Rainer Friedel · Edmund A. Spindler (Hrsg.) Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume
VS RESEARCH
Rainer Friedel Edmund A. Spindler (Hrsg.)
Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume Chancenverbesserung durch Innovation und Traditionspflege
Mit einem Grußwort von Sigmar Gabriel
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und der Deutschen Bank.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Christina M. Brian / Anita Wilke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16542-4
Inhaltsverzeichnis
Grußwort des Bundesumweltministers Sigmar Gabriel ................................................................................................... 11 Einleitung Die Vitalität ländlicher Räume bedarf vieler Hände Rainer Friedel, Edmund A. Spindler .................................................................. 13 Die Neuseddiner Botschaft: Ländliche Räume haben Zukunft! .......................... 16
Kapitel I: Positionen der Parteien im Deutschen Bundestag .... 23 CDU-Programm für lebendige ländliche Räume Gabriele Hopp .................................................................................................... 25 Die Zukunft des ländlichen Raumes gestalten – der CSU-Ansatz Werner Bumeder ................................................................................................. 32 Von der Landwirtschafts- zur integrierten ländlichen Entwicklungspolitik – die Sicht der SPD Martin Wille........................................................................................................ 36 Ländliche Räume in Deutschland haben Zukunft – die Position der FDP-Bundestagsfraktion Christel Happach-Kasan .................................................................................... 45 Politik für das Land. Grüne Perspektiven für ländliche Räume Cornelia Behm, Winfried Schröder, Skadi Krause ............................................. 49 Gemeinsam mit dem katholischen Mädchen vom Lande. Linke Politik für ländliche Räume Jens-Eberhard Jahn............................................................................................ 65
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Kapitel II: Politik und Forschung ........................................................ 73 Mit der LEADER-Methode zur nachhaltigen Regionalentwicklung Elisabeth Schroedter........................................................................................... 75 Ländliche Räume und Politik zu deren Entwicklung Peter Weingarten ................................................................................................ 93 Ansteigende Diversitäten ländlicher Räume? Schlussfolgerungen für die Regionalpolitik Siegfried Bauer ................................................................................................... 97 Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland Benjamin Nölting .............................................................................................. 113 Faktoren für den Erfolg einer nachhaltigen und integrierten ländlichen Regionalentwicklung Michael Böcher................................................................................................. 127 Landschaftsschutz durch Landnutzung Martin Fuchs .................................................................................................... 139 Nachhaltige Landwirtschaft in ländlichen Räumen Doris Pick ......................................................................................................... 150 RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung in der EU Sandra Naumann, Andreas Frangenberg......................................................... 168 Landwirtschaftliche Wirtschaftsgemeinschaften (Community Supported Agriculture, CSA) – ein Weg zur Revitalisierung des ländlichen Raumes? Katharina Kraiß, Thomas van Elsen ................................................................ 183 Leistungen Sozialer Landwirtschaft in Deutschland. Perspektiven im ländlichen Raum Marie Kalisch, Thomas van Elsen .................................................................... 195 Witzenhäuser Positionspapier zum Mehrwert Sozialer Landwirtschaft............ 209
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Der Innovationsbeitrag einer „Agrarethik“ zur Zukunftsentwicklung ländlicher Räume Wolfgang Nethöfel, Uwe Meier......................................................................... 214 Neue regionsbezogene Studienabschlüsse an der Fachhochschule Eberswalde: Bachelor „Regionalmanagement“ und Master „Regionalentwicklung und Naturschutz“ Horst Luley ....................................................................................................... 234
Kapitel III: Erfahrungen in europäischen Regionen ................. 239 Die Politik von territorialen Selbstverwaltungseinheiten in Polen in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume – grundlegende Entwicklungsbarrieren, Förderungs- und Finanzierungsinstrumente Łukasz Bis, Jan Rafal Bis.................................................................................. 241 Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht Karl Trischler ................................................................................................... 253 Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt: innovatives Regionalmanagement für strukturschwache ländliche Regionen in Osteuropa Thomas Wehinger, Uwe Krappitz, Jens Adler, Detlev Böttcher ....................... 266 Weiterbildung rumänischer Landwirte zur Nutzung der neuen Förderprogramme für eine umweltfreundliche Landbewirtschaftung Bruno Schuler, Ekkehard Schröder .................................................................. 280 Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum – neue Strategien der Deutschen Vernetzungsstelle (DVS) Anke Wehmeyer ................................................................................................ 293
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Kapitel IV: Projekte aus der Praxis .................................................. 297 Multifunktionelle Landwirtschaft als Motor der Regionalentwicklung Albrecht Broßmann........................................................................................... 299 Die Zukunft des Melkens auf dem Lande Jochen Döhring ................................................................................................ 308 Die LEB-Dienstleistungsagentur als Impulsgeber einer nachhaltigen Regionalentwicklung in der Diepholzer Moorniederung Cord Petermann................................................................................................ 312 Wirtschaftswachstum in regionalen Wertschöpfungsketten. Die Regionalmarke „VON HIER“ Gerd Lehmann .................................................................................................. 326 Die Erfolgsgeschichte „Spreewaldgurke“ – Historisches zur Gurke Dieter Irlbacher ................................................................................................ 334 UNESCO-Biosphärenreservate: Modellregionen für nachhaltige Wirtschaftsentwicklungen im ländlichen Raum – Beispiele aus dem Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin Eberhard Henne ............................................................................................... 345 Ländliche Baukultur im Prignitzer Elbetal Silke Last ......................................................................................................... 353 LANDaktiv – Initiative für Leben im ländlichen Raum Brandenburgs Cornelia Kühl ................................................................................................... 367 Entwicklungen von Landwirtschaft und Naturschutz im Landschaftsschutzgebiet „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“ (Sachsen, Landkreis Meißen) Klaus-Peter Arnold, Holger Oertel, Betina Umlauf ......................................... 375 Die Altmark – eine Kulturlandschaft im Spannungsfeld von Schrumpfung, Chancen und Visionen Dirk Michaelis .................................................................................................. 389
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Gemeinweseninitiativen – Stützen nachhaltiger lokaler Entwicklung Marion Piek ...................................................................................................... 405 Wirtschaftsförderung in der Wesermarsch – ein ganzheitlicher Ansatz zur Regionalentwicklung Jörg Wilke......................................................................................................... 413 Trinationales Projekt „Oder-Neisse-Paradiese“ – Gartenkunst und Landschaftskultur beiderseits der Oder-Neisse-Linie Hartmut Solmsdorf............................................................................................ 429 Familienlandsitze im ländlichen Raum Frank Willy Ludwig .......................................................................................... 438 Gesucht: Unternehmer für die Region Brigitte Schramm, Hans-Werner Preuhsler...................................................... 448 Die Regionalwert AG – Bürgeraktiengesellschaft in der Region Freiburg Christian Hiß .................................................................................................... 460 Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung zur Entwicklung ländlicher Räume Rainer Friedel................................................................................................... 470 Autoren ............................................................................................................. 489
Grußwort des Bundesumweltministers
Mit dem Buch wird ein für ländliche Räume gerade zum jetzigen Zeitpunkt wichtiger Themenkomplex behandelt. Die neuen Förderrichtlinien der Bundesländer zur sog. ELER-Verordnung der EU, welche die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums betrifft, liegen jetzt vor. Es gilt zukunftsweisende Maßnahmen im Bereich der Schnittstelle zwischen Umweltschutz, Landwirtschaft, Innovation und Beschäftigung zu entwickeln. Dies hatten wir bereits in der Konferenz meines Ministeriums „Naturschutz, Landwirtschaft und ländliche Entwicklung – wohin steuern wir in der EU?“ im April 2007 angesprochen. Umso mehr freue ich mich, dass dieses Thema jetzt weiter konkretisiert und mit Beispielen angereichert wird. Die deutsche EU-Präsidentschaft stand im Umweltbereich unter dem Motto Umwelt, Innovation und Beschäftigung. Ich bin überzeugt, dass eine moderne Umweltpolitik und eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik keine Gegensätze darstellen, sondern ganz im Gegenteil zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. In Zeiten der großen globalen Herausforderungen im Klimaschutz und beim Naturschutz ist ein erfolgreiches Wirtschaften ohne ambitionierten Klima- und Umweltschutz nicht möglich. Die Energie- und Rohstoffreserven unserer Erde werden knapper und damit teurer. Mit dem Klimawandel riskieren wir nicht nur irreversible ökologische Schäden, sondern auch enorme soziale und ökonomische Verwerfungen. Die Leitmärkte der Zukunft sind deshalb grüne Märkte – sie drehen sich um nachwachsende Rohstoffe, erneuerbare Energien, Energieeffizienztechnologien, um Umwelttechnologien in den Bereichen Wasser, Abfall und nachhaltige Mobilitätstechnologien. Und sie schaffen Arbeitsplätze: In Deutschland arbeiten heute schon 1,7 Millionen Menschen im Umweltbereich. Für die Landwirtschaft und die ländlichen Regionen ist eine intakte Umwelt die wichtigste Ressource. Ohne intakte Ökosysteme mit ihrer Vielfalt an Arten und Lebensräumen ist ein Leben in Würde und wirtschaftlichem Wohlstand nicht vorstellbar. Deshalb geht es darum, die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft zu sichern – für unsere Kinder und deren Kinder, im Interesse der Arbeitsplätze der Zukunft und im Interesse von Frieden und Stabilität auf dieser Erde. Viele ländliche Räume Europas haben mit zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen. Immer mehr Menschen wandern aufgrund fehlender Arbeitsplätze und sinkender Lebensqualität in die Ballungsräume ab.
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Bundesumweltminister Sigmar Gabriel
Darunter sind überproportional viele Frauen, junge und besser qualifizierte Menschen. Für eine tragfähige Entwicklung müssen wir auf das spezifische Potenzial ländlicher Räume bauen. Das bedeutet in erster Linie, das Naturkapital ländlicher Räume wie natürliche Landschaften, saubere Luft und fruchtbare Böden zu bewahren und mittels dieser Ressourcen eine nachhaltige Wirtschaft aufzubauen. Potenziale bietet zum Beispiel der naturverträgliche Tourismus, aber auch die Produktion nachwachsender Rohstoffe und erneuerbarer Energien, die Direktvermarktung oder Verarbeitung land- und forstwirtschaftlicher Produkte, Dienstleistungen rund um den Naturschutz, in der Landschaftspflege und in der Gewässerunterhaltung. Ökologisch erzeugte Produkte erfreuen sich zunehmender Beliebtheit bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Die nun bereits seit einigen Monaten und Jahren anhaltende Nachfragesteigerung ist ungebrochen. Das schafft zusätzliche Arbeitsplätze und schont die Umwelt. Ich bin fest davon überzeugt: Der Umwelt- und Naturschutz hat das Potenzial, eine entscheidende Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Regionen zu bilden – wenn wir es richtig anstellen. Die multifunktionale Landwirtschaft ist ein wesentlicher Faktor für eine nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raums. Sie unterstützt darüber hinaus auch das Erreichen der Ziele der Biodiversitätskonvention. Für die weitere Ausgestaltung der EU-Politik und des EU-Finanzmodells sollte man erfolgreiche Modelle und Beispiele einer multifunktionalen Landwirtschaft sammeln und gezielt auswerten.
Sigmar Gabriel, Mitglied des Deutschen Bundestages, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU)
Einleitung Die Vitalität ländlicher Räume bedarf vieler Hände
Rainer Friedel, Edmund A. Spindler
Wir beobachten bei unserer Arbeit, dass ländliche Räume in Europa sich in einem beschleunigenden Differenzierungsprozess befinden. Einige entwickeln sich sehr erfolgreich. Sie werden zu rentablen Agrarstandorten und attraktiven Tourismusregionen. Sie bieten der mittelständischen Wirtschaft Ansiedlungsanreize und geben dem Ressourcenschutz eine große Aufmerksamkeit. Den Bewohnern wird eine Lebensperspektive in ihrer Heimat gegeben, wo die gewohnten Bräuche gepflegt werden und wo öffentliches Gemeinschaftsleben stattfindet. Andere ländliche Räume entleeren sich in einem unvorstellbaren Tempo. Sie haben für ihre Einwohner, insbesondere für die mobile Jugend, keine Anziehungskraft mehr. Die Arbeitslosigkeit ist besorgniserregend hoch; neue Arbeitsplätze sind ein halbes Berufsleben lang nicht mehr entstanden. Schulen müssen zusammengelegt und bald danach geschlossen werden. Statt Landschaft und Natur zu schützen und zu pflegen, werden diese ausgebeutet. Häufig sind hier zu wenige Menschen, die sich für die Zukunft interessieren. Die Einwohner in diesen Regionen scheinen sich geradezu gegenseitig anzustecken mit Mutlosigkeit und Resignation. Dieser Differenzierungsprozess zwischen erfolgreichen Räumen und desolaten Gebieten verläuft in Europa vor dem Hintergrund ähnlicher rechtlicher Rahmenbedingungen. Die Ausstattung der Akteure und Einwohner mit Informationen über globale und regionale Umwälzungsprozesse sind vergleichbar. Die Bedingungen für die staatliche Förderung von Infrastruktur, regionaler Wirtschaft und Arbeitsmarkt sind in den sich unterschiedlich entwickelnden Regionen fast identisch. Eher sind die abfallenden Regionen besser ausgestattet. Die voranstehende Diagnose hat die Herausgeber veranlasst, die Internationale Tagung „Aktionen zur nachhaltigen Entwicklung in ländlichen Räumen – Chancenverbesserung durch Innovationen und durch Traditionspflege“ zu initiieren und mit weiteren Veranstaltern durchzuführen1. Als Ergebnis der Tagung entstand die „Neuseddiner Botschaft“ (siehe nachfolgende Seiten). Gleichzeitig ________________ 1 Die Tagung fand am 27. und 28. November 2007 in Neuseddin (bei Potsdam) statt. Finanziell gefördert wurde sie durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und mit Sponsoring der Deutschen Bank
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war klar, dass die gehaltenen Beiträge zu wertvoll waren, um nur vorgetragen zu werden. Daraus entstand das Konzept für das vorliegende Buch. Es ist jedoch kein Tagungsband, sondern ein Sammelband mit aktuellen Schwerpunkten. Die Herausgeber haben hier sowohl überarbeitete Beiträge der Tagung versammelt, als auch danach gewonnene Autoren aufgenommen. Das vorliegende Buch soll einen Beitrag leisten, noch besser zu verstehen, warum die auseinanderlaufenden Prozesse sich so vor unseren Augen vollziehen. Es ist so angelegt, dass der Leser neue Aspekte zu diesen Entwicklungsprozessen kennen lernen kann. Manchmal wird zu häufig und zu vordergründig über unlösbare Kostenprobleme gesprochen. Innovative Ideen für Neues werden zu wenig bemüht. Henry Ford sagte: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt schnellere Pferde.“ In diesem Sinne stellen wir mit diesem Buch auch Fragen, die beitragen zu erkennen, ob die richtigen Ziele gesteckt sind, um ländliche Räume in Deutschland und anderen Staaten der EU so zu gestalten, dass sie Magnete sind für ein kulturvolles und erfülltes Leben. Diesem Gedanken weiterhin folgend wurden auch einige Beiträge aufgenommen, die ganz neue Sichtweisen enthalten, die sich bisher noch nicht durchgesetzt haben. Die Herausgeber möchten mit diesem Buch dazu beitragen, eine offene Diskussion in der Gesellschaft um die Zukunft ländlicher Räume zu führen. Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte: Im ersten Kapitel versammeln sich Statements aus allen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Diese Zusammenstellung ist in ihrer Form bislang einzigartig und stellt an sich bereits einen hohen Wert des Buches dar. Beim Blättern durch diese Seiten wird der Leser Bekanntes zur Bedeutung des ländlichen Raums finden, das sich aus den Grundsätzen der jeweiligen Partei ableitet. Lesenswert und ganz besonders spannend sind die unterschiedlichen Aussagen zu den Kategorien im ländlichen Raum, zum Menschen, zur Wirtschaft sowie zu Kultur, Natur und Umwelt. Das Kapitel „Politik und Forschung“ enthält 13 Beiträge namhafter Personen aus Politik und Wissenschaft. In seiner Gesamtheit erklärt sich aus diesen Beiträgen, warum die Politik für die ländlichen Räume noch immer einen hohen Reformbedarf hat und in welche Richtungen die Veränderungen gehen müssen. In einer Reihe von Beiträgen wird auf die aktuell in Anwendung befindlichen Programme und Instrumente zur Entwicklung ländlicher Räume (ELER, LEADER) eingegangen. Damit werden auch Potenziale aufgezeigt, die noch längst nicht überall zum Alltag der Akteure vor Ort gehören. Einer intensiven Diskussion werden solche zentralen Begriffe wie „Wohlstand“, „Nachhaltigkeit“, „räumliche Differenzierung“, „Klimaschutz“ usw. unterzogen, um daraus abzuleiten, worin die Konturen der ländlichen Entwicklungspolitik auf allen Handlungsebenen von der EU bis zur Gemeinde bestehen könnten.
Einleitung
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Erfahrungen aus Europäischen Regionen werden im 3. Kapitel präsentiert. Die Erfahrungen werden authentisch beschrieben von Autoren, die über ihre Heimatländer berichten. Erfreulich ist zu erkennen, dass heute aus allen Ländern über ähnliche Sichtweisen, Probleme und Lösungsansätze berichtet wird. Die letzten 20 Jahre waren eine erfreuliche Zeit des Zusammenwachsens in Europa, auch in Bezug auf das Thema dieses Buches. Dies wird ergänzt durch zwei Beiträge, die beschreiben, wie im Rahmen der Zusammenarbeit von Partnern aus mehreren Ländern gegenseitig Erfahrungen aufgenommen und gegenseitig vermittelt werden, so dass für alle Beteiligten Gewinnersituationen entstehen. Mit 17 Beiträgen sind die Berichte über Projekte aus der Praxis in Deutschland das umfangreichste Kapitel des Buches. Referiert wird aus der Sicht von Landwirtschaftsbetrieben, Verbänden, Behörden und Dienstleistern in verschiedenen ländlichen Räumen. Referiert wird ausschließlich über positive Erfahrungen. Damit soll an praktischen Beispielen aufgezeigt werden, wie man es richtig machen kann. Die eingangs angeprangerte Differenzierung wird damit nicht übersehen; sie wird nur nicht explizit dargestellt. Mit der Hervorhebung des Gelungenen wollen wir mit dem Buch Mut machen und Wissen vermitteln: den Akteuren vor Ort und denen, die die Rahmenbedingungen setzen, von denen sich erfreulicherweise namhafte Vertreter auch unter den Autoren finden. Als Zielgruppe sehen die Herausgeber alle Interessenten, die sich für die Entwicklung ländlicher Räume interessieren. Sie können hier Informationen entnehmen und Anregungen für eigenes Engagement aufgreifen. Die Darstellungsstile unterscheiden sich nach der beruflichen Situation, aus der heraus der Autor bzw. die Autoren seinen/ihren Beitrag verfasste/n. Es wurde versucht, die Beiträge der Autoren weitestgehend in ihrer Ursprünglichkeit zu belassen. Die Verschiedenheit der Ansprüche von Lesern an dieses Buch wird so durch die Vielfalt der Autoren wohl optimal befriedigt. Die Herausgeber bedanken sich bei den Autoren und wünschen den Lesern Spaß und Erkenntnisgewinn beim Lesen sowie Mut zu erfolgreichem Handeln in ländlichen Räumen. Nicht nur viele Taten, sondern die Taten Vieler können die ländlichen Räume durch Veränderung bewahren.
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Die Internationale Tagung „Aktionen zur nachhaltigen Entwicklung in ländlichen Räumen – Chancenverbesserung durch Innovation und durch Traditionspflege“ wurde am 27. und 28. November 2007 in Neuseddin durch ein Konsortium aus folgenden Partnern durchgeführt: Agro-Öko-Consult Berlin GmbH Verband für nachhaltiges Umweltmanagement Zachodniopomorska Szkola Biznesu, Stettin Heimvolkshochschule am Seddiner See
Die Veranstalter wurden vertreten durch (v.l.n.r.): • Edmund A. Spindler, Verband für nachhaltiges Umweltmanagement (VNU e.V.) • Prof. Dr. Rafal Bis, Zachodniopomorska Szkola Biznesu, Szczecin • Dr. Klaus Benthin, Heimvolkshochschule am Seddiner See, Neuseddin • Dr. habil. Rainer Friedel, Agro-Öko-Consult Berlin GmbH
Neuseddiner Botschaft: Ein Aufruf zum Handeln Ländliche Räume haben Zukunft!1 In Europa befinden sich ländliche Räume in einem beschleunigenden Differenzierungsprozess. Einige entwickeln sich erfolgreich, andere entleeren sich in unvorstellbarem Tempo. Diese Ungleichheiten aufzufangen, eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse herzustellen und ihre Rolle beim Ressourcenschutz und der Begrenzung des Klimawandels zu sichern, ist Aufgabe der Politik und des bürgerschaftlichen Engagements der Betroffenen. Hierzu bieten wir Hilfestellungen an. 1.
Ländliche Räume brauchen Innovationen
Ländliche Räume sind die älteste Form der Landnutzung durch den Menschen. Stets wurde dabei die Landschaft verändert; mit positiven und negativen Auswirkungen auf die Umwelt. Bekanntlich ist die Menschheit zu weit vorwärts gegangen, um sich zurückzuwenden und bewegt sich zu rasch, um anzuhalten. Deshalb sind Innovationen erforderlich, um die angewachsene Besiedelungsdichte und die entstandene Intensität der Landnutzung nicht zu irreversiblen Schäden führen zu lassen. Innovationsfelder, die gegenwärtig eine besondere Aufmerksamkeit durch Forschung, Politik und Praxis erfordern, sind: • Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft sowie Förderung der Potenziale der Land-, Forst- und Wasserwirtschaft zur Begrenzung des Klimawandels. • Anpassung der öffentlichen und privaten Strukturen und Leistungen für die Daseinsvorsorge an die Folgen des demografischen Wandels. Das verlangt soziale Innovation in zwei Richtungen: – in den Leistungen, die ein „Altwerden“ in den ländlichen Räumen ermöglichen und Hilfe zur eigenständigen Lebensführung geben sowie – in den Leistungen, die im weitesten Sinne die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sichern. ________________ 1 Die Neuseddiner Botschaft ist ein Ergebnis der Internationalen Tagung „Aktionen zur nachhaltigen Entwicklung in ländlichen Räumen – Chancenverbesserung durch Innovation und durch Traditionspflege“.
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Damit kann das Miteinander der Generationen, das traditionell die ländlichen Räume auszeichnet, auf eine tragfähige Grundlage gestellt werden. • Erhöhung der Branchenvielfalt der Wirtschaft in ländlichen Räumen. Hierzu gehört die Steigerung der Wertschöpfung der traditionellen Branchen wie Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Rohwaren, Tourismus usw. Eine größere Unterstützung sollte die Entwicklung von neuen Dienstleistungen erhalten. Der Nutzung technischer Kommunikations-Netze kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Neue Dienstleistungen sind gerichtet auf die ländliche Wirtschaft (einschl. dezentrale Energieerzeugung und -verwendung), auf die Bevölkerung (demografischer Wandel) sowie auf • den Know-how-Transfer im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Energieund Ressourceneffizienz. Zu allen Innovationsfeldern sind für deren Nachhaltigkeit in den Regionen Forschung und Beratungsdienste zu verstärken sowie Umsetzungsstrukturen zu schaffen, die entsprechend der LEADER-Philosophie Innovationen in Eigenverantwortung „von unten“ ermöglichen. 2.
Ländliche Räume brauchen Attraktivität und Identität
Die Einwohner ländlicher Räume haben einen grundgesetzlich verbürgten Anspruch auf „gleichwertige Lebensbedingungen“. Dabei sind im Sinne des Europas der Regionen vielfältige, vitale ländliche Räume herauszubilden. Die Dörfer sollen als Magnete für ein kulturvolles und erfülltes Leben entwickelt werden, obwohl oder vielleicht sogar weil sie sich grundsätzlich unterscheiden von den Städten. Diese Eigenarten des sozialen Lebens zu erhalten ist ein hohes Gut. Ländliche Räume zu attraktiven Lebensräumen für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen auszugestalten, setzt die Einbeziehung der dort lebenden Menschen und ihrer Vorstellungen und Erwartungen, aber auch ihrer Ideen und ihr Engagement voraus. In einem integrierten Zusammenwirken von Landwirtschaft, Wirtschaft, Kommunen und Gemeinden, Vereinen und Verbänden und den Bürger/innen sind neue Formen der Arbeit für das Gemeinwohl zu entwickeln und auszugestalten. Darin liegt gleichzeitig die Chance für die Schaffung von Arbeitplätzen. Insbesondere sind Haltefaktoren für eine Lebens- und Bleibeperspektive für Jugendliche, speziell für junge Frauen, zu schaffen, um Abwanderung zu bremsen und Rückwanderung zu begünstigen. Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume erfordert auch das gemeinsame Wirken der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft, der umwelt- und naturschutzorientierten Verbände/Vereine sowie der interessierten Bürger, um die biologi-
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Hochkarätige Redner informieren das Publikum
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sche Vielfalt als Teil einer schönen Wohnumwelt zu bewahren und die Lebensgrundlage der Einwohner dauerhaft zu sichern. Naturräumliche Gegebenheiten und regionale Besonderheiten prägen die Identität der ländlichen Räume. Diese zu kultivieren und zu einem Markenzeichen zu machen ist eine zentrale und aktuelle planerische Aufgabe. 3.
Ländliche Räume brauchen die Landwirtschaft und deren Zukunftspotenziale
Nachhaltige, flächendeckende und vielseitige Landnutzung ist als gesamtgesellschaftliches Basisziel zu erhalten und zu fördern. Hierbei sind alle relevanten Akteure, insbesondere auch die Nutzer und die Eigentümer wirkungsvoll einzubeziehen. Die Land- und Forstwirtschaft als die größten Flächennutzer und die Branchen mit den bestimmenden Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten in den ländlichen Räumen sollen hierbei eine besondere Unterstützung und Anerkennung für ihre Leistungen durch die Gesellschaft erhalten. Insbesondere ist deren Innovationsfähigkeit im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu stärken, indem begünstigt werden: • besonders Ressourcen schonende, nachhaltige landwirtschaftliche Produktionsverfahren (Präzisionslandwirtschaft, Öko-Landwirtschaft) • besonders klimarelevante landwirtschaftliche Produktionsverfahren, darunter solche, − die klimaschädigende Wirkungen begrenzen (z.B. energiesparende Verfahren (CO2-Minderung), Verfahren mit geringen Emissionen weiterer klimaschädigender, insbes. N2O, NH4) sowie − klimaschützende Wirkungen ermöglichen (z.B. CO2-Bindung durch Pflanzenanbau (Biomasse als heimischer Energielieferant), Wasserhaltung in der Landschaft, Kreislaufwirtschaft (Boden – Pflanze – Tier – Boden), Humusaufbau (C-Sequestration im Boden), vielfältige Fruchtfolgen etc.). 4.
Ländliche Räume brauchen eine rahmenverbessernde Politik
In den letzten Jahren hat die EU-Agrarpolitik die Entwicklung ländlicher Räume maßgeblich beeinflusst. Ein Regelwerk bestimmt die Entwicklungsziele, die Umsetzungsinstrumente und Benennung der Akteure. Als Stichworte für die maßgeblichen Dokumente auf EU-Ebene seien benannt:
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Die ELER-Verordnung des Rates vom 20. September 2005 mit Ihren nachfolgenden Änderungen und Durchführungsbestimmungen sowie die strategische Leitlinien der Gemeinschaft für die Entwicklung ländlicher Räume. In Deutschland ist dies auf Bundesebene untersetzt durch den Nationalen Strategieplan der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung ländlicher Räume 2007- 2013. Auf regionaler Ebene sind dies Länderprogramme sowie die Programme der örtlichen initiativen. Allein diese Basisdokumente sind hunderte Seiten Papier, die erstellt und verstanden werden müssen. Der Erhalt der Eigentümlichkeiten, der Traditionen und Bräuche sowie des Naturraumes und Landschaftsbildes ländlicher Räume darf nicht als abgegrenzte Ressortaufgabe einzelner Politikbereiche oder einzelner Gruppen sein, die gesamte Gesellschaft ist einzubeziehen. Die Politik aller Ressorts und deren Fachpolitiken sowie das spezielle Engagement von besonders interessierten Kreisen, sollte zuerst darauf gerichtet sein, durch Information und Aufklärung alle Akteure, die Einfluss auf die Nutzung ländlicher Räume ausüben oder ausüben können, für die Erreichung und Umsetzung des gesamtgesellschaftlichen Konsens zu gewinnen. Uns scheint deshalb wichtig, nicht aufzuhören, Wege zu suchen und zu beschreiten, die die regionale Verantwortung nicht nur formal, sondern ganz praktisch vor Ort stärken. Regionale Entwicklungskonzepte sollten durch neue Formen lokaler und regionaler Leistungen und bürgerschaftliches Engagement in den Kommunen und Unternehmen in ihrer Wirkung erhöht werden, um die lokale Zivilgesellschaft für soziale, ökologische oder kulturelle Belange zu beteiligen (Instrumente: Regional-Audit, verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln (CSR) in der Region). Um dauerhaft mehr Lebensqualität zu schaffen, muss die Politik den ländlichen Räumen eine höhere Wertschätzung entgegenbringen und eine ganzheitliche Regionalverantwortung aufbauen Für die ländlichen Räume ist ein ausbalanciertes und zeitgemäßes Verhältnis zwischen „klassischer“ administrativer Ordnungspolitik und marktwirtschaftlicher Wettbewerbspolitik nötig, um regionale Nachhaltigkeit zu realisieren. Mit Mut, Engagement und Zuversicht ist dies gemeinsam möglich und eine zukunftsorientierte Entwicklung ländlicher Räume machbar.
Kapitel I Positionen der Parteien im Deutschen Bundestag
Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung. Antoine de Saint-Exupéry
CDU-Programm für lebendige ländliche Räume Gabriele Hopp
Die CDU setzt auf das Land. Im neuen Grundsatzprogramm, das im Dezember 2007 beschlossen wurde, bekennt sich die CDU klar zum ländlichen Raum und formuliert ihre Ziele. „Wir wollen lebendige und lebenswerte ländliche Räume. Sie sind Orte für Wirtschaft, Kultur, Natur und Erholung. Sie brauchen Entwicklungsperspektiven, die den dort lebenden Menschen gute Lebens-, Bildungs- und Arbeitsbedingungen ermöglichen. Unser Augenmerk gilt insbesondere den strukturschwachen ländlichen Regionen. Sie benötigen auch weiterhin eine aktive Förderung bei der Entwicklung der sozialen und technischen Infrastruktur sowie Unterstützung bei der Stärkung ihrer Wirtschaftskraft.“
Im Vorfeld haben zahlreiche Diskussionen und Anträge in den Kreis- und Landesverbänden gezeigt, welch hohe Bedeutung die Mitglieder der CDU dem ländlichen Raum und der Regionalentwicklung beimessen. Bedeutung der ländlichen Räume Die ländlichen Räume sind für unser Land immens wichtig. Sie umfassen nahezu 80 Prozent der Fläche Deutschlands und prägen damit das Gesicht unseres Landes. Die Mehrheit der Deutschen wohnt und arbeitet im ländlichen Raum und auch die überwiegende Mehrheit der Wirtschaftsbetriebe befindet sich in Gemeinden oder kleinen und mittleren Städten. Ländliche Räume sind nicht nur allein bedeutend als Erholungsraum, Reservoir natürlicher Ressourcen und zur Sicherung unserer Ernährungsgrundlage. Ihre Wirtschaftskraft und Wachstumspotentiale werden für die gesamtwirtschaftliche Kraft unseres Landes unbedingt gebraucht. In Zeiten von Globalisierung und Entgrenzung sind sie auch Anker. Heimat ist ohne das Land nicht denkbar. Der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Christian Wulff, sagt zurecht, dass die ländlichen Räume heute Vorbildfunktion für unsere Gesellschaft ausüben. Die brennendsten Probleme der Ballungsgebiete und Städte, wie soziale Verwerfungen, Integrationsschwierigkeiten oder Altersarmut werden in ländlichen Regionen besser gelöst. Soziale und familiäre Bindungen sind in der Regel stabiler, Gemeinsinn und die Bereitschaft zu ehrenamtlichem Einsatz größer.
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Gabriele Hopp
Situation der ländlichen Räume in Deutschland Den ländlichen Räumen in Deutschland geht es vom Lebensstandard der Menschen her gesehen insgesamt gut. Deutschland ist mit dem im Grundgesetz verankerten Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen richtig gefahren. Das Leben in Stadt und Land hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten sehr weit angenähert. Die Dörfer und ländlichen Regionen sind Teil der modernen Gesellschaft. Sie sind in überregionale und globale Entwicklungen eingebunden. Allerdings sind die ländlichen Räume höchst unterschiedlich. So wie es nicht „die Stadt“ gibt, so gibt es nicht „den ländlichen Raum“. Auf der einen Seite finden sich ländliche Regionen, die mit zu den wachstumsstärksten Deutschlands gehören und eine hohe positive Entwicklungsdynamik erkennen lassen. Viele ländliche Gebiete im Westen Deutschlands hatten in den letzten 20 bis 30 Jahren beträchtliche Wanderungsgewinne. Auf der anderen Seite gibt es Regionen mit großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, die drohen den Anschluss zu verlieren und auf Dauer in eine prekäre Situation zu geraten. Dies trifft leider noch auf viele ostdeutsche Regionen zu. Unterschiede gibt es aber auch von Ort zu Ort. Stärkere und schwächere Gemeinden, wachsende und schrumpfende liegen oft nah beieinander. Das zeigt: Es gibt immer Potentiale. Entscheidend ist, ob sie genutzt werden oder nicht. Viele Entwicklungen in unserer Gesellschaft machen das Leben im ländlichen Raum nicht nur einfacher. Konzentrations – und Rationalisierungsprozesse in der Wirtschaft, Globalisierung, Privatisierung und Liberalisierung der Versorgungsmärkte (Energie, Post, Telekom, Gas, soziale Sicherungssysteme) stellen große Herausforderungen. Der demographische Wandel zum Beispiel trifft ländliche Gebiete heftiger. Während Städte auch bei abnehmender Einwohnerzahl noch eine adäquate Infrastruktur vorhalten können, ist dies in der Fläche ungleich schwieriger und kostenträchtiger. Wir sind aber fest überzeugt, dass die ländlichen Regionen in Deutschland mit ihren spezifischen Chancen, Stärken und Qualitäten die Herausforderungen annehmen können. Wir wollen, dass die Menschen in allen Regionen Deutschlands leben und arbeiten können. Erfolgreiche Politik für ländliche Räume Umfassende ländliche Entwicklung nimmt wirtschaftliches Wachstum, Lebensqualität und intakte Umwelt in den Blick. Entscheidend aber sind die Wirtschaftsentwicklung und die Arbeitsmöglichkeiten insbesondere für junge Menschen.
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Die CDU orientiert ihre Politik für ländliche Räume an folgenden Prinzipien: −
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differenziert, passgenau und bedarfsgerecht Angesichts der tiefgreifenden Unterschiede zwischen den ländlichen Regionen bedarf es maßgeschneiderter Lösungen. Jede Region braucht eine klare Profilierung. So können am besten Investoren und Einwohner gewonnen werden. Dabei liegt unser Fokus ganz klar auf den strukturschwachen Regionen. Entleerungsszenarien oder eine reine Anbindungsstrategie an die Ballungsräume sind für uns keine Option. Passivsanierung ist keine Lösung, sondern würde alleine die Probleme für unser gesamtes Land verschärfen. Eigeninitiative Die Entwicklungsimpulse müssen aus der jeweiligen Region kommen. Mit unserer Politik wollen wir die Menschen und Entscheidungsträger vor Ort ermutigen und unterstützen. Jeder weiß: Ein engagierter Bürgermeister, aktive Vereine und Unternehmen können mehr bewirken als alle Förderprogramme. integriert und übergreifend Die Entwicklung des ländlichen Raums ist eine Querschnittsaufgabe. Ein stimmiges Konzept muss Wirtschaft, Landwirtschaft, Dorfentwicklung, medizinische Versorgung und Bildungseinrichtungen bis hin zum bürgerschaftlichen Engagement umfassen. Dazu bedarf es eines sektor- und ressortübergreifenden Ansatzes und einer Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden. Die Gründung der Kabinettsarbeitsgruppe „Ländlicher Raum“ der Bundesregierung ist ein großer Schritt vorwärts. wissenschaftliche Basis Erfolgreiche Politik braucht eine wissenschaftliche Basis. Deshalb sollten die Raumwissenschaften an den Hochschulen, in Forschungseinrichtungen und in der Ressortforschung entsprechend ihrer Bedeutung gestärkt und vernetzt werden.
Wichtige Handlungsfelder unserer Politik für den ländlichen Raum sind: 1
Technische Infrastruktur: Verkehrs- und Datenflüsse sicherstellen
Eine leistungsfähige Infrastruktur ist die Grundvoraussetzung für einen ökonomisch attraktiven Wirtschaftsraum. Die Breitbandversorgung spielt heute die entscheidende Rolle. Nahezu alle Ansiedlungsentscheidungen, ob Hausbau oder Unternehmensansiedlung, hängen vom Vorhandensein von Breitbandanschlüssen ab. Der schnelle Zugang zum Internet ist Voraussetzung für gesellschaftliche Partizipation. Gerade im ländlichen
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Raum ist es besonders wichtig, dass man „sich die Welt ins Haus holt“. Die CDU setzt sich deshalb dafür ein, dass die bestehenden Lücken im Breitbandanschluss schnellstmöglich, das heißt in den nächsten zwei bis drei Jahren, geschlossen werden. Wir begrüßen, dass dafür in der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ zusätzliches Geld zur Verfügung steht. Ein ebenso wichtiges Anliegen sind gute Straßen. Hier geht es besonders um den Lückenschluss im Autobahnnetz. Realisiert werden kann dieser durch eine zügige Umsetzung des Bundesverkehrswegeplans und die konsequente Nutzung des Planungsbeschleunigungsgesetzes. Für die CDU ist eine Grundbedingung für Privatisierung und Börsengang der Bahn die Sicherstellung einer ausreichenden Schieneninfrastruktur im ländlichen Raum. Auch in Zukunft muss auf dem Land noch in Bahnhöfe, Gleise und Züge investiert werden. Der öffentliche Personennahverkehr hat die Aufgabe, die Gemeinden mit den Zentralorten und Mittelstädten zu vernetzen. Vor allen Dingen Schultransport und Berufsverkehr müssen stattfinden. Darüber hinaus können flexible, individuelle Modelle eher den regionalen Bedürfnissen entsprechen. Mobilitätscards, Bürgerbusse, Ruftaxen und Logistikzentren sind häufig bessere Lösungen als Beförderungskonzepte für Ballungsgebiete zu kopieren bzw. zu verdünnen. 2
Soziale Infrastruktur: Lebensqualität zur Geltung bringen
Wir streben im ländlichen Raum eine möglichst hohe Lebensqualität an. Dies setzt eine gute soziale Infrastruktur voraus. Die Menschen im ländlichen Raum haben ein Anrecht auf medizinische Versorgung, Kinder- und Seniorenbetreuung, Freizeitangebote für Jugendliche, Post- und Bankdienstleistungen, Einkaufsmöglichkeiten und nicht zuletzt auf die „Kirche im Dorf“. Patentrezepte gibt es nicht. Entscheidend ist es, innovative und kreative Lösungen zuzulassen, Flexibilität zu zeigen und die Potentiale des auf dem Land vorhandenen Ehrenamtes und der Nachbarschaftlichkeit zu nutzen. Die Österreichische Volkspartei, eine Schwesterpartei der CDU, hat in ihren Perspektiven 2010 einen interessanten Ansatz gewählt: „Als Maßstab gilt, dass alle wichtigen alltäglichen Lebenserfordernisse in einem Zeitradius von 45 Minuten machbar sein sollten“. Es ist der Überlegung wert, solche Zielvorgaben auch für die Regionalentwicklung in Deutschland zu formulieren. Das Leben auf dem Land hat gerade für Familien viele Vorteile. Sie können sich oft nur hier ihren Traum vom eigenen Haus verwirklichen. Natur vor der Haustür ist für Kinder ein unschätzbares Stück Lebensqualität. Hierin liegen
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Chancen. Viel mehr Gemeinden sollten sie nutzen, die Familieninfrastruktur ausbauen und sich dem Ziel „Familienfreundliches Dorf“ verschreiben. 3
Bildung: in Zukunft investieren
Gleichwertige Bildungschancen sind der Schlüssel für die Zukunft des ländlichen Raums. An einer wohnortnahen und qualitativ hochwertigen Schulversorgung darf es keine Abstriche geben. Dies schließt weiterführende Schulen und Berufsschulen unbedingt mit ein. Dort, wo Schul- und Berufswege weit sind, muss auch verstärkt in Ganztagsschulen investiert werden. Im ländlichen Raum spielen bei Schullaufbahnentscheidungen neben der Begabung nach wie vor der Mobilitätsaufwand und das Eingebundensein in eine dörfliche und schulische Gemeinschaft eine Rolle. Deshalb heißt ein wichtiger Grundsatz der CDU: „Kein Abschluss ohne Anschluss“. Seine konsequente Umsetzung ist die Verwirklichung von Chancenteilhabe für viele Jugendliche auf dem Land. Chancen für den ländlichen Raum bietet auch die in den nächsten Jahren zu erwartende weitere Ausdifferenzierung des Hochschulsystems. Der Bedarf an theoretischer Ausbildung nimmt zu. Mit der Ansiedlung und dem Ausbau von Fach- und Fachhochschulen kann der ländliche Raum insbesondere dort, wo es korrespondierende Wirtschaftskerne gibt, gestärkt werden. 4
Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft: die Basis der ländlichen Wirtschaftskraft stärken
Land- und Forstwirtschaft sind und bleiben prägend im ländlichen Raum. Ihr Erfolg ist die Voraussetzung für den Erfolg vor- und nachgelagerter Betriebe, für die Bauwirtschaft, für Handwerk, Mittelstand und Ernährungswirtschaft. Die Ernährungswirtschaft ist eine Zukunfts- und Wachstumsbranche. Sie setzt mit rund 550 Mrd. Euro doppelt so viel im Jahr um wie die deutsche Automobilindustrie. Ihre Betriebe liegen ganz überwiegend in ländlichen Regionen und schaffen dort zahlreiche Arbeitsplätze. Sie ist voll in die Globalisierung eingebettet mit zweistelligen Wachstumsraten im Export. Auch die Erzeugung regionaler Produkte und lokaler Spezialitäten erfreut sich eines wachsenden Marktes. In zunehmendem Maße sind Land- und Forstwirtschaft Energieproduzenten. Wir wollen, dass die Wertschöpfung der im ländlichen Raum erzeugten regenerativen Energien vor Ort bleibt. Dies setzt eine entsprechende Anreizregelung im EEG voraus und die Erschließung des Wärmemarktes. Die Förderung von Nah-
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Gabriele Hopp
wärmenetzen kann nur positiv wirken, wenn die Gebietskörperschaften regionale Energiekonzepte entwickeln, die die Landwirtschaft mit einbeziehen. Land- und Forstwirte gestalten und pflegen auch unsere Kulturlandschaft und erhalten ihre ökologischen Funktionen. Die CDU steht zu dem Grundsatz, dass ihre im Umwelt- und Naturschutz erbrachten Leistungen honoriert werden. Naturschutz mit der Landwirtschaft ist gefragt. Er soll vorrangig über vertragliche Vereinbarungen gestaltet werden. Angesichts ihrer unverzichtbaren Rolle für den ländlichen Raum wird die CDU eine nachhaltige Land- und Forstwirtschaft weiter stärken und ihre Wettbewerbsfähigkeit unterstützen. In besonderer Weise gilt es, die Grünlandregionen auf das Auslaufen der Milchquotenregelung 2015 vorzubereiten. Hier ist Landnutzung und Landschaftspflege nur über die Rindviehhaltung möglich. An der Milchproduktion hängen zudem Verarbeitung, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in den meist strukturschwachen Regionen. 5
Förderprogramme für den ländlichen Raum: zukunftsorientiert gestalten
Knappe Finanzressourcen erfordern eine konzentrierte und effiziente Förderung. Grundsätzlich gilt es dabei, die Subsidiarität zu beachten und die Regionen zu aktivieren. Auf europäischer Ebene ist mit der ELER-Verordnung, der zweiten Säule der Agrarpolitik und den Strukturfonds bereits ein bedeutender Schritt in Richtung integrierte Politik für ländliche Räume getan worden. In Deutschland wurde die Politik über die Gemeinschaftsaufgaben „Agrarstruktur und Küstenschutz“ sowie „Regionale Wirtschaftsförderung“ umgesetzt. Zudem stehen seitens der Länder ergänzende Programme der Wirtschafts- und Infrastrukturförderung für den ländlichen Raum bereit. Wichtig sind auch die LEADER-Programme, mit denen innovative und partnerschaftliche Ansätze gefördert werden. Der CDU kommt es darauf an, dass die vielfältigen Programme vor Ort mit sinnvollen Projekten umgesetzt und regelmäßig auf ihre Effizienz überprüft werden. Inhaltliche Schwerpunkte sehen wir ganz klar in der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Regionen, in der Stärkung des nachhaltigen Wachstums, in Innovationen und der Ausrichtung auf zukunftsträchtige Arbeitsplätze. Zukunftsrichtige Förderprogramme berücksichtigen immer die Bedürfnisse der Jugend und der Frauen im ländlichen Raum. Wir erwarten von Bund und Ländern, dass sie frühzeitig auf EU-Ebene die deutschen Interessen bei der Fortentwicklung der Regionalförderung platzieren. National begrüßen wir die Diskussion um die Weiterentwicklung der Gemein-
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schaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ hin zu einer Gemeinschaftsaufgabe für den ländlichen Raum. Ein stärker integrierter Ansatz der Politik ist richtig, darf aber nicht zu einer Schwächung der Landwirtschaft führen. Sie darf ihre investiven Mittel nicht verlieren. Im Gegenteil, es muss alles getan werden, dass sie bis zur nächsten EU-Agrarreform im Jahr 2013 ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich steigert. 6
Kommunen: Handlungsfähigkeit sichern
Die Kommunen sind die wichtigsten Akteure vor Ort. Die CDU will den Kommunen mehr Eigenverantwortung ermöglichen. Dafür brauchen sie finanzielle Mittel und Kompetenz. Die kommunalen Steuern sind deshalb so fortzuentwickeln, dass die Leistungsfähigkeit der Kommunen für ihre Bürger sichergestellt ist. Zur finanziellen Stärkung der Kommunen im ländlichen Raum schlägt das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Erweiterung des kommunalen Finanzausgleichs um eine flächenbezogene Komponente vor. Diesen Vorschlag werden wir vorurteilsfrei und ernsthaft prüfen. Die ländlichen Städte und Gemeinden brauchen allerdings nicht nur verlässliche Einnahmen, sondern auch Entlastung auf der Ausgabenseite. Die Durchforstung der Pflichtaufgaben und die Nutzung von Einsparpotenzialen sind wichtige Handlungsfelder. Ansatzpunke für eine zukunftsträchtige Kommunalgestaltung liegen in der Zusammenarbeit mit den Bürgern und der Wirtschaft vor Ort. Privatisierung kommunaler Aufgaben, ev. ihre Übertragung an Initiativen zur Selbsthilfe, Einbeziehung von Verbänden sind nur einige Stichworte. Auch die Chancen der kommunalen Kooperation beim Betrieb von Infrastrukturanlagen, Kläranlagen, Schwimmbädern und bei der Ausweisung von Gewerbegebieten sollten stärker als in der Vergangenheit genutzt werden. Unabdingbar für die Kommunen ist es, schon heute an die Kostenstrukturen von morgen zu denken und den demographischen Wandel mit einzubeziehen. „Zurück in die Dorfkerne, Verhinderung von Zersiedelung“ ist meist die richtige Devise für ein vitales dörfliches Leben, für beherrschbare Kosten und für mehr Umweltschutz im ländlichen Raum.
Die Zukunft des ländlichen Raumes gestalten – der CSU-Ansatz Werner Bumeder
Ländliche Räume umfassen etwa 80 % der Fläche Bayerns. Knapp 60 % der bayerischen Bevölkerung leben hier, mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes wird in den ländlichen Räumen erwirtschaftet. Die Dörfer, Städte und unsere Kulturlandschaft in den ländlichen Regionen sind seit Jahrhunderten gewachsen und üben eine große Identifikations- und Bindungswirkung aus. Tradition, Sitten und Gebräuche, Dialekte, ein reges Vereinsleben und ein breit gestreutes Eigentum an Grund und Boden führen vielfach zu einem sehr ausgeprägten Heimatgefühl. Dies hat auch zur Folge, dass die Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement sehr hoch ist und dass eine lebendige Bürgergesellschaft besteht. Eine besondere Aufgabe hat in den ländlichen Räumen die Landwirtschaft. Gerade in Bayern prägt die kleinstrukturierte bäuerliche Landwirtschaft die Lebensqualität, die kulturelle Vielfalt und die Kulturlandschaft Bayerns. Die generationenübergreifende Verantwortung für die Zukunft und das Prinzip Nachhaltigkeit haben ihren Ursprung in der Land- und Forstwirtschaft. Ihr kommt gerade deswegen in den Veränderungsprozessen der ländlichen Räume auch eine besondere Verantwortung zu: Leistet diese multifunktionale und wettbewerbsorientierte Landwirtschaft auch in Zukunft diesen Beitrag? Bleibt die Bewirtschaftung der Flächen auch bei Intensivierung im Bereich der Energieerzeugung umweltverträglich? Behält die Land- und Forstwirtschaft die kulturelle Bedeutung in den ländlichen Räumen? Diesen Fragen muss sich die Politik für den ländlichen Raum stellen. Wir befinden uns in einem immerwährenden und immer schneller werdenden Anpassungsprozess und stehen vor großen Herausforderungen. Bevölkerungsabnahme und -alterung sowie die Entfernung von Märkten und Dienstleistungen sind aktuelle Merkmale, aber auch die Weiterentwicklung einer leistungsstarken Infrastruktur. Moderne Kommunikationstechniken auch in den ländlichen Räumen zu entwickeln, den Flächenverbrauch zu verringern und auch in Zukunft eine nachhaltige Bewirtschaftung zu gewährleisten, das sind die Herausforderungen der nächsten Jahre.
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Die Entwicklung der ländlichen Räume ist eine Erfolgsgeschichte der CSU in Bayern. Bereits in den Siebziger Jahren hat die CSU auf die Stärkung der ländlichen Räume gesetzt und mit dem Ziel, gleichwertige Lebensbedingungen für Stadt und Land zu schaffen, die erfolgreiche Entwicklung Bayerns eingeleitet. In ihrer Vielfalt haben die ländlichen Räume gemeinsame Stärken, sind aber vor allem geprägt, von ihrer Individualität und den regionalen Potenzialen. Die CSU sieht in der engen Vernetzung zwischen privaten Initiativen, Kommunen, Wirtschaft und staatlicher Verwaltung die besondere Kraft und die Chancen der ländlichen Räume. Bürgerliches Engagement der Menschen fördern und die Identifikation mit der Heimat stärken – diese Leitsätze hat die CSU auch in ihrem Grundsatzprogramm festgeschrieben. Mit der Erweitung der Europäischen Union eröffnen sich für die ländlichen Räume neue Wachstumsmöglichkeiten und Chancen, die die CSU mit der Förderung regionaler Stärken auch nutzen will. Wir unterstützen die Erschließung neuer Wachstumspotenziale für wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, bieten ein vielfältiges Bildungsangebot, wollten gute Lebensbedingungen für Jung und Alt. Dazu gehört eine Politik für mittlere und große Industrieansiedlung, die Förderung des Mittelstandes und der bäuerlichen Landwirtschaft, sowie die Verbesserung und Anpassung der Verkehrsinfrastruktur. Die CSU setzt auf die bewährten politischen Gestaltungsinstrumente, aufgrund des unterschiedlichen Herausforderungen und vor allem der Geschwindigkeit des Wandels aber auch auf noch gezielteres und effektiveres, sektorübergreifendes Denken und Handels. Wir brauchen integrierte Projekte und Programme sowie Netzwerke. Dazu sind ein hohes Maß an Eigenverantwortung für die Regionen, aber auch Kreativität und Innovationskraft sowie politische Weitsicht und Entscheidungsmut erforderlich. Viele Menschen haben ihre Prägung noch von der bäuerlichen Familie erhalten, vom nachhaltigen Einsatz für Grund und Boden, für Besitz. Die Erfahrung des „Nachhaltigkeits-Prinzips“ hat hier seine Wurzeln. Diese Menschen zeichnet ein hohes Maß an Eigeninitiative und Eigenverantwortung aus. Viele haben gerade dadurch von Kindheit an wertvolle Erfahrungen machen können oder Fähigkeiten entwickelt. Dies ist ein Schatz, der auch oft zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen wird, auf den wir auch in Zukunft bauen. Wir brauchen eine aktive Bürgergesellschaft in den ländlichen Regionen, um genau dieses Potenzial auch für künftige Generationen nuten zu können. Schwerpunkt unserer Politik für den ländlichen Raum ist der Erhalt bestehender und die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze. Dabei steht unser Ansatz, dass Arbeit zu den Menschen kommen muss und nicht umgekehrt, im Mittelpunkt der politischen Entscheidungen. Wir fördern deshalb Mittelstand und Handwerk sowie die bäuerliche Landwirtschaft. Sie haben die Schlüsselrolle für
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Werner Bumeder
regionale Märkte und sind Garant für den Erhalt der gewachsenen Strukturen. Wir fördern aber auch Existenzgründer, um eine innovative, investitionsfreundliche Gesamtatmosphäre zu schaffen. Dafür wiederum sind auch entsprechende Bildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten vor Ort erforderlich. Wir brauchen dafür auch weiterhin eine ausgewogene Regionalförderung für die strukturschwachen Gebiete. Die gute Wirkung der regionalen Wirtschaftsförderung wollen wir den künftigen Anforderungen laufend anpassen. Mit dem Programm „Allianz Bayern Innovativ“ und der Clusterbildung – der landesweiten Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft – wollen wir die Prozesse in den ländlichen Räumen weiter optimieren und ausbauen. Mit einem bedarfsgerechten Regionalmanagement wollen wir die Entwicklungspotenziale noch stärker ausschöpfen. Grundlage dafür ist eine strategisch ausgerichtete, eigenständige Regionalentwicklung. Standortmarketing und eine offensive Ansiedlungspolitik erhalten dabei zunehmende Bedeutung. Der Wirtschaftsstandort Bayern rückt mit der EU-Osterweiterung vom Rand in die Mitte eines großen, dynamischen Wirtschaftsraumes. Die „Drehscheibenfunktion“ – vor allem nach Osten – kann nur durch eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur erfüllt werden. CSU-Politik für den ländlichen Raum bedeutet deshalb auch Infrastrukturpolitik zum Erhalt und Ausbau bedarfsgerechter, leistungsfähiger Verkehrssysteme. Für die Entwicklung der ländlichen Räume ist aber auch die Teilhabe am Einsatz neuer Technologien erforderlich. Eine schnelle Umsetzung und die Vollversorgung mit leistungsfähigen Breitbandanschlüssen ist dabei unabdingbar. Vor großen Herausforderungen stehen wir in der Bildungspolitik. Aufgrund des demographischen Wandels und rückläufiger Schülerzahlen ergeben sich regional unterschiedliche Problemstellungen. Die CSU setzt deshalb auch auf regionalspezifische Lösungen für ein flächendeckendes Bildungsangebot für alle Schularten. Für eine wohnortnahe Versorgung sind Flexibilität und Anpassungskraft für die Grund- und Hauptschulen, aber auch für die beruflichen Schulen und die weiterführenden Schulen erforderlich. Wir setzen auch auf eine verstärkte Vernetzung der örtlichen Wirtschaft mit den Schulen und Bildungseinrichtungen. Wohnortnahe weiterführende Schulen erhöhen die Leistungskraft und auch Attraktivität der ländlichen Räume. Große Chancen bietet der ländliche Raum für den Tourismus. Durch seine Verflechtung mit anderen Wirtschaftszweigen machen gerade auch die mittelbaren Effekte den Tourismus zu einem wichtigen Impulsgeber für Handel, Freizeitindustrie, Gastronomie und andere Dienstleistungsbereiche. Der Bayerntourismus profitiert besonders vom Städtetourismus, von der Renaissance des Wanderns und Radurlaubs, von der medizinischen Kompetenz der bayerischen
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Heilbäder sowie erlebnisorientierten Angeboten. Die CSU setzt auf Steigerung der Qualität, Modernisierung und Strukturverbesserung, ohne die regionale Identität zu verlieren. Wesentlicher Ansatz für die Attraktivität der ländlichen Räume sind Familien- und Kinderfreundlichkeit. Angebote für Eltern zur Stärkung der Erziehungskraft gehören ebenso zur Politik für den ländlichen Raum wie der verstärkte Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, um die echte Wahlmöglichkeit zwischen Familie und Beruf bzw. die Kombination von beidem bestmöglich zu gewährleisten. Wir wollen aber auch eine wohnortnahe Infrastruktur in der Altenhilfe. Neben der Schaffung und Förderung entsprechender Einrichtungen liegt ein Schwerpunkt auch im Miteinander der Generationen und in der Hilfe zur Selbsthilfe. In der medizinischen Versorgung liegen ebenfalls große Herausforderungen. Ziel der CSU-Politik für den ländlichen Raum ist es, auch künftig eine gute, bedarfsgerechte und leistungsfähige sowie flächendeckende Krankenhausversorgung sicherzustellen. Dies beinhaltet auch erforderliche eine enge Vernetzung mit ambulanten Versorgungseinrichtungen und der notärztlichen Versorgung. Die CSU tritt für Rahmenbedingungen ein, die gerade diese Versorgung sichert und eine übergebührende Belastung der bayerischen Leistungserbringer verhindern. Die CSU will ihre konsequente und erfolgreiche Politik für die Stärkung der ländlichen Räume Bayern fortsetzen. Mit kreativen Lösungsansätzen, aber auch Innovationsanspruch in Denken und Handeln stellen wir uns den großen Herausforderungen. Für uns stehen im Fokus die Zukunftsfähigkeit, Forschung und Entwicklung, eine leistungsfähige Infrastruktur, Arbeitsplätze, Bildung und die Förderung der Familien. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger in einer aktiven Bürgergesellschaft einbinden und nachhaltig Tradition und Moderne erhalten. Unser Konzept für den ländlichen Raum schützt die regionale Identität, stellt sich den Herausforderungen und eröffnet neue Chancen.
Von der Landwirtschafts- zur integrierten ländlichen Entwicklungspolitik – die Sicht der SPD Martin Wille
Das Zwei-Säulen-Modell der EU-Agrarpolitik ist gescheitert In den letzten Jahren ist sehr viel über den ländlichen Raum geschrieben worden. Das hat mehrere Gründe. Unbestritten ist, dass durch den demographischen Wandel vor allem peripher gelegene und dünn besiedelte Regionen durch weiteren Bevölkerungsrückgang Probleme bekommen werden, vor allem wenn junge, qualifizierte Personen in Stadtregionen mit besseren Entwicklungsmöglichkeiten abwandern und sich dadurch ergänzend zum Geburtenrückgang die Überalterung beschleunigt mit gravierenden Folgen für die Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Infrastruktur. Da es sich häufig auch um strukturschwache Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und um Branchen mit geringem Wachstumspotential handelt, kann eine Abwärtsspirale in Bewegung gesetzt werden. Deshalb ist es verständlich und notwendig, dass die Menschen in den betroffenen Regionen Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse anmahnen und Forderungen in Richtung EU, Bund und Ländern nach einer Neuausrichtung der Politik für ländliche Räume stellen. Viele Menschen mit einem besonderen Bezug zu ihrer ländlichen Region, die Wert auf Heimat- und Traditionspflege legen sowie die Vielfalt und Schönheit ihrer Landschaft erhalten wissen wollen, sorgen sich um negative Auswirkungen globalisierter Märkte und die Folgen des Klimawandels. Auch diese Sorgen werden an die Politik mit der Erwartung herangetragen, auf die neuen Herausforderungen rechtzeitig und richtig zu reagieren. So wichtig diese Zukunftsfragen sind, so erklären sie doch nicht das außergewöhnlich große Interesse an Fragen des ländlichen Raumes. Ursache dafür ist, so meine These, dass es um europäisches Geld und dessen Verteilung in den nächsten Jahren geht. Und dabei ist Folgendes in Erinnerung zu rufen: •
Die Europäische Union war als EWG und spätere EG lange Jahre eine Agrarunion, die den Löwenanteil der ihr zur Verfügung stehenden Finanzmittel im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik an die Landwirtschaft ver-
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teilte; in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren das teilweise 70 %. Mit den Agrarreformen von 1992, 1999 und 2003 wurde das Stützungssystem durch Druck von außen (GATT, WTO) grundlegend geändert; statt Preisstützung mit Finanzierung der Lagerung und des Exports von Überschüssen erhielten die Landwirte Direktzahlungen als Kompensation für Preissenkungen. Im Zuge der Agenda 2000- Reform (Beschluss 1999) teilte man den Agrarhaushalt in eine Erste Säule mit den Ausgaben für Marktstützung und Direktzahlungen, die zu 100 % von der EU finanziert werden und eine Zweite Säule, aus der bei Beteiligung der Mitgliedstaaten (Kofinanzierung) die Maßnahmen der ländlichen Entwicklung und die Agrarumweltprogramme finanziert werden. Mit der Agrarreform 2003 wurde dann ein Systemwechsel vollzogen. Einmal wurden die Direktzahlungen von der Produktion entkoppelt und die Vergabe an die Einhaltung von Standards geknüpft (Cross-ComplianceRegelung). Zum andern ist eine sukzessive Umschichtung von Finanzmitteln aus der Ersten in die Zweite Säule (sog. Modulation) mit dem Signal beschlossen worden, der ländlichen Entwicklungspolitik ein zunehmend größeres Gewicht einzuräumen. Bei Verabschiedung der EU- Finanzplanung 2007–2013 im Dezember 2005 beauftragten die Staats- und Regierungschefs die EU-Kommission „... eine vollständige,weit reichende Überprüfung sämtlicher Aspekte der EU-Ausgaben einschließlich der Gemeinsamen Agrarpolitik …“ vorzunehmen. Zur Überprüfung der Agrarpolitik legte die Kommission am 20. 11. 2007 eine Mitteilung „Vorbereitung auf den Gesundheitscheck“ in der Absicht vor, Ende 2008 unter französischer Präsidentschaft zu Entscheidungen zu kommen. Mit dem Konsultationspapier zur Überprüfung des EU- Haushalts vom 12. September 2007 hat die Kommission die neuen politischen Herausforderungen umrissen und die künftigen Schwerpunkte des Gemeinschaftshandelns dargelegt.
Festzuhalten ist damit, dass in der EU der Aufgabenbereich ländliche Entwicklung keine Säule darstellt, sondern ein Wurmfortsatz der Landwirtschaftspolitik geblieben ist. Bei der anstehenden „vollständigen und weit reichenden“ Überprüfung der EU-Ausgabenpolitik ergibt sich daraus ein Legitimationsproblem für die Höhe und Struktur der Agrarausgaben. Das ist die große Herausforderung für die verantwortlichen Politiker im Rat der Agrarminister. Wenn sie nicht im Gesundheitscheck handeln und die Agrarpolitik der EU fit für die Zukunft machen, werden ihnen andere das Geschäft abnehmen.
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Die erfreuliche Erkenntnis von Bundesminister Seehofer, dass die bisher ressortbezogene Ausrichtung der ländlichen Entwicklungspolitik durch eine integrierte Sicht auf den Raum ersetzt werden muss Auf der Basis der neuen EU-Verordnung über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) erarbeiteten in Deutschland Bund und Länder im Jahre 2005 einen nationalen Strategieplan; die Länder reichten 2006 ihre Programme ländlicher Raum für den Zeitraum 2007 bis 2013 bei der EUKommission zur Genehmigung ein und haben die Programme im Laufe des Jahres 2007 genehmigt bekommen. Man konnte erwarten, dass Ruhe einkehrt und Themen der ländlichen Entwicklung in den Hintergrund treten. Das Gegenteil ist eingetreten. Fast parallel zur Erarbeitung und Verabschiedung der Strukturprogramme 2007–13 begann in Deutschland die Diskussion über die Zukunft der ländlichen Entwicklungspolitik. In der Koalitionsvereinbarung vom November 2005 hatten sich CDU/ CSU und SPD darauf verständigt, „den ländlichen Raum und den Agrarstandort Deutschland zu stärken“ und festgehalten, dass zur Sicherung von Wertschöpfung und Arbeitsplätzen im ländlichen Raum „ein sektorübergreifender Förderansatz am besten geeignet (sei)“. Das federführende Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) organisierte in einer etwa eineinhalb Jahre dauernden Konferenzreihe einen umfassenden Dialog, der in einem Zukunftsforum im Rahmen der Grünen Woche 2008 mit dem Ergebnis abgeschlossen wurde, dass das in der Bundesregierung zuständige Ministerium eine „Konzeption zur Weiterentwicklung der Politik für ländliche Räume“ vorlegte, und Minister Horst Seehofer im Vorwort bekannte, dass für den Erfolg der Politik für ländliche Räume von zentraler Bedeutung sei, die verschiedenen, den ländlichen Raum betreffenden Politikbereiche stärker als bisher miteinander zu verknüpfen. Die ressortbezogene Politikausrichtung auf Bundes- und Landesebene müsse durch eine integrierte Sicht auf den Raum ersetzt werden. Das ist erfreulich, hatte doch auch die Auswertung der von der Kommission bis November 2007 genehmigten Entwicklungsprogramme durch das Institut für ländliche Räume der früheren FAL (Forschungsanstalt für Landwirtschaft) in Braunschweig gezeigt, dass sich die „veränderten politischen und legislativen Rahmenbedingungen nur wenig auf Inhalte, Maßnahmenspektrum und Zielgruppen ausgewirkt (habe)“. Im Vordergrund der Politik für ländliche Räume, so die Auswertungsergebnisse der FAL, stünden weiterhin sektorbezogene Ansätze, mit einem starken Fokus auf Sicherung einer nachhaltigen Landnutzung. Der Gesprächskreis Verbraucher, Ernährung, Landwirtschaft beim SPDParteivorstand hatte bereits zwei Jahre zuvor in sechs Thesen zur Entwicklung
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ländlicher Räume gefordert, dass wir von der traditionellen Landwirtschaftspolitik weg und hin zu einer integrierten Politik für ländliche Räume kommen müssen und dass diese Politik innerhalb der Bundesregierung auch institutionell in einem „Rat für die ländlichen Räume“ verankert werden müsse. Wichtigstes Ergebnis des Dialogs über die ländliche Entwicklung in Deutschland ist also die Einsicht, dass der derzeitige Förderansatz zu eng auf den Sektor Landwirtschaft ausgerichtet ist. Im Gesundheitscheck der EU-Agrarpolitik kann dieser Mangel zunächst auf der europäischen und anschließend auf der nationalen Ebene korrigiert werden. Die Tür hat dafür die EU-Kommission geöffnet. In ihrer Mitteilung vom 20. November 2007 fragt sie uns: „Wie können wir die neuen Herausforderungen – Klimaänderung, die zunehmende Bedeutung der Biokraftstoffe und die Wasserbewirtschaftung, um nur einige zu nennen – meistern und die bestehenden Probleme, wie den Rückgang der Artenvielfalt, lösen, d. h., wie können wir mit neuen Risiken fertig werden und neue Chancen nutzen?“ Die Chancen des Gesundheitschecks der EU-Agrarpolitik nutzen und die Weichen für eine zukunftsfähige Politik stellen CDU/CSU und SPD haben sich in ihrem Regierungsprogramm auf einen Text verständigt, der von den Koalitionspartnern unterschiedlich ausgelegt wird. In der Vereinbarung heißt es: „Am einstimmigen Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom Oktober 2002 über die Finanzierung der Ersten Säule der EU-Agrarpolitik hält die Bundesregierung aus Gründen der Planungssicherheit und Verlässlichkeit fest. Die Finanzierung der Zweiten Säule muss ausreichend abgesichert und die gleichgewichtige Entwicklung beider Säulen gewährleistet bleiben.“ Satz 1 entspricht einem Anliegen vor allem der CDU/CSU, die Planungssicherheit und Verlässlichkeit vor allem in Richtung Landwirtschaft definiert. Satz 2 wurde auf Initiative der SPD aufgenommen. Wir legen Wert auf eine gleichgewichtige Entwicklung beider Säulen im EU-Haushalt und sind der Auffassung, dass sich die Forderungen nach Planungssicherheit und Verlässlichkeit genau so auf die Politik für ländliche Räume beziehen müssen. Dieser Dissens in der Koalition ist, wie die Reaktionen auf die Mitteilung der Kommission zum Gesundheitscheck zeigen, noch nicht ausgeräumt. Die Bundespolitiker der SPD teilen die Auffassung der EU-Kommission, dass die neuen Herausforderungen einen weiteren Ausbau der Maßnahmen der Zweiten Säule der Agrarpolitik erfordern. Da der EU-Agrarhaushalt bis 2013 feststeht, lässt sich in der laufenden Finanzperiode eine Aufstockung der Mittel für die Maßnahmen der 2. Säule nur durch Umschichtung aus der 1. Säule errei-
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chen (sog. Modulation). Danach schlägt die Kommission vor, die ab 2005 geltende obligatorische Modulation von 5 % in den Haushaltsjahren 2010 bis 2013 um jährlich 2 % anzuheben. Dies würde in Deutschland eine Kürzung der Direktzahlungen in der Ersten Säule von ca. 375 Mio. Euro entsprechen und einschließlich der nationalen Kofinanzierung in der 2. Säule zusätzliche Mittel in Größenordnungen von 600 bis 700 Mio. Euro für die ländliche Entwicklungspolitik mobilisieren. Die EU-Kommission hat angekündigt, dass sie anhand der Ergebnisse des von ihr initiierten öffentlichen Dialogs und unter Berücksichtigung derzeit durchgeführter Folgenabschätzungen im Mai 2008 konkrete Gesetzesvorschläge vorlegen werde. Das Warten auf diese Vorschläge ist keine Politik. Besser und hilfreicher für die Entscheidungsfindung wäre gewesen, wenn die deutsche Bundesregierung den Kommissionsvorschlag zur Modulation klar und eindeutig unterstützt hätte; und zwar aus folgenden Gründen: 1.
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Die derzeitige Agrarpolitik mit entkoppelten Prämien, die nach Maßgabe von Preis- und Produktionsbedingen in einer weit zurückliegenden Referenzperiode berechnet worden sind und die keinen echten Leistungsbezug haben, hat keine Zukunft. Für die kommende Finanzperiode ab 2014 muss das Prämiensystem grundlegend umgebaut und das Prämienniveau in Anpassung an die (günstige) Entwicklung auf einigen Agrarmärkten abgesenkt werden. Die EU-Kommission skizziert im Gesundheitscheck einen möglichen Weg, nämlich schon im Zeitraum 2009 bis 2013 zu einheitlichen Prämiensätzen überzugehen. Ab 2014 könnte dann als pauschales Entgelt für höhere EU-Standards eine einheitliche Hektarprämie eingeführt werden. Mit dem Instrument der Modulation kann der gleitende Übergang in ein neues Prämiensystem organisiert werden, einmal durch Degression der Direktzahlungen und damit Absenkung des Prämienniveaus in der Ersten Säule, zum andern durch Umschichtung der freiwerdenden EU-Mittel in die Zweite Säule, um dort mit Maßnahmen der ländlichen Entwicklung auf die neuen Herausforderungen gezielt und problemadäquat reagieren zu können. Die Kommission umschreibt in ihrer Mitteilung zur künftigen Ausgabenpolitik Aufgabenschwerpunkte, zu denen die Bereiche Landwirtschaft und ländliche Entwicklung nicht gehören. Im Gesundheitscheck der EUAgrarpolitik sollte daher auch die Option bedacht werden, bei Absenkung der Agrarausgaben im EU-Haushalt in der Finanzperiode ab 2014 sämtliche Direktzahlungen mit Raum- und Umweltbezug von den Mitgliedstaaten mitfinanzieren zu lassen. Die Säulen würden sich dann umkehren: eine kleine für Maßnahmen mit Marktbezug, die zu 100 % aus dem EU-Haushalt finanziert werden; eine große für den Aufgabenbereich ländliche Entwicklung mit
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einem breiten Maßnahmenspektrum und stärkerem Bezug zu den spezifischen Problemen der ländlichen Regionen in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Politik für den ländlichen Raum auf EU-Ebene und in Deutschland in den Gesundheitscheck einbeziehen: Konsistenz und Kohärenz der Förderpolitik sicherstellen Wer für die Anhebung der Modulationssätze im Rahmen des Gesundheitschecks eintritt, muss längst nicht gutheißen, was und wie derzeit in der ländlichen Entwicklungspolitik gefördert wird. Die (Selbst) Kritik des für den ländlichen Raum zuständigen Bundesministers in Deutschland an der zu stark ressortbezogenen Politikausrichtung auf Bundes- und Landesebene wurde bereits erwähnt. Auch der Europäische Rechnungshof hat in 2 Sonderberichten deutliche Kritik geübt. Zur Investitionsförderung kam der Hof zu dem Ergebnis, dass die Ziele der Förderung in der Regel zu allgemein gefasst sind, sich die Wirksamkeit der Investitionen wegen unscharfer Zielformulierungen nicht beurteilen lässt und von den angestrebten Zielen praktisch nur das Sektorziel (Förderung der Landwirtschaft) ernsthaft verfolgt worden ist. Zu den Agrarumweltbeihilfen bemängelte der Rechnungshof, dass die Überprüfung dieser Maßnahmen besondere Probleme aufwirft und sehr ressourcenintensiv ist; in den Programmen ab 2007 sollte der Grundsatz berücksichtigt werden, „dass keine Zahlungen der öffentlichen Hand erfolgen sollten, wenn eine Maßnahme nicht entsprechend überprüft werden kann“. Während die Kritik des Rechnungshofes vor allem in Richtung Überprüfbarkeit zielt, gilt es, im Gesundheitscheck Fragen der Konsistenz und Kohärenz der Fördermaßnahmen in der Ersten und Zweiten Säule ins Blickfeld zu nehmen, damit möglichst viele Synergien erzielt und Doppelförderungen vermieden werden. Dies ist deshalb so wichtig, weil in den Entwicklungsprogrammen der Bundesländer 2007–13 mit rd. 40 % der Löwenanteil der Fördermittel auf den Schwerpunkt 2 „Verbesserung der Umwelt und Landschaft“ entfällt, davon 25,8 % auf die Agrarumweltmaßnahmen und 8,9 % auf die Ausgleichszulage für benachteiligte Gebiete. So ist z. B. zu fragen, ob langfristig die Fortführung der Ausgleichszulage gerechtfertigt ist, wenn in Deutschland zwischen 2010 und 2013 das für entkoppelte Direktzahlungen eingeführte Kombinationsmodell in ein reines Regionalmodell überführt wird und damit ab 2013 eine einheitliche regionale Flächenprämie angewandt wird. Zum Bereich Agrarumwelt ist bereits zu Beginn der neuen Förderperiode 2007–13 erkennbar, dass bei anhaltend höheren Agrarpreisen die Maßnahmen
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wegen fehlender Anreizwirkung deutlich weniger in Anspruch genommen werden. Die Agrarpolitik der Vergangenheit war unter dem Eindruck von Überschüssen und niedrigen Agrarpreisen davon geprägt, mit Flächenstilllegung und Extensivierung die Produktion zu begrenzen, hervorragende Voraussetzungen, um in der Zweiten Säule vergleichsweise kostengünstig die Agrarumweltprogramme zu finanzieren. Die Bedingungen haben sich auf den Agrarmärkten auch unter dem Einfluss der neuen Bioenergiepolitik der EU, Deutschlands oder beispielhaft auch der USA dramatisch verändert. Der Wissenschaftliche Beirat Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat der Politik in seinem Gutachten „Nutzung von Biomasse zur Energieerzeugung“ ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Bezüglich der Landnutzung und der Entwicklung ländlicher Räume stellt der Beirat fest: „Bei knappen Ackerflächen führt eine großflächige Ausdehnung der Bioenergie zwangsläufig dazu, dass bisher nicht ackerbaulich genutzte Flächen in Kultur genommen werden (Grünlandumbruch, Waldrodung) bzw. die Bewirtschaftung der Flächen intensiviert wird.“ Er folgert daraus, dass „die Ausdehnung der Bioerzeugung auf Ackerflächen im Endeffekt sogar kontraproduktiv für den Klimaschutz sein kann“, und ich würde ergänzen, dass die neue Bioenergiepolitik auch kontraproduktiv für die Extensivierungsmaßnahmen im Rahmen der Agrarumweltprogramme sein wird. Verträge könnten so schnell wie möglich gekündigt werden, der Abschluss neuer mehrjähriger Verträge könnte drastisch zurückgehen. Das Gesamtgefüge der gerade verabschiedeten Länderprogramme zur ländlichen Entwicklung 2007–13 droht aus der Balance zu geraten, zumal der Wissenschaftliche Beirat ergänzend darauf hinweist, dass die „Förderung der Bioenergie statt der erhofften positiven sogar negative Arbeitsmarktwirkungen in ländlichen Räumen auslösen (kann), wenn sie dort nämlich zur Verdrängung der Tierproduktion führt“. Deshalb reicht die in Mitteilung zum Gesundheitscheck von der EUKommission gegebene Empfehlung nicht aus, auf die neuen Herausforderungen (Klimawandel, Bioenergie, Wasserwirtschaft und Artenvielfalt) mit dem Ausbau der bestehenden Maßnahmen der zweiten Säule zu reagieren. Notwendig ist vielmehr der Umbau des gesamten Prämiensystems in der Ersten und Zweiten Säule, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden und mehr Konsistenz und Kohärenz in der Förderpolitik für Landwirtschaft und ländliche Räume zu bringen.
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Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ muss zu einer Gemeinschaftsaufgabe zur Zukunft ländlicher Räume ausgebaut werden (Bundesminister Horst Seehofer) Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) hat in der jüngst vorgestellten Konzeption zur Weiterentwicklung der Politik für ländliche Räume die Ziele und ressortübergreifenden Handlungsfelder umrissen, Initiativen in seinem Zuständigkeitsbereich dargestellt und einen Ausblick gegeben. In dem Konzept heißt es beispielsweise, dass die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ in den letzten Jahren zwar weiterentwickelt worden ist, „sie durch ihren gesetzlich vorgegebenen Agrarstrukturbezug nicht allen Anforderungen an eine zukunftsgerichtete Politik für ländliche Räume gerecht werden (kann)“. Aus dieser Festsstellung hat Minister Seehofer in seiner Rede vor dem Zukunftsforum anlässlich der Grünen Woche in Berlin folgerichtig die Konsequenz gezogen, dass die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur zu einer Gemeinschafsaufgabe zur Zukunft ländlicher Räume ausgebaut werden müsse. Also sind wir gespannt darauf, wie es weiter geht und ob der Bundesminister die Länderkollegen überzeugen kann. Denn die Förderung der ländlichen Entwicklung, so der Hinweis des BMELV, ist grundsätzlich Aufgabe der Länder. Mir scheint allerdings, dass die Fachressorts der Länder mit dem gegenwärtigen Zustand mehr als zufrieden sind. Sie haben in der Sache größtmögliche Gestaltungsspielräume und müssen nur einen kleinen Anteil der Finanzierung tragen; die EU und der Bund übernehmen etwa 80 % (alte Länder) und ca. 90 % (neue Länder) der anfallenden Ausgaben. Die Fachressorts der Länder zeigen sich auch wenig begeistert davon, dass im Gesundheitscheck die Modulationssätze angehoben und damit mehr EUMittel in die kofinanzierte Zweite Säule umgeschichtet werden sollen. Neben dem zu erwartenden Ärger mit den Finanzressorts scheint für zusätzliche sektorbezogene Agrarstrukturmaßnahmen auch kaum Bedarf zu bestehen. Eine Änderung des Gemeinschaftsaufgabengesetzes „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ hätte in der Legislaturperiode vermutlich nur dann eine Chance, wenn die Chefs der Landesregierungen davon überzeugt werden könnten. Ich hielte es für angebracht, dass der Bund mit Blick auf die neuen Herausforderungen künftig stärker auf den einschlägigen Artikel 91a Grundgesetz verweist, wo es heißt, dass der Bund „bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder mit(wirkt), wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist (Gemeinschaftsaufgaben)“. Ich vermag nicht zu erkennen, dass alle derzeit in der
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Gemeinschaftsaufgabe zu 60 % vom Bund mitfinanzierten Agrarstrukturmaßnahmen „für die Gesamtheit bedeutsam“ sind. Wichtig wäre, dass Bundestag und Bundesrat baldmöglichst in einem Gesetzgebungsverfahren gründlich und öffentlich über den Ansatz des federführenden Bundesministeriums diskutieren, dass „die Förderung der ländlichen Entwicklung eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, an der alle Beteiligten mitwirken“.
Ländliche Räume in Deutschland haben Zukunft – die Position der FDP-Bundestagsfraktion Christel Happach-Kasan
Der Blick aus dem Flugzeug von Hamburg nach München zeigt den Wechsel der Landschaften: Norddeutsche Tiefebene, Mittelgebirge, Flusstäler. Nachts strahlen die Lichter der Siedlungen und zeigen den Wechsel der Siedlungsformen, die Unterschiedlichkeit der Besiedlungsdichte. Der ländliche Raum in Deutschland ist vielgestaltig; er wird geprägt durch sehr verschiedene geographische Gegebenheiten, unterschiedliche regionale Geschichte und kulturelle Entwicklungen und sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Erfolg. Die bis ins 19. Jahrhundert währende Kleinstaaterei hat Spuren hinterlassen, die bis heute fortwirken. Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland lebt in ländlichen und halbstädtischen Regionen. Es ist eine nur schwierig zu bewältigende politische Aufgabe angesichts der Verschiedenheit der ländlichen Räume, dem Auftrag des Grundgesetzes zu genügen, der in Artikel 72 Absatz 2 fordert, dass „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ gewährleistet sein soll. Es gibt gerade in den neuen Bundesländern, aber auch in anderen Regionen Gebiete, die sehr dünn besiedelt sind und stark unter der Abwanderung der jungen Bevölkerung leiden; es gibt aber auch Standorte, die wirtschaftlich stark sind, weil sie über günstige touristische Rahmenbedingungen verfügen oder besonders erfolgreich in der Tierhaltung oder im Gartenbau sind. Deutschland ist beides: Industriestaat und gleichzeitig land- und forstwirtschaftlich geprägtes Flächenland. Die Provinz hat in Deutschland ihren eigenen Stellenwert. Das ist Teil unserer Geschichte. Ländliche Räume erfüllen mehrere Funktionen: Sie sind Standorte der Land- und Forstwirtschaft, sie sind Erholungsraum für die Menschen der Ballungsgebiete, sie sind wichtig für den Naturund Artenschutz, den Klimaschutz und stellen Grundwasser bereit. Die Ferienländer Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern verdanken einen Teil ihrer Attraktivität den ländlichen Strukturen. Regionale Produkte ergänzen den touristischen Erlebniswert. Erdbeeren kann man das ganze Jahr über aus aller Welt importieren, aber am besten schmecken sie immer noch im Mai, frisch gepflückt. Nordseekrabben frisch vom Kutter haben einen besonderen Reiz. Auch wenn die ländlichen Räume nicht mehr ausschließlich von der Land-
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wirtschaft geprägt werden, so sähe doch das Bild der freien Landschaft in Deutschland ohne Landwirtschaft völlig anders aus. Seit mehr als 50 Jahren ist die Landwirtschaftspolitik eine gemeinsame europäische Politik. Die nationalen Gestaltungsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Es gibt kaum ein Politikfeld, in dem in den letzten 20 Jahren so grundlegende Reformen durchgesetzt wurden. Die Abstände zwischen den Agrarreformen der EU sind immer kürzer geworden: 1992 die MacSharry-Reform mit der Abkehr von der Produktförderung und der Einführung der Flächenprämie, 2000 die Agenda 2000, die die EU fit für die Osterweiterung machen sollte, 2003 der Mid-termreview und 2006 die Einführung der entkoppelten Prämie. Der Anteil der EUAgrarausgaben ist stark rückläufig, 1977 betrug er 76 %, im vergangenen Jahr nur noch 38 %, obwohl in der EU-27 die Zahl der Prämienempfänger stärker als die Höhe der Einnahmen gestiegen ist. Die FDP hat als erste und einzige Partei die Einführung einer produktunabhängigen Kulturlandschaftsprämie vorgeschlagen. Es war unser Ziel, das hoch komplizierte Prämiensystem abzuschaffen und gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Leistungen der Landwirtschaft zu finanzieren. Mit der Agrarreform von 2006 sind wesentliche Teile unserer Vorstellungen umgesetzt worden. Die Landwirtschaft versorgt die Menschen mit hochwertigen Nahrungsmitteln; dies war so und dies soll so bleiben. Ihre Dienstleistungen für den Erhalt und die Pflege unserer Kulturlandschaft müssen honoriert werden, denn sie werden mit dem Kauf landwirtschaftlicher Produkte nicht abgegolten. Der Landwirt kann Weizen verkaufen, Milch, Schweine und Eier. Der Anblick von Kornblumen ist für den Betrachter umsonst, für den Landwirt aber nicht. Arbeitsplätze in der Landwirtschaft gehören zu den kostenintensivsten. Daher braucht eine unternehmerische Landwirtschaft Planungssicherheit. Die Investition in einen Kuhstall rechnet sich erst im Laufe von 30 Jahren. Daran wird deutlich, in welcher Weise ein Landwirt von politischen Entscheidungen abhängig ist und welch großes persönliches Risiko er bei seinen Investitionsentscheidungen auf sich nimmt. Deshalb muss an der Finanzierung der Ersten Säule bis 2013 festgehalten werden. Landwirte sind mittelständische Unternehmer. Sie haben im Vertrauen auf politische Zusagen in ihre Betriebe investiert. Deshalb müssen diese Zusagen eingehalten werden. Neben der Planungssicherheit brauchen Landwirte faire Wettbewerbsbedingungen. Auf dem EU-Binnenmarkt führen nationale Sonderwege dazu, die eigene landwirtschaftliche Produktion in die Nachbarländer zu vertreiben. Deswegen sollen nach den Vorstellungen der FDP Regelungen der EU 1 : 1 in nationales Recht umgesetzt werden. Das muss für die Regelungen zur Tierhaltung genauso gelten wie beim Pflanzenschutz. Es dient nicht dem Tierschutz, wenn die nationalen Anforderungen an die Haltungsbedingungen dazu führen, dass die
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Ställe bei uns abgebaut und in anderen Ländern wieder aufgebaut werden. Die FDP will eine Harmonisierung der Besteuerung von Agrardiesel, denn in all unseren Nachbarländern wird der Agrardiesel geringer besteuert als bei uns. Das Ziel der Europäischen Union, bis 2020 20 % des Primärenergiebedarfs durch Erneuerbare Energien bereitzustellen, hat die energetische Nutzung von Biomasse ins Blickfeld gerückt. Die FDP unterstützt dieses Ziel. Die Steuerbefreiung für Biokraftstoffe, die der Bundestag 2004 beschlossen hatte, und die ursprünglich bis 2009 gelten sollte, hat zahlreiche Investitionen insbesondere in die Produktion von Biodiesel ausgelöst und einen regelrechten Boom bewirkt. Schon in 2006 betrug der Anteil der Biokraftstoffe 6,6 % am Kraftstoffverbrauch. Die Einführung von Besteuerung und Beimischungszwang durch die Bundesregierung haben in Deutschland den Zusammenbruch der Branche bewirkt, eine gewaltige Kapitalvernichtung verursacht. Die jetzt beigemischten Biokraftstoffe werden zu 70 % eingeführt, die Ernährungssituation in den ärmsten Ländern kann sich dadurch verschlechtern. Der ländliche Raum braucht Planungssicherheit. Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats Agrarpolitik beim Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz „Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung“ hat deutlich gemacht, dass verschiedene Förderungen der Biomassenutzung für die Volkswirtschaft extrem teuer sind. Ein Beispiel ist die mit dem EEG geförderte Verstromung von Biogas aus Mais. Sie verursacht die höchsten CO2-Vermeidungskosten bei geringster Effektivität der Biomasseproduktion pro Hektar. Das ist kein zukunftsweisender Weg. Die FDP unterstützt die Forderung der Gutachter nach einer Neuausrichtung der Förderpolitik. Sie muss sich an der Effizienz der Biomasseproduktion pro Hektar orientieren, Nutzungen mit geringen CO2-Vermeidungskosten besonders fördern und Anreize schaffen für die Nutzung von energiehaltigen Reststoffen aus der Land- und Ernährungswirtschaft. Die FDP fordert eine Änderung des Bundeswaldgesetzes. Diese ist erforderlich, um Kurzumtriebsplantagen für die Produktion von Energieholz betreiben zu können, deren energetische Nutzung im Vergleich zu anderen Biomasseträgern den geringsten Förderbedarf hat. Die Nutzung von landwirtschaftlichen Flächen zur Herstellung von nachwachsenden Rohstoffen kann agrar-, umwelt- und sozialpolitische Vorteile bringen. Allerdings müssen dafür der Anbau und die Förderung der nachwachsenden Rohstoffe wettbewerbsneutral organisiert werden. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist ein Nebeneinander des Anbaus nachwachsender Rohstoffe und der Lebensmittelerzeugung möglich und notwendig. Die zweite Säule der Agrarpolitik wird in der ELER-Verordnung „Verordnung zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums“ definiert. Die Nutzung der Mittel ist weitgehend abhängig von den Kofinanzierungs-
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möglichkeiten der Bundesländer. Deshalb nutzen insbesondere die finanzkräftigen Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg die Fördermöglichkeiten der ELER-Verordnung für ihre Agrarumweltprogramme. Die FDP wendet sich gegen eine weitere Verlagerung von Finanzmitteln aus der ersten Säule, Förderung landwirtschaftlicher Betriebe, in die zweite Säule. Der unternehmerische landwirtschaftliche Haupterwerbsbetrieb braucht für seine Investitionen Planungssicherheit, dazu gehört, dass er sich bis 2013 auf die zugesagte Förderung aus der ersten Säule verlassen kann. Die Wirtschaftskraft ländlicher Räume hat inzwischen mehrere Standbeine. Die Land- und Forstwirtschaft ist ein wichtiges Standbein, aber schon lange nicht mehr das einzige. In den Küsten- und Mittelgebirgsregionen ist seit langem der Tourismus ein weiteres Standbein. Der Naturtourismus hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Unter der Dachmarke „Nationale Naturlandschaften“ werben inzwischen 14 Nationalparke, 14 Biosphärenreservate und 93 Naturparke gemeinsam und erfolgreich um naturinteressierte Gäste. Damit der ländliche Raum für Dienstleistungsunternehmen als Standort interessant wird, muss die Infrastruktur gestärkt werden. Das gilt für die Verkehrsinfrastruktur, mehr aber noch für die flächendeckende Versorgung mit DSL-Anschlüssen. Entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes müssen diese Infrastrukturleistungen auch die ländlichen Räume berücksichtigen. Wo Verkabelungen nicht möglich sind, muss über Funkverbindungen nachgedacht werden. So wie ein Telefonanschluss selbstverständlich ist, wird mittelfristig auch der DSL-Anschluss oder ein entsprechender schneller Internetzugang selbstverständlich sein. Verschiedene Regionen sind besonders vom Bevölkerungsrückgang betroffen. Dort wird es schwierig, die Einrichtungen der Daseinsvorsorge bereitzustellen. Wir brauchen Modellregionen, in denen mit unterschiedlichen Konzepten nach geeigneten Lösungen gesucht wird. Der ländliche Raum ist Heimat mit Zukunft: Land- und Forstwirtschaft für die Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln, nachwachsende Rohstoffe für die stoffliche und energetische Verwertung, Tourismus und Natur-Urlaub, hochwertige Dienstleistungen sind die Entwicklungschancen für ländliche Räume. Darauf muss die Gestaltung der Infrastruktur ausgerichtet werden.
Politik für das Land. Grüne Perspektiven für ländliche Räume Cornelia Behm, Winfried Schröder, Skadi Krause
Ländliche Räume sind Lebensgrundlagen für unsere Gesellschaft. Sie sind Wohn-, Lebens-, Arbeits- und Erholungsraum für etwa zwei Drittel aller Deutschen. Sie sichern mit mehr als 23 Millionen Arbeitsplätzen einem erheblichen Teil der Bevölkerung das Einkommen. Deutlich mehr als die Hälfte der gesellschaftlichen Wertschöpfung findet hier statt. Im ländlichen Raum werden die Nahrungsmittel erzeugt. Und nur in der freien Landschaft des ländlichen Raumes kann Natur wirklich erlebt werden. Nur dort finden sich Rückzugsräume für Tiere und Pflanzen und hin und wieder auch für gestresste Stadtmenschen. Trotzdem geraten ländliche Räume zunehmend ins Visier der Politik. Denn auch in Deutschland ist die weltweite Tendenz der Bevölkerungswanderung in urbane Gebiete zu spüren. Die Menschen folgen den Arbeitsplätzen in die Städte. Metropolenferne Räume beginnen sich zu entleeren. Sie gelten in der öffentlichen Daseinsvorsorge als untragbar und im wirtschaftlichen Wettbewerb als nicht entwicklungsfähig. Regionale Disparitäten werden in der aktuellen politischen Diskussion über die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse hervorgehoben. Die nachfolgenden Überlegungen über regionale Entwicklungen wenden sich gegen solche Ansätze. Sie basieren auf einem politischen Anspruch, der den ländlichen Raum trotz seiner Inhomogenität als eine komplexe institutionelle, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und symbolische Einheit begreift.
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Was ist der ländliche Raum und welche Bedeutung kommt ihm in Zukunft zu
Zum ländlichen Raum gehört nicht nur das klassische Dorf mit seiner ortstypischen Umgebung, sondern auch ländlich geprägte Regionen wie beispielsweise die Uckermark, die Eifel, die Schwäbische Alb und die Lüneburger Heide mit ihren historisch gewachsenen Kleinstädten wie Prenzlau, Bitburg oder Soltau, da diese durch ihr ländliches Umfeld wirtschaftlich und kulturell geprägt werden. Das bedeutet auch, dass ländliche Räume bis weit an die Grenzen von Metropolen heranreichen können, wie dies teilweise im Berliner Umland der Fall ist. Der Begriff des ländlichen Raumes als eigenständige politische, kulturelle und wirtschaftliche Handlungsebene steht heute in Konkurrenz zu anderen terri-
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torial-politischen Konzepten. Ländliche Räume überschreiten die politische Einheit der Kommunen (Gemeinden und Landkreise) und verändern bestehende kleinräumige Handlungsebenen. Die Entwicklungsperspektiven der ländlichen Räume weisen in Deutschland große Unterschiede auf. Sie reichen von prosperierenden Regionen im Süden des Landes, die auf Grund ihrer Nähe zu urbanen Zentren oder starker Wirtschaftsaktivitäten vor Ort große Entwicklungspotentiale haben, bis hin zu stagnierenden oder gar regressiven Regionen, die mit einem zunehmenden Rückgang des Arbeitsplatzangebotes, Überalterung und einem Verlust an Lebensqualität durch die Verschlechterung der Daseinsvorsorge zu kämpfen haben. Gerade letztgenannten Gebieten, die vermehrt, aber nicht nur, im Osten und Norden Deutschlands zu finden sind, droht eine zunehmende wirtschaftliche und demographische Abkopplung, die wiederum weitreichende Auswirkungen auf Wohlstand und Lebensqualität in diesen Gebieten hat.1 Aus grüner Perspektive ist deshalb ein Wandel in der öffentlichen Diskussion über ländliche Räume notwendig. Ländlichkeit darf nicht länger mit der spezifischen ökonomischen Nutzung eines primären Sektors, nämlich Landwirtschaft, Forst, Fischerei und Jagd gleichgesetzt werden. Politik für den ländlichen Raum ist immer weniger Agrarpolitik. Obwohl die Land- und Forstwirtschaft auf Grund des Anteils an der Flächennutzung, der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Institutionalisierung weiterhin eine herausragende Rolle spielt, verliert sie doch hinsichtlich der Beschäftigungszahlen, der regionalen Wertschöpfung und der kulturellen Bindung an Bedeutung. Die Gestaltung des Strukturwandels auf dem Land bedeutet daher in erster Linie, die einzelnen oft sehr unterschiedlichen Entwicklungspotenziale in ländlichen Gebieten wahrzunehmen, zu fördern und zu formen. Die Erfahrungen aus den letzten Jahren haben gezeigt, dass die von RotGrün angeschobene, konsequente Förderung erneuerbarer Energien und nachwachsender Rohstoffe neue Wertschöpfungspotenziale für die ländliche Wirtschaft erschlossen hat. Eine aktive Naturschutzpolitik erhöht die Attraktivität des ländlichen Raums als Erholungs- und Lebensraum. Die Neuausrichtung der Landwirtschaft auf gentechnikfreie, ökologisch erzeugte und qualitativ hochwertige Produkte verschafft den Landwirten neue Betätigungsfelder und bringt zusätzliche Arbeitsplätze in den ländlichen Raum. Dennoch wird die ländliche Entwicklung immer noch unzureichend als Querschnittsaufgabe wahrgenommen, was sich vor allem auch in den nationalen Förderprogrammen zeigt. ________________ 1 Jahresbericht 2006 der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, S. 63–115.
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Programme zur ländlichen Entwicklung
Das wichtigste Instrument der ländlichen Entwicklung ist die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK). Neben der Agrarwirtschaft wird darin auch die Schaffung neuer, neben- und außerlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze durch sektorübergreifende Ansätze festgeschrieben. Dennoch sind die Programme zur ländlichen Entwicklung deutlich auf die Landwirtschaft zugeschnitten. Sektorübergreifenden regionalen Entwicklungsstrategien folgt dagegen der Schwerpunkt 4 (Leader) im Europäischen Fond für ländliche Entwicklung (ELER), der explizit das Ziel hat, die speziellen Ressourcen des ländlichen Raumes zu nutzen und auf lokale Besonderheiten zuzuschneiden. Er dient vorrangig der Stärkung einer multifunktionalen und diversifizierten Landwirtschaft, aber auch der Schaffung neuer Arbeits- und Ausbildungsfelder in ländlichen Räumen bei den Schwerpunkten nachwachsende Rohstoffe, Tourismus, Sport, Gesundheit und bislang unberücksichtigt gebliebenen Angeboten wie z. B. barrierefreie Freizeitangebote. Wesentlich sind dabei die neuen Beteiligungsverfahren in Form von lokalen Aktionsgruppen (LAG), die in den Regionen für die Umsetzung der Projekte verantwortlich sind. Mit der Verordnung über die Entwicklung des ländlichen Raumes wurde auf europäischer Ebene damit ein innovatives Instrument zur gezielten Förderung der ländlichen Regionen geschaffen. Diese ortsbezogenen Programme bringen positive Ergebnisse in Hinblick auf die Dynamisierung der lokalen Wirtschaftsstrukturen und Institutionen. Da sie aber immer noch Nischencharakter besitzen und stark unterfinanziert sind, erzielen sie noch nicht die gewünschten signifikanten Effekte. In Deutschland wurde im Zuge der Nachhaltigkeitsstrategie „Regionen Aktiv – Land gestaltet Zukunft“ gestartet. 2004 wurde auf Bundesebene der Fördergrundsatz „Integrierte Ländliche Entwicklungen“ (ILE) eingeführt und in die GAK aufgenommen. Dieser bündelt Maßnahmen der Dorferneuerung, Flurbereinigung und Agrarstrukturellen Entwicklungsplanung auf Ebene konkreter Projekte, Regionalmanagement und ländlicher Entwicklungskonzepte. Die Qualität der nationalen Förderprogramme, insbesondere der Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK), und deren Finanzausstattung reichen jedoch in Deutschland nicht aus, um im ländlichen Raum eine zukunftssichernde Entwicklung zu gewährleisten. Deutschlands wichtigster Rahmen für die Politik der ländlichen Räume schafft zwar einen vertikalen Dialog, ist aber oftmals wirkungslos, was die Erzielung eines ortsbezogenen Konzeptes für die ländliche Entwicklung anbelangt. Der immer noch wie ein Auswahlmenü angelegte Ansatz dient nicht einer breiten Strategie für ländliche Räume.
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Aus bündnisgrüner Sicht ist der deutsche Ansatz in der Politik für ländliche Räume und die entsprechende Finanzierung der Programme zu sehr darauf ausgerichtet, die EU-Agrarpolitik zu ergänzen, anstatt auf eine autonome nationale Politik für die Entwicklung ländlicher Räume hinzuarbeiten. Auch der nationale Strategieplan 2007–2013 kann bisher diese Lücke nicht schließen.
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Regionaler Wohlstand
Lange Zeit war die Entwicklung des ländlichen Raumes ein Thema der Agrarpolitik. Die starke Anbindung an die EU, aber auch die geringe Zusammenarbeit mit anderen Ressorts führten zu einer überwiegend sektoral ausgerichteten Förderung. Die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft steht noch heute im Zentrum nationaler Politik für den ländlichen Raum. Eine neue Diskussion über die Funktion ländlicher Räume in einer sich wandelnden Gesellschaft muss deshalb mehrere Faktoren berücksichtigen: internationale Trends, die interne Dynamik ländlicher Räume in Deutschland, Umweltanliegen, Rahmenbedingungen für Wertschöpfung, Einkommensperspektiven und Arbeitsplätze, familienfreundliche Lebensbedingungen und Innovationsmöglichkeiten. All diese Elemente müssen als Faktoren eines komplexen Systems betrachtet werden, das im Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes für die Entwicklung ländlicher Räume zu behandeln ist, bei dem der Interaktion und den Interdependenzen zwischen den einzelnen Elementen Rechnung getragen wird. Folgende Kernelemente einer zukünftigen Politik zur Entwicklung vor allem strukturschwächerer ländlicher Räume sind für Bündnis 90/Die Grünen dabei wichtig: Integrierte Entwicklungskonzepte Diese müssen die Akteure aus Wirtschaft, Verbandsarbeit, Politik, Verwaltung und anderen Bereichen einer Region integrieren und deren Projekte, Investitionen und Entscheidungen aufeinander abstimmen. Neben der Überarbeitung der Förderkriterien auf der Bundesebene, sind hier vor allem die Bundesländer in der Pflicht, ihre Förderprogramme entsprechend zu ändern. Kooperationen mit nichtlandwirtschaftlichen Akteuren müssen bessere Berücksichtigung finden. Auch wenn Regionen Verwaltungsbezirksgrenzen überschreiten, dürfen sie nicht von der Förderung ausgeschlossen werden. Darüber hinaus fordern Bündnis 90/Die Grünen eine Verlagerung der finanziellen und administrativen Steuerungsverantwortung auf die Akteursebene. Entscheidungen müssen „vor Ort“ getroffen werden. Wir wollen deshalb regionale Entwicklungsfonds einrichten, über die die
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Akteure selbst entscheiden können. Gleichzeitig können diese Fonds zur zusätzlichen Integration öffentlicher und privater Mittel dienen und die enge Kopplung der Gelder an die Jährlichkeit öffentlicher Haushalte auflösen. Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen Ländliche Regionen mit prosperierenden Wirtschaftsbetrieben entwickeln sich insbesondere dann, wenn die Rahmenbedingungen für Wirtschaftszweige mit hoher und nachhaltiger Wertschöpfung stimmen. Zukunftsfähige Arbeitsplätze werden vermehrt dort entstehen, wo innovative Umwelttechnologien, ressourcenschonende Produktionsverfahren und neue Wege der Vermarktung erdacht, entwickelt und angewandt werden. Bündnis 90/Die Grünen wollen deshalb die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen verbessern, regionale Wirtschaftskreisläufe unterstützen und zusätzlich gezielt solche Wirtschaftsinitiativen fördern, die den Standortvorteilen des ländlichen Raumes folgen. Dazu zählen neben der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft mit ihren vor- und nachgelagerten Bereichen vom Landmaschinenbau bis zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte die Branchen Landschaftspflege, Naturschutz, Natur- und Kultur-Tourismus, Gastronomie, Erzeugung erneuerbarer Energien, Freizeit, Gesundheit, Handwerk sowie unternehmensnahe Dienstleistungen, vor allem, wenn diese nicht auf räumliche Nähe zu ihren Kunden angewiesen sind. Zur Stärkung der klein- und mittelständischen Wirtschaft im ländlichen Raum setzen wir auf die konsequente Förderung von Unternehmensgründungen, erleichterte Zugangsbedingungen zu Eigen- und Fremdkapital, den Abbau von Bürokratie und Vereinfachungen beim Gesellschafts- und Steuerrecht. Insbesondere das Gründungspotential von Frauen im ländlichen Raum ist noch nicht ausgeschöpft.2 Darum wollen Bündnis 90/Die Grünen die Gründungsförderung ausbauen und gezielte Angebote für Frauen machen. Ebenso muss die altersmäßige Beschränkung bei der Vergabe von Gründungsförderung überarbeitet werden, die nicht mehr dem demographischen Wandel entspricht. 80 % der Gründerinnen und Gründer haben einen Finanzbedarf, der unter 25.000 € liegt. Hier sind neue Wege der Mikrokreditvergabe notwendig. Zur weiteren Vereinfachung von Unternehmensgründungen schlagen wir zudem vor, die Personengesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) zu schaffen, die als Personengesellschaft für viele Gründerinnen steuerlich interessant ist und zugleich die bisher vor allem in der GmbH mögliche Haftungsfreistellung gewährleistet. ________________ 2 Perspektiven und Probleme von Frauen in ländlichen Räumen, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Landwirtschaftsverlag 2006.
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Die Reform der Handwerksordnung, die die Selbständigkeit ohne Meisterbrief ermöglicht hat, muss weiter gehen. Zudem wollen wir für kleine und mittlere Unternehmen eine steuerfreie Gewinnrücklage schaffen, die an die Sicherung von Beschäftigung und die Schaffung von Arbeitsplätzen gekoppelt ist. Für jeden sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer soll ein Unternehmen pro Jahr 10.000 Euro steuerfrei in eine Gewinnrücklage einstellen können. Damit kann das Unternehmen seine Steuerlast senken und für Schwankungen bei der Auftragslage, dem Umsatz oder Gewinn Vorsorge treffen. Für die Entwicklung regionaler Wirtschaftskreisläufe wollen wir den lokalen Dienstleistungssektor und die lokale, qualitätsorientierte Produktion stärken, Innovationspotenziale wie zum Beispiel Forschungskapazitäten ausbauen sowie Fördermittel an die Mitwirkung in regionalen Beschäftigungs- und Ausbildungspakten koppeln. Denn wirtschaftliche Entwicklung und Wertschöpfung im ländlichen Raum sind nur dann möglich, wenn die Beschäftigten ausreichend qualifiziert sind. Kontinuierliche Weiterbildung ist ein wichtiges Element, um den kleinen und mittleren Unternehmen die Existenz im ländlichen Raum zu erleichtern. Deswegen müssen sie in der Analyse, Beratung und Durchführung von Weiterbildung genauso unterstützt werden wie bei deren Finanzierung. Ökologische und qualitätsorientierte Landwirtschaft Die aktuellen Entwicklungen im Agrarsektor beweisen den Erfolg der von Bündnis 90/Die Grünen eingeleiteten Agrarwende. Der Umsatz mit Bio-Produkten ist auch 2007 wieder gewachsen. Aufgrund des Preisdrucks auf globaler werdenden Märkten bietet die Erzeugung von Bioprodukten sowie gentechnikfreien und regionalen Qualitätslebensmitteln mit angeschlossener regionaler Vermarktung für viele bäuerliche Betriebe die einzige zukunfts- und damit arbeitsplatzsichernde Perspektive. Im Übrigen haben ökologisch wirtschaftende Betriebe gegenüber konventionellen im Durchschnitt einen um 30 % höheren Arbeitskräftebesatz und sind somit für die ländlichen Räume ein wichtiger Jobmotor. Dieser Effekt wird durch den höheren Diversifizierungsgrad im Ökolandbau, der auch außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze im Bereich Verarbeitung, Vermarktung oder Tourismus schafft, verstärkt. Bündnis 90/Die Grünen wollen deshalb die Fortführung der Agrarwende. So muss die im Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ festgelegte BasisPrämie für Biobetriebe, die ab 2007 auf 137 €/ha gesenkt wurde, wieder erhöht werden. Bei der Förderung von Agrarinvestitionen müssen Bund und Länder den Fördertatbestand „Ökologischer Landbau“, der einen um 10 Prozentpunkte erhöhten Fördersatz von 35 % ermöglicht, wieder einführen.
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Aber auch die konventionelle Landwirtschaft, die aufgrund der weltweit steigenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Biomasse-Rohstoffen vor neuen Herausforderungen steht, muss ökologisiert werden. Dazu gehört eine konsequente Koppelung jedweder Förderung an die Kriterien Naturverträglichkeit und Ressourcenschonung genauso wie der Schutz der gentechnikfreien Produktion und die verbindliche Einführung tiergerechter Haltungsformen. Auch die Landbewirtschaftung wird sich künftig strikt an den übergeordneten Klimaschutzzielen ausrichten müssen. Wir wollen die Fördersysteme entsprechend neu ausrichten. Gentechnikfreiheit ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil für die deutsche Landwirtschaft. Mehr als 80 Prozent der Konsumenten lehnen Gentechnik in Nahrungsmitteln ab. Wir setzen uns deshalb unter anderem dafür ein, dass in der EU-Saatgutverordnung der Kennzeichnungsschwellenwert für gentechnische Verunreinigungen bei Saatgut auf 0,1 % (Nachweisgrenze) festgelegt wird. Außerdem sprechen wir uns gegen industrialisierte Formen der Tierhaltung aus. Diese werden den natürlichen Bedürfnissen der Tiere in keiner Weise gerecht, belasten Mensch und Umwelt und vernichten Arbeitsplätze. Daher fordern wir, dass zukünftig nur noch Investitionen in artgerechte Haltungssysteme öffentliche Förderung erhalten. Hierfür müssen Bund und Länder einen Katalog förderfähiger Haltungssysteme erstellen. Erzeugung erneuerbarer Energien als mittelständischer Wirtschaftszweig Der Anbau nachwachsender Rohstoffe und die Erzeugung erneuerbarer Energien hat ein erhebliches Potenzial für mehr Wertschöpfung und Beschäftigung in ländlichen Gebieten. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) hat Rot-Grün den Grundstein für ein enormes Wachstum in dieser mittelständisch geprägten Branche gelegt. Der Anteil des Stroms, der in Deutschland aus erneuerbaren Quellen gewonnen wird, beträgt mittlerweile über zwölf Prozent. Die Branche rechnet mit einer halben Million Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien bis 2020. Im Moment sind mehr als 200.000 Menschen dort beschäftigt. Landwirte profitieren in vielfältiger Weise von den erneuerbaren Energien: Sei es durch die Installation von Photovoltaik-Anlagen auf Dächern landwirtschaftlich genutzter Gebäude, das Betreiben von Windrädern oder das Verpachten von Land für Windenergieanlagen. Die hohe Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen bietet den Landwirten einen neuen Absatzmarkt für ihre Erzeugnisse. Auch den Kommunen kommen die erneuerbaren Energien über die Gewerbesteuereinnahmen zu Gute. Eine Untersuchung des Bundesverbandes Windenergie e.V. hat ergeben, dass über die rund 20-jährige Laufzeit einer Windenergie-Anlage durchschnittlich über 100.000 Euro Gewerbesteuer je MW installierte Leistung an die Standortgemeinden abgeführt werden. Bündnis 90/Die Grünen setzen sich dafür
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ein, dass auch weiterhin vor allem Landwirte und kleine und mittlere Unternehmen mit regionaler Verankerung, die Wertschöpfung und zusätzliche Arbeitsplätze im ländlichen Raum halten, vom Siegeszug der erneuerbaren Energien profitieren. Wir fordern die Rücknahme der Besteuerung von reinen Biokraftstoffen, damit den mittelständischen Unternehmen alternativ zur Vermarktung an die Mineralölkonzerne weitere Absatzwege offenstehen. Statt sie fossilen Kraftstoffen beizumischen, sollten biogene Treib- (und Schmier)stoffe als Ersatz für die wassergefährdenden erdölbasierten Kraftstoffe bevorzugt in ökologisch sensiblen Bereichen wie der Land- und Forstwirtschaft, im Wasserbau und bei der Binnenschifffahrt eingesetzt werden. Wir setzen uns für die Entwicklung einer nachhaltigen Bioenergiestrategie ein. Die hohe Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen darf nicht zum Anbau von Monokulturen oder zum Einsatz von Gentechnik auf den Feldern führen. Darum muss das Erneuerbare-Energien-Gesetz so weiterentwickelt werden, dass das gesamte verfügbare Potenzial an Biomasse ökologisch verantwortlich erzeugt und genutzt wird. Forschung zu Ansätzen wie gemeinsamer Anbau von Nahrungs- und Energiepflanzen, Bioraffinerien, Ganzpflanzennutzung und Reststoffverwertung sowie deren Umsetzung müssen gefördert werden. Kultur- und Naturlandschaften schützen und nachhaltig nutzen Ländliche Räume profitieren vom Umwelt-, Klima-, Natur- und Artenschutz in mehrfacher Hinsicht. Neben dem Eigenwert der Natur, sichern sie mit dem Erhalt der natürlichen Ressourcen und der Biodiversität unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Intakte Naturräume ziehen Menschen zum Erholen aber auch als stetiges Lebensumfeld an. Großschutzgebiete wie Naturparke und Biosphärenreservate weisen oft auch dann eine positive Bevölkerungsentwicklung auf, wenn die sie umgebenden Regionen von Abwanderung besonders betroffen sind. Umweltund Naturschutz fördern die regionale Wirtschaftsentwicklung und schaffen Arbeitsplätze, wie die Studie „Untersuchung der Bedeutung von Großschutzgebieten für den Tourismus und die wirtschaftliche Entwicklung der Region“ des Bundesamtes für Naturschutz aus dem Jahre 2005 belegt. Das zurzeit größte Naturschutzvorhaben in Europa ist die Umsetzung des europäischen Schutzgebietsnetzes Natura 2000. Deutschland hat immer noch nicht alle seine Vorgaben erfüllt. Bündnis 90/Die Grünen setzen sich dafür ein, dass Bund und Länder eine ausreichende Finanzierung der Natura 2000-Gebiete sicherstellen. Das Förderprogramm von Bund und Ländern für die ländlichen Räume, die sogenannte GAK muss so umgestaltet werden, dass die CoFinanzierung von Ausgleichszahlungen im Rahmen von Natura 2000 möglich wird. Auch sollte die über die EU-Förderung (ELER) angebotene Möglichkeit
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der Naturschutzberatung von Landnutzern in nationale Förderprogramme übertragen werden. Wir fordern die Bundesländer auf, auch die anderen Strukturfonds für die Finanzierung der im Rahmen von Natura 2000 anfallenden Aufgaben zu nutzen, z.B. zur Stärkung von Tourismus und Umweltbildung. Außerdem muss ein umfassendes Angebot an Waldumweltmaßnahmen entwickelt werden. Auch in diesem Zusammenhang ist es fatal, dass die schwarzrote Bundesregierung in Brüssel dafür gesorgt hat, dass die Entwicklungsmittel für den ländlichen Raum der EU (2. Säule) gekürzt wurden. Kommunen stärken Zukunftsfähige ländliche Räume brauchen handlungsfähige Kommunen. Ineffiziente Doppelstrukturen und ruinöse Standortwettbewerbe behindern ihre Entwicklungsperspektiven. Starke Kommunen brauchen kommunale Gebietsgrenzen, die in ihrem Zuschnitt realistische Entwicklungschancen bieten. Bund und Länder müssen darauf hinwirken, dass die Kommunen durch einen breit angelegten kooperativen Prozess zu neuen Gebiets- und Regionszuschnitten durch freiwillige Bildung gelangen. Bündnis 90/Die Grünen treten für die flächendeckende Schaffung von Bürgerbüros im ländlichen Raum ein. Diese sollen verstärkt die Außenfunktionen der verschiedenen Ämter zusammenführen, also Ansprechpartner für Anregungen und Beschwerden genauso wie für Pass- und Meldewesen sein. Zur Verbesserung der kommunalen Finanzbasis schlagen wir vor, die Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. Durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und die Einbeziehung aller Gewinneinkünfte unter Hinzuziehung der Freiberufler (bei komplementären Regelungen für die Einkommensteuer) wollen wir mehr Gerechtigkeit und ein stetiges Aufkommen erreichen. Eine ökologische Lenkungswirkung und mehr Steuergerechtigkeit für den ländlichen Raum wollen wir mit einer Reform der Grundsteuer für bebaute oder bebaubare Grundstücke und Gebäude erreichen. Wir sprechen uns dafür aus, an Stelle der veralteten Einheitswerte aktualisierte Bodenrichtwerte und die Flächeninanspruchnahme zur Bemessungsgrundlage zu machen. Dies dient der Stärkung der kommunalen Innenentwicklung und wirkt der Zersiedelung entgegen. Familienfreundliche Infrastruktur entwickeln Ländliche Räume sind nur dann attraktiv, wenn eine angemessene Dienstleistungsqualität in Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung vorhanden sind. Bündnis 90/Die Grünen treten für die Stärkung des „Zentrale-Orte-Prinzips“ ein, bei dem zur Aufrechterhaltung von Daseinsvorsorgeleistungen und zur Ver-
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besserung der Erreichbarkeit die Zusammenlegung von Einrichtungen an einem gut erreichbaren Ort forciert wird. Einen weiteren Lösungsansatz sehen wir in der Verlagerung von statischer Infrastruktur hin zu mobilen Angeboten. Über kommunale Verwaltungsgrenzen hinweg regional organisierte Zentren der Daseinsvorsorge wie „Gemeinschaftsläden“ oder „Gesundheitszentren“ und neue Mobilitätssysteme wie „fahrende Verwaltung“ oder „mobile Gesundheitsdienstleistungen“ schaffen neue Perspektiven für schwächer besiedelte Regionen auf dem Lande. Wir erwarten von Bund und Ländern, dass sie die Entwicklung neuer Konzepte fördern und gemeinsam mit den Gemeinden Anschubfinanzierungen für deren Umsetzung zur Verfügung stellen. Um die Bereitstellung von Infrastruktur zu erleichtern, halten wir es für notwendig, die Attraktivität von alten Ortskernen durch gezielte Dorfentwicklungsmaßnahmen und Förderansätze zu steigern, um einer weiteren Zerfransung von Siedlungen mit den daraus resultierenden Problemen entgegenzuwirken. Ähnlich den unter Rot-Grün aufgelegten Programmen Stadtumbau Ost und Stadtumbau West, die eine Stärkung der Innenstädte, die Reduzierung des Angebotsüberhangs an Wohnraum und die Aufwertung der von Schrumpfungsprozessen betroffenen Städte zum Ziel haben, müssen Bund und Länder ein Förderprogramm entwickeln, dass den ländlichen Regionen eine sozialverträgliche Anpassung der Besiedlungsstruktur an die gegebenen Verhältnisse ermöglicht. Eine weitere Aufgabe ergibt sich daraus, dass in schrumpfenden Gemeinden und Gemeindeverbänden zukünftig mit einer Unterauslastung der Versorgungsund Entsorgungssysteme (Wasser, Abwasser, Gas, Strom) zu rechnen ist. Betreiber und Nutzer wird diese Entwicklung vor erhebliche Finanz- und Kostenprobleme stellen. Wir fordern die Gemeinden auf, sich in regionalen Verantwortungsgemeinschaften mit den Betreibern von Versorgungs- und Entsorgungssystemen auseinanderzusetzen. Kapazitäten von bestehenden Systemen müssen reduziert und neue Konzepte für dezentrale Ver- und Entsorgung entwickelt werden. Gesundheitliche und pflegerische Versorgung sichern Obwohl die Ärztedichte in Deutschland deutlich über der in den meisten anderen Industrienationen liegt, gibt es in vielen ländlichen Regionen insbesondere bei der hausärztlichen Versorgung zunehmend Engpässe. Auch die Krankenhausversorgung nimmt aufgrund von Krankenhausschließungen und -fusionen ab. Um dem Hausärztemangel entgegenzuwirken, können seit der rot-grünen Gesundheitsreform 2004 die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen in unterversorgten Regionen Sicherstellungszuschläge an niederlassungswillige Ärztinnen und Ärzte zahlen. Außerdem wurde im Jahr 2006 auch mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen eine Liberalisierung des Vertragsarztrechts
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beschlossen, die es niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten erlaubt, Filialen zu gründen, Ärztinnen und Ärzte anzustellen und parallel im Krankenhaus und in der Praxis zu arbeiten. Um einer medizinischen und pflegerischen Unterversorgung in strukturschwachen Regionen entgegenzuwirken, muss die Aufgabenverteilung zwischen Ärztinnen und Ärzten und Pflegekräften in ihrer heutigen Form überdacht werden. Vor allem im Bereich der Prävention könnten Pflegekräfte wichtige Aufgaben der Gesundheitsförderung übernehmen. Gleiches gilt für die Mitwirkung in mobilen, geriatrischen Rehabilitationsteams oder in ambulanten Palliative-CareTeams. Die Öffnung der Heilberufe für bestimmte medizinische Aufgaben halten wir dann für sinnvoll, wenn durch die Aus- und Weiterbildung der Pflegekräfte die qualitätsgerechte Erbringung der Aufgabe sichergestellt ist. Pflegekräfte würden somit nicht nur im Krankheits- oder Pflegefall, sondern auch in der anschließenden Heilbehandlung und im Vorfeld von Krankheit und Pflegebedürftigkeit eine bedeutendere Position einnehmen. Besonders in strukturschwachen Gebieten wird eine nutzerorientierte wie bezahlbare Pflege aber nur dann möglich sein, wenn es gelingt Hilfemix-Strukturen aus professionellen, nachbarschaftlichen, niedrigschwelligen und ehrenamtlichen Hilfen zu etablieren. Es sollte Aufgabe der Kommunen sein, Dienstleistungsangebote für ältere und alte Menschen zu fördern. Hierdurch könnten zusätzliche Arbeitsplätze in den jeweiligen Regionen wachsen. Krankenhäuser müssen stärker in die ambulante fachärztliche Versorgung einbezogen werden. Kleine Krankenhäuser auf dem Lande müssen sich zu integrierten fachärztlichen Versorgungszentren weiterentwickeln, in denen Krankenhausärzte und niedergelassene Fachärzte zusammenarbeiten und gemeinsam die vorhandene Infrastruktur nutzen. Darüber hinaus müssen die ländlichen Krankenhäuser stärker die Zusammenarbeit mit zentralen Großkrankenhäusern suchen, um sich von ihnen bei Diagnostik und Therapie unterstützen zu lassen. Dabei kommt dem Ausbau der Telemedizin eine Schlüsselrolle zu. Mobilitätskonzepte für ländliche Regionen entwickeln Mobilität ohne Auto muss im ländlichen Raum auch weiter möglich sein. Der Zugang von Kindern und Jugendlichen, von Behinderten aber auch von älteren Menschen zum öffentlichen Personennahverkehr und damit zu öffentlichen Einrichtungen muss weiter gesichert werden. Hinzu kommt, dass manche touristisch geprägte Region keinen zusätzlichen Autoverkehr verträgt. Pauschale Kürzungen beim Angebot an Öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV) lehnen Bündnis 90/Die Grünen entschieden ab. Bedarfsgesteuerte und flexible Angebote wie beispielsweise Rufbusse oder Anrufsammeltaxis ergänzt
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durch Bürgerbusse sind in vielen Fällen sinnvoll und überall möglich. Darüber hinaus müssen flächendeckende Verkehrsverbünde eingerichtet werden. Gleichzeitig fordern wir eine neue Prioritätensetzung bei der Verkehrsfinanzierung. Der ungehinderte Neu- und oft an den Bedürfnissen in den Regionen vorbei geplante Ausbau von Straßen in schrumpfenden Regionen muss gestoppt werden. Den Vorrang der Investitionsförderung, die vor allem den Verdichtungsräumen und nicht den ländlichen Regionen zu Gute kommt, wollen wir abschaffen und stattdessen den Betrieb des ÖPNV fördern. Außerdem setzen wir uns für eine Umstellung der Finanzierung des Straßenbaus ein. Der Erhalt des bestehenden Straßennetzes muss Vorrang vor dem Neubau weiterer Straßen haben. Der Straßenzustand belegt vielerorts, dass der Erhalt seit Jahrzehnten vernachlässigt wird. Bei sinkender Bevölkerung verursachen Straßen aufgrund des Unterhaltungsaufwandes steigende Kosten für die verbleibenden Steuerzahler in einer Region. Daher dürfen auch Entwidmung und Rückbau in ländlichen Regionen kein Tabu sein. Bildungs- und Ausbildungschancen erhöhen Der Zugang zu Bildung ist einer der wichtigsten Bausteine für gute Lebensbedingungen auf dem Lande. Dies gilt nicht nur für Kinder und Familien, sondern für alle Bewohnerinnen und Bewohner, die von Bildung und Innovation auch mittelbar profitieren. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) hat Rot-Grün den qualitätsorientierten Ausbau der Kindertagesbetreuung angestoßen, mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ wurde trotz der Hinhaltetaktik einiger Länder ein wichtiger Beitrag für eine nachhaltige Bildungsreform geleistet. Seit 2003 konnten mehrere tausend Schulen im ganzen Bundesgebiet ihre Infrastruktur durch die Bundesmittel verbessern und so Ganztagsangebote einführen oder ausbauen. Neben Kindertagesstätten mit verlässlichen Betreuungszeiten und qualitativ guten Bildungsangeboten müssen in strukturschwachen Gebieten vor allem Primar- und Sekundarschulen bis zur 9. bzw. 10. Klasse in Wohnortnähe angeboten werden. Die autonome, in der Region verankerte Schule erhöht die Attraktivität einer Region und stärkt Selbstverantwortung und Partizipation bei Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern sowie den Eltern. Gerade in bevölkerungsarmen Gegenden wird die Veränderung von Schulen hin zu einer Gemeinschaftsschule zentrale Bedeutung für die Entwicklung von Gemeinden und Regionen haben. Damit können die individuelle Förderung verbessert, die Durchlässigkeit des Bildungssystems erhöht und alle Abschlüsse bis hin zum Übergang in die Oberstufe erreicht werden.
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Darüber hinaus müssen am Regionalbedarf orientierte Ausbildungsmöglichkeiten gestärkt werden. Wir fordern von Kommunen und Länder hier gute Angebote zu machen. Kulturelles und Freizeitangebot auf dem Land erhalten In durch Abwanderung und Überalterung gekennzeichneten ländlichen Räumen schrumpft in der Regel auch die Zahl der kulturellen Einrichtungen und Freizeitangebote. Damit verringern sich die Chancen auf kulturelle Teilhabe. Bündnis 90/Die Grünen wollen dieser Entwicklung entgegensteuern. Auch Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Regionen haben das Recht, an Kultur und kultureller Bildung zu partizipieren, um damit ihre Lebensqualität zu verbessern. Außerdem spielen kulturelle und Freizeitangebote als so genannte „weiche“ Standortfaktoren bei der Ansiedlung von Unternehmen eine wichtige Rolle. Jugendeinrichtungen und -angebote, Bibliotheken, Museen und Theater dürfen deshalb nicht proportional zu abnehmenden Bevölkerungszahlen reduziert werden. Vielmehr brauchen wir neue Wege und Lösungsmöglichkeiten im Sinne einer „demographischen Gerechtigkeit“: Regionale Kooperationen, neue Patenschaften und Bündnisse schaffen die Möglichkeit, auch in Gegenden mit abnehmender Bevölkerungszahl kreative Potenziale zu nutzen und ein hochwertiges Kulturangebot zu sichern. Generationsübergreifende Projekte, die Bildung von Tandems (z. B. Profis/Laien) oder die Entwicklung neuer Modelle, Initiativen und Plattformen bieten Chancen für ein lebendiges und kreatives Kulturangebot und Kulturleben. Auch mobile Angebote wie „Theater auf Rädern“ oder Bücherbusse dienen dem Erhalt eines kulturellen Angebots auf dem Land. Die Lasten der Kulturfinanzierung zwischen städtischen Zentren und ländlichen Umlandgemeinden müssen gerecht verteilt werden. Die Kommunen sollten animiert werden, gemeinsame Kulturräume zu bilden. Die interkommunale Zusammenarbeit innerhalb dieser Kulturräume erfordert, dass sich Kommunen und Land an der Finanzierung beteiligen. Auch der Denkmalschutz kann einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der kulturellen Identität in ländlichen Räumen leisten. Eine aktive Verständigung mit den Einwohnern über die Bedeutung der regionalen Denkmäler und ihre Pflege kann dabei die Wertschätzung der Menschen für das eigene Lebensumfeld stärken. Darüber hinaus kann die Denkmalpflege positive Impulse für Wirtschaft und Tourismus geben. Bürgerschaftliches Engagement unterstützen Rückzug ins Private, die sinkenden Mitgliederzahlen bei Vereinen, Verbänden und den politischen Parteien sowie Wahlmüdigkeit verstehen Bündnis 90/Die
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Grünen nicht als Absage an demokratische Werte, sondern als Aufforderung, bessere Rahmenbedingungen für Beteiligung zu schaffen. Neben der für die integrierte ländliche Entwicklung wichtige Einführung der regionalen Entwicklungsfonds wollen wir direktdemokratische Elemente wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheide sowie die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen in den Kommunalverfassungen stärken, Jugendparlamente und Bürgerhaushalte einführen sowie regionale Initiativen wie beispielsweise Bürgersolaranlagen oder Regionalgeldvereine fördern. Außerdem unterstützen wir die Ausarbeitung von Dorfentwicklungsplänen oder die Gründung von Dorfentwicklungsvereinen, denn diese ermöglichen neue Beteiligungschancen, indem sie die Bürgerinnen und Bürger in die kommunale Gestaltung mit einbeziehen. Bei der Gestaltung des Gemeinwesens kommt der Zivilgesellschaft gerade in ländlichen Regionen eine tragende Rolle zu. Dabei ist ein kluger Mix zwischen bürgerschaftlichem Engagement und professionellen Strukturen wichtig. Denn wir begreifen den Einsatz von Bürgerinnen und Bürgern nicht als Ersatz für professionelle Infrastruktur und staatliche Verantwortung. Bürgerschaftliches Engagement lässt sich weder einfordern noch diktieren, sondern muss durch bürgernahen Dialog, stärkere politische Partizipationsmöglichkeiten, kostenlose Fortbildungsangebote und eine dauerhafte Anerkennungskultur gefördert werden. Wir wollen deshalb Anlaufstellen wie zum Beispiel Freiwilligenbüros aufbauen und mit professioneller Beratung und Fortbildungsangeboten vernetzen. Innerhalb der regionalen Entwicklungsarbeit wollen wir ehrenamtlich engagierten Akteuren spezielle Schulungsangebote, zum Beispiel in Bezug auf Programmvorhaben und Evaluierung, zur Verfügung stellen. Außerdem setzen wir uns für kleinteilige Anschubfinanzierungen, Raumangebote und die Absicherung der mit ehrenamtlichen Tätigkeiten verbundenen Risiken ein. Auch über die Förderpolitik wollen wir bürgerschaftliches Engagement stärken, indem wir die Fördermittelvergabe stärker an Bürgerbeteiligungen knüpfen. Dies wird im Rahmen der Ausschreibung für LEADER-Fördergebiete innerhalb der ländlichen Entwicklungsprogramme der Bundesländer und beim Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ bereits praktiziert. Wir setzen uns dafür ein, auch die Vergaberichtlinien anderer Förderprogramme wie beispielsweise bei den europäischen EFRE-Mitteln zur Infrastrukturentwicklung oder den Mitteln, die über die 3. Achse der europäischen ELER-Verordnung zur Entwicklung ländlicher Räume ausgegeben werden, in diese Richtung zu ändern. Förderpolitik nachhaltig und sektorübergreifend gestalten Die Förderung der ländlichen Entwicklung ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Hand. Mit der Verordnung über die Entwicklung des ländlichen Raumes
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(ELER) wurde auf europäischer Ebene ein innovatives Instrument zur gezielten Förderung der ländlichen Regionen geschaffen. Die Qualität der nationalen Förderprogramme, insbesondere der Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK), und deren Finanzausstattung reichen jedoch in Deutschland nicht aus, um im ländlichen Raum eine zukunftssichernde Entwicklung zu gewährleisten. Bündnis 90/Die Grünen setzen sich deshalb für eine grundsätzliche Überarbeitung der ländlichen Förderprogramme und deren deutlich verbesserte Finanzausstattung ein. Die GAK wollen wir zu einer Gemeinschaftsaufgabe für die „Entwicklung ländlicher Räume“ weiterentwickeln und strengere Förderkriterien festschreiben. Die Beschränkung der Gemeinschaftsaufgabe auf den Agrarsektor muss aufgehoben werden. Stattdessen wollen wir integrierte Entwicklungskonzepte und die Förderung neuer Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Lande in den Mittelpunkt stellen. Außerdem wollen wir ein Gesamtkonzept der Fördermaßnahmen für den ländlichen Raum erarbeiten, dass die Gemeinschaftsaufgabe zur „Entwicklung ländlicher Räume“ passgenau mit anderen Förderprogrammen, wie der Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) oder den Europäischen Strukturfonds EFRE und ESF, abstimmt und verzahnt. Denn diese liefern wichtige Beiträge zur Entwicklung der ländlichen Räume. Widersprüchlichen Regelungen und Lücken müssen beseitigt werden. Gleichzeitig wollen wir mehr privates Kapital für die Entwicklung ländlicher Räume erschließen. Die Einführung regionaler Entwicklungsfonds, in die die Finanzmittel sowohl der öffentlichen als auch der privaten Ebenen fließen, schafft klare Rahmenbedingungen für die Anrechnung privater Leistungen innerhalb von Förderprogrammen. Mischfinanzierungen im Sinne von öffentlichprivaten Partnerschaften mobilisieren darüber hinaus kleinere Unternehmen und gemeinnützige Vereine, die in aller Regel über einen geringen Kapitalstock verfügen. Die finanzielle Ausstattung der ländlichen Räume durch die öffentliche Hand muss deutlich verbessert werden. Die Bundesregierung muss ihre Blockadehaltung gegen die von der europäischen Kommission vorgeschlagene Erhöhung der obligatorischen Modulation endlich aufgeben und so für eine bessere finanzielle Ausstattung der zweiten Säule sorgen. Gleichzeitig muss der Bund die Mittel für die GAK und die GRW langfristig aufstocken. In den Bundesländern brauchen wir ein deutlich stärkeres Engagement für die Förderung der ländlichen Räume. Sowohl die Fokussierung auf traditionelle Agrarinteressen als auch die Bereitschaft nur noch EU- und Bundesmittel komplementär zu finanzieren, werden der Verantwortung der Landesregierungen für die ländlichen Räume nicht gerecht. Stattdessen müssen die Bundesländer ihre Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum ebenfalls auf die Kriterien in-
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tegrierte ländliche Entwicklung, Ausweitung der Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten, ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Landwirtschaft sowie Honorierung gesellschaftlicher Leistungen ausrichten. Grundvoraussetzung für die Umsetzung dieser von Bündnis 90/Die Grünen geforderten Maßnahmen ist ein Umdenken des derzeitigen Politikkonzeptes für ländliche Räume. Eine integrierte Politik der ländlichen Entwicklung bedeutet, dass ‚ländlich‘ nicht länger ausschließlich mit ‚Landwirtschaft‘ gleichgesetzt wird. Die auf den Agrarsektor fokussierte Politik wirkt nur auf einen Einzelfaktor in einem komplexen System und ist daher nicht in der Lage, die soziale und wirtschaftliche Gesamtdynamik in einer Region positiv zu beeinflussen.
Gemeinsam mit dem katholischen Mädchen vom Lande. Linke Politik für ländliche Räume Jens-Eberhard Jahn
Man gehe in eine Dorfkneipe oder mache eine demoskopische Umfrage in Stadt und Land: DIE LINKE wird meist als eine Partei wahrgenommen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Oder immer noch als „rote Socken“, Spinner, Kommunisten, „Stasi-Schergen“. Auf etwas höherer Ebene vielleicht als kompromisslose Friedenspartei, zumindest, wenn einem nicht gerade vergangene Parolen längst verflossener Zeiten („Der Friede muss bewaffnet sein!“) durch den Kopf gehen. DIE LINKE profiliert sich in der Bildungspolitik und zunehmend wahrnehmbar auch in ökologischen Fragen, ja, diese Partei nimmt für sich in Anspruch, die einzige wirksame politische Kraft in der Bundesrepublik Deutschland zu sein, die die ökologische Frage mit der sozialen Frage verknüpfen könne: Umweltpolitik nicht nur für eine und mit einer Elite. Was das mit ländlichen Räumen zu tun hat? 1. Soziale Gerechtigkeit spielt hier dann eine Rolle, wenn man „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ (Grundgesetz, Artikel 72) ernst nimmt. DIE LINKE will kleine und mittelständische Unternehmen fördern, gerade in den ländlichen Räumen. Oft scheitert eine erfolgreiche Unternehmensgründung am fehlenden Kapital. Wir wollen daher neue Mikrokredite entwickeln und auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in eine neue Förderpolitik einbinden. Manche ländliche Räume sind demographisch schrumpfende Räume: Gerade hier muss die Rückführung von Überkapazitäten bei der Infrastruktur ökologisch und sozial nachhaltig gestaltet werden, ohne die Grundversorgung in Frage zu stellen. Beispiel: Ein Rückbau des ÖPNV gegen den Willen der Bürgerinnen ist mit uns aus sozialen und ökologischen Gründen nicht machbar. Neue Versorgungskonzepte (Telemedizin, Internet-Banking) und demokratische Partizipation – von Bildungs- und Informationsmöglichkeiten ganz zu schweigen – müssen in den ländlichen Räumen ebenso zugänglich sein wie in den Verdichtungsräumen: Die Versorgung mit Breitbandinternet ist daher bundesweit sicher zu stellen.
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Gesundheitspolitisch setzen wir uns für die Einführung von Medizinischen Versorgungszentren (Polikliniken) ein, für die reguläre Einführung des derzeitigen Modellprojekts AGnES (Gemeindeschwestern)1 sowie für die Aufwertung des Berufsbildes des Rettungsassistenten. Mehrgenerationenhäuser sowie, weitergehend, kollektive Formen des Zusammenlebens jenseits von Single-Haushalt oder Kleinfamilie müssen bei der Erarbeitung von Förderrichtlinien Berücksichtigung finden; Erfahrungen zeigen, dass derartige Projekte häufig durch Förderraster fallen. In ländlichen Räumen ist ehrenamtliches Engagement für das Kulturleben von zentraler Bedeutung. Alle reden davon, wie das Ehrenamt gestärkt werden könne. Ich möchte hier einen ganz schlichten Vorschlag machen: die Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) für die BewohnerInnen ländlicher Räume. Häufig werden sozialhygienische Gründe für ein Grundeinkommen ins Feld geführt. Darauf möchte ich verzichten und mich auf demographische, kulturelle und emanzipatorische Gründe beschränken. Zumindest die Bäuerinnen und Bauern sind es ja bereits gewohnt, unabhängig von erbrachter Leistung Zahlungen zu erhalten. Die Stärkung der Zweiten Säule der EU-Zahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) über den ELER hinaus durch Einführung eines „Ländlichen Grundeinkommens“ würde Menschen zum Ehrenamt ermächtigen, da sie ja von der Sorge um das tägliche Brot befreit wären. Gleichzeitig würde solch ein BGE wie eine Prämie für den Erhalt der Kulturlandschaft wirken, dauerhafte Abwanderung sicher nicht verhindern, aber abbremsen können. Natürlich spräche nichts dagegen, sollte sich das BGE auf dem Lande bewähren, es später auch Bewohnerinnen der Agglomerationen zugänglich zu ma________________ 1 Der drohende Ärztemangel führt deutschlandweit zu neuen Überlegungen und Modellen. Ein spezieller Weg (als Modellversuch), der zu einer Entlastung der Hausärzte führen soll, wurde in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg gewählt und wird in Sachsen vorbereitet. Diese Entlastung des Hausarztes soll durch geeignetes Personal erfolgen: Das Modell Gemeindeschwester „AgnES“ (Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Healthgestützte, Systemische Intervention). Die gemeinsame Zielstellung der Modellprojekte „Gemeindeschwester“/AGnES in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen ist es, durch den Einsatz von Gemeindeschwestern und unter Zuhilfenahme telemedizinischer Funktionalitäten die drohende hausärztliche Unterversorgung in ländlichen Regionen aufzufangen. Die Gemeindeschwestern übernehmen nach Anweisung der teilnehmenden Hausärzte in Delegation Hausbesuche, bei denen die vorbeugende, beratende/betreuende und Therapie überwachende Tätigkeit im Vordergrund steht. Die Betreuungsangebote aus den Modellprojekten werden insbesondere von den Patienten positiv angenommen. Eine Implementierung von Gemeindeschwestern in die bestehenden Versorgungssysteme steht dennoch nicht in Aussicht, weil eine Regelfinanzierung der Leistungen der Gemeindeschwestern auf Grund der bestehenden Gesetzeslage im Bundes- und Landesrecht nicht möglich ist. Die Finanzierung der Modellprojekte erfolgt entweder vollständig aus Landesmitteln oder anteilmäßig aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und Landesmitteln. Vgl. Thüringer Landtag, Drucksache 4/3049.
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chen. Aber genau hierin läge auch schon ein Paradigmenwechsel: Der ländliche Raum als Avantgarde! 2. „Rote Socken“ spielen hier dann eine Rolle, wenn man bedenkt, dass die ländlichsten Gebiete unseres Landes, die auch noch unter der demographischen Entwicklung, vulgo: Schrumpfung, zu leiden haben, überwiegend im Osten unseres Landes liegen, in den so genannten Neuen Ländern. Hier gewinnt DIE LINKE (vormals die Linkspartei bzw. PDS) seit Jahren Stimmen gerade in ländlichen Räumen hinzu, während ihr urbanes Wählerpotential eher stagniert. Das hat zum einen damit zu tun, dass ihr auf dem Lande politische Konkurrenz durch DIE GRÜNEN nahezu fehlt, zum anderen damit, dass die Parteistrukturen auch in ländlichen Gebieten trotz hohen Altersdurchschnitts der Mitgliedschaft nicht selten noch intakt sind, und die Partei somit auch auf dem Dorf in irgendeiner Form noch erlebbar ist, ein Gesicht hat. Das hat Ursachen: Wohl keiner anderen politischen Kraft als der PDS ist es nach 1990 gelungen, die Interessen der (vormals) in der Landwirtschaft der DDR Beschäftigten zu artikulieren und zum Teil auch durchzusetzen. Angriffen gegen die Bodenreform oder genossenschaftliche Eigentumsformen konnte dank dieser politischen Unterstützung weitgehend getrotzt werden. Hinzu kam: Die PDS sprach die Sprache der Menschen vor Ort, grenzte nicht aus, war Teil des Ostens, in dem auf einmal nichts mehr so war wie zuvor. Auf dem Lande, gerade im Nordosten der Republik, aber hieß dies nur allzu oft: Es war eigentlich gar nichts mehr da. Denn der Zusammenbruch zahlreicher LPG und auch anderer Betriebe hatte ja nicht nur zum Verlust der Arbeitsplätze geführt: Die großen Betriebe waren gleichzeitig kulturelle Einrichtungen gewesen, hatten über Kindergärten verfügt, waren Identifikationsgrößen. Nicht nur der Arbeit waren viele verlustig gegangen, sondern praktisch der gesamten außerfamiliären Sozialisation. Daran konnte die PDS wenig ändern, aber sie verlieh den so Ausgegrenzten Stimme und Würde, und das ist bei Vielen nicht in Vergessenheit geraten. 3. Der Frieden spielt eine Rolle, wenn deutsche Agrarpolitik über den EUTellerrand schaut und ihre Verantwortung für die Welternährung ernst nimmt. Krieg wird geführt um Ressourcen. Nicht nur Erdöl spielt dabei eine Rolle. Gegenwärtig und zukünftig werden Kriege um Wasser, um Anbauflächen, um Nahrungsmittel und Energie geführt. Wie wir mit unserer Umwelt, unserer Ernährung, unserer Agrarwirtschaft und damit auch den ländlichen Räumen umgehen, hat Auswirkungen auf den Frieden in der Welt. 4. Bildungspolitik spielt hier eine Rolle. Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist gerade bildungssoziologisch bedeutsam. Bei den bildungspolitischen Reformen in den 1970er Jahren der alten Bundesrepublik spielte das Wort vom benachteiligten „katholischen Mädchen vom Lande“ eine herausgehobene Rolle. Kein Wunder, dass es ein wesentliches Ziel der DDR war, eben diese Stadt-
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Land-Unterschiede zu nivellieren. Ganz praktisch zeigt sich diese Problematik heute unter den Bedingungen eines mehrgliedrigen, sozial selektiven Schulsystems: Welche Familie zieht in ein Dorf, in dem es keine Schule mehr gibt? Welche Familie zieht in ein Dorf, wenn die Kinder drei Stunden täglich zur nächsten weiter führenden Schule unterwegs sind? Gerade die Situation in den ländlichen Räumen zeigt es: Wir brauchen eine Gemeinschaftsschule um verlässliche Bildungschancen für Kinder überall in Deutschland sicherzustellen. Dazu zwingen nicht nur bildungstheoretische Einsicht oder humanistisches Menschenbild – auf den Dörfern gibt es einfach nicht genug Kinder, um diese nun auch noch auf verschiedene Schultypen verteilen zu können, ohne ihnen dabei tägliche Weltreisen zuzumuten. 5. Umweltpolitik spielt hier eine Rolle: Ländliche Räume sind die Lungen der Ballungsgebiete. Dank der Agrarwirtschaft kann ein beträchtlicher Teil des von Verkehr, Industrie und Haushalten ausgestoßenen CO2 wieder umgewandelt werden; gleichzeitig wird die Agrarwirtschaft durch intensive Viehhaltung und Einsatz mineralischer Dünger selbst zum Klimakiller, insbesondere wegen des viel zu hohen Anfalls von Lachgas. Die Lösung besteht nicht in einem Zurück zur Subsistenzwirtschaft, sondern in einer konsequenten Ökologisierung des gesamten Agrarsektors. Aus ländlichen Räumen kommt auch zunehmend Energie, die anderswo verbraucht wird. DIE LINKE setzt sich dafür ein, Energiepflanzen ökologisch anzubauen und die Effizienz der energetischen Nutzung von Abfallstoffen und nachwachsenden Rohstoffen zu verbessern. Im Hinblick auf die Verbesserung der Energieeffizienz insbesondere von Biogasanlagen sollen künftig z.B. Nahwärmeversorgungsnetze gefördert werden. Bei der Förderung von ländlichen Entwicklungsplanungen (Dorfentwicklung, ILE, LEADER) sollte die Planung dezentraler Versorgung mit erneuerbaren Energieträgern Zuwendungsvoraussetzung werden. Der Ersatz der Steuerbegünstigung für Biokraftstoffe durch ein System von Beimischungsquoten führt zu einer Verschiebung des Marktes zugunsten der großen Mineralölkonzerne. Wir fordern: − − − −
keine Steuern für Pflanzenöl, das ökologisch erzeugt und regional genutzt wird, verringerte Steuern für Biokraftstoffe, keine Beimischungsquoten, kein Import von Pflanzenöl oder Biodiesel in die EU; nicht nur der Transport ist nicht ökologisch – die Produktionsbedingungen entziehen sich unserer Kontrolle und dürften nur in den seltensten Fällen sozial und ökologisch nachhaltig sein;
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deutliche Erhöhung der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung im Bereich erneuerbare Energieträger und Nutzung von Wasserstoff.
6. Agrarpolitik spielt hier eine Rolle. Nicht zuletzt, weil bundesweit fast fünf Millionen Beschäftigte in der Agrarwirtschaft und den ihr nach- und vorgelagerten Bereichen (Landmaschinen, Futtermittel, Lebensmittelhandel, Gastronomie) tätig sind. Der Versuch, die künftigen Herausforderungen ländlicher Räume sektorbezogen agrarpolitisch anzugehen, kann nicht zielführend sein. Die Agrarwirtschaft spielt nichtsdestotrotz für die ländlichen Räume eine immer noch große, perspektivisch sogar wachsende Rolle. Der Schlüssel für die drängenden Fragen der Gegenwart, für Klima, Ernährung, Energieversorgung liegt im postfossilen Zeitalter im Primarsektor, also u.a. der Agrarwirtschaft. Und noch nie war Agrarpolitik daher wohl so spannend wie heute. Wichtigste Aufgabe der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft bleibt auch in Zukunft die sichere Bereitstellung umweltverträglich hergestellter, gesundheitlich unbedenklicher Nahrungsmittel, die für alle Menschen bezahlbar sind. Darüber hinaus kann Land- und Forstwirtschaft durch den Anbau nachwachsender Rohstoffe einen zwar nicht zu überschätzenden aber auch nicht unwesentlichen Beitrag zum Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energieträger und Kraftstoffe leisten und so dem Klimawandel, als größter vom Menschen verursachten Umweltbedrohung, entgegenwirken. Agrarpolitik muss klimaorientierte Agrarpolitik sein! Nicht zuletzt sind die Wälder unerlässlich für ein stabiles Klima, in dem die Menschen dauerhaft existieren können. Sie müssen durch eine nachhaltige Forstwirtschaft geschützt, gesund erhalten und gemehrt werden. Ziel eines möglichst flächendeckenden, nachhaltigen Umbaus unserer Wälder muss einzig und allein der Ausbau der Elastizität von Waldökosystemen und damit ihre Fähigkeit zur strukturellen Erneuerung unter den veränderten klimatischen Bedingungen sein. Naturnaher Waldbau muss demzufolge auf eine möglichst flächendeckende Verjüngung, Bestandserziehung und Durchforstung mit standortgerechten Laubbaumarten als vordergründiges Anliegen zielen. Die Nachfrage nach ökologisch hergestellten Lebensmitteln ist in den letzten Jahren stark gestiegen und steigt weiter. In Deutschland kann die Nachfrage nicht aus eigener Produktion gedeckt werden, die Entwicklung des Ökolandbaus stagniert. Darum fordert DIE LINKE von der EU eine Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), welche die Ernährungssouveränität und die Besonderheiten landwirtschaftlicher Produktion, sowohl ihrer Mitgliedsstaaten aber auch aller anderen Länder der Welt respektiert. Zahlungen aus dem EU-Haushalt direkt an die europäischen Landwirte sind auch in Zukunft notwendig, wenn sie an ökologische Bewirtschaftungs- und Tierhaltungskriterien gebunden sind. Sämtliche Export- und Transportsubventionen
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müssen jedoch abgeschafft werden, um eine weitestgehend regionale und damit umweltverträgliche Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln – etwa in Nachbarschafts- bzw. Dorfläden, „Markttreffs“ usw. – zu befördern. Die Einführung regionaler Währungen findet die Unterstützung DER LINKEN. Fördermittelvergabe sollte an regionale Kooperationen gekoppelt werden. Neben der Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft ist dies auch die wesentliche Stärke von Leader+ als auszubauendes Instrument des ELER: Regionale Kooperation wird belohnt, das viel gerühmte Subsidiaritätsprinzip mit Inhalt gefüllt. Dieser bottom-up-Ansatz ist zugegebenermaßen keine Erfindung DER LINKEN, entspricht aber unserem Politikverständnis. Gleichzeitig fordern wir von der Bundesregierung eine wirksame Entwicklungshilfe im Agrarbereich um auch den ärmsten Ländern der Welt die souveräne Ernährung ihrer Bevölkerung zu ermöglichen. Den Anbau und das in Verkehr bringen von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) lehnen wir mehrheitlich ab. Sie bedrohen die Sorten- und Artenvielfalt und bergen unverantwortbare Risiken: Einmal in der Natur, können sie nicht zurückgeholt werden. Sie leisten keinen Beitrag zur Beseitigung des Welthungers, sondern gefährden vielmehr die Ernährungssouveränität der Staaten, indem sie die Bauern in die Abhängigkeit weniger, weltweit agierender Saatgutkonzerne drängen. DIE LINKE fordert deshalb von der EU erneut ein Moratorium für den Anbau und das in Verkehr bringen von GVO zu erlassen oder es zumindest den Mitgliedsstaaten zu überlassen, ob sie bei sich GVO zulassen. Von der Bundesregierung verlangen wir, das deutsche Gentechnikgesetz im Rahmen der europäischen Rechtslage so zu gestalten, dass der Anbau und das in Verkehr Bringen von GVO erschwert wird. Von der Bundesregierung und den Regierungen der Länder erwarten wir, dass sie ihrerseits sämtliche Spielräume ausnutzen um den Anbau und das in Verkehr Bringen von GVO zu verhindern. Gleichzeitig sollen sie die Landwirte bei der Bildung von gentechnikfreien Regionen in Deutschland unterstützen. DIE LINKE fordert von den Ländern, die Umstellungsförderung von konventioneller auf ökologische Landwirtschaft langfristig planbar und in der Höhe so zu gestalten, dass in Zukunft mehr Betriebe diesen Schritt wagen. Es sollte auch möglich sein, Teile von Betrieben umzustellen mit dem Ziel der Schaffung ökologischer Abteilungen in Großbetrieben. Damit würden für die Vielzahl von großen Genossenschaften und anderen Mehrfamilienbetrieben die Hürden herabgesetzt, den Einstieg in diese umweltverträgliche Wirtschaftsweise zu finden. DIE LINKE ist gegen die Kappung der EU-Direktzahlungen (erste Säule): Die ostdeutschen Betriebe, die von solch einer Entscheidung betroffen wären, sind in aller Regel keine „Agrarindustrien“, sondern etwa zur Hälfte Genossenschaften
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oder Mehrfamilienbetriebe anderer Rechtsform, die oft die wichtigsten Arbeitgeber in Dorf oder Gemeinde sind. Wir halten die Genossenschaft für die geeignetste Eigentumsform, sprechen uns aber grundsätzlich für einen Mix verschiedenster Eigentumsformen bei landwirtschaftlichen Betrieben aus. Nicht die Größe des Betriebs entscheidet für uns über seine Förderungsfähigkeit, sondern die Frage, inwiefern der Betrieb der Allgemeinheit nutzt. Fazit Auch wenn das mittlerweile abgedroschen klingen sollte: Die Prinzipien der Agenda 21 sind Prinzipien linker Politik. Nur im Einklang von ökonomischer, ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit kann die Zukunft sinnvoll gestaltet und für kommende Generationen erlebbar werden. Und auch, wenn das nun eher überraschend klingen sollte: Die Ziele des ökumenischen Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind Quellen unseres politischen Handelns. Daher will DIE LINKE im ländlichen Raum − kleine und mittlere Unternehmen stärken, − ökologische Landwirtschaft fördern, − die Erzeugung erneuerbarer Energien in regionalen Kreisläufen ausbauen, − sanften Tourismus fördern, − unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten. Es sollte darüber hinaus geprüft werden, ob ländliche Kommunen für die vielfältigen Leistungen der Daseinsvorsorge, die ländliche Räume zugunsten der Allgemeinheit erbringen, einen Ausgleich erhalten sollten und wenn ja, in welcher Form dies geschehen könnte. Gerade aufgrund der geringeren Auslastung der Infrastruktur ländlicher Räume und die dadurch geringere Chance ihrer Rentabilität scheint dies geboten, etwa im Rahmen der Erweiterung des kommunalen Finanzausgleichs um eine flächenbezogene Komponente, in Ergänzung zum oben von mir vorgeschlagenen BGE. Ist das alles nun linke Politik für ländliche Räume? Gar linke Agrarpolitik? Ja, denn unsere Politik geht davon aus, dass die Wirtschaft für den Menschen da zu sein hat, nicht umgekehrt. Wir wollen eine Agrarpolitik, die Erzeuger- und Verbraucherinteressen gleichermaßen berücksichtigt. Wir wollen zusammen mit den Menschen unsere ländlichen Räume lebenswert und nachhaltig gestalten. Dafür setzen wir uns ein, im Bund, in den Ländern und natürlich vor Ort in den Kommunen.
Kapitel II Politik und Forschung
Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut, das ist Wissen. Konfuzius
Mit der LEADER-Methode zur nachhaltigen Regionalentwicklung Elisabeth Schroedter
Der EU-Grundlagenvertrag beinhaltet den Auftrag, in der Europäischen Union den ökonomischen und sozialen Zusammenhalt herzustellen. Er sieht vor, dass die Menschen in jeder Region der Union vergleichbar gute Lebensbedingungen erwarten können. Niedergelegt im Artikel 158 des noch gültigen Nizza-Vertrages ist dieser Auftrag der Garant dafür, dass keine Region in der Europäischen Union abgeschrieben wird. Im Gegensatz zur Förderphilosophie der Brandenburger Landesregierung stehen in der Europäischen Union besonders benachteiligte Regionen, und eben auch ländliche Räume, im Fokus der regionalen Förderung. Auf diese Weise soll der ökonomische und soziale Zusammenhalt erreicht werden. Entwicklung ländlicher Regionen – eine Herausforderung Der ländliche Raum in der Europäischen Union ist vielfältig gestaltet. Doch die Probleme der einzelnen Regionen ähneln sich. Junge Menschen ziehen weg, weil sie keine Perspektiven sehen. Der globale Druck auf die landwirtschaftliche Produktion führt dazu, dass Arbeitskräfte eingespart und Höfe aufgegeben werden. Alternative Arbeitsplätze stehen kaum zur Verfügung. Der mit den sinkenden Einwohnerzahlen einhergehende sukzessive Abbau der Daseinsvorsorge führt zu weniger Lebensqualität. Um nicht selbst wegziehen zu müssen, werden Menschen aktiv. Sie ringen um eine lebenswerte und zukunftsträchtige Perspektive und nehmen das Schicksal ihrer Region selbst in die Hand. Die Erfolge einer aktiven Zivilgesellschaft in bereits abgeschriebenen Regionen beweisen, dass negative Abwanderungstrends umgekehrt werden können. Das Erfolgsgeheimnis heißt: Die Menschen vor Ort zu aktivieren, damit sie eine auf ihre Region zugeschnittene nachhaltige Entwicklung anstoßen. Im Sprachgebrauch der EU nennt man dies einen: „bottom-up-approach“ (übertragen: Entwicklung von unten). In Ostdeutschland ist in der Wendezeit der Begriff der „Kompetenz der Betroffenen“ entstanden. Er bezeichnet am deutlichsten, wann eine regionale Entwicklung erfolgreich sein kann, nämlich dann, wenn sie in der Region verwurzelt ist und aus der Region heraus entsteht.
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LEADER – ein erfolgreiches Testprogramm Seit 1991 erprobt die EU mit der Gemeinschaftsinitiative LEADER diesen gebietsbezogenen Entwicklungsansatz. LEADER steht für „Liaison entre actions de développement de l´économie rurale“ (Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft). Das beschreibt bereits den sektorenübergreifenden integrierten Entwicklungsansatz. In einer zweiten Fortsetzung wurden mit LEADER-Plus in Deutschland in der letzten Förderperiode von 2000 bis 2006 etwa 250 Millionen Euro für innovative Projekte im ländlichen Raum von der Europäischen Union bereitgestellt, kofinanziert aus Mitteln von Land, Kreis, Gemeinden oder privaten Geldgebern. Die 148 LEADER-Regionen Deutschlands sind aus Aktionen in den Gebieten heraus entstanden. Kulturgeschichtlich, naturräumlich, wirtschaftlich, manchmal auch verwaltungstechnische Einheiten bildeten den Rahmen. Bürger/innenforen diskutierten und entschieden über Entwicklungskonzepte für ihre Region. Allerdings forderte die Tatsache, dass es sich bei diesem Förderprogramm um eine EU-Gemeinschaftsinitiative handelt, einen hohen Tribut. Denn für diese Testprogramme waren internationale Projektkontakte, eine enorme Innovationsfähigkeit und eine ausführliche Dokumentation zur Nachahmung des Beispiels für andere Regionen erforderlich. Die Europäische Kommission selbst definierte die Zielvorstellungen und formulierte die Aktionsbereiche der Programme. Aus europäischer Sicht waren die Gemeinschaftsinitiativen eine Ergänzung zu den finanziell weit höher dotierten Zielprogrammen oder auch „Experimentierwerkstätten“. Trotzdem war LEADER in den ländlichen Regionen das beliebteste Förderprogramm. Der „bottom-up-Ansatz“ traf auf der einen Seite das Interesse aktiver Menschen, auf der anderen Seite wirkte er als Impuls für in den Regionen schlummernde Ideen und Initiativen. Grundsätze von LEADER Folgende Ansätze liegen allen LEADER-Programmen, also auch der LEADERMethode in der aktuellen Förderperiode zu Grunde: Territorialer Ansatz: Jede Region hat ihre Besonderheiten. Dies ist nach der LEADER-Förderphilosophie kein Nachteil, sondern eine Chance. Es gilt, das eigenständige Profil zu entdecken und zu entwickeln. Nur so kann sich eine stärkere Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Region herausbilden. Wer sich für die Entwicklung seiner Region einsetzt und seine eigenen Lebensinteressen dort verwirklicht, verbindet sich mit der Region. Solche Menschen wandern nicht ab, denn sie haben die Region und ihr Leben darin selbst gestaltet und sind deshalb
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mit dem, was die Region ihnen als Einkommen und Lebensperspektive bietet, zufrieden. Bottom-up-Ansatz: Um die Kompetenzen der Betroffenen freizusetzen, bedarf es einer breiten Bürgerbeteiligung mit demokratischen Spielregeln. Neue Organisationsstrukturen müssen dazu entwickelt werden. Dies verläuft nicht immer konfliktfrei und wird schwieriger, wenn übergeordnete Verwaltungen oder politisch Verantwortliche auf die Eigeninitiativen vor Ort keine Rücksicht nehmen und der Region ihre Vorstellungen aufdrücken wollen. Regionales Entwicklungskonzept: Private und öffentliche Akteure entwickeln gemeinsam eine langfristige Strategie, wie der Rückstand ihrer Region abgebaut und die Entwicklung nachhaltig gestaltet werden, Marktnischen gefunden, privates Kapital mobilisiert, die Daseinsvorsorge erhalten und verbessert werden kann. Werden dann noch Kultur und Kunst wieder belebt, wird die Region attraktiver und kann auch mit dem Zustrom von jungen Leuten rechnen. Integrierter Ansatz: Durch sektorübergreifende Kooperationen können neue Möglichkeiten für die Diversifizierung der lokalen Wirtschaft gefunden werden. Wiederum helfen Kooperationen und gesellschaftlicher Austausch, innovative und gleichzeitig passgerechte Lösungen für die Wirtschaftsentwicklung der Region zu entwickeln. Vernetzung der Akteure: Aktionsgruppen sind der Motor dieses Entwicklungsansatzes. Sie tragen auch die Verantwortung für seine Umsetzung. Ihre Vernetzungsarbeit lebt davon, dass sie sich gegenseitig informieren, vorhandenes Know-how der Partner nutzen, voneinander lernen und gemeinsam arbeiten. In solchen lokalen Aktionsgruppen haben sich private Personen und private und öffentliche Institutionen organisiert, meist als Verein oder auch als privatrechtliche Gesellschaft. Für die LEADER-Förderung war und ist es Voraussetzung, dass die lokale Aktionsgruppe eine für die Region repräsentative Mischung lokaler Akteure zusammenführt. Die Lokalen Aktionsgruppen (LAG) steuern den Entwicklungsprozess, sind Anlaufstelle für Projektideen und Projektanträge und bringen immer wieder die verschiedenen Akteure der Region zusammen. Sie haben aber auch selbst Projekte initiiert und umgesetzt.
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Schwerpunkte von LEADER-Plus Wie wir uns erinnern, hatte die Europäische Kommission im LEADER-PlusProgramm vier Schwerpunktthemen gesetzt: • Einsatz von Know-how und neuen Technologien zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit regionaler Erzeugnisse und Dienstleistungen; • Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität; • Aufwertung lokaler Erzeugnisse, Erleichterung des Marktzugangs vor allem für kleine Betriebe; • nachhaltige Nutzung des natürlichen und kulturellen Potentials der Region. Partnerschaften und Austausch LEADER setzte nicht nur in den Regionen auf Erfahrungsaustausch und Kooperation. Für die Vernetzung der LEADER-Akteure auf Bundesebene war die Deutsche Vernetzungsstelle LEADER-Plus aktiv. Ihr Ziel war es, auf regionaler Ebene angewandte neue Entwicklungsansätze und erfolgreiche Projektideen überregional bekannt zu machen, international Kontakte auch über LEADER hinaus zu schaffen und die fachliche und organisatorische Arbeit der LAGs zu unterstützen. Auf europäischer Ebene begleitete der LEADER-Plus-ContactPoint seit Mitte 2004 diesen Prozess und unterstützte die transnationale Zusammenarbeit der Lokalen Aktionsgruppen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Dadurch entstand ein europäisches Kontaktnetz für ländliche Entwicklung. Erfolgreiche Beispiele – dem demografischen Wandel zum Trotz Aus der jüngsten Sammlung und Darstellung hervorragender und beispielgebender Projekte, die in Deutschland durch die Förderung von LEADER verwirklicht werden konnten, und jetzt durch die Deutsche Vernetzungsstelle für LEADERPlus dokumentiert wurden1, habe ich im Folgenden einige Beispiele ausgewählt. Ich möchte durch diese Auswahl aufzeigen, dass Regionen im ländlichen Raum bei geeigneter Förderung – wie sie die LEADER-Förderung darstellt – ihre Attraktivität und Lebensfähigkeit erhöhen können. Diese Beispiele zeigen, dass die neue Förderphilosophie der Brandenburger Landesregierung, in der davon ausgegangen wird, dass förderwürdige Stärken nur in den starken Regionen zu finden und unterstützenswert sind, falsch ist! Viele dieser Projekte habe ich besucht, ________________ 1 Deutsche Vernetzungsstelle LEADER+: „LEADER+ in Deutschland: Ausgewählte Projekte“ Bonn 2006
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natürlich die meisten davon in Brandenburg, aber auch einige in MecklenburgVorpommern, in Bayern und in Hessen. Diese Beispiele belegen, dass bürgerschaftliches Engagement in vielen Regionen lebensnotwendige Infrastruktur aufrechterhält, den Nachteilen aus der Abwanderungswelle und den demografischen Veränderungen zum Trotz. Dort, wo sich der Staat aus seiner Verantwortung für die Daseinsvorsorge zurückgezogen hat und Unternehmen aufgrund der global gemessenen Wirtschaftlichkeit Dienstleistungen nicht mehr anbieten, wurden Menschen aktiv und belebten diese Regionen neu. Sie trugen dazu bei, dass sie für Menschen wieder attraktiv wurden, nach dem Motto: Wir lassen uns nicht abschreiben. Freie Schule Rohdahn, Naturpark Westhavelland (Brandenburg) 1997 wurde in Roddahn bei Neustadt (Dosse) die Nachbarschaftsschule des Vereins Tausendweg e.V. als alternative Grundschule mit Kindergarten gegründet. Sie verfolgt ein pädagogisches Konzept, welches Kinder frei von den Zwängen und Normen des Althergebrachten unterrichtet. Neben den kreativ gestalteten Schulräumen gehören Bibliothek, Küche, Werkstatt, Sportplatz und der nahe gelegene Wald zu den „Unterrichtsräumen“. Das Schulgebäude bot zu wenig Platz für freies, geistiges und räumliches Arbeiten der inzwischen 60 Kinder und Jugendlichen. Mit Hilfe von LEADERPlus wurde das Schulgebäude um einen gläsernen Anbau erweitert. Und um den Ansprüchen der Kinder gerecht zu werden, wurde eine umfassende Qualifizierung von vier Mitarbeiterinnen ermöglicht. Sie erwarben innerhalb eines Jahres das Montessori-Diplom. Nicht nur der Bau, sondern auch das Schulkonzept integriert die regionalen Firmen in die Arbeit und die Angebote der Schule. So werden beispielsweise regionale Lebensmittel zur Essensversorgung verwendet. Über Praktika können die Kinder und Jugendlichen wertvolle Erfahrungen in den umliegenden Unternehmen sammeln. Die Nachfrage nach Plätzen in der Nachbarschaftsschule ist auch weiterhin groß. Der Abwanderungstrend konnte aber durch das Schulangebot erfolgreich gestoppt werden – es ist sogar ein Zuzug von Familien mit Kindern in und um Roddahn zu verzeichnen. Infos/Quelle: www.lag-westhavelland.de Bürgerstiftung Werra-Meißner (Hessen) Eine Bürgerstiftung ist eine unabhängige, autonom arbeitende Gemeinschaftsstiftung. Sie bündelt finanzielle Beteiligungen von Privatpersonen, Unternehmen und Organisationen in kleinerem und größerem Umfang. Mit den Erträgen des
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Kapitals, durch Spenden sowie mit ehrenamtlicher Hilfe können gemeinnützige Vorhaben in der Region unterstützt werden. Ziel ist es, das gemeinnützige Engagement der Bürger für ihre Region in Form von Geld, Zeit und Ideen zu aktivieren und zu bündeln. Gefördert werden sollen Projekte des Gemeinwohls zum Beispiel in der Kinder-, Jugend- und Altenhilfe, in Kunst und Kultur, im Natur- und Umweltschutz und zur Völkerverständigung, aber auch zur Unterstützung besonders bedürftiger Einzelpersonen. Mitte 2003 fanden sich im Landkreis Werra-Meißner rund 30 Personen zu einer Gründungsinitiative für eine solche Stiftung zusammen. Am 31.12.2005 gehörten dem Stifterforum bereits 71 Stifter als natürliche oder juristische Personen an. Das Stiftungskapital betrug 75.600 Euro. Gefördert wurde ein Modellprojekt, das Schülern der 5. und 6. Klassen half, Gewalt, Drogen, sexuellem Missbrauch und Rassismus begegnen zu können. Weiterhin wurden ein Familienzentrum, der Aufbau eines Museumsverbundes im Werra-Meißner-Kreis und eine Palliative-Care-Fortbildung der örtlichen Hospizgruppe gefördert. Infos/Quelle: www.vfr-werra-meissner.de Seniorenmesse Steinburg (Schleswig-Holstein) Der Anteil älterer Menschen wird in der Region Steinburg von heute 16 Prozent auf 21 Prozent im Jahre 2015 steigen. Angesichts dieses Prozesses ist die Wohnund Lebensqualität ein Standort- und Wirtschaftsfaktor. Das Projekt „Seniorenmesse Steinburg“ beschäftigte sich mit Themen rund um das Älterwerden und Ältersein. Jährlich wird eine Messe in der Gemeinde Brokdorf veranstaltet, die über Informations- und Freizeitangebote für Senioren informiert und regionalen Dienstleistern sowie Handwerkern als Plattform für seniorengerechte Angebote dient. Die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Messe begleitete eine Arbeitsgruppe aus Experten für Seniorenarbeit (des Geriatrischen Klinikums, des Sozialverbands, des Deutschen Roten Kreuzes, des Deutschen Schwerhörigenbundes, einer Seniorenakademie, des Kreisseniorenbeirats, des Kreisgesundheitsamtes und des Kreissozialamtes). Die erste Messe mit regionalen Ausstellern besuchten 4.000 überwiegend ältere Menschen, aber auch viele Familien. Innerhalb des Rahmenprogramms zeigten Seniorentanz- und -gymnastikgruppen der Region ihr Können, es gab Boots- und Kutschfahrten. Auf der zweiten Messe stieg die Zahl der ausstellenden Unternehmen, Vereine und Institutionen auf 60. Die Bandbreite reichte von der kleinen Bau- und Möbeltischlerei mit individuellen Lösungen für altersgerechtes Wohnen bis hin zur Polizeiinspektion. Die 5.000 Besucher, die verzeichnet werden konnten, sind ein Zeichen des Erfolgs der Seniorenmesse. Infos/Quelle: www.leader-steinburg.de
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Rhöner Energiecheck (Bayern) Die Landkreise Bad Kissingen und Rhön-Grabfeld haben im Jahr 1999 ein einsparungs-, ökologie- und handlungsorientiertes Energiekonzept für die Bayerische Rhön in Auftrag gegeben, welches im Rahmen von LEADER-II kofinanziert wurde. Beide Energiekonzepte gingen von einer mittelfristig möglichen CO2Reduktion um mindestens 40 Prozent und der gleichzeitigen Schaffung und Sicherung von regionalen Arbeitsplätzen durch die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen aus. Als eine kurzfristig realisierbare Maßnahme wurde die Einführung eines Rhöner-Energiepasses (Rhöner Energie-Check) angesehen. Der Rhöner Energie-Check wendete sich an die Zielgruppe der privaten Hausbesitzer und ermöglicht eine erste ökologische und energetische Beurteilung bestehender Gebäude bzw. Haushalte. Er sollte dem Hausbesitzer einen niederschwelligen Einstieg in die Auseinandersetzung mit den Verbrauchsdaten seines Gebäudes und seines Haushaltes ermöglichen. Hierdurch sollten letztendlich Verbesserungsmaßnahmen wie Sanierung, Dämmung, Erneuerung bis hin zur Änderung des Verbraucherverhaltens zur nachhaltigen Senkung des Energieverbrauches und des CO2-Ausstoßes in der Region initiiert werden. Von den in beiden Landkreisen versandten 44.000 Fragebögen wurden etwas 5.800 zurück gesandt. Die Ergebnisse zeigten auf, dass es hohe Handlungsanreize und Marktpotenziale für das regionale Handwerk gibt. Infos/Quelle: http://lag-bad-kissingen-ufr.le-on.org; http://lag-rhoen-grabfeld-ufr. le-on.org Die Qualität in der Region muss stimmen (Brandenburg) Bereits 2003 erkannten die Mitglieder der Arbeitsgruppe Tourismus der brandenburgischen Lokalen Aktionsgruppe (LAG) Westhavelland, dass eine gemeinsame Angebotsentwicklung und Qualitätssteigerung die Konkurrenzfähigkeit aller Anbieter erhöht. Zwölf Kultur- und Tourismusanbieter haben sich zusammengefunden, um ein einheitliches Tourismus- und Kulturmarketing zu entwickeln. Ein Marketingbüro aus Berlin unterstützte die Anbieter und machte sie fit für ihre anvisierten Ziele. Die Umsetzung wurde in vier Arbeitsblöcken realisiert: dem „Projektcheck“, der „Markt- und Konkurrenzanalyse in Brandenburg“, Fragen zu „Der gewünschte Gast“ und die „Ideen- und Strategieschmiede, Produktentwicklung“. Auch Fragen nach der Zielgruppe waren zu beantworten. Es wurde deutlich, dass die Zielgruppe „Bustouristen über 50 Jahre“ von den meisten Anbietern beworben wird und durch einen erfolgreichen gemeinsamen Vertrieb der Angebote die Besucherzahlen deutlich gesteigert werden könnten. Dennoch wird jedes Unternehmen die bereits gewonnenen Zielgruppen weiter bedienen und weiter bewer-
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ben. Weitere Maßnahmen waren: Erstellung eines Labels für das Havelland, Erarbeitung einer gemeinsamen Imagebroschüre, Erstellung eines Werbeflyers, Umfrageaktionen, Qualifizierung und Definition der Leistungen und Angebote, kooperative Angebotsentwicklung (Angebotspakete) für Busunternehmen, Teilnahme an einer Messe, gezielte Einzelansprache von Reisepaketanbietern, Busunternehmen und Incoming-Büros, Entwicklung von Provisionsmodellen für den Vertrieb sowie die Verbesserung der Darstellung im Internet. Trotz oder gerade wegen der großen Unterschiede der touristischen Angebote wurden Kooperationsmöglichkeiten ausgelotet. Es sind stimmige Angebote mit guter Qualität entstanden. An den Ergebnissen werden die Projektteilnehmer nun selbst anknüpfen und auch mit neuen Partnern selbständig Wege für Vermarktung und Qualitätssicherung gehen. Infos/Quelle: www.lag-westhavelland.de Dorf- und Bürgerladen Arberg mit Regionaltheke (Bayern) Nachdem das letzte Lebensmittelgeschäft 1995 in der Gemeinde Arberg geschlossen wurde, war die Nahversorgung mit Lebensmitteln nicht mehr gewährleistet. Dies erwies sich besonders für ältere und immobile Bürger als problematisch. Der Bürgermeister der Gemeinde gab das Wahlversprechen, die Nahversorgung in Arberg sicherzustellen und führte den Laden ab September 1996 in Eigenregie weiter. Im Herbst 2003 konnte der Gemeinderat davon überzeugt werden, dass eine langfristige Erhaltung des dörflichen Lebensmittelladens nur zu gewährleisten ist, wenn die Gemeinde selbst als Betreiber eintritt. Zur Verwirklichung eines solchen Dorfladens in Arberg trugen zudem Ideen einer Projektgruppe zum Thema „Grundversorgung im Dorf“ bei. So konnte im Februar 2004 der Dorf- und Bürgerladen Arberg als kommunales Sonderunternehmen unter dem Namen „um’s Eck“ eröffnet werden, mit Lebensmitteln und Dienstleistungen unter einem Dach. Der Dorfladen bietet seinen Kunden neben dem üblichen Sortiment an Nahrungs- und Genussmitteln auch verschiedene Dienstleistungen an: eine Poststelle, eine Kleiderreinigung, eine Lotto-Annahmestelle, einen Schuhreparaturservice und einen Fotoshop – bis auf die Poststelle alles neue Dienstleistungen in Arberg. Weiterhin finden sich hier touristische Prospekte, Veranstaltungstipps und Bürgerinformationen der Gemeinde Arberg und eine Café-Ecke. Als besonderen Service liefert der Dorfladen Arberg seine Produkte auch kostenlos nach Hause, was vor allem von älteren Bürgern gerne in Anspruch genommen wird. Die Bestellung kann telefonisch oder persönlich im Laden aufgegeben werden, die Lieferung erfolgt nach Ladenschluss. Im ersten Jahr waren eine Geschäftsführerin in Vollzeit sowie drei Teilzeitkräfte auf 400-Euro-Basis beschäftigt. Seit 2005 bietet der Dorfladen an einer Regionaltheke zusätzlich Le-
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bensmittel fränkischer Erzeuger an. Derzeitig beliefern rund 30 Lieferanten aus Franken die Regionaltheke mit über 200 Produkten. Im Sommer nutzen zudem Touristen die Einkaufsmöglichkeit „um’s Eck“. Der Dorfladen ist jedoch mehr als eine Versorgungseinrichtung. Das „um’s Eck“ hat sich zu einem Kommunikationszentrum für Menschen aus Arberg und Umgebung entwickelt und wurde ein wichtiger Beitrag zur Belebung dörflicher Sozialstrukturen. Infos/Quelle: www.region-hesselberg.de Generationenhaus (Bayern) Der Verein Frauen-Netzwerk e.V., der das Ziel verfolgt, die Mitwirkung und den Einfluss von Frauen in allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu fördern, übernahm die Trägerschaft eines „Generationenhauses“, einer Begegnungsstätte für Frauen aller Altersstufen und für Familien. Sie ist Informations- und Kontaktbörse, Raum für Treffen und Gespräche, einschließlich interkulturellen Aktionen wie dem Café International, in dem Frauen ihr Heimatland vorstellen. Mit der Datenbank von Mobikid bietet das Generationenhaus eine Übersicht über alle im Landkreis bestehenden Betreuungsangebote: Dazu zählen Kindergärten und Horte, Schulen mit Mittagsbetreuung, Krabbelgruppen sowie Tagesmütter und -väter. Bestehende Lücken bei der Kinderbetreuung können durch die Vermittlung von Müttern für Notfälle geschlossen werden. Darüber hinaus bietet das Generationenhaus Qualifizierungskurse für Tagespflegemütter oder -väter an. Eine kurzfristige, stundenweise Kinderbetreuung bietet das Generationenhaus auch selbst an, wenn betreuende Elternteile beispielsweise Arztbesuche oder Behördengänge wahrnehmen müssen. Ergänzend bietet das Generationenhaus den „Oma/OpaKinder-Dienst“ an. Hierbei übernehmen ältere Menschen im Rahmen einer längerfristigen persönlichen Beziehung Aufgaben bei der Kinderbetreuung. Das Generationenhaus stellt speziell für Mädchen und Frauen einen Internet-Treff mit sechs Computern bereit. In dem Internet-Treff können Frauen online Stellen oder Ausbildungsplätze suchen und sich bewerben sowie sich Informationen über Firmen und Universitäten beschaffen. Zusätzlich werden speziell auf Frauen und Mädchen ausgerichtete PC-Schulungen angeboten. Die erfolgreiche Arbeit wird fortgesetzt. Der laufende Betrieb des Generationenhauses wird von zwei Frauen gewährleistet, die in Teilzeit arbeiten. Infos/Quelle: http://lag-bad-kissingen-ufr.le-on.org Wohnanlage Buchhorstgarten, Gatow (Niedersachsen) Vor zehn Jahren hat sich eine kleine Gruppe von 50- bis 60-jährigen zusammengeschlossen, deren Ziel es ist, eine Form von altersgerechtem Wohnen zu verwirklichen, in der jeder Einzelne verantwortlich für sich selbst, aber auch für die
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Menschen in seiner Nachbarschaft sein kann. Geplant wird eine Siedlung mit 60 Wohnungen und Häusern, welche bis zum Jahr 2010 in drei Bauabschnitten entstehen soll. Innerhalb der Siedlung sollen die Bewohner in selbst ausgesuchter Nachbarschaft leben, Verantwortung übernehmen, so lange wie möglich für sich und die Gemeinschaft arbeiten, bei Bedarf zu Hause versorgt und gepflegt werden können, Freizeitbeschäftigungen pflegen und am kulturellen Leben teilnehmen. Das Konzept für das selbst organisierte Zusammenleben sieht außerdem vor, dass für die Entscheidungsfindung im Gemeinwesen ein mit allen Bewohnern erarbeitetes Statut die Basis bildet. Die Verwaltung unterstützt die Bewohner bei der Organisation von Gemeinschafts- und Kulturprojekten wie beispielsweise Carsharing, Transport-Service und Alltagshilfen. Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten nach Können und Fähigkeiten für jeden sollen vorhanden sein und Dienstleistungen der Senioren auf Tauschbasis angeboten werden. Zusätzlich sind gemeinschaftliche Einrichtungen vorgesehen wie ein Café/ Bistro/Restaurant, eine Bibliothek und Veranstaltungsräume, ein kleiner Einkaufsladen, Büro und Verwaltung, ein Gästezimmer für Freunde und Verwandte. Die Gastronomie- und Pflegeangebote und Kulturveranstaltungen sind offen für alle Gartower Bürger. Die gesamte Einrichtung soll ausschließlich mit regenerativer Energie versorgt werden. Infos/Quelle: www.leaderplus-elbtalaue.de Bürgerbahnprojekt „Elbe-Elster-Express“ (Brandenburg) In der Region „Wald- und Heideland“ im südwestlichen Brandenburg wurde auf der Bahnstrecke in Nord-Süd-Richtung im Jahr 2000 der gesamte Personenverkehr eingestellt. Seitdem ist es für Touristen kaum möglich, die Region ohne Auto zu bereisen. Eine Evaluierung aller wiederkehrenden touristischen, kommunalen und lokalen Aktionen und Events entlang der Strecke ergab jedoch ein beachtliches Nutzungspotenzial. Da vom Land jedoch trotzdem keine Nahverkehrsbestellung zu Verfügung gestellt wurde, übernahm ein Förderverein unter der Trägerschaft des Deutschen Bahnkunden-Verbandes (DBV) nach Ausarbeitung eines Betreibermodells die Strecke auf einer Länge von 49 km. Die Bürgerbahn „Elbe-Elster-Express“ verkehrt seit Juli 2006 an den Wochenenden und Feiertagen mit einem Schienenbus auf der Strecke Falkenberg-(Elster)–LuckauUckro. Dabei kommt überwiegend ehrenamtliches Personal zum Einsatz, wodurch die Betriebskosten in einem überschaubaren Rahmen bleiben. Es sind Bürger, die eine Ausbildung als Lokführer oder als Zugbegleiter haben. Zunächst erwarb der Förderverein einen Triebwagen der Baureihe BR 798 mit Steuerwagen. Dieser wurde saniert und bietet nun Platz für 100 Fahrgäste und 12 Fahrräder. Weiterhin wurden die Gleise in Stand gesetzt, vier überdachte Haltestellen
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entlang der Strecke errichtet, die Ein- und Ausstiegsstellen beschildert sowie der Lokschuppen in Schlieben saniert und erweitert. Die Deutsche Regionaleisenbahn GmbH gab als Infrastrukturbetreiberin der Strecke Falkenberg(Elster)Beeskow fachliche Unterstützung bei der Durchführung der Verkehrsleistung. Wenn entlang der Strecke Veranstaltungen stattfinden, wird der Elbe-ElsterExpress sowohl von Bewohnern der Region als auch von Wanderern und Radtouristen rege in Anspruch genommen. An den übrigen Wochenenden nutzen hingegen nur wenige Menschen das Angebot. Die Aktivitäten des Fördervereins konzentrieren sich daher auf eine engere Verzahnung mit dem Tourismus und auf ein intensiveres Marketing. Geplant ist, in Kooperation mit touristischen Anbietern vielfältige Programmpakete zu entwickeln, wobei ein besonderes Augenmerk auf den Fahrradtourismus gelegt wird. Nach einem Jahr Förderung soll in den zwei Servicestationen je ein fester Arbeitsplatz entstehen. Bei entsprechender Nachfrage ist eine Ausweitung des Angebotes auf einen täglichen und ganzjährigen Betrieb geplant. Denkbar ist, den Schülerverkehr entlang des Streckenverlaufs von der Straße auf die Schiene zu verlagern, indem die Fahrpläne nach den Schulzeiten ausgerichtet werden. Infos/Quelle: www.regionaleisenbahn.de Pausen- und Übernachtungsstützpunkt an der Fläming-Skate (Brandenburg) Der Qualifizierungsverein „Niederer Fläming“ e.V. bietet Jugendlichen die Möglichkeit, in einem Berufsvorbereitungsjahr die Berufsausbildungsreife zu erlangen oder eine abgeschlossene Berufsausbildung zu erwerben. Ausgebildet werden unter anderem zum Teil körperlich oder geistig behinderte Menschen in den Berufen Tischler, Koch, Gärtner und Fachkraft im Gastgewerbe. 1999 begann der Bau einer 200 Kilometer langen Skaterstrecke, der die Region für neue Zielgruppen erschloss. Im „Gut Wahlsdorf als Pausen- und Übernachtungsstützpunkt an der Flaeming-Skate®“ wurden Übernachtungsmöglichkeiten mit Verpflegung in einem Restaurant angeboten. Die Bühne des Gutshauses ermöglicht (kleine) Feiern und kulturelle Veranstaltungen, die für Skater, Besucher und Bewohner des Dorfes eine interessante Bereicherung sind. Der Verein konnte durch die Modernisierung der Herberge die Anzahl der Übernachtungsmöglichkeiten auf über 30 Betten erhöhen. Die Jugendlichen im Berufsvorbereitungsjahr, die Praktikanten und Auszubildenden erhalten nun in den Bereichen Gastronomie, Hauswirtschaft und Holzbearbeitung verstärkt die Möglichkeit, den notwendigen Praxisbezug kennen zu lernen. Infos/Quelle: www.leaderplus-dahme-heideblick.de
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Inwertsetzung und Erhaltung der Weißtanne In den LEADER-Plus-Regionen Nordschwarzwald (Baden-Württemberg), Impuls Westallgäu 10+ (Bayern) und Vorarlberg in Österreich hat die Weißtanne ihr natürliches Verbreitungsgebiet. Sie ist dort eine prägende Baumart, die ökologisch für das natürliche Waldgefüge unabdingbar ist. Aufgrund höherer Bewirtschaftungs- und Verarbeitungskosten dieser Baumart hat sich das Vorkommen der Weißtanne in den letzten 200 Jahren jedoch auf zehn Prozent ihrer ursprünglichen Fläche reduziert. Das regional beschränkte Vorkommen und die besonderen Eigenschaften der Weißtanne bringen Marketingpotenziale. In einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit haben die drei Lokalen Aktionsgruppen (LAGs) die Nachfrage nach Weißtannenholz angeregt, die Wertschöpfung der regionalen Waldbauern erhöht und damit die Existenz der kulturlandschaftlich bedeutsamen Weißtanne langfristig gesichert. Bereits während der Projektlaufzeit fiel bei über 60 regionalen Bauobjekten die Entscheidung zugunsten der Weißtanne. Auf dem Schnittholzmarkt stieg die Nachfrage nach Weißtannenholz um zehn Prozent. Neben der gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit trugen dazu auch regionale Projekte der Kooperationspartner bei. Technische Versuchsreihen der LAG Nordschwarzwald und das von der LAG Westallgäu errichtete Musterbauwerk aus Weißtannenholz – eine Begegnungsstätte in Stiefenhofen – sicherten und veranschaulichten die Einsatzmöglichkeiten dieser Holzart im Baubereich. Infos/Quelle: www.leader-nordschwarzwald.de
Die Zukunft von LEADER In der Förderperiode 2007–2013 bleibt LEADER als Methode für die ländliche Entwicklung erhalten. Seit 2007 ist LEADER fester Bestandteil der neuen EUPolitik für den ländlichen Raum. Die LEADER-Methode soll in allen Förderbereichen der ländlichen Entwicklung angewandt werden. Dabei soll die Umsetzungsvielfalt von LEADER-Plus – wie in dem kleinen Ausschnitt von Beispielen dargestellt – erhalten bleiben. Die Entscheidung darüber liegt jedoch nicht mehr auf Kommissionsebene, sondern bei den Nationalstaaten, in Deutschland bei den Ländern. Dazu möchte ich an dieser Stelle einen Blick auf die neue Förderperiode 2007 bis 2013 und auf die neue Gesamtstruktur des Förderprogramms für den ländlichen Raums (ELER2) werfen. Anders als bisher gehört der Fonds für die ________________ 2 Verordnung Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) [Amtsblatt Nr. L 277 vom 21.10.2005]
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Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) auch im Ziel-1-Gebiet (jetzt als Konvergenzgebiet bezeichnet) nicht mehr zu den Strukturfonds. Die neue finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007–2013 hat die Agrardirektzahlungen, die Förderung des ländlichen Raums, den Naturschutz und die Katastrophenschutzmaßnahmen und -vorbeugungsmaßnahmen in einer eigenen Haushaltskategorie zusammengefasst. Dieses Vorgehen soll langfristig die Finanzierung des ländlichen Raumes stärken und sichern. Zusätzlich können jedoch auch der Regionalfonds (EFRE) und der Sozialfonds (ESF) zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums verwendet werden. Obwohl von europäischer Seite aus das Gebot besteht, bei der Förderung des ländlichen Raums die Synergie der Fonds sicher zu stellen, werden sowohl die nationalen Strategiepläne als auch die operationellen Programme für den ELER separat von den Strukturfonds entwickelt. Eine gute Abstimmung der Ministerien und der Abschied vom Ressortdenken werden notwendig sein, um in der Praxis optimale Förderungen zu erzielen. Die Vorgaben der im nationalen Rahmen geforderten ILE-Programme (ILE steht für „Integrierte ländliche Entwicklung“) werden jedoch starr an Verwaltungsstrukturen und Kreisgrenzen gebunden. Kreisgrenzen überschreitende Aktionsgruppen, wie sie bisher in der LEADER-Förderung durchaus üblich waren, werden dadurch in ihren Aktivitäten erheblich eingeschränkt. Zudem dominiert in dem Bundesförderansatz der Gemeinschaftsaufgabe Agrarförderung und Küstenschutz (GAK), anders als beim LEADER, welches bei den Bürgerinnen und Bürgern ansetzt, die administrative Ebene. Die Struktur von ELER ELER unterteilt sich in vier Achsen. Drei Achsen sind vertikal, d.h. es sind Förderbereiche, die nebeneinander stehen. − Ziel der Achse 1: Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Agrar- und Fischereisektor; − Ziel der Achse 2: Verbesserung der Umwelt und der landschaftlichen Aspekte des ländlichen Raums (auch Agrarumweltmaßnahmen genannt, ein großer Teil fällt auf die Umsetzung von NATURA 2000); − Ziel der Achse 3: Verbesserung der Qualität des ländlichen Raums und Diversifizierung der ländlichen Wirtschaftsstruktur, darunter fallen beispielsweise Dorfentwicklungsprogramme. Die vierte Achse – die LEADER-Achse – ist horizontal angelegt. Das bedeutet, dass sie als Methode für die Umsetzung der drei vertikalen Achsen angewendet werden soll. Besonders eignet sie sich für die Säule Drei. Im Rahmen der Säule ________________
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Drei sollen zum einen Arbeitsplätze in ländlichen Räumen außerhalb der Landwirtschaft geschaffen werden und zum anderen die ländlichen Räume auch für nachfolgende Generationen attraktiv gestaltet werden, zu den Maßnahmen gehören deshalb: 1.
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Maßnahmen zur ökonomischen Entwicklung, wie neue ökonomische Aktivitäten für Arbeitskräfte, die in der Landwirtschaft keine Arbeit mehr finden; Unterstützung von Kleinstunternehmen und von touristischen Aktivitäten; Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität im ländlichen Raum, insbesondere um die Grundlagen der Daseinsvorsorge für die Wirtschaft und die ländliche Bevölkerung zu sichern; Dorferneuerungs- und Dorfentwicklungsmaßnahmen und solche zur Bewahrung des ländlichen Kulturerbes; Trainings- und Informationsmaßnahmen für alle Akteure, die zur wirtschaftlichen Entwicklung der ländlichen Räume beitragen; Qualifizierungsmaßnahmen, die dazu dienen, dass die Bevölkerung im ländlichen Raum sich das Wissen aneignet, um die Entwicklung ihrer Lebensumwelt in Zukunft selbst in die Hand nehmen zu können. Die Leitlinien für die Entwicklung des ländlichen Raums3 betonen, dass dabei der betroffenen Bevölkerung auch nahe gebracht werden soll, wie sie diese Aufgabe selbst in die Hand nehmen kann.
Die Mitgliedstaaten müssen in der Mittelverteilung für die Achse eins und drei mindestens zehn Prozent der Mittel vorsehen, für die Achse zwei mindestens 25 Prozent. Für den LEADER-Ansatz sind mindestens fünf Prozent der Gesamtmittel eines Mitgliedsstaates zu reservieren. Also mindestens ein Anteil von fünf Prozent der Umsetzung der Mittel aus den Säulen eins bis drei muss in der LEADER-Methode angewandt werden. Natürlich können die Mitgliedstaaten diesen Prozentsatz erhöhen und auf alle geeigneten Maßnahmen ausdehnen.
Kernpunkte des LEADER-Ansatzes im neuen Förderprogramm: Der LEADER-Ansatz im neuen Förderprogramm 2007–2013 ist eine horizontale Methode zur Umsetzung der Ziele der Achsen eins bis drei, und demnach eine Mainstreaming-Methode. Als Umsetzungsmethode soll der Ansatz dazu dienen, die Selbstverwaltung zu stärken und das endogene Potential der Regionen zu ________________ 3 Beschluss des Rates vom 20. Februar 2006 über strategische Leitlinien der Gemeinschaft für die Entwicklung des ländlichen Raums (Programmplanungszeitraum 2007–2013) [Amtsblatt L 55 vom 25.2.2006]
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mobilisieren, um die Wertschöpfung in der Region zu erhöhen. Die Methode baut auf von der betroffenen Bevölkerung entwickelten regionalen Konzepten auf. Gefördert werden sollten dabei die besten und innovativsten Ideen. Qualitätsanforderungen der LEADER-Förderung a)
Es muss eine lokale Entwicklungsstrategie für eine klar abgegrenzte Region existieren. b) Es muss eine lokale Aktionsgruppe vorhanden sein. c) Der lokalen Aktionsgruppe müssen Kreations- und Entscheidungsrechte bezüglich der Entwicklungsstrategie übertragen werden (so genannter „bottom-up“-Ansatz). d) Die Strategie muss auf einem vielfältigen und gleichzeitig umfassenden integrierten Ansatz basieren und verschiedene Akteure der lokalen Ökonomie einbeziehen. e) Der Entwicklungsansatz muss einen innovativen Charakter haben. f) Der Ansatz muss Kooperationsprojekte beinhalten. g) Netzwerke von lokalen Partnerschaften müssen gebildet werden. LEADER-Aktionsgruppen Bestehende LEADER-Aktionsgruppen sind bereits qualifiziert und können weiter gefördert werden. Neue müssen nachweisen, dass sie sich aus verschiedenen Partnern zusammensetzen, die wiederum aus verschiedenen sozioökonomischen Feldern der Region kommen. Die Sozialpartner aus der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft (z.B. Landjugend, Landfrauen, Bauernverbände u.a.) müssen mindestens 50 Prozent der Entscheidungskompetenz tragen, damit die Aktionsgruppe anerkannt werden kann. Gleichzeitig muss die Aktionsgruppe die Fähigkeit besitzen, eine regionale Entwicklungsstrategie zu definieren und diese umzusetzen. Von der Gruppe wird auch das zu fördernde Projekt bestimmt. Sie muss sich eine institutionelle Grundlage schaffen (z.B. als Verein) und einen fähigen Finanzverantwortlichen wählen. Die betroffene Region muss über eine kritische Masse an interessierten Menschen zum Mitmachen, sowie finanzielle und ökonomische Ressourcen verfügen. Merkmale der lokalen Entwicklungsstrategie Die Entwicklungsstrategie muss mindestens die oben genannten Merkmale a), d) und g) enthalten. Inhaltlich muss sie mindestens eines oder auch mehrere Ziele der Achsen eins bis drei des ELER erreichen und Kooperationsprojekte umset-
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zen. Bildungs- und Qualifikationsmaßnahmen müssen Teil der Strategie sein. Denn der LEADER-Ansatz soll in der Region erreichen, dass sie ihre Entwicklung selbst in die Hand nimmt. Deshalb muss das Einbeziehen der Öffentlichkeit ein Teil der Strategien sein. Innerhalb von Kooperationsprojekten kann sowohl auf interregionaler (innerhalb eines Mitgliedstaates) als auch internationaler Ebene zusammengearbeitet werden. Technische Hilfe Jährlich stehen 0,25 % der ELER Mittel der Kommission als Technische Hilfe zur Verfügung. Sie kann diese nutzen, um Projekte bei ihrer Vorbereitung, dem Monitoring, der Administration sowie der Evaluierung zu unterstützen. Die Kommission wird in diesem Zusammenhang vorbildliche Praktiken über öffentliche Ausschreibungen fördern um sie danach zur Nachahmung zu verbreiten, (Best Practice). Den Mitgliedstaaten stehen vier Prozent des nationalen Gesamtvolumens jedes Programms im Rahmen von ELER als Technische Hilfe zur Verfügung. Diese Mittel sind in erster Linie für die Koordinierungsaufgaben im Operationellen Programm vorgesehen, könnten aber auch für Innovationswettbewerbe für beispielhafte Projekte genutzt werden. Netzwerke Mitgliedstaaten können die Technische Hilfe auch nutzen, um ein nationales Netzwerk für die ländliche Entwicklung zu schaffen. Dies soll dem Erfahrungsaustausch, aber auch dem Training von Akteuren dienen. Optimal wäre, wenn sich nationale Netzwerke auf europäischer Ebene zu einem europäischen Netzwerk zusammenfinden. Dieses könnte dann europaweit die Erfahrungen bei der ländlichen Entwicklung sammeln, analysieren und bewerten. Solche Erfahrungen könnten dann wiederum von den nationalen Netzwerken sowie von den ländlichen Räumen in Drittstaaten genutzt werden. Das Europäische Netzwerk soll ebenfalls dazu dienen, Treffen und Seminare zum Erfahrungsaustausch der Gruppe auf europäischer Ebene zu organisieren. Chancen und Schwächen der neuen LEADER-Förderung Auf den ersten Blick bietet die Einführung der LEADER-Methode im ELER als Mainstreaming große Chancen für eine innovative Entwicklung ländlicher Räume. Doch leider war die Kommmission mit der fünf Prozent Mindestgrenze zur Umsetzung der LEADER-Methode in der Förderung des Ländlichen Raumes nicht konsequent genug. Denn mit der Möglichkeit, auf dieses Mindestmaß aus-
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weichen zu können, reduzieren zum Beispiel die deutschen Bundesländer den ihnen lästigen LEADER-Ansatz genau auf dieses Mindestmaß. Sie bevorzugen Programmmethoden, wo die Entscheidung über die Projekte in ihrer Hand bleibt. Gerade in den deutschen Verwaltungen hat der kooperative Ansatz mit nichtstaatlichen Akteuren keine Tradition und wird von den politisch Verantwortlichen nur auf ein Anhörungsrecht reduziert. Das führt ganz häufig dazu, dass andere Verwaltungen oder öffentliche Akteure gegenüber den Akteuren der Zivilgesellschaft bezüglich der Beteiligungsrechte besser gestellt werden. Wie ausführlich dargestellt, versteht die LEADER-Methode unter der Beteiligung der betroffenen Bevölkerung etwas anderes. LEADER wird deshalb in Deutschland nur in Teilprogrammen angewendet und teilräumlich begrenzt. Auch territorial werden durch die strenge Bindung an das ILE-Programm Kreisgrenzen zum Dogma für den Aktionsraum der LEADER-Gruppen erhoben. Der ursprüngliche Ansatz der Integration einzelner Sektoren, die zur ländlichen Entwicklung beitragen, wird auf Teilsektoren (z.B. nur die Entwicklung außerhalb der ländlichen Produktion) reduziert. Demzufolge erhalten die lokalen Aktionsgruppen auch nur die Verantwortung für einen Teil der Koordination der Aufgaben und der Förderentscheidungen. Gleichzeitig fällt es Verwaltungen immer noch schwer, die regionale Förderung über Ressortgrenzen hinweg zu gestalten. Würden die LEADERAktionsgruppen nicht nur partielle Verantwortlichkeiten zugeteilt bekommen, würden sie die öffentlichen Finanzmittel besser binden und sie entsprechend des Umsetzungsgrades des Entwicklungsprogramms sowohl an der richtigen Stelle als auch zum richtigen Zeitpunkt einsetzen können. Nach den Förderprinzipen in den Bundesländern sind sie jedoch stark an das Wohlwollen der Verwaltungen gebunden. Der LEADER-Ansatz wird durch restriktives Verwaltungshandeln und Verwaltungsentscheidungen de facto ausgehebelt und entspricht nicht mehr dem europäischen Ansatz. In den vergangenen Förderperioden haben sich jedoch die LEADERArbeitsgruppen durch den offensichtlichen Erfolg ihrer Projekte einen Namen in den Regionen geschaffen. Dort zumindest wurde die Forderung nach einem Wettbewerb um die besten Konzepte in den Bundesländern durchgeführt, wobei es den Landesregierungen dabei eher darum geht, die Anzahl der Aktionsgruppen zu reduzieren. So kam es in einigen Fällen zu Zusammenschlüssen von Aktionsgruppen. Insgesamt muss man feststellen, dass sich in Deutschland öffentliche Verwaltungen und polische Entscheidungsträger schwer damit tun, in der regionalen Gouvernance die Verantwortung mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zu teilen und hier in den Instrumenten und Entscheidungskompetenzen Gleichberechtung herzustellen. Uns steht da noch ein langer Lernprozess der öffentlichen Verwaltungen bevor. Das allerdings ist unabdingbar, damit in Zukunft ländliche Räume
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Elisabeth Schroedter
ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Ziel der LEADER-Methode ist es, Regionen zu diesem Lernziel zu führen. Ich kann zum Schluss nur feststellen, dass jene LEADER-Aktionsgruppen auf dem richtigen Weg sind, die sich in ihrer Innovationsfähigkeit sowohl in der Qualität als auch im regionalen Wirken nicht durch Verwaltungen beschränken lassen, sondern Maximales zugunsten der Regionen herausholen. Sie sollten sich zudem nicht einreden lassen, dass sie die Kompetenz dazu nicht besitzen würden, sondern sich um Kompetenzzuwachs bemühen, wo sie selbst die Defizite erkennen. Entscheidend dafür sind ihre regionale Vernetzung und der überregionale Austausch mit anderen LEADER- oder Entwicklungsgruppen.
Ländliche Räume und Politik zu deren Entwicklung Peter Weingarten
Noch bis vor rund 50 Jahren stellte der ländliche Raum einen relativ homogenen Raumtyp dar, der durch die große Bedeutung der Landwirtschaft und eine relativ geringe Bevölkerungsdichte gekennzeichnet war. Die Differenzierungsprozesse der letzten Jahrzehnte haben dazu geführt, dass eine dichotome Betrachtung von Räumen als städtisch oder ländlich heute nicht mehr angebracht ist. Vielmehr gibt es heute eine Vielfalt ländlicher Räume, und die Übergänge zu städtischen Räumen sind in vielerlei Hinsicht oftmals fließend (zur Definition und Typisierung ländlicher Räume vgl. z.B. Copus et al. 2006, 2007). Ländliche Räume nehmen in modernen Gesellschaften und Volkswirtschaften dementsprechend eine Vielzahl von Funktionen wahr. Zu nennen sind hier beispielsweise die Produktions- und Versorgungsfunktion und die Wirtschaftsund Arbeitsplatzfunktion. Während in früheren Zeiten die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Bereitstellung von Arbeitsplätzen durch die Landwirtschaft prägend für ländliche Räume waren, trifft dies heute nicht mehr zu. Beispielsweise arbeiteten 2004 in Deutschland in nahezu allen Landkreisen mit Ausnahme von sieben über 90 % aller Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft. Eine weitere wichtige Funktion ländlicher Räume stellt die Siedlungs- und Wohnfunktion dar. Zu denken ist hierbei etwa an ländliche Räume als Standorte von große Flächen beanspruchenden Verkehrsprojekten (Flughäfen etc.) oder Unternehmen, aber auch an die Suburbanisierung ländlicher Räume. Die Erholungs- und Tourismusfunktion wird durch ein attraktives Landschaftsbild und das Vorhandensein von Tourismusdienstleistungen begünstigt. Die Ausprägung der Ökotop- und Naturschutzfunktion hängt stark von der Intensität der Landnutzung ab. Der Landwirtschaft als flächenstärkstem Landnutzer kommt hierfür und für die Offenhaltung der Landschaft eine Schlüsselrolle zu. Schließlich nehmen ländliche Räume eine Entsorgungsfunktion wahr, beispielsweise hinsichtlich der Verwertung von Klärschlämmen und Komposten. Wirtschaftsaktivitäten, Einkommen und andere, die Lebensverhältnisse bestimmende Einflussgrößen sind in allen Gesellschaften räumlich ungleich verteilt. Aus allokationspolitischer Sicht erwächst hieraus jedoch nicht notwendigerweise ein politischer Handlungsbedarf zugunsten bestimmter Regionen. Eine dem Ziel der „Chancengleichheit“ folgende Argumentation für regionalpolitische Maßnahmen in staatlichen Gemeinschaften trifft dagegen auf vielfache Zustimmung.
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Peter Weingarten
Sowohl in der Europäischen Union (EU) als auch in Deutschland stellen die regionale Konvergenz und die Schaffung annähernd gleichwertiger Lebensverhältnisse ein wichtiges politisches Ziel dar. „Gesellschaften stellen nicht nur ökonomische Zweckverbindungen dar, sondern soziale Systeme, in denen jeder Bürger die Möglichkeit haben sollte, in einem ausreichenden Grad am wirtschaftlichen Wohlstand teilzuhaben, auch wenn er in peripheren oder ländlichen Regionen lebt. Welcher Grad der Angleichung der Lebensverhältnisse als ausreichend anzusehen ist und welche Instrumente hierfür einzusetzen sind, kann dabei nicht eindeutig beantwortet werden und muss auf der politisch-kollektiven Ebene diskutiert werden.“ (Baum und Weingarten 2004). Politische Maßnahmen, die die Entwicklung ländlicher Räume bewusst fördern oder unbeabsichtigt beeinflussen, gehen weit über die Politik zur Entwicklung ländlicher Räume als der zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU hinaus. Das zeigt beispielhaft die Vielfalt der ressortübergreifenden Handlungsfelder, die das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2007) in seiner 2008 präsentierten Konzeption zur Weiterentwicklung der Politik für ländliche Räume auflistet: technische Infrastruktur, Wirtschaft und Arbeit; Finanzen und Verwaltung; Kinderbetreuung und Bildung; medizinische Versorgung; Sozialleben, Konsum, Freizeit; Natur und Umwelt. Konsens besteht heute weitgehend, dass Politiken zur Entwicklung ländlicher Räume nicht sektoral (auf die Landwirtschaft), sondern territorial und problemorientiert ausgerichtet sein sollten und dabei der Vielfalt ländlicher Räume Rechnung tragen sollten (vgl. z. B. BMELV 2007, OECD 2006, 2007, Wissenschaftlicher Beirat 2006). Weniger Einigkeit besteht – zumindest unter Politikern – dagegen darüber, inwieweit dies auch für die aus der Agrarstruktur- und Agrarumweltpolitik erwachsene zweite Säule der Agrarpolitik gilt. Auch wenn diese zweite Säule die Entwicklung ländlicher Räume explizit im Namen trägt, gehen auch von anderen Politikfeldern, beispielsweise der EU-Struktur- und Regionalpolitik, wichtige Impulse für ländliche Räume aus. Aus den Strukturfonds (Europäischer Fonds zur regionalen Entwicklung – EFRE – und Europäischer Sozialfonds – ESF) fließen in der Periode 2007 bis 2013 beispielsweise dreimal so viele EU-Mittel nach Deutschland – und dort auch teilweise in ländliche Räume – wie aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) (Tietz (Hrsg.) 2007). Eine vergleichende Analyse der ländlichen Entwicklungsprogramme zur Umsetzung der ELER-Verordnung für die Periode 2007 bis 2013 zeigt, dass diese im Bundesdurchschnitt nach wie vor stark auf den Agrarsektor fokussieren (Tietz (Hrsg.) 2007). So wird voraussichtlich die Hälfte der geplanten öffentlichen Mittel an Landwirte als Zuwendungsempfänger ausgezahlt werden und allein ein Viertel der Mittel ist für die Einzelmaßnahme 214 „Agrarumweltmaß-
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nahmen“ vorgesehen. Auf der anderen Seite zeigt die Analyse aber auch, dass die Bundesländer von ihren Gestaltungsspielräumen Gebrauch machen und unterschiedliche finanzielle Schwerpunkte setzen. Beispielsweise soll in Mecklenburg-Vorpommern rund die Hälfte der öffentlichen Mittel des ländlichen Entwicklungsprogramms für die Schwerpunkte 3 „Steigerung der Lebensqualität im ländlichen Raum und Förderung der Diversifizierung der Wirtschaft“ und 4 „LEADER“ verwendet werden. Im Durchschnitt aller Bundesländer werden hierfür lediglich 29 % der öffentlichen Mittel eingesetzt. Zusammenfassend gilt, dass sich die in der neuen Förderperiode zu beobachtende Entwicklung in der Politik zur Entwicklung ländlicher Räume hin zu einem stärker problem- und weniger sektororientierten Ansatz fortsetzen dürfte. Die von der Europäischen Kommission 2007 veröffentlichten Vorschläge im Rahmen des Health Checks der Gemeinsamen Agrarpolitik, die unter anderem eine Umschichtung von Haushaltsmitteln aus der ersten in die zweite Säule vorsehen (Erhöhung der Modulation), dürften zu einer verbesserten finanziellen Ausstattung der zweiten Säule führen, auch wenn über die Kommissionsvorschläge noch nicht entschieden ist. Eine verbesserte finanzielle Ausstattung der zweiten Säule ist aus Sicht der ländlichen Räume zu begrüßen. Nicht vergessen werden darf dabei aber, dass die Entwicklung ländlicher Räume von vielen Faktoren abhängt, von denen die Politik nur einer ist (und haushaltswirksame Maßnahmen davon wiederum nur einen Teilbereich darstellen). Vielfach wichtiger für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die wahrgenommene Lebensqualität sind oftmals andere Faktoren wie etwa der Ideenreichtum und die Kreativität einzelner Menschen oder Entwicklungen auf den Märkten. Die Politik kann im Idealfall unterstützend eingreifen, um die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu setzen und ländliche Räume gezielt zu entwickeln. Sie wird aber immer nur einen Teilbeitrag für deren Entwicklung leisten können.
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Peter Weingarten
Literatur Baum, S., Weingarten, P. (2005): Interregionale Disparitäten und Entwicklung ländlicher Räume als regionalpolitische Herausforderung für die neuen EU-Mitgliedstaaten, Agrarwirtschaft 54, S. 210–224. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2007): Politik für ländliche Räume : Konzeption zur Weiterentwicklung der Politik für ländliche Räume, Bonn. Copus, A., Hall, C., Barnes, A., Dalton, G., Cook, P., Weingarten, P., Baum, S., Stange, H., Lindner, C., Hill, A., Eiden, G., Mcquaid, R., Grieg, M., Johansson, M. (2006): Study on Employment in Rural Areas, Studie erstellt für die Europäische Kommission, DG Agri, . COPUS, A., PSALTOPOULOS, D., SKURAS, D., TERLUIN, I., WEINGARTEN, P. (2007): Common features of diverse European rural areas: review of approaches to rural typology, Final Report, unveröffentlichter Bericht für European Commission, Directorate General; Joint Research Centre, Institute for Prospective Technological Studies, o.O. OECD (2006): Das neue Paradigma für den ländlichen Raum, OECD-Berichte über die Politik den ländlichen Raum, Paris. OECD (2007): OECD-Prüfbericht zur Politik für ländliche Räume : Deutschland, Paris. Tietz, A. (Hrsg.) (2007): Ländliche Entwicklungsprogramme 2007 bis 2013 in Deutschland im Vergleich – Finanzen, Schwerpunkte, Maßnahmen, Landbauforschung Völkenrode, Sonderheft 315, Braunschweig. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim BMELV (2006): Weiterentwicklung der Politik für die ländlichen Räume, o.O.
Ansteigende Diversitäten ländlicher Räume? Schlussfolgerungen für die Regionalpolitik Siegfried Bauer
Die „Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen“ in den verschiedenen Gebieten des Bundesgebietes gilt seit der Existenz des Raumordnungsgesetzes als das zentrale Ziel der Raumordnung und Regionalpolitik. Gleichwertig ist dabei nicht mit „Gleichmacherei“ zu verwechseln, vielmehr zielt Gleichwertigkeit darauf ab, die Summe der Vor- und Nachteile der regionalen Lebensbedingungen auszugleichen. Diese Zielsetzung war von Anfang an nicht unstrittig, da seine Operatonalisierung mit schwerwiegenden Problemen verbunden ist, die einzelnen Menschen unterschiedliche Wertschätzungen bezüglich ihrer Lebensbedingungen haben und neuerdings auch zunehmend Konflikte mit dem Wachstumsziel (Zentrale Ortekonzepte, Konzentration auf Wachstumsregionen) konstatiert werden. Auch bezüglich des Postulats der Vielfalt der Regionen (insbesondere in der Europäischen Union) werden gelegentlich Unvereinbarkeiten mit dem Ziel gleichwertiger Lebensbedingungen gesehen. Die Kontroversen zwischen Ballungsgebieten und Ländlichen Räumen haben vor allem seit der EU-Lissabon-Konferenz an Schärfe gewonnen. Auf dieser Konferenz wurde eine stärkere Betonung von Metropolregionen für notwendig erachtet, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Aber auch innerhalb der ländlichen Räume bestehen erhebliche Unterschiede in Bezug auf ihre Entwicklung und die Lebensbedingungen der Menschen in diesen Räumen. 1
Kräfte der regionalen Differenzierung
Die heutige Struktur der einzelnen Regionen sind natürlich das Ergebnis der historischen Entwicklung, die ihrerseits von verschiedenen wirtschaftlichen Kräften und politischen Einflussnahmen geprägt war. Obwohl im Einzelfall auch Zufälligkeiten (historische Glücksmomente) eine Rolle gespielt haben mögen, wollen wir uns im Folgenden auf die systematisch und langfristig wirksamen Kräfte der regionalen Entwicklung konzentrieren, da diese die langfristigen Vor- oder Nachteile einzelner Regionen prägen und langfristig für die Differenziertheit ländlicher Räume entscheidend sind. Im Wesentlichen lassen sich dabei folgende Kräftebündel nennen:
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Natürliche Bedingungen: Diese Bedingungen (z. B. Bodenqualität, Klimaverhältnisse, Wasserverhältnisse) haben natürlich im historischen Prozess die Inkulturnahme von Boden und die Ansiedlung und Ausrichtung der Landwirtschaft in den einzelnen Gebieten geprägt. Auch heute können regionale Produktions- und Einkommensunterschiede der regionalen Landwirtschaft zu einem wesentlichen Teil durch die natürlichen Bedingungen erklärt werden. Die natürlichen Bedingungen haben aber nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Ansiedlung der Städte und die regionale Industrialisierung geprägt. Die meisten Städte haben sich in Flussnähe und in schönen Landschaften sowie im Mittelpunkt landwirtschaftlicher Versorgungsgebiete ausgebreitet. Für die Industrialisierung waren vor allem die Rohstoffvorkommen entscheidend. Die Entwicklung ländlicher Räume, insbesondere auch die Chancen der Landwirtschaft im Umfeld von Ballungsgebieten (z. B. Direktabsatz, Bodenpreise, Arbeitsmarkt und -löhne), ist auch heute in verschiedener Weise von den Entwicklungen in den Städten beeinflusst. Gegenüber sogenannten peripheren Gebieten, werden daher die Zukunftschancen von ländlichen Gebieten im Umfeld von Ballungsgebieten vergleichsweise günstig eingeschätzt. Lage und Transportkosten: Aufgrund der historisch bedeutsamen Transportkosten, haben sich viele Betriebe in der Nähe von Städten (Absatzmarkt) oder in der Nähe von Rohstoffvorkommen angesiedelt. Die Klassiker der Raumwirtschaftstheorie, Christaller und Lösch, haben diese Einflussfaktoren in heute noch vorbildlicher Weise systematisiert und im Hinblick die Raumnutzungsstruktur herausgearbeitet. Ebenso prägend sind die Arbeiten v. Thünen’s in Bezug auf die räumliche Landnutzungsstruktur anzusehen (Thünen’sche Ringe). Im Zuge der Fortschritte im Transportwesen haben die Transportkosten bei den meisten Gütern an relativer Bedeutung verloren. In einzelnen Bereichen (z. B. Frische und Verderblichkeit von Produkten, Direktabsatz, Abfallverwertung in der Landwirtschaft) sind auch heute die Transportkosten von besonderer Bedeutung. Bei zunehmender Energieverknappung und -preissteigerung kann durchaus künftig wieder mit einer stärkeren Bedeutung der Transportkosten für die Prägung der regionalen Wirtschaftsstruktur gerechnet werden. Dies kann für periphere ländliche Räume einen weiteren Wettbewerbsnachteil bedeuten. Interne Ersparnisse: Interne Ersparnisse bedeuten eine Degression der Durchschnittskosten mit zunehmender Produktionsmenge bzw. Betriebs-
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größe. Die Kostendegression nimmt vor allem mit zunehmendem Fixkostenanteil (insbesondere den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten bei IT-Produkten) eine immer größere Rolle ein. Die Folge ist eine zunehmende Konzentration von Unternehmen auf nationaler und internationaler Ebene und damit auch eine regionale Konzentration. Damit sind häufig ein Rückzug von Unternehmen aus ländlichen Gebieten und vielfach auch ein Druck auf mittelständische Unternehmen verbunden. Auch in der Landwirtschaft führen Kostendegression (bessere Auslastung von Maschinen und Anlagen) zu Betriebsvergrößerungen und neuen Organisationsformen (Maschinenringe, Lohnunternehmer, Betriebskooperationen). Dieser Betriebsstrukturwandel führt allerdings nicht zu einer generellen großräumigen räumlichen Konzentration der Landwirtschaft. In Einzelbereichen, wie in der bodenunabhängigen Tierproduktion oder bei einzelnen pflanzlichen Produkten sind dennoch räumliche Konzentrationen zu beobachten, die im Zuge der Globalisierung eher noch Aufschwung erhalten dürften. Die Strukturen und die Diversität ländlicher Räume werden in jedem Fall auch künftig von den internen Ersparnissen im industriellen und auch im landwirtschaftlichen Bereich beeinflusst. Externe Ersparnisse: Diese Ersparnisse treten durch Agglomerationsvorteile von vor- und nachgelagerten Branchen (localisation economies) bzw. auch durch eine Anhäufung gleich gelagerter Betriebe (urbanisaton economies) auf. Beide Kräfte fördern die räumliche Konzentration und damit indirekt die Diversität ländlicher Räume. Auch in der Landwirtschaft sind diese externen Fühlungsvorteile insbesondere im Bereich der Veredlungsproduktion nachweisbar. Politische Maßnahmen: Die betriebene (Regional-) Politik kann die räumlichen Unterschiede vermindern oder auch abbauen. Insbesondere durch die Infrastrukturpolitik, werden Voraussetzungen für eine prosperierende Regionalentwicklung geschaffen. Sowohl auf Länder- wie auch auf Regionsebene lässt sich der Einfluss einer wirtschafts-freundlichen Wirtschafts- und Regionalpolitik nachweisen. In neueren Betrachtungen wird das sogenannte Regionale Milieu und das regionale Innovationspotential als entscheidende treibende Kraft für die regionale Entwicklung angesehen. Dabei handelt es sich um ein komplexes Gemisch von Managementfähigkeiten, Bildungsniveau, sozialen Interaktionen, Good Governance und funktioniertem Public – Private Partnership. Diese Faktoren erklären z. B., warum bei sonst gleichen oder ähnlichen Bedingungen einzelne Regionen sich besser entwickeln, während andere zurückbleiben.
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All diese Faktoren wirken auf die räumliche Differenzierung der wirtschaftlichen Entwicklung ein und haben die heutige Struktur der ländlichen Räume geprägt. Diese Faktoren werden auch künftig die räumliche Entwicklung prägen. Neben diesen grundlegenden Faktoren wird die aktuelle Situation und auch die künftige Entwicklung in Deutschland von speziellen Einflussgrößen geprägt: −
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Die Wiedervereinigung Deutschlands hat die ländlichen Regionen in den neuen Bundesländern vollkommen neuen Rahmenbedingungen ausgesetzt. Durch die Neuorganisation und Umstrukturierung der Landwirtschaft und den dadurch bedingten Rückgang der landwirtschaftlichen Beschäftigung ist ein wesentlicher Pfeiler der Regionalwirtschaft weitgehend zusammengebrochen. Adäquate alternative Beschäftigungsmöglichkeiten konnten in den meisten ländlichen Räumen bis heute nicht geschaffen werden. Aber auch in den westlichen Ländern wurden ländliche Regionen durch die Wiedervereinigung beeinflusst. Für manche Regionen haben sich die periphere Lage am Zonenrandgebiet aufgelöst und sich neue Absatz- und Entwicklungsmöglichkeiten ergeben. Andererseits ist für verschiedene Branchen der ländlichen Regionalwirtschaft eine neue Konkurrenz entstanden. In größerer Maßstabsebene wirkt der Prozess der EU-Erweiterungen und der Globalisierung auf die Entwicklung ländlicher Räume ein. Verschiedene Branchen in ländlichen (wie auch in städtischen) Gebieten können dem wirtschaftlichen Druck, insbesondere von Billiglohnländern nicht mehr Stand halten. Auf der anderen Seiten eröffnen sich für zukunftsfähige Produkte und für innovative Bereiche neue Absatzmöglichkeiten, die neue Perspektiven auch für ländliche Räume eröffnen können. Inwieweit diese neuen Chancen genutzt werden, hängt maßgeblich von den oben genannten Faktoren, insbesondere vom regionalen Innovationspotential ab. Schließlich ist die demographische Entwicklung zu nennen, die bereits bislang die Probleme in vielen ländlichen Gebieten verstärkt hat. In vielen ostdeutschen Gebieten können die Konsequenzen einer rückläufigen und veralterten Bevölkerung bereits seit Jahren beobachtet werden: Unterauslastung von Infrastruktureinrichtungen mit steigenden Pro-Kopf-Kosten, Wegbruch der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, zunehmende Entfernungen zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, fehlendes Fachkräftepotential für Gewerbeansiedlung, Nachlassen der eigenständigen Innovationskraft ganzer Regionen. Diese Tendenzen bleiben nicht auf die ostdeutschen Gebiete beschränkt, sondern werden auch verschiedene westdeutsche Regionen, insbesondere benachteiligte und periphere Gebiete, treffen.
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Aus all diesen Gründen ist künftig mit zunehmenden wirtschaftlichen, sozialen und auch ökologischen Diversitäten im ländlichen Raum zu rechnen. Obwohl eine exakte Prognose kaum erstellt werden kann, gilt es für die einzelne Region, die bestehenden internen (endogen) Potentiale, die Chancen der Globalisierung und die bestehenden Fördermöglichketten zu nutzen. 2
Ausprägung der regionalen Differenzierung
Abb. 1 zeigt die Höhe des regionalen Pro-Kopf-Einkommens, gemessen durch den Indikator Bruttoinlandsprodukt je Einwohner. Es wird deutlich, dass in den klassischen Ballungsgebieten (industrielle und Dienstleistungszentren) mit Abstand die höchsten Pro-Kopf-Einkommen erzielt werden. Während die ländlichen Gebiete im Umfeld von Ballungsgebieten vergleichsweise hohe Sozialproduktswerte auf weisen, fallen die klassischen ländlichen Gebiete in peripherer Lage erheblich ab. Es bestätigt sich somit die These großer regionaler Differenzierungen im regionalen Wohlstands- und Einkommensniveau zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen den verschiedenen ländlichen Räumen. Die Möglichkeiten der eigenständigen Entwicklung der einzelnen Regionen werden in starkem Maße von den kommunalen Finanzen bestimmt. Abb. 2 und 3 zeigen die kommunale Verschuldung und die Steuereinnahmen der Gemeinden. Die Darstellungen verdeutlichen auch hier die großen regionalen Unterschiede und hohe Korrelation zwischen dem Verschuldungsgrad und den Steuereinnahmen. Für eine Vielzahl ländlicher Regionen wird es kaum möglich sein, aus eigener Steuerkraft die Verschuldung abzubauen. Für die notwendigen Infrastrukturinvestitionen fehlen daher häufig die finanziellen Voraussetzungen. Die weitere Differenzierung im regionalen Entwicklungsprozess ist damit weitgehend vorgezeichnet. Inwieweit durch die Programme der regionalen Entwicklungspolitik diese Unterschiede und die fehlende eigene Entwicklungskraft abgebaut werden kann, wird noch zu diskutieren sein.
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Abb. 1:
Siegfried Bauer
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner
Professur für Projekt- und Regionalplanung Prof. Dr. Siegfried Bauer
© BBR Bonn 2007
Abb. 2:
Kommunale Schulden
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Professur für Projekt- und Regionalplanung Prof. Dr. Siegfried Bauer
© BBR Bonn 2007
Abb. 3:
Kommunale Steuern
Professur für Projekt- und Regionalplanung Prof. Dr. Siegfried Bauer
© BBR Bonn 2007
Abb. 4:
Einwohnerdichte
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Abb. 4 zeigt die Einwohnerdichte. Es wird deutlich, dass die regionale Differenzierung in starkem Maße mit der Höhe des Bruttoinlandsproduktes korreliert. Eine geringe Bevölkerungsdichte bedeutet einmal eine geringe Auslastung der Infrastruktureinrichtungen und entsprechend hohe Infrastrukturkosten pro Kopf. Diesen hohen Belastungen stehen diametral geringe Steuereinnahmen und Finanzzuweisungen durch den Finanzausgleich gegenüber. Insgesamt wird somit deutlich, dass bereits derzeit erhebliche regionale Unterschiede bestehen. Auch wenn einzelne Regionen im europäischen und globalen Wettbewerb künftig aufholen, wie z. B. einzelne Regionen in den Beitrittsländern der EU oder auch in Deutschland, so deuten die treibenden Kräfte der regionalen Entwicklung eher auf zunehmende Diversitäten der wirtschaftlichen Entwicklung hin. Insbesondere aufgrund der differenzierenden Bevölkerungsentwicklung werden auch regionalpolitische Aktivitäten kaum einen Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Europa und Deutschland bewirken können.
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Ländliche Regionalpolitik: Derzeitige Ausrichtung und künftige Erfordernisse
Unter ländlicher Regionalpolitik wollen wir im Folgenden im wesentlichen die Gemeinschaftsaufgaben des Bundes und der Länder (Gemeinschaftsaufgabe für regionale Wirtschaftsstruktur GRW, Gemeinschaftsaufgabe für Agrarstruktur und Küstenschutz GAK) sowie die EU-Regionalpolitik (ELER, Leader) verstehen. Die Entwicklung der ländlichen Regionen wird natürlich von einer Vielzahl weiterer Politikbereiche, wie der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik (Finanzausgleich), der Agrar- und Umweltpolitik sowie auch der Sozial- und Bildungspolitik geprägt, die insgesamt eine wesentlich größere Bedeutung haben als die spezielle ländliche Regionalpolitik. Dennoch wollen wir uns im Folgenden schwerpunktmäßig auf die speziellen regionalen Fördermaßnahmen der EG und des Bundes beziehen. In Bezug auf der Diversität ländlicher Räume stellt sich zudem die Frage, ob durch EU einheitliche Fördermaßnahmen einerseits eine Diversität der ökonomischen Strukturen und der ökologischen Vielfalt erhalten und gefördert werden kann und andererseits ein Ausgleich der sozialen Lebensbedingungen angestrebt werden kann. Dieser Balanceakt wird umso schwieriger je stärker die Politik zentralisiert ist; denn Zentralisierung bedeutet zunächst einmal eine Schwächung der Regionen, da ein Teil der Steuer- und Finanzmittel zwangsweise an die zentrale Ebene (sprich EU) transferiert wird. Die Rückverteilung der Mittel erfolgt dann häufig mit hohem bürokratischem Aufwand und unter Kriterien, die von der
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Zentrale vorgegeben werden. Ob dadurch den speziellen Bedürfnissen und Entwicklungschancen benachteiligter Regionen entsprochen werden kann, ist äußerst fraglich. Eine demokratische Kontrolle der Mittelaufbringung und Verwendung ist unter diesen Bedingungen häufig nur noch begrenzt möglich. Verflechtungen in der ländlichen Entwicklungspolitik Im Blick auf die Ländliche Entwicklungspolitik sind vor allem die vertikalen Verflechtungen zwischen EU, Bund, Ländern und Kommunen von Bedeutung. Diese Verflechtungen betreffen sowohl die Gestaltung und Konzeption der Politik, als auch die Finanzierung, Durchführung und Kontrolle. Eine wirklich demokratische Kontrolle ist unter diesen Bedingungen kaum zu erwarten, da jeweils im Falle des Scheiterns die Verantwortung auf andere Ebenen geschoben werden kann, bzw. umgekehrt der Erfolg eines Projektes der eigenen Politik angerechnet wird. Aber auch horizontale Verflechtungen spielen auf EU und Bundesebene eine gewisse Rolle. Darunter wird das (unkoordinierte) nebeneinander von Politikmaßnahmen verstanden, die in die gleiche Richtung zielen. Beispiele sind etwa die Maßnahmen im Rahmen von ELER sowie der Struktur- und Regionalfonds, die gleichzeitig auf den ländlichen Raum einwirken. Auch auf Bundesebene stehen verschiedene Angebote nebeneinander, wie z. B. GAK, GRW, Regionen Aktiv, oder Regionalprogramme des Umwelt- und Naturschutzressorts. Angesichts der Vielfalt der Programme gehen zunehmend Regionen / Kommunen dazu über sogen. Subventionsberater zu beauftragen, um herauszufinden, wie möglichst viele Finanzmittel in die Gemeinde gelenkt werden können. Wie sich theoretisch leicht zeigen lässt, führt das Nebeneinander von mischfinanzierten Projekten und eigenständigen Aufgaben der Kommune mit vollständiger Eigenfinanzierung zu gravierenden Fehlallokationen. Dies soll am Beispiel von zwei möglichen Projekten mit folgenden Gesamtkosten und Nutzen verdeutlicht werden: Tabelle 1:
Kalkulationsbeispiel
Erfolgsindikatoren Potentieller Gesamtnutzen in 1000 € Voraussichtliche Gesamtkosten in 1000 € Nutzen – Kosten-Relation
Projekt 1 100 50 2
Projekt 2 200 150 1,33
Im Falle einer vollständigen Souveränität der Kommune würde natürlich das Projekt 1 realisiert. Neben der günstigeren Nutzen-Kosten-Relation mag die Tat-
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sache, dass die verfügbaren Haushaltsmittel ohnehin nur eine Realisierung von Projekt 1 erlaubt, eine Rolle spielen. Wenn sich die Gemeinde aber z. B. in einer Leader Region befindet, so kann der Fall eintreten, dass alleine Projekt 2 die Bedingungen für eine Leader Förderung erfüllt und eine Kofinanzierung von Seiten der EU, des Bundes und des Landes erhält. Bei einem durchaus üblichen Finanzierungsbeitrag von 80 %, ergeben sich für die Kommune lediglich Kosten in Höhe von 30 000 €. Dadurch verändert sich die Nutzen-Kosten-Relation auf 6.6. Projekt 2 wird somit aus Sicht der Kommune vorzüglich (geringere Kosten, günstigere Nutzen-KostenRelation, höherer Gesamtnutzen). Die Kommune wird somit alle Anstrengungen unternehmen, das Projekt 2 in die Leader-Förderung zu bekommen, da in diesem Fall auch wesentlich höhere Investitionsausgaben mit Multiplikatoreffekten in der Kommune anfallen, die zudem überwiegend von außen finanziert werden. Gesamtwirtschaftlich ist dies aber eine Fehlallokation. Dieses Beispiel ist durchaus typisch für verschiedene Bereiche der Politik für ländliche Entwicklung. Auch bei einzelbetrieblichen Maßnahmen wird durch EU bzw. bundeseinheitliche Maßnahmen eine Investitionslenkung herbeigeführt, die den unterschiedlichen regionalen Verhältnissen kaum gerecht wird und damit insgesamt zu Effizienz- und Wohlfahrtsverlusten und auch nicht notwendigerweise zu einem sozialen Ausgleich entsprechend dem Konvergenzprinzip führt. Die am meisten benachteiligten und finanzschwachen Regionen können häufig den Eigenfinanzierungsanteil nicht aufbringen und bleiben damit außen vor und von der Politik benachteiligt. Da sie aber – wenn auch im bescheidenem Maße – zur Finanzierung der Politik beitragen, kann eine gewisse Umverteilung von armen zu reichen Regionen nicht ausgeschlossen werden. Aus ökonomischer Sicht kann man zusammengefasst sagen, dass die Gestaltung der derzeitigen ländlichen Entwicklungspolitik nicht dem Äquivalenzprinzip folgt, da eine Diskrepanz zwischen der Konzeption, Durchführung, Kontrolle und politischer Verantwortung der Politik besteht. Die Folge davon sind Allokationsverzerrungen, Effizienzverluste und problematische Umverteilungen. Grundsätze für eine Neuausrichtung der ländlichen Entwicklung ländlichen Entwicklungspolitik Die Strukturen sind heute in den ländlichen Regionen in Deutschland und natürlich noch mehr in Europa so unterschiedlich, dass weitgehend vorstrukturierte einheitlich europäische Regionalförderung kaum den unterschiedlichen Entwicklungschancen gerecht werden kann. Diese Einsicht ist nicht neu, sondern bereits vor 25 Jahren in einer umfassenden Untersuchung ländlicher Entwicklungschancen und Hemmnisse in 12 Fallstudienregionen in der damaligen EU
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aufgezeigt worden (Henrichsmeyer, Bauer, Comes, Steinle, 1983). Die damalige ansatzweise Erprobung des Konzeptes der „Integrierten ländlichen Entwicklung“ hat gezeigt, das ein sektorübergreifender Entwicklungsansatz der entsprechend den regionalen Bedingungen ganz unterschiedliche Entwicklungspfade erlaubt am ehesten zum Erfolg führt. Die obigen Argumente und der sich erst ansatzweise abzeichnende demographische Druck in ländlichen Regionen machen einen solchen Ansatz notwendiger denn je. Eine vollständige integrierte Regionalentwicklungspolitik kann aber nur erreicht werden, wenn die Entscheidungs- und Finanzierungskompetenz in einer Hand liegt und über eine demokratische Kontrolle ermöglicht wird. Wie oben begründet, kann man der politischen Zwickmühle nicht durch marginale Korrekturen und Perfektionierungen der Programme entkommen. Um im Gesamtsystem ein höheres Maß an Rationalität zu erreichen, ist vielmehr eine grundlegende Umorientierung notwendig, die sind wieder an den eigentlichen Anliegen einer Regionalpolitik für den ländlichen Raum orientiert. Als allgemeine Grundprinzipien einer zukunftsfähigen Regionalpolitik dürften die folgenden Orientierungslinien wenig strittig sein: •
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Orientierung an marktwirtschaftlichen Prinzipien und Stärkung der Marktkräfte (auch mit Blick auf wettbewerbsfähige Regionen im Globalisierungsprozess), Sozialer Ausgleich im Sinne des grundlegenden Ziels der Raumordnung „Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen“ in allen Räumen des Bundesgebiets bzw. in Europa Konvergenzziel, Ausgleich überregionaler Leistungen und interregionaler spillovers, insbesondere von überregionalen Umweltleistungen und Umweltbelastungen. Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips, das in stärkerem Maße dezentrale Lösungen erfordert.
In einem föderalistischen Staatssystem sollte dabei eine weitgehende Dezentralisierung und Stärkung des Subsidiaritätsprinzips angestrebt werden. Insbesondere sollte es darum gehen, weitestgehend die regionalen Kompetenzen zu nutzen und die vorhandenen dezentralen politischen Strukturen in die konkrete Politikgestaltung und demokratische Kontrolle und Verantwortung einzubinden. Dies bedeutet, dass lokale Belange auch auf lokaler Ebene gestaltet und finanziert werden sollten. So mag z. B. eine Dorferneuerungsmaßnahme aus Sicht einer Kommune sinnvoll sein, aber es lässt sich kaum eine nachvollziehbare Begründung dafür finden, dass eine solche Maßnahme von Brüssel, über Berlin und über die Landesebene konzipiert, finanziert und kontrolliert werden muss.
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Konturen einer Neuausrichtung der ländlichen Entwicklungspolitik Angesichts der bestehenden Diversitäten und der zunehmenden Differenzierung sowie der vielfältigen gesellschaftlichen und umweltbezogenen Leistungen des ländlichen Raum kann es dabei nicht um eine Schwächung oder eines Zurückfahrens der ländlichen Regionalpolitik gehen, sondern um eine zielgerichtete Gestaltung sowie um eine Entflechtung und Zuordnung von Kompetenzen, Finanzen und Vorantwortung zu den einzelnen politischen Ebenen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip. Folgende Bereiche sollten nach Auffassung des Verfassers als wesentliche Elemente einer solchen Neuorientierung gesehen werden: •
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Konzentration der Aufgaben auf EU-Ebene auf übergeordnet notwendige Regelungsbereiche. Darunter fallen u. a. die außenhandelspolitischen Regelungen, große Bereiche der Entwicklungspolitik, Formulierung von produktbezogenen Umweltstandards als Voraussetzungen für einen Binnenmarkt, überregional bedeutsame Infrastruktur- und Umweltmaßnahmen (z. B. Europäische Wasser- und Verkehrswege, Europäische Naturschutzparks). Eine Konzentration auf Gesamtaufgaben der EU und die übergeordneten Belange kann durchaus zu einer Stärkung der EU und zu Effizienzvorteilen führen. Im Sinne eines föderalen Systems sollte dabei in der Tat in geeigneten Bereichen eine komplette Kompetenzverlagerung auf EU-Ebene erfolgen und nicht nur additiv zu nationalen und regionalen Institutionen auch noch eine europäische Ebene hinzugefügt werden. So könnten z. B. in europäischen Drittlandsauslandsvertretungen die Aufgaben der nationalen Botschaften zusammengeführt und so administrative Einsparungen erzielt werden bei gleichzeitiger einheitlicher Außendarstellung der EU. Dezentralisierung und Rückführung regionalpolitischer Aktivitäten auf die nach dem Subsidiaritätsprinzip bestgeeignete regionale Ebene. Dies würde eine entsprechende Dezentralisierung aller wesentlichen Bereiche des gegenwärtigen EU-Programms für ländliche Entwicklung (ELER) umfassen. Integrierte ländliche Entwicklung kann nur dann die vollen Kräfte entfalten, wenn die regionalen Stärken und Schwächen (Entwicklungspotentiale und Hemmnisse) in die Entwicklungskonzeptionen eingehen. Dies erfordert jedoch eine Orientierung an den regionalen Besonderheiten und Wettbewerbsverhältnissen, was wiederum eine Nutzung regionalen Sachwissen voraussetzt. Um eine tatsächliche Gestaltung entsprechend den regionalen Prioritäten zu erreichen, sollte – wie oben begründet – die regional verantwortliche Ebene dann auch eine vollständige Finanzierung übernehmen und damit auch einer eindeutigen und (für den Bürger) nachvollziehbaren demokratischen Kontrolle unterliegen.
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Stärkung der Finanzausstattung der regionalen (kommunalen) Ebene. Um die größeren Aufgaben dezentral in eigener Verantwortung durchführen zu können, sollte ein höherer Steueranteil in kommunaler Hand verbleiben. Die dadurch entstehende Entlastung auf EU und Bundesebene lässt sich leicht z. B. in einen entsprechend höheren Einkommenssteueranteil der Kommunen umrechnen. Die Kommunen würden dann nicht mehr mit „Wohltaten“ der EU und des Bundes bedient, sondern gezwungen mit den Finanzmitteln aus den Ressourcen der Kommune selbst wirtschaftlich umzugehen. Eine solche Dezentralisierung erfordert eine Stärkung des regionalen Finanzausgleichs, um dem Prinzip der regionalen Solidarität (gleichwertige Lebensverhältnisse) gerecht zu werden. Ein solcher Finanzausgleich muss sich einmal an der Wirtschaftskraft und an sozialen Kriterien der einzelnen Regionen auf europäischer Ebene orientieren. Zum anderen müssen überregional bedeutsame Infrastrukturleistungen und umweltbezogene regionale Spillovers in einen solchen Ausgleich einbezogen werden. Die spezifischen Leistungen ländlicher Räume und auch die Umweltbelastungen von Ballungsräumen können so in adäquater Weise (möglichst durch outputorientierte Ausgleichs- und Anreizsysteme) ökonomisch gelenkt werden. Ob eine Kommune dann z. B. Agrarumweltzahlungen an Landwirte leistet oder in eigener Regie Naturschutzmaßnahmen (z. B. auf kommunalen Flächen) durchführt, wird sicherlich von Region zu Region unterschiedlich entschieden werden. Wichtig ist nur, dass sich die Umwelt- und Naturschutzleistungen und -belastungen in adäquater Form in den laufenden Finanzzuweisungen widerspiegeln. Dabei muss klar sein, dass dauerhafte umweltbezogene Leistungen (öffentliche Güter) mit überregional bedeutsamem Charakter auch eine dauerhafte überregionale Finanzierung erfordern, auch wenn die Verantwortung auf regionaler Ebene liegt. Förderung integrierter Entwicklungskonzepte und Regionalmanagement. Um die Bewältigung der o. g. weit reichenden Aufgabenerweiterungen der Kommunen zu unterstützen scheint eine Förderung der Erstellung regionaler integrierter Entwicklungskonzepte sinnvoll. Aus Sicht der Kommunen kann damit externes Know-how günstig „eingekauft“ werden, um konzeptionelle und managementorientierte Unterstützung für die eigene Entwicklung zu erhalten. Die im GAK Rahmenplan 2005–2008 beschlossenen „Grundsätze zur Förderung der Integrierten Ländlichen Entwicklung“ stellen eine adäquate und gut fundierte Grundlage für solche Unterstützung regionaler Akteure dar. Diese überregionale (nationale oder EU finanzierte) Unterstützung sollte allerdings nicht die Äquivalenz von Entscheidungs-, Durchführungs-, Finanzierungs- und Kontrollzuständigkeit und demokratischer Verantwortung regionalpolitischer Maßnahmen stören.
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Förderung einer allgemeinen Regionalberatung, von Pilotprojekten und der Regionalforschung in ländlichen Raum. Ähnlich wie einzelbetriebliche Beratung überwiegend als öffentliches Gut angeboten wird, sollte den Kommunen auch eine spezialisierte Regionalberatung zur Seite gestellt werden. Damit kann insbesondere dem Argument begegnet werden, dass auf kommunaler Ebene nicht hinreichendes Wissen und Ideenvorrat vorhanden ist. Regionale Pilotprojekte, wie sie auch in der Städtebauförderung erfolgreich durchgeführt werden, können helfen neue Entwicklungen zu erproben (z. B. Alternative Systeme zur Bewertung von Umweltleistungen ländlicher Räume, Pilotvorhaben zur effizienten Wärmenutzung bei Bioenergieanlagen, neue Formen der Infrastrukturversorgung in dünn besiedelten ländlichen Regionen). Allerdings ist darauf zu achten, dass aus dem Pilotvorhaben nicht groß dimensionierte Förderprojekte werden. Gerade vor dem Hintergrund der abzusehenden demographischen Veränderungen werden auf viele ländliche Regionen tiefgreifende Veränderungen zukommen. Hierzu bedarf es einer stärkeren Integration mit der regionalen Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik, der allgemeinen Raumordnung und Regionalplanung, der Arbeitsmarktpolitik, der Agrarpolitik und der Umwelt- und Naturschutzpolitik. Eine verstärkte Forschung in diesem Bereich stellt eine wesentliche Voraussetzung für tragfähige Entwicklung des ländlichen Raums in einer künftig veränderten Gesellschaft dar.
Schlussbemerkungen Nach allen Erfahrungen mit grundlegenden Politikänderungen ist kaum damit zu rechnen, dass kurz- und mittelfristig eine Neuausrichtung einer Politik für den ländlichen Raum angegangen wird, da die beharrenden politischen Kräfte entgegen der ökonomischen und sozialen Vernunft überwiegen. Die Reformvorschläge der Konferenz von Cork, die in die hier skizzierte Richtung weisen, sind aufgrund der Partikularinteressen einzelner Ressorts bislang nicht weiter verfolgt worden. Auf der anderen Seite wird der demographische Wandel grundlegende Einschnitte in verschiedenen ländlichen Regionen hinterlassen, die mit den bisherigen Instrumentarien immer weniger bewältigt werden können. Mit zunehmendem Abstand zur Phase der Agrarhochpreispolitik wird es immer schwieriger werden die agrarbezogenen Ausgleichszahlungen zu rechtfertigen. Die von Agrarminister Seehofer kürzlich vorgetragene verbale Neubegründung von Ausgleichzahlungen (ökologisches Argument) wird auf Dauer nicht tragen, da ökologische Prinzipien als Bemessungsgrundlage vollkommen fehlen. Auch dürfte der Finanz- und Handlungsspielraum der Kommunen, aufgrund von Bevölkerungs-
Ansteigende Diversitäten ländlicher Räume?
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rückgang und Pflichtaufgaben weiter geringer werden, sodass sich vermutlich ein stärkeres Bewusstsein über das Finanzaufkommen der Regional- und Sektorpolitik aus den wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region entwickeln wird. Es scheint, dass die EU-Kommission mit der begonnenen kritischen Überprüfung ihrer umfangreichen Verordnungen erste Lehren daraus gezogen hat. Weitergehende Entflechtungen und eine Neubesinnung werden viel politische Kraft kosten, weil einzelne Privilegien und politische und administrative Machtpositionen davon betroffen sind. Die Reform der Agrarpolitik lehrt allerdings auch, dass vor allem auf europäischer Ebene erst viele Kräfte wirksam werden müssen und ein drastischer (unausweichlicher) politischer Druck entstehen muss, bevor wirklich Reformen erfolgen. Auch in der ländlichen Regionalpolitik ist es an der Zeit von lieb gewonnenen Privilegien politischer und gesellschaftlicher Gruppen Abschied zu nehmen und wieder eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Prinzipien der ländlichen Entwicklung in Gang zu setzen.
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Siegfried Bauer
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Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland Benjamin Nölting
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Ländlicher Raum zwischen Strukturproblemen und „gutem Leben“
Die Entwicklungsperspektiven für ländliche Räume sind höchst unterschiedlich. Die Spannbreite reicht von prosperierenden Regionen über wertvolle Naturräume und schöne Landschaften mit Tourismus bis hin zu strukturschwachen ländlichen Räumen. Diese Vielfalt ist eine Stärke ländlicher Räume und bietet gute Perspektiven für eine nachhaltige Entwicklung. Aber die Chancen und Entwicklungstrends sind nicht überall gleich gut (Baetzing 2001; Keim 2006). Besonders groß sind die Entwicklungsprobleme ländlicher Räume in Ostdeutschland, die in der öffentlichen Debatte mit demografischer Schrumpfung, Abwanderung, hoher Arbeitslosigkeit und einem Abbau von sozialer und kultureller Infrastruktur in Verbindung gebracht werden. Die Rückkehr der Wölfe wird von denen einen als Symbol des Niedergangs gedeutet, während andere darin neue Chancen für den Umwelt- und Naturschutz sehen. Letztlich geht es um die Frage, welche Art von Entwicklungszielen angestrebt wird. Aufbauend auf Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Regionaler Wohlstand neu betrachtet“ 1 verstehe ich Wohlstand hier nicht allein ökonomisch als materiellen Lebensstandard, sondern in einem breiten Sinne als Lebensqualität und zukunftsfähige Entwicklung (Schäfer 2007). Nachfolgend wird dargelegt, welche Potenziale der ländliche Raum in Ostdeutschland in dieser Beziehung aufweist und vor welchen Herausforderungen er steht. 2
Strukturwandel ländlicher Räume in Ostdeutschland
Ländliche Räume waren und sind im Zuge der deutschen Wiedervereinigung einem tiefgreifenden Strukturwandel unterworfen. Dabei überlagern sich die Transformation mit der Anpassung an das westdeutsche Wirtschafts- und Sozialmodell ________________ 1 Das Projekt „Regionaler Wohlstand neu betrachtet“ wurde 2002–2007 am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin durchgeführt und vom BMBF gefördert (www.regionaler wohlstand.de).
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Benjamin Nölting
einerseits und ein genereller gesellschaftlicher Wandel in Industriegesellschaften andererseits, der durch das Ende der fordistischen Massenproduktion, Globalisierung und Umweltkrisen gekennzeichnet ist. Dieser doppelte Umbruch hat in Ostdeutschland insgesamt zu einer fragmentierten Entwicklung geführt (Berliner Debatte INITIAL 2006). Davon sind neben den altindustriellen Regionen besonders ländliche Räume betroffen. In Nordostdeutschland handelt es sich auch historisch um strukturschwache Regionen mit schlechten Böden, dünner Besiedlung und wenig Industrie. Hinzu kam der tiefe Einschnitt der Bodenreform 1946 und der anschließenden Kollektivierung. Der Strukturwandel ländlicher Räume seit der Wiedervereinigung 1990 lässt sich anhand der Entwicklungen in der Landwirtschaft, von Gewerbe und Tourismus, des demografischen Wandels und der Infrastruktur skizzieren. In der DDR war die Landwirtschaft von großen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) dominiert, die zentrale ökonomische und soziale Funktionen in ländlichen Gebieten hatten (Laschewski/Siebert 2001). Nach 1990 musste sich der ostdeutsche Agrarsektor an die EU-Agrarpolitik anpassen und hat sich inzwischen als wettbewerbsfähiger Wirtschaftszweig mit eigenständigen Strukturen etabliert. Voraussetzung dafür waren die hohe Passfähigkeit großer Betriebsstrukturen mit der Lebensmittelindustrie und den EU-Subventionen sowie der massive Abbau von rund 80 Prozent der Arbeitsplätze zwischen 1989 und 1994 (Forstner 2001). Der Agrarsektor ist damit selbst in ländlichen Regionen volkswirtschaftlich marginal. Beispielsweise ist der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten in Mecklenburg-Vorpommern von 12,6 Prozent 1991 auf 5,2 Prozent 2005 zurückgegangen. Gleichzeitig ist es seit 1990 kaum gelungen, in den ländlichen Räumen Beschäftigungsmöglichkeiten in Gewerbe und Tourismus aufzubauen. Eher wurden Industrieansiedlungen aus der DDR-Zeit geschlossen. Auch der Tourismus-Boom in Mecklenburg-Vorpommern reicht nicht aus, um die hohe Arbeitslosigkeit und das unterdurchschnittliche Haushaltseinkommen in den ländlichen Räumen zu kompensieren. Geburtenrückgang und Abwanderung vor allem von jungen, gut ausgebildeten Frauen haben zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang in ländlichen Räumen geführt. Dadurch schrumpft nicht nur die Nachfrage, was die regionale Wirtschaft weiter schwächt, sondern auch soziale Strukturen wie Dorfvereine, Fußballmannschaften, freiwillige Feuerwehr, Kirchengemeinden und Kulturhäuser bröckeln (Land/Willisch 2002). Dies führt schließlich zur Schwierigkeit, öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge wie Behörden, Schulen, Altenbetreuung, öffentlichen Personennahverkehr, Gesundheitsversorgung, Straßenbau etc. in angemessener Qualität und zu bezahlbaren Preisen aufrechtzuerhalten (Beetz 2007).
Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland 115
Diese Umbrüche haben bestehendes Kapital wie Produktionsanlagen und Humankapital entwertet, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen sind deutlich spürbar. Die Kluft zu den Metropolregionen öffnet sich. In dieser Perspektive scheinen die ländlichen Räume zu den Verlierern des Transformationsprozesses zu gehören. Aber der Wandel eröffnet auch Handlungsspielräume, Probleme fördern kreative Lösungen und mitunter erzwingen prekäre Umstände geradezu Experimente zur Existenzsicherung. Experimente in ländlichen Räumen Die Menschen in ländlichen Räumen Ostdeutschlands verfolgen ganz unterschiedliche Strategien. In Kontrast zur Abwanderung gibt es auch Akteure, die teilweise ganz bewusst auf dem Lande ihre Vorstellungen zu verwirklichen versuchen, wie die folgenden Beispiele illustrieren. a) „Raumpioniere“: sind Einzelpersonen oder Projekte, die sich „freie“ Räume – z. B. Höfe und Landwirtschaftsflächen oder billige Grundstücke und Häuser – aneignen und sie dazu nutzen, mit neuen Lebensformen, Subsistenzwirtschaft oder Nischenprodukten zu experimentieren, die Natur zu genießen und per Internet zu arbeiten oder um Kunst und Musik zu machen. Mit kreativen Ansätzen verbinden sie Wissen, Wirtschaft und Kultur und regen neue Aktivitäten in peripheren Räumen an (Matthiesen 2004). Beispiele sind gemeinschaftliche Wohn- und Alternativprojekte oder Öko-Dörfer. Eine andere Variante sind Gemeinschaftsnutzungseinrichtungen, die Produkte, Dienstleistungen und Infrastruktur der Grundversorgung öffentlich anbieten und damit gemeinschaftliche Betätigungsmöglichkeiten und soziale Treffpunkte schaffen (Bonas et al. 2006). Die Aktivitäten beruhen meist auf einer Mischung aus Unternehmen, Initiativen, öffentlicher Förderung sowie ehrenamtlicher, bezahlter und reproduktiver Arbeit. Einige Akteure definieren Wohlstand und Lebensqualität neu; sie verstehen darunter weniger materiellen Wohlstand, sondern Selbstverwirklichung und gesellschaftliche sinnvolle Tätigkeiten. b) „Freiräume für die Natur“: stellt eine ganz andere „Nutzungsform“ ländlicher Räume dar. Die Großschutzgebiete, die während der Wendezeit ausgewiesen wurden und vom damaligen Bundesumweltminister Töpfer als „Tafelsilber“ der deutschen Einheit bezeichnet wurden, umfassen ökologisch äußerst wertvolle Gebiete, die der Natur überlassen werden können. Provokativ fordert Wolfgang Engler „Friede den Landschaften“ und argumentiert, dass gerade der explizite Verzicht auf Entwicklungskonzepte und -anstrengungen ganz neue, kreative Nutzungsformen hervorbringen könne (Engler 2001). Barlösius
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und Neu beschreiben Landschaftsparks, „Wildnis“ und integrierte Schutzkonzepte für Kulturlandschaften, die aus der intensiven Landbewirtschaftung herausgenommen werden, als mögliche Planungskonzepte für Naturräume mit immer weniger Menschen (Barlösius/Neu 2001). Doch der Rückzug der Menschen wird auch mit Unbehagen gesehen, wie die aufgeregten Debatten über die Rückkehr der Wölfe veranschaulichen. c) „Nutzung ökonomischer Nischen“: In Ostdeutschland haben der ökologische Landbau, die Flächennutzung für erneuerbare Energien sowie der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen einen überdurchschnittlich hohen Anteil im deutschen Vergleich. Erstens hat der Öko-Landbau nach der Wiedervereinigung 1990 eine rasche Verbreitung gefunden (vgl. den folgenden Abschnitt). Zweitens sind ländliche Gebiete wichtige Standorte insbesondere für die Erzeugung flächenintensiver Formen erneuerbarer Energien wie Windkraft oder Agrar- bzw. Biomasseerzeugung. Gerade große Anlagen z.B. für Biogas, die riesige Maisanbauflächen benötigen, finden sich in Ostdeutschland. Brandenburg nimmt eine führende Position bei der Erzeugung von Agrar-Diesel ein. Manche ländliche Region ist mittlerweile fast in der Lage, ihren Energiebedarf aus selbst erzeugten erneuerbaren Energien zu decken. Allerdings sind regionale Wertschöpfung und die Anzahl der Arbeitsplätze im Verhältnis zum Bundesdurchschnitt unterdurchschnittlich. Drittens erfolgt der Anbau von Gen-Mais fast ausschließlich in Ostdeutschland. 2007 lagen allein 50 % aller Anbauflächen in Brandenburg und 24 % in MecklenburgVorpommern (www.greenpeace.de/themen/gentechnik/anbau_genpflanzen/). Diese umstrittene Technologie findet offenbar in den ländlichen Räumen am ehesten ihren Platz, wo die Besiedelungsdichte und damit das Protestpotenzial geringer sind und wo die Ackerflächen größer sind und erst dadurch die rechtlichen Vorschriften über Abstände überhaupt einhaltbar werden. Erneuerbare Energien sind ein wichtiger Impuls für einen Ausbau der „grünen Gentechnik“. d) Rechtsradikalismus: Schließlich kann das Erstarken rechtsradikaler Gruppierungen und Parteien als soziales und politisches Experiment interpretiert werden. Diese ziehen mit „Phantomwahlkämpfen“ in ostdeutsche Landtage ein und erreichen in ländlichen Gebieten hohe Stimmenanteile (z.B. die NPD 2006 in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 15 %). Neonazi-Gruppen und rechtsradikale Parteien engagieren sich zunehmend offener im zivilgesellschaftlichen Leben, z.B. in der Kinderbetreuung, im Dorfleben oder in Bürgerinitiativen gegen Windparks, und können auf diese Weise ihre Akzeptanz und damit auch für ihre fremdenfeindliche Gesinnung steigern.
Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland 117
In der Gesamtschau sind die hier beschriebenen „Experimente“ vor allem eines: widersprüchlich! Es scheint genug Raum für sehr unterschiedliche soziale, kulturelle, technologische und ökonomische Aktivitäten zu geben, allerdings sind die Dynamiken höchst unterschiedlich, was die Fragmentierung ländlicher Räume widerspiegelt und sie zugleich verstärkt. Raumpioniere und Nischenökonomien kommen mit vergleichsweise geringem Kapital und Ressourcen aus. AlternativKommunen, Neo-Nazis, Windparks und Gentechnik sind zwar sozialer Kontrolle ausgesetzt, aber deutlich weniger als in vielen anderen Regionen Deutschlands. Das illustrieren u.a. die Dokumentarfilme „Die Siedler“ (2004; www.siedlerfilm.de) und „Neuland“ (2006; www.neuland-denken.de). Bei der Mehrzahl der Akteure herrscht eine pragmatische, recht unideologische Haltung vor, ihnen geht es vorwiegend darum, mit der ökonomischen Unsicherheit der Umbruchsituation klar zu kommen, aber auch sich selbst zu verwirklichen. Was bedeutet das nun für eine nachhaltige ländliche Entwicklung in Ostdeutschland? Einige der Experimente und Trends sind nachhaltig, andere nicht. Am Beispiel der ökologischen Land- und Ernährungswirtschaft soll aufgezeigt werden, wie die Akteure vor Ort zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen können und was die Hindernisse dabei sind. 3
Nachhaltige ländliche Entwicklung durch die ökologische Ernährungswirtschaft
Die ökologische Ernährungswirtschaft – also die landwirtschaftliche Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung von Öko-Lebensmitteln – stellt in umweltfreundlicher Produktion hochwertige, gesunde Nahrungsmittel her. Deswegen weist sie ein beträchtliches Entwicklungspotenzial für ländliche Räume auf. Hinzu kommt ihr erhebliches ökonomisches Wachstum in Ostdeutschland, wo der Wirtschaftszweig 1990 praktisch bei Null begonnen hatte. Ende 2006 gehörten Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zu den Bundesländern mit dem höchsten Anteil an Öko-Landbaufläche. In Ostdeutschland lag der Flächenanteil mit 6,2 % über dem Bundesdurchschnitt von 4,9 % (vgl. Tabelle 1). Wichtigster Grund für das rasche Wachstum des Öko-Landbaus waren die ertragsschwachen Standorte in Nordostdeutschland, die keine rentable intensive Bewirtschaftung erlauben. Weitere Anreize sind die Öko-Landbauförderung und ethische Motive wie Umwelt- und Tierschutz. Die Mehrzahl der Öko-Betriebe sind Wieder- und Neueinrichter mit kleinen und mittleren Betriebsgrößen. Hinzu kommen einige sehr große LPG-Nachfolgebetriebe. 2002 verfügten 4,7 % der Brandenburger Öko-Betriebe über mehr als 1.000 ha und bewirtschafteten 33 % der Öko-Flächen. Insbesondere größere Betriebe vermarkten ihre Produkte eher überregional in Westdeutschland und Westeuropa und beliefern die Lebensmit-
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Benjamin Nölting
telindustrie mit großen einheitlichen Partien. Solche Großbetriebe stellen einen neuen Typ des Öko-Landbaus in Deutschland dar (Engel/Ulmer 2007; Nölting 2007). Tabelle 1:
Strukturdaten zum Öko-Landbau in Ostdeutschland
Jahr
Berlin Brandenburg Mecklenb.Vorpommern Sachsen SachsenAnhalt Thüringen Deutschland gesamt Ostdeutschland Westdeutschland Anteil Ostdeutschlands
Anzahl Öko-Höfe
ökologisch bewirtsch. Fläche (ha)
2006 Flächenanteil des Ökolandbaus (%)
10 618
158 127.957
9,6
207
120 137
662
116.506
8,5
176
115
293
25.053
2,8
86
165
288
44.295
3,8
154
80
250
31.618
4,0
126
113
17.557
825.539
4,9
47
5438
2.121
345.587
6,2
163
730
15.436
479.952
-
31
-
12,1 %
42,8 %
-
-
13,4 %
Anzahl Durchschnittl. Verarbeit.betriebe Betriebsgröße (ha)
Quelle: Strukturdaten der ZMP, eigene Berechnung
Verarbeitung und Vermarktung von Öko-Lebensmitteln haben sich weniger rasch entwickelt. Öko-Betriebe der Lebensmittelverarbeitung wurden – mit Ausnahme Westberlins – erst seit Mitte der 1990er Jahre gegründet. Ausgehend von einem niedrigen Niveau ist ihre Zahl seit 2000 rasch gewachsen. Dennoch reichen sie bei weitem nicht aus, um beispielsweise den großen Berliner Markt mit regionalen Öko-Produkten zu beliefern. Es fehlen Metzgereien, Molkereien und Käsereien sowie Hersteller für hoch verarbeitete Bio-Lebensmittel.
Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland 119
Die Vermarktung von Bio-Lebensmitteln ist in Deutschland von 2,5 Mrd. € in 2000 auf 4,5 Mrd. € in 2006 gestiegen. Ostdeutschland verzeichnete in den letzten Jahren überdurchschnittliche Zuwachsraten. Berlin ist in Ostdeutschland mit Abstand der wichtigste Markt für Bio-Lebensmittel, während die Nachfrage in ländlichen Räumen niedrig ist. Das Angebot in Berlin ist mit Direktvermarktung (Abo-Kisten, Märkte, Hofläden im Umland) und dem Naturkostfachhandel mit über 200 Bio-Läden sowie einer rasant steigenden Zahl von umsatzstarken BioSupermärkten hervorragend (Nölting 2007). Insgesamt ist die Entwicklung der ökologischen Lebensmittelwirtschaft in Ostdeutschland eine ökonomische Erfolgsgeschichte, aber die Engpässe bei Verarbeitung und regionaler Vermarktung behindern ihre Weiterentwicklung. Beiträge der Öko-Betriebe zum regionalen Wohlstand Welche Beiträge leistet die ökologische Land- und Ernährungswirtschaft vor dem Hintergrund des ökonomischen Wachstums zu einem „guten Leben“ und nachhaltiger Entwicklung in ländlichen Räumen Ostdeutschlands? Die Nachhaltigkeitsaktivitäten werden für die Region Berlin-Brandenburg an Hand folgender vier Punkte dargestellt (Schäfer 2007): a) Beitrag zum Umwelt- und Naturschutz, b) Entwicklung neuer Märkte und regionale Wertschöpfung, c) Vermittlung von Wissen und Erfahrungen und c) Impulse im sozialen Bereich. Umwelt- und Naturschutz Die ökologische Ernährungswirtschaft verfolgt eine ganzheitliche, moderne Form der Landbewirtschaftung und verzichtet weitgehend auf Pestizide, Mineraldünger und Konservierungsstoffe sowie gänzlich auf Gen-Technik. Der Landbau nach den gesetzlichen EU-Ökostandards hat einen positiven Umwelteffekt (Stolze et al. 2000). Ostdeutsche Betriebe haben diese Techniken für die Bewirtschaftung großer Flächen weiterentwickelt, was zur Stabilisierung des Öko-Systems (Bloch et al. 2005) und zum Naturschutz (www.naturschutzhof.de) beiträgt. Die Mehrzahl der Öko-Betriebe in Berlin-Brandenburg engagiert sich über die Einhaltung der gesetzlichen Standards hinaus zusätzlich im Umwelt- und Naturschutz. Bei Landwirtschaftsbetrieben sind dies Maßnahmen zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit und die Gestaltung der Kulturlandschaft wie Heckenpflanzungen, in der Verarbeitung handelt es sich um Energie- und Ressourceneinsparungen und betriebliche Öko-Audits (Illge/Schäfer 2007).
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Regionale Wertschöpfung und Erschließung neuer Märkte Die Vermarktungsbetriebe haben Öko-Lebensmittel auf den ostdeutschen Markt gebracht, diese bei den Kunden bekannt gemacht und damit zusätzlich zur landwirtschaftlichen Produktion ein neues Marktsegment erschlossen. Trotz der höheren Preise ist mittlerweile eine steigende Nachfrage nach regionalen Produkten, Spezialitäten und Marken in Bio-Qualität zu verzeichnen. In Berlin-Brandenburg waren in der ökologischen Lebensmittelwirtschaft 2004/05 nach vorsichtigen Schätzungen ca. 6.000 Personen beschäftigt (Illge/Schäfer 2007, S. 92 ff.). Wegen der Lücken in der Verarbeitung und Regionalvermarktung ist das Potenzial an regionaler Wertschöpfung und Schaffung von Arbeitsplätzen jedoch noch nicht ausgeschöpft. Doch selbst bei einem weiteren Wachstum wird dieser kleine Wirtschaftszweig zwar lokal wichtige ökonomische Impulse für die ländliche Wirtschaft geben, nicht aber die Strukturprobleme lösen können (Knickel 2004). Vermittlung von Wissen und Erfahrungen über nachhaltige Landwirtschaft und gesunde Ernährung Der höhere Preis von Öko-Lebensmitteln und deren besondere Qualität sind erklärungsbedürftig. Die überwiegend informelle Wissensvermittlung der Unternehmen richtet sich vor allem an Konsumenten und Bürger, geht aber weit über reine Produktinformation und Marketingmaßnahmen hinaus. So informieren sie während des Verkaufsgesprächs, auf Festen, bei Führungen oder Verkostungen, in Veranstaltungen oder auf Internetseiten über umweltfreundliche Landwirtschaft und gesunde Ernährung (vgl. Abb. 2). Neben der Vermittlung kognitiven Wissens spielt die sinnliche Erfahrung eine wichtige Rolle: Ein Besuch im Kuhstall, die Weitergabe von Kochrezepten für saisonales Gemüse oder Ernährungstipps im Verkaufsgespräch stoßen Lernprozesse für nachhaltige Ernährung und Konsumstile an (Boeckmann 2007). Diese Art der Kommunikation ist für die Verbreitung einer Kultur der Nachhaltigkeit essentiell und stärkt Stadt-LandVerbindungen.
Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland 121
Quelle: Illge/Schäfer 2007, S. 98. Abb. 1:
Aktivitäten der Wissens- und Erfahrungsvermittlung von Öko-Betrieben
Soziale Impulse und nachhaltige Ernährung Eine Schlüsselfunktion für ländliche Entwicklung kommt der sozialen Einbettung der ökologischen Lebensmittelwirtschaft zu. Viele Öko-Betriebe sind in lokalen und regionalen Organisationen und Netzwerken wie Umweltorganisationen, Dorfvereinen, Bürgerinitiativen für gentechnikfreie Zonen, LEADER-Aktionsgruppen etc. engagiert. In peripheren ländlichen Regionen können Bio-Betriebe Kristallisationspunkte für weitergehende lokale Aktivitäten werden. Wegen ihres Ansatzes – die umweltfreundliche Produktion gesunder Lebensmittel – haben sie vielfältige Anknüpfungspunkte mit anderen Akteuren nachhaltiger Regionalentwicklung wie Umweltverbänden, Biosphärenreservaten und Tourismusvereinen (Schäfer 2007; Segert/Zierke 2004). Sie tragen damit zur Stabilisierung sozialer Ressourcen in ländlichen Räumen bei, auch wenn das soziale und politische Umfeld den Wirtschaftszweig bislang zu wenig als Akteur der Regionalentwicklung wahrnimmt. Die Untersuchungsergebnisse belegen, dass die Betriebe der ökologischen Ernährungswirtschaft einen sehr vielfältigen Beitrag zum regionalen Wohlstand im weiten Sinne gerade in strukturschwachen ländlichen Regionen leisten. Weiterhin wird deutlich, dass es sich dabei nur teilweise um die Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen handelt, obschon der augenblickliche Boom des Öko-Lebensmittelmarkts noch beträchtliche Wachstumspotenziale verspricht.
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Zwar werden Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen dringend benötigt, aber genauso wichtig für eine nachhaltige ländliche Entwicklung ist es, den kritischen Entwicklungstrends und der mitunter aufkommenden Mutlosigkeit positive, innovative Beispiele entgegen zu setzen, die ökonomisch, sozial und ökologisch tragfähig sind. Die ökologische Land- und Ernährungswirtschaft tut dies. Allerdings behindern die Fragmentierung ländlicher Räume und die tendenzielle Unterordnung sozialer und ökologischer Fragen unter ökonomische Ziele in den Entwicklungskonzepten gleich in mehrfacher Hinsicht Synergie-Effekte mit anderen Nachhaltigkeitsakteuren. Die Strukturschwäche der ländlichen Wirtschaft bremst eine stärkere Diversifizierung der ökologischen Lebensmittelwirtschaft und ihre Integration in die lokale und regionale Ökonomie. Darüber hinaus bleiben viele Unternehmen und Initiativen nachhaltiger Entwicklung trotz ihres teilweise beachtlichen Engagements gesellschaftlich und politisch isoliert. Ihnen fehlt die kritische Masse und die Vernetzung mit anderen Nachhaltigkeitsakteuren im ländlichen Raum etwa in Form sozialer Bewegungen oder integrierender Regionalinitiativen. Nicht zuletzt wird das Konzept der nachhaltigen Entwicklung noch viel zu oft als reines Umweltkonzept, das eine wirtschaftliche Entwicklung zu behindern droht, missverstanden und kann daher keine gesellschaftliche Zugkraft entfalten. 4
Perspektiven für regionalen Wohlstand und nachhaltige ländliche Entwicklung
Die Umbrüche in ländlichen Räumen Ostdeutschlands haben Innovationen, Experimente und Nischen hervorgebracht. Einige sind einer nachhaltigen Entwicklung eher abträglich wie beispielsweise die „grüne Gentechnik“, die dem Vorsorgeprinzip widerspricht, oder Rechtsextremismus. Dagegen geben Raumpioniere wie Gemeinschaftsnutzungseinrichtungen oder eben die ökologische Land- und Ernährungswirtschaft wichtige Impulse für eine nachhaltige ländliche Entwicklung. In der Gesamtperspektive wird deutlich, dass eine regionale Entwicklung nicht allein von den Akteuren vor Ort ausgehen kann, weil deren Ressourcen angesichts der beträchtlichen Strukturprobleme nicht ausreichen. Ihnen die alleinige Verantwortung für die Regionalentwicklung aufzubürden, würde auch dem grundgesetzlichen Auftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse widersprechen. Ansätze einer nachhaltigen Entwicklung können nur dann stabilisiert werden, wenn endogene und exogene Ressourcen gleichermaßen mobilisiert werden (Segert/Zierke 2007). Dabei sollten die Akteure vor Ort den Ausgangspunkt der Strategien bilden, denn es geht um nachhaltige Entwicklung für die Menschen und mit ihnen. Wie dieses Zusammenspiel interner und exter-
Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland 123
ner Kräfte funktionieren könnte, soll exemplarisch für die ökologische Ernährungswirtschaft als regionalen Akteur und für die Politik gezeigt werden, die über die Zuteilung von Ressourcen an ländliche Räume entscheidet. Um den nachhaltigen, regionalen Wohlstand zu steigern, sollten die Betriebe der ökologischen Ernährungswirtschaft erstens ihre ökonomische Integration in der Region ausbauen. Dazu zählen der Ausbau regionaler Wertschöpfungsketten insbesondere bei der Verarbeitung und der Vermarktung sowie eine stärkere Verzahnung mit der ländlichen Wirtschaft. Beispielsweise können sie im Tourismus, in der Umweltbildung, im Naturschutz, Handwerk oder bei erneuerbaren Energien aktiv werden und auch neue Angebote für Städter machen. Zweitens sollten sich die Öko-Betriebe und -Verbände um eine bessere soziale Einbettung bemühen und beispielsweise verstärkt die Zusammenarbeit mit Netzwerken nachhaltiger Regionalentwicklung suchen. Drittens sollten Nachhaltigkeitsakteure wie die Öko-Betriebe ihre vielfältigen gesellschaftlichen Leistungen offensiver kommunizieren. Es geht darum, der Bevölkerung auch die nicht-ökonomischen Beiträge zum regionalen Wohlstand sichtbar zu machen und für ganzheitliche Entwicklungsideen zu werben. Dies würde auch die Attraktivität des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung im ländlichen Raum steigern (Nölting/Schäfer 2007). Diese Aufgaben können einzelne Öko-Betriebe und den gesamten Wirtschaftszweig rasch überfordern. Daher muss die Politik die Protagonisten im ländlichen Raum unterstützen und generell die Rahmenbedingungen verbessern. Politik und Verwaltung sollten viel stärker auf die Akteure zugehen und sich auf das Risiko von Experimenten und einer Beteiligung „von unten“ einlassen. Dabei kann eine sektorale Förderung der ökologischen Ernährungswirtschaft, erneuerbarer Energien etc. hilfreich sein. Doch insgesamt ist ein Paradigmenwechsel in der ländlichen Entwicklungspolitik erforderlich. Es bedarf übergreifender Strategien für alle Menschen im ländlichen Raum weit über den volkswirtschaftlich marginalen Agrarsektor hinaus. Ein solcher Politikwandel zeichnet sich in Ansätzen ab. Darauf weisen die Konferenzreihe „Zukunft ländlicher Räume“ des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV), die ELER-Verordnung für den ländlichen Raum in der EU-Agrarpolitik sowie die OECD hin, die kritisiert, dass Jahrzehnte lang lokale Standortvorteile und „neue“ Akteure außerhalb der Landwirtschaft vernachlässigt wurden (OECD 2006). Periphere ländliche Regionen in Ostdeutschland stellen die Nagelprobe für die Tragfähigkeit eines solchen Strategiewechsels dar. Damit die Akteure im ländlichen Raum nicht neben- und gegeneinander handeln und damit sie ihre Initiativen an den lokalen Bedürfnissen und endogenen Potenzialen ausrichten (können), ist eine Regionalisierung der PolitikAnsätze sinnvoll beispielsweise durch Integrierte Ländliche Entwicklung, Regio-
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nalmanagement oder den LEADER-Ansatz. Politik hat eine, weit über finanzielle Förderung hinausreichende, Koordinierungsfunktion bei der Ansprache und Motivation der Akteure sowie der Initiierung und beim Management von Netzwerken. Der Öko-Landbau ist nur einer von mehreren Akteuren im ländlichen Raum. An dieser Akteursgruppe lässt sich verdeutlichen, wie eine Öffnung über den Agrarsektor hinaus ausgestaltet werden kann. Der besondere Beitrag multifunktionaler Öko-Betriebe zur nachhaltigen ländlichen Entwicklung liegt in der Kopplung verschiedener Aktivitäten und in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteuren aus Tourismus, Umweltbildung, Großschutzgebieten, LEADER-Gruppen, Anwohner(innen) etc. Um die Herausforderungen in Ostdeutschland zu meistern, muss sich Politik für den ländlichen Raum noch entschlossener in die beschriebene Richtung bewegen u.a. bei folgenden Punkten: • Politik sollte heterogene Vernetzungen unterstützen und Schnittstellen zwischen sektoralen und räumlichen Entwicklungsprogrammen schaffen. Ein Beispiel dafür könnte der geplante Landesaktionsplan für den Öko-Landbau in Brandenburg und Berlin werden. Das Brandenburgische Landwirtschaftsministerium sollte dabei die gesamte Wertschöpfungskette, Bauernund Umweltverbände sowie Verbraucher einbeziehen und neben der ökonomischen Entwicklung explizit auch ökologische und kulturelle Ziele verfolgen. Generell scheint es sinnvoll, nicht nur auf Branchenschwerpunkte und Cluster zu setzen, sondern gerade die Vielfalt ländlicher Initiativen und Unternehmen zu kritischen Massen zu bündeln. • Innovative Projekte und praktikable Lösungen z.B. für die Bereitstellung der Daseinsvorsorge dürfen nicht durch bürokratische und gesetzliche Vorgaben, die für andere Bedingungen gemacht sind, gebremst werden. Noch werden zu oft selbstorganisierten Bürgerbussen, Hausschlachtungen mit Kunden oder Vereinen, die eine Streuobstwiese betreiben möchten, Steine in den Weg gelegt. Die Flexibilisierung darf jedoch nicht für das Absenken von Standards insbesondere bei der sozialen Infrastruktur missbraucht werden. • Schließlich geht es nicht nur um Arbeitsplätze und Investitionen, so wichtig diese auch sein mögen, sondern in erste Linie um Köpfe und Motivation. Dafür ist die Verbesserung der Lebensqualität zentral. „Weiche“ Standortfaktoren wie kulturelle Angebote, flexible Verwaltungen und Kooperationsbereitschaft spielen eine wichtige Rolle, um die Stärken ländlicher Räume hervorzuheben. Hier sind die Möglichkeiten der 3. Achse der ELERVerordnung zur Verbesserung der Lebensqualität im ländlichen Raum noch lange nicht ausgeschöpft.
Regionaler Wohlstand als Ziel der ländlichen Entwicklung in Ostdeutschland 125
Nicht zuletzt muss sich die Politik offensiv für eine nachhaltige ländliche Entwicklung und für Alternativen zu einer nachholenden (ökonomischen) Modernisierung positionieren. Andernfalls begeben sich strukturschwache ländliche Räume mit Metropolregionen in ein aussichtsloses Rennen um Ökonomie, Macht und Effizienz. Sie haben andere Qualitäten, die es ins Spiel zu bringen gilt. Das lässt sich nicht durch eine Pauschalförderung bewerkstelligen, sondern muss in den Regionen von den Akteuren entwickelt und umgesetzt werden. Wenn Politik und lokale Akteure wie die ökologische Ernährungswirtschaft gemeinsam diese Chancen aufgreifen, dann können daraus wichtige Impulse für zukunftsfähige ländliche Räume in Ostdeutschland hervorgehen.
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Faktoren für den Erfolg einer nachhaltigen und integrierten ländlichen Regionalentwicklung Michael Böcher
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Was heißt nachhaltige und integrierte ländliche Regionalentwicklung?
Allgemein bezeichnet der normative Begriff „Nachhaltige Regionalentwicklung“ eine regionale Entwicklung, welche die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt (Bergmann 2000). Dabei soll das bekannte Leitbild der Nachhaltigkeit, die Bedürfnisse heutiger Generationen zu decken, ohne dabei Bedürfnisse kommender Generationen zu gefährden, durch eine gleichgewichtige Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Gesichtspunkte und die verstärkte Nutzung endogener (auch ökologischer) Potenziale und Kooperationen im regionalen Rahmen verwirklicht werden. Die Region stellt dabei eine potenzialreiche Handlungsebene zur Verwirklichung von Nachhaltigkeitszielen dar, denn hier sind Ursache/Wirkungszusammenhänge menschlichen Handelns eng aneinandergekoppelt, was eine gute Voraussetzung für die hohe Identifikation mit regionalen Umwelt- und Naturschutzzielen darstellt. Im unmittelbaren Lebensumfeld lassen sich Verluste an Naturgütern und Umweltbeeinträchtigungen direkt erfahren und aufgrund einer individuellen Verbundenheit mit der Region und deren Überschaubarkeit zugleich Potenziale für verändertes Handeln der in einer Region lebenden Menschen wecken. In jüngerer Zeit wird diese grundsätzliche Idee einer nachhaltigen Regionalentwicklung sowohl politisch als auch wissenschaftlich immer mehr in Zusammenhang mit einer integrierten Entwicklung ländlicher Räume gebracht (BMELV 2005, OECD 2006, Böcher 2003). Denn gerade für den ländlichen Raum mit seinen größer werdenden strukturellen Problemen (mitunter hohe Arbeitslosigkeit, Bedeutungsverlust der Landwirtschaft als früher wichtigste Einkommensquelle, hohe Abwanderungsquote gerade bei jungen Menschen aufgrund mangelnder beruflicher Perspektiven, geringe kulturelle Angebote, schlechte Verkehrsinfrastruktur, Folgen des demographischen Wandels usw.) stellt sich die Frage nach einer nachhaltigen Regionalentwicklung, die hier vor allem auch eine Inwertsetzung der vielfältigen ökologischen Ressourcen des ländlichen Raums als Ent-
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Michael Böcher
wicklungspotenziale begreift und diese nicht länger als Wirtschaftshemmnisse ansieht. Der Gedanke der Integration bedeutet darüber hinaus, dass eine erfolgreiche nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume nur dann gelingen kann, wenn dabei alle relevanten Akteure im ländlichen Raum in diese Entwicklung eingebunden sind und die netzwerkartigen Zusammenschlüsse dieser Akteure über sektorale Interessen hinaus versuchen, die Entwicklung ihrer ländlichen Region vor dem Hintergrund gemeinsamer Ziele voranzutreiben (vgl. aktuell Böcher /Tränkner 2008). Integrierte ländliche Entwicklung heißt also, dass Politik und Verwaltung gemeinsam mit den relevanten Interessengruppen im ländlichen Raum (z.B. Land- und Forstwirtschaft, Handwerk, Tourismus und Gastronomie, Naturschutz usw.) unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in Form regionaler Partnerschaften versuchen, eine zuvor beschlossene Entwicklungsstrategie (die meist in „Regionalen Entwicklungskonzepten“ formuliert wird) umzusetzen und dabei durch höhere politische Ebenen mit entsprechenden Förderprogrammen unterstützt werden. Das innerhalb der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie verwirklichte Modell- und Demonstrationsvorhaben des Bundes „Regionen Aktiv“, das 18 deutsche Regionen hinsichtlich ihrer Strategien zur ländlichen Entwicklung zwischen 2002 und 2007 unterstützte (vgl. hierzu Böcher/Krott/ Tränkner 2008, Elbe et al. 2007 oder Elbe 2007), oder die EU-Gemeinschaftsinitiative „LEADER+“, die zwischen 2000 und 2006 in 148 deutschen ländlichen Regionen solche Prozesse förderte (Böcher 2003), machen deutlich, wie prominent dieser Ansatz mittlerweile in der Politik zur Förderung ländlicher Regionen ist. In der aktuellen Förderperiode der EU-Strukturpolitik stellt das „LEADER“-Prinzip eine wichtige horizontale Achse innerhalb der „2. Säule“ dar, was zeigt, dass diese Form der Förderung der ländlichen Entwicklung mittlerweile als, wenn auch, was das Finanzvolumen anbetrifft, geringer, Bestandteil der „Mainstream“-Agrarpolitik akzeptiert ist. All diesen Initiativen und Programmen gemein ist, dass sie versuchen, die endogenen Potenziale einer sich im Wandel befindlichen ländlichen Region in Wert zu setzen, und dabei auch natürliche Ressourcen wie eine intakte Umwelt, die Schönheit der ländlichen Natur, Ruhe, hohe Artenvielfalt u. ä., als wichtige Faktoren für eine ländliche Entwicklung einschließen. Der 2007 vom Bundesumweltministerium (BMU) und dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) in Kooperation mit dem Bundeslandwirtschaftsministerium (BMELV) gestartete Wettbewerb „idee.natur“, mit dem neue Naturschutzgroßprojekte (NGP) ausgewiesen werden sollen, erweitert explizit das Naturschutzgroßprojekte-Programm des Bundes um Aspekte der integrierten ländlichen Entwicklung, da hier erstmals auch Strategien zur ländlichen Entwicklung innerhalb dieser NGP durch Fördermittel des BMELV unterstützt werden. Der ländlichen Region sollen neue Einkommensquellen erschlossen werden, wenn z.B. die entsprechend vermarktete
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regionale Naturqualität Erholungssuchende „anlockt“ und dies sich positiv auf andere Wirtschaftszweige wie Handel, Landwirtschaft und Bewirtung auswirkt und dort ebenso zu neuen Einnahmen führt. Statt die vielfältige und intakte Natur und deren Schutz als Entwicklungshindernis zu begreifen, soll eine nachhaltige und integrierte Regionalentwicklung im ländlichen Raum gerade das Potenzial der natürlichen Umwelt und deren Schutz aufgreifen und zur Entwicklung der regionalen Wirtschaft aktivieren. Um diese anspruchsvollen Ziele zu erreichen, ist vor allem die Einbindung aller regionalen Akteure, Wirtschaftssektoren und gesellschaftlichen Gruppen notwendig. Nachhaltigkeit versteht sich ja gerade als Querschnittsaufgabe. Vor allem durch die Konferenz in Rio 1992 erhielt die Kooperation im Bereich der Umwelt- und Naturschutzpolitik einen entscheidenden Impuls: die Integration von sozialen, ökologischen und ökonomischen Aspekten erforderte paradigmatisch die Kooperation verschiedener Disziplinen, Ressorts und Interessen. Erfolgreich nachhaltige Regionalpolitik zu betreiben, erfordert in aller Regel die Kooperation verschiedener Akteure: Sie kann nur durch die erfolgreiche Zusammenarbeit der für jede Region spezifischen bedeutsamen gesellschaftlichen Akteure und Sektoren erreicht werden. In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion werden daher Kooperationen und Netzwerke als ideale Voraussetzung für regionale Entwicklungsprozesse diskutiert (Benz, Fürst et al. 1999). Diese sollen vor dem Hintergrund der in regionalen Entwicklungskonzepten formulierten Ziele von regionalen Dialog- und Entscheidungsforen repräsentiert und durch ein professionelles Regionalmanagement aufgebaut und stabilisiert werden. Das neue „Zauberwort“ für Regionalentwicklung heißt „Bottom Up“: Die Akteure einer Region, die am besten über ihre regionalen Probleme Bescheid wissen, sollen durch von ihnen auf ihre Region zugeschnittene eigenständige Entwicklungskonzepte die nachhaltige Regionalentwicklung endogen vorantreiben. Um die gesellschaftliche Akzeptanz für die nachhaltige Regionalentwicklung zu erhöhen, sollen Bürgerinnen und Bürger auf breiter Ebene in Entscheidungsprozesse einbezogen werden und die Formulierung und Umsetzung regionaler Entwicklungsziele aktiv mitgestalten. Diese „Bottom-Up“-Strategie soll aber zugleich durch politische Rahmenbedingungen entsprechend unterstützt werden: In Förderprogrammen wie „Regionen Aktiv“ oder „LEADER+“ definieren höhere staatliche Ebenen (Bundesregierung, EUKommission) konkrete Ziele für die Entwicklung ländlicher Räume, deren Verwirklichung wiederum durch entsprechende Fördermittel als Anreiz für die ländlichen Regionen vorangetrieben werden soll. Dieses Miteinander von „TopDown“-Anreizen und „Bottom-Up“-Strategien kann derzeit als wichtigstes Kennzeichen modernerer Politik zur ländlichen Entwicklung bezeichnet werden.
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In den bereits erwähnten Förderprogrammen LEADER+ (http://www. leaderplus.de) und „Regionen Aktiv“ (http://www.modellregionen.de) war die Mittelvergabe jeweils an die selbständige Formulierung von Regionalentwicklungskonzepten sowie die obligatorische Einrichtung von regionalen Entscheidungsgremien (LEADER+: Lokale Aktionsgruppe, Regionen Aktiv: Regionale Partnerschaften) nach dem Bottom Up-Prinzip gebunden. Staatliche Fördergelder sollten als Anreiz dienen, „Bottom Up“-Prozesse und den Aufbau regionaler Kooperationen zu starten.
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Potenzielle Probleme aus politikwissenschaftlicher Sicht
Die mit dem Ideal nachhaltiger und integrierter ländlicher Regionalentwicklung verknüpfte Kooperation aller regionalen Akteure für ein gemeinsames Entwicklungsziel stellt aus politikwissenschaftlicher Sicht zugleich Hoffnung und potenzielle Hemmschwelle für den Erfolg dieser Strategien dar: Zwar werden Netzwerke und Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren tatsächlich als viel versprechender Weg zur Erreichung einer nachhaltigen Regionalentwicklung angesehen (Rehfeld 1998). Die Entstehung erfolgreicher Kooperationen ist dabei allerdings nicht selbstverständlich: Denn das normative Ideal der Nachhaltigkeit kann in konkreten Einzelfällen vom Konsens- zum Konfliktbegriff werden (Böcher/Krott 2002: 105). Kooperationen zur Verwirklichung einer nachhaltigen Regionalpolitik in ländlichen Räumen, die auch ökologische Aspekte und den Naturschutz angemessen integriert, und die Etablierung regionaler Partnerschaften unter gleichberechtigtem Einschluss aller relevanten Akteure, können nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern müssen in politischen Prozessen durchgesetzt werden. Politische Prozesse verlaufen allerdings ergebnisoffen zwischen den Polen Konflikt und Konsens. Akteure mit unterschiedlichen Interessen verhandeln über die möglichen regionalen Entwicklungsalternativen. Die normative Formulierung von Ansprüchen und Idealen einer nachhaltigen Regionalentwicklung in ländlichen Räumen, wie sie derzeit von vielen propagiert wird (BMELV 2005, OECD 2006) reicht allein nicht aus, um tatsächlich Nachhaltigkeit in der Region zu verwirklichen. Vielmehr müssen regionalpolitische Prozesse, die politischen Rahmenbedingungen und Probleme für den Aufbau von Kooperationen ebenso in die Betrachtung integriert werden, um Nachhaltigkeit im ländlichen Raum zu verwirklichen. Zudem hat sich in vielen Forschungsprojekten gezeigt, dass die regionalen Akteure kritisieren, wenn höhere politische Ebenen die intersektorale Kooperation unter Einschluss verschiedener Interessen auf regionaler Ebene propagieren, auf Länder- und Bundesebene jedoch nach wie vor Ressortdenken
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und sektorale Politik, gerade im Bereich Landwirtschaft und ländliche Räume, vorherrschen.1 Dies sorgt nicht immer für Anreize, dass sich die regionale Politik und die verschiedenen Akteure freiwillig über sektorale und politische Interessen hinweg in Kooperationen zusammenschließen. Die jüngst von der Bundesregierung ins Leben gerufene interministerielle Arbeitsgruppe „Ländliche Räume“, die aus Vertretern verschiedener Ministerien mit Bezug zur ländlichen Entwicklung unter Federführung des BMELV besteht, ist hier ein begrüßenswerter Schritt in die richtige Richtung, da hier auch auf Regierungsebene der mehrdimensionale und integrative Charakter einer modernen Politik für den ländlichen Raum erkannt wird.2 Diese umfasst aufgrund der vielgestaltigen Problemlagen ländlicher Räume heute mehr als nur eine optimale Förderung der landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen. Vielmehr müssen soziale, ökologische, wirtschaftliche und finanzielle Folgen einer nachlassenden Bedeutung der Landwirtschaft als wichtigster arbeitsplatzsichernder Faktor in ländlichen Räumen politisch gelöst werden, wozu das Konzept einer nachhaltigen und integrierten ländlichen Entwicklung sicherlich einen wichtigen Lösungsbaustein darstellt. An der Professur für Forst- und Naturschutzpolitik der Georg-AugustUniversität Göttingen wurden – ausgehend von diesen Grundannahmen – in den letzten Jahren in mehreren Forschungsprojekten diejenigen auf politische Prozesse bezogenen Faktoren empirisch untersucht, die für den Erfolg solcher nachhaltigen und integrierten ländlichen Entwicklungsprozesse maßgeblich verantwortlich sind (vgl. hierzu insb. Böcher/Tränkner 2008, Ortner 2007, Böcher/Krott 2007). Sie sollen im Folgenden vorgestellt werden.
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Einige Erfolgsfaktoren für die nachhaltige und integrierte Entwicklung ländlicher Räume
Problemlage und Lösungswille Ein Mindestmaß an subjektiv empfundenem Problemdruck und einer entsprechenden Lösungsbereitschaft ist in einer Region notwendig, um Menschen zum ________________ 1 Diese Kritik wurde in vielen Interviews deutlich, die der Autor im Rahmen von Forschungsprojekten zur Entwicklung ländlicher Räume mit den Akteuren „vor Ort“ geführt hat. 2 Diese interministerielle Arbeitsgruppe setzt sich zusammen aus Vertretern der Ministerien für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV), Wirtschaft (BMWi), Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), Finanzen (BMF), Umwelt (BMU), Arbeit und Soziales (BMAS), Bildung und Forschung (BMBF) sowie Gesundheit (BMG). Sie soll bis Ende 2008 einen Vorschlag für ein abgestimmtes Handlungskonzept der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der ländlichen Räume vorlegen.
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gemeinsamen Handeln zu bewegen. Entscheidend ist dabei der Problemdruck, den Menschen aufgrund ihrer spezifischen regionalen Situation empfinden. Dieser Druck könnte für eine Region durch wirtschaftliche (z.B. Arbeitslosigkeit), soziale (z.B. Folgen demographischen Wandels) oder ökologische (z.B. Hochwasser) Probleme entstehen (Brendle 1999: 14). So sorgten z.B. im Südlichen Steigerwald in Bayern massive Hochwasserprobleme, also ein sichtbares ökologisches Problem, das für viele Akteure zu konkreten Problemen auch ökonomischer Art führte, dafür, dass das Bewusstsein über regionale ökologische Probleme anstieg und viele Akteure gemeinsam nach Lösungen suchten. Diese ökologischen Probleme eröffneten hier dem Naturschutz große Möglichkeiten, als ein Hauptakteur des beginnenden Entwicklungsprozesses aufzutreten. Seitdem konnten Naturschutzakteure, die Konzepte zur Hochwasservermeidung unter Integration der Landwirtschaft (Einnahmequellen durch Landschaftspflege) entwickelten, enorm an Akzeptanz gewinnen. Bis heute wurde dieser Entwicklungsprozess im Südlichen Steigerwald auf anliegende Gemeinden ausgeweitet und unter Einschluss der verschiedensten Interessen zu einem umfassen Prozess einer nachhaltigen und integrierten ländlichen Entwicklung fortentwickelt, die sowohl der heimischen Bevölkerung (neues Radwegenetz, neue Einnahmequellen für Tourismus, Landwirtschaft, Handel und Gewerbe) als auch Besucherinnen und Besuchern (steigendes gastronomisches Angebot, touristische Infrastruktur und Attraktionen, Erholungswert etc…) nutzt. Win-win-Kooperationen Gerade zur Integration verschiedener Sektoren und Interessen in die ländliche Regionalentwicklung sind Win-win-Kooperationen obligatorisch. Hier geht es darum, Projektstrukturen so zu schaffen, dass verschiedene Interessen gleichzeitig einen Nutzen erzielen, der ohne das Projekt bzw. die Entwicklungsstrategie nicht entstanden wäre. Häufig können in der ländlichen Regionalentwicklung durch integrative Projekte z.B. Naturnutzer und -schützer einen Gewinn erzielen (z.B. in der Direktvermarktung landwirtschaftlicher Produkte). Ein Paradebeispiel für solche Win-win-Kooperationen sind Streuobstwiesen. Hier können alle Beteiligten einen Nutzengewinn verbuchen: Landwirte und Handel erzielen einen wirtschaftlichen Nutzen durch eine zusätzliche Einnahmequelle und stellen für Naturschutzziele Helferinteressen dar (v. Prittwitz 1990), während Naturschutzverbände ihre ökologischen Interessen durch die Umsetzung konkreter Naturschutzmaßnahmen verwirklicht sehen. Im Südlichen Steigerwald konnte eine sektorübergreifende und integrative Win-win-Kooperation zwischen Naturschutz (Entstehung neuer Lebensräume), Kommunen (geringere Hochwasserprobleme)
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und der regionalen Wirtschaft (Aufträge für Handwerk und Landwirtschaft durch notwendige Bauarbeiten) aufgebaut werden (Weigand 2001: 13). Regionalbewusstsein, Leitbilder und Regionales Entwicklungskonzept Regionalbewusstsein und gemeinsame Leitbilder bei regionalen Akteuren können die Entstehung erfolgreicher Kooperationsprozesse auf regionaler Ebene beflügeln. Ob ein Raum als Region für Kooperation gelten kann, ist in starkem Maße davon abhängig, ob die dort lebenden Menschen ihn als solchen akzeptieren und sich mit ihm identifizieren. Eine hohe Identifikation mit ihrer Region kann regionale Akteure veranlassen, individuelle Interessen zugunsten gemeinsamer zu überwinden. Die Formulierung eines gemeinsamen verbindlichen Leitbildes regionaler Entwicklung in einem Regionalen Entwicklungskonzept (REK) (Wo wollen wir hin? Wie sieht unsere Entwicklungsvision aus?) kann regionale Akteure auf bestimmte Ziele verpflichten und einen Beitrag zu regionaler Identität und Kooperation leisten. Regionale Entwicklungskonzepte dienen als umsetzungsorientierter Zukunftsentwurf für die Entwicklung einer Region und enthalten konkrete Ziele und Projekte zur Umsetzung der ländlichen Entwicklung. „Innerhalb eines Orientierungsrahmens werden zunächst auf der Basis einer Problemanalyse Stärken und Schwächen, Potenziale, längerfristige Zukunftsziele und Strategien für eine Region aufgedeckt. Ziel dieses Orientierungsrahmens ist es, ein gemeinsames Problembewusstsein zu schaffen und mögliche Kooperationen zwischen Akteuren, sowie Synergieeffekte zwischen voneinander isolierten Projekten oder Sektoren aufzudecken. Das daraus entwickelte Leitbild soll handlungsleitend für die beteiligten regionalen Akteure sein.“ (Böcher/Tränkner 2008: S. 113)
Nutzung früher Erfolge Das Vorhandensein schon erfolgreicher Projekte dient unmittelbar zur Akzeptanzsteigerung von regionalen Entwicklungsstrategien. Erfolgreiche Zielerreichung schon in der Frühphase von Projekten der Regionalentwicklung kann zum Weitermachen motivieren, beweist skeptischen Akteuren die Wirksamkeit neuartiger Konzepte, überzeugt Kritiker und stärkt das Vertrauen in diejenigen, die das regionale Management betreiben. Vorher skeptische Akteure lassen sich durch frühe Erfolge zur Mitarbeit bewegen; frühe Erfolge fördern Kooperation. Erfolg dient also zur Legitimations- und Akzeptanzsteigerung einer neuartigen nachhaltigen Regionalentwicklungsstrategie. Im bereits erwähnten Beispiel der Region „Südlicher Steigerwald“ sorgte der Erfolg des Naturschutzprojektes „Lebensadern für Mensch und Natur“, das erfolgreich Hochwasser zu vermeiden half und eine Vielzahl an Naturschutzpreisen gewann, für die Entstehung einer breiten Kooperation zur nachhaltigen Regionalentwicklung: Die für jeden in der Region
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sichtbaren Erfolge des Naturschutzprojektes ließen auch die Skeptiker verstummen (Weigand 2001). Regionale Promotoren Eine erfolgreiche nachhaltige und integrierte ländliche Regionalentwicklung kommt nur zustande, wenn in einem gewissen Grade einzelne Personen sich mit höchstem Einsatz engagieren. Als Integrationsfiguren wichtig sind regional angesehene Persönlichkeiten, die auch persönliche Kosten auf sich nehmen, um konkrete Projekte verwirklicht zu sehen und öffentlichkeitswirksam für diese einstehen. Solche Promotoren fungieren gewissermaßen als „Zugpferde“, die andere überzeugen und mitreißen. Entscheidend ist allerdings, ob die Promotoren tatsächlich über ausreichende Legitimation in der Region verfügen. Ohne ein „Standing“ und die Akzeptanz bei mächtigeren Akteuren können diese Promotoren ihre Wirkung nicht entfalten. Entscheidend ist dann, ob es gelingt, Verbündete zu gewinnen oder andere Persönlichkeiten mit höherer Legitimation als Partner zu gewinnen. Promotoren verfügen über die richtigen Kontakte, kennen die politischen Strukturen und Machtverhältnisse in der Region und wissen, wann Sie mit welchen Akteuren sprechen müssen. Sie sind in der Lage, aufgrund ihrer Reputation andere zu überzeugen und Skeptiker in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Entscheidend ist allerdings auch die Fähigkeit zur Delegation von Aufgaben: Wenn regionale Promotoren alles in Eigenregie machen, kann der Prozess zu stark an ihre Person gekoppelt sein und die Gefahr entstehen, dass im Falle ihres Ausscheidens der Entwicklungsprozess zum Erliegen kommt. Starke Partner Die kooperative Verwirklichung von Prozessen nachhaltiger und integrierter ländlicher Entwicklung gelingt dann, wenn es den Initiatoren gelingt, einflussreiche und durchsetzungsfähige Akteure zur Projektunterstützung zu gewinnen. Diese sind Akteure, die über gewisse finanzielle, personelle, informationelle und (macht-)politische Ressourcen verfügen, welche die Projektinitiatoren für sich nutzen können. Das politische Gewicht der regionalen Projekte nimmt zu, sobald regionale „Größen“ (Bürgermeister, Landräte etc.) als Verbündete gewonnen werden können und ihre regionalpolitischen Ressourcen für die Projekte ins Spiel bringen. Dies sorgt zudem für weitere Unterstützer, welche dann die Wichtigkeit und Förderwürdigkeit von Projekten gerade durch solche starken Akteure erkennen und sich dann anschließen. Starke Unterstützer sorgen also dafür, den regionalen Projektinitiativen weitere Türen zu öffnen und ihre Interessen gegenüber denjenigen, die den Status quo erhalten wollen, durchzusetzen. Im „Isenhagener Land“ in Niedersachen (Südlicher Landkreis Gifhorn) überzeugte die Regional-
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entwicklungsinitiative bei der Umsetzung von LEADER+ den Vorsitzenden des Kreisbauernverbandes (Landvolk), gleichzeitig angesehener Lokalpolitiker, den Vorsitz der Lokalen Aktionsgruppe zu übernehmen. So konnte das Vertrauen gerade der zunächst äußerst kritischen Landwirtschaft und der beteiligten Gemeinden in die Arbeit der Initiative gestärkt werden, weil beide Akteure, Landwirte und lokale politische Funktionsträger, ihre Interessen im Regionalentwicklungsprozess an einer entscheidenden Position ausreichend eingebunden und vertreten sahen. Überschaubarkeit und Anschlussfähigkeit Nachhaltige und integrierte ländliche Regionalentwicklung wird zum Erfolg durch klare und überschaubare Umsetzungsstrukturen mit wenigen Handlungsfeldern und anspruchsvollen, aber dennoch erreichbaren Zielen, die mit konkreten Einzelprojekten verwirklicht werden sollen. In der Praxis sollte die Regionalentwicklung als Mix aus Projekten, die bereits kurzfristig Erfolge aufzeigen, und anderen längerfristigen Maßnahmen etabliert werden. Zu Beginn sollten vor allem überschaubare Projekte mit schnellen, vorzeigbaren Erfolgen stehen, um Kritiker zu überzeugen. Längerfristige Projekte sollten dahingehend parallel geplant und erst später umgesetzt werden. Die Erfolgswahrscheinlichkeit steigt, wenn der ländliche Entwicklungsprozess an vorhandenen Strukturen und Erfahrungen ansetzen kann (Förderprogramme, bereits gestartete Projekte, vorhandene REK usw.). Wichtig ist dabei die frühe Kommunikation mit anderen regionalen Akteuren, die bereits Anläufe in eine ähnliche Richtung unternommen haben. Wichtig ist auch, dass ländliche Regionalentwicklungsinitiativen von Anfang an versuchen, die lokale und regionale Politik ins Boot zu holen, da ein ländlicher Entwicklungsprozess in den meisten Fällen nicht erfolgreich verlaufen kann, wenn Politik und Verwaltung als wichtige potenzielle Unterstützer nicht integriert sind. Beteiligung Als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Regionalentwicklung wird die dauerhafte Institutionalisierung von Kooperation im regionalen Akteursnetzwerk verstanden. Hierbei soll auf das vorhandene Netzwerkpotenzial zurückgegriffen werden (schließlich bestehen bereits regionale Akteursbeziehungen), um neue Netzwerke zu aktivieren. Wichtig ist, dass alle für die jeweiligen Projekte relevanten Akteure ohne Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten am Netzwerk beteiligt werden. Die Kooperation konstituiert sich über das allen Akteuren gemeinsame Regionalbewusstsein bzw. Leitbild der anzustrebenden Entwicklung und soll transparent und prinzipiell offen ausgestaltet werden. Wichtig ist dabei, dass sich alle interessierten Akteure prinzipiell am Netzwerk beteiligen können und
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eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit diejenigen informiert, die (noch) nicht aktiv mitarbeiten wollen. Dies sorgt für eine Steigerung der Akzeptanz und Legitimation des Entwicklungsprozesses. Dies ist wichtig, da die beteiligten Akteure über keine formale Legitimation ihrer Beteiligung verfügen (z.B. durch eine Wahl). Eine Möglichkeit, die Legitimation des Entwicklungsprozesses zu steigern, stellt daher eine ausgewogene, faire und transparente Beteiligung aller für eine Region relevanten Gruppen dar, wobei auch wichtig ist, dass fortlaufend die Möglichkeit für neue Akteure besteht zu partizipieren (vgl. Böcher/Tränkner 2008). Regionalmanagement als organisatorischer Kern Ein wichtiger Beitrag für den ländlichen Regionalentwicklungsprozess ist die Etablierung eines Regionalmanagements, das die Funktion eines organisatorischen Kerns wahrnimmt. Das Regionalmanagement besteht meist aus einem Regionalmanager/einer Regionalmanagerin und 2–3 Mitarbeitern. Diese stellen „Kümmerer“ dar, die die Zusammenarbeit der Akteure einer Region organisieren und moderieren. Beim Regionalmanagement sollen die Fäden des ländlichen Entwicklungsprozesses zusammenlaufen. Es sorgt als Zentrum des regionalen Netzwerks dafür, dass relevante Akteure in den Entwicklungsprozess eingebunden werden und berät potenzielle Projektträger bei der Projektkonzeption, den Förderanträgen und der Umsetzung. Zudem dient das Regionalmanagement auch als Schnittstelle zwischen regionalem Entwicklungsprozess und den lokalen, regionalen und übergeordneten politischen Ebenen.
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Fazit
Die dargestellte Auswahl an Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung einer nachhaltigen und integrierten ländlichen Regionalentwicklung macht deutlich, dass Nachhaltigkeit und Kooperation als relativ unverbindliche Begriffe allein nicht ausreichen, um tatsächlich Entwicklungsprozesse im ländlichen Raum in Gang zu bringen. Vielmehr handeln regionale Akteure ihre gemeinsamen Entwicklungsziele miteinander aus. Die Strategiefähigkeit der Initiatoren und Promotoren solcher Prozesse, sich über diese Prozessfaktoren bewusst zu werden und möglichst dauerhafte Win-win-Kooperationen aufzubauen, die gewisse Misserfolgsfallen gar nicht erst entstehen lassen, gerät schließlich zum entscheidenden Faktor für die tatsächliche Umsetzung nachhaltiger und integrierter ländlicher Regionalentwicklung. Zwar ist es aufgrund der Vielgestaltigkeit und individuellen Probleme ländlicher Regionen nicht möglich, für alle Regionen
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übergreifende allgemeine Erfolgsgarantien zu formulieren: Welche in einem spezifischen Fall die zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen sind, wer in einer Region einen zu integrierenden starken Partner darstellt oder wie man die politische Ebene adäquat in den Entwicklungsprozess integriert, kann sich von Region zu Region unterscheiden. Die hier vorgestellten Erfolgsfaktoren können aber den regionalen Entwicklungsinitiativen helfen, ihr regionales Umfeld und dessen Entwicklungsbedingungen zu analysieren und eine regionalspezifische angepasste politische Umsetzungsstrategie zu entwickeln. Entscheidend ist, dass Akteure regionaler Entwicklungsinitiativen nachhaltige und integrierte ländliche Regionalentwicklung als politischen Prozess versteht und versuchen, diesen im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten unter Beachtung dieser Erfolgsfaktoren entsprechend zu beeinflussen. Darüber hinaus sind – auf den übergeordneten politischen Ebenen – eine integrierte Politik für den ländlichen Raum und entsprechende Förderprogramme notwendig, die die Politik für ländliche Räume nicht mehr länger mit Agrarpolitik gleichsetzen, sondern tatsächlich politische Rahmenbedingungen für den ländlichen Raum schaffen, die soziale, ökologische und ökonomische Aspekte über Sektoralpolitik hinaus miteinander verbinden. Dabei müssen politische Förderprogramme bzw. -prinzipien wie „LEADER“ und „Regionen Aktiv“ mittel- bis langfristig ein deutlich höheres Gewicht als bisher bekommen, damit sie mehr darstellen als nur eine Leuchtturm- oder Schaufensterpolitik, die innerhalb der gesamten EU-Agrarpolitik nur einen recht geringen Anteil einnimmt.
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Landschaftsschutz durch Landnutzung
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Landschaftsschutz durch Landnutzung Martin Fuchs
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Einleitung
Die Erhaltung der natürlichen Ressourcen steht seit geraumer Zeit im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Insbesondere gestützt durch den Brundtlandbericht 1987 und durch die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 sowie zahlreiche weitere Initiativen haben Nachhaltigkeitsüberlegungen einen breiten Eingang in die Diskussion der Landnutzung erhalten. Landschaft kann vor dem historischen Kontext der Entwicklung in Mitteleuropa nur als Kulturlandschaften, entstanden aus dem prozessualen, fortwährenden Zusammenwirken von Mensch und Landschaft, verstanden werden. Eine Entwicklung, die mit der neolithischen Revolution vor rund 10.000 Jahren, mit der Einführung von Ackerbau und Viehhaltung, das heißt einer „produzierenden Wirtschaftsweise“, eingeleitet wurde und in Mitteleuropa zu einer vollständigen Durchdringung der Landschaft durch den Menschen geführt hat (DIE ZEIT; 2006). Neben der historischen Dimension hat Kulturlandschaft eine ästhetische, sozio-kulturelle und emotionale, eine ideologische, eine rechtliche, eine ökonomische und auch eine naturwissenschaftliche Komponente. Konold (2007; S. 1) fasst die verschiedenen Gesichter der Kulturlandschaft wie folgt zusammen: •
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„Sie ist – beziehungsweise hat gefälligst zu sein – ökologisch funktionsfähig, stabil und im Gleichgewicht befindlich. Das ist die abstrakt-funktionalistische Sichtweise (die im Übrigen im Kern auch eine starke moralische Komponente besitzt). Sie ist die natürliche Umwelt des Menschen (stereotyppolitische Sichtweise). Sie ist das je regionale Ergebnis des Prozesses der Auseinandersetzung des Menschen mit einer Naturlandschaft, auch von kleinräumigen Lösungen und nicht immer der Ratio folgend (kulturgeografischprozessuale Sichtweise). Sie ist die Summe der im Landschaftsbild sichtbaren kulturellen und rechtshistorischen Artefakte (denkmalpflegerische Sichtweise). Sie bietet uns biologische Vielfalt (biologisch-anthropozentrische Sichtweise).
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Sie bietet uns ästhetische Vielfalt, Anreize und ist damit Ort und Gegenstand der Sinnlichkeit. Sie vermittelt uns Harmonie, angemessene Maßstäblichkeit, verträgliche Dimensionen. Sie vermittelt uns Geborgenheit, aber auch partiell Grenzenlosigkeit und das Gefühl der Freiheit!“
Eine vom Menschen unberührte Naturlandschaft gibt es nicht mehr! Dort wo der menschliche Einfluss zurücktritt wie z. B. bei Mooren, Sümpfen und Bruchwäldern finden sich nach wie vor kleinräumige Relikte der ehemaligen Naturlandschaft, die aber als Partialkomplex in die Kulturlandschaft integriert sind. Innerhalb der Kulturlandschaft kann weiter zwischen den naturnahen NutzÖkosystemen der Land- und Forstwirtschaft, die zwar von dem Menschen gesteuert werden, aber immer noch wegen ihrer starken Abhängigkeit z. B. von Boden und Klima wesentlich naturbestimmt sind und den Techno-Ökosystemen, die z. B. im Falle von Gewächshauskulturen vollständig vom Menschen bestimmt sind, unterschieden werden (Knauer; o. J.).
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Gefährdung der Landschaft
Im Hinblick auf die Umweltproblematik ist der Landschaftsschutz eher ein Randthema des öffentlichen Interesses. Hierfür gibt es vielfältige Gründe: Aufgrund der Komplexität der Wirkungsfaktoren sind die Folgen von Eingriffen in den Landschaftshaushalt durch Landnutzungsänderungen oftmals schwer abschätzbar; Landschaften besitzen zum Teil ein erhebliches Puffervermögen, Änderungen vollziehen sich daher oft schleichend und entziehen sich der menschlichen Wahrnehmung (Wechsung; 2001; Umbricht; 2003). Doch sind die negativen, anthropogen bedingten Wirkungen auf die Landschaft unverkennbar. So werden über 72 % der in Deutschland vorkommenden Biotoptypen als gefährdet und knapp 26 % davon als kaum regenerierbar eingestuft (a); o.J.). Bei den Pflanzengesellschaften werden über 60 % und bei den Tier- und Pflanzenarten jeweils knapp 50 % einer Gefährdungskategorie zugeordnet (DERS.). Im Ergebnis führt dies zu einer flächenhaften Homogenisierung und einem Rückgang der Vielfalt. Dabei sind sowohl die genetische Variabilität als auch die Artendiversität sowie die ökologische Vielfalt betroffen. Die Kulturlandschaften als solche, die den Gesamtzusammenhang der Wechselwirkung zwischen Mensch und Mitwelt widerspiegeln sind als Schutzobjekte noch wenig berücksichtigt. Im Rahmen einer bundesweiten Einstufung und Bewertung konnten 858 Einzellandschaften unterschieden werden, von de-
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nen 402 Landschaften mit einem Flächenanteil von knapp 49 % als schutzwürdig eingestuft wurden BFN (b); o.J.). Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Die zunehmende Technisierung und Industrialisierung, der demografische Wandel, die (Zer-)Siedlungspolitik, die meist zu einer irreversiblen Standortzerstörung durch Bebauung, Abbau von Rohstoffen und Auffüllungen führen, gelten nach wie vor als die Hauptursache für den Rückgang der biologischen Vielfalt (Korneck et al; 1998; BFN (a); o.J.). Als zweitwichtigste Gefährdungsursache wird die landwirtschaftliche Nutzung gesehen. Dabei erklärt sich der erhebliche Einfluss der Landwirtschaft auf die Kulturlandschaft schon allein aufgrund der Tatsache, dass über 53 % der Landesfläche landwirtschaftlich genutzt werden. Neben der durch die Intensivierung verursachten Degradation und Nutzungsänderung spielt die Nutzungsaufgabe und der Rückzug der Landwirtschaft, insbesondere aus den peripheren Gebieten, sowie die Reduktion des kultivierten Arten- und Rassespektrums eine gleichgewichtige Rolle. Mitverantwortlich für diese Polarisierung sind die sozioökonomischen und agrarpolitischen Rahmenbedingungen, die zu dem bereits vielfach beschriebenen Strukturwandel führen. Insbesondere sind hierbei die veränderten Produktionsverfahren zu nennen, die sich z. B. in der Vergrößerung der Schläge, der Verengung von Fruchtfolgen, der Abnahme der Strukturvielfalt (Landschaftselemente), verstärktem Maschineneinsatz sowie dem Einsatz leistungssteigernder und ertragssichernder Betriebsmittel wie z. B. Dünge- und Pflanzenschutzmittel widerspiegeln. Insgesamt ist eine Spezialisierung der Betriebsformen festzustellen, die sich auf ein enges ertragsreiches Sorten- und Rassenspektrum konzentriert und langfristig zum Verschwinden ehemaliger Landrassen und Landsorten führt. Betrachtet man den enormen Rückgang der in der Landwirtschaft Beschäftigten, die von 1949 bis 2005 von über 4,8 Mio. um über 80 % auf 0,85 Mio. zurückgingen, so wird deutlich, dass Landwirte selbst zu einer bedrohten Spezies zu rechnen sind (i.m.a und ZMP; 2007; S. 8).
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Nachhaltige Landnutzung
Die Landnutzung (Agrikultur) lässt sich etymologisch von dem lateinischen Verb „colere“ mit den Bedeutungen „bebauen“, „pflegen“, „verehren“ und „bewahren“ sowie dem Nomen „ager“ mit der Bedeutung „Acker“ herleiten. Der bewahrende und pflegliche Umgang mit dem Boden im Sinne einer nachhaltigen Nutzung ist
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danach bereits in der Antike als elementarer Bestandteil der Landnutzung erkannt worden1. Nach Christen (1999; S. 26) lassen sich hinsichtlich einer nachhaltigen Landbewirtschaftung sechs wesentliche Teilbereiche unterscheiden: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
„Ethische Komponente (intergenerationelle Gerechtigkeit) Ressourcenschonung (Schutz von Boden, Wasser und Luft, Erhalt der Produktionsgrundlage) Erhalt der biologischen Vielfalt (Vermeidung der Beeinträchtigung natürlicher oder naturnaher Ökosysteme durch landwirtschaftliche Produktion) Sicherstellung der ökonomischen Existenzfähigkeit landwirtschaftlicher Betriebe Gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Landwirtschaft für Nahrungsversorgung und Nahrungsqualität Globale Komponente einer nachhaltigen Entwicklung“
Neben der ökologischen, ökonomischen und sozialen Kohärenz werden dabei zugleich die räumliche und zeitliche Dimension in das Konzept der nachhaltigen Landbewirtschaftung integriert. Dabei besteht zwischenzeitlich auch Konsens, dass nachhaltige Entwicklung nicht als ein starres Ziel betrachtet wird, das abschließend zu definieren ist, sondern vielmehr als Leitbild, das in einem offen Such-, Lern- und Erfahrungsaustausch unter Beteilung aller gesellschaftlichen Gruppen fortlaufend zu entwickeln ist (Fuchs; 2003). Auf europäischer Ebene wurde bereits mit dem Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 das Prinzip der Nachhaltigkeit für alle Gemeinschaftspolitiken festgelegt. Auf dem Europäischen Rat von Lissabon (15. und 16. März 2000) sowie auf dem Europäischen Rat in Göteborg (15. und 16.06.2001) wurden die strategischen Grundlagen für die nachhaltige Entwicklung in der EU fixiert. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), insbesondere die Reform der so genannten 1. Säule mit den Luxemburger Beschlüssen in 2003 sowie die Neuausrichtung der 2. Säule durch die Brüsseler Beschlüsse zu der Politik für den ländlichen Raum in 2005, ist hierdurch geprägt. ________________ 1 Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Bild des vorindustriellen Landwirts, „der in geglückter Symbiose mit den Naturbedingungen der Landwirtschaft lebt, Ressourcen schont, dezentral und eigenverantwortlich die Nutzung seiner Umwelt reguliert“ (Sieferle; 1988; S. 9) eine verzerrte, romantische Vorstellung ist, die einerseits wenig mit dem kargen Landleben früherer Zeiten gemein hat und die auch die naturzerstörerische Wirkung der frühen Landbewirtschaftung z.B. durch massive Erosionskatastrophen im Rahmen von Walrodungen oder durch massive Überweidungen, ausblendet (vgl. hierzu Glackrn; 1988; Brake; 1988).
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Integrierte Landnutzung
Hinsichtlich der Möglichkeiten, die ein Handlungskonzept „Schutz durch Nutzung“ begründet, gilt es zu bedenken, dass die landwirtschaftliche Tätigkeit insbesondere in die sozio-ökonomischen und agrarpolitischen Rahmenbedingungen eingebettet ist. Das heißt u.a. die Produktionsverfahren im Feldbau oder der Tierhaltung sind zunächst unabhängig von der Produktionsweise (integrierter oder ökologischer Landbau) auf eine betriebswirtschaftliche Optimierung der Wachstums- und Entwicklungsbedingungen der Produktionsfaktoren ausgerichtet. Weitere Koppelprodukte, wie z.B. die Schönheit der Kulturlandschaft, werden vom Landwirt unentgeltlich erzeugt. D.h. der Markt als Kommunikationsebene zur Steuerung von Angebot und Nachfrage gibt im Falle von öffentlichen Gütern, wie der Erzeugung einer schönen Kulturlandschaft ein verzerrtes Bild wider. Im Rahmen der landwirtschaftlichen Produktion zeigt sich das Marktversagen dabei in zweifacher Weise. Von der Nutzung von öffentlichen Gütern wie der Schönheit der Kulturlandschaft kann niemand ausgeschlossen werden, so dass für den Einzelnen kein Anreiz besteht, ein solches Gut, von dem andere dann unentgeltlich profitierten, gewissermaßen auf eigene Kosten bereitzustellen. Zum anderen werden die negativen Umweltwirkungen auf die öffentlichen Güter nicht in die einzelbetriebliche Kostenkalkulation einbezogen, sondern in Form von so genannten externen Kosten der Allgemeinheit aufgebürdet. Da der Markt aus sich heraus, dieses Problem nicht lösen kann, ist eine Korrektur durch staatliches Eingreifen erforderlich. D. h., der strategische Ansatz Schutz durch Nutzung kann nicht isoliert als Allheilmittel gesehen werden, da eine rein betriebswirtschaftliche ausgerichtete Nutzung der Kulturlandschaft z.B. den Schutz einzelner Arten nur unzureichend sicherstellen kann. Nicht weniger problematisch wäre es, den Schutz der natürlichen Ressourcen als „Pflegefall“ auf wenige Rückzugsgebiete zu reduzieren. Die Entwicklung der Kulturlandschaft dauert auch heute noch an, eine rein konservierende Betrachtungsweise kann deshalb den Erfordernissen einer nachhaltigen Entwicklung der Kulturlandschaft nicht genügen. Damit die nachhaltige Landnutzung nicht zu einer Worthülse verkommt ist daher ein Instrumentenmix erforderlich, der zum einen die notwendigen Nutzungsmöglichkeiten und betrieblichen Entwicklungschancen ermöglicht und zum anderen auch den erforderlichen Schutz für eine Koexistenz der Mitwelt bietet.
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Für die Steuerung der landwirtschaftlichen Nutzung stehen grundsätzlich die in der Tab. 1 genannten Instrumente zur Verfügung. Tabelle 1:
Instrumente zur Nutzungssteuerung
Instrumente zur Nutzungssteuerung Regulative Instrumente Planerische Instrumente Marktwirtschaftliche Instrumente
Kooperation Information
Beispiele − Ge- und Verbote − Grenzwertsetzung Bewirtschaftungspläne; Landschaftsplan Öffentliche Einnahmen − Preisgestaltung, Gebühren Öffentliche Ausgaben − Beihilfen − - Netzwerkbildung − - Selbstverpflichtung − - Umweltmanagementsysteme − - Beratung − - Monitoring und Evaluierung
Nachfolgend soll anhand einiger Beispiele auf Kombinationen einzelner Instrumente eingegangen werden. Biosphärenreservate Der gedankliche Ansatz des integrierten Landschaftsschutzes ist inhaltlich nicht neu. Bereits 1970 wurde der flächendeckende Landschaftsschutz in der UNESCO-Konvention „man and the biosphere“ (MAB) skizziert und über die weltweite Ausweisung von Biosphärenreservaten umgesetzt. „Biosphärenreservate sind heute als Modellregionen für eine nachhaltige Entwicklung“ zu sehen (Sahler; 2007). Kern der Konzeption bilden dabei drei Zonen mit unterschiedlichem Kulturgradienten. Die Kernzone (core area) soll sich als Wildnisgebiet vom Menschen weitgehend unbeeinflusst entwickeln können. Der Zugang ist daher nur zu Forschungszwecken erlaubt. In der Pflegezone (buffer zone) soll eine naturnahe Bewirtschaftung z.B. aus der Kombination von Land-, Forstwirtschaft und Tourismus durchgeführt werden. In der Entwicklungszone, die z.B. auch Siedlungsflächen mit einschließt, steht die Erarbeitung umweltfreundlicher Wirtschaftskonzepte im Vordergrund. Dass dieser konzeptionelle Ansatz auch in der Praxis funktioniert lässt sich zum Beispiel am Biosphärenreservat Rhön, das 1991 als zwölftes deutsches Bio-
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sphärenreservat mit einer Gesamtfläche von knapp 185.000 ha anerkannt wurde, zeigen (Rahmann; Tawfik; 2001). Prägend für dieses Gebiet in der Mitte Deutschlands, das die Bundesländer Bayern, Hessen und Thüringen verbindet, wurde das Rhönschaf. Noch in den 60er Jahren vom Aussterben bedroht, haben sich die Bestände zwischenzeitlich stabilisiert. Damit konnte einer der ältesten urkundlich erwähnten Landschafrassen „on farm“ erhalten werden. Das Rhönschaf trägt dabei als idealer Verwerter des mageren Aufwuchses von Borstgrasrasen und Kalk-Magerrasen zum Erhalt der einmaligen Kulturlandschaft bei. Zwischenzeitlich hat sich auch eine Vielzahl von Vermarktungsinitiativen etabliert, die neben dem Rhönschaf die verschiedensten Produkte aus der Region vermarkten und so zu einer nachhaltigen regionalen Verzahnung von Tourismus, Handwerk, Gastronomie und Landwirtschaft führen. Förderung nachhaltiger Landbewirtschaftung im Rahmen der ländlichen Entwicklungsprogramme Die Fördermöglichkeiten der ländlichen Entwicklungsprogramme basieren auf dem in der ELER-Verordnung (2005)2 vorgegeben Rahmen. Der konzeptionelle Ansatz umfasst dabei Maßnahmenkombination mit den drei Schwerpunkten 1. 2. 3.
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft, die Verbesserung der Umwelt und der Landschaft, die Verbesserung der Lebensqualität und Entwicklung des ländlichen Lebensraums.
Der ländliche Raum wird damit nicht als reiner Agrarraum gesehen. Insbesondere durch den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Schwerpunkt 2) sowie durch außerlandwirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten (Schwerpunkt 3) sollen im ländlichen Raum Entwicklungsperspektiven entstehen. Der nachhaltigen Landbewirtschaftung z.B. durch Agrarumweltmaßnahmen kommt dabei bei der Erhaltung der Kulturlandschaft insbesondere im Hinblick auf die im Rahmen der GAP-Reform umgesetzte Entkopplung der Subventionen der 1. Säule eine bedeutende Rolle zu. Entsprechende zusätzliche Leistungen seitens der Landwirtschaft können beim Landwirt „eingekauft“ werden. Die öffentliche Hand (EG – Bund – Land) tritt dabei quasi als Marktpartner auf, um das oben erwähnte Marktversagen bei öffentlichen Gütern abzufedern (Fuchs; 2003). ________________ 2 Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 DES RATES vom 20. September 2005 über die Förderung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER); ABI. L 277 vom 21.09.2005.
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Seit 01.01.2007 werden Agrarumweltzahlungen nur noch für Verpflichtungen gewährt, die über die bereits seit 01. Januar 2005 für die ersten Säule geltenden Grundanforderungen gemäß den Artikeln 4 und 5 sowie den Anhängen III und IV der Verordnung 1782/20033 hinausgehen. Darüber hinaus sind die im einzelstaatlichen Recht festgelegten und im ländlichen Entwicklungsprogramm aufgeführten verpflichtenden Minimalanforderungen beim Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln und in anderen Bereichen landwirtschaftlicher Tätigkeiten, zu beachten. Auf der Grundlage dieser „Baseline“ können die mit der Agrarumweltleistung entstehenden Zusatzkosten bzw. Kosten für den entgangenen Nutzen honoriert werden. Insbesondere im Hinblick der Überprüfung der Effizienz und Effektivität sind die Agrarumweltmaßnahmen auf der Grundlage eines abgestimmten Indikatorenrahmens in ein Monitoring und Evaluierungskonzept einzubinden. Kooperation Kooperationen sind in der Regel privatrechtliche Vereinbarungen, mit denen die unterschiedlichen Akteure bestimmte Verpflichtungen eingehen. Dabei können z.B. die starren Regelungsmechanismen von Wasserschutzgebietsverordnungen durch ein flexibleres Gerüst von Einzelabsprachen ersetzt und so den Besonderheiten vor Ort besser Rechnung getragen werden. Allein durch eine konsensuale Zielfindung kann die Zielerreichung relativ unabhängig vom von den Instrumenten deutlich erhöht werden (Jänicke et al; 1999). Die größere Flexibilität schafft nicht nur mehr Akzeptanz bei den Betroffenen, sondern kann auch eine bessere Erfassung der schadensbegründenden Ursachen bewirken und somit die Effektivität der Maßnahmen steigern. Die Kooperationsformen beziehen sich dabei 1. auf Prozesse der Planung und Gestaltung, 2. auf Formen der Erhaltung und Pflege von Naturräumen, 3. auf Verfahren der Konfliktregulierung. In Hessen haben sich z.B. auf Basis der Musterwasserschutzgebietsverordnung Kooperationen zwischen Wasserversorgern und landwirtschaftlichen Betrieben entwickelt. Zwischen den Trägern der öffentlichen Wasserversorgung und den in Wasserschutzgebieten wirtschaftenden Landwirten können selbstverpflichtende Ab________________ 3 Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 DES RATES vom 29. September 2003 mit gemeinsamen Regeln für die Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe; ABI. L 270 vom 21.10.2003
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machungen getroffen werden, die anstelle der Wasserschutzgebietsauflagen treten und eventuell vom Wasserversorger finanziell ausgeglichen und durch eine spezialisierte Wasserberatung begleitet werden. Information und Beratung Für die Landwirtschaft stellt die Beratung ein zentrales Instrument u.a. bei der Erfüllung umweltrelevanter Normen dar. Entsprechend wurde im Rahmen der GAP-Reform an die Mitgliedstaaten die Forderung gestellt bis 01.01.2007 ein Beratungsangebot für die landwirtschaftlichen Betriebe bereitzustellen, das mindestens die Anforderungen an Cross Compliance umfasst. Umweltmanagementsysteme oder integrierte Managementsysteme stellen besonders effektive Instrumente im Hinblick auf eine nachhaltige Landbewirtschaftung dar. Dabei wird u.a. die betriebliche Steuerungsebene durch die Bereitstellung betriebsrelevanter Informationen zu Rechts-, Umwelt- und Qualitätsaspekten verbessert.
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Fazit
Die Landwirtschaft kann insbesondere im Rahmen von integrierten Landnutzungskonzepten einen wichtigen Beitrag für eine nachhaltige Entwicklung der Kulturlandschaft leisten. Dieser Ansatz darf allerdings nicht überfrachtet werden. Spezifische Erhaltungs- und Schutzmaßnahmen werden auch weiterhin notwendig sein. Integrierte Nutzungskonzepte müssen im Sinne einer nachhaltigen Perspektive auch ökonomisch tragfähig bleiben. Hierbei können regionale Kooperationen z. B. mit anderen Landwirten zu Vermarktungsinitiativen oder in Verbindung mit touristischen Aktivitäten von wesentlicher Bedeutung sein. Für die Erhaltung lebendiger und funktionsfähiger Kulturlandschaften sind jedoch weitere Instrumente erforderlich, die zum einen den Menschen, die aus der Landwirtschaft aussteigen eine Perspektive im ländlichen Raum bieten bzw. von denen Anreize zur Wiederansiedlung ausgehen. Der Staat darf sich dabei seiner Verantwortung nicht entledigen und muss z. B. wie im Falle von drohenden Fehlallokationen bei öffentlichen Gütern korrigierend eingreifen.
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Doris Pick
Nachhaltige Landwirtschaft in ländlichen Räumen Doris Pick
Ein Großteil des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens findet in ländlichen Räumen statt. Etwa 65 % der deutschen Bevölkerung lebt außerhalb von Großstädten und mehr als 75 % aller Gemeinden haben weniger als 5000 Einwohner (Deutscher Bundestag 2007). Die vielen Funktionen ländlicher Räume führen zu multifunktionalen Betrachtungsweisen, welche nicht nur in der Agenda 2000 Berücksichtung fanden. Ländliche Räume sind geprägt von einer geringeren Bevölkerungs- und Bebauungsdichte als städtische Räume und mitunter von einer deutlichen Strukturschwäche, die sich in hohen Arbeitslosenquoten, Abwanderungstendenzen und einem hohen Anteil älterer Bevölkerungsschichten äußern kann. Ländliche Räume können auch wirtschaftlich prosperierend sein (siehe z.B. ROB 2005, S.85– 90) zudem verfügen einige über hohe Naturraum- und Tourismuspotenziale. Nach Henkel gibt es in ländlichen Räumen außerdem eine tendenziell höhere Dichte zwischenmenschlicher Bindungen (siehe Henkel 1993, S. 27 f). Nach wie vor prägt die Land- und Forstwirtschaft entscheidend das Landschaftsbild in ländlichen Räumen und sie ist zusammen mit ihren vor- und nach gelagerten Wirtschaftsbereichen regional betrachtet oftmals ein interessanter Baustein nachhaltigen regionalen Wirtschaftens gerade auch in ansonsten strukturschwachen ländlichen Räumen wie etwa in Mecklenburg Vorpommern (siehe hierzu auch ROB 2005, Karte Agrarproduktion, S. 206). Trotz fortschreitender Flächenversiegelung durch Siedlungs- und Verkehrsflächen bewirtschaften landwirtschaftliche Betriebe noch rund 50 % der Gesamtfläche der Bundesrepublik, zusammen mit der Forstwirtschaft steigt dieser Anteil auf etwa 75 % der Landesfläche an. Die Land- und Forstwirtschaft ist immer noch die bedeutendste Flächennutzerin und innerhalb gesetzter Rahmenbedingungen hauptverantwortlich für den Bodenschutz, den Erhalt und das Erscheinungsbild der Kulturlandschaft sowie für die Qualität der erzeugten Nahrungsmittel.
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Strukturelle Entwicklungen in der Landwirtschaft
Die Landwirtschaft ist immer noch einem Strukturwandel unterworfen. Laut dem Agrarbericht der Bundesregierung von 2007 gingen die Arbeitskräfte in der
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Landwirtschaft in ganz Deutschland 2006 um weitere 2,6 % auf rund 1,24 Millionen zurück mit deutlichen regionalen Unterschieden auch zwischen den Alten und Neuen Ländern. Noch etwas über 350000 landwirtschaftliche Betriebe weist der Agrarbericht 2007 für die Bundesrepublik aus. Die durchschnittliche Betriebsgröße lag 2006 bei rund 48 ha, differiert aber unter den Kreisen und Bundesländern noch immer ganz erheblich. Bei der Größenbetrachtung aller landwirtschaftlichen Betriebe tritt das bekannte Nord-Süd /Ost-West Gefälle deutlich hervor, wobei sich weit bis in die Mitte Niedersachsens hinein eine Art kreisförmige Großbetriebsregion abzeichnet (siehe Abb. 1).
Abb. 1:
Betriebsgrößen in der Landwirtschaft insgesamt
Abb. 2:
Betriebsgrößen im Ökologischen Landbau
Deutliche Unterschiede zeigen sich, wenn man den Ökologischen Landbau als ein nachhaltiges landwirtschaftliches Produktionsprofil herausgreift. Eine umfassendere Definition nachhaltiger Landwirtschaft findet sich weiter unten im nächsten Unterkapitel.
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Beim Vergleich der Betriebe mit Ökologischem Landbau bezüglich der Betriebsgrößenstrukturen (siehe Abb. 2) mit der Gesamtheit landwirtschaftlicher Betriebe, ist zu erkennen, dass im Ökolandbau das Nord-Süd/Ost-West Gefälle nicht so deutlich ausgeprägt ist. Es fällt zudem auf, dass Biobetriebe regional – insbesondere in einigen Regionen der Alten Länder, wie dem südlichen Hessen, dem Saarland oder in weiten Teilen von Rheinland-Pfalz – eher zu den größeren Betrieben (über 50 bis 100 ha) gehören.
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Nachhaltige Landwirtschaft
Nach dem DLG-Nachhaltigkeitsstandard ist Nachhaltige Landwirtschaft „ökologisch tragfähig, ökonomisch existenzfähig und sozial verantwortlich“ (siehe Schaffner, Hövelmann 2008, zur Nachhaltigen und Ökologischen Landwirtschaft, siehe auch Piorr & Werner 1998; Stolze et al., 2000; Köpke 2002). Nachhaltig wirtschaftende Landwirtschaftliche Betriebe haben viele Ziele, z.B.: ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, hochwertige Rohstoffe für die Lebensmittel- und Energieproduktion zu erzeugen, natürliche Ressourcen zu schützen und Arbeitsplätze bereitzustellen. Nachhaltige Landwirtschaft erhält die natürlichen Ressourcen, ihre Funktionsfähigkeit auch für die nachfolgenden Generationen und ist sich ihrer globalen Verantwortung bewusst. Landwirtschaftliche Produktionsweisen und Anbauintensitäten beeinflussen eine Vielzahl von Charakteristika und Funktionen ländlicher Räume, wie etwa das Landschaftsbild, Qualität und Image regional erzeugter Agrarprodukte, den regionalen Wohlstand (vgl. auch Nölting et al. 2005), Artenvielfalt und Tourismuspotenzial, aber auch die Versickerungsleistung von Böden (vgl. auch Mäder et al. 2002), damit deren Retentionspotenzial und sind so bis zu einem gewissen Grad mitbestimmend bei der Hochwassergefährdung einer Region. Eine nachhaltige Landwirtschaft ist daher auch aus Gründen des Hochwasserschutzes, des Erhalts der Artenvielfalt, des Boden- und Klimaschutzes regional besonders bedeutsam. Nicht selten finden deshalb landwirtschaftliche Produktionsweisen als Festschreibungen Eingang in regionale Entwicklungsprojekte. Nachhaltige landwirtschaftliche Produktionsweisen wurden auch in die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung aufgenommen. Eine tendenziell besonders nachhaltige Form der Landbewirtschaftung ist der Ökologische Landbau. Ökologischer Landbau ist einer von 21 Indikatoren der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie (Die Bundesregierung 2002). Auch in die analytischen Grundlagen der neuen Leitbilder der Raumordnung wurde der Ökologische Landbau eingebunden. Um nachhaltige Landwirtschaft im Raum ansatzweise zu verorten,
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wurden Indikatoren miteinander verknüpft und ein Gesamtindex abgebildet (Details siehe unter Einig et al. 2006 und Pick 2007): Bei der Auswahl der Indikatoren spielte neben fachlichen Argumenten auch deren bundesweite und aktuelle Kreisweise Verfügbarkeit eine Entscheidende Rolle: Der Indikator „Anteil der im Ökologischen Landbau bewirtschafteten Fläche an der Landwirtschaftlichen Nutzfläche insgesamt“ wurde insbesondere in die Abgrenzung mit aufgenommen wegen der positiven Wirkungen der ökologischen Wirtschaftsweisen auf die Wasserhaltekapazität und den Wasserhaushalt des Bodens sowie auf den Arten- und Biotopschutz. Zusammen mit dem Indikator Dauergrünlandanteil bestimmt er entscheidend das Retentionspotenzial einer Landschaft. Das Dauergrünland prägt in vielen Regionen Deutschlands das Landschaftsbild (siehe Abb. 3) und hat eine herausragende Stellung für den Boden-, Arten-, Biotop- und Hochwasserschutz.
Abb. 3:
Dauergrünland
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Doris Pick
Insbesondere bezüglich der Biodiversität in der Landwirtschaft wäre es auch interessant gewesen, einen Indikator wie etwa das so genannte „Farmland mit hohem Naturwert“ (High Nature Value (HNV) farmland) als Indikator mit aufzunehmen, der die Beziehung zwischen Biodiversität und extensiver Landwirtschaft verdeutlichen soll (siehe Osterburg 2006). Da dieser Indikator aber zur Begleitung und Bewertung der ELER-Verordnung entwickelt wurde, lagen bei Redaktionsschluss der Leitbilder der Raumordnung keine verwertbaren, regional differenzierten Daten diesbezüglich vor. In den Neuen Ländern sind Räume besonders nachhaltiger Landwirtschaft vor allem in weiten Teilen Mecklenburg-Vorpommerns und in Brandenburg zu finden (siehe Abb. 4), wo der Ökologische Landbau deutlich stärker vertreten ist als anderenorts in den Neuen Ländern. In den alten Ländern treten zum Beispiel einige Mittelgebirgsregionen in Hessen und Rheinland-Pfalz, das südliche Bayern und weite Teile Baden-Württembergs als Räume besonders nachhaltiger Landwirtschaft hervor. In den überdurchschnittlich nachhaltigen Räumen der Nordseeküste wirken sich vor allem die hohen Dauergrünlandanteile (siehe Abb. 3) für eine Verbesserung der regionalen Nachhaltigkeit landwirtschaftlicher Flächennutzung besonders aus.
Abb. 4:
Nachhaltige Landwirtschaft
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Ökologischer Landbau kann auch für Klimaschutzfragen eine interessante Alternative sein, z. B. weil er zwischen 15 und 28 % mehr Kohlenstoff pro ha LF und Jahr im Boden bindet als bei konventioneller Wirtschaftsweise, also etwa 1750 kg CO2 je ha LF, die nicht in die Luft gelangen (siehe Umweltinstitut München 2005). Auch im Bereich der sozial-ökonomischen Nachhaltigkeit hat die Ökologische Landwirtschaft Vorteile. So weisen die Agrarberichte der Bundesregierung der letzten Jahre für den Ökologischen Landbau verglichen mit der konventionellen Vergleichsgruppe nicht nur höhere Gewinne aus sondern auch einen höheren Einsatz an Arbeitskräften je 100 ha. Zu den Vorteilen sozialer Landwirtschaft siehe auch den Beitrag von Maria Kalisch in dieser Buchpublikation.
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Entwicklung der Ökologischen Landwirtschaft
In den Neuen Ländern liegen 2005 prozentual betrachtet die bedeutendsten Hochburgen des Ökologischen Landbaus, wobei im Bundesländervergleich prozentual die meisten landwirtschaftlichen Betriebe in Mecklenburg-Vorpommern und prozentual die größten Flächenanteile in Brandenburg ökologisch bewirtschaftet werden. Absolut gesehen gibt es dagegen in Bayern die weitaus größten Bioflächen und dicht gefolgt von Baden-Württemberg die meisten Biobetriebe (zur Entwicklung der Bioflächen und Betriebe auf Bundeslandebene über verschiedene Jahre siehe SÖL 2007). Die hier ausgewerteten Daten zum Ökologischen Landbau entstammen der Agrarstrukturerhebung des Jahres 2005, wobei die Angaben für einige Kreisfreie Städte sowie für das Bundesland Hessen geschätzt wurden auf der Basis von Vorjahreswerten, gewichtet mit den durchschnittlichen Zu- oder Abnahmen benachbarter Kreise und Regionen. Um die Flächen der Betriebe mit ökologischem Landbau in Bezug zu setzen mit der landwirtschaftlichen Nutzfläche (LF) insgesamt, wurde auch die Entwicklung der LF eingehender betrachtet. Dabei fällt auf, dass die LF 2005 eine Ausweitung gegenüber der letzten Agrarstrukturerhebung von 2003 erfahren hat. Jede Flächenveränderung hat ihre Ursachen und eine Vergrößerung der LF im Jahresvergleich wirft mehr Fragen auf als die (erwartete) Verkleinerung. Im konkreten Fall – 2005 gegenüber 2003 – betrug sie rund 17000 ha. Nach mündlicher und schriftlicher Mitteilung des Statistischen Bundesamtes und des Statistischen Landesamtes von Mecklenburg-Vorpommern hat die Flächenausweitung folgende Ursachen: Bis einschließlich 2004 erhielten Landwirte vom Anbauumfang abhängige produktgebundene Subventionen, z. B. für Getreide und Ölfrüchte, um geringe Verkaufserlöse wegen niedriger Preise auszugleichen. Ab 2005 fiel diese Produkt-
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Doris Pick
bindung der Direktzahlungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – weg und als Bemessungsgrundlage für flächenbezogene Agrarförderungen wird seither die landwirtschaftliche genutzte Fläche (LF) des Gesamtbetriebes herangezogen. Damit erhielt die Landwirtschaft zwar größere Entscheidungsfreiheit im Anbau auf dem Ackerland – sie ist wirtschaftlich nicht mehr so stark darauf angewiesen, vor allem die Kulturen anzubauen, für die sie bisher eine Anbauprämie erhielt. Da seither aber die Gesamtfläche in die betriebliche Förderung einfließt, meldet der Landwirt nun auch entsprechend alle seine Flächen detailliert an, auch die bisher nicht förderfähigen und mitunter vergessenen.
Abb. 5:
Ökologischer Landbau 2005
Abb. 6:
Ökologischer Landbau 1999
2005 gab es laut Agrarstrukturerhebung rund 14000 Betriebe mit Ökologischem Landbau (3,4 % aller landwirtschaftlichen Betriebe). Diese bewirtschafteten etwa 782500 ha LF. Bundesweit wurden demnach von den Biobetrieben etwa 4,6 % der LF biologisch bewirtschaftet. In den Neuen Ländern lagen die prozentualen Werte dabei deutlich über denen des früheren Bundesgebietes. 3,2 % Biobetriebe an allen landwirtschaftlichen Betrieben in Westdeutschland stehen mit rund 6,4 % anteilig etwa doppelt so viele in Ostdeutschland gegenüber. Bei der Anbaufläche sind es 3,8 % im Westen und 6,2 % im Osten. Dabei schwanken die
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Werte innerhalb der Neuen Länder auf Betriebsebene zwischen 3,4 % in Sachsen und knapp 12 % in Mecklenburg-Vorpommern. In der Flächenausstattung liegen die Prozente zwischen 3,1 % in Thüringen und knapp 10 % in Brandenburg. Zwischen 1999 (siehe Abb. 6) und 2005 (Abb.5) hat eine deutliche Ausweitung des Ökologischen Landbaus stattgefunden. Auf Betriebsebene handelt es sich um etwa 4100 Betriebe oder um eine rund 43%ige Steigerung und im Bereich der Anbauflächen betrug die Ausdehnung etwa 294.000 ha oder über 37 %. Die Ausdehnung erfolgte vor allem im Nordosten der Neuen Länder, im Süden der Länder Thüringen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, im Nordosten Niedersachsens und in weiten Teilen Bayerns sowie im nördlichen Großraum des Bodensees. Im Nordwesten Baden-Württembergs scheint die Flächenentwicklung dagegen teilweise rückläufig gewesen zu sein. Neben den statistischen Ursachen entsprechend der diskutierten Folgen der Ausweitung der LF in 2005 (welche die relative flächenmäßige Bedeutung des Ökolandbaus an der LF insgesamt entsprechend reduziert) mag eine andere Ursache hierfür in der nicht mehr fortgeführten Umstellungsprämie zu suchen sein, welche in Baden-Württemberg seit 2004 nicht mehr gezahlt wurde. Der regionale Wegfall der Umstellungsprämie erschwert die Neuausrichtung von Betrieben beziehungsweise das Wachstum und die Flächenerweiterung vorhandener Ökobetriebe. Dies kann auch dazu führen, dass ein Landwirt die politischen Signale der Streichung der Umstellungsprämie als Abkehr von einer Honorierung der ökologischen und sozialen Leistungen des Ökologischen Landbaus generell deutet und seine persönliche Investitionsentscheidung wieder verstärkt in der konventionellen Landwirtschaft tätigt. Eine Wiedereinführung der Umstellungsprämie wurde in Baden-Württemberg allerdings vorgenommen und dürfte tendenziell entsprechende flächenmäßige Wachstumseffekte mit sich bringen.
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Nachhaltige Landwirtschaft und Arbeitsmarkt
Die Agrarproduktion sowie die von ihr bereitgestellten Arbeitsplätze tragen regional in den Neuen Ländern überdurchschnittlich zur Wertschöpfung bei (vgl. auch Kapitel zur Ländlichen Entwicklung im Raumordnungsbericht 2005). Auch bei der Umstellung von konventionellen Betrieben auf Ökologischen Landbau sind entsprechend den eingangs betrachteten Zahlen des Agrarberichtes zum Arbeitskräfteeinsatz in unterschiedlichen Landwirtschaftlichen Produktionssystemen positive Wirkungen für die regionalen Arbeitsmärkte zu erwarten. Untersucht man den Arbeitskräftebesatz regional differenziert (siehe Abb. 7), so entdeckt man ein deutliches Süd-Nord-Gefälle, wobei besonders wenig
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Doris Pick
Arbeitskräfte pro Flächeneinheit im Norden der Neuen Bundesländer, insbesondere in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zum Einsatz kommen. Betrachtet man wie in den Agrarberichten der Bundesregierung üblich die in den neuen Ländern vielfach vorkommenden juristischen Personen unter den landwirtschaftlichen Großbetrieben bezüglich ihres AK-Einsatzes detaillierter (siehe auch Agrarbericht 2007), so fällt auf, dass unter ihnen die Genossenschaften mit rund 1,9 AK je 100 ha LF fast 19 % mehr Arbeitskräfte zur Bewirtschaftung ihrer Flächen einsetzen als GmbHs mit rund 1,6 AK je 100 ha.
Abb. 7:
Arbeitskräfte in der Landwirtschaft
Abb. 7 zeigt mit ihren schraffierten Signaturen die aktuellen Arbeitslosenquoten im Februar 2007. In den Regionen der Neuen Länder mit den höchsten Arbeitslosenquoten wird am wenigsten Personal bei der Landbewirtschaftung eingesetzt. Nicht das hier zwingend ein direkter Zusammenhang besteht. Gleichwohl kann ein landwirtschaftlicher Großbetrieb in einer dünn besiedelten Region je nach Art
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der Arbeitsorganisation und der ausgewählten Produktionsverfahren den lokalen Arbeitsmarkt beeinflussen. Vielleicht könnten manche Betriebe bei Prüfung ihrer Entwicklungspotentiale und/oder Änderung ihres Arbeits- und Kapitaleinsatzes doch noch eine Arbeitskraft einstellen. Aus einem höheren Arbeitskräftebesatz je ha, welcher vor allem im Süden der Neuen und Alten Länder vorliegt, kann nicht automatisch geschlossen werden, dass in solchen Regionen eher veraltete oder unrentable Wirtschaftsweisen zum Tragen kommen bzw. der technische Fortschritt keine genügende Verwendung findet. Die Substitution von Arbeit durch Kapital ist nicht automatisch erstrebenswert oder ein Indiz für (technischen) Fortschritt. Der Agrarsoziologe Kötter hat bereits Ende der 70er Jahre zu den Auswirkungen agrartechnischer Entwicklungen gesagt: „Wenn man die Meinung, man solle den technischen Fortschritt mehr nach seinen Auswirkungen auf den Menschen beurteilen, als konservativ bezeichnet, dann ist ein solcher Konservativismus heute größte Progressivität.“ (Kötter 1977) Es soll an dieser Stelle an eine Lehrpraxis des BWL-Lehrstuhls im Fach Agrarwissenschaften der Universität Bonn der späten 80er und frühen 90er Jahre erinnert werden, wo Herr Prof. em. Scomroch für die Einstellung einer zusätzlichen AK bei Deckung der Grenzkosten der damit verbundenen zusätzlichen Investitionen warb, auch wenn dadurch (kurz- bis mittelfristig) nicht wirklich nennenswerte zusätzliche Gewinne erzielt werden. Will ein Unternehmen eine zusätzliche AK einstellen ist dies in der Regel mit zusätzlichen Investitionen verbunden. Die daraus sich ableitenden Folgewirkungen sind meistens positiv für die Region und die in ihr wirtschaftenden Betriebe. Nicht das hierdurch großräumige regionale Effekte erwartet werden könnten, wohl aber verschafft die zusätzliche Investition und die mit ihrer Hilfe produzierten zusätzlichen Güter und Dienstleistungen nicht nur einem (oder mehreren) Menschen Arbeit, sondern häufig auch kurz- bis mittelfristig investitionsbedingte Folgeaufträge für andere Firmen in der Region. Sie wirkt so tendenziell der Abwanderung auch von jungen gut ausgebildeten Menschen entgegen und trägt dazu bei, dass leer stehende Gebäudesubstanz genutzt werden kann – etwa durch die Einrichtung eines neuen Verarbeitungsbetriebszweiges. Gleichzeitig entsteht mehr Kaufkraft in der Region, welche wiederum bei direkt vermarktenden Betrieben auch diesen zu Gute kommen kann. Auch bei der Umstellung von konventionellem auf biologischen Landbau können wie bereits betrachtet, positive Effekte für den regionalen Arbeitsmarkt entstehen. Noch immer gibt es z. B. zu wenig Bioverarbeiter in den Neuen Bundesländern, insbesondere in Brandenburg. Es werden regional Landwirte und andere Unternehmer gesucht, die in die professionelle Verarbeitung von Lebensmitteln investieren
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wollen – auch als Zulieferer für den stark expandierenden Berliner Biomarkt (vgl. BIOwelt Jan. 2007). Auch in das neue Modellvorhaben der Raumordnung „Demographischer Wandel – Zukunftsgestaltung der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen“ sind Projekte zum Vertrieb regionaler Biolebensmittel eingebunden (siehe www.Region-schafft-Zukunft.de). Neben der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln und den damit verbundenen positiven Arbeitsmarkteffekten ist die Landwirtschaft heute entsprechend dem Europäischen Leitbild einer Multifunktionalen Landwirtschaft auch in anderen Bereichen ländlicher Entwicklung, wie dem Umweltund Kulturlandschaftsschutz, sanftem Tourismus, Klima- und Hochwasserschutz oder den Erneuerbaren Energien aktiv.
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Nachhaltige Landwirtschaft und Erneuerbare Energien
Rund 4,6 Prozent trugen erneuerbare Energien insgesamt im Jahr 2005 zur Deckung des Primärenergiebedarfs in Deutschland bei. Davon entfielen rund zwei Drittel auf Biomasse. In Deutschland wurden im Jahr 2006 auf 1,56 Mio. ha nachwachsende Rohstoffe angebaut. (siehe Agrarbericht 2007) Gleichwohl kann nach derzeitigen Schätzungen das Biomasseaufkommen national und weltweit nur eher kleinere Teile der künftigen Energieversorgung übernehmen, insbesondere wenn sich der Primärenergieverbrauch nicht verringert. Berechnungen des BBR zufolge liegen die derzeitigen Substitutionspotenziale der Biomassereststoffe Stroh, Waldrestholz und Gülle in Deutschland zusammen genommen – gemessen am derzeitigen Primärenergiebedarf – im einstelligen Bereich. Auch der Beitrag speziell angebauter Biomasse ist beschränkt. (BBR 2006) Dies liegt sowohl an der begrenzten Ackerfläche des Bundesgebietes als letztendlich auch an der begrenzten Weltackerfläche. Wenn hierzulande zu viele Flächen für die Biodieselproduktion oder sonstige ausschließliche energetische Verwendung angebaut würden, dann würden tendenziell Futterpflanzen wie Futtermais, Leguminosen oder Futtergräser verdrängt und es würde noch mehr Futter als ohnehin üblich in den Ländern des Südens – wie etwa Brasilien – zugekauft werden. Es besteht somit ein internationaler Forschungsbedarf zur optimalen nachhaltigen Bioenergiegewinnung und anderen Klimaschutzrelevanten Maßnahmen, welcher nach Möglichkeit auch die Länder des Südens mit einbeziehen sollte. Das Forschungsinstitut für Biologischen Landbau der Schweiz (FibL) ist z.B. dabei entsprechende Forschungsprojekte zu initiieren (siehe FibL 2007).
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Auch auf Bundesebene wird die Strategie vertreten, dass eine Bioenergieproduktion nicht die Ernährungssicherheit gefährden darf und internationale Regelwerke eine nachhaltige Produktion sicher stellen sollen. Die Bioenergieproduktion ist somit bundesweit und international als Teil eines Gesamtkonzeptes ländlicher Entwicklung zu betrachten. Die internationale Konferenz „Politik gegen Hunger VI: Bioenergie und Ernährungssicherheit“ (siehe BMELV 2007) hob hervor, dass es wichtig sei, lokal angepasste und abgestimmte Optionen auch in der Bioenergieproduktion zu entwickeln. Das Bioenergiethema müsse in der Vernetzung lokaler, regionaler und internationaler Akteure und deren Produkte angegangen werden.
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Traditionelle und aktuelle Beziehungen nachhaltiger Landwirtschaft
Wie eingangs betrachtet wurde, weisen ländliche Räume tendenziell eine höhere Dichte zwischenmenschlicher Beziehungen auf, diverse sozial-ökonomische Bindungen die vielfach auch die Stadtbewohner mit einbeziehen. Ballungsräume bieten tendenziell Vorteile für landwirtschaftliche Betriebe aufgrund der Nähe zum Verbraucher und zu vielen Großabnehmern wie Kantinen oder Restaurants. Hier werden qualitativ hochwertige land- und gartenbauliche Produkte wie Gemüse, Obst-, Fleisch-, Milchprodukte und Zierpflanzen nachgefragt. Landwirte können auf Stadtteilmärkten direkt vermarkten oder regional im Umland auf kurzen Wegen. Manche landwirtschaftlichen Betriebe spezialisieren sich auf Dienstleistungen und Freizeitangebote wie Schulbauernhöfe, (Pensions)Pferdehaltung, Selbsternte, Gastronomie, Ferienprogramme oder Ähnliches. (siehe auch Aufmkolk 2004) Landwirte waren schon immer auch in Stadtlandschaften aktiv und mancherorts versucht die Stadtverwaltung mittlerweile auf die Art der Landwirtschaft einzuwirken. Neben landschaftspflegerischen Extensivierungsmaßnahmen, Stadtgärten oder Energiepflanzenbau sehen Städte Möglichkeiten der Ökologisierung von Freiflächen durch Ökologischen Landbau. So werden Freiräume nachhaltig gesichert und neu gestaltet sowie neue Akzente in der Stadtkultur gesetzt. Städte wie Hamburg, Berlin und München zum Beispiel haben in den letzten Jahren Bio-Brotboxprojekte für Schulkinder durchgeführt (siehe z. B. das BioBrotboxprojekt initiiert durch den Bioland Betrieb Gut Wulksfelde, unter www.Biobrotbox-Hamburg.de). In Zeiten der Globalisierung und Gentechnisierung landwirtschaftlicher Erzeugung mit ihren entsprechenden Risiken (siehe z. B. Brauner et al. 2002, Benbrook 2004 oder Clark 2004) bei gleichzeitig nicht ausreichender Rahmenbzw. Vorsorgegesetzgebung werden Netzwerkbeziehungen und Institutionen
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Doris Pick
zwischen regionalen und globalen Akteuren vor neue Herausforderungen gestellt, um sensible und vielfältige Produktionsprozesse und Produkte des naturnahen und Ökologischen Landbaus zu schützen und nachhaltig weiterzuentwickeln. Institutionen wie etwa Gentechnikfreie Regionen (GtfR) reduzieren dabei die Unsicherheit über das Verhalten anderer Gesellschaftsmitglieder und geben somit Orientierung für das eigene persönliche und regionale Handeln. Der Institutionenbegriff umfasst hier sanktionierbare Erwartungen in Form von Regeln und Normen ebenso wie Unternehmen, Verbände oder den Staat sowie die Verbindungen zwischen ihnen (zum Begriff der Institution siehe z.B. Picot et al. 1997). So ist zum Beispiel das Ökodorf Brodowin (siehe www.Brodowin.de) Teil der Gentechnikfreien Region Uckermark-Barnim (näheres zu GtfR siehe weiter unten, sowie unter Pick 2007 und www.gentechnikfreie-regionen.de). Auch das Integrierte Ländliche Entwicklungskonzept des Landkreises Barnim schlägt Gentechnikfreie Produktion als Marketingstrategie und Qualitätsmerkmal für Ackerbau und Tierwirtschaft vor sowie ein Projekt zur Gentechnikfreien Saatgutproduktion in Uckermark-Barnim (ILEK Barnim 2005). Betriebe des Ökologischen Landbaus sind per Gesetz verpflichtet, ohne den Einsatz von Gentechnik zu produzieren. Auch die Mehrheit der Verbraucher und der konventionellen Landwirte lehnen den Einsatz der Agro-Gentechnik ab. Sie haben sich – z.B. in Markenfleischprogrammen – dazu verpflichtet ohne Gentechnik zu wirtschaften und bieten hierdurch dem Verbraucher einen entsprechenden Zusatznutzen an. Nach einer Umfrage des Wickert-Institutes wollen 70 % der Landwirte kein gentechnisch verändertes Saatgut anbauen (Hoffmann 2003). Regionale Akteure denken dabei an den ungestörten Absatz ihrer Qualitätsprodukte, seien dies landwirtschaftliche Qualitätsprodukte oder touristische Dienstleistungen. Landwirte und Verbraucher setzen somit zur Zeit vor allem auf das Vorsorgeprinzip (zum Vorsorgeprinzip siehe UBA 2004) und die bewährte Nutzung sowie vorausschauende und innovative Fortentwicklung von regional angepasstem traditionellem und ökologischem Landbau Wissen (siehe auch Niggli 2006 und Süddeutsche Zeitung 2006). In Deutschland wirken regionale Akteure insbesondere über die freiwillige Selbstverpflichtung von Landwirten zum Verzicht auf GVO-Anbau in Gentechnikfreien Regionen (GtfR) auf die Art der regionalen Landbewirtschaftung ein (siehe Abb. 8). Einige dieser Initiativen oder ihre Projekte sind in Bundes- oder Landesprogramme zur Förderung einer nachhaltigen Regionalentwicklung eingebunden. So gibt es zum Beispiel ein Netzwerk gentechnikfreier Modellregionen, welches im BMELV-Programm Regionen-Aktiv eingebunden ist. Bei diesen Projekten und Initiativen spielt in irgendeiner Form die Vernetzung der regionalen
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Akteure eine entscheidende Rolle. Dabei kann man verschiedene Vernetzungsformen unterscheiden. (siehe Pick 2006) Innovationsprofile – Auswahl innovativer gentechnikfreier Netzwerkbeziehungen Art der Innovativen GVOVorsorgeregionen bzw. Gentechnikfreien Regionen (GtfR)
Innovative regionale Ziele oder Leitbilder
Lokale Partnerregionen bzw. GtfR und Kreise (Auswahl) Kristallisationsregion / Gentechnikfreie Pioneerregion
Kalifornien
Mecklenburg-Vorpommern
Gentechnikfreie Kreise mit entsprechenden Kreisgesetzen durch Kreiswahlen oder Abstimmung des Kreisrates entstanden Ausbau von ErzeugerVerbraucher-Gemeinschaften (Community supported Agriculture), der Kreis Marin will 100 % Bioanbau und – verpflegung aus der Region erreichen Trinity Marin Santa Cruz
Gentechnikfreie Regionen durch freiwillige Zusammenschlüsse von Landwirten
Mendecino
Warbel-Recknitz
Vorbild- und Initiativfunktionen der Kristallisationsregion
Der Kreis Mendecino hält Workshops zur Gründung von GtfR ab und entsendet Referenten in Umlandkreise
Regionale Handels- bzw. Aktionspartner mit teilweise großräumigen bis globalen Wirtschaftsbeziehungen
Marin Organics Ukia Organic Brewery Organic Consumer Association
Großräumige Partnerregionen z.B. mit Vermont, Maine oder Verantwortungsgemein- Gentechnikfreie Städte und schaften Gentechnik-Vorsorgegesetze Austausch von Wissen und Erfahrungen
Ausbau zu dem BabykostAnbaugebiet Deutschlands mit vorrangig naturnaher Landwirtschaft, Ökologischem Landbau und nachhaltigem Tourismus Müritz Krakow am See Schaalsee
Vertreter der Region WarbelRecknitz treten auf als Berater und Referenten bei neu zu gründenden GtfR Edeka Konzern mit gentechnikfreien ökologischen und konventionellen Markenfleischprogrammen, Babykosthersteller Hipp und Alete z.B. mit Brandenburg oder Bayern GrfR, Städte und Kreise Austausch von Wissen und Erfahrungen
Quelle: Pick 20072, gekürzt. Abb. 8:
Innovationsprofile gentechnikfreier Regionen eingebunden in lokale und mitunter großräumige Verantwortungsgemeinschaften
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In Mecklenburg-Vorpommern (siehe Abb. 8) gibt es z. B. fünf GtfR mit insgesamt über 60.000 ha Land. Wegen seiner Umweltqualität und agrarischen Qualitätsproduktion gilt Mecklenburg-Vorpommern bei einigen regionalen Akteuren als das bedeutendste Babykost-Anbaugebiet Deutschlands. So haben ökologisch wirtschaftende Betriebe Anbauverträge, z. B. für Biokartoffeln mit den Babykostherstellern Alete und Hipp geschlossen. In Nordamerika hat anders als in Deutschland in einigen US-Bundesstaaten auch die regionale Ebene in Form der Kreise die Möglichkeit Gesetze zu erlassen und dadurch auf Aspekte der Regionalentwicklung, wie etwa die Art der regionalen Flächennutzung im Kreisgebiet, direkt legislativ einzuwirken. So gibt es im US-Bundesstaat Kalifornien (siehe Abb. 8) zur Zeit insgesamt vier Gentechnikfreie Kreise, welche zusammen über 2,2 Millionen ha Kreisfläche verfügen. In demokratischen Prozessen wurden in Kalifornien im Verlauf des Jahres 2004 Kreisgesetze auf den Weg gebracht und in 3 Kreisen (Mendocino, Trinity und Marin) erfolgreich verabschiedet, welche den kommerziellen Anbau von GVOs im gesamten Kreisgebiet verbieten. (Pick 2005) Im Juni 2006 ist mit Santa Cruz ein vierter Gentechnikfreier Kreis hinzugekommen. Regionale Akteure aus Landwirtschaft, Verbraucherschaft und Lokalpolitikern engagierten sich hier für ein Moratorium zur Gentechnikfreiheit.
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Ausblick
Regionale Diskursprozesse, nicht nur um die künftigen Chancen und die Ausrichtung der landwirtschaftlichen Flächennutzung und regionalen Wertschöpfung, werden vom Engagement regionaler Akteure gestaltet und sind heute vielfach durch externe Moderation begleitet. Modellvorhaben der Bundesraumordnung und anderer Ressorts (siehe auch Regionen-Aktiv-Projekte des BMELV) sowie die akteurszentrierte Gründung und Fortentwicklung regionaler Institutionen wie der betrachteten Gentechnikfreien Regionen sind dabei wichtige Instrumente zur Umsetzung eines stärker prozess-, aktions- und projekt-orientierten Planungsund Politikverständnisses. Nach Einkommenseinbußen durch erfolgte Subventionsumschichtungen im Rahmen der jüngsten Agrarreform suchen insbesondere die Großbetriebe Ostdeutschlands nach Einkommensalternativen sowohl auf einzelbetrieblicher Ebene als auch durch die Vernetzung mit anderen Betrieben der Region. Dabei bietet zum einen der Einstieg in den Ökologischen Landbau und die Aufnahme eines Betriebszweiges der Verarbeitung von Ökoprodukten gute Aussichten – bei weiterhin wachsender Nachfrage nach biologischen Produkten und gleichzeitig vor-
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handenen Verarbeitungsengpässen – für den Einzelbetrieb wie für die Region erfolgreich zu sein. Der Anbau Nachwachsender Rohstoffe sowie die energetische Nutzung von Reststoffen kann als zusätzliche Einkommensmöglichkeit für landwirtschaftliche Betriebe angesehen werden, wenn der Anbau von Energiepflanzen sowohl einzelbetrieblich als auch für die Region und im internationalen Kontext nachhaltig erfolgt. Hier besteht, wie dargelegt werden konnte, weiterhin Forschungsbedarf. Wo verlässliche Rahmenbedingungen nachhaltigen (Land)Wirtschaftens nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind, gelingt es mitunter der nachhaltigen Landund Lebensmittelwirtschaft gemeinsam mit Verbrauchern und anderen Akteuren diesen Mangel durch Selbstorganisation und agrarkulturelles Engagement teilweise auszugleichen. Regionale Netzwerke und Institutionen entstehen oder entwickeln sich weiter gelegentlich bis hin zu überregionalen Verantwortungsgemeinschaften, die über die Gründung Gentechnikfreier Regionen hinaus gehen. Neben den hierdurch vor allem beabsichtigten Effekten des Prozess- und Produktschutzes sind auch andere Effekte zu beobachten. So etwa die Pflege und innovative Weiterentwicklung traditionellen und Ökologischen Landbauwissens sowie die Weiterbildung der Bevölkerung in Agrar-, Ernährungs- und Umweltthemen als notwendige Voraussetzung zur Anerkennung des Qualitäts- und Preisunterschiedes von nachhaltiger und ökologischer Qualitätsproduktion im Vergleich zu industrieller Massenware.
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Nachhaltige Landwirtschaft in ländlichen Räumen
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Niggli, U.: Biologische Landwirtschaft – das nachhaltige System für eine bessere Zukunft, in Bio Austria (Hrsg): Biologische Landwirtschaft – Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, Wien 2006. Osterburg, B.: „High Nature Value (HNV) farmland“ als Indikator zur Begleitung und Bewertung der Eler-Verordnung (S. 288) – „High Nature Value (HNV) farmland“ as an indicator for monitoring and evaluation of EAFRD, im Internet abgerufen am 31.01.2008. http://www.genres.de/ CF/genres/ibv/agrobio/bd27/pdfs/bd27_20.pdf Pick, D.1: Leitbilder zur Raumentwicklung – Ökologische Landwirtschaft: ein Indikator für Nachhaltigkeit, in Ökologie & Landbau, Heft 1/2007. Pick, D.2: Innovative Verantwortungsgemeinschaften durch nachhaltigen und Ökologischen Landbau – Beispiele aus Mecklenburg-Vorpommern und Kalifornien, Vortrag auf der 9. Wissenschaftstagung Ökologischer Landbau ‚ Zwischen Tradition und Globalisierung, Universität Hohenheim, Stuttgart, Deutschland, 20.–23.03.2007. Pick, D.3: Kompatibilität von Agro-Gentechnik und integrierter Regionalentwicklung in peripheren ländlichen Räumen. In: Agro-Gentechnik im ländlichen Raum, Reihe „Forum für interdisziplinäre Forschung“, J.H.Röll-Verlag, Dettelbach, 2007, p. 179–202. Piorr, A. & W. Werner: Nachhaltige landwirtschaftliche Produktionssysteme im Vergleich: Bewertung anhand von Umweltindikatoren. agrarspectrum 28, Verlagsunion agrar, Frankfurt/Main, 1998. Schaffner, A., Hövelmann, L.: Der DLG-Nachhaltigkeitsstandard „Nachhaltige Landwirtschaft – zukunftsfähig“, http://www.preagro.de/Veroeff/DLG_Nachhaltigkeitsstandard.pdf, abgerufen am 10.01.2008. Statistisches Bundesamt, mündliche Mitteilung vom 02.03.2007 sowie Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern, mündliche und schriftliche Mitteilung vom 02.03.2007. Stiftung Ökologie und Landbau (SÖL 2007): Ökologischer Landbau in Deutschland: Übersicht, http://www.soel.de/oekolandbau/deutschland.html, abgerufen am 30.12.2007. Stolze, M., A. Piorr, A. Häring & S. Dabbert: Environmental and resource use impacts of organic farming in Europe. Organic farming in Europe: Economics and Policy 6, Stuttgart, 2000. Süddeutsche Zeitung (SZ): Hightech ohne Gentech – Mit modernen Methoden erzielen Klassische Züchter Erfolge, von denen Gentechniker nur träumen können, SZ vom 10.08.2006 Umweltinstitut München: Bio-Böden sind besser – Ökolandbau garantiert auch nachfolgenden Generationen noch Versorgung, in: Böden, Dossier, Nr. 39/Dezember 2005. Umweltbundesamt (UBA): Späte Lehren aus Frühen Warnungen – Das Vorsorgeprinzip 1896–2000, Berlin 2004
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Sandra Naumann, Andreas Frangenberg
RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung in der EU Sandra Naumann, Andreas Frangenberg
1
Herausforderung ländlicher Raum?
Obwohl die ländliche Entwicklung seit vielen Jahren im Blickpunkt der Politik steht, sehen sich die ländlichen Räume noch immer mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Die meisten Probleme in der europäischen Gesellschaft, wie etwa Überalterung, hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und das fehlende Anpassungsvermögen an den globalen Markt sind besonders stark in den ländlichen Gebieten ausgeprägt. Zudem wurden noch nicht alle die Potenziale erschlossen, die eine stärkere Regionalisierung von Stoff- und Wirtschaftskreisläufen bzw. eine stärkere Regionalisierung der Wirtschaft insgesamt erlauben würden. Diese Thematik ist insofern von großer Bedeutung, als dass der Großteil Europas ländlich geprägt ist und insgesamt mehr als die Hälfte der gesamten Bevölkerung der EU beherbergt. Um hier eine Trendumkehr zu erreichen und Innovationen in diesen Gebieten zu stärken, ist eine stärkere Vernetzung von öffentlichen, privaten und intersektoralen Initiativen notwendig. Deshalb legt auch die LissabonStrategie einen Schwerpunkt auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und ökonomisches Wachstum, vor allem im ländlichen Raum. Diese Strategie verfolgt das Ziel, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Innovation ist dazu eine der entscheidenden Voraussetzungen. Ebenso ist es notwendig, europäische Programme und zur Verfügung stehende Ressourcen und Instrumente zu verbinden und bestmöglichst zu nutzen. Der Zugang zu Wissen über die möglichen Optionen ist in diesem Prozess entscheidend.
2
Das RAPIDO-Projekt
Mit dem Ziel, die Europäische Politik hinsichtlich der Förderung von Innovationen und des Wissenstransfers im ländlichen Raum zu unterstützen, wurde das Projekt RAPIDO (Rural Areas – People – Innovative Development)1 initiiert. Im ________________ 1 Für mehr Informationen siehe Projekt – Webseite: www.rapido-fp6.eu
RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung
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Zeitraum von März 2007 bis Februar 2009 arbeiten 11 Projektpartner aus 10 europäischen Ländern in diesem Projekt, welches durch das 6. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission gefördert wird. RAPIDO analysiert Best Practice Methoden der innovativen Entwicklung vorrangig im Agrar-, Forst- und Nahrungsmittelbereich sowie Methoden des Wissenstransfers für verschiedene Zielgruppen. Darüber hinaus werden Bereiche wie Umwelttechnologie, soziale Dienstleistungen, Naturschutz, Informationsund Kommunikationstechnologie, Tourismus, Umweltbildung und Fischerei als potenzielle Arbeitsfelder berücksichtigt. Basierend auf der Analyse von Erfolgskriterien und vielversprechenden Zukunftsoptionen werden Politikempfehlungen gegeben sowie die Bereiche aufgezeigt, denen in Zukunft verstärkte Aufmerksamkeit zukommen muss. Im nachfolgenden Kapitel werden die ersten Projekt-Ergebnisse vorgestellt und im Anschluss daran ein Ausblick auf die weiteren Forschungsaktivitäten als auch die Anwendung der Ergebnisse gegeben. 3
Ergebnisse
3.1
Best Practice Projekte und Indikatoren zur nachhaltigen Entwicklung
3.1.1
Best Practice Beispiele
Im ersten Projektschritt wurden Best Practice Beispiele innovativer Projekte im ländlichen Raum der EU 27 ausgewählt und in eine Datenbank aufgenommen2. Dafür wurden sowohl Projekte der RAPIDO-Partner als auch öffentliche Datenbanken für den Raum Europa (wie z.B. LEADER+, ETAP oder Forschungsrahmenprogramme der EU insbesondere EU-Agrinet) konsultiert. Im Rahmen des ersten Arbeitspakets wurden diese Beispiele quantitativ und qualitativ ausgewertet und zur Ableitung von allgemeinen Kriterien zur Bewertung des Projekterfolgs herangezogen. Darüber hinaus wird die erstellte Projektdatenbank für die Untersuchung von Fragestellungen, die innerhalb der nächsten Arbeitspakete bearbeitet werden sollen, zur Verfügung stehen. Bei der Erstellung der Datenbank wurden die einzelnen Beispiele unter anderem nach den folgenden Attributen charakterisiert: • In welchem Sektor findet die Innovation statt (z.B. Landwirtschaft, soziale Dienstleistungen, Tourismus)? ________________ 2 Arbeitspaket 1 wurde unter Leitung von Margaretha Breil (Fondazione Eni Enrico Mattei, Italien) bearbeitet.
170 •
• • • • •
Sandra Naumann, Andreas Frangenberg
Worauf begründet sich die Innovation: eine verbesserte Produktion, ein neu eingeführtes Produkt, Dienstleistung oder Marke, eine verbesserte Wertschöpfungskette oder Marketing? Welche Akteure waren maßgeblich an der Umsetzung des Projekts bzw. der Innovation beteiligt? Welche wirtschaftlichen/sozialen Anreize haben den Innovationsprozess begünstigt? Ist das Projekt Teil eines (politischen) Förderprogramms? Welche räumliche Dimension hat das Projekt? Anhand welcher wirtschaftlichen, sozialen und umweltrelevanten Kriterien kann die Nachhaltigkeit bzw. der Erfolg des Projekts gemessen werden?
Insgesamt wurden 67 Best Practice Beispiele aus 17 Mitgliedstaaten der EU analysiert, wobei alle bedeutenden wirtschaftlichen Sektoren im ländlichen Raum repräsentiert sind, wie die nachfolgende Abbildung deutlich macht. Ein Schwerpunkt lag dennoch mit 25 % auf der Landwirtschaft.
Landwirtschaft (25%) Forstwirtschaft (7%)
9%
13%
6%
Fischereiwirtschaft (3%)
9%
25%
Tourismus (13%) Lebensmittelindustrie (15%) Umwelttechnologie (9%)
15% 13%
3%
7%
ICT, Dienstleistungen (13%) Marketing (9%) Umweltbildung, Naturschutz (6%)
Abb. 1:
Verteilung der Hauptsektoren nach Auswertung der Best Practice Beispiele (ICT = Information and Communication Technology)
In der Tendenz war eine starke Integration von verschiedenen Sektoren erkennbar, indem Projekte nicht nur auf einen Sektor fokussierten, sondern zum Beispiel Landwirtschaft und Tourismus kombinierten. Die Bedeutung der europäischen Politik für Innovationen wird daran erkennbar, dass rund 45 % der Projekte durch Europäische Finanzierungsprogramme gefördert wurden. Glei-
RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung
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chermaßen bemerkenswert ist aber, dass ca. 25 % der Projekte unabhängig von Anreizen aus der europäischen, nationalen oder regionalen Politik initiiert wurden. Die Projekte wurden so ausgewählt, dass alle relevanten wirtschaftlichen Sektoren abgedeckt werden konnten. Vor diesem Hintergrund können die Ergebnisse der quantitativen Auswertung jedoch nicht als repräsentativ für ganz Europa angesehen werden. Im Vordergrund dieses Arbeitspakets stand vielmehr die qualitative Analyse der Daten zur Ableitung von Faktoren bzw. Indikatoren, anhand derer der Erfolg eines Projekts gemessen werden kann 3.1.2
Erfolgsindikatoren im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung
Politische Diskussion und Anwendung des Begriffs „Nachhaltige Entwicklung“ Mit Verabschiedung der Mitteilung zur „Nachhaltigen Entwicklung in Europa für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung“ durch den Europäischen Rat von Göteborg 20013 ist die nachhaltige Entwicklung ein politisches Ziel der Europäischen Union. In diesem Kontext wurde auch die Lissabon-Strategie im Jahre 2000 verankert, mit der die EU „im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt sein will“. Hier kommt das sogenannte Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit zur Anwendung. Demnach wird zwischen der ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimension der Nachhaltigkeit unterschieden. Sowohl die Nachhaltigkeitsstrategie als auch die Lissabon-Strategie der EU bilden die Grundlage für die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums 2007–2013. Die strategischen Leitlinien dieser Politik spiegeln auch die drei Säulen der Nachhaltigkeit wider: 1) Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft, 2) Verbesserung der Umwelt und der Landschaft und 3) Verbesserung der Lebensqualität im ländlichen Raum und Förderung der Diversifizierung.
________________ 3 KOM(2001)264 endgültig
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Sandra Naumann, Andreas Frangenberg
Einsatz von Indikatoren Wenn es darum geht, Nachhaltigkeit zu bewerten und messen, werden vor allem Indikatoren genutzt. Sie können zur Entscheidungsfindung eingesetzt werden, da mit ihrer Hilfe komplexe Zusammenhänge und somit auch die Realität abgebildet werden können. Des Weiteren können Indikatoren zum Einsatz kommen, wenn der Fortschritt in der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen oder die Auswirkungen von politischen Maßnahmen auf verschiedenen räumlichen Ebenen gemessen werden sollen. Um den Grad der Anwendbarkeit von Nachhaltigkeitsindikatoren zu steigern bzw. diese einer breiten Gruppe zugänglich zu machen, sollten sie generell einfach sein (d.h. begrenzt in ihrer Anzahl und Berechnung) und einen deutlichen Bezug zu relevanten Themen und Trends der nachhaltigen Politik aufweisen.4 Es liegen bereits mehrere Ansätze zur Bewertung der Nachhaltigkeitsstrategien5 auf europäischer Ebene vor. Das generelle Problem solcher Ansätze ist die Inwertsetzung von Faktoren, die je nach Region, Land, Ausgangsbedingungen, Problemlage, Zielsetzungen und subjektiver Einschätzung unterschiedlich ausfällt. Aus diesem Grund ist es notwendig, ein kontextspezifisches Bezugssystem zu definieren, welches individuell auf die Aspekte der nachhaltigen Entwicklung eingeht und Trends für diese aufzeigt. Im Kontext des RAPIDO-Projekts wurde ein Set von Indikatoren erarbeitet, das die Grundlage für ein Bewertungsschema (evaluation matrix) bildet, um damit den Erfolg von innovativen Projekten zu messen. Dieses Bewertungsschema lehnt sich an das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit an und ist in die folgenden Bereiche untergliedert: wirtschaftliche, soziale und umweltbezogene Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung. Die Indikatoren wurden aus der Analyse der Best Practice Beispiele abgeleitet, wobei bereits bestehende Ansätze auf europäischer Ebene einbezogen wurden. Eine der größten Herausforderungen hierbei war, den Begriff „Innovation“ durch Indikatoren zu definieren und die große Heterogenität der Projektbeispiele ebenso wie den jeweiligen lokalen Kontext entsprechend zu berücksichtigen.
________________ 4 Valentin, A. and J. H. Spangenberg (2000). „A guide to community sustainability indicators.“ In: Environmental Impact Assessment, Vol. 20, Issue 3, June 2000, pp. 381–392 5 EUROSTAT (2005), „Measuring progress towards a more sustainable Europe, sustainable development indicators for the European Union“, Luxembourg: Office for official publications of the European Communities.; European Commission, DG Agriculture and Rural Development (2006), Rural Development in the European Union; Statistical and Economic Information; Report 2006
RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung
173
Aktuell liegt ein Set von 26 Indikatoren vor, die versuchen, die Nachhaltigkeit und den Erfolg eines Projekts im ländlichen Raum zu beschreiben6. Manche dieser Indikatoren können, zum Beispiel durch die Auswertung zusätzlicher Projektbeispiele, weiter aufgeschlüsselt und spezifiziert werden. In den folgenden drei Abschnitten werden die abgeleiteten Indikatoren näher vorgestellt. Wirtschaftliche Nachhaltigkeit Eine bedeutende Rolle im Bereich „Wirtschaftliche Nachhaltigkeit“ spielen v.a. die Entwicklung des lokalen und regionalen Wirtschaftssektors, die Schaffung von neuen Märkten und von Arbeitsplätzen sowie die Stabilisierung von bereits existierenden wirtschaftlichen Initiativen. Ein besonderer Vorteil kann zudem entstehen, wenn eingeführte Umwelttechnologien eine Vorreiterrolle in ihrem Sektor einnehmen und dadurch ökonomischen Gewinn auf lokaler und auch internationaler Ebene erzielen. Einige Initiativen können mit Auslaufen der öffentlichen Finanzierung keine eigene wirtschaftliche Dynamik entwickeln. Sie sollten allerdings aufgrund der Bereitstellung von z.B. sozial- oder umweltrelevanten Dienstleistungen weiter durch öffentliche Gelder finanziert werden (wie z.B. die Initiative Finish MedaWagon).7 Nach Analyse der Best Practice Beispiele konnten die nachfolgenden Indikatoren abgeleitet werden. Tabelle 1:
Indikatoren der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit im ländlichen Raum
Wirtschaftliche Nachhaltigkeit Geschaffene Arbeitsplätze (AP)
Finanzielle Autonomie
(N°) Indikator
Indikator-Charakter
(1) Anzahl der geschaffenen permanenten AP/Mehrwert
Quote (Mehrwert/AP) Quote (Kosten/geschaffener AP) oder Ja/Nein
(2) Qualität der AP
(durchschnittl. Produktivität) oder Ja/Nein
(3) Investment pro AP
(€/AP) oder Ja/Nein
(4) Arbeiten ohne Subventionen
Ja/Nein permanent /temporär
________________ 6 Dabei muss berücksichtigt werden, dass nicht für alle Projekte eine vollständige Beschreibung (v.a. hinsichtlich der Nachhaltigkeitskriterien) vorlag und die genannten Faktoren/Indikatoren sehr stark variierten. 7 Dieses Projekt versucht, auf Basis von digitalen Medien und Bildungskonzepten, der lokalen Bevölkerung im ländlichen Raum neue Ideen zur Entwicklung und Verbesserung ihrer Ortschaften zu vermitteln. (siehe auch http://ec.europa.eu/agriculture/rur/leaderplus/gpdb_en.htm)
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Wirtschaftliche Nachhaltigkeit
(N°) Indikator
Indikator-Charakter
Pionier-Charakter
(5) Die Initiative bringt durch den innovativen Charakter Marktvorteile mit sich.
Ja/Nein
Networking
(6) Entstehung von lokalen Wirtschafts- und sozialen Partnerschaften
Ja/Nein
Einfluss auf lokale Wirtschaft
(7) Entstehung neuer Initiativen im Bereich der regionalen Wirtschaft.
Anstieg von Arbeitsplätzen in %
Umweltbezogene Nachhaltigkeit Innerhalb der untersuchten Fallbeispiele ist Landwirtschaft der am häufigsten vertretene Produktionssektor. Darausfolgend wurden Indikatoren zur Charakterisierung des Begriffs „Umweltbezogene Nachhaltigkeit“ abgeleitet, die v.a. auf umweltfreundliche Produktionsmethoden und Kultivierungstechniken fokussieren. Die Erzeugung und Nutzung von Energie auf emissionsarmen Niveau wird häufig bei neuen Initiativen angestrebt. Generell geht es hier um die Umweltauswirkungen der Produktionsverfahren, wobei auch damit verbundene Aspekte wie Verkehr (zum Gütertransport) oder Abfallbehandlung berücksichtigt wird. Wie die folgende Tabelle zeigt, wird in der Regel zwischen neuen Initiativen und der Effizienzsteigerung in bereits bestehenden Projekten unterschieden. Tabelle 2:
Indikatoren der umweltbezogenen Nachhaltigkeit im ländlichen Raum
Umweltbezogene Nachhaltigkeit
(N°) Indikator
Indikator-Charakter
Effizienzsteigerung in be- (8) Verbesserung der Nährstoffbilanz t/Werteinheit oder Ja/Nein stehenden Produktionsver- (Nitrat, Phosphor) fahren (9) Reduzierung des Schadstoffein- t/Werteinheit oder Ja/Nein trages (Nitrate, Pestizide pro produzierte Einheit) (10) Erzeugter Verkehr/ produzierte Werteinheit
Personen oder Ware pro km/ produzierte Werteinheit oder Ja/Nein
RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung
Umweltbezogene Nachhaltigkeit
(N°) Indikator
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Indikator-Charakter
(11) Reduzierung von Treibhausgas- t/Werteinheit oder Ja/Nein emissionen pro produzierte Werteinheit (12) Abnahme der Produktionsfläche pro produzierte Einheit
Entkopplung des wirtschaftlichen Wachstums von negativen Umweltwirkungen/ Ressourcennutzung
(13) Abnehmende Bewässerung (Wasserverbrauch pro produzierte Werteinheit)
m3 /Werteinheit oder Ja/Nein
(14) Ressourcennutzung und Müllproduktion (t/Einheit)
t/Werteinheit oder Ja/Nein
(15) Freisetzung von Schadstoffen (Nitrate, Pestizide)
t/Werteinheit oder Ja/Nein
(16) Treibhausgasemissionen
t/Werteinheit oder Ja/Nein
(17) Produktion von erneuerbaren Energien (18) Zunahme/Erhalt der Biodiversität
Umweltbildung
(t/ha)
regionaler Konsum in % oder Ja/Nein Ja/Nein
(19) Organischer/Biologischer Anbau
t/ha
(20) Initiative im Bereich Umweltbildung
Anzahl der Personen
(21) Anzahl der Teilnehmer an Umweltbildungsmaßnahmen
Anzahl der Personen
Soziale Nachhaltigkeit Im Rahmen der Projekt-Analyse bezieht sich die „soziale Nachhaltigkeit“ in erster Linie auf die Generierung neuen Wissens als Voraussetzung für die Entwicklung der lokalen Region (z.B. durch die Qualifizierung von Frauen im ländlichen Raum) und die Schaffung von Arbeitsplätzen. In manchen Fällen kann dies sogar die Rückkehr von abgewanderten Personen bewirken und somit aktiv zur Verbesserung der sozialen Strukturen in Gebieten beitragen. Des Weiteren stellte sich heraus, dass die Integration einer innovativen Idee in die bestehenden sozialen und lokalen Netzwerke wesentlich zum Erfolg der Initiative beiträgt (wie z.B. bei Tourismusprojekten). Aus diesem Grund sollte auf die Schaffung und Nutzung von Synergien zwischen den Akteuren geachtet werden.
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Eine erste Zusammenstellung für Indikatoren im Sinne sozialer Nachhaltigkeit ist in Tabelle 3 enthalten. Tabelle 3:
Indikatoren der sozialen Nachhaltigkeit im ländlichen Raum
Soziale Nachhaltigkeit
Indikator
Integration in den lokalen (ländlichen) Kontext
(22) Eingebundene lokale Akteure
Indikator-Charakter Qualitativ oder nicht relevant
(23) Entstehung neuer lokaler Netzwerke Geschaffene Arbeitsplätze (AP) (24) für Anwohner • • •
Anzahl der geschaffenen AP Qualität der AP (für ältere Leute und Frauen Mehrwert (soziales Vermögen)
Quantitativ oder nicht relevant
Ausbildung/Wissen
(25) Anzahl der Qualifizierungen
Quantitativ/Ja/Nein
Auswirkung auf die soziale Struktur
(26) Arbeitsplätze ziehen neue Einwohner an
Ja/Nein
Mögliche Anwendung der Indikatoren Die hier vorgestellten Indikatoren können als Kriterienset eines Bewertungsschemas eingesetzt werden, um i) politische Entscheidungsträger hinsichtlich der Bewertung einzelner Projekte sowie deren Beitrag zur Erfüllung von Nachhaltigkeitszielen zu unterstützen, b) die Tendenzen der Entwicklung im ländlichen Raum der EU aufzuzeigen oder c) den Erfolg von einzelnen Projekten im ländlichen Raum zu messen. Zur Verbesserung der Indikatoren sollten auch der lokale Kontext sowie die Präferenzen von politischen Entscheidungsträgern und relevanten Akteuren berücksichtigt werden. Auch die Analyse weiterer Projekte, wie im Laufe des RAPIDO-Projektes geplant, kann zur Verfeinerung des Indikatorensets beitragen. 3.2
Der RAPIDO-Fragebogen: Ergebnisse einer europaweiten Recherche zu Innovationen in ländlichen Räumen
Projekte in ländlichen Räumen, die auf die Umsetzung von Innovationen abzielen und so neue Arbeitsplätze und zusätzliche Einkommensmöglichkeiten erschlie-
RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung
177
ßen sollen, werden von unterschiedlichen Akteuren angestoßen. Impulse dazu kommen gleichermaßen von einzelnen unternehmerisch denkenden Personen, von aufgeschlossenen Gruppierungen Gleichgesinnter wie auch von europäischen, staatlichen oder regionalen Förderprogrammen bzw. Behörden. Bei öffentlicher Förderung werden die Erfahrungen und Erfolge von Projekten in der entsprechenden Berichtslegung vorgestellt. Über privat initiierte Vorhaben und deren Ergebnisse wird demgegenüber sehr viel seltener berichtet. Ausnahmen bilden hier „Leuchtturmprojekte“ wie etwa das Energiedorf Jühnde, das in der Fachpresse mehrfach vorgestellt wurde. Insgesamt finden sich damit auch vergleichsweise wenige Berichte über Vorhaben, die auf größere Schwierigkeiten gestoßen oder gescheitert sind. So bleiben i.d.R. die Ursachen im Dunkeln, die zu spürbaren Verzögerungen in der Umsetzung oder sogar zum vollständigen Scheitern von innovativen Ansätzen geführt haben. Vor diesem Hintergrund wurde als „Arbeitspaket 2“8 in dem EU-Projekt RAPIDO ein umfassender Fragebogen entwickelt und über die Land- und Forstwirtschaft hinaus generell auf innovative Ansätze in ländlichen Gebieten ausgerichtet. Zielgruppe waren in erster Linie Einzelpersonen, Organisationen oder Verbände, die im Kontext von Innovationen im ländlichen Raum aktiv sind. Insgesamt 27 Fragenkomplexe erfassten die persönlichen Erfahrung mit Innovationen, dem Prozess der Umsetzung, dazu notwendigen Voraussetzungen bzw. erkennbaren Hemmnissen, relevanten Akteuren und Möglichkeiten des Wissenstransfers sowie dem Umwelttechnologie-Aktionsplan (ETAP) der Europäischen Union und gaben einen persönlichen Ausblick auf zukünftige Schwerpunkte und Herausforderungen. Der Fragebogen wurde im Spätsommer 2007 an die RAPIDO-Projektpartner übermittelt und von diesen an relevante nationale Adressaten versandt oder durch persönliche Interviews beantwortet. Bis Dezember 2007 konnten so 103 auswertbare Fragebögen gesammelt werden. 3.2.1
Kernergebnisse des Fragebogens
Herkunft der Befragten und Handlungsebenen Aus insgesamt 13 EU Mitgliedstaaten gingen Fragebögen ein, und zwar vorrangig aus Deutschland, Portugal, Österreich, Spanien und Bulgarien, darüber hinaus aber auch aus England, Frankreich, Schweden, Luxemburg, Italien, Ungarn und Polen. Dabei waren alle Typen ländlicher Regionen vertreten, d.h. sowohl ________________ 8 Arbeitspaket 2 wurde unter Leitung von Andreas Frangenberg (Institut für Landwirtschaft und Umwelt, Bonn) bearbeitet.
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gut entwickelte, in Entwicklung befindliche wie auch bislang wenig entwickelte Gebiete. Die Antworten auf den Fragebogen deckten verschiedene Aktivitäts- bzw. Berufsfelder ab. Ein Schwerpunkt lag mit fast 50 % auf den Bereichen Landwirtschaft, erneuerbare Energien und Bioenergie. Rund 29 % entfielen auf öffentliche oder private Institutionen, gut 25 % auf Aus- und Weiterbildung und gut 21 % jeweils auf die Ernährungsindustrie und den Naturschutz. Geringere Anteile deckten die Bereiche Tourismus (16,5 %), Umweltbildung (12,6 %), Forstwirtschaft (10,7 %), Produktionstechnologie (10,7 %) Umwelttechnologie (9,7 %), soziale Dienstleistungen (8,7 %), Informations- und Kommunikationstechnologie (6,8 %) sowie Fischerei (1 %) ab. Die Handlungsebenen, auf denen die Befragten tätig waren, zeigten eine ebenso große Spannbreite: So waren 48,5 % auf lokaler, 52,4 % auf regionaler, 51,5 % auf nationaler 39,9 % auf EU-Ebene und 30,1 % auf internationaler Ebene aktiv (Mehrfachnennungen waren möglich). Innovationsfelder und Erfahrungen mit Innovationen Innovationsfelder stellen insbesondere Produkte, Produktqualitäten, Produktionsmethoden und die Erschließung neuer Märkte dar (Abb. 2).
RAPIDO – Ein Forschungsbeitrag zur innovativen ländlichen Entwicklung
0,0%
10,0%
20,0%
30,0%
40,0%
Neues Produkt
50,0%
46,6%
Einführung einer neuen Produktionsmethode
46,6%
Erschließung neuer Märkte
36,9%
Soziale oder institutionelle Strukturen
28,2%
Veränderung bestehender Wirtschaftssstruktur
Erschließung neuer Rohstoffquelle
Abb. 2:
60,0%
50,5%
Verbesserte Produktqualität
Andere
179
26,2%
15,5%
13,6%
„Welche Innovationen haben Sie / Ihr Unternehmen umgesetzt?“
Der Grad der Umsetzung von Innovationen im eigenen Wirtschaftsektor wurde als „mittel“-mäßig und die Bereitschaft zur Umsetzung weiterer Innovationen etwas höher bewertet. In der Regel wurde die Innovationsbereitschaft im eigenem Unternehmen höher als die durchschnittliche Bereitschaft des beruflichen Umfelds bzw. Wirtschaftssektors eingeschätzt; für das eigene Unternehmen bzw. die eigene Organisation werteten mehr als zwei Drittel den Stand der Umsetzung von Innovationen als hoch oder sehr hoch. Die Bereitschaft zur Umsetzung weiterer Innovationen im eigenen Unternehmen / der eigenen Organisation wurde in rund 80 % der Antworten sogar noch höher eingeschätzt. Dabei gehen die Impulse für die Umsetzung von Innovationen vor allem von den „Geschäftspartnern“ und „nationalen/regionalen Behörden und Programmen“ aus (jeweils mehr als 47,6 %), aber auch Kunden (39,8 %), Beratung (38,8 %) und regionale/lokale Programme und Behörden (30,1 %) spielen eine wesentliche Rolle. Nach Meinung der Befragten liegt der Nutzen der Bereitstellung oder Anwendung einer Innovation vor allem in Wettbewerbsvorteilen (68,1 %), gefolgt von zusätzlichen Geschäftsfeldern (58 %), Verbesserung der Lebensbedingungen und Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze (jeweils 52,2 %) und Verbesserung der
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Arbeitsbedingungen (47,8 %). Weniger relevant ist die „Erfüllung rechtlicher Vorgaben“ (29 %). Infolge der umgesetzten Innovationen wurden laut 58 % der beantworteten Fragebögen bestehende Arbeitsplätze gesichert, laut 62 % neue Arbeitsplätze geschaffen, bei 65 % neue Einkommensmöglichkeiten eröffnet und sogar bei 76 % Verbesserungen in Bereichen wie Umwelt- und Naturschutz sowie bei den sozialen Strukturen etc. erreicht. Im Hinblick auf neu geschaffene Arbeitsplätze ergab sich ein breites Spektrum, das von Techniker (43,7 %) über Management (35 %), Service (34 %), Andere (25,2 %), Buchhaltung (24,3 %) bis hin zu Sekretariat (23,2 %) reichte. Damit lautet ein wesentliches Ergebnis, dass der „Beschäftigungsmotor Innovation“ seine Wirkung in verschiedenen Berufs- und Einkommensgruppen entfaltet. Voraussetzungen und Hemmnisse für die erfolgreiche Umsetzung von Innovationen Eine weitere Fragestellung beschäftigte sich mit den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung von Innovationen. Bei der Zusammenfassung der Bewertungen „sehr wichtig“ und „wichtig“, ergab sich folgendes Bild: Ausbildung und Wissen (95 %), Finanzierung (90,5 %), Marktzugang (90,5 %), Management (89 %), Unterstützung durch die Politik und einfache Genehmigungsprozesse (81 %), Akzeptanz (79,5 %), ermutigende Regulierungen (74,5 %), Informationsund Kommunikationstechnologie (74,5 %), Partner (76,5 %) und Beratung (72 %) wurden alle vergleichsweise hoch bewertet. Besonders deutlich wurde hier, welcher hohe Stellenwert der Aus- und Weiterbildung und den damit verbundenen Managementfähigkeiten zukommt. Darüber hinaus spielen auch der Zugang zu Finanzierungs- und Vermarktungsmöglichkeiten sowie die „Unterstützung durch die Politik und einfache Genehmigungsprozesse“ eine wichtige Rolle. Ein graduell differenziertes Bild ergab die direkte Frage nach Hemmnissen, die im konkreten Einzelfall die Umsetzung innovativer Ansätze verzögerten bzw. behinderten. Auffällig ist, dass hier eine fehlende Finanzierung (fast 44 %) an erster Stelle benannt wurde, gefolgt von Unsicherheit aufgrund mangelnder Aus- und Weiterbildung bzw. mangelnden Wissens (knapp 39 %) sowie unangemessenen Genehmigungsprozessen (ca. 38 %) und prohibitiven Regulierungen (33 %). Offenkundig ist die Bereitstellung der erforderlichen Finanzmittel in der Praxis ein wesentliche Faktor, der noch vor den eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten sowie den gesetzlichen Rahmenbedingungen und Genehmigungsprozessen rangiert und über den mehr oder minder problemlosen Verlauf innovativer Projekte
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entscheidet. Gleichwohl machen diese Angaben deutlich, welche große Bedeutung den gesetzlichen und administrativen Rahmenbedingungen zukommt. 3.2.2
Schlussfolgerungen
Ein so breites Spektrum, wie es die ländlichen Räume in Europa bieten, kann naturgemäß nicht vollständig mit einem Fragebogen abgebildet werden. Insofern erheben die mittels des RAPIDO-Fragebogens erhobenen Daten nicht den Anspruch, einen repräsentativen Überblick für Europa zu geben. Trotzdem ergänzen und konkretisieren die Ergebnisse des Fragebogens die Erkenntnisse, die der Literatur zu einzelnen Vorhaben entnommen werden können. Danach sind Aus- und Weiterbildung, Finanzierungsmöglichkeiten und politische bzw. administrative Rahmenbedingungen und Genehmigungsverfahren drei Kernbereiche, auf die ein besonderes Augenmerk gerichtet werden sollte, wenn das Ziel verfolgt wird, die Umsetzung von Innovationen in ländlichen Räumen zu stärken und zu fördern. Dass eine solche Stärkung und Förderung mit positiven Effekten auf den Arbeitsmarkt und die Schaffung zusätzlicher Einkommensmöglichkeiten – und gleichzeitig mit positiven Effekten für den Umwelt- und Naturschutz – einhergeht, konnte anhand der Fragebögen eindrucksvoll belegt werden. Deutlich wurde auch, dass die mit der Umsetzung von Innovationen einhergehende Schaffung von Arbeitsplätzen ein breites Spektrum von Tätigkeitsfeldern abdeckt, die ihrerseits wieder auf eine entsprechende Qualifikation der Beschäftigten aufbauen. Zusammenfassend können die Kernergebnisse und die sich daraus ableitbaren Empfehlungen wie folgt formuliert werden: • Seitens der Politik sollten Möglichkeiten und Maßnahmen geschaffen bzw. bereitgestellt werden, um den Prozess der Umsetzung von Innovationen finanziell zu fördern und diese Förderung mit unbürokratischer und wirkungsvoller Projektkontrolle zu begleiten. Die Verfügbarkeit der notwendigen Finanzmittel ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung von Innovationen bzw. im Fall unzureichender oder völlig fehlender Verfügbarkeit die am häufigsten genannte Ursache für das Scheitern innovativer Ansätze. • Die solide und breitangelegte Aus- und Weiterbildung sowie effizienter Wissenstransfer sind für die erfolgreiche Umsetzung von Innovationen unverzichtbar. Beides ist als eine klassische, primär öffentliche Aufgabe zu verstehen. Nur so lassen sich Unsicherheit und Misserfolge vermeiden, die auf einen Mangel an Ausbildung und Wissen zurückzuführen sind. • Staatliche / behördliche Aufsicht und Kontrolle: Ein Übermaß an z.T. auch zu langsamer Bürokratie, wenig flexible Verwaltungsverfahren und Geneh-
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•
•
4
Sandra Naumann, Andreas Frangenberg
migungsprozesse sowie einengende oder sogar prohibitive Regulierungen wirken als Barrieren gegen die erfolgreiche Umsetzung von Innovationen und müssen – mit entsprechendem politischem Willen – flexibilisiert und vereinfacht werden. Die „Top-Drei“ für zukünftige Investitionen in ländlichen Räumen sind nach den Ergebnissen des hier ausgewerteten Fragebogens in folgenden Bereichen zu finden: 1) erneuerbare Rohstoffe, schwerpunktmäßig zur energetischen Nutzung, bei der auch der Klimaschutz eine bedeutende Rolle spielt, 2) das weite Feld der Umweltleistungen (z.B. Naturschutz, Umwelttechnologien, flächendeckende Landwirtschaft etc.) sowie 3) Investitionen in die Infrastruktur (insbesondere Informations- und Kommunikationstechnologie in ländlichen Räumen). Gleichwohl sollten staatliche wie regionale Förderprogramme flexible genug sein, auch über die genannten „Top-Drei“ hinausgehende erfolgversprechende Ansätze zu ermöglichen.
Projekt-Ausblick
In zweiten Projektjahr, wird sich das RAPIDO-Projektteam verstärkt auf a) die Untersuchung der Beziehungen zwischen ländlicher Entwicklung und der Schaffung von Arbeitsplätzen, b) die Analyse der Rollen der verschiedenen Akteure hinsichtlich der Förderung und des Ergreifens von Initiativen, c) die Bewertung von Umwelttechnologie-Initiativen im ländlichen Raum, d) die Analyse der Rolle von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie e) die Untersuchung von vielversprechenden Methoden zur Förderung des Innovationsprozesses und des Wissenstransfers konzentrieren. Das Projekt RAPIDO zielt darauf ab einen aktiven Beitrag zur Entwicklung der Europäischen Politik des ländlichen Raumes sowie der Umsetzung der Lissabon- und Göteborg-Strategie zu leisten. Auf Basis der Analyse von Politikstrategien und -instrumenten sowie der Auswertung von innovativen Best Practice Beispielen im europäischen Raum sollen am Ende konkrete Handlungsempfehlungen für die Ausgestaltung einer zukünftigen ländlichen Entwicklungspolitik gegeben werden. Mit der geplanten Neugestaltung der Agrarpolitik ab 2012 erhält dieses Thema einen besonderen Stellenwert. Die Zielgruppe und Hauptnutzer dieser Ergebnisse umfassen neben politischen Entscheidungsträgern auf europäischer und nationaler Ebene alle relevanten Akteuren im ländlichen Raum wie Landnutzer, ländliche Netzwerke und Wirtschaftsunternehmen, aber auch Forschungsinstitute und Umweltverbände.
Landwirtschaftliche Wirtschaftsgemeinschaften (Community Supported Agriculture, CSA) – ein Weg zur Revitalisierung des ländlichen Raumes? Katharina Kraiß, Thomas van Elsen
Zusammenfassung Community Supported Agriculture (CSA), wörtlich übersetzt „gemeinschaftsunterstützte Landwirtschaft“, bezeichnet eine landwirtschaftliche Wirtschaftsoder Versorgergemeinschaft. Die Grundidee des CSA-Konzepts ist, dass ein Hof sein Umfeld mit Lebensmitteln versorgt, während das Umfeld für den Hof die nötigen finanziellen Mittel bereitstellt, um wirtschaften zu können. Beide Partner stehen in wechselseitiger Verantwortung. Das CSA-Konzept geht über Vermarktungsformen im konventionellen Sinne hinaus: Die Landwirtschaft finanziert sich nicht über den Verkauf einzelner Produkte, sondern über die Mitgliedsbeiträge. Erzeugnisse werden nicht auf dem Markt angeboten bzw. vermarktet, sondern werden ohne Preis an die Mitglieder verteilt. Im Idealfall ermöglicht dies dem Landwirt, der auf diese Weise von den Zwängen des freien Marktes befreit ist, nachhaltig zu wirtschaften. Der Begriff Community Supported Agriculture ist in Deutschland bisher wenig geläufig, obgleich seine Verbreitung in den USA wesentlich auch auf Impulse aus dem deutschsprachigen Raum zurückgeht. Aktuell gibt es in Deutschland acht CSA-Höfe und eine weitere CSA in Gründung. Erfolgsfaktoren, Voraussetzungen und Entwicklungsperspektiven für CSA in Deutschland werden im vorliegenden Beitrag vorgestellt und diskutiert.
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Auswege aus dem Preiskampf im Biosektor
Im Lebensmittelhandel findet eine zunehmende Konzentration statt. Der Preiskampf bewirkt einen starken Verdrängungswettbewerb, der durch die verbreitete Nachfrage der Konsumenten nach billigen Produkten gefördert wird. Dem Wettbewerbsdruck, der an Lieferanten und Produzenten weitergegeben wird (DBV 2007), sind zunehmend auch ökologisch wirtschaftende Landwirte ausgesetzt. Die aus dem Grundsatz der Kostenführerschaft resultierenden Wachstumsschritte
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der Betriebe und die weiteren Ersatzinvestitionen werden immer größer. Diese sind durch klassische Selbstfinanzierung kaum mehr zu realisieren. Die Folge ist eine immer stärkere Verschuldung der Landwirte. Darüber hinaus wirken die durch die geringeren Marktinterventionen der Agrarpolitik steigenden Investitions- und Betriebsrisiken zusätzlich existenzgefährdend (Bahrs et al. 2004). Seit den 1960er Jahren entstand in verschiedenen Teilen der Welt unabhängig voneinander ein Konzept, welches den Landwirten ermöglicht, von ökonomischen Zwängen befreit, nachhaltig zu wirtschaften. In den 1980er Jahren wurde hierfür der Begriff Community Supported Agriculture (CSA) geprägt. Im Rahmen einer Bachelorarbeit wurde ein aktueller Überblick über CSA in Deutschland gewonnen (Kraiß 2008).
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Was ist Community Supported Agriculture (CSA)?
Der Begriff CSA wurde in den 1980er Jahren in den USA geprägt. Die zugrundeliegende Philosophie stammt jedoch aus Europa. Jan VanderTuin brachte diese Ideen aus der Schweiz nach Amerika mit, wo er es in der CSA Indian Line Farm in Massachusetts umsetzte. Zur gleichen Zeit entwickelte sich unabhängig davon das CSA-Konzept in den USA in einem Kreis um Trauger Groh (Laird 1995) und in Deutschland auf dem Buschberghof. CSA ist ein Modell der verbindlichen Zusammenarbeit von Erzeugern und Verbrauchern, innerhalb dessen die Verantwortung und das Risiko gemeinsam getragen werden. Die Beiträge der Mitglieder ermöglichen eine an Prinzipien der Nachhaltigkeit orientierte Landwirtschaft. Die Landwirte bewirtschaften das Land nach bestem Wissen und Gewissen und versorgen die Menschen mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln. Die Produkte werden ohne Preis an die Mitglieder nach Bedarf verteilt. Es entstehen persönliche Beziehungen der Landwirte zu den Mitgliedern, der Mitglieder untereinander sowie aller Beteiligten zu dem Geschehen auf dem Land. Die Grundidee ist, dass ein Hof sein Umfeld mit Lebensmitteln versorgt, während gleichzeitig das Umfeld dem Hof die nötigen finanziellen Mittel bereitstellt. Beide Parteien stehen hier in wechselseitiger Verantwortung. Die Idee umfasst, einen weitestgehend geschlossenen Wirtschaftskreislauf anzustreben, der über den landwirtschaftlichen Betrieb hinaus die Verbraucher seiner Produkte mit einbezieht. Dies stellt eine Alternative zur gegenwärtigen Entwicklungstendenz in der Landwirtschaft dar. Grundgedanke ist, dass der Mensch als Gemeinschaftswesen von Natur aus kooperativ ist, und dass die Natur innerhalb gesunder Natur- bzw. Betriebskreisläufe genügend Überschüsse produziert, von denen die Menschen leben können (Stränz mdl. Mitt. 2007).
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Vorteile, die das CSA-Konzept Landwirten und Verbrauchern bietet, sind in Abb. 1 zusammengefasst.
Vorteile der Landwirte Freiheit zur Umsetzung einer den eigenen Werten entsprechenden LWS
Qualitativ hochwertige Lebensmittel und Sicherheit
Liquidität und finanzielle Sicherheit
Bezug zum Geschehen in der Landwirtschaft
Der Aufwand der Vermarktung entfällt
Beitrag zu Nachhaltigkeit und ökologischer Landwirtschaft
Verteilung des Risikos und der Verantwortung Optimale Verwertung der Erzeugten Produkte Persönliche Kontakte + Gemeinschaft
Abb 1:
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Vorteile der Verbraucher
Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung der eigenen Umgebung Persönliche Kontakte + Gemeinschaft
Vorteile des CSA-Konzepts für Landwirte und Verbraucher
Community Supported Agriculture in Deutschland
In Deutschland ist der Begriff Community Supported Agriculture bisher wenig geläufig. Die CSA-Höfe nennen sich meist Wirtschafts-, Selbstversorger- oder Versorgergemeinschaft. Die wörtliche Übersetzung „gemeinschaftsunterstützte Landwirtschaft“ findet kaum Verwendung. Den unterschiedlichen Bezeichnungen liegt das gleiche CSA-Konzept zugrunde, und es bestehen Bestrebungen, eine einheitliche Bezeichnung zu finden. Aktuell gibt es in Deutschland acht landwirtschaftliche Wirtschaftsgemeinschaften und eine weitere in Gründung (Tab. 1). Darüber hinaus wächst nach Aussage der Interviewpartner das Interesse an dem Konzept. Bisher gibt es kaum deutschsprachige Literatur und schriftliche Informationsquellen. Durch die bereitwillige Weitergabe von Erfahrungen der bereits bestehenden CSA-Höfe haben neu entstehende CSAs mittlerweile eine Basis, auf die sie aufbauen können. Im englischen Sprachraum werden in dem Standardwerk über CSA Farms of Tomorrow Revisited – Community Supported Farms – Farm Supported Communities (Groh & McFadden 1997) Grundlagen und Beispiele vorgestellt.
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Tabelle 1: CSA-Höfe in Deutschland
CSA-Höfe
Nächste EntCSA Stadt fernung Fläche Mitglieder* seit CSA**
Buschberghof Hamburg Kattendorfer Hof Hamburg Gärtnerhof Entrup Münster SchmittKaisershof lautern LandGut Lüb- Brandennitz burg Junge GbR/ Löwengarten Berlin Hof Hollergraben Lübeck Gastwerke in Gründung Kassel Karlshof
Berlin
Vollversorgung***
40 km
101 ha 92 Haushalte 1988 100 %
ja
40 km
154 ha 70 Haushalte 1998
50 %
ja
12 km
26 ha 36 Mitglieder 1999
3%
Schafprodukte
30 km
35 ha
50 km
16 ha 35 Mitglieder 2004
90 km
5 ha
45 km
12 ha
15 km 90 km
65 Haushalte 2003 100 % 75 %
85 Mitglieder 2006 100 %
7 Mitglieder 2007 20 % bis 200 Haus20 ha halte 2008 100 % 6 (50) ha 80 Personen 2006 100 %
ja keine Milch Gemüse Vegan ja Kartoffeln, Getreide
* **
Haushalt: 3–4 Personen; Prozentualer Anteil der über die CSA abgesetzten Produkte. Der Rest wird über herkömmliche Absatzwege vermarktet. *** Vollversorgung (ohne Salz, Öl, Luxusprodukte wie z.B. Wein) beinhaltet: Getreide, Gemüse, Fleisch, Milchprodukte.
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Community Supported Agriculture im Ausland
Im Gegensatz zu Deutschland haben sich in einigen anderen Ländern Interessensverbände sowie nationale und internationale Netzwerke gebildet, die die Umsetzung des CSA-Konzepts fördern. Beispiele sind die Soil Association im Rahmen von Cultivating Communities in England und Alliance PEC (Paysans Écologistes Consommateurs) in Frankreich. AFSIC (Alternative Farming Systems Information Center) wird in den USA durch das USDA (United States Department of Agriculture) unterstützt. Urgenci (Urban-Rural: Generating New Commitments between Citizens) ist ein Netzwerk, das anstrebt, auf Lokalität und Solidarität basierende Partnerschaften zwischen Konsumenten und Produzenten weltweit zu verbinden. Deutschland ist in diesem internationalen Netzwerk bisher
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nicht vertreten. Hinweise auf Websites der genannten Organisationen finden sich am Schluss des vorliegenden Aufsatzes. In der unzureichenden Förderung und Vernetzung liegt eine der Ursachen, warum es in Deutschland bisher relativ wenige CSA-Höfe gibt. Unterschiedliche Mentalität der Menschen, aber auch die uneinheitliche Verwendung des Begriffes CSA sind weitere Gründe. So werden im Ausland z.B. Vermarktungsmodelle unter CSA subsummiert, die in Deutschland als „Abokiste“ bezeichnet würden. Weiter existiert in Deutschland bereits eine größere Vielfalt an alternativen Modellen, die Kunden enger in das landwirtschaftliche Geschehen einbeziehen. Dazu zählen Landwirtschaftsgemeinschaften mit gemeinnütziger Trägerschaft, Gemüseselbsternte-Angebote bis hin zu multifunktionalen Dienstleistungen. Vor dem Hintergrund ihrer weitreichenden gesellschaftlichen und sozialen Ansprüche besteht ein fließender Übergang zu Initiativen der Sozialer Landwirtschaft.
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Abgrenzung des CSA-Konzepts von ähnlichen Modellen
Der wesentliche Unterschied zu ähnlichen Vermarktungsmodellen ist, dass CSA entsprechend der Definition von Vermarktung (Frohn et al. 1980) im Grunde keine Vermarktungsform im konventionellen Sinne darstellt: Die Mitgliedsbeiträge finanzieren die Landwirtschaft unabhängig von den Produkten. Diese werden nicht auf dem Markt angeboten bzw. vermarktet, sondern werden ohne Preis an die Mitglieder verteilt. Die einzelnen Lebensmittel verlieren so ihren Preis und erhalten damit ihren Wert zurück (Stränz mdl. Mitt. 2007). Bei keiner anderen „Vermarktungsform“ besteht ein vergleichbar enger Kontakt zwischen den Mitgliedern und dem Landwirt und damit intensive Kundenbindung. Auch die Übernahme persönlicher Verantwortung und die Möglichkeit von direkter Einflussnahme auf die Art der Landwirtschaft sind in keinem anderen Modell so stark ausgeprägt. Finanzielle Absicherungen werden im größten Umfang durch ein Netz von menschlichen Beziehungen ersetzt. Das dafür nötige Vertrauen wiederum ist nur durch persönliche Kontakte und überschaubare Organisation möglich. Dadurch entsteht ein Maximum an Transparenz, die den Mitgliedern Sicherheit gibt. Ein weiterer Unterschied ist, dass bei CSA der größte Teil des Aufwandes und der Kosten der Vermarktung entfallen (Trenthoff, mdl. Mitt. 2007).
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Bedeutung der Regionalität
Im Gegensatz zu Konzentration im Lebensmittelhandel und Entregionalisierung wirkt regionale Vermarktung der Entfremdung von Verbrauchern und Landwirtschaft entgegen, wodurch deren Image und gesellschaftliche Akzeptanz gestärkt werden (von Alvensleben 2000). Sowohl die Förderung der Verbindung der Verbraucher zur Landwirtschaft als auch die Vermittlung von landwirtschaftlichen Zusammenhängen sind wesentliche Aspekte des CSA-Konzepts. Verbraucherbefragungen belegen, dass der regionalen Herkunft bei Nahrungsmitteln eine zunehmende Bedeutung beigemessen wird (Balling 2000). Dieser Trend wird sich mit zunehmendem Gesundheitsbewusstsein und mit dem zunehmenden Durchschnittsalter der Bevölkerung weiter fortsetzen (DBV 2007). Positiv auf Kaufentscheidungen wirken sich Identifikation, Überschaubarkeit und Vertrauen aus. Die Assoziationen fallen umso positiver aus, je konkreter und kleinräumiger der Herkunftsbezug ist (Balling 2000). Diese drei Aspekte sind im Rahmen des CSA-Konzepts in höchstem Maße umgesetzt.
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CSA und der Aspekt der Versorgungssicherheit
Um die Bedeutung einer eigenverantwortlichen Organisation der Vermarktung und Lebensmittelproduktion hervorzuheben, sei hier der Aspekt der Versorgungssicherheit in Kürze dargestellt. Im Laufe der fortschreitenden Entwicklung wurde und wird das Versorgungsnetz entsprechend der wachsenden Abhängigkeiten anfälliger gegen mögliche Schadereignisse sowohl natürlicher als auch anthropogener Ursachen. Sicherheit und Vorsorge, die Kosten verursachen, stehen im Zielkonflikt mit der Gewinnmaximierung und werden daher wenig berücksichtigt. Eine vom BMELV veröffentlichte Studie ergab, dass u.a. im Falle eines Stromausfalls über mehrere Tage, und ohne eine funktionsunfähige EDV und IT-Infrastruktur keine Belieferung oder Verteilung von Lebensmitteln möglich ist und eine Versorgung nicht gewährleistete werden kann. Das Problembewusstsein vieler Experten und Praktiker diesbezüglich ist nur wenig ausgeprägt (Platz 2005). Viele der Risiken werden beim CSA-Konzept minimiert: Probleme mit der Versorgung mit Lebensmitteln auf Grund weiter Transportwege, Kommunikation und Finanzen sind weitestgehend ausgeschlossen. Auf den Finanzsektor ist das System CSA weniger angewiesen, da ggf. die Mitgliedsbeiträge durch Arbeit ersetzt werden können. Je näher die Mitglieder einer CSA an dem landwirtschaftlichen Betrieb wohnen, der sie versorgt, umso geringer ist das Risiko, dass Kommunikation und Transport zum Problem werden. Stromausfall würde auch CSA-
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Höfen Schwierigkeiten bereiten, jedoch keine dramatischen Konsequenzen nach sich ziehen und durch Arbeitskräfte teilweise kompensiert werden. Auch das im Krisenfall bereits bestehende soziale Netz ist ein wichtiger Aspekt. Auf Grund der angestrebten Ziele eines geschlossenen Betriebskreislaufes, einer ausreichenden Zahl an Arbeitskräften, und auch des Vertrauens, auf dem die Lebensmittelverteilung basiert, scheint das CSA System nicht nur ökologisch sondern auch krisensicher zu sein. „Krisen meistert man am besten, indem man ihnen zuvor kommt.“ (Whiteman in Künast 2002)
8
Erfolgsfaktoren für die weitere Entwicklung von CSA in Deutschland
8.1
Voraussetzungen
Voraussetzung für die Umsetzung des im CSA-Konzept Veranlagten ist das Bewusstsein über die zugrunde liegenden Ideen und Ziele. Oder mit den Worten des Dichters Christian Morgenstern: „Wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben.“ Daher hängt die Möglichkeit der Ausbreitung wesentlich von der anschaulichen Vermittlung der konzeptionellen Ideen und Ziele der CSA ab. Entsprechendes gilt für den Erfolg bereits bestehender CSA-Höfe selbst. Ein Mangel an Einsicht der Mitglieder in die Hintergründe und Vorteile des Konzepts kann leicht dazu führen, das Projekt zu gefährden. Wesentlich sind Persönlichkeiten, die Interesse wecken, die Ideen vermitteln und für deren Umsetzung begeistern können (Besch et al. 2000). Ein klares Konzept, eine starke Kerngruppe sowie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sind wesentliche Erfolgsfaktoren (Weber 2006). Mangelnde Kommunikation und Kooperations-Bereitschaft stellen die größten Problembereiche regionaler Vermarktung dar (Besch et al. 2000). Regelmäßige persönliche Kontakte der Landwirte und Verbraucher sowie der Verbraucher untereinander gewährleisten gegenseitiges Vertrauen und Wertschätzung. Ein weiterer wesentlicher Erfolgsfaktor ist die Freiwilligkeit, die gewährleistet, dass die Mitglieder aus eigener Motivation und Überzeugung heraus handeln. Dazu gehört auch die gemeinnützige Trägerschaft des Grund und Bodens, ggf. auch der Gebäude und des Inventars, die den Mitgliedern ein tiefere emotionale Bindung und ein tieferes Vertrauen ermöglicht. Die Fähigkeit und Bereitschaft des Landwirtes, auf die Mitglieder einzugehen, trägt viel zu Kontinuität und Zufriedenheit der Mitglieder bei. Die Mitglieder selbst sind die besten „Werbeträger“, um neue Mitglieder zu gewinnen, da sie die Vertrauenswürdigkeit des jeweiligen Landwirts glaubwürdig vermitteln kön-
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nen. Die von den interviewten deutschen CSA-Landwirten genannten Voraussetzungen, um eine CSA aufzubauen, sind in Abb. 2 zusammenfassend dargestellt.
Abb. 2:
8.2
Erfolgsfaktoren für die Neugründung einer CSA
Entwicklungsperspektiven von CSA in Deutschland
Zukünftig sind die Einbeziehung des weiterverarbeitenden Gewerbes, des Handels oder größerer Abnehmer wie Kantinen ebenso wie die Überregionalisierung oder Zusammenarbeit mehrerer kleiner Betriebe denkbar. Die Verknüpfung von Tauschringen und Lebensmittelkooperativen mit dem CSA-Gedanken stellen eine weitere Möglichkeit dar. Darüber hinaus bieten sich Lösungsansätze für bestehende soziale und landwirtschaftliche Probleme, z.B. im Zusammenhang mit der Hofnachfolge und Hofneugründungen, oder bei der Existenzsicherung und Finanzierung einer nachhaltigen Landwirtschaft. Auch ermöglicht das CSAKonzept landwirtschaftlichen Betrieben die Unabhängigkeit von Subventionen. Durch die Abkoppelung des Mitgliederbeitrages von den Produktpreisen kann ein sozialer Ausgleich geschaffen werden, der es Menschen mit geringem Budget erlaubt, teilzunehmen und ggf. Mithilfe als Gegenleistung einzubringen. Die verschiedenen Aspekte der Zukunftsperspektiven des CSA-Konzepts, die in den Interviews genannt wurden, sind in Abb. 3 zusammengefasst.
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Trotz vorhandenen Interesses von Landwirten und Verbrauchern an dem Konzept führen einige Aspekte zu zögerlichem Verhalten bezüglich der Entscheidung zur Umsetzung des CSA-Konzepts. Häufig mangelt es an Vertrauen, das bei anderen Konzepten durch detaillierte Verträge und Regelungen ersetzt ist. Die zunehmend bessere Verfügbarkeit von ökologischen Produkten, ein nicht vorhandenes soziales Umfeld und fehlende Kontakte nicht direkt vermarktender Betriebe zu potenziellen Kunden sind weitere Hemmnisse für die Verbreitung von CSA. Landwirten mangelt es an Zeit und Informationsmöglichkeiten, um sich eingehend mit dem Konzept auseinanderzusetzen, das mit den individuellen Möglichkeiten des eigenen Betriebes in Einklang zu bringen ist. Diese Hemmnisse sollten jedoch als Herausforderung betrachtet werden. Mit zunehmender Auseinandersetzung erschließen sich tiefgreifendere Dimensionen, die es sich bewusst zu machen gilt – Landwirtschaft leistet über ihre Aufgabe der Versorgung mit Lebensmitteln hinaus einen wichtigen sozialen Beitrag zur Bewusstseinsbildung und dem Wohlergehen der Gesellschaft. Hemmschwellen:
Bietet:
• Eingeschränkte Kontrollmöglichkeit und Flexibilität
• Alternativen: z.B. bei Problematiken im Zusammenhang mit der Hofnachfolge
• Erforderliches Umdenken
• Sicherung der Finanzierung • Möglichkeiten der Übernahme von Eigenverantwortung und aktiver Mitgestaltung
• Agrarpolitik • Andere, vorhandene Alternativen
Perspektive:
Gegebenheiten: • Ausreichend Informationen zur Umsetzung • Viele Anknüpfungspunkte • Bestehendes Interesse • „Wo ein Wille, da ein Weg“ • Mentalität
Abb. 3:
8.3
• Verbindung zu der Landwirtschaft
Ausbreitung des CSA-Konzepts Zunehmend: • Konventionalisierung des „Mainstream Bio“ • Entfremdung der Stadtbevölkerung von der LWS • Gesundheitsbewusstsein • Problematik der Finanzierung landwirtschaftlicher Betriebe
Aspekte der Zukunftsperspektiven des CSA-Konzepts
Ansatzmöglichkeiten für die Umsetzung
Bestehende Höfe können durch engagierte Öffentlichkeitsarbeit das erforderliche Umfeld aufbauen. Indem den Menschen Möglichkeiten gegeben werden, sich entsprechend ihren individuellen Möglichkeiten von Kuchenbacken über Obstbaumpflege bis hin zur Gewährung eines Darlehens einzubringen, identifizieren
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sie sich mit dem Projekt und dessen Gelingen. Regelmäßige Ansprache und Information über das laufende Geschehen fördern eine enge Bindung an den Hof (Roth in Olbrich-Majer 2004). Eine CSA kann auch auf Initiative von Nicht-Landwirten entstehen. Bestes Beispiel ist „Farmer John“, in dessen autobiographischem Film die Gründung der eigenen CSA durch Nachfrage von Verbrauchern aus der Stadt ausgelöst wurde. So kann z.B. eine Gruppe von Menschen auf den Landwirt zugehen oder in Eigeninitiative mit einem gemeinsam betriebenen Hausgarten beginnen, der je nach Bedarf und Potential erweitert werden kann (Boje schr. Mitt. 2007). Jeder Einzelne kann zu einem Wandel in der Landwirtschaft und zur Ausbreitung des CSA-Konzepts aktiv beitragen (Roeckl 2003). Bodeneigentümer können ihre Flächen schrittweise in gemeinnützige Trägerschaft überführen oder günstig an Landwirte verpachten, welche Interesse an der Realisierung des CSA-Konzepts haben. Als Mitglied z.B. von Kirchengemeinden, von Parteien oder Naturschutzverbänden lässt sich durch Nachfragen und Information Einfluss nehmen. Über Geldanlagen bei Banken mit ökologisch orientierter Geschäftspolitik können Sparer CSA-Höfen zinsgünstige Kredite ermöglichen. Damit können sich neugründende CSAs in gewissem Umfang die erforderlichen Voraussetzungen selbst schaffen. Für die weitere Entwicklung der CSAs und insbesondere in der Öffentlichkeitsarbeit ist jedoch die Unterstützung von außen gefragt. Der Ausbau der Vernetzung, der gegenseitigen Unterstützung und des Informations- und Erfahrungsaustausches kann Hemmschwellen abbauen und die bisher öffentlich kaum wahrgenommenen Aktivitäten von CSA-Höfen zugänglicher machen. Die Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls spart Kräfte und kann weitere Unterstützung finanzieller und nicht finanzieller Art mobilisieren. Im Rahmen eines Fördervereins z.B. können auch solche Menschen ihre Unterstützung einbringen, die noch keine Gelegenheit der Umsetzung einer CSA haben. Denkbar wäre, dass beispielsweise der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) oder das Agrarbündnis, als dessen Schwesterorganisation sich Alliance PEC versteht (Stränz schr. Mitt. 2007), eine der Alliance PEC und Soil Association entsprechende Rolle als Pressure-group in Deutschland übernehmen. Mit Hilfe von Veränderungsmanagement in der Landwirtschaft und Bürgerbeteiligung könnten Agrarverwaltung und Beratungsorganisationen dem Wandel in der Landwirtschaft Rechnung tragen (Ellermann-Kügler 2001). Durch das Angebot von prozessbegleitender Beratung und Coaching könnte die Etablierung der CSA-Konzepte aktiv gefördert werden. Weiter können durch Information und Akquise öffentliche Fördergelder verfügbar werden, indem z.B. entsprechende Projekte, etwa über die Programmplanung des ELER, beantragt werden.
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Die wissenschaftliche Begleitung von CSA-Projekten kann Neugründungen unterstützen, Problembereiche analysieren und Konzepte optimieren. Es besteht Forschungsbedarf: Welche Faktoren beeinflussen die Möglichkeit eine CSA, sich in einer bestimmten Region zu etablieren? Wie weckt man am besten die Motivation und Einsicht der Menschen? Das CSA-Konzept hat gute Perspektiven für eine weitere Ausbreitung in Deutschland und das Potential, einen wichtigen Beitrag zur Revitalisierung des ländlichen Raumes zu leisten.
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Roeckl, C. (2003): Die gegenwärtige Situation der Landwirtschaft und Perspektiven einer praktischpolitischen Agrarwende. − Zeitschrift für Sozialökonomie 138/2003. 3–11, Kiel. Roth, S. (2004): Mitträger finden für gemeinnützige Landwirtschaft – Fragen an Stefan Roth, Birkenhof. − In: Olbrich-Majer, M: Den Hof stiften. Lebendige Erde 5: 8–17, Darmstadt. von Alvensleben, R. (2000): Verbraucherpräferenzen für regionale Produkte: Konsumtheoretische Grundlagen; in: Agrarspektrum 30, DLG-Verlags-GmbH: 67–93, Frankfurt/Main. Weber, O. (2006): Economic and Regional Aspects of Communal Living: An Evaluation of the Selbstversorgergemeinschaft Allmende Fläming – A form of Community Supported Agriculture (CSA) – Using Orientor Theory with Special Regard to Sustainability. − Master´s Thesis – Faculty of Agricultural Sciences (11) – Department of Sustainable Regional Development. University of Kassel, 62 S. Whiteman, W. (1819 – 1892), zitiert in: Künast, R. (2002): Klasse statt Masse – Die Erde schätzen, den Verbraucher schützen. Econ Ullstein List Verlag GmbH, München, 254 S.
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Leistungen Sozialer Landwirtschaft in Deutschland. Perspektiven
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Leistungen Sozialer Landwirtschaft in Deutschland. Perspektiven im ländlichen Raum Marie Kalisch, Thomas van Elsen
Zusammenfasssung Das Europäische SoFar-Projekt (Social Farming) zielt auf eine Bestandsaufnahme Sozialer Landwirtschaft in den sieben beteiligten Ländern, die Intensivierung der Zusammenarbeit der Akteure auf nationaler und internationaler Ebene sowie der Förderung politischer Rahmenbedingungen für die Soziale Landwirtschaft. In diesem Werkstattbericht werden zunächst die Arbeitsphasen und Ziele des Sofar-Projektes kurz vorgestellt und der Begriff der Sozialen Landwirtschaft entwickelt. Die therapeutisch, pädagogisch und sozial engagierten Höfe erbringen Leistungen, die die Region stärken und der Gesellschaft nützen. Anhand von Hofbeispielen werden ihre Tätigkeiten, die von vielfältiger Landbewirtschaftung und Landschaftspflege, Haltung bedrohter Nutztierrassen und Anbau aussterbender Kulturpflanzen bis hin zu handwerklicher Verarbeitung und direkter Vermarktung reichen, veranschaulicht. Um Soziale Landwirtschaft zu fördern, müssen die strukturellen Voraussetzungen verbessert und die Wahrnehmung und Anerkennung ihrer Leistungen verstärkt werden.
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Das Europäische SoFar-Projekt (Social Farming)
Ziel des Europäischen Projektes, an dem sieben Länder − Italien, Frankreich, Irland, Niederlande, Belgien, Slowenien und Deutschland − beteiligt sind, ist die Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen für Soziale Landwirtschaft und des länderübergreifenden Austauschs zwischen Forschung und Praxis. SoFar wird von der EU im Rahmen des „6. Rahmenprogramms- 8.1.B.1.1 Modernisierung und Nachhaltigkeit der Land- und Forstwirtschaft, einschließlich ihrer multifunktionalen Rolle, um so die nachhaltige Entwicklung und Förderung des ländlichen Raums sicherzustellen“ gefördert, hat eine Laufzeit von 30 Monaten und endet im Oktober 2008. Die erste Projektphase war der Bestandsaufnahme und Situationsanalyse gewidmet, es wurden Literatur ausgewertet, Adressen recherchiert, Fragebögen an besonders innovative Beispiel-
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betriebe verschickt und so eine Übersicht über Institutionen und Akteure gewonnen (van Elsen & Kalisch 2007a). Die Website des Projektes (www.sofar-d.de) und ein Newsletter, der auf Anfrage beim FiBL in Witzenhausen erhältlich ist, informieren über laufende Veranstaltungen, Tätigkeiten und Ergebnisse. In der derzeit laufenden zweiten und dritten Projektphase werden Foren auf Länder- und Europäischer Ebene veranstaltet, die zum Ziel haben, den Austausch von Forschern, politischen Entscheidungsträgern und Praktikern zu ermöglichen und zu fördern. Gemeinsam wird an Strategien zur Weiterentwicklung Sozialer Landwirtschaft gearbeitet. In der letzten Projektphase sollen die Projektergebnisse kommuniziert und verbreitet werden. Eine Buchpublikation sowie eine Audiovisuelle Dokumentation als DVD sind in Vorbereitung. Ausserdem wurde ein Informationsblatt erstellt und Artikel in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht, z.B. van Elsen et al. (2006) oder van Elsen & Kalisch (2007b).
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Was ist Soziale Landwirtschaft?
Überall in Europa erfüllt Landwirtschaft soziale Aufgaben in ländlichen Räumen. „Soziale Landwirtschaft“ ist mehr. Ihr Spektrum reicht von landwirtschaftlichen Betrieben, landschaftspflegenden Unternehmen und Gärtnereien (allgemein: „Grüne Bereiche“), die therapiebedürftige und sozial benachteiligte Menschen in Arbeitsprozesse einbinden, bis hin zu Schul- und Kindergartenbauernhöfen, die Kinder bei der Entstehung von Nahrungsmitteln unmittelbar einbeziehen. Soziale Betriebe bieten Entwicklungsmöglichkeiten und Erlebnisfelder für Menschen mit psychischen, geistigen oder körperlichen Behinderungen, Langzeitarbeitslose, Emigranten, ehemalige Straffällige oder Menschen mit Suchtproblemen, alte Menschen als aktive Ruheständler, schwache oder psychisch kranke Menschen, straffällige oder lernschwache Jugendliche, und nicht zuletzt auch für Kinder.
Leistungen Sozialer Landwirtschaft in Deutschland. Perspektiven
Abb. 1:
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Arbeitsbereiche der Sozialen Landwirtschaft
Kurzum: auf sozialen Höfen werden die klassischen Wirtschaftsbereiche Pflanzen- und Tierproduktion um pädagogisch bzw. therapeutisch wirksame Arbeitsbereiche erweitert und soziale Leistungen erbracht. Insofern ist Soziale Landwirtschaft interdisziplinär: Beteiligt sind nicht nur die Pädagogik (z.B. Natur- und Umweltpädagogik) und der Bereich der sozialen Arbeit (z.B. Bereich Beschäftigung und Rehabilitation), sondern auch die Bereiche Medizin, Gesundheit und Heilung (green care, verschiedene Therapieformen: Garten-, Ergo- und Tiergestützte Therapie). Und Soziale Landwirtschaft umfasst auch andere „grüne Bereiche“, wie Garten- und Landschaftsbau, Obstbau, etc.. Die Zusammenarbeit, die Nutzung der Synergien zwischen diesen Disziplinen stellt vor Ort (Organisationsund Kommunikationsstruktur, Verteilung der Kompetenzen und Gewichtung der Aufgabenbereiche) als auch auf Ebene der Administration und Politik eine Herausforderung dar (Vergabe von Fördermitteln, Auslegung der Rechtsgrundlagen). Besonders geeignet sind Betriebe mit übersichtlicher Struktur und vielfältigen Aufgabenbereichen, in denen die integrierten Menschen selbständig arbeiten, lernen und wachsen können. Diese Arbeitsbereiche sind meist handarbeitsintensive, wie Tierhaltung, Landschaftspflege, Gemüse-, Kräuter- oder Kartoffelbau.
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Marie Kalisch, Thomas van Elsen
Häufig werden die Produkte selbst verarbeitet und direkt (van Elsen & Kalisch 2007b) vermarktet. Die Voraussetzungen zur Integration, Betreuung und Begleitung von Menschen in diese vielfältigen Tätigkeiten bieten besonders Gemischtbetriebe mit passender Sozialstruktur. Verschiedene Studien ermittelten, dass ca. 60 % der sozialen Landwirtschaftsbetriebe ökologisch wirtschaften (Lenhard et al. 1997: 467, AGÖL 2000). Soziale Landwirtschaft ist eine Perspektive multifunktional verstandener Landwirtschaft: Hauptprodukte sind nicht nur die Verkaufsfrüchte, sondern Gesundheit und Beschäftigung, Bildung oder Therapie – der Landbau als Möglichkeit, Menschen an den vielfältigen Tages- und Jahresrhythmen teilhaben zu lassen. Bringen sich diese Menschen aktiv ein, verändern sie im Gegenzug auch die Höfe in Struktur und Atmosphäre. Deshalb erfüllen soziale Höfe häufig wichtige Funktionen im ländlichen Raum, wenn sie, ausgestattet mit vielen helfenden Händen, die Landschaft pflegen, Infrastrukturen schaffen, durch Verarbeitung und regionale Vermarktung Werte schöpfen und Beschäftigung bieten. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Idee der Sozialen Landwirtschaft als Arbeit und Beschäftigung „gesellschaftlicher Randgruppen“ auch negative Assoziationen auslösen kann. Besonders die Diskussion um Arbeit auf Höfen für Menschen mit Behinderung und die „heilsame Wirkung der Arbeit“ ist vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit sehr sensibel. Es geht bei der Sozialen Landwirtschaft nicht darum, dass man „Jemanden findet, der die Arbeit macht“. Die landwirtschaftliche Arbeit kann für manche Menschen sehr geeignet sein, weil sie an frischer Luft stattfindet und mit viel Bewegung verbunden ist. Der landwirtschaftliche Betrieb ist aber nicht nur Produktionsstätte für Lebensmittel und nachwachsende Rohstoffe, sondern er wird zum Lern-, Erfahrungs-, Therapie- und Wohnort, zum Arbeitsplatz, zum Ort der sozialen Begegnung und Kultur – und zwar dadurch, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen diese individuellen Erfahrungen möglich sind.
3
Was leistet Soziale Landwirtschaft?
Im Folgenden werden verschiedene Leistungen sozialer Höfe betrachtet: Was wird geleistet? Welche Vorteile ergeben sich für die integrierten Menschen, den Landwirt oder den landwirtschaftlichen Betrieb? Welche Anforderungen, sollte der Hof oder Landwirt erfüllen, um Synergien zu nutzen?
Leistungen Sozialer Landwirtschaft in Deutschland. Perspektiven
3.1
199
Welche Anforderungen werden an die Arbeit, Arbeitsplätze und Betriebszweige gestellt?
Die folgende Zusammenstellung von Kriterien im Bereich der Arbeit mit behinderten Menschen (nach Hermanowski 1992: 23; Kalb 1999: 10; Hermanowski 2005 und Carl 2005) gilt nicht für alle Höfe und integrierten Menschengruppen gleich. Sie zeigt aber, in welcher Weise sich ein Betrieb auf sein Klientel einstellen sollte: Die Arbeit, Arbeitsplätze und Betriebszweige sollten gut strukturiert sein. Wesentlich sind Wiederholung, Pausen und Rhythmen, in Teilschritten erlernbare Handgriffe und erfahrbare Kreisläufe, die der integrierten Person das Arbeiten übersichtlich und nachvollziehbar gestalten. Vielen Klienten fehlen die kognitiven Fähigkeiten, anspruchsvolle Maschinen und komplizierte Verfahren zu bedienen. Um sie dennoch so zu integrieren, dass das Ziel der größtmöglichen Selbständigkeit und Eigenbestimmung erreicht werden kann, eignen sich einfache Handgriffe und maßvoller Maschineneinsatz. Die Arbeiten sollten verschieden anspruchsvoll und auf die jeweilige Leistungsfähigkeit abgestimmt sein. Ein langsames Tempo und wenig Druck auch bei Arbeitsspitzen sind Voraussetzungen für psychische Gesundheit und ein gutes Betriebsklima, erfordern aber von dem anleitenden Landwirt ein gutes Geschick in der Arbeitsorganisation. Der Arbeitsplatz sollte Rückzugsmöglichkeiten und emotionale Unterstützung bieten. Eine weitere Herausforderung ist die Unfallgefahr, die so gering wie möglich sein sollte. Nicht zuletzt sollten Erfolge erfahrbar sein und Leistungen mit Lob und Anerkennung honoriert werden. 3.2
Welche Anforderungen werden an die Person des Landwirts gestellt?
Von der Person des Landwirts werden vielfältige Qualifikationen und Kompetenzen erwartet, mit denen er in der Lage ist, die Arbeitsmöglichkeiten und Persönlichkeitsentwicklung der Betreuten zu fördern (Kalb 1999: 13). Einerseits benötigt er landwirtschaftliche Kenntnisse in Produktion, Betriebswirtschaft und Marketing. Andererseits wird erwartet, dass er über pädagogische Fähigkeiten und Führungsqualitäten verfügt, dass er Arbeiten sinnvoll konzipieren, koordinieren und delegieren kann sowie Über- und Unterforderungen bei seinen Mitarbeitern vermeidet. Mit Teamfähigkeit und sozialem Engagement sollte er in der Lage sein, eine gute Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Trotz dieser besonderen Managerqualitäten werden Betriebsleitern in der Sozialen Landwirtschaft keine hohen Gehälter gezahlt (Hermanowski 1992: 26, 32).
200
3.3
Marie Kalisch, Thomas van Elsen
Vorteile der Integration für die Person des Landwirts bzw. den Betrieb
Die in verschiedenen Umfragen und Interviews gegebenen Antworten auf die Frage nach der Motivation der Höfe und Landwirte, sich im Bereich der Sozialen Landwirtschaft zu engagieren, lassen sich auf drei Hauptmotive zuspitzen (vgl. van Elsen & Kalisch 2007a). Von enormer Wichtigkeit sind die soziale Einbindung, Anerkennung und das soziale Netzwerk, die sich mit dem Angebot von sozialen Leistungen auf den Höfen einstellen. Und zwar nicht nur für die integrierte Zielgruppe, deren Lebensbedingungen die sozialen Betriebe verbessern wollen, sondern auch für die Landwirte selbst, die eine „Bereicherung des Lebens auf dem Hof“ und sozialen Rückhalt in einer Gemeinschaft erleben. Durch die Ausrichtung auf mehr Handarbeit und durch die Integration zusätzlicher Arbeitskräfte können alternative Betätigungsbereiche erschlossen werden. Dem Wunsch nach „Vielfalt“ und der Möglichkeit, z.B. eigene Produkte selbst zu verarbeiten und direkt an den Markt zu bringen, können so entsprochen werden. Gekoppelt damit ist das Motiv der Erschließung alternativer Einkommensquellen, der Nutzung vorhandener Infrastruktur oder des Zugewinns einer gewissen „Unabhängigkeit vom Markt“. 3.4
Was wird darüber hinaus regional bzw. lokal wirksam geleistet?
Nicht nur die integrierten Personen, Höfe und Landwirte, sondern auch das Umfeld der Höfe kann von Leistungen des Hofes profitieren. Im Folgenden seien einige mögliche Leistungen für die Region und Gesellschaft genannt: •
•
Vielfältige Landbewirtschaftung und Landschaftspflege Auch relativ klein strukturierte Höfe oder Betriebe, die unter erschwerten Bedingungen (wie Klima, Bodenfruchtbarkeit oder Bergregion) wirtschaften, können durch zusätzliche (soziale) Einkommensquellen erhalten werden. Auch unter anderen Umständen „unwirtschaftliche“ Betriebszweige (wie Pflege der Landschaft, Naturschutzarbeit, Haltung bedrohter und wenig leistungsfähiger Nutztierrassen und vom Aussterben bedrohter Kulturpflanzen) können sich durch die soziale Ausrichtung gewissermaßen wirtschaftlich – sozial „legitimieren“. Handwerk, Verarbeitung und Vermarktung Regionaler Absatz, eigene Verarbeitung und Produktveredelung sowie teils auch die Eigenversorgung befördern die Wertschöpfung und sichern zusätzliche Arbeitsplätze.
Leistungen Sozialer Landwirtschaft in Deutschland. Perspektiven •
4
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Erhaltung von Infrastruktur und Lebensqualität im ländlichen Raum Durch die Verarbeitung, regionale Vermarktung werden Arbeitsplätze geschaffen. Es bilden sich soziale Netzwerke und unterstützende Strukturen, die gerade in schwachen Regionen wichtig sind. Besonders auch die Veranstaltung gemeinsamer Feste und kultureller Ereignisse, wie Hoffeste, Gottesdienste oder Seminare, können die Region bereichern.
Hofportraits
Mit den folgenden Hofbeispielen können die oben genannten Leistungen für die Region und der Vielfalt der Sozialen Landwirtschaft veranschaulicht werden. 4.1
Hofbeispiel: Quellenhof der Lebensgemeinschaft Bingenheim
Der Quellenhof gehört zur Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) der Lebensgemeinschaft Bingenheim (Echzell, Hessen). Ungefähr 12 behinderte Mitarbeiter helfen in der Haltung und Pflege von 40 Milchkühen, der Nachzucht und in der Bullenmast sowie bei der Haltung von fünf Sauen und der eigenen Mast ihrer Nachkommen. 1950 begann die Lebensgemeinschaft mit einem Hektar Land. Heute bewirtschaftet der Hof 100 ha (davon 55 ha Acker) biologischdynamisch, viele Flächen sind aus Sicht des Naturschutzes wertvoll. 4.2
Hofbeispiel: Hof Steinich des Haus Michael e.V.
Ein ausgezeichnetes Beispiel für einen sozialen Hof, der auf schwierigen Standorten eine Wertschöpfung erzielt, ist der biologisch-dynamisch wirtschaftende Hof Steinich. Er liegt in der Vulkaneifel (Rheinland-Pfalz) in einer Höhenlage, in der Landwirtschaft kaum mehr rentabel ist und wo nach Aufgabe der Bewirtschaftung Wiederbewaldung einsetzt. Seit den siebziger Jahren und seit 1996 betreut durch die Landwirtsfamilie Harborth, arbeiten hier vier autistisch schwerstmehrfach-behinderte Menschen der sozialtherapeutischen Einrichtung Haus Michael e.V. und bewirtschaften heute ca. 35 ha Land, davon 4 ha Acker, 5 ha Wald, 1 ha Gemüse und Streuobst. Sie halten die vom Aussterben bedrohten Glan-Kühe (8) und fördern seltene Pflanzenarten, wie die Arnika. Die Vermarktung der Produkte erfolgt im Hofladen und auf Wochenmärkten der Region.
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4.3
Marie Kalisch, Thomas van Elsen
Hofbeispiel: Hofgut Richerode der Hessischen Diakonie Hephata
Hofgut Richerode (Jesberg, Nordhessen) ist ein Beispiel für einen sozialen Hof, der durch eigene Verarbeitung eine besondere Wertschöpfung erzielt. Der schon seit 1915 von der Hephata zur Selbstversorgung der Heime und Kliniken eingerichtete Hof war seit den sechziger Jahren verpachtet und sollte in den neunziger Jahren abgegeben werden. Hephata entschied sich stattdessen für eine Profilierung im landwirtschaftlichen Bereich und baute Richerode aus zu einem Arbeitsbereich der Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM), in dem heute ca. 80 behinderte Menschen arbeiten. Der Bioland-Betrieb bewirtschaftet ca. 120 ha (davon 60 ha Acker), hält 50 Mastbullen, 200 Mastschweine, 400 Hühner, 160 Hähnchen, 150 Enten und 300 Gänse. Der Kartoffelschälbetrieb verarbeitet nicht nur die eigenen Kartoffeln, sondern auch die der umliegenden Biobetriebe und liefert sie an Großküchen. Außerdem werden biologisch erzeugte Kräuter abgepackt. 4.4
Hofbeispiel: Ökohof Kuhhorst der Berliner Mosaik-Werkstätten
Ein bundesweit bekannt gewordenes Beispiel für gelungene Integration von Menschen in landwirtschaftliche Zusammenhänge in Brandenburg ist der Ökohof Kuhhorst. Der Betrieb wurde im Januar 2006 mit dem „Förderpreis Ökologischer Landbau“ ausgezeichnet. Der Preisträger wurde mit folgender Begründung gewürdigt: „Der Ökohof Kuhhorst (Verband Gäa) hat in einem Modellvorhaben die soziale Integration von geistig behinderten Menschen in einem ökologisch geführten Landwirtschaftsbetrieb und angegliederten Verarbeitungsstätten für Getreide, Milch und Fleisch erfolgreich und vorbildhaft vollzogen. Mit dieser inzwischen fast 15 Jahre dauernden Arbeit und seinen selbst hergestellten Bioprodukten ist der Ökohof Kuhhorst zu einem starken Akteur in der Region Havelland geworden.“ (www.foerderpreisoekologischerlandbau.de).
4.5
Hofbeispiel: Therapiehof Helle Platte
Der landwirtschaftliche Therapiebetrieb Helle Platte nordöstlich von Stuttgart ist der sozialtherapeutischen Einrichtung Erlacher Höhe angeschlossen, die bis zu 35 alkoholkranken, wohnungslosen Männern eine stationäre Entwöhnungstherapie anbietet. Sie gehört zu einem überregionalen Verbund diakonischer Einrichtungen an zehn Standorten in Baden-Württemberg (Verein für soziale Heimstätten in
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Baden-Württemberg e.V. und Mitglied im Diakonischen Werk Württemberg und im Zentralverband sozialer Heim- und Werkstätten e.V.). Der 152 ha große landwirtschaftliche Betrieb (50 ha Ackerbau, 102 ha Grünland, 13 ha Streuobstflächen und 20 ha eigener Wald). wird nach biologisch-dynamischen Grundsätzen bewirtschaftet. Es werden 60 Mutterkühe und 80 Mastrinder sowie fünf Pensionspferde gehalten. Im Rahmen der Arbeits- und Beschäftigungstherapie arbeiten circa 20 Klienten, angeleitet von Landwirten und einem Arbeitserzieher sowie unterstützt von Praktikanten, an vier Tagen für jeweils vier Stunden pro Woche im landwirtschaftlichen Betrieb mit (Erlacher Höhe – www.erlacher-hoehe.de). Der so genannte „Bautrupp“ aus ca. acht sozialversicherungspflichtigen Männern, ehemaligen Klienten bzw. vom Arbeits- oder Sozialamt vermittelten Personen übernimmt Dienstleistungen handwerklicher Art (wie Abriss- und Malerarbeiten, Naturschutz und Landschaftspflege, Pflege von Streuobstflächen und Grünflächen sowie Neupflanzung und Pflege von Hecken, Wärme- und Energiebereitstellung für die sozialtherapeutische Einrichtung aus einer eigenen Biogasanlage, Stückholzheizung und einer Hackschnitzelanlage), die im Rahmen der Therapie nicht leistbar wären. Der Therapiehof strebt keine Gewinnmaximierung an. Vielmehr sollen mit den vorhandenen Ressourcen eine möglichst gute Arbeit zum Wohle der zu betreuenden Klienten erzielt werden und Arbeitsplätze erhalten bleiben. Für die Betreuung erhält die Landwirtschaft eine Pflegeausgleichszahlung, die innerhalb der Gesamteinrichtung festgelegt wird. Der Betrieb finanziert sich durch Erträge aus den herkömmlichen landwirtschaftlichen Produktionsverfahren, aus den Pflegesätzen für die Klienten, aus öffentlichen Zuschüssen und aus den Erträgen aus den Dienstleistungen (Mayer & van Elsen 2005). 4.6
Hofbeispiel: Schulbauernhof Hutzelberghof
Der Hutzelberghof in Oberrieden bei Bad Sooden- Allendorf bewirtschaftet ca. 6 ha Acker und 14 ha Grünland zum Teil alte Streuobstwiesen mit Kirschen, Äpfeln und Birnen biologisch-dynamisch. Mit Anleitung durch geschultes Personal und in kleinen Gruppen sind Schüler, Lehrer und Familien nicht nur Zaungäste, sondern für eine Woche selbst Bauern, die füttern, melken, käsen, buttern, Brot backen, Acker- und Gemüsebau betreiben, imkern, kochen und lernen, wie Lebensmittel entstehen, handwerklich verarbeitet werden und wie man sich gesund ernährt (Informationsfaltblatt Hutzelberghof, o.J.; www.hutzelberg.de).
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4.7
Marie Kalisch, Thomas van Elsen
Hofbeispiel: Hof Hauser bei Kassel
Als letztes Beispiel sei der Hof Hauser in der Langelmühle in Wolfhagen (Nordhessen) genannt. Es handelt sich um eine Kleinstlandwirtschaft auf fünf Hektar bewirtschafteter Fläche und einem alten Mühlengelände, auf dem seit dem Jahr 2001 die beiden Gründer und Praktikanten die hofeigenen Tiere, Pferde, Esel, Milchziegen, Schafe, Gänse, Hühner und Enten führen und pflegen, den Garten und die Wiesen bewirtschaften und 1,5 ha Wald u.a. zur Laubheugewinnung nutzen. Eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe ist in den Hofbetrieb integriert. Auf dem Hof Hauser und anderen Einrichtungen der Jugendhilfe auf landwirtschaftlichen Betrieben lernen Jugendliche nicht nur Handwerk und die Kultur der Nahrungsmittelgewinnung, sondern Verantwortung für andere und sich selbst zu übernehmen.
5
Unterstützung Sozialer Landwirtschaft
5.1
Welche Unterstützung „von außen“ braucht Soziale Landwirtschaft?
Im Oktober 2007 fand im Rahmen des SoFar-Projektes, veranstaltet vom deutschen Projektpartner, dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL), eine öffentliche Tagung mit dem Titel „Der Mehrwert Sozialer Landwirtschaft“ am Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel in Witzenhausen statt. In Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Tagungsteilnehmern wird ein Positionspapier zur Sozialen Landwirtschaft in Deutschland verfasst, das sich mit Forderungen und Vorschlägen an politische Entscheidungsträger richtet und für eine Unterstützung sozialer Landwirtschaft wirbt. Folgende Aspekte sind dem Entwurf zu diesem Positionspapier entnommen, das nach Fertigstellung auf der Projekt-Homepage zu lesen sein und publiziert werden wird: Soziale Höfe stehen unter großem ökonomischem Druck. Sowohl im Agrarbereich als auch im Sozialwesen werden Leistungen gestrichen oder werden nicht mehr langfristig gewährleistet. Um Kosten zu sparen sind auch soziale Höfe gezwungen, dem Trend zu Technisierung und Spezialisierung zu folgen. Andere Höfe finanzieren sich über Spenden und Lohnverzicht der Mitarbeiter. Ein Hauptanliegen sollte deshalb sein, die Finanzierung dieser Höfe und die bestehende Vielfalt zu sichern, damit die vielfältigen Leistungen weiterhin und auch in Zukunft erbracht werden können. Dabei geht es nicht um eine direkte Förderung oder „Kopfprämie“ für die integrativen Leistungen, sondern um eine Verbesserung der Rahmenbedingungen und Entschädigung des zusätzlichen Aufwandes.
Leistungen Sozialer Landwirtschaft in Deutschland. Perspektiven
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Die durch viele helfende Hände auf sozialen Höfen mögliche Arbeit in der Pflege von Natur und Kulturlandschaft muss unterstützt werden. Die Leistungen Sozialer Landwirtschaft für die Gesellschaft müssen anerkannt und gezielt gefördert werden. Die Vielfalt sozialer und kultureller Leistungen, die Bedeutung von sozialer Arbeit an Mensch und Natur brauchen öffentliche Unterstützung (auch durch Verwaltung, Sozialsektor und Politik), um die Aktivitäten und Handlungsfelder in der Sozialen Landwirtschaft zu erhalten und auszubauen. Insbesondere die integrativen und pädagogischen Leistungen, aber auch die gesundheitliche Vorsorge und therapeutische Wirkung Sozialer Landwirtschaft (durch nachhaltige Ernährungsbildung, verantwortungsvollen Umgang mit Naturressourcen, sinnvolle Arbeit und Therapie) müssen erforscht, anerkannt und gefördert werden. Zu berücksichtigen sind hier nicht zuletzt die durch Gesunderhaltung und Vorsorge von den Krankenkassen und für den Gesundheitssektor eingesparten Kosten. Randgruppen, die in keine medizinische Diagnose passen oder durch das Netz der sozialen Absicherung fallen, wie z.B. schulmüde Jugendliche, Burn Out Patienten, Obdachlose, Asylanten oder Aussiedler, brauchen einen gesetzlichen Rahmen, der ihre Integration in Soziale Landwirtschaft ermöglicht. Die aufgrund der föderalen Struktur, aber auch der Zuständigkeiten unterschiedlicher Ministerien für alle Nutzergruppen und Anbieter schwer durchschaubare Vielfalt an Gesetzen, Zuständigkeiten und Finanzierungsmöglichkeiten muss transparenter werden. Soziale Landwirtschaft braucht Unterstützung durch Forschung in den Disziplinen Therapie und Medizin, soziale Arbeit, Landwirtschaft und Pädagogik, die im konkreten Leben und Arbeiten auf dem Hof nicht voneinander trennbar sind. Interdisziplinäre Forschung, die Erfahrungswissen verfügbar macht und die partizipativ Akteure aus der Praxis, der Nutzergruppen und der Verwaltung einbezieht und begleitet, kann innovative Ideen und Engagement in der Sozialen Landwirtschaft fördern. Die wissenschaftliche Begleitung von Pilotprojekten kann dabei helfen, Betriebe zu Vorbildern zu entwickeln, das Erfahrungswissen über die Wirksamkeit der Integration von Menschen in Tages- und Jahreszeitenrhythmen und die gemeinschaftliche Arbeit in der Landwirtschaft erforschen und für die Weiterentwicklung Sozialer Landwirtschaft nutzbar machen. Die durch das Projekt SoFar (Soziale Landwirtschaft – Soziale Leistungen multifunktionaler Höfe, www.sofar-d.de/), die COST-Action Green Care in Agriculture (www.umb.no/greencare) und die internationale Arbeitsgemeinschaft Farming for Health (www.farmingforhealth.org) begonnene Zusammenarbeit auf europäischer Ebene muss gefördert und ausgebaut werden. Durch Austausch von Ideen, praktischen Lösungen und Forschungsprojekten sollen Praktiker und Wis-
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Marie Kalisch, Thomas van Elsen
senschaftler in ganz Europa voneinander lernen und innovative Konzepte und Lösungen für die Praxis nutzbar machen. 5.2
Was braucht Soziale Landwirtschaft „von innen“?
Nicht nur für die Außendarstellung, sondern auch, um die Wahrnehmung innerhalb der Sozialen Landwirtschaft zu verbessern, ist Transparenz eine Bedingung. Die Schaffung einer zentralen Vernetzungs- und Beratungsstelle wäre ein erster Schritt, diese Transparenz in der Struktur von Gesetzen und Zuständigkeiten, bei Trägern, Netzwerken, Finanzierungen und Initiativen herzustellen. Die Koordinationsstelle würde nicht nur als unmittelbarer Ansprechpartner Angebot und Nachfrage nach sozialen Leistungen auf Höfen zusammenbringen, sondern auch zu Fortbildungs- und Finanzierungsmöglichkeiten kompetent beraten und damit helfen, gute Konzepte langfristig zu entwickeln und durchzusetzen. Die bisher sehr eingeschränkten Möglichkeiten zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch zwischen den Initiativen müssen verbessert werden. Pionierprojekte mit individueller Geschichte und Entwicklung, die oftmals nichts voneinander wissen, müssen vernetzt werden, und die Zusammenarbeit bestehender Netzwerke wie Grüne Werkstätten (Vertretung der Grünen Bereiche in Werkstätten für Menschen mit Behinderung), BAGLoB (Bundesarbeitsgemeinschaft Lernort Bauernhof) muss gefördert werden. Durch gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit, Publikationen, Webauftritt und politische Interessenvertretung können Initiativen der Sozialen Landwirtschaft unterstützt und neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. Die Aus- und Weiterbildung in der Sozialen Landwirtschaft muss durch Unterstützung bestehender und Einrichtung neuer Bildungsinitiativen gefördert werden. Das Berufsbild vereint Fähigkeiten und Qualifikationen verschiedener Fachrichtungen und erweitert das traditionelle Berufsbild des Landwirtes. Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung sichern, verbessern und entwickeln die Qualität der sozialen und landwirtschaftlichen Leistungen auf Höfen. Qualitative Entwicklungsziele für die Zukunft sozialer Höfe sind stärkere Regionalität, Sicherung der Qualität, Vernetzung, strategische Allianzen und Kulturarbeit (wie Landschaftspflege, bedrohte Nutztierrassen), die ihre Bedeutung für die Region unterstreichen.
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Ausblick: Soziale Landwirtschaft als Entwicklungsperspektive
Schon heute erbringen soziale Landwirtschaftsbetriebe auf vielen Ebenen Leistungen für die Gesellschaft im Sinne einer multifunktionalen Landwirtschaft. Politiker, Ministerien, Wissenschaftler, Verbraucher und die breite Öffentlichkeit sind aufgefordert, diese Leistungen wahrzunehmen, anzuerkennen, zu erhalten und zu fördern. Bei den im Rahmen des Europäischen SoFar-Projektes durchgeführten Betriebsbesuchen, Umfragen, Diskussionen und Treffen wurde deutlich, dass die Akteure der Sozialen Landwirtschaft die Leistungen von landwirtschaftlichen Betrieben als eine Antwort auf vielerlei Fragen sehen, vor denen die Gesellschaft heute steht. Durch die Integration von Menschen in die Höfe können Arbeitslosigkeit und Vereinsamung überwunden werden. Bildung und Erziehung bekommen neue und praktische Impulse. Gesellschaftskrankheiten, wie Adipositas und Magersucht gehen einher mit zunehmender Ablösung von den natürlichen Lebensgrundlagen. Anstelle von Erfahrungen aus erster Hand findet Leben in virtuellen Welten statt. Folgen dieser Lebensweise (Gewaltbereitschaft, psychomotorische Beeinträchtigungen oder Drogenabhängigkeit) – kann durch gemeinsame Arbeit und das Herstellen von Lebensmitteln in handwerklicher Tätigkeit präventiv oder aufarbeitend begegnet werden. Akteure der Sozialen Landwirtschaft verbinden mit Sozialer Landwirtschaft mehr als die Entwicklung spezialisierter Nischenbetriebe. Sie verstehen ihre Initiativen darüber hinaus als möglichen Baustein für eine sozialere Zukunft der Landbewirtschaftung. Ihre Förderung ist ein Schritt hin zu einer Gesellschaft, in der sich viele Einzelne verbinden und soziale Werte wie gerechte Preise, einen nachhaltigen Umgang mit der bewirtschafteten Natur und ein soziales Miteinander anstreben und unterstützen. Soziale Landwirtschaft zeigt im Kleinen Alternativen zu fortschreitender Rationalisierung, Konkurrenz und Preiskampf auf und eröffnet Perspektiven für einen möglichen Paradigmenwechsel.
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Literatur AGÖL 2000: „Leitfaden Ökologischer Landbau in Werkstätten für Behinderte“, VAS-Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt. Carl, M. (2005): Landwirtschaft als Betätigungsfeld für Menschen mit Behinderung. Diplomarbeit im FB Sozialwesen Uni Kassel, 121 S. – Download: http://www.socialnet.de (Zugriff am 27.02.2006) Hermanowski, R. (1992): Ökologischer Land- und Gartenbau mit Behinderten, Planung eines ökologisch wirtschaftenden landwirtschaftlichen Betriebes mit Arbeitsplätzen für Behinderte, KTBL Schrift 350, Darmstadt, 123 S. Hermanowski, R. (2005): Arbeit mit Menschen mit Behinderung in landwirtschaftlichen Betrieben. –Kirche im ländlichen Raum 56 (4): 38–42, Altenkirchen Kalb, H. (1998/99): Landwirtschaft und Sozialtherapie – Leitgedanken zu landwirtschaftlichen Betrieben als Arbeitgeber für Menschen mit Behinderung, Diplomarbeit Universität Kassel – Witzenhausen, 71 S. Lenhard, J., Moevius, R. Dabbert, S. (1997): Struktur und Organisationsformen von Therapie- und Betreuungseinrichtungen in der Landwirtschaft – eine explorative Studie. Berichte über Landwirtschaft 75: 459–485. Mayer, E., van Elsen, T. (2005): Soziale Landwirtschaft als Integrationsmöglichkeit von Naturschutzmaßnahmen – Der Therapiehof „Helle Platte“ als Praxisbeispiel. − In: van Elsen, T. (Hrsg.): Einzelbetriebliche Naturschutzberatung – ein Erfolgsrezept für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft. Beiträge zur Tagung vom 6.–8. Oktober 2005 in Witzenhausen. FiBL Deutschland e.V., Witzenhausen: 187–194. van Elsen, T., Köppl, K., Kalisch, M. (2006): Soziale Landwirtschaft. Eine Perspektive für Natur und Kulturlandschaft. – Ökologie & Landbau 139 (3): 22–24, Bad Dürkheim van Elsen, T., Kalisch, M. (2007a): Social Farming in Germany. – Report, SoFar project (Social Services in Multifunctional Farms). – FiBL Deutschland e.V., Witzenhausen, 39 pp. (Deutsch und Englisch) van Elsen, T., Kalisch, M. (2007b): Soziale Landwirtschaft − Mehrwert für alle. – Leader forum 3: 42–43, Bonn. www.foerderpreisoekologischerlandbau.de
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Witzenhäuser Positionspapier zum Mehrwert Sozialer Landwirtschaft Erarbeitet von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung „Der Mehrwert Sozialer Landwirtschaft“ vom 26. bis 28. Oktober 2007 in Witzenhausen1
Hintergrund Soziale Landwirtschaft ist eine Perspektive multifunktional verstandener Landwirtschaft: Hauptprodukte sind neben den Verkaufsfrüchten auch Gesundheit und Beschäftigung, Bildung oder Therapie. Der Landbau bietet Möglichkeiten, Menschen an den vielfältigen Tages- und Jahresrhythmen, in Gartenarbeit oder der Arbeit mit landwirtschaftlichen Nutztieren teilhaben zu lassen. Soziale Landwirtschaft umfasst landwirtschaftliche Betriebe und Gärtnereien, die Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen integrieren[0], Höfe, die eine Perspektive bieten für sozial schwache Menschen, für straffällige oder lernschwache Jugendliche, Drogenkranke, Langzeitarbeitslose und aktive Senioren, Schul- und Kindergartenbauernhöfe und viele andere mehr. Vorsorge, Inklusion und mehr Lebensqualität sind Aspekte Sozialer Landwirtschaft. Europaweit keimen Initiativen für eine Soziale Landwirtschaft. Landwirtschaftsbetriebe werden zunehmend zu Trägern von Aufgaben im ländlichen Raum, schaffen Arbeit und Beschäftigung für sozial Benachteiligte und Menschen mit Behinderung und übernehmen Bildungsaufgaben. In Ländern wie Italien, Norwegen, Belgien und den Niederlanden sind die einzelnen Initiativen dank politischer und finanzieller Förderung längst zu Bewegungen angewachsen. Die Entwicklung Sozialer Landwirtschaft in Deutschland hinkt der Entwicklung in Europa hinterher. So wächst in den Niederlanden und in Belgien die Anzahl an Care Farms rapide. Sie integrieren Menschen mit Behinderung und werden dabei von zentralen Koordinationsstellen betreut. In Italien bieten landwirtschaftliche ________________ 1 104 Erstunterzeichner haben im Anschluss an die Tagung an der Erstellung des Positionspapiers aktiv mitgewirkt durch inhaltliche Beiträge, Formulierungsvorschläge und konstruktive Kritik. Aus Platzgründen muss auf die namentliche Wiedergabe an dieser Stelle verzichtet werden; in der unter www.sofar-d.de als Download verfügbaren Fassung sind ihre Namen enthalten.
Witzenhäuser Positionspapier
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Kooperativen sozial benachteiligten Menschen in strukturschwachen Gebieten neue Arbeitsplätze. Und in Skandinavien erschließen Familienbetriebe neue Einkommensquellen durch soziale Dienstleistungen. In Deutschland ist von der europäischen Aufbruchstimmung wenig zu spüren. Landwirte und Menschen mit Hilfebedarf und deren Eltern, die selbst initiativ werden wollen, aber auch Therapeuten und Sozialarbeiter, die geeignete Höfe für ihre Klienten suchen: Sie alle sehen sich einem kaum durchschaubaren Dschungel an Gesetzen und Zuständigkeiten verschiedener Ansprechpartner, Kostenträger und Ministerien gegenüber, die sich zudem von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Schulbauernhöfe in freier Trägerschaft kämpfen um das wirtschaftliche Überleben, weil sie als außerschulische Erfahrungs- und Lernorte, die Kindern ein neues Verhältnis zu Tieren, Pflanzen und zur Ernährung eröffnen, kaum anerkannt sind. Mediziner und Therapeuten finden oftmals keine Adressen von geeigneten Höfen, die manchem Patienten neue Perspektiven eröffnen könnten. Und Höfe, die von hilfebedürftigen Personen oder deren Angehörigen angefragt werden, sind den Anforderungen selten gewachsen, weil dort für fachgerechte Betreuung die unterstützenden Strukturen fehlen. Es mangelt an Beratung, fachlicher Begleitung, an Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Strukturen und Förderinstrumenten, die die Entwicklung Sozialer Landwirtschaft fördern könnten. Forderungen Die Zukunft Sozialer Landwirtschaft in Deutschland braucht Unterstützung und verlässliche Rahmenbedingungen. Dazu gehören: 1
Anerkennung des Mehrwerts Sozialer Landwirtschaft für die Gesellschaft
Der durch Soziale Landwirtschaft für die Gesellschaft geschaffene Mehrwert muss anerkannt und gezielt gefördert werden. Die Vielfalt sozialer und kultureller Leistungen und die soziale Arbeit für Mensch und Natur brauchen öffentliche Unterstützung, um die Aktivitäten und Handlungsfelder in der Sozialen Landwirtschaft zu erhalten und auszubauen. Insbesondere die integrativen und pädagogischen Leistungen, aber auch die gesundheitliche Vorsorge und therapeutische Wirkung Sozialer Landwirtschaft (durch sinnvolle Arbeit und Therapie, verantwortungsvollen Umgang mit Naturressourcen, nachhaltige Ernährungsbildung) müssen anerkannt, gefördert und weiter erforscht werden. Als ein zusätzli-
Witzenhäuser Positionspapier
211
ches Argument erscheint die durch Gesunderhaltung und Prävention von den Krankenkassen und dem Gesundheitssektor mögliche Kosteneinsparung. 2
Schaffung von Transparenz in gesetzlichen Rahmenbedingungen
Die aufgrund der föderalen Struktur, aber auch der Zuständigkeiten unterschiedlicher Ministerien für alle Nutzergruppen und Anbieter schwer durchschaubare Vielfalt an Gesetzen, Zuständigkeiten und Finanzierungsmöglichkeiten muss transparenter und für landwirtschaftliche Betriebe zugänglich gemacht werden. Zusätzlich brauchen insbesondere Randgruppen, die in keine medizinische Diagnose passen oder durch das Netz der sozialen Absicherung fallen, wie z.B. schulmüde Jugendliche, Burn Out Patienten, Obdachlose, Asylanten oder Aussiedler, einen gesetzlichen Rahmen, der ihnen die Teilhabe in Sozialer Landwirtschaft ermöglicht. 3
Förderung von Kommunikation und Erfahrungsaustausch
Die bisher sehr eingeschränkten Möglichkeiten zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch zwischen den Initiativen müssen verbessert werden. Pionierprojekte mit individueller Geschichte und Entwicklung, die oftmals nichts voneinander wissen, müssen vernetzt werden, und die Zusammenarbeit bestehender Netzwerke muss gefördert werden. Durch gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit, Publikationen, Internetpräsenz und politische Interessenvertretung können Initiativen der Sozialen Landwirtschaft unterstützt und neue Finanzierungsquellen erschlossen werden. 4
Einrichtung einer zentralen Vernetzung und Beratung mit Koordinationsaufgaben
Die Soziale Landwirtschaft braucht Ansprechpartner. Die Schaffung einer zentralen Vernetzung und Beratung, die sich auch im Rahmen der vorhandenen Beratungsangebote einrichten ließe, wäre ein erster Schritt, die fehlende Transparenz der Struktur von Gesetzen und Zuständigkeiten, Trägern, Netzwerken, Finanzierungen und Initiativen zu überwinden. Diese Koordination würde nicht nur Angebot und Nachfrage nach sozialen Leistungen auf Höfen zusammenbringen, sondern auch zu Fortbildungs- und Finanzierungsmöglichkeiten kompetent beraten und damit helfen, gute Konzepte langfristig zu entwickeln und durchzusetzen. Interessenvertretung und Information der Öffentlichkeit wären weitere Aufgabenfelder dieser Institution.
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Witzenhäuser Positionspapier
Förderung von Aus- und Weiterbildungsangeboten, Betreuung und Coaching
Die Aus- und Weiterbildung in der Sozialen Landwirtschaft muss durch Unterstützung bestehender und Einrichtung neuer Bildungsinitiativen gefördert werden. Das Berufsbild vereint Fähigkeiten und Qualifikationen verschiedener Fachrichtungen und ergänzt das traditionelle Berufsbild des Landwirtes. Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung sichern, verbessern und entwickeln die Qualität der sozialen und landwirtschaftlichen Leistungen auf Höfen. 6
Unterstützung interdisziplinärer Forschung zur Sozialen Landwirtschaft
Soziale Landwirtschaft braucht Unterstützung durch Forschung in den Bereichen Therapie und Medizin, Soziale Arbeit, Landwirtschaft und Pädagogik, die im konkreten Leben und Arbeiten auf dem Hof nicht voneinander trennbar sind. Das Erfahrungswissen über die Wirksamkeit der Integration von Menschen in Tagesund Jahreszeitenrhythmen auf dem Hof und die gemeinschaftliche Arbeit in der Landwirtschaft müssen dokumentiert und für die Weiterentwicklung Sozialer Landwirtschaft genutzt werden. Die durch viele helfende Hände auf sozialen Höfen mögliche Arbeit in der Pflege von Natur und Kulturlandschaft muss unterstützt werden. Interdisziplinäre Forschung, die Erfahrungswissen verfügbar macht und die partizipativ Akteure aus der Praxis, der Nutzergruppen und der Verwaltung einbezieht und begleitet, kann innovative Ideen und Engagement in der Sozialen Landwirtschaft fördern. Die wissenschaftliche Begleitung von Pilotprojekten kann dabei helfen, Betriebe, Betriebskooperationen bis hin zu ganzen Modellregionen zu Vorbildern zu entwickeln. 7
Förderung der europäischen Zusammenarbeit
Die durch das Projekt SoFar (Soziale Landwirtschaft – Soziale Leistungen multifunktionaler Höfe, www.sofar-d.de/), die COST-Action Green Care in Agriculture (www.umb.no/greencare) und die internationale Arbeitsgemeinschaft Farming for Health (www.farmingforhealth.org/) begonnene Zusammenarbeit auf europäischer Ebene muss gefördert und ausgebaut werden. Durch Austausch von Ideen, praktischen Lösungen und Forschungsprojekten sollen Praktiker und Wissenschafter in ganz Europa voneinander lernen und innovative Konzepte und Lösungen für die Praxis nutzbar machen.
Witzenhäuser Positionspapier
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Ausblick Schon heute erbringen soziale Landwirtschaftsbetriebe auf vielen Ebenen einen Mehrwert für die Gesellschaft im Sinne multifunktionaler Landwirtschaft. Die in dem Positionspapier geforderten Maßnahmen zur Unterstützung Sozialer Landwirtschaft fordern Politiker, Ministerien, Wissenschaftler, Verbraucher und die breite Öffentlichkeit auf, diese Leistungen wahrzunehmen, anzuerkennen, zu erhalten und zu fördern. Soziale Landwirtschaft erschließt das soziale, kulturelle, pädagogische und therapeutische Potential der Landbewirtschaftung. Soziale Landwirtschaft möchten wir nicht nur als eine weitere Spezialisierungsmöglichkeit für landwirtschaftliche Betriebe verstehen, sondern darüber hinaus als möglichen Baustein für eine sozialere Zukunft. Soziale Landwirtschaftsbetriebe in überschaubaren Strukturen bieten Perspektiven für die individuelle Entwicklung von Menschen mit Hilfebedarf, einen nachhaltigen Umgang mit der bewirtschafteten Natur und für die Belebung ländlicher Räume. Indem sich viele Einzelne verbinden und soziale Werte entwickeln, entstehen im Kleinen Alternativen zu fortschreitender Rationa-lisierung, Konkurrenz und Preiskampf. Der Mehrwert Sozialer Landwirtschaft eröffnet Aussichten auf einen möglichen Paradigmenwechsel. Hinweis: Zugunsten der Lesbarkeit wurde im Text ausschließlich die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind Frauen gleichermaßen gemeint und angesprochen. Kontaktadresse:
Dr. Thomas van Elsen / Marie Kalisch, FiBL Deutschland e.V., Nordbahnhofstraße 1a, 37213 Witzenhausen,
[email protected], www.sofar-d.de/
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Wolfgang Nethöfel, Uwe Meier
Der Innovationsbeitrag einer „Agrarethik“ zur Zukunftsentwicklung ländlicher Räume Wolfgang Nethöfel, Uwe Meier
Die Einwohner ländlicher Räume haben einen grundgesetzlich verbürgten Anspruch auf „gleichwertige Lebensbedingungen“ (Art. 72 Abs. 2 GG).1 Ihr Streben nach Selbstverwirklichung steht jedoch unter Rahmenbedingungen, die beachtet sein wollen, damit die Potentiale dieser Räume für ein Europa der Regionen wirklich genutzt werden können und die bestehenden Regeln sich nicht als Hindernisse erweisen. Das Ziel, vielfältige, vitale ländliche Räume herauszubilden wird im EURahmen auf zwei unterschiedlichen Wegen verfolgt. Die europäische Kohäsionspolitik zielt europaweit auf eine Konvergenz der Lebensbedingungen, indem das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Ländern und Regionen langsam abgebaut wird und die Einkommensniveaus quer durch die Länder und Regionen hindurch beieinander gehalten werden.2 Die europäische Inklusionspolitik will durch Beschäftigungssicherung und ergänzende Sozialpolitik soziale Randständigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten vermeiden.3 Hinzu kommen ökologische Vorgaben in den Bereichen Landschafts-, Boden-, Gewässer- und Artenschutz. Zunehmend und mit besonderer Dringlichkeit rückt nun der Klimaschutz in den Fokus, bei dem Deutschland im globalen Rahmen Selbstverpflichtungen eingegangen ist, die teilweise über europäische Regelungen hinausgehen. Alle diese Regelungen er________________ 1 In den Vor-Transformationsgesellschaften galt die „Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land“ als Politikziel. 2 In diesem zentralen Kompetenzbereich der EU sollen die Abstände, die durch Integrationsfortschritte entstehen, durch Transferzahlungen von den reicheren zu den ärmeren EU-Regionen verringert werden. 3 Die Europäische Kommission verwendet im Rahmen einer umfassenden Nachhaltigkeitsstrategie einen „starken“ Inklusionsbegriff: „Bei der sozialen Eingliederung handelt es sich um einen Prozess, durch den gewährleistet wird, dass Personen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, die erforderlichen Chancen und Mittel erhalten, um am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Geschehen voll teilzunehmen und in den Genuss des Lebensstandards und Wohlstands zu kommen, der in der Gesellschaft, in der sie leben, als normal gilt.“ Europäische Kommission, Gemeinsamer Bericht über die soziale Eingliederung, Soziale Sicherheit und soziale Integration, Luxemburg 2004, 10.
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fordern eine institutionelle inter- und transdisziplinäre Kommunikation, die früher oder später messbare Kennzahlen voraussetzt.4 Vor Ort wiederum ist man nicht nur einfach stolz auf die Schönheit der Landschaft, den Reichtum der Überlieferung oder den bestehenden Beitrag zur kulturellen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Stabilität des Gemeinwesens. Die Einwohner ländlicher Räume wissen, dass sie sich verändern müssen, um auch nur das Bestehende zu erhalten. Im Idealfall setzen sie sich als individuelle wie als kollektive Akteure solche Ziele, mit denen sie gemeinsam ihr spezifisches Potential nutzen können. Damit diese Ziele aber auch erreicht werden können, müssen ganz unterschiedliche Parameter zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es gibt gemessene Daten und „weiche“ Fakten wie Heimatgefühl, qualitative Ziele, quantitative Vorgaben, vereinbarte Kennzahlen und bestehende Regelungen, über die man sich möglicherweise jeweils im Einzelnen verständigen kann. Sie lassen sich aber oft schon wegen ihrer Verschiedenartigkeit nur schwer zur Grundlage eines gemeinsamen Handels machen, durch das sich komplexe Systeme regulieren oder auch nur Synergieeffekte erzielen ließen. Und während sich die ökologischen Leistungen der Landwirtschaft in der Regel als „harte“ Faktoren messen und bewerten lassen, werden ihre sozialen und kulturellen Leistungen oft bloß deshalb nicht angemessen gewürdigt, weil sie sich als „weiche“ Faktoren einer angemessenen Bewertung zu entziehen scheinen. Für die Zukunft des ländlichen Raumes wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, auch soziale und kulturelle Leistungen in mess- und bewertbare Parameter zu transformieren. Die Landwirtschaft spielt dabei eine Schlüssel-, aber auch eine Vorreiterrolle. Wir stellen im Folgenden zunächst einige typische und aktuelle Parameter gemeinsamer Orientierung im ländlichen Raum zusammen (1), stellen anschließend eine Verfahrenslösung für den Umgang mit heterogenen Sollvorgaben aus einem anderen Bereich vor (2) und diskutieren dann deren Übertragbarkeit auf Koordinierungs- und Planungsprobleme ländlicher Räume (3). Auf diesem Wege werden die Umrisslinien einer zeitgemäßen „Agrarethik“ erkennbar. Sie sollte gestützt auf ein Indikatorenmodells als lernendes Verfahren zwischen Sollvorgaben für den ländlichen Raum und den dort vorhandenen Orientierungs- und Wertpotentialen vermitteln. Wir schließen diese Arbeit mit einigen zusammenfassenden und perspektivischen Bemerkungen über den Beitrag dieser Ethik zur Zukunftsentwicklung ländlich geprägter Regionen, in denen landwirtschaftliche Betriebe eine Schlüsselrolle spielen. Eine erste agrarethische Bewährungsprobe wird die Sicherung eines spezifischen Profils ________________ 4 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Transdisziplinarität – Wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit, Konstanz: 2003.
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von lebensdienlichen Orientierungsmustern sein, wenn diese Regionen zum Schauplatz lokaler Agenda-21-Programme werden (4).
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Zielvorgaben der Ökologie für den ländlichen Raum
Der ländliche Raum ist die älteste Form der Landnutzung durch den Menschen. Stets wurde dabei die Landschaft verändert; mit positiven und negativen Auswirkungen auf die Umwelt. Schon damit die angewachsene Besiedelungsdichte und die entstandene Intensität der Landnutzung nicht zu weiteren irreversiblen Schäden führen, sind Innovationen erforderlich. Ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltige, f1ächendeckende und vielseitige Landnutzung ist als gesamtgesellschaftliches Ziel zu erhalten und zu fördern. Hierbei sind alle relevanten Akteure, insbesondere auch die Nutzer und die Eigentümer wirkungsvoll einzubeziehen. In der Landwirtschaft kann dabei viel stärker, als oft vermutet wird, nicht nur an eine allgemeine Bereitschaft angeknüpft werden, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, sondern an moralische Sensibilität und ein ausgeprägtes Interesse an ethischen Fragestellungen.5 Die gesellschaftlichen Zielvorgaben für den ländlichen Raum zeichnen sich immer deutlicher ab, je mehr das Wissen um ökologische Zusammenhänge wächst. Gleichzeitig zeigt sich aber auch immer deutlicher, dass bei Land- und Forstwirtschaft, den größten Flächennutzern und den Branchen mit den bestimmenden Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten im ländlichen Raum, selbst notwendige Verbote und Produktionseinschränkungen niemals ausreichen werden, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. Vielmehr muss erwünschtes Verhalten bestärkt werden, und hierzu ist ein erster Schritt, vorhandene Leistungen anzuerkennen. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Klimawandel muss darüber hinaus die Innovationsbereitschaft der Entscheider gefördert werden, indem begünstigt werden: − Ressourcen schonende, nachhaltige landwirtschaftliche Produktionsverfahren (Integrierter Pflanzenbau, Integrierter Pflanzenschutz, Präzisionslandwirtschaft, Öko-Landwirtschaft), − besonders klimarelevante landwirtschaftliche Produktionsverfahren, darunter solche, die Klima schädigende Wirkungen begrenzen mit Hilfe energiesparende Verfahren (CO2-Minderung), − Verfahren mit geringen Emissionen weiterer klimaschädigender Gase wie Ozon, Methan und Lachgas, ________________ 5 Dies zeigte sich etwa in der Vorbereitungsphase des in (4) skizzierten Modellprojekts.
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der Anbau nachwachsender Rohstoffe, der Anbau von Energieträgern zur Energiegewinnung soweit sozial und ökologisch verträglich und Nutzung pflanzlicher und tierischer Reststoffe, die Mehrfachnutzung von regional angebauten pflanzlichen Rohstoffen (z. B. Futterpflanzen – Milchproduktion – Gülle – Biogas, Wärme/Milchkühlung).
Die Integrierte Landwirtschaft sollte auch Maßnahmen umfassen wie − Aufbau von Kommunikationsstrukturen für Medien, Politik, Fachpublikum, Wissenschaft, Geschäftspartner und vor allem für die Bevölkerung, − Unterstützung beim Aufbau regionaler Gewerbeunternehmen, − Beteiligung an Bildungseinrichtungen und − Förderung des regionstypischen Landschaftsbildes. Hinzu kommen Innovationsfelder, denen gegenwärtig ohnehin die im starken Maße die Aufmerksamkeit durch Forschung, Politik und Praxis gilt, die auf dem Land aber besonders ausgeprägt, besonders wichtig oder besonders dringlich sind, so dass sie dort vielfach Diskussions-, Entscheidungs- und Planungsprozesse bestimmen. Bei der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft und ihrer Veredlungsketten rücken aktuell die Potentiale der Land-, Forst- und Wasserwirtschaft zur Begrenzung des Klimawandels ins Blickfeld. Zur Erhaltung und Förderung der Branchenvielfalt der Wirtschaft im ländlichen Raum gehört die Steigerung der Wertschöpfung bei der landwirtschaftlichen Produktion, bei der Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Rohwaren, gehören Bio- und Solarenergie und Tourismus. Bei der Entwicklung neuer Dienstleistungen geht es im ländlichen Raum nicht nur um die bessere Nutzung technischer Kommunikationsnetze, sondern auch um Kommunikationszentren, und es geht um Forschung und Beratung in den Bereichen ländliche Wirtschaft (einschließlich dezentrale Energieerzeugung und -verwendung), Bevölkerung (demografischer Wandel in ländlichen Räumen) sowie um den Wissenstransfer im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Energie- und Ressourceneffizienz. Aus gemessenen Leistungen in diesen Bereichen ließen sich Ausgangslagen klar bestimmen, Erfolge wie Fehlentwicklungen würden sich frühzeitig abzeichnen. Messbar gute Leistungen brächten nicht nur einen Imagegewinn, sondern könnten auch durch ihre Vorbildfunktion orientierend wirken, durch Schulungsund Benchmarkprozesse erwünschte Entwicklungen beschleunigen oder dafür sorgen, dass aus Entdeckungen und Erfindungen Innovationen werden, die die Region im Ganzen profilieren. Im Schnittpunkt aller solcher Erwägungen im ländlichen Bereich liegen stets landwirtschaftliche Unternehmen.
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Die Methoden zur Feststellung der ökologischen Leistung von landwirtschaftlichen Unternehmen sind bereits national und international in Standards und Kriterien definiert. Sie sind in die Praxis eingeführt, haben sich als praktikabel erwiesen und besitzen weitgehende Glaubwürdigkeit durch Beratung und Kontrolle in Auditierungsverfahren. Zu diesen Systemen gehören EMAS6 als Managementsystem und die Kriteriensysteme GLOBALGAP7, KUL8, Rainforest Alliance9, FLO10, FSC11 usw.12 Diese Systeme mit ihren klar definierten Anforderungen, geben die beste landwirtschaftliche Praxis hinsichtlich der ökologischen Nachhaltigkeit vor, denn sie gehen oft weit über die normativen Verpflichtungen hinaus. Die dabei zu beachtenden Zusammenhänge sind komplex. Denkt man an solche Bereiche und Zusammenhänge, wie sie von der Integrierten Landwirtschaft und der damit verbundenen besten landwirtschaftlichen Praxis (Best Agricultural Practice)13 erfasst werden, steigen die Anforderungen noch einmal, weil dazu auch die sozialen und kulturellen Leistungen der Landwirtschaft zählen. Es gibt jedoch nur wenige Methoden zur Feststellung der sozialen Leistungen von Unternehmen (SA 800014, KSL15), sie sind von sehr unterschiedlicher Qualität, und ________________ 6 EMAS: Eco-Management and Audit Scheme, auch bekannt als EU-Öko-Audit. EMAS wurde von der EU entwickelt und ist ein System aus Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung. EMAS steht als Leitfaden der Landwirtschaft zur Verfügung, berücksichtigt die gesamte Branchenkette und wird derzeit als EMAS III fortgeschrieben. Durch Berücksichtigung der regionalen Branchenkette ist EMAS besonders für Auditierungen der Region geeignet. 7 GLOBALGAP: Gute Landwirtschaftliche Praxis (GAP) nach ökologischen und sozialen Standards führender europäischer Handelsunternehmen. Ziel ist es, alle weltweit existierenden landwirtschaftlichen Standards dieser Art zu integrieren, zu harmonisieren und transparent zu machen. 8 Hans Eckert/ Gerhard Breitschuh/ Dieter R. Sauerbeck, Kriterien Umweltverträglicher Landbewirtschaftung (KUL) – ein Verfahren zur ökologischen Bewertung von Landwirtschaftsbetrieben, Agribiolocal Research, 52/1, 1999, 57–76. 9 Rainforest Alliance: International wirkende US-amerikanische NGO zum Schutz der Regenwälder. Sie zertifiziert die Produktion landwirtschaftlicher Produkte nach etwa 200 ökologischen und sozialen Kriterien. 10 FLO: Fairtrade Labelling Organisation. Eine Dachorganisation für Siegelorganisationen des Fairen Handels. FLO hat soziale und ökologische Standards für die Landwirtschaft entwickelt und kontrolliert über FLO-CERT in der Produktion die Einhaltung der Standards. 11 FSC: Forest Stewardship Council. International wirkende NGO zum Schutz der Wälder. Es werden forstwirtschaftliche Produkte nach ökologischen und sozialen Kriterien zertifiziert. 12 Vgl. Uwe Meier, Internationale Agrar-Zertifizierungssysteme im Vergleich, in: Edmund A. Spindler (Hrsg.), Agrar-Öko-Audit. Agrarwende mit System, Frankfurt am Main 2002, 100–114. 13 Vgl. Falko Feldmann, The concept of best agricultural practice. FF-Verlag Braunschweig, S. 36, ISBN 978-3-00-021432-5 14 SA 8000 ist ein von Social Accountability International (SAI) entwickeltes Sozialmanagementsystem mit Zertifizierungsverfahren. Das US-amerikanische weltweit gültige System dient der Überprüfung sozialer Mindeststandards.
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sind insbesondere kaum geeignet, die Leistungen von Unternehmen, speziell die eines landwirtschaftlichen Betriebes für die Region zu bemessen. Und es ist überhaupt noch nicht versucht worden, die kulturelle Leistung landwirtschaftlicher Unternehmen zu messen: also die Leistung in Bezug auf das gesellschaftliche Wertesystem. Diese Bewertung wird jedoch zunehmen an Bedeutung gewinnen. An der Diskussion über die Konkurrenz zwischen Biotreibstoffen und Nahrungsmitteln zeigt sich deutlich, dass unser gesellschaftliches Wertesystem derzeit hinterfragt wird. Helfen könnten hier die Auditierungssysteme, sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext.16 Es gibt aber konvergierende Gründe, neben der ökonomischen Leistung auch die soziale und kulturelle Leistungsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen, insbesondere aber die landwirtschaftlicher Betriebe angemessen zu erfassen und zu bewerten. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn es um die Pflege der Kulturlandschaft oder um Traditionen geht. So gerät bei einer kurzsichtigen Reduktion auf den touristischen Nutzeffekt langfristig genau das aus dem Blick, was Touristen am meisten beeindruckt. Aber auch im Interesse der ständigen Bewohner sollen Kleinstädte und Dörfer Orte eines kulturell erfülltes Leben werden, die wie Magnete wirken: gerade weil sie so ganz anders sind als Städte. Die Eigenart des sozialen Lebens „auf dem Lande“ ist ein hohes Gut – aber dieses in anschlussfähiger Weise zu bemessen, scheint eine hohe Kunst zu sein. Darüber hinaus geht es ja nicht nur um Bewahrung, sondern auch um Entwicklung, nicht nur um die Integration komplexer und sich überlagernder Systeme, sondern um deren Innovationsfähigkeit. Und es geht um Partizipation: um Beteiligungsrechte ebenso wie um Mitwirkungspflichten. Damit regionale Entwicklungskonzepte umgesetzt werden, sind die regelnden Institutionen auf das bürgerschaftliche Engagement in den Kommunen und in den Unternehmen des ländlichen Raumes angewiesen. Die lokale Zivilgesellschaft muss sensibilisiert werden für soziale, ökologische und kulturelle Belange. Agrar-, Öko- und SozialAudit, Regional-Audit und Corporate Social Responsibility (CSR) könnten in diesem Rahmen wichtige Instrumente zur Bewertung der Leistungen der Unternehmen selbst oder der Region sein. Aber bei der Verwendung solcher Instrumente müssen Wege gefunden werden, die unterschiedlich organisierten Akteure zusammenwirken zu lassen. Und umgekehrt ist dabei regionale Verantwortung nicht nur formal zu gewährleisten, sondern sie muss wirksam werden: weil sich hier insbesondere unter den aufgezeigten ökologischen wie sozialen Regelungs________________ 15 KSL: Kontrollierte sozialverträgliche Landwirtschaft. Soziale Standards für die Produktion in der Landwirtschaft. In Entwicklung der Thüringischen Landesanstalt für Landwirtschaft. 16 Vgl. Uwe Meier, Criteria-based and value-oriented agricultural practice in crop-growing companies and its social benefit, 128–129. In: BCPC Symposium Proceedings No 82. Best practice in disease, pest and weed management, Humboldt University Berlin, 2007
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vorgaben der Bogen zurückspannt von institutionellen Regelungen und Verfahren bis hin zu kontrollierbarem Output wie Luftverschmutzungswerten oder Durchschnittseinkommen. Es muss nach Verfahren gesucht werden, die solche Rückkoppelungen gewährleisten oder die es doch wahrscheinlicher machen, dass die Sollwerte zunächst einmal möglichst vielen Beteiligten als orientierende Zielvorgabe vor Augen stehen.
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„ARBEIT PLUS“: Modell eines lernenden Verfahrens
Man müsse ja nicht unbedingt bei Firmen kaufen, die ihren Börsenwert dadurch steigern, dass sie Mitarbeiter entlassen, erklärte der damalige Kirchentagspräsident Reiner Meusel auf der Schlusskundgebung des Leipziger Kirchentages 1997. Vielmehr solle man diejenigen Firmen durch ein Siegel auszeichnen, die auch in schwierigen Zeiten eine vorbildliche innerbetriebliche Personalpolitik betreiben. Bereits am nächsten Tag erkundigten sich die ersten Unternehmensvertreter, wie man denn dieses kirchliche Siegel erhalten könne – das aber nur als spontane Idee existierte. Das „Institut für Wirtschafts- und Sozialethik“ an der der Philipps-Universität Marburg (IWS) erhielt damals von der Rheinischen Landeskirche den Auftrag, Kriterien und Verfahren zu entwickeln. Daraus entstand das Arbeitsplatzsiegel ARBEIT PLUS, das inzwischen von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verliehen wird und sein zehnjähriges Jubiläum feiern konnte.17 Die Firmen, die sich bewerben, werden in einem mehrstufigen vertraulichen Verfahren bewertet. Zunächst wird ein Fragebogen ausgefüllt, in dem eine Vielzahl von Indikatoren darüber Auskunft gibt, in welchen Maße ein Unternehmen durch seine Beschäftigungspolitik die Lebens-, Beteiligungs- und Entfaltungschancen der Mitarbeitenden erhöht sowie darüber hinaus zur Sozialkultur beiträgt.18 Die Angaben werden bei einem Unternehmensbesuch mit Vertretern der Unternehmensleitung und der Mitarbeiterschaft diskutiert. Auf dieser Grundlage verfasst dann das IWS einen Bericht, in dem es dem Vergabegremium diejenigen Unternehmen zur Auszeichnung vorschlägt, die im Branchenvergleich über________________ 17 Vgl. http://www.arbeit-plus.de/. 18 Das Verfahren interpretierte durch ein Indikatorenmodell arbeitsmarktrelevante Vorgaben aus dem „Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“, das im selben Jahr unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ erschienen war (Hannover/ Bonn 1997) vor dem Hintergrund der langen Tradition der katholischen Soziallehre und der umstrittenen „Wirtschaftsdenkschrift“ der EKD (Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft, Gütersloh 1991).
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durchschnittliche Leistungen erkennen lassen. Alle Bewerber erhalten eine ausführliche Rückmeldung über ihre Angaben; auch wer abgewiesen wird, kann sich erneut bewerben. Das Siegel selbst wird durch den Ratsvorsitzenden der EKD oder auf lokalen Vergabeveranstaltungen öffentlich verliehen. Das Verfahren darf auf dem inzwischen dramatisch gewachsenen Markt der Preise, Siegel und Auszeichnungen nach wie vor als vorbildlich gelten.19 Das betrifft aber nicht nur den Aufwand, mit dem die Daten erhoben werden, sondern es betrifft vor allem die Qualität des Verfahrens selbst, mit dem Sollvorgaben mit Fakten ganz unterschiedlicher Art in Beziehung gesetzt und untereinander verglichen werden. Da sind zunächst direkt messbare Daten wie Anzahl und Dauer der Beschäftigungsverhältnisse. Sie werden für einen längeren Zeitraum erhoben, teilweise in ihrer Verlaufsdynamik bepunktet und immer im Branchenvergleich gewichtet. So kann man wechselnden Konjunkturverläufen und unterschiedlichen Phasen der Unternehmensentwicklung gerecht werden, man vergleicht die Unfallhäufigkeit in der Bauwirtschaft nicht direkt mit der von Sparkassen, und man belohnt frühzeitig ein sich abzeichnendes Änderungsverhalten, das glaubwürdig dokumentiert ist. ARBEIT PLUS ist aber vor allem ein lernendes Verfahren. In mehreren Stufen können aus „weichen“ Angaben in einem Bereich harte Vergleichszahlen werden, und diese Messungen können sich auf Indikatoren der innerbetrieblichen Beschäftigungsverhältnisse beziehen, die immer präziser, ausdifferenzierter und aussagekräftiger werden. Schon bei den bloßen Zahlenangaben ergeben sich im Laufe der Zeit neben bloßen Vergleichen Konsistenz- oder Korrelationsgrößen, die man zur Überprüfung wie zur Gewichtung verwenden kann. Die Zahlen selbst, die man jetzt bei allen Unternehmen graduell messen und differenziert bewerten kann, gehen oft auf Standards und Benchmarks zurück, die in Expertenrunden und Qualitätszirkeln allererst definiert und zunächst nur probeweise gemessen wurden. Anfangs kann man oft nur die Teilnahme und Mitgliedschaft einer Gruppe von Vorreitern bewerten. Und ganz zu Beginn erhalten jene Branchenpioniere Bewertungsprämien, die – typischerweise im Bereich „Sozialkultur“ – neue Ziele formulieren und erstmals einladen zu einem Runden Tisch für Arbeit, zu lokalen Bündnissen oder zu Branchen-Kooperationen, aus denen später spezielle Siegel, neue Standards oder Norm setzende Institutionen hervorgehen. Auf diese Weise konnten die Teilnahme an Corporate Social Responsibility (CSR) und Wertemanagementmaßnahmen und die aktive Weiterentwicklung ________________ 19 Wolfgang Nethöfel, ARBEIT PLUS: Von der Sozialverkündigung zur sozialethischen Orientierung, in: Kontinuität und Umbruch des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells (Jahrbuch Sozialer Protestantismus 1), Gütersloh 2007, 209–229; vgl. Rainer Meusel, Kleine Chronologie des EKD-Arbeitsplatzsiegels ARBEIT PLUS, a.a.O., 230–238.
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der betreffenden Standards frühzeitig erkannt und ihre Institutionalisierung und Durchsetzung gefördert werden. Man könnte annehmen, dass hier lediglich gute historische Erfahrungen durchsichtig gemacht und beschleunigt werden: wie die Etablierung des Arbeitsschutzes gegen anfänglichen Widerstand zum schließlich offensichtlichen Nutzen aller Wettbewerber und ihres Umfeldes. Aber neben der Leistungskraft bei der Erzielung erwünschter Effekte sind es vor allem überraschend auftretende Nebeneffekte: es sind nicht triviale Eigenschaften, die das Verfahren am deutlichsten kennzeichnen. Der Verfahrensalgorithmus überwindet die theoretisch wie begründungslogisch nicht leicht zu überwindenden Differenzen zwischen Sein und Sollen sowie zwischen qualitativen und quantitativen Regelungsgrößen durch eine fehlerfreundliche Praxis, in der nicht bloß Abweichungen konstatiert werden, sondern in der auch Zielvorgaben reflektiert und korrigiert werden können. Mit der nachvollziehbaren Prämierung des guten Beispiels bekundet die Kirche im Gespräch mit der Wirtschaft in einer Weise Fairness und Kompetenz, die beide Partner und ihre Kooperation verändert. Es eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten des Dialogs mit offenem Ausgang. Der Übergang von der personalisierten Moral zur lockeren systemischen Koppelung von Institutionen ist ein sozialethischer Paradigmenwechsel, der sich theologisch verblüffend einfach rechtfertigen lässt: Wer am guten Beispiel zeigt, wie’s gehen kann, ist sicher näher am Kern der christlichen Botschaft als ein Moralist, der anderen nur predigt, was er selbst für das Richtige hält. Das eigentliche Faszinosum des Verfahrens aber ist ein gemeinsamer Lernprozess, in dem im Bereich der Erwerbsarbeit mehr als Erwerbsarbeit gefördert wird. Dieses Plus ist etwas Neues, in dem die Vision eines guten oder doch eines unter schwierigen Bedingungen gelungenen gemeinsamen Lebens Gestalt angenommen hat. Wenn das bei der öffentlichen Vergabe des Siegels gefeiert wird, strahlt dieser Erfolg aus auf alle Beteiligten. Damit er sich einstellen kann, gehören zusammen: zum einen die Entdeckung theoretisch nicht vorhersehbarer, im Nachhinein aber nicht bezweifelbarer unbeliebiger Konstellationen, die sich gerade deshalb zeigen, weil das Verfahren immer wieder den Übergang von qualitativen in quantitative Regelgrößen an Systemgrenzen ins Auge fasst. Zum anderen eine Verfahrenskultur, die diese Störgrößen nicht in Routineverfahren verschwinden lässt, sondern die sie zum Ausgangspunkt geduldiger Erwägung, zurückhaltender Bewertung, kooperativer Erkundung und schließlich, im positiven Fall: gemeinsamer Förderung macht. Es liegt nahe, ein Verfahren, das in dieser Weise Innovation begünstigt, von einem aus mancherlei Gründen eingeschränk-
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ten Erfahrungsfeld20 auf andere Bereiche zu übertragen, z.B. auf eine ländliche Region. 3
Chancen bei der kooperativen Zukunftsgestaltung ländlicher Räume
Überträgt man diesen Verfahrensalgorithmus zur kooperativen Förderung erwünschter Zustände über Systemgrenzen hinweg auf typische Kooperations- und Planungsgegebenheiten in ländlichen Räumen, ergibt sich eine Abfolge von Fragen, deren Antworten klare Beurteilungskriterien für den Stand der jeweils laufenden Bemühungen ergeben und aus denen sich in aller Regel Verbesserungsvorschläge ableiten lassen. Sie können einmünden in ein koordiniertes Verfahren, in dem sich auch in diesem größeren Bereich alle Beteiligten an Indikatoren orientieren, an deren Präzisierung und Differenzierung sie selbst als Experten ihres jeweiligen Umfeldes mitwirken. Entscheidend ist, dass dabei Ressourcen aller Art erfasst, angemessen gewürdigt und in einen Prozess einbezogen werden, den alle gemeinsam verantworten können. Um dies zu erreichen, sollten auch begrenzte Zielvorstellungen im Rahmen einer beliebigen lokalen Agenda in das Entwicklungsziel einer Region eingeordnet werden. Gibt es eine gemeinsame Vision, ein Zukunftsbild des Raumes, aus dem sich Sollvorgaben für das angestrebte Ziel ableiten lassen, vielleicht sogar für den Weg dahin und seine Meilensteine? Hier kann an die vielfach bereits durchgeführten Leitbildprozesse von Unternehmen, Einrichtungen und Kommunen angeknüpft werden, nicht zuletzt an die Leitvorstellungen, die im Bereich des Tourismus entwickelt wurden. Denn in ihnen spielt das Thema regionaler Identität notwendigerweise eine Rolle. Überall da, wo hier Lücken spürbar werden, empfiehlt es sich die Erinnerung daran zu wecken und ein Gespür dafür zu entwickeln, dass die Menschen einer Region eine Art Erzählgemeinschaft bilden. Der Motor aller regionalen Entwicklung hat ein gemeinsames Interesse daran, die Geschichte eines Raumes fortzuschreiben. In ihr werden Bilder exemplarisch gescheiterten wie exemplarisch gelungenen Gemeinschaftslebens bewahrt. In Zu________________ 20 Zum einen hält die noch ausstehende ökumenische Kooperation manche Unternehmen von der Teilnahme ab. Zum anderen gibt es etwa im Bereich Ökologie sowohl innerhalb wie außerhalb des Dialogs Kirche-Wirtschaft zahlreiche konkurrierende Verfahren, gegen die es sich erst einmal durchsetzen müsste. Wie das Verfahren bei der Zielsetzung eines global wirksamen Klimaschutzes unter der Bedingung interkulturell verträglicher „starker Nachhaltigkeit“ seine Wirksamkeit unter Beweis stellen könnte: s.u. (4); zur bereits erprobten Verwendung einzelner Verfahrenselemente vgl. http://www.iws-marburg.de sowie (aus dem Umfeld der Nanotechnologie) Wolfgang Nethöfel, Integrierte Innovation. Schritte zu einer intersystemischen Kontrolltheorie, in: Hagen Hof/ Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Innovationsforschung. Ansätze, Methoden, Grenzen und Perspektiven (Innovationsforschung 1), Hamburg 2007, 127–140.
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kunftsperspektiven werden im Anschluss an diese Geschichte und als deren Fortsetzung Bilder eines gemeinsamen guten Lebens erzeugt, aus denen sich jetzt schon nicht beliebige Vorgaben ableiten lassen, vielleicht eben auch für den konkreten Fall. Fasst man ein solches Bild näher ins Auge, ergeben sich abgeleitete Fragen: Lassen sich aus diesen Vorgaben gemeinsam anzustrebende Teilziele ableiten? Ergeben sich daraus bereits schlüssige Kennzahlen, an denen man laufende Entwicklungen messen und Bemühungen ausrichten kann? Wenn nicht, dann gibt es einen Kommunikations- und einen spezifischen Planungsbedarf. Es gilt Überzeugungsarbeit zu leisten und Experten zu Szenarien-Workshops zu versammeln, die solche Vorgaben generieren. Dabei scheint zunächst eine Grunddifferenz die Übertragbarkeit des ARBEIT-PLUS-Modells zu gefährden. Kann man in einem Unternehmen davon ausgehen, dass hierarchieförmige Bindungen Ist-SollDifferenzen aus verschiedenen Bereichen einem Unternehmensziel unterordnen und schließlich ein Set koordinierter Kennzahlen generieren, so scheint eine Region im Gegensatz dazu marktförmig organisiert zu sein. Nur das Interesse an funktionierenden Rahmenbedingungen scheint das individuelle oder institutionelle Selbstinteresse zu koordinieren. Doch das hieße die prägende Kraft der gemeinsamen Geschichte zu verkennen. In einer ländlichen Region sind selbst die Knoten verschiedener Netzwerke durch vielfache Mitgliedschaften von Entscheidern und durch übergreifende starke Gemeinschaftsbindungen aller Beteiligten derart verbunden, dass sie in einigen Hinsichten wie ein virtuelles Unternehmen betrachtet werden kann – mit der Folge, dass sich das Erreichen akzeptierter Gemeinschaftsziele prinzipiell kontrollieren lässt und dass die Orientierung an einem Indikatorenmodell nicht ausgeschlossen werden kann.21 Halten wir als erstes Ergebnis fest, dass ländliche Regionen durch spezifische Netzbilder ihrer sozialen Beziehungen gekennzeichnet sind, von denen sich hypothetisch annehmen lässt, dass sie sich in typischer Weise von städtischen Beziehungsmustern unterscheiden. Wenn man dem eingeschlagenen Verfahrensweg vertraut, wird man in einem nächsten Schritt fragen, wer in der Region mit wem über welche Themen redet und nach welchen Kriterien dabei geurteilt wird. Es ist hilfreich, wenn man sich dabei an einer eigens erstellten Übersicht orientieren kann. Das Ziel langfristiger Orientierung lässt sich dann nicht nur einordnen in ein bestehendes Netzwerk sowohl von aktuellen Kooperationen als auch von langfristigen institutionellen Bindungen, sondern auch ________________ 21 Zu dieser Perspektive vgl. z.B. Thorsten Petry, Netzwerkstrategie. Kern eines integrierten Managements von Unternehmungsnetzwerken, Wiesbaden 2006 – im Anschluss an Mark Granovetter, The Strength of Weak Ties, American Journal of Sociology 78, 1973, 1360–1380.
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in eine Agenda definierter Themen, die nach festgelegten Skripts abgearbeitet werden, in ein bestehendes Wertsystem und in unterschiedlich ausgeprägte Skalen und Kennzahlengefüge, das ihm korreliert, und in ein bereits funktionierendes System von positiven und negativen Sanktionen.
Kurz gesagt, entspricht dem Netzbild ein Wertbild und ein Set von Incentives, deren nicht beliebige Beziehung zueinander teilweise bereits durch Kennzahlenkonstellationen erfasst ist. Halten wir dies als weiteres Ergebnis dieses Gedankenexperimentes fest. An solche Erscheinungsformen und Funktionsmerkmale des regionalen Kultursystems kann bei der Erstellung eines Indikatorenmodells angeknüpft werden, mit dem ein erwünschter Zustand oder doch die Stabilisierung erwünschter Eigenschaften des regionalen Gesellschaftssystems wahrscheinlicher gemacht werden kann. Beispiele funktionierender Vorformen des Modells finden sich wiederum nicht zufällig besonders oft und leicht im Bereich des Tourismus. Indem die Region ihre Außenwirkung zu steuern versucht, wird sie nicht mit der Aufgabe konfrontiert, sich selbst zu definieren, sondern sie internalisiert fast spielerisch externalisierte Abbilder. Hier gibt es Standards bei der Einordnung in Verzeichnisse, bei der Absicherung von Werbeaussagen, ein Beschwerdemanagement ebenso wie Siegel und Preise. Wer hier ansetzt, wird dann das spezifische Projektumfeld abklären durch Expertenbefragungen, aus denen sich schließlich eine Heuristik weiterführender Themen ergibt, in denen Probleme identifiziert und Verwirklichungschancen erkannt werden, die sich zuvor nicht abgezeichnet haben. Gibt es einen förmlichen Beschluss, koordiniert vorzugehen, beginnt eine Phase koordinierender Institutionalisierung – ähnlich wie es ja auch mit einem Unternehmensprozesse überlagernden Siegelverfahren der Fall ist. Und wie am Ausgangsbeispiel erläutert, stehen mess- und zählbare Werte oft erst am Ende eines solchen Prozesses. Für den Beginn empfiehlt sich die Teilnahme an bestehenden Wettbewerben mit neuen Fragestellungen, die Mitgliedschaft oder die Teilnahme an Aktivitäten der Vereine, Brauchtums- und Fortbildungsgruppen der Region, die frühzeitige Einbeziehung der Kirchen und Verbände, von Landfrauen oder Landjugend. Ebenso wichtig allerdings ist die Einbeziehung der örtlichen Medien. Institutionelle Vorbilder für den weiteren Verlauf sind Marketing- und Verkehrsverbünde, dann folgen die für ländliche Strukturen nicht unüblichen Betriebskooperationen. Vorwärtsweisend könnte sein, dass in den östlichen Bundesländern die großen landwirtschaftlichen Gesellschaften zu Keimzellen neuer Gewerbeunternehmen werden konnten und so auch institutionell innovativ für den
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ländlichen Raum im Ganzen wirken. Denn hier zeigt eine „dichte Beschreibung“ des Entstehungsprozesses beides: Einerseits wirkt die alte umfassende Zuständigkeit der Produktionsgenossenschaften für die Region durchaus noch nach. Anderseits spielen hier die von der EU und anderen vorgegebenen Kriterien bereits bei der Neugründung eine besondere Rolle. Das bedeutet ja nicht nur eine Planung auf materielle Anreize hin, sondern auch, dass sozial, kulturell und ökologisch orientierte Audit-Systeme sowohl alte Commitments als auch bestehende Schwachstellen differenziert aufgreifen und eine neue Entwicklung von Anfang an prägen und institutionell mitgestalten können. Erst in einem größeren AgendaKontext lässt sich jedoch beurteilen, ob wir es hier mit Realsymbolen oder prototypischen Erscheinungen zu tun haben. Als weiteres Ergebnis einer Modellübertragung wäre aus der Bindung an ein stringentes lernendes Verfahren, das über Indikatoren den Prozess steuert, auch in ländlichen Räumen jene Art Marktwirkung zu erwarten, das die Beteiligten sich auch von einem Siegelprozess erhoffen. Denn nicht nur die eingangs genannten Themen, Ziele und Regulierungsvorgaben lassen sich in einer Verfahrensperspektive betrachten. Vor allem ordnen sich die Verfahren selbst, in denen sie bislang wirkten, in eine Art Hybridverfahren ein, in dem überall in der Region kompetente Männer und Frauen das, was sie vorfinden und immer schon bewerten, in einen größeren Kontext stellen und vor dem Hintergrund konvergierender Interessen und gemeinsamer Überzeugungen neu bewerten, so dass nun Orientierungsparameter höherer Ordnung entstehen, die andere controllingfähige Kennzahlen generieren. Während das so sich herausbildende Indikatorenmodell mit qualitativen und quantitativen Teilzielen einer Zielvision deutlichere Züge verleiht, ergeben sich als institutioneller Nebeneffekt Hinweise auf unnötige Verdoppelungen, ja Blockierungen. Ein Verfahren mit gestuftem Lernalgorithmus, das die Aktivitäten gewissermaßen von außen nach innen unter Kriterien stellt, wirkt also weniger durch Disqualifizierung und notwendig werdende Ausschlüsse koordinierend als vielmehr dadurch, dass Überflüssiges abstirbt, Notwendiges und Erwünschtes aber durch immer präziser wirkende Anreize gefördert wird. Scheinbar paradoxerweise wirkt dieser sanfte Effekt sogar umso klarer, je mehr auf externe Sanktionen verzichtet wird. Der institutionelle Markt reguliert sich selbst. Das institutionelle Profil des ländlichen Raumes würde deutlicher hervortreten. Was sich am Markt bewährt, entwickelt sich durch qualifizierte Kooperation weiter. Das Verfahren würde als Ausprägung dieses Profils schließlich Innovation begünstigen. Was bei ARBEIT PLUS zwar das Umfeld stärkt, aber dem einzelnen Unternehmen zu Gute käme, hätte hier die spezifische Gestalt von Innovationen im ländlichen Raum. Der Effekt selbst ist allerdings gebunden an die Verfahrenskultur, die Art des Umgangs miteinander, die sich wie nebenher ein-
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stellt. Kluge Unternehmer und Manager setzen darauf von Anfang an. Für sie ist das Verfahren trotz der Ausrichtung auf Kennzahlen auch nur scheinbar auf die schnelle Durchsetzung eines monetär wirkenden Anreizsystems ausgerichtet. Unternehmen werben mit ARBEIT PLUS weniger auf dem Waren- als auf dem Arbeitsmarkt. Sie wollen das Selbstvertrauen ihrer Mitarbeiter stärken und sie wollen das Vertrauen qualifizierter Stellenbewerber gewinnen. Man darf auch für den ländlichen Raum voraussagen, dass die Nebeneffekte des Verfahrens der eigentlichen Kooperationsgewinn der beteiligten Akteure sein werden. Qualitätsbewusstsein, Wertempfinden und die gemeinsame Freude am Entdecken des Neuen werden auf Dauer wichtiger sein als die Produktion regelnder Kennzahlen und die Etablierung von Messverfahren. Dennoch werden nur durch die dauerhafte Koppelung der Agenda an diesen vielfach überdeterminierten harten Regelungskern schließlich in der Region im Ganzen Entwicklungen wahrscheinlicher, wie wir sie aus dem Schweizer Jura, aus dem „Silicon Valley“, aus dem „Dritten Italien“ kennen, in denen sich Innovationen besonders schnell ausbreiten. Wir kennen also in der Tat den Prototyp diese spezifischen regionalen Entwicklung – und wir kennen auch bereits das Erfolgsrezept, das in diesen Regionen „wie von selbst“ gewirkt hat. Sein Geheimnis sind Netzwerkeffekte, die durch die lose Koppelung von Akteuren entstehen, die selbst typischerweise eingebunden sind in traditionsstarke Gemeinschaften. Denn die „Stärke schwacher Bindungen“ entfaltet sich wiederum nur scheinbar paradoxerweise gerade dann, wenn Kooperation Gemeinschaften zu koordiniertem Handeln bewegt, in denen man sich gut kennt und einander vertrauen kann – in denen diese Koordination selbst aber dennoch institutionell sorgfältig gepflegt, wertgeschätzt und gelegentlich gefeiert wird. Entsprechend dem Netzbild lässt sich hier ein spezifisches Innovationsbild des ländlichen Raumes erkennen.22 Auch dieses Ergebnis gilt es festzuhalten. Wenn ländliche Regionen so ihre eigentlichen Potentiale entfalten, wird es allerdings gerade nicht um wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis gehen, sondern um Stabilität auf einem höheren Niveau – wie im Indikatoren gestützten Siegelverfahren von ARBEIT PLUS. Wir nehmen dies zum Anlass, abschließend den größeren Kontext ins Auge zu fassen, in dem Kooperationen und Regulierungen im ländlichen Raum jetzt schon stehen und in dem jene neu zu entwickelnden Indikatorenmodelle dann ihre Wirkung entfalten würden.
________________ 22 Vgl. zum Ausgangszusammenhang Harald Bathelt/ Johannes Glückler, Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen in räumlicher Perspektive, Stuttgart 2003 (bes. Kap. 6).
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Wolfgang Nethöfel, Uwe Meier
Der Beitrag einer „Agrarethik“ zur Entwicklung ländlicher Räume
Was bestimmt die Identität ländlicher Räume? Sind sie landwirtschaftlich geprägt, müssen Lebenssysteme dort bloß anschlussfähig sein an die Landwirtschaft, oder ist diese nur noch ein vielleicht sogar legitimatorisch missbrauchtes Relikt um zu verschleiern, dass man mit „ländlich“ einen diffus gewordenen in Differenz zum bereits eindeutig städtisch geprägten Lebensraum bezeichnet, der von dorther immer nur sekundär bestimmt wäre. „Ländlich“ wäre dann alles, was noch nicht Stadt ist. Nun könnte man unter Berufung auf eine Urbanistik, die die Stadt als einen Verdichtungsraum von Netzen bestimmt, deren Zentrum typischerweise in der Peripherie liegt, dieses Spiel andersherum vielleicht sogar mit noch größerer Plausibilität spielen.23 Entscheidend sind Verfahren, die die Implosion einander ausschließender Identitätsbestimmungen durch eine Art Reißverschlussverfahren überwinden, in dem die berechtigten Fragestellungen nicht nur nacheinander, sondern auch auf unterschiedlichen Ebenen abgearbeitet werden, von denen aus Systemgrenzen definiert und aus einander ergänzenden Perspektiven ins Auge gefasst werden. Eben das könnte das Verfahren von ARBEIT PLUS in ländlichen Räumen leisten – und die Frage ist, welche Identitätsmerkmale dieses Raumes dann hervortreten, zumal wenn es darauf hinauslaufen sollte, spezifische Innovationspotentiale zu fördern. Blicken wir auf die eingangs skizzierten Rahmenbedingungen, unter denen Kooperation und Planung im ländlichen Raum stehen, so scheint es zunächst lediglich darum zu gehen, die gerade in vielen deutschen Kommunen erprobte lokale Agenda 21 auf ihn zu übertragen.24 Handelt es sich hier nicht genau um das gesuchte lernende Verfahren, das die Planung vor Ort mit den beschriebenen Regelungsvorgaben in Einklang bringen soll, zu deren Kern ja heute unbezweifelbar die Ökologie gehört? In der Tat hat man „die Agenda“ als Musterbeispiel sozialer Innovation identifiziert, weil hier von einer Kombination einer Ziele-, Ebenen- und Akteursinnovation durch ein lernendes Verfahren gesprochen werden kann. Die Ziele integrieren Ökologie, Ökonomie und Soziales durch einen starken Nachhaltigkeitsbegriff, neben der globalen wird nun auch die lokale Ebene erfasst, und deren Akteure werden in einen Prozess einbezogen, der früher über die Köpfe der Betroffenen hinwegging. Dennoch ist von einer Ermüdungs________________ 23 Vgl. Marita Löw, Raumsoziologie (stw 1506), Frankfurt am Main 2001, und dazu Wolfgang Nethöfel, STADTRELIGION. Ein abendländisches Orientierungsmuster im Epochenwandel (ein interaktives Buchprojekt auf http://www.iws-marburg.de). 24 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Lokale Agenda 21 und nachhaltige Entwicklung in deutschen Kommunen. 10 Jahre nach Rio: Bilanz und Perspektiven, Bonn 2002; Deutscher Städtetag (Hrsg.), Kommunen auf dem Weg zur Nachhaltigkeit. Kongressdokumentation. Köln/Berlin 2004.
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krise, ja von einem Scheitern der Agenda-Bewegung die Rede. Die Möglichkeit, gegenwärtige lokale Agenda-Prozesse ohne Rückgriff auf irgendwelche kennzeichnende Indikatoren zu vergleichen25, und der Versuch, sie durch die Implementierung von Nachhaltigkeitsindikatoren wiederzubeleben26, weisen dabei in dieselbe Richtung. Es hat bei der Umsetzung der Agenda 21 in der Städten eine Abkoppelung des Verfahrens von seinen wahrnehmbaren Voraussetzungen und seinen vorhersehbaren Konsequenzen stattgefunden, die auf dem Lande so nicht möglich gewesen oder doch ganz anders als Defizit spürbar geworden wäre. „Agrarethik“ hätte das verhindert. Die spezifische Sein-Sollenskonstellation ländlicher Regionen macht heute von Anfang an Ernst damit, dass ländliche Räume weder extern isolierte noch intern unstrukturierte Räume sind. Wenn die EU-Vorgaben dort in einer lokalen Agenda umgesetzt würden, so griffe das ungleich tiefer in die Produktions- und Konsumtionsabläufe auf dem Lande ein, als das in der Stadt der Fall wäre. Ein lokaler Agenda-21-Prozess würde heute auf dem Lande fast automatisch ein Indikatorensystem produzieren, weil er sofort die Gesamtkonstellation von Netz- und Wertbild thematisieren und verändern würde. Dabei erweist sich der landwirtschaftliche Betrieb als Schnittstelle wesentlicher Entscheidungen, als Katalysator für die Zukunftsgestalt der Region. Unabhängig von ihrer hierarchischen Position gibt das Entscheidungsprofil in diesem Bereich Kennzahlen vor, die Kaskaden von Folgeentscheidungen beeinflussen und weit reichende Regelungen vorgeben. Die Umsetzung der Regulierungsvorgaben setzt zwar den festen Willen bestimmter Entscheider voraus, bei der landwirtschaftlichen Produktion überhaupt fremde Lebensinteressen zu beachten, damit gemeinsames Leben in guter Weise weitergehen kann. Und dieser Wille ist zwar getragen von Hintergrundsüberzeugungen einer Werte- und Verantwortungsgemeinschaft, in der Haltungen wie Beständigkeit und Zuverlässigkeit gefördert werden. Aber diese Gemeinschaft kann sich heute angesichts komplexer Lebenslagen nicht wie in vormodernen Zeiten in autoritätsgesteuerter Eindeutigkeit artikulieren, und jene feste Haltung impliziert noch nicht, dass jeweils schon klar wäre, was zu tun und was zu unterlassen ist oder wie sich diese Entscheidungen langfristig auswirken werden. Die globale Agenda stellt dabei alle lokalen Verständigungsverfahren unter eine Regelungsmaxime: Was immer geschieht, muss so geschehen, dass am Ende die Welttemperatur nur innerhalb eines definierten Korridors ansteigt. In ähnlicher Weise wie beim CO2-Ausstoß konkretisieren sich dann Nachhaltigkeitsvor________________ 25 So Uwe Andersen/ Meik Nowak, Die lokale Agenda 21 – eine erfolgreiche soziale Innovation?, in: Innovationsforschung, zit. Anm. 20, 41–51. 26 Vgl. Ralf Klemens Stappen, Das neue Instrument der Lokalen Nachhaltigkeitsstrategie, in: Deutscher Städtetag und Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.), Kommunen auf dem Weg zur Nachhaltigkeit, Köln 2004; Beispiele unter http://www.transferprogramm.de.
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gaben der Tier- und Pflanzenproduktion, der Wasser- und der Bodenqualität. Sie stehen im Kontext einer Nachhaltigkeit, die in einem doppelten Sinne „stark“ ist. Zunächst einmal lässt sich in ihr Naturkapital nicht durch Human- oder Sachkapital ersetzen.27 Im Insistieren darauf, das heute als Standard vorausgesetzt werden darf, wird jedoch häufig vergessen, dass sich im Anschluss an den BrundtlandReport 1987 erst einmal sustainable development überhaupt gegen eine schwächer bestimmte Nachhaltigkeit durchsetzen musste, die lediglich als sustainability bestimmt war. In der jetzt beginnenden Implementierungsphase des Klimaschutzes müssen die beschlossenen Richtgrößen lokal eingehalten werden können, damit globale Effekte erreicht bzw. vermieden werden. Aber diese Regulierungsdimension wird von Dauer sein und die Parameter, die jetzt erarbeitet werden, sind mit Sicherheit nur der Vorbote ähnlicher Orientierungsgrößen, die Rahmenbedingungen guten Lebens auf diesem Planeten sichern sollen. In ihnen wird es zwar um die Verhinderung von Bodenerosion gehen, um die Verfügbarkeit von Trinkwasser, um Mindestqualitäten von Nahrungsmitteln und um die Bewahrung genetischer Vielfalt bei Pflanzen und Tieren. Aber wenn irgendwo dann gilt hier, dass der Weg das Ziel ist. Das reine Überleben darf nie die einzige Alternative sein. Der sehr besondere lokale Beitrag zur starken Nachhaltigkeit, den die ländliche Region leistet hat nicht nur eine eigentümliche Gestalt, sondern auch einen Eigenwert, der sowohl Selbstachtung in der Region als auch deren Wertschätzung durch andere begründet. Durch jenen globalen Bezug, der vor Ort hergestellt oder ignoriert wird, greifen Agrarproduzenten also in Zusammenhänge ein, in denen sich die Zukunftsszenarios des Lebens nicht nur in diesem Räumen gestalten. Da ist es gut, dass auch die medialen Bilder, von denen sie dabei geprägt werden, und die Geschichten, die man einander erzählen muss, um sich zu verständigen, zunehmend von globaler Vernetzung geprägt sind. Denn die erforderliche Verständigung wird immer wieder die Grenzen zwischen verschiedenen lokalen Kulturen und überall den zwischen Erfahrungs- und Expertenkulturen überwinden müssen.28 So wird dieser Raum selbst von Anfang an in weltweite Solidaritätsnetze eingebunden und er gestaltet sich, indem die Beteiligten selbst dieses Netz engmaschiger knüpfen. Die vielfach dokumentierte Aufgeschlossenheit und Verantwortungsbereitschaft für eine im engen wie im weiten Sinne stark definierte Nachhaltigkeit sollte weder bloß als nachwirkende Tradition der Naturverbundenheit interpretiert werden noch reicht es aus, sie bloß allgemein als anschluss________________ 27 Vgl. Konrad Ott/ Ralf Döring, Soziale Nachhaltigkeit: Suffizienz zwischen Lebensstilen und politischer Ökonomie, in: Jürgen Meierhoff/ Reimund Schwarze (Hrsg.), Soziale Nachhaltigkeit (Jahrbuch Ökologische Ökonomik 5), Marburg 2007, 35–72. 28 Sie muss also nicht nur inter- und transdisziplinär gelingen, sondern auch transkulturell erfolgreich sein.
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fähig zu bezeichnen an eine heute notwendig globale Verantwortungsethik. In beiden Fällen wäre ihr Orientierungs- und Innovationspotential grob unterschätzt. Auch in der Stadt und in Übergangsregionen gibt es gewachsene kollektive Orientierungsmuster, an die in vielfacher Weise angeknüpft werden kann. Sie sind nur anders – und ihr Potential muss in anders strukturierten Agendaprozessen genutzt werden. Nur wenn Differenzen beachten werden, können spezifische Potentiale genutzt werden. Eine Ethik der Regionen ist ebenso unerlässlich, wie die Ethik jeder Region unhintergehbar ist. Es geht nicht um mehr, aber auch nicht um weniger. Und es geht überhaupt nicht darum, den Gegensatz Stadt-Land romantisch zu verklären. Allerdings gilt hier wie dort: Orientierungsprozesse, die sich in der Zeit ereignen, erzeugen Geschichten, die erzählenswert sind. Sie sind unersetzbar für die junge Generation, wertvoll für Fremde und Gäste, die ein offenes Ohr haben, und interessant für Forscher, die gegenwärtig gute Gründe haben, sich dafür zu interessieren, wie es weitergeht.29 Die Umrisse einer Agrarethik, die gegenwärtigen Erfordernissen gerecht wird, zeichnen sich vor dem Hintergrund des geschilderten Verfahrens ab. Gestützt auf ein in Rückkoppelungsschleifen korrigier- und optimierbares Indikatorenmodell und vor dem Hintergrund ebenso korrigier- und optimierbarer Zielsetzungen verstärkt und beschleunigt sie in landwirtschaftlichen Unternehmen und in agrarwirtschaftlichen geprägten Räumen Entwicklungen, die nicht nur dort erwünscht sind, die aber zunächst einmal dort als wünschenswert erscheinen müssen. Sie befördert die erkennbare Bereitschaft durch ein Management von Werten in landwirtschaftlichen Betrieben und durch ein tief greifendes Controllingverfahren, das von dort aus die ganze Region erfasst und später durch Rahmenbedingungen, die alle verpflichten, auf die Entscheider in diesen Betrieben zurückwirkt. Mit der Entwicklung entsprechender Indikatorenmodelle kann diese Ethik schließlich einen Beitrag zur nachhaltigen ökonomischen, sozialen und ökologischen Innovation leisten, die im Rahmen kultureller Nachhaltigkeit steht: durch kulturverträgliches Handeln in unterschiedlichen ländlichen Räumen mit unterschiedlich geprägten ländlichen Kulturen und unterschiedlich ausgeprägten Agrarethiken. Aber sie kann und wird auf die Indikatoren- und Verfahrensmodelle kaum verzichten, die sie gegenwärtig prägen und erkennbar machen. Vor diesem Hintergrund muss man die „soziale Innovation“ der Agenda 21 in den Städten und städtisch geprägten Kommunen, als eine „schwache“ Innovation bezeichnen – sofern diese sich noch nicht neu an einem auch im engeren Sinne starken Nachhaltigkeitsbegriff ausgerichtet haben. Sie sind dann dort ange________________ 29 Das IWS verwendet durchgängig „Story-Telling“-Konzepte in Orientierungs- und Bildungsprozessen (Tagungen, Workshops, Coaching); vgl. die „Werkzeugkiste“ unter http://www.iwsmarburg.de.
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kommen, wo man in ländlichen Regionen beginnen kann. Als Beispiel sei hier ein Projekt im Rahmen des LEADER+ Programms genannt, das aus dem EUStrukturfonds EFRE finanziert wird. In der Klimawandel-Modellregion des Landesamtes für Natur und Umwelt des Landes Schleswig-Holstein fanden sich acht Landwirte aus dem Gebiet Schwentine-Holsteinische Schweiz bereit an einem Initialprojektes mitzuwirken, in dem es sowohl um thematische Sensibilisierung als auch um den Aufbau organisatorischer und fachlicher Strukturen ging. Bei den konventionell wirtschaftenden landwirtschaftlichen Betrieben soll ein Nachhaltigkeits-Managementsystem auch auf Kriterienebene mit den vier Säulen Ökonomie, Ökologie, Soziales und eben auch kulturelle Nachhaltigkeit eingeführt werden. Es bestehen heute Aktivitäten, die sich mit dem Thema Bioenergie sowie Schutz-Nutzungs-Konzepten natürlicher Ressourcen beschäftigen. Sie liefern der Region wichtige Anhaltspunkte, um sich auf Klima bedingte Veränderungen einzustellen und angepasste Nutzungsstrategien zu entwickeln. Und sie stellt das Potential bereit, das sich in lokalen Agenda-21-Prozessen auch in ländlichen Regionen entfalten könnte. Der heute nötige Beitrag aller Regionen zum Klimaschutz zeigt beispielhaft, dass in unterschiedlichen Kulturen stabile Werthaltungen mit schnell und präzise reagierenden Controllingmechanismen verbunden sein müssen, damit man vor Ort gut leben kann: in der Stadt ebenso wie auf dem Land und in den immer mehr sich ausbreitenden Übergangszonen zwischen beiden. Dabei lassen sich die Dimensionen verantwortlichen Handelns kaum von außen vorgeben. Sie sind einerseits gebunden an unersetzbare Erfahrungen von dem, was vor Ort immer schon gegangen ist und was nie gehen wird, anderseits entfalten sie sich erst in einem kooperativen Verfahren, in dem unvorhersehbar Neues gemeinsam verantwortet werden muss. Was sich als Tradition bewährt, ist nirgendwo das Einhalten starrer Regeln, sondern es ist immer die Neuorientierung an einer Weisheit, die auf die Erfahrung eines anerkennenden und wertschätzenden Umgangs miteinander beruht, gerade dann, wenn man voneinander lernen kann und muss. Aber genau das gilt auch, wenn man von außen auf den ländlichen Raum blickt. Die Zauberformel „Wertschöpfung durch Wertschätzung“ gilt mit Blick auf das Kultur- und Sozialpotential der Landwirtschaft in besonderem Maße. Hier ist viel durch Ignoranz und Missachtung zerstört worden, was allen früher und besser hätte zu Gute kommen könne. Aber es ist nicht zu spät. Die Grundlage diese Zauberformel ist, dass für umwelt- und sozialverträgliche Produkte und Produktionsverfahren, für Lebensqualität, Innovation, Kommunikation und Technikentwicklung sowohl das Wissen als auch die Weisheit bestehender Kulturen eine nicht hintergehbare Bedeutung hat. Gerade das ökonomische Handeln ist überall und in allen Bereichen sowohl auf den aktuellen Wissensbestand als auch auf die gewachsene Klugheit einer Gesellschaft angewiesen, und es ist immer dann bedroht, wenn ökonomi-
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sche und kommerzielle Denkformen absolut gesetzt werden. Dieser Bedrohung gilt es auch agrarethisches Handel entgegen zu setzen. Moralisches Handeln ist in ländlichen Regionen wie überall gewährleistet, wenn gesellschaftlich-politisches und unternehmerisches Handeln im Wettbewerb nach dem Grundsatz der Folgenverantwortung gegenüber allen Betroffenen gestaltet wird. Es schließt überall die Verantwortung zum Erhalt der Natur, die Wahrung der Menschenwürde und das Leben zukünftiger Generationen ein. Der spezifische Beitrag einer Agrarethik wird allerdings nicht nur unerlässlich sein für die Bewahrung der Identität ländlicher Regionen angesichts tief greifender Änderungen, die auch den ländlichen Raum umgestalten werden. Sie wird auf ihre Art dazu beitragen, überregional und global eine gemeinsame Zukunft guten Lebens zu sichern.
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Horst Luley
Neue regionsbezogene Studienabschlüsse an der Fachhochschule Eberswalde: Bachelor „Regionalmanagement“ und Master „Regionalentwicklung und Naturschutz“ Horst Luley
Das Leitmotto der Fachhochschule Eberswalde betont die „besondere Verpflichtung zur nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raumes“. Zwei neue regionsbezogene Studiengänge setzen dies um und bieten berufsqualifizierende Ausbildungen an. Zum Wintersemester 2003/2004 startete der Bachelorstudiengang „Regionalmanagement“ (RM) und im Wintersemester 2006/2007 nahm der Masterstudiengang „Regionalentwicklung und Naturschutz“ („RuN“) die ersten Studierenden auf. Die verantwortlichen Fachbereiche ließen sich von folgenden Erkenntnissen leiten: Im Globalisierungsprozess wird die „regionale Identität“ immer wichtiger. Planungs- und Verwaltungsabläufe gewinnen durch neue partizipative Elemente zunehmend an Bedeutung und die regionale Ebene etabliert sich als ein eigenständiges Aktionsfeld. Der Bedarf an Fachkräften zur Steuerung von Regionalen Prozessen wird dabei immer höher. Regionales Management hat sich vor allem in der Umsetzung von EU-Fördermaßnahmen als eigenes Berufsfeld etabliert.
Berufsqualifizierende Ausbildung Die Ausrichtung beider Studiengänge zielt auf diese noch jungen Berufsfelder ab. Im Bachlorestudiengang „Regionalmanagement“ (RM) umfasst die Ausbildung insgesamt sechs Semester und qualifiziert für die Berufsfelder … • • • •
Projekt-, Service- und Kooperationsmanagement, Regionalvermarktung, Regionalberatung, Wirtschaftsjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit.
Neue regionsbezogene Studienabschlüsse an der FH Eberswalde
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Die Absolventen des viersemestrigen Masterstudienganges „Regionalentwicklung und Naturschutz“ (RuN) können arbeiten als … • • • • • • •
freiberufliche(r) oder angestellter Regionalentwickler; Projektmanager/in in Fördergebieten; Referent/in in regionalen Planungsverbänden und Fachbehörden; Referent/in in Schutzgebiets und Naturschutzverwaltungen; Mitarbeiter/in in Naturschutz und Umweltverbänden; Gutachter/in und Berater/in in Instituten und Planungsbüros; Dozent/in in der beruflichen Weiterbildung (Umweltbildung).
Beide Studiengänge unterscheiden sich bezüglich der thematischen Ausrichtung und bei der Betrachtung von regionalen Prozessen voneinander. Der Masterstudiengang „RuN“ ist durch seine Ausrichtung auf den Naturschutz einzigartig unter den Masterstudiengängen in Deutschland. Aus 14 Wahlmodulen können die Studierenden dabei eigene Interessensfelder auswählen und zusätzlich ihr Wissen in den Spezialisierungsrichtungen „Umweltbildung“ und „Bodenschutz“ vertiefen. Der Bachelorstudiengang „RM“ setzt im Gegensatz zum Masterstudiengang seine Schwerpunkte auf die Interaktion von Wirtschaft, öffentlichen und privaten Einrichtung in Regionen und ist stark ökonomisch orientiert. Auch in diesem Studiengang werden zwei Spezialisierungsrichtungen angeboten: „Regionales Gesundheitsmanagement“ und „Regionale Netze“. Neben der Vermittlung von grundlegenden Konzepten und Ansätzen, liegt das Hauptaugenmerk beider Studiengänge auf dem Erwerb von praktischen Fertigkeiten aus dem Regionalmanagement und aus der Regionalentwicklung (z. B. Moderation, Projektmanagement etc.). Für den Erwerb derartiger sozialer und kommunikativer Kompetenzen eigen sich die Gruppengrößen an der Fachhochschule Eberswalde besonders gut. Im Bachelorstudiengang RM umfasst ein Jahrgang 30 Studierende, im Masterstudiengang RUN 25 Studierende. Der Masterstudiengang „RuN“ hat 2007 einen begleitenden und gleichnamigen Beirat zum Studiengang gegründet, der aus Vertretern wichtiger bundesweit agierender Organisationen zusammengesetzt ist, wie z. B. WWF, Verband der Naturparke, Deutsche Vernetzungsstelle ländliche Räume etc.. Hier können die Studierenden direkte Kontakte ins Berufsfeld knüpfen und sich über aktuelle Entwicklungen aus erster Hand informieren.
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Aufbau des Studiums Zur weiteren Darstellung des Inhaltes der neuen regionsbezogenen Studiengänge an der Fachhochschule Eberswalde, soll nachfolgend ein kurzer Überblick über den Aufbau der Semester am Bespiel des Masterstudiengangs „RuN“ gegeben werden. Das Studium besteht aus vier Semestern in denen der Student/in in vielseitige Felder der Regionalentwicklung und des Naturschutzes Einblicke erhält. Das erste Semester ist auf die Vermittlung von Grundlagenwissen ausgerichtet. Dabei werden zum Beispiel die Module „Regionalentwicklung und -marketing“, „Naturschutz-Theorien – Konzepte und Visionen“, „Räumliche Planung“ und „Umweltverträglichkeitsprüfung“, „Bodenschutzvorsorge“ und „Grundlagen und Praxis ganzheitlicher Umweltbildung“ angeboten. Das zweite Semester steht unter dem Leitbild der Vermittlung von methodischen Fähigkeiten. Neben Modulen wie „Naturschutzmanagement und Regionalentwicklung“, „Landschaftsbezogenes Bauen und Ästhetik“, „Web- und 3DVisualisierung von Landschaften“, „Boden- und Gewässernutzung in Landschaften“ und „Umweltbezogene Kommunikation“, wird den Studierenden/in im „Großes Landschaftspraktikum“ die Möglichkeit eröffnet, in einer ausgewählten Region direkt Vorort die gelernten methodische Fähigkeiten praktisch umsetzen zu können. Im dritten Semester wird die praktische Anwendung von Methoden zur regionalen Entwicklung weiter ausgebaut. Zur Auswahl stehen dabei unter anderem die Module „Planung und Entwicklung ländlicher Räume“, „Landschaftsökonomie“, „GIS (open GIS / update GIS)“, „Umweltpsychologie“ oder auch das „Businessplanseminar“, bei dem die Studierenden die eigene Selbstständigkeit vorbereiten können. Ein Hauptelement des dritten Semesters ist eine Projektarbeit, in welcher die Studierenden zusammen mit Akteuren aus der Regionalentwicklung eine konkrete Aufgabe in Kleingruppen erarbeiten. Das vierte Semester ist für die Umsetzung der Master Abschlussarbeit und für das Seminar „Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens“ reserviert.
Zugangsvoraussetzungen und Bewerbung Beide Studiengänge nehmen jeweils zum Wintersemester neue Studierende auf. Die Bewerbungsfristen enden am 15. Juli des jeweiligen Jahres. Die Bewerbung erfolgt direkt bei der Fachhochschule Eberswalde. Bewerbungsbogen und weitere Informationen können auf der Webseite der Fachhochschule Eberswalde www.fh-eberswalde.de heruntergeladen werden.
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Für die Bewerbung zum Bacholorstudiengang „Regionalmanagement“ (RM) sind erforderlich: Abitur, fachgebundene Hochschulreife, Fachhochschulreife oder die bestandene fachrichtungsbezogene Eignungsprüfung laut brandenburgischem Hochschulgesetz. Für die Bewerbung zum Masterstudiengang „Regionalentwicklung und Naturschutz“ (RuN) ist der Abschluss eines berufsqualifizierenden Studienganges erforderlich, der Kenntnisse und methodisch-praktische Fähigkeiten auf landschaftskundlichem oder ökologischem Gebiet und dem der nachhaltigen Nutzung, des Schutzes und der Planung der Kulturlandschaft und ihrer Ressourcen beinhaltet. Zugelassen sind die Grade Bachelor (mind. 180 Cts.), Diplom (FH, Universität), Magister, Master, Staatsexamen, sofern sie landschafts- und umweltbezogene Studieninhalte betreffen. Dazu gehören Studiengänge folgender Richtungen: • • • • •
Landschaftspflege und -planung, Umwelt- und Raumplanung, Naturschutz, Umweltwissenschaften (außer Umwelttechnik) u. Ä., Ökologie, Biologie, Geoökologie, Geographie u. Ä., Agrar- und Forstwissenschaften, Gartenbau, Wasserwirtschaft, Lehramt für die vorgenannten Wissenschaftsgebiete.
Abschließend bleibt zu betonen, dass die Studienbedingungen an Brandenburgs kleinster Fachhochschule den speziellen Anforderungen der regionsbezogenen neuen Studiengänge sehr gut entsprechen und dass keine Studiengebühren verlangt werden.
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Kapitel III Erfahrungen in europäischen Regionen
Manches, was uns heute als Bürokratie erscheint, hat früher auf die Schlachtfelder Europas geführt. Joschka Fischer
Die Politik von territorialen Selbstverwaltungseinheiten in Polen
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Die Politik von territorialen Selbstverwaltungseinheiten in Polen in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume – grundlegende Entwicklungsbarrieren, Förderungsund Finanzierungsinstrumente Łukasz Bis, Jan Rafał Bis
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Einleitung
Die Wirtschaft Polens entwickelt sich in den letzten Jahren sehr dynamisch. Die Wachstumsraten des Brutto-Inlandsproduktes in den Jahren 2006 und 2007 betrugen jeweils über 6 % und im ersten Quartal von 2008 6,0 % (Prognose für das Jahr 2008 5,5 %). Dabei war die Inflationsrate, besonders im Jahre 2006 sehr niedrig und betrug damals 1 %. Die Wachstumsprognose des BIP für 2008 beträgt laut unterschiedlichen Quellen über 5 %. Gleichzeitig steigen auch seit mehreren Monaten sehr dynamisch die Löhne und Gehälter. Die Arbeitslosenrate, die noch 2003 fast 21 % betrug, lag im April 2008 bei ca. 10,5 % (im April 2005 18,7 %). Immer mehr Leute spüren die positiven Auswirkungen der beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung. Es scheint, dass der von vielen Deutschen geliebte und negativ gekennzeichnete Begriff „polnische Wirtschaft“ (als Synonym für unvorstellbare Unordnung) immer mehr seine Geltung verliert. Der Wirtschaft Polens und vielen polnischen Staatsbürgern geht es ganz einfach immer besser. Jedoch betrifft dies leider nicht alle Bewohner des Landes. Die Lebensqualität ist bei Bürgern der Großstädte höher. Anders sieht die Situation in den kleineren Städten und im ländlichen Raum aus. Besonders auf dem Lande, wo nach der Wende viele Menschen ihre Arbeit bei den stillgelegten staatlichen Agrarbetrieben (poln.: PGR – Państwowe Gospodarstwo Rolne) verloren haben, ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage in vielen Fällen durchaus schlecht. Es wird versucht, den Menschen auf verschiedene Weise zu helfen und ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Lösung dieses Problems ist allerdings nicht einfach. Aufgrund der strukturellen Veränderungen am Anfang der 90er Jahre kam es häufig zur erheblichen Verschlechterung des Lebensstandards der Bewohner der ländlichen Räume – besonders dort, wo die meisten in den staatlichen Agrarbetrieben (PGR) beschäftigt waren. Es kam zur immer größeren Marginalisierung dieser Gebiete und der dort lebenden Menschen. Man kann den ländlichen Raum nicht ohne aktive Mitwirkung der Bewohner nachhaltig entwickeln.
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Im Moment sind viele Menschen auf dem Lande wegen ihrer Lebenslage demotiviert und denken oft nur ans tägliche Überleben. Das muss geändert werden. Es muss ein Anreiz geschaffen werden, der diese Bevölkerungsgruppe aktiviert und dazu beiträgt, dass sie sich weiterbilden und umqualifizieren wollen. Ziel dieses Artikels ist es, die grundlegenden Barrieren der nachhaltigen Entwicklung von ländlichen Räumen in Polen und die Möglichkeiten deren Förderung durch polnische Kommunen, insbesondere über die Nutzung von EU- und Staatshaushaltsfördermitteln im Rahmen des Programms der Entwicklung von Ländlichen Räumen 2007–2013, darzustellen.
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Lokale Entwicklung und deren wichtigsten Barrieren im ländlichen Raum Polens
Die ländlichen Räume in Polen umfassen ca. 94 % der Landesfläche und werden von ca. 15 Millionen Menschen bewohnt (38 Mio. Einwohner in Polen insges.). Aufgrund der auf diesen Gebieten bestehenden erheblichen Entwicklungsbarrieren muss die Entwicklung durch die zentralen, regionalen und lokalen Verwaltungsorgane sowohl finanziell als auch organisatorisch gefördert werden. Im Jahre 1999 wurde in Polen eine dreistufige Verteilung der Staatsverwaltung eingeführt: Verwaltung auf staatlicher (d.h. zentraler), regionaler und lokaler Ebene. Die lokale Entwicklungspolitik wird im Rahmen einer einzelnen Gemeinde, einer Stadt oder des gesamten Kreises geführt. Die Entwicklung auf der Woiwodschaftsebene betrachtet man schon als regionale Entwicklungspolitik.1 Die Entwicklung der ländlichen Räume wird als Prozess der Verbesserung der ökonomischen Lage und der Lebensqualität der Bewohner dieser Räume verstanden. Hauptziel der lokalen Entwicklungspolitik ist die Beseitigung von bestehenden Entwicklungsbarrieren. Zu den wichtigsten Barrieren, welche die nachhaltige Entwicklung im ländlichen Raum Polens behindern, gehören: − −
eine hohe registrierte und versteckte Arbeitslosigkeit und die fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft; niedrige berufliche Qualifikationen der meisten Bewohner und eine niedrige Mobilität der Arbeitskräfte;
________________ 1 Vgl. Filipiak, B., Kogut, M., Szewczuk, A., Zioło, M.: „Rozwój lokalny i regionalny. Uwarunkowania, finanse, procedury“, S. 9 f., Fundacja na rzecz Uniwersytetu Szczecińskiego, Szczecin 2005
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eine unzureichende Entwicklung der technischen und gesellschaftlichen (sozialen) Infrastruktur, was unter anderem durch das verstreute Siedlungsnetzwerk und somit durch die hohen Ausbaukosten verursacht ist; eine bisher unzureichende Förderung seitens der Fördereinrichtungen im ländlichen Raum; eine geringe gesellschaftliche Aktivität der Bevölkerung; eine geringe Nachfrage nach nichtlandwirtschaftlichen Waren und Dienstleistungen aufgrund der niedrigen Einkommen – im hohen Maße verursacht durch die Zersplitterung der Agrarstruktur und durch den Charakter der gegenwärtigen Produktion; fehlendes Kapital für die Entwicklung der landwirtschaftlichen und der außerlandwirtschaftlichen Bereiche; Nichtbeachtung des kulturellen Erbes des ländlichen Raums.
Die mangelnde technische und gesellschaftliche Infrastruktur gehört zu den wichtigsten Barrieren, die den Prozess der nachhaltigen Entwicklung der ländlichen Räume in Polen erheblich erschweren. Einen bedeutenden Einfluss auf das Niveau der Lebensqualität der Bewohner des ländlichen Raums haben der Wohnungsbau und die vorhandenen Wohnungsraumkapazitäten. Im Jahre 2005 betrug der Index der Anzahl Wohnungen pro 1000 Einwohner in den ländlichen Gebieten 284,8 (in Westpommern 293,6) und in den Städten 366,3. Im Jahre 2006 betrug in den ländlichen Räumen Polens die durchschnittliche Wohnungsraumnutzfläche 85,6 m2 (in Westpommern 78,1 m2), wobei die durchschnittliche Anzahl von Einwohnern 3,5 pro Wohnung betrug. Im Jahre 2005 gab es weiterhin erhebliche Unterschiede zwischen Stadt und Land bezüglich der Ausstattung von Privathaushalten mit vernetzten Gas- (nur 17,7 % der ländlichen Privathaushalte) und Wasserleitungen (88,2 % der ländlichen Privathaushalte) sowie mit der Zentralheizung (63,5 % der ländlichen Privathaushalte).2, 3 Eine der größten Schwächen der ländlichen Räume in Polen ist der mangelnde Kapitalzufluss. Das trägt dazu bei, dass der Unterschied im Lebensstandard auf dem Lande im Vergleich zu Städten noch erheblicher wird. Aufgrund der schwachen technischen, aber auch gesellschaftlichen Infrastruktur sind diese Gebiete für potentielle Investoren wenig attraktiv. Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist auch das niedrige Niveau des Human Kapitals auf dem Lande. Die potentiellen Arbeitnehmer sind den Anforderungen der gegenwärtigen Wirtschaft nicht gewachsen. Das ist die Konsequenz der schlechten Ausbildung der Menschen und des relativ niedrigen Bildungsniveaus in den ländlichen Schulen. Der Zugang zum Schulwesen (vor allem höhere Bildungsstufen) ist im ländlichen ________________ 2 Vgl. „Charakterystyka obszarów wiejskich w 2005 r.“, S. 61 ff. 3 Vgl. „Rocznik statystyczny rolnictwa i obszarów wiejskich 2007“, S. 94
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Raum oft beschränkt. Ein ernsthaftes Problem ist die Umqualifizierung von Menschen, die früher nur in der Landwirtschaft tätig waren. Die landwirtschaftliche Tradition ist bei diesen Menschen sehr stark ausgeprägt. Ein geeignetes Beispiel für die Schilderung der Probleme der ländlichen Räume in Polen ist die wirtschaftliche und soziale Lage der ländlichen Räume der Woiwodschaft Westpommern. Aufgrund guter Bedingungen zur Entwicklung der außerlandwirtschaftlichen Aktivität in den grenznahen Gebieten an der Baltischen See und an den Seenplatten, ist dort die Situation im Vergleich zu den anderen Woiwodschaftsteilen gut. Es gibt aber auch ländliche Gebiete, welche durch wirtschaftliche Rezession, eine hohe Arbeitslosenrate und sogar erhebliche Verarmung der Menschen gekennzeichnet sind. Hier beobachtet man die Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion. Bis auf wenige Ausnahmen treten hier Probleme durch mangelhafte Ausstattung an technischer, gesellschaftlicher und Dienstleistungsinfrastruktur auf. Die Energienetzwerke befinden sich in einem sehr schlechten technischen Zustand und erfordern dringend Erneuerung und Ausbau. Etwa 40 % der Einwohner in ländlichen Räumen Westpommerns leben auf dem Niveau des sozialen Minimums und ca. 15 % an der Armutsgrenze. Die meisten Menschen sind sehr schlecht ausgebildet und haben keine berufliche Qualifikation – besonders die Einwohner der ehemaligen PGR-Siedlungen. Die Aussichten für die Beschäftigung der Menschen und für die nachhaltige Entwicklung dieser Gebiete sind schlecht. Es gibt dauerhafte Arbeitslosigkeit und es dominieren sehr geringe Einkommen mit hohem Anteil der Sozialhilfe. Der Prozess der beruflichen Aktivierung und Umqualifizierung von Einwohnern der ehemaligen PGR-Siedlungen ist sehr mühsam und teilweise aussichtslos.4 Ein wichtiger Faktor, der zur nachhaltigen Entwicklung der ländlichen Räume beiträgt, sind die geschaffenen Rahmenbedingungen für die Führung und Entwicklung der wirtschaftlichen Tätigkeit, die auf dem Gebiet einer bestimmten ländlichen Gemeinde gelten. Es wurde eine Umfrage durchgeführt, in der die Barrieren für die Entwicklung des Unternehmertums in den ausgewählten Gemeinden erfragt wurden.5 Es wurden sowohl Menschen, die die Macht in den Kommunen ausüben, als auch normale Bewohner der ländlichen Gebiete der 69 Gemeinden in der Woiwodschaft Westpommern befragt. Die wichtigsten Barrieren, die von den Führungskräften der Kommunen genannt wurden, sind in der Tabelle 1 dargestellt. ________________ 4 Vgl. „Regionalny Program Operacyjny Województwa Zachodniopomorskiego na lata 2007– 2013“, S. 36 ff. 5 Vgl. Błażejowska, M: „Społeczne uwarunkowania rozwoju lokalnego na przykładzie obszarów wiejskich województwa zachodniopomorskiego“, S. 127 ff., (in): „Problemy Rolnictwa Światowego“, tom XV, Wydawnictwo SGGW, Warszawa 2006
Die Politik von territorialen Selbstverwaltungseinheiten in Polen Tabelle 1:
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Barrieren der Entwicklung des Unternehmertums laut den Führungskräften der Kommunen
Barrieren
Antworten in der Umfrage
fehlendes Kapital
98 %
Mangel an qualifizierten Arbeitskräften
53 %
schwache technische Infrastruktur
48 %
Mangel an lokalen Absatzmärkten
31 %
Mangel an rechtlichen Regelungen
23 %
Quelle: Błażejowska M.: „Społeczne uwarunkowania rozwoju lokalnego na przykładzie obszarów wiejskich województwa zachodniopomorskiego“, S. 127, (in): „Problemy Rolnictwa Światowego“, tom XV, Wydawnictwo SGGW, Warszawa 2006
Man muss feststellen, dass die meistgenannte Barriere der Kapitalmangel ist, sowohl für Unternehmensgründung als auch für Unternehmensentwicklung. Zu den wesentlichen Barrieren zählen nach Meinung der Führungskräfte der Gemeinden auch Mangel an qualifizierten Arbeitskräften (ehemalige PGRMitarbeiter sind schlecht ausgebildet und zeigen wenig Initiative), schwach entwickelte technische Infrastruktur, Mangel an Absatzmöglichkeiten auf dem lokalen Markt (geringe Kaufkraft der Bewohner dieser Gebiete) und Mangel an rechtlichen Regelungen (Vergünstigungen für Unternehmer, die ihre Firmen in ländlichen Gebieten führen möchten). Interessant sind die Ergebnisse der Befragung, die mit Bewohnern der untersuchten Gemeinden durchgeführt wurde. Diese sind in der Tabelle 2 dargestellt. Tabelle 2:
Barrieren der Entwicklung des Unternehmertums laut den Bewohnern
Barrieren
Antworten in der Umfrage
Geringes Engagement von Gemeindeführungskräften
94 %
Mangel an lokalen Absatzmärkten
58 %
Schwierigkeiten bei der Kreditvergabe
48 %
Schwach entwickelte Infrastruktur
23 %
Mangel an rechtlichen Regelungen
12 %
Quelle: Błażejowska M.: „Społeczne uwarunkowania rozwoju lokalnego na przykładzie obszarów wiejskich województwa zachodniopomorskiego“, S. 129 (in): „Problemy Rolnictwa Światowego“, tom XV, Wydawnictwo SGGW, Warszawa 2006
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Im Unterschied zur Befragung bei Gemeindeführungskräften nennen die Bewohner der ländlichen Räume als wichtigste Barriere das geringe Engagement gerade von Führungskräften, die in Kommunen die Macht ausüben. Die Bewohner weisen, ähnlich wie Führungskräfte, häufig auf den Mangel an lokalen Absatzmärkten, auf die Infrastrukturschwäche und auf den Mangel an rechtlichen Regelungen hin. Zu den wichtigsten strategischen Dokumenten auf Woiwodschaftsebene, die unter anderem die multifunktionale Entwicklung und die Aktivierung der westpommerschen ländlichen Räume fördern sollen, zählen die Strategie der Landwirtschaft und der Entwicklung von ländlichen Räumen der Woiwodschaft Westpommern in den Jahren 2002–2015 und die Entwicklungsstrategie der Woiwodschaft Westpommern bis 2020. Eine besondere Berücksichtigung finden in diesen Dokumenten die ehemaligen PGR-Gebiete. Es wird an dieser Stelle deutlich betont, dass sich die oben kurz dargestellten Problemfelder des ländlichen Raums häufig aus der schwierigen Lage des Landwirtschaftssektors ergeben, wobei die landwirtschaftliche Tätigkeit auf diesen Gebieten dominierend ist. Aus diesem Grund muss in Polen das Konzept der Differenzierung der wirtschaftlichen Aktivität auf dem Lande und der multifunktionalen statt der monofunktionalen Entwicklung (Produktion von lediglich landwirtschaftlichen Rohstoffen) der ländlichen Räume verfolgt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die außerlandwirtschaftliche Tätigkeit (z.B. Rohstoffverarbeitung, Agrotourismus) und die Entwicklung der kleinen und mittelständischen Unternehmen auf dem Lande gefördert werden.6 Zusammenfassend kann man folgende Faktoren unterscheiden, die den Lebensstandard und die Möglichkeit der Führung von erfolgreicher wirtschaftlicher Tätigkeit in den ländlichen Räumen beeinflussen: − Zugang zu Informationen und zu neuen Kommunikationsmöglichkeiten, − Erschließung von Entwicklungszentren und von wichtigen Verkehrswegen, − Qualität und Nutzung von öffentlichen Dienstleistungen, − Bildungsmöglichkeiten, − Technische Infrastruktur (Wassernetzwerke, Kanalisation, Straßennetz), − Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft, − Unternehmergeist und Investitionsattraktivität, − Umwelt und natürliche Ressourcen, − Bevölkerung und kulturelles Erbe. ________________ 6 Vgl. Skorwider, J., Załęska, J.: „Instrumenty stymulowania rozwoju lokalnego obszarów wiejskich przez władze lokalne“, S. 57, (in): Adamowicz. M. (Hrsg..) „Samorządy i społeczności lokalne w zrównoważonym rozwoju obszarów wiejskich“, Katedra Polityki Agrarnej i Marketingu, Prace Naukowe nr 40, Wydawnictwo Szkoły Głównej Gospodarstwa Wiejskiego, Warszawa 2006
Die Politik von territorialen Selbstverwaltungseinheiten in Polen
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Alle hier genannten Faktoren müssen bei der Gestaltung und Führung von lokaler Politik der Kommunen in Bezug auf die ländlichen Gebiete unbedingt berücksichtigt werden. Es ist ein sehr komplexes Problem.
3
Instrumente der Förderung der lokalen Entwicklung von ländlichen Räumen
Die Instrumente, welche die Kommunen für die Entwicklungsförderung von ländlichen Räumen zur Verfügung haben, kann man in folgende Gruppen einteilen:7 1.
Rechtliche und administrative Instrumente – das lokale Recht in Form von administrativen Entscheidungen und Beschlüssen des Gemeinderates, die sich vor allem auf die Raumordung, auf den Umweltschutz, auf die Sanitärnormen und auf die Grundstückverwaltung – insbesondere auf die Umgestaltung von Grundstücken – beziehen; 2. Institutionelle und organisatorische Instrumente – deren Aufgabe die Förderung der wirtschaftlichen Umwelt und der Entwicklung des Unternehmergeistes ist. Dies geschieht durch verschiedene Promotions-Maßnahmen, durch die Verwaltung der Kommunaldienstleistungen, durch die Schaffung und Organisation von Informations- und Beratungszentren (wo z.B. über die Möglichkeiten der Nutzung von vergünstigten Krediten und von finanzieller und organisatorischer Förderung informiert wird), durch die Organisation von Schulungen, durch die Bildung von Wirtschaftskammern. Weiterhin können innerhalb dieser Instrumentengruppe folgende Maßnahmen getroffen werden: Berufsberatung, Unterstützung und Motivierung von Menschen zur aktiven Suche nach Arbeitsplätzen, Bestimmung der Berufsstruktur von Arbeitslosen in den Gemeinden, Gründung von Existenzgründerzentren, Bürgschaftsfonds, Stiftungen und Agenturen für die Förderung der lokalen Entwicklung, welche das öffentliche mit dem privaten Kapital verbinden sollen; 3. Ökonomische und finanzielle Instrumente – deren Ziel ist es, durch die Führung von Finanzpolitik der Kommunen zu bestimmten Reaktionen von Un________________ 7 Vgl. Skorwider, J., Załęska, J.: „Instrumenty stymulowania rozwoju obszarów wiejskich przez władze lokalne“, S. 58 (nach): Wojciechowski E.: Zarządzanie w samorządzie terytorialnym, Difin, Warszawa 2003, S. 194 f., und (in): Adamowicz. M. (Hrsg..) „Samorządy i społeczności lokalne w zrównoważonym rozwoju obszarów wiejskich“, Katedra Polityki Agrarnej i Marketingu, Prace Naukowe nr 40, Wydawnictwo Szkoły Głównej Gospodarstwa Wiejskiego, Warszawa 2006
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4.
Łukasz Bis, Jan Rafał Bis
ternehmen beizutragen. Zu dieser Gruppe gehören Instrumente, die sich auf die Gestaltung von Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden beziehen (Haushaltspolitik der Gemeinde). Es werden z.B. oft durch die Gemeinden Immobiliensteuerermäßigungen verwendet; Planungs- und infrastrukturelle Instrumente – diese Instrumente werden durch die Gemeinden am meisten verwendet. Im Rahmen dieser Instrumentengruppe werden unterschiedliche Pläne erstellt, z.B. Pläne der lokalen Entwicklung von Gemeinden, lokale Entwicklungsstrategien, Raumordnungspläne etc. Auf diese Weise bestimmt man unter anderem die strategischen Ziele einer Gemeinde und die Maßnahmen zu deren Realisierung. Besonders wichtig sind die lokalen Entwicklungspläne, deren Erstellung eine Voraussetzung für die Bewerbung um Fördermittel im Rahmen von EUFörderprogrammen ist. Zur Zeit werden durch die Gemeinden in Polen auch die infrastrukturellen Instrumente sehr intensiv verwendet. Dies ergibt sich daraus, dass eine gute technische und gesellschaftliche Infrastruktur einen Anreiz zur Ansiedlung von Unternehmen in einer bestimmten Gemeinde, die über solche Infrastruktur verfügt, darstellt. Durch die Verbesserung der Infrastruktur kann sich eine Gemeinde von ihren Wettbewerbern (d.h. anderen Gemeinden) abheben und besser Investoren gewinnen.
Es muss an dieser Stelle auch die große Bedeutung der Pläne der lokalen Entwicklung für die erfolgreiche Politik der nachhaltigen Entwicklung der ländlichen Räume betont werden. Der Plan der lokalen Entwicklung bildet das grundlegende Instrument der Managementunterstützung in den territorialen Selbstverwaltungseinrichtungen. Im Rahmen dieses Plans bestimmt man die wirtschaftliche und gesellschaftliche Strategie einer Gemeinde und die Ziele und Richtungen der Nutzung von Finanzmitteln aus den EU-Fonds, aus dem Staatshaushalt und aus den Eigenquellen der Gemeinde. Im lokalen Entwicklungsplan bestimmt man ebenfalls die einzelnen Aufgaben, die realisiert werden sollen, sowie deren Realisierungszeitplan und die Finanzierungsquellen. Man weist hier auch auf die Stärken und Schwächen sowie auf die Chancen und Gefahren hin, welche eine bestimmte Gemeinde kennzeichnen.
4
Finanzierungsmöglichkeiten der Entwicklung von ländlichen Räumen
Zu den Einnahmen des Budgets von Selbstverwaltungseinheiten gehören die Eigeneinnahmen (aus Steuern und unterschiedlichen lokalen Gebühren), zweckmäßige Zuschüsse, allgemeine Subventionen und die Finanzmittel für die Dotie-
Die Politik von territorialen Selbstverwaltungseinheiten in Polen
249
rung von Eigenaufgaben – außerhalb der Budgetquellen. Darüber hinaus gab es in Polen noch vor dem EU-Beitritt ein spezielles Programm SAPARD (Spezielles Vorbeitrittsprogramm für Landwirtschaft und ländliche Räume). Zweck dieses Programms waren die Verbesserung der Effektivität des Lebensmittel- und Agrarsektors sowie die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Führung der wirtschaftlichen Tätigkeit und für die Schaffung von Arbeitsplätzen. In den Jahren 2004–2006 gab es in Polen das Sektorale Operationale Programm für die Umstrukturierung und die Modernisierung des Lebensmittelsektors und für die Entwicklung der ländlichen Räume. Dieses Programm bildete eines der Elemente der Nationalen Entwicklungsstrategie und bestimmte die Strategie und die Maßnahmen im Bereich der Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raums in Polen. Es wurde im Jahre 2007 durch das Programm der Entwicklung von ländlichen Räumen (poln.: Program Rozwoju Obszarow Wiejskich 2007– 2013, abgekürzt PROW) für die Förderperiode 2007–2013 ersetzt. Außerdem können sich die Besitzer von gepachteten und Eigentumsagrargrundstücken um direkte Zahlungen der EU bewerben. Vom Programm der Entwicklung von ländlichen Räumen 2007–2013 erhofft man in Polen eine erhebliche Verbesserung des Lebensqualitätsniveaus auf dem Lande. Aufgrund dessen wird im Rahmen des vorliegenden Beitrages dieses Förderprogramm etwas näher betrachtet. In der neuen Förderperiode der EU – für den Zeitraum 2007–2013 – werden der Landwirtschaftssektor und die ländlichen Räume aus zwei separaten Fonds gefördert, die den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft ersetzen. Diese sind: der Europäische Garantiefonds für die Landwirtschaft und der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums. Der erste Fonds umfasst unter anderem die Direktzahlungen, Marktinterventionen und Veterinärinstrumente. Aus dem zweiten Fonds werden die Maßnahmen, die mit der Entwicklung der landwirtschaftlichen Räume verbunden sind, finanziert. Jedes der EU-Mitgliedsländer hat sein eigenes Programm für die Entwicklung der ländlichen Räume 2007–2013 vorbereitet. Diese Programme beinhalten die finanziellen Instrumente aus den Mitteln des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums. Für die Realisierung von unterschiedlichen Aufgaben im Rahmen des Programms für die Entwicklung der ländlichen Räume 2007–2013 hat Polen 17,2 Mrd. Euro zur Verfügung und davon 13,2 Mrd. Euro aus dem EU-Budget. Für die Auszahlung der Fördermittel und für die Umsetzung der meisten Fördermaßnahmen sind die Agentur für Umstrukturierung und Modernisierung der Landwirtschaft und teilweise die Marschalämter der einzelnen Woiwodschaften (nur bei einigen Fördermaßnahmen) zuständig.
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Das Programm umfasst 4 sog. Förderungsachsen:8 • • • •
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Sektors, Verbesserung der Umwelt und der ländlichen Räume, Lebensqualität in den ländlichen Räumen und Differenzierung der ländlichen Wirtschaft, LEADER-Programm.
Diese 4 Achsen spiegeln die wichtigsten Bedürfnisse und notwendigen Entwicklungsrichtungen der Landwirtschaft und der ländlichen Gebiete in Polen wider. Im Rahmen der ersten Achse werden unter anderem solche Maßnahmen gefördert wie die Erleichterung des Berufseinstieges der jungen Landwirte (ca. 20 % der Landwirtschaftsbetriebe in Polen wird von Menschen im Alter von über 55 Jahren geführt), die Modernisierung von Landwirtschaftsbetrieben, die Erhöhung des Mehrwertes der land- und forstwirtschaftlichen Produktion, die Verbesserung und Entwicklung der Infrastruktur, die Auszahlung von sog. strukturellen Renten (zur Verbesserung der Agrarstruktur der polnischen Landwirtschaft und der Beschleunigung des Generationswechsels). Darüber hinaus bietet diese Achse auch die Möglichkeit der beruflichen Schulungen für die Beschäftigten im landund forstwirtschaftlichen Sektor und die Möglichkeit der Nutzung von Beratungsdienstleistungen für die Land- und Forstwirtschaft an. Sie fördert auch die Gründung und Arbeit von landwirtschaftlichen Produzentengruppen. Hauptziel der zweiten Achse – Verbesserung der Umwelt und der ländlichen Räume – ist die ausgewogene Entwicklung von ländlichen Räumen. Hierzu gehören die Maßnahmen, die beispielsweise mit dem Umweltschutz, mit der angemessenen Nutzung von Grundstücken oder mit dem Schutz von einzigartigen natürlichen Ressourcen, die sich im ländlichen Raum befinden, verbunden sind. Ein Teil der Maßnahmen im Rahmen dieser Achse soll die Entschädigung wegen Einschränkung der landwirtschaftlichen Tätigkeit (z.B. wegen Natura 2000) ermöglichen. Ziel der dritten Achse ist die Erhöhung der Lebensqualität in den ländlichen Räumen durch die Differenzierung der Einnahmequellen von Einwohnern und die Entwicklung der gesellschaftlichen und technischen Infrastruktur. Die vierte Achse (LEADER) hat die Aktivierung von Einwohnern der ländlichen Räume und den Aufbau des Human Kapitals als Ziel. Es soll durch die Bildung von Lokalen Arbeitsgemeinschaften erreicht werden. Die Aufgabe von ________________ 8 Vgl. „Program Rozwoju Obszarów Wiejskich na lata 2007–2013“, S. 170 ff.
Die Politik von territorialen Selbstverwaltungseinheiten in Polen
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LAGs soll es sein, die lokalen Strategien der Entwicklung von ländlichen Räumen zu erarbeiten und sie dann umzusetzen. Außer den Finanzierungsmöglichkeiten über das Programm der Entwicklung der Ländlichen Räume 2007–2013 gibt es in dieser Förderperiode auch andere Förderprogramme, die von ländlichen Gemeinden genutzt werden können. Dazu gehören z. B. die Regionalen Operationalen Programme auf der Woiwodschaftsebene (für die Verwaltung und Umsetzung der Programme sind hier die einzelnen Marschallämter zuständig).
5
Fazit
Die Förderprogramme der Europäischen Union in der Förderperiode 2007–2013 bieten für Polen eine große Chance für die Verbesserung des Lebensstandards in den ländlichen Räumen. Polen muss diese Möglichkeit nutzen, weil sich sonst die Distanz zwischen den ländlichen Räumen und den Städten noch vergrößern wird. Das kann dazu führen, dass die Bewohner dieser Gebiete immer mehr marginalisiert und praktisch von anderen Mitbürgern aus der Gesellschaft allmählich ausgeschlossen werden. Aufgrund der Komplexität und des Schwierigkeitsgrades dieser Aufgabe kann sie nur mit entsprechender Motivation und mit dem Willen von Führungskräften und Entscheidungsträgern in den Kommunen realisiert werden. Letztendlich hängt viel von den Bewohnern selbst ab, da ihre Mitwirkung und ihr Engagement eine große Rolle spielen und im großen Maße für den Endeffekt entscheidend sind. Die Menschen müssen den Sinn einer gemeinsamen Arbeit mit dem Zweck der Verbesserung des Lebensstandards in den ländlichen Räumen und der Erhöhung deren Attraktivität für potentielle Investoren oder Touristen sehen. Aufgrund der seit Jahren fortschreitenden Marginalisierung der auf dem Lande lebenden Sozialgruppe (insbesondere die in den ehemaligen PGR-Siedlungen lebenden Menschen) wird es natürlich nicht möglich sein, alle Bewohner hier aktiv in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. Man muss versuchen möglichst viele Menschen von der Zweckmäßigkeit der getätigten Änderungen zu überzeugen. Die Verbesserung kann nicht von heute auf morgen erreicht werden. Es werden Jahre vergehen, bis man im ländlichen Raum die positiven Effekte der Entwicklung spüren kann. Der Prozess der lokalen Entwicklung ist sehr komplex und mehrstufig. Er entwickelt sich in mehreren Dimensionen – in wirtschaftli-
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cher, sozialer, kultureller, technischer, räumlicher und umweltbedingter Dimension – und die gegenseitige Verbindung von diesen bildet die Entwicklungsbasis.9 Literatur Błażejowska, M.: „Społeczne uwarunkowania rozwoju lokalnego na przykładzie obszarów wiejskich województwa zachodniopomorskiego“, (in): „Problemy Rolnictwa Światowego“, tom XV, Wydawnictwo SGGW, Warszawa 2006, S. 124–132 Filipiak, B., Kogut, M., Szewczuk, A., Zioło, M..: „Rozwój lokalny i regionalny. Uwarunkowania, finanse, procedury“, Fundacja na rzecz Uniwersytetu Szczecińskiego, Szczecin 2005 Majewska, J.: „Rozwój wsi 2007–2013“, (in): „Wspólnota“, Nr. 51-52, 2007, S. 54–56 Skorwider, J., Załęska, J.: „Instrumenty stymulowania rozwoju obszarów wiejskich przez władze lokalne“, (in): Adamowicz. M. (Hrsg..) „Samorządy i społeczności lokalne w zrównoważonym rozwoju obszarów wiejskich“, Katedra Polityki Agrarnej i Marketingu, Prace Naukowe nr 40, Wydawnictwo Szkoły Głównej Gospodarstwa Wiejskiego, Warszawa 2006, S. 55–66 Wojciechowski, E.: „Zarządzanie w samorządzie terytorialnym“, Difin, Warszawa 2003, „Charakterystyka obszarów wiejskich w 2005 r.“, Główny Urząd Statystyczny, Urząd Statystyczny w Olsztynie, Olsztyn 2006, www.stat.gov.pl/gus/45_1920_PLK_HTML.htm „Program Rozwoju Obszarów Wiejskich na lata 2007–2013“, Ministerstwo Rolnictwa i Rozwoju Wsi, www.arimr.gov.pl/index.php?id=66&id1=0&id2=0 „Regionalny Program Operacyjny Województwa Zachodniopomorskiego na lata 2007–2013“, Urząd Marszałkowski Województwa Zachodniopomorskiego, www.rpo.wzp.pl „Rocznik statystyczny rolnictwa i obszarów wiejskich 2007“, Główny Urząd Statystyczny, Warszawa 2007, www.stat.gov.pl/gus/45_4127_PLK_HTML.htm
________________ 9 Vgl. Majewska, J.: „Rozwój wsi 2007–2013“, S. 54, (in): „Wspólnota“, Nr. 51-52, 2007, S. 54– 56
Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht
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Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht Karl Trischler
1
Einleitung
Mehr als 20 Jahre aktuell zu bleiben – das ist der niederösterreichischen Aktion „Dorferneuerung“ gelungen. Diese Aktion hat in mehr als 800 Orten Entwicklungsprozesse begleitet, hat in den Dörfern eine beachtenswerte Dynamik ausgelöst und hat tausende Projekte umgesetzt. Pro Jahr leisten 40.000 ehrenamtliche Mitglieder mehr als 400.000 unbezahlte Arbeitsstunden. Wie sehen Betroffene die Dorferneuerung in Niederösterreich? Interviewausschnitte aus der Studie Dorferneuerung in Niederösterreich. Zwischenbericht an das Land NÖ im Rahmen des Publikationsprojekts RAUMBILDER. Ansichten der Modernisierung, Band 1: Niederösterreich. Wandel – Erneuerung – Bewertung (Vorgelegt von Univ.-Prof. Dr. Axel Borsdorf, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Stadt- und Regionalforschung, 30. Oktober 2002, 12/2000): „Für die Dorfgemeinschaft bringt die Dorferneuerung auf jeden Fall etwas. Ich mein, den Zusammenhalt. Es wird wieder an einem Tisch gesessen und diskutiert. Viele Köpfe, viele Meinungen. Und dann kristallisiert sich doch irgendwann einmal etwas heraus. Und da hat eigentlich jeder eine Freude, weil er sagt, da hab ich etwas beigetragen. Ich mein, bei allen Vereinen muss man ein bisschen aufpassen. Die Dorfgemeinschaft wird aber voll gefördert dadurch.“ 40-jähriger Haustechniker
„Es ist einfach, glaube ich, irrsinnig gut, dass die Leute zusammen kommen und gemeinsam was erreichen. Ob das jetzt ein Fest ist oder eine Renovierung – es helfen einfach alle zusammen und jeder kann etwas bewirken. Ob das jetzt Ideenfindung ist oder manuelle Arbeit, es kann sich jeder einbringen.“ 31-jähriger Redakteur
„Gestalterische Projekte halt ich deshalb für so wichtig, weil man sie immer sieht, dauernd. Wir leben nun einmal von dem, was wir sehen im unmittelbaren Bereich. Das gefällt mir an der Dorferneuerung so. Aber das eigentliche wichtige Element ist ja nicht nur, dass man was tut – sondern dass man was gemeinsam tut und wie man es tut.“ 43-jähriger leitender technischer Angestellter
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Karl Trischler
Das Bundesland Niederösterreich
Niederösterreich ist das größte österreichische Bundesland. Etwa 1,6 Millionen Einwohner leben auf knapp 20.000 km². Niederösterreich liegt im Osten Österreichs und umschließt die Bundeshauptstadt Wien. In der Umgebung Wiens ist ein großes Bevölkerungswachstum zu beobachten. Dem gegenüber sind manche ländlichen Regionen besonders in der Nähe der Grenzen zur Tschechischen Republik und zur Slowakei von einem Bevölkerungsrückgang betroffen. Einige regionale Entwicklungspole und Zonen erfreuen sich einer positiven Entwicklung. Es gibt keinen ausgesprochen dominierenden Wirtschaftszweig.
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Dorferneuerung in Niederösterreich
Die niederösterreichische Dorferneuerung wird seit 1985 als Modell der direkten Bürgerbeteiligung in Orten mit einer Einwohnerzahl zwischen 100 und 3000 Einwohnern umgesetzt. Zielgruppe sind also nicht Gemeinden, sondern die einzelnen Orte. Eine „Landesgeschäftsstelle für Dorferneuerung“ wurde eingerichtet, ebenso ein Verband, welcher die Interessen der Dorferneuerungsorte vertritt und sie bei ihrer Arbeit unterstützt. Mitarbeiter dieses Verbandes verbringen den größten Teil ihrer Arbeitszeit in den Dörfern, um diese zu unterstützen. Wie läuft eine niederösterreichische Dorferneuerung ab? Ausgangspunkt einer örtlichen Dorferneuerung sind in der Regel aktive Bürgerinnen und Bürger, denen die Zukunft ihres Ortes ein Anliegen ist. Sie klären ihr Vorhaben mit der Gemeindeverwaltung ab. Als erster Schritt wird das zuständige Viertelsbüro des Verbandes „NÖ Dorf- und Stadterneuerung“ kontaktiert. 3.1
Der Verband „NÖ Dorf- und Stadterneuerung“
Mitglieder dieses Verbandes sind örtliche Dorferneuerungsvereine und Gemeinden, in denen eine Dorferneuerung stattfindet. Der Verband unterhält 4 Regionalbüros, von denen aus insgesamt etwa 35 Betreuerinnen und Betreuer als Prozessbegleiter tätig sind. Sie halten Kontakt zu den örtlichen Akteuren, unterstützen bei Problemen, beraten. Wenn die ersten Gespräche positiv verlaufen und genügend freie Betreuungskapazität zur Verfügung steht wird ein Arbeitsübereinkommen zwischen dem Verband und der Gemeinde (als Financier) unterzeichnet. In der Folge wer-
Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht
255
den alle Ortsbewohner zu drei Dorfgesprächen geladen, bei denen die Bewohner über Stärken und Schwächen ihres Ortes nachdenken und ein Leitbild für ihre Entwicklung erarbeiten. 3.2
Leitbild
Nach einem Beschluss des Leitbildes durch den Gemeinderat wird dieses dem Forum für Dorferneuerung vorgelegt, welches prüft, ob es den Anforderungen der Dorferneuerungsrichtlinien entspricht. Im Forum ist neben der Landesgeschäftsstelle für Dorferneuerung der Verband für Dorf- und Stadterneuerung vertreten. 3.3
Die Landesgeschäftsstelle für Dorferneuerung
Die Landesgeschäftsstelle ist die Schnittstelle der Landesverwaltung mit den Akteuren der Dorferneuerung. Die Stelle ist in der Abteilung Raumordnung und Regionalpolitik des Amtes der niederösterreichischen Landesregierung eingegliedert. Nach der positiven Behandlung des Leitbildes durch das Forum geht es an die Umsetzung des Leitbildes. 3.4
Gründung eines örtlichen Vereines
Spätestens jetzt ist es an der Zeit, als Rechtsträger einen eingetragenen Verein zu gründen. Durch diesen Schritt soll die Idee der Dorferneuerung gestärkt und Kontinuität hergestellt werden. 3.5
Aktivphase
Mit der Anerkennung des Leitbildes tritt ein Ort in die Aktivphase ein, die 4 Jahre dauert. Verschiedene Projekte werden ausgearbeitet und umgesetzt. Neben den sektoralen Förderprogrammen von Bund und Land verfügt auch die Landesgeschäftsstelle für Dorferneuerung über Mittel zur Förderung von Projekten. Die Förderhöhen betragen je nach Größe und Förderwürdigkeit des Projektes zwischen einigen hundert und 20.000 Euro. Als durchschnittlicher Richtwert für alle Fördermaßnahmen für einen Ort insgesamt ist von etwa 35.000 € auszugehen. Seit 2007 wird ein Teil der Projekte auch aus dem EU-Programm für ländliche Entwicklung ELER gefördert. Diese Projekte werden in der Regel über die Leader-Gruppen eingereicht.
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Karl Trischler
Thematische Netzwerke
Seit Jänner 2008 arbeiten in Niederösterreich thematische Netzwerke für die Dorferneuerung. Ein Netzwerk ist dem Themenkreis „Generationen“ gewidmet (Senioren, Jugendliche, Bildung), ein zweites dem „Klimaschutz“. Darüber hinaus werden in jedem Landesviertel regionale Netzwerke aufgebaut: „Jugend“ im Waldviertel, „Identität“ im Weinviertel, „Integration“ im Industrieviertel sowie „Mensch und Raum“ im Mostviertel. In diesen Netzwerken sollen Vertreter interessierter Orte und Gemeinden mit Fachleuten und mit Aktivisten, die schon Erfahrungen gemacht haben, zusammentreffen. Diese neuen Netzwerke werden dem Gedankenaustausch, der Diskussion und der Motivation dienen, selbst Projekte anzugehen. Die Dorferneuerung sieht sich mit diesen Netzwerken als Brückenbauer: so sollen Institutionen, die sich mit den Netzwerk-Schwerpunkten befassen (Umweltberatung, Klimabündnis, Sozialeinrichtungen) mit Orten in Kontakt kommen, die Maßnahmen setzen wollen. 3.7
Gemeinde 21
Jüngstes Mitglied der Dorferneuerungsfamilie ist die Aktion „Gemeinde21“, der niederösterreichische Weg der Lokalen Agenda 21. Entspricht schon die „klassische“ Dorferneuerung in vieler Hinsicht den Prinzipien einer Lokalen Agenda, wird in der „Gemeinde21“ gezielt nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit gearbeitet. 25 Gemeinden nehmen bereits an der Aktion teil. Die organisatorische Einbindung der Lokalen Agenda in die bereits gut etablierte Dorferneuerung schafft starke Synergien. 3.8
Ideenwettbewerb
Im Rahmen eines jährlichen Wettbewerbes können Personen und Organisationen, auch wenn sie nicht offiziell an der Dorferneuerungsaktion mitwirken, Projekte einreichen, die der Dorferneuerungsphilosophie folgen. Die Gewinner dieses Wettbewerbes erhalten bis zu 50 % der Gesamtkosten ihres Vorhabens als Förderung, maximal 10.000,- Euro. 3.9
Internationale Kontakte
Die Erfahrungen Niederösterreichs wurden in den Jahren nach der Wende mit Interesse von den östlichen Nachbarstaaten beobachtet. Akteure aus Polen,
Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht
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Ungarn der Slowakei und besonders aus der Tschechischen Republik studierten niederösterreichische Beispieldörfer und luden Vertreter Niederösterreichs zu Informationstagen zu sich. Als Forum der Vernetzung der Dorferneuerungsaktivitäten verschiedener Länder hat sich die Europäische Arge Landentwicklung und Dorferneuerung konstituiert. In ihr sind Ungarn, die Slowakei, die Tschechische Republik, Slowenien, Luxemburg und zahlreiche deutsche und österreichische (Bundes-) Länder vertreten. Die Arge hat sich dem Gedankenaustausch verschrieben. Sie veranstaltet Tagungen und Exkursionen und gibt die Broschürenreihe „Dorferneuerung international“ heraus. Niederösterreich stellt den Präsidenten dieser Organisation. Internet: www.dorferneuerung.at 3.10
Ergänzende Aktionen
Stadterneuerung Die Aktion „Stadterneuerung in NÖ“ wurde 1992 ergänzend zur Dorferneuerungsbewegung ins Leben gerufen. Sie bietet den Kleinstädten Niederösterreichs Begleitung auf dem Weg in die Zukunft. Die Bürgerbeteiligung geschieht in thematischen Arbeitskreisen. Nafes Die NAFES (Niederösterreichische Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Einkaufs in Stadtzentren) unterstützt Aktivitäten, die dazu geeignet sind, nachhaltig die Attraktivität städtisch geprägter Ortskerne zu erhöhen, neue Kundenkreise zu gewinnen und Stammkunden zu halten. Ortsbildstelle In der niederösterreichischen Landesverwaltung wurde eine eigene Dienststelle gegründet, die sich mit Fragen der Architektur befasst. Diese „Ortsbildstelle“ gibt mehrmals im Jahr eine Broschüre „Niederösterreich gestalten“ heraus. Früher konzentrierte sie sich auf die Bewahrung des architektonischen Erbes, jetzt sieht sie ein positives Verhältnis zwischen alter und neuer Architektur als wichtiges Ziel. Energiesparen beim Bauen ist der Initiative ein Anliegen. Kleinregionale Entwicklungskonzepte Viele Aufgabenstellungen können nicht auf örtlicher Ebene bearbeitet werden sondern benötigen einen regionalen Zugang. Die Raumordnungsabteilung des
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Karl Trischler
Amtes der NÖ Landesregierung unterstützt Kleinregionale Entwicklungskonzepte. Wichtig ist dabei die Erarbeitung eines Stärken-Schwächen-Profils der Region, um die Chancen, aber auch die Risiken für die weitere Entwicklung erkennen und ein tragfähiges Leitbild für die beteiligten Gemeinden entwickeln zu können. Darauf aufbauend sollen in Arbeitskreisen, in die die Bewohner der Region, aber auch die vorhandenen Leitbetriebe eingebunden sind, Ziele und Maßnahmen formuliert werden, die in umsetzbare Projekte münden und von den Förderstellen des Landes unterstützt werden können.
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Dorferneuerungsprozesse und -projekte
Ein wesentlicher Teil einer örtlichen Dorferneuerung ist der Prozess. Nach der „Geburt“ der Idee geht es um die Findung einer Gruppe von Engagierten, dem Kontakt mit der Gemeinde, den Dorfgesprächen mit der Statusbestimmung und der gemeinsamen Erarbeitung eines Leitbildes bis zur Umsetzungsphase. Dieser Weg ist in der Regel begleitet von Höhen und Tiefen, von Freude, aber oft auch von Konflikten. In einer reifen Dorferneuerung wird kreativ mit Konflikten umgegangen und das Gemeinsame bleibt im Vordergrund. Es gibt aber auch Fälle, in denen es gröbere Probleme im Zusammenwirken gab. In der Umsetzungsphase leisten die Ortsbewohner meist viele unbezahlte Arbeitsstunden. Die Motivation der Mitarbeiter ist eine wichtige Führungsaufgabe der Dorferneuerungs-Obleute. Vielfältig sind die umgesetzten Projekte: wir finden Freizeitanlagen, Spielplätze, Ruhezonen, Kulturparks, Wanderwege, Feuchtbiotope, Hauptplatzgestaltungen, Fußgängerübergänge, Multifunktionsräume, Tagesstätten, sakrale Baudenkmäler, Ortskapellen, Homepages, CDs, Internetgalerien, Kalender, Ortschroniken, Jugendräume, Beachvolleyball- und Sportplätze, Jugendbühnen und ein Märchenfestival. In der Folge werden einige besonders gelungene Projekte näher vorgestellt (Texte z.T. aus den eingereichten Wettbewerbsunterlagen). Umbau eines Pfarrschuppens in einen Jugendraum in Grainbrunn (Waldviertel) „1999 blieb kein Stein auf dem anderen. Eins stand fest: Wir brauchen einen häuslichen Treffpunkt. Somit begannen wir im Juni 1999 mit dem Bau des Jugendtreff. Unser gemütlicher Treffpunkt nimmt eine beträchtliche Größe von 165 m² ein. Nach einer Bauzeit von 3 Jahren eröffneten wir feierlich im Jahre 2002 unseren Jugendtreff. Mittlerweile ist die Einrichtung vollständig. Neben unserer Heimkinoanlage gibt es natürlich einige Sitzgelegenheiten. 2 komplett eingerichtete Arbeitsplätze, die für jeden zugänglich sind. An der Teeküche befindet sich
Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht
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ebenfalls ein Computer, der zum Lieder abspielen dient. Für Getränke ist ebenfalls gesorgt, jetzt mit einem neuen Cola-Automaten und hinter der Schank befindet sich eine kleine Küche. Zur Unterhaltung gibt es auch noch eine Dartscheibe und einen Wuzler.“ (aus der Homepage des Jugendzentrums http://www.jak.grainbrunn.at/Jugentreff.html)
Abb.1:
Grainbrunn: Lebendiges Jugendzentrum im umgebauten Pfarrschuppen
„Junge Judenauer“ Das 2003 gestartete Projekt beabsichtigt, Kinder und Jugendliche verstärkt in die örtlichen Entscheidungsprozesse einzubinden, um ihre Interessen besser berücksichtigen zu können und ein attraktives Freizeitangebot zu schaffen. Konkret wurde innerhalb des Dorferneuerungsvereines eine eigene Jugendsektion eingerichtet, getragen von der jungen Generation und ausgerichtet auf deren Wünsche und Anliegen. Die Einrichtung dieser Plattform wird als nachhaltige und umfassende Erhöhung der Lebensqualität der betroffenen Kinder und Jugendlichen erkannt, trägt durch die Eingebundenheit in die gesamtheitliche Dorfentwicklung entscheidend zu deren Identifikation mit der Heimat bei und stärkt auf Grund seiner organisatorischen Struktur auf herausragende Weise ihr Selbstbewusstsein und ihre demokratiepolitischen Fähigkeiten.
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Erlebniswerkstatt Schönbach Der Verein errichtete eine Erlebniswerkstatt, in der Besucher die Ausübung alter Handwerkstechniken beobachten können. Der Verein bildet junge HandwerkerInnen aus. In den alten Klassen der Volksschule konnten eine Seifensiederei, eine Korbmanufaktur und eine Wagnerei eingerichtet werden, wo derzeit 6 MitarbeiterInnen beschäftigt sind. Die einzelnen Bereiche sind als kleine gewerbliche eigenständige Manufakturen geführt. Internet: Handwerk-erleben.at
Abb. 2:
Schönbach: Seifenerzeugung – Alte Handwerke wurden wieder belebt, berufliche Wiedereinsteigerinnen fanden Arbeit
Klein-Pöchlarn: Sicherung alten Filmmaterials In Klein-Pöchlarn wurde historisches Filmmaterial vom Format Super8 und Normal8 aus den Jahren ab 1965 und Fotos aus der Vergangenheit archiviert. Das Filmmaterial wird auf Festplatte gespeichert, geschnitten, auf DVD gebrannt und kann von allen Interessierten käuflich erworben werden – auch durch örtliche Nahversorger. Vorgestellt wurde der Film anlässlich des Marktfestes. Bibliodrehscheibe Waldviertel Ein Kleinbus gefüllt mit über 2.000 Büchern und Medien fährt in regelmäßigen Abständen zu unterschiedlichen Einrichtungen – wie Altersheimen, Behindertenstätten, Kindergärten und Schulen, Gemeinden... – im Waldviertel und in der Region rund um Lumnice (Südböhmen). Die „Taxifahrerinnen“ sind engagierte Bibliothekarinnen aus Österreich und Tschechien, die beraten, ins Gespräch kommen, Bücherwünsche entgegennehmen... Zu den „fahrenden Medien“ kann auf den Gesamtfundus der Bibliodrehscheibe Waldviertel von ca. 45.000 Bü-
Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht
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chern und Medien zurückgegriffen werden. Mit diesem Projekt wurde es geschafft, das bestehende Medienangebot noch näher zu den LeserInnen zu bringen, insbesondere zu Menschen, denen aufgrund einer Krankheit, ihres Alters, ihrer Nicht-Mobilität ein Bibliotheksbesuch nicht oder nur selten möglich ist. Leben im Dorf – Dorf(an)sichten Rosi Grieder-Bednarik Das Projekt „Leben im Dorf – Dorf(an)sichten“ (Buch und Ausstellung) entstand u.a. durch die Weiterarbeit in Folge des grenzübergreifenden Schulprojektes „Leben im Dorf – Dorf(er)leben“. Bei dem mit dem NÖ Innovationspreis ausgezeichneten Projekt befragten 100 Kinder 53 ältere Leute ausgehend von historischen Fotos, wie das Leben in den Dörfern früher war, auf beiden Seiten der Grenze. Diese Arbeiten wurden in 4 Ausstellungen präsentiert. Angeregt durch die Interviews und die in der Zwischenzeit auf ca. 3.500 Bilder angewachsene Fotosammlung, wurde der Entschluss gefasst, ein Buch über die Veränderung des Dorflebens herauszugeben – und zwar im Vergleich zwischen Österreich und Tschechien. Dorf-, Schul- und Pfarrchroniken wurden studiert und daraus passende Zitate zu den Buchkapiteln ausgewählt. Die 163 Abbildungen passen in groben Umrissen zu den Themen, sie könnten jedoch auch für sich allein betrachtet werden, da das Buch zwei Titelseiten hat, eine im Hochformat zum Lesen und eine im Querformat zum Schauen. Gleichzeitig wurde auch eine zweisprachige Broschüre, eine Dokumentation des Schulprojektes gestaltet. Zur Präsentation des Buches wurde auch eine Foto-Ausstellung zusammengestellt. Tagesstätte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen Marktgemeinde Krumbach Aus einer pfarrlichen Initiative haben sich im Jahr 2001 Eltern behinderter Kinder aus Krumbach, Hochneukirchen und Bad Schönau zu einer Art Selbsthilfegruppe zusammengefunden. Aus dieser Gemeinschaft ist der Verein Lebenslicht entstanden. Eines der größten Probleme für Familien ist die Unterbringung und Beschäftigung der Kinder nach der Pflichtschulzeit, bzw. haben bereits erwachsene behinderte Personen in der Region keine Möglichkeit der Beschäftigung in einer Einrichtung. Daher reifte der Gedanke, eine solche Betreuungseinrichtung zu schaffen. Fast alle Vereine machten Veranstaltungen, deren Erlös für das Projekt zur Verfügung gestellt wurde. Die Öffentlichkeitswirksamkeit und Benefizveranstaltungen erfasste die gesamte Region Bucklige Welt. Weiters wurde auch eine Bausteinaktion gestartet. Spatenstich und Baubeginn war Ende September 2005, die offizielle Eröffnung fand im Juni 2007 statt.
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Das Haus am Meeresboden Dorferneuerung Nonndorf Bereits bei den ersten Dorfgesprächen, kristallisierte sich das Projekt Gemeinschaftshaus als das vordringlichste Projekt für die Dorfgemeinschaft Nonndorf heraus. Da ein 100 Jahre altes funktionsloses Wirtschaftsgebäude nicht für diesen Zweck saniert werden konnte, wurde der Abriss des Gebäudes beschlossen. Es entstand ein Gemeinschaftshaus in Holzriegelbauweise mit einer verbauten Fläche von 240 m2. Der bestgedämmte Holzriegelbau in Verbindung mit einem Pelletsofen erfüllt die modernsten Energiestandards. Entsprechende Nassräume, ein Technikzentrum und eine Terrasse vervollständigen das Objekt. Mit einer Eigenleistung von 2.500 Stunden entstand ein Veranstaltungsraum mit ca. 150 m2. Eine nach Süden ausgerichtete Glasfront eröffnet einen wunderbaren Blick auf den Dorfanger mit Bach. Der neu gegründete Jugendverein Nonndorf erhält einen 30 m2 großen Raum. Nachhaltige Siedlungsentwicklung Marktgemeinde Michelhausen Um ein unkontrolliertes Wachstum von Einfamilienhaussiedlungen an den Ortsrändern zu vermeiden, wurden im Zuge des letzten Raumordnungsverfahrens zwei große, aber in sich begrenzte Bereiche als zukünftiges Bauland gewidmet. Im Rahmen des geladenen Architekturwettbewerbes „Ideenfindung Nutzungsund Bebauungskonzept“ wurden für diese Bereiche bei Michelhausen (35.000 m2) und bei Pixendorf (153.000 m2) eigenständige architektonische Lösungen mit entsprechenden Zentren (Infrastruktur) gesucht. Besonders Wert legte die Gemeinde auf die weitreichenden und nachhaltigen Vorgaben für die Wettbewerbsteilnehmer. So wurde u.a. neben der optimalen Ausschöpfung des Grundstücks auch die Einbeziehung der dörflichen Umgebungs- und Ensemblequalität gefordert. Das gesamt Projekt war barrierefrei zu planen und mit erneuerbarer Energie zu versorgen. Als haustechnische Details wurden gefordert: Die Warmwasseraufbereitung mit Solaranlage, sowie Nutzwasserleitungen für Sanitäranlagen und Gartenbewässerung. Die Oberflächenwässer sollen durch im Projekt vorzuschlagende geeignete bauliche Maßnahmen auf Eigengrund versickern. Steg über die Tulln Marktgemeinde Asperhofen Durch die Brücke wird der Weg zum Hauptort Asperhofen für FussgängerInnen und RadfahrerInnen wesentlich attraktiviert. Vor allem durch die Routenführung entlang der Großen Tulln wurde die Verkehrssicherheit wesentlich gesteigert.
Dorferneuerung in Niederösterreich – ein Werkstattbericht
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Was macht den großen Erfolg der Dorferneuerung in niederösterreichischen Dörfern aus?
Die niederösterreichische Dorferneuerung besitzt im Land einen hohen Stellenwert. Es gibt kaum landespolitische Polemiken über dieses Thema, das Thema erfreut sich einer hohen Bekanntheit und Beliebtheit. Das Interesse an der Teilnahme ist ungebrochen. Im Jänner 2008 sind 174 Orte in der Aktivphase der Dorferneuerung, zusätzlich beteiligen sich 25 Gemeinden am Programm „Gemeinde 21“. Prozessbegleitung Wesentlich für den Erfolg der Aktion ist die kontinuierliche Prozessbegleitung durch qualifizierte ProzessbegleiterInnen. Diese stehen für mehr als 4 Jahre dem Ort für Hilfestellungen zur Verfügung und können daher mittelfristig agieren und stehen nicht unter dem Zeitdruck beauftragter Planungsbüros mit meist kürzeren Auftragszeiträumen. Etwa drei Viertel der Kosten der Prozessbegleitung werden vom Land Niederösterreich getragen, der Rest von der Gemeinde. Die professionellen ProzessbegleiterInnen benötigen eine hohe soziale Kompetenz, um die Zusammenarbeit aller Gruppen im Planungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozess bestens unterstützen zu können. Öffentlichkeitsarbeit Die niederösterreichische Dorferneuerung wurde von Anfang an intensiv der Öffentlichkeit nähergebracht. In den ersten Jahren der Aktion wurde zehnmal jährlich ein einfach gestaltetes Informationsblatt an tausende Aktivisten versandt und die Botschaft des Programmes verbreitet. Später wurde das Blatt mit der Zeitschrift der NÖ Stadterneuerung zusammengelegt und erscheint nun im Vierfarbendruck viermal pro Jahr. Diese Broschüre, „Leben in Stadt und Land“ wird kostenlos verteilt. Chefsache Der niederösterreichische Landeshauptmann (entspricht dem Ministerpräsidenten) steht voll hinter der Aktion. Das gibt der Aktion Kraft. Sie wirkt auch heute noch frisch, obwohl jetzt schon die Vorarbeiten für die Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestandsjubiläums im Jahr 2010 anlaufen. Die Aktion wurde behutsam weiterentwickelt und neuen Erfordernissen angepasst.
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Talenteschmiede Dorferneuerung Die Mitarbeit in örtlichen Dorferneuerungsorten gibt interessierten Menschen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten einzusetzen und zu entwickeln. In zahlreichen Fällen rekrutierten sich spätere Gemeindemandatare aus den Führungskreisen von Dorferneuerungsvereinen. Die Qualität von Dorferneuerungsprozessen hängt stark von den Persönlichkeitsstrukturen der Akteure ab. Ohne engagierte, konsensorientierte Kräfte bleibt eine Dorferneuerung zahnlos. Die Aktivisten müssen viel Geduld und Durchhaltevermögen aufbringen. „Die Arbeit der letzten zwölf Jahre haben sich gelohnt“ resümiert etwa ein Aktivist aus dem Waldviertel, der sich über Erfolge freut. Interessant ist der hohe Frauenanteil in der Dorferneuerung. An der Spitze örtlicher Vereine stehen aber in großer Mehrzahl Männer. Geld und Philosophie Schon 1989 fragte der bayrische Dorferneuerungspapst Holger Magel in einem Buchtitel: „Was braucht das Dorf der Zukunft? Philosophie oder Geld – oder beides?“ Die Frage ergab sich daraus, dass in Bayern beträchtliche Geldmittel für die Dorferneuerung zur Verfügung standen, während die Budgetansätze in Österreich viel bescheidener ausfielen, andererseits aber in Österreich stärkeres Gewicht auf die Inhalte der Erneuerungsprozesse gelegt wurde. Niederösterreich hat sich in dieser Frage für den Weg „sowohl – als auch“ entschieden. Der niederösterreichischen Aktion Dorferneuerung stehen pro Jahr etwa 2 Millionen € für Projektförderungen und etwa 1 Million € für die Prozessbegleitung zur Verfügung. Zur Skizzierung der Philosophie sind in der Folge die Ziele der niederösterreichischen Dorferneuerungsrichtlinien ausgeführt (Punkt 1.1. der Richtlinien): a) Die Dörfer und der ländliche Raum sollen in ihrer besonderen Eigenart erhalten und im Hinblick auf die Lebensqualität der dort lebenden Menschen entwickelt werden. b) Regionale Wirtschaftskreisläufe sollen durch eine erhöhte Wertschöpfung in der Region und in den Dörfern gestärkt werden. c) Die Beschäftigungssituation der Wohnbevölkerung in der Region soll verbessert werden. d) Bei der Befriedigung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Ansprüche soll eine hohe regionale Eigenständigkeit erreicht werden. e) Die Bereitschaft zur Erbringung von Eigenleistungen unter Ausschöpfung aller örtlichen und regionalen Gegebenheiten soll erhöht werden.
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f) Durch die Entwicklung von Eigenverantwortung und der Fähigkeit zur Selbshilfe sollen eine weitgehende Selbständigkeit der Dörfer und Regionen und ein entsprechendes Orts- und Regionsbewusstsein entstehen. Sprachrohr für die kleinen Orte Wesentlicher Akteur der niederösterreichischen Dorferneuerung sind die Bewohner eines einzelnen Dorfes. Niederösterreich weist etwa kleinere und größere 3900 Siedlungen auf, die von etwa 570 Gemeindeverwaltungen betreut werden. Die Dorferneuerung verbessert den Stellenwert der Dörfer innerhalb des sozialen Gefüges der Gemeinden. Manchmal trägt eine Dorferneuerung dazu bei, Wunden einer nicht ganz geglückten Gemeindezusammenlegung zu heilen. Die Menschen in kleinen Siedlungseinheiten fühlen sich durch die Dorferneuerung direkt angesprochen, sie fühlen sich ernst genommen. Sie bekommen keinen Plan aufgezwungen sondern erarbeiten gemeinsam den eigenen Fahrplan ihrer Entwicklung. Die umgesetzten Projekte werden durch die Ortsbewohner mitgeplant. Sie sind daher für die Bedürfnisse der künftigen Nutzer maßgeschneidert und erfordern keine aufwändigen Umplanungen. Die freiwilligen Arbeitsstunden senken die Kosten von Projekten, zahlreiche Projekte werden erst dadurch und durch den Landeszuschuss leistbar.
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Fazit
Viele kleine Menschen verändern die Erde. Und: relativ geringe Investitionen, vielfältige Auswirkungen: da kommt das westafrikanische Sprichwort in den Sinn: „Viele kleine Menschen, die an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun können das Antlitz der Erde verändern.“
Quellen Die niederösterreichische Dorferneuerung im Internet: Seite der Landesgeschäftsstelle für Dorferneuerung: http://www.raumordnung-noe.at/ Button: NÖ Dorferneuerung Seite des Verbandes NÖ Dorf- und Stadterneuerung: www.dorf-stadterneuerung.at Eine Wissensbasis für Dörfer: www.dorfwiki.at
Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt: innovatives Regionalmanagement für strukturschwache ländliche Regionen in Osteuropa Thomas Wehinger, Uwe Krappitz, Jens Adler, Detlev Böttcher
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Zusammenfassung
Die GTZ1 und InWEnt2 arbeiten seit 2004 an einem Kooperationsprojekt zum Innovativen Regionalmanagement für strukturschwache Regionen in Süd-OstEuropa zusammen. Durch Qualifizierungsmaßnahmen einerseits und durch Beratung andererseits werden die Kompetenzen der Partner in den Ländern gestärkt. Die Zusammenarbeit von GTZ und InWEnt ermöglicht die Unterstützung der Teilnehmenden von Qualifizierungsmaßnahmen bei der Umsetzung ihrer erlernten Fähigkeiten durch die individuelle Beratung und Unterstützung vor Ort. Trainer und Berater sind oft dieselben Personen. Die Ziele des Kooperationsvorhabens sind: • die Entwicklung EU-konformer Politiken, Strategien, Förderprogramme sowie geeigneter Organisationsstrukturen zur regionalen Entwicklung ländlicher Räume • die Vermittlung von Grundlagen, Instrumenten und Strukturen der integrierten ländlichen Regionalentwicklung, des Regionalmanagements sowie der kommunalen und regionalen Wirtschaftsförderung • die Stärkung der Managementkapazitäten der Verwaltungen auf regionaler und lokaler Ebene sowie nationaler Gemeindeverbände ________________ 1 Als weltweit tätiges Bundesunternehmen der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung unterstützt die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH die Bundesregierung bei der Verwirklichung ihrer entwicklungspolitischen Ziele. Darüber hinaus ist sie tätig für Regierungen anderer Länder, für internationale Auftraggeber wie die Europäische Kommission, die Vereinten Nationen oder die Weltbank sowie für Unternehmen der privaten Wirtschaft(www.gtz.de). 2 InWEnt – Internationale Weiterbildung und Entwicklung gGmbH ist ein weltweit tätiges Unternehmen für Personalentwicklung, Weiterbildung und Dialog. Unsere Capacity BuildingProgramme richten sich an Fach- und Führungskräfte aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Wir arbeiten im Auftrag der Bundesregierung mit an der Umsetzung der Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (www.inwent.org).
Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt •
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die Unterstützung regionaler, nationaler und grenzüberschreitender Netzwerke durch fachlichen Erfahrungsaustausch und Kooperation
Ein ganz wesentlicher Focus liegt dabei auf dem LEADER-Ansatz, der in den neuen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien noch in 2008 umgesetzt werden soll. Aber auch in den anderen Ländern wird mit einem integrierten Ansatz zur Entwicklung ländlicher Regionen in Anlehnung an LEADER gearbeitet. Am Beispiel von Rumänien und Mazedonien werden verschiedene Module der Qualifizierungsmaßnahmen vorgestellt und die Ergebnisse bewertet. Zusammenfassend können folgende grundlegenden Erfahrungen aus den Pilotregionen Süd-Ost-Europas benannt werden: Wegen der fehlenden Erfahrungen braucht der partizipative Ansatz der ländlichen Regionalentwicklung, wie er im Rahmen von LEADER gefordert wird, in den Transformationsländern Südosteuropas eine intensive Vorbereitung sowie ausreichend Zeit zur Einführung. Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen gegeben und die finanzielle Unterstützung durch nationale Programme oder EU-Förderprogramme muss gewährleistet sein. Die Unterstützung der Partner durch die internationalen Geber darf sich nicht nur auf inhaltliche Themen konzentrieren, sondern muss gleichzeitig die methodischen Kompetenzen stärken. Wie in Rumänien und Mazedonien werden GTZ und InWEnt die regionalen Entwicklungsanstrengungen der südosteuropäischen Länder auf ihrem Weg in die EU auch weiterhin im Auftrag des BMZ unterstützen und die Aktivitäten auch in anderen Pilotregionen u.a. in Albanien, Kosovo und Kroatien fortführen. Auch Deutschland kann aus diesen Prozessen unserer Partner lernen, vor allem, dass und wie darauf hingewirkt wird, für die Entwicklung ländlicher Wirtschaftsräume ein integriertes Vorgehen aller beteiligten Sektorministerien einzufordern und umzusetzen.
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Zur Umsetzung des Europäischen Agrarfonds für Ländliche Entwicklung in Südosteuropa
Der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) ist in unterschiedlichem Maße die Grundlage zur Förderung der ländlichen Entwicklung in den Ländern Südosteuropas. Die Möglichkeiten, die verschiedenen Maßnahmen umzusetzen, sind davon abhängig, welchen Status die Länder im Erweiterungsprozess innehaben. Während die Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien mit Beginn des Jahres 2008 alle möglichen Förderinstrumen-
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Thomas Wehinger, Uwe Krappitz, Jens Adler, Detlev Böttcher
te nutzen können, werden bei den Beitrittskandidaten Kroatien und Mazedonien (ehemalige jugoslawischen Republik) nur einige wenige Elemente des ELER umgesetzt. Die anderen Länder Südosteuropas (Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Albanien und Kosovo) sind dabei, ihre Förderinstrumente für die Landwirtschaft an den rechtlichen Rahmen der EU anzupassen und erhalten hierfür auch Unterstützung durch Maßnahmen im Rahmen von IPA (Instrument for pre-accession assistance). Die Vorbereitung zur Umsetzung des LEADER-Ansatzes laufen jedoch schon seit 1–2 Jahren in unterschiedlicher Intensität. In Rumänien und Bulgarien wird die erste Runde der LEADER-Bewerbungen Mitte 2008 erwartet. In Mazedonien und Kroatien werden einige wenige Pilotregionen für den LEADERAnsatz in 2008 und 2009 ausgewählt. In Albanien, im Kosovo und in Serbien wird im Rahmen von bilateralen Projekten der internationalen Zusammenarbeit die Implementierung des Regionalentwicklungsansatzes von LEADER in einzelnen Regionen erprobt. Um dem Qualifizierungs- und Beratungsbedarf zur Implementierung ländlicher Regionalentwicklung zu decken, haben GTZ und InWEnt im Jahr 2004 ein Kooperationsvorhaben begonnen, das im Jahr 2008 in die erste Verlängerungsphase geht.
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Programmziele und Maßnahmen
Das Programm zielt auf die Verbesserung der regionalen und lokalen Verwaltungs- und Managementkompetenzen in den Zielländern (vor allem in den ausgewählten Pilotregionen). Zu den Zielen gehören: •
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die Entwicklung EU-konformer Politiken, Strategien und Förderprogramme sowie geeigneter Organisationsstrukturen zur regionalen Entwicklung ländlicher Räume die Vermittlung von Grundlagen, Instrumenten und Strukturen der integrierten ländlichen Regionalentwicklung, des Regionalmanagements sowie der kommunalen und regionalen Wirtschaftsförderung die Stärkung der Managementkapazitäten der Verwaltungen auf regionaler und lokaler Ebene sowie nationaler Gemeindeverbände die Unterstützung regionaler, nationaler und grenzüberschreitender Netzwerke durch fachlichen Erfahrungsaustausch und Kooperation
Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt
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Die Partner sollen über die engen Sektorgrenzen hinaus beim Aufbau dezentraler Selbstverwaltungs- und Managementstrukturen, in der Verbesserung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der ländlichen Behörden, Organisationen und Unternehmen sowie in der Netzwerkbildung und der grenzüberschreitenden Kooperation unterstützt werden. Die Maßnahmen sollen die beteiligten Partnerorganisationen dabei unterstützen, eine potenzialorientierte und partizipative regionale Entwicklung ländlicher Wirtschaftsräume im Rahmen des EU-Annäherungsprozesses aktiv mitzugestalten und zu steuern. Zu den Maßnahmen zählen u.a.: •
• •
• • •
Entwicklung eines Trainingskonzepts und Training of Trainers zum Thema „Regional Rural Development (RRD)“ für Vertreter/innen bzw. Trainer/innen ausgewählter Bildungsinstitutionen Trainingskurs „Regional Rural Development – RRD“ (3 Wochen in Deutschland) Fachseminare, Beratung und Entsendung von Kurzzeitexperten zu den Themen „Regional Marketing and Branding“, „Organisation und Financing of Regional Management“ sowie zur Erarbeitung Regionaler Entwicklungskonzepte in den ausgewählten Pilotregionen Fachstudienreisen vorwiegend in Deutschland, Österreich und die Schweiz sowie vereinzelt längerfristige Praktikas (6 Monate) in Deutschland Seminare und Beratung zu „Grenzüberschreitender und länderübergreifender Kooperation“ (CBC-Cross Border Cooperation) Workshops und Seminare zum „Netzwerkmanagement“
Bei den o.g. Maßnahmen werden in zunehmendem Maße auch E-Coaching und E-Learning als Instrumente eingesetzt, um damit die Trainings- und Coachingeinheiten noch flexibler und bedarfsorientierter gestalten zu können und die Abwesenheit der Teilnehmenden von ihren Arbeitsplätzen zu minimieren.
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Innovatives Regionalmanagement als Motor für ländliche Entwicklung
InWEnt und GTZ verstehen Regionalmanagement als integrierten Ansatz zur Initiierung und Unterstützung der nachhaltigen Entwicklung einer Region, der das endogene Potenzial durch konzertierte Anstrengungen der verschiedenen Akteure der politisch-administrativen Ebene, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft mo-
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bilisiert. Wirtschaftsförderung stellt somit ein wichtiges Aufgabenfeld des Regionalmanagements dar. Vor allem in den ländlich geprägten Regionen konzentriert sich die Wirtschaftsförderung sehr oft auf Land- und Forstwirtschaft sowie die Vermarktung deren Produkte und auf Gewerbeentwicklung, hier vor allem auf die Förderung von KMUs, aber auch Tourismus steht relativ weit oben auf der Prioritätenliste. Dazu gehört auch der Transfer von Know-how hinsichtlich der Nutzung von speziell für Regionalentwicklung konzipierten EU-Programmen sowie relevanten Programmen anderer Geber, wie z.B. FAO, IFAD, Weltbank, etc. Regionalentwicklung und das Management der damit verbundenen Prozesse bilden einen komplexen Handlungsgegenstand. Folglich müssen Kompetenzen auf ganz verschiedenen Feldern vorhanden sein bzw. herausgearbeitet werden, um diese vielschichtige Aufgabe effizient erfüllen zu können. Diese Handlungsfelder werden im folgenden Schaubild dargestellt.
Prozess- und Netzwerkmanagement Mobilisierung regionaler Potenziale und Management vorhandener Ressourcen
Qualifizierung und Organisationsentwicklung
Innovatives Regional Management Landwirtschaft, Ernährungsindustrie, Tourimusund Gewerbe
Dienstleistungen der Verwaltung und lokale Entwicklungsinitiativen
Innovation und Standortentwicklung Abb. 1:
Innovatives Regionalmanagement
Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt
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In dem hier vorgestellten InWEnt-GTZ-Kooperationsvorhaben wird die Entwicklung dieser Kompetenzfelder über einen integrierten Trainings- und Beratungsansatz abgedeckt, wobei die Gewichtung zwischen Training und Beratung variieren kann. 4.1
Regionalmanagement ist Strategieentwicklung und Umsetzung
Eine strategische Ausrichtung der Entwicklungsziele in einer Region und die gemeinsame Konsensfindung über Inhalte, Aktivitäten und Projekte ist eine der zentralen Aufgaben des Regionalmanagements. Die Formulierung und Umsetzung von regionalen Entwicklungskonzepten und Aktionsplänen haben einen klaren Bezug zu Strategieentwicklung und Prioritätensetzung. Der Ansatz von InWEnt und GTZ beinhaltet, diese Strategie und Prioritäten in einem partizipativen, alle Entscheidungsträger ansprechenden Verfahren herauszuarbeiten. Dabei legen wir sowohl auf Kreativität und Flexibilität der zu entwickelnden Konzepte und Pläne Wert als auch auf eine sektorübergreifende Sicht der Dinge und unbürokratische Entscheidungsfindung. Die Formulierung eines auf die jeweilige Region abgestimmten Entwicklungskonzepts ist dabei nicht Selbstzweck für eine gute eigene Projekt- oder Programmplanung, sondern mehr. Integrierte regionale Entwicklungskonzepte werden als Leitvision und Motor der in Gang zu setzenden Prozesse gesehen, und die Partner vor Ort werden befähigt, solche Konzepte auch zukünftig eigenständig fortzuschreiben und umzusetzen, z. B. bei sich ändernden politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Gutes Regionalmanagement muss immer auch selbst Beratung leisten können, insbesondere gegenüber den vom Management betreuten Akteuren einer Region. Die Bewertung von neuen Ideen, Projekten und Investitionen gehört dabei genauso dazu wie die kontinuierliche Evaluierung und Weiterentwicklung der strategischen Ausrichtung. Projektmanagement-Kompetenzen sind daher ein wesentlicher Bestandteil der Qualifizierungsmaßnahmen. Projektinitiierung, Projektplanung und Projektumsetzung wird durch umfassende Expertise und durch Schulungen begleitet. Regionalentwicklung heißt auch, die Region zu bewerben, weshalb Regionalmarketing als ein wichtiger Bestandteil des notwendigen Know-hows betrachtet wird. Langfristig sollen die Regionalmarketing Konzepte zu einer „Corporate Identity“ beitragen, die nach außen den Charakter einer Region präsentiert und nach innen das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt und somit zusätzliche Motivationsimpulse für die wirtschaftliche Entwicklung liefern kann. Dazu werden die regionalen Besonderheiten erfasst und verdichtet, um daraus ein zielgruppenspezifisches und zweckgebundenes „Regional Branding“ zu konzipieren.
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Regionalmanagement ist Netzwerkmanagement
Netzwerkmanagement ist ein weiter Begriff, der auf die Zusammenarbeit von regionalen Akteuren im Regionalentwicklungsprozess zielt. Dieses Kompetenzfeld wird mit Training und Beratung zu Kommunikations-, Moderations- und Präsentationstechniken vermittelt. Ganz wesentlich für erfolgreiche und nachhaltige Regionalentwicklung sind die sozialen Kompetenzen der maßgeblich handelnden Akteure. Umfassende Kommunikationsfähigkeiten sind dafür die Grundlage. Man muss vertrauensbildend wirken, Diplomatie üben sowie Konflikte austragen und abschwächen können. Zuweilen ist auch Krisenmanagement gefragt. Ein hohes Maß an Netzwerkkompetenz, Entscheidungsfähigkeit, Frustrationstoleranz und Teamfähigkeit charakterisieren ebenfalls ein sozial kompetent agierendes Regionalmanagement. Dieses benötigt i. d. R. umfassendere Kenntnisse über die Region, über die regionalen Akteure, deren Interessenvertretungen und Lobbyisten und über die maßgeblichen Verwaltungsstrukturen und deren innere und äußere Logik. 4.3
Regionalmanagement ist Organisationsentwicklung
Effizienz in der Regionalentwicklung ist nur über stringent formulierte und etablierte Strukturen zu erreichen. Entscheidend dafür ist die administrative Kompetenz, die sowohl eine organisatorische als auch eine fachliche Dimension hat. Daher werden Einsichten zur zweckmäßigen Organisation inner- und außerhalb der in den Regionen bestehenden Strukturen vorgestellt. Beispielsweise können dies Organisationen in der öffentlichen Verwaltung oder in Wirtschaftsverbände sein. Dazu gehört auch die Entwicklung von Kompetenzen zur Führung von Organisationen, die Personalentwicklung, PR und Marketing und ein umfassendes Finanzmanagement. Aus fachlicher Sicht wird das notwendige Wissen über Verwaltungsabläufe, Erfolgssicherung und -dokumentation, Berichtswesen sowie Förder- und Antragsbearbeitung vermittelt.
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Fallbeispiel Rumänien: Erarbeitung regionaler Entwicklungskonzepte partizipativ gestalten
Während eines gemeinsamen GTZ-InWEnt-Workshops Ende 2005 im Rahmen eines GTZ-Projektes zur ländlichen Entwicklung in den Westkarpaten (Apuseni Gebirge) haben die Teilnehmenden den Bedarf sowie die Ziele und Inhalte für
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zukünftige Qualifizierungsmaßnahmen zur Implementierung des Europäischen Agrarfonds für ländliche Entwicklung formuliert. Schwerpunkt der Maßnahmen sollten Seminare und Workshops zu verschiedenen Themen der ländlichen Regionalentwicklung sein und der Erfahrungsaustausch mit einer LEADER Region in Deutschland. Darüber hinaus sollten die Schlüsselpersonen im Projekt durch gezielte Beratung und Coaching unterstützt werden. Das Projekt wurde im Auftrag von GTZ und InWEnt von einem deutschen Berater und einer rumänischen Beraterin durchgeführt Aufgrund der engen Zusammenarbeit mit den verschiedenen Verwaltungseinheiten im Kreis Alba konnten im Jahr 2006 drei Seminare und eine Exkursion nach Deutschland realisiert werden. Die Inhalte der Seminare wurden flexibel und kontinuierlich an die Bedürfnisse der Zielgruppe angepasst und teilnehmerorientiert gestaltet. Dabei wurde die Umsetzung des Europäischen Agrarfonds für Ländliche Entwicklung gegen Ende des Jahres ein immer bedeutenderes Thema, insbesondere weil der Informationsstand der regionalen Akteure relativ gering war und die Verantwortlichen auf nationaler Ebene im Agrarministerium noch damit beschäftigt waren, das Operationelle Programm (OP) für die Implementierung des ELER vorzubereiten und die SAPARD-Maßnahmen umzusetzen. Im Jahr 2007 wurde in Absprache mit ehemaligen Teilnehmenden an InWEnt-Seminaren die Arbeit auf zwei weitere rumänische Pilotregionen – Iasi und Botosani – ausgeweitet. In einer Abstimmungsrunde im Juni wurde ein Programm zur Erarbeitung der regionalen Entwicklungskonzepte (REK) vereinbart, das sowohl Module des Qualifizierungsprogramms zum Innovativen Regionalmanagement von InWEnt also auch beratende Unterstützung vor Ort umfasste. Mit drei Qualifizierungsmodulen wurde die Erarbeitung je eines Entwurfs des REKs in den Pilotregionen unterstützt. Zwischen den Seminaren hatten die drei Teilnehmergruppen aus Alba Iulia, Iasi und Botosani die Aufgabe, die Akteure in einer Region über LEADER zu informieren und einen ersten, ca. 30 Seiten langen Entwurf des REKs zu erarbeiten. Die Teilnehmenden der Seminare mussten die angeeigneten Fähigkeiten in Sachen Präsentation, Moderation und Gesprächsführung im Rahmen der Arbeit gleich im Anschluss an die Trainingsmodule mit den Akteuren in den Regionen anwenden. Jede Gruppe von 6 bis 9 Teilnehmenden wurde von einem lokalen Berater bei der Arbeit unterstützt. Die Kontinuität der Anwesenheit der Teilnehmenden an drei aufeinander folgenden Seminaren wie auch die Aussagen in den Auswertungen der Seminare und des Programms verdeutlichte eine intensive Beteiligung (ownership) der Partnerorganisationen sowie deren hohe Zufriedenheit mit dem Gesamtprozess.
274 Tabelle 1:
Thomas Wehinger, Uwe Krappitz, Jens Adler, Detlev Böttcher Übersicht der durchgeführten Maßnahmen
2006 Mai
Seminar zur Implementierung von Achse 4-LEADER in Rumänien mit der Identifizierung möglicher LEADERRegionen im Kreis Alba
Juli
Exkursion und Erfahrungsaustausch mit einer deutschen LEADER-Aktionsgruppe im Nordschwarzwald
November
Seminar zur Erarbeitung Ländlicher Entwicklungskonzepte
Dezember
Seminar zu transnationalen Kooperationen 2007
Juni
Beratungen und eintägige Workshops zur Erarbeitung Ländlicher Entwicklungskonzepte in Alba Iulia, Botosani und Iasi
Oktober
Erster Workshop zur Erarbeitung eines REKs in Alba Iulia Grundlagen zu ELER und LEADER mit praktischen Übungen zur Präsentation
November
Zweiter Workshop zur Erarbeitung eines REKs in Iasi Projektentwicklung- und Projektmanagement mit praktischen Übungen zur Moderation von Gruppen
Dezember
Dritter Workshop zur Erarbeitung eines REKs in Botosani Organisation und Finanzierung des Regionalmangements, Kompetenzen und Handlungsfelder des Regionalmanagements mit praktischen Übungen zur professionellen Gesprächsführung
Sowohl die Evaluierung der einzelnen Seminare als auch des gesamten Programms zur Entwicklung der REKs fiel sehr positiv aus. Die Kombination von Qualifizierungsmaßnahmen und die praktische Arbeit in den Regionen wurde von allen Teilnehmenden als motivierend und spannend erlebt. Ganz abgesehen davon war der Erfahrungsaustausch zwischen den Regionen ein wichtiges Element
Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt
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der Seminare. Die Arbeit vor Ort in den Regionen wurde mit einem Workspace im Global Campus – der Internet-Lern-Plattform von InWEnt – durch Chats und den Austausch von Dokumenten und Informationsmaterial unterstützt.
Fazit: Die wichtigsten Lern-Ergebnisse der Maßnahmen in Rumänien können wie folgt zusammengefasst werden: •
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Kenntnisse über die Implementierung des ELER – als Voraussetzung zur klaren Abgrenzung der LEADER-Aktion zu den Achsen 1–3 des ELER sind nur bei wenigen Experten der Verwaltung vorhanden und gefestigt. Erfahrungen zur partizipativen Gestaltung von Planungsprozessen, wie es die Erarbeitung eines Regionalen Entwicklungskonzeptes durch eine Lokale Aktionsgruppe erfordert, gibt es in den (ländlichen) Regionen kaum. Die fehlenden Methodenkompetenzen zur Moderation von Gruppen, zur Präsentation und der Gesprächsführung sind dabei eine nicht zu unterschätzende Schwachstelle. Oft fehlen auch die technischen Hilfsmittel zur Gestaltung von Kommunikationsprozessen. Unerfahrenheit und konkrete Interessenkonflikte, die nicht selten auch politischer Natur sind, behindern die regionale Kommunikation und Kooperation. Bürgermeister unterschiedlicher Parteien tun sich schwer in der Zusammenarbeit und müssen durch intensive Überzeugungsarbeit auf die wesentlichen Ziele der regionalen ländlichen Entwicklung fokussiert werden, u.a. Stärkung der Wirtschaft und Beschäftigungsförderung. Daher empfiehlt sich eine Exkursion/Studienreise (in ein EU-Mitgliedsland) zu einer bestehenden Lokalen Aktionsgruppe mit wichtigen Akteuren der Region, um die Umsetzung einer LEADER-Initiative am konkreten Beispiel zu veranschaulichen, aber auch zwischen den Beteiligten der Studienreise Vertrauen aufzubauen. Generell sind die Teilnehmenden in Rumänien (wie auch in anderen Ländern Südosteuropas) sehr offen für einen partizipativen Methodenmix während der Qualifizierungsmaßnahmen. Die Vermittlung von Wissen und praktische Übungen zur Stärkung der individuellen Kompetenzen wird dabei besonders geschätzt. Die Teilnehmenden des Programms zur Erarbeitung eines REKs konnten dabei ihr Wissen und ihre persönlichen Kompetenzen besonders in diesen Feldern vertiefen.
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Thomas Wehinger, Uwe Krappitz, Jens Adler, Detlev Böttcher
Der vielfältige Bedarf an Weiterbildungsinhalten, die flexible Gestaltung der Seminare sowie die hohe Teilnehmerzahl mit bis zu 30 Personen stellt besondere Anforderungen an das Trainerteam. Während sich ein Trainer auf die fachlichen Inhalte zur Implementierung von LEADER und der Erarbeitung eines REKs konzentriert, vermittelt der zweite Trainer die Kompetenzen zur Präsentation, Moderation und professionellen Gesprächsführung. Die Notwendigkeit der Übersetzung ist insbesondere bei der personellen und zeitlichen Planung der Seminare zu berücksichtigen. Deshalb wurden die o.g. Trainings organisatorisch und inhaltlich zusätzlich von zwei lokalen Experten mit InWEnt-Seminarerfahrung unterstützt.
Fallbeispiel Mazedonien: Regionale Wirtschaftsförderung in Ostmazedonien (GTZ REDEM) – Ein Pilotprojekt wird zum Mainstream
Das zweite Fallbeispiel für den Aufbau eines innovativen Regionalmanagements wurzelt im Ansatz der Wirtschaftsförderung als Instrument einer komplett neu konzipierten Regionalpolitik in der Republik Mazedonien. Von 2005 bis 2007 wurden im Rahmen der deutsch-mazedonischen Zusammenarbeit zahlreiche Maßnahmen zum Aufbau regionaler Umsetzungsstrukturen in zwei strukturschwachen und ländlich geprägten Planungsregionen (Ost- bzw. BregalnicaRegion und Südost- bzw. Strumica-Region) mit 23 Gemeinden und 375.000 Einwohnern auf einer Fläche von 7.000 km² durchgeführt. Besonders herauszustellen ist die umfassende Kopplung und Verzahnung der spezifischen Instrumentarien von GTZ und InWEnt, um die lokalen und regionalen Entwicklungspotentiale systematisch und zielgerichtet auf den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Gemeinden und Wirtschaftsregionen auszurichten. So wurde auf der nationalen Ebene der politische Partner (Ministerium für Lokale Selbstverwaltung mit dem Büro für wirtschaftlich unterentwickelte Regionen) beraten und unterstützt, u.a. bei der: • • •
Ausarbeitung und Beschlussfassung des „Gesetzes für eine ausgewogene regionale Entwicklung“ Ausarbeitung und Beschlussfassung einer „Nationalen Strategie für eine ausgewogene regionale Entwicklung“ Bewusstseinsbildung und Capacity Building in den beteiligten Partnerorganisationen.
Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt
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Der Hauptschwerpunkt der durchgeführten Maßnahmen lag jedoch in den beiden Planungsregionen. Mit einem integrierten Ansatz, unter Einbindung der politischen Ebene (Bürgermeister und Gemeinderäte), der Umsetzungsebene (v.a. die in den Gemeindeverwaltungen Verantwortlichen für die lokale Wirtschaftsentwicklung) sowie der Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft, wurden die regionalen und lokalen Partner unterstützt bei: • • •
•
dem gemeinsamen Aufbau bzw. der Weiterentwicklung regionaler Managementstrukturen und -kapazitäten der Erarbeitung jeweils eines Regionalen Entwicklungsprogramms für die beiden Planungsregionen der Finanzierung und Umsetzung regionaler Pilotprojekte entsprechend den gemeinsam beschlossenen Entwicklungsprioritäten in den Regionen, inklusive der Einrichtung einer Regionalen Entwicklungsstiftung als Fond für die finanzielle Beteiligung der Gemeinden der Umsetzung von zahlreichen Kleinprojekten zur Stimulierung regionaler Entwicklungsaktivitäten der Zivilgesellschaft und im Rahmen interkommunaler Kooperationen.
Die methodische Vorgehensweise folgte hierbei insbesondere zwei Prinzipien. Zum einen wurden die Beteiligten konsequent in die Ideen- und Entscheidungsfindung in allen Projektphasen einbezogen. Zum anderen wurde auf der kommunalen/regionalen Ebene nicht abgewartet, bis die entsprechenden gesetzlichen Vorgaben eine gesicherte Vorgehensweise ermöglichten. Vielmehr wurden in einem iterativen Prozess auf der regionalen Ebene pilotartig Strukturen und Abläufe geschaffen, deren Ergebnisse im parallel laufenden nationalen Politikentwicklungsprozess aufgegriffen und maßgeblich in die Formulierung von Gesetz und Strategie einflossen. Diese Kombination aus gleichzeitiger nationaler Politikberatung und regionalen Umsetzungsmaßnahmen ist der Schlüsselfaktor für die Ergebnisse dieses Projektes. Hervorzuheben sind hierbei besonders die folgenden Punkte: •
Für die politische Ebene der Bürgermeister wurde aufbauend auf vertrauensbildenden Maßnahmen (u.a. eine gemeinsame Studienreise nach Deutschland zu zahlreichen Beispielprojekten der Regionalen Wirtschaftsförderung und des Regionalmanagements) mit der „Regionalen Bürgermeisterversammlung“ ein Forum geschaffen, in dem sich eine neue Kultur der interkommunalen Kooperation vor allem in der Prioritätensetzung und gemeinsamen Entscheidungsfindung entwickeln konnte. Dies stellte zum damaligen Zeitpunkt ein Novum in Mazedonien dar.
278 •
•
•
Thomas Wehinger, Uwe Krappitz, Jens Adler, Detlev Böttcher
Für die Umsetzungsebene der Regionalmanager wurde u.a. mit Hilfe einer intensiven und modular aufgebauten Capacity Building Sequenz die Voraussetzung für ein operatives System geschaffen, das sich im Projektverlauf als „Verein zur regionalen Entwicklung“ selbst konstituiert hat und auch ohne externe Projektunterstützung die Fortsetzung des Regionalmanagements in den beiden Regionen garantiert. Die Einbindung der Zivilgesellschaft konnte durch die Unterstützung zahlreicher Kleinprojekte von Nichtregierungsorganisationen und die partizipative Erarbeitung jeweils eines Regionalen Entwicklungskonzepts in den beiden Regionen gestärkt werden. Ausgehend von dem geringen Niveau der zivilgesellschaftlichen Mitbestimmung in Mazedonien ist jedoch in diesem Bereich eine weitere Intensivierung noch erforderlich. Die nationale Ebene (Ministerium und nach gelagerte Behörden) haben diesen Prozess in allen Phasen konstruktiv-kritisch begleitet und ermöglicht, dass die praktischen Erfahrungen in die Erarbeitung der gesetzlichen Grundlagen aufgenommen wurden.
Für tiefer gehende Informationen zu den durchgeführten Maßnahmen wird auf die umfangreiche Prozessdokumentation des REDEM-Projektes verwiesen. Fazit: Nach nunmehr drei Umsetzungsjahren lässt sich folgendes Ergebnis festhalten: •
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Bei allen lokalen Akteuren ist die Vision einer gemeinsamen Regionalentwicklung und der damit verbundenen Überwindung lokaler Grenzen für gemeinsame regionale Aktivitäten weitgehend verankert. Lokale und regionale Akteure sind in der Lage, aus einer regionalen Perspektive zu planen und Lösungen mit regionaler Reichweite zu finden, die der Entwicklung der gesamten Region zugute kommen. Die horizontale politische Koordination der Bürgermeister hat eine intensive Einbindung anderer regionaler Akteure der Zivilgesellschaft (erst) ermöglicht. (Regionales Entwicklungskonzept). Die Qualifizierung und operative Vernetzung der Regionalmanager war Voraussetzung für eine nachhaltige Umsetzung von regionalen Projekten, z.B. „Regionaler Entwicklungsfonds“, „Regionales Straßenentwicklungskonzept“, „Regionale Tourismusförderung“, „Internetgestütztes landwirtschaftliches Informationssystem“, „Machbarkeitsstudie zur Nutzung geothermischer Potentiale“ u.a.
Das Kooperationsvorhaben von GTZ und InWEnt •
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•
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Durch das geschaffene Know-how in der Region, insbesondere im Bereich der Projektformulierung und Umsetzung, wurden neue Finanzierungsquellen, vor allem in der grenzüberschreitenden Kooperation erschlossen. Durch das vorausschauende, aber durchaus auch mit Risiken verbundene experimentelle Vorgehen wurden Strukturen und Vorgehensweisen etabliert, die der Umsetzung der aktuellen gesetzlichen Vorgaben (z.B. Regionale Entwicklungsräte, Regionale Entwicklungsagentur und Regionales Entwicklungsprogramm) förderlich sind und hierfür eine nachhaltige Grundlage bilden. Auch die vertikale Koordination der regionalen mit den nationalen Institutionen hat sich verbessert, denn nur durch starke und selbstbewusste regionale Strukturen ist eine dauerhafte Umsetzung des politischen Gegenstromprinzips („bottom-up“ und „top-down“) möglich.
Trotz der sehr positiven Bilanz stehen auch diese beiden Pilotregionen vor der Herausforderung, ihre Erfahrungen schnell in den neuen Rahmen der nunmehr existierenden gesetzlichen Vorgaben zu überführen. Damit (bei allem Wettbewerb der Regionen) diese Erfahrungen auch den anderen Regionen der Republik Mazedonien zugutekommen, haben GTZ und InWEnt ihre Zusammenarbeit im Rahmen eines Programmansatzes auch auf weitere Planungsregionen des Landes ausgedehnt, die nunmehr die Hälfte des nationalen Territoriums abdecken. Die Entwicklung ländlicher Wirtschaftsräume in Mazedonien steht erst am Anfang, aber die Grundlagen sind nun gegeben.
Weiterbildung rumänischer Landwirte zur Nutzung der neuen Förderprogramme für eine umweltfreundliche Landbewirtschaftung Bruno Schuler, Ekkehard Schröder
Zusammenfassung Im Jahr 2007 wurden im Auftrag des rumänischen Ministeriums für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung in Bukarest (MADR) und im Rahmen des SAPARD Programms der Europäischen Union (EU) über 700 rumänische Landwirte durch das Konsortium InWEnt gGmbH und ADT Projekt GmbH weitergebildet. In der Laufzeit von 9 Monaten wurden 25 einwöchige Seminare in 15 verschiedenen Bezirken in Rumänien durchgeführt. Inhaltliche Schwerpunkte der Seminare waren Technologien und EU-Standards der ökologischen Tier- und Pflanzenproduktion, des extensiven Grünlandmanagements, der Erhaltung der Biodiversität im ländlichen Raum sowie des Gewässerschutzes und Verfahren zur Vermeidung von Bodenerosion. Die Weiterbildungsmaßnahmen hatten direkten Bezug zum Einsatz der neuen Förderprogramme für die Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raums der EU in der Förderperiode 2007–2013. Diese können von dem neuen Mitgliedsland Rumänien (seit 1.1.2007) jetzt auch zur Kofinanzierung der Nationalen Programme genutzt werden. Bei dem neuen Förderprogramm (zweite Säule der EU Agrarpolitik) kommen Landbewirtschaftungsformen zur Erhaltung der Umwelt und der Landschaft besondere Bedeutung zu. Kriterien für die Förderung und geforderte EU-Standards, um in den Genuss der Förderung zu kommen, waren für rumänische Landwirte in der Regel vor Beginn des Projektes nicht bekannt.
1
Die Ausgangssituation für das Training: die Umweltorientierung der EU
Mit der Förderung umweltfreundlicher Maßnahmen will die EU zur Erzeugung gesunder Nahrungsmittel und dem Erhalt der traditionellen Agrarlandschaft für die nächsten Generationen beitragen. Es werden insbesondere extensive, traditionelle Bewirtschaftungsformen gefördert, die den Erhalt der Agrarlandschaft und
Weiterbildung rumänischer Landwirte
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ihrer Biodiversität (Vielfalt) gewährleisten. Dies soll den Landwirten und den ländlichen Gemeinden zugute kommen. Des Weiteren sollen so neue Chancen für den Agro-Tourismus eröffnet werden. Drei unterschiedliche Seminarangebote wurden zu den folgenden Themen erarbeitet: • Methoden und Standards der ökologischen Tier- und Pflanzenproduktion • Biodiversität und extensives Grünlandmanagement • Gewässerschutz und Vermeidung von Bodenerosion Die Förderung der ökologischen Wirtschaftsweise einschließlich der extensiven Grünlandbewirtschaftung basiert auf folgenden Erwartungen: • Traditionelle Produktionsmethoden können dadurch in Wert gesetzt werden, dass Kleinbauern biologische Produkte erzeugen und zertifizieren lassen. • Biologisch erzeugte Produkte erlauben den Zugang zu nationalen und internationalen Märkten mit höherer Wertschöpfung bzw. höheren Verkaufserlösen. • Die traditionelle Bewirtschaftung trägt zur Erhaltung des ländlichen Lebensraumes und speziell der Biodiversität in der Agrarlandschaft bei und hat damit ihre Berechtigung auch ohne die Produktion von anerkannten Bioprodukten. • Außerdem können dadurch mögliche Probleme von vorneherein vermieden werden: Bodenerosion, Anbau gebietsfremder Pflanzen (Grünland), Kontamination des Bodens mit Chemikalien, Pflanzenschutzmittel-Rückstände auf Ernteprodukten.
2
Die Situation in Rumänien
Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU ist nach dem Beitritt ein wichtiger Bestandteil der Agrarpolitik Rumäniens. Im Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung besteht eine kleine Abteilung für Ökolandbau, aber auch andere Abteilungen sind mit dessen Förderung befasst. So wurde das hier beschriebene Trainingsprojekt im Rahmen des SAPARD Programms unter der Aufsicht des „Generaldirektorat für Ländliche Entwicklung“ des rumänischen Landwirtschaftsministeriums durchgeführt. Der erste und heute größte Bioanbauverband Bioterra (Verband der rumänischen Biolandwirte, Gründung 1997) hat sich stark für die Entwicklung des Biolandbaus eingesetzt. Weitere Verbände wurden gegründet und seit 2002 besteht ein Dachverband, die Nationale Föderation für Ökologischen Landbau (FNAE).
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Bruno Schuler, Ekkehard Schröder
Alle zertifizierten Bioprodukte müssen mit dem vom Landwirtschaftsministerium eingeführten Biosiegel (ae) gekennzeichnet sein. Simon (2007) gibt auf der Basis zahlreicher Befragungen einen detaillierten Einblick in die aktuelle Stellung der ökologischen Landwirtschaft in staatlichen Einrichtungen, in Ausbildung und Studium sowie in der landwirtschaftlichen Praxis. Die Ökolandbaufläche (einschließlich der Wildsammlungsflächen für Beeren und Kräuter) wuchs innerhalb von 6 Jahren (2002–2007) um mehr als das Achtfache. Unabhängig vom Anbausystem (konventionell oder ökologisch) besteht in Rumänien noch ein breiter Spielraum für die Verbesserung der Wertschöpfungskette von der Aussaat bis zum Nachernte-Management. Berca (2008) sieht beispielsweise ein hohes Potential für eine Ertragssteigerung beim Getreidebau. Als eines der heutigen Probleme benennt er die Bodenverdichtung (Pflugsohle) in relativ geringer Tiefe und nennt als eine notwendige Bedingung für die Realisierung der Produktionssteigerung ein besseres Management von Boden und Wasser mit dem Ziel der Wasserkonservierung und der Wiederherstellung der Beziehung zwischen Pflanzen, Wasser und Luft im Boden („Ökologisierung“).
3
Die Zielgruppe der Weiterbildungsseminare
Die Regionen für die Kurse wurden in Abstimmung mit dem rumänischen Landwirtschaftsministerium nach besonderer Themenrelevanz ausgewählt. So wurden Seminare zum Thema ökologische Tier- und Pflanzenproduktion besonders dort angeboten, wo bereits Vermarktungseinrichtungen für ökologische Agrarerzeugnisse vorhanden waren. Das Thema Bodenerosion hat besondere Bedeutung für Landwirte in Bergregionen. Die Teilnehmer stellten in etwa einen Querschnitt der Landwirte in den jeweiligen Bezirken (Judets) dar und brachten daher unterschiedlichste Erfahrungen ein.
Weiterbildung rumänischer Landwirte
Abb. 1:
Die Eigentumsverhältnisse und der Status der 703 teilnehmenden Landwirte
Abb. 2:
Die von den Landwirten praktizierten Anbausysteme
283
Die Grafiken charakterisieren die 703 an den Weiterbildungsseminaren teilnehmenden Landwirte nach den Eigentumsverhältnissen, nach dem Anbausystem, nach der Betriebsgröße und dem Ausbildungsstand gemäß den Angaben in den Bewerbungsunterlagen. Auch Landwirte mit Kleinbetrieben bis zu 5 bzw. 20 ha waren für das Training zugelassen. Andererseits haben viele Teilnehmer Grünlandbetriebe mit großen Flächen für ihre Tierherden (z. B. Schafe). Die hier verwendeten Begriffe (wie z. B. Teilnehmer, Landwirt usw.) beziehen sich grundsätzlich auf Männer und Frauen. Seitens des Konsortiums wurde die Teilnahme von Frauen promoviert, was dazu führte, dass etwa ein Viertel der Teilnehmer Frauen waren. Die Hälfte aller Teilnehmenden war unter 40 Jahre alt, ca. 30 % waren zwischen 40 und 50 Jahre alt.
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Bruno Schuler, Ekkehard Schröder
Abb. 3:
Die Betriebsgröße
Abb. 4:
Der Ausbildungsstand der teilnehmenden Landwirte
Auch Personen im Alter von 60 Jahren und darüber waren an der Weiterbildung interessiert und zeigten sich als lernbereite Teilnehmer. Dies belegt das hohe Interesse und Engagement für eine zukunftsorientierte Landwirtschaft quer über alle Altersschichten. Die Landwirte erkannten ihren Bedarf an Informationen über die ökologische Landbewirtschaftung und die Konditionen für die Beantragung von Fördermitteln und zeigten die Bereitschaft, ihren Betrieb und die damit verbundenen Aktivitäten für eine Woche weitgehend ruhen zu lassen. Zahlreiche Bewerber konnten nicht mehr angenommen werden, da die Anzahl der Seminare und Plätze begrenzt war.
Weiterbildung rumänischer Landwirte
4
285
Das Weiterbildungskonzept
Die ersten zwei Monate der Projektlaufzeit wurden zunächst genutzt, um die neuen Förderprogramme für Rumänien zu erfassen und den diesbezüglichen spezifischen Informationsbedarf der Zielgruppe zu identifizieren. Gleichzeitig wurden methodisch-didaktische Standards für die Gestaltung der Unterlagen und die Durchführung der Seminare definiert. Darauf aufbauend wurden die Weiterbildungsmodule für die unterschiedlichen Seminarangebote gemeinsam von deutschen und rumänischen Trainern entwickelt. Schließlich wurden drei Trainerteams, bestehend aus jeweils etwa 5 rumänischen Trainern, für die partizipative (Teilnehmer-orientierte) Behandlung der einzelnen Themen mit Unterstützung deutscher Trainer qualifiziert. Für das Projektmanagement war auch die Organisation der Weiterbildungsmaßnahmen eine Herausforderung, da die Seminare an 15 verschiedenen Orten und nahe an geeigneten Standorten für praktische Demonstrationen im Feld usw. durchgeführt werden mussten. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Einblick in wichtige Entwicklungsschritte der Projektimplementierung. Tabelle 1:
1.
Schritte zur Entwicklung und Durchführung des Projekts
Zusammenarbeit und Logistik • Das Trainingskonzept und -programm wurde dem zuständigen Ministerium vorgelegt und genehmigt. • Die Standorte und lokalen Rahmenbedingungen für die Seminare wurden nach festen Kriterien ausgewählt und Verträge mit geeigneten Anbietern von Seminarräumen und Beherbergungseinrichtungen abgeschlossen. • Die Rahmenbedingungen für jedes Seminar wurden vom regionalen Beratungsdienst (OJCA) im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums überprüft. • Regionale Behörden und Nichtregierungsorganisationen (NRO) wurden von Anfang an bei der Teilnehmergewinnung und teilweise Seminargestaltung eingebunden. • Mit den zuständigen Vertretern des Landwirtschaftsministeriums fanden regelmäßige Koordinierungssitzungen und Absprachen statt.
286
Bruno Schuler, Ekkehard Schröder
2.
3.
4.
5.
Öffentlichkeitsarbeit • Besondere Aufmerksamkeit wurde der Öffentlichkeitsarbeit auf nationaler oder regionaler Ebene in verschiedenen Medien (Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen) gewidmet, um ausreichend qualifizierte Bewerbungen für die Seminare zu erhalten. • Die intensive Einbindung verschiedener regionaler NRO, regionaler Landwirtschaftsverwaltungen und weiterer Organisationen im ländlichen Raum hat positiv zu einer hohen Anzahl von Bewerbern beigetragen. Inhaltliche Vorbereitung • Die fachlichen Grundlagen wurden gemeinsam von deutschen und rumänischen Fachexperten erarbeitet, so dass internationales Know-how und landesspezifische Expertise optimal kombiniert werden konnten. Didaktische Vorbereitung • Allen Experten wurde schon während der Vorbereitung der Weiterbildungsmodule eine methodisch-didaktische Anleitung zur Verfügung gestellt, damit einheitliche Standards der Präsentation in den Seminaren erreicht werden konnten. Besondere Bedeutung hatte dabei der Mix aus theoretischen Einführungen und praktischen Übungen. In jedem Seminar wurde ein „Feldtag“ eingebaut. • Die Seminarmethodik wurde mit einem vorgeschalteten Seminar „Training of Trainers“ (ToT) bei allen Trainern vereinheitlicht. • Danach begleitete ein Spezialist die Trainer bei den ersten Seminaren mit Teilnehmern (Coaching on the job, Probedurchlauf). Inhalte • Die Trainingsinhalte wurden bei jedem Seminar überprüft, ggfs. aktualisiert, und regionale Aspekte wurden integriert. • Die Inhalte wurden einerseits nach den Projektvorgaben, andererseits nach dem ermittelten Bedarf angeboten. • Ökologische Landwirtschaft: 11 Seminare • Biodiversität und Grünlandmanagement: 12 Seminare • Bodenerosions- und Gewässerschutz: 2 Seminare
Weiterbildung rumänischer Landwirte
6.
7.
8.
9.
287
Teilnehmer • Die Teilnehmenden wurden in einem mehrstufigen Bewerbungs- und Selektionsprozess im Rahmen der Vorgaben des rumänischen Landwirtschaftsministeriums ausgewählt. Methodik • Alle Seminare wurden von rumänischen Trainern geleitet, moderiert und mit standardisierten Modulen durchgeführt. • Zwei Fachleute waren jeweils permanent als Trainer und Moderatoren im Einsatz und gewährleisteten somit die erforderliche Kontinuität; Spezialisten wurden zu Einzelbeiträgen integriert. • Fertige Präsentationen wurden zu wichtigen Themen (PowerPoint) gezeigt und durch die Verwendung von Arbeitsblättern usw. ergänzt. • Die Inhalte und ggfs. Diskussionsergebnisse wurden für alle sichtbar und nachvollziehbar aufgeschrieben (Visualisierung). • Es wurde die partizipative Seminarmethodik angewandt, d.h. Mitwirkung und Interaktion der Teilnehmer durch Besprechung von Einführungsreferaten, Arbeitsblätter, Fallbeispiele der Teilnehmer, Gruppenarbeit usw. • Die Teilnehmer mit ihren vielfältigen Erfahrungen wurden durch das didaktische Konzept aktiv einbezogen Regionalität • Der jeweilige regionale Bezug wurde durch die Herkunft der Teilnehmer aus ein oder zwei Bezirken und ihre Beteiligung als lokale Fachleute sichergestellt. • Des Weiteren wurde das regional relevante inhaltliche Modul ausgewählt. • Fachbesuche bei anderen Landwirten und lokalen Akteuren dienten der Vertiefung regionalspezifischer Erfahrungen. Unterlagen und Dokumentation • Die Teilnehmenden erhielten einen Ordner mit schriftlichen Unterlagen. • Nach Abschluss der Seminare wurde allen Teilnehmenden und wichtigen Akteuren eine aktualisierte Zusammenfassung über die Fördermaßnahmen und Kriterien in Form einer Broschüre ausgehändigt.
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Bruno Schuler, Ekkehard Schröder
10.
11.
5
Qualitätssicherung • Jedes Seminar wurde mit einem schriftlichen Abschlusstest beendet. Alle Teilnehmenden bestanden diesen Fachtest. Urkunde • Die Seminarteilnehmer konnten daher die vom Ministerium ausgestellte Urkunde erhalten und weisen damit eine besondere fachliche Kompetenz bei der Umsetzung umweltfreundlicher Maßnahmen nach. Die Urkunde ist ein wichtiges Dokument bei der Beantragung künftiger Fördermittel.
Der Bedarf an zusätzlichen Weiterbildungsmaßnahmen
Die Abbildung illustriert die Grundzüge eines möglichen Trainingssystems: von oben nach unten nimmt die Spezialisierung zu. Während zuerst Seminare mit allgemeinen Themen von Generalisten mit gutem Überblick für eine Vielzahl an Teilnehmern an vielen Orten angeboten werden, können darauf aufbauend zunehmend spezialisierte Seminare von erfahrenen Fachleuten für bestimmte Zielgruppen in ausgewählten Regionen durchgeführt werden. Die Seminare, über die hier berichtet wird, wurden als Kombination von Einführungs- und Schwerpunktseminaren konzipiert, da sie aufgrund der Rahmenbedingungen ein geschlossenes Trainingsprogramm darstellten, das keine Möglichkeit der vertieften Weiterbildung in Form spezialisierter Seminare für die gleichen Landwirte bot. Sie beinhalteten daher sowohl allgemeine Themen wie umweltfreundliche Landbewirtschaftung und Förderprogramme der EU als auch spezielle Fachthemen wie Grünlandmanagement, die für ausgewählte Regionen von besonderer Relevanz sind. Im Verlaufe der Seminare kristallisierte sich auch heraus, dass eine Weiterbildung nicht nur über Landbewirtschaftung, sondern generell über viele Aspekte der Leitung eines landwirtschaftlichen Betriebes erforderlich und erwünscht ist. Dieser Bedarf sollte durch weitere spezialisierte Seminare im Sinne der Pyramide des Trainingssystems abgedeckt werden. Die folgende Tabelle nennt die vorrangig zu behandelnden Themen.
Weiterbildung rumänischer Landwirte Tabelle 2:
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Themen der gewünschten zusätzlichen Weiterbildung
Bereiche künftiger Weiterbildung Gesamtbetriebliches Management
Fachwissen in der landwirtschaftlichen Produktion EU- und globale Normen und Standards für Produktion und Verarbeitung
Vermarktung und internationaler Handel
Gesetzliche und rechtliche Aspekte Verbandswesen und Zusammenschlüsse
Mögliche Themen Buchhaltung, Bilanzierung, Weiterentwicklung des Betriebskonzeptes, Management bestimmter Produktionsbereiche Ökologische Wirtschaftsweise: Tierhaltung, Pflanzenbau; extensive Grünland-Bewirtschaftung GLOBALGAP (Organisation mit weltweiten Qualitätsstandards), HACCP (Konzept des Risikomanagements im Rahmen der EU-HygieneVerordnung) Verkaufs- und Vertragsoptionen: Hofverkauf, Binnenmarkt, Export; Produktgestaltung und Entwicklung neuer marktfähiger Produkte Erwerb und Verkauf von Land, Registrierung von Flächen Vorschriften, Strategieentwicklung, Gründung von Produzenten- oder Vermarktungsgruppen, Fördermöglichkeiten
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Bruno Schuler, Ekkehard Schröder
Abb. 5:
6
Pyramide des Trainingssystems
Die bisher erreichten Ergebnisse
Die Hauptergebnisse können wie folgt beschrieben werden: Die Landwirte wurden motiviert sich weiterzubilden und eigenverantwortlich ihren Betrieb weiterzuentwickeln, sie wurden für umweltfreundliche Maßnahmen der Landbewirtschaftung sensibilisiert und in die Lage versetzt, die geeigneten Bewirtschaftungsmaßnahmen anzuwenden, um die von der rumänischen Regierung und der EU gesteckten Ziele zu erreichen. Anzeichen dafür sind: • • •
•
Landwirte beabsichtigen auf ökologische Wirtschaftsweise umzustellen. Produzenten begannen Gespräche über die Gründung von Erzeugerverbänden. Zahlreiche Landwirte stellten Aufnahmeanträge für den Verband Bioterra, der für die Entwicklung des ökologischen Sektors eine bedeutende Rolle spielt. Landwirte beziehen bisher vernachlässigte Flächen als Weideland in ihre Bewirtschaftung ein.
Weiterbildung rumänischer Landwirte •
•
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Landwirte zeigten Interesse an künftiger Weiterbildung und signalisierten ihre Bereitschaft, dafür auch eine Gebühr zu bezahlen. Dies ist deutliches Anzeichen dafür, dass eine Mentalitätsänderung eingesetzt hat. Eine Gruppe von Landwirten begann, ein gemeinsames Projekt zur Bodenkonservierung zu entwickeln.
Es kann über die Förderung der ökologischen Landbewirtschaftung hinaus erwartet werden, dass die Umsetzung der gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen die ländliche Bevölkerung durch bessere Verdienstmöglichkeiten und Zugang zu Fördermitteln stabilisiert und der Landflucht vorbeugt.
7
Beitrag des Projektes zur Regionalentwicklung
Die zweite Säule der europäischen Agrarpolitik soll die Landwirtschaft in ihrer Funktion für Land und Umwelt stärken und die Entwicklung der ländlichen Gebiete unterstützen. Gerade in einem Land wie Rumänien, das noch über Jahre von einer überwiegend kleinbetrieblichen Agrarstruktur mit relativ kleinen Anbauflächen geprägt sein wird, und außerdem ökologisch sensible Kulturlandschaften im großen Umfang aufweist (z.B. Bergregion), sind tragfähige regionale Konzepte zur Schaffung von Wertschöpfung im Agrar- und Ernährungssektor gefragt. Der auf effektive Marktchancen ausgerichtete ökologische Landbau bietet zahlreichen rumänischen Landwirten die Möglichkeit, an einer höheren Wertschöpfung bei der Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von hochwertigen Agrarerzeugnissen teilzunehmen und gleichzeitig einen besonderen Beitrag für die Gesellschaft zum Erhalt der Kulturlandschaft zu leisten. Im Rahmen der durchgeführten Weiterbildungsseminare wurde von den Trainern insbesondere auch auf die regionalen und überregionalen Marktchancen eingegangen und über tragfähige regionale Gesamtkonzepte einschließlich der notwendigen Organisationsstrukturen zur Nutzung der regionalen Potenziale mit den Teilnehmern diskutiert. Zur Illustration und Anregung wurden erfolgreiche Beispiele für regionale Verarbeitung und Vermarktung inklusive Werbungskonzepte („Unser Land ...“) in Deutschland behandelt. Derartige in der Region entstandene Initiativen binden sehr viele Akteure ein, erhöhen das Bewusstsein für die eigene Leistungsfähigkeit und erhöhen die Identifikation mit der heimischen Region, angefangen von den Erzeugern bis zu den Verbrauchern. Das Weiterbildungsprojekt hat Methoden und Konzepte einer nachhaltigen Landbewirtschaftung als ein wichtiger Baustein für die ländliche Regionalentwicklung vermittelt und über die spezifischen staatlichen Förderprogramme für
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die Landbewirtschaftung unter besonderen Agrar-Umweltauflagen in 15 Bezirken informiert.
8
Die Finanzierung des Projektes
Projekt EuropeAid/122572/D/SER/RO – Vocational Training aimed at Developing Competences in the Field of Agricultural Methods to Protect the Environment and Maintain the Rural Landscape. Das Projekt wurde finanziert durch das rumänische Ministerium für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung mit Kofinanzierung durch das SAPARD Programm der EU, Maßnahme 4.1 „Improvement of Vocational Training“.
Literatur Anonym, Nov. 2007: Projektbroschüre des Konsortiums InWEnt & ADT Projekt über Payments on the Agri-environment Measure 2007–2013, Guidelines for Romanian Farmers, 10 Seiten in Rumänisch (und englischsprachige Übersetzung); weitere Projektberichte und Unterlagen des Projektteams von InWEnt & ADT Projekt. Berca, Mihai, 2008: Rumänien und die Mechanisierung der Landwirtschaft, DLG Wintertagung 2008, 8.1.08, Münster (Folienpräsentation) Simon, Stefan, Okt. 2007: Perspektiven der ökologischen Land- und Lebensmittelwirtschaft in Rumänien, Diplomarbeit, 139 S., Universität Kassel Fachbereich 11.
Vernetzung der Akteure im ländlichen Raum – neue Strategien der Deutschen Vernetzungsstelle (DVS) Anke Wehmeyer
In den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beträgt der prozentuale Flächenanteil des ländlichen Raums etwa 90 Prozent. Auf diesen Flächen lebt über die Hälfte der europäischen Bevölkerung. Im Gegensatz dazu stehen unter anderem die immer weiter sinkenden Zahlen Erwerbstätiger in diesen Regionen und die abnehmenden Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen. Viele junge Leute zieht es in die Metropolen, in denen mehr Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen, kulturelle und andere Serviceangebote vorhanden sind. Um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, muss der ländliche Raum gestärkt werden. Dazu braucht er finanzielle und auch strukturelle Mittel, die die Bevölkerung vor Ort unterstützen – als Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass jede Region ihre eigenen Stärken und Schwächen hat und natürlich ihre eigene kulturelle Identität, die über Generationen gewachsen ist. Diese Stärken und Traditionen zu bewahren und mit dem Zeitgeist zu vereinen ist nicht unbedingt ein Widerspruch, aber eine große Herausforderung. Unterstützung durch die Europäische Union Ein Großteil der von der EU unterstützten Maßnahmen für die ländliche Entwicklung wird in dieser Förderperiode durch den ELER (Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums) bereit gestellt. Das Förderspektrum des ELER ist breit angelegt; die Grundlage bilden die drei zentralen Schwerpunkte: 1. 2. 3.
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit von Land- und Forstwirtschaft, Verbesserung der Umwelt und der Landschaft, Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft und Verbesserung der Lebensqualität im ländlichen Raum
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Anke Wehmeyer
Den vierten Schwerpunkt stellt die ehemalige Gemeinschaftsinitiative LEADER dar, die übergreifend auf alle drei Ziele wirkt und weiterhin über die Lokalen oder Regionalen Aktionsgruppen umgesetzt wird. Für die Budgetierung der einzelnen Schwerpunkte gibt die Europäische Union ein Minimum vor. Die letztendliche Festlegung der prozentuellen Anteile erfolgt – daran angelehnt – dann von den einzelnen Mitgliedsstaaten selbst. In Deutschland liegt das in der Hand der einzelnen Bundesländer und wurde in den Programmen zur Entwicklung der ländlichen Räume festgelegt, die von der EUKommission genehmigt wurden. Somit konnte jedes Bundesland selbst seine Schwerpunkte entsprechend seiner Stärken und Schwächen setzen. 11,6 % 29,0 % 3,3 %
30,9 %
6,2 %
16,9 %
27,5 % 62,4 %
15,9 %
27,9 % Schleswig-Holstein 0LR½
41,7 % 23,8 % Mecklenburg-Vorpommern 0LR½
Hamburg 0LR½
4,6 % 19,4 %
4,8 %
55,1 % 19,3 % Niedersachsen und Bremen 0LR½ 3,6 % 14,6 %
35,2 %
26,5 % 4,2 % 33,7 % 35,4 %
27,1 %
23,4 % Sachsen-Anhalt 0LR½
54,1 % Nordrhein-Westfalen 0LR½ 11,6 %
30,9 % Brandenburg und Berlin 0LR½
4,7 %
4,1 % 20,3 %
28,4 %
27,1 %
5,8 %
28,6 %
15,9 %
31,8 %
39,2 % 38,7 %
38,6 %
22,1 %
39,7 %
38,1 %
Hessen 0LR½
Sachsen 0LR½
Thüringen 0LR½
Rheinland-Pfalz 0LR½ Saarland 0LR½ 14,6 %
16,8 %
15,7 % 9,8 %
21,3 %
3,2 % 27,4 %
59,1 % Bayern 0LR½
58,9 % 36,1 %
30,8 %
3,6 %
Baden-Württemberg 0LR½ Legende Schwerpunkt 1 Wettbewerbsfähigkeit von Land- und Forstwirtschaft Schwerpunkt 2 Umweltschutz und LandschaftsSÁHge durch nachhaltiges Landmanagement Schwerpunkt 3 Wirtschaftliche DiversiÀzierung und Verbesserung der Lebensqualität Schwerpunkt 4
Abb. 1:
Verteilung der ELER-Mittel in den Bundesländern
Netzwerk Ländliche Räume (DVS)
295
Erfolg durch Vernetzung der Akteure Im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist die Vernetzung aller Akteure aus diesen vier Schwerpunkten des ELER seit Januar 2008 die Aufgabe der Deutschen Vernetzungsstelle Ländliche Räume (DVS). Sie versteht sich als deren Serviceeinrichtung. Das Themen- und Akteursspektrum hat sich für die aus der DVS LEADER+ hervorgegangenen DVS Ländliche Räume erheblich vergrößert. Allein die Anzahl der Lokalen Aktionsgruppen ist von 148 in LEADER+ auf ungefähr 230 in der aktuellen Förderphase angestiegen. Entsprechend den Maßnahmen des ELER werden neue Akteure aus Landund Forstwirtschaft, aus den Bereichen Umweltschutz und Landschaftspflege sowie Vertreter aus Kommunen, Verwaltungen und Verbänden sowie Unternehmer und Privatpersonen in die Vernetzung einbezogen. Diese Akteursvielfalt spiegelt die Realität im ländlichen Raum gut wieder. Darüber hinaus werden aber auch relevante Inhalte aus anderen Bereichen ins Netzwerk für Ländliche Räume eingebracht, denn es zeigt sich immer wieder, dass erfolgreiche Regionen auf verschiedene Fördermöglichkeiten zurückgreifen und somit das Wissen darum ein wichtiges Handwerkszeug für die Regionalentwicklung darstellt. Die Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ist eine der Kernaufgaben der Vernetzungsstelle. Darüber hinaus geht es um den Know-how-Transfer und den fachlichen Erfahrungsaustausch zu Themen der ländlichen Entwicklung. Dazu gehören auch zahlreiche Veranstaltungen zu unterschiedlichsten Themen, die die Akteure vor Ort unterstützen und der Vernetzung dienen. Als Teil des europäischen Netzwerks für ländliche Entwicklung ist sie „Scharnier“ zwischen europäischer und regionaler Ebene. Impulse und Innovationen aus Europa können so dem Netzwerk zu Gute kommen. In Europa finden sich immer wieder Regionen, die die gleichen Themen behandeln und auch ähnliche Stärken und Schwächen haben. Dies kann sich beispielsweise auf den Naturraum beziehen, auf ein gemeinsames historisches oder kulturelles Erbe oder auch Aktivitäten im touristischen Bereich. Die Kommission hat längst erkannt, dass die Unterstützung von Projekten über die eigenen Grenzen hinaus notwendig ist und unterstützt sie in dieser Förderperiode im vierten Schwerpunkt des ELER noch stärker als zuvor um der europäischen Bevölkerung ein zusammen wachsen zu ermöglichen und die Regionen damit noch mehr zu stärken. Die Vernetzungsstelle unterstützt auch hier die Akteure vor Ort in allen Projektschritten.
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Anke Wehmeyer
Publikationen Viermal jährlich erscheint die Zeitschrift „LandInForm“ mit aktuellen Angeboten und Neuigkeiten der Netzwerkaktivität, Beispielen aus der Praxis und Perspektiven, die sowohl Forschung & Bildung, Politik und Gesellschaft als auch Partner und andere Förderinstrumente, die den ländlichen Raum betreffen, behandelt. Darüber hinaus steht immer ein aktuelles Thema im Fokus. Die Zeitschrift kann kostenlos bezogen werden. Zusätzlich informiert alle sechs bis acht Wochen der Newsletter „landaktuell“ über aktuelle politische Themen, sowie Ausschreibungen und Wettbewerbe, andere Publikationen, Forschungsprojekte, einen Marktplatz, aktuelle Termine und Projekte vor Ort. Andere Publikationen sind beispielsweise ein Handbuch zur gebietsübergreifenden und transnationalen Kooperation oder Dokumentationen über die Veranstaltungen der DVS. Sämtliche Materialien und Informationen der und über die Vernetzungsstelle stehen auf der Webseite www.netzwerk-laendlicher-raum.de allen Akteuren zur Verfügung. Hier finden sich auch die aktuellsten Entwicklungen, Themen oder auch Grundlagen des ELER.
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Kapitel IV Projekte aus der Praxis
Das Alte auf eine neue Weise tun – das ist Innovation. Joseph Alois Schumpeter
Multifunktionelle Landwirtschaft als Motor der Regionalentwicklung Albrecht Broßmann
1
Betriebsübersicht
Die Pahren Agrar-Kooperation ist eine Unternehmensgruppe, die sich seit 1990 aus der damaligen LPG entwickelte und heute 12 Unternehmen verschiedener Branchen umfasst (Abb. 1).
Pahren Agrar Kooperation Hainweg 11, 07937 Zeulenroda-Triebes, OT Pahren
Velaro G mbH Ölmühle (Raps), Getreidetrocknung, 2 Fotovoltaikanlagen 1 AK 2,36 Mio. € Umsatz
Pahren Agrar Verwaltungs u. Vermarktu ngs GmbH & Co. Produktion KG 1.377 ha LN, Marktfrüchte 306 Milchkühe, Biogas, Fotov oltaik 10 AK 2,16 Mio. € Umsatz
PAMIL GmbH & Co. KG 123 ha LN, dav. 14 ha AL 195 Milchkühe, Fotovoltaik 4,5 AK 570 T€ Umsatz Zeulenro daer Tief bau Holding GmbH Verwalten v. Vermögensgegens tänden u. Beteiligungen Vermietung, Dienstleistung 150 T€ Umsatz
Abb. 1:
Lawo Agrar GmbH 612 ha LN, dav. 606 ha Marktfrüchte + NAWARO 387 T€ Umsatz MuMi GbR 1 45 Mil chküh e 2 ,5 AK 3 32 T€ Umsatz
Pahren Agrar Vermarkt ung s GmbH & Co. Mutterkuh un d Mast KG 217 ha Grünland 208 Mutterkühe + Nachzucht Fotovoltaik 2 AK 148 T€ Umsatz Rind er & Pferdehof Köber 93 ha LN, 124 Milchkühe, Pensionspferde, BHKW , Fotovoltaik 3 AK, 476 T€ Umsatz Matrak Service u . Lohnarbeits GmbH Landmaschinenhandel Reparatur, Lohnarbeit 13 AK, 3 Mio. € Umsatz
FUDI Futtermit tel-u. Dienstleistungs GmbH & Co. KG Futtermittelprod., landw. Dienstleistungen, 6 ha LN 16 AK 1,4 Mio. € Umsatz
Pafahg Mischfutter G mbH Mischfutter und Landhandel Fotovoltaik 7 AK, 2,0 Mio. € Ums atz Pahren Agrar Verw.- und Verm. Gmb H Komplementärin
Unternehmen der Pahren Agrar-Kooperation
Kern des Unternehmensverbundes ist die Landwirtschaft mit 6 Landwirtschaftsbetrieben, die insgesamt knapp 2.500 ha LF bewirtschaftet. Wir halten insgesamt 770 Milchkühe sowie 208 Mutterkühe plus Nachzucht. Dazu kommen • eine Ölmühle, • ein Mischfutterbetrieb, • ein Landmaschinenhandelsbetrieb, • ein Tiefbauunternehmen.
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Diese Kombination von Unternehmen ermöglicht es uns, in der Landwirtschaft effizient zu produzieren, weil wir bestimmte Dienstleistungen von Spezialbetrieben in Anspruch nehmen können, die mit uns eng verbunden sind. Außerdem ist die Liquidität im Unternehmensverbund mit vielseitiger Erzeugnis- und Dienstleistungsstruktur im Durchschnitt mehrerer Jahre ausgeglichener als in einem reinen Landwirtschaftsbetrieb. Der landwirtschaftliche Standort ist von nur mittlerer Qualität, wofür folgende Fakten charakteristisch sind: • • • • •
durchschnittliche Höhenlage durchschnittlicher Niederschlag Jahresdurchschnittstemperatur Ackerzahl Grünlandzahl
380–420 m über NN 635 l pro qm 7,1 Grad Celsius 35–40 30–38
Zur Standortbeschaffenheit ist außerdem festzustellen, dass etwa 90 % der Flächen im Trinkwasserschutzgebiet der Weidatalsperren liegen. Deshalb gelten für uns umfangreiche Bewirtschaftseinschränkungen. Wie wir mit diesen umgehen und wie wir daraus für uns positive Entwicklungsimpulse abgeleitet haben, wird später noch kurz beschrieben. Die Philosophie unseres Unternehmensverbundes ist gegründet auf der ständigen Nutzung von Innovationen in der ansonsten traditionellen Branche der Landwirtschaft. Hierdurch können wir Kosten einsparen, Akzeptanz für unsere Produkte verbessern und über die Jahre ein bemerkenswertes Wachstum des Unternehmens hervorbringen. Innovationen sind u.a. die pfluglose Bewirtschaftung unserer Ackerflächen (seit 1994), der Einsatz von 14 Melkrobotern (Abb. 2) für den gesamten Milchkuhbestand (seit 1999), die Energieproduktion (Biodiesel, Biogas, Fotovoltaik seit 2002), ein integriertes Managementsystem (seit 2001 ISO 9001, EMAS, QS . Als Betriebskooperation, deren Kern aus Landwirtschaftsbetrieben besteht und deren Eigentümer und Mitarbeiter in der Region wohnen, fühlen wir uns dem ländlichen Raum unserer Heimat eng verbunden. Viele unserer Maßnahmen sind deshalb darauf gerichtet, die regionale Wertschöpfung zu verbessern und mittels nachhaltiger Produktionsverfahren den Boden und die weiteren Ressourcen so zu erhalten, dass wir diese mit gutem Gewissen unseren Kindern übergeben können.
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Produktion von Nahrungsmitteln
Der traditionelle Schwerpunkt unserer landwirtschaftlichen Produktion ist die Erzeugung von hochwertigen Rohstoffen für die Weiterverarbeitung zu gesunden Lebensmitteln. Bei Marktgetreide produzieren wir Braugerste, Brotweizen und Öllein. Die Getreideerträge für Wintergetreide liegen bei 68 dt/ha und für Sommergerste bei 50 dt/ha. Dadurch, dass wir über eine eigene Reinigung, Trocknung und Lagerung verfügen, ist die Wirtschaftlichkeit bei diesen Erträgen bei unserem Standort gut gewährleistet. Die Ackerfutterproduktion konzentriert sich auf Getreide und Mais. Das Futtergetreide wird schwerpunktmäßig im Futtermittelbetrieb unserer Kooperation verarbeitet und steht unseren eigenen Landwirtschaftsbetrieben im Rahmen der Kreislaufwirtschaft wieder zur Verfügung. Darüber hinaus verkauft unser Futtermittelbetrieb Mischfutter auch an weitere Landwirtschaftsbetriebe. Der Silomais wird direkt neben den Milchviehställen siliert und gelagert. Damit haben wir im Winter kurze Wege, das Futter in den Stall zu bringen. Es ist uns ein grundsätzliches Anliegen, die Ackernutzung nachhaltig durchzuführen. Hierzu einige Stichworte: Seit 1994 bewirtschaften wir unsere Böden pfluglos und wenden ein relativ aufwendiges Dokumentations- und Managementsystem an, um ständig die Umweltauswirkungen zu kennen und unser Wissen einzusetzen, sie zu minimieren. Hierfür nutzen wir sowohl technische Verfahren, die für uns auch eine Kostenbelastung darstellen: GPS-Einsatz bei allen Feldkulturen, Reifenregelanlagen an Traktoren und Transportfahrzeugen (Abb. 3), aber auch unsere Ackerschlagkartei und das Umweltmanagementsystem EMAS. Dieser Betriebsphilosophie entsprechend erfolgt die Ausbringung von Gülle und Gärresten aus der Biogasanlage mit Schleppschläuchen, um sowohl die Geruchsbelästigung für die Einwohner als auch die Ammoniakemission in die Luft bestmöglichst zu begrenzen. Die Milchproduktion führen wir an drei Standorten im Umkreis von etwa 10 km durch. Für die etwa 800 Milchkühe haben wir eine Quote von 7,5 Mio. kg. Unsere Molkerei liegt in der Nähe aller 3 Produktionsstandorte. Uns verbindet mit diesem Unternehmen ein intensiver Informationsaustausch über die Anforderungen an unsere Milch. Daraus ergeben sich die inhaltlichen Impulse, die uns befähigen mit unserem Managementsystem ständig an der Sicherung der Milchqualität zu arbeiten und dabei unsere Kühe gesund erhalten. Auf einem Leistungsniveau von gegenwärtig knapp 10.000 l pro Kuh und Jahr haben wir in den vergangenen drei Jahren eine jährliche Steigerung von etwa 300 l je Kuh reali-
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siert. Ein technisches Hilfsmittel hierfür sind auch unsere Melkroboter der Firma Lely1 (Abb. 2).
Abb. 2:
Melkroboter der Fa. Lely
Für die Mutterkuhhaltung haben wir 217 ha Grünland. Dieses bietet beste Voraussetzungen für eine gesunde Nachzucht unter besten Umweltbedingungen. Die naturnahe Tierhaltung führen wir auch bei der Sommermast von Schweinen durch (z.Zt. 400 Stück pro Jahr). In letzter Zeit haben wir uns auch der Produktion von Obst und Gemüse zugewandt. Mit diesen Kulturen wird der Gesamtumsatz aus landwirtschaftlicher Erzeugung positiv gestaltet, was sehr wichtig ist, jedoch ist der Anteil bisher relativ marginal. Wir erreichen aber als Großbetrieb damit einen direkten Bezug zur Bevölkerung. (Abb. 3). Die 2,5 ha Erdbeeren sind in unmittelbarer Nähe des Baumarkts in der benachbarten Stadt Zeulenroda und werden dort von einem Kooperationspartner gepflegt und zur Selbstpflücke für alle Interessenten und Baumarkbesucher angeboten. Mit dem Erwerb von zwei Gewächshäusern beginnen wir, unter Glaskulturen Tomaten und Gurken zu erzeugen. Auf den Freiflächen neben den Gewächshäusern wachsen Heidelbeeren
________________ 1 Siehe hierzu auch den nachfolgenden Beitrag von Jochen Döhring auf S. 308 ff .
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Abb. 3:
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Neuer Erwerbszweig im landwirtschaftlichen Großbetrieb: Erdbeeren zur Selbstpflücke
Produktion von Rohstoffen und erneuerbaren Energieträgern
Relativ früh haben wir bereits vor einigen Jahren mit der Erzeugung landwirtschaftlicher Kulturen für die stoffliche und energetische Verwertung begonnen. Ein Schwerpunkt ist die Wertschöpfungskette Raps/Biodiesel. Wir erzeugen auf unseren Feldern 2.000 t Rapssaat. Dieser und noch zugekaufter Raps wird in der Ölmühle unserer Kooperation zu 1.500 t Rapsöl verarbeitet. Das Rapsöl setzen wir zum Teil direkt in unseren Landmaschinen als Kraftstoff (100 t) und im BHKW (37 t) ein; einen weiteren Teil des Rapsöls geben wir zur Veresterung und kaufen von dort den Biodiesel zurück, der dann in unserer eigenen, öffentlichen Biodieseltankstelle durch eigene Fahrzeuge getankt, aber auch an Stammkunden und Laufkundschaft verkauft wird. Der Rapskuchen (2.900 t) wird in der eigenen Milchviehhaltung und dem Mischfutterbetrieben der Kooperation eingesetzt sowie verkauft. Damit ist die Wertschöpfungskette Raps lang genug, um hoch rentabel zu sein. Außerdem sparen wir Kraftstoffkosten für unsere landwirtschaftlichen Maschinen. An die Politik müssen wir jedoch die Forderung richten, langfristig stabile Rahmenbedingungen für unsere Investitionen zu gewährleisten. Die Einführung der Energiesteuer ist für die erste Generation der Biokraftstoffe zum Problem geworden und führt bei gleichbleibenden Rohölpreisen zum Aus für Biodiesel und Raps als Kraftstoff. Eine Harmonisierung in der EU ist notwendig.
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Schon seit 2000 bauen wir Hanf an, der zur Faser- und Schäbengewinnung weiterverarbeitet wird. Die Anbauflächen variieren in den Jahren zwischen 30 und 80 ha, weil der Verkauf des Hanfstrohs an die Weiterverarbeiter ein recht schwieriges Geschäft ist. Wir lassen uns von unserem Wege jedoch nicht abbringen, unsere Äcker im Sinne des Klimaschutzes auch für Erzeugnisse zur Wärmedämmung zu nutzen. Nachdem in der Vergangenheit zwei örtliche Verarbeiter des Hanfstrohs ihre Unternehmen schließen mussten, haben wir nun deren Maschinen erworben und die Weiterverarbeitung in die eigenen Hände genommen. Als Landwirt verstehen wir unsere Branche als Kreislaufwirtschaft. Deshalb verwenden wir unsere Gülle seit 2002 zur Erzeugung von Biogas. Der Erfolg ermutigte uns, im Jahr 2004 und 2006 jeweils Erweiterungen durchzuführen. Nun erzeugen wir jährlich 2,3 Mio KWel. Hierbei wird als Koferment auch Mais zur Gülle hinzugegeben. Die Abwärme aus dem BHKW wird über einen Absorberprozess in Kälte umgewandelt und für die Milchkühlung verwendet. Hierbei wirkte sich besonders positiv aus, dass wegen des Robotereinsatzes der Milchanfall im Tagesverlauf sehr kontinuierlich ist und die gleichmäßig anfallende Kälteenergie so besonders gut ausgenutzt werden kann. Nachdem wir uns bereits mit der Biogasproduktion und der Raps-Ölmühle erfolgreich zum „Energiewirt“ entwickelten, haben wir auch auf mehreren unserer Bergeräume, die über große Dächer verfügen, Fotovoltaikanlagen zur Stromgewinnung eingerichtet. In den Jahren 2004 bis 2006 haben wir an 7 Standorten in 6 Betrieben unserer Kooperation Fotovoltaikanlagen gebaut(Abb. 4).
Abb. 4:
Fotovoltaikanlagen auf mehreren Dächern am Standort Pahren
Diese Installationen haben wir in der Regel mit der Dacherneuerung verknüpft. So wurden die Kosten für die Gebäudeerhaltung und die Stromerzeugung kombiniert und konnten damit gesenkt werden. Bei den Fotovoltaikanlagen wurden die
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geplanten Leistungsziele erreicht und sogar um 10 % überboten. Hierfür sind die 950 bis 1.000 „Sonnenstunden“ pro Jahr sehr wichtig, aber natürlich auch die richtige Gestaltung der Dachneigung und die Auswahl der Gebäude, die eine optimale Südausrichtung haben. Je nach Finanzierungsart fließt das eingesetzte Kapital nach 10 bis 15 Jahren zurück. Fotovoltaikanlagen sind ein „Rentenversicherungsmodell“ für Landwirte. Wir erzeugen mit unserem Landwirtschaftsbetrieb deutlich mehr elektrische Energie als in unserem Dorf verbraucht wird. Damit sind wir ein „Thüringer Energiedorf“.
Abb. 5:
Kompetenzzentrum Pahren
Die Energieproduktion ist für uns wirtschaftlich. Sie wird eine wichtige Säule unseres Gesamteinkommens sein und wenn wir weiterhin entsprechende Unterstützung des Staates bekommen, werden wir dies ausbauen können und damit zum Klimaschutz und zum positiven Image der Landwirtschaft beitragen. Der Bedarf an neuem Wissen für die effiziente Produktion von Biomasse zur stofflichen und energetischen Verwertung ist sehr hoch, wenn man diese Produktionszweige wirtschaftlich gestalten will. Für uns selbst und für Interessenten aus der Region haben wir deshalb bereits im Jahr 2002 das „Kompetenzzentrum für nachwachsende Rohstoffe und Bioenergie“ aufgebaut (Abb. 5). Hierbei haben wir auch mit der Agro-Öko-Consult Berlin GmbH effizient zusammengearbeitet. Dieses Kompetenzzentrum führt Schulungen und Seminare
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für Betriebe und Auszubildende durch, veranstaltet Fachkonferenzen und gibt über seinen Ausstellungsraum mit Modellen und Ausstellungsstücken Einblick in viele praktische Zusammenhänge. In der Zukunft soll dieses Kompetenzzentrum weiterhin seine Rolle als Motor für den Ausbau der Energieregion einnehmen und insbesondere Landwirten helfen, Biomasse mit hohen Erträgen nachhaltig zu produzieren. So wird eine Konkurrenz von Energie und Lebensmitteln auf der Fläche ebenso ausgeschlossen, wie die Belastung der natürlichen Ressourcen durch unökologische Produktionsverfahren für die Biomasse.
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Entwicklung des ländlichen Raumes und Umweltschutzmaßnahmen
Immanenter Bestandteil unserer Betriebsphilosophie ist es, unsere Betriebsführung zuerst auf den Erhalt und die Entwicklung unserer Betriebe sowie auf das Einkommen für Eigentümer und Beschäftigte auszurichten. Aber nicht nachrangig ist die Ausrichtung unserer standortgerechten Produktion an den Anforderungen des Raums in dem wir leben und arbeiten. Eine besondere Rolle spielt der Schutz des Trinkwassers. Etwa 90 % unserer landwirtschaftlichen Flächen liegen im Trinkwasserschutzgebiet. Die Belastung des Grundwassers durch Nährstoffauswaschung der Böden sowie durch Eintrag von Pflanzenschutzmitteln ist von den Prozessen her gegeben. Vor langen Jahren war dies auch ein ernstes Konfliktpotential zwischen den Wasserwirtschaftlern und den Umweltschützern auf der einen sowie uns Landwirten auf der anderen Seite. Wir können sagen, dass es gelungen ist, vor mehr als 10 Jahren eine „Interessengemeinschaft“ aus Landwirten und Wasserwirtschaftlern aufzubauen und arbeitsfähig zu gestalten. Die vielen Treffen, bei denen über das Gefährdungspotential und die Möglichkeiten zu dessen Verringerung gesprochen wurde, haben beide Seiten befähigt, den Sachverhalt besser zu verstehen und auch die Argumente der „Gegenseite“ nicht nur zu hören, sondern auch fachlich zu begreifen. Wir haben gemeinsam kleine Modellvorhaben konzipiert und mit wissenschaftlicher Unterstützung der Thüringer Landesanstalt für Landwirtschaft (TLL) durchgeführt, um offene Fragen nicht gegeneinander auszutragen, sondern miteinander zu lösen. Nach den vielen Jahren unserer Arbeit im Trinkwasserschutzgebiet fühlen wir uns wie nach dem Aufenthalt in einem Fitnesscenter. Wir haben unseren eigenen Schweiß vergossen und uns selbst bemüht; aber wir haben dazugelernt und sind besser geworden, das Grundwasser zu schützen. Nachdem jetzt klar ist, dass der Schutzstatus in den nächsten Jahren aufgehoben wird, fühlen wir uns im Wettbewerb um die Anwendung nachhaltiger landwirtschaftlicher Produktionsverfahren sehr wettbewerbsfähig.
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Als Umweltschutzmaßnahmen sind von uns auch die pfluglose Bodenbearbeitung, der Zwischenfruchtanbau sowie der Hanfanbau als Tiefwurzler (2 m), die Erosionsvermeidung (Anpflanzung von Pappeln am Hang) und die Etablierung von Landschaftselementen umgesetzt worden. Schließlich bringt sich die Pahren Agrar Kooperation auch bei der Entwicklung der Infrastrukturentwicklung des Raumes, in dem wir produzieren, ein. Das betrifft die Mitwirkung beim ländlichen Wegebau, die Umwandlung von Altstandorten in leistungsfähige betriebliche Produktionsstandorte, die Bereitstellung von LF für die Ausweisung von Wanderwegen sowie unsere Vorreiterrolle bei der integrierten ländlichen Entwicklung (ILEK und RAG). Obwohl unsere Kooperation multifunktional ist und viele unserer wirtschaftlichen Bedürfnisse aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln erfüllt werden können, pflegen wir auch mit dem örtlichen Handwerk und den ansässigen Dienstleistungsbetrieben eine intensive Zusammenarbeit. Unsere Bauvorhaben werden ausschließlich mit regionalen Unternehmen durchgeführt, soweit die Gewerke in der Region vorhanden sind.
Die Zukunft des Melkens auf dem Lande Jochen Döhring
Nicht nur in der industriellen Produktion bewirkt die Automatisierung eine Effizienzsteigerung, sondern auch in der Landwirtschaft. Das vollautomatische Melkrobotersystem Astronaut des niederländischen Herstellers Lely erhöht nicht nur den Ertrag – es steigert die Zufriedenheit sowohl der Landwirte als auch der Kühe. Die Anlage wurde exakt auf die Bedürfnisse der Tiere abgestimmt. So kann die Kuh beispielsweise den Zeitpunkt des Melkens selbst bestimmen. Mit pfiffigen Lösungen, deren Spektrum von der Herstellung der Silage bis hin zum Melken der Kühe reicht, stellt die Firma Lely ihre Entwicklungskompetenz immer wieder unter Beweis. Dabei kann das inzwischen 60 Jahre alte Unternehmen 25 Jahre Erfahrung (15 Jahre international und 10 Jahre national = 25 Jahre) mit Melkrobotern in die Waagschale legen. Wie es der unternehmenseigene Slogan „vom Gras zum Glas“ treffend auf den Punkt bringt, erarbeitet Lely Systemlösungen für die Landwirtschaft, die alle Prozessschritte von der Produktion der Silage bis zum vollautomatischen Melken abdecken. Das Produktportfolio beinhaltet u. a. Mähwerke, Schwader, Kreiselzettwender, Welger-Ballenpressen und Robotermelksysteme – inklusive eigener Managementsoftware zur optimalen Versorgung jeder Kuh auf individueller Basis. Speziell auf dem Gebiet des Robotermelkens hat sich Lely als Marktführer etablieren können. Dem Ziel, das Leben der Landwirte zu erleichtern, haben sich bereits die Gründer des niederländischen Produzenten verschrieben. Die Lely-Erfolgsgeschichte nahm bereits 1948 in einem landwirtschaftlichen Betrieb ihren Anfang. Das Unternehmen wurde von Cornelis van der Lely und seinem Bruder Arie gegründet. Als CEO steht Alexander van der Lely, Sohn von Cornelis van der Lely, der Gesellschaft vor. Die Unternehmensgruppe befindet sich noch immer in Familienbesitz. Lely hat kontinuierlich Geräte entwickelt, die die Arbeit der Landwirte vereinfachen. Erstes Produkt war ein Sternradschwader dem u.a. eine Kreiselegge zur Auflockerung des Bodens und ein Düngerstreuer mit verbesserter Verteilgenauigkeit nachfolgten. Im Laufe der Zeit avancierte Lely zu einem international aufgestellten Produktions- und Vertriebsunternehmen mit hoher Entwicklungskompetenz. In den Niederlanden ist Lely bei den Patentanmeldungen unter den Top 5 zu finden.
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Weltweit beschäftigt die Lely-Gruppe über 1000 Mitarbeiter, von denen etwa 250 im Headquarter und der Fabrik in den Niederlanden aus operieren. Die Nähe zum Kunden stellt ein international bewährtes Franchisesystem sicher, an dem insgesamt mehr als 60 Lely-Center (mit steigender Tendenz) partizipieren. Neun Center sind über das Bundesgebiet verteilt. Der Aktionsradius der Lely Deutschland beschränkt sich überwiegend auf Deutschland und die deutschsprachigen Nachbarländer. Aber auch in Weißrussland z. B. hat Lely von Deutschland aus neue Partner ausgebildet. Insgesamt ist Lely in über 30 Ländern weltweit aktiv. Das Leistungsspektrum reicht von Melkrobotern über Fütterungssysteme bis hin zu Software und natürlich der intensiven Betreuung der Franchisepartner. Was den Einsatz von Melkrobotern betrifft, so hat die Überzeugungsarbeit inzwischen gefruchtet. Deutschland ist der größte Milcherzeuger in Europa. Melkroboter finden inzwischen Dank der vielen Vorteile bei der Modernisierung und Umrüstung zu knapp 50 % Berücksichtigung. In Skandinavien sind es bereits bis zu 80 %. Seit der Markteinführung des Melkroboters Lely Astronaut® im Jahr 1992 wurde das System kontinuierlich optimiert. In Deutschland verbucht Lely mit dem Melkroboter zurzeit einen Marktanteil von knapp 60 %. Der Astronaut® Melkroboter ermöglicht eine arbeitssparende und zugleich flexiblere Milchviehhaltung. Der Ertrag konnte in manchen Fällen um bis zu 20 Prozent erhöht werden. Dank der optimierten Arbeitsprozesse verbessert sich die Profitabilität des gesamten Betriebes. Es verbleibt den Landwirten mehr Zeit für die Familie und Tiere. Das vollautomatische Melkrobotersystem Astronaut® stellt eine Revolution in der Melktechnik dar, da die Bedürfnisse der Kuh als Richtschnur dienen. Jeder einzelnen Kuh steht es frei, darüber zu entscheiden, ob sie gemolken werden will oder lieber grasen oder ruhen möchte. Die Kuh besucht von sich aus den Melkroboter. Was zunächst nach Zauberei klingt, hat sich in der Praxis auf ganzer Linie bewährt. Die Vorteile sind vielfältig. Das allgemeine Wohlbefinden der Kühe wird gesteigert. Verglichen mit anderen Melksystemen benötigt der Astronaut® Melkroboter deutlich weniger Energie pro Kilogramm Milch. Das Melksystem nimmt weniger Platz als herkömmliche Anlagen in Anspruch. Zudem wird kein Warteraum benötigt, so dass eine Erweiterung des Stalles nicht vonnöten ist. Vielmehr gewinnen Landwirte sogar zusätzliche Boxenplätze. Ergänzend zu dem in den Ausführungen A2 (Klassik) und A3 (Premium) erhältlichen Robotermelksystem führt Lely noch verschiedene arbeitserleichternde Komponenten und Geräte im Sortiment. Die Managementsoftware T4C (Time for Cows = Zeit für Kühe) ermöglicht die Erfassung der individuellen Daten und die statistische Auswertung jeder Kuh. Das MQC-Sensorsystem zur Milchqualitätskontrolle ist mit einem Farberkennungssystem ausgerüstet, das automatisch
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und zuverlässig bluthaltige Milch, Kolostrum und abnormale Milch ermittelt und trennen kann. Die M4Use-Trennungseinheit ermöglicht die automatische Trennung der Milch, um beispielsweise die Kälber zu füttern. Hinzu kommt noch die Gravitor Wiegeeinheit, das zentrale Kontrollsystem CRS+ und ein Identifikationssystem. Vervollständigt wird das Portfolio durch umfangreiches Zubehör. Weiterhin offeriert das Unternehmen Luna® Kuhbürsten, Voyager® automatische Beweidungssysteme, Commodus Liegeboxen und Discovery® Spaltenroboter zum Reinigen des Stallbodens. Insgesamt haben wir rund 30 Produkte im Programm. Da die Systeme unserer Wettbewerber dem Handmelken nachempfunden sind, was beim Einsatz mit Robotern mit vielen Nachteilen verbunden ist, erbringen unsere Lösungen deutliche Effizienz- und Ertraggewinne. Die bessere Technik und längere Erfahrung spricht ganz klar für Lely. Aus Respekt vor Mensch und Tier. Fotoimpressionen zum Astronaut® Melkroboter
Abb. 1:
Übernimmt das vollautomatische Melken der Kühe und sorgt für einen größeren Ertrag: der Astronaut® Melkroboter in der Premiumausführung A3
Die Zukunft des Melkens auf dem Lande
311
Abb. 2:
Verschafft dem Landwirt mehr Zeit für Familie, das Vieh und sonstige anfallende Arbeiten auf dem Hof: der Astronaut® A2 Melkroboter in der Klassikvariante
Abb. 3:
Der Astronaut® Melkroboter wird angenommen: Die Kuh bestimmt eigenständig den Melkzeitpunkt
Abb. 4:
Durch das häufigere Ausmelken des Euters sinkt die Anfälligkeit für Infektionen
Die LEB-Dienstleistungsagentur als Impulsgeber einer nachhaltigen Regionalentwicklung in der Diepholzer Moorniederung Cord Petermann
1
Einleitung
1.1
Allgemeine Problemstellung und Ausgangslage
Aufgrund immer knapper werdender Fördermittel und unzureichender institutionellen Absicherungen von Projekten im Bereich von Naturschutz und Regionalentwicklung steht deren längerfristige Existenz vielfach in Frage (vgl. Petermann, Wulff 2002, Petermann 2003a). Gleichzeitig werden immer wieder große Erwartungen in die Vermarktung von Naturschutzprodukten gesetzt, deren Erlöse zumindest teilweise an die Stelle staatlicher Finanzierung treten sollen. Die finanzielle Unterstützung des Naturschutzes durch Vermarktungsinitiativen kann jedoch häufig nicht die in sie gesetzten hohen Erwartungen erfüllen. Dies liegt vielfach darin begründet, dass große Kosten bei der Erzeugung, geringe Größenordnungen der lieferbaren homogenen Mengen und eine begrenzten Nachfrage der geringen Marktleistungen von Naturschutzprodukten entgegenstehen. Dies wurde in vielen Modellprojekten zur Förderung der Vermarktung von Naturschutzprodukten belegt (vgl. Petermann 2002). Mit dem Projekt „Nachhaltiger Naturschutz in der Diepholzer Moorniederung“ sollten bestehende Defizite aufgegriffen und modellhafte Ansätze in der Beispielregion für eine Optimierung der Vermarktung von Produkten aus Naturschutz und Landschaftspflege entwickelt und erprobt werden. Die hier vorgestellte „Dienstleistungsagentur für Regionalvermarktung“ der Ländlichen Erwachsenenbildung in Niedersachsen e.V. (LEB) reihte sich dabei ein in einen Projektverbund mit dem Institut für Landschaftspflege und Naturschutz (ILN) an der Universität Hannover, dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Landesverband Niedersachsen e.V. und dem Naturraum Dümmerniederung e.V. (NRD). Dieser Verbund wurde seitens der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) im Rahmen des Projektes „Nachhaltiger Naturschutz in der Diepholzer Moorniederung“ zwischen 2004 und 2007 gefördert.
LEB-Dienstleistungsagentur als Impulsgeber
1.2
313
Situation in der „Diepholzer Moorniederung“
Die Diepholzer Moorniederung liegt im Bundesland Niedersachsen im Städtedreieck Bremen – Osnabrück – Hannover und umfasst ein Gebiet von rund 100 km2. Etwa 10 % der gesamten niedersächsischen Moorflächen liegen in der Diepholzer Moorniederung. Diese ist damit ein naturschutzfachlich hoch bedeutsames Gebiet. Doch gleichzeitig ist auch ihr Stellenwert für die Landwirtschaft sehr groß. Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass der landwirtschaftliche Flächenanteil mit 90 % noch über dem Landeswert von 84 % liegt (vgl. Lokale Aktionsgruppe Diepholzer Moorniederung 2001). Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe hat sich im Landkreis Diepholz in den letzten 20 Jahren annähernd halbiert; während sich die landwirtschaftlich genutzte Fläche seit 1991 nur unwesentlich verringert. Betriebe mit einer landwirtschaftlich genutzten Fläche von über 50 ha haben um mehr als 60 % zugenommen, während die Zahl der kleineren Betriebe in ähnlichen Größen-ordnungen abgenommen hat. Bei der Flächennutzung ist die Grünlandfläche seit Anfang der 1990er Jahre um fast ein Fünftel zurückgegangen, während die Ackerfläche gestiegen ist (vgl. Lokale Aktionsgruppe Diepholzer Moorniederung 2001). Den größten Anteil hat dabei immer noch der Getreideanbau, der aber ebenso rückläufig ist wie der Rapsanbau. Deutlich zugenommen haben die Anbauflächen für Hackfrüchte – v.a. Kartoffeln – und ganz besonders die Flächen für Sonder-kulturen, wie Erdbeeren und Gemüse. Diese Flächen haben sich zwischen 1991 und 2001 mehr als verachtfacht, obwohl die angebauten Produkte u.a. neue Vertriebsstrukturen erfordern und einem erheblichen Preisdruck ausgesetzt sind. Der ökologische Landbau ist in der Diepholzer Moorniederung insgesamt nur schwach ausgeprägt. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass ein Teil der landwirtschaftlichen Betriebe in der Diepholzer Moorniederung verstärkt auf die Direktvermarktung und das Angebot von Dienstleistungen im Bereich Urlaub und Freizeit auf dem Lande (Reiterurlaub, Hofcafés) setzt und sich damit in vorhandenen Nischen Einkommensalternativen erschließt. Diese Entwicklung geht konform mit den seit einigen Jahren unternommenen Bemühungen, die Moorniederung gezielt touristisch zu vermarkten (vgl. Petermann, 2006b).
2
Organisation und Arbeitsweise der LEB-Dienstleistungsagentur
2.1
Ziele der LEB-Dienstleistungsagentur für Regionalvermarktung
Die LEB-Dienstleistungsagentur wurde im Rahmen Projektes „Nachhaltiger Naturschutz in der Diepholzer Moorniederung“ gegründet, um den regionalen Ab-
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satz von Produkten und Dienstleistungen aus Naturschutz und Landschaftspflege zu verbessern und diese in eine breiter angelegte nachhaltige Regionalentwicklung einzubinden. Es werden dabei insbesondere folgende Ziele verfolgt: − der Absatz von Produkten der Diepholzer Moorschnucke und anderer Regional- und Landschaftspflegeprodukte soll innerhalb der Diepholzer Moorniederung und in ihrem Umfeld verbessert werden; − es sollen positive Meinungs- und Stimmungsbilder (Imageeffekte) für Naturschutz und Landschaftspflege sowie Regionalvermarktung hervorgerufen und die öffentliche Wahrnehmung diesbezüglicher Produkte erhöht werden; − es sollen inhaltliche Impulse für Entwicklungsprozesse gegeben und durch nachvollziehbare Projekte übertragbare Beispiele für andere Situationen gegeben werden (Wissenstransfer); − es sollen neue Kooperationen etabliert (beispielsweise Netzwerke für hochwertige Lebensmittel) und die Eignung von Akteuren (z.B. LEB) für die die Wahrnehmung von Aufgaben der Regionalentwicklung überprüft werden (Strukturbildung). 2.2
Institutionalisierung und Organisation der Agentur
Träger der Dienstleistungsagentur ist die Ländliche Erwachsenenbildung in Niedersachsen e.V. (LEB). Die LEB ist 1951 unter der Federführung des Niedersächsischen Landvolkverbandes entstanden und arbeit landesweit auf Bezirksbzw. Kreisebene (vgl. Ländliche Erwachsenenbildung in Niedersachsen e.V. 2005). Die Arbeit der LEB wird in Niedersachsen von rund 120 Beschäftigten getragen. Die Basis der Arbeit bilden 37 Kreisarbeitsgemeinschaften (KAG), in denen die örtlichen Landfrauenvereine Mitglied sind. Die Arbeit der LEB wird von weiteren Institutionen des ländlichen Raumes getragen – u.a. findet eine enge Zusammenarbeit mit Landwirtschaftskammer, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, örtlichen Kulturvereinen und Kirchengemeinden statt. Die LEB ist für eine Mitwirkung in Regionalentwicklungsprozessen gut aufgestellt, weil sie projektorientiert arbeitet und daher die Erfordernisse bei der Initiierung und Umsetzung von modellhaften Projekten seit Jahren erfolgreich löst und auch über Erfahrungen in Projekten mit universitären Partnern verfügt. Darüber hinaus ist sie bereits in verschiedene regionale Netzwerke im ländlichen Raum eingebunden (Wettbewerb „Regionen aktiv“, Initiative „Lernende Regionen“, Aktionsgruppen von „LEADERplus“). Die LEB-Dienstleistungsagentur für Regionalvermarktung wurde gegründet, um ländliche Entwicklung, Tourismus, Landwirtschaft und Landschaftspflege durch kooperative Projekte zu verknüpfen. In erster Linie wird eine Verbesserung der Vermarktung von Regionalprodukten angestrebt, die einen positiven
LEB-Dienstleistungsagentur als Impulsgeber
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Beitrag zum Erhalt der Kultur- und Naturlandschaft leisten. Das regionale Bewusstsein bezüglich des Wertes der vorhandenen Naturpotenziale soll gestärkt werden. Die Agentur will selber Anstöße geben, d.h. sie wird initiativ tätig und startet Projekte, zu denen sie sich die entsprechenden Partner sucht. Sie reagiert aber auch in starkem Maße auf die bestehende Nachfrage und bietet unterschiedliche Serviceleistungen an, bspw. Beratung und Weiterbildung, Öffentlichkeitsarbeit, Organisation, Recherche und Akquisition. (vgl. LEB-Dienstleistungsagentur 2005).
3
Projekte und Initiativen der Dienstleistungsagentur
Bei „Projekten“ handelt es sich um zeitlich begrenzte Vorhaben, d.h. sie haben einen definierten Anfangs- und Endpunkt, so wie ein festgelegtes Budget an Ressourcen (Zeit, Personal und Finanzen). Projekte zeichnen sich durch ein den Akteuren gemeinsames Ziel, einen überschaubar Rahmen, kalkulierbares Risiko, klare Zuständigkeiten und geregelte Entscheidungsstrukturen aus (vgl. Breitschuh; Feige 2003). Als „Initiativen“ werden hier vorbereitende Aktivitäten verstanden, mit denen Akteure für (größere) Projekte gewonnen werden sollen. Initiativen können u.a. in unverbindlichen Gesprächsrunden, Diskussionsveranstaltungen, eigener Präsenz bei Veranstaltungen, kleinen gemeinsamen Aktionen (z.B. Produktpräsentation auf Märkten, Gemeinschaftsanzeigen) bestehen. Initiativen schaffen durch gegenseitiges kennen lernen und die Gewinnung kollektiver Erfahrungen die notwendige Vertrauensbasis für gemeinsame Projekte. Die „Diepholzer Moorschnucke“ hatte hierbei einen besonderen Stellenwert, da sie das Aushängeschild für Naturschutzprodukte aus der Region darstellt und für die Landschaftspflege in diesem Raum von hoher Bedeutung ist (vgl. Petermann 2003b). 3.1
Beispiele aus der Diepholzer Moorniederung
3.1.1
Regionalproduktekorb aus der Diepholzer Moorniederung
Ziel des Startprojektes für die Dienstleistungsagentur war es, mit einem Korb regionaler Produkte ein imagewirksames Werbemittel für Regionalprodukte aus der Diepholzer Moorniederung zu schaffen, die in besonderer Weise die landschaftlichen Gegebenheiten widerspiegeln. Der Korb sollte sich als regional-typisches Präsent oder Werbegeschenk etablieren und durch die Bündelung unterschiedli-
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cher Produkte auch verschiedene Erzeuger zusammenführen und miteinander vernetzen. Zugleich sollte er die Dienstleistungsagentur mit und bei verschiedenen Akteuren ins Gespräch bringen. In den „Regionalproduktekorb“ aufgenommen wurden haltbare landwirtschaftliche Erzeugnisse, regionale Spezialitäten (beispielsweise Spirituosen) und regionaltypisches Kunsthandwerk mit Bezug zur Landschaft. Voraussetzung für die Aufnahme von Produkten in den Korb war, dass sie in größerem Umfang hergestellt werden und ganzjährig zur Verfügung stehen. Von der Dienstleistungsagentur wurde zusammen mit der Landwirtschaftskammer, dem Landvolkverband und dem Landfrauenverein die Idee entwickelt. Gemeinsam wurde ein Pressetermin vorbereitet und durchgeführt, bei dem über das Projekt berichtet und Erzeuger aufgefordert wurden, potentiell geeignete Produkte zu melden. Sowohl in der regionalen Tagespresse als auch im Mitteilungsblatt der Landwirtschaftskammer wurde über den „Regionalproduktekorb“ berichtet, woraufhin sich unterschiedliche Erzeuger bei der Dienstleistungsagentur meldeten. Die eingegangenen Produktmeldungen wurden ausgewertet und geeignete Produkte bei den Erzeugern angefordert. Die ausgewählten Produkte wurden dann in einem Korb dekorativ arrangiert und mit einen Flyer, der über die einzelnen Erzeuger informiert, kombiniert. Der Korb wurde bei unterschiedlichen Anlässen in der Öffentlichkeit präsentiert. Über diese Aktionen wurde in der regionalen Presse berichtet. Nachdem ein „Prototyp“ für den Regionalproduktekorb erfolgreich zusammengestellt wurde, stand die Suche nach einer Vertriebsstruktur an. Ein in Sulingen im Sommer 2005 eröffnetes Geschäft für regionale und ökologische Produkte (die „Grüne Ecke“) signalisierte Interesse an der Vermarktung des Korbes. Durch die Übernahme des Korbes durch die „Grüne Ecke“ war eine Fortführung des Projektes nach der durch die Dienstleistungsagentur gestarteten Aktion gewährleistet. 3.1.2
Märkte und Messen
Ziel der Präsentation von Regionalprodukten und v.a. der Diepholzer Moorschnucke auf Märkten und Messen war es, den Bekanntheitsgrad der Produkte zu erhöhen und daneben auch das Gemeinschaftsgefühl der Erzeuger zu stärken. Für die Präsentationen wurden von der Dienstleistungsagentur u.a. Schautafeln, Flyer und Info-Material erstellt. Außerdem wurde ein „Schnuckenquiz“ entwickelt. Das Material wurde zu unterschiedlichen Anlässen von der Dienstleistungsagentur selber oder von anderen auf Veranstaltungen vor Ort oder auch bei Veranstaltungen wie der „Internationalen Grünen Woche“ verwendet.
LEB-Dienstleistungsagentur als Impulsgeber
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Im Zuge der durchgeführten Präsentationen hat sich die LEB-Dienstleistungsagentur beispielsweise um die Standorganisation und im Vorfeld und/oder im Nachgang um die notwendige Pressearbeit gekümmert. Die Aktivitäten auf Märkten und Messen haben dazu beigetragen, den Bekanntheitsgrad der beworbenen Produkte anzuheben, Kunden-Rückmeldungen für die Produkte zu bekommen und das Wir-Gefühl der Akteure zu stärken. 3.1.3
Regional und gut
Anknüpfend an eine gemeinsam mit der Landwirtschaftskammer unter dem Motto „Regional und gut“ durchgeführte Informationsveranstaltung im Herbst 2005, bei der eine Broschüre mit Regionalprodukten vorgestellt wurde, hat die LEBDienstleistungsagentur eine PR-Initiative für regionale Produkte angestoßen, deren Ziel die Information der Bevölkerung über und ihre Sensibilisierung für Produkte aus der Region war. Auf einer Sitzung mit den Erzeugern wurde die Idee einer Serie von Artikeln über regionale Produkte in der regionalen Presse diskutiert und anschließend durch die Dienstleistungsagentur umgesetzt. Es wurden Rezepte entwickelt, in denen jeweils zwei Regionalprodukte miteinander kombiniert wurden. Zusammen mit Hintergrundinformationen über die jeweiliger Erzeuger wurde hieraus in der regionalen Presse über 10 Wochen eine Artikelserie zum Thema „Regionalprodukte“ veröffentlicht. In der „Grünen Ecke“ wurden die vorgestellten Produkte zu Aktionspreisen verkauft. Die unter dem Motto „Regional und gut“ angestoßenen Aktivitäten hatten eine enge Vernetzung der Erzeuger und einen erhöhten Bekanntheitsgrad regionaler Produkte zum Ergebnis und mündeten im Jahr 2006 in einem von der Dienstleistungsagentur organisierten Markt für Regionalprodukte, der zum „Tag der Region“ als gemeinschaftliche Werbe- und Informationsveranstaltung durchgeführt wurde. Ergebnis war, dass die Produzenten sich besser kennen lernten und Kooperationen entstanden, aus denen gemeinsame Ideen für die Zukunft hervorgingen. 3.1.4
Gastronomische Schnuckenwochen
Die „Gastronomischen Schnuckenwochen“ stellen eine gemeinschaftliche Werbeaktion dar, bei der die regionale Gastronomie und das regionale Aushängschild für den Naturschutz, die „Diepholzer Moorschnucke“ im Mittelpunkt stehen. Im Herbst 2005 wurden die ersten Schnuckenwochen mit 16 Gastronomen durchgeführt, die in einem zweiwöchigen Aktionszeitraum Spezialitäten von der Diepholzer Moorschnucke auf der Speisekarte hatten. In dieser Zeit haben rund 5.000 Gäste Moorschnucke gegessen und durch ein „Moorschnuckenquiz“ mehr
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über das Schaf, seinen Lebensraum und seine Aufgabe in der Landschaftspflege erfahren. Nach den ersten Schnuckenwochen wurde von den Beteiligten ein positives Resümee zu der Veranstaltung gezogen. Von außen gab es auch ein gutes Feedback: Der Dienstleistungsagentur wurde vom Niedersächsischen Landwirtschaftsminister Ehlen ein Marketingpreis für die gelungene Aktion verliehen. In das 2. Jahr der Schnuckenwochen startete man daher mit noch mehr Schwung sowie einem Schau- und Kulturprogramm. Den Auftakt bildete eine Kochshow mit dem bekannten Starkoch Alfons Schuhbeck, der ein 5-Gänge-Menü mit drei Gängen von der Diepholzer Moorschnucke für rund 140 Gäste zubereitete. In der Presse wurde dies unter dem Slogan „Wenn Naturschutz durch den Magen geht …“ kommuniziert (Kreiszeitung 2006). Vier regionale Köche haben überdies zusammen ein hochwertiges Kochprogramm unter dem Motto „So schmeckt der Nordwesten“ zusammengestellt. Darüber hinaus wurden in 6 Restaurants kulturelle Veranstaltungen (Theater, Lichtbilderschau, Musik, Kabarett) mit der Moorschnuckespeisekarte kombiniert. 2006 haben rund 6.800 Gäste Diepholzer Moorschnucke genossen – ein plus von rund 36 % gegenüber dem Vorjahr. Durch die gastronomische Schnuckenwochen ist unter beteiligten Köchen und Schäfereien ein „Wir-Gefühl“ entstanden, dass sie dazu animiert hat, sich fester zusammen zu schließen und eine eigenständige Plattform für weitere Gemeinschaftsaktionen zu schaffen. Hierzu wurde der Verein „Schmeck den Nordwesten. Natürlich!“ gegründet (s.u.). 3.1.5
Hirtentopf/Dosenprodukt
Verbunden mit dem Ziel, das Angebot an Produkten von der Diepholzer Moorschnucke mit einem zeitgemäßen Angebot zu vergrößern, das neue Käufergruppen anspricht und geringe logistische Anforderungen bei der Vermarktung (beispielsweise zum Versand geeignet ist) aufweist, wurde ein Dosengericht von der Diepholzer Moorschnucke kreiert – der Hirtentopf, in dem auch die „Nichtedelteile“ Verwendung finden und an dem alle Schäfereien der AG Moorschnucke beteiligt waren. Das neue Produkt sollte als „Türöffner“ fungieren, um mit dem Feinkost- und Delikatessenhandel ins Gespräch zu kommen. Von der Dienstleistungsagentur wurden Flyer mit Rezept- und Serviervorschläge zur Abwandlung oder Verfeinerung des Gerichtes entwickelt. Auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin wurde im Januar 2006 ein Testverkauf des Hirtentopfes mit guten Ergebnissen durchgeführt. Durch Vermittlung der Dienstleistungsagentur hat das Naturschutzinformationszentrum (NIZ) im Goldenstedter Moor den Hirtentopf nach einem Testessen auf seine Speisekarte genommen. Eine öffentlichkeitswirksame Bewerbung des Hirtentopfes erfolgte durch die Dienstleistungsagentur auch im Zuge der Artikelserie „Regional und
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gut“ (s.o.). Das Thema „Dosenprodukte für den Feinkosthandel“ soll aufbauend auf den gewonnenen Erfahrungen weiter verfolgt und ausgebaut werden, u.a. wurde ein Workshop mit einem Vermarktungsexperten zu diesem Thema durchgeführt. 3.1.6
Weiterbildung
Ziel von Bildungsmaßnahmen der LEB-Dienstleistungsagentur ist es, das anwendungsbezogene Wissen und den Erfahrungsschatz der regionalen Akteure in Fragen der Vermarktung von Landschaftspflege- bzw. Regionalprodukten zu vergrößern. Primär wurde die Weiterbildung als querschnittsorientierter Teil der mit den beteiligten Akteuren durchgeführten Projekte und Initiativen konzipiert oder in die von der LEB-Dienstleistungsagentur moderierten Arbeitskreise integriert. Es wurden aber auch Einzelveranstaltungen mit Weiterbildungscharakter durchgeführt (beispielsweise „Gute Produkte gut vermarkten“ im August 2005, „Regional und gut“ und „Moorschnucke-Kochen für Multiplikatoren“ im September 2005). Ein über einen Kooperationspartner der LEB-Dienstleistungsagentur eingerichtetes „Kochmobil“ soll künftig verstärkt für Vor-Ort-Veranstaltungen bei den Direktvermarktern eingesetzt werden. Den von der Dienstleistungsagentur betreuten Arbeitskreisen kommt neben dem Wissensaustausch gleichzeitig eine hohe Bedeutung für die Vernetzung der Akteure untereinander zu. 3.1.7
Schmeck den Nordwesten. Natürlich!
Die Gründung des Vereins stellt ein Meilenstein innerhalb des Projektes dar, um die angestoßenen Aktivitäten über den zweieinhalbjährigen Förderzeitraum hinaus zu verstetigen. Der Zusammenschluss will mit vielfältigen Aktionen zeigen, dass es sich lohnt, aus den guten regionalen Erzeugnissen Nordwest-Niedersachsens noch bessere Gerichte und Produkte zu machen. Mit Qualität und regionaler Besonderheit soll die Zufriedenheit von Gästen bzw. Kunden erhöht und nachhaltig darauf hingearbeitet werden, handwerkliche Lebensmittelverarbeitung sowie natur- und umweltgerechte Produktion zu. Der Verein hat 12 Gründungsmitglieder und steht offen für alle Erzeuger, Verarbeiter, Veredler landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die Produkte von besonderer regionaler Qualität produzieren bzw. verarbeiten und dies auch durch eine handwerklich geprägte Arbeitsweise unterstreichen. Es sollen Landwirte, Schäfer, Gastronomen, Köche, Fleischer, Bäcker, Händler von regionalen Qualitätserzeugnissen und Interessierte, die die Ziele des Vereins unterstützen möchten in ein Boot geholt werden – denn gemeinsam ist man stärker und kann mehr erreichen. Von der LEB-Dienstleistungs-
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agentur wurde eine Vereinssatzung entwickelt und im Juni 2006 beschlossen. Der Verein wurde 2007 in das Vereinsregister aufgenommen. 3.2
Ergebnisse der durchgeführten Projekte und Initiativen
3.2.1
Absatz von Moorschnucken und anderen Regionalprodukten gefördert
Die von der LEB-Dienstleistungsagentur durchgeführten Maßnahmen haben sowohl den Absatz von Diepholzer Moorschnucken als auch von anderen Regionalprodukten positiv beeinflusst. Während der in den Jahren 2005 und 2006 durchgeführten Gastronomischen Schnuckenwochen wurden annähernd 12.000 Gästen (2005 ca. 5.000 Gäste, 2006 ca. 6.800 Gäste, eine Steigerung um rund 36 %) an jeweils 17 Aktionstagen Gerichte von der Diepholzer Moorschnucke serviert. Dies hatte einen Absatz von 100 (im Jahr 2005) bzw. 136 (im Jahr 2006) Diepholzer Moorschnucken zur direkten Folge. Das sind zwar nur ca. 5 % der insgesamt zu vermarktenden Lämmer, aber rund 14 % der aktuell unter der Marke „Diepholzer Moorschnucke“ abgesetzten Tiere. Die Gastronomischen Schnuckenwochen haben zu neuen RestaurantKunden für die Diepholzer Moorschnucke geführt: von den 16 im Jahr 2006 beteiligten Gastronomen hatten 7 die Moorschnucke vorher noch nicht im Angebot. Ein Neukunde aus dem Jahr 2005 hatte während des Aktionszeitraumes rund ein Drittel seines Speisenumsatzes mit Moorschnuckengerichten gemacht, so dass die Diepholzer Moorschnucke bei ihm nun permanent auf der Speisekarte ist. Die Gastronomischen Schnuckenwochen haben zu einer Steigerung aber auch Verschiebung des regionalen Absatzes geführt, d.h. einige Gastronomen ordern gezielter für diesen Zeitraum und bestellen weniger außerhalb des Aktionszeitraumes. Für die Schäfereien ist diese Konzentration des Absatzes auf einen engeren Zeitraum durchaus positiv, da mehr Schlachtungen in einem kurzen Zeitraum erfolgen und so eine bessere arbeitstechnische Auslastung ermöglicht wird. Neben einer größeren Zahl an Restaurants mit Diepholzer Moorschnucke auf der Speisekarte hat sich auch das Spektrum an Moorschnuckengerichten durch die Aktionswochen stark erweitert. Dadurch werden mehr Gästegruppe als bisher angesprochen, da es für jeden Geschmack und in unterschiedlichen Preisklassen Angebote gibt. Die Gastronomischen Schnuckenwochen haben den Absatz von Diepholzer Moorschnucken auch außerhalb der Gastronomie angeregt: es gibt nun sieben Fleischereien der Region, die Diepholzer Moorschnucke im Angebot haben (vor den Schnuckenwochen waren es fünf). Zum Teil sind die Fleischereien auch dazu übergegangen, als Lammfleisch nur noch Diepholzer Moorschnucke anzubieten,
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damit beim Kunden eine größere Klarheit darüber besteht, was er bekommt. Die verstärkte Nachfrage von Gastronomen nach Moorschnuckenfleisch während der Aktionszeit hatte einzelne Fleischer dazu bewogen, statt Lammfleisch von Großhandel verstärkt Produkte von der Diepholzer Moorschnucke anzubieten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl für das Naturschutzprodukt Diepholzer Moorschnucke als auch für andere Regionalprodukte erste Impulse für die Verbesserung der Absatzsituation gegeben werden konnten. Diese reichen allerdings nicht aus, um eine dauerhafte Absatzsicherung herbei zu führen bzw. eine dauerhaft deutlich verbesserte Erlöse zu ermöglichen. Bei Fortführung der angestoßenen Initiativen lässt sich das Erreichte aber sichern und noch ausbauen. 3.2.2
Positive Imageeffekte ausgelöst
Durch die Arbeit der LEB-Dienstleistungsagentur wurde das Entstehen positiver Meinungs- und Stimmungsbilder sowohl für Diepholzer Moorschnucken als auch für andere Regionalprodukte aus der Diepholzer Moorniederung erheblich gefördert. Die Berichterstattung in regionalen Medien über die regionale Spezialität Diepholzer Moorschnucke wurde stark von den durch die LEB-Dienstleistungsagentur organisierten Gastronomischen Schnuckenwochen getragen. Zu den Schnuckenwochen wurden in sieben regional bedeutsamen Zeitungen Anzeigen geschaltet. Dadurch wurde es ermöglicht, eine große Zahl redaktionelle Beiträge rund um das Thema „Diepholzer Moorschnucke“ zu lancieren. So sind in Zusammenhang mit den Schnuckenwochen rund 45 Artikel erschienen, von denen ein Großteil auf Presseinformationen der LEB-Dienstleistungsagentur aufbaute. Insgesamt sind in den Jahren 2005 und 2006 ca. 75 Berichte von der regionalen Presse zum Thema Moorschnucke/Moorniederung verfasst worden. Einhergehend mit der intensiven Pressearbeit hat es sich für das Bild der Moorschnucke in der Öffentlichkeit als bedeutsam erwiesen, dass „Meinung machende“ Personen und Institutionen der Region das Thema „Moorschnucke“ aufgegriffen haben: So hat der Landrat des Landkreis Diepholz auf dem „Kreiskartoffeltag“ als ein von ihm favorisiertes Regionalgericht „Diepholzer Moorschnucke mit Stampfkartoffeln, Endiviensalat und Nüssen“ öffentlich vorgestellt. Die Verknüpfung des Themas Naturschutz mit anderen positiv besetzten Aspekten gelang auch mit der Moorschnucken-Kochschau des Star-Kochs Alfons Schubeck. Über die „regionale Spezialität“ wird der mit ihr betriebene Naturschutz als ein weicher Standortfaktor dargestellt, dessen Bedeutung auch für den Tourismus zunehmend erkannt und beispielsweise in Imagebroschüren dargestellt wird (vgl. DümmerWeserLand 2006).
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Es kann somit festgestellt werden, dass es sowohl innerhalb der Diepholzer Moorniederung als auch außerhalb in den Jahren 2005 und 2006 viel Öffentlichkeit für die Diepholzer Moorschnucke und den durch sie geförderten Naturqualitäten gab. Die überregionale öffentliche Anerkennung beispielsweise durch Zeitungs- und Fernsehbeiträge ist für die regionalen Akteure sehr wichtig. Der Bekanntheitsgrad außerhalb speziell interessierter Kreise ist aber immer noch verhältnismäßig gering, so dass weiterhin eine umfassende Öffentlichkeitsarbeit erforderlich ist. Hierfür sind gute Netze geknüpft worden. 3.2.3
Wissenstransfer herbeigeführt
Die Arbeit der LEB-Dienstleistungsagentur hat dazu beigetragen, den Transfer vorhandenen Wissens und von Erfahrungen zwischen und zu Akteuren der Diepholzer Moorniederung sowie von der Moorniederung in andere Regionen zu verstärken. Mit der Projektarbeit ist es gelungen, wichtige Themen bei verschiedenen Akteursgruppen zu platzieren: Die Diepholzer Moorschnucke – als Aushängeschild für den Naturschutz – hat einen gewichtigen Stellenwert innerhalb touristischer Konzepte erlangt („Erleben und Entdecken“), handwerklich hergestellte Regionalprodukte der Moorniederung werden als Imagefaktor begriffen („regional und gut“) und die Verbindung von „Landschaft und Geschmack“ wird bei unterschiedlichen Aktivitäten aufgegriffen. Die mit dem Marketing für die Diepholzer Moorschnucke gesammelten Erfahrungen wurden wiederum anderen Regionen oder Projekten zugänglich gemacht, sowohl durch wissenschaftliche Untersuchungen anderer Institutionen (vgl. Kleinhückelkotten et al. 2006 und Leipprand; Görlach; Schlegel 2006) als auch eigene Vorträge bei überregional bedeutsamen Veranstaltungen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Agentur als praxisorientierter Wissensvermittler fungiert hat. Sie hat sowohl neue inhaltliche Aspekte in Projekte eingebracht als auch zwischen den Akteuren den Wissenstransfer unterstützt. Diese Rolle als Moderator und Mentor von Wissenstransfer kann die LEB bevorzugt einnehmen, da sie sich im Prozess weitestgehend „neutral“ positioniert und von den beteiligten Akteuren ihr Status als Bildungseinrichtung bekannt und akzeptiert ist. 3.2.4
Strukturbildung angestoßen
Die Arbeit der LEB-Dienstleistungsagentur hat auf unterschiedlichen Ebenen Impulse für die Stärkung bestehender und die Bildung neuer Strukturen (Arbeitsgemeinschaften, Netzwerke etc.) gegeben.
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Die seit Anfang der 1990er Jahre bestehende „Arbeitsgemeinschaft Diepholzer Moorschnucke“ wurde in ihrer Arbeit unterstützt. D.h. es wurden Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft geleitet sowie thematisch vor- und nachbereitet und gemeinsame Aktionen betreut. Als Folge der gemeinschaftlich durchgeführten „Gastronomische Schnuckenwochen“ ist das Entstehen des Vereins „Schmeck den Nordwesten. Natürlich!“ zu sehen, dem neben Schäfereien der AG Moorschnucke v.a. an Regionalprodukten interessierte Köche angehören. Bei den Köchen des Vereins „Schmeck den Nordwesten. Natürlich!“, der aus der Schnuckenwochen-Veranstaltung „So kocht der Nordwesten“ entstanden ist, haben die gemeinsamen Kochevents motivierend gewirkt und das „WirGefühl“ gestärkt sowie dazu animiert, künftig gemeinsam mehr zu tun. Ein wichtiges Bindeglied für die Vereinsarbeit stellen Slow Food Deutschland e.V. und die im Nordwesten aktiven Convivien Diepholz, Oldenburg, Ostfriesland, Osnabrück und Bremen dar. Ausgehend von der Aufnahme der Diepholzer Moorschnucke in die „Arche des Geschmacks“ von Slow Food und die darüber getragene Einbindung in ein internationales Netzwerk, haben sich sowohl Aktivitäten vor Ort entwickelt (z.B. Schäferei-Besichtigungen, Teilnahme an der Messe „Genuss im Nordwesten“). Es kann somit festgestellt werden, dass sich durch Projekte der LEBDienstleistungsagentur in der Region ein lockeres Netzwerk von Akteuren gebildet hat, das durch künftige gemeinsame Aktionen weiter wachsen wird.
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Fazit Ausgehend von den in Projekten und Initiativen der LEB-Dienstleistungsagentur entfalteten Aktivitäten kann auf folgende Ergebnisse verwiesen werden: − es konnten in der Region Impulse für die Verbesserung der Vermarktungssituation von Landschaftspflege- und Regionalprodukten gegeben werden; − über das Gebiet der Diepholzer Moorniederung hinaus wurden Initiativen bzw. Aktionen für die überregionale Vermarktung von Diepholzer Moorschnucken angestoßen bzw. gestärkt; − der regionale Bekanntheitsgrad von Regionalprodukten und speziell dem Naturschutz-Aushängeschild „Diepholzer Moorschnucke“ konnte durch öffentlichkeitswirksame Aktionen gesteigert werden; − es konnte ein wissenschaftliches Interesse an den Vermarktungsinitiativen für die Diepholzer Moorschnucke verzeichnet werden (Politikberatung); − es erfolgte eine Aktivierung von Akteuren in der Diepholzer Moorniederung und die Bildung eines Zusammenschlusses von Erzeugern und Verarbeitern (Meilenstein); − das Wissen um Fragen der Absatz- und Verkaufsförderung konnte bei regionalen Akteuren gestärkt werden; − die Netzwerkbildung konnte erfolgreich ausgebaut werden. Eine Einschätzung der einzelnen Ergebnisse der geleisteten Arbeit konnte sowohl an quantitativen Indikatoren (Veränderungen des Produktabsatzes, Kundenzahlen) als auch qualitativen Indikatoren (Veränderung von Einstellungen, neue Erfahrungen) festgemacht werden. Vielfach ließen sich die erzielten Ergebnisse und ihre Wirkungen nicht unmittelbar einem Projekt oder einer Initiative zuordnen, da diese in einem engen wechselseitigen Verhältnis zu einander standen oder aufeinander aufbauten. Bei der Beurteilung der erreichten Ergebnisse muss auch berücksichtigt werden, dass innerhalb einer zweieinhalbjährigen Projektlaufzeit viele Dinge nur angestoßen aber noch nicht verstetigt werden konnten. Da die Dienstleistungsagentur auch nicht über ein umfangreiches Budget an Sachmitteln verfügte, das Anreiz für Akteure hätte sein können, Kooperationen einzugehen, musste in kleinen Schritten eine auf gemeinsamen positiven Erfahrungen aufbauende Vertrauensbasis geschaffen werden. Die erreichten Ergebnisse ermutigen aber, den eingeschlagenen Weg zwischen Traditionspflege und Innovation weiter zu beschreiten und für die Zukunft auszubauen (vgl. Petermann 2006a).
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Literatur Breitschuh, U.; Feige, I. 2003: Projektmanagement im Naturschutz. – Leitfaden für kooperative Naturschutzprojekte. Münster DümmerWeserLand 2006: Gastgeberverzeichnis und Freizeitführer 2007/2008. Diepholz (unveröffentlicht) Kleinhückelkotten, S.; Wippermann, C.; Behrendt, D.; Fiedrich, G.; Schützer de Magalhaes, I., Klär, K. & Wippermann, K. 2006: Kommunikation zur Agro-Biodiversität. Voraussetzungen für und Anforderungen an eine integrierte Kommunikationsstrategie zu biologischer Vielfalt und genetischen Ressourcen in der Land-, Forst-, Fischerei- und Ernährungswirtschaft (einschließlich Gartenbau). ECOLOG-Institut/Sinus Sociovision, Hannover/ Heidelberg Kreiszeitung 2006: Wenn Naturschutz durch den Magen geht… Fernsehkoch Alfons Schuhbeck warb in Wetschen für Moorschnuckenfleisch. Kreiszeitung vom 12.09.2006 Ländliche Erwachsenenbildung in Niedersachsen e.V. 2005: Evaluation – Arbeitsbericht und Statistik 2004. Hannover (unveröffentlicht) LEB-Dienstleistungsagentur 2005: Betriebsentwicklungsplan. Sulingen (unveröffentlicht) Leipprand, A.; Görlach, B.; Schlegel, S. 2006: Case study „Diepholzer Moorschnucke“. Berlin (unveröffentlicht) Lokale Aktionsgruppe Diepholzer Moorniederung 2001: Entwicklungskonzept Diepholzer Moorniederung. Diepholz Petermann, C.; Wulff, J. 2002: Akteurskonstellationen und ihre Organisationsformen – Hinweise zur Organisation von Projekten mit umwelt- und naturschutzfachlichen Zielsetzungen. In: Stock, R.; Stibbe, C. (Hrsg.) 2002: Naturschutz in Agrarlandschaften: Probleme, Erfahrungen, Lösungen. Initiativen zum Umweltschutz Bd. 42. S. 119–169. Berlin Petermann, C. 2002: Institutionelle Arrangements für eine nachhaltige Regionalentwicklung – Beispiele kooperativer Naturschutzprojekte aus drei Bundesländern. In: Gerber, A.; Konold, W. (Hrsg.) 2002: Nachhaltige Regionalentwicklung durch Kooperation – Wissenschaft und Praxis im Dialog. culterra 29. (Schriftenreihe des Instituts für Landschaftspflege der Albert LudwigsUniversität Freiburg). S. 198–202. Freiburg Petermann, C. 2003a: Naturschutz als Impulsgeber für sozioökonomische Entwicklungen. Endbericht zum FuE-Vorhaben (FKZ 89881004) „Naturschutz als Impulsgeber selbsttragender nachhaltiger wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen. Analyse und Darstellung ausgewählter Beispiele“. Schriftenreihe Angewandte Landschaftsökologie. Heft 47. Bonn Petermann, C. 2003b: Nachhaltiger Naturschutz – untersucht am Beispiel der Vermarktung der Diepholzer Moorschnucke. Berlin (unveröffentlicht) Petermann, C. 2005: Dienstleistungsagentur für Regionalvermarktung – Neue Wege zur Vermarktung regionaltypischer Produkte. In: Niedersächsischer Landwirtschaftskalender 2006. Jahrbuch für Haushalt, Betrieb und Familie. S. 211–214. Bad Münder Petermann, C. 2006a: Regionale Spezialitäten aus der Moorniederung – Ein innovatives Vermarktungskonzept für Landschaftspflegeprodukte. In: Moore in der Regionalentwicklung – 25 Jahre Niedersächsisches Moorschutzprogramm. Tagungsband des Europäischen Symposiums. BUND Diepholzer Moorniederung. S. 79–83. Wagenfeld / Ströhen Petermann, C. 2006b: Aktivitäten landwirtschaftlicher Direktvermarkter in der Diepholzer Moorniederung. In: Vonderach, G. (2006): Neue Erwerbskombinationen auf dem Bauernhof. Neue Land-Berichte Bd. 2. S. 15–26. Aachen Project m 2001: Offenes Forum „Tourismus zwischen Weser und Dümmer“. Lüneburg
Wirtschaftswachstum in regionalen Wertschöpfungsketten. Die Regionalmarke „VON HIER“ Gerd Lehmann
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Trends im Verbraucherverhalten und Potenziale in Brandenburg
Auf der größten europäischen Messe der Ernährungswirtschaft, der ANUGA 2007 in Köln, wurden während der begleitenden Symposien und Aktionen sowie in der Fachpresse ausführlich die zukünftigen Trends im Verbraucherverhalten diskutiert. Folgende drei Trends im Verhalten der Verbraucher wurden dabei von den Fachleuten in den Mittelpunkt gestellt: • • •
Nachhaltigkeit – in allen Produktionsprozessen Regionalität – vor allem in der Frische Bio – mit lückenloser Transparenz über die gesamte Wertschöpfungskette
Für die Vermarktung regionaler Produkte der Ernährungswirtschaft unter der Markte „VON HIER“ in Berlin und Brandenburg ist die Nähe zwischen dem Produktionsort bzw. dem Ort der Rohstoffherkunft und dem Ort des Einkaufs durch den Verbraucher das entscheidende Kriterium. Dabei sind die Trends im Verbraucherverhalten fördernde bzw. hemmende Faktoren für den Projekterfolg, d.h. die Vermarktung regionaler Produkte. Alle drei genannten Trends Nachhaltigkeit, Regionalität und BIO sind stark durch das Vertrauen der Verbraucher in ihrer Produktwahrnehmung bestimmt. Im Marketing kann durch die Nähe zwischen Produktions- und Verkaufsort eine potenzielle Überprüfung der Wahrheit der erwarteten Produktversprechen durch den eigenen Augenschein beim Hersteller bzw. durch den Besuch der Herkunftsregion herausgestellt werden. Die Bedeutung der regionalen Herkunft für den Markterfolg wird insbesondere bei den BIO-Produkten deutlich. Im Boom des BIO-Marktes wird zunehmend die regionale Herkunft beim Verbraucher mit „Produktsicherheit“ assoziiert. Für die Wertschöpfung mit einer Regionalmarke bilden die Branchen Ernährungswirtschaft und Landwirtschaft in Brandenburg als wichtiger Arbeitgeber im ländlichen Raum die Basis. Die Ernährungswirtschaft ist in Brandenburg mit
Wertschöpfung mit der Regionalmarke „VON HIER“
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2,6 Mrd. Euro Umsatz die drittstärkste Branche. In der Branche sind 151 Unternehmen mit über 10.700 Beschäftigten tätig. In Brandenburg sind 21 Orte als Branchenschwerpunktorte Ernährungswirtschaft fördertechnisch durch das Wirtschaftsministerium des Landes bestätigt. Damit ist die Ernährungswirtschaft in Brandenburg fast flächendeckend vertreten und geeignet, neben der Landwirtschaft Wertschöpfungseffekte im gesamten ländlichen Raum zu realisieren. Jeder Beitrag zur Umsatzsteigerung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Branche ist deshalb auch ein Beitrag zur Stabilisierung des ländlichen Raumes. Die Landwirtschaftsfläche in Brandenburg mit fast 1,4 Mill. ha, davon über 1,0 Mio. Hektar Ackerfläche, bietet ein Rohstoffpotenzial für die regionale Ernährungswirtschaft, das bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Die Stadt Berlin mit 3,4 Mio. Einwohnern befindet sich mitten im Land Brandenburg. Gemeinsam mit fast 1 Mio. Brandenburger im sogenannten Speckgürtel um Berlin bildet die Hauptstadtregion einen Markt mit ca. 4,4 Mio. Verbrauchern für regionale Produkte. Trotz der allgemein positiven Trends für regionale Produkte im Verhalten der Verbraucher, einer leistungsfähigen Ernährungswirtschaft und ausgedehnter Landwirtschaftsflächen im Land Brandenburg als Rohstoffbasis ist es bisher noch nicht ausreichend gelungen, den Markt der Hauptstadtregion mit über 4 Mio. Verbrauchern für regionale Produkte zu erschließen.
2
Die Zielstellung des Projektes
Das Projekt zur Vermarktung regionaler Produkte aus Brandenburg auf dem Markt der Hauptstadtregion unter der Marke „VON HIER“ ist aus der Zusammenarbeit verschiedener gesellschaftlicher Kräfte aus Brandenburg und Berlin sowie der bundesweiten Regionalbewegung mit dem Labensmitteleinzelhandel entstanden. Am Aufbau und weiteren Ausbau dieses breiten Bündnisses gesellschaftlicher Gruppen in Brandenburg und Berlin sind die Agenda 21-Bewegung, die Regionalbewegung, die LEADER Gruppen sowie die Handelsketten Kaiser´s und MEMA beteiligt. Das Projekt will dauerhafte Beiträge für eine „nachhaltige Entwicklung“ im Raum Berlin-Brandenburg leisten und hat sich dabei in der Gründungsphase an dem Projekt „Unser Land“ in Bayern orientiert. Unter der Marke „VON HIER“ hat sich im Laufe eines Jahres ein eigenständiges Projekt entwickelt, das den Verhältnissen in Brandenburg und Berlin gerecht wird. Unter der Marke wird gegenwärtig ein Lebensmittelsortiment von kleinen und mittleren Unternehmen der Ernährungswirtschaft aus Brandenburg in Zu-
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sammenarbeit mit den Kaiser’s – und MEMA – Märkten an die Verbraucher in Berlin und dem Umland vermarktet. Dafür wird in Berlin und Brandenburg die Wort-/Bildmarke „VON HIER“ für regionale Produkte mit Hilfe des Lebensmitteleinzelhandels etabliert. Mit der Marke erfolgt der Aufbau eines regionalen Herkunfts- und Qualitätsprogramms mit gesellschaftlich wünschenswerten Merkmalen, wie Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen, Beiträge zum Umweltschutz, Erhalt und Pflege der Kulturlandschaft etc. Die Wertschöpfung im ländlichen Raum soll deutlich gesteigert werden durch: • • •
Umsatzsteigerung in der Ernährungswirtschaft bzw. bei Direktvermarktern durch kontinuierlichen Absatz im Lebensmitteleinzelhandel Berlins Umsatzsteigerung durch eine ständige Erweiterung der Produktpalette und Einbindung neuer Unternehmen sowie Reisen der Verbraucher in die Herkunftsregion, d.h. die Brandenburger Reiseregionen, mit Betriebsbesichtigung und Produktverkostung.
Darüber hinaus soll die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg zum gegenseitigen Vorteil vertieft werden. Das Projekt will auch einen Beitrag zur Realisierung eines Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses im Rahmen der Agenda 21 leisten. Gemäß der Berliner Agenda 21 soll bis 2020 die Lebensmittelversorgung der Berliner Verbraucher mit einem Anteil von 30 % aus dem Umland gesichert werden.
3
Die Zeitschiene zur Projektumsetzung
Vorgespräche zur Entwicklung einer Regionalmarke auf dem BrandenburgBerliner Markt haben bereits im Jahr 2006 begonnen. Im Gegensatz zu Handelsmarken wurde dabei von Anfang an auf die breite Einbindung gesellschaftlicher Kräfte großes Augenmerk gelegt. Im Mai 2007 wurde auf einer Regionalkonferenz in Brandenburg unter Beteiligung des Handels zu den Möglichkeiten einer Regionalmarke für Berlin und Brandenburg eine breite Diskussion geführt. Bereits im Sommer des Jahres 2007 wurden unter Führung der gesellschaftlichen Kräfte die Projektkriterien entwickelt und durch die beteiligten Unternehmen eine GmbH für die Projektumsetzung gegründet. Seit dem 2. Oktober 2007 sind die Produkte unter der Marke VON HIER im Lebensmitteleinzelhandel verfügbar.
Wertschöpfung mit der Regionalmarke „VON HIER“
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Am Markenstart waren 10 Erzeuger mit 52 Produkten, davon ca. 40 % aus ökologischer Produktion, beteiligt. Bis zum Februar 2008 sind 15 Erzeuger mit 60 Produkten am Projekt beteiligt. Weitere 5 Erzeuger bereiten sich mit ihren Erzeugnissen auf die Teilnahme am Projekt vor.
4
Die Partner und ihre Aufgaben im Projekt
Bei der Umsetzung des Projektes haben die einzelnen Gruppen der Projektpartner spezifische Hauptaufgaben übernommen. Die gesellschaftlichen Gruppen, d.h. die Agenda Gruppen und der Bundesverband der Regionalbewegungen, verantworten die Nachhaltigkeit der Kriterienauswahl und die informelle Einbindung der Öffentlichkeit. Die LEADER-Gruppen motivieren die regionalen Erzeuger zur Projektteilnahme und unterstützen die kleinen Unternehmen bei der Unternehmensentwicklung durch Hilfestellungen bei der Personal- und Fördermittelbeschaffung. Der Marketingverband pro agro hat die Aufgaben des Bindegliedes und Koordinators zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und den beteiligten Wirtschaftpartnern übernommen. Dabei hat pro agro die Aufgaben als Markenhalter, Hauptgesellschafter der Projekt GmbH und Prozesskoordinator inne. Pro agro bindet auch die Politik und zuständigen Ministerien / Senatsverwaltungen vorrangig durch Informationen, Einladungen zu Veranstaltungen u.a. in das Projekt ein. Die Projekt GmbH setzt die Beschlüsse der Wirtschaftpartner und der gesellschaftlichen Kräfte um. Dafür werden die Mittel einer Lizenzgebühr zum Nutzen des Gesamtprojektes und der beteiligten Unternehmen, z.B. für Messeteilnahme, Öffentlichkeitsarbeit, Internetauftritt unter www.vonhier.com, Informationsflyer, Verkaufsförderaktionen im Handel, Zusammenarbeit mit den AZUBIS der beteiligten Unternehmen und Sponsoring realisiert. Die beteiligten Handelsunternehmen haben die Produkte an hervorragender Stelle platziert und bewerben die Produkte kostenlos in hauseigenen Werbeaktionen, z.B. Handzettel, Deckenhänger am Produktregal, Plakatwerbung im Eingangsbereich der Märkte, Vorträge auf Veranstaltungen der gesellschaftlichen Kräfte u.a.
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Abb. 1:
Organisationsstruktur der Marktpartner
Der wichtige Partner im Hintergrund ist ein Logistik- und Großhandelsunternehmen, die Frucht-Express GmbH. Dieses Unternehmen bildet das logistische Bindeglied zwischen den kleinen und mittleren Produzenten im Land Brandenburg und den beiden beteiligten Handelsketten in Berlin und Umland. Nur durch das kontinuierliche und faire Zusammenwirken aller beteiligten Partner ist der bisherige Projekterfolg innerhalb so kurzer Zeit erreicht worden. Diese Gesamtkoordination obliegt dem Marketingverband pro agro.
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Die Wort-Bild-Marke und die Auswahlkriterien für Unternehmen und Produkte
Die Wort-Bildmarke in Abb. 2 symbolisiert Berlin mit seinem Brandenburger Umland. Das Bild der Marke wird vom Berliner Verbraucher erkannt und als Hilfestellung für das Erkennen regionaler Produkte aus Brandenburg mit hervorragender Qualität angenommen. Die zentralen Marketingbotschaften in der Kommunikation sind: • ... weil man sehen kann, wo’s herkommt! • ... weil das Arbeit schafft! • ... weil das natürlich erzeugte Produkte aus einer gesunden Landschaft sind!
Wertschöpfung mit der Regionalmarke „VON HIER“
Abb. 2:
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Wort-Bild-Marke
In der Markenführung wird darauf geachtet, dass neben der Wort-Bildmarke VON HIER die Erzeugeradresse und ein vorhandenes Erzeugerlogo deutlich erkennbar bleiben. Der Erzeuger soll den Herkunftsort des Produktes aus Brandenburg jederzeit erkennen können. Das Versprechen gesicherter und geschaffener Arbeitsplätze in den beteiligten Unternehmen wird auf der Grundlage des Kriterienkatalogs einer Prüfung unterzogen. Die handwerkliche Erzeugungsqualität der regionalen Produkte wird bei der Auswahl der beteiligten Unternehmen beachtet und kann anlässlich des Tages der offenen Tür im Unternehmen durch den Verbraucher selbst überprüft werden. Zusätzlich wird der Verbraucher eingeladen, sich von der gesunden Landschaft aus der seine regionalen Nahrungsmittel kommen, selbst durch einen Besuch zu überzeugen. Das Kriteriensystem zum Herkunfts- und Qualitätsprogramm VON HIER wurde von den gesellschaftlichen Kräften unter Beteiligung der Wirtschaftpartner in Anlehnung an bestehende Regionalprogramme entwickelt. Alle Beteiligten am Projekt sind sich darüber einig, dass dieses Projekt der Entwicklung des ländlichen Raumes in Zusammenarbeit der Stadt Berlin mit dem Land Brandenburg dienen soll. Deshalb befinden sich die Auswahlkriterien für beteiligte Unternehmen und Produkte in der Entwicklung. Nach einer angemessenen Zeit werden die Projekterfolge und die Kriterien durch die beteiligten Partner gemeinsam überprüft und weiterentwickelt. Dabei spielt auch die Gesetzgebung auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene z.B. zu den Themen „ohne Gentechnik“ und „artgerechte Tierhaltung“ eine wichtige Rolle.
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Gegenwärtig umfasst das Kriteriensystem drei Kriterienkategorien: • Partnerkriterien, die eine Art gesellschaftlichen Kodex für das Verhalten der Markennutzer darstellen • Basiskriterien, die über alle Produktgruppen hinweg gelten und insofern den Kern der Markenbotschaft darstellen • spezifische Kriterien, die je Produkt (-gruppe) in Ergänzung zu den Basiskriterien festzulegen sind. Dabei werden aktuell gültige gesetzliche und Handelsstandards zur Sicherung der Produktqualität für die Regionalmarke genutzt. Im Folgenden werden dafür einige Beispiele vorgestellt. Nur Partner und Produkte, die den Anforderungen des Gemeinschaftsvorhabens genügen, sollen in das Marken-Programm aufgenommen werden. Die Partner des Regionalmarkenprogramms und damit Nutzer des Markenzeichens können Unternehmen aus den folgenden Bereichen sein: • • • •
Land- und Forstwirtschaft, Weinwirtschaft, Gartenbau und Fischerei (Produktion) Ernährungswirtschaft und Handwerk (Verarbeitung, Dienstleistung) Handel und Logistik gastronomische, Beherbergungs- und touristische Dienstleistungen
Die Markenpartner müssen gemäß den Partnerkriterien z.B. in Brandenburg oder Berlin ansässig sein, mithelfen, eine regionale Erzeuger-Verbraucher-Partnerschaft aufzubauen, um die Entwicklung des gemeinsamen Marken- und Qualitätssystems VON HIER zu fördern. Die Beiträge der einzelnen Unternehmen können dabei durchaus voreinander abweichen. Die Basiskriterien bestimmen, dass unverarbeitete Produkte zu 100 % aus der Gemarkung einer der dem Gebiet Berlin-Brandenburg zugehörigen Gemeinden stammen. Bei verarbeiteten Produkten stammen die Rohstoffe soweit als technisch möglich, jedoch mindestens zu 70 % Gewichtsanteil aus der Region. Der Einsatz von Pestiziden im Pflanzenbau erfolgt nur auf Basis der Empfehlung bzw. Genehmigung des Amts für Verbraucherschutz. Die spezifischen Kriterien verlangen z.B. die nachgewiesene Einhaltung der EU-Verordnung 2092/91 zum ökologischen Landbau, wenn die Produkte als solche gekennzeichnet sind. Für pflanzliche Produkte sind die Richtlinien des integriert kontrollierten Anbaus bzw. die Richtlinie zur Erlangung eines pro agro Prüfzeichen einzuhalten. Darüber hinaus sind bei Produkten tierischen Ursprungs der QS-Standard bzw. vergleichbare Standards einzuhalten. Hier sind auch die
Wertschöpfung mit der Regionalmarke „VON HIER“
333
aktuell gültigen Handelsstandards verankert, ohne deren Einhaltung kein Produkt in das Ladenregal gelangen kann. Insbesondere bei den produktions- und produktbezogenen Kriterien soll vermieden werden, für die Regionalmarke VON HIER ein aufwendiges neues Kontrollsystem aufzubauen, was die beteiligten Partner sich nicht leisten können. Diese Strategie hat sich als richtig erweisen, wie aktuelle Diskussionen von Seiten der Ernährungswirtschaft zum Aufbau eines staatlichen Kontrollsystems für „ohne Gentechnik“ zeigen. Ein Schwerpunkt wird im Projekt dagegen auf die gesellschaftlichen Kriterien gelegt, die bestimmte Verhaltensweisen von den beteiligten Unternehmen einfordern. Diese Kriterien sind vom informierten Verbraucher überprüfbar und können im Marketing und der Öffentlichkeitsarbeit mit dem Verbraucher kommuniziert werden. Die anstehende Hauptaufgabe ist die Organisation des Projekterfolgs im Jahr 2008 in den beteiligten Supermärkten in Zusammenarbeit zwischen den Erzeugern, dem Marketingverband pro agro und den gesellschaftliche Gruppen. Dafür ist u.a. die regelmäßige Arbeit der AG Produktentwicklung mit Fachleuten aus Unternehmen in Zusammenarbeit mit den LEADER-Gruppen erforderlich. Die Arbeit der AG Kommunikation zur Umsetzung des Kommunikationskonzeptes mit den gesellschaftlichen Gruppen, LEADER-Regionen und dem Landtourismus zur Durchführung von Aktionen wird im Jahr 2008 erweitert. Zum ersten Jahrestag des Projektstarts im Oktober 2008 soll eine Bilanz des bisherigen Projekterfolges mit allen beteiligten Partnern gezogen werden.
Die Erfolgsgeschichte der „Spreewälder Gurke“ Historisches zur Gurke Dieter Irlbacher
Die Herkunft der Gurken Über die Herkunft streiten sich noch heute die Gelehrten. •
• •
Die einen behaupten, sie habe ihren Ursprung am Fuße des HimalajaGebirges, wo es noch heute eine kleine, bittere Frucht aus der Familie der Kürbisgewächse gibt. Andere wollen die Heimat der Pflanze auf dem afrikanischen Kontinent ansiedeln und noch andere behaupten, sie stamme aus Indien und hätte über den Orient ihren Weg nach Afrika gefunden.
Es steht in den Sternen, ob diese Frage jemals eindeutig geklärt wird. Wie kam die Gurke aber in den Spreewald Paul Fahlisch, ein Lübbenauer Lehrer des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat die Geschichte seiner Heimatstadt erforscht und beschreibt in seiner 250 Seiten umfassenden Veröffentlichung die Herkunft der Gurken wie folgt: Die Grafen von der Schulenburg hatten auf ihren Reisen durch die Niederlande Tuchfabrikanten kennen gelernt. Sie glaubten, dass die Tuchmacherei auch in Lübbenau eine gute Nahrungsquelle werden könnte und warben Niederländer Tuchmacher an, denen sie auf dem heutigen Recklin Wohnungen und eine Walkemühle auf den noch heute so benannten Platz in der Nähe des gräflichen Gewächshauses bauten. Die Tuchfabrikation ging aber nicht so gut. So kamen die Niederländer, die in ihrer Heimat den Gurkenanbau kennen gelernt und auch Samenkörner mitgebracht hatten, auf den Gedanken eine Erwerbsquelle aus den Gurkenanbau zu erschließen. Diese Tätigkeit hat sich schnell als sehr dankbar erwiesen und wurde Allgemeingut der Bürgerschaft. Ein bequemer Absatz war durch die Spree nach Berlin hin geboten. So entwickelte sich der Gurkenanbau im Spreewald.
Die Erfolgsgeschichte der „Spreewälder Gurke“
335
Neid, die Wurzel allen Übels Wo Erfolg ist, gibt es auch Neider. Heimatforscher Fahlisch machte einen jener Neider namentlich. Es war kein geringerer als Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. Der Preußenkönig war ein Liebhaber der Spreewälder Gurken und beabsichtigte u. a. deshalb seine Tochter Wilhelmine I. mit dem regierenden Herzog von Sachsen Weißenfels, Johann Adolph, zu verheiraten, um durch die Heirat die begehrten Lübbenauer Gurken in seinen Besitz zu bekommen. Die Heirat kam aber nicht zu Stande und so bekam er auch die Gurken nicht in seinen Besitz. Weil der etwas geizige König festgestellt hatte, dass viel Geld aus der Staatskasse für den Kauf von Gurken in das sächsische Lübbenau wandert, beschloss er, Gurken selbst anzubauen und zu verarbeiten. Er ordnete an, im preußischen Unterspreewald eine Kolonie zu errichten, warb 30 Lübbenauer Familie denen er die Kolonie mit der Bedingung übermachte, dass sie fortan die begehrten Lübbenauer Gurken anbauen und verarbeiten sollten. Die Kolonie wurde Neu-Lübbenau genannt. Der Gurkenanbau funktionierte nicht so recht und kam zum Erliegen. Den Ort Neu-Lübbenau gibt es noch heute. Nur werden dort keine Gurken mehr angebaut.
Abb. 1:
Gurkenmarkt in Lübbenau um 1927
Dieter Irlbacher
336
Die Spreewaldgurke als Symptom Schon zu DDR-Zeiten war die Spreewaldregion für intensive Landwirtschaft, insbesondere die Produktion von qualitativ hochwertigen Gurken und ihre Verarbeitung, bekannt. Zusammen mit dem Abbau von Braunkohle waren das die beiden wichtigsten Wirtschaftsfaktoren in diesem Gebiet. Doch nach der Wende brach auch der Markt für die Spreewaldgurken ein. Über die Ursachen dieser regionalen Strukturkatastrophe und über die von der Europäischen Union unterstützten (und hier beispielhaft angewandten) Entwicklungsmöglichkeiten soll im Folgenden berichtet werden. Dabei steht hier die Gurkenproduktion aus verschiedenen Gründen im Zentrum der Betrachtung, wobei es in diesem Fall keineswegs um die „Norm-Gurke“ aus den verschiedensten Zeitungsenten geht, die nur als das Symbol der Überregulierung in der EU verstanden wurde. Vielmehr geht es hier um ein Produkt, eine Wertschöpfungskette, eine erfolgreiche Beschäftigungsstrategie und regionales Marketing. Die folgende Darstellung soll an einem scheinbar banalen Produkt die Wirkungsmechanismen einer Gemeinschaftsinitiative der Europäischen Union untersuchen und darstellen, um unter Umständen ähnliche Entwicklungsansätze in den neuen Mitgliedsländern zu unterstützen.
Abb. 2:
Vergleich der Gurkenproduktion und -verarbeitung mit den Beschäftigungszahlen von 1990 bis 2004
Die Erfolgsgeschichte der „Spreewälder Gurke“
337
1990 Wendezeit: 11.250 t Gurken wurden verarbeitet und saisonal waren ca. 5.300 Menschen in der Gurkenindustrie beschäftigt 1993 3 Jahre danach: 2.000 t wurden noch in der Region verarbeitet und nur noch 720 Menschen waren beschäftigt Warum: − Bauern erhielten für die Rohware Gurken einen zu niedrigen Preis, so dass sich der Anbau nicht mehr lohnte. − Alle großen Gurkenhersteller der alten Bundesrepublik etikettierten Spreewälder Gurken und hatten damit auf dem Markt großen Erfolg. Eigene Betriebe konnten ihre Ware nicht absetzen, weil sie keine Listenplätze in den großen Handelsketten hatten. Reaktion der Spreewald Region: •
Schaffung der regionalen Dachmarke Spreewald und Werbung mit folgendem Slogan: „Produkte, die dieses Logo tragen, garantieren dem Verbraucher, dass der überwiegende Teil der verwendeten Rohstoffe und Zutaten aus der Spreewaldregion stammen und dass die Erzeugnisse in der Spreewaldregion nach strengen Qualitätskriterien hergestellt wurden.“
Ergebnisse: •
Die Produktion stieg von 2.000 t 1993 auf 12.000 t 1996 und die Anzahl der Arbeitskräfte von 720 auf 1.866. Damit wurde bei den geernteten Gurken die Menge zur Wendezeit (11.250 t) überschritten.
•
Im nächsten Schritt wurde 1996 bei der europäischen Kommission der Antrag für das Zertifikat „geschützte geographische Angabe“ (g.g.A) gestellt, welcher 1999 für Gurke und Meerrettich erteilt wurde. Diese g.g.A bedeutet, dass niemand anderes mehr Gurken (und Meerrettich) mit dem Namen Spreewald oder ähnlicher Bezeichnung herstellen darf (heute existieren auch Schutzmaßnahmen für die Warenmuster, die bei den Patentämtern beantragt werden und auch auf das Ausland ausgedehnt werden können). Die Voraussetzungen für diese g.g.A wurden z. T. schon erwähnt. Sie dienen einer für den Verbraucher nachvollziebaren Sicherung und handelsübli-
Dieter Irlbacher
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chen Gewährung von Qualität. Der Vorsatz, dass mindestens 70 % der Gurken und alle verarbeitenden Betriebe tatsächlich aus dem definierten Wirtschaftsraum Spreewald (siehe Abb.) kommen müssen, ist damit auch in den Regeln zur konkreten g.g.A enthalten. Die Überwachung muss den Kriterien der EU entsprechen. Seit der Einführung dieser g.g.A stieg der Umsatz der Spreewaldgurke rasant an und damit auch die Zahl der Arbeitsplätze. Die gesamte Wertschöpfung bleibt somit der Region erhalten. Das war und ist ein großer Erfolg für die gesamte Region. Der Gurkenanbau und die Gurkenverarbeitung haben sich seitdem kontinuierlich aufwärts entwickelt und parallel dazu der gesamte Gemüseanbau. Im Jahr 2004 wurden ca. 39.000 t Gurken in der Region geerntet und verarbeitet und es waren saisonal ca. 4450 Menschen in dieser Branche beschäftigt. Die Gurkenproduktion und -verarbeitung hat sich kontinuierlich weiter erhöht, wenn auch in langsameren Schritten. Im Jahr 2007 betrug die verarbeitete Menge ca. 42.000 t der Arbeitskräfteeinsatz hat sich nicht wesentlich verändert. Der Wirtschaftsraum Spreewald Der Wirtschaftsraum Spreewald erstreckt sich im Norden entlang der DahmeSpreewald-Kreisgrenze von der Grenze des Landkreises Spree-Neiße bis zur nördlichen Gemarkungsgrenze von Münchehofe, den Landkreis DahmeSpreewald durchquerend an den nördlichen Grenzen der Gemarkung Münchehofe, Märkisch-Buchholz, Halbe und Freidorf entlang bis zur westlichen Kreisgrenze des Landkreises Dahme-Spreewald, im Westen ist der Wirtschaftsraum Spreewald begrenzt durch Abschnitte der Grenze des Landkreises DahmeSpreewald und des Landkreises Oberspreewald-Lausitz, von der Gemarkung Freidorf bis zur Gemarkung Bronkow; im Süden verläuft die Grenze entlang der Südgrenzen der Ämter Calau und Altdöbern (Landkreis Oberspreewald-Lausitz) und den Ämtern Drebkau und Neuhausen des Landkreises Spree-Neiße; im Osten wird der Wirtschaftsraum Spreewald begrenzt durch die östliche Grenze der Ämter Neuhausen und Peitz. Die Abgrenzung der Spreewaldregion – auch Wirtschaftsraum Spreewald genannt – wurde durch zahlreiche wissenschaftliche Stellungnahmen bestätigt. Sie erlangte den Status einer Region durch parlamentarische Beschlussfassung/Bestätigung der 3 Landkreise (LDS;OSL;SPN), des Landtages des Landes Brandenburg und der Zustimmung des Bundesjustizministeriums als Antragsteller bei der Europäischen Kommission.
Die Erfolgsgeschichte der „Spreewälder Gurke“
Abb. 3:
339
Die Spreewaldregion hat es geschafft, entsprechend der europäischen Strategie, eine Region zu begrenzen, die geologisch, geographisch, hydrogeographisch, kulturhistorisch (mit Sprache, Brauchtum usw.) und wirtschaftlich einheitlich gewachsen ist
Die wichtigsten Kriterien für Spreewälder Gurken Die Verarbeitung der „Spreewälder Gurken g.g.A.“ erfolgt ausschließlich in den Betrieben, die im Wirtschaftsraum Spreewald ansässig sind. Die verarbeiteten „Spreewälder Gurken g.g.A“ bestehen zu mehr als 70 % aus Gurken, die im WR Spreewald nach kontrolliertem integrierten Anbau gem. der Richtlinien über die Gewährung von Zuwendungen zur Einführung kontrollierter integrierter Produktionsverfahren im Obst- und Gemüseanbau vom 18.5.95 angebaut und geerntet
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Dieter Irlbacher
werden. Als Zutaten – je nach Geschmacksrichtung – sind frische Zutaten wie Zwiebel, Dill, Kräuter sowie Meerrettich zu verwenden. Bei „Spreewälder Gurken g.g.A.“ in Gläsern bis einschließlich 1700 ml Nennvolumen erfolgt die Süßung ausschließlich durch Sacharose. Die Gesamtsäure (berechnet als Essigsäure) aus Gärungsessig im Endprodukt ist kleiner als 1 %. Salzdillgurken (saure Gurken) enthalten lediglich einen Kochsalzgehalt von maximal 3 % im Endprodukt. Die „Spreewälder Gurken g.g.A.“ zeichnen sich durch besondere geschmackliche Merkmale aus, die sie unverwechselbar als aus der Wirtschaftsregion Spreewald stammend, charakterisieren und den guten Ruf bei den Verbrauchern ausmachen.
Rechtsstreitigkeiten Mit der Antragstellung und während der Bearbeitungsphase zur Anerkennung der g.g.A. in der Zeit von 1996 bis 1999 wurde durch die großen SauerkonservenHersteller der alten Bundesländer alles unternommen, um diese Unterschutzstellung zu verhindern. 1998 verklagte die Firma Jütro Konservenfabrik GmbH in Jüterbog die Firma Spreewaldkonserve GmbH Golßen vor dem Landgericht Hamburg wegen der Gebietsabgrenzung Wirtschaftsraum. Das Landgericht fällte das wohl spektakulärste Urteil indem es festlegte, der Spreewald gehe nur von Cottbus bis Lübbenau und untersagte der Spreewaldkonserve Golßen die Herstellung von Spreewälder Gurken. Die Spreewaldkonserve Golßen legte gegen dieses Urteil Revision beim Oberlandesgericht Hamburg ein. Auch der Spreewaldverein e.V. als Antragsteller wurde von den o.g. Firmen verklagt. Jedoch zog man diese Klage später zurück, weil man erkannte, dass sie nicht zum Erfolg führen würde. Man ersann immer neue Listen, um die Unterschutzstellung rückgängig zu machen. Die zuvor im Schulterschluss gemeinsam gegen die Spreewälder kämpfende Gruppierung bestehend aus den Vertretern von 4 Firmen sahen sich eine Firma aus ihren Reihen aus und verklagten sie vor dem Hamburger Landgericht, weil diese gegen die Verordnung vom 18.03.99 verstoße und widerrechtlich weiterhin Gurkenfässchen „nach Spreewälder Art“ produziere und in den Handel bringe. Da das Hamburger Landgericht sich außerstande sah, dieses Verfahren durchzuführen (da es sich um Europäisches Recht handelt), leitet es die Klage mit einem Fragekatalog zum Europäischen Gerichtshof (EUGH) weiter. Anfang des Jahres 2001 gab es eine erste Anhörung vor dem EUGH dazu.
Die Erfolgsgeschichte der „Spreewälder Gurke“
341
Am 06. Dez. 2001 traf der EuGH seine Entscheidung, die wie folgt lautet: Die Prüfung der vorgelegten Fragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 590 / 1999 der Kommission vom 18. März 1999 zur Ergänzung des Anhanges der Verordnung (EG) Nr. 1107 / 96 zur Eintragung geographischer Angaben und Ursprungsbezeichnungen gemäß dem Verfahren nach Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 2081 / 92 beeinträchtigen könnte, soweit mit ihr die Bezeichnung „Spreewälder Gurken“ eingetragen worden ist.
Zur Feststellung des geographischen Gebietes ist festzustellen, das dieses zu beurteilen Teil der Nachprüfung ist, die die zuständigen nationalen Behörden, gegebenenfalls unter der Kontrolle der nationalen Gerichte, durchzuführen haben. Da die von den zuständigen nationalen Behörden vorgenommene Beurteilung nicht offensichtlich falsch ist, durfte die Kommission die Bezeichnung „Spreewälder Gurken“ für das in der geänderten Spezifikation umschriebene geographische Gebiet eintragen. Reaktionen und weitere Schritte Am 15. Jan. 2002 reichte die Firma Jütro Konservenfabrik GmbH & Co. KG beim Landgericht Berlin Klage gegen die BRD (Bundesjustizministerium) betr. der Gebietsabgrenzung „Wirtschaftsraum Spreewald“ ein. Das Landgericht verhandelte die Angelegenheit, stellte aber nur fest, dass es nicht zuständig ist und reichte die Klage an das Verwaltungsgericht Berlin weiter. Im Juni 2003 fand die Revisionsverhandlung aus dem Gerichtsstreit von 1998 vor dem Oberlandesgericht Hamburg statt. Das Urteil wurde im Juli 2003 verkündet und lautet: Auf die Berufung der Spreewaldkonserve Golßen GmbH, wird das Urteil des Landgerichtes Hamburg (der Spreewald geht von Cottbus bis Lübbenau) abgeändert. Die Klage wird abgewiesen, die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreites beider Instanzen, eine Revision wird nicht zugelassen.
Jütro wendete sich daraufhin mit einer Petition an den BGH, um dennoch eine Revision zu erwirken. Der BGH hat mit Beschluss vom 22.04.2004 diese Petition abgelehnt. Damit ist das Urteil des OLG Hamburg rechtskräftig und endgültig. Nach diesen Entscheidungen wurde im Juni 2004 Klage beim Landgericht Hamburg (Geschäfts-Nr.1 312 O 665/04) gegen die Jütro Konservenfabrik GmbH in Jüterbog eingereicht, weil sie weiterhin gegen geltendes Recht „Gurkenfässchen nach Spreewälder Art“ herstellt und in den Handel bringt. Kläger war die Spreewaldkonserve Golßen GmbH.
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Am 23. 11.2004 wurde vom Landgericht Hamburg folgendes Urteil verkündet: „Die Beklagte wird verurteilt bei Androhung eines Ordnungsgeldes von 250.000,-€ oder Ordnungshaft von höchstens zwei Jahre es zu unterlassen o.g. Artikel anzubieten und/oder in den Verkehr zu bringen und/oder anbieten und in Verkehr bringen zu lassen. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den Schaden zu ersetzen, der Ihr entstanden ist oder künftig entstehen wird. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtstreites zu tragen. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 280.000,- € sofort vollstreckbar.“
Um keine Lebensmittelvernichtung durchführen zu müssen und den wirtschaftlichen Schaden für „Jütro“ so gering wie möglich zu halten, schlossen beide Parteien im wesentlichen folgenden Vergleich ab: „Jütro“ zieht die Berufung gegen das Urteil des Landgerichtes vom 23.11.04 zurück. Die Spreewaldkonserve wird gegen „Jütro“ keine Vollstreckung betreiben, soweit es sich um vor den 30.09.2004 hergestellte und mit der Bezeichnung „Spreewälder Art“ etikettierte Gurkenprodukte handelt, die bis zum 31.12.2005 von „Jütro“ in den Verkehr gebracht worden sind. „Jütro“ nimmt das beim Verwaltungsgericht Berlin (Az VG 14 A 32/03) anhängige Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland zurück. „Jütro“ erkennt die nach Verordnung (EG) 2081/92 mit Verordnung (EG) 590/1999 eingetragen Bezeichnung „Spreewälder Gurken“ an und wird diese in keiner Weise mehr angreifen. Mit dem Vergleich wurde der fast 10. Jahre geführte „Gurkenkrieg“ beigelegt! Fazit Mit der Entscheidung des OLG Hamburg und des BGH ist erstmalig in Deutschland eine von der EU anerkannte Wirtschaftsregion in seinen für g.g.A. festgelegten Grenzen durch höchstrichterlicher Entscheidung in Deutschland bestätigt worden. Das positive an diesem Erfolg ist und bleibt, dass sich durch die stabilen wirtschaftliche Beziehungen zwischen Gurkenanbauer und -verarbeiter, der gesamte Gemüseanbau in der Region enorm gesteigert werden konnte (u.a. Kräuter, Kohl, Spargel, Erdbeeren und neuerdings auch Wein), so dass der Spreewald den Ruf die Gemüsekammer Deutschlands zu sein wieder Schritt für Schritt näher kommt. In den Folgejahren wurde in enger Zusammenarbeit mit der Humboldt Universität Berlin dem Fachbereich Agrarmarketing und Agrarbusiness unter Leitung von Prof. Dr. Dr. h.c. Günter Schade Zertifizierungsrichtlinien für eine Vielzahl von Produkten erstellt.
Die Erfolgsgeschichte der „Spreewälder Gurke“
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Vorhandene Zertifizierungskriterien für die Vergabe der regionalen Dachmarke Spreewald A.
Primärproduktion
I II III IV
Pflanzliche Produkte Frisches Obst und Gemüse Tierische Erzeugnisse[1] Fischproduktion 2)
B.
Verarbeitete Erzeugnisse
I II III IV V VI
Verarbeitete pflanzliche Produkte Verarbeitetes Obst und Gemüse Milch und Milcherzeugnisse Fleischerzeugnisse und Wurstwaren Backwaren Getränke
C.
Dienstleistungen
I II III IV V
Handel Gastronomie Imbiss an touristischen Zentren und auf Volksfesten Beherbergung Freizeitangebote
D.
Handwerk und Kunst
I
Kunsthandwerkliche Erzeugnisse
Einzelheiten dazu kann man auf unserer Homepage www.spreewald-erlebnis.de nachlesen. Insgesamt wurden bisher 235 Produkte in 23 Betrieben zertifiziert, die unter der regionalen Dachmarke Spreewald verkauft werden; weitere Produkte werden Schritt für Schritt zertifiziert.
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Folgende Produkte wurden z. T. neu geschaffen und markenrechtlich geschützt: Spreewälder Gurkenbockwurst Spreewälder Gurkenbratwurst Spreewälder Gurkenbulette Spreewälder Meerrettichbulette Spreewälder Gurkensülze (g.g.A läuft zz.) Durch entsprechende Werbung, Verkaufsaktionen in großen Ketten und Messen, Vertrieb von Werbeflyer und betriebseigene Verkaufsbeutel, Herausgabe des Spreewälder Kulinariums, konnte der Umsatz in den einzelnen Betrieben zwischen 5 und 40 % gesteigert werden. Um die Absatzchancen der Betriebe noch weiter zu verbessern, wurde unterstützt mit Mitteln aus der Gemeinschaftsinitiative LEADER+ ein Franchisesystem unter dem geschützten Namen
aufgebaut. Zurzeit gibt es 14 solcher Märkte, die mit Erfolg Spreewälder Produkte anbieten. Davon sind sieben in Berlin und sieben in der Region tätig. Es ist beabsichtigt, weitere Märkte zu installieren und ein Logistikzenter aufzubauen, wo sämtliche Produkte zentral bestellt, abgeholt bzw. geliefert werden können.
UNESCO-Biosphärenreservate: Modellregionen für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung im ländlichen Raum – Beispiele aus dem Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin Eberhard Henne
Mit dem Nationalparkprogramm der DDR-Regierung wurde auch das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin (BR S-C) am 12. September 1990 als Schutzgebiet mit einem Volkskammerbeschluss gesetzlich festgesetzt. Noch im Dezember wurde es von der UNESCO als Teil des Weltnetzes der Biosphärenreservate anerkannt. Das Hauptziel der Biosphärenreservate allgemein formuliert bedeutet, dass sie bei der Nutzung der Landschaft durch den Menschen auf ein ausgewogenes Verhältnis zu natürlichen Kreisläufen zu achten haben. Es sind Landnutzungsmethoden zu entwickeln, die es auch künftigen Generationen erlauben, die Natur noch zu nutzen und trotzdem eine Vielfalt von Tieren und Pflanzen zu erleben. Nicht die Beherrschung der Natur, sondern neue Inhalte für das Verhältnis zwischen Mensch und Natur sind das Gebot der Zeit und damit eine Richtschnur des Handelns. Die deutschen UNESCO-Biosphärenreservate werden anhand von Kriterien durch das deutsche MaB(Man and Biosphere)-Nationalkomitee anerkannt bzw. alle zehn Jahre evaluiert. Mit diesen Kriterien werden nicht nur Handlungsrichtlinien für die Arbeitsweise in Deutschland und auch international vergeben, sondern auch bei den Evaluierungen überprüft und hinterfragt. Das BR S-C hat gerade auf dem Gebiet der nachhaltigen Regionalentwicklung seine Evaluierung durch das deutsche MaB-Nationalkomitee mit sehr gutem Erfolg bestanden und kann auf einige gute Ergebnisse verweisen. In den Kriterien für die Anerkennung und Überprüfung von Biosphärenreservaten der UNESCO in Deutschland heißt es: „Zu den Aufgaben eines Biosphärenreservates gehört die Erschließung regionaler Entwicklungspotenziale und die Initiierung zukunftsfähiger Projekte.“ In den Biosphärenreservaten sollen neue Ansätze erprobt und etabliert werden, um den Schutz des Naturhaushaltes und die Entwicklung der Landschaft als Lebens-, Wirtschafts- und Erholungsraum miteinander zu verbinden. (Deutsches Nationalkomitee für das UNESCOProgramm „Der Mensch und die Biosphäre“ (MaB) 2007).
Eberhard Henne
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Aus dem MaB-Programm ergeben sich drei grundsätzliche Aufgaben für Biosphärenreservate: − Schutz der Landschaften, der Ökosysteme, der Arten und der genetischen Vielfalt − Entwicklung, um wirtschaftliche Regionalentwicklung zu fördern, die kulturell, sozial und ökologisch nachhaltig ist − Unterstützung von Forschung, Umweltbeobachtung, Bildung und Informationsaustausch Die einzelnen Landnutzungsarten sind im BR S-C wie folgt verteilt (s. Abb. 1): 65.298 ha Wälder und Forsten 50 % der Fläche des Biosphärenreservates 50.326 ha Ackerland und Grünland 39 % der Fläche des Biosphärenreservates 7.620 ha Gewässer 6 % der Fläche des Biosphärenreservates 4.848 ha Siedlungen/Infrastruktur 5 % der Fläche des Biosphärenreservates
Landnutzungsarten
Ante il der Landnutzungsarten im Biosphärenrese rvat Schorfheide-Chorin (ha) 70.000
65.298
60.000 50.326
50.000 ha
40.000 30.000 20.000 7.620
10.000
3.592
1.256
Siedlungen
Verkehr
0 W älder/Forsten
Äcker/W iesen
Seen
UNESCO- Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin, Dr. Eberhard 50 % 39 % 6% 4 % Henne Abb. 1:
1%
Landnutzungsarten
Bei den langjährigen Nutzungsrhythmen in der Forstwirtschaft ist die naturgemäße Bewirtschaftung der Wälder die neue Handlungsrichtlinie für eine nachhaltige Nationale Naturlandschaften | UNESCO-Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin, Dr. Eberhard Henne Nutzung der Wälder. Im BR S-C werden die Wälder zu großen Teilen nach dem stark naturschutzorientierten Zertifizierungsverfahren FSC (Forest stewardship council) bonitiert und bewirtschaftet. Auf eine regionale Verarbeitung des Holzes in Sägewerken der Region wird besonderer Wert gelegt. Verarbeitende Unternehmen in der Region fertigen Holzhäuser aus einheimischem zertifiziertem Holz bzw. ortsansässige Architekten berücksichtigen und empfehlen bei der Planung
Modellregion Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin
347
solche Materialien. Ein Hauptarbeitsfeld des BR S-C in den letzten 15 Jahren war die Entwicklung von nachhaltigen Nutzungsmethoden und naturverträglichen Konzepten für die landwirtschaftlichen Unternehmen. Ein gutes Beispiel für den Erfolg dieser Bemühungen ist die Entwicklung des ökologischen Landbaus im Gebiet (siehe Abb. Folie 6). Heute werden über 28 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Biosphärenreservat ökologisch bewirtschaftet und fast 90 % des Grünlandes extensiv genutzt. Ein Vergleich mit den Durchschnittswerten in der gesamten Bundesrepublik (4,5 %) und in Brandenburg (9,7 %) zeigt, dass hier die Arbeit der Biosphärenreservatsverwaltung einen deutlichen Einfluss hatte (s. Abb. 2). Vergleich Ökolandbau (Quellen: Naturmagazin 1/2005, LUA-Statistik 12/2005) 28,40%
30% 25% 20% 15% 9,70% 10% 4,50% 5% 0% BRD
Brandenburg
Biosphärenreservat SchorfheideChorin
UNESCO- Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin, Dr. Eberhard Henne Abb. 2:
Vergleich des Flächenanteils für den Öko-Landbau
Aber neben der Umstellung in Richtung ökologischer Landwirtschaft auf der FläNaturlandschaften | UNESCO-Biosphärenreservatfür Schorfheide-Chorin, Dr. Eberhard Henne und Vermarktung von ProcheNationale waren auch Möglichkeiten die Verarbeitung dukten aus der Landwirtschaft zu schaffen. Sicherlich hatten einzelne landwirtschaftliche Unternehmen schon Mitte der 90er Jahre eigene Vermarktungsformen aufgebaut, aber in der Regel waren das weniger fundierte und kaum mit anderen Anbietern vernetzte Vorhaben. Deshalb wurde unter Beteiligung von Vermarktungsexperten und Landwirten als ein Beispielsvorhaben im Rahmen eines BMBF- (Bundesforschungsministerium) DBU- (Deutsche Bundesstiftung Umwelt)- Forschungsprojektes die Regionalmarke des BR S-C entwickelt. Geprägt durch das Logo des Schutzgebietes entstand so eine patentamtlich geschützte Marke für Produkte und Dienstleistungen, die auf den rechtlichen Grundlagen
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des BRs basierte und mit branchenspezifischen Kriterien die Qualität der Angebote klar definierte. Mit der Vergabe an 20 Unternehmen konnte 1998 die Arbeit mit der Regionalmarke beginnen. Die regionale Herkunft war vorerst nur auf das Schutzgebiet begrenzt. Bei der Weiterentwicklung des Netzwerkes der Zeichennutzer bestand schon bald der Wunsch von Unternehmen außerhalb des BR. ebenfalls die Regionalmarke nutzen zu können. Durch die finanziellen Möglichkeiten, die das Projekt „Regionen aktiv“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums bot, konnte eine Form gefunden werden die eine Erweiterung der Region sicherstellte. Aus der Regionalmarke wurde das „Prüfzeichen des BR S-C“, unter Beibehaltung bzw. Weiterentwicklung des Netzwerkes und seines qualitativen Hintergrundes. Neben der flächenhaften Ausdehnung wurde auch die Palette der Branchen erweitert, so dass bis heute 91 Unternehmen aus elf Bereichen in dem Netzwerk des Prüfzeichens zusammenarbeiten (s. Abb. 3 und 4).
2007 2006 2004 2002 2000 1998 Anzahl der Unternehmen Abb. 3:
Quantitative Entwicklung der Prüfzeichennutzer
Modellregion Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin
8
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2 Gastronomie und Beherbergung
2
Imker
2
28 Lebensmittelverarbeitung
4
Landwirtschaft
4 Handel Kunsthandwerk
10
Gartenbau Wild
13 8
Touristische Freizeitangebote
17
Abb. 4:
Bau
Fischrei
Bereiche für die Vergabe des Prüfzeichens und Anzahl der Prüfzeichen nach Vergabebereichen (Stand: Sept. 2007)
Mit dem Einsatz des Prüfzeichens werden die aufgeführten wirtschaftlichen Ziele verfolgt: − Erhöhung des Gewinns für die Unternehmen − Herausbildung von regionalen Wirtschaftskreisläufen − Erhaltung und Förderung einer umweltgerechten Landnutzung − Förderung des ökologischen Landbaus − Produktion gesunder Nahrungsmittel − Steigerung der Verarbeitung landwirtschaftlicher Primärprodukte in der Region Durch den Einsatz des Prüfzeichens verfolgen sowohl die Verwaltung des BRs als auch die Prüfzeichennutzer folgende politische Ziele gemeinsam: − − −
Förderung der Identifikation von Landnutzern, Produzenten und Dienstleistern mit der Region und den Zielen des BR SC Förderung der Zusammenarbeit auf regionaler Ebene durch den Aufbau von Wirtschaftskreisläufen der Akteure untereinander Steigerung des Bekanntheitsgrades des BR S-C und der Region Barnim/ Uckermark
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Eberhard Henne
Neben den theoretischen Vorarbeiten durch die BR-Verwaltung war es Aufgabe des Regionalmanagements der Regionalen Partnerschaft Barnim-Uckermark, die Bildung einer wirtschaftlichen Struktur für das Regionalvermarktungsnetzwerk voranzutreiben. Diese Aufgabe war mit der Gründung der Biosphärenlandmarke Schorfheide-Chorin GmbH zu großen Teilen erfüllt. Durch die Arbeit der GmbH, gesteuert durch ein Kernteam das vom BR S-C unterstützt wird, konnten zusammen mit mehreren Unternehmen regionale Wertschöpfungsketten (WSK) aufgebaut werden. Ein entsprechendes logistisches System, eine durchgängige Kühlkette und die kurzen Transportwege tragen zur besseren Vernetzung der einzelnen Prüfzeichennutzer bei und ermöglichen bei der Bündelung vieler Produktquellen eine effiziente Belieferung von Endverbrauchern, Gastronomie, Läden etc. mit frischen regionalen Produkten. In der praktischen Anwendung ist heute das Prüfzeichen an den Untenehmen, auf Lieferfahrzeugen, an Läden und bei der Etikettierung zu sehen. Es ist nicht nur ein Begriff in der Region des BR SC geworden, sondern darüber hinaus in ganz Brandenburg und Berlin bekannt. Die Integration einiger Produkte von Prüfzeichennutzern des BR S-C in die Regionalmarke Berlin-Brandenburg „Von Hier“ und der verstärkte Absatz in Berliner Märkten wird diesen Effekt in Zukunft noch verstärken. Auch Aktionen zwischen der Regionalen Partnerschaft Barnim-Uckermark, den Fremdenverkehrsverbänden der Uckermark und des Barnim mit der regionalen Gastronomie sollen regionale Produkte mit dem Prüfzeichen in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Unter dem Motto „Ma(h)l Zeit für die Sinne“ im Landkreis Uckermark und „BarniMundet“ im Landkreis Barnim werden renommierte Restaurant-Abende angeboten, an denen aus regionalen Produkten durch Spitzenköche hergestellte spezielle Speisen angeboten werden. Auch der Auftritt einzelner Anbieter oder der Regionalen Partnerschaft Barnim-Uckermark mit Prüfzeichenprodukten und -angeboten auf Messen tragen wesentlich zum Bekanntheitsgrad der Region und seiner Initiativen bei. Aber auch die Erfahrungen die solche Messeauftritte für die Arbeit vor Ort und die Verkaufsstrategien in der Region einbringen, sind wichtige Erkenntniszugewinne. So konnte auf der Slow-Food-Messe in Stuttgart für den medikamenten- und pestizidrückstandsfreien, geprüften Honig mit Prüfzeichen bei der hohen Kaufkraft in Baden-Württemberg ein wesentlich höherer Preis erzielt und neue Absatzmärkte erschlossen werden. (siehe Abb. 5):
Modellregion Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin
Abb. 5:
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Slow-Food-Messe
Die vielen Pressemeldungen und Berichte in den Medien zur Prüfzeichenvergabe oder Veranstaltungen mit Prüfzeichennutzern haben einen guten Werbeeffekt für das Regionalvermarktungssystem bewirkt und auch die Unterstützung durch Sponsoren ermöglicht. Auch die ökonomischen Eckdaten der zentralen Wertschöpfungskette (WSK) zeigen, dass die Arbeiten mit dem Prüfzeichen im Regionalvermarktungssystem des BR S-C eine Erfolgsgeschichte ist. Nicht nur die Gewinne der beteiligten Unternehmen steigen ständig, auch neue Arbeitsplätze entstehen im ländlichen Raum (s. Abb. 6).
Eberhard Henne
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Abb.6:
Ökonomische Kennzahlen der Wertschöpfungskette
Das Netzwerk des Regionalvermarktungssystems hat nicht nur Anerkennung im BR SC gefunden, auch in anderen Biosphärenreservaten in Deutschland wurde es übernommen (BR Schalsee) und selbst in ländlichen Regionen NordrheinWestfalens („Original Senne“) wird es verwendet.
Literatur Deutsches Nationalkomitee für das UNESCO-Programm „Der Mensch und die Biosphäre“ (MaB) 2007, Kriterien für die Anerkennung und Überprüfung von Biosphärenreservaten der UNESCO in Deutschland (Brandenburgische Universitätsdruckerei Potsdam-Golm)
Ländliche Baukultur im Prignitzer Elbetal Silke Last
Einleitung Die Elbe, einer der größten Flüsse Deutschlands: mal Lebensader – mal vernichtende Flut, mal Grenzfluss – mal Mittelpunkt einer Region. Seit Jahrtausenden leben im Prignitzer Elbetal Menschen. Ob Germanen, Slawen, Deutsche oder Niederländer, sie alle hinterließen ihre Spuren. Wir finden sie als Orts- und Flurnamen, treffen auf eine außergewöhnliche Fülle an Siedlungsformen, entdecken in fast jedem Dorf eine Kirche und unterscheiden Haus- und Hofformen. Noch immer werden unsere Dörfer im Wesentlichen durch ihre Bauernhäuser und Bauerngehöfte geprägt, auch wenn bei weitem nicht mehr alle ihre landwirtschaftliche Funktion bewahrt haben. Das Dorf war stets „Arbeits- und Wohnort“. Durch die gesellschaftlichen Umbrüche jedoch hat die Funktion als „Arbeitsort“ stetig an Bedeutung verloren. Und so wird die Erhaltung historischer Strukturen durch die Umnutzung wertvoller und prägender Bausubstanz und die Sanierung alter Häuser immer wichtiger. Der ländliche Raum besticht durch eine Fülle an Vielfalt. Dörfer, die lebendig sind, Landschaften, die sich erleben lassen, schaffen Bindungen und Entwicklung. Der nachstehende Beitrag setzt sich mit der „Ländlichen Baukultur im Prignitzer Elbetal“ auseinander und nähert sich dem Thema aus siedlungsgeschichtlicher, bauhistorischer und architektonischer Sicht.
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Siedlungsgeschichte „Daher stand geschrieben: Die von gestern können nicht wissen, was heute geschieht, doch die von heute wissen, was gestern geschah, morgen aber werden die von heute die von gestern sein. Und weiter heißt es: Die von heute leben im Gestern, wenn aber die von morgen das Heute vergessen, wird es für alle ein Unglück sein.“ (Tschingis Aitmatow in: Die Richtstatt,1988,S.180)
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Ursprünge und Beginn Erste Spuren menschlicher Besiedlung im Prignitzer Elbetal lassen sich über 10.000 Jahre zurückverfolgen. Ein Fundkomplex der Ahrensburger Kultur bei Hinzdorf (datiert auf 9.000 bis 8.000 v. Chr.) zeugt davon, dass unsere Vorfahren damals unter tundrenartigen Vegetationsverhältnissen als Rentierjäger ums Überleben kämpften. Später (6.500 bis 3.500 v. Chr.) verdichtete sich die Zahl der Fundplätze. Weniger als 10 Personen lebten damals auf 100 Quadratkilometern. Flüsse, Sümpfe und nahezu undurchdringliche Wälder bedeckten das Land. Nahrung lieferte die Jagd auf Rehe, Elche und Wildschweine und der Fischfang. Die nun schon über längere Zeiträume genutzten Wohnplätze lagen in der Nähe von Gewässern. Fundplätze gibt es um Quitzöbel, Lüben und Kletzke. Eine grundlegende Änderung der Wirtschaftsweise führte in den Jahren 3.200 bis 2.300 v. Chr. zur Durchsetzung der Sesshaftigkeit. Für die Toten ihrer Sippe errichteten die Menschen der Steinzeit gewaltige Grabstätten. Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Zeit ist das Hünengrab in Mellen. Die Siedlungen der Jungbronzezeit (1.200 bis 600 v. Chr.) hatten die Form von Haufendörfern. Dieses belegen Grabungen in Viesecke und Perleberg. Das Perleberger Bronzezeitdorf war ein hufeisenförmig wirkendes Haufendorf, in dessen Mitte auf einem freien Platz das größte Haus der Siedlung stand. Vermutlich lebte hier, um seiner Machtposition Nachdruck zu verleihen, der Anführer. In der ausgehenden Bronzezeit entstanden bereits die ersten befestigten Siedlungen, die sogenannten Burgwälle. Im 1. und 2. Jahrhundert n.Chr. war die Prignitz dicht besiedelt. Doch Ende des 4. Jahrhunderts wanderten große Teile der germanischen Bevölkerung nach Westen und Süden. Zu einer vollständigen Entleerung des Gebietes kam es durch die Völkerwanderung aber nicht. Kleine germanische Siedlungsinseln blieben wohl bestehen und waren seit Mitte des 6. Jahrhunderts Ziel einwandernder slawischer Stammesgruppen. So trafen sicher auch in der Prignitz Slawen und Germanen aufeinander und nach und nach vermischten sich die Siedlungsgemeinschaften miteinander. Besiedlung in slawischer Zeit „Jeder Stamm hatte in der Regel seinen eigenen Häuptling, der bald unabhängig herrschte, bald mit anderen Häuptlingen einem gemeinschaftlichen Oberherren unterworfen war.“ (Riedel,1838, S.3)
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In zwei Einwanderungsströmen zogen ab dem 6. Jahrhundert mehrere slawische Stämme in die Prignitz. Ihre Stammesgebiete bestanden aus einzelnen Siedlungskammern, ihre Mittelpunkte bildeten Burgwälle. In der Westprignitz können mit Sicherheit 11 oder 12 Burgwälle den Slawen zugeordnet werden. Die Lage, insbesondere an der Elb-Havellinie und im Löcknitztal, erklärt sich aus der Tatsache, dass die Slawen ihre Burgwälle in den Niederungen errichteten. Burgwälle traten in der Form von Siedlungen, Fliehburgen und Tempelanlagen auf. Die Siedlungen waren mittels Wall und Graben befestigt. Nachweisbar sind solche Siedlungen z.B. bei Legde, Garsedow, Lenzersilge, Mankmuß, Rühstädt „Röwerberg“ oder Lenzen „Kapünchenort“. Fliehburgen wurden nur im Notfall errichtet. Vermutlich gab es eine Fliehburg in der Forst bei Jackel unter der Bezeichnung „Alt Jochens Stall“, wahrscheinlicher war eine Fliehburg auf der Feldmark Kuhblank mit der Flurbezeichnung „die Jürk“ oder auch „Horst“. Die für kultische Zwecke umschlossene Tempelanlage ist in der Westprignitz nicht nachgewiesen. Der Sage nach könnte es eine solche Anlage auf dem Marienberg bei Lenzen gegeben haben, wahrscheinlicher ist aber eine Anlage in der Elbniederung auf einer Erhebung, die den Flurnamen „die Kuhblank“ trägt. Ein weiteres slawisches Heiligtum könnte auf dem Gelände des heutigen Havelberger Domes gestanden haben. Die bevorzugten slawischen Siedlungsformen waren der Weiler, das Gassen- und Zeilendorf und die Haufensiedlung mit Blockflur. Noch immer war das Land größtenteils sumpfig und unwegsam. Die Slawen betrieben Ackerbau, lebten vom Fischfang, züchteten Bienen und ihre Handelsbeziehungen reichten bis in die damaligen Welthandelszentren des Orients. Besiedlung in deutscher Zeit „Seitdem diese eingewanderten slavischen Völkerschaften mit ihren westlichen Nachbarn, den Sachsen, zuerst in Berührung getreten waren, unterhielten sie mit diesen einen fast ununterbrochenen Grenzkrieg, bei welchem es jedoch anfänglich von beiden Seiten mehr auf Raub und Plünderung und Befriedigung beiderseitiger Fehdelust, als auf Unterwerfung und auf Begründung dauernder Oberherrschaft abgesehen war.“ (Riedel,1838,S.3)
Im Jahre 795 unterwarf Karl der Große mit Hilfe der Sachsen und Obodriten die Wilzen und leitete damit die Ostexpansion ein. Unter den fränkischen Herrschern bestand für die Slawen zwar ein tributäres Abhängigkeitsverhältnis, politisch jedoch blieben sie unabhängig. Das änderte sich allerdings unter den sächsischen Königen. Im Winter 928/29 eroberte Heinrich I. den slawischen Fürstensitz „Brennaburg“ (Brandenburg). Noch im gleichen Jahr wurde in der „Schlacht um Lenzen“ (4.9.929) das
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herbeigeeilte große Slawenheer vernichtend geschlagen. Zur Sicherung des Gebietes entstanden deutsche Befestigungen (Burgwardien), die in der Prignitz für Havelberg, Putlitz und Wittstock nachweisbar sind. Über 50 Jahre später, 983, schlossen sich die wilzischen Stämme mit den Obodriten zum Lutizenbund zusammen und überfielen die Bischofsburg Havelberg. Dieser Überfall war die Einleitung des „großen Wendenaufstandes“, der zur Niederschlagung der deutschen Herrschaft und zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der slawischen Stämme führte. „Die Dome von Brandenburg und Havelberg wurden zerstört, das Bild des Wendengottes Triglaff sah vom Harlunger in Brandenburg her 150 Jahre ins Land hinein.“ (Glatz: zitiert nach Heckmann,1988,S.9f.)
Im Jahre 1135 belehnte Kaiser Lothar III. den Grafen Albrecht den Bären mit der Nordmark. Albrecht unternahm mehrere Feldzüge, die Unterwerfung der rebellischen ostelbischen Slawenvölker gelang ihm aber erst 1147. In seinem Kreuzheer marschierte auch der päpstliche Legat Bischof Anselm von Havelberg, der sein Bistum bis dahin noch nie betreten hatte. Bald darauf siedelten die neuen Herren die slawischen Gebiete auf und teilten sie in deutsche Herrschaftsbezirke (terrae). Die Ursprünge der terra-Gliederung sind nicht bekannt. Für die Westprignitz können keine Zusammenhänge mit alten Stammesgliederungen herangezogen werden, denn die Grenze zwischen den Bezirken Lenzen und Perleberg verläuft entlang der Löcknitz, die ein Zentrum des slawischen Stammesgebietes war. Nur wenige Städte der Prignitz sind aus „wilder Wurzel“ entstanden (Meyenburg, Freyenstein, Putlitz). Alle anderen Städte entwickelten sich in Anlehnung an die slawischen Befestigungen und setzten damit deren bereits vorhandene zentralörtliche Funktion fort. Ähnlich verhält es sich bei der Betrachtung des Verhältnisses der frühmittelalterlichen-slawischen Siedlungen zu den hochmittelalterlichen Siedlungen im ländlichen Raum. Im Jahre 1150 verschaffte Bischof Anselm seinem Bistum einen Schutzbrief von König Konrad. „In der Urkunde heißt es, das Land sei durch die ständigen Einfälle der Heiden derart verwüstet, dass nur noch wenige Menschen darin wohnten. Der König erteile deshalb dem Bischof das Recht, Kolonisten beliebiger Herkunft herbeizuziehen und anzusiedeln.“ (Schultze,1989, S. 72) Markgraf Albrecht und Bischof Anselm von Havelberg verfolgten eine kluge Siedlungspolitik, die zu einem baldigen wirtschaftlichen Aufschwung führte. Unter den Askaniern (1134 bis 1320) verlief in der Mark Brandenburg eine lebhafte Kolonisierung: etwa 2.500 Dörfer wurden gegründet oder erneuert.
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„Naer Oestland willen wy ryden, Naer Oestland willen wy mee (= aufbrechen), All over die groene heiden, Frisch over die heiden, Daer isser en betere stee.“ Niederländisches Volkslied, stammt wahrscheinlich aus der Mitte des 12. Jahrhunderts (Bohm,1937, S.95)
Möglichst schnell sollte das Land in eine deutsche christliche Provinz mit Kirchen, Klöstern, Burgen, Städten und Dörfern umgestaltet werden. Dabei war nicht beabsichtigt, die slawischen Bewohner zu verdrängen, vielmehr sollten die deutschen und niederländischen Kolonisten den Slawen als Vorbild dienen. Dass auch heute noch fast jedes Dorf in der Prignitz eine Kirche besitzt, ist auf eben diese Siedlungs- und Missionspolitik zurückzuführen. Aufgrund des hohen Anteils slawischer Ortsnamen ist eine Beteiligung von Slawen am Landesausbau in der Prignitz in Betracht zu ziehen. Viele Siedler stammten aus den Herkunftsgebieten der neuen Herren: aus der Altmark, dem Magdeburgischen und aus dem Harzvorland. Darüber hinaus kamen auch Siedler vom Rhein, aus Flandern, Westfalen, Friesland und Franken. Ob Germanen, Slawen oder Deutsche: sie hinterließen ihre Spuren im Raum, brachten ihre Sprache mit, ihre Lebensweise, ihre Götter, vergaben Namen, bauten Siedlungen, vernichteten Unliebsames, übernahmen Nützliches, Schönes oder Heiliges und schufen Neues. Vielem begegnen wir noch heute – manchem unbewusst, anderem bewusst.
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Siedlungsformen
Die bewegte Geschichte der Prignitz hat es mit sich gebracht, dass wir heute auf eine Region blicken können, die wie kaum eine andere Region in Deutschland eine Fülle von Siedlungsformen aufweist. Diesen Formenreichtum mittels planerischer Konzepte langfristig zu erhalten, ist Aufgabe und Verpflichtung. Siedlungsformen definieren sich aus der Grundrissform und der Bebauungsdichte. Charakteristisch für die Westprignitz sind neben den vielen Runddörfern auch Straßen- und die Angerdörfer. Seltener sind Haufendörfer, Gassendörfer, Zeilendörfer und Marschhufendörfer. Letztere finden sich ausschließlich in der Lenzer Wische und tragen die Handschrift flämischer Siedler. Rundlinge treten im gesamten Gebiet des mittelalterlichen deutschslawischen Grenzsaumes auf. Die Dorfform lässt sich jedoch weder den Deutschen noch den Slawen eindeutig zuordnen. Zu den in frühdeutscher Zeit von den
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Slawen bevorzugten Siedlungsformen zählt die einreihige Zeile (Zeilendorf), aus der sich vielfach die Gasse (Gassendorf) entwickelte. Dies lässt sich aus der Verteilung der verschiedenen Besitzklassen innerhalb der Dörfer interpretieren. Häufig nahmen die Bauern oder Hüfner den einen Flügel des Dorfes ein, dessen Inneres sich rund gestaltete. Den anderen, oft unvollkommenen Flügel bewohnten die Kossäten und Büdner. Für die Slawen, die vorrangig Viehzucht betrieben, war die Zeile die günstigste Siedlungsform. Sie lag immer am Rand der Niederung, so dass ihre Hinterhöfe und Gärten weit in die Niederung hineinragen konnten. Diese oftmals eichenbestandenen Grashöfe waren als Koppeln für das Vieh unentbehrlich und zugleich der wertvollste Weidebezirk in der ganzen Feldmark. Durch die Aneinanderreihung der Höfe entlang der Niederung fand jeder Bauer die gleichen Bedingungen und er konnte seinem Hof einen beliebig langen Grashof angliedern. Die Entwicklung der Dörfer zu den geschlossenen Formen des Platzdorfes, des Rundlings oder der Sackgasse zeigt, dass die Bauern an der Niederung bleiben wollten. Dicht drängten sich die Höfe zusammen. Ställe, Scheunen und Häuser entstanden dort, wo sie den wertvollen Grashof möglichst nicht verkleinerten. Die schlechtesten Hofplätze, auf der Höhe, blieben den jüngeren Bevölkerungsschichten. Meistens waren das Kossäten und Büdner. In Kuhblank beispielsweise blieb die Einteilung der Höfe über viele Jahrhunderte gleich. Die Höfe Nr. 1 bis 10 gehörten den Hüfnern bzw. Bauern, die Höfe Nr. 11 bis 13 den Kossäten. Die Nummerierung der Hofstellen beginnt noch heute in der Mitte des Runddorfes, mit der Hofstelle des ehemaligen Dorfschulzen (Nr. 1). Zu den von den Slawen in frühdeutscher Zeit bevorzugt angelegten Dorfformen gehören neben dem Zeilen- und Gassendorf auch der Weiler, das Haufendorf und das enge Straßendorf. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass diese Dorfformen bereits ein Ergebnis westlicher Einflüsse sind und dass in vordeutscher Zeit der Weiler die größte Rolle spielte. Rundlinge Die bekannteste Form der Rundplatzdörfer ist der Rundling. Platzsiedlungen kennzeichnen einen zentralen Platz, der sich in Allgemeinbesitz befindet und damit anschaulich das Gemeinschaftselement dieser Siedlungsform belegt. Die Hofstellen gruppieren sich in gekrümmter Gehöftreihung um einen runden, hufeisenförmigen oder ovalen Platz, mit ursprünglich nur einer Zufahrtsstraße. Beispiele: Abbendorf, Ferbitz, Glöwen, Grube, Hinzdorf, Klein Lüben, Kuhblank, Lanz, Lennewitz, Quitzöbel, Roddan, Weisen, Wentdorf, Alt-Groß Breese, Alt-Groß Lüben, Alt-Klein Breese, Alt-Kuhblank
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Zeilendörfer Zeilendörfer sind kleine, einreihige Siedlungen. Sie besitzen keinen Dorfinnenraum. Charakteristisch ist die dichte Anordnung der Hofstellen, die bis zu einer Bauweise mit geschlossenen Fassaden führen kann. Formal lassen sich Zeilendörfer als in der Längsrichtung halbierte Anger- oder Straßendörfer bezeichnen. Beispiele: Garsedow, Jagel, Lenzersilge, Seedorf Haufendörfer Haufendörfer haben einen unregelmäßigen, flächigen Grundriss. Die Straßenführung kann sternförmig, verschlungen unregelmäßig, sackgassenförmig oder anderer Gestalt sein. Diese Siedlungsform tritt in der Prignitz eher selten auf. Der Name des Haufendorfes Cumlosen ist von niederländischen Siedlern vergeben worden und weist Kulitvierungsmaßnahmen an der Elbe durch Entwässerungsmaßnahmen hin. Breese ist ein neues Haufendorf. Die Siedlung wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts beträchtlich. Damals entstanden viele Häuser für die Arbeiter und Angestellten des nahegelegenen SINGER-Nähmaschinenwerkes in Wittenberge. Beispiele: Cumlosen, Breese Angerdörfer Um und nach 1200 entstanden viele Anger- und Straßendörfer. Sie sind vor allem den deutschen Siedlern zuzuordnen. Angerdörfer sind planmäßige Siedlungen, deren Gehöfte einen relativ großen Platz, den Anger, umschließen. Er bildet meistens ein runde, ovale, rechteckige oder dreieckige Straßenerweiterung mit einer linearen Abgrenzung zu den Hofflächen. Der Anger besitzt i.d.R. zwei Zugänge, die in ihrer Anordnung zueinander korrespondieren. Häufig findet sich auf dem Anger der Gemeindeteich, das Spritzenhaus, die Schule oder die Kirche. Beispiele: Bentwisch, Schilde Straßendörfer Straßendörfer zeigen eine regelmäßige Bebauung eines innerörtlichen Weges, an dem die Gehöfte zweizeilig, wie um eine Achse aufgereiht sind. Der Begriff „Straße“ meint bei den Straßendörfern nicht unbedingt einen überörtlichen Verkehrsweg, sondern eher eine mehr oder weniger breite Gasse, auf die sich der überwiegende Teil der Hofstellen orientiert. Je nach Breite der „Straße“ lassen sich enge Straßendörfer und breite Straßendörfer unterscheiden.
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Beispiele: Enge Straßendörfer: Gandow, Mankmuß, Motrich Breite Straßendörfer: Groß Breese, Mellen Gassen- und Sackgassendörfer Gassen- oder Wegedörfer besitzen die Merkmale von Straßendörfern, ihre zentrale „Straße“ ist jedoch schmal und kurz. Vielfach entwickelten sich Gassendörfer aus einreihigen Zeilendörfern, die sich an günstigen geografischen Bedingungen orientierten, z.B. dem Rand einer Niederung. Das Sackgassendorf ist eine Sonderform des Straßendorfes. Das Wegenetz endet blind in einer Gasse. Beispiele: Bälow, Bernheide, Kletzke, Groß Lüben, Moor Marschhufendörfer Marschhufendörfer gehören wie die Waldhufendörfer oder die Moorhufendörfer zu den Reihendörfern. Dabei handelt es sich um lineare Siedlungen mit lockerer Reihung der Hofstellen mit hofanschließender Streifenflur. Die Gehöftreihung orientiert sich direkt oder parallel an einer natürlichen oder künstlichen Linie. Das können Deich, Dämme, Kanäle oder Wege sein. Die Marschhufendörfer der Lenzer Wische sind den flämischen Siedlern zuzuordnen. Dieses Gebiet unterscheidet sich auch heute noch durch seine Dorf-, Flur- und Hausformen von der übrigen Prignitz. Beispiele: Baarz, Besandten, Kietz, Mödlich, Unbesandten, Wootz Einzelhöfe, Doppelhöfe, Weiler Einzelhöfe bestehen aus einer Haus- oder Hofstätte, die als eine isolierte Wohnund Wirtschaftseinheit auftritt. Neben landwirtschaftlichen Hofstellen handelt es sich häufig um Forsthäuser, Gasthäuser, Mühlen oder Bahnhöfe. Beispiele: Forsthaus Jackel, Sandkrug Eine Übergangsform zum Weiler bildet der Doppelhof, der häufig durch Teilung entstanden ist. Als Weiler werden kleine Gruppensiedlungen zwischen drei und zwanzig Haus- und Hofstätten bezeichnet, die keine eigene Verwaltung oder sonstige Versorgungseinrichtungen besitzen. Beispiele: Lütjenheide, Schadebeuster, Scharleuk
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Haus- und Gehöftformen
Viele ländliche Siedlungen werden im wesentlichen noch immer durch ihre Bauernhäuser und Bauerngehöfte geprägt, auch wenn längst nicht mehr alle ihre landwirtschaftliche Funktion bewahrt haben. Die Untersuchung der unterschiedlichen Formengruppen und Gehöfte, verbunden mit ihrer regionalen Verbreitung, gewann in letzter Zeit verstärkt an Bedeutung. Erhaltung und Dokumentation wurden immer wichtiger, da die alten Formen und ihre Substanz immer schneller verschwanden. Die heutige Forschung geht davon aus, bäuerliche Anwesen sind „durch immer erneute Einpassung wirtschaftlicher und geistiger Ziele in naturgegebene Möglichkeiten entwickelt worden. Zahlreiche ökologische, soziologische, ökonomische, kulturelle und historische Faktoren wirken bei einer solchen Evolution zusammen“ (Ellenberg, zitiert nach Henkel, 1993, S. 183). Wie viele Bauernhaustypen sich unterscheiden lassen, hängt vom Grad der Differenzierung ab. So unterscheidet Schröder beispielsweise 16 Formentypen, Gebhard weist für Mitteleuropa insgesamt 42 Einzelhaustypen aus. Allgemein üblich ist die Einteilung in Einhaus und Gehöft. Bei einem Einhaus sind Wohn-, Stall- und Speicherfunktion unter einem Dach zusammengefasst. Ein Gehöft besteht aus mehreren Gebäuden mit entsprechend getrennten Funktionen, z.B. Wohnhaus, Stall, Scheune, Backhaus. Hausformen Durch das Prignitzer Elbetal verläuft eine Haustypengrenze. Entsprechend ihrer Form lassen sich Häuser in längsgeteilte und quergeteilte Typen unterteilen. In den Marschhufendörfern der Lenzer Wische findet sich noch heute das längsgeteilte Einhaus. Der wichtigste Vertreter dieses Grundtyps ist das HallenEinhaus, es wird vielfach auch als „Niederdeutsches Hallenhaus“ bezeichnet, ältere Bezeichnung: „Niedersachsenhaus“. Im Umfeld von Wittenberge und Bad Wilsnack hingegen hat sich das mitteldeutsche Ernhaus als Vertreter der Gruppe der quergeteilten Haustypen durchgesetzt. Es handelt sich um einen Langbau, bei dem Wohnung und Wirtschaftsteile durch senkrecht zur Firstlinie verlaufende Innenwände getrennt und durch separate Zugänge erreichbar sind. Das Ernhaus ist ein traufständig erschlossenes Wohnstallhaus. Der an der Längsseite liegende Eingang führt in den Ern (Flur). Der Flur ist der zentrale Bereich des Hauses, mit einer Herdstelle im hinteren Bereich, der späteren Küche.
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Gehöftformen Verbreitet ist insbesondere das altsächsische Gehöft, das ursprünglich für die Stellung des Wohnhauses keine Regel kannte. Später wurde es jedoch üblich, das Wohnhaus mit seinem Eingang so zu platzieren, dass die Dorfstraße möglichst leicht zu erreichen war. Allgemein werden drei Gehöfttypen unterschieden: • Regelloses Gehöft Es wird gekennzeichnet durch die unregelmäßige Anordnung der einzelnen Gehöftbauten (z.B. Haufengehöft). • Regelgehöft Die Einzelbauten sind schematisch angeordnet. Bei den „Winkelbauten“ bilden die (zwei bis vier) Einzelbauten einen rechteckigen Hofplatz. Je nach Gebäudeanzahl unterscheidet man Haken-, Dreiseit- und Vierseithöfe. • Zwittergehöft Neben einem Hauptbau (i.d.R. Einhaustyp) treten weitere Einzelgebäude auf, so dass ein Gehöft gebildet wird (z.B. Gulf-Gehöft).
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Umnutzungsbeispiele
Das Dorf war stets Arbeits- und Wohnort. Durch die gesellschaftlichen Umbrüche hat die Funktion als Arbeitsort in den letzten Jahrzehnten stetig an Bedeutung verloren. Die Erhaltung historischer Strukturen durch die Umnutzung wertvoller Bausubstanz und die Sanierung alter Häuser wird immer wichtiger. Nachstehend werden ausgewählte Umnutzungs- und Sanierungsbeispiele aus den Bereichen Tourismus, Gewerbe und privates Wohnen vorgestellt. Umnutzung eines Stalles eines ehemaligen Kossätenhofes zur Gaststätte mit Hotelbetrieb Umnutzer: Inhaber:
Gaststätte Eichenkrug Wolfgang Schwalbe,19322 Breese, OT Groß Breese, Groß Breeser Allee 15
Kurzgeschichte: Groß Breese liegt ca. 5 km östlich von Wittenberge und gehört zum Amt Bad Wilsnack/Weisen. Das massive Backsteingebäude mit dem reich verzierten Schmuckgiebel entstand 1907. Es diente zunächst als Stall, wurde dann von der
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Tischlerei Krüll bis Anfang der 1950er Jahre als Ausstellungs- und Lagergebäude genutzt. Nach umfangreichen Sanierungsarbeiten wurde 1990 das Restaurant und 1993 der Hotelbetrieb eröffnet. Seit 1982 steht das Straßendorf Groß Breese unter Ensembleschutz. Und so war es auch von Anfang an Ziel, möglichst viel von der alten Substanz und der ländlichen Atmosphäre des ursprünglichen Stallgebäudes zu erhalten. Das Hotel verfügt über Einzel- und Zweibettzimmer, ein Appartement und Konferenzräume (für 20 bis 80 Personen). Zum Erkunden der Umgebung stehen Fahrräder zur Verfügung. Das Restaurant bietet seinen Gästen in gemütlicher Atmosphäre Gerichte der regionalen Küche und Angebote der Saison. Im Sommer lockt, umgeben von viel Grün und altem Baumbestand, der Kaffeegarten mit hausgemachtem Kuchen, Grillabenden, dem Sommernachtsball und Spezialitäten aus dem Buschbackofen. Umnutzung eines Stalles eines ehemaligen Bauernhofes zu Ferienwohnungen Umnutzer: Inhaberin:
Landhof Groß Breese Jutta Schäfer, 19322 Breese, OT Groß Breese, Groß Breeser Allee 36
Kurzgeschichte: Das Stallgebäude, ein ziegelsichtiger Massivbau, entstand 1894 als Teil eines Vierseitenhofes. Die Sanierung begann 1993. Anspruch war es, die Außenhülle zu erhalten und den straßenseitig ausgerichteten schönen Schmuckgiebel, der durch den Anbau einer Futterküche fast völlig verdeckt war, wieder herzustellen. Der Dachstuhl musste vollständig erneuert werden. Um den ehemaligen Dachboden zu belichten, wurden Gauben eingebaut, deren Lage die Anordnung der ehemaligen Heuluken aufgreift. Von den fünf geplanten Wohneinheiten sind zwei Ferienwohnungen fertiggestellt. Die beiden behindertengerecht ausgebauten Appartements verfügen über separate Zugänge. Für ein gemütliches Frühstück oder einen besinnlichen Abend am Feuer ist das alte Backhaus bestens geeignet. Als Wanderreitstation am Gestütsweg Neustadt – Redefin bietet der Landhof Groß Breese jederzeit Unterkünfte für Reiter und Pferd.
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Umnutzung eines ehemaligen Schafstalles in eine Töpferei mit Ladenfläche und Schauwerkstatt Umnutzer: Inhaberin:
„Töpferei im Schafstall“ Manuela Kunik, 19322 Rühstädt, Dorfstraße 15
Kurzgeschichte: Das Europäische Storchendorf Rühstädt liegt 7 km südöstlich von Bad Wilsnack und gehört zum Amt Bad Wilsnack/Weisen. Der ehemalige Schafstall gehört baulich zum Schlosskomplexes des einstigen Rittergutes. Am 1. Mai 2005 konnte die Töpferei eröffnet werden. Der Umbau des zweigeschossigen, ziegelsichtigen Massivbaus mit Krüppelwalmdach erfolgte in Eigenarbeit. Neben dem Verkaufsbereich entstand auch eine Schauwerkstatt in der Töpferkurse für verschiedene Altersgruppen angeboten werden. Für Kurzurlauber gibt es Schnellkurse mit Versand der selbst angefertigten Stücke. Hergestellt werden handwerklichen Gebrauchskeramik wie Teller, Tassen, Krüge, Vasen usw. und kunsthandwerklich gefertigte Keramiken. Umnutzung einer Hofanlage in ein Restaurant mit Hotelbetrieb und Ferienwohnungen Umnutzer: Inhaber:
Alter Hof am Elbdeich Herr Jeroch, 19309 Unbesandten, Am Elbdeich 25
Kurzgeschichte: Das Marschhufendorf Unbesandten – unweit von Dömitz – gehört zur Lenzer Wische. Direkt am Elbdeich liegt der denkmalgeschützte Hof, der in fünfjähriger Arbeit mit viel Liebe zum Detail saniert wurde. Das Fachwerkhaus mit ziegelsichtiger Ausfachung und Reetdach stammt aus dem Jahr 1827. Heute bietet der Hof seinen Gästen vier Ferienwohnungen mit separaten Terrassen und großzügig eingerichtete Pensionszimmer. Ideal für kleinere Tagungen oder Familienfeste (bis 50 Personen) ist die charakteristische Fachwerkdiele. Wer mag, kann das überwiegend regionale Angebot des Restaurants auch im gemütlichen Kaminzimmer oder auf der großen Kaffee-Terrasse genießen. Radtouristen sind stets willkommen. Für Tagesgäste, die mit dem Rad die artenreiche Tier- und Pflanzenwelt des Elbetals erkunden möchten, stehen Leihräder zur Verfügung.
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Umnutzung eines Wohn-Stall-Scheune-Hauses in ein Wohnhaus mit Ferienwohnungen Umnutzer: Inhaberin:
Bauernhaus Pauli Margot Pauli, 19309 Unbesandten, Am Elbdeich 4
Kurzgeschichte: Das niederdeutsche Zweiständer-Hallenhaus wurde um 1750 errichtet. Die Sanierung des denkmalgeschützten Gebäudes dauerte sieben Jahre, zuvor stand es 13 Jahre leer. Aus den ehemaligen Stallungen entstanden zwei gemütliche Ferienwohnungen, in den ursprünglichen Wohnbereich sind die Paulis selbst eingezogen. Anspruch war es, historische und ökologische Baumaterialien zu verwenden. So wurden die alten Eichenbalken des Fachwerkgebäudes saniert, die Ausfachungen mit Ziegeln ausgemauert oder mit Lehmstaken versehen und das charakteristische Reetdach wieder hergestellt. Doch auch moderne Umwelttechnik hielt Einzug in das alte Haus: Wärmepumpen betreiben heute Fußboden- und Wandheizungen, ein Lehmgrundofen entstand und für warmes Wasser sorgen Solarkollektoren. Für Groß und Klein gibt es auf dem 3 ha großen Anwesen viel zu entdecken: Streuobstwiesen, Weiden für Schafe, Pferd und Maulesel und ein schöner Bauerngarten umgeben das Haus. Wer mag, kann den geangelten Fisch gleich räuchern oder zur Erntezeit seinen Obstsaft selbst pressen.
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Fazit
Wer in Wittenberge in den IC steigt, ist in 51 Minuten im Zentrum Berlins und taucht ein in die bunte Welt einer großen Stadt: überall Menschen, Lichter, Häuser. Würden wir einen Vergleich wagen, mit anderen Regionen dieser Welt, vielleicht mit New York, so wäre die Prignitz ganz sicher ein Vorort dieser pulsierenden Metropole. In den Vorortzügen säßen Pendler, Ausflügler, Künstler, Händler, Schulkinder ... Dies aber wagen wir nicht, tun uns schwer mit solchen Vergleichen, sprechen von strukturschwachen ländlichen Räumen, Randregionen, der Peripherie. Doch wer ist schon gerne Peripherie, das Schlusslicht, der Verlierer? Steht dem Mythos, der die Metropole umgibt, die Panik vor der Provinz entgegen? Nicht immer erschließt sich sofort wie stark, wie lebendig eine Region oder ein Dorf ist. Es braucht ein wenig Zeit und Einfühlungsvermögen, um die Kom-
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plexität des Landlebens zu begreifen. Dass es auch viele Dörfer gibt, deren Lebendigkeit abhanden gekommen ist, soll hier nicht verschwiegen werden. Auch im Prignitzer Elbetal finden wir beides: Lebendigkeit und Trostlosigkeit. Besonders bemerkenswert ist jedoch der Reichtum an ländlicher Baukultur, der sich in dieser Region widerspiegelt. Die bewegte Sieldungsgeschichte gehört nicht in die „graue Vorzeit“, sondern verstärkt in die Schulbücher und Touristenführer und in die Köpfe und Herzen der Menschen, die in der Region leben und den Anspruch haben, sie zu gestalten. Große Potentiale liegen in der Fülle der vorhandenen und überwiegend noch gut erhaltenen Dorstrukturen, im Auftreten unterschiedlicher Haustypen, in der bemerkenswerten Dichte an Dorfkirchen und in den vielen kleinen Schritten des Bewahrens und Erneuerns, die schon gegangen wurden, um wertvolle Bausubstanz zu erhalten und umzunutzen. Aufgabe und Anspruch für die nächsten Jahrzehnte wird es sein, dies alles zu bewahren und zu entwickeln und en Blick dabei sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft zu richten. Die Botschaft eines alten römischen Heilspruches lautet: „Vivat, crescat, floreat!“ („Lebe, wachse und blühe!“). Dies ist mein Wunsch für unsere Dörfer.
Literatur Aitmatow, Tschingis: Die Richtstatt, Leipzig 1988, S. 180. Bergau, Rudolf: Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler in der Provinz Brandenburg, Berlin 1885. Bohm, Waldtraut: Die Vorgeschichte des Kreises Westprignitz, Leipzig 1937. Born, Martin: Geografie der ländlichen Siedlungen, Stuttgart 1977. Enders, Lieselott: Historisches Ortslexikon für Brandenburg, Teil 1, Die Prignitz, 2. Aufl. (1.Aufl. 1962), Weimar 1997. Glatz, Georg: Geschichte, in: Heckmann, Hermann: Brandenburg, Historische Landeskunde Mitteldeutschlands, Würzburg 1988. Linau, Cay: Die Siedlungen des ländlichen Raumes, 3. Aufl. 1997 (1. Aufl. 1986) Braunschweig 1997. Plate, Christa: Die Besiedlungsgeschichte der Prignitz, S.9 bis 38, in: Wauer, Sophie, Brandenburgisches Namenbuch. Die Ortsnamen der Prignitz, Teil 6, Weimar 1989. Riedel, A.F.: Codex diplomaticus Brandenburgensis, Erste Abteilung, Die Prignitz I/1, Berlin 1838. Schultze, Johannes: Die Mark Brandenburg, 1. Bd., 2. Aufl.1989 (1. Aufl. 1961), Berlin 1989. Wauer, Sophie: Brandenburgisches Namenbuch. Die Ortsnamen der Prignitz, Teil 6, Weimar 1989.
LANDaktiv – Initiative für Leben im ländlichen Raum Brandenburgs Cornelia Kühl
Ländliche Räume im Land Brandenburg sind vom Geburtenrückgang und von der Abwanderung besonders betroffen. Früher oder später stellt sich für jeden jungen Menschen die Frage: „Wo und wie möchte ich leben?“. Mit Blick auf die nächsten fünf bis fünfzehn Jahre heißt das, dass Kinder und Jugendliche mit ihrer Berufswahl und ihrer Entscheidung über den Wohnort auch über die Zukunft der ländlichen Räume Brandenburgs entscheiden. Als Bildungszentrum für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vereint die Heimvolkshochschule am Seddiner See unterschiedliche Bildungsprojekte. So gibt es unter anderem seit 1993 die Brandenburgische Landwerkstatt – Forum Ländlicher Raum. Dieses Projekt begleitet und unterstützt die Prozesse der Dorfund Regionalentwicklung im Land Brandenburg durch geeignete Weiterbildungsmaßnahmen und bietet den Akteuren eine Plattform zum Erfahrungsaustausch. Zielgruppen waren vorrangig Erwachsene. Für Kinder und Jugendliche fehlte bislang ein entsprechendes koordiniertes Bildungsangebot für den Bereich Landwirtschaft und ländlicher Raum. Schon seit zwei Jahren gab es die Überlegungen seitens des Landesbauernverbandes Brandenburg ein Projekt ins Leben zu rufen, dass die Außenwahrnehmung der Landwirtschaft verbessert und dem Gewinn qualifizierten Nachwuchses für die Grünen Berufe dient. Während der Arbeit an der Idee erkannten die Initiatoren, dass die Entscheidung für einen Beruf in der Landwirtschaft vor allem auch eine Entscheidung für ein Leben im ländlichen Raum ist – so entstand das Konzept zu LANDaktiv. Aus der Tatsache heraus, dass neben dem wichtigsten Aspekt des geregelten Einkommens auch die Umgebung in der die jungen Leute leben wollen von entscheidender Bedeutung ist, ergab sich für LANDaktiv ein breiterer Blickwinkel und daraus die Zielstellung, junge Menschen in Brandenburg umfassend über den ländlichen Raum mit all seinen Facetten wie Kultur, Tradition, Geschichte, Natur und Landwirtschaft zu informieren. 2005 übernahm die Heimvolkshochschule am Seddiner See die Trägerschaft von LANDaktiv. LANDaktiv trägt dazu bei, dass Kinder und Jugendliche auf die Beantwortung der Frage „Wo und wie möchte ich leben?“ vorbereitet werden. Sie sollen
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Cornelia Kühl
die Chancen und Potentiale ihrer Heimatregion erkennen. Im Ergebnis werden sich hoffentlich mehr junge Menschen als bisher für ein Leben im ländlichen Raum Brandenburgs entscheiden. LANDaktiv versucht überzeugend den Kindern und Jugendlichen die Vorzüge des ländlichen Raums aufzuzeigen, damit im Abwägungsprozess der Jugendlichen die Stärken der Heimatregion überwiegen und sie sich für ein Leben und Arbeiten im ländlichen Raum Brandenburgs entscheiden. In diesem Prozess werden Jugendliche und junge Erwachsene auch ermutigt und befähigt, aktiv die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Potentiale ihrer Region zu erkennen und zu entwickeln und im Idealfall neue Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen. LANDaktiv versteht sich als Organisator und Dienstleister gleichermaßen. In enger Kooperation mit Schulen, Schulämtern, Einrichtungen der außerschulischen Jugendbildung, Unternehmen, Umweltbildungseinrichtungen, Vereinen, Kirchen und vielen anderen werden diese Lernsituationen vor Ort von LANDaktiv organisiert und koordiniert. Seit dem Jahr 2005 ist die Initiative ein Kernarbeitsbereich der Brandenburgischen Landwerkstatt – Forum Ländlicher Raum. Zu den Mitarbeitenden von LANDaktiv gehören neben einer Landeskoordinatorin fünf Regionalbeauftragte, die im ganzen Land tätig sind. Die Mitarbeiterinnen sind regionale Ansprechpartner für Kommunikation, Vermittlung und Beratung, Information und Weiterbildung. Die Initiative wird durch das Ministerium für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg mit Mitteln der Europäischen Union gefördert. Das Projekt hat nach erneuter Bewilligung eine Laufzeit bis Ende des Jahres 2010. Die Arbeit von LANDaktiv lässt sich grob in vier Handlungsfeldern zusammenfassen: 1
Arbeit mit Kindern (Kita, Hort, Unterstufe)
Die Initiative setzt mit ihrer Arbeit bereits bei den Jüngsten an. Schon mit Kindergartengruppen werden Exkursionen in landwirtschaftliche Betriebe durchgeführt beziehungsweise Kontakte zwischen Betrieb und Kindergarten/Schule hergestellt. Darüber hinaus werden Lehrkräfte bei der Durchführung von Projekttagen und der Gestaltung von Unterrichtseinheiten zu unterschiedlichsten Themen unterstützt.
LANDaktiv in Brandenburg
Abb. 1:
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Kinder beim Besuch im Landwirtschaftsbetrieb
Arbeit mit Jugendlichen (ab 7. Klasse bis Schulende)
Die Arbeit mit Jugendlichen dient vor allen Dingen dazu, sie zu motivieren, sich mit der Geschichte ihrer Heimat auseinander zu setzen, ihnen ein realistisches Bild von der Landwirtschaft zu vermitteln und ihnen die beruflichen Möglichkeiten und Anforderungen frühzeitig aufzuzeigen. Dabei unterstützt LANDaktiv den Aufbau von Schülerarbeitsgemeinschaften, indem die Initiative die Akteure zusammenbringt. Darüber hinaus werden Schülerpraktika vermittelt und Projektstunden in den Schulen zum Beispiel zum Thema „Grüne Berufe“ organisiert. Dabei wird LANDaktiv durch verschiedene Partner im ländlichen Raum unterstützt. Außerdem finden auch in dieser Altersgruppe Exkursionen in die unterschiedlichsten Betriebe im ländlichen Raum statt. Durch praxisorientierte und handlungsbezogene Aktionen kommen Kinder und Jugendliche realitäts- und naturnah mit Landwirtschaft und ländlichem Raum in Berührung.
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Abb. 2:
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Cornelia Kühl
Jugendliche bei einer Exkursion im Landwirschaftsbetrieb
Servicestelle „Grüne Berufe“
Die fünf Regionalstellen sind auch Servicestellen für die Grünen Berufe. Zu den Aufgaben in diesem Handlungsschwerpunkt zählen vor allem die Vermittlung von Praktikums- und Ausbildungsplätzen sowie das Informieren über die Grünen Berufe auf Bildungsmessen und in Seminaren zur Berufsfrühorientierung. In Zusammenarbeit mit Berufsberatern werden vor Ort, das heißt direkt in landwirtschaftlichen Unternehmen, Gespräche, Besichtigungen und Präsentationen von Berufsbildern organisiert, um interessierten Jugendlichen die Realität in der Landwirtschaft zu zeigen. Zudem sind die Regionalbeauftragten auf zahlreichen Ausbildungsmessen gemeinsam mit Partnern wie beispielsweise den Landwirtschaftsschulen, vertreten, um über die Grünen Berufe zu informieren. In den Regionen werden Junglandwirtetreffen und Azubi-Stammtische organisiert. Bei letzteren erhalten Auszubildende durch rege Diskussionen wertvolle Denkanstöße. Probleme können so rechtzeitig angesprochen und Hilfsangebote für deren Lösung unterbreitet werden.
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Beiträge zur Förderung regionaler Identität
Das vierte Handlungsfeld umfasst Beiträge zur Förderung der regionalen Identität. Hierbei werden Aktionen durchgeführt, in die Kinder und Jugendliche einbezogen werden, damit sie sich sowohl mit geschichtlichen als auch wirtschaftli-
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chen Themen in ihrem Dorf und ihrer Region auseinandersetzen Neben Workshops unter der Überschrift „Jugendliche in der Dorfentwicklung“ zählen auch die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in das Vereinsleben sowie die Durchführung von landesweiten Wettbewerben zu den Mitteln, mit denen LANDaktiv regionale Identität fördert. An dieser Stelle soll das Augenmerk auf zwei dieser landesweiten Aktionen gerichtet werden, die auch dank der zahlreichen Mitstreiter, wie beispielsweise der Landfrauen, der Kreisbauernverbände und der Landwirtschaftsbetriebe vor Ort, sehr erfolgreich waren und sind. So führte LANDaktiv im Jahr 2007 zum dritten Mal den Landeswettbewerb zum Thema „Landwirtschaft und ländlicher Raum“ durch, der sich an alle fünften Klassen im Land Brandenburg richtet. Mit Hilfe eines computergestützten Frageund Antwortspiels möchte LANDaktiv das Interesse der Schülerinnen und Schüler an ihrer Region und an der modernen Landwirtschaft wecken. Die Schulklassen lernen durch die Teilnahme am Wettbewerb die Tier- und Pflanzenwelt und ihr Land kennen und erhalten einen Einblick in die moderne Landwirtschaft.
Abb. 3:
Schulklasse beim computergestützten Frage- und Antwortspiel
Für Lehrende kann der Wettbewerb ein Einstieg in diese Themen sein. Am dritten Landeswettbewerb nahmen circa 150 Brandenburger Schulklassen, und damit weit mehr als 3.000 Schülerinnen und Schüler im ganzen Land Brandenburg teil. Sie beschäftigten sich intensiv mit den vielfältigen Themen rund um die Landwirtschaft und den ländlichen Raum. Die Schülerinnen und Schüler „forschten“ gemeinsam nach den richtigen Lösungen. Bei der Beantwortung der 20 Fragen wurden neben dem Internet auch Eltern, Großeltern, Geschwister und nahe gelegene Landwirtschaftsbetriebe zu Rate gezogen. Auf der Internationalen Grünen Woche 2008 wurden die Gewinner der drei Hauptpreise durch den Brandenbur-
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Cornelia Kühl
ger Minister für ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz Dr. Dietmar Woidke ermittelt.
Abb. 4:
Kreativ-Wettbewerb „Gans Schön Schlau“
Das zweite Beispiel für landesweite Aktionen zur Förderung regionaler Identität ist der Kreativ-Wettbewerb „Gans Schön Schlau“, der sich an alle Schulen im Land Brandenburg richtete und im Herbst 2006 startete. Ziel war es, den Kontakt zwischen Schulen und Unternehmen in Brandenburg zu fördern und die Kreativität von Kindern und Jugendlichen in Verbindung mit Informationen über die Landwirtschaft und den ländlichen Raum zu aktivieren. Schulen hatten die Möglichkeit, lebensgroße „Gänse-Rohlinge“ aus Kunststoff künstlerisch und phantasievoll, ähnlich der bekannten Aktion mit den Bären in Berlin, zu gestalten. Damit verbunden waren Informationen zur Biologie von Gänsen, zur Rolle und Entwicklung der Tiere sowie zur Art und Weise der Geflügelhaltung bis hin zum Verbraucherverhalten. Zahlreiche Unternehmen und Privatpersonen übernahmen die Patenschaft einer Gans und ermöglichten die Teilnahme einer Schule aus ihrer Region durch die Übernahme der Kosten für den Rohling und das Informationspaket. 106 Schulen beteiligten sich am Kreativ-Wettbewerb und gestalteten die Gänse-Rohlinge innerhalb von vier Monaten mit viel Kreativität und Ideenreichtum.
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Seit drei Jahren agiert LANDaktiv im Land Brandenburg. Das wurde zum Anlass genommen, die bisherigen Aktivitäten zu evaluieren: Aktivitäten 2005–2007 218 landwirtschaftliche Betriebe wurden für eine Zusammenarbeit gewonnen 170 sonstige Betriebe und Institutionen wurden für eine Zusammenarbeit gewonnen 105 Vereine und Verbände wurden für eine Zusammenarbeit gewonnen 260 Exkursionen haben bereits stattgefunden 210 Unterrichtsstunden wurden gestaltet (z. B. Berufsfrühorientierung, „Vom Korn zum Brot“ u. a.) 28 Aktionen zum Thema Tradition und Geschichte fanden statt Informationsstände auf 255 Messen / Dorffesten und ähnlichen wurden betreut ca. 500 Presseartikel erschienen sowie ca. 57 Fernseh- und Radioberichte ca. 55 Ausbildungsplätze vermittelt ca. 70 Praktikumsplätze vermittelt In Kooperation mit Kreisbauernverbänden, Schulen, Unternehmen, Vereinen und Verbänden war LANDaktiv mit seinen sechs Mitarbeiterinnen in den letzten 3 Jahren recht erfolgreich. Gemessen an der Vielzahl von Kindern und Jugendlichen, die sich beteiligt haben sowie an der Neugier und Aufgeschlossenheit wurden die Erwartungen deutlich übertroffen. Nur im Zusammenspiel mit verschiedenen Partnern, insbesondere Unternehmen im ländlichen Raum und Schulen, war es möglich LANDaktiv mit Leben zu erfüllen. In den letzten drei Jahren haben sich die Regionalbeauftragten ein gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut, das in den nächsten drei Jahren erweitert werden soll. Die Schaffung von Lernsituationen, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Landwirtschaft und ländlichen Raum auseinandersetzen, soll in den nächsten Jahren intensiviert werden. Besonders bewährt haben sich dabei Exkursionen und selbstgestaltete Unterrichtseinheiten. Auch die Funktion der Regionalstellen als Servicestellen für Grüne Berufe wird ausgebaut. Aus der bisherigen Arbeit der Initiative haben sich aber auch eine Reihe neuer Aspekte und Schwerpunkte ergeben, die ab 2008 gezielt aufgegriffen werden. So sollen Jugendliche noch stärker ermutigt und befähigt werden, selbstbewusst ihr Leben in Brandenburg zu gestalten und ihre eigene Identität zum Aus-
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druck zu bringen. Als „Dorf-Detektive“ werden sie sich mit der Geschichte, Kultur und Wirtschaft ihres Dorfes beschäftigen und die Ergebnisse in Ton, Bild und Text festhalten. Wesentlicher Schwerpunkt in den nächsten Jahren werden Fragen des „Lebensstils“ sein. Unter dem Titel „Gesunde Kinder – Gesunde Zukunft“ wird die Rolle einer ausgewogenen Ernährung und Bewegung ebenso thematisiert wie sinnvolle Freizeitgestaltung. Dabei soll der konkrete regionale Bezug hergestellt werden. Ziel des Projekts ist es, Kindern und Jugendlichen in Brandenburg die Rolle und Bedeutung regionaler, gesunder Lebensmittel zu verdeutlichen und ihnen den Weg der Lebensmittel von der Erzeugung und Verarbeitung über den Handel bis hin zum Verbraucher zu zeigen. Den Kindern und Jugendlichen soll zudem aufgezeigt werden, welche Möglichkeiten sportlicher Aktivitäten es in den jeweiligen Regionen gibt und welche Wege sie haben sich im eigenen Dorf zu engagieren.
Entwicklungen von Landwirtschaft und Naturschutz im Landschaftsschutzgebiet „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“ (Sachsen, Landkreis Meißen) Klaus-Peter Arnold, Holger Oertel, Betina Umlauf
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Einleitung
Nach der Intensivierung der ostdeutschen Landwirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren, geprägt durch Großfelderwirtschaft, Chemisierung und Technisierung, ist der ländliche Raum seit 1995 in einem neuerlichen qualitativen Umbau begriffen. Maßgeblich betroffen sind davon auch die Schutzgüter im LSG „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“. Trotz der Überlagerung verschiedener Schutzgebietskategorien (vgl. Übersichtskarte) unterscheidet sich diese Landschaft hinsichtlich der Landnutzung zunehmend weniger von naturschutzrechtlich ungeschützten Agrarräumen. Die qualitativ neuen Veränderungen für Wohnumwelt und Erholung sowie für Natur und Landschaft finden sichtbaren Ausdruck im flächenmäßig stark vergrößerten Mais- und Rapsanbau und in der intensiven Grünlandnutzung zur Erzeugung von Kraftfutter (Mais-Gras-Silage) für Hochleistungsmilchkühe. Gleichzeitig erfolgt flächendeckend die Ausbringung des Herbizids Roundup als Voraussetzung für die pfluglose Ackerbewirtschaftung und zur Umwandlung blütenreicher Mähwiesen in energiereiche, jedoch sehr artenarme Vielschnittwiesen. Die beschleunigte Industrialisierung der Tier- und Pflanzenproduktion verschlechtert zunehmend die Lebens- und Erholungsqualität des Agrarraumes für die Landbevölkerung und touristische Naherholung, aber auch die Lebensgrundlagen für Tiere und Pflanzen der Feldlandschaft. Die Befürchtungen des örtlichen Naturschutzes stehen im Einklang mit den Besorgnissen vorausschauender Wissenschaftler (z.B. George 1995, Rösler & Weins 1996), dem Gemeinwohl dienender Politiker sowie verantwortungsvoll agierender Naturschutz- und Landwirtschaftsbehörden (z.B. BMU 2007, Isermeyer & Zimmer 2006, Wiersbinski et al. 2008). Die in Mitteleuropa als einmalig geltende Moritzburger Kuppenlandschaft ist mit bürgerschaftlichem Engagement nur zu schützen, wenn die nachteiligen Veränderungen erkannt werden. Anlässlich der geplanten Errichtung einer Biogasanlage in Großdittmannsdorf fassten Mitglieder der NABU-Fachgruppe Ornithologie Großdittmannsdorf (FG) die maßgeblichen Veränderungen in einer Denkschrift (vgl. www.fg-grossdittmanns-
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Klaus-Peter Arnold, Holger Oertel, Betina Umlauf
dorf.de) zusammen, die im Folgenden wiedergegeben ist. Sie soll dazu beitragen, Landwirtschaftsbetrieben, Naturschutzbehörden und -verbänden sowie interessierten Bürgern die ökologischen Zusammenhänge zwischen Landbewirtschaftung (Biotopveränderung) und Lebensgemeinschaften (Biozönose) im Ökosystem „Agrarlandschaft“ bewusst zu machen. Zudem ist die FG von den zuständigen Naturschutzbehörden mit der Betreuung von Schutzgebieten beauftragt. Die dafür berufenen ehrenamtlichen Naturschutzhelfer haben gemäß § 46 Abs. 3 Ziff. 2 des Sächsischen Naturschutzgesetzes (SächsNatSchG) die Aufgabe, „Natur und Landschaft zu beobachten und Schäden und Gefährdungen abzuwenden, oder wo dies nicht möglich oder zulässig ist, die zuständige Naturschutzbehörde zu informieren“. Ganz in diesem Sinne macht die Denkschrift auf die komplexen Veränderungen aufmerksam und verweist auf die Wechselbeziehungen zwischen den in Veränderung befindlichen Agrarbiotopen „Acker und Wiese“ und den biotoptypischen Tieren und Pflanzen. Gedankt wird den Mitgliedern der FG für ihre aktive Mitwirkung, Norman Döring für die Anfertigung der Übersichtskarte sowie Matthias Schrack für die Bildaufnahmen. 2
Das Landschaftsschutzgebiet „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“
Die geomorphologische Einzigartigkeit der Moritzburger Kleinkuppenlandschaft wurde bereits frühzeitig erkannt und vielfach beschrieben (Neef 1962, Bastian & Schrack 1997, Bastian 1998, Bastian et al. 2005). Landschaftstypische Elemente, wie die Trockenkuppen und nässebestimmten Hohlformen, setzten der landwirtschaftlichen Großraumwirtschaft stets enge Grenzen. Mehr als 150 Wald- und Feldholzinseln trotzten selbst der rigorosen Landschaftsausräumung im Zuge der „Großraumwirtschaft“ in den 1960er und 1970er Jahren. Die landeskundlich wertvolle Gefildelandschaft, ausgestattet mit einer Vielzahl historischer Elemente der Kulturlandschaft, blieb weitgehend unverletzt. Die LSG-Verordnung (LSGVO 1998, § 3 Schutzzweck) zielt darauf ab, das harmonische Zusammenspiel von landschaftsverträglicher Nutzung, geomorphologischer, floristischer und faunistischer Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie landschaftsbezogener stadtnaher Erholung dauerhaft zu erhalten. Der LSG-Schutzzweck ist durch die fortgesetzte landwirtschaftliche Intensivierung gefährdet, sichtbar im verarmten Feldfruchtanbau ohne Hackfrüchte, Sommergetreide, Luzerne und Kleegras sowie in der Dominanz hochhalmiger Ackerkulturen.
Landschaftsschutzgebiet Moritzburger Kleinkuppenlandschaft
Abb. 1:
Schutzgebiete in der Moritzburger Kleinkuppenlandschaft
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Abb. 2:
Klaus-Peter Arnold, Holger Oertel, Betina Umlauf
Das Kuppenrelief im Marsdorfer Dreieck zwischen den beiden Autobahnen von Dresden nach Berlin bzw. Bautzen gehört zu den landschaftlich reizvollen Landschaftsteilen im LSG. Aufn.: M. Schrack (5/2006)
Innerhalb des LSG bestehen zwei NATURA-2000-Gebiete (vgl. Ssysmank et al. 1998). Die Europäische Union (EU) verfolgt mit NATURA 2000 das hochrangige Ziel, die Biodiversität in ihrer Dreieinigkeit von Artenvielfalt, Biotopvielfalt und genetischer Vielfalt zu erhalten. Die Landnutzung steht zunehmend im erheblichen Widerspruch zur Erhaltung von Lebensstätten europäisch bedeutsamer Tierarten in diesen Schutzgebieten. 2.1
Das Internationale Vogelschutzgebiet „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“
Der agrarisch bestimmte Teil der Moritzburger Kleinkuppenlandschaft bewahrt eine Gefildelandschaft, die noch von vielen als gefährdet geltenden Tier- und Pflanzenarten des Agrarraumes besiedelt wird, darunter eine artenreiche Vogelwelt (Schrack 1995). Folgerichtig fand 2004 das gehölzreiche Offenland Anerkennung als Internationales Vogelschutzgebiet. Internationale Vogelschutzgebiete, auch Special Protected Areas (SPA) genannt, sind nach der EU-Vogelschutzrichtlinie ausgewiesene besondere Schutzgebiete, die den Lebensraum europäisch bedeutsamer Vogelarten vor nachteiligen Veränderungen bewahren sollen. Für Baumfalke, Kiebitz, Ortolan und Wespenbussard ist das Gebiet eins der
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fünf Besten im Freistaat Sachsen (LfUG & LfL 2007). Grauammer, Kranich, Neuntöter, Raubwürger, Rohrweihe, Rotmilan, Schwarzmilan, Schwarzspecht, Sperbergrasmücke und Wachtelkönig finden hier geeignete Vermehrungsbedingungen. Das Ziel besteht darin, für diese Vogelarten einen günstigen Erhaltungszustand und damit eine ausreichende Vielfalt, Ausstattung und Flächengröße ihrer Lebensräume und Lebensstätten innerhalb des Vogelschutzgebietes zu gewährleisten (Verordnung 2006). Tatsächlich ist für die meisten dieser Arten bereits seit der Haltung von Hochleistungs-Milchkühen eine Lebensraumverschlechterung in Gang gesetzt. 2.2
Das Fauna-Flora-Habitat-Gebiet „Promnitz und Kleinkuppenlandschaft bei Bärnsdorf“
Fauna-Flora-Habitat-Gebiete (FFH-Gebiete) werden auf der Grundlage der FFHRichtlinie der Europäischen Union ausgewiesen. Sie dienen dem Schutz bestimmter Lebensraumtypen sowie wildlebender Tiere und Pflanzen von europäischer Bedeutung, wobei ein Verschlechterungsverbot besteht. Zur Erhaltung der Lebensstätte der Tagfalterart Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling meldete der Freistaat Sachsen 2002 ein repräsentatives Wiesengebiet an der Promnitz zwischen Bärnsdorf und Berbisdorf sowie im Bereich der Kleinkuppen um den Hohen Berg Berbisdorf als FFH-Gebiet. Der Falter besiedelt extensiv bewirtschaftete Wiesen mit Beständen des Großen Wiesenknopfes (Futterpflanze) und Vorkommen der Wirtsameise, von deren Brut sich die Larven ernähren. Ohne die pflegliche Nutzung dieser Wiesen können der seltene Schmetterling und viele andere Tier- und Pflanzenarten in der intensiv genutzten Landschaft nicht überleben. Die FFH-Erhaltungsziele orientieren auf „Vermeidung von inneren und äußeren Störungen“ sowie „Vermeidung neuer bzw. der Zurückdrängung vorhandener ackerbaulicher Nutzung zu Gunsten einer extensiven Grünlandbewirtschaftung“ (LfUG 2003). 2007 baute die Agrargenossenschaft Radeburg auf etwa 37 Hektar am Hohen Berg Berbisdorf gentechnisch veränderte Maispflanzen an, direkt angrenzend am FFH-Gebiet. Dieser in fast all seinen Teilen giftige Mais ist ein Risiko für wildlebende Tiere und Bodenorganismen. 3
Europäische Verpflichtungen der Landwirtschaft
Die deutsche Landwirtschaft erhält jährlich rund sechs Milliarden Euro aus Brüssel, Bund und Bundesländer legen nochmals rund zwei Milliarden Euro obenauf (BMU 2007, S. 8). Seit 2005 sind diese Direktzahlungen an Landwirtschaftsbetriebe daran gebunden, dass bestimmte Standards im Umwelt- und Tierschutz sowie der Lebensmittelsicherheit eingehalten und die Flächen in einem guten
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Klaus-Peter Arnold, Holger Oertel, Betina Umlauf
landwirtschaftlichen Zustand gehalten werden (Cross Compliance). Direktzahlungsempfänger sind seit 01.01.2005 u.a. zur Einhaltung von Umweltregelungen in den Bereichen Flora-Fauna-Habitate und Vogelschutz verpflichtet (BMELV 2004). Das BMU (2007, S. 10) schätzt die Anforderungen von Cross Compliance als zu niedrig ein, um tatsächlich Ziele im Umwelt- und Naturschutz zu erreichen bzw. zu sichern. Die Auflagen hierfür seien nicht sehr anspruchsvoll, der Effekt entsprechend zu gering (BMU, S. 8). So verursacht die landwirtschaftliche Bewirtschaftung allein durch die Nitrat- und Pestizid-Belastungen, Hochwasserschäden, Bodenerosion und die Wasserverschmutzung jährlich Kosten von rund 5,1 Milliarden Euro – nicht berücksichtigt der Verlust einer abwechslungsreichen Landschaft und vieler Tier- und Pflanzenarten. Die Politik muss deshalb Grenzen setzen, aber auch die richtigen Anreize schaffen (BMU 2007, S. 7). Bundesminister Gabriel ist daher zuzustimmen, wenn er erklärt: „Landwirtschaft und Naturschutz schließen sich nicht aus. Ganz im Gegenteil: Sie profitieren voneinander und stärken ländliche Regionen, wenn die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schafft. Das ist unsere Aufgabe.“ (BMU, S. 26). Diese Rahmenbedingungen werden dringend benötigt, damit vor Ort die praktizierte vertrauensvolle und ergebnisorientierte Zusammenarbeit mit den Agrarbetrieben zum Schutz und zur Pflege von Natur und Landschaft fortgesetzt werden kann. Durch gegenläufige Entwicklungen im Landwirtschaftsbereich erscheint im LSG die Einhaltung und Umsetzung von Fachgesetzen und Verordnungen aktuell gefährdet. 4
Zielkonflikte Landwirtschaft und Naturschutz
4.1
Von der Vielfalt der Feldfrüchte zur Monotonie
„George (1995) beschreibt sehr detailliert die wesentlichen Unterschiede der Landbewirtschaftung zwischen Ost und West und weist darauf hin, dass die Landnutzung in Ostdeutschland vor der Wiedervereinigung trotz der wesentlich größeren Schläge extensiver war als in Westdeutschland. Die Unterschiede in der Bodennutzung (v.a. Vielfalt der Feldfrüchte), die höheren Ernteverluste, der geringere Biozideinsatz und die insgesamt geringere Produktivität habe sich im Vergleich zur westdeutschen Intensivlandwirtschaft günstig auf die Vogelwelt der Agrarlandschaft ausgewirkt und die unbestritten problematischen Auswirkungen der enormen Schlaggrößen überlagert.“ (Rösler & Weins 1996, S. 174). Die Vielfalt der Ackerkulturen ist auch im LSG einer artenschutzwidrigen Monotonie gewichen. Lichtdurchflutetes Winter- und Sommergetreide, offenerdige Hackfrüchte (Kartoffel, Futterrübe), blütenreiches Kleegras und Luzerne haben bis 1990 noch eine faunistisch-floristische Vielfalt zugelassen, die heute von der
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Monotonie des dichtwachsenden Wintergetreides (Halmstabilisatoren!) und durch den großräumig angebauten Mais und Raps gefährdet ist. In diesen hochwachsenden Kulturen finden weder Greifvögel und Störche noch Elster und Aaskrähe ausreichend Futter. Letztere habe ihre Brutbestände längst verlegt aus der Einöde des Agrarraumes in die nahrungsspendenden Ortschaften (vgl. Steffens et al. 2000, S. 99 ff.). Studien der FG belegen: Ihr Ausbleiben als Nestbauer für Baumfalke, Turmfalke und Waldohreule gefährdet das Vorkommen dieser Charakterarten im gehölzreichen Offenland. Auch beim Rebhuhn, einer Charakterart der reich strukturierten Agrarlandschaft, steht die Bestandsentwicklung im LSG in Übereinstimmung mit dem Seltenwerden der Art in Sachsen: Innerhalb von nur zehn Jahren (1995–2005) ist der Rebhuhnbestand um fast 90 % zurückgegangen (Steffens 2006). In seiner jüngsten Analyse der Landnutzung und Artenvielfalt im Freistaat Sachsen verdeutlicht Steffens (2007), dass etwa 50 % aller Pflanzen- und Tierarten gefährdet sind, besonders kritisch ist die Situation bei Offenlandarten. Wenn die Pflanzen- und Tierwelt der Agrarlandschaft gegenwärtig mit einem derart auffälligen Individuen- und Artenschwund reagiert, dann dokumentiert dies die außerordentlich hohe Intensität der Landnutzung. Weitere Beispiele für den Artenschwund sind Feldlerche und Kiebitz, die bis Anfang der 1990er Jahre eine sichere Brutstätte im lückig-offenerdigen Sommergetreide fanden, das aktuell im LSG nicht mehr angebaut wird. Neuerdings brüten beide Arten auf den offenerdigen Maiserwartungsflächen mit der Folge, dass beim Maislegen ab Mitte April alle Nester regelmäßig zerstört werden. Das führte dazu, dass der Kiebitz in der Roten Liste der Wirbeltiere Sachsens als stark gefährdet gilt. Studien der FG belegen: Sein extremes Seltenwerden im Kuppengebiet scheint Vorstufe des gänzlichen Verschwindens zu sein. War der Kiebitz 2005 noch an 21 Stellen mit jeweils 1–6 Paaren vertreten, so waren es 2007 nur noch vier mit jeweils 2–5 Paaren. Der verstärkte Mais- und Rapsanbau gefährdet auch den brutplatztreuen Ortolan, der bevorzugt im Sommergetreide, ausnahmsweise in Wintergetreide brütet, kaum in Mais oder Raps, die wegen ihrer Wuchseigenschaften als „ortolanfeindlich“ gelten (Hänel 2004). Diese beiden dichtschließenden und hochwachsenden Kulturen verwehren vielen Feldvögeln überhaupt das Brüten oder die Nahrungsaufnahme und begünstigen allenfalls hohe Bestände vom Wildschwein, das Fressfeind der Bodenbrüter und des Niederwildes ist. Raps wird von den meisten Feldtieren als Brut- und Nahrungsraum gemieden (Görner & Maltzahn 2006), zum Nachteil für die Fauna wird er erst durch flächengroßen Anbau. Auf die nachwachsenden Rohstoffe Mais und Raps wird aber gerade bei der Produktion umweltfreundlicher Energien (Biogas, Biodiesel) gesetzt. Für 2008 zeichnet sich eine neuerliche Intensivierung in einem seit 1995 noch nicht erreichtem Ausmaß ab: Nach einer Schätzung im
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Klaus-Peter Arnold, Holger Oertel, Betina Umlauf
Januar 2008 beträgt der Anteil der Rapsschläge und Maiserwartungsflächen der Agrargenossenschaft Radeburg innerhalb des SPA nahezu 80 %! Etwa 90 % aller 2002–2006 kartierten Sing- und Brutplätze des Ortolans, die dem Agrarbetrieb und den zuständigen Naturschutzbehörden kartenmäßig vorliegen, sind von diesen Feldkulturen umschlossen. Die Grundschutzverordnung (Verordnung 2006) für das Vogelschutzgebiet und die landwirtschaftliche Förderpraxis scheinen demnach nicht geeignet, eine weitere Verschlechterung der Lebensbedin-gungen für die gefährdeten Vogelarten im SPA aufzuhalten. 4.2
Vom Ackerbauern zum Mulchbauern
5500 v.u.Z. brachte die Kultur der Bandkeramik den Ackerbau vom Balkan entlang der Donau nach Mitteleuropa. Bis 1990 diente das Pflügen der Böden zur Saatbettvorbereitung für die Haupt- und Zwischenfrüchte der mechanischen Unkrautbekämpfung sowie der Minimierung von Feldmäusen, Schadinsekten (z.B. Maiszünsler), Schnecken und Schadpilzen. Zugleich nutzen seit Jahrhunderten viele Feldtiere und Zugvögel die zutage beförderten Bodenorganismen (Edaphon) als Nahrungsquelle. Folgerichtig bestimmt die LSG-VO (§ 7 Abs. 1 Ziff. 7, Grundsätze der Pflege und Entwicklung) „die Fortführung der ackerbaulichen Nutzung der Felder als wesentliche Bedingung für das Siedeln von ackerbewohnenden Tier- und Pflanzenarten und für die regelmäßige Erschließung edaphischer Nahrungsquellen infolge Bodenbearbeitung, Stalldungzufuhr, Bestellung und Ernte.“ Das seit Mitte der 1990er Jahre im LSG zunehmend praktizierte Mulchsaatverfahren steht dazu im deutlichen Widerspruch. In erosionsgefährdeten Gebieten, wie z.B. im Löß-Hügelland, kann die konservierende Bodenbearbeitung (Mulchsaat) die Bodenerosion durch Wasser und Wind sehr wirksam mindern. Auch die Direktsaat (Verzicht auf Boden- und Saatbettvorbereitung) schützt in solchen Lagen vor Erosion. Aus Gründen der Kostenersparnis setzt sich zur Zeit das Mulchsaatverfahren beim Anbau dafür geeigneter Kulturen (z.B. Mais) sachsenweit und flächendeckend durch, auch in nicht erosionsgefährdeten Lagen des Flach- und Hügellandes. Die Direktsaat spart erheblich Betriebskosten, jedoch zu ungunsten der Biodiversität. Der Verzicht auf das Pflügen des Bodens ist eine Abkehr von der umweltfreundlichen Kombination mechanischer und chemischer Unkraut- und Schädlingsbekämpfung. Konservierende Bodenbearbeitung und Direktsaat erfordern vor Beginn der Aussaat zwingend die chemische Unkrautbekämpfung. Dazu wird das vom Bio-Tech-Konzern Monsanto hergestellte und weltweit vertriebene Herbizid Roundup verwendet. Das Mittel ist jüngst in die Schlagzeilen geraten und wird verdächtigt, „nicht nur Unkraut (zu) vernichten, sondern auch bereits in sehr geringen Konzentrationen Frösche und Kaulquappen“ (Amphibiensterben 2005).
Landschaftsschutzgebiet Moritzburger Kleinkuppenlandschaft
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Mit der landwirtschaftlichen Feldblock-Neubildung in den 2000er Jahren ging auch das massenhafte Wegackern von Böschungen, Wege- und Waldrändern einher. Diese Kleinbiotope bilden wichtige Ausbreitungslinien (Biotopverbund) für Kleinsäuger, Reptilien und Laufkäfer. Zudem sind es insekten- und ackerwildkrautreiche Nahrungsinseln für Feldhühner und Feldhase und Bestandteile eines historisch gewachsenen Landschaftsbildes. Entlang solcher linearen Biotope bestand ein weicher Übergang (sog. Ökotone) zwischen Feldweg zur Ackerkultur, der großräumig ersatzlos beseitigt wurde. Nach § 25 Abs. 1 Ziff. 6 SächsNatSchG ist es verboten, „die Bodenvegetation auf Wiesen, Feldrainen, Böschungen, Wegrändern und nicht bewirtschafteten Flächen abzubrennen oder sonst nachhaltig zu schädigen“.
Abb. 3:
4.3
Mehrheitlich in Raps- und Maisfelder gezwängte Feldwege ohne Randstrukturen erfüllen nicht mehr die Erholungszwecke des LSG. Landschaftliche Vielfalt, Erlebbarkeit der Tierwelt und Sichtbeziehungen gehen verloren. Aufn.: M. Schrack (7/2007)
Von der Weidekuh zur Hochleistungsmilchkuh
Ein Trend, der auf dem ersten Blick erfreulich erscheint, veränderte unsere Feldlandschaft gründlich: Lag die jährliche Milchleistung bis 1990 noch um die 4000 bis 5000 Liter je Kuh, erreicht die Agrargenossenschaft Radeburg heute bereits 11000 Liter. Diese Kuh wird nur noch im Stall gehalten und mit Kraftfutter (Mais-Gras-Silage, klimaschädigenden Sojaimport) gefüttert. Milchkühen ist der Weidegang versagt, nur Jungrinder und Mutterkühe dürfen frisches Gras im Frei-
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en genießen. Eine Folge ist der erhöhte Maisanbau und der umbruchlose Umbau blütenreicher Mäh- und Heuwiesen in artenarmes, aber ertragreiches Intensivgrünland. Der eiweißreiche Aufwuchs solcher Silagewiesen wird schon ab Mitte Mai und weiter in kurzen Zeitabständen gemäht (Vielschnittwiesen) und siliert. Wiesenbrüter wie Braunkehlchen, Schafstelze, Wiesenpieper und Rohrammer verlieren dabei regelmäßig ihre Brut. Für die genannten Arten sind diese Grünländer Verschleißzonen, weil sie keinen Bruterfolg haben. Dierschke & Briemle (2002, S. 166) sehen in der Hochleistungsmilchkuh einen sehr bedenklichen ethischen, ökologischen und ökonomischen Konflikt. Die Auswirkungen des einseitigen Feldfruchtanbaues auf die wildlebenden Tiere und Pflanzen ist ebenso unübersehbar, wie die Verschlechterung des Landschaftsbildes und der Erholungsqualität inmitten von hochwachsenden Ackerkulturen mit eingeschränkten Sichtbeziehungen. Im LSG sind eigentlich alle Handlungen verboten, die den Charakter des Gebietes verändern oder dem bestehenden Schutzzweck zuwiderlaufen, insbesondere wenn dadurch der Naturhaushalt geschädigt, das Landschaftsbild nachteilig geändert oder der Naturgenuss oder der besondere Erholungswert der Landschaft beeinträchtigt wird (LSG-VO, § 4 Verbote). Tatsächlich sind Mensch und Natur diesen nachteiligen Veränderungen ausgesetzt, zumal EU- und bundesweite Weichenstellungen für eine wirklich ökologisch orientierte Landwirtschaft nach wie vor fehlen. Diese Lücke können nur besorgte Menschen vor Ort durch ihr bürgerschaftliches Engagement gemeinsam mit verantwortlich handelnden Landwirten schließen. 4.4
Vom bekömmlichen Futtermais zum giftigen Bt-Mais
Der massive Anbau von Futter- und Energiemais bei verkürzten Fruchtfolgen und pflugloser Maisaussaat brachte den gentechnisch veränderten Mais hervor. Genetiker erzeugten im Auftrag des Bio-Tech-Konzerns Monsanto eine Maissorte, die es so in der Natur niemals geben würde und deren Folgen für andere Organismen heute noch nicht absehbar sind. Die Maispflanze produziert in fast allen Teilen eine giftige Substanz (Toxin) der Bakterienart Bacillus thuringiensis. Die ökologischen Auswirkungen des Bt-Maises sind noch völlig unbekannt. Lt. BfN (2007) wirken die Bt-Toxine nicht gegen eine Einzelart, sondern gegen Organismengruppen wie Schmetterlinge oder Käfer. Die giftigen Pflanzenteile des Maises und die getöteten bzw. giftbelasteten Insekten sind Nahrung für viele Feldtiere, darunter Säugetiere (z.B. Feldhase, er gilt in Sachsen als gefähr-
Landschaftsschutzgebiet Moritzburger Kleinkuppenlandschaft
Abb. 4:
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Der Anbau von risikobehaftetem Bt-Mais – hier am Hohen Berg Berbisdorf – erfordert dringend Regelungen der EU und BRD für die Gebietskulisse „NATURA 2000“. Naturschutzgerechtes Handeln des Staates vermeidet Konflikte zwischen partnerschaftlich wirkenden Agrarbetrieben, Unteren Naturschutzbehörden, Naturschutzverbänden und besorgten Bürgern. Aufn.: M. Schrack (5/2007)
dete Art), Vögel und nützliche Insekten (z.B. Florfliege, Grabwespen). Das Gift wird mit Maispollen ausgebreitet (Gefahr für Bienen!), die Wurzeln scheiden es in den Boden aus und es gelangt nach Zersetzung der Wurzeln und der untergepflügten Biomasse in den Boden. Nicht nur Schädlinge, sondern alle anderen (Boden)Organismen (=Edaphon!) werden so dem Toxin ausgesetzt (BfN 2007). Die Genehmigung seiner Ausbringung in NATURA-2000-Gebieten, wo europäisch bedeutsame Arten erhalten werden sollen, ist daher mehr als fragwürdig. Dabei kann der Maiszünsler durch Häckseln des Maisstrohs und Pflügen des Bodens zu 80 % bis 98 % umweltfreundlich vernichtet werden (Greenpeace 2006, S. 4). Erst die Hinwendung zur kostengünstigen Feldbestellung ohne Pflügen des Bodens fördert den Fressfeind des Maises, den Maiszünsler, und damit die Einführung einer risikobehafteten Maiskultur. Bemerkenswert ist, dass sich mehr als 98 % der Anbaufläche von Bt-Mais in Ostdeutschland befindet und offenbar vor allem Großbetriebe den Einstieg in den Gen-Maisanbau vornehmen.
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4.5
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Vom Marktfruchtproduzenten zum Energieproduzenten
Wir sind Zeugen eines laufenden Prozesses gravierender Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktion in Deutschland mit erheblichen und nachhaltigen Auswirkungen auf Natur und Gesellschaft. Seit Jahrzehnten wird mit administrativen Mitteln versucht, den Marktfruchtanbau zu drosseln. Dazu dienten in der Vergangenheit begrenzende Produktionsquoten oder obligatorische Flächenstilllegungen. Seit 2007 sind die Flächenstilllegungen abgeschafft und so die auch für Naturschutzzwecke stillgelegten Äcker vollends für die Energiepflanzenproduktion freigegeben. Der Markfruchtanbau wird geschwächt, der Bioenergiemarkt gestärkt. Anders als bei Futter- und Lebensmitteln wird bei der Erzeugung nachwachsender Rohstoffe weit weniger Wert auf Qualität gelegt. Das betrifft sowohl den Einsatz von Agrochemikalien als auch den Einsatz von GVO (Vössing 2007). „Die Förderung nachwachsender Rohstoffe zur Energieerzeugung führt also absehbar zu einem verstärkten Einsatz von Chemikalien und Gentechnik in der Landwirtschaft. Sie führt zu mehr Acker und weniger Wiese, zu mehr großräumiger Monokultur und zu weniger kleinteiligem Fruchtwechsel.“ (Vössing 2007). Die Bundesanstalt für Landwirtschaft gelangt zu dem Schluss, dass die bisherige Bioenergie-Politik gravierende Begründungsschwächen aufweist (Isermeyer & Zimmer 2006, S. 27) und macht die Politik „für die massive Subventionierung der Bioenergieproduktion verantwortlich“. (S. 18). Die einzelstaatliche Förderung der Bioenergie mit den Argumenten „Schonung der Erdölvorräte“ und „Reduzierung klimaschädlicher Emissionen“ lässt sich nicht überzeugend begründen (S. 9). So bleibt z.B. die Verstromung von Biogas auf Maisbasis klimapolitisch wirkungslos, solange damit nicht gleichzeitig eine zusätzliche Reduzierung der ausgegebenen CO2-Emissionslizenzen einhergeht (S. 26). Bioenergie erhöht nicht die Versorgungssicherheit (S. 11) und führt zu einer Verdrängung der Nahrungsmittelerzeugung und somit zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen in der Lebensmittelverarbeitung (S. 13). Börnecke (2007) verweist auf die Folgen eines ungezügelten Anbaus von Energie-Mais und Energie-Raps für das Grundwasser und die Flüsse. Extreme Probleme entstünden durch Auswaschung von Stickstoff, da nur die Hälfte des verwendeten Düngers von den Pflanzen aufgenommen werden könne. Das sei nicht zu tolerieren, zumal Deutschland bei der Stickstoffbelastung europaweit an der Spitze liege. 2007 beantragte die Agrargenossenschaft Radeburg den Bau einer Biogasanlage mit einer Leistung von 835 Kilowatt. Bezogen auf die 440 Milchkühe erschien dies überdimensioniert, zumal eine sich daraus ergebende Intensivierung der Grünlandbewirtschaftung und des Maisanbaues die Biozönose der Agrarlandschaft erheblich und nachhaltig schädigen und zu einer Verschlechterung in den NATURA-2000-Gebieten führen kann (Bastian & Schrack 2007). Biogasanlagen
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auf Maisbasis sind klimapolitisch wenig effizient (Isermeyer & Zimmer 2006, S. 8). Günstig schneiden sie ab, wenn sie mehrheitlich auf Güllebasis laufen und unmittelbar an die Viehställe angeschlossen sind. In dieser Konstellation ergibt sich die Klimagasreduktion nicht nur durch die Substitution fossiler Energieträger, sondern auch dadurch, dass bei der Lagerung und Ausbringung der Gülle die sonst üblichen Emissionen von Methan und Stickstoff vermieden werden. 2008 reduzierte der Agrarbetrieb seinen Antrag auf 150 Kilowatt.
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schlag gemeinschaftlicher Bedeutung Nr. 155: Promnitz und Kleinkuppenlandschaft bei Bärnsdorf (pSCI 4848-302). – Dresden: 2 S. LfUG & LfL (Landesamt Umwelt Geologie & Landesanst. Landwirtsch., Hrsg.) (2007): Leitfaden für die landwirtschaftliche Nutzung in Europäischen Vogelschutzgebieten in Sachsen. – Dresden: 217 S LSG-Verordnung (1998): Verordnung des Landkreises Meißen zur Festsetzung des Landschaftsschutzgebietes „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“ vom 29.10.1998. – Ausgabe 24 vom 27.11.1998: 3–6. Neef, E. (1962): Der Reichtum der Dresdner Landschaft. – Geograph. Berichte 24: 259–269. Rösler, S. & C. Weins (1996): Aktuelle Entwicklungen in der Landwirtschaftspolitik und ihre Auswirkungen auf die Vogelwelt. – Vogelwelt 117: 169–185. SächsNatSchG (2007): Sächsisches Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege (Sächsisches Naturschutzgesetz – SächsNatSchG). – Sächs. Gesetz- und Verordnungsblatt 9 vom 30.07.2007: 321–348. Schrack, M. (1995): Die Brutvögel der Moritzburger Kleinkuppenlandschaft – eine Betrachtung zur Brutvogelfauna der Agrarlandschaft nördlich von Dresden. – Veröff. Mus. Westlausitz Kamenz, Sonderheft: 84 S. Steffens, R. (2006): Sachsen. Kartierung auf Basis von Quadranten der Topografischen Karte 1:25.000 (TK25). Stand Dezember 2005. – In: Gedeon, K.; Mitschke, A. & C. Sudfeldt (Hrsg.) (2006): Brutvögel in Deutschland. Erster Bericht. Hohenstein-Ernstthal: 51 S. Steffens, R. (2007): Landnutzung und Artenvielfalt in Sachsen. Eine kritische Analyse aus naturschutzfachlicher Sicht. – NABU-Report Sachsen: 19–24. Steffens, R.; Kretzschmar, R. & S. Rau (2000): Atlas der Brutvögel Sachsens. – Landesamt Umwelt Geologie (Hrsg.), Mat. Natursch. Landschaftspflege, Dresden: 132. Ssymank, A.; Hauke, U.; Rückriem, C. & E. Schröder (1998): Das europäische Schutzgebietssystem NATURA 2000. – Landschaftspflege Naturschutz 53, Bad Godesberg: 560 S. Verordnung (2006): Verordnung des Regierungspräsidiums Dresden zur Bestimmung des Europäischen Vogelschutzgebietes „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“ vom 19. Oktober 2006. – Sächs. Amtsbl., Sonderdruck 4 vom 08.12.2006: S 226–228. Vössing, A. (2007): Brot oder Benzin. Flächenkonkurrenz zwischen Lebensmitteln und nachwachsenden Rohstoffen. – Natursch. Landschaftsplanung 39 (12): 377–383. Wiersbinski, N.; Ammermann, K.; Karafyllis, N.; Ott, K.; Piechocki, R.; Potthast, T. & B. Tappeser (2008): Vilmer Thesen zur Biomasseproduktion. – Natur Landsch. 83 (1): 19–25.
Die Altmark – eine Kulturlandschaft im Spannungsfeld von Schrumpfung, Chancen und Visionen Dirk Michaelis
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Vorbemerkungen „Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben.“ (Aristoteles)
Die aktuellen Diskussionen zur Zukunft ländlicher Räume, zum Stadt- bzw. Dorfumbau oder zu den neuen Leitbildern der Raumentwicklung führen derzeitig zu einer wahren Schwemme von Informationen, die unsere Schreibtische bzw. Festplatten überfluten. Bei diesem Beitrag, der ebenfalls diese Themen aufgreift, handelt es sich zunächst nicht um eine wissenschaftlich perfekt ausgereifte Abhandlung. Es handelt sich aber auch nicht um die pessimistischen Grüße aus dem Jammertal als Ausdruck ewiger Unzufriedenheit oder Undankbarkeit. Die sehr deutliche Beschreibung des stattfindenden Entleerungsprozesses soll schließlich auch nicht als Verkündung eines Horrorszenarios verstanden werden. Nein, es geht um ein Aufgreifen von raumbezogener Theorie und ein weiterführendes Abgleichen mit den täglichen Beobachtungen der flurstücksgenauen Tätigkeit einer Bau-, Denkmal- und Planungsbehörde, die inmitten einer stark schrumpfenden Region angesiedelt ist. Der Bogen wird gespannt von der flächenbezogenen abstrakten Zielstellung bis zu dem berühmten Teufel, der im Detail steckt – dem Grundstück. Hier zeigt sich Wachstum oder Schrumpfung, Nutzung oder Verfall. Dieser kleinste Baustein im städtebaulichen Getriebe ermöglicht in der Summe erst die Umsetzung der angestrebten raumordnerischen, städtebaulichen oder auch denkmalpflegerischen Ziele. Neben dieser Bestandsaufnahme erfolgt auf der Grundlage der vorliegenden Bevölkerungsprognosen der Versuch eines Blickes in die Zukunft. Hier zeigt sich dann ganz besonders deutlich, dass zwischen gewollter Theorie und beobachteter Praxis eine zunehmende Lücke existiert. Die insgesamt festgestellten Abweichungen sollen wachrütteln und nachdenklich stimmen. Es geht auch um die Herausstellung der dringenden Notwendigkeit der Entwicklung neuer Instrumente und Strategien in den einschlägigen Bereichen.
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Dirk Michaelis
Im Sommer 2006 wurden die neuen Leitbilder der Raumordnung von der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) beschlossen. Damit verbunden war eine sehr breite und wohl häufig auch kontroverse Diskussion. Seit dem 18. Juli 2007 liegt nun die Stellungnahme der Bundesregierung vor. Mehrfach wird der strukturschwache ländliche Raum im Zusammenhang mit Chancengerechtigkeit und der Aufrechterhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse erwähnt. Klar und deutlich wird auf die Notwendigkeit einer Entwicklung neuer raumordnungspolitischer Strategien hingewiesen. Dieser aus praktischen Beobachtungen und Erfahrungen resultierende Bericht will auch diesen Strategien weitere inhaltliche Denkanstöße geben.
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Die Altmark – Ihre Schönheit und Sorgen „Deutlichkeit ist eine gehörige Verteilung von Licht und Schatten.“ (Johann Wolfgang von Goethe)
Im Norden Sachsen-Anhalts befindet sich eine der ältesten Kulturlandschaften Deutschlands – die Altmark, auch als Wiege Preußens bekannt. Der Besucher trifft hier auf eine sehr stille, beeindruckende Naturlandschaft mit einer mehr als tausendjährigen Siedlungsgeschichte, die in ihrer bewahrten Ursprünglichkeit mit
Abb. 1:
Burg Tangermünde
Die Kulturlandschaft Altmark
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dem Fahrrad, auf dem Pferderücken oder auf Schusters Rappen erlebt werden sollte. An jeder Stelle spürt man den Reichtum an kulturhistorisch wertvoller Bausubstanz und landschaftlicher Idylle. Man nehme ca. 400 romanische Feldsteinkirchen, versetze diese mit gleichen Teilen historisch authentischen Dorfstrukturen, reichere das Ganze gelegentlich mit einem Spritzer herrlicher Guts- oder Herrenhäuser (alternativ auch mal mit einer Bockwindmühle) an und mixe diesen Teil mit einem guten Dutzend von Klein- und Mittelstädten mit herrlichen Stadtkernen, die von prachtvollen Stadtkirchen, Stadttoren und einer Prise Backsteingotik dominiert werden – so in etwa könnte es lauten, das Rezept eines altmärkischen Baukulturcocktails. Tangermünde, oft auch das Rothenburg an der Elbe genannt, Havelberg, Salzwedel, Stendal, Gardelegen, Seehausen, Osterburg und nicht zuletzt die kleinen Vertreter wie Werben und Arneburg sind für den bauhistorisch Interessierten bestimmt keine unbekannten Namen. Wer sich mit der Hanse beschäftigt, findet hier einige dieser Städte wieder, die in dieser Zeit in voller Blüte standen. Wem alte Backsteine nichts geben, der findet in der ebenfalls reichen Naturausstattung genug Gelegenheiten zum immer notwendiger werdenden Abschalten. Das von der UNESCO international anerkannte, länderübergreifende Biosphärenreservat „Flusslandschaft Elbe“ prägt im Zusammenspiel mit einem Stück Havellandschaft weite Teile des Landkreises Stendal im östlichen Bereich. In der westlichen Altmark findet man den Naturpark „Drömling“ (abgeleitet von einem Begriff für „schwankende Erde“), eine ausgedehnte, sumpfige Niederung, durchzogen mit von Menschenhand geschaffenen Gräben, die im 18. Jahrhundert der Ohre den Befehl zum geordneten Durchqueren der Landschaft gaben. Schräg gegenüber, im nordöstlichen Teil, die altmärkische Wische – fruchtbares, unterhalb des Wasserstandes der Elbe gelegenes, Marschland. Schließlich noch nordwestlich angrenzend das Wendland und südwestlich die Colbitz- Letzlinger Heide und fertig ist der landschaftliche Rahmen. Ausweisungen in Form von Natur- und Landschaftsschutz-, Natura 2000- oder FFH- Gebieten oder auch das einfache Biotop geben der Fläche noch zusätzlich die nötige Würze. Einem Besucher aus Essen oder Bochum stockt vielleicht der Atem beim Anblick von Storch, Seeadler, Kranich, Reh, Steinpilz oder Marone, für den Altmärker handelt es sich hier um etwas völlig Normales. Die Altmark erstreckt sich über eine Fläche von 4.715 qkm und hat momentan 225.812 Einwohner. Davon entfallen auf den Landkreis Stendal 2.423 qkm. Auf dieser Fläche, die der Größe des Saarlandes entspricht, lebten im Jahr 2005 noch 131.267 Einwohner, somit 55 Einwohner je qkm. Für den Altmarkkreis Salzwedel stehen 2.292 qkm für eine (Noch-) Bevölkerung von 94.545 Einwohnern zur Verfügung, also im Durchschnitt 42 EW/qkm. Diese beiden Landkreise halten drei Rekorde in Sachsen-Anhalt. Der Landkreis Stendal ist der größte Ver-
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treter und der Altmarkkreis Salzwedel hat die niedrigste Einwohnerzahl und die niedrigste Einwohnerdichte. Der Landesdurchschnitt liegt übrigens bei 119 EW/qkm. Dem obigen Zitat von Goethe folgend, erfordert Deutlichkeit auch Schattenseiten. Die Altmark gehört zu den peripheren strukturschwachen Räumen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt sicher eine Reihe von Ansätzen einer Typisierung der deutschen Regionen – die Altmark landet im Regelfall bei den Sorgenkindern. Im „Prognos Zukunftsatlas 2007“ sind die beiden Landkreise in der Kategorie „Landkreis mit im bundesdeutschen Vergleich hohen Zukunftsrisiken“ auf den Plätzen 423 (Landkreis Stendal) und 427 (Altmarkkreis Salzwedel) zu finden. Immerhin ist im Vergleich zu 2004 eine Verbesserung der Rangfolge um 11 bzw. 5 Plätze festzustellen. Sucht man im Raumordnungsbericht 2005 oder in den vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) veröffentlichten Informationen zur Raumentwicklung nach Aussagen zu dieser Region, so trifft man häufig auf eine differenzierte Darstellung, die überwiegend nachteilig für die östliche Hälfte ausfällt. Ganz deutlich wird dieser Sachverhalt in der Ausweisung dieses Teilbereiches, also des Landkreises Stendal, als eine Region mit Stabilisierungsbedarf. Die Überlagerung aus Geburtendefizit, anhaltender Abwanderung, Überalterung und noch nicht ausreichender Wirtschaftskraft stellt die Region vor eine der größten Herausforderungen ihrer Geschichte. In den ersten 15 Jahren seit der Wiedervereinigung hat die Altmark insgesamt einen Bevölkerungsrückgang von 13 % zu verzeichnen. Klar dürfte sein, dass eine kleinräumige Betrachtung hier ein sehr differenziertes Bild ergibt. So hat beispielsweise die Bevölkerung im Landkreis Stendal in diesem Zeitraum um ca. 16 % und die im Nachbarkreis um „nur“ knapp 10 % abgenommen. Betrachtet man diese Thematik noch feiner, also auf der gemeindlichen Ebene, trifft man auf einen Spitzenwert von 31 %. Dieser Prozess ist noch längst nicht beendet. Im Vorgriff auf die noch zu erläuternden Prognosen, hier schon einmal die Feststellung, dass wohl das „dicke Ende“ noch folgt. Die besondere Dramatik der Entwicklung resultiert aus der Überlagerung von Abwanderung und normalen demografisch bedingten Bevölkerungsverlusten. Die beiden Landkreise, die Regionale Planungsgemeinschaft Altmark mit einem angedockten Regionalmanagement und der inzwischen aus „REGIONEN AKTIV“ gegründete Regionalverein, der in naher Zukunft das erstellte ILEK umsetzen soll, setzen sich seit Jahren mit der ländlichen Entwicklung auseinander. Die Altmark hat sich hier im bundesdeutschen Maßstab positiv bekannt gemacht. Zahlreiche inzwischen realisierte Maßnahmen haben unsere Kulturlandschaft bereichert. Trotz dieser Bemühungen deutet sich aus der heutigen Sicht zunehmend an, dass das Erscheinungsbild dieser Region erheblich gefährdet ist. In ihrer bisheri-
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gen Geschichte hat die Altmark den Dreißigjährigen, einen Ersten und Zweiten Weltkrieg, einige Stadtbrände oder auch gelegentliche Überfälle von Raubrittern weitgehend unbeschadet überstanden. Aber ausgerechnet die aufgeklärte und dem kulturellen Erbe verpflichtete Neuzeit setzt ihr nun massiv zu. Eine im Jahr 2006 erstellte Studie „Wettbewerbsfähige und lebenswerte Altmark – Daseinsvorsorge in einer ländlichen Region“, an der neben der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH), die Universität Dortmund, Fakultät Raumplanung, sowie die Landgesellschaft Sachsen-Anhalt mbH, nexus aus Berlin und das Büro TRENT-Team Regionale ENTwicklungsplanung aus Dortmund beteiligt war, bringt in der Gesamtschau ein sehr ernst zu nehmendes Ergebnis. Eine Studie mehr, die u.a. auch im Ergebnis feststellt, dass traditionelle Methoden und Instrumente zur Bewältigung dieser erheblichen Probleme nicht mehr ausreichen. Es ist vielleicht auch bekannt, dass in Sachsen-Anhalt die IBA 2010 in 18 Städten gegenwärtig auf der Tagesordnung steht. Das Städtenetz Altmark mit der Stadt Stendal als Koordinator nimmt ebenfalls mit dem Thema „Zentraler Ort im ländlichen Raum“ daran teil.
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Bestandsaufnahme eines Schrumpfprozesses „Man kann nur sehen, was man kennt!“ (Lucius Burckhardt)
Aus der täglichen Diskussion ist das Thema des demografischen Wandels nicht mehr wegzudenken. Wer hier jedoch fertige Kochrezepte erwartet, der liegt völlig falsch. Mit der Bewältigung von Problemen, die deutliche Bevölkerungsrückgänge mit sich bringen, betreten wir alle gemeinsam Neuland. Gemeinsam sollten wir deshalb aber auch offen und schonungslos die Prozesse analysieren, Visionen entwickeln und nach neuen Instrumenten suchen, die Visionen Wahrheit werden lassen. Die oben schon einmal erwähnte Studie zeichnet sich beispielsweise durch eine sehr deutliche Analyse aus und gibt auch abstrakt formulierte Ziele vor. Der konkrete Weg oder besser die konkreten Mittel und Methoden sind aber das Problem, wie im weiteren Verlauf noch deutlich werden soll. Mit so manchem Slogan, wie: „Schrumpfung als Chance begreifen“ oder „Mut zur Lücke“ wird verständlicherweise versucht der Entwicklung eine positive Richtung zu geben. Doch die Vielfalt der Probleme und Herausforderungen, die eine differenzierte Betrachtung und Herangehensweise erfordern, dämpfen diesen positiven Ansatz erst einmal. Es bedarf einer Unmenge an Kreativität, Idealismus, Konsequenz
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und Mut, damit eine zu entwickelnde Strategie im Ergebnis auch wirklich als genutzte und umgesetzte Chance zu erkennen ist. Trotz der regen Diskussion, natürlich auch in der Altmark, zu diesem Thema, ist zu beobachten, dass vielerorts immer noch ein stark ausgeprägtes Akzeptanzproblem festzustellen ist. Das Ganze wird wohl als vorübergehendes Problem empfunden – „Es wird schon wieder!“. Das Problem abstrakter „Gefahren“ liegt nun einmal in ihrer unzureichenden Wahrnehmung durch den Menschen. Schmerz dagegen wird von uns wahrgenommen, führt zur Korrektur falsch eingeschlagener Lebenswege. Der demografische Wandel wird auch immer wieder mit einem schmerzhaften Prozess verglichen. In Abhängigkeit der regionalen Ausgangslage ergibt sich hier jeweils eine konkrete Problemstellung und in der Gesamtschau wird es dann ein Spektrum vom leichten bis zum äußerst starken Schmerz geben und daraus resultierend könnte auf Selbstheilung oder operativen Eingriff gesetzt werden. Folglich kann es nur richtig sein, diesen langfristig ablaufenden Prozess ganz klar und deutlich zu analysieren. Sehr häufig wird diese Entwicklung mit der sinkenden Einwohnerdichte beschrieben. 1990 ca. 64 EW/qkm, 2005 noch 54 EW/qkm und 2025 ein Wert von knapp 40 EW/qkm, so lautet diese Zahlenfolge für den Landkreis Stendal. Für eine klare Vorstellung der Folgen dürfte das nicht reichen. Schließlich existieren andere Länder oder Regionen mit viel geringeren Werten. An anderer Stelle wird für einen kürzeren Zeitabschnitt eine prozentuale Aussage getroffen. Ein Wert so um die 10 % hört sich ja irgendwie auch nicht so schlimm an. Versuchen wir es doch einmal mit klaren Zahlen, mit Anfangs- und Endwerten und bildhaften Vorstellungen: Der Landkreis Stendal wird durch eine disperse Siedlungsstruktur geprägt. Das städtebauliche Puzzle besteht aus 277 Elementen – 126 Gemeinden mit 151 Ortsteilen, davon 10 räumlich gut verteilte Städte. Werben mit heute ungefähr 850 Einwohnern ist dabei die kleinste und die Kreisstadt Stendal mit derzeitig knapp 37.000 EW der größte Vertreter der Städte. 1990 lebten hier ca. 156.000 EW auf einer Fläche von 2423 qkm. 2005 waren es dann schon ca. 25.000 weniger geworden, wobei davon 68 % auf das Konto der Abwanderung gehen und der Rest von 32 % dem Geburtendefizit geschuldet ist. Die aktuell vorliegende 4. regionalisierte Bevölkerungsprognose geht für den Landkreis Stendal von einem weiteren Rückgang bis 2025 auf ca. 96.000 Einwohner aus. Ein weiterhin niedriges, jedoch leicht steigendes Geburtenverhalten und ein langsam abklingendes Wanderungsverhalten sind grundlegende Annahmen dieser Berechnungen. Der prognostizierte Rückgang um weitere 35.000 Menschen beruht auf einem Anteil von 38 % Abwanderung und 62 % Geburtendefizit. Fazit 1990–2025: Rückgang um ca. 60.000 Einwohner oder 38,5 % in gerade einmal 35 Jahren. Das ist schon deutlicher in seiner Aussagekraft.
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Zur weiteren bildlichen Vorstellung dieser Entwicklung noch drei Beispiele: 1. 2.
3.
Beispiel: Ausgehend von 1990 bedeutet das den kompletten Abgang der beiden größten Städte Stendal und Tangermünde. Beispiel: Wieder ausgehend von 1990 hatten die 10 Städte etwa die Einwohnerzahl, die der LK 2025 haben soll – also alle 116 Gemeinden und 151 Ortsteile wären faktisch verschwunden. Beispiel: 1994 vereinigten sich die Landkreise Stendal, Osterburg und Havelberg zum heutigen Landkreis Stendal. Wieder ausgehend von 1990 hatte der damalige LK SDL die Einwohnerzahl, die für das derzeitige Gebilde prognostiziert wird – also die Altkreise Osterburg und Havelberg komplett abgesiedelt.
Dem Leser stehen jetzt also mehrere Betrachtungsvarianten zur Verfügung. Aber egal, welche man wählt – die absehbaren Auswirkungen dieses Prozesses auf die städtebaulichen Strukturen benötigen wohl keine weitere Erläuterung. Auch zu einer Einstufung auf einer Schmerzskala könnte es an dieser Stelle lediglich nur noch eine Diskussion zur Feinjustierung im oberen Bereich geben. Doch schauen wir uns das Ganze noch näher an. Stop: Da war doch noch etwas. Es handelt sich doch schließlich um Prognosen und wer kann heute schon sicher sagen, was in 15–20 Jahren sein wird, so der sicherlich berechtigte Einwand. Nun gut, dass von 1990–2005 25.000 Einwohner im LK Stendal fehlen, ist erst einmal Tatsache geworden. Aber auch eine Einwohnerzahl für 2005 war einmal Bestandteil einer Prognose. 131.824 Einwohner hatte man da errechnet und tatsächlich waren es dann 131.267 – eine negative Überschreitung um immerhin 557 Personen. Der oben bereits näher beschriebenen 4. regionalisierten Bevölkerungsprognose bescheinigt so mancher Praktiker auch einen eventuell zu rosig gewählten Ansatz. Unbenommen dessen wurde diese Prognose auf der Grundlage eines Kabinettsbeschlusses der Landesregierung am 30. Januar 2007 zur verbindlichen Planungsgrundlage für alle Planungsbehörden erklärt. Der demografische Wandel ist kein kurzfristig umkehrbarer Prozess, das müssen wir einfach akzeptieren. Familien- und Regionalpolitik, Städtebau und Raumordnung sind jedoch gestaltbare Felder, die ohne Zweifel Einfluss auf wesentliche, das Wanderungsverhalten bestimmende, Rahmenbedingungen haben. Durch Abwanderung soll der LK Stendal bis 2025 noch ca. 13.000 Einwohner verlieren. Hatte die regionale Strukturpolitik diesen Einflussbereich schon immer im Visier, zeichnet sich jedoch für die anderen Fachthemen eine verstärkt notwendige Einflussnahme ab.
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„Wachstum, Stagnation und Schrumpfung liegen dicht nebeneinander.“ So eine immer wieder zu hörende oder lesende Einschätzung in bezug auf benachbarte Regionen oder Städte in Deutschland. Diese so einfache und für jedermann nachvollziehbare Einschätzung der Situation aus der räumlichen Sicht bedarf aber unbedingt einer weiterführenden Betrachtung. In der Realität sind diese Entwicklungen nämlich Grundstücksnachbarn und gerade diese Nachbarschaft wird immer typischer und das Ganze ausgerechnet noch in den Stadtkernen. Auch in den Dörfern existiert natürlich dieses Nebeneinander, jedoch kann eine locker bebaute Dorfstruktur damit besser umgehen. Unsere Städte entsprechen nun einmal dem traditionellen kompakten Stadtbild. Gerade das geschlossene Nebeneinander von verschiedenen Stilepochen mit viel Abwechslung in den Nutzungen der unteren Geschosse machen die Stadtkerne lebendig und anheimelnd zugleich. Das Schicksal eines Gebäudes hängt aber nun einmal einerseits am Eigentümer (im Idealfall real existierend und finanziell ausreichend ausgestattet) und andererseits an der Möglichkeit einer Nutzung und diese wiederum an der Existenz von Nutzern. Doch der sich abzeichnende Verlust von ungefähr 60.000 potentiellen Nutzern ist zur Kenntnis zu nehmen. Für so manchen Grundstückseigentümer wird dieser zunehmende Prozess der Entleerung womöglich eine enteignungsgleiche Wirkung haben. „Schrumpfung als Chance begreifen.“ So hört und liest man es auch immer wieder. Sicher besteht hier die Chance städtebauliche Fehlentwicklungen zu beseitigen, wie am Beispiel der Plattenbausiedlung Stendal-Süd derzeitig erlebbar. Bei der damit verbundenen Umschichtung von Mietern ergeben sich natürlich auch Handlungsoptionen zu Gunsten der Stadtkerne. Doch was passiert, wenn solche Fehlentwicklungen gar nicht erst vorhanden sind oder wenn statistisch betrachtet der prognostizierte Wohnungsüberhang das Potential dieser „Sünden“ übersteigt – wenn es also an die ursprüngliche Substanz geht. Im Visier dieses Szenarios stehen hier in erster Linie unsere Klein- und Mittelstädte, jene in der Fläche unbedingt notwendigen Haltefaktoren. Aber auch in der Stadt Stendal wird offensichtlich das rückbaubare Plattenbaupotential bei perspektivischer Betrachtung zur Bewältigung des Prozesses nicht ausreichen. Der in den vergangenen Jahren im Rahmen des Stadtumbaus immer öfter zu beobachtende Verlust im Bereich wertvoller Altbausubstanz führte bereits zunehmend zu kritischen Wertungen. Mit der aktuellen Fokussierung der nationalen Stadtentwicklungspolitik auf die Stadtkerne hat die Bundesregierung nun jedoch die eindeutige Entwicklungsrichtung vorgegeben. In diversen Studien zur demografischen Entwicklung wird ebenfalls die These des geordneten Rückbaus auf den kompakten Siedlungskern formuliert. Nicht nur die oben bereits genannten Zielstellungen, sondern auch stadttechnische Gründe und nicht zuletzt das ge-
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wollte Zurückfahren der Bodenversiegelung sprechen eindeutig für dieses Bild. Die kompakte Stadt ist nun einmal Nachhaltigkeit pur. Nimmt man nun aber die Erkenntnis aus der praktischen Beobachtung mit den sich gegenläufig entwickelnden Nachbarn und der ausbleibenden Nachfrage hinzu, wird das Dilemma der Städte im schwach strukturiertem ländlichen Raum hier bestimmt auch für den Nichtfachmann ganz deutlich erkennbar. An dieser Stelle empfiehlt sich dann ein aufmerksamer Stadtrundgang, der erst einmal den gegenwärtigen Zustand erfassen soll – und dabei bitte nicht nur auf das Erdgeschoss blicken. Dass unsere städtebaulichen Gebote, also das Baugebot nach § 176 Baugesetzbuch (BauGB) oder auch das Modernisierungsgebot nach § 177 BauGB, in der Fachwelt als „stumpfe Waffen“ bezeichnet werden, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Gleich im zweiten Schritt sollte dann der Versuch eines Transfers in die Zukunft unter Berücksichtigung des oben bildhaft beschriebenen Schrumpfens gewagt werden. Das erahnte Bild kann auch bei vollstem Optimismus keineswegs beruhigend wirken. Auch wenn es punktuell sicher gelingen wird, eine entstandene Lücke für eine städtebauliche Aufwertung zu nutzen, deutet sich aber insgesamt alles andere als eine kompakte Struktur an. Das ebenfalls diskutierte perforierte Stadtmodell kann diese Situation schon gar nicht schönreden. Das Gleich-nis zu einem an Skorbut erkrankten Seefahrer tut sich auf. Dass es sich bei diesen Ortskernen überwiegend um Denkmalbereiche, also um zu schützendes Kulturgut, handelt, liegt auf der Hand. Das vielfach in der Bundesraumordnung, in der Landes- und Regionalplanung theoretisch formulierte Ziel der zu bewahrenden und sogar zu entwickelnden Kulturlandschaften läuft hier künftig immer deutlicher in eine sehr fragwürdige Richtung. Die Beulen, die dieser Bevölkerungsverlust den städtebaulichen Strukturen verpassen wird, werden deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. Diese Bestandsaufnahme ergibt in der Zusammenfassung eine erwartete Entwicklung, bei der wohl kaum auf 100%ige Selbstheilung gesetzt werden kann. Es wird nicht umsonst vom geordneten Rückbau oder noch besser vom gestaltenden Umbau der Region gesprochen. Schöne Worte für eine gewaltige Aufgabe, die im Moment die Fachleute vor viele ungelöste Fragen stellt. Beginnend in den ostdeutschen Regionen und sich langsam mit Zeitverzug westwärts ausbreitend wird dieser Check anderenorts mehr oder weniger ähnliche Umfänge erkennen lassen und überall die gleichen Fragen aufwerfen. Geben wir unsere bisherigen Idealbilder auf oder verfolgen wir sie weiter? Gewöhnen sich die Bewohner an eine Zunahme von Lücken oder verstärken diese sogar den Wegzuggedanken? Wie kann man dann aber einen langsam erodierenden Stadtkern bei offensichtlich nachlassender Nachfrage zu einer kompakten und vitalen Mitte entwickeln? Kann ausgerechnet im dünn besiedelten ländli-
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chen Raum das Wohnen im Kern einer Kleinstadt den Wunsch nach grüner Wiese übertrumpfen? Wir haben gelernt Grünland in Bauland umzuwandeln aber wie geht es umgekehrt? Wie reagieren Kreditinstitute auf den unvermeidbaren Werteverfall? Was sagen die Eigentümer zu dem gewollten geordneten Rückbau? Kann man den Prozess bremsen oder behutsam gegensteuern – stabilisierend handeln? Oder sollten wir die Dinge doch einfach lieber so laufen lassen? Wo soll eigentlich das viele Geld (Steuergelder) für all die notwendigen kostenintensiven Maßnahmen kommen? Viele Fragen, viele Visionen und noch zu wenig Antworten – wir stehen irgendwie an einer Weggabelung und müssen richtig abbiegen. Die alten Seefahrer orientierten sich dabei an den Sternen; unsere heutige Orientierung kann nur die Nachhaltigkeit einer Entwicklung sein. Die Nachhaltigkeit, seit 1998 im Raumordnungsgesetz als zentrale Leitvorstellung der Raumentwicklung verankert, wird auch in der aktuell diskutierten Städtebaupolitik ganz deutlich in den Vordergrund gestellt. Somit bringt nun das klare Erkennen eines Schrumpfprozesses und die Notwendigkeit eines daraus resultierenden gestaltenden, an Nachhaltigkeitszielen orientierten, Umbaus einer Region den Anlass und damit die Chance, neue und kühne Wege zu denken und vielleicht sogar zu gehen.
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Eine Chance nutzen „Das Rechte erkennen und nichts tun ist Mangel an Mut“ (Konfuzius)
Ob man diese Chance ergreifen sollte, bedarf einer Auseinandersetzung mit den Folgen und Konsequenzen. Beginnen wir mit der finanziellen Seite, denn Schrumpfung ist nun einmal teuer. „Eigentum verpflichtet“ – den Grundsatz kennt wohl jeder, aber der Umgang mit nicht mehr benötigter Bausubstanz wird zunehmend eine öffentliche Aufgabe. Die wohl bekannteste davon ist der Stadtumbau. Beginnend 2002 wurden bis Ende 2007 von Bund, Ländern und Gemeinden ca. 1,9 Mrd. EUR für dieses Programm zur Verfügung gestellt. Aus Stendal ist bekannt, dass für den bisher erfolgten Abriss von ca. 3.500 Wohnungen insgesamt 11,6 Millionen Euro benötigt wurden, also ca. 3.300,- €/WE. Wir wissen auch, dass stadttechnische Ver- und Entsorgungssysteme bei zunehmender Unterauslastung nicht mehr vernünftig funktionieren. Den Abwasserleitungen fehlt die nötige Schleppkraft, stehendes Wasser in Trinkwasserleitungen führt zur Keimbildung und überdimensionierte Fernwärmeleitungen stellen eine nicht zu verantwortende Energieverschwendung dar. Auch hier zeichnet sich immer mehr die Notwendigkeit von Netzanpassungen ab, die nicht zum Nulltarif
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durchgeführt werden können. Stets und ständig wird uns aber verdeutlicht, dass die öffentlichen Kassen leer sind und das sich unsere zu gehenden Wege an diesem Zustand orientieren müssen. Die absehbare Entwicklung zeigt aber ganz deutlich in Richtung eines zunehmend erhöhten Finanzbedarfes. Sicher kann man aus Geldmangel den Stadtumbau Ost, die Städtebauförderung oder den städtebaulichen Denkmalschutz einstellen. Aber irgendwann entwickelt sich ein leerstehendes Gebäude zum öffentlichen Problem und dann muss die Bauaufsicht als Gefahrenabwehrbehörde handeln und wie die bisherige Erfahrung lehrt, bleibt der Staat hier mittlerweile fast regelmäßig auf den Kosten sitzen. Ausgerechnet die ohnehin schon sehr angeschlagenen öffentlichen Haushalte in den strukturschwachen Regionen, müssen sich hier zukünftig auf einen erhöhten Bedarf einstellen. Betrachtet man im Raumordnungsbericht 2005 die verschiedenen Darstellungen zu Entwicklungen in Deutschland, wie sie 2050 erwartet werden, dann stellt sich irgendwie das Gefühl ein, dass wir in weiter Zukunft fast bei beispielsweise brasilianischen Verhältnissen angekommen sind. Ist diese Entwicklung siedlungsstrukturell wirklich gewollt? Macht es in der Gesamtheit betrachtet einen Sinn, wenn die in den Wachstumsmetropolen erwirtschafteten Steuern in den schrumpfenden Resträumen zur Finanzierung des Rückbaus eingesetzt werden müssen? Damit sind wir nun an dem Punkt angekommen, wo auf zentrale raumbezogene Zielstellungen eingegangen werden soll. 4.1
Raum- und Siedlungsentwicklung
Auf der Grundlage des Raumordnungsgesetzes (ROG) ist seit dem 01. Januar 1998 eine nachhaltige Raumentwicklung als zentrale Leitvorstellung für den Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland „rechtsverbindlich“ zu beachten. Gleichzeitig haben wir uns auch sowohl für die Stadt- als auch für die Siedlungsentwicklung die Nachhaltigkeit als Oberziel auf die Fahnen geschrieben. Doch die Praxis zeigt, dass wir uns in den letzten Jahren trotzdem von diesem Ziel immer weiter entfernt haben. Seit einigen Monaten wird jedoch sehr deutlich, dass eine Trendwende vollzogen werden soll. Das Bundesbauministerium mit Minister Tiefensee an der Spitze packt das Problem nun konsequent an. Die aktuell vorgestellte nationale Stadtentwicklungspolitik zielt ganz deutlich auf die Innenentwicklung der Städte ab. Weitere Impulse für den Weg zum kompakten und vitalen Stadtkern kommen von der Bewältigung des Klimawandels.
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Klimaschutz
Wir beklagen zunehmend den Ausstoß klimaschädlicher Abgase und wir verpflichten uns auch immer wieder zu gewollten Absenkungen. Einen wesentlichen Anteil an den kritisierten Emissionen haben die Bereiche Gebäude und Verkehr. Mit gut gedämmten Gebäuden und kompakten städtebaulichen Strukturen soll dem Anteil aus dem Gebäudebereich begegnet werden. Die oben erwähnten und ständig zu beobachtenden Prozesse der Konzentration und des Funktionsabzuges aus der Fläche haben aber nun einmal ein erhöhtes Pendleraufkommen zur Folge. Prognose auch hier steigend. Die im Kyoto-Protokoll verankerte Reduzierung der Treibhausgase gelang zum Teil in der Landwirtschaft, in der Industrie und in der Energiewirtschaft. Zeitgleich war im Verkehrssektor aber ein Anwachsen um 24 % zu verzeichnen. 580.000.000.000 (580 Milliarden) Personenkilometer mit einem Anteil des Berufsverkehrs von 20 % und 4.500.000.000 (4,5 Milliarden) Stunden Stauzeit mit einem staubedingten Kraftstoffverbrauch von 14.000.000.000 (14 Milliarden) Litern scheinen noch nicht zu reichen (Angaben aus BBR, IzR 2/3.2007). Bei durchschnittlich 6 km Fahrleistung wird nun einmal 1 kg Kohlendioxid freigesetzt und hochgerechnet für die oben genannten Personenkilometer haben wir es hier demzufolge mit 100 Millionen Tonnen Kohlendioxid zu tun. Dabei bietet doch die polyzentrale Siedlungsstruktur Deutschlandes den idealen Ansatz für ein Modell der kurzen Wege und alles was kompakt und in der Fläche gut gemischt verteilt ist und somit theoretisch weniger Mobilität aufzwingt, verdient die Bezeichnung der Nachhaltigkeit. Dieses ideale Modell entsteht jedoch nicht von selbst, wie die Entwicklung zeigt. 4.3
Kulturlandschaften
Wie oben bereits schon einmal erwähnt, haben wir uns auch mehrfach zur Bewahrung und sogar Weiterentwicklung unserer Kulturlandschaften verpflichtet. Zu diesen von Menschenhand geprägten Landschaften gehört nun einmal auch das Element der Siedlung. Denkmalschutz, Städtebau, Landes- und Regionalplanung und Raumordnung sind durchsetzt von dieser Zielstellung. Nach der hier beschriebenen Bestandsaufnahme des Schrumpfprozesses ist wohl die These nachvollziehbar, dass der unbeeinflusste Selbstlauf der Dinge dieses Ziel in den entsprechend betroffenen Regionen zunehmend in Frage stellt. Bereits seit Beginn der 80er Jahre wird unter Fachleuten über Auflösung der Zentren oder über den Verlust von Urbanität diskutiert. Aktuell, unter dem Einfluss des demografischen Wandels, ist die Diskussion zur perforierten Stadt zu verfolgen. Auf jeden Fall wird in den schwach strukturierten ländlichen Räumen der Umgang mit einer Siedlungslandschaft, die von einer ständig zunehmenden Zahl
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von Lücken geprägt ist, zur immer deutlicher erkennbaren Realität. Doch gerade hier brauchen wir die für den sanften Tourismus notwendigen intakten Kulturlandschaften. Bei einer Großstadt kann unter dem Aspekt der Perforation sehr wohl eine städtebauliche Aufwertung erfolgen, indem hier sehr geschickt Grünzüge hineingezogen werden. Für die kleine kompakte Stadt im ländlichen Raum kann dieses Modell nicht so richtig überzeugen. Das Land Sachsen-Anhalt hat am 19. Dezember 2007 das zweite Gesetz zur Änderung des Landesplanungsgesetzes beschlossen. In den allgemeinen Grundsätzen der Raumordnung zur Landesentwicklung hat sich unser Bundesland weiterhin zur Bewahrung und Weiterentwicklung der bestehenden Kulturlandschaften verpflichtet. Trotz der bekannten demografischen Probleme bleibt dieses Ziel also immer noch bestehen und das ist auch nur gut und vollkommen richtig! Es gibt sicher noch eine Vielzahl anderer Zielstellungen, jedoch sollen diese drei Themen genügen. Aus der Gesamtschau des bis hierher analysierten Entleerungsprozesses, einer kurzen Abhandlung wesentlicher raumbezogener Entwicklungsziele und der gleichzeitigen Erkenntnis einer davon zunehmenden Abweichung ergibt sich vor dem Hintergrund einer nun sehr deutlich gewollten nachhaltigen Entwicklung das Fundament für eine Vision.
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Visionen entwickeln „Alles, von dem sich der Mensch eine Vorstellung machen kann, ist machbar.“ (Wernher von Braun)
Das strategische Planen ist wertlos ohne strategische Vision und diese ist ein klares Bild von dem, was man erreichen will – dieser einleitende Satz ist übrigens ein abgewandeltes Zitat von John Naisbitt, einem amerikanischen Prognostiker. Also wäre dieses klare Wunschbild erst einmal zu konstruieren. Erinnern wir uns an die drei bildhaften Beispiele, mit denen ein vorstellbarer Eindruck der Entleerung im Landkreis Stendal vermittelt werden sollte und nehmen wir uns das zweite Beispiel heraus. Noch einmal kurz zur Erinnerung. Die 10 Städte, die sich heute im Territorium des Landkreises Stendal befinden, hatten 1990 die Einwohnerzahl, die dem gesamten Landkreis für 2025 prognostiziert wird. Also wären alle 116 Dörfer samt den 151 Ortsteilen statistisch gesehen leergezogen. Im Prinzip wäre diese dann sehr kompakte und natürliche Ressourcen schonende Siedlungsstruktur auf jeden Fall wohl 100%ig nachhaltig, hätte allerdings kaum noch etwas mit der ursprünglichen altmärkischen Kulturlandschaft zu tun und ist damit erst einmal ganz schnell als strategische Vision zu verwerfen. Also bitte
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keinen Schreck bekommen – dieses krasse Beispiel sollte lediglich dem gedanklichen Einstieg dienen. Wie so oft im Leben, liegt wohl auch hier das Optimum in der Mitte. Keiner kann heute erahnen, wie der Landkreis im Jahr 2025 aussehen würde, überließe man das ganze Thema dem Selbstlauf. Auf jeden Fall prophezeien Fachleute die Entstehung von Wüstungen. Unter Berücksichtigung eines fast 40%igen Schwundes und der bekannten Altersstruktur in den Dörfern kein absolut auszuschließendes Ergebnis. Aber wo entstehen diese? Eine grundstücksbezogene (also feinkörnige) Analyse ist dazu zwingend notwendig und wird in einigen deutschen Regionen auch bereits schrittweise begonnen. Dabei dürfte das totale Aussterben eines Dorfes bestimmt der Ausnahmefall sein. Wie geht man aber mit einer Struktur um, bei der eine mittelfristige Hochrechnung auf vielleicht noch 20 % genutzte Grundstücke kommt? Ist der so scharf kritisierte Gedanke von Wegzugsprämien bei solchen Dimensionen nicht doch ansatzweise zu verstehen? Im November 2007 ging die Nachricht durch die Medien, dass die Gemeinde Steinbach in Sachsen mit heute noch 97 Einwohnern aufgrund der Perspektivlosigkeit dichtgemacht wird. Zitiert wurden aber auch Betroffene und waren natürlich alles andere als begeistert. Das Mindeste, was in einem solchen Fall getan werden muss, ist die Schaffung eines vernünftigen Wohnumfelds, denn wer will schon in der Umgebung von verfallender Bausubstanz leben. Der Dorfumbau verbunden mit Finanzierungsfragen steht an. Aber schon stellt sich die Frage nach der Trinkwasserleitung, die nur noch zu 20 % genutzt wird, nach der ÖPNV Anbindung, dem Arzt, der Schule usw. Der sogenannte Selbstverantwortungsraum kommt in die Diskussion – der Staat kann nun einmal irgendwann eine flächendeckende Daseinsvorsorge nicht mehr sicherstellen. Man kann das Problem aber aus allen nur erdenklichen Sichtweisen betrachten – der Staat ist gerade hier mehr denn je gefordert. Ein Rückzug ist das falsche Signal. Gerade weil der Selbstlauf der Dinge einigen Zielstellungen zuwiderläuft, kommt es hier um so mehr auf den geordneten Rückbau, der jedoch mit Stabilisierungsmaßnahmen kombiniert werden muss, an. Die formulierten raumbezogenen Entwicklungsziele sollten dabei künftig viel stärker beachtet werden als bisher. Geordneter Rückbau oder gestaltender Umbau der Region bedeutet erst einmal 10 vitale Stadtkerne, also keine Zunahme der Lücken, verbunden mit dem Rückbau an den Ortsrändern, sofern dies notwendig bzw. möglich ist – eben einfach kompakt und lebendig. Die zentralen Orte, an der Spitze das Mittelzentrum, sind bevorzugt zu unterstützen, so dass sie ihrer Aufgabe in der höchstmöglichen Breite nachkommen können, also auch kein weiterer Abzug von Funktionen. Eine Reduzierung der Anzahl von Grundzentren ist dabei aber wohl unvermeidbar. Die dörfliche Siedlungslandschaft ist strategisch behutsam zu komprimieren.
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Ausgehend von entsprechenden Analysen zur Zukunftsfähigkeit ist es wohl sinnvoll, sich zu einer gedanklichen Aufgabe an kritischen Standorten durchzuringenSelbstverantwortungsräume schaffen und nicht mit Zwang beräumen. Dabei sollten auch bestehende Nutzungskonflikte beachtet werden, wie zum Beispiel Wohnen in überschwemmungsgefährdeten Bereichen. Die Stärkung der Innenstädte ist das aktuell erklärte Ziel der Bundesregierung. Einige Änderungen im Baugesetzbuch helfen bereits bei der Umsetzung dieser Absicht. Stellvertretend sei der § 34 (3) BauGB genannt, der die zentralen Versorgungsbereiche vor schädlichen Auswirkungen schützen soll. Damit kann nun auch die Baubehörde die gewollte Innenentwicklung unterstützen. Mehrere Förderprogramme runden dieses angestrebte Ziel ab. Widmen wir uns nun den Lücken. Hier sehen viele Praktiker ein sehr großes Handlungserfordernis hinsichtlich der Aneignung ungenutzter Grundstücke. Leerstand bedeutet nicht immer demografischer Wandel. In einem offensichtlich erheblichen Umfang sind es eigentumsrechtliche Probleme, die hier hinderlich sind. So mancher an Altbausubstanz Interessierter scheitert daran. Ungeklärte Erbfolgen, unbekannt verzogene Eigentümer oder hoffnungslos überschuldete Grundstücke hemmen jegliche Aktivitäten in einem zunächst nicht geahntem Umfang. Der Gesetzgeber gibt den Kommunen natürlich schon Handlungsmöglichkeiten. Die Hürden hängen hier aber wohl zu hoch. Die rechtlichen Möglichkeiten sollten künftig den vor Ort Handelnden ein viel strafferes und konsequenteres Herangehen ermöglichen, damit diese ein Grundstück zeitnah erwerben und weiter veräußern können. Es ist bekannt, dass man da nicht so recht ran will – aber es ist dringendst notwendig. Lücken wollen genutzt werden! Jegliche Ansiedlungen in den klar abgrenzbaren Stadtkernen, egal ob Wohnen, Gewerbe oder Handel, ist in den entsprechend gefährdeten Regionen mit den bestmöglichen Rahmenbedingungen zu unterstützen. Ob Förderprogramm oder steuerliche Vergünstigungen oder noch besser beides – auf jeden Fall ganz strikt auf diesen gewünschten Ansiedlungsbereich zugeschnitten und im Interesse der zentralen Orte im Anreiz abgestuft. Bei den Mittelzentren sollten diese Sonderkonditionen in leicht differenzierter Form auch für die anderen Bauflächen innerhalb des Stadtgebietes gelten. Im Gegenzug müssten eigentlich kerntypische Nutzungen auf den ungewünschten Ansiedlungsflächen finanziell zusätzlich belastet werden. Dem freien Markt muss eine Ansiedlung in den Stadtkernen der strukturschwachen Regionen mit allen machbaren Mitteln schmackhaft gemacht werden. Die notwendige Abkehr von der sogenannten Gießkannenförderung zwingt zu dieser gezielten Strategie! Nur so kann man wirklich stabilisierend und damit nachhaltig in den peripheren strukturschwachen Räumen handeln.
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Fazit
Die gewollte endogene Regionalentwicklung bedarf der exogenen Unterstützung. Erinnert sei hier an die Kategorie der Regionen mit Stabilisierungsbedarf. Schaffen wir die Gesundung unserer angeschlagenen Klein- und Mittelstädte im ländlichen Raum, kann davon ausgegangen werden, dass damit auch das Umland sehr deutlich stabilisiert wird. Stadtentwicklung ist Regionalentwicklung und umgekehrt. Das Ganze soll natürlich nicht bedeuten, dass in den Dörfern nichts mehr unterstützt werden soll. Natürlich geht es hier auch im Rahmen der Eigenversorgung um die Schaffung alternativer Arbeitsplätze, die dem Strukturwandel der Landwirtschaft geschuldet sind. Für die Dörfer stellt sich weiterhin natürlich die Frage zum Umgang mit den Strukturen, die nicht zukunftsfähig sind. Dass es sich hier um ein äußerst sensibles Thema handelt, muss wohl nicht besonders hervorgehoben werden. Stichwort: Werteverfall der Grundstücke. Der Freiwilligkeit ist natürlich der Vorzug einzuräumen. Der erfahrene Praktiker weiß, dass das nicht der Regelfall sein wird. Oder überzeugt doch die Wegzugsprämie zum Umzug in das stabilere Nachbardorf oder in die nächste Stadt? Beräumung mit Zwang? Für die Kohleförderung wird sicherlich so verfahren. Wird sich der Fall Steinbach künftig mehrfach wiederholen oder ist das Ganze übertriebener deutscher Ordnungssinn? Ehrlich gesagt, zu diesen Fragen fällt eine passende Lösung schwer. Vielleicht ist es dann doch am Ende der Selbstverantwortungsraum, der natürlich baurechtlichen Beschränkungen unterliegen muss. Die alleinige Konzentration auf die bestehenden endogenen Potentiale wird in den stark betroffenen Regionen nicht ausreichen. In Anbetracht bestehender Zielstellungen wird auf zusätzliche punktuell wirkende Stabilisierungsstrategien gehofft. Nur damit kann die kurz angerissene Vision auch tatsächlich einmal Realität werden. Das beschriebene Szenario ist vorstellbar und damit machbar. Allein die komplizierten Fragestellungen zum Eigentum erfordern eigentlich diese von außen zugeführte Unterstützung. Schließlich handelt es sich beim Eigentum um die tragende Säule unserer Gesellschaft. Ein weiteres Auseinanderdriften der Regionen birgt immensen sozialen Sprengstoff und bietet den idealen Nährboden für extreme politische Grundhaltungen. Der ländliche Raum will doch gar nicht zum Ballungsraum aufsteigen und sicher wird die Stadt Stendal nie wieder die 50.000 oder der Landkreis die 156.000 Einwohner erreichen. Doch eine sicherlich einmalige Kulturlandschaft soll schließlich bewahrt und entwickelt werden. Die prognostizierten Einwohnerzahlen dürften kaum das zur Bewahrung der vorhandenen Potentiale dieser Kulturlandschaft ausreichende Nutzungspotential verkörpern. Was war im Jahr 2007? – ach ja, das Europäische Jahr der Chancengleichheit!
Gemeinweseninitiativen – Stützen nachhaltiger lokaler Entwicklung Marion Piek
Große Teile der ländlichen Gebiete Brandenburgs sind durch geringe wirtschaftliche Impulse, hohe Arbeitslosigkeit, dünne Besiedlung und Abwanderung vor allem junger Menschen gekennzeichnet. Die Lebensqualität, die von den Brandenburger/-innen weit verbreitet vom Zugang zur Erwerbsarbeit festgemacht wird, ist stark beeinträchtigt. Die Grundversorgung ist – zumindest für Teile der Bevölkerung – nicht mehr hinreichend gewährleistet. Andererseits ist seit fast 10 Jahren in Brandenburg wie im gesamten Bundesgebiet ein erst leiser inzwischen nicht mehr zu überhörender Ruf, insbesondere von Politik und Verwaltung, zu vernehmen, das bürgerschaftliche Engagement, die Zivilgesellschaft solle doch stärker als Träger gesellschaftlicher Arbeit gewonnen und eingebunden werden.
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Vielfalt an Initiativen und Aktionsfeldern
Die Angebote und Aktivitäten von Vereinen, Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, Bündnissen und Netzwerken der unterschiedlichsten Couleur gehören zu unserem Alltag und zu unserem Grundverständnis eines demokratischen Gemeinwesens. Unsere Lebensqualität wäre um ein Vielfaches ärmer, gäbe es nicht das vielfältige freiwillige Engagement von Bürger/-innen und dieses breite Spektrum gemeinwesenorientierter Initiativen und Organisationen (im Folgenden: Gemeinweseninitiativen). Zudem geben sie mit ihrer Arbeit auch anderen Menschen Entfaltungsraum für Engagement, entgegen Isolation und Lethargie, und wirken mit ihren Aktivitäten identitätsstiftend für den Ort. Für ländliche Regionen spezifische Gemeinweseninitiativen sind beispielsweise Dorf- und Regionalentwicklungsvereine, Landfrauen- und Landjugendvereine, Natur-, und Landschaftsschutzvereine, Bauern- und Jagdvereine, LEADERGruppen und nicht zuletzt die Dorfkirchen.
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Tabelle 1:
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Typische Handlungsfelder und Angebotsspektren von Gemeinweseninitiativen in ländlichen Gebieten
Handlungsfelder
Angebote
Soziales und Bildung
Freizeit-, Beratungs- und Bildungsangebote, ausgerichtet nach unterschiedlichen sozialen Gruppen (u. a. alters- oder geschlechtsspezifische Angebote, wie Jugendclubs oder Senior/-innenbetreuungen), Sozialküchen, Tafel
Kultur
Ausstellungen und Veranstaltungen, Theater, Pflege, Aufarbeitung und Verbreitung kultureller Traditionen und Güter etc.
Sport
Kinder-, Jugend-, Seniorensportgruppen und -vereine der unterschiedlichen Sportarten
Ökologie
Ökologische Landwirtschaft (bis hin zu gesunder Ernährung), nachwachsende Rohstoffe, dezentrale ökologische Kläranlagen, Lehm- und Ökobau, Umwelt-, Naturschutz und -kunde, Erhalt und Pflege der Kulturlandschaften und alter Obst/-Gemüsesorten etc.
Tourismus
Touristische Dienstleistungsangebote zu unterschiedlichen Themen, u. a. lokal verwurzelte Traditionen, Gebräuche und Handwerk sowie ländlicher, Kultur- und/oder Industrietourismus oder andere Besonderheiten
Gemeinwesenentwicklung
Unterstützung der Teilhabe von Bürger/-innen (im Sinne von Bewohner/-innen, Unternehmen, Vereinen) an der Entwicklung ihres Gemeinwesens, Koordinierung von bzw. Mitwirkung an lokalen Agendaprozessen und Leitbildentwicklungen, Durchführung von Dorfcafes, problembezogene Bürgerinitiativen, Förderung inner- und überregionaler Kooperation, Freiwillige Feuerwehr
Oft wirken die Gemeinweseninitiativen über ihr selbstdefiniertes Aufgabenfeld weit hinaus, engagieren sich bei der Lösung lokaler Problemlagen und sind Impulsgeber neuer Entwicklungen. Um neue Ideen und Projekte für ihre Mitmenschen und ihren Ort, ihre Region anzustoßen und auf den Weg zu bringen, entwickeln sie ein hohes Maß an Kreativität, Flexibilität und Motivation. Trotzdem stehen sie nicht selten vor der Frage: Wie lange können wir noch (so) weiterarbeiten? Nicht nur bei der Umsetzung eigener Projekte, sondern insbesondere hinsichtlich der Gestaltung ihrer eigenen Organisationsentwicklung und der Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Tragfähigkeit haben die Initiativen vielfach Reserven, die sie mangels professioneller Unterstützung jedoch nicht heben können, denn nicht alle Angebote für den Ort, die Region sind aus reiner Selbsthilfe und Eigenarbeit umsetzbar.
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Beschäftigungspotenziale
Die Gemeinweseninitiativen haben mit ihren vielfältigen Angeboten hohe Beschäftigungspotenziale. Mangels Einnahmemöglichkeiten können sie diese aber nur bedingt in zusätzliche Erwerbsarbeit umsetzen. Nicht selten geht das Engagement der Aktiven durch den finanziell bedingt sehr flexiblen Umgang mit den verschiedenen Arbeitsformen zwischen Erwerbsarbeit und Freiwilligenarbeit bis hart an die Grenzen des dem Einzelnen Zumutbaren.1 Gleichwohl sehen die in den Initiativen Tätigen es oftmals als ihre persönliche Verantwortung an, sich einzubringen, die Arbeit aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.2 Die prekäre Lage am Arbeitsmarkt gerade in den Berlin fernen Gebieten Brandenburgs – gekennzeichnet durch hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende Beschäftigung im Niedriglohnsektor und auf der anderen Seite eine beklemmende Verdichtung der Arbeitsaufgaben der Beschäftigten – wirkt sich indes negativ auf die Engagementbereitschaft bzw. -fähigkeit des Einzelnen aus. Ein Mindestmaß sozialer Absicherung ist erforderlich, um sich gesellschaftlich einbringen zu können.3 Wie sich der Wandel der heutigen Arbeitswelt in der zunehmend zu beobachtenden Verwischung der Grenzen zwischen Ehrenamt und Erwerbsarbeit niederschlägt und welche Konsequenzen dies für die Zukunft freiwilliger gesellschaftlicher Arbeit hat, wurde unlängst auf einer Tagung des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement diskutiert, u.a. vor dem Hintergrund, dass ehrenamtliches Engagement ein gesichertes Einkommen des Aktiven voraussetzt.4 Die Beschäftigungspotenziale der Gemeinweseninitiativen können sich nicht entfalten, da viele ihrer Angebote unter heutigen Marktbedingungen trotz der mehr oder weniger freiwilligen Selbstausbeutung ihrer Mitglieder nicht wettbewerbsfähig sind.5 Das heißt jedoch nicht, dass diese Arbeit gesellschaftlich nicht ________________ 1 Siehe Piek, M.: Beschäftigungspotenziale gemeinwesenorientierter lokaler Initiativen in Brandenburg. In: Bonas, I. et al (Hg. 2006): Gemeinschaftsnutzungsstrategien für eine lokale nachhaltige Entwicklung. oekom Verlag München 2 Siehe Schumacher, U.: „Neue“ Arbeitsformen und gemeinschaftliches Handeln – Rahmenbedingungen und Entwicklungstendenzen im ländlichen Raum Brandenburgs. In: Bonas, I. et al (Hg. 2006): Gemeinschaftsnutzungsstrategien für eine lokale nachhaltige Entwicklung. oekom Verlag München 3 Ausgenommen in Protestbewegungen. 4 Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement: Fachtagung: „Engagement und Erwerbsarbeit – Produktive Ergänzungen, Übergänge, problematische Grauzonen“ am 8./9. November 2007, Berlin 5 Siehe Bonas, I., Buchholz, K., Denisow, K., Piek, M. Scholl, G., Rabelt, V.: Bilanz der AG Ökonomie – neue Nutzungsstrategien setzen innovative ökonomische Akzente. In: Rabelt, V. et al (2005): Strategien nachhaltiger Produktnutzung – Wirtschaftswissenschaftliche Ansätze und praktische Experimente im Dialog. oekom Verlag München
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notwendig ist. Was wäre die Tourismuswirtschaft in Brandenburg ohne die ehrenamtliche Arbeit der Heimat-, Traditions-, Naturschutz- und Tourismusvereine? Mit ihren Angeboten leisten die Initiativen einen unbestreitbaren Beitrag zur Stabilisierung und zur Innovation unserer Gesellschaft. In diesem Zusammenhang tritt zudem ein Dilemma vieler Kommunen hinsichtlich der Sicherung des zukünftigen sozialen Zusammenhalts zutage. Ein Dilemma, das sich in ländlichen Kommunen mit ohnehin geringer Bevölkerungszahl durch Wegzug junger Leistungsträger und rasant anschwellender Überalterung noch verschärft. Angesichts der eigenen Haushaltsnotlage trennen sich immer mehr Kommunen von nicht pflichtigen Aufgaben. Dies geschieht gewiss nicht leichtherzig und die fatalen Wirkungen für die kommunale Entwicklung sehr wohl erkennend. Doch mangels durchsetzungsfähiger Alternativen sind soziale Dienstleistungen oftmals noch immer zuerst vom Rotstift betroffen. Und ebenso oft wird erwartet, dass die örtlichen Gemeinweseninitiativen schon in die Bresche springen werden, deren nicht bessere Lage vernachlässigend. Wenn weder Kommune noch Gemeinweseninitiative ihre Angebote aufrechterhalten können, werden immer häufiger neue Akteursverbünde bzw. Netzwerke aus Kommunen, Vereinen und Unternehmen entwickelt, z. B. die Lokalen Bündnisse für Familie oder die Lernenden Regionen6, in denen die Gemeinweseninitiativen als gleichberechtigte Partner mitarbeiten. Eine Chance für alle Beteiligten. Da die Arbeit der Gemeinweseninitiativen demnach notwendig, aber nach herrschenden Marktbedingungen nicht oder kaum selbständig wirtschaftlich tragfähig ist, benötigen sie die Unterstützung der Gesellschaft.
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Finanzierung über öffentlich finanzierte Projektarbeit – pro und contra
Gemeinweseninitiativen in Brandenburg arbeiten in der Regel mit einem Mix an Finanzierungsquellen, zum nicht unerheblichen Teil mit Zuschüssen der öffentlichen Hand, davon insbesondere denen der Bundesanstalt für Arbeit und des Europäischen Sozialfonds, z. T. mit LEADER-Mitteln, anderen Programmen des Bundes und des Landes. Bedingt durch die eigene Haushaltsnotlage werden von den Kommunen nur selten und zumeist marginal Mittel zur Förderung von Vereinstätigkeiten bereitgestellt. Ohne diese Förderungen wäre ein Großteil der Entwicklungsarbeit der Gemeinweseninitiativen nicht möglich. Bei tendenziell abnehmender öffentlicher Förderung wird allerdings die Beantragung und Umsetzung von Projekten immer ________________ 6 siehe: http://www.lernende-regionen.info/dlr bzw. http://www.lokale-buendnisse-fuer-familie.de/
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aufwendiger, weil zugleich die Zielvorgaben und Verwaltungsanforderungen der Zuwendungsgeber stetig steigen. Das hat zur Folge, dass Gemeinweseninitiativen permanent mit Mittelakquise befasst sind. Gerade bei den Initiativen, die mit einem hohen Anteil Freiwilliger arbeiten, kostet die Beantragung von Fördermitteln oft die letzten verfügbaren Personalkapazitäten, so dass keine freien Kapazitäten für die Entwicklung neuer Projekte verbleiben. Die bestehenden Förderangebote, z. T. auch nur deren konkrete Auslegung vor Ort, sind für die Zielerreichung der Gemeinweseninitiativen eher ineffizient und verschlingen viel Energie der Aktiven. Diese Energie fehlt letztlich, um alternative Finanzierungsquellen zu erschließen, wie beispielsweise Sponsoring und Spenden, den Aufbau kapitalfreier Tauschformen, aber auch die Entwicklung und Etablierung marktfähiger Produkte. Infolge der überwiegend projektförmigen Umsetzung geförderter Vorhaben werden längerfristige kontinuierliche Arbeits- und Organisationsentwicklungsprozesse in den Gemeinweseninitiativen erheblich erschwert, obwohl die meisten inzwischen über umfangreiche Kompetenzen des Projekt- und Fördermittelmanagements verfügen. Nachteilig wirkt sich insbesondere aus, dass öffentliche Förderung keine längerfristige Mitarbeiterbindung und damit keine systematische Personalentwicklung in den Initiativen ermöglicht. Grundsätzlich ist daher festzuhalten, dass diese Initiativen – und darin unterscheiden sie sich überhaupt nicht von anderen Organisationen – eine höhere Kontinuität und Planbarkeit von Förderkonditionen und anderen rechtlichen Rahmenbedingungen benötigen. Angesichts rückläufiger öffentlicher Fördermittel und der aus ihrem Einsatz resultierenden Schwierigkeiten ist zur Umsetzung von Ideen bei den Initiativen wie auch bei der öffentlichen Verwaltung zukünftig ein Umdenken, sind neue Unterstützungs- und Finanzierungsmodelle erforderlich.
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Mikrofinanzierung und regionalisierte Förderprogramme
Bewährt haben sich für Gemeinweseninitiativen Anschubfinanzierungen oder Impulsförderungen, sog. Mikrofinanzierungen, wie sie zum Teil über die Förderung der Aktivitäten zur „Nachhaltigen Entwicklung – Lokale Agenda 21 im Land Brandenburg“ des Ministeriums für Ländliche Entwicklung (MLUV) erfolgte. In den Jahren 2004–2006 wurden in diesem Rahmen 65 Projekte zum nachhaltigen Wirtschaften, zur nachhaltigen Regionalentwicklung bzw. für Bildungsvorhaben gefördert. Das Brandenburger Arbeitsministerium (MASGF) erprobte im Rahmen des Programms „Lokale Beschäftigungsinitiativen“ diese Finanzierungsform im Zeitraum 2002–2006 bei rund 600 Vorhaben von Gemein-
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weseninitiativen mit guten Ergebnissen.7 Seit 2007 sind nun die Landkreise und kreisfreien Städte Brandenburgs aufgefordert, über die ESF-finanzierten Regionalbudgets8 neben anderen Ansätzen auch Gemeinweseninitiativen zu fördern und viele Kreise verfolgen diesen Ansatz weiter. Der hohe qualitative Standard und die hohe Zahl geförderter Initiativen ist unter diese neuen Bedingungen allerdings kaum zu erwarten. Zur Effektivierung des Fördermitteleinsatzes hinsichtlich sparsamer Mittelverwendung bei zugleich höchstmöglichem Projektergebnis hat sich seit einiger Zeit bei der öffentlichen Hand die Projektauswahl in Form des (Ideen-)Wettbewerbes als gängige Praxis durchgesetzt. Solche Wettbewerbe erweisen sich jedoch eher als zusätzliche Benachteiligung ohnehin schwächerer Regionen, da die Wettbewerbsteilnehmer eben nicht von der gleichen Startlinie loslaufen. Gebraucht werden dauerhaft wirksamere Organisations- und Finanzierungsmodelle. Modelle, die nicht vom Fördertropf abhängig machen, wie es die jetzigen projekt- oder maßnahmeorientierten Förderungen häufig bewirken. In der Förderung und Weiterentwicklung alternativer Organisations- und Finanzierungsmodelle ist ein wesentlicher Unterstützungsbedarf zu sehen. Insbesondere Modelle, die eine Kooperation und Vernetzung von verschiedenen Partnern eines Gemeinwesens zum Ziel haben, wie beispielsweise Bürgerstiftungen, Regionalfonds9 und Regionalwährungen aber auch neuere Genossenschaftsmodellen oder Teamgründungen, sollten mehr Beachtung finden, da diese kooperativen Arbeitsbündnisse unter den beschriebenen Bedingungen am ehesten eine dauerhaft tragende Lösung versprechen. Bei diesen Organisationsformen ist jedoch eine längerfristige Aufbauarbeit erforderlich, gerade weil es sich hierbei um kooperative und zum Teil hoch komplexe Modelle handelt, die wesentlich auf Vertrauen zwischen den Partnern basieren. Der entscheidende Vorteil dieser Modelle gegenüber der bisherigen Förderung ist darin zu sehen, dass im Fokus der Förderung nicht die einzelne Person bzw. Organisation steht, sondern das Gemeinwesen – die Region, der Ort. Im Rahmen von EU-Förderungen werden solche Ansätze in Brandenburg bereits erprobt, z.B. innerhalb der erwähnten Regio-
________________ 7 ISOPLAN Consult im Auftrag der Landesagentur für Struktur und Arbeit (2006): Formative Evaluation des Programms „Lokale Initiativen für Beschäftigung im Land Brandenburg“. Unveröffentlicht. 8 Regionalbudget „Beschäftigungsperspektiven eröffnen – Regionalentwicklung stärken“, siehe: http://www.lasa-brandenburg.de/Regionalbudget.45.0.html 9 Regionalfonds: Nicht zu verwechseln mit den EU-Strukturfonds-basierten Fonds für Regionalentwicklung – EFRE. Die Regionalfonds werden ausschließlich aus der Region selbst heraus organisiert, z. B. in Form von Stiftungen.
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nalbudgets des MASGF oder der LEADER-Förderung des Ministeriums für Ländliche Entwicklung (MLUV)10. Die mit den Regionalbudgets des MASGF und ansatzweise auch mit den LEADER-Regionen regionalisierte Fördermittelvergabe kann sich positiv für die Förderung von Gemeinweseninitiativen auswirken. Mit solchen Verfahrensweisen werden die regionalen Besonderheiten besser berücksichtigt und die regionale Eigenverantwortung und Handlungskompetenz unterstützt.
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Erfahrungs- und Wissenszugang ermöglichen
Da die Gemeinweseninitiativen unter den gegebenen Bedingungen sowohl zeitlich als auch finanziell oft am Rand der Überforderung arbeiten, gerät nicht selten die zielgerichtete und kontinuierliche eigene Personal- und Organisationsentwicklung aus dem Blickfeld. Hilfreich wäre die Bereitstellung von Beratungsangeboten über die für die Gemeinwesenarbeit spezifischen Finanzierungs-, Organisations- und Kooperationsmodelle. Ähnlich der Angebotsstruktur für Privatunternehmen benötigen die Gemeinweseninitiativen staatlich oder privatwirtschaftlich organisierte kostenlose oder kostengesenkte, an ihren spezifischen Bedarf angepasste Beratungs- und Qualifizierungsangebote. Derzeitige Angebote bestehen sowohl zeitlich als auch im Umfang oft nur punktuell, z. B. im Rahmen von Forschungsvorhaben, arbeiten nicht umfassend und systematisch bzw. sind für die Akteure entfernungsbedingt nicht zugänglich. Gemeinweseninitiativen haben vorrangig regional arbeitende Austauschforen und Vernetzungsstrukturen bzw. solche, die kaum über ihre engeren Betätigungsfelder hinausgehen, z. B. Tauschringe. Benötigt werden Erfahrungsaustausche über gelungene wie auch gescheiterte Beispiele, wie es 2007 dem Verein Brandenburg 21 mit dem 1. Tag der Dörfer in Frauendorf11 gelungen ist. Thematisiert wurden neun unterschiedliche Beispiele für Dorfökonomie, beispielsweise der Wirtschaftsstammtisch aus Pretschen und der solidarische Organisationsverbund rund um den Landschaftspflegeverein Lenzener Elbtalaue. Diese Austauschplattform wurde von den Dörfern sehr gut angenommen und soll als jährlich wiederkehrendes Angebot bereits etablierte Formen, wie die Auszeichnung das „Schönste Dorf“, ergänzen. Das Thema für den 2008 in der Prignitz stattfindenden 2. Tag der Dörfer greift erneut ein aktuelles Problem dörflichen Lebens ________________ 10 Siehe Richtlinie des MLUV über die „Integrierte ländliche Entwicklung (ILE) und LEADER“.unter http:// www.mluv.brandenburg.de 11 Fierment, G, Stöber, S. (2007): „Lebendige Dorfökonomie: Beispiele und Erfahrungsaustausch Eindrücke vom Tag der Dörfer 2007 im Land Brandenburg“ unter http://www.la21bb.de/ service/fierment_29.pdf
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auf: „Das Miteinander der Generationen im Dorf – mit innovativen Ansätzen dem demografischen Wandel aktiv begegnen“12 und soll zudem internationale Erfahrungen, wie die der schwedischen und europäischen Dorfaktionsbewegung13 einbinden. Ein Ziel dieser Veranstaltungen ist es, in Brandenburg ein Netzwerk „Lebendiger Dörfer“ als Austauschplattform dörflicher Akteure zu bilden. Was letztlich fehlt, ist eine Bündelung des Wissens, der Erfahrungen wie auch der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion rund um die Gemeinwesenarbeit und ihre Besonderheiten. Hilfreich wäre eine Brandenburger Agentur für Gemeinwesen-Selbsthilfe. Kein Anbieter gemeinwesenbezogener Beratungs- bzw. Lernangebote verfügt derzeit über ein beständiges oder gar umfassendes, auch entlegene Orte bedienendes Angebot. Die Aufgaben einer solchen Agentur wären: − −
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vorhandenes Wissen über Gemeinwesenarbeit gebündelt anzubieten und mitschreitend mit der Alltags- und Forschungspraxis zu aktualisieren, systematisch Qualifizierungs- und Beratungsangebote für gemeinwesenorientierte Initiativen über Aktivierungsformen, alternative Finanzierungsmodelle sowie Organisations- und Kooperationsformen etc. zu entwickeln und bereitzustellen, Erfahrungsaustausche, Kooperationen und Vernetzungen zu organisieren und schließlich mittels Öffentlichkeitsarbeit die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung von gemeinwesenorientierten Initiativen zu verbessern.
Fazit
In den ländlichen Gebieten Brandenburgs engagieren sich viele Bewohner/-innen in ihren Gemeinweseninitiativen auf vielfältige Weise bei der Sicherung der lokalen Versorgung und der Mitgestaltung einer angemessenen Lebensqualität. Nicht zuletzt fördern sie die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an materiellen und immateriellen Gütern. Das gemeinschaftliche Handeln vermittelt ihnen Mut und Kraft für eine Arbeit, die oft die Grenzen des Zumutbaren der Aktiven erreicht. Doch ohne die Unterstützung der Gesellschaft, insbesondere durch die verschiedenen förderalen Ebenen von Politik und Verwaltung bei der Mitgestaltung von Rahmenbedingungen, können die Potenziale der Gemeinweseninitiativen für die Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität nicht voll erblühen. ________________ 12 Weitere Informationen unter http://www.la21bb.de/aktuelles.html 13 Krambach, K. (2007): Die europäische Dorfaktionsbewegung – Erfahrungen und neuere Entwicklungen. BBE-Newsletter 21/2007, unter http://www.b-b-e.de/uploads/media/nl21_krambach.pdf
Wirtschaftsförderung in der Wesermarsch – ein ganzheitlicher Ansatz zur Regionalentwicklung Jörg Wilke
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Vorbemerkung
Kommunale Entwicklungsprozesse sind vielfältig und zunehmend komplexer und damit für Politik und Verwaltung vor Ort schwerer steuerbar. In Verbindung mit den fiskalischen Schrumpfungsprozessen des öffentlich-rechtlichen Sektors bedeutet dies, dass andere, nicht „klassische“ Herangehensweisen in Fragen der sozio-ökonomischen Entwicklung von Regionen zur Anwendung kommen müssen, um eine Eigen-Steuerung kommunaler Spielräume sicherzustellen. Im Zusammenhang mit raumordnerischen Prinzipien folgenden Konzentrations- und Agglomerationsprozessen – Stichwort „Metropolregion“ – und der zunehmenden Segregation von urbanisierten und ländlichen Räumen, sind autonome und ausschließlich kommunale Entscheidungen nicht mehr zeitgemäß. Hier gilt es, im interkommunalen Verbund Entwicklungen zu begleiten, Prozesse in einschlägigen Akteursnetzwerken zu steuern und branchenorientierte und wertschöpfungskettenbezogene Kooperationsansätze zu unterstützen. Diese in langjähriger Praxis gereifte Einschätzung bestätigt den von der Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH schon 2000 gewählten pro-aktiven ganzheitlichen Beratungsansatz, der es sich zur Aufgabe macht, Entwicklungsprozesse sowohl aus einzelbetrieblicher, unternehmerischer und regionalwirtschaftlicher Sicht zu begleiten. Zusätzlich werden die Aufgaben einer Entwicklungsagentur übernommen, die auf Strategiebildung, Konzepterstellung und Projektentwicklung mit den Partnern aus Wirtschaft, Verwaltung und Hochschulen der Region setzt. Die nachfolgend dargelegten Beispiele verdeutlichen diesen Ansatz. Aber auch den Zwiespalt, den politisch-taktisch motivierten Singularinteressen immer wieder mit Beharrlichkeit bei der Abwehr von aktionistischen und kurzfristigen Ergebnissen geschuldeter „Schaumschlägerei“ entgegenzutreten. Dies funktioniert und kann auch mit Leidenschaft und Engagement viel Spaß und Freude in der Sache bringen.
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Die Wesermarsch zwischen Industrie- und Kulturlandschaft Die wirtschaftsstrukturellen Eigenarten des Landkreises Wesermarsch und die damit verbundene „Zweigesichtigkeit“ – ländlicher Raum mit Grünlandwirtschaft einerseits und hoch verdichteter Industriestandort entlang der Weser andererseits – geben die Denkrichtung für einen pragmatischen Wirtschaftsförderungsansatz vor: Die Förderung der Wirtschaft wird mit Hilfe eines breit gefächerten Instrumentenkastens vollzogen. Ihre Herausforderung besteht darin, voraushandelnd bestehende Potenziale aufzuschließen und zu verknüpfen, um sie nachhaltig Struktur-bildend wirksam werden zu lassen: die Entwicklungsmöglichkeiten der lokalen Wirtschaft und die Standortpotenziale der Wesermarsch sollen umfassend genutzt werden. Daher fühlt sich die Wirtschaftsförderung für ein breites Themenspektrum verantwortlich: Unternehmensförderung, Standortentwicklung, Innovation, Technologietransfer, EU-Förderung, Tourismus und Ländlicher Raum gehören zu ihren Schlüsselthemen. Philosophie der Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH Zur Philosophie der Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH gehört weiterhin, Menschen für Ideen zu gewinnen und sie zu motivieren, sich für die Wesermarsch einzusetzen. Dieser Haltung gegenüber den hier lebenden und arbeitenden Menschen wird mit dem nötigen Respekt und der Bereitschaft Rechnung getragen, sich auf die Eigenarten der Wesermarsch einzulassen. Um die Wirtschaft in der eigenen Region gezielt zu unterstützten und lokal verwurzelte kleinere und mittlere Betriebe in ihrer Wettbewerbsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung zu befördern, hat die Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH kürzlich in Kooperation mit dem Landkreis Wesermarsch ein eigenes Förderprogramm aufgelegt: Das „Förderprogramm für die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU)“ unterstützt Investitionsvorhaben wesermärscher Betriebe aus Finanzmitteln der Europäischen Union im Rahmens des Regionalisierten Teilbudgets und aus Mitteln des Landkreises. Internationaler Netzwerkpartner Über die Arbeit in der eigenen Region hinaus verfolgt die Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH eine überregionale Perspektive. Beispielhaft dafür sind der enge Austausch mit den umliegenden Gebietskörperschaften wie das gemeinsame Regionalmanagement mit der Stadt Wilhelmshaven und den Nachbarlandkreisen Friesland und Wittmund, um die großen Infrastrukturvorhaben am Jadebusen (z.B. JadeWeserPort) zum gemeinsamen regionalwirtschaftlichen Vorteil auszu-
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schöpfen. Daneben wird seit 1998 die Beteiligung an transnationalen Projekten zu Wirtschaftsentwicklungsansätzen im Nordseeraum über das europäische INTERREG-Programm mit eigenen Projekten vorangetrieben. Hier weist die Wesermarsch in Norddeutschland aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen und Fachkompetenz ein Alleinstellungsmerkmal auf. Das zielgerichtete Einwerben von EU-Fördermitteln spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle. Bereits in der vergangenen Förderperiode konnten Richtlinien und Förderprogramme umfänglich und erfolgreich genutzt werden. So wurden zum Beispiel durch Förderung aus dem Europäischen Sozialfonds Arbeitslose als auch Beschäftigte in Betrieben passgenau qualifiziert und Wachstumssektoren zugeführt bzw. für Modernisierungsanstrengungen fit gemacht. Dazu gehörte u.a. auch Existenzgründungsförderung durch bedarfsgerechte Coachingangebote. Weiterhin wurden maßgebliche Fördermittel für den Ausbau von Infrastrukturmaßnahmen aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung EFRE eingeworben. Insgesamt sind so von 2000–2007 annähernd 80 Mio. € aus den einschlägigen EU-Strukturfonds in die Wesermarsch geflossen. LEADER – „Wesermarsch in Bewegung“ Durch das europäische Förderprogramm Leader, das Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft verbindet, konnten Projekte zur nachhaltigen Regionalentwicklung unterstützt werden. Knapp 70 Einzelvorhaben mit dem Schwerpunkt „Inwertsetzung des Natur- und Kulturerbes“ förderte die EU mit insgesamt 2 Millionen Euro. Dazu gehören so erfolgreiche Projekte wie der Vogelbeobachtungspfad „Kiekpadd“, die Rekonstruktion des Bronzezeithauses als Beleg der Frühbesiedlung in der Marsch sowie die Melkhüs, in denen die typischen Milchprodukte der Wesermarsch an Ausflügler und Radtouristen ab Hof verkauft werden. Wesermarsch zwischen Weltmarkt und Wochenmarkt Mit der oben beschriebenen Strategie der ganzheitlichen Berücksichtigung regionalwirtschaftlicher und internationaler Wirtschaftsentwicklungen möchten die Geschäftsleitung und die Mitarbeiter der Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH einen Beitrag dazu leisten, die unterschiedlichen Ansprüche von Menschen in ihrer Region und den Nachbarregionen so zu befriedigen, dass die Belange von Regionalisierung und Globalisierung in der Wesermarsch zu vereinen sind.
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Leader – Ein Beitrag zur proaktiven ländlichen Entwicklung in der Wesermarsch
Die „Siellandschaft Wesermarsch“ liegt im nördlichen Niedersachsen und wird von der Nordsee und den Flüssen Weser und Jade sowie dem Jadebusen aus drei Himmelsrichtungen umschlossen. Die Region erhält dadurch einen ausgeprägten halbinselartigen Charakter. Die Siellandschaft Wesermarsch zeichnet sich durch eine hohe naturräumliche, kulturlandschaftsgeschichtliche, landwirtschaftliche und soziokulturelle Homogenität aus. Im einheitlichen Naturraum der See- und Flussmarschen bilden Sedimente der Nordsee und der Weser den Marschboden. Die besonderen Erfordernisse an das Leben in einer Küstenregion wie Deichbau und Entwässerung erzeugten besondere Kulturtechniken, traditionelle Siedlungsund Sozialstrukturen, und formte einen Menschenschlag, der sich mit seinem Leben und Wirtschaften dem von Wasser und Gewässern geprägten Naturraum angepasst hat. Natur- und Kulturraumprägendes Sielsystem Die Besonderheit der Siellandschaft Wesermarsch ist das Sielsystem. Dieses künstlich geschaffene, weitläufige Wassermanagementsystem durchzieht den Natur- und Landschaftsraum auf einer Länge von 20.000 Kilometern. Es ermöglicht ganzjährig die Abfuhr des binnenländischen Niederschlagswassers Richtung Weser und Nordsee – wodurch die feuchten Böden der Siellandschaft Wesermarsch erst besiedelbar und landwirtschaftlich nutzbar werden –, und verhindert in den Sommermonaten durch Zuwässerung aus der Weser die Austrocknung der Gräben. Das Sielsystem in der Wesermarsch ist Ausdruck einer historisch gewachsenen Anpassungsstrategie des wirtschaftenden Menschen an einen besonderen Lebensraum, das bis heute Natur, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft der Region prägt. Raum- und Siedlungsstruktur Die 822 Quadratkilometer große, langgestreckte Wesermarsch teilt sich administrativ in neun Kommunen (Berne, Brake, Butjadingen, Elsfleth, Jade, Lemwerder, Nordenham, Ovelgönne und Stadland) auf. Die Bevölkerungsdichte beträgt durchschnittlich 113 Einwohner pro Quadratkilometer, wobei die Raumstruktur der Siellandschaft Wesermarsch durch eine starke Differenzierung zwischen einem Siedlungsband längs der Weser und dem dünn besiedelten Hinterland gekennzeichnet ist. Kulturhistorisch bedingte Siedlungsformen und -strukturen sind vielfach noch intakt. Die Verkehrsinfrastruktur ist aufgrund überlasteter Bundes-
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straßen, einem beschränkten ÖPNV- und Schienenverkehrsangebot sowie durch unzulängliche Möglichkeiten, die Weser zu queren, schwach ausgeprägt. Eine Autobahn und Oberzentren existieren in der Siellandschaft Wesermarsch nicht. Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerungsentwicklung ist seit Jahren gleichbleibend rückläufig. Viele junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren verlassen als Ausbildungsabwanderer die Wesermarsch, dagegen konzentrieren sich in den Küstengemeinden Bewohner der Altersgruppe über 60 Jahren. Finanzlage und Wirtschaftskraft Die Finanzlage der Siellandschaft Wesermarsch ist ambivalent. Einem hohen Bruttoinlandsprodukt stehen hohe kommunale Schulden- und Ausgabelasten gegenüber, die im Wesentlichen auf den Strukturwandel mit einhergehenden Arbeitsplatzverlusten und auf den hohen Anteil von Langzeitarbeitslosen zurückgehen. Wenige große Industriebetriebe erzielen nahezu die Hälfte der Bruttowertschöpfung, dagegen ist die Wirtschaftsleistung der Landwirtschaft mit rund drei Prozent gering, obwohl sie in der Fläche die Landschaft dominiert. Der Dienstleistungssektor ist unterrepräsentiert, lediglich die Tourismuswirtschaft stellt ein bedeutsames Segment im tertiären Sektor dar. Umwelt und Natur Umwelt und Natur der Siellandschaft Wesermarsch sind stark vom Element Wasser geprägt: Die Ökosystemtypen der Küstenbiotope, der Grünland-GrabenAreale und der Still- und Fließgewässer dominieren die Region. Das Feuchtgrünland sowie die Watt- und Salzwiesenflächen an der Nordsee gelten – auch international – als bedeutsamer Lebensraum für Vögel. Unlängst sind beträchtliche Anteile der Siellandschaft im Rahmen von Natura 2000 als Schutzgebiete gemeldet worden, zudem stehen mehrere tausend Hektar unter Vertragsnaturschutz. In den Sekundärbiotopen der von der Landwirtschaft geprägten Kulturlandschaft finden auch viele gefährdete Tier- und Pflanzengruppen der Feuchtgebiete einen Rückzugsraum. Insgesamt 95 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in der Wesermarsch werden als Grünland mit Rindvieh- und Schafhaltung bewirtschaftet. Die Siellandschaft Wesermarsch ist mit rund 60.000 Hektar das größte zusammenhängende Grünlandareal in Deutschland.
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LAG „Wesermarsch in Bewegung“ Die Lokale Aktionsgruppe (LAG) „Wesermarsch in Bewegung“ ist ein Zusammenschluss aus regionalen Akteuren, die einen gesellschaftlichen Querschnitt der Siellandschaft Wesermarsch repräsentieren. Die im August 2001 gegründete LAG besteht seit September 2007 aus 25 stimmberechtigten Mitgliedern, die sich aus zehn kommunalen Partnern und 15 Wirtschafts- und Sozialpartnern zusammensetzen. Ergänzt wird die LAG durch vier nichtstimmberechtigte Mitglieder mit Beratungsfunktion. Die LAG-Mitglieder besitzen aufgrund ihres Fachwissens, ihren zentralen Positionen in der Kommunal- und Kreisverwaltung, in Institutionen, Vereinen und Verbänden sowie ihrer Berufs- und LEADER+ Erfahrung eine hohe Kompetenz im Projektmanagement. Der regionale Entwicklungsprozess wird zusätzlich durch ein Regionalmanagement professionell unterstützt und koordiniert. Regionales Entwicklungskonzept Das vorliegende Regionale Entwicklungskonzept (REK) „Siellandschaft Wesermarsch“ der LAG Wesermarsch in Bewegung ist Ausdruck eines breit angelegten demokratischen Beteiligungsverfahrens, zum dem das Regionalmanagement einen dreistufigen Ansatz entworfen und durchgeführt hat: 1.
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In der Evaluierungsphase zwischen Januar und Mai 2006 wurden in mehreren SWOT-Analyse-Workshops von Akteuren die regionalen Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken für vier zentrale Themenbereiche der Regionalentwicklung (Kultur, Natur, Regionale Produkte, Tourismus) erarbeitet. In der Mobilisierungsphase zwischen Juli 2006 und April 2007 wurden verstärkt Maßnahmen zur Informierung und Mobilisierung der Bevölkerung ergriffen, beispielsweise die Erstellung eines Newsletters, die Publikation der Abschlussdokumentation LEADER+ sowie die Auftaktveranstaltung Leader 2007–2013. In der Entwicklungsphase ab November 2006 wurde die Strategie für das vorliegende REK in Perspektivgesprächen mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppierungen, einem Strategieworkshop, mehreren Kommunalen Workshops und einer Zukunftskonferenz erarbeitet.
Das Regionale Entwicklungskonzept „Siellandschaft Wesermarsch“ ist auch die stringente Weiterentwicklung des im Jahr 2001 erarbeiteten Konzeptes „Wesermarsch in Bewegung – Land am Wasser“. Nach Aufnahme in das LEADER+
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Programm im Jahr 2003 konnten in der Wesermarsch 67 Projekte mit einem Gesamtfinanzvolumen von vier Millionen Euro umgesetzt werden. SWOT-Analyse Aus der Bestandsaufnahme der Ausgangslage und aus Beiträgen des Regionalentwicklungsprozesses wurden zentrale Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken der Siellandschaft Wesermarsch herausgearbeitet. Zu den besonderen Stärken der Siellandschaft Wesermarsch gehört der homogene, von Gewässern geprägte Naturraum. Er bietet Tieren und Pflanzen der Feuchtlebensräume einen wichtigen Lebens- und Rückzugsraum, Maßnahmen zu seinem Schutz werden auf großen Flächen durch kooperativen Vertragsnaturschutz verwirklicht. Im Bereich des Kulturerbes liegen die zentralen Stärken im maritimen Erbe, in der Vielzahl von Gebäuden mit regionaltypischer Bauweise und im engen Zusammenhalt dörflicher Gemeinschaften. Land- und Fischereiwirtschaft prägen das Bild der Kulturlandschaft und tragen mit ihren Produkten zur regionalen Wertschöpfung bei. Der Tourismus ist in die Natur- und Kulturlandschaft eingebettet und wartet mit authentischen Freizeitangeboten und einer guten Fahrradroutenstruktur auf. Als Schwächen werden die schlecht zugänglichen Naturräume und mangelnde Naturerlebnismöglichkeiten gesehen, ebenso fehlende Landschaftselemente und der suboptimale Gewässerzustand des Sielsystems. Die ländliche und dörfliche Lebensqualität wird durch eine unzureichende Grundversorgung und eine unvollständige öffentliche Infrastruktur beeinträchtigt. Aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels existieren eine verfestigte Arbeitslosenquote und hohe kommunale Schuldenlasten. Die Landwirtschaft hat mit erschwerten Produktionsbedingungen zu kämpfen, der Dienstleistungssektor ist unzureichend entwickelt. Der Erhalt des Natur- und Kulturraumes wird als Chance gesehen, um die Grundlage für Arbeiten und Leben in der Siellandschaft Wesermarsch sicherzustellen. Die Lebensqualität kann durch eine verbesserte Infrastruktur, den Erhalt regionstypischer Gebäude und die Förderung des sozialen Dorflebens gesichert und verbessert werden. Für die regionale Wirtschaft liegen Chancen im Ausbau des naturverträglichen Tourismus und in Diversifizierungsmöglichkeiten im landwirtschaftlichen Sektor. Als Risiko gelten dagegen Verlust und Qualitätsbeeinträchtigungen von Feuchtlebensräumen und Konflikte zwischen Landwirten, Wasser- und Bodenverbänden sowie Naturschützern. Gefahren birgt für die Siellandschaft Wesermarsch als tiefliegende Küstenregion auch der sich vollziehende Klimawandel. Weiterhin drohen der Attraktivitätsverlust des Orts- und Landschaftsbildes durch
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Gebäudeleerstand und -verfall, der Abbau öffentlicher Infrastruktur sowie weitere Arbeitsplatz- und Bevölkerungsverluste. Handlungsbedarf Als Handlungsbedarf für die Entwicklung der Siellandschaft Wesermarsch resultiert, dass im ökologischen Bereich der Naturraum zu erhalten ist. Der ökologische und strukturelle Zustand von Natur, Landschaft und Landschaftsbild ist durch – weitgehend freiwillige Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen – zu erhalten und zu verbessern. Kooperationen zwischen Naturnutzern und Naturschützern sind zu fördern, das Bewusstsein für die Belange des Naturraumes der Siellandschaft und die Akzeptanz für Schutzmaßnahmen ist zu steigern. Als sozialer Handlungsbedarf folgt, dass die öffentliche Infrastruktur zu verbessern, ein lebendiges Dorfleben zu unterstützen und kulturgeschichtliche Werte zur Steigerung des Regionalbewusstseins zu erhalten sind. Im Bereich Ökonomie besteht der Handlungsbedarf darin, die Wertschöpfung regionaler Produkte und Dienstleistungen zu steigern. Dazu sollen landwirtschaftliche und touristische Infrastruktureinrichtungen verbessert werden, Anbieter und Dienstleister qualifiziert werden. Langfristig sind neue Arbeitsplätze zu schaffen. Entwicklungsstrategie Die Entwicklungsstrategie als Kernstück des Entwicklungsprozesses zur Realisierung einer nachhaltigen Regionalentwicklung der Siellandschaft Wesermarsch setzt sich zusammen aus dem Leitthema, dem Leitbild und drei Entwicklungszielen sowie fünf Handlungsfeldern mit den ihnen zugeordneten Zielen und Maßnahmen. Die Entwicklungsstrategie für die Siellandschaft Wesermarsch berücksichtigt übergeordnete internationale und nationale Strategien und Planungen sowie die im Bottom-up-Prozess mit rund 450 regionalen Akteuren erarbeiteten Vorgaben. Weiterhin eingeflossen sind Evaluationsergebnisse aus LEADER+, so dass die vorliegende Entwicklungsstrategie einer konsequenten Weiterentwicklung des Regionalen Entwicklungskonzeptes der Wesermarsch von 2001 entspricht. Leitthema und Leitbild Das Leitthema der Entwicklungsstrategie lautet: „Siellandschaft Wesermarsch – Natur- und Kulturlandschaft bilden die Grundlage für ein nachhaltig gestaltetes Sozial- und Wirtschaftsleben.“ Das auf Grundlage dieses Leitthemas skizzierte Leitbild für die Siellandschaft Wesermarsch beschreibt die Zukunftsvision, die
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durch die Umsetzung der Entwicklungsstrategie erreicht werden soll. Demnach charakterisiert sich die Siellandschaft Wesermarsch durch ihre Grünlandweiden, ihr Sielsystem sowie durch die sie umgebenden Gewässer als außergewöhnliche Natur- und Kulturlandschaft. Ihre Bewohner identifizieren sich stark mit Leben, Arbeiten und Wirtschaften in ihrer Region und engagieren sich für die Inwertsetzung des regionalen Natur- und Kulturerbes ein. Die Lebensqualität wird durch regionalwirtschaftliche Prosperität, Arbeitsplätze, Bildungsmöglichkeiten und ein lebendiges, gemeinschaftsorientiertes Dorfleben als hoch eingeschätzt. Die Landwirtschaft als wirtschaftliches und landschaftsprägendes Rückgrat der Siellandschaft hat sich zum Partner für Belange des Naturschutzes, des Kulturerbes und des Tourismus bekannt. Die Siellandschaft Wesermarsch ist als erlebbare, gastliche Natur- und Kulturlandschaft überregional bekannt und hat ein positives Image. Entwicklungsziele Drei übergeordnete Entwicklungsziele, die sich an das global akzeptierte Prinzip der Nachhaltigkeit anlehnen, dienen als Leitlinien für die Verwirklichung des Leitbildes: • Der ökologische Zustand von Natur und Landschaft soll optimiert und das Naturerleben in der Siellandschaft Wesermarsch soll gefördert werden. • Die Lebensqualität des Dorflebens, die Wahrung des kulturellen Erbes und die Identifikation der Menschen mit der Siellandschaft Wesermarsch sollen verbessert werden. • Die Wertschöpfung von Produkten und Dienstleistungen der Siellandschaft Wesermarsch soll im Bereich von Landwirtschaft, Handwerk, Handel und Tourismus gesteigert werden. Mit Wirkungsindikatoren kann die Erreichung dieser gesetzten ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielsetzungen zukünftig überprüft werden. Handlungs- und Projektfelder Einen besonderen Stellenwert nehmen Kooperationen in der Siellandschaft Wesermarsch ein, besonders aufgrund der räumlich isolierten Lage der Region. Bisherige Kooperationserfahrungen belegen, dass regionale und gebietsübergreifende Kooperationen besonders positive Effekte für die nachhaltige Regionalentwicklung hervorgerufen haben. Daher werden neben räumlich-geografischen auch thematisch-strategische gebietsübergreifende Kooperationen angestrebt, für die entsprechende Finanzmittel eingeplant werden.
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In den fünf Handlungsfeldern Natur, Dorfleben, Kultur, Regionale Produktion und Tourismus, die von regionalen Akteuren in einem Strategieworkshop identifiziert wurden, sind in enger Zusammenarbeit des Regionalmanagements mit einer Vielzahl von regionalen, engagierten Akteuren Ziele und Aktivitäten definiert worden, durch die die übergeordneten Entwicklungsziele erreicht werden sollen. Die Siellandschaft Wesermarsch will für ihr reichhaltiges und bedeutsames Naturerbe eine besondere Verantwortung übernehmen. Daher dienen im Handlungsfeld Natur verschiedene Aktivitäten zum Erhalt und zur Gestaltung von Natur und Landschaft mit ihren typischen Arten und Lebensräumen sowie zum Ausbau von Naturerlebnisangeboten. Durch innovative Anpassungsstrategien an den Klimawandel und Bewusstseinsbildung möchte die Siellandschaft als Küstenregion die Bereitschaft zum Klimaschutz fördern. Das Handlungsfeld Dorfleben fokussiert sich auf die Steigerung der Lebensqualität und Attraktivität der Dörfer, auf die Sicherstellung der Grundversorgung und auf den Erhalt von historischen, orts- oder landschaftsprägenden Gebäuden sowie auf deren nachhaltige Nutzung. Im Handlungsfeld Kultur soll das kulturelle Angebot weiter ausgebaut werden, besonders im Bereich der allgemeinen Kulturgeschichte und der Museen durch anschauliche und spannende Vermittlung der Regionalgeschichte. Ein vernetztes Marketing für bestehende und neue Kulturangebote soll Synergien zwischen Kulturschaffenden und kulturellen Einrichtungen fördern. Als Teil des bedeutenden Kulturerbes besteht weiterhin das Ziel, die regionale Baukultur zu bewahren und zu fördern. Das Handlungsfeld Regionale Produktion schließt die Bedingungen und Strukturen zur Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung regionaler Produkte sowie die Produkte selbst und ihre Erzeuger, Verarbeiter und Vermarkter mit ein. Neue regionale Produkte und Produktionszweige sollen entwickelt und gefördert sowie Anbieterstrukturen und Vermarktung regionaler Produkte optimiert werden. Um das Image der Siellandschaft Wesermarsch und die Wertschöpfung zu fördern, sollen Schnittstellen zwischen regionalen Produkten und der Tourismuswirtschaft geschaffen werden. Im Handlungsfeld Tourismus ist es erforderlich, die Qualität der touristischen Infrastruktur und von Angeboten zu verbessern. Hierzu zählen die Schaffung qualitativ höherwertiger und regionaltypisch ausgestatteter Übernachtungsmöglichkeiten – speziell für Gruppen –, die Verbesserung landwirtschaftlicher Wege für die touristische Freizeitnutzung und die Qualifizierung von Tourismusakteuren in den Bereichen Service, Dienstleistung, Marketing und Kommunikation. Ebenso werden Strategien für eine gezielte regionale und überregionale Informationsverbreitung und regionale Informationssysteme für Gäste benötigt. Thematisch ist insbesondere der wassergebundene und maritime Tourismus zu fördern.
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Für alle Handlungsfelder extrahierten das Regionalmanagement und die LAG aus den im Regionalentwicklungsprozess hervorgegangenen Anregungen, Ideen und Wünschen mehrere Projektideen. Diejenigen von ihnen, die die erforderlichen Projektauswahlkriterien im Rahmen der Entwicklungsstrategie in besonderem Maße erfüllten, wurden von der LAG in demokratischer Abstimmung als Leitprojekte ausgewählt. Im Laufe des Regionalentwicklungsprozesses wird anhand von ausgewählten Wirkungs- und Ergebnisindikatoren überprüft werden, ob durch diese und weitere Projekte nach ihrer Umsetzung ein Beitrag zur Erreichung der Entwicklungsziele geleistet wurde. Monitoring Zur Erfolgskontrolle und zur Steuerung des Regionalentwicklungsprozess dient ein Monitoring, bei dem das Regionalmanagement nach Maßgabe der ausgewählten Wirkungs- und Ergebnisindikatoren sowie weiterer geeigneter Parameter kontinuierlich Daten sammelt. Diese werden dokumentiert, analysiert, bewertet und publiziert. Auf Grundlage der Berichterstattung des Regionalmanagements überprüft die LAG, ob Änderungen in der Projektumsetzung oder Prozessgestaltung erforderlich sind. Die Ergebnisse und Anpassungserfordernisse werden dem Land Niedersachsen in Bewertungsberichten vorgelegt. Synergien Im Rahmen der Bundesinitiative „Regionen aktiv – Land gestaltet Zukunft“ von 2002 bis 2007 hat die Wesermarsch als Teil der Modellregion „Weserland“ mit angrenzenden Städten und Landkreisen von einer Stadt-Land-Kooperation zur Stärkung des Verbrauchervertrauens in die Erzeugnisse der regionalen Landwirtschaft profitiert. Zu den daraus hervorgegangenen positiven Effekten gehören Wirkungen im Bereich der Markterschließung für regionale Produkte. Finanzierung Die Finanzierung für die Umsetzung der Entwicklungsstrategie ist gesichert. Die Teilnahme an Leader 2007–2013 wurde im November 2007 durch das Niedersächsische Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landesentwicklung bewilligt. Die Kofinanzierung erfolgt über den von allen Gebietskörperschaften der Wesermarsch mit einer Million Euro gefüllten Finanztopf „Wesermarsch in Bewegung“, über private Mittel und Stiftungsgelder. Ebenfalls wird zur Projektfinanzierung auf weitere Strukturfonds (EFRE, ESF, EFF) zurückgegriffen. Unter Berücksichtigung der LEADER+ Evaluationsergebnisse und
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nach Maßgabe der Entwicklungsstrategie werden den Handlungsfeldern unterschiedlich hohe Finanzvolumina zugeteilt.
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Maritime Wirtschaft in der Wesermarsch – zwischen Tradition und Moderne
Top-Lage am seeschifftiefen Wasser Als Wirtschaftsstandort am seeschifftiefen Wasser weist der Landkreis Wesermarsch besondere Vorteile auf. Die Häfen Nordenham und Brake sind in der Jade-Weser-Region bedeutend u.a. für Futtermittel, Zellstoffe, Getreide, Holz, Erze. Sie bieten hervorragende Rahmenbedingungen (Fläche, Wassertiefe, Personal) für Hafendienstleistungen. Über die Unterweser ist ein unmittelbarer Zugang für Binnenschiffe gegeben. Im Vergleich mit anderen Nordseehäfen können sie auf deutliche Umschlagzuwächse verweisen. Die steigende Nachfrage führt konsequent zum Ausbau der Suprastruktur. Konkrete Erweiterungsmaßnahmen werden zur Zeit durch die landeseigene Hafengesellschaft NPorts am Standort Brake mit einem Investitionsvolumen von 70 Mio. € durchgeführt und in den nächsten Jahren schrittweise umgesetzt. Innovative Branchenorientierung – Erneuerbare Energien Dominiert einerseits noch die klassische Logistik der Lagerung für Stück- und Schüttgüter und deren Transport, ist anderseits mit dem Know-how der örtlichen Unternehmen der Einstieg in eine innovative Branche wie der Erneuerbaren Energien/Windenergie gelungen. Gerade hierfür zahlt sich der Standort am Wasser aus, denn die leistungsstarken Windkraftanlagen haben ihre Zukunft in Off-Shore Projekten. Und die Wirtschaft fertigt genau da, wo die Giganten der Lüfte idealer Weise ihren Weg zum Kunden antreten sollten: am Wasser. Hier ist das Standortprojekt „AeroMare“ in der Industriegemeinde Lemwerder landesweit beispielgebend für die wirtschaftsnahe und bedarfsorientierte Gewerbeentwicklung für die maritime Wirtschaft einerseits und die Luftfahrtindustrie andererseits.
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Weltmarktführerschaft im Spezialschiffbau An der Unterweser befinden sich namhafte Spezialwerften die auf dem internationalen Markt agieren. Und auch der Ausblick in die Zukunft stimmt hoffnungsvoll: mit dem Bau des neuen Tiefseewasserhafens in Wilhelmshaven gehen Impulse für eine positive Weiterentwicklung logistischer Dienstleistungen einher (Feederverkehre, Zulieferdienste), die bis in die Wesermarsch ausstrahlen.
Fischereisektor Im Primärsektor spielen Fedderwardersiel und Brake als gewerbliche Fischereiorte eine bedeutende Rolle. Dort wurden 2006 fast 10 % der Gesamtanlandungen im Fischwirtschaftsgebiet Niedersächsische Nordseeküste eingebracht. Einige Kutter- und Fischereibetriebe haben sich zudem als zweites Standbein eine Einkommensquelle im Tourismus durch Direktverkauf von Krabben und Fisch erschlossen. Vor allem in Fedderwardersiel wird das maritime Erbe durch Kutterregatten und Krabbenpulmeisterschaften touristisch vermarktet. Maritimer Campus und Northern Maritime University In der Stadt Elsfleth hat der Fachbereich Seefahrt der Fachhochschule Oldenburg/ Ostfriesland/ Wilhelmshaven seinen Standort (www.fh-oow.de/fbs/). Weitere Standorte befinden sich im Nordwesten in den Städten Emden, Wilhelmshaven und Oldenburg. Mit zur Zeit ca. 600 Studierenden sind etwa 20 % aller Studierenden der FH im Fachbereich Seefahrt immatrikuliert. Die Studiengänge umfassen an der ehemaligen Seefahrtschule Internationales Transport Management, Nautik sowie Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft. Wie international die Ausbildung konzipiert ist, unterstreicht der europäische Postgraduierten-Studiengang „Integral Port Management“ (IPM), der zusammen mit den Universitäten in Vlissingen (NL), Bradford (GB), Caledonian University Glasgow (GB), Gent (B), Huelva (E), Szczecin (PL) durchgeführt wird. Er ist Teil des Projektes „European Master Courses for Support and Training in Estuarine Regions“ und wird aufgrund seiner besonderen regionalpolitischen Bedeutung für die Küstenregionen von der Europäischen Union gefördert. Das Maritime Kompetenzzentrum und der Maritime Campus sind zwei Aushängeschilder der Hochschule, die im engen Verbund mit internationalen Unternehmen (u.a Beluga Shipping und Sky Sails sowie dem Germanischen Lloyd) weltweit die vor Ort vorhandene Fachkompetenz vermarktet wird. In transnationalen Verbundprojekten (EU-Programm INTERREG) konnte diese
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Fachkompetenz gewinnbringend eingesetzt werden. So ist die Hochschule in Elsfleth Partner der „Northern Maritime University“. Bildungskompetenz in der Metropolregion Die umliegenden Oberzentren in der Metropolregion Bremen-Oldenburg im Nordwesten bieten umfassende Möglichkeiten zur weiterführenden beruflichen Aus- und Weiterbildung. Ob Carl von Ossietzky Universität in der Stadt Oldenburg (www.uni-oldenburg.de) oder die wissenschaftlichen Hochschulen in der Stadt Bremen (Universität Bremen, www.uni-bremen.de, Jacobs University Bremen, www.jacobs-university.de – bis 2007: International University Bremen, www.iub-bremen.de – und Hochschule Bremen, www.hs-bremen.de). Die Nähe zu den Großstädten eröffnet ein breit gefächertes Angebot aus Berufsakademien, Fachlehranstalten des Handwerks sowie Weiter- und Erwachsenenbildungseinrichtungen unterschiedlichster Branchen und Richtungen.
4. Fazit Wirtschaftsförderung bietet vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zur Ausgestaltung der konkreten Wirklichkeit. Das Spektrum reicht vom rein reaktiven Verwaltungshandeln und dem üblichen „Schaulaufen“ bei öffentlichen Anlässen bis hin zum pro-aktiven Aufsuchen des Unternehmens und dem kreativen Herangehen an schwierige und gleichwohl spannende Fragestellungen. Verbunden mit Leidenschaft und Wagemut ist vieles möglich. „Fehler zu machen“ gehört dazu. Andererseits klappt auch Vieles. Das motiviert, genauso wie die zufriedenen Kunden, um deren Anliegen man sich – auch außerhalb der Zuständigkeit – gekümmert hat. Wirtschaftsförderung in der Wesermarsch ist die „Marathonstrecke“.
Literatur BBR (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung) (2005): Raumordnungsbericht 2005. Bonn. BMELF (Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz) (2006): Nationaler Strategieplan der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung ländlicher Räume. Bonn.http://cdl.niedersachsen.de/blob/images/C26933158_L20.pdf BMVBS (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung) / BBR (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung) (Hrsg.) (2006): Integriertes Küstenzonenmanagement (IKZM): Raumordnungsstrategien im Küstenbereich und auf dem Meer. Abschlussbericht, Berlin. http://www.bbr.bund.de/cln_005/nn_139622/DE/Veroeffentlichungen/Sonderveroeffentlichun
Wirtschaftsförderung in der Wesermarsch
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Trinationales Projekt „Oder-Neisse-Paradiese“ – Gartenkunst und Landschaftskultur beiderseits der OderNeisse-Linie Hartmut Solmsdorf
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Einleitung
„Gärten sind immer mehr gewesen als schöne Orte zum Spazierengehen. Die Geschichte der Gartenkunst ist eine Geschichte von Versuchen, wenigstens ein Stück vom verlorenen Paradies zurückzuerobern, dem Urgarten, aus dem der Mensch vertrieben wurde und von dem jede Zeit eine andere Vorstellung zu haben scheint. Jeder Garten ist ein Vorschlag, wie es im Paradies aussehen könnte, gleichzeitig spiegelt er die Sehnsüchte und Wunschvorstellungen der Zeit wider, in der er entstanden ist.“ (Hans von Trotha: Der Englische Garten, eine Reise durch seine Geschichte. 1999)
Deutschland und Polen haben sich vom 60. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2005 bis zum 15. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags am 17. Juni 2006 im jeweiligen Nachbarland im Rahmen des „Deutsch-Polnischen Jahres/Rok Polsko-Niemiecki 2005–2006“ mit mehr als 1000 kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen präsentiert. Dabei war die Kultur zwar mit einer Fülle von Projekten vertreten, jedoch leider mit keinem Projekt zum Thema „Kulturlandschaft“, insbesondere nicht zu „Gärten und Parkanlagen in der Kulturlandschaft“. Um diesem Mangel abzuhelfen wurde das Projekt „Oder-Neisse-Paradiese – Gartenkunst und Landschaftskultur beiderseits der Oder-Neisse-Linie“ entwickelt. Der Grenzraum beiderseits von Oder und Neisse ist ein durch historische Besitz- und Bewirtschaftungsstrukturen zusammenhängend geformter Kulturraum – mitten im Herzen Mitteleuropas. Dieser „regionale Kosmos“ muss als Ganzheit betrachtet werden. Er kann seit der EU-Erweiterung auch als Ganzes erlebt werden. Dieses Gebiet ist eine zunehmend dünner besiedelte und vorwiegend agrarisch geprägte Landschaft. Das Problem der „schrumpfenden Städte“ ist inzwischen hinlänglich bekannt, die Kunde vom „Dörfersterben“ insbesondere im Grenzraum, bedingt durch einen wirtschaftlichen Strukturwandel auf dem Land, dringt erst langsam an die Öffentlichkeit.
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Abb. 1:
Hartmut Solmsdorf
Landschaftsroute Böhm. Paradies – Ostseeküste
Trinationales Projekt “Oder-Neisse-Paradiese“
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Geschichtliches
Der Oder-Neisse-Raum liegt im Zentrum Europas und lag immer an der Peripherie der Großmächte. Vor 1000 Jahren bildete die Oder die Grenze zwischen Deutschland und Polen, im Mittelalter gehörte die Oder zu verschiedenen Ländern. Im 19. Jhdt. flossen Oder und (Lausitzer) Neisse noch mitten durch die deutschen Provinzen Schlesien, Brandenburg und Pommern. 1945 wurde an der Oder-Neisse-Linie eine künstliche Grenze zwischen Deutschland und Polen geschaffen. Erst mit dem Jahrhundert-Hochwasser von 1997 wurde die Oder und damit der gesamte uralte europäische Kulturraum wiederentdeckt. Seit der Gründung des binationalen Nationalparks/Landschaftsschutzparks „Unteres Odertal“ 1995 gibt es auch ein riesiges Feuchtgebiets-Paradies mitten in Europa; Kultur- und Naturlandschaft sind hier auf engem Raum ineinander verzahnt. In den Jahren 2001/02 ging von Breslau/Wroclaw aus die deutsch-polnische Ausstellung „Das Tal der Schlösser und Gärten: Das Hirschberger Tal in Schlesien – ein gemeinsames Kulturerbe/Dolina Zamkow i Ogrodow: Kotlina Jeleniogorska – wspolne dziedzictwo“ über Hirschberg/Jelenia Gora, Berlin und Görlitz auf eine lange Reise, wozu auch ein umfangreicher Katalogband der Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch (Berlin) erschien. Der „Freundeskreis Schlösser und Gärten der Mark“ hat 2006 die beiden ersten zweisprachigen Hefte herausgegeben, die sich mit herausragenden Anlagen in der Neumark befassen: „Tamsel/Dabroszyn“ und „Sonnenburg/Slonsk“. Inzwischen ist dieser ehemalige Grenzraum auch für den Tourismus von zunehmendem Interesse: wöchentliche Ausflugsschiffs-Fahrten zwischen Crossen/Krosno Odrzanskie und Küstrin/Kostrzyn, die alljährliche Floßfahrt („Flis Odrzanski“) – inzwischen ein sommerliches Volksfest – zwischen Brieg/Brzeg und Stettin/Szczecin sowie der neue Oder-Neisse-Radweg zwischen Zittau und Ueckermünde sind Beispiele dafür.
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Wandel der Kulturlandschaft
Nichts ist so konstant wie der Wandel! Das gilt in besonderem Masse für Kulturlandschaften, deren Entstehung und Wandel eng mit dem Handeln der in ihnen lebenden Menschen verbunden ist. Sie sind zentraler Bestandteil des gemeinsamen Erbes der Menschheit und besitzen somit eine hohe integrative Bedeutung. Die Frage nach dem zukünftigen Umgang mit den teilweise seit Jahrtausenden anthropogen beeinflussten Landschaften gewinnt vor dem Hintergrund fortschreitender Globalisierung zunehmend an Bedeutung.
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Das Wesen einer Kulturlandschaft ist der ständige Wandel; jede Landschaft ist und bleibt eine „Übergangslandschaft“. Die Formen der Landbewirtschaftung finden ihren Ausdruck im jeweiligen Landschaftsbild: Von der „Park-WeideLandschaft“ (bedingt durch die Wollverarbeitung) im England des 16. Jhdts. über die englischen Landschaftsgärten des 17. und 18. Jhdts. (entstanden aus der Ästhetisierung und Romantisierung des ländlichen Lebens), weiter über die Kulturlandschaft als Gegensatz zur städtisch geprägten Industriegesellschaft im 19. Jhdt. bis hin zum „Landschaftspark Duisburg-Nord“, der den erzwungenen Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft markiert. Das 21. Jhdt. ist im Osten Deutschlands – aber auch im Westen Polens – gekennzeichnet durch zunehmende Entvölkerung, Entschleunigung, Entsiedlung. Langfristige Prognosen sagen der landwirtschaftlichen Nutzfläche und den städtischen Gebieten eine Schrumpfung um die Hälfte voraus. Wenn nicht der Wald als Klimaxstadium Besitz ergreifen soll, ist eine gezielte Renaturierung der brachliegenden landwirtschaftlichen Nutzfläche sowie eine langfristige Konversionsplanung ehemaliger militärischer Übungsplätze vonnöten. Zum einen könnten Flächen für den Naturschutz ausgeweitet, Waldflächen, Feucht- und Überschwemmungsgebiete vergrößert werden (mit erheblichen Folgen für das Landesklima), zum anderen ließen sich Wiederausbreitungsgebiete für viele gefährdete Tier- und Pflanzenarten (auch als Gen-Reservoir) einrichten. Innerhalb dieser in weiten Teilen „Natur-Landschaft“ müssten die „KulturInseln“ (wie Gärten und Parkanlagen) gepflegt werden, wenn man den Wiedererkennungswert der Landschaft einigermaßen erhalten will.
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Initiativen im Oder-Neisse-Grenzraum
Im Grenzraum sind die unterschiedlichsten Initiativen tätig, teils auf beiden Seiten, teils nur auf einer Seite der Grenze. Dabei handelt es sich um folgende regionale Akteure oder Projekte, die keinen oder wenig Bezug zueinander haben: − den „Freundeskreis Schlösser und Gärten der Mark“ in der „Deutschen Gesellschaft Berlin“ mit mehreren Heftreihen, darunter „Schlösser und Gärten der Mark“ und „Schlösser und Gärten der Neumark“ (erste Hefte in 2006: „Tamsel/Dabroszyn“ und Sonnenburg/Slonsk“; weitere Hefte folgen in 2007, jeweils in dt. u. poln.), − das ehemalige „Osrodek Ochrony Zabytkowego Krajobrazu“ (Zentrum für die Erhaltung historischer Landschaft) in Warschau mit seiner Schriftenreihe „Studia i Materialy“, dessen Arbeit durch das „Krajowy Osrodek Badan i Dokumentacji Zabytkow“ (Nationales Zentrum für Forschung und Dokumentation historischer Denkmäler, KOBIDZ) fortgesetzt wird,
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das Projekt „Erlebnisnetzwerk Odermündung“, das 2005 vom Verein „Region Odermündung“ und der „Trend Marketing GmbH“ ins Leben gerufen wurde, den Tourismusverband Uckermark gemeinsam mit der Wirtschafts- und Tourismusgesellschaft des Landkreises Barnim mit seinem Projekt „naturreich“ (Vermarktung der Schätze der Natur- und Kulturlandschaft im nördlichen Brandenburg, Herausgabe von drei unterschiedlichen Tourenkarten), das Projekt „ODER-WEGE“ im Bereich Oderbruch von der „DeutschPolnischen Regionalentwicklung“ (DePoRe) in Neulewin (Marketing für Schlösser, Museen, Heimatstuben, Gedenkstätten und Kirchen sowie die Entwicklung eines touristischen Leitsystems beiderseits der Oder), die Gründung des „Eurodistricts Oderland-NadOdrze“ (EDON) in 2004, ein „INTERact-Projekt BORDER CROSSING“ des Koordinierungsbüros „Bec granic-ohne Grenzen“, Neulewin, das Projekt „Natur- und Kulturwege im Lebuser Land“, ein Folgeprojekt der Proklamation des Lebuser Landes als „Europäische Landschaft 2003/2004“ durch die „NaturFreunde Internationale“ (Träger: „NaturFreunde Landesverband Brandenburg“), den „Förderverein Fürst-Pückler-Region e.V“ (Bad Muskau), der nach einer Idee der Deutschen Gartenbaugesellschaft (DGG) den ersten deutschpolnischen „Gartenkulturpfad“ (in der Euroregion Neisse) seit 2004 vorbereitet, das Projekt „Petzold-Parks“ im Dreiländereck Deutschland-PolenTschechien der Stiftung „Fürst-Pückler-Park Bad Muskau“, die „Euroregion Neisse-Nisa-Nysa“ mit der (dreisprachigen) Faltkarte zur gleichnamigen „Ferienregion“ (in D, PL und CZ), den DGGL-LV Berlin-Brandenburg mit seinen „Routen der Gartenkultur in Brandenburg“ im Kulturland-Jahr 2004 (erste Routenkarte), den Verein „Gartenland Brandenburg e.V.“, das Gartennetzwerk sämtlicher Garteninitiativen in diesem Bundesland (Erschließung der Potenziale der Gartenkultur und der Kulturlandschaft im Land Brandenburg), die 2006 ins Leben gerufene „1. Europäische Garten-Kultur-Region“ – ein Projekt der Stadt Guben und der ELCA (europ. Vereinigung des Garten-, Landschafts- und Sportplatzbaus).
Die polnischen und tschechischen Tourismusorganisationen haben verstärkt nach dem EU-Beitritt ihrer Länder große Anstrengungen zur Tourismusförderung unternommen, setzen dabei allerdings nur auf bekannte, d.h. rekonstruierte Sehenswürdigkeiten, wobei ihre Informationen zz. an der Staatsgrenze enden. Die In-
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formationen der deutschen Tourismusverbände sind ebenfalls auf ihr Gebiet beschränkt. Der „Oder-Neisse-Radweg“ ist als 465 km lange lineare Grenzrauminitiative von Nova Ves (CZ) entlang des deutschen Ufers durchgängig bis nach Ueckermünde (D) fertiggestellt. Auf polnischer Seite wurde vor kurzem der Radwanderweg „Zielona Odra“ (Grüne Oder) von Kostrzyn bis Szczecin durch das untere Oder-Tal (einen der wertvollsten Naturräume Polens) eingerichtet. Letztlich müssen das Aktionsbündnis „Zeit für die Oder/Czas na Odre“ sowie das „Grüne Band Oder-Neisse“ des WWF erwähnt werden, die sich beide für den Erhalt der Natur, insbesondere für den Schutz der Auen als Lebensraum für zahlreiche Tiere und Pflanzen, für den Hochwasserschutz, für die Förderung des Öko-Tourismus und der Öko-Landwirtschaft sowie für die Gewährleistung der Umweltverträglichkeit bei geplanten Vorhaben und Investitionen einsetzen.
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Projektinhalt
Historisch rekonstruierte Garten- und Parkanlagen unterschiedlicher Epochen oder Themen lassen die Besucher Geschichte lebendig erleben. Gartenreisen in historische oder zeitgenössische Parks und Gärten erleben derzeit einen Boom in Europa. Gartenfestivals und Gartenschauen ziehen alljährlich Hunderttausende begeisterter Besucher an. Das trinationale Projekt „Oder-Neisse-Paradiese/Raje nad Odrą i Nysą/Odra-Nisa-Ráje“ will das wertvolle gartenkunsthistorische Potenzial in der Kulturlandschaft beiderseits der ehemaligen Oder-Neisse-Linie in Deutschland, Polen und Tschechien erhalten, rekonstruieren, pflegen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Dabei geht es auch um eine Sicherung und Präsentation der bestehenden Geschichtszeugnisse insbesondere im polnischen und tschechischen Teil. Dadurch erfährt dieser strukturschwache Grenzraum einen zusätzlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Das Projektgebiet umfasst die jeweils grenznahen Bereiche der deutschen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen, der polnischen Wojewodschaften Zachodnio-Pomorskie, Lubuskie und Dolnoslaskie sowie der tschechischen Regionen Ustecky, Liberecky, Kralovehradecky und Stredocesky Kraj auf einer Breite von etwa 80 bis 100 km beiderseits der Grenze. Thematisch beinhaltet das Projekt sowohl historische Anlagen z.B. an Schlössern, Klöstern, Herren- und Gutshäusern, als auch Landschaftsparks, Lehrpfade in Biosphärenreservaten, interessante Privatgärten aber auch Tierparks und dergleichen mehr. Dabei gilt es – unter dem Dach des „Europäischen Gartennetzwerks EGHN“ – die im Grenzraum bereits vorhandenen Initiativen gegensei-
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tig zu informieren und zu vernetzen, um so aus den vorhandenen Strukturen ein zusammenhängendes Projektgebiet von der Ostseeküste bis zum Böhmischen Paradies in den Ländern Deutschland, Polen und Tschechien zu schaffen. Die einzelnen Projektteilnehmer sind dabei ständig über ein Internet-Portal miteinander vernetzt, das alle denkbaren Informationen zu touristischen Angeboten, Veranstaltungen, Öffnungszeiten, Übersichten von Restaurants und Cafés sowie Übernachtungsmöglichkeiten enthält. Das Projekt hebt alle Sprachbarrieren auf, da sämtliche Informationen und Veröffentlichungen viersprachig (deutsch, polnisch, tschechisch und englisch) erscheinen. Dieses Portal sowie das gesamte Projektgebiet kann dann der Tourist – insbesondere nach Wegfall der Grenzkontrollen in 2008 – auf den „Landschaftsrouten“ mühelos und bequem nutzen. Diese Landschafts- oder Gartenrouten (oder Gartenkulturpfade) sind als touristisches Angebot zu verstehen und können in zwei Phasen entwickelt werden: In der ersten Phase entstehen vier einzelne Landschaftsrouten beiderseits eines Grenzübergangs, wobei z.B. der „Gartenkulturpfad Euroregion Neisse“ die erste derartige Route ist. In der zweiten Phase werden die einzelnen Routen miteinander verbunden, sodass eine zusammenhängende „Landschaftsroute“ von der Ostseeküste bis ins „Böhmische Paradies/Cesky Raj“ entsteht – mit der Oder-Neisse-Linie als „Achse der Gartenkunst und Landschaftskultur“. Diese Route wird durch einen Reiseführer beworben, der zum Besuch in kleine Paradiese einlädt. Im Rahmen dieses Projekts wird im strukturschwachen Grenzraum beiderseits von Oder und Neisse jede Gelegenheit zu einer touristischen und damit ökonomischen Entwicklung genutzt. Dadurch trägt das Projekt zur Belebung der Städte und Dörfer bei. Auch lässt die prozesshafte Entwicklung dieses Projekts viele Arbeitsplätze in folgenden Bereichen entstehen: 1. Handwerk und freie Berufe − Planer aller Fachrichtungen − IT-Fachleute − Künstler aller Bereiche − ausführende Betriebe − kommunale Pflegetrupps − Fahrrad- und Bootsverleiher 2. Dienstleistungen − Landesmarketing-Gesellschaften − Tourismusverbände und -vereine − Reisebüros − Hotel- und Gaststättengewerbe − Gäste- und Reiseführer
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3. Aus- und Fortbildung, Wissenschaft − Ausbildungsplätze − Kurse, Seminare und Tagungen − studentische Projekte − Diplom- u. Masterarbeiten − Dissertationen und Publikationen.
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Netzwerk
Ein derart umfassend angelegtes Projekt kann nur unter dem großen Dach des „Europäischen Gartennetzwerks“ (EGHN) realisiert werden, in dem die Euroregionen „Pomerania“, „Pro Europa Viadrina“, „Spree-Neisse-Bober“ und „NeisseNisa-Nysa“, die Verwaltungen und Tourismusorganisationen der einzelnen Länder, verschiedene Stiftungen, Verbände und Hochschulen sowie alle Medien zusammenwirken. Vorstellbar wären z.B. gemeinsame Arbeitsgruppen aller vier Euroregionen oder aller Denkmalbehörden der drei beteiligten Länder; ein erfolgreiches Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit bei der Rekonstruktion des Muskauer Parks/ Park Muzakowski in den vergangenen 20 Jahren. Garten- und Park-Patenschaften könnten über die Grenzen hinweg begründet werden. Die Projektförderung könnte mit Hilfe von EU-Mitteln im neuen INTERREG-IV-Programm 2007–13 erfolgen. Inzwischen haben bereits viele angesprochene Institutionen ihr Interesse an der Projektidee bekundet. Das trinationale Projekt „Oder-Neisse-Paradiese/Raje nad Odrą i Nysą/Odra-Nisa-Ráje“ bietet die einmalige Chance zur Zusammenarbeit bei der Entwicklung dieses lange vernachlässigten Grenzraums. Es gilt nun, die Lust auf die Schönheit von Gärten zu befriedigen. Und: Das Werk, das man gemeinsam vollbracht hat, wird man so schnell nicht mehr zerstören!
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Aktuelle Entwicklung
Die beiden ersten schlummernden Paradiese werden gerade aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt: Der Schlosspark „Tasmsel/Dabroszyn“ (die Aussenanlage – wahrscheinlich von P.J. Lenné – zu einem über 300 Jahre alten europäischen Kulturgut kurz hinter Küstrin/Kostrzyn im Lebuser Land/Woj. Lubuskie) könnte mit Hilfe eines deutsch-polnischen Jugendprojekts der Jugendbauhütte Potsdam und mit Unterstützung vor allem der Deutschen Bundesstiftung Umwelt binnen eines Jahre rekonstruiert werden.
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Unlängst wurden hier bereits erste Schritte zur Realisierung unternommen, ebenso wie im Projekt „Stolzenburg/Stolec“, dessen noch relativ gut erhaltenes spätbarockes Schloss in Polen (Westpommern/Woj. Zachodniopomorskie, unweit von Stettin/Szczecin), der Park und die dazugehörige Kulturlandschaft jedoch in Deutschland (Mecklenburg-Vorpommern) liegt. Im Gegensatz zum Projekt „Tamsel/Dabroszyn“ gibt es in „Stolzenburg/Stolec“ mit einer „Internationalen Integrations-Schule für Behinderte“ bereits eine – ideale – Nutzungsidee, deren Verwirklichung von allen Seiten unterstützt wird.
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Unterstützerkreis
Das Projekt wird bisher unterstützt vom „Europäischen Gartennetzwerk“ (European Garden Heritage Network EGHN, www.eghn.eu), vom „Gartennetz Deutschland e.V.“ (www.gartennetzdeutschland.de), von der „Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur e.V.“ (DGGL, www.dggl.org, DGGL Recherche – Gartenrouten), von der „Deutschen Gartenbau-Gesellschaft 1822 e.V.“ (DGG, www.dgg1822.de), vom „Gartenland Brandenburg e.V.“ (www.gartenland-brandenburg.de), vom „Freundeskreis Schlösser und Gärten der Mark“ in der Deutschen Gesellschaft e.V. (www.deutsche-gesellschaft-ev.de), von der „Stiftung Kulturerbe im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommern“ (www.stiftung-kulturerbe.de, „Projekte“) und von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V. (www.deutsch-polnische-gesellschaft.de) sowie dem Landesverband Berlin. Auskunft zum Stand der Arbeit gibt ein Projektpapier mit verschiedenen Übersichtskarten (auch in polnisch und tschechisch).
Literatur Solmsdorf, H.: Neue Landschaft jenseits von Oder und Neisse; Wiederentdeckung einer vergessenen Kulturlandschaft. In: Regionale Gartenkultur; über die Identität von Landschaften. DGGLJahrbuch 2006, S. 77–82. Franke, A.: Das Schlesische Elysium, Deutsches Kulturforum östl. Europa 2005
Familienlandsitze im ländlichen Raum Frank Willy Ludwig
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Einleitung
Die Menschheit ist heute dazu aufgefordert, die eigene Lebensweise zu überprüfen. Wir haben erstmalig die Chance die Errungenschaften technischer Entwicklung mit dem Wissen unserer Urahnen zu vereinen. Gemeinsam können wir alle Probleme lösen. Dies ist das Ergebnis unserer mehrjährigen Suche nach dem Sinn des Ganzen. Das Wissen aller Kulturen ist für uns gemacht und wir haben heute die besten Möglichkeiten, die Wahrheit zu erkennen.
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Inspiration und Notwendigkeit des Umdenkens
Inspiriert durch das Lebenswerk von Erna und Kurt Kretschmann aus unserer Region und anderen Gärtnern, Volksdichtern und Naturfreunden auf der ganzen Erde, haben wir die Idee der „Familienlandsitze“ aufgegriffen. Wir versprechen die Lösung aller Probleme, wenn die Menschheit wieder anfängt, ein natürliches Leben zu führen. Die Lösung ist keine Innovation (Neuheit), vielmehr die Erinnerung, da sie die älteste Weisheit überhaupt darstellt. „Gott nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden“ (Bibel)
Also war als erstes das Gartenparadies auf Erden da und dann konnte darin eine Familie gegründet werden. Wann haben wir aufgehört so zu leben? Vertreibung aus dem Paradies? Einiges steht in der Bibel, anderes muss nicht bewiesen werden, weil es der Natur des Menschen entspricht und so in sich ein Axiom darstellt. Es kann auch theoretisch gar nicht bewiesen werden, man muss es selbst erleben, um begreifen zu können. Das bedeutet, jeder der bereit ist, sein Lebenswandel zu ändern und einen Garten anlegt, wird automatisch früher oder später in den Hochgenuss des Menschseins kommen. Den Schritt in diese Richtung muss jeder selber tun, dies kann auf keinen anderen übertragen werden. Die Technokraten, welche verzwei-
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felt nach Systemen suchen, werden diese Gärtnermenschen nicht einmal ansatzweise verstehen können, denn sie haben die Verbindung verloren, weil sie die Naturerscheinungen und die Wissenschaften darum zerlegt haben. Keiner ahnt, was der andere Spezialist tut, jeder ist mit seinem Gebiet ausgelastet und so kennt kaum noch jemand den ganzen Zusammenhang. Wir fordern jeden Menschen auf, über seine eigenen Taten gewissenhaft nachzudenken. Diese Frage nach dem guten Gewissen und dem gesunden Menschenverstand ist es, was die Menschheit jetzt dringlichst für sich klären sollte. Es dürfte heute jedem klar sein, dass die Erde es nicht verkraften würde, wenn alle Menschen der Welt so leben würden, wie wir, in unserer so genannten zivilisierten hoch entwickelten modernen Welt. Und auch nicht, wenn wir in dieser Welt nicht endlich anfangen aufzuräumen. Damit ist nicht nur der Müll gemeint, sondern hauptsächlich geistiger Unrat durch falsche Bilder und Dogmen. Es gibt so viele Bedürftige und ungenutztes Brachland, stellen sie sich z.B. vor, dass das Bombodrom in der Kyritzer Heide gesäubert und mit Menschen in Gärten besiedelt wird. Oder in der Lausitz, nachdem die riesigen Braunkohlebagger durch sind. Da ist sogar viel Geld im Spiel, was ohnehin für die Renaturierung gedacht ist. Die Siedler würden nach einigen Jahren keine staatliche Unterstützung mehr brauchen. Doch bis die Bäume groß sind, erhalten sie für ihren Job, die Erde wieder gesund und fruchtbar zu machen, einen fairen monatlichen Lohn. Baumaterialien, Setzlinge, Saatgut, Brunnen, Teich, Zufahrt müssen ebenfalls für die Mittellosen bereitgestellt werden. Für viele Jahre sinnvolle Arbeit und bald die ersten eigenen Früchte, ein eigenes Häuschen mit Garten und Teich. Diese Menschen sind getragen von der Motivation, etwas Eigenes Bleibendes zu erschaffen. Alles ergibt dabei einen Sinn. Wir verstehen unseren Beitrag als eine Art Denkwettbewerb und behaupten, dass wir durch Siedlungen von Familienlandsitzen alle Probleme unserer Welt auflösen können. Für mindestens 1 Hektar (10.000. m²) als Lebensgrundlage muss jede Familie ein Anrecht bekommen und alles wird wieder lebendig. Dies ist die entscheidende Frage nach der Heimat. Von Entwicklung der Menschheit heute, kann angesichts der Verschmutzung des eigenen Lebensraumes nicht die Rede sein. Die Frage für alle muss deshalb lauten: Was tun wir da? Was machen wir mit unserer Umwelt? Kann ich dass vor mir und meinen Kindern mitverantworten? In welcher Welt wollen wir leben – lebendige Vielfalt oder sterbende Öde? Dabei ist uns aufgefallen, dass viele der heutigen Menschen im Gegensatz zu den eigenen Urahnen, nur an dieses eine Leben glauben und ihnen so auch die Motivation fehlt, alles sauber zu hinterlassen. „Nach mir die Sintflut“ ist ein sehr finsterer schlechter Gedanke.
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Viele Indianerstämme und Naturvölker gestalteten ihre Lebensweise unter Berücksichtigung der Grundsicherung für 7 Generationen. Da wir (Europäer) uns immer weiter von der Natur und unserer Bestimmung entfernt haben, sollen uns vielleicht eigene Krankheiten, davon betroffene Angehörige, Bekannte und Freunde veranlassen, diese Fragen zu stellen und darüber hinaus auf die Suche nach der Antwort gehen. Was ist der ideale Lebensraum für einen Menschen? Wo ist die Heimat, in der wir seelig und zufrieden sein können? Wo ist mein eigener Platz in diesen Wirrnissen, was kann ich für mich und meine Kinder tun? Doch die Antwort fand ich nicht als Schüler, Industrietischler, Student, Dipl.Bauing., Offizier, Umweltschutztechniker, Bauleiter, Manager, Baubiologe, Lebensraumberater (Feng Shui) oder anderen beruflichen Experimenten. Ich fand erst Antworten als Gärtner und Lehmbauer, der mit beruhigtem Gewissen, Freude und reinen Absichten wieder Kontakt zur Natur bekam. Der unmittelbare Aufenthalt im lebendigen Feld der natürlichen Schöpfung bzw. die Trennung von künstlichen Systemen, ermöglichten uns ganz neue Einsichten und vor allem Gefühle. Diese Antworten sind unsere Erfahrungen, unser Familienwissen und dies wollen wir, zumindest als Denkanstoß anderen Menschen weitergeben. Damit führen wir die Tradition unserer Ahnen weiter, deren Weisheit schon durch die Gärtner wie die Försters, Kretschmanns, Poppe-Paungger, Holzers, Fukuoka und anderen Rebellen – Pionieren in Sachen Gartenkultur – Naturverständnis wirken. Unsere Motivation ist, mit gleichgesinnten glücklichen Nachbarn in Volkssiedlungen auf 1–2 Hektar Land nach Tradition unserer Urahnen zu leben und einen lebendigen Waldgarten anzulegen, so wie es heute schon hundertfach in der ganzen Welt geschieht. Aus Tradition der russischen Datschenbewegung oder der deutschen Kleingärtner entwickelt sich die Neue Zivilisation. Die Kleingärten haben uns schon immer sehr geholfen.
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Notwendigkeit führt zur Lösung
Aus irgendeinem Grund vergaßen aber die Menschen vor ein paar tausend Jahren diese ideale Lebensweise, obwohl noch heute genügend Raum für alle Menschen da ist. Diesen Grund sollten wir versuchen, gemeinsam zu finden. Er ist der Schlüssel für gegenseitigen Respekt, Achtung und friedlicher Koexistenz. So kam es in den letzten paar tausend Jahren zu den verschiedenen Religionen, Systemen, Machtkämpfen, Kriegen, Völkerwanderungen, Volksvertreibung und gezielten Volksvernichtungen. Leidtragende – die Familien. Und heute haben wir es fast geschafft, nach 100 Jahren Verbrennungstechnologie und Ausbeutung der Ressourcen, unsere Erde in eine Müllhalde aus selbst produzierten Giften zu ver-
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wandeln. Leidtragende alle Menschen und Lebewesen. Niemand mit gesundem Menschenverstand dürfte wohl in Frage stellen, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Alle unsere Systeme sind in Auflösung begriffen. Es droht der allgemeine Kollaps und Chaos, wenn wir jetzt nicht handeln – Bäume pflanzen und dann wachsen lassen. Entweder wir pflanzen heute Bäume und ernten morgen die Früchte oder wir müssen irgendwann erkennen, dass man Geld nicht essen kann und Renditen Bäume fällen. Soviel sei an dieser Stelle verraten – Menschen die ihren eigenen natürlichen Lebensraum gestalten, werden nicht nur körperlich gesund. Sie werden vielleicht das erste Mal in ihrem Leben mit Gefühlen in Verbindung kommen, die ein gewissenloses egoistisches rücksichtsloses Leben unmöglich macht. Selbst der finsterste Typ wird angesichts des wahren Lebens, z.B. auf einer bunten Blumenwiese, gute Gefühle bekommen, hat somit auch die Chance, mit seiner Seele und dem Gewissen, der Ehre unserer Ahnen in Berührung zu kommen. So sehen wir dieses Leben vor allem als Dauertherapie, insbesondere für Bedürftige, deren Leiden auch die Volkswirtschaft belastet und immense Ressourcen für Jahre bindet. Dabei ist unbedingt zu beachten, dass die Motivation etwas eigenes Dauerhaftes für sich und seine Familie zu bekommen, wahrhaftig begeistert. Es gibt dem Leben einen ganz anderen Sinn. Schöne Gefühle sind eine Folge guter Gedanken und des reinen Gewissens! Das eigentliche Problem ist unser Zerlegen der gesamten natürlichen Schöpfung, der intensive Raubbau und die Konzentrationen (Zentralisierung) durch Systeme. Wer glaubt alles sei in bester Ordnung, denjenigen möchten wir etwas fragen: Gibt es nur eine einzige glückliche Familie in dieser künstlichen Welt? Jede Familie ist heute von gleich mehreren Problemen betroffen und vom persönlichen Glück und Wohlergehen weit entfernt. Ein Grund für die derzeitige Depression und Perspektivlosigkeit ist die mangelnde wahre Identität der Menschheit. Deshalb gibt es keine Begeisterung und kaum Motivation, etwas Großartiges zu schaffen. In nur wenigen Generationen haben Religionen und Politik mit ihren Kriegen die Welt an den Abgrund gesteuert und auch heute verschlingt dieser Wahnsinn einen Großteil der Steuergelder. Doch es gibt Licht am Ende des Tunnels, auch wenn manche Kreise und Lobbyisten ihre Interessen gefährdet sehen, vom Thema ablenken und sich selbst verraten. Wir selbst gehören keiner Partei, keinem Verein oder Organisation an. Wir vertreten nur unsere eigenen Wünsche, Ziele und Träume. Somit sind wir unantastbar, weder von der einen Seite noch von der Anderen. Wir haben eine gewisse Neutralität erreicht, welche uns ermöglicht, ohne Befangenheit die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden. Diese Fähigkeit bieten wir als Dienstleistung bzw. Lebensraumberatungen jeglicher Art (Privat, Staat und Kirche, Wirtschaft) an. Wir glauben nämlich nicht
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daran, dass Technokraten, Priester, Politiker, Topmanager, Kriminelle und auch nicht Arbeitslose, Obdachlose, Kranke – kurz alle Opfer dieser zivilisierten Welt, fähig sind, die Wahrheit zu fühlen. Dafür haben sie gar keine Zeit, meist keinen Garten und dadurch auch nicht das natürliche Bewusstsein. Doch darum geht es, dass Bewusstsein kommt mit dem Leben auf dem eigenen Land und einer menschlich natürlichen Lebens- und Ernährungsweise. Wir geben hier bewusst provokant ein Versprechen, dass alle Menschen welche so leben, sich von sämtlichen Krankheiten heilen können.
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Was ist ein Familienlandsitz in einer Volkssiedlung ?
Nachdem wir unsere Inspiration, Motivation und die Notwendigkeit einer neuen Zivilisation dargestellt haben, nun zum eigentlichen Vorschlag und warum wir darin das Glück der Welt sehen. Um den Sinn dahinter, überhaupt verstehen zu können, möchten wir ihnen ein wichtiges Geheimnis offenbaren. Bitte prüfen sie alles mit Herz und eigenen Gedanken, denn jeder kann die Wahrheit mit seinen Gefühlen erkennen! In der Bibel steht geschrieben, dass gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen ist. Priester ganzer Generationen versuchen auch diesen Satz zu verstehen: „Du sollst Essen wie Atmen!“ Wieso wussten unsere Ahnen soviel über die Heilkräfte der Natur? Warum werden bis heute in den Klöstern Kräutergärten gepflegt? Wieso wird diese wichtige Wissenschaft nicht an unseren Schulen unterrichtet? Weshalb gibt es heute immer mehr unerklärliche Krankheiten? Wer verdient an unserer heutigen Situation viel Geld? Alles Fragen, welche leicht beantwortet werden können. Doch was bedeutet Essen wie Atmen? Vielleicht soll man sich um das Essen keine Gedanken machen? Vielleicht läuft die Ernährung auf einem Familienlandsitz automatisch ab? Wer glaubt daran, dass sich Tiere Gedanken um ihre Nahrung machen? Sie nehmen sich doch einfach was sie brauchen. Und dies soll bei der Krone der Schöpfung anders sein? Gewiss nicht – dass beste Beispiel sind die Naturvölker und ganz besonders die australischen Ureinwohner, welche jedes Mal an ihrem momentanen Rastplatz alles finden, was sie brauchen und dies in kärgstem Gebiet. Wir sollten die Gedanken des täglichen Kampfes gegen die Natur und das nicht genug für alle da sei, endgültig verbannen. Auch dass man schwerste Arbeit erbringen muss, um Früchte erfolgreich anzubauen, ist ein falsches Dogma. Überlegen wir doch mal – wo wachsen die größten Gewächse? Im Urwald, wo der Mensch noch nicht eingegriffen hat. Alles ohne Umgraben und Kunstdünger. Wer das Prinzip Waldgarten, Permakultur oder Totalmulchgarten verstehen will, kann heute auf eine Vielzahl von Erkenntnissen der bewussten
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Gärtner und Naturbeobachter zurückgreifen. (Als Anhang haben wir eine kleine Bücherliste vorbereitet.) Wir wissen also heute, dass fruchtbarer Boden durch natürlichen Kreislauf von organischem Material, Bodenlebewesen, inklusive der unzähligen Mikroorganismen, deren Lebens- und Wechselbeziehungen untereinander, mit den Jahreszeiten, dem Mondlauf, der Witterung und kosmischen Konstellationen entsteht. Dies ist das Grundverständnis eines jeden Naturgärtners. Das Motto sollte immer lauten – Wachsen lassen! Wie kann ein Hektar Familienlandsitz eine ganze Familie ohne viel Aufwand ernähren? Sicher nicht bei unserer derzeitigen Ernährungsweise und Anbaumethoden. Der Antwort ist einfach: es ist der lebendige Zaun, der uns versorgen wird. Bei einem Hektar ist der Zaun ca. 400 m lang. Stellen sie sich vor, dass er lebendig gestaltet wird. Durch Pflanzen von Bäumen, Sträuchern und Hecken kann innerhalb weniger Jahre eine undurchdringliche, blickdichte und genießbare Grundstücksgrenze entstehen. Wenn dafür ganz bewusst regionale Pflanzen, welche uns besonders gut schmecken, verwendet werden, entsteht im Laufe der Jahre, ein wahres Schlemmerbuffet. So wie es die Schöpfung vorgesehen hat, alles nacheinander – Erdbeeren, Kirschen, Himbeeren, Brombeeren, Pfirsich, Äpfel, Birnen, Nüsse – zu jeder Zeit das Richtige. Wenn die Bewohner dort entlang wandeln und von allem kosten, hat niemand mehr Hungergefühle und das Beste für sich erhalten. 400 m Obstbaum-Beerenhecken-Zaun nicht nur als eigene Ernährungsgrundlage, sondern es bleibt noch eine Überproduktion, die man zu Markte tragen kann. So kann man vielleicht erklären, das Essen wie Atmung funktionieren kann. Ohne nachzudenken nimmt sich der Körper einfach was er möchte, dabei brauch der Mensch seine momentanen Gedankenvorgänge nicht zu unterbrechen. Der Instinkt, was gerade gut tut, ist dem Menschen, wie den Tieren angeboren. Einen anderen Ratgeber für gesunde Ernährung als der eigene Körper, darf es beim Menschen nicht geben. Als Mutmacher zur Nachahmung folgendes Experiment. Wir haben ihn den Salatversuch genannt. Um zu erfahren, ob es einen Zusammenhang zwischen Inhaltstoffen, also Heilwirkung von Pflanzen und dem jeweiligen Krankenbild der Bewohner gibt, haben wir Salat gesät. Dabei haben wir aus einer Samentüte den Samen geteilt, in den Mund genommen und jeder für sich, unter gleichen Bedingungen in die Erde gebracht. Der Speichel im Mund soll dem Samen unsere Krankheiten anzeigen, damit er als Pflanze die optimalen Heilstoffe produziert, so die Behauptung. Unsere Vorstellung, dass dann eventuell der Geschmack anders ist, wurde bei weitem übertroffen. Meine Saat ging erst Tage nach der meiner Frau auf. Meine Pflanzen waren dunkelgrün und schmeckten scharf bis bitter. Die Pflanzen meiner Frau waren hellgrün und schmeckten mild und nussig. Also Keimzeit, Wachstum, Aussehen und Geschmack waren trotz desselben Saatgutes und Aussaatbedingungen verschieden. Eine Revolution
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unserer Gedanken. Hinzu kommt, dass die Heilkräfte durch Artenvielfalt und ständiger Information über den aktuellen Gesundheitszustand, wie durch bloße Anwesenheit im Garten, Giessen mit seifenfreiem Waschwasser, Barfußlaufen, Berühren usw. noch weiter zunimmt. Ein altes Sprichwort ist da sehr treffend: „Der beste Dünger des Gartens, ist der Schatten der Gärtners“. Manche Heilstoffe (Energiefrequenzen) können auch nur durch Wildkräuter produziert werden, so dass sie einen ganz besonderen Freiraum in unserem Garten bekommen haben. Jetzt stellen sie sich bitte vor, jede Familie in einer Siedlung hat so ein Grundstück mit lebendigem Zaun. Das Grundstück selbst kann nach Bedarf frei gestaltet werden. Jeder sollte eine Quelle/Brunnen, einen Teich, einen kleinen Wald, Gemüse- und Kräuterbeete und natürlich eine Unterkunft haben. Die Ernährungsgewohnheiten ändern sich angesichts des lebendigen Angebotes sehr schnell. Wer will sich noch im Supermarkt mit sterbenden Pflanzen oder verwesenden Tierkadavern versorgen, wenn im eigenen Garten alles lebendig und gesund ist. Damit erschließt sich uns ein weiteres Geheimnis. Es gibt zwei grundsätzliche Energietypen, die aufbauende Lebensenergie und abbauende Sterbeenergie. Ein getötetes Tier geht direkt vom Wachstumszustand (Zellteilung) in den Verwesungszustand (Zellenabbau) über. Geerntete Pflanzen wachsen noch Minuten oder wenige Stunden weiter und gehen dann in den Zerfallszustand. Wenn ein Mensch eine Frucht direkt nach der Ernte isst, nimmt er Wachstumsenergie zu sich – Lebensenergie. Der Verzehr älterer Früchte wie im Supermarkt und Fleisch geben uns Sterbeenergie. Das muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Als Übergangslösung sind Bioprodukte aus der Region sehr gut, weil der Bauer den Boden weniger stört, die Erde weniger gequält und weniger Gifte in den Früchten sind. Doch haben die Menschen schon wegen des besseren Geschmackes entschieden und ein neues Bewusstsein bekommen. Jetzt gibt es nur noch eine Steigerungsform, frische lebendige Früchte, die wissen für wen sie wachsen und entsprechende Wirkstoffe für die Gesundheit des Menschen enthalten. Dies stellt für uns die eigentliche Innovation und Chance für den ländlichen Raum dar. Wenn nicht gleich alle Menschen bereit sind, sich ihren eigenen Raum zu schaffen, noch in der Stadt leben und arbeiten müssen, dann sollen sie wenigstens einen befreundeten Bauern kennen, der sie mit Lebensmitteln versorgt. Wir nennen diese Form der Versorgung die „Gemüsebeetpatenschaft“. Dazu sollte der Städter öfters den Bauernhof mit seinem eigenen Beet besuchen und die Saat wenn möglich selber einbringen. Eine großartige Möglichkeit der Direktvermarktung, mit 100 % Wertschöpfung und zusätzlichen regelmäßigem Einkommen für die Landbevölkerung. Eine weitere Erkenntnis ist, dass sich ein ungestörtes Leben auf einem Familienlandsitz nur in einer Siedlung von 50–200 Familien realisieren lässt. Zurzeit bewohnen wir einen halben Hektar im Dorf. Für unsere Forschung ist es aus-
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reichend, doch nervt es uns sehr, wenn der Vogelgesang jäh durch Rasenmäher, Motorsense, Kettensäge, Gebläse usw. gestört wird. Nicht nur der Lärm und die stinkende Luft stören uns, vielmehr ist es der Anblick verbissener Menschen, tot gemähter und umgegrabener Flächen. Wenn man bedenkt, dass nur 1 Kubikzentimeter gesunder Humus mehr Lebewesen in sich birgt als es Menschen auf der Erde gibt, dann kann man schon ins Grübeln kommen. Über 100 Billionen Tiere/m² Wald!!! Ein dummer Einwand erreichte uns, wir wären die Egoisten und wollen gleich einen ganzen Hektar nur für uns. Dumm deshalb, weil nachweisbar jeder Städter mehr als einen Hektar verbraucht. Ein Stück vom Supermarkt, der Strasse, des Bahnhofes, des Flugplatzes, des Hafens, des Urlaubsortes, der Acker – und Weidefläche, der Lagerhallen, der Müllhalden, Kläranlagen, Kanäle, Trassen, Gewässer.., eben alles was der tägliche Wahnsinn an Flächen benötigt und verunreinigt, bis hin zum Friedhof. Das Problem ist wie gesagt die Zentralisierung. In seiner gefährlichsten Form als Atombombe oder Atommüllendlager. Aber auch scheinbar notwendige Konzentrationen von Menschen in Städten, Strassen, Plätze, Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen, Waisenheimen, Fabriken, Einkaufszentren, Kirchen, Stadien, Hotels, Kasernen, Gefängnisse, Flüchtlingslager, Ghettos usw. sind nicht harmlos, sondern bestimmen unseren hastigen oberflächigen Alltag. Dies sind keine natürlichen Lebensräume für einen hoch entwickelten lebenden Organismus. Die Krankheitserreger weisen durch ihr Auftreten und schnelle Übertragungsrate daraufhin. Sie sind die einzigen, welche wir durch unsere Lebensweise der Konzentration fördern, indem wir sie binnen Stunden um die ganze Welt tragen und durch unsere zweifelhaften Rituale vermehren. Die Ergebnisse der an einem Punkt konzentrierten Ressourcenausbeutung, Produktion, Intensivlandwirtschaft, Massentierhaltung und all deren Abfällen bekommen wir täglich zu spüren. Nicht minder schlimm ist die Zentralisierung der Ausbildung. Bereits von Geburt an fehlt uns der natürliche Lebensraum. Entbindungsstation, Kinderkrippe, Kindergarten, Schulen, Arbeitsstellen, Altersheim, ja selbst der Friedhof ist keine harmlose Konzentration. Der Grad von Entwicklung und Zivilisation wird doch nicht von der Menge an toten künstlichen Gegenständen um uns herum bestimmt. Wir verlieren bei dieser Lebensweise unsere wertvolle Lebenszeit und haben keine freie Minute für die Klärung der wichtigsten Frage. Die Menschheit besitzt heute wunderbare Chancen mit all seinen technischen Errungenschaften und Organisationen, muss aber dabei unbedingt verbunden sein mit dem Wissen der Ahnen, um den lebendigen Raum der Liebe, ihre Bräuche und Lebensweisen wieder zu finden und die Erde in das Paradies zurück zu verwandeln. Als nächste Schritte in Richtung Volkssiedlungen, erwarten wir Einladungen zu Gesprächen mit Politik Kirche Vereinen und Wirtschaft. Wir wollen Studien-
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aufträge, einen Planungsauftrag für eine Mustersiedlung, Kontakte und Studienreisen in die vielen Siedlungen Osteuropas und Asiens, den Start eines Pilotprojektes mit bedürftigen Menschen in Deutschland, die finanzielle Unterstützung durch Fonds, Stiftung, Programme, Politik. Wir warten und bieten unsere Erfahrungen durch Vorträge über „Das goldene Erbe unserer Ahnen“ an.
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Zusammenfassung mit Blick auf eine blühende Zukunft
Auch wenn Helmut Kohl uns blühende Landschaften versprach, dürfen wir nicht darauf warten, dass er sie für uns anlegt. Dies muss jeder in seinem Raum selber tun und hat unserer Meinung nach das Grundrecht auf ein eigenes Stück Heimat. Die Politik sollte sich schnellstmöglich um die Heimatfrage unserer Familien kümmern. Damit werden sie in die Geschichte eingehen, genauso wie alle Bewohner der Volkssiedlungen. Die Parlamentarier werden nicht wegen ihrer Versprechungen wiedergewählt, sondern weil die Menschen sie wegen ihren weisen Entscheidungen lieben. Dies führt zum vielleicht größten Geheimnis überhaupt – die Unsterblichkeit. Ob man daran glaubt oder nicht – was ist wenn doch? Die Chancen wieder geboren zu werden, stehen dann sicher nicht schlecht, wenn es einen lebendigen Platz auf der Erde gibt, den man selber angelegt hat und es Menschen gibt, die einen in liebevoller Erinnerung behalten haben. Nun dies sichert ein Familienlandsitz, das ist seine Bestimmung. Er ist im Gegensatz zu bedrucktem Papier, technischen Geräten und künstlichen leblosen Produkten, aber auch im Wert zu Gold und Edelsteinen unermesslich wertvoller, weil immer weiter wachsend und sich selber vermehrend. In vielen historischen Dokumenten ist von einem Volk aus dem Norden die Rede, welche durch ihre Größe und Weisheit der Welt viel Gutes brachte. Könnte es nicht sein, das damit unsere Urahnen gemeint sind, aus deren Wissen viele Hochkulturen und auch sagenhafte Völker entstanden sind. Die griechischen Philosophen und Wissenschaftler, das heidnische Rom, Ägypten, Mesopotamien,… Nach diesen indogermanischen Völkern gaben sich z.B. Iran und Irak ihren Landesnamen. Die vielen geschichtlichen Fakten und Zusammenhänge gemeinsamer Herkunft, dürften allein schon Grund dafür sein, mit diesen Kriegen, fanatischem Terror und Hetze aufzuhören. Auf jeden Fall schaden wir der Welt und anderen Völker nicht, wenn wir Gärten anlegen und Milliarden Bäume und Sträucher pflanzen. Sie werden schon bald darum bitten, es ihnen auch zu zeigen. So zu leben bedeutet Solidarisch, rein Vegetarisch und die Menschen sehen sich als Planet-Arier dieser wundervollen Erde. In Gedanken erschaffen sie bereits Leben auf anderen Planeten. Glauben sie nicht? – Macht Nichts – ist doch ein Zukunfts-Märchen. Oder ist etwas dran, dass wir jetzt ernten, was wir selbst gesät
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haben? Das Urprinzip von Aktion und Reaktion – „wie man in den Wald hineinruft, so …“ Verbunden mit den besten Wünschen für alle, hoffen wir auf ein positives Echo. Nur Mut. Literatur Bücherliste zum Thema „Natürlichen gesunden Lebensraum selbst gestalten“: „Mulch Total, der Garten der Zukunft“ Kurt Kretschmann und Rudolph Behm, ISBN 3922201180 „Der lebendige Garten, Gärtnern zum richtigen Zeitpunkt“ Johanna Paungger und Thomas Poppe, ISBN 3442390656 „Sepp Holzers Permakultur Praktische Anwendung in Garten, Obst- und Landwirtschaft“ Sepp Holzer, ISBN 3702010378 „Naturbauten aus lebenden Gehölzen“ Konstantin Kirsch, ISBN 3922201172 „Tochter der Taiga“ 1. Buch der Bücherreihe „Die klingenden Zedern Russlands“ Wladimir Megre, ISBN 3906347656 „Der Permakultur-Garten. Anbau in Harmonie mit der Natur“ Graham Bell, ISBN 3895661961 „In Harmonie mit der Natur. Die Praxis des natürlichen Anbaus“ Masanobu Fukuoka, ISBN 3923176473 „Die Suche nach dem verlorenen Paradies. Natürliche Landwirtschaft als Ausweg aus der Krise“, Masanobu Fukuoka, ISBN 3923176635 „Das große Handbuch Waldgarten“ Patrick Whitefield, ISBN 3922201253 Weitere Informationen unter der E-Mail-Adresse:
[email protected] Gesucht: Unternehmer für die Region Brigitte Schramm, Hans-Werner Preuhsler
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Das „Unternehmen Region“ – die Vision
Wir schreiben das Jahr 2013. Es ist Sommer und Sonntag und Zeit für eine gemütliche Zeitungsschau. Bürgermeister Glücksklee sitzt auf seiner Terrasse. Voller Freude liest er im Regionalblatt der Großgemeinde Glückshausen Folgendes: Am kommenden Wochenende feiert die Großgemeinde Glückshausen ihr traditionelles Sommerfest. Ausrichter des Sommerfestes ist die Dorf- und Regionalgenossenschaft „Mach mit“, die damit gleichzeitig ihr vierjähriges Bestehen begeht. Zentrum der Feierlichkeiten wird das Schwimmbad sein. Das hatte die Regionalgenossenschaft 2009 übernommen und zu einem Naturbad um- und ausgestaltet. Zuverlässige Organisatoren des Sommerfestes sind wie jedes Jahr die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der regionalen Entwicklungsagentur. Die regionale Entwicklungsagentur war das erste Projekt der Genossenschaft. Sie vermittelt Dienstleistungen rund um die Familie und organisiert heute zudem eine Vielzahl von Aktivitäten im Breitensport und zur kommunalen gesundheitlichen Prävention. Das Sommerfest erwartet auch in diesem Jahr zahlreiche Gäste aus den vier Partnerregionen. Vor drei Jahren hatten die Mitglieder von „Mach mit“ einen „kleinen Tourismus“ im Austausch mit anderen interessanten Regionen gestartet. Das Projekt hat sich gut entwickelt und im Frühjahr wurde der Anbau an der Dorfgaststätte eröffnet. Damit stehen jetzt Gästezimmer direkt im Ort zur Verfügung … Bürgermeister Glücksklee erinnert sich noch gut. Im Jahr 2008 hatte er in der Gemeinderatssitzung offerieren müssen, dass Angebote zur Kinderbetreuung außerhalb der Arbeitszeiten der Kindertagesstätte und der zwei Tagesmütter fehlen, dass eine zunehmende Zahl von Einwohnern händeringend nach örtlichen Betreuungsangeboten für ihre Angehörigen sucht, dass das Schwimmbad 2009 geschlossen werden muss und auch der Betreiber des Dorfladens keinen Nachfolger findet. Zudem hatte die einzige Gaststätte des Dorfes gerade den Betrieb
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aufgegeben. Diese Februarsitzung 2008 verhieß alles andere als ein gutes neues Jahr. Damals hatte sich eine Bürgerinitiative gegründet, die den Erhalt ihres Lebens- und Arbeitsraum in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stellte. Sehr schnell einigte man sich auf den Erhalt eines „Mehrgenerationendorfes“ und auf die Gründung einer Dorf- und Regionalgenossenschaft als Trägerorganisation, um das gewollte solidarische und wirtschaftliche Handeln miteinander zu verbinden. Unter diesem Rahmen entwickelte sich Projekt für Projekt – orientiert an den örtlichen Bedarfen, mit Beteiligung der lokalen Initiativen und Vereine sowie in Zusammenarbeit mit den Nachbargemeinden und der Kreisstadt. Mittel aus den europäischen Strukturfonds, Zuschüsse der Gemeinde und Gelder der regionalen Bürgerstiftung halfen, eine regionale Entwicklungsagentur und anderes auf den Weg zu bringen. Am kommenden Wochenende wird Bürgermeister Glücksklee als einer der drei Vorstände der Genossenschaft das 500ste Mitglied feierlich aufnehmen. Zudem hat der Zusammenschluss der Ersatzkrankenkassen einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, um die Arbeit der Selbsthilfegruppen in der Genossenschaft zu würdigen. Bürgermeister Glücksklee lächelt zufrieden – weiß er doch, dass seine Gemeinde demnächst für den deutschen Gesundheitspreis nominiert wird. In der Statistik des Vorjahres wird zu lesen sein, dass die Einwohnerzahl von Glückshausen steigt und gleichzeitig der Altersdurchschnitt sinkt. Der Anteil der Arbeitssuchenden ist unter drei Prozent gesunken. Die ob der letztgenannten Zahl entsendeten Kontrolleure fanden keine Anzeichen von Schwarzarbeit. Ach ja, der Schlussverwendungsnachweis für das letzte vom ESF geförderte Projekt steht noch aus. Eine Folgefinanzierung wird nicht benötigt – die Dorfund Regionalgenossenschaft „Mach mit“ arbeitet Kosten deckend.
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Das „Unternehmen Region“ – ein Miteinander verschiedenster Akteure
Zugegeben – so einfach wird es nicht funktionieren. Aber: Glückshausen ist überall und Zukunft fängt heute an. Die Probleme in den ländlichen Räumen und in der Zusammenarbeit von Stadt und Land sind allgegenwärtig: • Die Nahversorgung und das Gesundheitswesen bröckeln. Die Haus- und Facharztversorgung in den ländlichen Regionen wird immer mehr zum Problem. Es entstehen neue Anforderungen an die Mobilität, die der klassische ÖPNV immer weniger erfüllen kann.
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Ein Miteinander von Jung und Alt kann nur noch selten in den Familienstrukturen funktionieren und dort, wo junge Leute keine Perspektive für sich sehen, ziehen sie weg. Unternehmen benötigen flexible Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber Kindertagesstätten und Tagesmütter müssen auch einmal Feierabend machen. Zahlreiche Arbeitsuchende haben den Kopf voller Ideen und wissen, was in ihrem Wohnort, in ihrem Umfeld gebraucht wird. Existenzgründerin oder -gründer wollen sie aber nicht sein, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, den Weg in die Selbstständigkeit scheuen. Unsere Kulturlandschaften werden von der Form der Landnutzung geprägt und gestaltet. Dabei entwickeln sich die landwirtschaftlichen Betriebe selbst immer mehr zu High-Tech-Unternehmen und stehen im Spannungsfeld mit anderen Landnutzern wie dem Tourismus und den Anforderungen des Umwelt- und Naturschutzes.
Die Lösungsansätze für die benannten Probleme liegen im Miteinander. Im Miteinander von Bürgerinnen und Bürgern, der Wirtschaft, den kommunalen Strukturen, der Sozialwirtschaft und der Politik. Grundsätzlich gilt, dass jede Person und jede Gruppierung ihre berechtigten Interessen wahrnimmt. Kurz: Sie sind die „Stakeholder“ des „Unternehmen Region“. Doch wie lässt sich in einem solchen lockeren Netzwerk mit seinen durchaus unterschiedlichen Interessen miteinander arbeiten? Ein erster wichtiger Schritt ist die Klärung des Selbstverständnisses der Akteure in einer Region: Verstehen wir uns eher als politisches, intermediäres oder ökonomisches Netzwerk?
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Regionale Netzwerke
Ökonomische Netzwerke z.B. Unternehmensnetzwerke
Intermediäre Netzwerke
Politische Netzwerke
z.B. Wirtschaftsförderungsgesellschaften, Transfereinrichtungen, Cluster, Public Private Partnership
z.B. Regionalkonferenzen, runde Tische
Verflechtungen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität von Unternehmen in einer regionalen Wirtschaftsstruktur Oft keine Beziehung zur Wirtschaft, durch politische Institutionen zustande gekommen
Abb 1:
Ausprägungen regionaler Netzwerke
Festzustellen ist: • Alle Arten von Netzwerken bestehen in einer Region und sind für ein vertrauensvolles Miteinander notwendig. • Ein „Unternehmen Region“ ist ein Angebot an die lokalen Akteure zur konkreten Gestaltung der Zusammenarbeit und ist grundsätzlich offen für alle. • Dazu bedarf es eines gewissen Grades an verbindlichen Regelungen in der praktischen Zusammenarbeit, wobei die wirtschaftlichen Dimensionen nicht ausgeblendet werden dürfen: Das „Unternehmen Region“ muss wie ein Unternehmensnetzwerk strukturiert sein. Unternehmensnetzwerke sind nur dann lebensfähig, wenn sie den Netzwerkteilnehmern einen greifbaren wirtschaftlichen Nutzen bieten, also konkret messbare Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen. Für die Teilnehmer bedeutet das eine bessere Erstellung, Erbringung oder Verwertung der eigenen Leistung oder aber neuer Leistungen als Bestandteil von Leistungen im Netzwerk. Unternehmenskooperationen sind geprägt durch die gegenseitige Abhängigkeit in den Kooperationsbereichen bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung der rechtlichen und wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Teilnehmer. Eine wichtige Strukturfrage ist dabei die Frage nach dem Netzwerktyp:
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Typ 1: Generalunternehmer-Netzwerk Die Netzwerkpartner übernehmen spezialisierte Aufträge und stehen in der Regel nicht miteinander in Kontakt. Der Generalunternehmer übernimmt die Projektmanagementaufgaben, schätzt die Ressourcenbedarfe ab, entwickelt die Arbeitspakete und vergibt sie an die externen Lieferanten. Typ 2: Verteilungsnetzwerk In einem solchen Netzwerk besitzen die Partner gleichartige Kapazitäten und ergänzen sich vorrangig quantitativ untereinander, um gemeinsam als großes Unternehmen aufzutreten. Typ 3: Unterstützungsnetzwerk In diesem Netzwerktyp steht die Verschiedenartigkeit der Leistungen im Vordergrund. Die Unterstützung der Partner erfolgt untereinander in erster Linie qualitativ bzw. gemeinschaftlich beispielsweise in der gemeinsamen Vermarktung oder der Aufrechterhaltung gemeinsamer Serviceeinrichtungen.
In den letzten Jahren hat es eine Reihe von Initiativen, Forschungsvorhaben und Pilotprojekten zu Kooperationen in Netzwerken gegeben. Erfolgskritisch sind nach den vorliegenden Erfahrungen die Themenfelder Prozesse, Kultur und ITEinsatz. Wie diese auszugestalten sind, wird zu einem großen Teil vom Typ des Unternehmensnetzwerkes vorherbestimmt. Entscheidend für die Belastbarkeit in der Praxis und damit den Erfolg des Netzwerkes sind jedoch immer • Vertrauen und Gegenseitigkeit, • die Konformität zu übergeordneten Zielen und • ein Beziehungsgeflecht durch Ressourcen. Fazit: Das Miteinander der Akteure im „Unternehmen Region“ erfordert sowohl eine offene und demokratische Struktur als auch einen definierten wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmen für den Geschäftsbetrieb. Diese Anforderungen erfüllt die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft. Das „JA“ zur Genossenschaft als eine, vielleicht die Organisationsform für das Miteinander von Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft und Sozialwirtschaft, kommunalen Strukturen und Politik, hat mehrere gute Gründe: • Genossenschaften ermöglichen und bauen auf Beteiligung. Damit werden Betroffene zu Beteiligten. Das Ermöglichen und das Bauen auf Beteiligung gelten für Bürgerinnen und Bürger genauso wie für Unternehmen, gilt für Verbände wie kommunale Strukturen. • Genossenschaften geben der Wirtschaft die Möglichkeit, sich in der Sozialwirtschaft zu engagieren. So kann Wirtschaft Familienfreundlichkeit selbst mit befördern und zudem der oftmals abstrakten Forderungen nach der Ver-
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antwortung der Unternehmen zur Lösung sozialer und ökologischer Fragen („Corporate Social Resposibility“) ein Gesicht verleihen. Genossenschaften geben Arbeit Suchenden einen Rahmen, mit geringem wirtschaftlichem Risiko ein Unternehmen, ihr Unternehmen zu gründen. Die Mitwirkung in der Genossenschaft kann die Stärken des Einzelnen fördern, die Schwächen in der Gemeinschaft ausgleichen. Genossenschaften sind ein Weg zu mehr Beschäftigung. Genossenschaften verbinden ideal einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb und solidarisches Handeln. Sie eröffnen damit ganz neue Chancen, Wohnorte als Lebens- und Arbeitsräume zu gestalten.
Das „Unternehmen Region“ – eine Genossenschaft
Jeder vierte Bundesbürger, jede vierte Bundesbürgerin ist Mitglied einer Genossenschaft. Rund zwanzig Millionen Mitglieder zählen Genossenschaften in Deutschland. Ganz vorn rangieren dabei die genossenschaftlich organisierten Volks- und Raiffeisenbanken. Wohnungsbau- und Konsumgenossenschaften tun das ihre zur hohen Mitgliederzahl. Weniger bekannt ist vielleicht, dass die Steuerberater ihre Software in einer Genossenschaft, der DATEV, organisieren. Die Tageszeitung „taz“ ist eine Genossenschaft. Fast durchweg genossenschaftlich organisiert ist in Deutschland der Berufszweig der Winzer. Kaum verankert ist der Genossenschaftsgedanke allerdings bislang im sozialen und kulturellen Bereich. Mit der Vision des „Unternehmens Region“ wird die alte, neue Rechtsform Genossenschaft auch im sozialen und kulturellen Bereich einen Durchbruch erzielen. „Genossenschaften sind eine veraltete und antiquierte Gesellschaftsform!?“ Das Argument ist so wenig selten wie stimmig. Sicher, die ersten Genossenschaften wurden bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in England gegründet. Auch in Deutschland entstanden die ersten Genossenschaften in dieser Zeit, u. a. als Zusammenschlüsse kleiner Handwerksbetriebe, die sich damit gegen die ersten großen Fabriken stark machen wollten. Arbeiter schlossen sich zusammen, um sich besser mit Lebensmitteln versorgen zu können oder bildeten Nothilfekassen. Das bis zum August 2006 gültige Genossenschaftsrecht stammte immerhin auch schon aus dem Jahr 1889. „Genossenschaften sind eine zu komplizierte Rechtsform!?“ Sicher, die Gründung einer Genossenschaft braucht einen Prozess, in dem sich die Gründungsmitglieder finden und aushandeln, wie sie miteinander arbeiten wollen. Die zwei Gründungsdokumente Satzung und Geschäftsplan empfehlen sich aber für jede Gründung – gleich ob GmbH oder Aktiengesellschaft, ob GbR oder Limited.
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Zugegebenermaßen ist die Gründungsprüfung vor der Eintragung allerdings schon ein gewisses Alleinstellungsmerkmal für die Genossenschaft. Immerhin – die Genossenschaft war sicher auch vor diesem Hintergrund 2006 wieder die insolvenzsicherste Rechtsform in Deutschland. Das stärkste Argument für die Genossenschaft als die Unternehmensform für ein „Unternehmen Region“ ist sicher der im Genossenschaftsgesetz verankerte Förderauftrag. Vor 150 Jahren wie heute gilt eines unumstößlich: Anliegen einer Genossenschaft ist es, die Situation ihrer Mitglieder zu verbessern. Mit der Reformierung des deutschen Genossenschaftsrechts im August 2006 hat sich die Rechtsform Genossenschaft dabei auch sozialen oder kulturellen Zwecken geöffnet. Genossenschaften sind „Gesellschaften von nicht geschlossenerMitgliederzahl, deren Zweck darauf gerichtet ist, den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern“. (§ 1 Absatz 1 GenG)
Ein deutliches Bekenntnis zu einem gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb ist in der Genossenschaft unumgänglich. Der Zusammenschluss von natürlichen und/ oder juristischen Personen in der Genossenschaft setzt auf ein Miteinander zur Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Vorhaben. Genossenschaften haben dabei eine sehr stark mitgliederbezogene Struktur. Sie basieren auf der Überzeugung, dass mehrere Menschen, die sich zusammenschließen, wirtschaftlich viel stärker sind, als es der Einzelne sein könnte. Nicht das Gewinnstreben des Einzelnen, sondern das gemeinschaftliche Handeln zum Wohle aller bestimmt die Arbeit der Genossenschaft. Eine Genossenschaft zu gründen heißt, in der Gruppe und mit einem überschaubaren und vergleichsweise geringen eigenen wirtschaftlichen Risiko ein Unternehmen zu begründen. Die Genossenschaft gibt Raum für Projektentwicklung. Sie ist eine Gesellschaftsform, die Anbieter und Kunden in einer partnerschaftlichen Wertegemeinschaft zusammenführt.
Gesucht: Unternehmer für die Region
Abb. 2:
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Genossenschaftsprinzipien und mitgliederbezogene Struktur (Bild: innova eG)
Genau hier liegen auch die Unterschiede zum Verein und gleichzeitig die deutlichen Vorteile, wenn es um ein klares Bekenntnis zu einem gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb geht. Sinn und Zweck eines Vereins ist die Erfüllung eines ideellen Zwecks. Zu diesem kann ein Zweckbetrieb betrieben werden. Es ist aber nicht Aufgabe des Vereins, wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb in Größenordnungen zu tragen – der Geschäftsbetrieb folgt dem ideellen Zweck. Für ein „Unternehmen Region“ aber ist dieser gemeinschaftliche Geschäftsbetrieb unverzichtbar vor dem Hintergrund, dass sich die unterschiedlichsten Kräfte in einer Region gemeinsam der Aufgabe stellen, Arbeit vor Ort zu schaffen, Infrastruktur zu stärken und Lebensqualität zu sichern. Das sind drei wesentliche Ansatzpunkte für ein „Unternehmen Region“. 4
Das „Unternehmen Region“ – Erfolgsfaktoren
Genossenschaften sind ein zentrales Zukunftsmodell für zahlreiche Formen gemeinschaftlichen Arbeitens. In 2007 entstanden aus Gründungsqualifizierungen und -begleitungen drei Genossenschaften in Thüringen – die ersten drei Sozialgenossenschaften im Freistaat überhaupt. Sie sind aus zwei völlig verschiedenen Ansätzen heraus erste Schritte zu einem „Unternehmen Region“. So vereint die im Oktober 2007 gegründete ThüTZ eG (Thüringer Traumanetzwerk – Internationales Zentrum für Integrative Traumatherapie) über zwanzig Therapeuten, die sich einem ganzheitlichen Ansatz in der Traumatherapie verschrieben haben. Das heißt unter anderem, dass Musik- und Kunsttherapie
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Eingang in die Traumatherapie finden. Dazu organisiert die Genossenschaft Fortbildungen für die Mitglieder, die Interessierten auch außerhalb der Genossenschaft offen stehen. Die Genossenschaft ist aber auch dabei, der Landesregierung in Thüringen ein Netzwerk anzubieten, das in Katastrophenfällen schnell zur Verfügung steht und Hilfe leisten kann. Das zuständige Ministerium hat also einen Ansprechpartner und muss im Einsatzfall nicht eine Liste von Traumatherapeuten selbst abarbeiten. So speziell dieser Ansatz ist, so gut ist er zu verallgemeinern und auf andere Bereiche gerade im Gesundheitswesen übertragbar. Die ThüSG eG (Thüringer Sozialgenossenschaft eG) und die Familiengenossenschaft Jena eG arbeiten im Bereich familienunterstützender und generationenübergreifender Dienstleistungen. Die Gründung der Familiengenossenschaft Jena ist das Ergebnis des Suchens nach einer Möglichkeit, das Bundesmodellprojekt für alternative Formen der Kinderbetreuung über den 31. Dezember 2007 hinaus zu verstetigen. Dieses „Verstetigen“ hatte zwei Zielrichtungen: Zum einen waren und sind die Angebote zur Kinderbetreuung in Ergänzung von Kindereinrichtungen und Tagesmüttern in der Stadt Jena etabliert und vor dem Hintergrund des Engagements des Zentrums für Familie und Alleinerziehende als Trägerverein im lokalen Bündnis für Familie nicht mehr wegzudenken. Zum anderen ging es darum, den in diesem Modellprojekt beschäftigten Frauen eine dauerhafte Perspektive zu eröffnen. Nach intensiver Diskussion und mehreren Diskussionsrunden und Informationsveranstaltungen wurde die Entscheidung getroffen, mit einem engagierten Gründer/innenteam die Arbeit zu beginnen und die Gründung einer Genossenschaft anzustreben. Im Dezember 2007 war es dann soweit – fünfzehn Kinderfrauen, ein Mann und der Trägerverein des Modellprojektes gründeten die Familiengenossenschaft Jena eG. Daraus ergeben sich die ersten beiden Erfolgsfaktoren auf dem Weg zu einem „Unternehmen Region“: Erfolgsfaktor Nummer 1: Ein gefördertes Projekt schafft sich eine Struktur, in der es dauerhaft weiter arbeiten kann. Erfolgsfaktor Nummer 2: Diese Struktur wird nicht „von irgendwem für irgendwen“ geschaffen, sondern die Beteiligten am Projekt entwickeln gemeinsam diese Struktur, werden gemeinsam Unternehmer/innen und nehmen ihre Geschicke selbst in die Hand. Die enge Verzahnung mit dem Wirken des Vereins als dem Träger des Bundesmodellprojektes wird auch in der Perspektive eine wichtige Grundlage für den Erfolg der Genossenschaft sein. Das Zentrum für Familie und Alleinerzie-
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hende e.V. ist der führende Akteur im lokalen Bündnis für Familie. Da gibt es ein Netz, in das die Genossenschaft hineinwachsen kann. Der Verein hat dem Gründer/innenteam einen Rahmen für den Weg gegeben und letztlich auch die Mittel für Gründungsqualifizierung und -begleitung akquiriert. Hier wird der Erfolgsfaktor Nummer 3 deutlich: Gerade für einen Start in ein regionales Umfeld sind Partner wichtig, die die Schritte zum und die ersten Gehversuche als „Unternehmen Region“ begleiten. Zudem geht das Gründer/innenteam davon aus, dass nicht nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern perspektivisch auch die Kundinnen und Kunden Mitglied der Genossenschaft werden. Die Mitglieder der Genossenschaft werben dafür tagtäglich mit ihrer Arbeit, mit der Übernahme von Kinderbetreuung zu Großveranstaltungen und eigenen Informationsmaterialien. Das ist Erfolgsfaktor Nummer 4 für ein „Unternehmen Region“: Ein derartiger Geschäftsbetrieb greift den Willen zur Bürgerbeteiligung auf, nimmt bürgerschaftliches Engagement ernst und setzt auf die Ideen, Wünsche und Anregungen derer, die in der Region leben und arbeiten. Die erste große Vorstellung für die Familiengenossenschaft Jena fand noch am Abend des Gründungstages statt. Beim „Forum flexibel“, einem regelmäßig stattfindendem Treffen Jenaer Unternehmen zum Thema Familienfreundlichkeit waren die Mitglieder der Genossenschaft begehrte Gesprächspartner/innen. Das Unternehmen, das wenige Tage zuvor den Preis für das familienfreundlichste Unternehmen der Stadt erhalten hatte, spendete das Preisgeld von 1.000 € spontan der Genossenschaft. Zuvor hatte ein Großunternehmen Mitte November 2007 einen Raum für Kinderbetreuung eröffnet. So Überstunden für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nötig sind, betreut die Familiengenossenschaft die Kinder in diesem Raum. Gleiches gilt an so genannten Brückentagen oder für Tagungen am Wochenende. Die Kosten trägt das Unternehmen für die Angestellten. Gespräche in ähnliche Richtungen gibt es mit der Universität, dem Klinikum und anderen. Erfolgsfaktor Nummer 5 für ein „Unternehmen Region“: Wirtschaftsbetriebe schaffen für sich und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Arbeitsbedingungen, die Flexibilität ermöglichen und so motivieren. Wenn Jenaer Unternehmen sich vor diesem Hintergrund entscheiden, selbst Mitglied der Genossenschaft zu werden, dann können sie auf diesem Weg ihren Dienstleister selbst mit gestalten.
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Das ist Erfolgsfaktor Nummer 6 für ein „Unternehmen Region“: Ein solches Unternehmen bietet der Wirtschaft eine Möglichkeit, sich in der Sozialwirtschaft zu engagieren und einen solchen Gemeinschaftsbetrieb wirtschaftlich führen zu helfen. Natürlich, die Stadt Jena ist einer der „Leuchttürme“ in Thüringen. Die Stadt liegt an der quer durch den Freistaat führenden Autobahn A 4. Sie ist mit Weimar eine der beiden Städte mit wachsender Einwohnerzahl. Jena ist eine junge Stadt, eine Universitätsstadt und eine Stadt der Wissenschaft – und – die kreisfreie Stadt setzt auf Familienfreundlichkeit. Führende Unternehmen der Stadt, aber auch die Universität, das Universitätsklinikum und andere mehr brauchen ein Klima, das junge Leute nach Jena lockt und sie bleiben lässt. Die Familiengenossenschaft ist ein guter Schritt auf dem Weg. Aber, der Ansatz „Unternehmen Region“ braucht nicht unbedingt eine „Leuchtturmstadt“ wie Jena. In Nordthüringen, in einer kleinen Stadt nahe Nordhausen, laufen momentan die Vorbereitungen für eine weitere Genossenschaftsgründung. Zu den Ideen gehört es hier, eventuell den Bauhof des Städtchens in der Genossenschaft wieder aufleben zu lassen. In einem ähnlichen Umfeld sucht auch eine Genossenschaftsgründungsinitiative in Ostthüringen ihre Geschäftsideen. Der Blick auf die demographische Entwicklung insbesondere in den ländlichen Regionen zeigt die Notwendigkeit, neue Wege für den Erhalt der regionalen Infrastrukturen zu entwickeln und vor Ort Arbeitsplätze zur Verbesserung der regionalen Wertschöpfung zu schaffen. Zentrale Aufgabenbereiche sind die Grund- und Nahversorgung, die Gesundheitsvorsorge, die Angehörigenbetreuung sowie der Erhalt und Ausbau der Gesundheitsversorgungseinrichtungen als ein vitaler Standortfaktor jeder Region. Hier zeigt sich der Erfolgsfaktor Nummer 7 für ein „Unternehmen Region“: Bürgerinnen und Bürger sind die Fachleute für ihre Region. Sie wissen, was in welchem Umfang gebraucht wird und engagieren sich für die Verwirklichung. Dabei benötigen sie Hilfestellungen unterschiedlichster Art. Die vorangegangenen Beispiele haben sie aufgezeigt. Die Beispiele zeigen: Die Ansätze für ein „Unternehmen Region“ sind mannigfaltig. In jedem Fall gibt die Genossenschaft einen idealen Rahmen, wirtschaftliche Tätigkeit und solidarisches Handeln für die Region zusammenzuführen. Eine derartige regionale Genossenschaft vereint ideal unternehmerische Initiative und soziale Verantwortung.
Gesucht: Unternehmer für die Region
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Das „Unternehmen Region“ – Fazit und Ausblick
Zurück in die Zukunft und damit zum Anfang der Geschichte – es ist 2013 und Bürgermeister Glücksklee sitzt auf der Terrasse und freut sich der Entwicklung von Glückshausen. Die Genossenschaft arbeitet im Ort, hat eine Reihe von Aufgaben übernommen und einiges auf den Weg gebracht. Eines aber hat sie nicht: Die Genossenschaft „Mach mit“ hat nicht die regionale Politik und nicht die kommunalen Verwaltungsstrukturen ersetzt. Der Bürgermeister ist immer noch Bürgermeister … Ein „Unternehmen Region“ bedarf in erster Linie Bausteine, die integrierend sind. Bürgerideen und Initiativen müssen auf- und angenommen werden. Daraus tragfähige Geschäftsideen zu entwickeln, sie fest in den regionalen Kontext zu integrieren, ist eine weitere Anforderung. In einigen nordeuropäischen Staaten arbeiten Gründerzentren, die hierzu umfassende Unterstützung geben. Der deutsche Weg ist bislang vor allem der der (Existenz-)Gründungsunterstützung auf dem Weg in die Selbstständigkeit, meist aus der Arbeitslosigkeit heraus. Wissen um Strukturen, um Gründungen in der Gruppe, um Arbeitsformen im gesellschaftlichen Kontext sind nicht Gegenstand der Begleitung und Qualifizierung bei Existenzgründung. Der Genossenschaftsgedanke harrt trotz der Reformierung des Gesetzes noch immer einer stärkeren Verbreitung. Wege zur Finanzierung von Genossenschaftsgründungsqualifizierung und -begleitung zu finden, ist möglich. Ungleich schwerer ist es schon, Finanzierungsmöglichkeiten für die Betreuung nach der Gründung bis zur Gründungsprüfung zu finden. Genau hier gibt es aber große Bedarfe. Bürgermeister Glücksklee hat 2008 den Grundstein für den schönen Sonntagmorgen in 2013 gelegt: Er hat die Probleme mit den Bürgerinnen und Bürgern gelöst, in dem er ihnen die Rahmenbedingungen für ihre Veränderungswünsche und Ideen geschaffen hat, sie unterstützte und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte des Ortes zusammenbrachte, Partner gesucht hat … alles in allem: er hat Kommunalpolitik als Dienstleister und Partner im Ort verstanden. So ist das „Unternehmen Region“ in Glückshausen keine Vision geblieben. Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft, Sozialwirtschaft, Verbände und Vereine sowie kommunale Strukturen wirtschaften und gestalten in Glückshausen gemeinschaftlich in ihrer Dorf- und Regionalgenossenschaft „Mach mit“. Das „Unternehmen Region“ setzt auf Gemeinsamkeit. Die alte, neue Genossenschaft bietet dazu einen tragfähigen und gestaltbaren Rahmen.
Die Regionalwert AG – Bürgeraktiengesellschaft in der Region Freiburg Christian Hiß
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Einleitung
Die Regionalwert AG – Bürgeraktiengesellschaft in der Region Freiburg (www.regionalwert-ag.de) wurde im September 2006 von dem Gärtnermeister Christian Hiß mit der Überführung seines gärtnerisch-landwirtschaftlichen Familienbetriebes in die Gesellschaftsform einer Aktiengesellschaft gegründet. Das Unternehmensziel besteht im Erwerb und der Verpachtung landwirtschaftlicher Betriebe in der Region Südbaden. Zur Landwirtschaft zählt die Regionalwert AG auch die vor- und nachgelagerten Bereiche, d.h. die Wertschöpfungskette der Nahrungsproduktion. Nach Aufsichtsratsbeschluss müssen sie mindestens ökologisch bewirtschaftet werden, eine Verbandszugehörigkeit ist Sache der Pächter. Mittels der Bürgeraktie können sich Bürger der Region mit Kapital an regionaler Landwirtschaft beteiligen und erhalten darüber Stimmrechte über die ökologische, soziale und ökonomische Weiterentwicklung ihrer Region. Außer der Einführung einer strukturellen Innovation durch die Bürgeraktiengesellschaft als Eigentümerin von landwirtschaftlichen Betrieben und Flächen, will die RWAG die ökologisch und sozial relevanten Werte (z.B. nachhaltiges Wirtschaften und Sozialbuchführung) ihrer Tätigkeit, bzw. die ihrer verpachteten Betriebe dokumentieren, bewerten und den Aktionären als komplementärer Teil der Rendite zu den betriebswirtschaftlichen Ergebnissen als jährlichen Geschäftserfolg ausweisen. Die Aktionäre erhalten auf diese Weise Einblick und Einfluss auf die weitere Entwicklung regionaler Landwirtschaft über die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse hinaus. Beide Kerninnovationen, die neue Eigentumsstruktur und die Bilanzierung sozial-ökologischer Werte bieten viele Möglichkeiten, den bestehenden Problemen der regionalen Landwirtschaft konstruktiv zu begegnen.
Die Regionalwert AG – Bürgeraktiengesellschaft in der Region Freiburg
2
Grundsätzliche Überlegungen
2.1
Welche Gesellschaftsform?
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Bis es zur Entscheidung und zur Gründung der Regionalwert AG kam, mussten vom Gründer mit Hilfe von Beratern eine Reihe grundsätzlicher Überlegungen angestellt werden. Aufbauend auf der Erfahrung mit der langjährigen Bewirtschaftung des seit über 50 Jahren biologisch-dynamisch geführten Familienbetriebes, stellten sich dem Gründer folgende Fragen: • • • • •
• • •
2.2
Welche Gesellschaftsformen eignen sich für landwirtschaftliche Betriebe, wenn sie zukunftsfähig sein wollen? Sind die bereits praktizierten ausreichend? Wie kann die Betriebsnachfolge erleichtert werden? Wie können familienfremde Unternehmer ohne Hof einen solchen zur Bewirtschaftung erhalten? Wie können die Bürger der Region noch anders als über den Kauf der Produkte in die Entwicklung der regionalen Landwirtschaft eingebunden werden? Auf welche Weise können die externen Effekte des Wirtschaftens besser sichtbar gemacht werden? Gibt es bereits geeignete Intermediärstrukturen, die den Partizipationsprozess praktikabel machen? Wer erstellt die Kriterien für regionale Landwirtschaft? Problem Konventionalisierung
Im Zuge der Konventionalisierung der ökologischen Landwirtschaft im Laufe der letzten 10 Jahre, wird es zunehmend schwieriger, die Prinzipien des an sozialen und ökologischen Werten orientierten landwirtschaftlichen Betriebes aufrechtzuerhalten. Die Spezialisierung und die Technisierung werden auch im Ökolandbau zu gängigen Betriebsentwicklungsgesichtspunkten. Gleichzeitig wächst aber auch der Anspruch an die Bewältigung neuer Herausforderungen, wie die Stickstoffdüngerbeschaffung, die ökologische Saatgutvermehrung und Pflanzenzüchtung, die Ausbildung und die bewusste Gestaltung der Kulturlandschaft. Es gilt der Grundsatz: Was betriebswirtschaftlich Sinn macht, kann landwirtschaftlich schädlich sein. Was landwirtschaftlich Sinn macht, kann betriebswirtschaftlich schädlich sein.
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Das bedeutet, der Druck, eine ausreichende Kapitalverzinsung zu erreichen, verändert die Landwirtschaft, auch die ökologische, in spezialisierte Unternehmen, die rationalisieren und technisieren müssen. Ursprüngliche Gesichtspunkte des ökologischen Landbaus, die Landwirtschaft nach den Gesetzmäßigkeiten der Natur, des ökologischen Gleichgewichts und einer sozial verträglichen Betriebsführung zu betreiben, geraten in den Hintergrund. Entscheidend bei dieser Entwicklung ist der veränderte Blick auf die Kapitalverzinsung. Eine weitere Konsequenz davon ist, dass produktionstechnisch benachteiligte Regionen weiter benachteiligt werden. Das Gleiche gilt für Arbeitsbereiche, die weniger ertragreich sind wie die Milchwirtschaft oder der kleinräumige Ackerbau. Landwirtschaftlich Sinn macht aber ein vielgestaltiges Wirtschaften, in dem die verschiedenen Arbeitsbereiche ineinander greifen. Die Fruchtfolge und der Fruchtwechsel, die einst ehernes Gesetz des Ökolandbaus waren, werden vernachlässigt, weil Vielfalt unrationell ist und Ruhephasen keine Erträge bringen. Die Nachhaltigkeit des landwirtschaftlichen Wirtschaftens, die ein Paradigma des Ökolandbaus war, bevor der Begriff überhaupt modern wurde, gerät ins Abseits, weil dessen konsequente Einhaltung Kosten verursacht. Um am Markt bestehen zu können, werden immer mehr dieser Kosten externalisiert. Der Korrelation zwischen betriebswirtschaftlichem Handeln und sozialökologischer Wertschöpfung ein entsprechendes Gewicht zu geben, war ein wesentlicher Gesichtspunkt auf der Suche nach einer neuen Gesellschaftsform für Betriebe der Nahrungsproduktion. 2.3
Problem Kapital – die zweifache Rendite
Soll die Landwirtschaft sozial-ökologisch verträglich weiter bestehen, benötigt sie spezifisches Kapital. Damit ist nicht die „grüne“ Kapitalanlage gemeint, die sich hochverzinst, weil ökologische Technologie Trend ist, sondern, sozialökologisches Kapital, welches die sozial-ökologische Wertbildung genauso im Blick hat, wie die monetäre Kapitalverzinsung. Für die Initiatoren der Regionalwert AG kam die Aktiengesellschaft als die Form in Frage, bei der der Kapitalgeber den größtmöglichen Einfluss auf die Wirkung seiner Kapitalanlage besitzt. Allerdings muss er nachvollziehen können, wie sein Kapital wirkt. Deshalb wird der Regionalwertaktionär künftig zwei Arten von Rendite jährlich ausgewiesen bekommen: die monetäre und die qualitative. Mittels Sozial- und Ökobilanzierung wird die immaterielle Wertschöpfung festgestellt und paritätisch neben der Geldrendite ausgewiesen.
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Auf diese Weise sind die Unternehmer nicht mehr gezwungen, Kosten, die durch das nachhaltige Wirtschaften entstehen, zu externalisieren, sondern sie können sie gegenüber dem Kapitalgeber geltend machen. Entscheidend wird hier, was die Kapitalgeber (Aktionäre) mit ihrem Kapital erreichen wollen. Diese Methode der ganzheitlichen Kapitalbilanzierung (Gesamtrechnung des Wirtschaftens) ist neu und wird noch nirgends praktiziert. Nach Meinung der Initiatoren ist dies aber ein notwendiger Schritt, weil betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Geschäftserfolg unmittelbar miteinander korrespondieren. Gerade in der Landwirtschaft kann unter Kapitalrendite auch die Entwicklung der Bodenfruchtbarkeit und der Kulturlandschaft oder die Art und der Typus der Arbeit gezählt werden. Die Einhaltung der Prinzipien nachhaltigen und vorsorgenden Wirtschaftens wird entgegen der gängigen Praxis hier von den Pächtern nicht zusätzlich aus wirtschaftsethischen Gründen gefordert, sondern sie sind Teil des Geschäftserfolgs. Nachhaltigkeit verlagert sich aus dem „Sollstatus“ in den Rang eines paritätischen Zieles von Wirtschaften. 2.4
Bürgerbeteiligung
Eine weitere Grundsatzüberlegung für die Initiatoren der Regionalwert AG bestand darin, wie Bürger der Region in den weiteren Entwicklungsprozess der regionalen Landwirtschaft eingebunden werden können. Die Idee, eine Aktiengesellschaft als Form zu wählen, erlaubt, dass die Aktien als Anschlußinstrument an die sozial-ökologische Regionalentwicklung zu nutzen. Der Begriff – Bürgeraktiengesellschaft – wurde in den Namen aufgenommen und notariell beurkundet. Damit besteht auch die Chance, dass Bürger einer Region Einfluss auf die Gestaltung und Bewirtschaftung ihrer Kulturlandschaft erhalten. 2.5
Hofnachfolge
Seit Jahren geht die Zahl der familieninternen Hofnachfolger stetig zurück. Dagegen gibt es viele gut ausgebildete Landwirte und Gärtner, die keinen eigenen Hof besitzen und aufgrund des hohen Kapitalbedarfs bei Unternehmensgründungen in der Landwirtschaft auch kaum einen erwerben können. Mit dem Instrument der Aktiengesellschaft können Betriebe, die keine familieneigenen Nachfolger haben, erworben werden und an Hofsuchende verpachtet werden.
Christian Hiß
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3
Die Umsetzung
3.1
Gründung und Status quo
Die Regionalwert AG Bürgeraktiengesellschaft in der Region Freiburg wurde in Form einer Sachgründung im September 2006 gegründet. Die Sacheinlage bestand in dem Betrieb des Gründers, ein vielfältiger landwirtschaftlichgärtnerischer Betrieb am Kaiserstuhl, in der Nähe von Freiburg im Breisgau. Der Betrieb wird seit 55 Jahren biologisch-dynamisch bewirtschaftet und wurde in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt. Dazu gehört eine Gärtnerei mit 15 ha Gemüseanbau im Freiland und 2000 qm Hochglas, in der 60 verschiedene Gemüse und Salate wachsen. Die Vermarktung erfolgt zu 70 % direkt über AboVermarktung, Hofladen und Märkte. Außerdem werden seit 15 Jahren Gemüsesaatgut vermehrt und Pflanzen gezüchtet. Die Gärtnerei wird von einer GbR mit drei Gesellschaftern gepachtet und bewirtschaftet. Weiter existiert ein Milchviehstall mit Käserei, ebenfalls direkt vermarktend. Dieser Betrieb wird als Familienbetrieb geführt. Die Gründungsphase der Regionalwert AG zog sich über ein Jahr hin. Mittlerweile sind 40 Aktionäre Gesellschafter der AG. 6 Aufsichtsräte wurden vom Gründer ernannt. 3.2
Die nächsten Schritte
Es soll eine Kapitalerhöhung um 1,3 Millionen Euro durchgeführt werden. Mit dem Geld will die RWAG eine weitere Gärtnerei in der Region, die bisher konventionell bewirtschaftet wird, erwerben und auf ökologischen Anbau umstellen. Als weiteres Projekt soll ein Catering Unternehmen für die Bio-Verpflegung in den Schulen der Region aufgebaut werden. Für die Aktienemission wurde ein umfangreicher Prospekt erstellt, der vom Bundesamt für Finanzaufsicht (bafin) geprüft ist. 3.3
Ziel – Wertschöpfungskette
Die Regionalwert AG hat sich zum Ziel gesetzt, landwirtschaftliche Betriebe sowie Unternehmen aus vor- und nachgelagerten Bereichen in der Region um Freiburg zu erwerben oder sich an ihnen zu beteiligen und sie dann an qualifizierte Unternehmer zu verpachten. Dies können Betriebe zur Produktion nachwachsender Rohstoffe, zur Energieproduktion, zur Saatzüchtung, zur Saatgutproduktion, zur Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte oder auch die regionale Gastronomie sein. Als „Bürgeraktiengesellschaft“ spricht die Regio-
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nalwert AG private und institutionelle Anleger an, die mit ihrem Beteiligungskapital kleinen und mittleren Unternehmen eine breitere Kapitalbasis verschaffen und damit gleichzeitig dazu beitragen, regionale Wirtschaftsstrukturen zu erhalten und aufzubauen. Die Initiatoren planen, die ganze Wertschöpfungskette der Nahrungsproduktion auf der Grundstruktur der Aktiengesellschaft aufzubauen. Konkret soll im Jahr 2008 Folgendes verwirklicht werden: 3.3.1
Der Erwerb eines gärtnerischen Betriebes in der Region
Der Regionalwert AG liegt ein Kaufangebot einer größeren Gemüsegärtnerei am Rande der Stadt Freiburg vor. Die Hauptversammlung hat die Verkaufsverhandlung genehmigt. Mit dem Erwerb ist gleichzeitig die Umstellung auf die ökologische Bewirtschaftung vorgesehen. Im Angebot sind Wohnungen, Gewächshäuser und umfangreiche Betriebsgebäude enthalten. 3.3.2
Der Bau einer Betriebsleiterwohnung am Milchviehstall
Für die Bewirtschaftung des Milchviehstalles und die tiergerechte Betreuung der Tiere ist der Bau einer Wohnung für die Betriebsleiterwohnung der Familie Piroth und Groos notwendig. Die Baupläne wurden bereits erstellt und die Baugenehmigung beantragt. 3.3.3
Der Erwerb von landwirtschaftlichen Nutzflächen
Die Regionalwert AG wird Acker und Grünlandflächen die zum Verkauf angeboten werden prüfen, gegebenenfalls erwerben und auf ökologische Wirtschaftsweise umstellen lassen. 3.3.4
Der Aufbau eines Catering-Unternehmens für Bioverpflegung in Schulen
Gesunde Schulverpflegung ist in aller Munde. Das Angebot ist bezüglich Essen aus ökologischem Anbau noch eher mangelhaft. Die Regionalwert AG wird mit geeigneten Unternehmern zusammen versuchen, ein leistungsfähiges CateringUnternehmen für Bio-Essen aufzubauen.
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4
Kriterien nachhaltigen Wirtschaftens
4.1
Strukturelement Doppelbilanz
Ein wesentlicher Gesichtspunkt des Unternehmens ist die regionalspezifische Erstellung von Bewirtschaftungskriterien. In einem dauernden Dialog zwischen den Anteilseignern und den Pächtern über das Organ der AG soll die zukünftige Bewirtschaftungsart langfristig herausgearbeitet werden. Das Strukturelement, welches den Dialog erlaubt, ist die oben beschrieben Doppelbilanzierung. Durch die Dokumentation und Darstellung in Bilanzen erhält der Aktionär einen Einblick in die Geschäftsentwicklung. Auf das von der Aktiengesellschaft in landwirtschaftlichen Betrieben eingesetzte Kapital muss eine jährliche Bewertung für die volkswirtschaftlich relevante Wertschöpfung in Ergänzung zur Dividende vorgenommen werden. Für diese Faktoren soll genauso, wie für die Betriebswirtschaft ein Wirtschaftsplan für die nächsten Jahre erstellt werden. Zunächst soll versucht werden, die entstehende oder entstandene Wertsteigerung nicht in Zahlen, sondern in einer Art Beschreibung auszudrücken. Allerdings muss betont werden, dass diese externen Wirkungen im Laufe der Zeit auch ökonomischen Charakter erhalten können. Wirkungen lösen Prozesse aus, die zu einem späteren Zeitpunkt auch bezifferbaren betriebswirtschaftlichen Charakter in Kosten oder Nutzen bekommen können. Die Regionalwert AG versucht die Wirkungen, die von Landwirtschaft ausgelöst werden, zu bestimmen und öffentlich darzulegen, bevor die Schäden dazu zwingen und in Kosten ausgedrückt werden können.
4.2
Beispiele von Bewertungskriterien
4.2.1
Die Ausbildung von jungen Menschen zu Fachkräften in den jeweiligen Berufen
Ohne dass junge Menschen in landwirtschaftlichen Berufen ausgebildet werden, wird es in Zukunft keine Landwirtschaft im handwerklichen Stil mehr geben. Deshalb bildet Ausbildung Werte auf volkswirtschaftlicher Seite. 4.2.2
Pädagogische Maßnahmen zu landwirtschaftlichen Themen
Landwirtschaftliche Betriebe die pädagogische Maßnahmen mit Schülern oder Jugendlichen durchführen, leisten einen Beitrag zur Allgemeinbildung. Die Betriebe der AG sind von ihrer Besonderheit im Anbau und in ihrer Struktur besonders geeignet. Führen sie pädagogische Maßnahmen durch, so bilden sie Werte
Die Regionalwert AG – Bürgeraktiengesellschaft in der Region Freiburg
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im Sinne der Bewusstseinsbildung. Diese Maßnahmen werden von der AG bewertet und bei der Kapitalrendite positiv berücksichtigt. 4.2.3
Erhaltung und Steigerung der Fruchtbarkeit von Boden, Pflanzen und Tieren
Lebewesen befinden sich in einem gesunden Gleichgewicht zwischen Ertrag und Reproduktionsfähigkeit. Spielt der Ertrag bei Pflanzen und Tieren aufgrund betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit die unbedingte Rolle, so geht die Reproduktionskraft zurück. Ein Beispiel dafür ist bei Kühen das Verhältnis von jährlicher Milchleistung und Geburtenzahl. Die Betriebe der AG sollen hier in der Bodenpflege, dem Pflanzenbau und der Tierhaltung das Gleichgewicht suchen. Die Parameter sind beim Boden die gemessenen Humuswerte und der Fruchtwechsel, in der Milchviehhaltung die Geburtenzahl der Kühe und im Pflanzenbau die Verwendung von eigenen samenfestem Saatgut bzw. Sorten gegenüber Hybridsorten, die kein 2. Jahr verwendet werden können. 4.2.4
Entwicklung der Kulturlandschaft
Die Betriebe der AG sorgen dafür, dass die Kulturlandschaft vielfältig bewirtschaftet wird und ihr Erscheinungsbild dementsprechend erhalten bleibt, bzw. sich positiv weiterentwickelt Dazu ist ein vielfältiger Anbau notwendig. Dagegen spricht die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit der Spezialisierung. Die Betriebe der AG werden aufgefordert, den vielfältigen Anbau beizubehalten und bekommen dies entsprechend bewertet. 4.2.5
Der Natur- und Umweltschutz
Der Aufsichtsrat und der Vorstand der AG haben sich bereits für die konsequente Linie des ökologischen Anbaus für ihre Betriebe ausgesprochen. Dieser ist wissenschaftlich nachgewiesen die Anbaumethode, die die Umwelt am ehesten schützt. Im Laufe der nächsten drei Jahre versucht die AG weitere Flächen und Betriebe dazu zu bekommen und diese auf ökologischen Anbau umzustellen. 4.2.6
Schaffung von Arbeitsplätzen
Die AG und ihre Betriebe sind auf Expansion ausgerichtet. Durch die Regionalisierung der Wertschöpfungskette werden Arbeitsplätze gehalten und geschaffen. Geschaffene Arbeitsplätze werden positiv bewertet. Die Einstellung von Fachkräften, mittlerweile aus Kostengründen eine große Ausnahme in der Landwirtschaft, wird extra gewertet.
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4.2.7
Schaffung von Arbeitsplätzen für schwächere Menschen
Die Arbeit auf den Betrieben der AG eignet sich zur Integration von schwächeren Menschen. Beschäftigen die Betriebe solche Menschen, wozu sie aufgefordert werden, dann wird es ebenfalls positiv bewertet und ihre Zahl der Öffentlichkeit dargestellt. 4.2.8
Etablierung der Wertschöpfung in der Region
Die AG verfolgt das Ziel, die gesamte Wertschöpfungskette in der Region zu installieren und zu verankern. In den nächsten Jahren sollen Saatgutvermehrung, Energiegewinnung, sowie verarbeitende Betriebe aufgebaut werden. 4.2.9
Transportwege
Vielfältige Produktion heißt meist automatisch kurze Transportwege. Die Betriebe der AG werden dazu angehalten, in der Region zu vermarkten. Ihre Betriebsentwicklung wird entsprechend abgestimmt und in der Ökobilanz bewertet.
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Die Perspektive
Unter der Voraussetzung, dass Bürger der Region die Chancen erkennen, die in der Regionalwert AG liegen und Aktien kaufen, werden weitere Betriebe, Einzelflächen und Betriebsgebäude hinzukommen. Aktien der Regionalwert AG könnten besonders interessant sein für − Menschen, denen ihre Region wichtig ist − Menschen, die vielfältige und ökologisch verträgliche Landwirtschaft in der Region fördern möchten − Menschen, die selbst Land besitzen und es durch die Regionalwert AG treuhänderisch bewirtschaften lassen möchte − Menschen, die ExistenzgründerInnen eine Chance geben möchten − Menschen, die eine Existenz gründen wollen − Menschen, die zukünftige Landwirtschaft aktiv mitgestalten wollen − Kommunen, die ihr Land einem kompetenten Partner überlassen möchten − Verbände, die die Ziele der AG unterstützen − Unternehmer, die ihren Betrieb in den Verbund der AG einbringen wollen − Unternehmer, für deren Unternehmen die Nachfolge nicht gesichert ist Ab 10. Juni 2008 wird die Regionalwert AG mit dem neuen Emissionsprospekt an die Öffentlichkeit gehen und versuchen, die geplante Kapitalerhöhung durch-
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zuführen. Eine Aktie kostet 500,00 €. Die Aktien sind vinkulierte Namensaktien, die nicht weiterverkauft werden können, ohne dass der Aufsichtsrat der Gesellschaft zu stimmt. Gleichzeitig wird in einem, aus dem Innovationsfonds „Wasserund Klimaschutz“ der Badenova AG geförderten Forschungsprojekt die Systematik der Doppelbilanzierung entwickelt. Bis Ende 2008 soll die Regionalwert AG Bürgeraktiengesellschaft als innovatives Unternehmen im sozial-ökologischen Bereich über die Grenzen der Region bekannt sein und Nachahmung finden. Die Initiatoren hoffen, dass das Unternehmen nicht nur Aktionäre anspricht, sondern auch Wissenschaftler verschiedener Disziplinen für Forschungsprojekte im Zusammenhang mit Fragestellungen der AG. Entscheidend für den Erfolg der Regionalwert AG wird sein, ob sie junge Unternehmer findet, die die Betriebe der Bürgeraktiengesellschaft unternehmerisch selbständig bewirtschaften wollen.
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung zur Entwicklung ländlicher Räume Rainer Friedel
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Problemstellung
Das Regionalmanagement1 ist eine relativ neue Dienstleistung für die Entwicklung ländlicher Räume. Es organisiert die Umsetzung der integrierten ländlichen Entwicklungskonzepte2, die von den Wirtschafts- und Sozialpartnern der Regionen eigenverantwortlich aufgestellt werden. Hierbei arbeitet das Regionalmanagement als Auftragnehmer für die jeweiligen lokalen Aktionsgruppe (LAG) mit den Unternehmen, Verbänden, öffentlichen Einrichtungen und Bürgern der Region zusammen. Das Regionalmanagement unterstützt die Zusammenarbeit der lokalen Akteure bei der Entstehung und Förderung von Projekten und trägt so bei, die Region im Wettbewerb besser zu positionieren. „Das Regionalmanagement dient als Moderator und Organisator des regionalen Entwicklungsprozesses und übernimmt damit Aufgaben, die ein engagiertes Ehrenamt nicht auf Dauer leisten kann.“3 Diese Arbeitsweise hat sich in den vergangenen Jahren, ausgelöst durch die Programme LEADER+ und „Regionen aktiv“ in vielen Regionen etabliert. Über die Erfahrungsaustausche der LEADER-Vernetzungsstelle, des Nova-Instituts sowie weiterer Aktivitäten hat sich relativ schnell ein erheblicher Wissensfundus aufgebaut, der nun, mit der Fördermöglichkeit von Regionalmanagement über ELER für eine fast flächendeckende Anwendung in Deutschland äußerst nützlich ist. ________________ 1 Regionalmanagement wird hier nur im Zusammenhang mit dem aktuellen EU-Programm zur Entwicklung ländlicher Räume (ELER) betrachtet. Regionalmanagement anderer Programme wird hier nicht berücksichtigt. 2 In den einzelnen Förderprogrammen der Bundesländer werden diese Entwicklungskonzepte unterschiedlich benannt, z.B. Integriertes ländliches Entwicklungskonzept (ILEK), Gebietsbezogene ländliche Entwicklungsstrategie (GLES), Regionales Entwicklungskonzept (REK) u.a. Hier wird als gemeinsamer Begriff ILEK verwendet. 3 Nationale Rahmenregelung der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung ländlicher Räume nach Artikel 15 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) mit gemeinsamen Bestandteilen der regionalen Programme der deutschen Bundesländer auf der Grundlage von Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK)
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung
471
Andererseits ist es bemerkenswert, dass das Instrument, welches im laufenden Förderzeitraum 2007–2013 eine nahezu flächendeckende Anwendung in den ländlichen Räumen Deutschlands finden wird, so relativ wenig methodisch reflektiert wird. Eine Auswertung veröffentlichter ILEK´s durch die Agro-ÖkoConsult Berlin GmbH zeigt, dass Regionen, die sich neu mit dem Regionalmanagement befassen, weitgehend die veröffentlichten Erfahrungen kopieren. Viele ILEK´s sind zum Verwechseln ähnlich. Die Agro-Öko-Consult hat im vergangenen Förderzeitraum auf etwa 30 % der Landesfläche Brandenburgs in den Förderprogrammen ILE und LEADER+ das Regionalmanagement durchgeführt. Außerdem war die Gesellschaft für weitere LEADER- und ILE-Regionen in mehreren Bundesländern durch Erstellung von ILEK´s und durch Projektmanagement integriert. In diesem Beitrag soll aus diesen Erfahrungen berichtet werden.
2
Aufgaben des Regionalmanagements
Die für die Umsetzung durch das Regionalmanagement zu bearbeitenden Aufgaben werden unterschiedlich beschrieben. Aus der Sicht seiner Zuständigkeit für Agrarpolitik und Verbraucherschutz und als Interessenvertretung ländlicher Räume ordnet das das BMELV dem Regionalmanagement die in Abb. 1 benannten Aufgaben zu.
Abb. 1:
Regionalmanagement im Zentrum integrierter ländlicher Entwicklung
Rainer Friedel
472
Die fachliche Handlungsgrundlage für die Arbeit des konkreten Regionalmanagements ist das jeweilige ILEK. In einer größeren Anzahl von ausgewerteten ILEK´s wird eine Vielzahl von Aufgaben benannt: • •
• • • • • • • • • •
• •
administrative Unterstützung für den Vorstand der LAG Beratung und Begleitung von Projektanfragen von der Idee über die Förderantragstellung bis zur Umsetzung und zum Abschluss der Projekte Bündelung regionaler Ressourcen Demografie-Check entwickeln und einführen Dokumentationsaufgaben Durchführung von Schulungen endogenen Potenziale wecken und Beziehungen knüpfen Erstellung der ILEK´s Geschäftsführung für die LAG Identifizierung und Erschließung regionaler Entwicklungspotentiale Information, Beratung und Aktivierung der Akteure Initiierung, Organisation und Umsetzungsbegleitung des Entwicklungsprozesses Jahresgeschäftsbericht der LAG vorbereiten Kommunikation und der Öffentlichkeitsarbeit zur Schaffung von Akzeptanz in der Bevölkerung
• • • • • • •
• • • • • • • • •
Koordination von Prozessen sowie Suche und Nutzung von Synergien Koordinierungs- und Beratungsstelle für regional relevante Projekte Mitwirken an Projektanbahnungen und Projektentwicklungen Plattformtätigkeit Projektansätze formen, Projektberatung, Projektcontrolling Prozessmanagement, incl. Öffentlichkeitsarbeit, und Evaluation Prüfung der Einhaltung der formalen Anforderungen sowie die grundsätzliche Förderfähigkeit der Förderanträge anhand von Projektauswahlkriterien Regionalmarketing, Standortmarketing sektorübergreifenden Entwicklung der Region Steuerung der Umsetzung der GLES Strategieerstellung Tätigkeitsberichte für die eigene Arbeit erstellen und vortragen Unternehmertypen finden und vernetzen Vernetzung der regionalen Akteure Verzahnung der Fördermittelquellen Wissenstransfer
In durchgeführten Interviews mit LAGs wird deutlich, dass es eine Tendenz gibt, dem Regionalmanagement möglichst viele Aufgaben zuzuordnen. Das birgt die Gefahr, dass vor allem administrative Aufgaben für die unmittelbaren Auftrag-
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung
473
geber des Regionalmanagements (LAG und Behörden4) sich verselbständigen und ausweiten. Damit wird der zwar nicht geringe, jedoch begrenzte Zeitfonds des Regionalmanagers für Aufgaben, die weiter entfernt vom Auftraggeber zu erledigen sind (z.B. Beratung von Projektträgern, Knüpfen von Netzwerken, Organisation von Wissenstransfer) reduziert. Deutlich wird dies bei der Auswertung von Stundenzetteln abgeschlossener Regionalmanagements. Tipps: 1.
2.
3.
3
Wenn man die durch Projektinvestitionen erreichte Stärkung der Region als das wichtigste messbare Ergebnis des Regionalmanagements ansieht, ist die Arbeit des Regionalmanagers auf die Motivation und Befähigung von möglichst vielen Projektträgern zu richten, so dass diese die vorhandene Förderung umfassend in Anspruch nehmen. Die administrativen Aufgaben der Prozesssteuerung (insbes. Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Sitzungen der LAG und ihrer Strukturen, Berichtswesen, Prozessdokumentation usw.) haben die Eigenschaft auszuufern. Der Arbeitsanteil hierfür sollte nicht über Gebühr anwachsen. Für die Beratung der Projektträger ist ein effizientes Zeitmanagement erforderlich, um möglichst viele Träger ausführlich zu beraten, und um nicht zuviel Zeit auf wenige „harte Nüsse“ zu verwenden.
Stellung des Regionalmanagements zu den regionalen Akteuren
Das Regionalmanagement hat in der Organisationsstruktur zur ländlichen Entwicklung eine zentrale Stellung, wie Abb. 2 zeigt. Es arbeitet mit LAG-Strukturen, Behörden und Projektträgern zusammen.
________________ 4 Im Land Brandenburg gibt es für jedes Projekt einen 20-seitigen „Antrag auf Gewährung einer Zuwendung für die Förderung der integrierten ländlichen Entwicklung und LEADER gemäß Richtlinie des MLUV“, welcher durch das Regionalmanagement zu bearbeiten ist.
474
Rainer Friedel
Quelle: Gebietsbezogene lokale Entwicklungsstrategie der Region Fläming-Havel, Stand 16.04.2007; Seite 23 Abb. 2:
Beispiel: Organisationsstruktur der LAG Fläming-Havel
Das Regionalmanagement wird als eine Dienstleistung von einem Regionalmanager für einen Auftraggeber (i.d.R. eine LAG) erbracht. Aus diesem Dienstleistungsverhältnis ergibt sich eine Weisungsbefugnis des Auftraggebers gegenüber dem Regionalmanagement. Dies ist insoweit richtig, als die LAG die Interessen der Region verkörpert, während das Regionalmanagement ohne eigene Interessen und unabhängig in der Region tätig ist. Die Neutralität und der von „Betriebsblindheit“ ungetrübte Blick eines erfahrenen Regionalmanagements sind von besonderem Vorteil, um neue Bündnisse zustande zu bringen, die bisher aus persönlichen Gründen in der Region nicht zustande kamen. Das Regionalmanagement hat gegenüber keinem der regionalen Akteure ein Weisungsrecht oder eine ähnliche Befugnis. Dies verlangt für einen reibungslosen Ablauf eine hohe fachliche Autorität und soziale Kompetenz der für das Regionalmanagement handelnden Personen In einigen Bundesländern, z.B. in Brandenburg und in Sachsen-Anhalt, muss das Regionalmanagement eine Stelle außerhalb der öffentlichen Verwaltung sein, die eine hinreichende Qualifikation nachweisen kann; dies sind i.d.R. Planungsbüros. Die Auswahl des Personals oder des externen Büros für das Regionalmanagement erfolgt auf der Grundlage eines Ausschreibungsverfahrens durch die
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung
475
LAG. In anderen Bundesländern, z.B. in Mecklenburg-Vorpommern, ist das Regionalmanagement in die Verwaltung des Landkreises integriert5.
4
Anforderungen an das Personal
An das Personal sind sehr hohe Anforderungen zu stellen. Ein Regionalmanager muss die regionalen Interessengruppen durch seine Persönlichkeitseigenschaften führen können, ohne dass er mit einer förmlichen Autorität ausgestattet ist. Dies verlangt Fachkompetenz in den Bereichen: Planungsrecht • Fördermittel • LEADER-Philosophie • Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft • Öffentliches Recht, Vereinsrecht • Demografischer Wandel, Arbeitsmarkt • Tourismus • Naturheilkunde Methodenkompetenz • Öffentlichkeitsarbeit (Printmedien, Internet, Radio, TV) • Motivation • Netzwerkmanagement • Projektmanagement Soziale Kompetenz • Fähigkeit, Visionen zu entwickeln • Berufs-, Lebenserfahrung • Zielstrebigkeit • Einsatzbereitschaft • Selbständiges, unternehmerisches Denken
• • • • • • • • • • • • • • •
•
________________ 5 Beispiele: Landkreis Vorpommern, Landkreis Rügen
Wirtschaft IT Land- und Forstwirtschaft Natur und Umwelt Jugend und Soziales, Generationen Verkehr und Mobilität Kunst und Kultur Organisationskompetenz Gestaltung von bottom-up-Prozessen Präsentationstechniken Zeitmanagement Evaluationsverfahren Strategisches Denken und Handeln Teamfähigkeit, Führungsqualität Fähigkeit bei unvorhergesehenen, komplexen Situationen, vernetzt denken zu können Für eine reibungslose Zusammenarbeit sorgen können
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476 • • •
Vorbildsfunktion Kommunikationsfähigkeit Initiative, Engagement, Motivationsfähigkeit Offenheit, Kontaktfähigkeit Verantwortungsbewusstsein Fähigkeit zur Konfliktbewältigung Fähigkeit zur Lösungsfindung
• • • •
• • • • • •
Führungseigenschaften Argumentationsstärke Durchsetzungsfähig ohne förmliche Autorität Bereitschaft zu Rollenwechsel Unterstützung Nichtkonformer Gruppenmitglieder Sorge um kollektives Ergebnis
Ein starkes Regionalmanagement wird alle administrativen Vorgänge fehlerfrei bearbeiten, aber die Förderung der integrierten Entwicklung der Region als seine Hauptaufgabe bearbeiten. Erfahrungen besagen, dass die komplexen Anforderungen durch einen einzelnen Regionalmanager ohne die fachliche und personelle Integration in ein leistungsfähiges Planungs- und Entwicklungsteam kaum erfolgreich bewältigen kann. Aus dem Regionalmanagement-Team sollte eine Person für alle wesentlichen Arbeiten verantwortlich und alleiniger Ansprechpartner für die LAG sein. Er ist und bleibt jedoch eingebettet in ein Team, z.B. eines Planungsbüros. Hierdurch bleibt er angebunden an den innerbetrieblichen Erfahrungsaustausch und an den landesweiten, bundesweiten und internationalen Zuwachs von Know-how zur Entwicklung ländlicher Räume. Außerdem sind so Vertretungen sowie Arbeitsspitzen sicher zu bewältigen. Es bietet sich an, eine/n Assistentin/en des Regionalmanagers als Bürokraft aus den derzeit Erwerbslosen bzw. von Arbeitslosigkeit bedrohte Personen der Entwicklungsregion einzubeziehen. Tipps: 1.
2.
Das Regionalmanagement sollte durch ein Team wahrgenommen werden. Hierbei ergänzen sich die Kenntnisse und Fähigkeiten; außerdem ist das Risiko für Ausfälle durch Krankheit, Urlaub oder gar Abwanderung geringer. Im Team sollte eine Person, „der Regionalmanager“, die Hauptansprechperson für alle regionalen Akteure sein. Der Regionalmanager greift dann fallweise auf die ergänzende Arbeitskraft seiner Kollegen in Spitzenzeiten (z.B. Vorbereitung größerer Tagungen) bzw. auf deren Fachexpertise bei besonderen Fragestellungen (z.B. Projektbewertung, Strategieerstellung) zurück. Das Team sollte interdisziplinär zusammengesetzt sein.
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung
5
477
Organisation und Zeitmanagement
Das Regionalmanagement benötigt eine Infrastruktur, die es befähigt, die komplexen Aufgaben effizient zu bewältigen. Hierfür gibt es verschiedene Organisationsformen. Behördliche Auftraggeber fordern i.d.R. ein festes Regionalbüro, manchmal sogar direkt am Sitz der Behörde. Tipps: Für den Aufbau des Regionalmanagements kann die am speziellen Ort erforderliche Organisationsform aus der nachfolgenden Matrix abgeleitet werden: festes Büro (Typ: „Verwaltung“) Kurzbeschreibung: • es wird ein Regionalbüro genutzt, welches ständig besetzt wird • Besprechungen mit Kunden finden i.d.R. im Büro statt (auch um seine ständige Besetzung zu gewährleisten)
Vorteile: • Personal ist immer an der gleichen Stelle zu finden • einfache Kontrolle der Anwesenheit • wenig Konflikte mit behördentypischer Arbeitsmethodik Nachteile: • geringere Effizienz
rollendes Büro (Typ: „Unternehmen“) Kurzbeschreibung: • der Regionalmanager arbeitet hautsächlich bei den Kunden vor Ort arbeitet (über mobiles Diensttelefon und E-Mail immer für jeden erreichbar) • besondere Treffen finden zu speziell verabredeten Terminen im „Regionalbüro“ statt • Büroarbeiten werden im Planungsbüro erledigt, wo der Erfahrungsaustausch mit Kollegen möglich ist Vorteile: • hohe Effizienz der Arbeitszeit • geringere Kosten
Nachteile: • geringere Kontrollmöglichkeiten der Arbeitszeit
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478
Die Tabelle 1 zeigt einen fiktiven Jahresarbeitsplan für ein Regionalmanagement. Der reale Arbeitsplan wird nach Konsultation mit der LAG vom Regionalmanagement erstellt und i.d.R. der LAG zu Bestätigung vorgelegt. Tabelle 1:
Monat Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
(Fiktiver) Jahresarbeitsplan für ein Regionalmanagement
Arbeitsaufgabe - Arbeitsaufnahme: Einrichtung des Regionalbüros vor Ort, Übernahme und Sichtung der Unterlagen, Erstgespräch mit dem Auftraggeber und der wichtigsten regionalen Akteure - Übernahme und Betreuung der Website der LAG - Erstellung eines detaillierten Arbeitsplans unter Absprache mit dem LAG-Vorstand - Kontaktaufnahme zu Projektträgern - Erstellung und Verteilung öffentlichkeitswirksamer Informationsmaterialien - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - „Bürgermeistertreff“ - Vorbereitung und Durchführung der Beratung des LAGVorstands zur Projektbewertung - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Fach-Workshop erneuerbare Energien - Pressegespräch - Versendung Infobrief - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - „Unternehmerstammtisch“ - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Vorbereitung und Durchführung der Beratung des LAGVorstands zur Projektbewertung - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Treffpunkt Wissenschaft - Fach-Workshop Direktvermarktung - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Pressegespräch - Versendung Infobrief - „Bürgermeistertreff“
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung
Monat
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
6
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Arbeitsaufgabe - Vorbereitung und Durchführung der Beratung des LAGVorstands zur Projektbewertung - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Fach-Workshop Gesundheitstourismus - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Vorbereitung und Durchführung der Beratung des LAGVorstands zur Projektbewertung - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Pressegespräch - Versendung Infobrief - „Unternehmerstammtisch“ - Fach-Workshop Klimaschutz - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Umweltforum - Vorbereitung und Durchführung der Beratung des LAGVorstands zur Projektbewertung - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Fach-Workshop Demografischer Wandel - Aktivierung, Motivierung und Beratung potentieller Projektträger - Qualifizierung von Projektideen zu förderfähigen Anträgen - Durchführung der LAG-Mitgliederversammlung - Pressegespräch - Versendung Infobrief - Jahresbericht und Evaluation des RM; Fortschreibung des ILEK
Kosten und Finanzierung des Regionalmanagements
Üblicherweise werden die Leistungen des Regionalmanagements für die regionalen Akteure, einschl. LAG und Behörden kostenlos erbracht. Die Finanzierung des Regionalmanagements (fiktives Beispiel in Tab. 2) erfolgt aus öffentlichen Mitteln des ELER-Programms durch die EU mit einer Kofinanzierung durch die Bundesländer.
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480 Tabelle 2:
Beispielskalkulation für die Jahreskosten eines Regionalmanagements
Kosten pro Monat (€)
Kosten pro Jahr (€)
Anteile (%)
10.450,7.500,1.750,1.200,-
94.050,-
90,5
1.000,350,250,100,300,-
9.000,-
100,-
900,-
0,9
Gesamt (netto)
11.550,-
103.950,-
100
19 % Mwst.
2.194,50
19.750,50-
-
13.744,50
123.700,00
-
Personalkosten (gesamt) Regionalmanager Spezialisten/Regionalentwickler Bürokraft Sachkosten (gesamt) Reisekosten Mietkosten Verbrauchsmaterial Porto, Telefon, Fax, Internet Externe Aufwendungen
Gesamt (brutto)
67.500,15.750,10.800,8,6
3.150,2.250,900,2.700,-
Die Förderkonstruktionen in einigen Bundesländern sind so, dass keine 100%ige Finanzierung aus Fördermitteln erfolgt und dass deshalb durch die LAG ein Eigenanteil zu tragen ist. Da die LAG aus ehrenamtlich tätigen Mitgliedern bestehen und manche LAG zur Einwerbung von Spenden eine Gemeinnützigkeit angestrebt haben, können sie selbst den Eigenanteil nicht ohne Weiteres aufbringen. In allen in Deutschland6 beobachteten Fällen springt dann eine Behörde, meist der Landkreis ein und übernimmt den Eigenanteil. In letzter Zeit gibt es an vielen Orten eine Suche nach der Einwerbung von externen Mitteln für die Finanzierung des Regionalmanagements, z.B. durch Spenden von geförderten Unternehmen und Kommunen. Es bleibt abzuwarten, ob dadurch eine engere Bindung der geförderten Akteure mit der Region entsteht oder ob die Vorteile des „Bottom-up-Prozesses“ bei einer „Teilprivatisierung“ ________________ 6 Im Waldviertel (Österreich), in dem es seit Langem ein nicht über ELER finanziertes Regionalmanagement gibt, unterstützen Unternehmen, Verbände, Kommunen sowie Bürger der Region finanziell die Öffentlichkeitsarbeit, innovative Projekte, besondere Einzelinitiativen sowie pauschal die Zusammenarbeit im Waldviertel.
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung
481
ohne Übergabe der bisher hierfür beim Staat vorhandenen finanziellen Mittel, konterkariert werden.
7
Messung der Ergebnisse eines Regionalmanagements
Im Folgenden sollen die im Einfluss des Regionalmanagements liegenden messbaren Ergebnisse erörtert werden (Abb. 3).7 Die Erfolgsfaktoren für ein nutzbringendes Regionalmanagement, die außerhalb des Regionalmanagements bestimmt werden, stehen im anschließenden Abschnitt 8. zur Diskussion.
M es s u n g d e r E rg eb n iss e d e s R eg io na lm an a g e m en ts T ät ig k ei ten
E r g e b n i ss e
• B e ra tu ng de r P roj ek t t räg er
• S um m e ein ge w orb e ne r F örd erm it t el ( €/ J ah r)
• P r oz e s ste ue ru ng f ü r di e LA G • U m s e tz u ng un d F o rts c hre ib un g de s I L E K • A uf ba u un d P f leg e r eg io nal er N et z we rk e • K o m m u ni k at io n, A u ß e rd ars t el lu ng • P r oz e s sü be rw a c hu n g • P r oz e s sb e w ert u ng • D ok u m e nt at i on des A bl auf s u nd de r E r ge bn is s e d es R e gio na lm a na gem en t s
• A nz ahl erf o lg rei c h be go nn en er P r oje k t e (A nz a hl /J a hr ) • A k z e ptan z de s R eg ion al m an ag em en t s d ur c h LA G u nd B e w il lig un gs b eh örd e( n) ( ja /n ei n) • s t ar k e P ar t ne r w irk e n a k tiv m it (ja /n ei n) • E in ha ltu ng a dm ini s tr at iv e r V or s c hri f t en ( ja/ n ein ) • A rb ei t sp la n e rf üll t (j a/ ne in )
Q u e l le: A Ö C G m b H
Abb. 3:
Messung der Ergebnisse des Regionalmanagements
________________ 7 Das Verhältnis von Kosten und Mehrwert von Regionalmanagements ist für den Praktiker von allerhöchstem Interesse, wird aber in der Fachliteratur selten ausgewertet; Ansätze hierfür liefert Seibert, 2006, 2007
Rainer Friedel
482
8
Darstellung von Ergebnissen des Regionalmanagements8
8.1
Eingeworbene Fördermittel, aufgebrachte Eigenmittel
Die am leichtesten messbaren Ergebnisse für das Regionalmanagement sind die Anzahl in Gang gesetzter Projekte sowie die Akquisition von Geldern für Projekte, die vom Regionalmanagement begleitet werden. Insgesamt konnten 40 Projekte im Landkreis Barnim nach positiver Bevotung im Beirat durch das Landesamt für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und Flurneuordnung bewilligt werden. Im Zeitraum 2005 bis 2007 sind insgesamt 5,34 Mio. € an EU-Fördergeldern in die Region geflossen, private Investoren und Kommunen haben ca. 3,40 Mio. € investiert (Tab. 3; Abb. 4). Tabelle 3:
Zuordnung der bewilligten Projekte 2005–2007
Handlungsfeld Dorfentwicklung, Infrastruktur Tourismus, Freizeit, Naherholung Direkt und Regionalvermarktung Summe
Anzahl der Projekte 18 21 1 40
Fördersumme 1,7 Mio. € 2,8 Mio. € 0,8 Mio. € 5,3 Mio. €
Quelle: Jahresbericht 2007, AÖC GmbH
3.000.000 € 2.500.000 € 2.000.000 € davon Fördermittel
1.500.000 €
davon Eigenanteil
1.000.000 € 500.000 € 0€ Dorfentwicklung
Tourismus
Direktvermarktung
Quelle: Jahresbericht 2007, AÖC GmbH Abb. 4:
Bewilligte Fördermittel und Eigenanteil nach Handlungsfeldern
________________ 8 Die dargestellten Ergebnisse werden als Beispiel zitiert aus: Jahresbericht 2007 und der ex-postEvaluierung des ILE-Regionalmanagements im Landkreis Barnim, Agro-Öko-Consult GmbH, 2008, Seite 8ff
Regionalmanagement – eine innovative Dienstleistung
8.2
483
Strukturwirkungen für den Landkreis
Die Strukturwirkung misst sich: − in der Anzahl der geschaffenen und gesicherten Arbeitsplätze, − in den steigenden Besucherzahlen im Bereich Tourismus. Insgesamt sind ca. 42 Arbeitsplätze entstanden. Diese konzentrieren sich in touristischen Angeboten, wie z.B. im Übernachtungsgewerbe und gastronomischen Einrichtungen. 15 der 40 bewilligten Projekte haben unmittelbar Arbeitsplätze geschaffen, die restlichen 25 haben durch die Attraktivitätsteigerung der Umgebung Arbeitsplätze gesichert. Zum Beispiel können Touristen sich durch entsprechende Informationstafeln besser zurechtfinden und tragen so bei, Arbeitsplätze in den Tourismus-Dienstleistungen zu sichern. Die Handlungsfelder, in denen die wichtigsten Wirkungen erreicht wurden sind: • Strukturwirkung der Projekte des Handlungsfelds „Tourismus, Naherholung, Freizeit und Kultur“ Entwicklungsschwerpunkt und das Handlungsfeld mit der größten Nachfrage ist der ländliche Tourismus. Im Förderzeitraum 2005–2007 wurden 18 Arbeitsplätze geschaffen. Die Antragsteller haben die positiven Stärken der Region konsequent genutzt und umgesetzt. • Strukturwirkung der Projekte des Handlungsfelds „Dorfentwicklung und ländliche Infrastruktur“ Die Dorfentwicklung entfaltet ihre Strukturwirkung durch die Verschönerung der Dörfer und den Ausbau der Infrastruktur. Die damit gewonnene Steigerung der Lebensqualität wird dazu beitragen, die Bevölkerung zu halten und noch mehr Touristen in die Region zu holen. Insgesamt wurden 24 neue Arbeitsplätze geschaffen. • Schlüsselprojekte als Motoren der ländlichen Entwicklung Besondere Strukturwirkung entfalten Schlüssel- bzw. Leitprojekte. Diese Projekte ziehen weitere Investitionen nach sich. Andere Projekte knüpfen an diese Projekte an. Dadurch entstehen nachhaltig Arbeitsplätze und die Region entwickelt sich.
9
Erfolgsfaktoren für das Regionalmanagement
Als Erfolgsfaktoren werden hier die Voraussetzungen verstanden, die vorhanden oder herstellbar sein müssen, um das Regionalmanagement zum Erfolg bringen zu können. Kritische Erfolgsfaktoren sind die wenigen Dinge, die richtig laufen
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484
müssen, um den Projekterfolg zu sichern. Sie repräsentieren die Managementbereiche, denen besondere und kontinuierliche Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, um hohe Erfolgschancen zu gewährleisten. Die bestimmenden Felder und die Anzahl der Einflüsse sind recht groß, z. B.: • • • • • •
• • • • •
• •
aktives Umfeld; Akzeptanz in Politik und Verwaltung Arbeitsteilung von LAG und Regionalmanagement ausreichende Ressourcen, insbes. Finanzausstattung effizientes Controlling Führungsqualität der/des LAGVorsitzenden geeignete Region (z.B. Mindestgröße und Vorhandensein von Entwicklungschancen der Region) Know-how des professionellen Regionalmanagements Konzentration auf Kernthemen kreatives Milieu Lernbereitschaft der Beteiligten Mitwirkung der kulturell, sozial und ökologisch engagierten Menschen. Öffentlichkeitsbeteiligung Organisationsform des Regionalmanagements
• • • • • • •
• • • • • •
Organisationsstruktur der LAG regionale Kooperation regionale Richtlinien ressortübergreifende Förderansatz Schlüsselpersonen, starke Partner, „Zugpferde“ Transparenz, Offenheit, Dynamik Unterstützung der oberste regionale Führungsebene (Landrat, Kreistag) Verbindung weicher und harter Faktoren Vernetzung der regionalen Akteure Willensbekundung der regionalen Akteure wirtschaftliche und personelle Stetigkeit des Prozesses Zieldefinition des ILEK Zusammensetzung der LAG, sowohl fachlich als auch persönlich
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485
Da die Erfolgsfaktoren i.d.R. mit der Initiierung des Regionalmanagements geschaffen werden, ist hier die Verantwortung der LAG besonders groß.
10
Empfehlungen
10.1
für die LAG
Der Erfolg von Regionalmanagement erfordert Zeit; eine zuverlässige Bewertung der Wirkungen ist vielleicht erst drei bis vier Jahre nach der Initiierung möglich. Die Auswertung verschiedener Regionalentwicklungsinitiativen nach dieser Zeit zeigt, dass ein bestimmender Anteil des Erfolgs von Regionalmanagement bereits bei der Initiierung dieses Prozesses gelegt wird. Hierzu gehören das Grundverständnis über anspruchsvolle und erreichbare Entwicklungsziele, die Abgrenzung der Region, die Einbeziehung der „richtigen“ Akteure und der Aufbau leistungsfähiger und allseits akzeptierter Arbeitsstrukturen. Es würde diesen Beitrag sprengen, die Erfahrungen darzulegen, was bei jedem dieser Arbeitsschritte jeweils richtig oder falsch gemacht werden kann. Einige prinzipielle Anregungen, wie man an die Bearbeitung dieser Aufgaben herangehen kann, sind dem „Handbuch erfolgreiches Regionalmanagement“9 (S. 8ff) entnehmbar. In dieser Quelle wird allerdings nicht so wie hier, zwischen einem regionalen Auftraggeber (LAG) und dem Dienstleister (Regionalmanagement) unterschieden; die Maßnahmevorschläge sind deshalb im hier benutzten Sinne an die LAG gerichtet. Der Auftraggeber sollte bei der Beauftragung eines Regionalmanagements insbesondere berücksichtigen: •
•
Auswahl eines unabhängigen, fachlich qualifizierten Teams. Die in der Praxis häufig sehr hohe Bewertung „regionaler Kenntnisse“ scheint nicht gerechtfertigt, wenn diese den im Abschnitt 4 aufgeführten Kompetenzen nachgeordnet würden. Der wirklich methodensichere Regionalmanager verfügt über die Fähigkeit, diese Kompetenzen in verschiedenen Regionen wirksam zu machen. Die Anzahl von Aufgaben (vgl. Abschnitt 2) sollte nicht ausufern. Weniger ist mehr. Insbesondere sollten administrative Aufgaben immer wieder kritisch beobachtet werden, um den Arbeitsanteil für schöpferische Arbeiten zu gewährleisten.
________________ 9 Hrsg.: Bayerisches Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen, 2003 (192 Seiten)
Rainer Friedel
486 •
10.2
Die Auswertung von Verträgen zwischen LAG und Regionalmanagern zeigt, dass üblicherweise ein Jahresvertrag mit der Option zur Verlängerung geschlossen wird. Bei der Berücksichtigung der Langfristigkeit des Prozesses sollten mehrjährige Verträge mit der Möglichkeit vorzeitiger Kündigung bevorzugt werden. für das Regionalmanagement
Arbeitsvorbereitung Das Regionalmanagement sollte Wert darauf legen zu Arbeitsbeginn mit der LAG eine klare Aufgabenbeschreibung abzustimmen und dabei einen genügenden Spielraum in den Methoden zu vereinbaren, um Erfahrungen, die sich im Verlaufe der Zusammenarbeit ergeben, neu einführen zu können. Es empfiehlt sich zu Arbeitsbeginn die „Meinungsführer“ in der Region zu persönlichen Gesprächen aufzusuchen. Dabei werden Sachinformationen ausgetauscht, die Strategien und Arbeitsmethoden betreffen. Gleichzeitig wird durch das persönliche Kennen lernen eine maßgebliche Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit gelegt. Während des Projektverlaufs Es ist immer wieder selbst zu reflektieren, ob die Hauptarbeit zu den vereinbarten Gegenständen erfolgt. Die große Vielfalt von Themen und Wünschen erfordert hohe Selbstdisziplin und eine Konzentration auf das Wesentliche. Die Tätigkeit des Regionalmanagers erfordert ständigen Wissenserwerb. Hierzu gehören die Verfolgung der in der Region ablaufenden Prozesse und der Stellung der verschiedenen Akteure hierzu und die sehr gute Kenntnis der sich ständig wandelnden Fördermöglichkeiten für Projekte. Schließlich ist auch die Verfolgung die Prozesse in anderen Regionen sehr sinnvoll, um dem eigentlichen Auftrag des Regionalmanagers, „seine“ Region zu unterstützen, im Wettbewerb der Regionen stärker zu werden, richtig bewerten zu können und auch neue Impulse zu geben.
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Literatur Beschlussvorschlag Kreistag Rügen zum Betreff „Umsetzung des EU-Programmes LEADER in den Jahren 2008–2013“, Drucksache Nr.4/0480 vom 28.01.2008 Förderung der ländlichen Entwicklung in Deutschland. Förderrahmen, Maßnahmen, Zuständigkeiten, Informationsbroschüre des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Gebietsbezogene lokale Entwicklungsstrategie der Region „Nordvorpommern“ für den Zeitraum 2007–2013, beschlossen durch die Lokale Aktionsgruppe „Nordvorpommern“ am 20. September 2007 Gebietsbezogene lokale Entwicklungsstrategie der Region Fläming-Havel, Stand 16.04.2007 Handbuch erfolgreiches Regionalmanagement, Hrsg.: Bayerisches Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen, 2003 (192 Seiten) Jahresbericht 2007 und ex-post-Evaluierung des ILE-Regionalmanagements im Landkreis Barnim, Bearbeiter: Agro-Öko-Consult GmbH, 2008 Nationale Rahmenregelung der Bundesrepublik Deutschland für die Entwicklung ländlicher Räume nach Artikel 15 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) mit gemeinsamen Bestandteilen der regionalen Programme der deutschen Bundesländer auf der Grundlage von Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK); Hrsg.: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Richtlinie des Ministeriums für Ländliche Entwicklung, Umwelt und Verbraucherschutz [des Landes Brandenburg] über die Gewährung von Zuwendungen für die Förderung der integrierten ländlichen Entwicklung (ILE) und LEADER vom 13. November 2007 Seibert, Otmar, Kosten und Mehrwert von Regionalmanagement, Beitrags zur euregia 2006 am 24.10.2006 in Leipzig Seibert, Otmar: Kosten und Mehrwert von Regionalmanagement, Vortrag im Thüringer Landtag am 28.02.2007 http://www.prowaldviertel.at
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Autoren
Nicht Sprüche sind es, woran es fehlt; die Bücher sind voll davon. Woran es fehlt, sind Menschen, die sie anwenden. Epiktet
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Autoren Jens Adler, Jg. 1968, hat Landwirtschaft gelernt und an der MartinLuther-Universität in Halle/Saale studiert (Diplom-Agraringeneur). Am Europäischen Institut für postgraduale Bildung an der TU Dresden (EIPOS) hat sich Herr Adler zum Regionalberater weitergebildet. Nach praktischer und beratender Tätigkeit in der Landwirtschaft und der Regionalentwicklung leitete er die letzten 9 Jahre für InWEnt verschiedene Capacity Building Programme v.a. in den Transformationsländern Südosteuropas. Seit Anfang 2008 ist er für die GTZ als Programmleiter für lokale und regionale Wirtschaftsentwicklung in Mazedonien tätig.
Klaus-Peter Arnold, Jg. 1939, ist Dr. phil. und ehrenamtlich bestellter Naturschutzhelfer im Landkreis Meißen und mit der Betreuung des flächenhaften Naturdenkmales „Metzenberg“ Großdittmannsdorf im LSG „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“ betraut. Als Mitglied der NABU-Fachgruppe Ornithologie Großdittmannsdorf ist er an avifaunistischen Erfassungen in den NATURA-2000-Gebieten beteiligt. Zusammen mit Betina Umlauf engagiert er sich in der Bürgerinitiative „Biogas Großdittmannsdorf“.
Siegfried Bauer, Jg. 1949, ist Professor für Projekt- und Regionalplanung im ländlichen Raum des Fachbereichs 09 „Agrarwissenschaften, Ökotrophologie und Umweltmanagement“ an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Vor seiner Berufung nach Gießen war er Professor für Agrarpolitik und Agrarökonomie an den Universitäten Bonn und Kiel. Seine Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Bereiche Landwirtschaft, ländlicher Raum und Umwelt, Methoden der Regionalund Umweltplanung, Agrar-, Regional- und Umweltpolitik in entwickelten Ländern und in Entwicklungsländern.
Cornelia Behm, Jg. 1951, ist Diplom-Agraringenieurin und seit Dezember 2002 Mitglied im Deutschen Bundestag. Für die bündnisgrüne Bundestagsfraktion ist sie Sprecherin für Agrarpolitik, für ländliche Räume und regionales Wirtschaften sowie für Waldpolitik. Zu ihren politischen Schwerpunkten gehört auch die Ökologisierung der Landwirtschaft. Frau Behm ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Kleinmachnow (Landkreis Potsdam-Mittelmark).
Autoren
491 Jan Rafał Bis, Jg. 1956, ist Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspraktiker sowie Unternehmensberater. Seine Promotion hat er an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden erhalten. Als Hochschullehrer (seit 1979 bis 2002 an der Wirtschaftsfakultät der Universität Szczecin, gleichzeitig seit 1999 an der Staatlichen Fachhochschule in Gorzów Wlkp.) deckt er das Fachgebiet Regionale Entwicklung ab. Seit 1998 bis heute ist Herr Dr. Bis Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Unternehmensberatungsfirma Dr. Bis Consulting GmbH mit Sitz in Szczecin (Polen). Lukasz Bis, Jg. 1980, studierte Betriebswirtschaftslehre (Diplomkaufmann) in der Staatswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Greifswald, Wirtschaftsinformatik im Deutschsprachigen Studiengang (DSG) in der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Management der Universität Szczecin (Magister der Wirtschaftswissenschaften). Außer dem BWL-Studium in Greifswald studierte er auch als Stipendiat 3 Semester an der Hochschule Wismar. Seit Oktober 2007 ist er im Doktorand in der Fakultät für Management und Dienstleistungsökonomik der Universität Szczecin. Außerdem ist er Mitgesellschafter und seit 2005 Mitarbeiter der Unternehmensberatungsfirma Dr. Bis Consulting GmbH in Szczecin. Michael Böcher, Jg. 1971, hat Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Medienwissenschaft und Soziologie an der Universität Marburg studiert und als Diplom-Politologe abgeschlossen. Seit 2001 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Forst- und Naturschutzpolitik der Universität Göttingen. Dort fungiert er als Ansprechpartner für den Forschungsschwerpunkt Regional Governance und integrierte ländliche Entwicklung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Analyse und Bewertung von Prozessen der Umwelt-, Naturschutz- und Regionalpolitik sowie der Politikberatung. Der Leitfaden „Ländliche Entwicklung aktiv gestalten“ (BMELV, Januar 2005) stammt von ihm. 2008 promovierte er in Göttingen. Detlev Böttcher, Jg. 1948, hat Volkswirtschaft an der FU Berlin studiert und zum Dr. rer. pol. promoviert. Nach seiner Arbeit am Fachbereich Internationale Agrarentwicklung der TU Berlin ist Herr Dr. Böttcher seit 1984 in unterschiedlichen Bereichen im In- und Ausland bei der GTZ in Eschborn tätig. Seit 2002 leitet er das Kompetenzfeld Politikberatung im Agrar-, Fischerei- und Ernährungssektor. Die Schwerpunkte seiner Projekte in Süd-Ost-Europa liegen in der Beratung der Länder des Stabilitätspaktes zu den Themen Agrarpolitik, ländliche Entwicklungspolitik sowie Agrar- und Ernährungswirtschaft im Zuge des angestrebten Beitritts zur Europäischen Union.
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Autoren Albrecht Broßmann, Jg. 1951, ist gelernter Landwirt. Er hat an der Universität Leipzig Landwirtschaft studiert und seine Promotion in Betriebswirtschaft abgeschlossen. Seit 1976 war Herr Dr. Broßmann Mitarbeiter bei einem staatlichen Unternehmen (KIM) und Vorsitzender einer LPG. Im Nachfolgeunternehmen der LPG, der Pahren Agrar GmbH & Co. KG, ist er von Beginn an Geschäftsführer. Außerdem ist er Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Greiz / Gera e.V.
Werner Bumeder, Jg. 1968, hat Landwirtschaft an der Fachhochschule Weihenstephan (Abt. Schönbrunn) studiert und als Dipl.-Ing. agr. (FH) abgeschlossen. Seit 1991 arbeitet er als Referent für Agrar- und Umweltpolitik in der CSU-Landesleitung in München. In dieser Funktion ist er auch Landesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Landwirtschaft der CSU. Herr Bumeder ist darüber hinaus auch kommunalpolitisch als Gemeinderat in Mamming und als Kreisrat im Landkreis Dingolfing-Landau engagiert.
Jochen Döhring, Jg. 1948, hat Maschinenbau gelernt und ein Kurzstudium zum staatl. gepr. Maschinenbautechniker absolviert. Sein Einstieg in die Landwirtschaft begann 1976 mit der Montage- und Kundendienstleitung bei international tätigen Landmaschinenfirmen, zunächst in Norddeutschland, später auch für die Schweiz, Österreich, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Italien. Anschließend arbeitete Herr Döhring 5 Jahre lang als Produktmanager für Stall-, Melk- und Kühltechnik in Österreich. Seit 1998 ist er am Aufbau des Melkrobotervertriebs für Lely in Deutschland als Vertriebsleiter und Prokurist von Neuenkirchen aus tätig.
Andreas Frangenberg, Jg. 1958, ist Diplom-Agraringenieur und promovierter Agrarwissenschaftler. Seit 1993 ist er als Agrar- und Wissenschaftsjournalist bei der Fördergemeinschaft Nachhaltige Landwirtschaft e.V. (FNL) in Bonn tätig. Seit der Gründung 1998 leitet er dort das Institut für Landwirtschaft und Umwelt (ilu). Seine Arbeitsschwerpunkte decken das gesamte Spannungsfeld Landwirtschaft/Umwelt ab. Darüber hinaus betreut er als Technischer Direktor die inhaltlichfachliche Arbeit des europäischen Dachverbands EISA e.V. (European Initiative for Sustainable Development in Agriculture).
Autoren
493 Rainer Friedel, Jg. 1947, ist Diplom-Agraringenieur und promovierter Agrarwissenschaftler. In der Forschung (Forschungszentrum Dummerstorf-Rostock, Institut Iden-Rohrbeck) befasste er sich mit dem Management großer Landwirtschaftsbetriebe. Als praktischer Landwirt leitete er die Produktionsvereinigung Jungrinderaufzucht in Zingst. Seit 1990 ist Dr. Friedel Inhaber und Hauptgeschäftsführer der AgroÖko-Consult Berlin GmbH. Er befasst sich dort mit Regionalentwicklung, Managementsystemen und Unternehmensnetzwerken. Hierbei arbeitet er mit Wissenschaftlern, Behörden auf örtlicher, Landes- und Bundesebene sowie mit Partnerunternehmen zusammen. Er ist u.a. Mitglied im Bauernverband, in der Internationalen Akademie land- und hauswirtschaftlicher Berater und der Märkischen Akademie ländlicher Raum.
Martin Fuchs, Jg. 1963, ist Landschaftsgärtner (1986) und hat an der Universität Kassel Landwirtschaft (1993) und an der Universität Rostock Umweltwissenschaften (2003) studiert. Seit 2004 ist er im Hessischen Ministerium für Umwelt, ländlichen Raum und Verbraucherschutz in Wiesbaden für die Umsetzung der Agrarumweltmaßnahmen zuständig.
Christel Happach-Kasan, Jg. 1950, hat Biologie, Mathematik und Pädagogik in Marburg studiert und dort auch im Fach Biologie promoviert. Ihr 2. Staatsexamen hat sie 1983 in Oldenburg erhalten. Frau Dr. Happach-Kasan ist seit 1970 Mitglied der FDP und seit Dezember 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie gehört u.a. dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz an. In der FDPBundestagsfraktion ist sie Sprecherin für nachwachsende Rohstoffe und ländliche Räume sowie Berichterstatterin für das Thema Stiftung Naturerbe. Frau Dr. Happach-Kasan ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Bäk bei Ratzeburg (Schleswig-Holstein).
Eberhard Henne, Jg. 1943, hat Veterinärmedizin an der HumboldtUniversität zu Berlin studiert und promoviert. Von 1970 bis 1990 war Dr. Henne praktizierender Tierarzt im brandenburgischen Landkreis Angermünde und anschließend bis 1991 Umweltdezernent der Kreisverwaltung Angermünde. Von 1991 bis 2008 war er Leiter des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin. Von 1998 bis 1999 folgte er der Berufung als Umweltminister des Landes Brandenburg. Seit Mai 2000 ist er außerdem Vorstandsvorsitzender von EUROPARC Deutschland.
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Autoren Christian Hiß, Jg. 1961, ist Gärtnermeister und Autor. Er bewirtschaftet mit zwei Gesellschaftern eine Gärtnerei in Eichstetten am Kaiserstuhl mit 10 Mitarbeitern. Als Gründer und Vorstand der Regionalwert AG setzt er ökologischer Projekte in der Praxis um, vor allem auch mit Schülern. Außerdem ist er Vorstandsvorsitzender der „Stiftung Kaiserstühler Garten“, die sich seit 2001 um die Bewahrung der Kulturpflanzenvielfalt in der Region kümmert.
Gabriele Hopp, Jg. 1961, hat Agrarwissenschaften an der Universität Bonn studiert (Dipl.-Ing. agr.) und war von 1987 bis 1993 Mitarbeiterin verschiedener Bundestagsabgeordneter. Seit 1993 arbeitet sie als Referentin im Bereich Politische Programme und Analysen in der CDUBundesgeschäftsstelle in Berlin (von 2004 bis 2007 war sie als Referentin der Arbeitgruppe Bildung und Forschung in der CDU/CSUBundestagsfraktion tätig).
Dieter Irlbacher, Jg.1942, ist Ingenieur für Automatisierungstechnik (FH Leipzig) und Dipl.-Ing. Päd. (TU Dresden) und war in seiner Heimat in Torgau und später in Schlieben lange Jahre in der angewandten Forschung tätig, bis er 1984 ein Lehrtätigkeit als Berufsschullehrer annahm. Nach der Wende wechselte er in die Verwaltung und war in der Stadt Lübben als Amtsleiter des Schulverwaltungsamtes und später im Bauamt tätig. Von 2001 bis 2008 arbeitete er als Geschäftsführer des Spreewaldvereines e.V. in Lübben und war in dieser Eigenschaft auch Leader- und ILE Manager für die gesamte Spreewaldregion.
Jens-Eberhard Jahn, Jg. 1967, studierte Sprach-, Sozial- und Geisteswissenschaften in Berlin, Florenz und Heidelberg. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze u.a. zu Sprachverhalten in Stadt und Land sowie zum Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Beruflich ist Herr Jahn Persönlicher Mitarbeiter der Agrarpolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag in Dresden und als Kreisrat in Mittelsachsen tätig. Bei der Partei DIE LINKE ist er außerdem Mitglied des SprecherInnenrates der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) „Agrarpolitik und Ländliche Räume“ sowie einer der Sprecher der BAG „ChristInnen“. Herr Jahn ist Vater von drei Kindern und lebt in Freiberg.
Autoren
495 Marie Kalisch, Jg. 1980, absolvierte eine landwirtschaftliche Lehre und studierte anschließend von 2002 bis 2006 Ökologische Agrarwissenschaften in Witzenhausen. Sie ist Dipl.-Ing. (FH) und seit 2007 am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL Deutschland e.V.) tätig, vor allem für das Europäischen SoFar-Projekt.
Katharina Kraiß, Jg. 1982, war Naturschutzwärterin im Naturschutzgebiet Geltinger Birk und absolvierte eine Ausbildung in der Natur- und Wildnisschule Teutoburger Wald. Von 2004 bis 2008 studierte sie Ökologische Agrarwissenschaften an der Universität Kassel in Witzenhausen mit Abschluss B.Sc. Ihre Bachelorarbeit schrieb sie zum Thema „Community Supported Agriculture (CSA) in Deutschland“. 2007 machte sie eine Ausbildung in Phytotherapie und ein Praktikum beim FiBL Deutschland e.V. am Standort Witzenhausen.
Uwe Krappitz, Jg. 1956, hat Gartenbauwissenschaften mit agrarökonomischer Spezialisierung an der TU München/Weihenstephan studiert (Dipl.-Ing. agr.) und u.a. eine Weiterbildung zum Konfliktmanagement/Mediation absolviert. Seit 1984 ist Herr Krappitz als freiberuflicher Entwicklungsberater in Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien tätig. Seine Tätigkeitsschwerpunkte beziehen sich auf den ökologischen Landbau, die internationale Entwicklungszusammenarbeit, das Projektmanagement und die Prozessmoderation. Seit 1997 ist er Geschäftsführer der Regionalen Innovationsagentur Regina GmbH des Landkreises Neumarkt i.d.OPf. Außerdem ist er Gastdozent an der FH Weihenstephan/Triesdorf im Masterstudiengang „Regionalentwicklung“.
Skadi Krause, Jg. 1970, hat an der Sorbonne in Paris Philosophie studiert und an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Politikwissenschaft promoviert. Frau Dr. Krause war 10 Jahre lang an der HumboldtUniversität als Politikwissenschaftlerin tätig. Seit 01.01.2008 ist sie wissenschaftliche Mitarbeitern der Bundestagsabgeordneten Cornelia Behm. Frau Dr. Krause ist verheiratet, hat 5 Kinder und lebt in Berlin.
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Autoren Cornelia Kühl, Jg. 1978, hat Erziehungswissenschaft, Soziologie und Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und mit Magistra Artium abgeschlossen. Seit 2005 ist sie Pädagogische Mitarbeiterin in der Heimvolkshochschule am Seddiner See und dort als Projektleiterin der „Brandenburgischen Landwerkstatt – Forum Ländlicher Raum“ verantwortlich für die Organisation und Durchführung von Fachseminaren zur Dorf- und Regionalentwicklung sowie bis Ende 2007 für die Landeskoordination der Initiative LANDaktiv. Seit 2008 ist sie im Rahmen des Forums Ländlicher Raum zudem verantwortlich für die Landesnetzwerkstelle LEADER.
Silke Last, Jg. 1969, hat Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin studiert und als Dipl.-Ing. abgeschlossen. Von 1999–2002 war sie Regionalplanerin im Landkreis Verden/Aller (Niedersachsen). Seit 2004 ist Frau Last freiberuflich als Stadt- und Regionalplanerin von Groß Breese und Berlin aus tätig. Ihre beruflichen Schwerpunkte sind Regionalentwicklung, Dorferneuerung, ländlicher Tourismus und Bauleitplanung.
Gerd Lehmann, Jg. 1955, hat eine landwirtschaftliche Berufsausbildung und Landwirtschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Promoviert hat der 1987 an der Akademie für Landwirtschaftswissenschaften. Nach Tätigkeiten in Brüssel und im Bundeslandwirtschaftsministerium wechselte er 1993 als Geschäftsführer zur Agro-ÖkoConsult Berlin GmbH. Seit 1. Juli 2007 ist Herr Dr. Lehmann Geschäftsführer von pro agro (Verband zur Förderung des ländlichen Raumes im Land Brandenburg e.V.) in Teltow-Ruhlsdorf.
Frank Willy Ludwig, Jg. 1965, ist Dipl.-Bauing. von der Hochschule Cottbus und war bis 2003 leitender Angestellter in großen Straßenbauunternehmen. Seit 2003 ist er als Gärtner, Baubiologe und Lebensraumberater in der ethischen und energetischen Unternehmens- und Projektberatung tätig. Sein Engagement bezieht sich auch auf die Lehmbaukunst und auf die Deutsch-Russische Zusammenarbeit bei der Erforschung natürlicher Lebensräume für die psychosoziale Gesundheit. Herr Ludwig widmet sich außerdem der Ahnenforschung und hat ein Zentrum für wedische Kultur in Deutschland sowie den Familienlandsitz Liepe gegründet.
Autoren
497 Horst Luley, Jg. 1955, hat Soziologie an der Universität Frankfurt/Main studiert, eine landwirtschaftliche Lehre in Körbecke (NRW) absolviert und wurde an der Universität Hohenheim zum Dr. sc. agr. promoviert. Nach langjähriger Tätigkeit als freiberuflicher Berater, Moderator und Gutachter in der Regionalentwicklung in Deutschland und im europäischen Ausland war er auch in der beruflichen Fortbildung von Regionalmanagern engagiert. Seit 2006 ist Dr. Luley Professor für das Fachgebiet „Soziale Prozesse und Regionalentwicklung“ an der Fachhochschule Eberswalde.
Uwe Meier, Jg. 1947, absolvierte zunächst eine Gärtnerlehre und studierte dann Gartenbau an der Fachhochschule Osnabrück und an der Universität Hannover mit den Schwerpunkten Betriebswirtschaftslehre, Marktlehre und Phytomedizin. 1980 wurde er am Institut für Pflanzenkrankheiten und Pflanzenschutz der Universität Hannover bei Prof. Dr. Schönbeck promoviert. Dr. rer. hort. Uwe Meier ist Mitarbeiter am Julius Kühn-Institut (JKI) in Braunschweig, früher Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA). Schwerpunkte seiner Arbeit liegen bis heute im Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel und bei der weltweiten Vereinheitlichung des pflanzenbaulichen Versuchswesens (BBCH). Außerdem befasst er sich sehr intensiv mit Fragen der Agrarethik.
Dirk Michaelis, Jg. 1958, studierte Architektur an der HAB (Hochschule für Architektur und Bauwesen) Weimar und war Mitarbeiter im Büro für Stadtplanung beim Rat der Stadt Gera. Von 1987 bis 1990 war er Kreisarchitekt beim Rat des Kreises Stendal, dann Sachgebietsleiter Planung im Landratsamt Stendal und ist dort seit 1992 Amtsleiter für die Bereiche Bauordnung, Denkmalschutz und Planung.
Sandra Naumann, Jg. 1977, ist Diplom-Geoökologin und seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Ecologic-Institut für Internationale und Europäische Umweltpolitik in Berlin. Sie ist dort als Projektkoordinatorin von RAPIDO verantwortlich. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Agrarpolitik, Biodiversität, Naturschutz und nachhaltige ländliche Entwicklung. Zu ihren Interessensgebieten zählen außerdem Bodenschutz, nachhaltige Landnutzung sowie die technische Zusammenarbeit in Entwicklungsländern. Bevor Frau Naumann zu Ecologic kam, arbeitete sie als wiss. Mitarbeiterin am ZALF Müncheberg sowie für den DED im Bereich Ländliche Entwicklung und Ressourcenschutz in Bolivien.
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Autoren Wolfgang Nethöfel, Jg. 1946, studierte Evangelische Theologie, Germanistik und Philosophie/Pädagogik an den Universitäten Bochum und Kiel. Nach Auslandsaufenthalten in Paris und in den USA und einer Ausbildung zum Gestalttherapeuten promovierte er in Kiel zum Dr. theol. und habilitierte sich im Fach Systematische Theologie. Seit 1993 lehrt er Sozialethik an der Philipps Universität Marburg. Herr Prof. Dr. Nethöfel ist Direktor des von ihm gegründeten Instituts für Wirtschafts- und Sozialethik (IWS), Sprecher des Netzwerks Kirchenreform und in Frankfurt Moderator der Werkstatt Bahnhofsviertel sowie Kirchenvorstand der Evangelischen Hoffnungsgemeinde.
Benjamin Nölting, Jg. 1966, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaft in Hamburg, Grenoble und Freiburg. Seine Promotion hat er in Politikwissenschaft an der FU Berlin zu lokaler Umweltpolitik geschrieben. Seit 2002 ist Dr. Nölting wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin. Er arbeitet zu nachhaltiger Regionalentwicklung in Berlin-Brandenburg und zur ökologischen Ernährungswirtschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nachhaltigkeitsforschung, Regionalentwicklung und ländliche Entwicklung, Agrar- und Umweltpolitik sowie Ostdeutschlandforschung.
Holger Oertel, Jg. 1977, studierte Geographie (Diplom) an der Technischen Universität in Dresden. Er ist seit 1995 Mitglied in der NABUFachgruppe Ornithologie Großdittmannsdorf. Seit 1996 betreut er im Rahmen des Naturschutzdienstes Meißen und Kamenz ehrenamtlich mehrere Schutzgebiete, u.a. das LSG „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“.
Cord Petermann, Jg. 1966, ist gelernter Landwirt und studierter Landschaftsplaner. Seine Promotion hat er an der TU Berlin mit einer Untersuchung der sozioökonomischen Effekte von großräumigen Naturschutzprojekten 2003 abgeschlossen. Seit 2004 ist Herr Dr. Petermann für die Ländliche Erwachsenenbildung in Niedersachsen e.V. (LEB) tätig, u.a. zum Aufbau einer Dienstleistungsagentur für Regionalvermarktung.
Autoren
499 Doris Pick, studierte Agrarwissenschaften an der Universität Bonn (ipl.Ing. agr.) Anschließend arbeitete sie als freie Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Projekt- und Regionalplanung der Universität Gießen und beim niederländischen Rijksplanologischen Dienst in Den Haag. Seit 1998 ist Frau Pick an der Forschungsabteilung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) in Bonn tätig. 2004 begann sie berufsbegleitend mit Ihrer Promotion an der Universität Kassel zur Einführung der Agro-Gentechnik in Deutschland und Nordamerika. Marion Piek, Jg. 1964, hat an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald studiert, ist Diplom-Geologin und war von 1991–1994 in der EG-Beratungsstelle der IHK Frankfurt/Oder tätig. Seit 1994 arbeitet sie bei der Landesagentur für Struktur und Arbeit Brandenburg GmbH (LASA) in Potsdam. Ihre arbeitsmarktbezogenen Beratungsfeldern sind die nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raumes mit Fokus auf lokale Gemeinweseninitiativen im peripheren Raum Brandenburg sowie die Netzwerkarbeit zur ländlichen Entwicklung, z.B. in den Regionen Uckermark, Spree-Neiße und Cottbus. Seit Sommer 2007 ist sie Ansprechpartnerin für die Bereiche Ländliche Entwicklung und Lokale Ökonomie bei der LASA. Hans-Werner Preuhsler, Jg. 1954, ist Diplom-Kaufmann und hat einen Abschluss als Executive Master of Business Engineering (EMBE HSG) der Hochschule St.Gallen. Er verfügt über langjährige Erfahrungen in Fach- und Führungspositionen und ist seit über 20 Jahren als Unternehmensberater mit den Themen Unternehmensorganisation, integrierte Managementsysteme und Projekt- und Veränderungsmanagement tätig. In den letzten Jahren beschäftigte er sich u.a. intensiv mit Themen der integrierten regionalen Entwicklung, wie Nahversorgung im ländlichen Raum und Unternehmensnetzwerke. Als genossenschaftlicher Projektentwickler begleitete er 2007 die Gründung mehrerer Sozialgenossenschaften und ist Initiator der Initiative Regionalgenossenschaft. Brigitte Schramm, Jg. 1953, ist Diplom-Journalistin. Sie ist seit 1980 in der Sozialwirtschaft tätig und verfügt über langjährige Erfahrungen in Fach- und Führungspositionen einschließlich der Umsetzung von Sanierungs- und Restrukturierungsmaßnahmen. Ihre aktuellen Schwerpunkte liegen in der Organisations- und Managementberatung für Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, der Konfliktmoderation sowie im Aufbau von Sozialgenossenschaften. Sie hat sich als genossenschaftliche Projektentwicklerin qualifiziert, in 2007 die Gründung mehrerer Sozialgenossenschaften begleitet und ist Mitinitiatorin der Initiative Regionalgenossenschaft.
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Autoren Elisabeth Schroedter, Jg. 1959, ist Pädagogin, Umweltberaterin und Mutter von drei Söhnen. Sie stammt aus Dresden und lebt in der Nähe von Potsdam. Ab 1989 engagierte sich Frau Schroedter in der Bürgerrechtsbewegung der DDR und in der Partei Die Grünen. Mit der ersten Europawahl für die neuen Länder in Ostdeutschland im Jahr 1994 wurde sie für Bündnis 90/Die Grünen ins Europäische Parlament gewählt. Als MdEP und Mitglied des „Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten“ arbeitet Frau Schroedter vor allem daran, dass bei der Entwicklung des Binnenmarktes die soziale Dimension nicht vergessen wird. Im „Ausschuss für regionale Entwicklung“, beschäftig sie sich intensiv mit der europäischen Strukturpolitik. Ekkehard Schröder, Jg. 1959, hat Agrarwissenschaften, Fachrichtung Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaues, an der Universität Göttingen studiert (Dipl.-Ing. agr.) und war anschließend als Berater für landwirtschaftliche Betriebe in Niedersachsen und Bremen in der Praxis tätig. Von 1993–1999 wirkte er als internationaler Agrarexperte bei Firmen der AHT Group AG in Essen. Seit 2000 ist Herr Schröder Projektmanager und seit 2001 Geschäftsführer der ADT Projekt GmbH in Bonn. Seine Schwerpunkte sind die Planung und Durchführung von komplexen internationalen Agrarprojekten und -programmen in den Bereichen Tierzucht und Tierproduktion sowie Milch- und Fleischerzeugung und die Entwicklung ländlicher Räume, vor allem in Osteuropa. Winfried Schröder, Jg. 1974, studierte Soziologie und Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach arbeitete er innerhalb der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Cornelia Behm. Seine Schwerpunkte liegen in der Entwicklung ländlicher Räume, im Aufbau Ost und bei der Regionalentwicklung. Herr Schröder ist auch BUND-Mitglied und lebt in Berlin. Bruno Schuler, Jg. 1951, studierte Biologie an den Universitäten Tübingen und Stuttgart-Hohenheim, forschte vergleichend über die Verbreitung von Ackerwildpflanzen in Frankreich und Marokko und promovierte zum Dr. rer. nat. Von 1981–2002 war Dr. Schuler als Referent bei der „Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung“ (DSE) für die Konzeption, Vorbereitung und Koordinierung von mehrjährigen Weiterbildungsprogrammen für Fach- und Führungskräfte im Agrarbereich aus Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika im Auftrag des BMZ und in Zusammenarbeit mit der GTZ tätig. Seit Oktober 2002 führt er diese Tätigkeit als Projektleiter für Organisations- und Personalentwicklung bei InWEnt in der Abteilung Ländliche Entwicklung, Ernährung und Verbraucherschutz in Feldafing (Starnberger See) weiter und arbeitet auch mit Südosteuropa zusammen.
Autoren
501 Hartmut Solmsdorf, Jg. 1941, hat Garten- und Landschaftsgestaltung in Berlin und Wien studiert und als Dipl.-Ing. abgeschlossen. Von 1970–1975 war er im früheren Bundesamt für Naturschutz in Bonn-Bad Godesberg in der Forschung tätig und danach wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Landschaftsentwicklung der TU Berlin. Seit 1988 ist Herr Solmsdorf als selbständiger Landschaftsplaner von Berlin aus tätig. Seine beruflichen Schwerpunkte liegen in der Schulhofumgestaltung und in der Dorferneuerung, insbesondere in den neuen Bundesländern. Außerdem beschäftigt er sich intensiv mit der Entwicklung „Historischer Landschaften“ unter besonderer Berücksichtigung denkmalpflegerischer, ökologischer, geomantischer und künstlerischer Aspekte.
Edmund A. Spindler, Jg. 1949, hat Landwirtschaft und Weinbau gelernt und Raumplanung an der Universität Dortmund studiert (Dipl.Ing.). Seine ökologischen Schwerpunkte führten ihn beruflich zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) und zum Umweltmanagement, resp. Öko-Audit bzw. EMAS. Seit 2001 leitet er von Hamm/Westf. aus den bundesweiten Fachausschuss „Agrar- und Ernährungswirtschaft“ im Verband für nachhaltiges Umweltmanagement (VNU), mit dem er sich insbesondere zum Agrar-Öko-Audit engagiert. Außerdem ist er in vielfältiger Weise beratend und publizistisch im Umweltbereich tätig.
Karl Trischler, Jg. 1951, hat an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und als Magister abgeschlossen. Nach Tätigkeit in der Regionalplanung und bei der Umsetzung regionaler Maßnahmen arbeitet er seit 1987 bei der niederösterreichischen Landesgeschäftsstelle für Dorferneuerung in Krems. Seine Schwerpunkte sind soziale Fragen bei der Entwicklung des ländlichen Raumes. Ein Aspekt bezieht dabei sich auf das Älterwerden im Dorf mit dem Motto „Senioren im Dorf lassen“.
Betina Umlauf, Jg. 1965, ist seit 1977 aktive Mitgestalterin der ornithologischen und Naturschutzarbeit in Großdittmannsdorf. Seit 1983 wirkt sie als Leiterin von Kinder- und Jugendarbeitsgemeinschaften in ihrem Heimatort. 1985 wurde sie als ehrenamtliche Naturschutzhelferin bei der regionalen Naturschutzbehörde berufen. Als Mitglied der NABU-Fachgruppe Ornithologie Großdittmannsdorf widmet sie sich vor allem der avifaunistischen Dokumentation sowie der Bewahrung, Pflege und Entwicklung schutzwürdiger Landschaften und Biotope im LSG „Moritzburger Kleinkuppenlandschaft“.
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Autoren Thomas van Elsen, Jg. 1959, hat Biologie in Braunschweig und Göttingen studiert und in Kassel zum Dr. rer. nat. promoviert. Herr Dr. van Elsen hat mehrere Forschungsprojekte zur Integration von Naturschutzzielen in den Ökologischen Landbau und zur Kulturlandschaftsentwicklung geleitet. Seit 2004 ist er Projektleiter am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL Deutschland e.V.) am Standort Witzenhausen und deutscher Projektpartner im EU-Projekt SoFar (Social Farming) sowie Lehrbeauftragter für Landschaftsökologie und Soziale Landwirtschaft an der Universität Kassel.
Thomas Wehinger, Jg. 1964, hat Landwirtschaft gelernt und an der Universität Stuttgart-Hohenheim studiert (Dipl.-Ing. agr.). Im Anschluss an das Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Regionalberater bei der Katholischen Landjugend Bewegung Deutschland Nach mehrjähriger Beratertätigkeit ist er seit 2005 Geschäftsführer der NACCON GbR in Tübingen, die sich international mit Unternehmensberatung, Fördermanagement und Regionalentwicklung, vor allem in Osteuropa, befasst.
Anke Wehmeyer, Jg. 1970, hat Geographie an der Universität Göttingen studiert und war von 2000–2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Universität Göttingen. Seit 2004 ist sie Mitarbeitern der Deutschen Vernetzungsstelle LEADER+ und seit 2008 Mitarbeitern der Deutschen Vernetzungsstelle Ländliche Räume in der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) in Bonn. Ihre beruflichen Schwerpunkte liegen in der Unterstützung der Lokalen Aktionsgruppen in der gebietsübergreifenden und transnationalen Kooperation.
Peter Weingarten, Jg. 1965, Prof. Dr. Weingarten ist Leiter des Instituts für Ländliche Räume des Johann Heinrich von Thünen-Instituts (vTI), Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, in Braunschweig, Honorarprofessor für das Fachgebiet „Ökonomik ländlicher Räume“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Mitglied des Begleitausschusses zum Nationalen Strategieplan für die Entwicklung der ländlichen Räume, Mitglied des Kuratoriums der Agrarsozialen Gesellschaft (ASG) sowie Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaues e.V. (GEWISOLA).
Autoren
503 Jörg Wilke, Jg. 1961, hat Landschaftsplanung an der Universität Gesamthochschule Paderborn studiert (Dipl.-Ing.) und war danach beruflich im Landkreis Wesermarsch, im Niedersächsischen Landwirtschaftsministerium, an der Uni-GH Paderborn und im Hochsauerlandkreis zum Naturschutzmanagement, zur Regionalplanung und zur EUKoordinierung tätig. Seit 2000 ist er Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Wesermarsch GmbH in Brake/Unterweser. Darüber hinaus ist Herr Wilke als Lehrbeauftragter an diversen Hochschulen in Norddeutschland und den Niederlanden in den Lehrgebieten Regionalökonomie, Landschaftsentwicklung und Umweltplanung engagiert und seit Anfang 2008 Doktorand an der Universität Oldenburg (Promotionsthema: Erprobung und Entwicklung geeigneter Steuerungsinstrumente im Rahmen von strukturpolitisch raumrelevanten Wirtschaftsprozessen).
Martin Wille, Jg. 1941, hat eine landwirtschaftliche Lehre absolviert und ist über den zweiten Bildungsweg zum Diplom-Agraringenieur gekommen. Seine Promotion hat er in Kiel und Göttingen abgeschlossen. Danach war Herr Dr. Wille Referent im Bundeslandwirtschaftsministerium und in verschiedenen agrarpolitischen Verwendungen tätig, u.a. im Bundeskanzleramt und bei der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Von 1985 bis 1998 arbeitete er in leitenden Funktionen im Umweltministerium in Nordrhein-Westfalen und danach bis 2002 als beamteter Staatssekretär im Bundes-landwirtschaftsministerium. Mit der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand begann seine agrarpolitische Beratertätigkeit, u.a. für die GTZ mit Projekten in Albanien und Bulgarien. Seit Januar 2008 ist Herr Dr. Wille von Bonn aus Leiter des Gesprächskreises „Landwirtschaft und ländliche Räume“ beim SPDParteivorstand.