt-Parkplatz herrschte eine bessere Stimmung als bei den meisten Es senseinladungen. Eine Stunde nachdem mein Auto zum erstenmal den Geist aufgegeben hatte, besaß ich einige neue Freunde. Schließlich bekamen wir den Wagen wieder in Gang. Ich
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fuhr in die Werkstatt. Unterwegs blieb er drei weitere Male stehen. Jedesmal hielten Leute neben mir an und boten ihre Hilfe an. Alle waren hilfsbereit. Männer und Frauen beugten sich über den Motor. Als die neue Batterie eingebaut war, war es später Nach mittag. Ich war nicht am Strand gewesen, wo ich zu sitzen pflege und wachsamen Auges nach Kriebelmücken und Stechmücken Ausschau halte, weil ich Insektenstiche nicht vertrage. Ich hatte nicht im Teich geschwommen und dabei ver sucht, nicht an die bissige Schildkröte zu denken, die dort lebt. Ich hatte den schönsten Tag seit Jahren auf dem Land verbracht.
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Bazillen Statt Geld abzuheben, war der Mann vor mir am Geld automaten damit beschäftigt, die Maschine zu reinigen. Er rieb den Bildschirm mit mehreren feuchten Hygienetü chern ab. Er war keine Reinigungskraft. Er sah eher wie ein An walt oder ein Buchhalter aus. Ich hatte es eilig. Ich räus perte mich mehrmals ungeduldig. Er ließ sich nicht stören. Als er mit dem Bildschirm fertig war, begann er die Ta statur abzuwischen. Er packte noch mehr feuchte Tücher aus. Ich sah auf die Packung. Es waren antibakterielle Ein wegtücher. Die Bedürfnisse des Mannes waren mir nicht gänzlich fremd. Ich habe oft genug Knöpfe im Aufzug mit dem Ell bogen betätigt, wenn eine besonders ungepflegte Erschei nung sie vor mir gedrückt hat. Ich habe ungewöhnlich ge lenkige Ellbogen entwickelt. Ich bin kein Zwangsneurotiker, was meine Ellbogen be trifft. Wenn andere dabei sind, benutze ich sie meistens nicht. Ich lege Wert darauf, in Gegenwart anderer ent spannt und lässig aufzutreten. Eine Freundin von mir ist alles andere als lässig, was die möglichen Folgen betrifft, wenn man den falschen Knopf berührt. Im vergangenen Winter erschien sie auf dem Hö hepunkt der Grippewelle mit einem Geschenk an meiner Wohnungstür. Es war ein Fläschchen Instantdesinfektions spray. Ich versuchte, erfreut auszusehen. »Alles, was du außer halb deiner Wohnung anfaßt«, sagte sie, »haben Hunderte vor dir angefaßt. Jedes Rolltreppengeländer, jeder Einkaufs wagen im Supermarkt, jede Türklinke ist von jemand ande rem angefaßt worden. Überall kleben Krankheitskeime.« 16
Der Instantdesinfektionsspray garantierte, daß er in we niger als fünfzehn Sekunden 99,99% der verbreitetsten krankheitsverursachenden Keime vernichtete. »Vielleicht sollten wir ein bißchen davon trinken«, sagte ich. »Dann werden wir nie mehr krank.« Sie wirkte etwas verstimmt. Um sie zu besänftigen, steckte ich den Desinfektionsspray sofort in meine Handtasche. Ein paar Wochen darauf war ich im Cort Theatre. Ich wollte David Hares Stück »The Blue Room« mit Nicole Kidman sehen. Karten waren fast nicht zu bekommen. Die Aufführungen waren schon vor der Premiere so gut wie ausverkauft. Diese Situation gründete weitgehend in dem Umstand, daß Miß Kidman während der meisten Zeit auf der Bühne spärlich bekleidet und für einen kurzen Augenblick völlig nackt war. Im Theater fiel mir auf, daß viele Besucher Ferngläser und Operngläser mitgebracht hatten. Miß Kidman auf der Bühne war ein atemberaubender An blick. Mit und ohne Kleider. Sie war groß, schlank, blond und makellos. Wie konnte ein Körper so frei von Malen und Unebenheiten sein ? Ihre Haut war straff und glatt. Nicht die kleinste Spur von Zellulitis ließ sich ausmachen. Ich beugte mich vor und fragte die Frau, die vor mir saß, ob ich mir kurz ihr Fernglas ausleihen könne. Sie sah verär gert aus, als hätte ich sie um ihre Unterhosen oder ihren Lippenstift gebeten. »Ich nehm' es nicht in den Mund«, sagte ich im Versuch, einen humoristischen Ton anzuschla gen. Widerstrebend händigte sie mir das Fernglas aus. In Nahaufnahme sah Nicole Kidman noch besser aus. Es war fast ein wenig deprimierend. Ich gab das Fernglas um gehend zurück. Die Frau nahm es entgegen und begann es zu putzen. Sie benutzte feuchte Hygienetücher, die sie ei nem silbernen Täschchen entnahm. Genau wie der Mann am Geldautomaten. 17
Ich sah ihr im Dunkeln zu, wie sie jeden Quadratmilli meter Fernglas putzte und sich danach die Hände reinigte. Ich verpaßte zehn Minuten der Aufführung, weil ich ihr zusah. Als Ian Glen, der zweite Star neben Miß Kidman, plötz lich ein Rad schlug, holte das meine Aufmerksamkeit zum Bühnengeschehen zurück. Er war ebenfalls nackt. Ein nackter Mann, der ein Rad schlägt, ist kein uninteressanter Anblick. Das Rad und Miß Kidmans Körper waren das Beste am Stück. Es war ein liebloses, gleichgültiges, misogynes Büh nenmachwerk. Und ich bin es leid, mir Männerphantasien darüber anzusehen, was Frauen wollen und was Männer mit Frauen anstellen wollen. »Vielen Dank für Ihr Fernglas«, sagte ich nach Vorstel lungsende zu der Frau in der Reihe vor mir. »Wenn man die Sachen anderer Leute anfaßt, kann man sich Erkältungen, Grippe, Hepatitis und Tuberkulose ho len« sagte sie zu mir; ihr Ton klang ziemlich streng. »Wirklich?« sagte ich. Plötzlich war mir ängstlich zumute. Und angespannt. Ich langte in meine Handtasche. Der Instantdesinfektions spray war noch da. Vielleicht sollte ich ihn hin und wieder verwenden, dachte ich mir. Der Gedanke löste meine Span nung.
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Botschaften Was mein Wohlbefinden verstört, sind nicht Cyberspace, das Internet oder irgendwelche intergalaktischen oder in terplanetarischen Kommunikationsmethoden. Die Implikationen moderner Kommunikationssysteme, ihre Auswirkungen auf uns beschäftigen mich nicht im ge ringsten. Ich kann mich nicht über Raumstationen und Satelliten ereifern. Mit diesen Kommunikationsformen bin ich nicht vertraut. Aber ihre fernen und weitreichenden Mitteilun gen und Sendungen beunruhigen mich nicht. Weit beunruhigender finde ich die gewohnteren Wege, auf denen wir uns Dinge sagen. Weit verstörter bin ich durch die unauffälligeren Formen der Interaktion, deren wir uns bedienen. New York ist das Epizentrum codierter Begriffe, mehr deutiger Mitteilungen und hochkomplizierter und raffi nierter Kommunikationsmethoden. Alles hängt von Status und Bedeutung des einzelnen ab. Jeder New Yorker ist bedeutender als derjenige, mit dem er zu tun hat, und jeder New Yorker kann sekundenschnell die Bedeutung des anderen einschätzen. Bei einem Anruf kann man in der Warteschleife abge stellt werden oder mit der Mailbox des Angerufenen ver bunden werden oder mit der Auskunft abgespeist werden, er werde zurückrufen, oder man wird durchgestellt. Wenn man keine Antwort auf seinen Anruf erhält, weiß man, wie man eingestuft wird. Und so ist es auch gemeint. Es ist ein lauter und deutlicher Hinweis auf die eigene Be deutungslosigkeit. Man muß diese Demütigung ertragen lernen. Zumindest bis das eigene Ansehen steigt. 19
Neulich rief ich jemanden an, der versprochen hatte, mir einen Gefallen zu tun. Er ist ein Public-Relations-Mann mit guten Beziehungen. Ich rief fünf- oder sechsmal an. Jedes mal sagte seine Sekretärin, er werde zurückrufen. Er tat es nicht. Am Ende haßte ich ihn aus ganzem Herzen. Und wußte, wie unbedeutend ich war. Zwei Tage verbrachte ich damit, mir auszumalen, wie ich ihm das heimzahlen konnte, bevor ich es bleibenließ und einsah, daß es ein sinnloses Unterfangen war. Die wirksamste Art, andere zu treffen, ergibt sich aus Aspekten unserer Persönlichkeit, die weit einflußreicher sind als irgendwelche High-Tech-Spielereien. Allerdings muß ich gestehen, daß die Sprache meines Computers mich hin und wieder bis ins Mark trifft. »Diese Adressen waren wiederholt definitiv falsch«, sagte mein Computer kürzlich zu mir. Es ging um E-Mails, die ich versandt hatte. Die Begriffe »wiederholt« und »defi nitiv« nebeneinander gefielen mir nicht und verdarben mir für den Rest des Tages die Laune. Ein andermal erklärte der Computer: »Wirt nicht gefun den.« Die Vorstellung eines verlorengegangenen Wirts be unruhigte mich. Mir wäre lieber, der Computer würde sich weniger unverblümt ausdrücken. Ich habe meinen E-Mail-Server ausgetauscht, weil der Computer mir jedesmal, wenn ich nachdachte, mitteilte, ich sei müßig. Ich arbeite viel. Die Beschuldigung des Mü ßiggangs konnte ich nicht ertragen. Selbstverständlich fasziniert mich, was sich auf meinem Bildschirm abspielt. Ich bin nicht technologiefeindlich, selbst wenn ich erst nach und nach die Vorteile der neuen Kommunikation schätzengelernt habe. Man hat mir jahre lang gut zureden müssen, bis ich mir E-Mail anschaffte. Heute bin ich davon begeistert. Anfangs zeichnete ich als Lilycyberchick und kam mir sehr hip vor. Wenn man es schnell sagt, klingt es wie 20
Russisch oder Polnisch. Aber nichts im Cyberspace reicht an das heran, was wir einander auf dem Erdboden antun können. Weniges ist so machtvoll wie eine Kränkung oder ein Stirnrunzeln oder ein liebevolles Lächeln. Diese kleinen Gesten sind wirkungsvoller als jeder Aus tausch durch den Weltraum. Auch Geschenke können eine machtvolle Form der Kommunikation darstellen. Sie können eine sehr deutliche Sprache sprechen. Ein Geschenk kann so viel mehr bedeu ten, als es den Anschein hat. Geschenke können feindselige Botschaften übermitteln. Beispielsweise wenn man jemandem, der vor Häuslichkeit schier erstickt, einen weiteren Satz Geschirrtücher schenkt. Oder wenn man jemandem ein Kleidungsstück kauft, das zwei Nummern zu groß ist. Oder zwei Nummern zu klein. Eine Freundin, die während ihrer Schwangerschaft sehr dick geworden war, bekam von ihrer gertenschlanken Mutter die allerkleinsten Spitzenunterhöschen geschenkt. Was dachte ihre Mutter sich dabei ? Eine meiner Töchter, deren Beziehung zu mir eine stür mische Phase durchmachte, schenkte mir eine Brosche mit der Aufschrift Halbherzig. Ich wußte genau, was diese Tochter mir gegenüber empfand.
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Chers Mutter In letzter Zeit habe ich mich häufig im Spiegel betrachtet. Eigentlich mag ich keine Spiegel. Mein Mann sagt, daß ich jedesmal, wenn ich in einen Spiegel sehe, eine Grimasse ziehe. Er sagt, die Grimasse sei vermutlich Ergebnis meiner Erinnerung an die letzte Fratze im Spiegel. Er sagt, ich könne kaum wissen, wie ich aussehe, weil ich meine Züge immer nur verzerrt wahrnehme. Ich glaube, so verhalten sich viele Frauen. Sie sehen sich schmollend oder streng oder stirnrunzelnd an, so, als würde das, was wir zu sehen bekommen, unseren Erwar tungen nicht gerecht. Eine Zeitlang habe ich versucht, neutral dreinzusehen, wenn ich mich einem Spiegel näherte, aber es hat nichts ge nützt. Meine Miene war so steif, als hätte die Totenstarre soeben eingesetzt. Lieber ging ich Spiegeln aus dem Weg. Bis vor kurzem. Anlaß meines neuen Verhaltens war ein Erlebnis in Düs seldorf. Dort hielt ich mich im Rahmen einer Lesereise auf. Ich wollte zum Friseur gehen, um die kostspieligen, natür lich aussehenden, kunstvoll verteilten Lichter und Schattie rungen meiner Haarfarbe auffrischen zu lassen. Eine Freundin hatte mir den Friseur empfohlen. Der junge Mann, den man mir zuteilte, wirkte erfahren. Er be gann die Kolorierung aufzutragen. Ich begann ein Buch zu lesen, das ich mitgebracht hatte. Fünf Minuten später be gegnete ich seinem prüfenden Blick im Spiegel. »Sie sehen aus wie Chers Mutter«, sagte er ganz aufge regt. Ich zuckte zusammen. Ich hatte mich zweifellos ver hört. Was hatte er gesagt? Ich sähe aus wie Chers Mutter? »Sie sehen aus wie Chers Mutter«, wiederholte er strah lend. Ich sah ihn an. Lag es vielleicht an seinem Englisch?
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Wollte er vielleicht sagen: Chers Schwester? »Das haben Ihnen sicher schon viele Leute gesagt«, sagte er zu mir. Nichts zu machen. Er meinte tatsächlich Chers Mutter. Ich sah mich im Spiegel an. Ich war ein wenig blaß. Aber Chers Mutter? Ich konnte doch nicht im Ernst aussehen wie Chers Mutter. Meine Laune sank in den Keller. Cher und ich sind gleich alt. Ich sah mich wieder an. Jetzt sah ich noch blasser aus - und älter. »Hat Ihnen etwa noch nie jemand gesagt, daß Sie wie Chers Mutter aussehen ?« fragte der junge Mann verblüfft. »Nein«, antwortete ich kurz angebunden und senkte den Kopf über mein Buch. Das beeindruckte ihn nicht. »Findet ihr nicht auch, daß sie aussieht wie Chers Mutter ?« fragte er in den Salon, aber zu meinem Glück schien niemand sonst Englisch zu verste hen. Jedenfalls antwortete niemand. Ähnlichkeit mit Cher war mir früher schon attestiert worden. Aber nur mit Cher. Cher habe ich vor Jahrzehnten interviewt, als ich eine junge Popjournalistin war. Sie lieh sich meine straßbestäub ten falschen Wimpern aus. Sie sah damit umwerfend aus. Ich versuchte mein Buch zu lesen, aber ich war depri miert. Und ich schämte mich, weil ich deprimiert war. Ich weiß, daß es Wichtigeres im Leben gibt als die Frage, ob man aussieht wie Cher oder wie Chers Mütter. Trotzdem verfolgte mich der Gedanke den ganzen Tag. Ich dachte mitten in einem Radiointerview, das ich gab, darüber nach. Ich dachte im Taxi darüber nach. Ich dachte darüber nach, während ich am Rhein entlanglief, um mich zu ertüchtigen. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich diesen Gedan ken nicht aus meinem Kopf verbannen konnte. Am liebsten wäre ich in den Friseursalon zurückgegangen, um den jun gen Mann zu verprügeln. Warum mußte er unbedingt sa gen, ich sähe aus wie Chers Mutter ?
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Als es Abend wurde, war ich übellaunig und erschöpft. Ich ging in mein Hotel. Es war eines jener Hotels, wo die graue, harte Neonzimmerbeleuchtung einem den letzten Frohsinn raubt und die Spiegel im Aufzug einen aussehen lassen wie Graf Dracula, bevor er sich mit Blut auffrischt. Ich fragte meine Verlegerin, ob ich in ein anderes Hotel ziehen könne. Sie sagte, ich sei in diesem Hotel unterge bracht worden, weil alle anderen Hotels wegen irgendwel cher Konferenzen ausgebucht waren. Als ich ins Bett ging, kam ich mir vor wie Chers Groß mutter.
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Chinatown Chinatown liebe ich. Chinatown ist gewissermaßen ein Prüfstein, eine Verbindung zur Realität, etwas, was in einer Stadt wie New York unverzichtbar ist. In einer Stadt, in der Leute, ohne mit der Wimper zu zuk ken, ein Kleid für ihre halbwüchsige Tochter kaufen, das 2000 Dollar kostet, und in der Dutzende pubertierender Mädchen bei Prada, Todd Oldham und Dolce & Gabbana einkaufen. Einer Stadt, in der es nichts Ungewöhnliches ist, daß Re staurantrechnungen Hunderte von Dollar betragen, wenn nicht mehr. Bewohner einer solchen Stadt benötigen den Kontakt zur Realität. Es ist nur zu leicht, sich von der Stadt erdrücken zu lassen. Von dem hektischen Tempo, dem tausendfältigen Zusammenwirken, die Tag und Nacht ohne Unterlaß an halten. Von dem Gefühl, der eigene Wert, die eigene Bedeu tung definierten sich einzig durch Leistung und Beziehun gen. Kennen Sie die richtigen Leute ? Wenn nicht, dann kann man Sie getrost vergessen. Man kann Sie übergehen, über sehen, ausmustern. In New York fällt es einem nicht schwer zu merken, daß jedermann so denkt. In New York kann man leicht glauben, die eigene Le bensweise entspreche dem, wie andere Leute leben. In Chinatown wird man von solchen Vorstellungen ku riert. Es ist voller Leben. Gewöhnlichem Leben. Es weist al les auf, was das gewöhnliche Leben ausmacht. Und auf mich wirkt es immer beruhigend. Mich beruhigen die Großmütter mit ihren Enkelkindern. Die älteren Paare. Die Halbwüchsigen und kleinen Kinder, die offenbar alle Chinesisch sprechen. 25
Mich beruhigen die Märkte und Läden und Lebensmit telstände und Restaurants. All das Essen und Reden. Ich kaufe in Chinatown ein. Ich kaufe dort Obst und Ge müse. Die Preise betragen ein Viertel der Preise im benach barten SoHo. Manchmal kaufe ich Fisch, obwohl der Umstand, daß die meisten Fische noch zucken, nichts Einladendes für mich hat. Manche von ihnen versuchen sogar, aus ihren Ei mern zu springen. Einmal sah ich, wie ein großer Taschen krebs an der Ecke Grand Street und The Bowery in die Frei heit zu entkommen versuchte. Auch nachts gefällt mir Chinatown. Es ist immer etwas los. Immer sind Leute unterwegs. Arbeiter strömen aus Fa briken und Kleinbetrieben. Ihr Anblick erinnert mich daran, was für ein privilegier tes Leben ich führe. Ich weiß einiges über Fabriken und Kleinbetriebe. Meine Eltern haben beide in Fabriken gear beitet. Wir kamen als Flüchtlinge nach Australien. Meine El tern verbrachten endlos lange Arbeitstage an Nähmaschi nen und wurden selbstverständlich ausgebeutet. Die Nähmaschinen und die schlechte Bezahlung mach ten dem Traum meiner Mutter, Kinderärztin zu werden, ein Ende. Ich sehe den chinesischen Arbeitern beim Einkauf ihres Essens zu. Ich weiß, daß sie noch nach Hause gehen und das Essen zubereiten müssen. Andere bleiben bei einem Straßenhändler stehen, der warme Speisen verkauft, und essen dort. In Chinatown sind die Leute ständig mit Essen beschäf tigt. Sie essen in Restaurants, in Cafes, auf der Straße. Essen wird in atemberaubendem Tempo zubereitet und serviert. Auf den Straßen braten und dämpfen und rühren und schneiden die Köche auf unvorstellbar engem Raum. In ih ren improvisierten Küchen bringen sie die wundervollsten 26
Speisen zustande. Sie schmecken köstlich. Und sind billig. Einer meiner Lieblingsorte in Chinatown ist Maria's Ba kery an der Lafayette Street. Vom Namen darf man sich nicht irreführen lassen. Nichts an Maria's ist italienisch. Es ist ein durch und durch chinesisches Lokal, weder schick noch etwas Besseres. Es ist ein Cafe und Restaurant für Arbeiter. Die Kunden sind fast ausschließlich Chinesen. Europäische Gesichter sieht man kaum im Maria's. Außer den Mahlzeiten, die gut und unglaublich billig sind, gibt es bunte Eistorten und ein Sortiment befremdlich angelsächsischer Weißbrotsandwiches zu kaufen. Ich könnte stundenlang im Maria's sitzen und den Fami lien beim Essen zusehen, den Müttern, Vätern, Großeltern und Kindern. Alle essen und reden. Die Generationen scheinen sich miteinander wohl zu fühlen. An dieser Familienharmonie teilzunehmen gibt mir ein Gefühl des Friedens, der Ausgeglichenheit. Wenn ich gehe, bin ich glücklich und zufrieden. Und wenn es mir gelungen ist, nicht mehr als einen Krapfen aus schwarzer Bohnenpaste zu essen, bin ich mehr als das.
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Ehestiften Beziehungen sind in unserer Zeit überaus kompliziert. Un zählige Faktoren beeinflussen die Partnerschaft. Unzähli ges gibt es zu bedenken, das mit Liebe nichts zu tun hat. Art und Lage des Arbeitsplatzes spielen eine Rolle. Wenn man in New York arbeitet, kann man nicht jemanden hei raten, der in Texas wohnt. Und die eventuellen Lebensbe dingungen bedeuten zusätzliche Probleme. In vielen Städten ist eine passende Wohnung schwerer zu finden als ein passender Partner. Man muß schon sehr ver liebt sein, um eine Wohnung des Partners wegen aufzuge ben. Sogar die Sexualität ist unüberschaubar geworden mit ihrer breiten Palette sexueller Vorlieben und Geschlechter. Unzählige Spielarten und Abwandlungen sind denkbar und zulässig. Die Zeiten, als Sex nur etwas Verbotenes war, kommen einem unkompliziert vor. Und unschuldig. Heute ist Sex etwas Kompliziertes - sowohl hinsichtlich der Sache selbst als auch der Zeit, die man sich dafür neh men muß. Neulich gab es einen Cartoon im New Yorker, der ein Paar mittleren Alters in seinem Wohnzimmer zeigte. »Jetzt, wo die Kinder erwachsen und aus dem Haus sind, wäre es vielleicht die richtige Zeit für Sex«, sagt der Mann. Viele von uns mußten über diesen Cartoon lachen. Auch mit Kindern muß man sich im Frühstadium einer Beziehung auseinandersetzen. Viele Leute, die sich verlie ben und verabreden, sind Eltern. Und die Existenz ihrer Kinder muß bei der Erwägung und Planung einer dauer haften Beziehung berücksichtigt werden. Eine Freundin wurde von ihrem Liebhaber nach Ibiza in die Sommerferien eingeladen. »Wo soll ich schlafen ?« sagte 28
sie zu mir. »Ich habe einen Sohn. Er hat eine Tochter. Wir können uns vor den Kindern doch nicht als Pärchen prä sentieren.« - »Ich werde im Gästezimmer schlafen«, beant wortete sie ihre eigene Frage. »Ich muß nicht jede Nacht wie wahnsinnig Sex haben.« Ich war beeindruckt, daß so viel Sex ihr überhaupt in den Sinn kam, wenn auch nur theoretisch. Und ich freute mich. Meine Freundin hatte eine ganze Weile als Single gelebt. In New York wimmelt es von Singles. Mehr als drei Millionen der siebeneinhalb Millionen New Yorker sind Singles. Achtundvierzig Prozent der Haushalte New Yorks sind Single-Haushalte. Es ist die höchste Rate in den ganzen Vereinigten Staaten, sieht man von einer Leprakolonie auf Hawaii ab. Ich habe mich nach Kräften bemüht, diese statistischen Gegebenheiten zu verändern. Zeit meines Lebens war ich eine unverdrossene Ehestifterin. Warum, weiß ich nicht. Ich habe versucht, meinen verwitweten Vater zu verhei raten. Ich habe versucht, eine Frau für ihn zu finden. Er will keine. Aber das konnte mich nicht entmutigen. Ich weiß, daß er einsam ist. Und er tut gerne etwas für andere. Er hat viel Humor. Und er ist ein ausgezeichneter Tänzer. Wenn er einen Lebenspartner hätte, wäre er nicht mehr einsam. Ich habe versucht, ihn mit einer Frau zu verkuppeln, die ich gar nicht kannte. Das war keine gute Idee. Sie war ihm einfach nicht sympathisch. Er hat sich nur mit ihr getroffen, um mir einen Gefallen zu tun. Warum kann ich ihm nicht den Gefallen tun, ihn le dig bleiben und in Ruhe zu lassen ? Unzählige Leute habe ich zu verkuppeln versucht. Viel leicht war ich in einem früheren Leben Heiratsvermittlerin. Eine wenig erfolgreiche Vermittlerin. Meine Erfolge im Ehestiften sind äußerst mickrig. 29
Ich habe Leute zusammengebracht, die einander so un ausstehlich fanden, daß beide Parteien seither kein Wort mehr mit mir gewechselt haben. Mein größter Erfolg war eine einzige Eheschließung, aber leider gibt es ein P.S. Das Paar ließ sich vier Jahre spä ter scheiden. Ich sollte das Ehestiften denen überlassen, die etwas da von verstehen. Ehevermittlungsagenturen machen hierzulande gute Ge schäfte. Und die Frauen suchen sie in Scharen auf. Frauen, die eine Ehe hinter sich haben, sind gesellschaft lich besser angesehen als Ledige. Männer, die nie geheiratet haben, gelten andererseits bis ins Grab als attraktive und begehrenswerte Partie. Es ist kaum zu fassen. Aber die Vorteile werden augenfällig, sobald man einen unverheirateten Mann zur Hand hat. Zufällig habe ich ei nen zur Hand. Meinen Vater.
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Erinnerung Die Erinnerung ist eine merkwürdige Sache. Sie aktiviert, erinnert, färbt, vergrößert und verkleinert Geschehnisse und Erlebnisse. Sie bringt Sachverhalte und Phantasien, Irrtümer und Mißverständnisse zurück. Sie bewahrt Träume und Hoff nung und Peinlichkeiten und Demütigungen. Sie ist wie eine große Kammer, ein Aufbewahrungsort für benutzte und noch zu benutzende Gedanken und eben solches Wissen. Sie ist eine Ansammlung von allem, was wir sind, und von ein wenig dessen, was wir zu sein hoffen. Man kann sich alles holen, was man will. Kann man das? Warum sind manche Dinge so leicht zu erinnern, so leicht wiederzufinden ? Und warum sind andere so schwer herbeizubeschwören? Warum suchen einen manche Erin nerungen länger heim, als man gerne hätte ? Demütigungen und Trauer sind, wie mir scheint, nie schwer wiederzufinden. Und nur sehr schwer zu vergessen. Warum läßt sich die Erinnerung an etwas Lustiges nicht ähnlich leicht wiederbeleben? Warum erinnern wir uns so bereitwillig an Dinge, die uns quälen? Die meisten von uns können sich binnen Sekunden an Einsamkeit und Leid ih rer Teenagerzeit erinnern. Schmähungen, Zurückweisung und verletzten Stolz ver gessen wir nicht. Warum ? Welchem Zweck dient das ? Und warum sind Angst und Furcht so leicht zu erinnern ? Und ist Glück so schwer zu erinnern ? Ich wollte, ich wüßte es. Ich weiß, daß das Begreifen die Erinnerung verändert. Es verleiht ihr neue Schattierungen und Bedeutungen. Ich habe diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht. Die 31
Eitelkeit meiner Mutter wurde mir um vieles verständli cher, als ich groß genug war, um zu begreifen, daß eine schreckliche Vergangenheit ihr fast alles außer ihrer Schön heit geraubt hatte. Dieses Verständnis hat viele meiner Erinnerungen an meine Mutter verändert. Erinnerungen sind oft selektiver Art. Wir fördern zutage, was uns zusagt. Es muß mir zusagen, Trübsal zu blasen. Je des betrübliche Erlebnis kann ich mir auf der Stelle ins Ge dächtnis rufen. Ich muß es nicht mühsam zusammenklau ben. Es ist da und wartet nur darauf, gerufen zu werden. Ich wünschte, ich hätte diese betrüblichen Erinnerungen nicht nötig. Ich wünschte, mir läge nicht soviel an diesen Mementos und Souvenirs und Erinnerungsstücken an Qualen und Leiden. Ich wünschte, ich könnte mich aller Gedanken und Bil der von vergangener Mißmut und Melancholie entledigen. Aber die Frage, was wir vergessen und was wir behalten, ist äußerst kompliziert. Ich könnte noch hundert Jahre lang analysiert werden, ohne deshalb wirklich zu wissen, warum ich einen Hang zu Traurigkeit und zu Schwierigkeiten habe. Meine Erinnerungen sind ein Spiegel meiner Disposition und meiner Sicht der Dinge. Furcht und Argwohn sind mir vertrauter als Fröhlichkeit und Vorfreude. Ich wünschte, ich könnte es ändern. Traurig zu sein fällt mir nicht schwer. Wenn ich Pavarotti ein paar Töne einer Arie aus »Tosca« oder »LaTraviata« sin gen höre, breche ich in Tränen aus. Die Arien erinnern mich an meine Mutter. Sie starb vor dreizehn Jahren. Wenn ich Pavarotti höre, sehe ich meine Mutter vor mir, die in der Küche beim Geschirrspülen diese Arien summt. Die Gegend im East Village, wo wir unser erstes Jahr in New York verbracht haben, ist für mich voller Erinnerun gen. 32
Wir kannten niemanden, als wir herzogen. Und ich fürchtete mich vor der Stadt. Ich hatte von Schießereien und Überfällen und der Herzlosigkeit der New Yorker gele sen. In den ersten zwei Wochen aßen wir jeden Abend in ei nem neonbeleuchteten Imbißladen. Wir hatten eine win zige Küche und kein einziges Küchengerät. Ich war zu furchtsam, um mich über die unmittelbare Nachbarschaft hinauszuwagen. Was ein Fehler war. Fast jede andere Gegend wäre erhebender als die, in der wir wohnten. An jeder Straßenecke traf man auf Dealer und Drogensüchtige. Und auf Leute, die Selbstgespräche führ ten. East Village ist heute kaum wiederzuerkennen. Es ist vol ler junger Leute und Cafés und Parks und Gärten. Ich gehe oft hin. Es gefällt mir dort. Ich war letzte Woche dort. Ich wartete an einer Ampel an der Second Avenue, als plötzlich Roy Orbison zu hören war, der »Only the Lonely« sang. Die Musik ertönte aus einem Laden mit Kleidern der 50er Jahre. Ich merkte, daß ich leise mitsang. Ich war wie verwan delt. Ich war wieder fünfzehn. Ich ging die ganze Second Avenue mit einem Lächeln auf den Lippen entlang.
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Falten »Wenn man zu schnell geht, bekommt man Falten«, sagte eine Nachbarin zu mir. Um mir das mitzuteilen, hatte sie mich mitten auf dem West Broadway angehalten. »Tatsächlich?« sagte ich. »Davon bin ich felsenfest überzeugt«, antwortete sie. Ich sah ihr Gesicht an. Sie ist um die Sechzig. Ihr Gesicht war verhältnismäßig faltenlos. »Ich kenne Sie«, sagte sie. »Sie gehen immer sehr schnell.« Damit hat sie recht. Ich gehe gern schnell. Es ist gar nicht so einfach, auf den überfüllten Straßen Manhattans schnell zu gehen. »Ich gehe gern schnell«, sagte ich zu meiner Nachbarin. Ihre Miene war mißbilligend. Diese Nachbarin hatte mich einmal eingeladen, sie zu einer ihrer regelmäßigen Medita tionsübungen zu begleiten. Ich hatte abgelehnt. Ich hatte erklärt, daß Meditieren mich nervös macht, unsicher macht. Danach war sie weni ger freundlich gewesen. »Ich gehe nie schnell«, sagte sie. »Wenn man schnell geht, runzelt man die Stirn. Und davon bekommt man Fal ten.« Ich witterte ein Schlupfloch in ihrer Argumentation. »Aber ich tue es so gern«, sagte ich. »Ich wette, daß ich glücklich aussehe, wenn ich gehe. Ich runzle garantiert nicht die Stirn.« Das sagte ich mit voller Überzeugung. Aber als sie gegan gen war, verspürte ich Zweifel. Und begann zu grübeln. Dieses Grübeln über mögliche Runzeln und Falten beein trächtigte meine Freude am Gehen auf Tage hinaus. Ich versuchte meinen Gesichtsausdruck beim Gehen überall zu erspähen, in Schaufenstern und auf Windschutz 34
Scheiben. Und immer, wenn es mir gelang, meine Miene zu sehen, hatte ich die Stirn gerunzelt. »Als letzter Ausweg bleibt einem immer noch die Schön heitschirurgie«, sagte Geoffrey, mein Friseur. Ich hatte ihn gefragt, ob er eine auffällige Zunahme der Falten in mei nem Gesicht über die letzten zwei, drei Jahre bemerkt habe. Ich beschloß, seine Worte nicht gehört zu haben. Ich kann mir nicht leisten, ihn zu vergraulen. Er ist für mich le benswichtig. Mein Haar ist lockig. Es ist nicht leicht, Lok ken dazu zu bringen, in den gewünschten Winkeln und Richtungen zu liegen und zu fallen. Es erfordert einen ge wandten Friseur, Locken gefällig wirken zu lassen. Geoffrey ist Experte für plastische Chirurgie. Er arbeitet in der Upper East Side. Er kennt die Namen der besten Schönheitschirurgen für jeden einzelnen Körperteil. Er redet über Fettabsaugen an Schenkeln und Kinn, über Lidkorrekturen und Bauchstraffungen, als handele es sich um ein Gespräch über das Wetter. »Sie sehen gut aus«, sagte ich zu ihm, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen. Er sah gut aus. Er ist ein gutaussehender junger Mann. Immer in Gucci und Prada gekleidet. Er trägt Designerkleidung und teure Uhren. Seit Jahren bewundere ich seine wachsende Rolex- und Cartier-Samm lung. Friseure sind nicht mehr, was sie einmal waren. Dieser Vierunddreißigjährige verdient mehr als die meisten Ärzte. »Sie sehen gut aus«, wiederholte ich. Ich sah ihm an, daß er noch immer überlegte, welche Möglichkeiten der plasti schen Chirurgie mir von Nutzen sein könnten. »Ja, ich sehe gut aus«, sagte er, »weil ich gerade wieder Botulismusinjektionen hatte.« »Botulismusinjektionen?« sagte ich. In der New York Times hatte ich gelesen, daß Botulismusinjektionen sich mittlerweile großer Beliebtheit erfreuten. Der Botulismus 35
wird an verschiedenen Stellen in die Gesichtshaut ge spritzt. Das Gift paralysiert die Muskulatur. Es verhindert, daß man die Stirn runzelt oder die Augen zusammenkneift oder grimassiert. Dadurch wirkt die Haut glatter. Botulismus war früher einmal eine schwere, oft genug tödlich verlaufende Form der Lebensmittelvergiftung. Und heute ist es etwas, worum sich die Leute reißen. Viele Leute. Geschäftsleute stehen Schlange, um sich Botulismus inji zieren zu lassen. Sie finden, daß die Injektionen ihnen für schwierige Verhandlungen nützlich sind. Streß und An spannung werden hinter einer ausdruckslosen Maske ver steckt. Nach sechs Monaten klingen die Symptome ab. Nach sechs Monaten benötigt man neue Injektionen. Geoffrey hatte sich an der Stirn und um die Augen herum behandeln lassen. »Es tut gar nicht so weh«, sagte er. »Aber in den ersten Tagen ist es ein eigenartiges Gefühl. Man will die Stirn runzeln und kann es nicht.« Ich ging vom Friseursalon zu Fuß nach Hause. Es ist ein langer Weg. Mehr als achtzig Häuserblocks. Ich ging schnell und spielte mit dem Gedanken, mir Botulismusin jektionen verabreichen zu lassen.
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Familie Mein zweiundachtzigjähriger Vater erwägt eine Prostata operation. Für Männer seines Alters keine ungewöhnliche Operation. Er hat mich angerufen, um Vor- und Nachteile mit mir zu besprechen. Ich mache mir Sorgen. Ich will nicht, daß an ihm herum operiert wird, wenn es nicht wirklich notwendig ist. »Es ist keine große Sache«, sagt er. »Außer«, fügt er nach ein paar Sekunden hinzu, »daß ich hinterher impotent sein könnte.« Mir ist unbehaglich zumute. Es wäre mir wohler, wenn ich mit ihm die Gefahren einer Anästhesie diskutieren könnte und nicht seine potentielle Impotenz. »Oh«, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Ich versuche, dieses »Oh« mitfühlend klingen zu lassen. »Es macht nichts«, sagt mein Vater ein bißchen kummer voll. »Ich habe sowieso niemanden, mit dem ich Sex haben könnte.« Ich hole tief Luft. Das ist nicht die Art Gespräch, auf die ich Wert lege. »Dann bin ich eben impotent. Was soll's ?« sagt mein Va ter plötzlich in lebhafterem Ton. Ich merke, daß er das Be ste aus der Situation machen will. »Es ist nicht wichtig«, sagt er nicht allzu überzeugend. Ich erzähle einer Freundin vom Dilemma meines Vaters. »Wenn er sich operieren läßt, kann er impotent werden«, sage ich. »Na ja, sein Teil Sex hat er ja wohl gehabt«, sagt sie. Ich bin überrascht. Sie kennt meinen Vater gar nicht. Ich begreife, daß sie meinen Vater mit dem Vater in meinen Romanen verwechselt. Ich sage nichts dazu. Ich will meinem Vater nicht das Image des sexuellen Schwerenöters nehmen. Für einen Au 37
genblick frage ich mich, wieviel Sex »sein Teil Sex« darstel len mag. Mein Sohn ruft mich an, um das Befinden meines Vaters mit mir zu besprechen. Er erzählt mir andere Neuigkeiten. Sein Freund Roger V. litt unter Depressionen und wird jetzt mit Prozac behandelt. »Es geht ihm schon viel besser«, sagt mein Sohn, »aber Orgasmen kann er keine mehr haben.« »Oh«, sage ich. »Es ist eine verbreitete Nebenwirkung«, sagt mein Sohn. »Ein hoher Preis dafür, daß es einem bessergeht. Orgasmen sind eine der wahren Freuden des Lebens.« Ich spüre, wie ich erröte. Wie kam das Gespräch auf die ses Gleis ? Ich merke, daß ich keine Antwort gegeben habe. »Ja, natürlich«, sage ich schnell. Später am Tag gehe ich mit meiner jüngsten Tochter über die Fifth Avenue. Es ist früher Abend. Dort, wo wir gehen, ist die Fifth Avenue voller Studenten der New York Univer sity. Ich bin gerne dort, wo Studenten sich aufhalten. Die Atmosphäre wirkt intellektueller, lebendiger, hoffnungs froher. »Die meisten Kerle, die ich kenne, wollen keinen oralen Sex«, sagt eine junge Frau, an der wir vorbeigehen, zu ih rem Freund. Ich bin sprachlos. Ich schaue mich nach dem Mädchen um, das diese Information zum besten gibt. Sie ist jung. Vielleicht neunzehn. Der Bursche, an den sie sich wendet, wirkt keineswegs peinlich berührt. Er nickt bloß. Als würden sie sich über den Zugfahrplan unterhalten. Ich bin stehengeblieben. Und kann meinen Blick nicht abwenden. Meine Tochter sieht zu dem Mädchen zurück. »Mit was für Leuten verkehrt die denn«, sagt sie mit einer Stimme, die vor Sarkasmus trieft. Ich schaue meine Tochter an. Was sagt sie da? »Alle Kerle wollen oralen Sex«, sagt meine Tochter. Ich bin sprachlos. Sie ist dreiundzwanzig. Sie ist unser Baby. Was weiß sie von diesen Dingen? Was hat sie alles getan? 38
Mir ist schwindlig. Ich fange an weiterzugehen. »Alle Kerle wollen oralen Sex«, wiederholt sie und lacht. Ich gehe schneller. Meine Tochter muß laufen, um mich einzuholen. »Es ist nicht schlimm, über so was zu sprechen«, sagt sie. Ich versuche mich zu beruhigen. Seit dem ImpeachmentVerfahren gegen Clinton wurde oraler Sex in der Schule diskutiert, in der Kirche und im Fernsehen. Das Thema sollte mich nicht zu nervös machen. »Auf jeden Fall hat das Impeachment-Verfahren die Qualität der Gespräche auf den Straßen von New York gehoben«, sage ich zu meiner Tochter. Und das stimmt. Straßengespräche sind nicht mehr, was sie früher waren. Sie drehen sich fast nur ums Einkaufen. Früher konnte man faszinierende Gesprächsfetzen mit an hören. Fesselnde Brocken und Fetzen aus anderer Leute Le ben. Man konnte Männer und Frauen über ihre Vermieter sprechen hören, ihre Mütter, ihre Geliebten, ihre Bankkon ten, ihre Therapeuten und Analytiker. Zahme Themen, verglichen mit Impotenz, Orgasmen und oralem Sex.
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Fettarm Am ersten Tag meiner ersten Lesereise in Deutschland wollte ich fettfreien Joghurt kaufen. Das war vor andert halb Jahren. Auf Lesereisen wird man ständig zum Essen eingeladen, mittags wie abends. Da heißt es aufpassen. Ich brauche Es sen nur anzusehen, um zuzunehmen. Vor meiner Abreise hatte ich ein Paket mit fettfreien Frühstücksflocken aufgegeben. Den Mitarbeitern meines deutschen Verlags sagte ich, sie sollten nicht lachen, wenn das Paket eintreffe. Es war dann ein großer Lacherfolg. Ich konnte es nicht so komisch finden. Ich suchte in Deutschland nach fettfreiem Joghurt. Uner müdlich. Er war nicht leicht zu finden. Ich vermutete, daß ein teures Feinkostgeschäft die richtige Adresse sei. Ich be fand mich gerade in München und begab mich in ein Ge schäft, das überaus luxuriös wirkte, wie ein Gourmettem pel. Alles war kunstvoll angeordnet. Artischocken lagen in exquisiten Körben. Die Radieschen sahen aus wie Rubine. Trauben waren wie Brautsträuße arrangiert. Äpfel und Bir nen wirkten wie ein Renoir-Gemälde. Das war kein Lebensmittelgeschäft, sondern eher eine Art Lebensmittelmuseum. Ich wußte, daß ich am richtigen Ort war. Hier mußte es einfach alles geben. Ich verlangte fettfreien Joghurt. Die Frau hinter der Theke sah ratlos drein. »Ohne Fett«, sagte ich in meinem besten Deutsch. Die Frau nickte. Sie verschwand und kehrte mit einem Joghurtglas wieder. Ich war glücklich. Gratulierte mir. Bis ich den Aufdruck »3,8% Fettanteil« auf dem Deckel des Joghurtglases sah. »Ohne Fett«, wiederholte ich. 40
Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. »Mit Fett schmeckt es viel besser«, sagte sie. Ein anderer Verkäufer erklärte mir, daß das Geschäft keinen fettfreien Joghurt führe. Die gleiche Erfahrung machte ich in mehreren anderen Städten, in Hamburg, Frankfurt, Düsseldorf, Leipzig. Ich erinnerte mich, daß eine Amerikanerin mir erzählt hatte, wie schwierig es sei, in Frankreich und Italien fettfreien Jo ghurt zu bekommen. Ich sah mich nach fettarmem Joghurt um, der schwer zu finden, aber immerhin erhältlich war. Der niedrigste Fett anteil - 0,3 % - kam mir in einem Berliner Supermarkt un ter. Die Deutschen um mich herum aßen alle ihren Joghurt mit 3,8% Fettanteil. Und Butter. Mit Neid und Bewunde rung betrachtete ich einen deutschen Geschäftsmann, der eine dick mit Butter bestochene Brotscheibe mit Käse krönte. Er war nicht dick, genau wie die meisten anderen Deutschen, vor allem im Vergleich zu Amerikanern. Warum? Amerikaner werden täglich dicker. Dicker und fetter. In der Washington Post stand, daß Amerikaner früher eine Sitzbreite von 45 cm als bequem empfanden. Heute benöti gen sie zunehmend mehr Platz. Ein Theater in Seattle hat 60 cm breite Sitze installiert, und die Platzanweiser sind ge halten, voluminösere Gäste unauffällig zu diesen Sitzen zu bugsieren. Ein Autohersteller hat den Umfang der Sitzpolsterung reduziert, damit mehr Platz für Hüften und Hintern bleibt. Und manche Fluggesellschaften haben die ausklappbaren Tabletts vor den Sitzen inzwischen höher angebracht, da mit sie den Bäuchen nicht im Weg sind. Amerika ist laut seiner Nationalhymne das Land der Freien und der Tapferen. Aber es ist auch das Land alles Fettfreien. In Amerika kann man jegliche Nahrungsmittel fettfrei erhalten - fettfreie Würste und fettfreien Schinken, 41
fettfreie Kekse und fettfreien Käsekuchen. Es gibt fettfreies Katzen- und Hundefutter, und wahrscheinlich könnte man auch fettfreies Fischfutter bekommen. Meine fettfreien Frühstücksflocken hatte ich portions weise in Plastikbeutel gepackt. »Sie sind Amerikanerin«, sagte eine Kellnerin in Frankfurt, die mich dabei beobach tete, wie ich mich mit meinen Frühstücksflocken abmühte. Ich versuchte eine würdevolle Miene aufzusetzen. Das ist nicht einfach, wenn man gerade Frühstücksflocken aus ei nem Plastikbeutel in eine Schale schüttet. Während der letzten Tage meiner Reise drückte ich mich vor fettarmem Joghurt und fettfreien Frühstücksflocken. Ich genoß jedes Gramm Fett in meinem Frühstück. Es war mir egal, ob ich dadurch zunahm. Die Hälfte aller Amerikaner ist übergewichtig, und ein Drittel ist fettleibig. Wie kann es dazu kommen, bei all den fettarmen und fettfreien Produkten? Warum sind Franzosen, Italiener und Deutsche, die in ei ner Welt überschüssiger Kalorien leben, nicht dicker als die Amerikaner? Das ist mir ein Rätsel.
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Frauen Frauen sind untereinander nicht großherzig. Ich sage es nicht gern. Es ist eine erschreckende Feststellung. Etwas, was man nicht gern laut sagt. Und doch ist es wahr. Und ich bin mir sicher, daß ich mit dieser Erkenntnis nicht allein bin. Ich bin mir sicher, daß andere sie auch gemacht haben. Insbesondere Frauen. Legenden wurden um die Herzlichkeit von Frauen gewo ben, um ihre Nähe zueinander, ihre Freundschaften, und diese Legenden haben dazu verholfen, die Feindseligkeit der Frauen untereinander, unsere Gemeinheit zu übertünchen. Frauen stehen einander in bestimmten Situationen bei. Liebesleid weckt unser Mitgefühl. Krankheiten und Schicksalsschläge lassen uns mitleiden. Wir tauschen Tips zur Kindererziehung und Diätemp fehlungen. Aber wir würden nie etwas mit einer anderen teilen, was ihr ermöglichen könnte, uns anderen gegenüber im Vorteil zu sein. Warum können wir untereinander nicht großzügig sein? Ist der Kuchen so klein, daß jede von uns ihr Stückchen mit Zähnen und Klauen verteidigen muß ? Wir tauschen uns nicht über Arbeitsbeziehungen und Kontakte aus. Wir tun so wenig wie möglich, um die Kar riere einer Geschlechtsgenossin zu fördern. Wir sind klein lich in allem, was einer anderen Frau zugute kommen könnte. Warum ist das so? Wir gelten als das weichere, sanftere, fürsorglichere Geschlecht. Warum kümmern uns die ande ren so wenig? Ich finde das sehr verstörend. Männer verhalten sich nicht so. Männer wissen, daß es in ihrem eigenen Interesse ist, anderen Männern zu helfen. Auch wenn sie sie nicht ausstehen können. 43
Wir Frauen sind uns selbst am meisten feind. Wir ver stricken uns in Streitigkeiten, Gehässigkeit, Rivalität, Kon kurrenz. Und die Folgen erkennen wir nicht. Die Folgen sind nicht schwer zu begreifen. Die Männer bleiben an der Macht. In fast allen Bereichen sind noch im mer die Männer an der Macht. Was stimmt nicht mit uns? Es fängt früh an. Mütter und Töchter haben allem Anschein nach eine weniger gefestigte Beziehung zueinander als ihre männlichen Entsprechun gen. Und so geht es weiter. Schulmädchen sind vom zartesten Alter an bereit, sich gegenseitig die Augen auszukratzen. Sind Jungen auch so? Ich glaube es nicht. Frauen gelten als sensibel, warmherzig und empfänglich. Wir gelten als rücksichtsvoll und mitfühlend. Wir gelten als Bewahrerinnen und Beschützerinnen. Wir gelten als Hegerinnen und Pflegerinnen. Männer und kleine Kinder hegen wir. Warum hegen wir nicht unse resgleichen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß wir es nicht tun. Statt dessen konkurrieren wir miteinander. Wir leben in einem Zustand der Dauerkonkurrenz mit anderen Frauen. Wir wollen die besseren Mütter sein. Wir wollen die voll kommeneren Ehefrauen sein. Wir wollen die besseren Kö chinnen, die besseren Hausfrauen und die Besseren im Bett sein. Wir wollen die bessere Figur haben und besser geklei det sein. Wir wollen einander übertreffen. Wir wollen einander übertrumpfen. Wir wollen einander umbringen. Vor allem, wenn die andere besser aussieht. Gutaussehende Frauen werden von anderen Frauen gern mit Häme überschüttet. Weniger attraktive Frauen bewir ken bei ihren Geschlechtsgenossinnen weniger Feindselig keit. Führen Männer sich auch so auf? Ich glaube es nicht. 44
Ich habe mir die gleichen Schuhe gekauft, die ich bei ei ner Bekannten gesehen hatte. Ich habe ihr versprochen, sie nicht zu tragen, wenn wir miteinander eingeladen sind. Würde so etwas bei einem Mann Sie nicht zum Lachen rei zen? Sie würden Tränen lachen, wenn ein Mann einen Ner venzusammenbruch bekäme, weil jemand anderes die glei che Krawatte oder das gleiche Sakko trägt. Männer sehen einander gern ähnlich. Warum ist das bei Frauen nicht so? Frauen wollen Distanz. Es fällt ihnen schwer, etwas zu teilen. Ich kann das verstehen. Ich muß den Friseur mit der Herzogin von York teilen. Das ist nicht leicht. Wenn Fergie in New York weilt, habe ich nichts zu melden. Sie belegt ihn jedesmal tagelang. Er schwärmt für sie. Manchmal verspüre ich Eifersucht. Vor ein paar Jahren wurde aus Fergies Gepäck auf dem JFK-Flughafen Schmuck gestohlen. Als ich beim Haare schneiden zu meinem Friseur meinte, es sei vielleicht nicht besonders klug von Fergie gewesen, den Schmuck in ihren Koffer zu packen, geriet er außer sich. Er hielt im Schneiden inne und trat einen Schritt zurück. »Sie hat was Besseres zu tun, als Schmuck einzupacken!« giftete er mich an. Ich habe Fergies Namen monatelang nicht erwähnt.
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Genossenschaftswohnungen Ich wohne in einer Genossenschaftswohnung. In New York sind die meisten Wohnhäuser im Besitz von Wohn baugenossenschaften, und so verhält es sich mit dem Haus, in dem ich wohne. Die Bewohner sind Anteilseigner an der Genossenschaft. Ihre Anteile variieren im Verhältnis zu Größe und Wert ihrer Wohnung. Als ich einzog, gefiel mir die Vorstellung, in einer Genos senschaftsanlage zu wohnen. Es klingt nach Gemütlichkeit und Gemeinschaftlichkeit. Oberflächlich betrachtet, trifft es zu. Alles macht einen unkomplizierten und genossenschaftlichen Eindruck. Im Alltagsumgang wird eine gewisse Höflichkeit beachtet. Die Leute sagen guten Morgen und guten Abend, und manch mal tauschen sie noch andere Begrüßungen. Niemand stiehlt dem anderen die Zeitung, und die meisten sind be reit, Pakete für abwesende Nachbarn entgegenzunehmen. Bei Mitgliederversammlungen werden manchmal an dere Dinge sichtbar. Es kann weniger höflich zugehen. Die lächerlichsten Beschwerden können publik gemacht wer den. Es kommt zu unerfreulichen Auseinandersetzungen und ungerechten Anschuldigungen. Anflüge von Rassis mus und Philistertum sind ein häufig auftauchendes Phä nomen. Die Leute in meinem Haus gehören zur Mittelschicht. Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Bankangestellte, Geschäftsmänner und -frauen. Die Beliebtheit einzelner im Haus unterliegt Ebbe und Flut. Im einen Moment ist man angesagt, im nächsten nicht mehr. Die Gründe für das Schwanken des Status sind meistens nicht klar auszuma chen. Die wechselnden Allianzen und unerklärlichen Ver stimmungen erinnern mich an die Schulzeit. 46
Mein Mann und ich haben den Liebesentzug der anderen Hausbewohner erlebt. Bis dahin waren wir - wie mir scheint - einigermaßen wohlgelitten gewesen. »Liebesent zug« ist eine leise Untertreibung. Vor zweieinhalb Jahren haben wir unsere Wohnung für zwei Monate untervermietet. So etwas ist in New York, ei ner Stadt mit exorbitanten Wohnungsmieten, gang und gäbe. Eine Freundin, die ihr Haus in der Stadt jeden Sommer vermietet, hatte mich dazu überredet, es zu tun. In sech zehn Jahren, sagte sie, sei bei ihr kein einziges Glas zerbro chen worden. Die Mieter, die wir fanden, hatten untadelige Referen zen. Wir gaben dem Genossenschaftsvorstand ihren Anteil an der Miete und verreisten nach Mexiko. Wir hatten uns vorgestellt, zwei Monate des New Yorker Winters in der Sonne damit zu verbringen, zu malen - mein Mann ist Ma ler - und zu schreiben. Während unserer Abwesenheit brannte unsere Woh nung aus. Die Räume wurden vom Feuer zu mehr als fünf zig Prozent zerstört. Der Feuerwehrhauptmann von New York City rief uns in Mexiko an. Er war sehr nett. Die Brandursache vermutete man in einem defekten Mehrfachstecker, den die Untermieter mitgebracht hatten. Mehrfachstecker sollen sich von selbst ausschalten, wenn sie überhitzt werden. Der hier tat es nicht. Am Tag, nachdem ich die Nachricht erfahren hatte, wachte ich in Mexiko auf und fragte mich, ob ich noch ein Foto von meiner verstorbenen Mutter besaß. Es stellte sich schnell heraus, wie hoch der Tribut war. Mehr als tausend Bilder meines Mannes waren zerstört. Dreißig Jahre meiner Tagebücher waren fort. Ebenso die Kinderfotos von meinen Kindern. Und die Fotografien von meiner Mutter. Wir kehrten zu einem Berg verbeulten und geschwärzten 47
Schutts zurück, der unser Zuhause gewesen war. Relikte von Jahren des Fotografierens lugten aus dem Schutt. Ich war eine eifrige Fotografin gewesen und hatte das Leben meiner Kinder Schritt auf Tritt dokumentiert. Meine Eltern haben beide, jeder allein, Auschwitz überlebt. Wir hatten keine Fotografien oder Dokumente aus ihrem früheren Le ben. Keine Vergangenheit, deren wir uns versichern konn ten. Ich fand in meiner Küche ein geschmolzenes Küchenge rät meiner Mutter, und ich weinte. Als erstes verlangte die Genossenschaft von meinem Mann, daß er vom Vorstand zurücktrat. Das Feuer, sagten sie, habe das Gebäude stark in Mitleidenschaft gezogen. Das stimmte zweifellos. Rauch war in andere Wohnungen eingedrungen. In einer Wohnung waren die Fensterschei ben geborsten. Der stechende Brandgeruch war lange nicht aus dem Haus zu vertreiben. Der Aufzug war tagelang außer Betrieb. Nachbarn funkelten uns erbost an. Nachbarschaftliche Gefühle machten sich nicht gerade bemerkbar. Niemand bot uns einen Mantel oder eine Tasse Tee an. Es dauerte ein Jahr, bis wir unsere Wohnung wieder aufgebaut hatten und sie wieder beziehen konnten. Es kam mir endlos vor. Jetzt sind wir zurückgekehrt. Und die Höflichkeit hat wieder Einzug gehalten. Im Haus nicken die Leute einem zu und sagen guten Morgen und guten Abend.
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Gerüche Die neueste Bäckerei, die in SoHo aufgemacht hat, ist Le Pain Quotidien an der Grand Street. Die älteste ist die Ve suvio Bakery an der Prince Street. Ihr Äußeres kommt in Dutzenden von Filmen über New York vor, figuriert auf Postkarten und als Hintergrund von Modeaufnahmen. Das Vesuvio war früher die einzige Bäckerei in der Um gebung. Aber mit einem Mal wimmelt es geradezu von Bäckereien. Manche New Yorker Spitzenlokale - das Bal thazar, das Blue Ribbon und Bouley - haben eigene Bäcke reien eröffnet. Ich weiß nicht, warum Brot auf einmal so schick gewor den ist. Aber der Geruch dieser zahllosen Bäckereien treibt mich in den Wahnsinn. Ich kann mich keine zwei Häuser blocks von meiner Wohnung entfernen, ohne vom Brot aroma überwältigt zu werden. Manchmal denke ich, daß sie die Backaromen und -düfte direkt vom Ofen auf die Straße blasen. Um unsereins in den Laden zu locken. Gerüche können so verführerisch sein. Sie können einen in andere Zeiten und an andere Orte versetzen. Der Geruch neuen Pappkartons versetzt mich unweiger lich in meine Kindheit zurück. Ein paar Häuser von unse rem Zuhause in Melbourne entfernt, wo wir uns als Flücht linge niedergelassen hatten, gab es eine Kartonagenfabrik. Ich liebte den Geruch der Pappe. Endlose Stunden ver brachte ich damit zuzusehen, wie die Pappe geschnitten und gestapelt wurde. Es war eine Zuflucht vor anderen, schwierigeren Aspekten meiner Kindheit. Ich war begierig auf Pappstücke. Noch heute bin ich auf Pappe fixiert. Das heißt, Papier und Kartonagen jeder Art erscheinen mir als ausgesprochen begehrenswert. In altmo 49
dischen Schreibwarengeschäften macht mich der Geruch von Papier und Tinte lächerlich glücklich. Gerüche sind ein äußerst idiosynkratischer und subjekti ver Sinneseindruck. Warum ist die eine Person für unsere Begriffe wohlriechend, eine andere mehr als übelriechend? Ein schwer erklärbares Phänomen. Gewiß ist jedenfalls, daß Gerüche ebensogut verführen wie abstoßen können. Der Geruch mancher New Yorker Straßen bei großer Hitze ist etwas, wovor ich mich jeden Sommer fürchte. So gar frühmorgens geht von den Bürgersteigen vor einigen New Yorker Restaurants ein übelkeiterregender Gestank aus. Er entstammt den Relikten der Abfallkübel, die nachts für die Müllabfuhr nach draußen gestellt wurden. Die Bür gersteige werden mit dem Wasserstrahl gereinigt, bevor die Lokale am nächsten Tag wieder öffnen. Bis dahin kann der Gestank einen zum Würgen bringen, wenn man mit leerem Magen vorbeigeht. Gerüche sind ein machtvoller Faktor in unserem Alltag und in unserer Erinnerung. Es gibt Essensgerüche, die meine Essensneurosen wieder zum Leben erwecken. Viele Krisenmomente meines Verhältnisses zum Essen kann ich nacherleben - Momente, in denen ich mehr haben wollte oder weniger oder das, was ein anderer hatte. Andere Gerüche sind mit angenehmeren Erinnerungen verbunden. Der Geruch guten Kaffees beispielsweise. Für mich schwingt im Aroma frischgemahlenen Kaffees so viel anderes mit, andere Kaffees, andere Cafés, andere Gesprä che. Manche Gerüche sind einfach unwiderstehlich. Der Ge ruch von Schokolade beispielsweise. An Schokoladenthe ken muß ich schnell vorbeigehen, bevor der Geruch mir in die Nase steigt. Gerüche können aber auch unangenehme Assoziationen und Erlebnisse herbeibeschwören. So der Geruch der War 50
tezimmer von Arztpraxen oder der zahnärztlicher Instru mente. Gerüche sind durchdringend. Sie drängen sich nicht we niger auf als Lärm. Ich verabscheue Lärm. Manhattan ist voller Lärm. Ich finde Lärm so umweltbelastend wie Smog oder Qualm. Heute morgen kam ich an einem Mann vorbei, der oft auf meiner Straße steht und singt. Er hat einen Walkman auf. Er singt mit, was er sich anhört. Er kann sich nicht singen hören. Das ist nicht weiter schlimm. Er ist ein schauderhafter Sänger. Sein Gesang ver ursacht mir Kopfschmerzen. Heute morgen sang er Chers Hit »Believe« mit. Ich erkannte die Melodie trotz der un musikalischen Wiedergabe. Ich fing an, über Cher nachzudenken, und war glücklich. Der Gedanke, daß eine Frau in den Wechseljahren so er folgreich und einflußreich und schön sein kann, war so be geisternd, daß ich am liebsten gehüpft wäre. Ich schritt erhobenen Hauptes an der neuen Bäckerei in der Grand Street vorbei und verschwendete keinen Gedan ken mehr an frisches pain au chocolat.
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Geschenke Neulich hat mir eine Freundin pinkfarbene Bettlaken ge schenkt. Sie leuchteten so grell, daß sie fast neonfarben wirkten. Wenn sie noch eine Spur greller wären, müßte man mit Sonnenbrille ins Bett gehen. Meine Freundin wollte sich damit für einen Gefallen be danken. Als ich die Laken aus dem Geschenkpapier wik kelte, bekam ich bei ihrem Anblick Kopfschmerzen. Auf solchen Laken zu schlafen würde mir eine Migräne besche ren. Für einen Augenblick fragte ich mich, ob ich aussehe wie jemand, der gern auf pinkfarbenen Laken schläft. Ich glaube es eigentlich nicht. »Wenn sie dir nicht gefallen, kannst du es ruhig sagen, weil ich sie selber ganz toll finde. Am liebsten hätte ich sie für mich behalten«, sagte meine Freundin. »Sie sind wunderbar; sie werden auf meinem Bett sicher toll aussehen«, sagte ich. »Das dachte ich mir auch«, sagte sie in zufriedenem Ton. Wie kam sie auf so eine Idee? fragte ich mich. Seit Jahren ist meine Bettwäsche ausschließlich weiß. Letzten Monat, als ich eine graue Decke kaufte, war ich ganz aufgeregt. Warum habe ich meine Freundin angelogen? Warum konnte ich nicht zugeben, daß ich keine pinkfarbenen Bett laken mag ? Schließlich hatte sie mir den Weg geebnet - sie hatte gesagt, sie würde sie gern behalten. Mir scheint, daß ich fürchtete, mangelnde Begeisterung über das Geschenk könne unsere Freundschaft beeinträch tigen. Ich habe die Laken der Heilsarmee geschenkt. Und mich für die Farbe entschuldigt. »Die Farbe ist schwer im Kom men«, sagte die Frau, die sie entgegennahm. 52
Auf dem Heimweg schämte ich mich für meinen Snobis mus. Es war doch wohl nicht zuviel verlangt, auf Laken in egal welcher Farbe zu schlafen. Und es war nicht zuviel ver langt, die Wahrheit zu sagen, wenn man etwas geschenkt bekam. Ich ging die Fifth Avenue entlang und schämte mich. Ich war ein Snob und eine Lügnerin. Warum fiel es mir so schwer, die Wahrheit zu sagen? Eine Freundin schenkte mir einmal einen Schal mit Blu menmuster. Das Geschenk machte mich ratlos. Ich hätte gedacht, es wäre ein leichtes, aus meiner vorwiegend schwarzen Garderobe zu schließen, daß Blumenmuster meine Sache nicht sein können. Außerdem trage ich nie Schals. Sobald ich einen Schal zu tragen versuche, geschieht etwas mit mir. Mein Aussehen verändert sich. Ich verwandle mich in eine Stewardeß. Aber statt die Wahrheit zu sagen, bedankte ich mich überschwenglich für den Schal. Er liegt noch heute in ir gendeiner Schublade. Ich weiß nicht, warum es uns so schwerfällt, anderen einzugestehen, was wir empfinden. Ich weiß nicht, warum wir nicht ehrlicher miteinander umgehen können. Aber wir können es nicht. Es fällt uns schwer, Dinge zu sagen, die anderen eine Freude machen könnten, ganz zu schweigen von Dingen, die sie verletzen oder verunsichern konnten. Ich habe dich so gern, ist schwer zu sagen. Ich wäre gern mit dir befreun det, bleibt uns im Halse stecken, wenn wir älter als zehn Jahre sind. Ich bin zu Abendessen gegangen, zu denen ich nicht ge hen wollte. Ich habe Cocktailpartys besucht, die mir ein Graus waren. Weil ich nicht imstande war, die Wahrheit zu sagen. Ich habe »Das Rheingold« abgesessen, den ersten Teil der Wagnerschen Operntetralogie »Der Ring des Nibelun 53
gen«. Ich saß in einer Loge bei der Aufführung der Metro politan-Opera-Inszenierung im Lincoln Center und tat so, als freute ich mich darüber. Ich war von Opernliebhabern eingeladen worden und hatte mich nicht getraut, die Einladung abzulehnen. Ein anderer als ich hätte »Das Rheingold« faszinierend gefun den, aber mich macht Wagner nervös und unfroh. Als die Nibelungen in ihrer Wohnstatt unter der Erde gruben und arbeiteten, krallte ich die Hände in meinen Sitz. Am Ende des zweiten Akts wäre ich am liebsten gegangen, aber ich traute mich nicht, meine Gefühle zu erkennen zu geben. Ich war sehr erleichtert, als die Aufführung zu Ende war. Als wir das Theater verließen, bedankte ich mich über schwenglich bei meinen Gastgebern, einem Ehepaar. »Hät ten Sie Lust, Teil zwei zu sehen, >Die Walküre