Ein inniges, zart humoristisches Lied verflossener Jugend bewegt immer; so rhythmisiert wie bei Bradford und mit solch ...
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Ein inniges, zart humoristisches Lied verflossener Jugend bewegt immer; so rhythmisiert wie bei Bradford und mit solch vollkommenem Klang der Sehnsucht ist es fast ein zigartig. Time
Selten hat ein Buch so herzhafte Begeisterung geweckt
wie Richard Bradfords erster Roman. Die Kritik begrüßte
ihn als «reines Lesevergnügen», als «großartige, faszinie rende Entdeckung», als «Lichtblick inmitten schwarzer
oder absurder Literatur».
Heiter, poetisch und wehmütig zugleich ist die Geschich te des siebzehnjährigen Josh Arnold, der Ende des Krie ges mit seiner Mutter nach Sagrado, einem 3000 Meter
hoch gelegenen Städtchen in Neu-Mexiko evakuiert
wird. Vieles ist zu lernen: der Unterschied zwischen
Anglos, Indianern und Eingeborenen und eine neue Art,
mit Klassenkameraden umzugehen, die sehr rasch ein
Messer aus der Tasche ziehen. Josh sammelt Erfahrungen:
auf dem Rücksitz eines alten Plymouth; mit der ersten
Flasche Gin; mit der hübschen Marcia; in der Pflicht für
die der Einsamkeit ungewohnten Mutter. Es ist eine Auf gabe, erwachsen zu werden. Josh besteht sie, und der
Leser folgt bangend und hoffend seinem Weg, vorbei an
allen burlesken und abenteuerlichen, schmerzlichen und
zarten Stationen.
Ganz wunderbar: ein überwältigendes Ja zum Leben.
In einem Wort — ein Kunstwerk.
Harper Lee
Autor von «Wer die Nachtigall stört»
Richard Bradford
Morgenhimmel über Sagrado Roman
NEUE SCHWEIZER BIBLIOTHEK
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wolfgang Gerfin
Lizenzausgabe für die Neue Schweizer Bibliothek
© Richard Bradford 1968
Deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1969
Die Originalausgabe erschien 1968
unter dem Titel «Red Sky at Morning»
Printed in Switzerland by Buchdruckerei
Carl Meyer, Jona b. Rapperswil SG
Scan by Brrazo 10/2008
Für Julie und Tom
1. Kapitel
Wir hatten den großen ovalen Tisch mit dem alten blauen Geschirr, den rostfreien Bestecken, Sets an jedem Platz und unförmigen Marmeladegläsern für den Wein gedeckt. Die guten Sachen waren schon eingewickelt und verpackt. Für den Rest war am nächsten Tag die Heilsarmee fällig. Picknick nannte meine Mutter dies letzte Essen, aber den Klepper mantel hatte sie deswegen doch nicht angezogen, sondern das blaue Abendkleid mit dem purpurroten Blumenmuster. In seiner neuen Sommeruniform sah mein Vater gleich vier Nummern kleiner aus, und der enge Steh kragen machte ihm so zu schaffen, daß er den Hals dauernd einzog und verdrehte. Die zweieinhalb Strei fen standen ihm aber doch gut zu Gesicht. Sie stachen vorteilhaft gegen Jimbob Buels cremige Pyjamajacke ab. Jimbob hatte ein Glas Tavel rosé meines Vaters in der Hand und blickte durch den Wein in den Ker zenschimmer: der perfekte Connaisseur. Wahrschein lich dachte er gerade, so ein siebzehnjähriger Lümmel wie ich sei zu jung, um derlei gebührend würdigen zu können. Laß dir gesagt sein, mein Jimbob, ich weiß es zu 9
würdigen. Gerade vorige Woche hatten Paul und ich eine Flasche davon geköpft, als verfeinernde Beglei tung zu Maisbrot und kleinen Fleischhappen. Courtney Ann Conway quetschte mein Bein un term Tisch. «Wetten, daß es dir leid tut, aus Mobile wegzuge hen, jetzt wo es mit all den Parties losgeht und so.» Ich antwortete nicht gleich. Ich überlegte, wie man Jimbob in den Molentunnel kriegen könnte, ein biß chen Senfgas reinpumpen … ja … zwei Pumpen, vorausgesetzt, natürlich, die Ausgänge ließen sich blockieren … das könnte … «Josh, hörst du mir zu?» «Entschuldige, Corky. Sicher werde ich viele Par ties versäumen, aber ich muß wirklich weg. Der Krieg und alles, du weißt doch.» «Was für ein tapferer, männlicher Junge du bist», sagte Jimbob. «Ich finde es reizend, daß du deine Heimat irgendwo dahinten in Utah oder Iowa oder wo auch immer das ist verteidigen willst.» «Das ist ja doch ein Khakianzug, was Sie da anha ben, Mr. Buel. Im Kerzenlicht sieht es eher aus wie ein Pyjama.» «Also Joshua», sagte meine Mutter sehr scharf und verletzt. «Also das langt. Völlig. Du warst schreck lich unhöflich heute abend. Mr. Buels Asthmaleiden ist niemandem ein Geheimnis.» «Entschuldigung, ich bitte um Verzeihung.» Jesus H. Roosevelt Christus. «Josh», sagte mein Vater, «hier, nimm noch etwas 10
Schinken mit Coca-Cola Soße. Es dürfte eine Weile dauern, bis du das wieder vorgesetzt bekommst.» Mit der Vorlegegabel liftete er eine dicke Scheibe von dem elenden Zeugs, und ich reichte ihm meinen Teller. Flupp. Echter gesalzener Tennessie-Räucherschinken. Ausgezeichnete Coca-Cola aus Atlanta. Rühr alles zusammen, das ist das Geheimnis unserer Küche in den Südstaaten. Jimbob versorgt sich selbst mit Wein. Den Schin ken ißt er übrigens nicht. Corky rülpst leise und ver halten, ein guter Zug an Frauen. Das dürfte die Koh lensäure in der Soße sein. Und gegenüber sitzt Ama lie, Schinken und Gumbo gleichzeitig auf der Gabel, das Ganze maisverklebt, und schlingt. «Die Marine muß ja romantisch sein, Mr. Arnold, Sie sehen wie ein waschechter Seebär aus.» Freut mich für dich, Corky. Auch mit dem Mund voll Brötchen hast du immer den rechten Schnack auf der Zunge. Ich wette, da liegt der arme Oscar Wilde jetzt in Paris und kaut Nägel, neiderfüllt, daß ihm so ge pflegte Konversation nicht gelungen ist. «Da hat Miß Courtney ganz recht, Frank», sagte Jimbob. «Sie sehen wirklich hundertprozentig waschecht aus. Und dann gleich Admiral …» «Kapitän.» «Kapitän, Entschuldigung, so einfach frisch von der Bank weg, das Ministerium muß ja wirklich große Stücke auf Ihre Seemannschaft halten. Wir, unsere Familie, wir waren immer beim Heer, natürlich nicht halb so schick.» 11
«Ich gebe zu, auf einem ,Delphin’ soll ich ganz brauchbar sein.» Er setzte sich leicht in Positur und sah etwas lebhafter aus. «Schade, daß die Marine sie in diesem Krieg nicht einsetzt. Letztens habe ich ge hört, sie würden überall zu Panzerschiffen umge baut.» «Und mit Recht, will ich meinen», sagte Amalie und zeigte mit der Gabel auf meinen Vater. Sie war derartig in den Mais vertieft, daß sie nichts gehört hat. Sieh dir an, wie sie da sitzt, eine große bleiche Fröschin. Ihre Maismanie bezahlt sie mit Speck. «Was mit Recht, Amalie?» fragte völlig verblüfft mein Vater. «Das mit den Schiffen und dem Panzer drumrum. Viel besser. Hattest du nicht irgendwas von Schiffe Panzern gesagt? Also ich finde das eine glänzende Idee, auf die man wirklich schon früher hätte kom men sollen. Frank, sei so lieb und gib mir noch so eine köstliche Scheibe Schinken und vielleicht einen klitzekleinen Löffel Gumbo. Gott, Ann, du mußt mir einfach das Rezept für den Schinken geben. Immer wenn ich hier bin, esse ich mehr davon, als mir guttäte. Danke Frank. Noch etwas Mais? Vielen Dank.» «Es ist wirklich kinderleicht», sagte meine Mutter. «Der Witz ist, du mußt die Cola anwärmen, bevor du sie über den Schinken gießt. Dann läßt du es einfach dünsten. Lacey habe ich es einmal gezeigt, und sie hat es sofort hingekriegt.» Ja, hingekriegt hat sie es, und sie jammert noch jedesmal, wenn sie Cola über einen Landschinken gießen soll. Du hast die beste 12
Köchin weit und breit auf dem Gewissen. Ich freue mich bloß, daß sie einen guten Job in der Kompaßfa brik gefunden hat. Da lassen sie die Nadel jedenfalls noch nicht in Coca-Cola schwimmen. «Sie haben wirklich eine vorzügliche Küche, Mrs. Ann», sagte Jimbob. Und du eine vorzügliche Gratis verpflegung, was, mein Buelchen? Wann hast du dir hier zuletzt ein Essen entgehen lassen? Als ich Mumps hatte? Kann nur da gewesen sein. Du woll test dich nicht anstecken, dein Virginier Patrizierkinn wäre ja womöglich aufgegangen wie Hefe. Und dann hättest du das Bettchen hüten müssen, tsa, tsa. Wäre Grants Artillerie etwas präziser gewesen, euer Haus getroffen worden und dein Großvater dabei umge kommen, das wäre das Ende eurer gesamten über flüssigen Sippschaft gewesen. Da hat der Krieg was versäumt. Zum Schluß gab es Ananas und Marshmallow scheibchen, übrigens ein großartiges Rezept, das meine Mutter im Pfadfinderkochbuch gefunden hatte. Mein Vater erklärte inzwischen, daß ihm das Ober kommando der Pazifikflotte nicht vor einigen Wo chen Drill in Uniformpflege, Grußvorschriften und Indenwindspucken übertragen würde. Während des Kaffees betätigte meine Mutter mit der Zehe die Klingel, und Paul kam herein. «Rufen Sie doch bitte auch Lacey, Paul.» Dann folgte ihre große Überraschung: ein Zehndollarschein für jeden, in Anerkennung der treulich geleisteten Dienste, etc. etc. und wie sie beide uns im neuen Haushalt in Sa 13
grado fehlen würden, etc. etc. und daß wir auch so fort nach dem Krieg nach Mobile zurückkämen, etc. etc. und daß ihr alter Arbeitsplatz ihrer harren würde, wenn die Aufrüstung nicht die Wirtschaft ruiniert, etc. etc. und schreibt mal schön. Es ist mir ein Rätsel, wie Paul und Lacey ihr glückliches Lächeln und ihre Dankbarkeit geheuchelt haben. Mein Vater hatte ihnen am Nachmittag einen Scheck über fünfhundert Dollar und einen Brief an seinen Anwalt gegeben, damit sie sich mehr holen könnten, sollten sie den Arbeitsplatz verlieren. Doch sie strahlten und jammerten abwechselnd in einer Tour und erklärten, meine Mutter sei eine «wirkliche Dame» und was weiß ich noch; das alles auf den Schinken hat mir gelangt. Noch eine Minute und je mand hätte mich raustragen müssen. Wir klatschten meiner Mutter alle Beifall, am wildesten mein Vater, das Chamäleon. Als gerade keiner hersah, blinzelte er mir kräftig zu. Nach dem Essen setzten sie sich zusammen und spielten ihre letzte Partie Bridge, @á ein Zehntel pfennig pro Punkt; in einer wirklich aufregenden Nacht könnten also ungefähr fünf Mark den Besitzer wechseln. Das Spiel habe ich nie gelernt. Paul hat mir einmal Poker beigebracht, und das hat mir ge langt. Corky fragte, ob sie zusehen dürfe, weil es doch faszinierend sei, so ein tolles Kartenspiel zu können. Ich ging in die Küche. Lacey wusch ab, Paul trocknete ab und verstaute das Geschirr gleich in einer Kiste für die Heilsarmee. 14
Lacey hatte noch Tränenspuren im dunklen Gesicht, wie immer, wenn sie laut gelacht hatte. «Was wollt ihr beide bloß mit den dicken Zehn dollarscheinen anfangen? Das ist ein Haufen Geld für zwei alberne Mohren.» Paul machte einen Satz und hätte fast seine Tasse fallen lassen. Lacey drehte sich um und sagte, wenn ich je meiner Mutter etwas von dem Geld erzählte, das mein Vater ihnen gegeben hatte, würde sie mich eigenhändig sechsmal nackt um die Stadtmauer schleifen. «Und ich würde es ihr so gerne erzählen. Sicher hat sie Angst, ihr kauft eine Kanone davon und legt den nächsten Polizisten um. Tatsächlich, ich glaube, darauf wartet sie nur.» «Ich gebe meine zehn Dollar Pater Muzzo», sagte Lacey. «Er spitzt sich schon seit Jahren auf eine neue Orgel.» «Wenn du nichts dagegen hast, sage ich ihr, du kaufest dir ein halbes Dutzend Flaschen Haarglätter und ein Paar rote Stöckelschuhe. Das würde sie be ruhigen.» «Mir wär’s auch lieber», sagte Paul. «Jeder freie Groschen landet bei ihr im Klingelbeutel. Eine liebe Methodistin hätte ich heiraten sollen, als es noch nicht zu spät war. Die sparen ihr Geld.» «Ich glaube, meine Mutter möchte, daß du nachher singst, Lacey.» «Warum nicht, es ist ja das letzte Mal. Weißt du eigentlich, daß ich das Singen jedesmal beichten 15
muß? Es ist keine große Sünde, sagt Pater Muzzo, aber es summt sich zusammen.» «Möchtest du einen Schluck Wein?» fragte Paul. «Lacey und ich, wir haben da gerade was Schönes angezapft, schmeckt fast wie Muskat, nur milder. Ich hole die Flasche eben aus dem Eisschrank.» Paul und ich tranken jeder ein halbes Marmela denglas 1943er Château Yquem. Wie Paul gesagt hatte, er war weich und süß, zu süßlich für meinen Geschmack. Lacey gab mir eine Kaffeebohne zum Kauen, damit man es nicht riechen konnte, und ich ging zurück ins Zimmer. «Zwei Kreuz», sagte mein Vater gerade. «Das Blatt gebe ich persönlich Adolf Hitler, und wenn der Kerl das spielen kann, trete ich ihm die Britischen Inseln ab.» «Frank», sagte meine Mutter, «die Einsätze haben wir vorher geregelt, das ist nicht erlaubt.» «Also was mich angeht», sagte Amalie, «ich finde, das ist ein ganz normaler Einsatz bei zwei Kreuz. Wenn Frank allerdings verschlüsselt redet, ist mir das entgangen.» Ich sah, daß Corkys blaue Augen sich langsam mit Langeweile überzogen und fragte sie, ob sie nicht mit in den Garten kommen wolle, den romantisch sten Garten in Mobile, voller Gardenien, russischer Oliven, Oleander und Azaleen. «Komm, ich muß dir was zeigen.» «Was?» «Eine tote Katze am Strick. Komm schon. Du darfst sie auch schaukeln.» 16
Ihr gruselte, aber sie kam. «Glückspilz», sagte Jimbob mit seinem fiesen Grinsen. Der Garten war heiß und still. Die Wolken warfen alle Lichter der Stadt orange zurück. Corky seufzte tief, während wir auf die Laube zugingen, und sagte, die Gardenien dufteten himmlisch. Ich rieche da nichts als einen großen kochenden Zuckertopf oder warmen Kuchen. «Und wie», sagte ich. «Gibt es Gardenien da in den Bergen, wo du jetzt hingehst?» «Ich glaube nicht.» Ich konnte mich nicht erin nern. «Es gibt Kiefern und Espen, aber die riechen nicht weiter.» Was für eine öde Unterhaltung. «Wirst du an mich denken?» «Ich denke bestimmt an dich.» Aber wirst du auch an mich denken? Vielleicht zehn Minuten, bis Bubba Gagnier dich in seiner lecken Jolle mitnimmt und dir vorbetet, daß sein alter Herr hundert Morgen Kie fernwald im Kreis Sumter hat. «Findest du, ich kann tanzen?» «Du tanzt großartig, Gorky. Ich weiß nicht, wie du es überhaupt mit mir aushältst. Wie geht es übrigens deinen Zehen?» Ich hatte ihr am Sonnabend drauf getrampelt. «Das hat kein bißchen wehgetan. Außerdem war es nicht deine Schuld. Jemand hat dich ge schubst.» Ich hatte die Knöchel knacken hören, und zwei 17
Foxtrotts, einen Walzer und einen Conga lang hatte sie gehumpelt. Wir setzten uns in die Laube. «Corky, ich werde dich wirklich vermissen.» Ich legte den Arm um ihre Schulter. Daß das ein Fehler war, wußte ich von vornherein, denn sie hatte einen dünnen Sommerfet zen an und ihre Schultern waren genauso klebrig wie ihre Hände. Ich holte tief Luft und küßte sie. Ohne zu atmen hielten wir es nach meiner Zählung bis drei undvierzig aus, Alabama-Stil. Während des Zählens lauerte ich auf das von Hemingway verheißene Be ben der Erde, aber nichts da, wie üblich. Wir schnappten nach Luft und küßten weiter. Cor ky machte immer die Augen zu. Verschiedene andere Mädchen von Point Clear, unserer Schule, machten die Augen dabei auch zu; das habe ich Corky aller dings nie erzählt. Ich behielt meine offen und auf nichts besonderes gerichtet, mit dem Ergebnis, daß sie vier geschlossene Augen zu haben schien. Dann schielte ich, und ihr rechtes Auge schien über die Nase zu treiben und irgendwo über dem linken zu landen. Sie tolerierte meine Hand unter dem Oberteil ihres Kleids. Eng wie das saß, war es eine schwüle Arbeit in der Hitze. Gut, meinetwegen, es tat sich was, aber die Erde rührte sich nicht. Die Tür zum Garten ging auf und Pauls Kopf er schien. «Kommt mal rein, Josh. Deine Mutter sagt, ihr sollt reinkommen. Lacey singt.» «Pssst», machte Corky. 18
Ich wurstelte meine verschwitzte Hand aus ihrem Kleid und wollte sie an meinem Hosenbein abwi schen, aber das wäre kein Benehmen gewesen. Mein Vater und Jimbob saßen auf dem großen Sofa. Meine Mutter spielte Klavier. Amalie stand links hinter ihr, um umzublättern, falls es etwas umzublät tern gäbe. Lacey stand errötend am Bauch des Flügels und sagte wie immer, sie hätte eine Stimme wie ‘ne Krähe. Das stimmte nicht. Sie hatte einen hohen, weichen Sopran. Nur mochte sie einfach keine evan gelischen Lieder. Die ganze Geschichte mit dem Singen hatte unge fähr vor drei Jahren angefangen, als ein Schiffsbauer aus Connecticut uns besuchte und erwähnte, daß ihm außer Schiffsrümpfen nichts über Spirituals ginge. Meine Mutter sagte, unser Mädchen sei Negerin, und alle Farbigen könnten singen. Also rief sie Lacey und fragte, ob sie in der Kirche sänge. Lacey sagte, beim Chor summe sie manchmal mit, besonders bei ,Stabat Mater’. Der Chor der Jesublümchenkirche war nur für Weiße. «Kennen Sie ,Swing Low, Sweet Chariot’?» fragte unser Gast. «Nein, leider nicht.» «,Deep River’?» «Tut mir leid.» «Lacey, ich bitte Sie», sagte meine Mutter. «Alle Ne… äh … jeder kennt diese Lieder. Das sind Volks lieder.» An dem Abend brachten wir ihr die ersten beiden 19
Strophen von ,Swing Low, Sweet Chariot’ bei, und unser Gast fand, ihr Herz möge ja Rom gehören, aber sie sänge wie eine Baptistin. Am nächsten Morgen überzog ich mein Taschen geld um einen Monat und kaufte Lacey «120 Neger spirituals für Sopran, Alt, Tenor und Baß». Die Me lodie suchten wir uns auf dem Klavier gemeinsam zusammen. Lacey lernte zehn oder zwanzig, und je den Sonnabend ging sie in die Kirche und legte ihre rückfällige Seele bloß. Heute abend fingen wir mit ,Swing Low’ an, und Lacey sang genau so, wie meine Mutter es mochte, mit vielen Gleittönen und Bluesschleifen in der Stimme. Das hatte sie von meinen Bessy-SmithPlatten. Amalie unterstützte sie bei jeder Pause mit einem Gequäk, das sie für afrikanische Baptistenzwi schenrufe hielt. Mein Vater wand sich bei jedem von Amalies Heulern, aber meine Mutter, Jimbob und Corky beglückwünschten sich zu ihrem Feingefühl für echte, unverfälschte Volkskunst. Lacey sang bis elf Uhr, dann ging für sie und Paul der letzte Bus aus der Stadt. Wir fielen uns um den Hals. Ich weinte, Lacey weinte, und Paul riet mir, die Finger vom Wein zu lassen und zu schreiben, sobald mir etwas einfiele, das nicht kindisch sei. Als sie weg waren, brachte ich Corky um die Ecke nach Hause, küßte sie zum Abschied und ging zurück.
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2. Kapitel
Als ich schlafen ging, war es immer noch heiß und schwül, und die Bettwäsche klebte. Wie gewöhnlich surrte ein einsamer Moskito auf der Lauer nach ei nem Schluck Blut im Zimmer herum, das geisterhaft leer war, mit nichts als meinem Koffer und dem Himmelbett. Ich dachte an Sagrado, an die Kühle dort auch im Sommer; doch Mobile würde ich vermissen, mitsamt dem lumpigen alten Haus und Paul und Lacey, den Schweden auf der Werft, dem Baden in Santa Rosa, dem Segeln in der Bucht, sogar die gute Corky mit ihren warmen Austernhänden. Es klopfte an meiner Tür, was mich wunderte, denn sonst platzen die Leute einfach rein. «Herein.» Die große geschnitzte Tür schwang auf. Gegen das Licht im Flur erkannte ich Amalie Ledoux. Sie blin zelte und hatte ihren Bourbon mit Wasser in der Hand. Mir hatte es nie jemand direkt gesagt, aber es schien mir, als hätten sich Amalie und meine Mutter, damals die anerkannten Schönheiten, wegen mei nes Vaters in den Haaren gehabt, als er, ein frischge backener Ingenieur mit ein paar guten Ideen und 21
einer dürftigen Bankanleihe, aus Baltimore hier auf tauchte. Sogar in diesen komischen plattbrüstigen Kleidern um 1924 waren sie umwerfend gewesen. Amalie hatte damals frisch, rosig und fröhlich ausge sehen. Vielleicht las mein Vater ihren Knochenbau wie Schiffsrisse und hatte prophezeien können, daß ihr Heck immer mehr Wasser ziehen und ihr Bug sich ausreichend weiten würde, um ihren Kurs zu behindern. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat er Ann Dabney Devereaux geheiratet, derentwegen die jun gen Männer die Fenster aufrissen und der sie @Punch brachten. Die Figur hatte sie behalten, wäh rend Amalie, wie mein Vater sich ausdrückte, ausla dend, tief und tüchtig geworden war. «Wo ist der Lichtschalter, Josh?» Sie tastete umher. «Gegenüber vor der Tür. Der Architekt hatte Hu mor.» «Viel zu mühsam bei der Hitze.» Sie machte die Tür zu und schlurfte durchs Zimmer, bis sie mit den Knien ans Bett stieß. «Kann ich mich zu dir auf die Bettkante setzen?» «Bitte, Platz ist genug für mich und Dionnes Fünf linge und obendrein noch etliche Pudel.» «Gott, das klingt ja aufregend.» Sie trank einen Schluck Bourbon und setzte sich auf die Bettkante. Die Matratze gab gewaltig unter ihr nach. «Das wirst du alles bestimmt vermissen, dies schöne alte Haus.» «Ich werde es überstehen, Amalie. Wir kommen zurück, sobald der Krieg vorbei ist.» 22
«Ich verspreche dir, es an wirklich nette Leute zu vermieten, die sich auch darum kümmern. Wenn ihr aus dem Westen zurückkommt, wird alles noch ge nauso sein, wie es war.» «Kann ich einen Schluck aus deinem Glas haben?» «Natürlich. Er ist sowieso ziemlich dünn.» Sie reichte mir das Glas und gab mir durch die Decke einen Klaps aufs Knie. «Ich wußte nicht, daß du ein Bourbontrinker bist.» «Bin ich eigentlich nicht. Aber es ist heiß hier oben. Aus der Leitung kommt warmes Wasser.» Das Glas schmeckte nach ihrem Lippenstift, wie Stachel beeren. «Die kleine Corky ist ein hübsches Mädchen. Hast du ihr anständig auf Wiedersehen gesagt? Oder, hm, unanständig?» «Ich habe sie geküßt und ihr gesagt, sie sollte von Bubba Gagniers Jolle wegbleiben, solange ich nicht da bin.» «Das hört sich furchtbar anständig an.» «In einer Woche fährt sie doch Vorschot bei Bubba und steckt die Latten in die falschen Taschen.» «Was bei Bubba? Steckt was wohin?» «Die Latten. Komm, du weißt schon, was ich meine. Sie hilft beim Segeln.» Sie trank ihr Glas aus, stand auf und strich sich das Kleid glatt. «Darf ich dir einen Abschiedskuß geben, Josh?» «Bitte, sicher.» Immer der alte Casanova. Welche Frau widersteht meinem Witz? 23
Sie beugte sich zu mir herunter und küßte mich voll auf den Mund. Wir beatmeten uns mit etwas Bourbon, sie patschte mein Knie und kniff mich. «Paß schön auf deine Mama auf da draußen, hörst du? Vielleicht besuche ich euch mal.» Sie ging an die Tür und machte sie auf. Das Licht im Flur verschönte sie kein bißchen. Ich lag in der Hitze im Dunkeln und dachte an den Geruch der Bucht an einem Apriltag bei leichtem Nordwind. In Sagrado gab es kein einziges schiffba res Gewässer, nicht einmal einen anständigen Fluß. Mein Vater hätte uns nicht ausgerechnet auf den Mond schicken müssen. Es mag einigermaßen ver nünftig klingen, daß es Angabe ist, im Krieg zwei Häuser zu unterhalten, aber seine andere Begrün dung, Großadmiral Dönitz würde befehlen, die Bucht in U-Booten raufzuschleichen und Semms Hotel zu Staub zu schießen, war verrückt. Ich glaube, er wollte uns aus privaten Gründen von hier weg haben. Da es zum Schlafen einfach zu heiß war, stieg ich aus dem Bett, knipste Licht an und legte mich auf den Teppich, um ein paar Liegestützen zu machen. Auf dem Fußboden waren noch Spuren, wo Skip per, mein treues Schaukelpferd, echt Roßhaar, jah relang gestanden hatte. Das gehörte jetzt dem Wai senhaus. Die Liegestützen begleitete ich rhyth misch mit: «… Städtele hinaus, und du, mein Skip, bleibst hier.» Meinen Vater hatte ich nicht reinkommen hören. Als ich bei fünfunddreißig ziemlich außer Puste war, 24
setzte er mir den Fuß aufs Kreuz. Ich kriegte einen Heidenschrecken. «Sag mal, du bist wohl völlig verrückt. Da habe ich mir einen kompletten Deppen herangezogen und beweiskräftige Unterlagen auf der Hand.» «Ich habe nur ein paar Liegestützen gemacht. Das tust du auch manchmal.» «Im allgemeinen nicht um ein Uhr morgens, den Bauch voll Schinken und angesäuselt von Sauternes. Außerdem singe ich nicht dabei.» «Sauternes?» «Der Weißwein, den Paul und du abgestaubt habt. Ich hatte ihn Paul geschenkt, entsinne mich aber nicht, dich dazu eingeladen zu haben. Hat er dir ge schmeckt?» «Ich fand ihn etwas süß.» «Sehr schön. Vielleicht ist für Papa noch etwas da, wenn er aus dem Krieg kommt. Das Zeug ist teuer, und heutzutage liefern die Franzosen sowas nur an Hermann Göring. Was hältst du davon, wenn du auf stehst und in die Koje gehst?» «Kann ich nicht hier auf dem Teppich liegenblei ben?» «Dann solltest du wenigstens duschen. Du riechst nach Umkleideraum.» Ich ging ins Bad und duschte in der großen alten Wanne mit den Löwenfüßen, die Paul für mich ver goldet hatte. Nichts besser als goldene Tatzen unter der Wanne, man fühlt sich wie der Kaiser von China. Mein Vater rauchte eine Zigarre, als ich zurück 25
kam. Die Dusche hatte mich abgekühlt, aber in der Hitze fing ich wieder an zu schwitzen. Er trug einen Schlips und schwitzte nicht. Einmal hatte er mir er zählt, Dänen schwitzten nie, es sei denn, es ginge wirklich rund, und wirklich rund ginge es selten. Ich habe ihn zweimal schwitzen sehen. Einmal bei einer Manta-Regatta im Golf, südlich von Dauphin-Island. Der Wind schlug plötzlich sechzig Grad um, und er hielt den überholenden Baum mit bloßer Hand fest. Seine Oberlippe war damals schweißbedeckt gewe sen. Das zweite Mal bei der Sache mit meiner Narbe. Ich war sechs und ritt auf einem Schürhaken allein im Zimmer herum. Im Kino hatte ich eine Fechtszene gesehen und attackierte und parierte die flackernde Glut im Kamin. Ich galoppierte übers Parkett, stach den Schürhaken in die Glut und schrie: «Stirb, Sara zenenschwein!» Die letzte Attacke geriet leicht daneben. Ich glitt aus, der Schürhaken verklemmte sich im Kamingit ter, und ich knallte kopfvoran auf den Kaminabsatz. Es gab einen schönen Bums. Ich soll eine Stunde ohnmächtig gewesen sein. Eine Kohle war mir beim Sturz unter den Kopf gerutscht. Als erste roch Lacey verbranntes Fleisch. Sie wußte, da konnte was nicht stimmen, denn sie kochte gerade Lachs. Im Krankenhaus wachte ich mit einem halbdollar großen Loch in der Schläfe auf. Mein Blick fiel als erstes auf meinen Vater. Er schwitzte auf Stirn, Oberlippe und sogar unter den Achseln. Als ich nach dem geglückten Einsatz eines neuen Stück Knochens 26
nichts als eine runde verfärbte Stelle vorzuweisen hatte, behauptete er, ich hätte wie eine besonders traurige Frikadelle gerochen; aber darauf fiel ich nicht herein. Er hatte geschwitzt. «Wieder bei Sinnen, Josh?» «Ich war eben auch nicht von Sinnen. Nur ein paar Liegestützen.» «Ich weiß, ich weiß. Naja, jedenfalls riechst du besser. Hier.» Er bot mir seine Zigarre an. «Möchtest du einen Zug?» «Ich rauche nicht. Nicht mal heimlich. Das ist schlecht für meinen Atem.» «Ah, ja. Aber Château Yquem gibt es vermutlich in Point Clear zum Frühstück, wie? Wenn du an fängst zu rauchen, und ich gebe dir zwei, vielleicht drei Jahre, dann laß ja die Finger von meinen Exqui sitos. Du fängst mit Blättern an wie alle andern.» «Zu Befehl.» «Setz dich hin. Mein Gott, hast du behaarte Beine. Du wirst überall erwachsen, nur nicht im Kopf.» Das war genau das richtige, um mich in Verlegen heit zu bringen, und das wußte er. Also saß ich eine Weile verlegen da, und er qualmte seine Havanna und grinste. Er nahm sie aus dem Mund und begut achtete die Spitze, dann ließ er einen linken Geraden los, der mich an der Schulter erwischte und mir bis in die Knie fuhr. «Na, wird schon werden. Noch etwas Muskeln und noch viel Köpfchen und du kannst auch ohne Kinder mädchen und Teppichklopfer über die Straße gehen.» 27
«Danke.» «Kein Grund, mir zu danken. Danke deiner Acht hundertdollarschule und dem guten südlichen Blut, das deine Frau Mama dir mitgegeben hat. Wie gehts übrigens in der Schule?» «Einser in Literatur, Mathe, Spanisch und Sport.» «Hm.» «Bin ganz zufrieden.» «Wie stehts mit der Geschichte der Konföderation?» «Vier minus. Ich sehe das anders als die Lehrer.» «Ich auch. Was war los?» «Ich habe gesagt, ich hielte Sherman für einen ebenso guten General wie Stuart.» «Überall nur nicht hier ist das diskutierbar. Habt ihr keinen Unterricht in Takt?» «Etwas Ärger hatte ich auch in Biologie. Der alte Henlien erwischte mich gerade, als ich Corky bei ih rem Frosch half. Sie sollte das Skalpell nehmen und die Schenkelstrecker sezieren. Nicht mit einer drei Me ter langen Fleischeraxt würde sie das Vieh anfassen, sagte sie. Also hat er mich schließlich dabei ertappt.» «Kavalier. Meinst du, du wirst dich nach Point Clear zurücksehnen?» «Ich glaube schon. Man gewöhnt sich dran, sogar ans lausige Essen.» «Meinst du, eine staatliche Schule wird deinem guten Ruf schaden?» «Hoffentlich.» «Du wirst ja sehen. Schließlich ist Krieg. Wir bringen alle Opfer.» 28
«Vati, wirklich, ich freue mich drauf. Außerdem mag ich Sagrado, obwohl ich lange nicht mehr dort gewesen bin.» «Warten wir ab, ob es dir im Winter auch gefällt. Du hast noch nie Schnee gesehen?» «Nein, aber ich habe mir sagen lassen, er sei kalt und weiß.» «Stimmt so ziemlich. Offensichtlich hast du For schungen betrieben.» Ich weiß nicht mehr, wann diese Art von Unterhal tung zwischen uns aufkam, jedenfalls ging es oft so. Hauptthema ist, daß ich kaum in der Lage bin, mei nen Kragen nicht zu besabbern und nur die unermüd liche Aufmerksamkeit eines geschulten Pflegers mich vor Selbstverstümmelung durch Blödheit bewahrt. Mein Vater gibt seiner Familie schuld, von der er behauptet, daß sie die skandinavischen Unfähigkeits rekorde seit Leif Erikson innehätte. Während Erikson Neuschottland entdeckte, sei einer seiner Vorfahren – Arnulfssen hießen sie damals – im Öresund verschol len, einem fünfzehn Meilen breiten Tümpel zwischen Malmö und Kopenhagen, den ein Spaniel mit einer Ente im Maul mühelos überqueren könnte. Oft er zählte er von seinem Onkel Sven, der bis zu seinem achtzehnten Geburtstag nicht Ada-Ada winken konnte, oder seinem Urgroßvater Gunnar, der schließlich seinen Posten als Viborger Dorftrottel verlor, weil seine Arbeit zu wünschen übrig ließ, oder von Tante Minna, die mit fünfundzwanzig verkündete, sie habe Dänisch satt, es sei so schwer, und den Rest ihres 29
Lebens stumm zubrachte, nur gestikulierte, auf die Dinge zeigte und mißverstanden wurde. Es schien meinem Vater Spaß zu machen, die Arnolds herab zusetzen. Gleichzeitig war es eine Erleichterung, hatte man meine Mutter und Jimbob eine Weile von ihren Familien tönen hören. Wir saßen auf dem Bett, und er erklärte mir, was für ein Depp ich sei und was er dafür gäbe, wenn er eine freundliche, verständnisvolle Anstalt fände, die mich aufnähme, solange er bei der Marine sei. «Aber nun mal im Ernst. Sei nett zu deiner Mutter. Paß auf sie auf. Es gibt keine Südstaatler in Sagrado, mit denen sie Konversation treiben und Bridge spie len kann. Also sieh zu, daß das gut geht.» «Ist sie nicht gern da? Ihr wart vor dem Krieg fast jeden Sommer dort. Und sie hat sich nie beklagt.» Er begutachtete wieder die Spitze seiner Zigarre. «Ich aber. Sie ist vielleicht nicht ungern dort … viel leicht wird sie einfach kribbelig, sobald sie von hier fort ist. Überall hier im Süden, Natchez, Baton Rouge oder Savannah, überall kann sie auf dem Friedhof den Grabstein eines Devereaux oder Dab ney finden und fühlt sich sofort zuhause.» Ich nickte, aber wie man sich mit toten Verwand ten tröstet, blieb mir schleierhaft. Er warf einen Blick auf die Uhr. Das war ein schwerer, komplizierter Ausrüstungsgegenstand, den er sich zu seiner Ernen nung gekauft hatte. «Es wäre mir eine erhebliche Be ruhigung, wenn du jetzt in die Falle verschwändest. Wir haben morgen eine lange Fahrt vor uns.» Er 30
stand in der Flurtür. «Weißt du, bei dir bin ich mir immer noch nicht sicher. Du bist kräftig, aber du liest. Wird das Kunst oder Rugby?» «Ich habe zuviel gelesen. Als ich Corky heute abend küßte, hatte ich nichts als Hemingway im Kopf.» Mein Vater schüttelte den Kopf. «Dein Ururgroß vater Gunnar wäre stolz auf dich gewesen. Gute Nacht.» «Gute Nacht, Admiral.»
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3. Kapitel
Seit meinem zweiten Lebensjahr bekam ich jeden Sommer heftiges Fieber mit Ekzemen und Aus schlag. Mein Vater hielt es zwei Jahre lang aus, dann sagte er: «Verdammt nochmal, Ann, ich bringe Josh raus aus diesem Sumpf, bevor irgendein aufgeblasener Hautarzt ihn in die Lepraabteilung steckt. Er hat eine chronische Entzündung.» Er bekam viele Ratschläge von Freunden, ließ tonnenweise Literatur von der Handelskammer kommen, studierte Wetterkarten und befand endlich, es käme entweder Tucson oder Colorado Springs in Frage. Als ich vier war, fuhren wir im Sommer nach Westen, um uns die Städte anzusehen und uns zu entscheiden. Mein Vater rief Paolo Bertucci zu sich ins Büro und fragte ihn, ob er sich für ein paar Monate die Werftleitung zutrauen würde. «Willst du, daß wir weiter über den Kiel bauen, oder kann ich meine Idee ausprobieren und es mal vom Schornstein abwärts versuchen?» fragte Paolo. Dann fochten sie noch einen ihrer permanenten Streits darüber aus, ob nun Skan dinavier oder Italiener die nobleren Seefahrer gewesen wären und ob Columbus oder Erikson Amerika ent deckt hätte. Paolo meinte, die Drögköppe seien auf 32
der Suche nach Bier westlich gesegelt, während mein Vater behauptete, die Welschen hätten nur nach Spaghetti Ausschau gehalten. Sie kamen überein, daß Paolo die Werft für ein paar Monate übernehmen könnte. «Einen Moment», sagte Paolo, bevor mein Vater ging, «da ist noch eine Sache, die ich gerne vorher wissen möchte; ist das Deck oben und der Kiel unten oder andersrum?» Mein Vater verließ fluchtartig das Lokal und erzählte nachmittags mei ner Mutter, wenn sie von der Reise in den Westen zurückkämen, fänden sie sich wahrscheinlich am Bettelstab wieder. Sie solle sich lieber rechtzeitig mit der Kunst des Heimnähens, Strick- und Häkelarbei ten vertraut machen. Den ganzen Sommer fuhren wir im Südwesten herum. Ich erinnere mich nicht genau an die Fahrt, nur, daß Ekzem und Fieber verschwanden, sobald wir nach West Texas kamen. Mein Vater graste jede empfohlene Stadt gründlich ab, trug eine abfällige Bemerkung in seine Liste ein und fuhr weiter. Es war Ende August, als er den Ort fand, den er gesucht hatte; noch nie hatte er von ihm gehört. Wir waren zwei Tage in Albuquerque gewesen, der letzten größeren Stadt auf seiner Liste. Er war kurz vorm Verzweifeln. «Vielleicht wird etwas Neues für Joshs schreckliche Krankheit erfunden, Arsenta bletten oder ein Dehydrid. Vielleicht können wir im Sommer in Mobile bleiben.» «Ich habe die ganze Zeit dableiben wollen», sagte meine Mutter, «ich liebe Mobile. Was schadet schon 33
ein bißchen Hitze. Und Ekzem ist etwas, das alle kleinen Kinder bekommen. Er wird aus dem Alter herauswachsen. Dr. Du-Bose sagt, Jodtinktur sei immer noch die beste Behandlung.» Mitten im Ge spräch fing ich an zu heulen, weil ich mich an das Abblättern der verdorrten Haut nach drei Monaten Jodbehandlung an den Knien erinnerte. Damit hatte sich das Problem gelöst. Meine Mutter sah aus dem Fenster des alten schwarzen Studebakers, während wir durch Neu mexiko nach Norden fuhren. «Den ganzen Sommer habe ich nicht ein bißchen Grün gesehen, Frank, kein bißchen lebendiges Grün, seit wir über den Sabine River sind. Nur Staub.» Während der Fahrt tauchte sie Wattebäusche in Eau-de-Cologne und legte sie sich auf Puls und Augen. Viel gesehen hatte sie nicht. «Zugegeben, es war viel Wüste, aber wir sind auch durch schöne Gegenden gekommen. Vergiß nicht Estes Park und den Grand Canyon. Und schau dir doch Joshs Knie an.» Grund der ganzen Reise waren schließlich meine Knie. Jede Nacht wurden sie angesehen. Inzwischen gab es nichts mehr zu sehen. Es waren die ganz ge wöhnlichen Knie eines Vierjährigen. «Was hältst du davon, Josh, wärest du im Sommer gern hier irgend wo?» «Ich will die Bären sehen, Vati.» Das einzige, was ich von diesen achttausend Kilometern behalten habe, ist ein Bärenjunges, das hinter einer Tankstelle an 34
einen Pfahl gekettet war: Sehen Sie den wilden Grizzly. 20 Pfg. Er stand vor seiner leeren Wasserschale in der prallen Sonne. Als ich sie ihm auffüllte, machte er sich sofort darüber her. «Das tut mir leid, Hoß.» Er hatte sich auf der Reise angewöhnt, mich Hoß zu nennen. Das hatte er von einem Hirten. «Der Bär ist weit weg, in Williams, Arizona.» «Nein, Frank. In Marfa, in Texas», sagte meine Mutter. «Das war das fünfbeinige Kalb.» Durch end loses Steppengras, Fettholz, Palmlilien, Pferdeskelette, roten Staub und irreführende Schilder mit der Auf schrift Letzte Wasserstelle fuhren wir weiter nach Colorado. In unserem Wasserbehälter schmolz das Eis. Fei ner Staub wirbelte auf von den Rädern vor uns fah render Autos und legte sich auf unsere Windschutz scheibe. Von Zeit zu Zeit hielt mein Vater an und kippte etwas Wasser darüber, um wieder sehen zu können. Beim Schild Corazón Sagrado 86 km bog er ab; eine schmale Straße führte zu einer weitentfern ten Kette blauer Berge. «Das ist nicht unsere Strecke», sagte meine Mutter. «Zum Teufel mit unserer Strecke. Wenn wir da weiterfahren, trocknen wir aus und schrumpeln zu sammen wie Papiertüten. Wahrscheinlich ist es da oben kühler.» Die 86 km Abzweigung fuhren sie dann neun Jahre lang jeden Sommer. 1940 ließ der Staat sie pflastern, sonst änderte sich nichts. Zuerst lief die Straße weiter 35
durch Wüste, an Pferdeskeletten vorbei, dann, an ei nem Bach, einer wasserlosen Rinne, in der ein weiß köpfiger Stier verweste, stieg sie auf eine Hochebene. Da hatte niemand eine Schnellstraße draufgeklatscht. Den Schlangenlinien eines natürlichen Pfads folgend, wand sich die Straße zwischen schroffen roten Felsen durch enge Canons, die so dicht aneinander standen wie Tunnelwände. Oben, etwa dreihundert Meter höher, fanden wir statt der heißen, trocknen Wüsten luft reine Bergluft: kühl, frisch, sauber wie der Golfwind, eine Freude zu atmen. Vor uns erstreckte sich Weideland, das sanft vom Fuß der Bergkette anstieg – ein Teppich für eine Mil lion Schafe, die in einzelnen Herden – als ich größer war, habe ich es mal ausgerechnet – auf tausendfünf hundert Quadratkilometern verstreut waren. Als wir oben ankamen und mein Vater hielt, um den Motor abkühlen zu lassen, nahm ein Junge neben seiner Schafherde den breitkrempigen Hut ab und winkte uns damit zu. «Mein Gott!» sagte mein Vater. Die Straße lief grade durchs Weideland und endete drei ßig Kilometer weiter an einem undeutlichen grünen Punkt am Berghang. Da war nichts, was auf eine Stadt schließen ließ; keine Hochhäuser, ja überhaupt keine Häuser waren zu sehen. Der Junge, dunkelhäu tig, in einem Anzug seines Großvaters und mit einem breiten Filzhut, stand mitten in einer quirligen Schaf herde ein paar Schritte von der Straße entfernt. Mein Vater grüßte. «Geht es hier in die Stadt?» Mit seinem zerzaust aussehenden Hund kam der 36
Junge ans Auto. Er lächelte, der Hund legte sich und beobachtete. «Cómo?» Nach einem neuen Blick auf die Karte zeigte mein Vater auf die Berge: «Corazón Sagrado?» «Si, claro. Drraidzik Kilómetr.» Er lächelte wieder, pfiff, und sein Hund stand auf und lief zurück zur Herde. «Wundervoll», sagte meine Mutter, «kein Mensch spricht Englisch.» «Auf der Karte ist ein kleiner Kreis mit einem Punkt in der Mitte eingezeichnet. Das soll fünf- bis zehntausend Einwohner bedeuten. Ich möchte wetten, daß einer davon Englisch kann.» Am Nachmittag parkten wir auf einem grasbe wachsenen Platz im Zentrum von Corazón Sagrado, kauften Brathähnchen und Coca-Cola. Fürs Picknick breitete mein Vater eine Decke unter einen Baum aus, und wir beobachteten beim Essen eine Reihe holzbe ladener Esel. «In gewisser Weise ist es hier wie in Mobile», sagte mein Vater, «mehr Esel als Leute». Als wir das Huhn halb aufgegessen hatten, kam ein stämmiger Mann mit einer Armbinde auf uns zu: «Touristen?» «Ja», sagte mein Vater. «Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, das Sitzen oder Stehen auf dem Rasen der Plaza ist ver boten.» «Entschuldigen Sie», sagte mein Vater, «das haben wir nicht gewußt», und fing an einzusammeln. 37
«Nein, nein. Sie brauchen nicht weggehen. Guten Appetit. Ich muß es Ihnen nur sagen. Da steht keine Strafe drauf. Wäre ja noch schöner, Bürgermeister Chavez ißt hier jeden Tag. Ihr Sohn?» «Ja, das ist Joshua.» «Ah, Josué.» Er sagte Cho-ßué. «Ich bin Procopio Trujillo. Man nennt mich Chamaco. Ich bin der She riff.» Er nahm den Hut ab und gab uns die Hand. «Sie sind von der Küste?» «Aus Mobile.» «Kaufen Sie sich lieber einen großen Hut und ren nen Sie nicht so viel rum. Es gibt viele Leute, die denken, hier ist es schön kühl, dann laufen sie rum und schon kippen sie um. Hitzschlag. Bleiben Sie doch eine Weile, nach der Arbeit ist Fiesta. Und ver gessen Sie nicht, nicht aufs Gras setzen. Ich habe Sie gewarnt. Ich sage Ihnen das zwei-, dreimal, dann schlag ich zu. Okay?» Mein Vater besorgte uns Zimmer im Hotel zur Post. Später am Nachmittag ging er zu einem Grund stückmakler und kaufte neun Morgen Land am Ende des Camino Tuerto. Einäugige Straße heißt das. Der Makler bedauerte, daß es so teuer sei, aber vom Grundstück hätte man einen schönen Blick auf die Berge. Tausendachthundert Mark fand mein Vater nicht übertrieben; ob er ihm einen guten Bauunter nehmer empfehlen könnte? «Hier gibt es keine Bauunternehmer, Mr. Arnold. Aber es gibt Leute, die Häuser bauen können. Emp 38
fehlen kann ich Ihnen Amadeo Montoya. Er wohnt in Río Conejo, oben in den Bergen. Er baut Ihnen alles, was Sie wollen, allerdings nur, wenn Sie Lehmziegel nehmen. Fünf Lehmziegel kosten zehn Pfennig. Lei der sind sie voriges Jahr teurer geworden.» An diese Unterhaltungen erinnere ich mich nicht mehr. Später hat mir mein Vater davon erzählt. Im Hotel stritt er sich eine Woche lang mit meiner Mut ter. Sie fand Corazón Sagrado zu klein, zu einsam, zu abgeschnitten. Sie sprach kein Spanisch. Die Stadt war voller Katholiken. Wieso könnten wir nicht im Sommer nach Sea Island gehen wie alle anderen Leute auch? Die Straßen voller Eselskot. Bridgespie ler gäbe es überhaupt nicht. Die meisten Einwohner hatten dunkle Haut. Sie sagten, sie seien Spanier, aber wie sollte man sich darauf verlassen! Schließlich hatte er sie überredet, und bis zum Krieg fuhren wir jeden Sommeranfang von Mobile nach Corazón Sagrado, sobald der Golf die erste feuchte Hitze brachte. Dann überließ mein Vater Pa olo die Werft, bog vom Schnellweg 90 ab nach We sten und raste durch die drückende Hitze, bis er auf der Hochebene zwischen Schafen, Weideland und den blauen Bergen angekommen war. Und jedesmal fragte er: «Corazón Sagrado?» Er wußte, daß es der richtige Weg war, fragte aber trotzdem. «Si, claro. Drraidzik Kilometr.» Amadeo Montoya aus Río Conejo baute uns im er sten Jahr drei Räume aus Lehmziegeln und pflanzte Apfel- und Pfirsichbäume. Das Jahr darauf baute er 39
noch drei Räume, pflanzte Pappeln und grub Bewäs serungsgräben. Im Sommer arbeitete er mit meinem Vater zusammen. Sie schachteten aus und formten die klobigen Ziegel, verputzten, bauten die Kiefern balken ein, weißten und legten mexikanische Fliesen, die sie aus Juarez holten. Meine Mutter hatte das Haus in Mobile mit sämtlichem brüchigem antikem Kram vollgestopft, den sie hatte finden können; das hatte ihren Dekorationstrieb erschöpft, sie ließ mei nem Vater freie Hand. Er sorgte für robuste gezim merte Tische und Stühle, Navajo-Teppiche, bunte Bilder aus dem Südwesten – auf den meisten grasten Pferde – und zierliche Töpferarbeit der PuebloIndianer, durch die nichts sickerte als Wasser. Mit seinen dicken Wänden schien das Haus natürlich aus dem braunen Boden zu wachsen. Die beiden arbeiteten gut zusammen, mein Vater mittelgroß und flink wie ein Handballspieler, Ama deo wie ein rundköpfiger Bulle. Seine Baltimorer Zunge konnte mein Vater nie an Spanisch gewöhnen, doch nach einigen Jahren sprach er ganz gut den Sa gradoer Dialekt, der voller Englisch ist. Noch bevor das Haus fertig war, beim Anrühren der Lackfarbe, fragte er: «Que paso con la Farbe?» (Was ist mit der Farbe los?), und Amadeo: «Yo lo verdünnt mit Ter pentin.» Meine Knie verloren zunehmend an Bedeutung als Rechtfertigung für unser Sommerhaus. Sagrado war meinem Vater lieb geworden, eine Zufluchtsstätte vor den feuchten, lauten Problemen seiner Werft in 40
Mobile. Er sprach von Sagrado wie von der ver schwundenen Stadt der Inkas, aber ganz so aus der Welt war es nun auch nicht. Gelegentlich tauchten – meist verirrte – Touristen auf. Viele der Einwohner waren hierher gekommen, um in der dünnen, saube ren Luft Tuberkulose oder Asthma auszuheilen, und blieben, weil das Leben hier leicht und mühelos war. Ich fuhr jeden Sommer nach Sagrado, bis ich zehn wurde, da fing ich an, Spaß am Segeln zu finden. Von da an fuhren meine Eltern allein. Ich blieb mit Lacey im großen Haus zurück und aß und schlief grade genug, um fürs Segeln fit zu bleiben. In Sagrado hatte ich nichts mehr verloren. Es lag dreitausend Kilometer entfernt vom Salzwasser, und die Filme waren immer schon zwei Jahre alt.
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4. Kapitel
Vor sieben Jahren war ich das letzte Mal in Sagrado gewesen. Nichts hatte sich verändert. Niemand hatte dort eine Waffenfabrik oder eine Kaserne gebaut. Es wurde gemunkelt, daß sich irgendwie sowas in Los Alamos in den Jemez Bergen täte, wo früher eine ländliche Jungenschule gewesen war, aber wir hiel ten das für den üblichen Kokolores. «Da werden Vorderteile von Pferden hergestellt», meinte mein Vater, «und anschließend zum Zusammenbau nach Washington verfrachtet.» Die Straßen in Sagrado waren schmutziger, als ich sie in Erinnerung hatte, und die seltenen Autos waren noch seltener geworden. Während Mobile sich neu, roh und häßlich nach allen Richtungen ausbreitete, blieb Sagrado seit dreihundert Jahren durch seine Bedeu tungslosigkeit geschützt. Das ist das beste, um unge schoren durch den Krieg zu kommen: nicht groß, nicht stark und gut versteckt zu sein. Die Motoyas – Amadeo und seine Frau Excilda – wußten, daß wir kamen. Sie hatten das Haus neu mit Lehm verputzt, innen den feinen Staub feucht aufgewischt, und einen Strauß Kiefernzweige in den Türklopfer geklemmt. Ein Bienvenidos a los Arnold, aus Kieseln auf die Schwel len gelegt, vollendete die Begrüßungsvorbereitungen. 42
Sie erwarteten uns, aber zur Begrüßung erschienen sie nicht. Denn jedes Jahr handelte mein Vater den Vertrag von neuem mit ihnen aus, und davor pflegten sie erst ein paar Tage verstreichen zu lassen. In der Zeit mußte meine Mutter kochen und mein Vater die Bewässerungsarbeiten machen und das Ganze in Gang halten. Die Arbeit strengte an, und das Essen war schauderhaft. Wenn die Montoyas dann kamen, hatten wir ihre Hilfe bitter nötig. Diesen Sommer ließ mich mein Vater bei den Ver handlungen dabeisein. Von der Feilscherei, fand er, könnte ich mir einigen zähen Geschäftssinn abgucken. Das begann damit, daß er unter dem portal im Freien den Tisch mit rotem Wachstuch deckte, Aschbecher und Lucky Strikes verteilte und eine Flasche aufmachte: ,La Voragine, süßer kalifornischer Muskatwein, eine Familientradition für Feinschmecker seit 1934’. Am Nachmittag des dritten Tags erschienen Ama deo und Excilda in ihrem Lastwagen. Es gab eine überwältigende Begrüßung. Ich war casi una yarda (fast einen Meter) gewachsen, meine Mutter mas bella que antes (schöner denn je) und mein Vater mas gordito y rico que nunca. (so reich und wohlbeleibt wie nie zuvor) – bezüglich der Verhandlungen eine gewitzte Eröffnung. Excilda ging mit meiner Mutter ins Haus, um ihre Neuigkeiten über Vettern, Nichten und Enkel loszu werden. Gewöhnlich liebte meine Mutter Familienklatsch. Sie selbst kam aus einer vielköpfigen Durch schnittsfamilie, die, wie die Veröffentlichung der 43
Tagebücher ihrer Urgroßmutter durch die University of Alabama Press ans Licht brachte, wegen ihres Hangs zu Drückebergerei und Verführung Minder jähriger einen gewissen Ruf genoß. Doch gedachte sie ihrer stets als Hort südlicher Lebensart. Excildas Plausch aber langweilte sie. Nie gab es da Enkel oder Vettern namens Ashley oder Lucinda, nur Osmundos, Guadalupes, Alfonsos und Violas, und immer litten sie an Durchfall. Mein Vater, Amadeo und ich saßen indessen am Walnußtisch, und die beiden Männer gingen der Fla sche zu Leibe. «Wie ist es Ihnen ergangen, Amadeo?» Das war genau die falsche Frage. «Oh, Mr. Arnold! Sie erinnern sich noch an die Kälte zu Epiphanias? Ungefähr eine Woche lang hat ten wir hier zehn, elf Grad minus. Die Indianer konn ten nicht mal die Wassergräben öffnen, weil das Wehr eingefroren war.» «In Mobile war es schön warm im Januar. Sie hät ten mir das schreiben sollen. Da unten gibt es keinen Wetterbericht von Sagrado.» «Die Kälte hat Ihrem Haus aber nicht geschadet, abgesehen von ein paar zersprungenen Fenstern auf der Ostseite. Da war etwas Wasser unter den Putz gekommen und gefroren. Aber oben in …» «Wie viele Fensterscheiben?» «Ich weiß es nicht mehr. Fünf oder sechs. Roybai hat mir eine Quittung fürs Glas gegeben. Sie muß im Laster liegen. Ich kann sie sofort holen.» 44
«Das machen wir später.» «Und oben in Río Conejo hatten wir diesen chin gao-Wind direkt aus Texas. Zwei Kälber sind dabei draufgegangen. Das wären gute Kühe geworden.» «Wo war der Junge aus Archuleta, der im Winter Ihr Vieh hütet? Treibt er die Tiere nicht in den Stall?» «Sollte er, Mr. Arnold, da haben Sie recht, aber der cabron war verschwunden. Ich glaube, er hat ge heiratet.» «Geheiratet! Er ist zwölf!» «Nein, Sie denken an Epifanio. Epifanio ist zu sei nem Onkel in Arroyo Coronado gegangen. Dies war sein Bruder Wilfredo, er ist ungefähr siebzehn. Er ist einfach verschwunden und hat sich Arbeit in der Parkgärtnerei drüben in Ute Mesa gesucht und sein Mädchen mitgenommen. Nur wegen dem chingadero, sonst hatte ich keine zwei Kälber verloren.» «Sie versuchen doch nicht, mir die zwei toten Kälber anzuhängen? Habe ich nicht gesagt, Sie brau chen im Winter eine Hilfe da oben? Ich hatte Ihnen auch angeboten, den halben Lohn zu bezahlen.» «Sicher, Mr. Arnold. Ich sage auch nicht, daß es Ihre Schuld ist. Was können Sie schon tun, wenn in Río Conejo was schief geht, und Sie sitzen da in Alabama am Strand und schaun den Segeln in der weichen Brise …» «Amadeo, möchten Sie noch ein Glas Wein? Ich trinke gerne noch eins.» «Un traguito, no más (nur einen kleinen Schluck).» 45
Sie tranken beide noch ein Glas Wein, rühmten seine weiche Geschmacksfülle und bereiteten sich im stillen auf die nächste Runde vor. «Was haben Sie hier für einen schönen Garten, Mr. Arnold.» «Danke. Er ist größtenteils Ihr Werk.» «Ah, naja, ich bin kein Gärtner. Der Mann, dem alles unter den Händen blüht, ist mein Bruder Este ban. Ich klatsche doch nur eine Ladung Dünger auf die Pflanzen und bete um etwas Regen im April. Mehr nicht.» «Ein bißchen Regen im April kann nie schaden.» «Ein Geschenk. Eine wahre Gottesgabe, denn wann regnet es schon im April?» «Und dieses Jahr, hat es geregnet?» «Kein bißchen. Keinen Tropfen. Nur Wind und Staub. Hätten Sie diesen chingao-Staub gesehen, Sie hätten gemeint, Sie wären in Texas. Den Geschmack davon habe ich noch im Mund.» «Die Rosenstöcke sehen aber trotz des Staubs sehr gut aus. Im Juli sollten sie herrlich aufblühen. Haben Sie sie gegossen?» «Aber natürlich. Manchmal war Wasser im Gra ben. Aber eigentlich war es der Dünger.» «Dünger?» «Ja. Ich habe den Rosen viel Dünger gegeben. Cruz Gutierez, Sie wissen doch, Excildas Schwager, der hat so viele Pferde.» «Wie viel Dünger?» «Vier Wagenladungen?» 46
«Soll das eine Frage sein? Ich saß in Alabama am Strand und sah den Segeln nach.» «Sagen wir zwei Ladungen. Erstklassiger Pferde dung. Frisch. Ich mußte mir eine bandana vors Ge sicht binden.» «Amadeo, wir haben den Wein noch nicht mal an gerührt. Davon, daß wir hier sitzen und ihn ansehen, wird er nur sauer.» «Ein Gläschen, nada mas. Gracias.» «Salud.» «Salud, patron.» «Nennen Sie mich doch nicht patron. Ich bin nicht Ihr patron. Die Zeiten sind gottseidank endgültig vorbei.» «Gottseidank.» Sie tranken noch ein Glas Muskatel und fanden, ein paar Minuten in der Sonne hätte einiges vom Schmutz darin herausgeholt. «Excilda erzählt meiner Frau von den neuen Enkel kindern in Conejo. Wie viele sind es?» «Vier diesen Winter. Drei leben. Margaritas kleine Tochter ist gestorben. Sie hieß Consuelo.» «Das ist ja furchtbar. Wie alt war sie?» «Zweieinhalb Monate. Ein hübsches blondes klei nes Mädchen. Sie sah fast aus wie eine gringa. Im April ist sie gestorben.» «Was hat sie gehabt?» «Dünnpfiff. Mein Gott, Margarita hatte allen Kin dern gesagt, sie sollen das Wasser abkochen, bevor das Baby es bekommt. Aber jemand muß es verges 47
sen haben. Wahrscheinlich Francisco, das Rind von pendejo, obwohl er behauptet, er sei es nicht gewe sen.» «Hatten Sie einen Arzt?» «Natürlich. Den alten Anchondo. Helfen konnte er ihr nicht, aber die Rechnung schicken, das konnte er.» «Ich glaube, Ihr Glas ist leer, Amadeo, darf ich Ih nen noch etwas …» «Nein, vielen Dank, im Moment nicht.» Die Vorverhandlungen waren vorbei. «Möchten Sie und Excilda diesen Sommer wieder hier arbeiten?» Amadeo dachte ausgiebig nach und schien im Zweifel. «Gott, ich weiß nicht, Mr. Arnold. Roybai hat mir Arbeit fürs ganze Jahr angeboten. Ganztags. Ich soll seinen Laster fahren. Ohne den Bürokram, nur den Wagen fahren.» «Roybai hat nie besonders gut gezahlt.» «Nein, gut, aber er hat mir für den Anfang hundert Mark die Woche angeboten, Fünftagewoche, sonn abends halbtags, und abends kann ich mit dem Wa gen nach Hause fahren, Benzin zahlt er.» «Hundert Mark! Sie wissen doch, daß Roybai noch nie im Leben jemand hundert Mark die Woche gezahlt hat. Nicht mal seinem Trottel von Vetter, der keine Kiefer von Mahagoni unterscheiden kann.» «Dem alten Bernabe zahlt er hundertzehn inzwi schen. In Molybdenum bekäme ich hundertsiebzig als Hilfsarbeiter.» 48
«Die Grube ist mehr als hundertfünfzig Kilometer von hier entfernt. Wollen Sie das zweimal täglich fahren?» «Nein, Mr. Arnold, das will ich nicht. Mann, aber hundertsiebzig Mark ist ein Batzen Geld.» «Was halten Sie von neunzig Mark für Sie und vierzig für Excilda? Das Benzin von hier nach Conejo bezahle ich. Sonntags frei. Sie können meine Benzin gutscheine benutzen.» «Ich weiß nicht. Excilda sagt, sie müßte hier viel anspruchsvoller kochen als zuhause. Das strengt sie an.» «Hundert für Sie, fünfzig für Excilda, aber dann gibt es mindestens einmal im Monat cabrito en sangre, und zwar von einem Ihrer eigenen Zicklein, und daß mir das Zicklein ja nicht älter als zwei Monate ist.» «Hundert plus fünfzig, das macht nur hundertfünf zig Mark die Woche. In Molybdenum …» «Hundertundfünfzig, mehr kann ich dies Jahr nicht bezahlen. Ich kann immer noch mit den Maldonados reden.» «Meinen Sie nicht», sagte Amadeo nach einer Weile Nachdenken, «daß Ihre Frau und Excilda den guten Wein probieren möchten, bevor er zu Essig wird. Das tut einem ja leid, wenn der schöne Wein verkommt.» Abends fragte mich mein Vater, ob ich mir etwas harten Geschäftssinn abgeguckt hätte. «Ja», sagte ich, «ich glaube schon.» Aber sicher war ich mir nicht. 49
Es war ein schöner Sommer, Juni, Juli und August 1944. Meine Mutter hatte viele Bridgespieler im Hotel zur Post gefunden und fast vergessen, daß sie irgendwo in den Bergen in einer Stadt voller Katho liken und gefährlicher Leute wohnte, die, wenn auch nicht offen, Anhänger Lincolns zu sein schienen. Mein Vater sollte Ende August seinen Dienst antre ten. Er sagte, er nähme seine Ernennung ernst. «Ich bin zu dick», fand er kurz nach unserer Ankunft. «Irgendwelche grünen Knaben werden mich sofort mein Fett abrobben lassen. Ich muß den Speck unbe dingt runter kriegen.» Wir ritten oder wanderten fast täglich. Schwim men konnten wir nicht, denn in Sagrado gab es kein Schwimmbecken. Wasser war zu kostbar. Einmal zelteten wir zwei Wochen in den Cola de Vaca Peaks in den Bergen; die gesamte Ausrüstung schleppten wir auf dem Rücken mit. Für einen alten Mann (er war einundvierzig) hielt er sich ganz wacker. Ich hatte immer noch nicht begriffen, wieso er in seinem Alter noch unbedingt zur Marine wollte. Weder meine Mutter noch Paolo Bertucci konnten es verstehen. Und das Verteidigungsministerium hielt auch nichts davon. Man hatte ihn wissen lassen, daß es seine Pflicht gegenüber dem Vaterland sei, in Mobile zu bleiben und Landungsboote und kleine, schnelle Tanker mit geringem Tiefgang zu bauen. Aber er war von Hinz zu Kunz gelaufen, hatte alle möglichen Leute angefahren, Beamte bedroht, bis er schließlich den zuständigen Minister in Washington – einen 50
Menschen namens Knox – anrief und seine Ernen nung bekam, als gerade die Normandieoffensive, an der mehr als hundert seiner Landungsboote teilnah men, angelaufen war. «Siehst du», sagte er eines Abends in Mobile zu Paolo, der gerade vorbeige kommen war, um sich mit ihm zu streiten, «der Rest des Kriegs findet an Land statt. Meine Schiffe wer den nicht mehr gebraucht. Die Werft kann wieder anfangen, Krabbendampfer und Schrottschuten zu bauen. Damit wirst du allein fertig.» «Du kommst mir vor wie ein kleiner Junge, der Matrose spielen will.» «Richtig. Das bin ich. Und versuche nicht, mich davon abzubringen, sonst setze ich dir einen Sechs pfünder in die Kommandobrücke, du Null.» Nachdem er mich so lange in den Bergen herumge hetzt hatte, daß meine Nase jeden Nachmittag anfing zu bluten, erklärte er im August, nun sei er der Uni form würdig. An seinem letzten Tag zuhause opferte meine Mutter ihre Bridgerunde in der Post. Excilda briet ein Lamm, vor dem Essen tranken wir ein Glas Harvey’s Bristol Cream, und mein Vater öffnete einen 34er Chambertin, der wahrscheinlich nie vorher zu Ziegenfleisch getrunken worden war. Wir stießen auf den Präsidenten an und auf Lord Nelson. Nach dem Essen rief mein Vater Paolo Bertucci in Mobile an. «Papa schwimmt auf den sieben Meeren. Alles in Ordnung bei euch, Papagallo?» «Ich glaube ja. Wir spucken Schiffe aus wie ein Maschinengewehr. Ich schätze, so an die fünfund 51
zwanzig Prozent schwimmen sogar, allerdings nicht alle mit der richtigen Seite nach oben.» «Das ist ein achtbarer Durchschnitt für eine Ge nueser Landratte.» «Ich habe da noch etwas. Einige von den Männern haben mich gefragt, und ich hielt es für richtig, mich bei dir zu erkundigen. Wenn man auf dem hinteren Teil des Schiffs steht und auf den vorderen blickt, wie nennt man dann die rechte Seite? Steuerbord oder Backbord?» «Die rechte Seite heißt Mittschiff, die linke Vor schiff. Ich wußte doch, daß wir Sprachschwierigkeiten kriegen würden, sobald ein Spaghetti seine Finger im Spiel hat. Vielleicht sollte ich auf meine Ernennung verzichten und zurückkommen.» «Wir werden es schon ohne dich schaffen, Frank. Du hast doch nur im Weg gestanden. Ich spare jetzt schon jeden Monat ein Vermögen dadurch, daß wir Werg statt Nieten benutzen.» «In der Zeitung steht, Landungsboote seien am er sten Tag der Offensive mitten im Kanal versunken. Weißt du zufällig, wer die gebaut hat?» «Das können nicht unsere gewesen sein. Unsere sinken nicht. Sie kentern. Also Hals- und Beinbruch, Olaf. Und Grüße an die Familie. Sag Josh, wir hätten immer Arbeit für ihn als Schiffsjunge.» «Ich verstehe nicht, wieso du dir diesen Ton von ihm bieten läßt, Frank», sagte meine Mutter, als er die Unterhaltung berichtete. «Noch vor ein paar Jahren war er Tischler oder irgend so was.» 52
«Die Respektsperson kehre ich später wieder her vor. Im Moment baut Paolo Schiffe und beschäftigt fünfhundert Arbeiter. Sobald mir an Ehrerbietigkeit liegt, stelle ich einen Butler als Direktor ein.» Am nächsten Morgen fuhr er ab. Er trug seine neue Sonnenbrille. «Lern Spanisch, du Affe, und sei nett zu den Leuten. Gewinn dir Freunde. Geh von Zeit zu Zeit zum Friseur. Lutsch nicht am Daumen. Und mach dei ner Mutter keine Scherereien. Eine kleine Frechheit trägt sie Ewigkeiten nach.» Er setzte seinen Koffer auf der Kiesauffahrt ab, blickte sich um und seufzte: «Lieber Gott, wie ich dieses Land vermissen werde.» «Ich werde mich bemühen, es nicht in Brand zu stecken.» «Auf Wiedersehen, Hoss.» «Auf Wiedersehen.» Amadeo wartete im Wagen, um ihn den langen Weg zur Bahn zu fahren. Er stieg ein. Ich ging in die Küche, wo Excilda gerade Essen machte. «Kann ich ein burrito haben?» «Sag das auf Spanisch.» «Puedo yo un burrito haben?» «So wird euch das wohl in Mobile in der Schule beigebracht, he? Dein Vater sollte sein Geld zurück kriegen.» «Dame un burrito pues.»
«Por favor?»
«Por favor.»
Excilda gab mir ein burrito. Man muß sich alles
verdienen. 53
5. Kapitel
Am Abend vor Schulanfang machte ich zehn Liege stütze und war erledigt. Da ist so ein Riesenhimmel in Sagrado und einfach keine Luft drin. Bei der Namensverlesung am nächsten Tag achtete ich darauf, ob mir einer davon bekannt vorkäme. Der einzige, der mir irgend etwas sagte, war Stenopolous, von dem ich häufig im Conquistador, der Sagradoer Zeitung, las. Er schien der einzige Frauenarzt hier zu sein und war ständig auf der Walz. Wenn die Lokal nachrichten dünn waren, und dünn waren sie immer, brachte das Blatt eine Babygeschichte: Sie kreißte im Ratssaal oder Drama im Güterwagen, Geburt auf Melonenhaufen. In der Pause stellte ich mich William Stenopolous jr. vor. Er war untersetzt, hatte braunes Haar und sah einem Griechen so ähnlich wie Erich der Rote. «Ich heiße Steenie.» Wir redeten über Sport. Doch, an der Helen-De-Crispin-Schule gäbe es eine Leichtathletik mannschaft, trotz des Luftmangels. «Wir haben uns daran gewöhnt. Sieh dir mal Swenson an.» Er zeigte über den Hof auf einen gro ßen, aus allen Nähten platzenden Bullen mitten in einem Haufen Mädchen. «Swenson ist halbverblödet und ein völliger Scheißer, aber er hat einen Meter 54
fünfzig Brustumfang. Nichts als Lungen ist er, wie die peruanischen Indianer, die dir einen Flügel die Anden rauf und runtertragen.» «Er scheint ganz gut im Schuß.» «Oh, er hat eine gute Muskulatur drauf. Und ein paar vorzeitliche Knochen, an denen das Zeug hängt. Kalküberschuß, wie alle Skandinavier. Neulich wollte ich ihm mit dem Lochzirkel den Schädel messen, da hat er mit Prügel gedroht. Ich glaube, sein Kopf ist massiv Knochen bis auf eine kleine Höhlung im Zen trum, grade groß genug für seine Schleimdrüse.» «Ich will mich nicht gleich zu Anfang in die Nesseln setzen, aber mein Vater ist astreiner Skandinavier bis zurück zu Sven Gabelbart. Wir sind nicht alle Idio ten.» «Du mußt nicht alles wörtlich nehmen. Ich habe die Mundsagradoitis.» In Sagrado hieß Sagradoitis akuter Durchfall. «Und es gibt Ausnahmen unter den Skandinaviern. Einmal habe ich sogar gehört, daß Ibsen Norweger sein soll. Ich habe da meine Zweifel, aber so heißt es.» Er sah mich forschend an. «Bist du aus dem Süden?» «Aus Mobile.» «Wir haben hier einen Neger in der zehnten Klasse. Willst du den lynchen?» «Nicht, solange er nicht meine Schwester heiratet. Und weiß, wo er hingehört.» «Und dich Boß nennt?» «Na klar.» «Schon gut. Wir wollen hier keinen Rassenkrawall. 55
Und nenn ihn ja nicht Neger. Er hält sich für einen Anglo. In Sagrado kennen wir nur drei Sorten Men schen: Anglos, Indianer und Eingeborene. Halt dich an die Kategorien, dann kann nichts schiefgehen. Hast du was dagegen, daß deine Schwester einen Anglo heiratet?» «Um ehrlich zu sein, ich habe nicht mal eine Schwester.» «Paß auf, siehst du das Mädchen da bei der Pappel? Die mit dem Holz vorm Haus?» Und wie. Die hätte man nirgendwo übersehen können. «Und was ist die, deiner Meinung nach?» «Sie sieht wie eine Kreolin aus.» «Arnold, du hast noch einen Haufen Arbeit vor dir. Sie ist Eingeborene. Viola Lopez. Sie spricht Spanisch und Englisch und ist katholisch. Nenn sie nicht aus Versehen Mexikanerin. Ihr Bruder bringt dich um. Wenn du sie Kreolin nennst, weiß sie über haupt nicht mehr, woran sie ist, und glaubt, du hiel test sie für eine Mulattin – das heißt halb dunkelhäu tiger Anglo –, dann bringt dich ihr Bruder genauso um. Am besten betrachtest du sie als Eingeborene, es sei denn im Vergleich mit Indianern. Dann ist sie eine Weiße. Kapiert?» «Ich glaube ja. Aber wie war das mit dem Neger?» «Das habe ich dir doch schon erklärt. Er ist Anglo, es sei denn verglichen mit einem Indianer. Dann ist der Neger ein Weißer. Zugegeben, für einen Weißen ist er reichlich schwarz, aber so läuft der Hase hier. Entweder du eignest dir die kleinen Eigenheiten des 56
Volkscharakters an oder du bist am Arsch. Und falls du etwas Texanerblut in dir hast, nimmst du Wörter wie Spaghetti und Kaffee besser aus dem Vokabular. Wenn es hier überhaupt eine Minderheit gibt, dann die Anglos. Übrigens, kannst du Judo? Ich habe in einer Kommandoklasse diesen Sommer Judo unter richtet.» «Bist du dafür nicht etwas zu jung! Du siehst nicht älter aus als ich.» «Uncle Sam nimmt seine Talente, wo er sie findet. Schließlich ist Krieg. Paß auf, du bist der Kraut, auch Boche genannt, und kommst mit dem Messer auf mich los.» Steenie zeigte mir ein paar Judogriffe, die ich vor einem Jahr oder so in Life gesehen hatte. «Das lernst du schon», sagte er hinterher. «Sollte der Krieg für uns schiefgehen und eine Invasion kommen, werden solche Kenntnisse ganz brauchbar sein. Mein Plan ist: Rückzug in die Berge und aus halten wie Michailovitsch, dabei den Feind langsam zermürben. Wenn es hier nur eine Zugstrecke gäbe. Ich weiß, wie man Geleise sprengt. Verstehst du was von Schiffen?» «Das ist ungefähr so ziemlich das einzige, wovon ich etwas verstehe.» «Weißt du, wie man eins versenkt?» «Das kann jeder. Schwer zu lernen ist, daß es schwimmen bleibt. Mein Vater hat mir mal gesagt, ich hätte mehr Jollen gekentert als irgend jemand meiner Alters- und Gewichtsklasse. Ich hielte den Olympiarekord in schlechter Schiffsführung.» 57
«Schlechte Schiffsführung oder nicht, das wird dir hier nichts nützen, das ist der Ärger. Schade um all das ungenutzte militärische Talent. Was Krieg an geht, ist Sagrado einfach das letzte. Oben in La Ci ma» – er zeigte auf die Berge – «gibt es Leute, die wissen nicht mal, daß Krieg ist. Der letzte, von dem sie was gehört haben, war die Versenkung der Spani schen Armada. Zweiter Punischer war das, oder?» «Ich glaube, die Rosenkriege, aber ich habe es auch nicht mehr genau in Erinnerung.» «Was ist dein alter Herr von Beruf? Meiner hat ei nen Bordellring in Juarez. Diesen Sommer habe ich ihm beim Aussuchen der Mädchen geholfen. An strengende Arbeit, das kann ich dir sagen.» «Ich dachte, du hättest Judo unterrichtet.» «Das war am Anfang des Sommers. Nein, im Ernst, was ist er von Beruf?» «Im Moment Marineoffizier. Vorher hatte er eine Werft. Er hat die ,Serapis’, die ,Bon Homme Ri chard’ und die ,Golden Hind’ gebaut.» Steenie ließ sich das durch den Kopf gehen. «Du willst mich wohl für dumm verkaufen? Das ist ge nau, was ich verdient habe.» Am ersten Tag aß ich mit Parker Holmes zusam men zu Mittag. Wir standen hinter der Schule an einer Lehmwand und bedienten uns aus unseren Essensdosen. Excilda hatte meine unter Aufsicht meiner Mutter gepackt: ein zusammengeklapptes frisches Schinkenbrot ohne Senf. Parker war klapperdürr und für die feineren Geräusche hatte er abstehende Ohren. 58
Er aß etwas, von dem er behauptete, es sei Elchbröt chen, ,ein Bruststück’. Sein Vater war Förster und brachte eine Menge beschlagnahmter Wildererbeute mit nach Hause. «Diese Gegend», sagte er, sein Brötchen zermal mend, «wimmelt von Wild. Wimmelt. Elch wie das hier, Eselshirsch, Bär, Antilope, Hasen und Kanin chen, Rauhfußhühner, Ringeltauben, Schnepfen, Ral len, Teichhühner, gallopavo merriami und Fasanen. Dazu noch die Nichteßbaren: verwilderte Hunde, Katzen, Rabengeier, Biber und Skunk.» Er hob die Arme, um eine unendliche Fauna be greiflich zu machen. «Ein Zoologe würde wahnsin nig in der Gegend. Wahnsinnig.» Nachmittags, nach der unbeholfenen Begrüßungsrede des Direktors, eines kleinen, stieläugigen Mannes namens Alexander, der übers Mikrophonkabel stol perte und schwer stürzte, fand ich Steenie auf dem staubigen Lehmschulhof. Er sprach mit einem mittel großen, schlanken, schwarzhaarigen Mädchen mit heller Haut. Als ich dazukam, schien er gerade inten siv ihr Gesicht zu inspizieren. «Makellos», sagte das Mädchen. «Siehst du? Es hat genützt.» «Trotzdem bestehe ich darauf, daß Akne psycho logisch motiviert ist und nicht von Schokoladenpud ding kommt. Davon könntest du sechs am Tag essen und hättest trotzdem nicht einen Pickel. Du kasteist dich grundlos.» «Na und das?» Sie drehte sich um und zog ihren Rock fest um den Hintern. «Der hat diesen Sommer 59
kein Gramm Fett angesetzt. Hart wie Stein. Hände weg. Ich gebe dir mein Ehrenwort.» Sie sah mich und lachte. «Was meinst du, ist das nicht ein schöner Hintern?» «Dreh dich um, Marcia, und laß mich dein Vorder teil zuerst vorstellen. Marcia Davidson, Jericho Ar nold. Marcias alter Herr ist anglikanischer Pfarrer an der St.-Thomas-Kirche. Du kannst aber trotzdem normal reden.» «Joshua. In Jericho habe ich nur die Schlacht ge schlagen.» «Eine hübsche kleine Narbe hast du da», sagte sie, «oder hörst du das nicht gern?» Sie hatte Schatten unter den Augen wie Fleder mäuse. «Hast du die Trauerränder um die Augen vielleicht vom vorlauten Fragen?» «Nein. Die sind biologisch bedingt. Seit ich zwölf bin, habe ich die jeden Monat. Steenie hat mir eine Krampfbehandlung gegeben.» «Hoffentlich nützt sie auch.» «Die Krämpfe sind besser geworden, aber ich habe immer noch das komische Gefühl.» Ich wußte, daß ich langsam rot wurde und das ko mische Gefühl selbst bekam. «Können wir nicht über irgend was anderes re den?» «Bitte, wenn es dich stört. Aber Steenie ist mein medizinischer Berater.» Sie sagte, es hätte sie ge freut, mich kennenzulernen, gab mir die Hand und 60
ging. Ihre Hand war kühl und trocken und überhaupt nicht komisch. «Nettes Mädchen. Sie ist mein einziger Patient. Bei den Untersuchungen zieht sie natürlich eine ge wisse Grenze … Dreh dich doch mal um und winkle deinen Arm an, als trügst du ein Gewehr über der Schulter. Gewöhnlich verwende ich für den Trick einen Meter Klaviersaite, wenn du wirklich ein Kraut wärst, aber ich will dich mal billig wegkommen las sen.» Ich drehte mich um und winkelte den Arm an. Er schnappte mir sein zusammengerolltes Taschentuch um den Hals und versicherte, ich sei ein toter Kraut. Als es zur letzten Stunde klingelte, schlossen Steenie und ich uns der Herde an und wühlten uns durch die Doppeltür. Es gab das übliche Geschiebe, Gekicher und Geschnatter. In Point Clear war das Benehmen auch nicht höfischer gewesen. Doch mit ten in dem munteren Quirl stieß mir jemand den El lenbogen in die Rippen, und zwar absichtlich und schmerzhaft. Ich musterte die unbekannten Gesichter. Die mei sten waren staubbedeckt von der Pause auf dem kah len Schulhof. Point Clear lag inmitten üppiger Ra senflächen. Ein paar Gesichter erkannte ich, Steenie, Parker, Cloyds, die beiden gleichaussehenden weiß blonden Mädchen, und Viola Lopez, die Steenie mir wegen ihres enormen, frühreifen Busens gezeigt hatte. Von denen hatte mich niemand in die Seite gestoßen. Links vor mir loderte aus der Flut rosiger und 61
braungebrannter Gesichter die gemeinste Fresse, die ich je gesehen hatte, ein braunes plattes Gesicht mit hitzigen schwarzen Augen und einem so dünnen, lip penlosen, geraden Mund wie der Schlitz eines Spar schweins. Üppiges, glänzendes, langes, sorgfältig gekämmtes schwarzes Haar umrahmte es. Seitlich fiel es schwungvoll halb über die Ohren, der Nacken sah aus wie ein Hühnerpopo. Die Koteletten gingen ihm bis fast aufs Kinn. Aber jetzt hatten wir uns schon durch die Tür ge wühlt und ergossen uns in einem Durcheinander den Korridor hinunter. Die Fratze trabte freundlich, aber beharrlich mit der Schulter drängend neben mir her. «Scheißtunte, dich mach ich satt», sagte er höflich. Ich vergaß alles, was ich gelernt hatte, und holte ungefähr zwei Meter aus. Der Schlag traf ihn am Backenknochen. Sein Kopf ruckte vielleicht einen Zentimeter zu rück, und ein kleiner roter Fleck erschien auf seiner dunkel verbrannten Haut. Er verzog den Mund, was schöne Zähne zum Vorschein brachte, und sagte langsam, lächelnd: «Du schlägst wie ein Mädchen. Dir schneide ich die Eier ab.» Er hielt mir seinen er hobenen Mittelfinger unter die Nase, «Toma, pendejo», und verschwand in Richtung Musikraum. Seine langen Arme pendelten gegen die Oberschenkel. Mir zitterten die Knie, und ich bekam nur mühsam Luft, während ich ihm in die Klasse folgte. Ich fragte mich, ob ich recht gehört hatte. Steenie wartete an der Tür. 62
«Halte mich bitte nicht für grausam, aber läßt du mich die Autopsie vornehmen? Ich hatte noch nie eine echte Leiche unterm Messer, und ich möchte doch wirklich wissen, ob dein Hirn so klein ist, wie ich vermute.» «Hier in der Schule habe ich mich wohl schon gleich zu Anfang in die Nesseln gesetzt.» «Sagen wir lieber, du hast gerade Selbstmord begangen. Mußte das Chango sein? Du bist wohl lebensmüde.» «Chango?» «Maximiliano Lopez. Chango ist ein Spitzname. Aber rede ihn ja nicht damit an. Nein, du kannst ihn ruhig Chango nennen. Du stirbst sowieso. Chango heißt Affe. Sind dir seine Arme aufgefallen?» «Ja, lang sind sie.» «Das ist nicht alles. Kräftig sind sie auch. Ich schätze, mindestens drei von vierundzwanzig Stunden hängt er baumelnd an einem Ast. Manchmal soll er an einem Arm hängen und mit dem andern Bananen pflücken.» Steenie klopfte mir mitfühlend auf die Schulter und seufzte. «Ich glaube, du hast noch nicht genug Judo gelernt, um dich selbst verteidigen zu können.» «Was soll das? Um ein Haar hätte er mir die Rip pen gebrochen, als wir reinkamen.» «Hast du vielleicht seiner Schwester zufällig auf die Titten gestarrt? Das ist natürlich ganz normal. Ich habe das auch mal gemacht und bin mit einem abge brochenen Schneidezahn davongekommen.» 63
Eine kleine blasse Frau mit blonden Haaren und dicker Brille kam aus dem Musiksaal und sah uns an. Sie stemmte die Hände in die Seite. «Kommt ihr jetzt sofort rein oder muß ich es Mr. Alexander sagen? Ihr habt die Wahl.» Ein großer Klumpen Eingeborener, Chango an der Spitze, begleitete das Singen mit monotonem Gegröl. Die Lehrerin spielte dazu auf einem winzigen zer kratzten, verstimmten Flügel. Sie unterbrach nicht ein Mal, um die Kunst gegen die ohrenbetäubendsten Ausfälle zu schützen. Changos Mannschaft sang laut auf einem Ton herum und bastelte den Text dazu. Nebenher ließen sie unter sich ein Aktmagazin rumgehen. Einer von Changos Freunden, o-beinig, schie lend, Pickel im Genick, kroch auf Händen und Füßen an die Stelle unter dem Flügel, von der aus er den besten Blick unter Miß Rudds Rock hatte. Niemand beachtete ihn. Sie ließ ihm ruhig eine Minute die Aussicht, dann nahm sie den rechten Fuß vom Dämpfer und trat ihm sauber vors Kinn, daß sein Kopf hart gegen den Flügelboden knallte. Mit vagem Kreuzblick kroch er wieder raus und kehrte unter dem röhrenden Gelächter von Changos Bande auf seinen Platz zurück. Niemand achtete auf die Szene, und ich hielt sie für täglich Brot. Zum Schluß des zunehmend schauerlichen Ge sangs rief Miß Rudd: «Kampflied, zusammen! Aus voller Brust!» Wir standen auf und sangen: ,Ein blü hend Bursch bin ich’. Ich konnte dem Text nicht so leicht folgen, denn ich saß dicht neben Chango und 64
seinen Flüstertüten, deren Version folgendermaßen ging: «Chinga chinga oooh chinga.» Als wir aus der Klasse gingen, trat mir Chango das Knie derartig in den Schwanzknochen, daß mir fast die Beine weg sackten. «Du wirst lustig aussehen mit deinem abge schnittenen chorizo.» Steenie begleitete mich eine Weile den langen duf tenden Hügel zum Chamino Tuerto hinauf nach Hause. «Du solltest dir lieber eine Pistole beschaffen. Das wird Chango natürlich nicht umbringen. Nichts bringt ihn um als ein Holzspeer durchs Herz. Aber vielleicht werden seine honchos dann stiller.» «Du übertreibst wohl.» «Könntest du an Reservehandgranaten herankom men?» Ich fragte ihn nach Marcia. «Ich kenne ihren Vater. Wir gehen in die St.-Thomas-Kirche, wenn wir in die Kirche gehen. Wie kommt es, daß ich sie nie gesehen habe?» «CVJM-Zeltlager», erklärte er. «Sie fährt jeden Sommer nach Colorado und kommt braungebrannt und mit den verbotensten Witzen zurück. Dies Jahr brachte sie ein Lied mit, da würdest du mit den Ohren schlackern.» Meine Mutter trank Sherry und hörte Radio, als ich zuhause ankam. In den paar Tagen seit der Ab fahrt meines Vaters war sie blaß und etwas zittrig geworden. «War’s nett heute in der Schule?» «Immer derselbe Kram.»
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6. Kapitel
Lieber Josh, ich habe noch keine Post von Deiner Mutter, nehme aber an, Du benimmst Dich wie ein braver kleiner Junge, machst nicht ins Bett und heulst nicht. Bisher befinde ich mich noch nicht in Gefahr, abgesehen von der ewigen Angst, in unsren Kursen für politische Bildung könnte ich vor Lachen vom Stuhl fallen und mir etwas antun. Nachdem mir die Marine großzügigerweise den Rang eines Korvettenkapitäns gegeben hat, nimmt sie an, ich hätte noch nie Salzwasser gesehen, und bringt mir die Grundlagen von vorn bei. (Voll Freude lernte ich heute nachmittag, daß der hintere Teil des Boots oder Schiffs ,Heck’ heißt, und daß Dinge in der Gegend sich ,achtern’ befinden.) Der Offizier, der uns dies erzählte, ein junger Mannschaftsführer mit einem leichten Gesichtstick und einem dicken Hintern, schien auf sein Wissen sehr stolz zu sein und sehnt sich nach der Stunde morgen, damit er uns sa gen kann, wie links und rechts bei der Marine heißt. Ich habe ein Kapitel weitergelesen und entdeckt, daß man steuerbord und backbord sagt, aber ich werde große Überraschung heucheln, wenn er sein Ge heimnis lüftet. Wahrscheinlich werde ich als erster Offizier auf 66
einem Begleitzerstörer eingesetzt, doch bei der Ge schwindigkeit hier schaffe ich das nie. Die Japaner und Deutschen sind Herren der Sieben Meere, bis man mir den Unterschied zwischen Reff und Schot beigebracht hat, und Roosevelt, Eisenhower, Halsey und die andern Juden werden im KZ sein. Schreibt die kleine Corky Dir lange, dringliche Liebesbriefe, oder ist sie in den Bann von Bubba Ga gniers mächtigem Charme geraten? Ich möchte keine väterlichen Töne spucken, aber ist siebzehn das rechte Alter, um eine Liebesgeschichte über dreitausend Kilometer Entfernung zu unterhalten? Vielleicht fin det sich ja eine hübsche Einheimische – zum Entsetzen Deiner Mutter – und Du bereitest Dich darauf vor, zum Katholizismus überzutreten. Wie ich mich erin nere, haben Amadeo und Excilda eine hübsche Toch ter ungefähr in Deinem Alter. Doch will ich Dich zu nichts verleiten. Mir ist klar, daß Du ein Jüngling bist, noch dazu kein besonders heller, trotzdem solltest Du etwas auf Deine Mutter achten. Sie lebt von ihren Freunden getrennt und, ich fürchte, nicht sehr glücklich in Sagrado. Gottseidank spielt sie ganz gut Bridge, so daß sie etwas zu tun hat. Außerdem ist sie außer Reichweite einiger ihrer seltsamen Freunde in Mobile, die ungenannt bleiben sollen. Ich kann mir wirklich für euch keinen sicheren Ort vorstellen als das Haus in Sagrado. Es besteht immer noch die Möglichkeit, daß das Festland bombardiert und beschossen wird, und Mobile hockt da wie eine feiste Ente. 67
Schreib bei Gelegenheit. Nimm die Marineadresse nach Dezember und bis dahin die in Cambridge. Ich wäre dankbar, wenn Du nicht ,Admiral des Ozeans’ auf den Umschlag schreibst. Der Marine mangelt es an Humor. Da Du in Sagrado nicht segeln kannst, solltest Du wandern und reiten. Wandern ist eine alte Form der Vorwärtsbewegung, bei der die Beinmuskeln ver wendet werden. Zurück zum Ernst des Lebens. Am Wochenende führt Garrison uns an den Bostoner Hafen, um uns zu zeigen, wie Wasser aussieht. Nächste Woche ler nen wir alles über Tonnen. Vergiß die Liegestützen nicht Dein Vater
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7. Kapitel
Die Fiesta von Corazón Sagrado ist ein jährliches Ereignis. Gefeiert wird die Errettung der Stadt von der berüchtigten Pockenepidemie von 1705, die auch die Umgegend verwüstete und die indianische Be völkerung auf einen handlichen Rest reduzierte. Das Fest ist Mitte September, eine kühle und sehr schöne Jahreszeit hier in den Bergen, wenn die Luft nach brennendem Nadelholz duftet und erster Schnee auf den Gipfeln liegt. Ich hatte immer vor der Fiesta nach Mobile zurückfahren müssen. Steenie, Marcia und ich trafen uns auf der Plaza, dem größten Platz in Sagrado, umsäumt von den hi storischen Bauwerken der Stadt – J. C. Penny, der Sagradoer Landesbank, Romeros Spielhalle, Wom sers Dry Goods und der Neuen Shangai-ChinesischAmerikanischen Lebensmittelkompagnie. Über Nacht waren ungefähr ein Dutzend bunter Buden aus dem Boden geschossen, und die Besitzer verkauften einheimische Gerichte. Excilda kann so was kochen, es ist höllisch scharf, aber gut. Die Kö che auf der Plaza brieten alles in Fett vom vorigen Jahr, was einen ekelhaften Geruch verbreitete. «Komm, wir kaufen tacos», schlug Marcia vor. «Mit grünem Chile und einer Coca.» 69
«Du kriegst Durchfall», sagte Steenie. «Als dein medizinischer Berater empfehle ich dir dringend die burritos. Davon kannst du höchstens Verstopfung bekommen.» «Ich nehme beides», sagte sie sonnig, «dann gleicht sich das aus.» «Könnt ihr nicht von was anderem reden? Ich werde dauernd verlegen.» «Was schämst du dich deines Körpers», sagte Marcia. «Er ist Gottes Tempel. Da, guck mal, das nenn ich wirklich mal ein Fiestakostüm!» Ein sichtlich betrunkener Eingeborener torkelte fast bewußtlos in perfektem Zickzack übers Kopf steinpflaster auf uns zu wie eine Jolle beim Kreuzen. Er trug kein Hemd, und jemand hatte ihm konzentri sche Kreise wie Bullaugen mit dem Lippenstift um die Brustwarzen gemalt. Er hatte eine Polizeimütze auf, und sein Schlitz stand sperrangelweit offen: dar in erschienen Kopf und Vorderpfoten von etwas, das wie ein kleiner Spaniel aussah; der hing wie ein Känguruhjunges aus dem Beutel. Der Kerl machte halt vor uns, nahm die Mütze ab und verbeugte sich tief: «Como esta, señorita?» sagte er würdevoll. «Fassn Hund nich an, is Aas is das.» Marcia wollte schon den kleinen Hund schnappen, dessen lange seidige Ohren sich nach Kraulen sehn ten, aber Steenie und ich hielten sie zurück. Der Alte torkelte weiter mit seinem Schmuck und genoß alles königlich. «Feiglinge», sagte Marcia. 70
Wir kauften unsere burritos, zum späteren Aus gleich entschlossen, und lehnten uns an eine alte Pappel ungefähr in der Mitte der Plaza, um den unre gelmäßigen Strom der Zecher zu beobachten. Ich weiß nicht, wie das hier in den dreißiger Jahren aus sah, aber der Krieg schien sich kaum bemerkbar zu machen, abgesehen von den Touristen. Steenie, Ve teran vieler Fiestas, sagte, sie fehlten. Marcia fand, auf ihrem burrito sei nicht genug scharfe Sauce, und ich startete an einer der Buden eine gerissene Transaktion von fünf Pfennig gegen entsprechend Sauce. Die burritos waren einfache Mehlfladen mit Bohnen. Mit solchem Paps kalfatern wir Schiffe in Mobile. «Normalerweise kriege ich Blähungen von burri tos», sagte Marcia, «falls du weißt, was ich meine.» «Ich weiß, was du meinst. Behalt es für dich.» «Bikarbonat, Bewegung», sagte Steenie. «Saubere Gedanken», sagte ich. «Ich könnte genauso mit zwei Nonnen wegge hen.» Marcia leckte sich die Sauce von den Lippen. «Mmmm, das schmeckt. Brennt schon rein, und raus noch schlimmer.» «Als wärst du mit einem Fallschirmjäger unter wegs», sagte Steenie, «nur daß der nicht so eine Klappe hat.» «Reden ist nicht Handeln», sagte Marcia. «Noch bin ich virgo intacta. Stimmt’s, Herr Doktor?» «Das behauptest du», sagte Steenie, «nach einer kleinen Untersuchung wäre ich da sicherer.» 71
«Also ich bin mir da ganz sicher. Was meinst du, Josh, sind die Cloyds virgo intacta?» «Was heißt das?» flüsterte ich Steenie zu. «Jungfernhaut», sagte er lauter als nötig. Ich lief wieder rot an, fing mich dann aber. «Nach ihren Reden zu schließen, nicht. Nach deinen du auch nicht.» «Auf keinen Fall», sagte sie. Die Cloyds waren Schwestern, Velva Mae und Venery Ann. Sie hatten farbloses dünnes Haar und vier identisch spitze Brüste, die sie sich gegenseitig hätten ausleihen können wie Hüte, sollte ein Paar gerade auf dem Spanner sein. «Ich glaube, Bucky bürstet alle beide.» Wir gingen ein paarmal um die Plaza, immer ge gen den Strom, und hielten nochmal, um Huhn-tacos zu essen, die in so was ähnlichem wie Jauche ge kocht sein mußten. Ich wollte sie mit zu uns nehmen, damit ihnen Excilda richtiges einheimisches Essen kochte, aber ihnen schmeckte es. Sie bogen nach Norden ab über die Plaza und die Filimore Avenue hinunter bis ans Ende der Stadt. Als wir an einem Kloster vorbeikamen, zeigten sie mir stolz die Inschrift auf dem Grundstein. Da stand in Granit gemeißelt: DIE SCHWESTERN UNSERER LIEBEN FRAU GELEGT AM 14. APRIL 1873 VON ERZBISCHOF FRANCIS BRADY BISCHOF VON CORAZÓN SAGRADO
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«Ich weiß nicht wieso, aber das muntert mich jedesmal auf, wenn ich es lese», sagte Marcia. Im Norden endet Sagrado plötzlich am Fuß einiger niedriger brauner Hügel. Der trockene Boden war übersät von kleinen Löchern. Präriehunde hatten sich hier niedergelassen. Als wir hochkletterten, steckten sie die Köpfe raus und bellten uns an. Das klang un gefähr wie ,tschöp, tschöp’. Die Hügel waren steiler, als sie aussahen. Ich fing in der Höhe an zu keuchen und mußte ungefähr alle zehn Schritte anhalten und mich an einem Kiefernast festhalten. Steenie und Marcia schien das Klettern nichts auszumachen. Sie sprangen und hüpften den Abhang hinauf und bewar fen sich mit kleinen Steinen. Manchmal hielten sie an und warteten auf mich, wenn ich hingefallen war oder mich, nach Luft schnappend, ausruhte, und sagten we nig zuvorkommende Sachen, wie: «Olala, que Null!» Als wir den Anstieg hinter uns hatten, ging es auf der anderen Seite abwärts. Die Stadt war verschwun den. Wir schienen ganz weit draußen, meilenweit ließ nichts vermuten, daß die Gegend bewohnt war. «Vamos zum Müllberg», sagte Steenie. «Vamos», echote Marcia. Wir gingen ein ausgetrocknetes, tiefes Flußbett entlang. Ich verlor sofort die Orientierung. Es ging sich leicht auf dem harten Sand, und da wir wenig stens im Moment nicht zu klettern brauchten und ein kühler Wind wehte, war es angenehm. Hinter einer Biegung des Flußbetts standen wir plötzlich in einem erstickenden Gestank. 73
«Tote Kuh?» fragte Steenie. Marcia stand still und witterte wie ein Jagdhund. «Caballo», sagte sie entschieden. «Das wollen wir uns mal ansehen.» Ich folgte ihnen ein paar Biegungen weiter, bis wir vor der städtischen Müllhalde standen: drei Hektar voll Dosen, Flaschen, alten Sofas, aus denen die Fül lung quoll. Etwa in der Mitte des Müllhaufens lag ein totes Pferd, umschwirrt von Fliegenwolken. Ein sichtbarer grüner Dunst stand darüber. Ich zog das Taschentuch aus der hinteren Hosentasche und band es vors Gesicht. «Meinst du, es ist wirklich tot», fragte Marcia Steenie, «oder stellt es sich nur tot?» «Gute Frage», sagte Steenie, «sie läßt auf ein auf gewecktes Bewußtsein schließen, das nicht jedem Anschein traut. Josh, wirf doch einen Stein, mal se hen, ob es aufwacht.» «Wenn ich auch nur einen Finger rühre, übergebe ich mich. Komm, bloß weg hier.» «Vorher haben wir da ein kleines Spiel», sagte Steenie. «Wir nennen es gallina.» «Das heißt Feigling», sagte Marcia. «Es dreht sich darum: zum Pferd laufen, es mit der Hand berühren und zum Start zurücklaufen oder ge hen. Der Start ist hier.» «Kann man die Luft solange anhalten?» «Du mußt sie anhalten. Sonst heißt es mucho vo mito.» «Mucho Kotzo», sagte Marcia genüßlich. 74
«Wenn man geht, braucht man natürlich länger und muß die Luft länger anhalten. Wenn man läuft, ist man schneller aus der Puste. Beides ist schwer. Wir haben das gespielt, seit wir sechs oder sieben sind.» «Und was soll das Ganze?» «Das Gefühl, was geschafft zu haben», sagte Mar cia. «Ich gehe zuerst.» Sie stand ruhig und holte ein paar Mal tief und laut Luft, atmete die Hälfte wieder aus und ging mit ge falteten Händen langsam aber zielsicher aufs Pferd zu. Beim Eintauchen in den blaugrünen Dunstschleier drumherum stockte sie, ließ sich auf die Knie fallen, berührte die Flanke des Pferds mit der flachen Hand und wirbelte herum, die Augen geschlossen. «Nicht laufen», schrie Steenie. «Du mußt zurück gehen.» Marcia nickte und kam mit geschlossenen Augen und von aufgestautem Stickstoff hochrotem Kopf zurück. «Braves Mädchen», sagte Steenie, als sie ankam und die Luft rausprustete. «Ein wahrer Kämpe.» «Das Pferd lohnt sich, es zerfällt und steckt voller Würmer.» «Willst du jetzt?» «Ich weiß nicht, ob ich überhaupt will.» «Wenn du nicht gehst, bist du gallina. Wenn das unter die Leute kommt, kannst du ebensogut gleich wieder nach Alabama zurückgehen.» «Niemand mag gallinas. Kein Mädchen schmust mit einer gallina.» 75
«Hunde kläffen hinter gallinas her. Schimpf und Schande erwartet sie.» «Das geht in die Akten. Das ist nicht wiedergut zumachen. Dein Stimmrecht bist du los.» «Wenn du gehst, gehe ich auch», sagte ich. Steenie war ein Läufer, kein Geher. Nach dem ze remoniellen Atemholen sprintete er los, kniete am Pferd hin und schlug mit beiden Händen drauf. Zu rück rannte er sogar noch schneller und brach nach Luft schnappend zu unseren Füßen zusammen. «Eine wahre Pracht. Eine Zerfallsdarstellung, wie sie im Buche steht. An solchen Tagen bringt das Spiel erst Spaß.» «Du bist dran», sagte Marcia. «Am besten läufst du schnell.» Wäre ich nicht genau vor dem Pferd gestolpert, hätte ich es wohl geschafft. Es ist nicht leicht, in der dünnen Luft den Atem anzuhalten, und ich hatte mich an die Höhe noch nicht gewöhnt. Sicher hätte es geklappt, wäre ich nicht auf der Bierflasche ausge rutscht. Das hörte sich an wie das Ausquetschen ei ner Apfelsine, als ich brustvoran mitten im Pferd landete, dessen Rippen langsam nachgebend einsack ten. Ich stieß mich ab und meine Hand fuhr dem Gaul durchs Fell. Das jagte mir so eine Überra schung ein, daß ich tief einatmete, ohne es zu wollen. Immer noch bleich und wacklig in den Knien, sagte ich Steenie und Marcia später, sie brauchten mich nicht zu stützen. Sie ließen meine Arme los und machten einen Schritt zurück. 76
«Das nenn ich Sportsgeist», sagte Steenie, «schmeißt sich da einfach auf den Gaul und fällt ihm um den Hals wie seiner Liebsten.» «Bis jetzt habe ich nicht gewußt, daß wir das immer falsch gespielt haben», sagte Marcia. «Das ist doch alles nichts, bevor man nicht direkt ins Pferd kriecht.» «Hätte ich noch was im Magen, würde ich mich weiter übergeben.» «Mucho Kotzo, alter Junge.» «Vielleicht hast du was Falsches gegessen?» Nachdem wir über ein paar Hügel geklettert wa ren, lag Sagrado ungefähr zwei Kilometer entfernt friedlich vor uns. Wir bewunderten den Blick, sogar langjährige Bewohner Sagrados verbringen gern einen Teil des Tages damit, die Landschaft zu bewundern. Bald hatte der Wind den zähen Gestank nach totem Gaul verweht. Wolken zogen auf, und es begann kühl zu werden. Wir beeilten uns, zur Plaza zurückzukommen. Bei einem Stand mit Süßigkeiten sahen wir Chan go. Seine schöne Schwester hatte er an der Hand. Violas Gesicht war ruhig und glücklich, wie das ei ner Heiligen. Chango gab sich Mühe, brutal auszuse hen, aber die Gegenwart seiner Schwester schien ihn zu verwirren. «Hallo Viola», sagte Marcia, «fröhliche Fiesta.» «Ich glaube, ich habe eine Berufung», sagte Viola, «ich werde Nonne.» «Herrlich», sagte Marcia, «was mußt du glücklich sein.» 77
«Pendejo, Dreckskerl», flüsterte Chango, «wäre meine Schwester nicht mit, würde ich dich sattma chen.» «Und auch dir eine fröhliche Fiesta, Maximiliano», sagte Steenie herzlich. «Willst du deiner Schwester in den Dienst des Herrn folgen?» «Leck mich am culo. Dich krieg ich auch noch.» «Die Äbtissin hat mir alles darüber erzählt», sagte Viola. «Ein Jahr völlige Schweigepflicht, und sie schneiden einem die Haare ab.» «Wie … aufregend», sagte Marcia. «Ich nehme mir den Hammer und jag dich unge spitzt in den Boden, jodido. Paß bloß auf.» «Mir tut der Hintern weh, wenn man dich nur hört», sagte Marcia. Chango wich erschrocken zurück. «Sag nicht sowas», sagte er pathetisch, «nicht vor meiner Schwe ster.» «No seas tonto, hombre», sagte Viola. «Tu lo hablas asi tu mismo. Stell dich nicht an, Mensch, du redest doch genauso.» «Das ist was andres. Ich muß auf meinen Ruf ach ten.» «Ich wollte ihn dazu kriegen, daß er mal mit Pater McIlhenny spricht, und schon fluchte er auf die Kir che.» «Komm, gehen wir weiter», sagte Chango. «Mit dem Haufen Anglos rede ich nicht.» Viola nahm ihn bei der Hand und führte ihn weg, wie ein Kindermädchen einen kleinen Jungen. Er 78
drehte sich um und schüttelte die Faust. «Toma pen dejo», schrie er. Viola drehte ihm den Arm um, daß er fast hinfiel. «Viola ist nett», sagte Marcia, «aber ihre endokri nen Drüsen funktionieren nicht. Mit neun fing sie an Busen zu kriegen.» «Und er wächst immer noch.» «Sag nicht sowas», machte Marcia Chango nach. «Nicht vor meinem honcho.» Je mehr es abkühlte, desto leerer wurde die Plaza. Nur eine verirrte Gruppe Touristen blieb und kaufte burritos, tacos und indianische Töpferei. Ein Wind machte sich auf vom Bernal Peak und verstreute Pa pierbecher und Holzlöffel auf der Straße. Vom Mikro phon der Kapelle aus beschwor Chamaco, der hier als Sheriff wie auch als ungekrönter Fiestakönig fun gierte, die Leute vergeblich, zu bleiben. «Gleich fängt das Tanzen an, in ein paar Minuten, Kinder. Bleibt hier, amüsiert euch. Die Mariachi Bustamente aus Mexiko spielen eure Lieblingssongs. Was ist denn los? Habt ihr denn Angst vor dem bißchen Wind?» «He, Chamaco», rief Marcia, «gehen Sie lieber nach Haus, bevor Sie sich eine Lungenentzündung holen.» Steenie fiel ein. «Ich habe den Bassisten von den Mariachis besoffen hinterm Elch-Klub liegen sehen, mit völlig vollgekotztem Kostüm.» «Kommt, amüsiert euch und hört auf, mir in die Fiesta zu pfuschen.» 79
«Warum holen sie nicht den taco-Vertreter, damit er für frisches Fett in den Kesseln sorgt?» fragte Marcia. «Sämtliche Touristen kriegen Dünnpfiff.» «Es schneit», bemerkte Steenie. «Nie schneit es im September», johlte Chamaco durch den Lautsprecher. «Wie Sie wünschen», sagte Steenie. Und ob es schneite: dicke weiße Flocken setzten sich an den Hüten fest und deckten die Planen der Taco-Buden weiß zu. Ich hatte Schnee bisher nur auf Fotos gesehen. Wir gingen durch den tiefer werden den Matsch unter die Arkaden des Hotels und sahen zu, wie der Schnee die Touristen von der Straße scheuchte. Chamaco war bei der Kapelle kaum noch durch die Flocken sichtbar. Er versuchte unentwegt, das Publikum zusammenzutrommeln. Vor unseren Augen setzte ein Bus die Volkstänzer auf der Plaza ab. Sie trugen Litauer oder Liechtensteiner National tracht. Noch einmal grölte Chamaco ins Mikrophon, bevor der Schnee für Kurzschluß sorgte: «Alle mal hersehen! Ja, und hier sind unsre Tänzer!» Die Män ner trugen kurze Lederhosen. Ihre Knie waren blau angelaufen. Die Frauen hatten Mäntel um und woll ten sie auch nicht ausziehen. Vergeblich versuchte Chamaco, sie zu überreden. Zuschauer gab es sowie so nicht mehr. «Armer Chamaco», sagte Marcia. «Er gibt sich solche Mühe.» «Ist das immer so?» fragte ich. «Es schneit nicht immer, aber irgend etwas pas 80
siert immer. Einmal brach die Tribüne zusammen, und die Tänzer wurden verletzt. Dann flog die ganze Kapelle wegen illegaler Einreise ins Gefängnis. Dann wieder gab es Tollwutgefahr, und die Touristen fuhren statt hierher nach Colorado.» «Das Beste war voriges Jahr», sagte Steenie. «Chamaco hatte sich für ein Feuerwerk draußen beim Sportplatz mit dem Elch-Klub zusammengetan. Ein betrunkener Elch-Mann fiel mit brennender Zi garre in die Feuerwerkskörper. Alles ging auf einmal hoch, wie Dynamit. Der Hälfte der Elche brannten die Haare ab.» Der Schnee fiel jetzt so dicht, daß wir die Kapelle nicht mehr sehen konnten. Aber Chamacos Geschrei hörten wir trotz des ausgefallenen Lautsprechers. «Tanzt! Tanzt! Fürs Tanzen hab’ ich euch bezahlt und tanzen werdet ihr mir!» Wir beschlossen nach Hause zu gehen, bevor der Schnee noch höher lag. Zum Camino Tuerto geht es von der Plaza fast einen Kilometer bergauf. Ich kam halb erfroren an. Meine Kenntnisse über Schnee reichten mir inzwischen. Excilda stand in der Tür. Sie sah aus wie die Heilige vom Pfefferstrauch. «Wir haben Gesellschaft», sagte sie, «kaum drei Wochen ist Mr. Arnold fort, und schon haben wir Gesellschaft.» «Was für Gesellschaft?» «Ich weiß es nicht. Mir sieht er nach irgendeinem maricon aus.» Meine Mutter erschien an der Tür. «Joshua, ich habe eine wunderbare Überraschung für dich.» 81
«Ist der Krieg vorbei?» «Viel besser.» Sie nahm meine Hand und führte mich noch schneetropfend hinein. Kiefernscheite glimmten in der Kaminecke und die Vorhänge waren offen, um das Schneelicht einzulassen. Die Navajo teppiche sahen bunt und fröhlich aus, und die Sherry flasche stand fast leer auf dem Kupfertablett. «Sieh einer an! Und wie gehts unserm kleinen Cowboy?» sagte Jimbob aus dem Sessel meines Va ters. «Es tut mir leid, daß ich dir keinen Sherry an bieten kann, er ist einfach nichts für heranwachsende Knaben. Excilda, bringen Sie dem Knaben ein Glas Milch.»
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8. Kapitel
Die wunderbare Überraschung entpuppte sich als dauerhaft. Jimbob blieb und blieb, kommandierte Excilda und Amadeo herum, half meiner Mutter den Sherry loszuwerden, der nur den Keller ver stopfte, nahm das leerstehende Schlafzimmer in Be schlag und klagte über das kalte Wetter. Meine Mut ter hob monatlich fünfhundert Dollar ab, was ei gentlich reichen sollte, aber Jimbobs Ausgaben schienen sie nicht zu decken. Er mochte die Art nicht, wie Excilda seine Hemden bügelte, und brachte sie in die Wäscherei. Morgens gab es nie genug Eier, obwohl er seine Essensmarken beisteu erte, worauf meine Mutter gern hinzuweisen pflegte. Er hatte eine große Sammlung Ascotkrawatten und trug täglich eine andere zum selben Tweedjackett. Er mochte Excildas Essen nicht und machte ihr ei nige häßliche Szenen. Aber nicht einmal er konnte es ändern, das Essen blieb gut. Mit meiner Mutter und ihren Sommerfreunden spielte er fast täglich Bridge und verließ das Haus selten. Er brachte Neu igkeiten aus Mobile. «Diese leckere kleine Corky segelte sich gerade kaputt, als ich sie das letztemal gesehen habe. Sie ist immer mit dem Sohn von den Gagniers zusammen. 83
Tut es dir eigentlich nicht leid, daß dir sowas durch die Lappen gegangen ist?» «Nicht besonders.» «Was tut sich denn so in bezug auf Freunde hier in der Wüste? Hast du dir eine kleine Squaw geangelt?» «Einen ganzen Stamm. Sie befehden sich ununter brochen untereinander um das Vorrecht, mir Mokas sins nähen zu dürfen.» «Das hört man gern. Ich dachte mir schon, daß du dich mühelos anpassen würdest, sobald die Zivilisa tion erst einmal hinter dir läge.» «Wieso haben Sie nur die Zivilisation verlassen, Mr. Buel? Ist Ihnen das Leben hier nicht zu ungeho belt?» «Ich hielt es für verdienstlich, einen Hauch von Kultur hierherzutragen. Anscheinend gibt es in dieser Gegend weder einen vernünftigen Bridgespieler noch eine trinkbare Flasche Bourbon.» Excilda knurrte, aber sie mochte ihren Job und sie mochte mich. Wurde Jimbob zu arrogant und fing an, herumzukommandieren, tat sie, als verstünde sie kein Englisch. Amadeo sprach nur Spanisch mit ihm, und als ich durch das Palavern in der Schule mich mehr an die Sprache gewöhnte, hatte ich meine Freude an ihren Unterhaltungen. «Amadeo», sagte Jimbob zum Beispiel, «jetzt wo so viel Schnee geschmolzen ist, meinen Sie nicht, es wäre eine gute Idee, die Rosenstöcke mit etwas Hu mus zu umgeben?» Dann tippte sich Amadeo an die Hutkrempe. «Sie 84
haben einen Papierkopf und stinken wie ein Asiatenpuff.» «Ich wußte, Sie würden mir zustimmen. Wir wol len ja nicht, daß Mr. Arnolds Rosen eingehen, nicht wahr?» «Sie bringen einen Rosenstock schon um, wenn Sie mit ihrem Hurenparfüm nur dran vorbeigehn. Kommen Sie doch zu mir und versuchen Sie es mal mit einer Ziege. Wäre das nicht eine Abwechslung nach all den Schafen, für die Sie so berühmt sind?» Der Conquistador brachte im Gesellschaftsteil eine Spalte über James Robert Buel, Sproß eines bedeu tenden Hauses in Virginia, gegenwärtig zu Gast bei Mrs. Arnold und ihrem Sohn Joshua. (Mr. Arnold, ein bekannter Sommergast, dient gegenwärtig in der Marine der Vereinigten Staaten.) Das schnitt ich aus und schickte es meinem Vater. Nur den Ausschnitt. Unsre Jungs auf See freuen sich über Neuigkeiten von zuhause. «Wen habt ihr da eigentlich zu Besuch», fragte Marcia eines Tages. «Einen Onkel oder so?» «Kein Verwandter, ein Bekannter.» «Danach sieht deine Mutter überhaupt nicht aus.» «Wenn wir honchos bleiben wollen, hörst du da mit lieber auf.» «Sei nicht so empfindlich. Der Krieg ist die Hölle.» «Warum lernst du dein Buch über Geschlechts krankheiten nicht zu Ende. Namen hast du für alles parat, aber mehr auch nicht.» «Vielleicht gehe ich auf den Sportplatz und sehe 85
Bucky beim Muskeltraining zu. Er hat den duftesten Trochanter der Stadt.» Sie sah mich scharf an und zeigte auf meine Narbe. «Die ist ja ganz schick, aber lange nicht so schick wie Buckys Trochanter.» Marcia ging weg. Ich sammelte vom Schulhof ein paar Steine auf und zielte auf die große Pappel, an der wir unsere Fahrräder abstellten. Dabei warf ich daneben und ein Rücklicht zersplitterte. Das Ge räusch machte eine der beiden Cloyds neugierig, und sie hüpfte her. «Mensch, da hast du jemand das Rücklicht ganz schön zerdeppert.» Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. «Du mußt ganz schön brutal sein.» Ich warf noch mal und traf den Baum, ohne Scha den anzurichten. «Ich bin brutal», sagte ich und schob das Kinn vor. Diese Mädchen hatten irgendwas an sich, das einen dazu brachte, sich aufzuplustern. «Wer von euch bist du?» «Ich bin Velva Mae», sagte sie und wedelte mit dem Hintern, daß ihr der Rock um die Knie wischte. «Venery Ann ist unten am Brunnen.» «Wie können euch die Leute unterscheiden?» Sie sahen gleich aus, wuchsen gleich aus den gleichen Kleidern heraus und hatten die gleichen schmutzigen Knie. «Ich bin die nette. Hast du ein Auto?» «Fahrrad.» «Nicht mal ein Motorrad?» Sie sah sehr enttäuscht aus. «Kannst du nicht auch auf dem Fahrrad nett sein?» 86
«Du kannst mich mal mit deinem Rad. Ich bin zu alt, um aufm Fahrrad rumzumuffen.» Das ging mir ans Herz, daß ich nichts als ein Fahr rad hatte, um mit Velva Mae rumzumuffen, aber ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie stand da, we delte mit dem Rock und sah mich mit schrägem Au genaufschlag von unten an, als ginge alles klar, wenn ich bloß einen Ferrari Baujahr 1940 auftriebe. Ihre Knie starrten vor Schmutz, matschverklebt bis in die Hautfältchen, mit einem grauen Placken an der Wade. Aber ihr Kleid war sauber und die Socken schnee weiß. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter eine Wasch maschine, aber keine Badewanne. «Vielleicht kann ich ein Auto kriegen, wir können ja zu viert fahren, mit Parker oder so.» Hätte sie nur einmal aufgehört, mit dem Rock zu wedeln, dann hätte ich sicher auch mit dem ganzen Quatsch aufgehört, aber sie wedelte munter weiter. «Abgemacht. Venery Ann und ich und du und Parker, wir fahren irgendwo raus und sehen uns den Mondaufgang an. Du brauchst nur das Auto zu be sorgen.» Sie schlug die Augen nieder, faßte ihr Kleid am Saum und machte einen Knicks. «Wir werden’s auch waschen. Aber laß inzwischen die Finger von der Davidson.» Später traf ich Parker. Zu Mittag hatte er sein Fle dermausbrötchen mit mir geteilt und gesagt, ich sei der erste, der da nicht einfach platt sei. Ich fragte, ob er den Wagen seines Vaters für eine Verabredung mit den Cloyds bekommen könnte. 87
«Welche hast du? Velva oder Venery?» «Velva, glaube ich.» «Bleibt sich auch gleich. Beides dieselben Schlingpflanzen. Vielleicht leiht mein Vater mir den Wagen, wenn er nicht zur Forellenzucht nach Seven Springs fahren muß. Ihm ist das wurscht. Naturstudi en gehen ihm über alles, und ich möchte doch wis sen, was die Cloyds sonst sind. Venery hat mir neu lich mal fast den Mund abgebissen. Du, man hört, ihr habt Besuch. Wer ist das eigentlich?» «Jetzt fang du nicht auch noch damit an.» «War nett gemeint, schon gut.» Es klingelte zur Stunde. «Dann wollen wir mal reingehen und das hübsche kleine Lied von der Raupe singen. Miß Rudd soll heute ein rotes Spitzenhöschen anhaben. Und Musik höre ich so gerne wie jeder andere auch.» Ich versuchte, während des Singens einen Blick von Marcia aufzufangen, aber sie war zu beschäftigt, Bucky anzustarren. Nach der letzten Stunde sah ich die beiden zusammen. Ich wollte mit einem Stein nach ihm werfen, aber es hätte Marcia treffen können. Niemand war da, mit dem ich gehen konnte. Stee nie wollte zu seinem Vater in die Praxis, um sich noch ein paar Bücher über Geburt und Geschlechts krankheiten zu holen. Parker mußte wegen eines ein geschriebenen Päckchens zur Post: irgend etwas, das er angeblich aus Tennessie bestellt hatte. Die Cloyds hatten wahrscheinlich ein paar Macker mit Motorrad gefunden. Ich ging allein los. 88
Der Camino Tuerto führt am Fuß des Hügels über eine acequia, einen Bewässerungsgraben. Chango hockte auf dem steinernen Geländer und wartete auf mich. Eine Woche lang hatte er mich, abgesehen von seinen großen Reden, in Ruhe gelassen und mich nicht mehr so nervös wie früher gemacht. Ich dachte schon, er sei nichts als ein Großmaul. «Hallo, drec kige pendejo-Tunte.» Ich blieb vor ihm stehen. «Warum gehst du nicht mal zum Friseur? Dein Kragen wird langsam spec kig.» Das war nicht grade genial, aber was besseres fiel mir nicht ein. Chango pfiff durch die Zähne und unter der Brücke kam noch einer raus – die acequia war gerade leer – und kletterte die Böschung rauf. Ich kannte ihn nicht. Ein fieser Typ, pockennarbig, vom rechten Ohr fehlte die Hälfte. Ich sah keinen Grund, lange auf eine Dis kussion zu warten. Chango schlug ich vor die Brust, und er landete rückwärts in der acequia, als ich an fing zu laufen. Unser Haus war oben am Berg, zu steil zum Ren nen. Ich bog links in den Camino Chiquito, der geht am Kanal entlang, und raste die staubige Straße zwi schen hohen Lehmwänden hinunter. Die Einfahrten bildeten links und rechts Einschnitte, und ich sah in jede auf der Suche nach einem Versteck, während Chango hinter mir schrie: «He, Tarzan, schnapp dir den Hund!» Als ich mich umdrehte, sah ich, daß Changos Genosse mir hart auf den Fersen war. Chango hinkte hinterher. Beim Sturz von der Brücke 89
mußte er sich den Knöchel verstaucht haben. Der mit dem Ohr lief mühelos und schnell wie eine Gazelle vorneweg. Wie immer machte mir die Höhe zu schaffen. Ich konnte kaum atmen und mir schmerzte die Brust. Rechts von mir sah ich eine Lücke in der Mauer, dahinter ein paar kleine Häuser. Ich schlüpfte hinein, lief um ein Haus, durch die Hoftür und duckte mich hinter einem Stapel sauber geschichteter Kiefern scheite. Ich hörte die Kiesel auf der Auffahrt unter den Füßen von Chango und dem anderen knirschen, dann, wie sie umkehrten und auf den Camino Chi quito zurückgingen. Auf dem Hof lagen überall ver streut Steinblöcke herum. Die Blöcke waren teils weiß, teils rötlichbraun und mochten hundert Pfund das Stück wiegen. In einige waren Köpfe und Ge sichter gemeißelt. Es war aber weder Marmor noch Granit, einfach große Felsbrocken, wie man sie in den Hügeln um Sagrado findet. Ich ging an einen heran; ein Indianerkopf, die Haare fielen ihm gerade abgeschnitten über die Stirn, der Rest war von einem Band zusammengehalten. Ich verstehe nicht viel von Kunst, dazu zählte es wohl auch nicht, aber es war die Arbeit eines Bildhauers. Die Hoftür stand immer noch offen. Es war ein fach Schwein, daß Chango und sein honcho das nicht gesehen und mich nicht hinter meinem Holzstapel rausgezerrt hatten. Vielleicht erledigen sie ihre Prü geleien grundsätzlich nur auf der Straße, um kein Privateigentum zu verletzen. Immer noch keuchend 90
ging ich auf die Tür zu, blickte vorher noch schnell in ein Fenster, ob mich auch niemand gesehen hatte. Legal war das wohl alles nicht. Drin stand eine nackte Frau auf dem Tisch. Die Füße waren leicht gespreizt. Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt und ihr langes braunes Haar fiel ihr fast bis auf die Hüften. Es sah nicht so aus, als wollte sie was. Sie stand nur so da und sah an die Decke. Ich drehte mich um und merkte, daß ich rot wurde, dann sah ich wieder hin. Sie schien mich nicht zu sehen. Sie war blaß und gut gebaut. Ein in teressanter Anblick. Ich hatte noch nie eine ganz nackte Frau gesehen. Mir gefiel sie besser als irgend eine Statue. Sie sprach mit sich selbst oder jeman dem, den ich nicht sehen konnte. Ihre Lippen beweg ten sich, aber ich hörte nicht, was sie sagte. Ich stand im Schatten der Wand und sah einfach zu. Mein Atem ging regelmäßiger, und ich hatte nicht mehr das Flimmern vor Augen. Das bekam ich – auch in Mobile – immer, wenn ich zu schnell oder zu lange lief, ohne mich vorher aufgewärmt zu haben. Es kam Bewegung in die Frau, sie stieg vom Tisch auf den Stuhl und dann auf den Boden. Sie sah mich noch immer nicht an, nahm einen Bademantel vom Stuhl und zog ihn an. Dann kam jemand durch die offene Tür in den Hof. «Bist du Kunstfreund oder einfach ein Schmutz fink?» Ein großer Mann mit Glatze und schwarzem Schnurrbart stand am Tor und lächelte mich an, die 91
Unterarme vom Umfang meines Kopfes in die Seiten gestemmt. Sie staken aus einem fleckigen Kkaki hemd. Es gab keinen Ausweg, und ich wußte, wenn er mich erwischte, könnte er mich pflücken wie eine Rose. Ich blieb einfach stehen und gab mir Mühe, wie ein Kunstfreund auszusehen. «Schön ist sie, was?» Er hatte einen vollen, euro päisch klingenden Akzent, nicht den schnarrenden, verwaschenen der Sagrado-Spanier. «Sie kann jede beliebige Pose fünfzig Minuten lang halten, ohne zu zittern. Es stört sie nicht, wenn man sie ansieht, aber sie läßt sich nicht gerne angaffen. Hast du sie angegafft?» «Nein», brachte ich heraus. «Ich wußte nicht mal, daß sie hier war, bevor …» «Bevor du sie gesehen hast. Das klingt vernünftig. Möchtest du nicht reinkommen? Ich glaube, du hast immer noch Angst.» «Ich habe keine Angst.» «Nein? Wenn Tarzan Velarde hinter mir her wäre, ich hätte Angst. Naja, vielleicht hätte ich auch keine, aber die meisten hätten welche. Du solltest dir die spanischen Jungen wirklich nicht zu Feinden machen. Sie können brutal sein. Komm rein, komm rein.» Ich folgte ihm durch die Hoftür neben dem Holzstapel ins Haus. Er ging auf die Frau zu, die am Tisch saß und eine Zigarette rauchte. «Schon gut, Anna, schließlich ist er ein Kunstfreund. Darf ich vorstel len, das ist Anna, Anna, das ist …» «Joshua Arnold. Ich hatte nicht vor, durchs Fen 92
ster zu schielen. Das war nur die Überraschung.» Sie blies mir den Rauch langsam ins Gesicht, ohne daß sich ihr neutraler, gelangweilter Gesichtsausdruck veränderte. «Wir trinken Kaffee, Joshua, möchtest du auch eine Tasse?» «Ja gerne, danke.» Er ging an eine Elektroplatte, die neben der Werkstattwand stand, und goß den Kaffee aus einer Kanne in drei schwere Porzellanbe cher. «Gib mir diesmal etwas Zucker, Romeo. Ich mag ihn nicht schwarz.» «Von Zucker wirst du nur dick», sagte er sanft. Sie fiel zurück in ihr teilnahmsloses Schweigen und qualmte die Zigarette. Ich fand sie hübsch, auch ohne Lippenstift, sie sah … nicht direkt dumm aus, doch als hätte sie nie irgendwas im Kopf. Der Bildhauer setzte sich zu uns an den Tisch, und wir tranken schwarzen Kaffee, der ein wenig nach Ton schmeckte. Der Mann hatte Ton an den Händen, den Handgelenken, auf dem Hemd, dem Hosen schlitz und in den Ohren. Die Figur, an der er arbei tete, stand auf einem Fuß und schien fast fertig. Die Haltung war ganz gut getroffen, aber Kunst war das noch nicht. Er merkte, daß ich sie ansah. «Ich weiß», sagte er fröhlich, «das wird Praxiteles nicht in Verruf bringen. Wenn sie fertig ist, sieht sie wie Anna aus, und ich verkaufe sie vielleicht für hundert, hundertfünfzig Dollar. Sie ziert dann irgend einen Betonbrunnen in Michigan oder Oregon. Ich bin kein guter Bildhauer, aber ich mache es lieber als 93
tischlern. Ich baue sehr gute Schreibtische, und an geblich soll man damit viel mehr verdienen können, aber Stühle, Bücherregale, Büffets und Schränke habe ich einfach satt.» «Ich finde sie gut», log ich, «sieht genau aus wie sie.» «Mit dem simpelsten Fotoapparat bekäme man eine größere Ähnlichkeit», sagte er. «Mir gefällt sie nicht», sagte Anna trocken, «sie hat nicht genug plastischen Zusammenhalt.» «Benutz keine Wörter, die du nicht verstehst. Du bist zu schön dazu. Davon wirst du Falten im Gesicht kriegen.» Er schob ihr langes Haar zurück und küßte sie hinters Ohr. «Hmmmmmmmm.» Wir tranken den Kaffee aus und Anna ging nach nebenan, um sich was anzuziehen. «Bist du der Sohn von Frank Arnold?» «Ja.» «Ich habe dich, seit du acht oder neun warst, nicht mehr gesehen. Frank ist ein alter Freund von mir. Bestell deiner Mutter Grüße von Romeo Bonino.» Ich versprach, sie auszurichten. Ich erinnerte mich nicht an ihn und konnte ihn mir auch nicht bei uns zuhause beim Bridge vorstellen oder als Zuhörer der Geschichten meiner Mutter über ihre Ahnen in At lanta, Louisville und Charleston. «Wo ist übrigens Frank? Ich habe ihn dieses Jahr nicht gesehen.» «Bei der Marine, im Moment zur Schulung in 94
Massachusetts. Dann geht er irgendwohin nach Übersee.» «Bist du genauso stark wie er?» «Ich kann schneller laufen. Ich glaube nicht, daß ich ihn schon im Ringen schlagen würde.» Anna kam zurück und fing ohne ein Wort an, mit Töpfen und Pfannen in der Kochecke zu rasseln und Salami zu schneiden. Ich stand auf und dankte Mr. Bonino für den Kaffee und dafür, daß ich mich in seinem Hof verstecken durfte. «Sagen sie Ihrer Frau, es täte mir leid, sie angestarrt zu haben.» «Ha!» sagte Anna und schnitt weiter Salami. «Keine Sorge, keine Sorge. Hör mal, wann mußt du zuhause sein? Macht sich deine Mutter keine Ge danken, wenn du solange wegbleibst?» «Nein, das nicht. Ich kann zu jeder Zeit nach Hause kommen. Wenn die Brüder nicht wieder hinter mir her sind.» «Vor dem Essen möchte ich ein paar Steine zurück zum Berg bringen. Es dauert nicht lange. Willst du mitkommen?» «Ein paar was?» «Komm mit, ich zeige es dir.» Wir ließen Anna bei ihrer Salami und gingen zur Ga rage. Er fuhr einen alten Lastwagen rückwärts aus dem Hoftor. «Wir nehmen nur die mit den Gesichtern.» Wir rollten und schleppten die Brocken zum Lastwagen und wuchteten sie auf die Ladefläche, die er mit Armeedecken gepolstert hatte. Es waren sie ben Stück, und sie waren schwer. 95
Ich stieg ein, und er bog aus der Lehmeinfriedung in Richtung zum Teta Peak. Der hieß so, weil er wie eine Brust aussah mit einer großen rosa Felsenbrust warze obendrauf. «Eigentlich ist Anna nicht meine Frau», sagte er nach einigen Minuten, «wir sind eher befreundet, und sie steht Modell für mich.» «Oh, das macht nichts», sagte ich. Ich wußte nicht, was ich sonst sagen sollte. «Sie sieht sympathisch aus.» «Ist sie aber nicht. Sie ist eine schlechte Köchin und ein mieses Modell. Unter den Armen rasiert sie sich nicht und dumm ist sie auch.» «Das tut mir leid.» «Nicht nötig. Wir kommen sehr gut zusammen aus, und sobald sie mich satt hat oder ich sie, geht sie zum nächsten. Für sie bin ich ungefähr Nummer fünfzehn, sie für mich Nummer zwanzig.» «Ah.» Wir bogen von der Straße ab auf einen ausgefahre nen Weg, der zum Fuß des Hügels führte, und hielten. «Da wär’n wir», sagte Romeo. «Dann mal los.» Wir luden die Blöcke ab. Er fing mit dem schwer sten an. «Die kommen von da oben», sagte er und zeigte auf einen Kahlschlag hoch über uns. Wir stemmten uns gegen einen der Blöcke und rollten ihn bergauf. Kamen wir an eine ungefähr ebene Stelle, trugen wir ihn, aber meistens mußten wir ihn rollen. Die Arbeit war schwer und schweißtreibend, als wir den Kahlschlag erreichten, waren wir außer Atem. Romeo fand einen Stock, mit dem er eine flache 96
Mulde in die Erde kratzte. Den Block rollten wir so hinein, daß er auf den Schultern gestanden hätte, hätte er welche gehabt. «Viel besser.» Und wieder runter zum nächsten. «Frank und ich haben das manchmal zusammen gemacht», sagte er. «Er war einer der wenigen, die mich nicht für verrückt hielten, und er sagte, ihm ge fiele die körperliche Arbeit. Hältst du mich für ver rückt?» «Eigentlich nicht. Für wen machen Sie das? Wem gehört der Berg, meine ich.» «Der Berg? Gehören? Der gehört niemand, dem Land, der Regierung, was weiß ich. Dies ist ein öf fentlicher Berg. Ich verschönere nur das Land.» Wir rollten Blöcke rauf, bis es nach Sonnenunter gang so dunkel wurde, daß wir keinen Schritt weit sehen konnten. Ein Block, der Kopf eines Negers, glitt uns auf halber Höhe aus der Hand und polterte, kleinere Bäume umknickend, bergab. Wir kraxelten hinterher. «Los, komm zurück, du Miststück», schrie Romeo. Er stolperte und schlug mit dem Knie auf eine Wurzel, ich stolperte über ihn, und wir lagen einen Augenblick da und lachten und hörten zu, wie das hoppelnde Werk den Abhang runterkrachte. Zehn Minuten später hatten wir ihn nach einiger Sucherei gefunden, stemmten uns dahinter und beförderten ihn auf seinen ursprünglichen Platz. «Mein Vater mag Sie ja nicht für verrückt gehalten haben», sagte ich, während wir runtergingen, «aber ich bin mir da nicht so sicher.» 97
«Wie gesagt, ich verschönere das Land. Ich ver schönere die Natur. Ich glaube nicht, es sei arrogant zu behaupten, die Natur ließe sich verschönern. Nimm einen Baum: wie Kilmer in seinem schaurigen Gedicht bemerkt, machen kann ihn nur Gott. Ich wüßte nicht viele Wege, einen Baum zu verschönern. Ihn zerschneiden, um Papier für Steuerformulare zu bekommen oder Stühle draus zu machen, ist eigentlich keine Verschönerung. Aber wenn ich diese Blöcke finde, haben sie eine häßliche Form und die Natur wird sie nicht weiter verschönern. Nur Wind und Regen werden sie benagen, bis sie immer kleiner und schließlich zu Staub werden, der dann den Hügel runtergewaschen im Río Sagrado landet und in den Río Grande und schließlich in den Golf von Mexiko weitergetragen wird. Verstehst du, was ich meine?» «Ich glaube, ja.» «Gut. Also verschönere ich sie selbst. Ich nehme sie zeitweise vom Berg, haue gute, starke Gesichter hinein und bringe sie zurück. Alle meine Freunde und die meisten meiner Verwandten stehen auf die sem kleinen Berg. Ich achte darauf, nur bewun dernswerte Menschen darzustellen.» Nachdem wir den letzten Kopf auf den Teta Peak gerollt hatten, war es dunkel. Wir keuchten er schöpft. Romeo fuhr mich nach Hause. «Paß auf Tarzan auf und besuch mich, wann immer du willst, wenn du bildhauern lernen willst. Jeder Idiot kann das.» Jimbob und meine Mutter rümpften leicht die Nase, 98
als ich hereinkam, ein friedliches, anheimelndes Bild. «Wo bist du gewesen», fragte meine Mutter mit leicht lädiertem Blick. «Deine Mutter hat sich furchtbar um dich gesorgt. Sie war einfach außer sich.» Mir schien sie schlicht blau und nicht im geringsten außer sich. «Wer hat dich hergefahren?» fragte meine Mutter. «Es sah aus wie jemand in einem Lastwagen.» «Ein Bekannter von dir. Romeo Bonino. Er sagt, ihr kennt euch.» «Er ist ein Freund deines Vaters», sagte sie. «Das ist ein schmutziger, ein dreckiger Mensch. Italiener.» «Er trägt die Schande mit Fassung.» «Wage nicht, vorlaut zu deiner Mutter zu sein», sagte Jimbob. Er stand wacklig auf und versuchte ein strenges Gesicht zu machen. Das geriet rötlich und aufgequollen. «Sie war außer sich vor Sorge um dich.» «Außer mir», echote sie und goß sich noch so ein unschuldiges kleines traguito ein. «Für Schläge bist du zu alt», sagte Jimbob, «aber du verdienst eine Tracht Prügel.» Als ich Tracht Prügel hörte, mußte ich lachen, und sein Gesicht quoll röter. «Tracht Prügel», sagte meine Mutter, «eine irrsin nige, irrsinnige Tracht Prügel.» «Mierda de toro», sagte ich. Mein Spanisch hatte ich hier und da verbessert. Jimbob ließ sich das durch den Kopf gehen. «Das ist sicher vulgär. Ich muß sagen, ich bin stolz, daß meine Sprache Englisch heißt.» 99
Ich entschuldigte mich und ging in die Küche. Excilda und ich aßen einen Teller posole, das ist eine Art gekochter Mais mit Rind- und Schweinefleisch und rotem Chile. Sie sprach langsames, einfaches Spanisch, damit ich sie auch verstünde. «Ich weiß, Amadeo und ich haben einen Vertrag mit deinem Vater. Aber von dem da war keine Rede.» Sie deutete mit dem Kinn in Jimbobs Richtung. Das ist üblich in Sagrado, Fingerzeigen gilt als unhöflich. «Neulich nannte er Amadeo Nigger; Amadeo hat ihm fast die Schaufel übern Kopf gehauen. Er hat hier das Kommando und normalerweise weiß er nicht, wovon er redet. Wäre bloß dein Vater wieder hier.» «Wenn ich nur wüßte, was meine Mutter hat. Sie benimmt sich seltsam.» «Ich weiß, was los ist. Sie ist ungern hier, deshalb trinkt sie all das Zeug, damit sie vergessen kann, daß sie hier in Sagrado und nicht in Alabama ist. Sie mag die trockene Luft nicht, und sobald es erst richtig an fängt zu schneien, wird sie das auch nicht mögen. Sie ist nicht daran gewöhnt, ohne ihren Mann zu sein. Sie mag mein Essen nicht, obwohl jeder sagt, daß ich mit die beste Köchin in der Gegend bin. Nicht mal dies mag sie.» Sie deutete auf die ausgezeichnete posole. «Außerdem, glaube ich, hat sie was gegen Katholiken.» «Davon weiß ich nichts. Die Frau, die wir in Mo bile hatten, war auch katholisch.» «Vielleicht mag sie mich nicht, weil ich Spanierin 100
bin. Sie mit ihrer Familie. Gott, Mann, wir sind seit dreihundertfünfzig Jahren hier.» «Ihre Familie ist nur ein Haufen Pferdediebe. Er zählen tut sie viel, aber sie läßt einen keinen kennen lernen. Ich glaube, die brennen fast alle Whisky und laufen barfuß.» «Wenn sie keine Spanier mag, ist sie hier jeden falls falsch. Du lernst ganz gut Spanisch. Magst du Spanier?» «Einige ja. Da sind ein paar Brüder, die ich nicht grade besonders mag. Einer davon will mich an scheinend umbringen. Vielleicht beide. Kennen Sie Chango Lopez?» «Maximiliano?» «Genau den.» «Ich kenne seine Eltern. Sein Vater war ein guter Schnitzer aus der Gegend von Ojo Amargo. Ein san tero, du weißt schon, die diese kleinen Heiligen aus Holz schnitzen. Was hat Maximiliano gegen dich?» «Ich weiß es nicht. Ich glaube, es muß wohl was mit seiner Schwester zu tun haben.» Excilda hielt sich die Hände vor die Brust. «Die mit diesen?» «Mehr als das.» Ich hielt mir die Hände noch weiter vor die Brust. «Wenn du dir da Scherze erlaubt hast, wird es Ärger geben. Diese Lopez sind finsterste Provinz. Solche Leute haben manchmal ihren Stolz.» «Nein, ich habe sie nie angerührt. Chango phanta siert.» 101
«Hast du eine Freundin?» «Ich dachte, ich hätte eine. Aber inzwischen bin ich mir nicht sicher. Wegen irgend was ist sie sauer auf mich.» Meine Mutter kam leicht schwankend in die Küche. «Ein Herz und eine Seele. Ihr beiden seid einfach ein Herz und eine Seele. Worüber redet ihr denn hier?» «Joshua übt Spanisch mit mir, Mrs. Arnold. Für einen Anglo spricht er es sehr gut, wenn man be denkt, daß er noch nicht sehr lange hier ist.» «Ich wäre froh, Sie würden meinen Sohn nicht Anglo nennen, Excilda. Es klingt einfach nicht sehr schön.» «Also was er auch ist, sein Spanisch macht gute Fortschritte. Möchten Sie zu Abend essen? Ich habe posole.» «Ich würde das empfehlen. Du gehst in die Luft.» «Können Sie nicht etwas ohne Chile kochen? Mr. Buel hat einen delikaten Magen.» «Frikadellen vielleicht?» seufzte Excilda. «Ach, tun Sie mir die Liebe.» Excilda tat ihr die Liebe, und meine Mutter und Jimbob aßen Frikadellen, von denen sie wahrschein lich nichts schmeckten, weil sie zu voll waren. Dafür ergingen sie sich über die gute, gesunde amerikani sche Küche, die so einfach ist, daß selbst Mexikaner damit fertigwerden.
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9. Kapitel
Parker bekam am nächsten Abend, Freitag, den Wa gen seines Vaters, und wir verabredeten uns mit den beiden Cloyds. Nachdem ich Velva Mae gefragt hatte, ob sie Lust hätte, ins Kino zu gehen, und ihr dann versichert hatte, daß der Wagen für den Abend unser sei, ließ sie mich ihn sorgfältig beschreiben. Es war ein dunkelblauer Plymouth Sedan Baujahr 39 mit blauen Plüschsitzen und einem Sechszylindermotor. Parker sagte, daß Venery Ann genau so wißbegierig gewesen wäre. Eigentlich hatten die Mädchen sich mit dem Auto verabredet, und wir durften mal mit kommen wie die kleinen Geschwister. Nie, weder vorher noch nachher, habe ich Mädchen kennenge lernt, die ein Verbrennungsmotor in derartiges Ent zücken versetzte. Meine Mutter hatte sich in letzter Zeit nicht weiter dafür interessiert, was ich tat oder wohin ich ging, aber als sie sah, daß ich mir einen Schlips umband, wurde sie neugierig. «Ein Schlips! Ich bin so glücklich, daß du wieder anfängst, dich um dein Aussehen zu kümmern. Du hast so lange nichts als Bluejeans getragen, daß ich annahm, du hättest vergessen, wie man sich anzieht.» «Deine Mutter hat ganz recht», fand Jimbob. «Du 103
hast in letzter Zeit wirklich furchtbar schlampig aus gesehen, zerlumpt praktisch.» «Ich weiß», sagte ich reuig. «Ich habe mich gehen lassen. Aber dies Mädchen ist anders. Sie ist einfach nicht so eine, mit der man in Bluejeans rumlaufen könnte.» «Aus gutem Hause?» fragte meine Mutter. «Das kann ich nicht sagen. Reich auf jeden Fall.» «Altes Geld», fragte Jimbob, «oder neues?» «Bank.» Ich sog mir das beim Reden aus den Fin gern. «Die älteste Bank in Westtexas. Amarillos Rancher’s National.» «Oh ja», sagte Jimbob. «Auch Versicherung, ihr wißt schon. WasserkopfLebensversicherung. Sowas wie vier Milliarden in Policen.» «Eine feine alte Firma», sagte er nur leicht ver wirrt. «Und Viehzucht natürlich. Damit hat eigentlich al les angefangen. Gwinowamo, Weißhorn und Wel scherdoppel. Ich vergesse, wie das heißt, aber die Bullen sind hitzefest und fliegensicher und nichts als Filet. Ich glaube, sie hatten einen großen Vertrag mit den Konföderierten. Jefferson Davis war ein Liebha ber von Cloyds Fleisch.» «Gewiß», sagte Jimbob, «Cloyd. Alter Ad…» «Chester Cloyd», sagte ich. «Er hat mit der Vieh zucht angefangen. Sein Enkel Felix leitet das Unter nehmen jetzt, ich meine das Reich.» «Soll das heißen, du gehst mit Felix Cloyds Toch 104
ter aus? Also ich muß sagen, da bin ich wirklich beein druckt. Das ist schon eine feine alte Familie. Mein Va ter hatte, glaube ich, geschäftlich mit ihnen zu tun.» «Wie heißt die junge Dame mit Vornamen?» Meine Mutter erwärmte sich. «Amanda Suleika, ich nenne sie Susie.» «Hast du Worte!» Parkers Wagen bog in die Auffahrt. Ich sagte gute Nacht und ging durch die Küche nach draußen. Ex cilda preßte roten Chile durch ein Sieb und linste aus dem Fenster, um zu sehen, wessen Wagen das war. «Mit wem gehst du heute abend weg?» «Cloyd heißt sie. Kennen Sie auch ihre Familie?» «Ich kenne alle hier. Das ist ungefähr die schlimmste.» «Das sagen Sie besser keinem.» «Und du, paß auf, daß du ohne Läuse nach Hause kommst.» Parker hatte sich mit Wasser eine Tolle in die Stirn geduscht. Außerdem war er beim Friseur gewesen und hatte abstehende Ohren. Der Wagen roch nach Fisch. «Mein Vater ist heute mit seinem Wagen gefahren. Die Forstverwaltung hat einen Lieferwagen, aber mein Vater fährt lieber den eigenen. Er hat viertau send Regenbogenforellen rauf zu den Pecos gefah ren, dabei ist er bei Canon Seco in einem Felsen ge landet. Der ganze verdammte Fisch ist über den Rücksitz gepladdert. Eine Stunde lang hat er sie mit der Hand aufgesammelt.» 105
«Das stinkt ganz schön. Was sagen die Mädchen dazu?» «Bah, die setzen sich auch auf einen Sack nasse Pferdescheiße, solang er nur im Auto liegt. Heh, hast du Stiefel an?» «Nein, warum? Gehn wir wandern?» «Geh lieber zurück und hol dir Stiefel oder Über schuhe oder sonst was, wenn du deine Schuhe nicht ruinieren willst. Hol sie schon, wirst schon sehn, weshalb.» Ich ging zurück, holte meine kniehohen Gummi stiefel und kam zurück zum Wagen. «Schmeiß sie einfach hinten rein. Du wirst sie brauchen.» Wir fuhren durch die Stadt in Richtung Westen über die Plaza und weiter über einige arroyos. Die Straßen waren hier nicht mehr beleuchtet und die Häuser hingen schief oder sahen so zerlaufen aus, wie das bei Lehm auch in heißen Gegenden ist, wo jeder kurze Guß etwas mehr von der Wand weg wäscht. Keine Straße war gepflastert. Niemand in diesem Stadtteil zahlte Steuern, also wurde auch nicht gepflastert. In unserm Stadtteil zahlten alle Steuern, sogar hohe, aber es war auch nicht gepfla stert, weil die Anwohner fanden, das nähme den Charme. Recht hatten sie. Dem Staub würde es auch abhelfen. «Was ist Cloyds Vater?» Parker redete nicht viel, weil er den Wagen seines Vaters sehr sorgfältig um Schlaglöcher und schlafende Hunde herumfahren mußte. 106
«Der? Black John. Der Alte, der rührt keinen Finger. Kläger ist er.» «Was heißt das, Kläger?» «Das heißt, daß er nichts andres macht. Er verklagt Leute.» «Ah.» «Er hat was mit dem Rückgrat und kann es sich ausrenken, wann er will, wie eine Gummipuppe. Und das gibt einen Riesenbuckel wie ein Fußball. Wenn er knapp bei Kasse ist, und das ist er meistens, weil er nirgendwo fest arbeitet, rennt er in irgendein Fahr zeug, fällt, liegt da, ächzt und schreit zetermordio. Gewöhnlich sucht er sich Wagen oder Laster mit Firmenschildern aus, weil er meint, die sind besser versichert, als so die Leute.» «Nennt man das nicht Betrug? Kommt ihm denn da keiner auf die Schliche?» «Doch, ja, ich glaube schon. Er fährt mal hierhin, mal dahin, hat mir Velva Mae erzählt. In Sagrado hat er das Ding schon dreimal gedreht. Von Wormsers Dry Goods hat er fünftausend Dollar bekommen, als er sich von ihrem Lieferwagen anfahren ließ, und dasselbe nochmal vom Staat. Im Moment steckt er mit Big Pepes Altwarenhandlung mitten in den Ver handlungen.» «Das klingt ganz attraktiv, vorausgesetzt, man hat dafür die passende Wirbelsäule. Ich freue mich dar auf, ihn kennenzulernen.» «Im Moment hat er wohl ziemlich schlechte Laune wegen der Geschichte mit Big Pepe. Er hatte sich 107
Ecke Wilson-San Policarpio so aufgebaut, daß der Schrottlaster ihn streifen sollte, aber der Fahrer hat die Kurve zu scharf geschnitten. Der alte Cloyd ließ seinen Buckel munter rausschnappen – er macht das so, daß er die Hüften in die eine und die Schultern in die andere Richtung dreht –, aber als er auf die Bret ter ging, rutschte eine solide Fichtenbohle, fünf mal zehn Zentimeter, von der Ladefläche und traf ihn im Schenkel. Das Bein ist völlig zermatscht und vor Schmerzen kann er nicht kriechen. Jetzt versucht er, zehntausend Dollar einzuklagen, aber sein Bein tut ihm so weh, daß ihm der Spaß daran vergangen ist.» Parker bog von der Straße auf eine dunkle Bö schung, die eine Mischung aus Sand und Matsch zu sein schien, und drehte den Motor ab. «Zieh dir die Stiefel an, wir müssen ein Stück waten.» Zwischen uns und dem Licht bei Cloyds lagen hundert Meter, die aussahen wie unsere Sümpfe in Alabama. Der Grund war Morast, dazwischen Was ser und hier und da etwas Gras und hohe Kräuter, dahinter die dunklen Umrisse von Weiden und Pap peln. Parker ging mit der Taschenlampe voraus, und ich patschte hinterher. «Ich wußte nicht, daß es hier so viel Wasser gibt. Der Sagrado River ist trocken, seit ich hier bin.» «Dies ist eine cienega, eine Art unterirdische Quelle. Die taugen aber zu nichts. Sie verschlammen nur den Boden. Es kostet ein Vermögen, das ablau fen oder trockenlegen zu lassen, und Cloyd denkt nicht daran, für so was Geld auszugeben.» 108
«Muß die ganze Familie hier durch, wenn sie ins Haus wollen? Warum bauen sie keinen schmalen Deich?» «Lieber schwimmt Cloyd, als Brauchbares zu bau en.» Im Haus vor uns ging eine Tür auf, und ich sah jemanden im hellerleuchteten Rahmen stehen. «Ich bins, Parker! Nur nicht schießen!» «Runter von meinem Land, du Kriecher!» schrie Cloyd mit einer Stimme wie ein verrosteter Kran. «Der Abend wäre im Eimer», sagte ich und wollte zum Wagen zurücklaufen. «Nicht drum kümmern», flüsterte Parker. «So ist er immer. So begrüßt er jeden.» «Dreckiger Skunk», grölte Cloyd. «Einen Schritt weiter und ich blas dir ein Loch in den Bauch. Wer ist der andre? Der kann auch ein Loch in den Bauch haben!» «Nur ein Freund und ich, Mr. Cloyd. Wir wollten die Mädchen ins Kino abholen.» «Versuch bloß, meine Mädchen anzurühren. Ich gieß dir eine Ladung Petroleum übern Hintern und zünde ihn selbst an. Der andre da, ist der Mexikaner?» «Nein, Mr. Cloyd, er ist kein Mexikaner.» «Daß mir ja kein Mexikaner nicht an meine Töch ter geht. Wir sind eine anständige Familie hier.» Das Haus lag etwas höher und trockener als die cienega. Als wir die Stufen zum Eingang raufgingen, sah ich, daß Cloyd einen Bart, einen großen, verbeul ten schwarzen Hut, schmutzige Unterwäsche und ein 109
schweres doppelläufiges Gewehr trug. Das rechte Bein seiner langen Unterhosen war aus Platzgründen für den Gips aufgeschlitzt, der von der Hüfte bis zum Fuß reichte. Velva Mae und Venery Ann standen hinter ihm, fast erdrückt von der Masse des Vaters, und schielten nach uns. «Heh, Parker», sagte Venery Ann, «hast du den Wagen?» «Halt deinen Hurenmund oder du kriegst den Ge wehrkolben übern Hintern. Und ihr bleibt da stehen, bis ich die Zippen hier in der Besenkammer einge schlossen habe.» «Hast du genug Benzin für eine schöne lange Fahrt?» fragte Velva Mae. «Das muß ja dufte sein mit dem Dampfer.» «Ich habe den halben Tank», sagte Parker. «Mr. Cloyd, der Film fängt in einer halben Stunde an, wir sollten wirklich losgehen, wenn Sie nichts dagegen haben. Ist Ihr Bein besser geworden?» «Kümmer dich nicht um mein Bein, du Flunki, du fliegst sonst mitsamt deinem grünen Freund in die Jauchegrube.» Die Mädchen zwängten sich zwischen ihrem Vater und der Tür zu uns durch. Sie trugen bunte Baum wollkleider und kniehohe Gummistiefel. Ihre Schuhe hatten sie in der Hand. «Um zwölf oder eins sind wir wieder da», sagte Venery Ann. «Und kommt ja so unberührt zurück, wie ihr weg geht, sonst verkaufe ich euch an einen arabischen Hurenhändler.» 110
Unter Cloyds Flüchen wateten wir zurück zum Auto. Velva Mae hielt meine Hand und erzählte, einmal in Las Cruces sei sie in einem Lincoln gefah ren, das konnte sie noch immer nicht fassen, so traumhaft war das. Für heute abend und die Fahrt in Parkers Plymouth wollte sie ihren Stolz mal runterschlucken, ist ja auch Krieg. Wir taten die Stiefel in den Kofferraum, wechselten um auf etwas zivilisier tere Fußbekleidung und fuhren nach Sagrado zurück. «Das ganze Auto riecht nach Fisch», jammerte Venery Ann. «Wir können ja gehen», sagte Parker. «Ach, das bißchen Fischgeruch stört mich nicht.» Wir sahen einen Film über Sergeant York. Velva Mae verstand nicht, daß ein großer Held wie Gary Cooper zurückgehen und ein kleines, plattbrüstiges Mädchen wie Joan Lesley heiraten konnte, wo er sich aus all den leckeren Französinnen bloß eine aus zusuchen brauchte. Parker und Venery Ann küßten sich fast die ganze Zeit oder gingen in den Vorraum und kauften Lakritze und Popkorn. Nachdem wir den Trickfilm zweimal gesehen hatten, gingen wir über die Straße in Rumpps Laden und kauften Keks und Schokolade. Es war fast zehn Uhr, als wir zum Wa gen zurückkamen. «Wir haben noch zwei, drei Stunden Zeit», sagte Velva Mae, «laß uns zum North Hill fahren und den Mondaufgang erwarten.» «Es sieht nach Schnee aus», sagte Parker, «kein Mond heute.» 111
«Ich kann immer noch zurück ins Kino gehen und jemand anders finden, der mich hinfährt», sagte sie. «Fahren wir oder nicht?» Wir fuhren langsam den North Hill hinauf. Oben hatte früher eine Festung gestanden, die die Ameri kaner gebaut hatten, als sie Sagrado vor hundert Jah ren das erstemal den Mexikanern abnahmen. Das Fort war inzwischen völlig verschwunden, falls da je eins gestanden hatte. Nicht mal mehr ein Grundriß war sichtbar, einfach ein großer Platz auf einem Hü gel, verstreute Kiefern und Wacholder, und im Süden die Stadt. Abends standen Wagen und Kombis unter den meisten Bäumen. Steenie und ich waren nachts mal hinaufgegangen, und so oft wir gegen einen Stein oder Zweig stießen, tauchten von den Rücksit zen erschreckte Gesichter auf, um die Störung zu un tersuchen. «Wenn das gesamte Volk den North-HillPlan annähme», hatte Steenie gesagt, «hätten wir in fünfundzwanzig Jahren mehr Einwohner als China.» Parker fuhr den Plymouth unter einen ausladenden Wacholder und ließ ein Fenster runter, um den Fischgeruch auszulüften. Schwere, niedrig hängende Wolken bedeckten den Himmel, und weder Mond noch Sterne waren zu sehen. Sagrados Lichter flacker ten; so weit hätten wir auch nicht rauszufahren brau chen, aber es gab kein Nachtleben in der Stadt, und die Leute pflegten früh ins Bett zu gehen. Velva Maes scharfe kleine Zähne klapperten, und ich legte meinen Arm um sie. «Es ist schön hier, nicht wahr?» sagte ich und de 112
monstrierte meine brillante Salonschlagfertigkeit, die auf drei Kontinenten gerühmt wird. «Komm, wenn du heute nacht was losmachen willst, halt lieber den Mund. Ich mag keine großen Unterhaltungen.» Parker schob seinen Ellbogen über den Vordersitz und drehte sich zu uns um. «Mein Paket aus Tennes see ist da. Zehn Mark plus Porto habe ich bezahlt, aber das ist es auch wert.» «Großartig», sagte ich, «erzähl das doch Venery Ann.» «Die interessiert sich nicht dafür, heh, Venery?» «Nein.» «Mich interessiert das auch nicht», sagte Velva Mae, «dreh dich doch um und mach, was du Lust hast.» «Mädchen interessiert sowas auch nicht, aber Josh.» Ich nahm den Arm von Velva Maes Nacken. «Gut. Ich bin ganz Ohr. Was hast du aus Tennessee be kommen, das zehn Mark plus Porto kostet? Vor Neugier krieg ich schon seit drei Tagen keinen Bis sen mehr runter.» «Einen Viertelliter Fuchsurin», sagte er triumphie rend. «Den ganzen Winter müßte mir das reichen.» «Es könnte sogar zwei Winter reichen, wenn du es wirklich langsam trinkst.» Velva Mae war leicht neben mir zusammenge zuckt und sah Parker an, als wüchsen ihm Löwen mäulchen aus den Ohren. «Du hast einen Viertelliter was?» 113
«Fuchsurin. Fehenurin von Füchsen aus Tennes see.» «Du meinst … Pisse?» Parker sah verletzt aus. «Wir Wildhüter nennen das Urin. Wir benutzen viele solche biologischen Begriffe.» «Ich finde es gemein, daß du es dir ganz allein unter den Nagel reißen willst. Sowas teilt man mit seinen Freunden. Ich bezahle meine Hälfte.» «Was um alles in der Welt willst du damit ma chen?» fragte Venery Ann vom dunklen Vordersitz. «Fuchsfallen damit ködern», sagte Parker. «Was denn sonst?» «Sag mal, willst du uns anscheißen?» fragte Velva Mae. «Wir sind ja vielleicht hinterm Mond, aber sowas brauchen wir uns nicht anzuhören.» «Da siehst du, was passiert, wenn du versuchst, eine vernünftige Unterhaltung anzufangen», sagte Parker. «Die Mädchen werden albern, drehen durch und zetern und meckern rum.» «Du fährst uns sofort nach Hause, Parker», sagte Velva Mae. Ich griff nach ihr und versuchte, wieder in die frü here Position zu kommen, das heißt, meinen Arm ihr um die Schulter zu legen. «Ihr wollt doch noch nicht gehen. Der Mondaufgang hat noch nicht mal ange fangen.» Ich sah, daß Velva Mae eigentlich nicht nach Hause wollte. Ich küßte sie, und sie biß mir zart und nicht zu schmerzhaft in die Oberlippe. Parker kümmerte 114
sich nicht um Venery Ann. Er saß immer noch um gedreht auf dem Sitz, den Arm über der Lehne, und sah uns an. «Zehn Mark pro Viertelliter, das macht vierzig Mark pro Liter. Das ist viel teurer als Whisky.» «Nicht drum kümmern», flüsterte Velva Mae und biß mir ins Ohrläppchen. Sie befühlte meine Narbe an der Schläfe. «Wie bist du zu der Narbe gekom men?» «Ein Arzt wollte mal reinsehen und hat mir ein Stück Knochen rausgeschnitten. Er hat gesagt, sowas sei ihm in dreißigjähriger Praxis noch nicht unterge kommen. Hör mal, nag doch mal zur Abwechslung an meinem andern Ohr. Das hier fängt gleich an zu bluten.» «Ich knabber so gerne an Jungens. Hier, bleib so sitzen, ich krauche rüber.» Sie kroch über meinen Schoß und ließ sich auf der anderen Seite wieder runterrutschen. «Das macht Spaß, komm, das andre Ohr.» «Mach ihm bloß keine Knutschflecken», sagte Venery. Auf dem Vordersitz fummelte sie an den Knöpfen am Armaturenbrett. «He, Parker, wo sind die Scheinwerfer?» «Der kleine Knopf da. Schalte nicht ein, die Batte rie läuft aus.» «Nur einmal kurz. Ich will mal sehen, wer alles in dem Wagen da vorn ist.» Sie knipste das Licht an und beleuchtete einen La Salle Baujahr 34 mit ausge schlagener Heckscheibe. «Wetten, die frieren da drin, ohne Kleider und bei dem Durchzug.» 115
«Das ist doch Chango in dem Wagen», sagte Par ker. «Der ist wohl hinter dir her.» «Komm, weg hier, Park», sagte ich. «Ich will nicht, daß du hinterher den Wagen voll Blut hast.» «Du hast doch wohl keine Angst vor Chango Lo pez», sagte Velva Mae. «Ich dachte, du bist ein Mann.» «Unter anderm hat der Arzt in meinem Kopf gese hen, daß ich eine gallina bin. Los, Park, fahren wir.» Parker schaltete den Motor an. Die Mädchen fin gen an zu jammern. «Nirgendwo sonst kann man parken», sagte Velva Mae. «Überall sonst ist alles voll Polizei, die mit Taschenlampen reinsehen.» «Wenn wir nicht sofort fahren, haue ich zu Fuß ab den Berg runter. Als ich Chango das letzte Mal gese hen habe, wedelte er und einer seiner Freunde mit dem Messer herum.» Parker stieß rückwärts ins Wacholdergestrüpp und fuhr den Hügel hinunter. Velva Mae stieß mich weg und setzte sich mit verschränkten Armen schmollend gegen die Tür. Ich zog ein Taschentuch heraus und wischte mir die feuchten, schmerzenden Ohren ab. «Es tut mir leid. Willst du, daß ich umgebracht werde? Wozu? Du wärst Zeugin und müßtest vor Gericht aussagen. Stell dir irgendeinen schlauen Anwalt vor. ,Miß Cloyd, der Körper des Opfers läßt dreiundvier zig Stichwunden in Brust und Unterleib und einen zerkauten Zustand beider Ohrläppchen erkennen. Würden Sie dem Gericht bitte sagen, ob …» «Rede nur weiter. Mein Vater reißt dir den Kopf 116
ab, wenn wir nach Hause kommen. Ich brauche nur den Mund aufzumachen. Mit dir gehe ich nie wie der.» Wir fuhren die lange Strecke zu Cloyds cienega schweigend zurück. Bevor wir ankamen, fing es an zu schneien. «Das ist der erste große Schnee», sagte Parker. «Neulich der zur Fiesta war nur ein Vorge schmack. Morgen früh liegt er zwanzig, dreißig Zen timeter hoch.» «In dem Sumpf da draußen wird es im Winter so kalt», sagte Venery Ann. «Wenn mein Vater bloß in die Stadt zöge. Aber er wohnt gern da. Er sagt, er könne hören, wenn jemand durchs Wasser käme, und keiner kann sich ranschleichen und die Schweine stehlen.» Wir zogen die Stiefel an und gingen im Gänse marsch durch die cienega. Einmal stolperte ich und fiel auf Hände und Knie. Velva Mae kicherte. Ich war kalt und durchnäßt, als wir am dunklen Haus an kamen, und sagte den Mädchen gute Nacht. Venery Ann und Parker küßten sich. «Ich küsse dich nicht», sagte Velva Mae, «du bist patschnaß.» Die Haustür flog auf, und Mr. Cloyd steckte sei nen Kopf raus. «Keinen Abschiedskuß, was? Ihr seid wohl völlig verrückt geworden. Rein mit euch oder es setzt Fußtritte.» «Das ist mein Vater», sagte sie, als wäre das nicht bereits klar. «Ich glaube, ich sollte lieber reingehen. Komm, Venery.» 117
«Gute Nacht», sagte ich. «Gute Nacht.» «Bis morgen in der Schule.» «Und ihr beiden Puffottern verschwindet hier aber zack, zack, sonst bring ich euch mit ein paar Arsch tritten auf Trab», blökte Cloyd. Schon halbwegs wieder beim Auto, hörten wir ihn immer noch durch die Nacht brüllen: «Und daß die Mädchen mir ja un berührt sind!»
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10. Kapitel
Es kam ein Brief von meinem Vater. Lieber Josh, das hatte ich fast gefürchtet, aber Jim bob ist bestenfalls harmlos und schlimmstenfalls geht er einem auf die Nerven. Wahrscheinlich weißt Du das nicht, er hat keinen Pfennig. Die Buels waren reich vor dem Bürgerkrieg, aber 1880 verkauften sie ihren Grundbesitz für etwa zwei Dollar pro Hektar. Jimbobs vier Jahre Universität in Virginia haben den Rest geschluckt. Seitdem ist er halbberuflicher Haus gast. Er hat viele Talente und kann nichts, dazu den kurzlebigen Charme der eingedrillten guten Kinder stube. Er ist überflüssig und klug genug, um das zu wissen, und anständig genug, um sich deswegen zu verachten. Es ist schwer zu sagen, wie Du Dich in der Lage verhalten sollst. Sei einfach Du selbst; ich hoffe, ich lasse damit kein Monster los. Benutze von jetzt an die Marineadresse. Ich bin Erster Offizier auf einem Begleitzerstörer, wo braucht Dich nicht zu kümmern. Ich bin auch Schiffszensor und lese die Post von allen. Es wird mir eine Freude sein, Dir, sobald Du alt genug bist, also ungefähr in vierzig Jahren, einige von den haarsträubenden Sa chen zu erzählen, die Seeleute an ihre Frauen oder Freundinnen schreiben. 119
Besuche einmal meinen alten Freund Romeo Bo nino, falls Du ihn noch nicht kennst. Er ist Bildhauer und wohnt oder wohnte mit einem Mädchen namens Georgine im Camino Chiquito. Georgine hieß sie jedenfalls vor zwei Jahren. Er hat die Partneritis, wenn Du weißt, was ich meine. Deine Mutter kann ihn aus diversen Gründen nicht ausstehen. Er wird Dir gefallen, glaube ich. Auf seltsame Weise mag er sogar einen guten Einfluß auf Dich haben. Auf dem Militärsender hörte ich, daß vor ein paar Tagen ein schwerer Sturm über den Rocky Moun tains war. Wie gefällt Dir Wasserratte der Schnee? Der beiliegende Scheck ist für Amadeo. Verhandle nicht mit ihm, gib ihn ihm einfach. Viele Grüße Captain Bligh Und ein Brief von Corky Conway: Lieber Josh, wie geht es Dir? Mir geht es gut. Ich segle viel, weil es noch warm ist. Grüße von Bubba. Die Schule macht noch immer so viel Spaß (ha, ha, lustig). In der Zeitung hat gestanden, ein deutsches U-Boot sei am selben Tag in der Bucht gewesen, als wir draußen waren und segelten. Aber versenkt hat es uns nicht. Alle Nigger sind in die Waffenfabriken gegangen und verdienen sich dumm und dämlich. Mein Vater sagt, das wird die Wirtschaft ruinieren. Tschüs jetzt. Corky 120
Und einer von Lacey: Lieber kleiner Boß, Paul und ich arbeiten jetzt ganztags und mit Über stunden auf der Marinewerft, manchmal sechzig Stunden die Woche, und verdienen geschlagene hun dertzehn Dollar jeder. Wir sparen auf ein Haus in Rosewood für nach dem Krieg. Dein Vater hat ge sagt, er würde den Rest dazulegen, wenn er zurück kommt, aber es geht jetzt so schnell, vielleicht braucht er es gar nicht. Wir kriegen oft Post von ihm und manchmal einen Scheck. Hast Du eigentlich das Schreiben verlernt? Bis Mitte Oktober war es hier die ganze Zeit ziemlich heiß und hat kaum mal geregnet, so daß die Krab benlöcher ausgetrocknet sind und sie jetzt zwei Mark das Pfund bringen. Wie ist die Krabbenfischerei bei Euch? Paul fragt, ob Du noch säufst wie früher. Viele Küsse und Grüße an Deine Mutter Lacey Robinson Ich schreibe jetzt weiter, Paul. Lacey putzt immer noch Makrelen, und in der Kirche kommt sie bald ganz groß raus, vielleicht Papst. Wie im Lied ,Methodist bin ich bis in den Tod’, aber kaum ist Freitag, kocht sie doch immer wieder Pompano, und nennst Du das Fasten? Lacey sagt, wenn ich katholisch werde, kriege ich einen Platz im Himmel, und hoffentlich ist es da nicht so heiß wie hier jetzt in Mobile. Dein Freund Paul 121
Und schließlich, auf einem hellblauen Zettel von Marcia: Lieber Josh! Es tut mir leid, daß ich mich so idiotisch benommen habe. Wirst Du mir verzeihen? Buckies größter Mus kel ist der zwischen seinen Ohren, und ich fühle mich, als hätte ich mich die letzten zwei Wochen mit einem Stück Holz unterhalten. Redest Du morgen mit mir in der Schule, oder muß ich lesbisch werden? Das habe ich grade herausgefunden, es ist faszinierend. Dein honcho Marcia
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11. Kapitel
Eines Morgens, wir hatten gerade Englisch und witzelten über Lucys Gedichte, kam Chamaco mit Ratoncito, dem Direktor, herein und flüsterte Miß Jefferson ins Ohr. Steenie erhob sich und verkündete dramatisch, der Schuldige sei er, und man möge ihn abführen, damit er das nicht wieder mache. Er gab grade eine komplizierte psychologische Erklärung seiner Verbrechen, als Miß Jefferson sagte: «Steenie, sei ruhig. Arnold, kommst du mal nach vorn?» Chamaco, diesmal in seiner Eigenschaft als Sheriff und nicht als Fiestaimpresario, war in voller Montur: Polizist aus dem Südwesten. Er trug eine fast kom plette Khakiuniform mit einem schicken schwarzen Schlips, glich das aber aus mit hochhackigen Stie feln, einem großen Stetson und einem tiefhängenden Dienstrevolver, den Koppelriemen um den Schenkel. Er hatte ungefähr vierzig Pfund zu viel auf dem Leib, und ein Gutteil seiner selbst hing ihm vor dem Gür tel. Aber er machte ein ernstes Gesicht. Als ich durch die Reihen nach vorn ging, murmel te Steenie: «Ausbruch Flügel D heute nacht, weiter geben», doch alle drei, Chamaco, Miß Jefferson und Ratoncito sahen auf mich. Zum Lachen war mir nicht. Unterwegs fing ich einen Blick von Marcia 123
auf; sie guckte neugierig interessiert, doch schien sie nicht sonderlich traurig zu sein, daß ich von der Poli zei abgeholt wurde. Ich glaube, sie überlegte, wie sie dieser neuen Veränderung begegnen sollte. Für einen Augenblick sah ich sie an ihrem Küchentisch, vor sich ein offenes Kochbuch, mitten in einem solchen Wirrwarr von Backutensilien, daß sie keinen Finger rühren konnte: Mehl, Eier, Zucker, Backpulver und eine Nicholsonfeile, empfehlenswert zum Durchsä gen zwei Zentimeter dicker, eisgehärteter Stahlstan gen. Im Gänsemarsch gingen Ratoncito, Chamaco und ich in einen Raum neben dem Direktorzimmer. Ra toncito ließ uns da allein. Chamaco sagte, ich sollte mich hinsetzen, und setzte sich gegenüber. «Mr. Trujillo, das mit der Plaza, ich meine, daß ich Sie ausgelacht habe, das tut mir wirklich leid. Ich weiß, daß Sie sich mit den Leuten nur Mühe gegeben haben, und natürlich ist es nicht Ihre Schuld, daß es angefangen hatte zu schneien. Es soll hier ja nie im September schneien. Es war auch nur ganz kurz. Aber ich weiß, wie hart Sie gearbeitet haben. Es war nicht nett, Sie deswegen aufzuziehen.» Während meiner kurzen Ansprache starrte Cha maco mich an und auch noch danach, als hätte er Angst, ich löste mich in blauen Dunst auf. Schließ lich griff er in die Innentasche, entnahm ihr eine Zi garette und zündete sie an. Den Rauch blies er lang sam und gedankenverloren aus. «Versteh kein Wort.» 124
«Die Fiesta, erinnern Sie sich an die Fiesta, wo es anfing zu schneien, und ein paar Freunde und ich …» «Arnold, irgendwelche schlauen kleinen Rotzna sen krähten schon hinter mir her, da warst du noch gar nicht auf der Welt. Deswegen bin ich nicht hier.» Er blies noch mehr Rauch aus und starrte mich wie der an. «Kennst du Tarzan? Tarzan Velarde?» «Ja, kaum.» «Wann hast du ihn das letztemal gesehen?» «Vor ein paar Wochen, im Camino Chiquito.» «Worüber habt ihr geredet?» «Über nichts eigentlich. Er jagte mich, ich rannte. Er hatte ein Messer. Jedenfalls glaube ich, es war eins.» «Ja, das war ein Messer. Damit läuft er gerne rum und sticht es den Leuten in die Reifen. Gestern abend in einen Freund. Den kennst du wahrscheinlich auch. Maximiliano Lopez, geht hier zur Schule.» «Soll das heißen, er ist mit dem Messer auf Chango losgegangen?» «Genau. Durch den Bauch und einen Teil der Le ber.» «Umgebracht?» «Nein, umgebracht nicht. Er ist im Krankenhaus, wird auch ‘ne Weile bleiben.» «Und warum fragen Sie mich deswegen? Ich kenne Tarzan kaum, nur von dem einen Mal im Camino Chiquito. Wir sind nicht gerade das, was man im all gemeinen gute Freunde zu nennen pflegt.» «Warum ich dich frage? Weil Chango mir im 125
Krankenhaus erzählt hat: ,Fragen Sie Josh Arnold.’ Vielleicht meint er, du weißt was.» «Es tut mir leid, Sheriff, ich weiß nichts darüber. Ich weiß nicht mal, wo Tarzan wohnt.» «Bei ihm zuhause sind wir gewesen. Er ist nicht da. Sein Vater meinte, wir sollten Streifen ausschicken. Er hat sich wohl irgendwo verkrochen, vielleicht im Norden in den Bergen. Vielleicht trampt er irgend wohin.» «Mr. Trujillo, ich schwöre Ihnen, daß ich nichts über Tarzan weiß. Aber wenn ich ihn sehe, sage ich es Ihnen sofort und stehe nicht da und streite mich mit ihm.» Chamaco drückte die Zigarette aus und zündete sich eine andere an. «Gute Idee. Seine Mutter sagt mir, sie glaubt, er ist verrückt und gehört hinter Schloß und Riegel. Hoffentlich muß ich ihn nicht abknallen.» Er atmete den Rauch aus und suchte in den wirbelnden Mustern Tarzan. «Lopez und du, ihr seid gute Freunde, eh?» «Nein, wirklich, das kann man nicht grade sagen. Er hat sogar was gegen mich. Aber natürlich tut es mir leid, daß er ein Messer in die Leber gekriegt hat.» «Lopez kenne ich seit seiner Kommunion. Er ist ein Schläger und ein großes Maul hat er, aber er macht weniger Putz als die meisten andern. Wie das mit Tarzan passiert ist, wollte er mir nicht sagen. Los will er und ihn allein sattmachen, was ich in seinem Zustand jetzt für ziemlich unwahrscheinlich halte. 126
Du bist also sicher, ihr seid keine Freunde. Im Kran kenhaus bei ihm hatte man den Eindruck.» «Wenn er meint, wir sind befreundet, hat er eine komische Art, das zu zeigen. Er beschuldigt mich andauernd, hinter seiner Schwester her zu sein.» «Ah ja, seine Schwester. Viola.» Er machte die bewußte Geste vor dem Hemd. «Genau die.» «Gut. Geh mal ruhig zurück in die Klasse. Ich gehe noch zu Mr. Alexander, damit er überall ansagen läßt, daß ihr auf Tarzan aufpaßt.» Er hievte sich aus dem Sessel und zögerte einen Augenblick. «Nächstes Jahr, wenn du wieder bei der Kapelle rumjohlst, komm ich runter und mach dich zur Sau, klar?» «Klar, Sheriff.» Nach der Schule gingen Marcia, Steenie und ich rüber zu Rumpp in den Drugstore und kauften Malz bonbons. Der Schnee fing an zu schmelzen und häufte sich grau und traurig gegen die Hecken. Braunes Wasser stand im Rinnstein. Trotz des blauen Him mels war der Tag niederdrückend, kalt und matschig. Ich wünschte, es finge wieder an zu schneien, damit all die Häßlichkeit verdeckt würde. Steenie ging es genau so. «Wenn es noch einmal anständig schneit, können wir auf dem Otero Hill rodeln gehen. Fährst du gern Schlitten, Josh?» «In Alabama ist das nicht ganz so populär, wir ha ben da weder Berge noch Schnee.» «Wir haben da ein kleines Spiel beim Schlittenfah ren», sagte Marcia, «das heißt gallina.» 127
«Du meinst, ihr rodelt auf einem toten Gaul?» «Nein, dies ist eine andere Art gallina. Wir zeigen dir das schon beizeiten.» Wir setzten uns in eine Bude, und Marcia versuch te, mich über den Abend mit Parker und den Cloyds auszuholen. «Ich nehme an, du hast dich wie ein Mann benom men. Schließlich ist es ein Trieb wie jeder andre, wie Essen und Selbsterhaltung. Kein Grund, sich zu schämen.» «Die Cloyds hat doch jeder geschafft», sagte Stee nie. «Das heißt, fast jeder. Ich persönlich erhalte mich meiner Arbeit rein wie ein Mönch.» «Wir haben den ganzen Abend über den Preis von Fuchsurin geredet. Nach unserer Rechnung kostet der Liter vierzig Mark.» Marcia überhörte das. «War es sanft und beglüc kend oder mechanisch und trocken? Es soll beides möglich sein.» «Es kann auch beklemmend und abstoßend sein», sagte Steenie, «oder mystisch und religiös. Das geht nicht nach Schema F.» «Verzeiht. Ich möchte nicht darüber sprechen. Wenn man die Dinge zerredet, nimmt es ihnen den Glanz. Ich kann nur sagen, daß es eine Nacht war, die ich auf immer im Gedächtnis bewahren werde.» «Du lügst», sagte Marcia. «Du hast keine auch nur angefaßt. Du bist ein Angeber.» Steenie streichelte ihre Hand. «Nimm dem Jungen nicht seine Erinnerungen, bring ihn nicht in Verwir 128
rung. Für Jungen wie für Mädchen ist dies eine ent scheidende emotionale Erfahrung.» «Richtig.» «Quatsch. Gib mir noch so ein mieses Malzbonbon, damit mein mieses Gesicht verpickelt und meine miese Taille noch einen miesen Zentimeter dicker wird, bis mich von Sophie Tucker schließlich nichts mehr unterscheidet.» «Das ist ja lächerlich», sagte Steenie, «du bist das schönste Mädchen diesseits des Allegheny River. Josh und ich sind geblendet von deiner Schönheit. Als äßen wir Malzbonbons mit Ra, der Göttin des Lichts.» «Neben dir sieht Betty Grable aus wie ein alter Sack Kohlen.» «Dein Haar ist wie die Mähne eines sauberen Lö wen. Nicht, daß ich je einen gesehen hätte.» «Ganze Regimenter könntest du wahnsinnig ma chen mit deiner Figur. Picasso lechzt danach, dich zu malen. Mit zwei Nasen und sieben Augen.» «Natalie Calmus will einen Farbfilm mit dir dre hen.» «Jose Iturbi will den Minutenwalzer in siebenund fünfzig Sekunden spielen, nur für dich.» «Wären deine Knöchel nicht ein bißchen dick, würde Gary Cooper …» «Was war das mit meinen Knöcheln?» «Gott», sagte Steenie, «sie sind nicht, was ich feist nennen würde, aber ein Zentimeter weniger würde vielleicht nicht schaden.» 129
«Marcia, glaub mir, deine Knöchel sind grade richtig. Du bist perfekt, wie du bist, nur ein paar Zen timeter mehr da oben, dann wärst du einfach umwer fend.» «Was ist los mit hier oben?» «Los? Nichts ist los. Es ist erfreulich, was da ist, und es wird schon reichen.» «Technisch gesehen», sagte Steenie, «vom medi zinischen Standpunkt aus.» «Ich weiß nicht, wieso ich mich mit euch pendejos auch nur zeigen mag. Bucky Swenson hat mir nur nette Dinge gesagt.» «Zum Beispiel?» «Ich sei hübsch.» «Ganz mein Bucky», sagte Steenie. «Ein Meister des Schmeichelns. Er schnurrt dir diese süßen Wörter ins Ohr …» «Diese Honigwörter …» «Diese Honigwörter ins Ohr, und du sinkst hin. Du händigst ihm die Schlüssel zu deinem Schmuckkäst chen aus, du läßt ihn deinen Rolls-Royce fahren.» «Könnte ich bloß reden wie Bucky Swenson. Vor Mädchen fange ich immer an zu stottern.» «Ich auch.» «Ihr könnt mir mal den Mondschein runterrut schen.» «Was hältst du davon, wenn wir dir im Buckel be gegnen», fragte Steenie vernünftigerweise. «Du weißt, was ich meine.» Ich nahm ihre Hand und sah ihr ernst und, ich hoffe, 130
seelenvoll in die Augen. «Marcia, wir lieben dich. Wirklich. Wir finden, du bist das dufteste Mädchen vom ganzen Block.» Steenie nahm ihre andre Hand. «Wer zerkratzt sich die Knie und spielt Murmeln wie du?» «Du gehörst einfach dazu. Niemand käme über haupt auf die Idee, daß du ein Mädchen sein könn test.» «Jetzt langt’s», sagte sie scharf, und ihre Augen wurden langsam rot. «Ich hab dir gesagt, es tut mir leid, daß ich mit Bucky gegangen bin. Ich bin auf Händen und Füßen zu dir gekrochen. Gedemütigt habe ich mich.» Ich küßte sie auf die Backe. Steenie auf die andere. «Ihr seid einfach Lümmel», sagte sie. «Waas?» fragte Steenie. «Mein Vater hat mir das Wort verboten. Er sagt, es ließe auf einen schwachen Charakter schließen. Aber das seid ihr. Alle beide.» «Was?» fragte ich. «Schweinehunde.» Steenie ließ seine Tüte fallen und sah sie entsetzt an. «Marcia! So ein Wort von deinen süßen Lippen! Mir wird schlecht.» «Mir kommt das Malzbonbon hoch, und hier auf den Tisch. Eine solche Sprache dreht mir den Magen um. Iiiihrrrk! Ich bin gezeichnet. Ich habe Abschaum angerührt.» Marcia sah feierlich erst Steenie, dann mich an. «Scheiße.» 131
«So ist’s recht», sagte Steenie. «Das hört sich schon anders an. Das ist endlich wieder meine gute alte Marcia.» Wir aßen noch jeder ein wässriges Malzbonbon, garantiert Kriegsware, und fragten uns, wohin Scho kolade, Malz und Zucker bloß im Krieg verschwän den. Steenie hatte das Gefühl, in einem geheimen Waffenarsenal in Louisiana würde Sprengstoff draus gemacht. Marcia behauptete, sie würden über Tokio abgeworfen, damit die Japaner sie äßen und Akne bekämen und der Krieg ein schnelles Ende fände. Als wir zurück zur Schule gingen, schlug Marcia vor, Chango im Krankenhaus zu besuchen. «Der ar me Kerl, liegt da und das Plasma tröpfelt ihm in die Venen, und keiner in Reichweite, den er vermöbeln kann. Zu elend, um Viola vor einem Schicksal, schlimmer als der Tod, zu bewahren. Übrigens, wieso heißt das eigentlich so?» «Frag mich nicht», sagte Steenie, «ich habe das nicht gesagt.» «Meinetwegen will ich Chango gern besuchen», sagte ich, «wenn ihr mir versprecht, daß der Strom unterhaltender Besucher ihn umbringt. Am besten, wir setzen uns auf die Bettkante und hopsen rauf und runter.» «Das ist häßlich und gemein, sowas vorzuschla gen. Ich weiß, daß du das nicht ernst meinst», sagte Marcia. «Ich könnte ihm auch einen Strauß Chamiso pflü cken. Wenn er nur genug niest, platzt ihm die Naht.» 132
«Man könnte ihm eine Luftblase injizieren», schlug Steenie vor. «Ein schmerzhafter Tod, der nichts verrät. Eine Nadel könnte ich aus der Tasche von meinem Vater klauen.» «Ihr seid einfach blutrünstig», sagte Marcia. «Bei etwas Liebe und Zuneigung würde Chango völlig normal.» «Liebe, Zuneigung und eine neue Leber», sagte Steenie. Der Nachmittag verging langsam. Die Klas sen summten vom Gerede über Tarzan und Chango, die ohnehin nicht im Ruch eines vorbildlichen Cha rakters standen. Alle Jungen schworen, sie würden Waffen tragen, bis Tarzan dingfest gemacht und ab geurteilt sei. Der einzige, der eine hatte, war Parker, und der wollte nichts davon wissen: «Das Gewehr ist ein Werkzeug zum Hegen des Wildbestands, keine Waffe. Wir schießen Raubtiere damit.» «Ich wüßte kein besseres Wort für Tarzan Velarde», sagte ich. «Laß mich in Frieden.» Die diensthabenden Schwestern führten uns auf Changos Station. Offensichtlich sollten wir ihn nicht allein antreffen. Vier Betten standen in seinem Zim mer, zwei davon leer. In dem einen lag ein alter Mann mit dem Gesicht zur Wand. Eine Gruppe, bei der es sich nur um Verwandte handeln konnte, ver teilte sich auf Stühlen in einem Halbkreis um sein Bett. Chango lag an der Wand gegenüber. Klein und blaß sah er aus unter der weißen Decke. Irgend je mand, wahrscheinlich ein Arzt mit viel Sinn für Sau 133
berkeit, hatte ihm die Haare gewaschen. Da lag er, beide Arme auf der Decke, und hob den einen schwach zur Begrüßung. «Hallo, nett, daß ihr kommt.» Sein pachuco-Akzent war auch weg. Drüben am andern Bett wechselten die Verwand ten im Klagen – etwas früh, schien mir, der Mann lebte noch – und der Diskussion über die Erbauftei lung ab. Einer, ein kräftig gebauter junger Mann, der um diese Zeit besser irgendwo sein Geld verdient hätte, sagte gerade: «Papacito, du weißt, ich sollte alles Land östlich vom großen Pappelwald kriegen. Schließlich habe ich dir zuerst vorgeschlagen, da Alfalfa zu pflanzen. Gott, Mensch, Papacito, was zum Teufel kann Ramon denn überhaupt mit drei Hektar anfangen?» Marcia nahm Changos kräftige braune Hand und streichelte sie. Hätte er gesund vor ihr gestanden, wäre sie nie auf die Idee gekommen. «Du siehst schlimm aus, Maximiliano», sagte sie tröstend, «wie fühlt sich das an, wenn einer einem ein Messer bis in die Leber rennt? Erzähl mal.» «Es tut weh. Als ob was drin verbrennt.» Am andern Bett, wo die Agonie stattfand, sagte eine der Frauen: «Im großen Zimmer sind achtzehn vigas an der Decke. Wenn ihr das gerecht verteilen wollt, sollten Carmen, Consuelo und ich je sechs kriegen, und da ich die älteste bin, sollte ich die sechs in der Mitte mit dem Kamin bekommen.» Steenie streckte seine Finger grade und flach aus und zielte damit über Changos Bauch nach unten. 134
«Ein kleiner Test, Chango. Schrei, wenn ich eine empfindliche Stelle treffe.» Chango wurde noch blasser, und auf der Oberlippe brach ihm der Schweiß aus. «Mein Gott, bitte, um Himmelswillen, da nicht hinschlagen. Guter Gott, te ruego, hombre, das ist kein Witz, Mann.» «Wenn du ihn anfaßt, Stenopolous, rede ich kein Wort mehr mit dir», sagte Marcia. Steenie ließ ein berufsmäßig klingendes Summen hören und entspannte die Finger. «Vielleicht wird direkter Kontakt nicht nötig sein. Ihr habt gesehen, was die pure Drohung erreicht hat. Er hat ,bitte’ ge sagt. Das könnte ein medizinisches Wunder geben, wie Sulfonamide oder Anästhesie.» «Bitte, bitte, bitte, Mann.» «Meine Güte. Ein totaler Persönlichkeitswechsel. Ob The Lancet einen Artikel von einem siebzehnjäh rigen amerikanischen Amateur annähme? Das wäre ein schöner Fähigkeitsnachweis, wenn ich Medizin studieren will.» Am andern Bett sagte einer der Söhne oder Neffen: «Zum Teufel, Alter, wenn du nicht damit rausrücken willst, wo du die Silberteller versteckt hast, sag mir wenigstens, wo ich die Schlüssel für den Kombi finde.» «Wie gehts, Chango», sagte ich, «keine Flüche heute?» «Mann, das tut mir leid. Wirklich leid. Du hast mir nie etwas getan. Das möchte ich von der Seele ha ben.» 135
«Was ist los mit dir? Was redest du da? Wo ist dein schmieriger Akzent geblieben?» «Ich habe nur so geredet, ich dachte, das ist stark. Ich war muy macho.» «Im Moment siehst du weniger macho aus», sagte Marcia. «Du siehst aus, als hättest du gerade Zwil linge bekommen.» Die zarte Szene am andern Bett wurde lauter. Der Kranke hatte sich zu seiner Familie umgedreht. «Ihr könnt mich mal. Ich habe euch schon gesagt, daß ich gebeichtet habe, letzte Ölung und alles, also ist mein Gewissen rein und ich rede nicht mehr über Geschäfte. Das Testament liegt beim Anwalt, und wenn ich weg bin, dürft ihr alle mal reinriechen. Wenn euch nicht gefällt, was ihr findet, könnt ihr in den Himmel flie gen und mich mal am Arsch lecken.» Chango zeigte auf die entgeisterte Familie. «Das geht so schon den ganzen Tag. So zäh der Alte ist, früher oder später bringen sie ihn um.» «Und du, perezoso pendejo», sagte der Alte zum größten und bulligsten der Männer, «wenn ich dir was hinterlasse, bist du die Arbeitslosenunterstüt zung los und mußt entweder auf deinem Land arbei ten oder dir einen Job suchen. Du glaubst doch wohl selbst nicht, daß du mit deinen vierzig Jahren dein Leben noch so umkrempeln willst, heh? Verschwin det, aber alle, daß ich nicht fluche und die ganze letzte Ölung nochmal über mich ergehen lassen muß.» Die älteste Frau schlug die Augen nieder. «Beten wir alle für die Seele eures Vaters.» Fügsam nahmen 136
die Kinder fromme Haltungen an und jammerten auf Lateinisch. «Der liebe Gott glaubt euch kein Wort», sagte der Alte. «Er beachtet’s nicht, wenn ihn ein Wiesel bittet, es in den Hühnerstall zu lassen.» Mit einem Ruck drehte er sich wieder zur Wand. Marcia sah Chango an wie ein eingewickeltes Weihnachtsgeschenk. «Darf ich die Decke runterzie hen und mir die Wunde ansehen? Ich habe noch nie eine richtige Stichwunde gesehen.» «Da ist überall Verband drüber», sagte Chango. «Die haben mir da einen Gummischlauch reinge steckt und ernähren mich durch den … auf normale Weise darf ich nichts essen.» «Da fällt mir ein Witz ein», sagte Steenie. «Ein Mann wurde rektal ernährt und fragt den Arzt …» «Ich kenn ihn auch, Mann. Erzähl ihn nicht vor Marcia.» «Das schwöre ich», sagte Steenie, «hätte ich ge wußt, daß ein Messer diese Wirkung haben kann, hätte ich dir schon lange eins verpaßt. Gehst du jetzt sofort nach der Schule ins Kloster?» «Chango, was für ein Blech hast du Chamaco ei gentlich erzählt? Du weißt doch, daß ich Tarzan nicht kenne, außer daß er mir neulich da an der acequia einen Heidenschrecken eingejagt hat.» «Mann, ich dachte, Tarzan würde dir einen kleinen Besuch abstatten, nachdem er mich hatte. Er ist ver rückt. Er wird jedem ein Messer in den Bauch rennen. 137
Neulich im Camino Chiquito wußte ich nicht mal, daß er ein Messer besaß. Ich hatte ihn nur gefragt, ob er nicht mal mit anfassen will. Wir wollten dir nur ein bißchen einheizen, damit du nicht zu viel Ober wasser kriegst. Ich hatte bestimmt keine Ahnung. Dann bist du abgehauen wie ein Coyote und in dem Hof verschwunden. Ich habe genau gewußt, wo du warst. Ich sah deinen Schatten hinter dem Holzstapel, aber ich dachte, wenn ich was sage, geht Tarzan los und sticht dich ab. Dann traf ich ihn gestern abend unten am Fluß. Er hatte die ganze Zeit an nichts anderes gedacht und war wütend, kann ich dir sa gen. Ein Feigling sei ich, ich übte Laufen, um Ka ninchen zu fangen und pinche draus zu machen. ,Hau ab’, sagte ich, und er: ,Tómaló, cabrón’, und stach zu. Mann, bin ich in die Knie gegangen. Und wie ich da liege, beugt er sich runter und sagt: Jetzt ist Josué dran’, und tritt mir in den … tritt zu und verschwindet. Deshalb dachte ich, wenn er dich nicht schon erwischt hat, weißt du vielleicht, wo er ist. Deshalb habe ich das Chamaco gesagt. Weiß er, wo er ist?» «Chamaco meinte, vielleicht in den Bergen, oder er trampt irgendwohin.» «Nein, der verschwindet nicht aus der Stadt, bevor er nicht wirklich die Polizei auf dem Hals hat.» «Und wer ist der Josué, auf den er es abgesehen hat?» «Das bist du, Mensch. Er weiß, wo du wohnst und wie du zur Schule gehst. Paß lieber auf. Er ist älter 138
als wir. Er ist zwanzig Jahre alt. Drei Jahre hat er in der Untersekunda gesessen.» Eine Krankenschwester kam schwungvoll herein. «Hier ist Ihr Essen, junger Mann. Ihr Besuch muß jetzt leider gehen.» Ein Pfleger rollte ein Chromge stell voller Flaschen und Schläuche herein. «Mmmmmm», sagte Steenie, «das sieht ja köstlich aus.» «Laß die Witze, Mann. Das ist nicht zum Lachen.» Am andern Bett beendeten sie ihre Gebete und verpackten die Rosenkränze. Der Alte lag immer noch mit dem Gesicht zur Wand.
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12. Kapitel
Anfang November schneite es drei Tage lang ununter brochen. Die Leute ließen den Wagen in der Garage und gingen zu Fuß. Amadeo, der jeden Morgen mit dem Lastwagen von Río Conejo hereinfuhr, legte Schneeketten an die Hinterreifen und packte drei hundert Pfund Zementklötze auf die Ladefläche, um nicht steckenzubleiben. In einer Nacht, in der die Temperatur auf minus sechsundvierzig Grad fiel, erfror in einer zugigen Hütte bei Beclabito eine ganze Familie Navajo-Indianer. Waldhüter bestiegen mit Schneeschuhen den Bemal Peak und kündigten an, daß eine drei Meter hohe Schneedecke dies Frühjahr viel Wasser bringen würde. Der Conquistador er schien mit einer Fotoseite ‚Wunderland Winter’, die in erster Linie deutlich machte, daß der Fotograf nicht wußte, wie die durch den Schnee bedingte Lichtmenge auszugleichen ist, und einen Haufen Film überbelichtet hatte. Ich stapelte mit Amadeo drei Reihen halbmeterlanger Kiefernscheite für die Kamine, und die ganze Stadt roch wie ein Lagerfeuer. Parker schenkte mir einen Hirschschenkel; meine Mutter sagte, ich sollte das schmutzige Ding aus dem Haus schaffen. Ich gab ihn Excilda, und wir stopften uns, von Amadeo unterstützt, eine Woche lang mit 140
Knoblauchhirschbraten voll. Aus dem Rest machte sie sopa de albondigas. Ich ging mit Marcia und Steenie auf dem Otero Hill Schlitten fahren; wir leg ten uns zu dritt als Sandwich auf einen Schlitten, Marcia obenauf. Um ein Haar hätte uns der BlueGoose-Wäschewagen zu Brei gefahren. Keiner wußte, was aus Tarzan Velarde geworden war. Wir hofften alle, inzwischen läge er brettsteif unter einem Wa cholderstrauch in einem nie gesehenen Bach. Bucky Swenson stellte einen neuen Basketballrekord bei den Winterspielen auf und gab dem Sportredakteur vom Conquistador ein bescheidenes Interview: eine bedeutende Rolle beim Training spiele regelmäßiger Kirchgang. Die Straßen waren über eine Woche lang gesperrt. Als ein Angestellter der Straßenwacht na mens Orlando Lucero mit dem ersten Schneepflug in die Stadt einfuhr und die Straßen räumte, erklärte der Bürgermeister den Tag zum Orlando-Lucero-Tag, und die Handelskammer gab ihm zu Ehren ein Essen. Lucero besoff sich dabei und zertrümmerte die Scheibe von Wormsers Dry Goods, als er mit dem Schneepflug heiter über die Plaza kurvte. Der Schnee scheuchte eine Elchherde in die Stadt. Einer der Bullen spazierte in die Landesbank, und sein Geweih verhakte sich in einem Sprechfenster. Nachdem Forstbeamte vergeblich versucht hatten, ihn mit ei nem Ballen Heu herauszulocken, wurde Chamaco gerufen. Er hat ihn mit der Dienstpistole erlegt. Das Tier wog neunhundert Pfund. Die Kunden mußten an dem Morgen draufsteigen, um ihre Geschäfte zu er 141
ledigen, weil es zum Rausschleifen zu schwer war. Als Orlando Lucero nach drei Tagen aus dem Ge fängnis kam, wo er wegen der Sache mit Wormser gesessen hatte, ging er wieder zurück zur Straßenwacht und riß noch am selben Nachmittag mit der hinteren Pflugschaufel die Gashauptleitung der Stadt auf. Bürgermeister und Stadtrat traten zusammen und widerriefen zum erstenmal in 350 Jahren einen Be schluß – eben jenen, der den Orlando-Lucero-Tag festsetzte – und faßten einen neuen, der Lucero ,Aufenthalt und Usufruct innerhalb der Villa Réal del Corazón Sagrado’ untersagte. Jimbob Buel verließ das Haus in Pantoffeln, um Amadeo zu strafen, der eines Morgens unter seinem Fenster laut Schnee schippte, und holte sich eine Erkältung, aus der erst Husten und Grippe und dann eine Lungenentzündung wurde. Er kam am selben Tag ins Krankenhaus, an dem Chango entlassen wurde. Ich hatte Chango ziemlich regelmäßig nach der Schule besucht, manchmal mit Viola. Sie war mür risch und abweisend, etwas zu verschanzt hinter ihrer Heiligen Mutter Kirche, für meinen Geschmack. Aus Respekt vor ihrem Glauben und ebenso großem Re spekt vor Changos früherer Gereiztheit bemühte ich mich, die Augen vom Vorderteil ihrer Bluse fernzu halten. Wenn die ins Kloster geht, werden die Kirchen schneider einige Mühe haben, sie in die Kutte zu zwängen. Viola, Steenie, Marcia, Changos Eltern und ich holten Chango gemeinsam am Tag der Ent lassung ab. 142
Etwas blaß war er immer noch, und die Hosen hingen ihm lose von den Hüften, aber er sah marsch bereit aus. Das Messer hätte ihm wirklich Angst ein gejagt, sagte er, und da er nun wüßte, was Einstecken heißt, sei für ihn die Sache als beruflicher macho er ledigt, es müßte ihn schon jemand wirklich beleidi gen. Arme und Schultern hatte er immer noch wie ein mittlerer Gorilla, und ich hielt es für unwahr scheinlich, daß irgendeiner auf die Idee käme, Händel mit ihm anzufangen. Galant entblößte er seinen Oberkörper, um Marcia die Narbe zu zeigen, worum sie bei jedem Besuch gebettelt hatte. Viola wandte sich während dieser rüden Szene delikat ab. Changos Narbe lief vom Nabel quer bis an die unterste rechte Rippe. Die ersten drei Zentimeter – da war Tarzans Messer eingedrungen – waren krumm und wulstig. Der Rest ein schmaler Schnitt. Der Chirurg hatte ihn geschlitzt wie einen aufgespießten Torero, um die Wunde zu säubern. «Olala», sagte Marcia, «das ist ein Ding!» «Fühlst du dich gut», fragte Changos Mutter auf Spanisch, «fühlst dich richtig stark?» «Klar, Mama.» Sie gab ihm eine anständige Ohrfeige. «Vielleicht hältst du dich jetzt fern von pachucos wie Tarzan Velarde. Möge die Wurzel seines Stammes herausge rissen und am Tag der Unabhängigkeit verbrannt werden.» «Au, Mama.» Chango rieb sich die Backe. «Es ist eiskalt draußen. Ich hab dir einen Pullover 143
mitgebracht, Carito mio, du mit deinen großen Ideen.» «Tarzan haben sie noch nicht gefunden?» fragte Chango. «Nein», sagte Steenie. «Nächstes Frühjahr wird er irgendwann ausgegraben, falls die Coyoten ihn nicht vorher finden.» «Ojalá que tengas razón», sagte Frau Lopez. «Hoffentlich hast du recht.» Die Lopez waren im Kombi gekommen – in Sa grado kann man einfach nicht mitreden, wenn man keinen Kombi hat –, und wir fuhren langsam und häufig schleudernd zu Chango nach Hause. Ich war noch nie dagewesen. Ich hatte mir immer vorgestellt, er wohne in einem Käfig. Es war ein alter Lehmbau im Westen der Stadt mit einem großen Gemüsegar ten, der jetzt voll Schnee lag. Wie Mr. Lopez aus dem unfruchtbaren Sagradoer Boden auch nur etwas herausholte, weiß ich nicht. Er sagte, es wüchsen drei verschiedene Sorten Chile, Gurken, Kürbisse, Toma ten, Mais, Bohnen und Spargel. Mr. Lopez brachte uns Kaffee, und wir zogen Chango auf, was für ein braver kleiner Hauer er sei. Von Mrs. Lopez fing er noch eine Ohrfeige, dann umarmte sie ihn ausgiebig. Bei seiner Blässe sah man deutlich, daß er schamrot wurde. Marcia wollte unbedingt sein Zimmer sehen. Er zeigte uns eine nackte Mönchszelle mit einem al ten Druck an der Wand. Mrs. Lopez bot an, uns nach Hause zu fahren, aber wir lehnten ab. Es war ein schöner, kalter Abend, 144
und wir wollten lieber zu Fuß gehen. Unterwegs sagte Marcia, sie hätte schon immer gewußt, daß Chango gar nicht so schlecht sein könnte wie sein Ruf. Stee nie zufolge war die Verwandlung weniger medizi nisch als mystisch motiviert. «Der dreckige Bandit hatte eine erstklassige Erleuchtung, und zwar war das Tarzans Messer. Ich schreibe sofort dem Papst, daß er alle Missionare mit handlangen Stiletts ausrüsten läßt. ,Verdammter, glaubst du an die Heilige Mutter Kirche? Nein? Dann tómalo!’». Steenie spießte einen imaginären Ungläubigen auf ein imaginäres Messer und bekehrte einen imaginären Heiden. «Geistliche Karriere?» sagte er, «das wäre zu überlegen. Erst be kehren, dann zunähen. Ich werde medizinischer Mis sionar mit rollendem Operationssaal.» «Steenie, du lügst besser und häufiger als alle, die ich kenne», sagte Marcia. «Aber Medizin studierst du doch nie. Du machst die Packtischkarriere bei Woolworth, und wenn du vierzig Jahre lang die Do sen auf Eier und Salat gepackt hast, gibts ein Ehrenessen.» Wir brachten Marcia nach Hause, dann brachte ich Steenie nach Hause. Sein Vater schlief voll angezo gen auf der Wohnzimmercouch. «Pssst», machte Mrs. Stenopolous, und wir gingen auf Zehenspitzen in die Küche. «Entbindungen seit sechs in der Früh», sagte sie. «Was warten diese Frauen mit ihren Wehen eigentlich immer, bis ein Meter Schnee liegt? Vier im Krankenhaus, zwei zuhause und eine bei der Po lizei in der Ausnüchterungszelle. Schließlich schlägt 145
vor einer Stunde ein Streifenwagen Alarm in der Zentrale, und die rufen hier an, mein Mann soll sich beeilen, Texcoco Road, letzte Eisenbahn, Zwillinge hinten im Kombi.» «Das klingt nach einem bewegten Leben, Mrs. Stenopolous», sagte ich. «O Gott!» «Können wir in Vaters Arbeitszimmer gehen?» fragte Steenie. «Bitte. Nur zu. Und seht euch doch diese gräßli chen Bilder ruhig an. Seht euch die Steißgeburten an. Wieso könnt ihr euch eure Aufklärung nicht wie alle anderen auf der Straße holen?» Das ,Handbuch der Geburtshilfe’ war eine Enthül lung. Ich lernte eine Menge neuer, nützlicher Wörter, aber wie Dr. Stenopolous sich so was Tag für Tag ansehen und nachts noch Interesse an seiner Frau ha ben konnte, wollte mir nicht in den Kopf. Es war angenehm, später in ein Haus ohne Jimbob Buel zurückzukommen. Meine Mutter telefonierte grade mit der Klinik: «Sie dürfen nicht vergessen, daß Mr. Buel auch an Asthma leidet und Atmen unter allen Umständen beschwerlich findet.» «Und nicht vergessen», sagte ich, «alle Rechnun gen zu uns.» «Ach ja, noch etwas, bitte alle Rechnungen an mich, Arnold, Camino Tuerto 719.» Als sie aufgelegt hatte, drehte sie sich zu mir um und sagte: «Du findest das wohl alles sehr komisch, 146
was? Natürlich, dir ist eine gute Gesundheit gegeben. Du weißt nicht, was es heißt, Lungenentzündung zu haben.» «Ich bin auch aus dem Süden. Aber stapfe ich mit Pantoffeln im Schnee rum? Mich wundert bloß, daß Amadeo ihm nicht mit der Schaufel eine gelangt hat.» «Amadeo scheint zu vergessen, daß er ein Dienst bote und kein Familienmitglied ist. Dein Vater war beiden gegenüber immer zu nachsichtig. Kaum kommt er nach Sagrado, scheint er jede Übersicht zu verlieren und vergißt, daß es soziale Grenzen gibt. Soziale Grenzen sind äußerst wichtig im Leben, weil ohne sie keiner wüßte, wo er hingehört. Eine stabile Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der jeder sich seines Platzes bewußt ist.» «Alles andre ist rote Diktatur, stimmts?» «Und wage nicht, mir gegenüber sarkastisch zu sein. Wage es nicht, frech zu werden. Du hast dir schon genug schlechte Manieren von diesem klebri gen Gesindel von Schulfreunden angewöhnt. Dieser Grieche und die kleine Davidson. Weißt du, daß sie Jüdin ist?» «Ich dachte, ihr Vater sei anglikanischer Pfarrer.» «Das ist er. Darum dreht es sich grade. So fangen sie an, werden Anglikaner.» «Wenn sie Anglikaner sind, wie können sie dann Juden sein? Wenn man vom Baptismus zum Metho dismus übertritt, ist man schließlich auch kein Bap tist mehr.» 147
«Sollen sie sich meinetwegen noch so anglika nisch gebärden. Soll einer von denen meinetwegen Erzbischof von Canterbury werden.» «Morgen schmiere ich als erstes ein Hakenkreuz an die St. Thomas Kirche.» «Du hältst den Mund oder ich schlage ihn dir zu! Ich werde deinem Vater über dein Betragen schreiben.» «Erwähne doch auch gleich in dem Brief, daß Jimbob Lungenentzündung hat. Vati könnte eine er freuliche Nachricht brauchen.» Sie stand auf, kam drei, vier Schritte auf mich zu und schlug mir ins Gesicht. Ich hatte nicht mal die Zeit, mich zu ducken. Sie hatte mich nie vorher ge ohrfeigt. Es tat nicht weiter weh, brannte aber, und mir wurde übel davon. Ich hatte das Gefühl, eine Verrückte, eine Fremde schlüge mich. Ich wollte zu rückschlagen, und zwar kräftig; ich nahm die Hände auf den Rücken, damit das nicht passierte. Sie knallte mir noch eine mit dem Handrücken über die Nase, daß mir die Tränen kamen. Ich merkte, daß meine Nase zu bluten anfing. Machen konnte ich nichts. Ich stand da, Hände auf dem Rücken, und fragte mich, was passierte und was passieren würde. Ich war viel größer, schwerer und stärker als sie. Mir war früher nie aufgefallen, was für eine kleine Frau meine Mutter war. Ich sah mir ihr Gesicht genau an, während sie auf mich einschlug. Es war das einer Fremden: die Backen voller als früher, und eine graue Haut. Dünne blaurote Adern liefen um die Nase herum, und das Weiße ihrer Augen war rosa, als hätte sie in einem 148
gechlorten Schwimmbecken gebadet. Bei jeder Ohr feige atmete ich ihre Sherryfahne. «Entschuldige dich! Entschuldige dich! Entschul dige dich!» Bei jedem ,Entschuldige dich’ gab sie mir eine Ohrfeige. Als ich den Mund aufmachte, schlug sie mir auf die Zähne. Ich weiß nicht wie oft. Mein Gesicht wurde taub, und die Ohrfeigen ließen kleine rote Blutstropfen von meiner Nase ins Zimmer sprühen. Nach fünf oder sechs weiteren Schlägen stellte ich einfach und uninteressiert fest, daß ich nicht mehr zornig war, sondern einfach gelangweilt. Ich nahm schließlich die Hände vom Rücken, griff ihre Handgelenke und hielt sie fest. Sie waren dünn und kraftlos. Ich sagte so langsam und deutlich, wie ich konnte: «Es tut mir leid», ließ ihre Arme fallen und ging in mein Zimmer. Meine Beine fingen erst an zu zittern, als ich auf der Bettkante saß. Ein paar Minuten saß ich im Dunkeln und wartete darauf, daß sie reinkäme und wieder anfinge, aber sie kam nicht. Ich machte Licht an, ging ins Bad, wischte mir das Blut aus dem Gesicht und erbrach den Kaf fee, den ich bei Chango getrunken hatte. Als ich im Bett lag, kam Excilda mit einem KäseChile-Toast und sorgte dafür, daß ich ihn auch aß. Kaum hatte ich ihn aufgegessen, sagte sie: «Amadeo und ich sind entlassen. Eben ist sie in die Küche ge kommen. Ich war beim Abwaschen, Amadeo trank Kaffee. ,Sie sind entlassen’, sagte sie. ,Verlassen Sie sofort mein Haus!’ Was ist los mit ihr? Ist sie ver rückt geworden?» 149
«Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, Excilda. Kün digen kann sie euch, soviel ich weiß, nicht. Entlassen kann euch außer meinem Vater niemand, denn er hat euch eingestellt. Und er denkt gar nicht daran.» «Was würdest du machen? Ihm schreiben? Er schwimmt irgendwo in der Weltgeschichte rum. Was kann er in Sagrado machen, bevor er zurückkommt, und zurück kommt er noch lange nicht. Herr im Haus ist man nur, wenn man auch im Hause ist.» «Vielleicht kann ich mit ihr reden. Vielleicht hat sie morgen andre Laune.» «Wir wollen nicht, daß du hinein verwickelt wirst. Du bist zu jung für so was.» Sie schwieg und sah auf ihre Hände. «Seit dreizehn Jahren, da warst du noch ganz klein, haben wir für deinen Vater gearbeitet. Jedes Jahr haben wir alles gemeinsam mit ihm be sprochen, jeden Sommer haben Amadeo und er die gleiche Auseinandersetzung gehabt, und jedesmal haben wir eine Lohnerhöhung erhalten. Er hat dafür gesorgt, daß ich zu Entbindungen in die Klinik kam, weißt du das, und jedesmal hat er die Rechnung be zahlt. Als Osmundo mit dem komischen Mund auf die Welt kam, hat er den Zahnarzt und die Klammern bezahlt. Im Winter hat er uns manchmal Geld ge schickt, und einmal hat er uns sogar eine neue Kuh gekauft, als die alte starb. Mein Achtjähriger, Fran cisco, heißt so nach deinem Vater. Dein Vater ist zur Taufe nach Río Conejo gekommen. Er ist sein Pate. Nach all dem, wie kann deine Mutter einfach sagen: ,Sie sind entlassen’?» 150
«Genau das meine ich. Sie kann euch nicht entlas sen. Sie hat kein Recht dazu.» «Willst du ihr das sagen? Wir nicht. Sie sagt, wir sind entlassen, und wir fühlten uns entlassen, das kann ich dir sagen, also nehme ich an, wir sind ent lassen. Wenn der Krieg aus ist und wenn dein Vater zurückkommt, kann er uns ja vielleicht wieder ein stellen. Aber ich weiß nicht, ob wir hier überhaupt noch arbeiten wollen. Was liegt daran, für Leute zu arbeiten, die einen nicht mögen?» Amadeo erschien in der Tür. «Los, Excilda, wir gehen.» Er hielt den Kopf gesenkt und sah mich nicht an. Excilda nahm den Teller. «Ich wasche dies nur eben ab, dann komme ich. Und du, besuch uns in Conejo, wenn du kannst. Ich zeige dir, wie man eine Ziege melkt.» Ich hörte Amadeo den alten Kombi anlassen, hör te, wie sich die Ketten leer im Schnee drehten, dann verschwand das Geräusch den Camino Tuerto hin unter, dröhnend ohne den Schalldämpfer. Vom nächsten Lohn hatte Amadeo einen neuen kaufen wollen. Schlafen war unmöglich, weil ich nicht aufhören konnte, zu weinen. Ich stand auf, zog den Bademantel an und klopfte bei meiner Mutter an die Schlafzim mertür. Sie antwortete nicht, und als ich horchte, hörte ich sie schnarchen. Das hatte ich noch nicht bei ihr gehört. Ich fragte mich, ob das der Sherry war. In meinem Zimmer nahm ich mir ein Buch vom Regal und versuchte, mich damit etwas aufzuheitern. Die 151
Geschichte vom größten Nilpferd der Welt, das auf den Grund des Sees sank und nie wieder auftauchte, hätte es fast geschafft, aber ich konnte mich nicht richtig konzentrieren und schlief gegen drei Uhr morgens ein. Es war mühsam, um halb acht für die Schule aufzustehen. Beim Versuch, mir das Früh stück selbst zu machen, klebten die Eier mir in der Pfanne fest, weil ich die Margarine vergessen hatte. Den Abwasch ließ ich meiner Mutter stehen. Wenn sie aufwachte, könnte sie etwas Beschäftigung brau chen. Durch den Schlafmangel war ich den ganzen Tag weggetreten und bedrückt. Wenn ich Marcia, die Cloyds oder die andern Mädchen ansah, fiel mir nichts als die Bilder im Handbuch der Geburtshilfe ein, Blut, Schmerzen und Gezerre. Chango war wie der da, benahm sich artig, sagte «Ja, Frau Lehrerin, nein, Frau Lehrerin», als wäre er zeitlebens ein Musterschüler gewesen. Zu Anfang dachte Miß Jefferson bestimmt, er mache sich lustig. Laut, mit viel Gefühl und ohne Akzent las er «Wie schlägt mein Herze, wenn ich seh …». Seine Kumpel lachten, als er laut sang «Dann möcht ich nimmer sein!» Er warf ihnen eine Andeutung seines alten brutalen Blicks zu, aber der zerrann in verlegenes Erröten. Es war eine bemerkenswerte Veränderung, und Miß Jef ferson sprach das auch aus. Als Chango vor seiner Geschichte mit Tarzan das letzte Mal vorgelesen hatte, klang das so, in dickstem pachuco und völlig zerleiert: 152
Ach Milton, wärste lück bei uns Mir jammern nach dir; hier roch Et nach Moder. Ich hatte das Gefühl gehabt, jeden Augenblick fliegt die Klassentür auf und William Wordsworth stürmt herein und brüllt «Hör auf!» Miß Jefferson sagte: «Das ist ja eine großartige Besserung, Maximiliano. Blätterst du mal weiter auf Seite dreihundertachtzig und liest ,An den Mond’?» Und Chango las den gan zen Stuß, als ob er ihn mochte und verstünde, was ich von mir nun wirklich nicht behaupten konnte. Wegen seiner noch frischen Narbe wurde er nachmittags vom Basketball befreit. Deshalb erfuhr ich nicht genau, ob er sich nun völlig geändert hatte oder nicht. Gewöhnlich dribbelte er auf eine beson dere Art mit abgespreiztem Daumen. Wer ihn an griff, hatte den Daumen im Auge. Da er nicht mit spielte, saß er die ganze Zeit artig auf einer Bank und beklatschte alles, ob gut oder schlecht gespielt. Dazu brüllte er Sachen wie «hübsch gedacht», wenn einer den Korb um drei Meter verfehlte. Ich hoffte, eine Spur vom alten Chango käme durch, als Bucky Swenson für zwei Freiwürfe am Strafraum stand. Grade als Bucky zum Wurf ansetzte, brüllte Chango: «Jawohl, Bucky!», und Bucky er schrak und warf daneben. Beim zweiten Wurf tat er so, als wollte er wieder brüllen, ließ es aber, und Bucky war vor lauter Warten wieder abgelenkt und warf wieder daneben. «Hübsch gedacht, Bucky», 153
sagte Chango. Man konnte fast die Flammen in Swensons Kopf knistern hören. Ich ging allein nach Hause. Die Bratpfanne lag unberührt im Spülbecken. Meine Mutter war noch im Schlafzimmer; ich hörte sie melodielos vor sich hin summen. Ich wusch die Pfanne ab und räumte sie weg. Dann ging ich den Hügel hinunter, bog links ab in den Camino Chiquito, zu Romeos Werkstatt. Er hatte einen schmutzigweißen Verband um den Kopf, und übers Kinn lief ihm eine purpurne Prel lung. Er zeigte darauf: «Anna ist ausgezogen und hat mir das dagelassen. Bei einer völlig friedlichen Un terhaltung über Kunst hat sie mir den eisernen Topf übern Kopf gehauen. Als ich aufwachte, war sie zu sammen mit achtzehn Dollar und mehreren Dosen Wiener Würstchen verschwunden, meiner Notbremse bei absolutem Bankrott. Komm rein. Laß dich Shir ley vorstellen.» Shirley saß im selben schmutzigen Bademantel, den Anna getragen hatte, am Tisch und rauchte. Sie war sehr groß, sah dösig aus und nahm meine Anwe senheit mit einem verschlafenen Nicken zur Kennt nis. Sie hatte den Bademantel nicht zu, und drunter war sie nackt. Sie schloß ihn gemächlich, ohne ihren Gesichtsausdruck zu ändern. «Romeo», sagte sie gähnend, «ich bin müde. Kann ich mich jetzt ausru hen?» «Du hast dich eine halbe Stunde ausgeruht, Lieb ling. Erinnerst du dich nicht? Sieh dir alle die Kippen im Aschenbecher an.» 154
«Oh. Eine halbe Stunde. Ich bin sooo müde.» Sie ließ den Kopf auf die Arme sinken und pennte ein. Romeo nahm ihr die brennende Zigarette aus den Fingern und drückte sie aus. «Möchtest du Kaffee?» Ich nickte. Wir gingen rüber in die Kochnische. «Haben Sie ihr Schlafmittel gegeben?» «Nein, das ist ihre Schilddrüse. Als sie vor drei Tagen kam, brachte ich sie zum Arzt, und der machte eine Totaluntersuchung mit ihr. Klinisch, sagte er, sei sie seit geraumer Zeit tot. Sie hat überhaupt keine Schilddrüse. Er hat ihr Tabletten verschrieben, aber mir gefällt sie so. Gäbe ich ihr die Pillen, wird sie vielleicht hupfig und fängt an, Sachen rumzuschmei ßen wie Anna. So wie sie ist, ist sie bequem.» «Wie ist sie als Modell?» «Phantastisch. Wie ein Katatoner. Ich kann sie hinstellen, -setzen, -knien, -beugen, auf einer Zehe balancieren lassen, sie schläft ein und rührt sich nicht. Für den Haushalt taugt sie natürlich gar nicht, aber dafür ißt sie kaum was. Was braucht man schon, um eine derartig träge Maschine in Gang zu halten. Alles in allem, würde ich sagen, ist sie ungefähr per fekt. Vielleicht ist sie sogar klug, nur kann sie nie lange genug wach bleiben, daß man das merkt.» «Ich wüßte ein gutes Modell. Jedenfalls hat sie eine gute Figur.» «Mit einer guten Figur hat das nichts zu tun. Oder sehr wenig. Ein Modell braucht Phantasie und viel Körperkontrolle und muß sich was sagen lassen kön nen. Wenn sie wie Miß Amerika aussieht, ist sie 155
wahrscheinlich ein mieses Modell. Die prusseln nur an sich herum, zeigen dir das Profil und zittern vor einem Pickel auf dem Popo. Wie alt ist die Freundin mit der Figur?» «So alt wie ich, siebzehn.» «Mein Gott, bist du wahnsinnig? Ich stehe auch so schon im Ruf, ein alter Sittenstrolch zu sein.» «Das Mädchen ist wirklich nett. Ihr Vater ist Pfarrer.» «Um so schlimmer. Ich sehe, daß du nicht das ge ringste Einfühlungsvermögen hast. Hier, trink deinen Kaffee, vielleicht siehst du dann klarer.» Wir lehnten gegen seinen kleinen halbhohen Kühl schrank, tranken Kaffee und sahen die schlafende Shirley an: eine grobknochige Frau mit langen Bei nen, schmaler Taille und rosiger Haut. Irgendwo muß sie irgendwann Gymnastik gemacht haben, dachte ich, so eine Figur kriegt man doch nicht vom Schlafen. «Sie kommt aus San Francisco», sagte Romeo. «Sie hatte keine Lust mehr, aufs Meer zu sehen, hat ihr Geld genommen – viel besaß sie nicht – und drei Pfund Ziegenkäse und kaufte sich eine Busfahrkarte. Die Fahrkarte war in Sagrado zu En de, der Käse schon in Elko in Nevada. Als der Bus fahrer sie in Sagrado rausgesetzt hatte, fing sie an zu gehen, schlief aber immer wieder ein. Die letzte Stelle, an der sie einschlief, war mein Tor. Als ich es vor drei Tagen aufmachte, um den Müll rauszu stellen, fiel sie mir rückwärts in die Arme. Nicht mal aufgewacht ist sie. Das ist einfach mein lächerliches 156
Glück. Immer wenn ich ein Modell brauche, schickt Gott mir eins.» «Ich finde, sie sollten ihr die Tabletten geben. So versäumt sie doch das Beste vom Leben.» «Das ist ein ausgesprochen vernünftiger Gedanke. Sollte mich nach Unterhaltung oder Liebe dürsten, gebe ich ihr eine und sehe zu, was passiert. Wahr scheinlich wird sie zur Hyäne und fängt an zu jam mern, bringt in der Werkstatt alles in Unordnung, quängelt nach Kleidern und Kosmetik, wählt die Re publikaner und will, daß ich mir den Schnurrbart ra siere. Erinnerst du dich an Anna? Von der ich das hier habe?» Er deutete auf seinen Verband. «Wenn sie nicht grade über plastischen Wert, Ökonomie von Linie, Masse und Bewegung redete, sagte sie, ich sei ein politischer Säugling, sollte in die KP gehen und die Barrikaden bemannen. Ich bitte dich, Mensch, wo sollen wir in Sagrado Barrikaden bauen? Wessen Winterpalais sollen wir stürmen? Siehst du mich mittwochs abends in die Stadtverordnetenversamm lung stürzen und Bürgermeister Chavez sagen, ich sei die proletarische Revolution?» Shirley rührte sich, und der Bademantel fiel wie der auf. Romeo ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. «Zieh den Vorhang zu, man sieht die Bühne.» Sie gähnte. «Kann ich ein Stück Brot bekom men?» «Gut. Essen wir. Möchtest du was essen, Josh?» Ich dachte an das Essen, das Excilda fertig haben 157
würde, erinnerte mich aber schlagartig, daß sie bei uns nicht mehr kochte. «Ich sollte lieber zuhause essen», sagte ich. «Unsinn. Die Montoyas sind gestern gegangen, und ich weiß aus fast fatal ausgegangener eigener Erfahrung, daß deine Mutter greulich kocht.» «Woher?» «Amadeo kam heute morgen zu mir und fragte nach Arbeit. Glaub mir, wenn ich auch nur einen ro ten Heller übrig hätte, hätte ich ihn liebend gern ge nommen, aber ich bin so arm wie er. Nun bleib doch zum Essen. Bist du mit Zwiebeln, Sardinen und Roggenbrot einverstanden?» «Ja.» «Da tust du gut dran. Mehr haben wir nicht.» Shirley stand unter Aufbietung aller Kräfte auf und hielt sich den Bademantel zu. «Ich will vor dem Essen abwaschen», sagte sie schwummrig. Wie im Traum ging sie durchs Zimmer, machte die Hoftür auf, ging raus und schloß sie hinter sich. Romeo und ich warteten eine halbe Minute, dann kam das ver schlafene Klopfen. Er machte auf. Shirley stand bar fuß im Schnee, das Gesicht staunend verzogen. «Dies ist draußen», sagte sie. «Du hast es erfaßt, bellissima, das ist das zweitemal.» «Ich wollte aber aufs Klo.» «Bitte, hier gegenüber», sagte Romeo sanft und zeigte auf eine andere Tür. «Wenn du willst, male ich ,Damen’ drauf. Für meine schöne Shirley tu ich alles.» 158
Shirley lächelte vage. «Du bist lieb», sagte sie und ging, Schneespuren quer durchs Zimmer, auf die Toilette. «Ich muß auf sie aufpassen. Mal schläft sie in der Wanne ein, mal döst sie auf dem Klo weg.» «Sie ist wirklich schön», sagte ich. «Ja, das ist sie. Schön, samten und erlesen, wie eine Artischocke. Ich überlege, ob ich nicht eine große Figur von ihr mache: ,Die Pflanze’.» «Sie sollten ihr diese Tabletten wirklich geben. Sonst ertrinkt sie noch in der Badewanne.» «Gut. Du hast mich überzeugt. Aber mögen werde ich sie dann nicht.» Diesmal schaffte Shirley es allein vom Klo, und wir setzten uns um den runden, zerkratzten Tisch und aßen Sardinenbrot und Zwiebeln. Romeo zapfte Wein aus einem Fünfliterfäßchen und gab mir ein Glas. Es schmeckte etwas nach Farbe. «Hat man inzwischen den Velarde?» fragte er, als wir fertig waren. «Den mit dem Messer?» «Nein. Wir glauben, er ist erfroren. Der Sheriff sagte, entweder hielte er sich in den Bergen ver steckt oder er sei nach Mexiko abgehauen, wo das Tragen eines Messers im Straßenbild weiter nicht auffällt. Wo kommt das Zeug her?» Ich meinte den Wein. «Hiesiger. Im Osten des Tals wohnt ein Mann, Northrup, er hat einen kleinen Weinberg und macht seinen eigenen Roten. Er hat Klima und Boden aus giebig untersucht und ist zum Schluß gekommen, 159
daß Sagrado für eine gute Weingegend nicht zu hoch liegt. Wie findest du ihn?» «Scheußlich.» «Recht hast du. Er ist scheußlich. Northrup hat sich geirrt, aber er will nicht aufgeben. Trotzdem, fünf Liter kosten drei Mark, und etwas Alkohol ist drin.» «Möchten Sie etwas Besseres? Mein Vater hat zu hause einen kleinen Keller. Im Moment trinkt nie mand außer meiner Mutter, und sie hält sich an den Sherry. Ein paar Flaschen würden bestimmt gehen.» «Das ist Diebstahl, Josh. Davon will ich nichts hö ren.» «Châteauneuf du Pape, Nuits Saint Georges und Clos de Vougeot», sagte ich. «Den Weißen sollte ich wohl lieber nicht nehmen. Die Flaschen hat mein Vater vor der Abreise sehr sorgfältig gezählt. Er will dafür sorgen, daß jeden, der seine Kiste 29er Château Margaux anrührt, die gerechte Strafe trifft.» «Dein Angebot trifft taube Ohren, Josh. Ich habe unnachgiebige Prinzipien, was andrer Leute Eigen tum angeht. Obwohl er nicht sehr gut ist, bin ich mit meinem Flor de Yunque völlig zufrieden. Schmeckt er dir nicht auch, Shirley?» «Mmmmmmm?» «Der Wein steht da seit zehn Jahren, er hält sich nicht ewig. Wenn er nicht getrunken wird, kann er nur noch verlieren. Der Clos de Vougeot dürfte jetzt gerade richtig sein. In ein paar Monaten schmeckt er wie Himbeerphosphat.» 160
«Für dein Alter scheinst du ein ausgesprochener Weinkenner zu sein.» «In Mobile gehörte ich einer kleinen Gesellschaft von Weinkennern an. Der Vorsitzende war Paul Ro binson, nicht nur im Südwesten ein bekannter Con naisseur. Zu Sardinenbrot mit Zwiebeln, seine ewige Rede, paßt nichts besser als ein kräftiger Rhône oder Burgunder.» Romeo goß sich noch ein Glas Flor de Yunque ein und verzog beim Trinken den Mund, als hätte er in ei ne Zitrone gebissen. «Ich werde weich», sagte er. «Das Zeug ist für menschlichen Verbrauch einfach nicht geeignet. Habt ihr wirklich Châteauneuf du Pape?» «Ungefähr anderthalb Kisten. Sie liegen da und gehen langsam über.» «Wenn du dabei erwischt wirst, leugne ich alles. Ich werfe dich den Wölfen zum Fraß vor.» «Kann ich mich etwas hinlegen?» fragte Shirley. Ich ging bald, nachdem Shirley sich aufs Ohr gehauen hatte. Zuhause sah es in der Küche noch ge nauso aus. Ich klopfte bei meiner Mutter an die Tür und ging hinein. Sie lag angezogen wie am Abend vorher auf dem Bett. Auf dem Nachttisch standen zwei leere Flaschen Pedro Domecq. «Kann ich dir etwas zu essen machen?» «Nein danke.» «Vielleicht ein paar Eier?» «Nein danke.» «Wie geht es Jimbob? Hast du das Krankenhaus angerufen?» 161
«Ich weiß es nicht. Wieso ist Excilda heute nicht gekommen? Ich konnte sie nirgends erreichen.» «Ich dachte, du hättest sie gestern abend entlassen. Das hat sie mir jedenfalls gesagt.» «Das ist doch lächerlich. Seit Jahren ist sie bei uns. Es ist gar nicht ihre Art, einfach so wegzubleiben.» «Du hast sie entlassen. Alle beide. Erinnerst du dich nicht?» «Du bist gestern abend sehr grob gewesen. Ich habe jetzt keinen Hunger, danke.» «Möchtest du noch etwas Sherry?» «Vielleicht kommt Excilda morgen. Es ist gar nicht ihre Art, ohne Nachricht einfach wegzublei ben.» «Ich werde versuchen, sie zu erreichen.» «Danke für das schöne Abendessen, Josh. Es war köstlich.» «Bitte. Gute Nacht.» «Komm herein, wann du willst.» Ich machte die Tür zu und rief bei Steenie an. Sei ne Mutter war am Apparat. «Hier ist Josh Arnold. Mrs. Stenopolous, ich glaube, meine Mutter braucht einen Arzt, und ich kenne keinen …» «Bekommt deine Mutter ein Kind?» «Nein, nicht so einen Arzt. Ich glaube, sie braucht einen Psychiater. Sie benimmt sich seltsam. Gibt es einen guten Psychiater in Sagrado?» «Ja. Dr. Arthur Temple.» Sie gab mir seine Privat nummer. «Er ist der einzige in der Stadt.» 162
Ich dankte ihr, hing ein und rief Dr. Temple an. Eine Kinderstimme antwortete: «Hier ist Zigmund. Ich kann telefonieren.» «Zigmund, kann ich deinen Vater einmal spre chen?» «Hier ist Zigmund. Ich kann telefonieren. Willst du mein Lied hören? Frère Jacques, Frère Jacques, dormez-vous? Das ist Französisch. Ich kann in ganz vielen Sprachen singen. O Tannenbaum, o Tannen baum …» «Ich rufe gleich wieder an, Zigmund.» Ich wartete zehn Minuten und wählte die Nummer nochmal, aber sie war besetzt. Wahrscheinlich hatte Zigmund den Hörer neben dem Apparat liegen las sen. Ich kochte weiche Eier, machte Tee und Toast und brachte das meiner Mutter auf einem Tablett ins Schlafzimmer. Sie richtete sich auf und machte Licht. «Wie schön», sagte sie. «Im Bett essen.» Ich sah zu, wie sie aß, und trug das Tablett wieder raus. Als ich wieder bei Dr. Temple anrief, war immer noch besetzt. Den Wecker stellte ich auf sieben, und als ich auf stand, machte ich meiner Mutter das Frühstück. Sie hatte einen Morgenmantel um und sah besser aus. «Ich bin den ganzen Tag in der Schule. Kommst du allein zurecht?» «Natürlich komme ich allein zurecht. Was für eine Frage! Excilda wird heute doch wohl erscheinen.» «Nein. Du hast sie entlassen.» «Sie hätte nicht so vorlaut sein sollen. Von jetzt an 163
werde ich kochen, und zum Saubermachen finden wir schon jemand. Dein Vater hat beiden viel zu viel gezahlt. Das hat sie verdorben. Geh du ruhig los. Ich habe ein schönes Essen für dich, wenn du nach Hau se kommst.» «Meinst du, du brauchst einen Arzt? Gestern ging es dir gar nicht gut.» Sie antwortete nicht. Vormittags rief ich sie zweimal von der Schule aus an, um zu sehen, ob sie noch auf und da sei; sie ant wortete fröhlich, und meine Sorge schien sie zu er heitern. «Ich habe keine Ahnung, weshalb du immer wieder anrufst. Es geht mir gut. Ich brauche keinen Arzt. Der einzige, der einen braucht, ist unser armer Jimbob, und der hat einen. Ich habe übrigens grade mit ihm gesprochen. Jimbob ist aus dem Sauerstoff zelt und ißt wie ein Pferd.» Gegen Mittag rief ich wieder an, aber niemand nahm ab. Ich erzählte Marcia, was passiert war. Echt Marcia, war sie von der Vorstellung fasziniert, meine Mutter könnte verrückt sein. Alles, was irgend bunt, außergewöhnlich, gewalttätig oder blutig war, ließ Marcias Augen leuchten. «Kommt Dr. Temple zu ihr?» «Ich habe ihn angerufen, konnte ihn aber nicht er reichen.» «Das ist ein Gangster», sagte sie entschieden. «Voriges Jahr haben sich innerhalb eines Monats drei seiner Patienten umgebracht.» «Danke, daß du das sagst. Das beruhigt mich.» «Naja, nicht alle seine Patienten bringen sich um. 164
Einige werden sogar wieder gesund, angeblich; zwar habe ich noch nie von einem gehört, der wirklich wieder gesund geworden ist, aber schließlich kenne ich nicht alle seine Patienten. Seine Frau und er ge ben eine Menge Geld aus.» «Hoffentlich brauche ich ihn nicht wieder anzuru fen. Aber meine Mutter war gestern abend wirklich reichlich seltsam.» Ich erzählte ihr von den leeren Sherryflaschen, und sie beruhigte mich. «Sie war einfach blau. Niemand benimmt sich normal, wenn er wirklich voll ist.» «Ich weiß. Aber das ist das erstemal, daß sie sowas gemacht hat. In Mobile hat sie nicht getrunken. Jedenfalls nicht so.» «Sie wird sich nach ihrem Mann sehnen, weißt du.» Nach der Schule rief ich von der Apotheke aus nochmal an, aber es antwortete noch immer niemand, so daß ich es bei Dr. Temple in der Praxis versuchte. Ich fürchtete, Zigmund sei auch noch seine Sprech stundenhilfe, aber ich bekam ihn ohne Schwierigkei ten. «Haben Sie mich gestern abend angerufen?» fragte er, nachdem ich mich vorgestellt hatte. «Ja.» «Wieso haben Sie bei Sigmund aufgelegt?» «Es tut mir leid, Herr Doktor, aber er wollte mich mit Ihnen nicht sprechen lassen und sang ununter brochen. Ich war in dem Moment nicht in der Laune, mich mit einem kleinen Jungen zu unterhalten.» 165
«Sigmund», sagte er spitz, «ist ein sehr aufge weckter kleiner Junge und ein sehr empfindlicher obendrein und jetzt ist er darüber hinaus ein tief ver letzter kleiner Junge, dank Ihnen. Sie sollten Kindern gegenüber nicht brutal sein. Lassen Sie sie doch ihre Liedchen singen. Die Zeit der Liedchen geht so schnell dahin, ach, so schnell.» «Verzeihen Sie.» «Rufen Sie von zuhause an?» «Nein, ich bin in der Stadt. Ich könnte in zwanzig Minuten zuhause sein.» «Ihre Adresse? Wir sind in zwanzig Minuten dort.» Ich gab ihm die Adresse und ging los. Wen meinte er nur mit ,wir’? Wollte er seine Bullen gleich mit bringen? Das schien mir etwas verfrüht. Noch hatte er sie nicht mal untersucht. Er war pünktlich. In Begleitung einer Frau er schien er im ersten Rolls Royce, den ich je gesehen habe, einem großen grauen, katzenartig schnurrenden Monster. Sie fuhr, er saß daneben mit einem offenen Aktenkoffer im Schoß und korrigierte in einem dicken Manuskript herum. Sie stellte den Motor ab, und sel bander entstiegen sie der Karosse: aggressiv und kompetent. «Sie sind Arnold?» fragte er. «Natürlich. Meine Frau.» Wir gaben uns die Hand. Ihr Griff war erheb lich stärker. Etwas in ihrem Gesichtsausdruck und der Art, in der ihr Tweedrock um sie schlaffte, erin nerte mich an Leute mit Pferden und Reitstall. 166
«Sie sind auch Ärztin, Mrs. Temple?» Er antwortete für sie. «Nein, meine Frau ist keine Ärztin, aber sie begleitet mich auf vielen Visiten. Sie gestatten.» Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. «Es freut mich, daß Sie kommen konnten. Ein Glück, daß es hier einen Psychiater gibt.» Mrs. Temple antwortete. «Wir sind nach NeuMexiko gekommen, weil wir dachten, mein Mann hätte Tuberkulose.» Sie warf ihm einen Blick zu, der einen Kaktus hätte ausdörren können. «Schließlich stellte es sich als psychsomatisch heraus, alles einge bildet.» Ihr Mann lächelte fahl. Ich schloß die Tür auf und roch sofort, daß ir gendwo etwas angebrannt war. Ich fand den Licht schalter und rannte in die Küche. Die Temples ka men hinterher. «Der Herd», sagte sie. «Im Herd brennt etwas an.» «Sie sehen, weshalb ich ihre Begleitung auf mei nen Visiten schätze», sagte er. «Sie dringt jedem Problem sofort auf den Grund.» Ich stellte den Backofen ab und machte die Klappe auf. In der Pfanne lag jetzt schwarz und verkohlt, was einst ein dickes Steak gewesen war. Es roch, fiel mir auf, nach angebrannter Coca Cola. «Meine Mut ter ist dort», sagte ich und zeigte aufs Schlafzimmer. «Jedenfalls vermute ich, daß sie dort ist.» «Wir müssen sofort zu ihr», sagte Mrs. Temple. Ihr Mann drehte sich gestikulierend zu mir um, als wollte er sagen: «Sehen Sie? Sehen Sie, wie brillant sie ist?» 167
Meine Mutter lag wieder angezogen auf dem Bett. Zwei weitere leere Pedro-Domecq-Flaschen und eine halbleere Harvey’s Amontillado standen auf dem Nachttisch. Dr. Temple eilte ans Bett, nahm die Fla sche, machte sie auf und roch daran. «Wo mag sie den nur herhaben? Hier gibt es außer dem kaliforni schen Fusel so was schon seit Monaten nicht mehr im Laden.» Seine Frau tippte ihm auf die Schulter und zeigte auf meine Mutter. «Die Patientin.» «Ah. Ihre Mutter ist betrunken. Sie mag ein psy chologisches Problem haben oder nicht, im Moment ist sie betrunken. Jeder, der grade zweieinhalb Fla schen Sherry getrunken hat, selbst sehr guten wie diesen, wäre betrunken.» Er schüttelte sanft ihren Arm. «Mrs. Arnold, Mrs. Arnold.» Meine Mutter machte ein Auge auf. «Wer sind Sie?» «Sie ist sehr betrunken», sagte er. Mrs. Temple flüsterte ihm ins Ohr. «Ja», sagte er, «richtig. Trun kenheit oder vielmehr Trinken ist lediglich Symptom eines tieferliegenden Problems, dessen Natur durch intensive Tests ans Licht zu fördern ist. Gründliche Analyse.» «Aha», sagte ich. «Ja. Aber im Moment, wie ich bereits ausführte, ist sie lediglich betrunken. Es ist sinnlos, diese Fra gen mit einer Betrunkenen zu behandeln. Wenn sie nicht mehr betrunken ist, werde ich mich mit ihr in der Praxis unterhalten. Ich schlage vor, Sie beginnen damit, sie auszunüchtern.» 168
«Wie?» «Wie? Wie?» flüsterte seine Frau ihm ins Ohr. «Kaffee. Heißen, schwarzen Kaffee», sagte er. «Flößen Sie ihr heißen schwarzen Kaffee ein und lassen Sie sie umhergehen.» «Herr Doktor, sie ist meine Mutter, ich glaube nicht …» «Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten wol len, können wir nie helfen. Wissen Sie, wo sie die Flaschen versteckt?» «Sie versteckt sie nicht. Wozu? Dies ist ihr Haus. Die Flaschen stehen im Keller. Sie braucht nur hinun terzugehen und eine aufzumachen.» «In meiner ganzen klinischen Laufbahn habe ich nie etwas vergleichbar Lächerliches gehört», sagte er. «Ihre Flaschen muß sie verstecken, sonst sprengt das das Krankheitsbild. Diese Erscheinungen haben ei nen klassischen Aufbau, einen Aufbau, der nicht ver letzt werden darf, soll die Therapie erfolgreich sein.» «Ich werde mich im Haus umsehen, ob ich ver steckte Flaschen finde.» «Das werden Sie», versicherte er. «Sehen Sie an allen unwahrscheinlichen Stellen nach, Stellen, von denen Sie sicher sind, daß nie jemand dort eine Fla sche verstecken würde. Sie werden sie finden. Diese Fälle sind äußerst gewitzt und einfallsreich. Ihre Phantasie kennt keine Grenzen. Dorothy?» «So ist es.» «Wir gehen jetzt. Morgen, oder wann immer sie nüchtern wird, rufen Sie mich entweder in der Praxis 169
oder zuhause an. Wenn Sie zuhause anrufen, könnte Sigmund am Apparat sein. Seien Sie bitte höflich zu ihm und legen Sie nicht mitten in einem Lied auf. Das kann ruinös sein.» Ich begleitete sie an die Tür und sah zu, wie sie in ihren Rolls Royce stiegen. Dr. Temple öffnete wie der seinen Aktenkoffer und begann sofort weiterzu korrigieren. Sie fuhr. Offensichtlich holte er aus jeder Minute das Äußerste heraus. Die Pfanne vom verbrannten Braten zu säubern, dauerte fast eine Stunde. In der Speisekammer war eine Thunfischdose. Ich machte meiner Mutter ein Brot damit und dazu eine Kanne Filterkaffee. Sie aß und trank wortlos. Sie war sehr dünn geworden und hatte rote Augen. Die Hand, in der sie das Brot hielt, zitterte etwas. «Hast du nicht das Gefühl, daß dies langsam al bern wird?» «Ich weiß.» «Es wird dir immer schlechter gehen, es sei denn, du fängst an zu essen und hörst mit dem Sherry auf. Ich kann weder das Haus allein machen noch ko chen.» «Ich weiß. Ich weiß.» «Wir müssen sehen, daß Excilda und Amadeo wieder zurückkehren. Alle Versuche sind unnütz, ohne sie auszukommen.» «Du hast recht.» Sie weinte. «Vielleicht haben sie noch keine neue Arbeit gefun den und kommen zurück, wenn ich sie darum bitte.» 170
«Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in mich ge fahren ist. Wo ist Jimbob?» «Im Krankenhaus. Er hat Lungenentzündung.» «Natürlich, es war mir nur entfallen.» «Und dann noch etwas. Sollte Jimbob nicht nach Mobile zurückgehen? Es bekommt ihm nicht hier.» «Wo er so krank ist, dürfen wir ihn nicht darum bitten. Das kann man niemandem zumuten.» «Gut. Dann also, wenn er gesund ist. Wenn du es ihm nicht sagen willst, sage ich es ihm. Er mag mich ohnehin nicht, da ist es mir gleich, ob er sauer wird. Ich finde, es macht keinen guten Eindruck, daß er hier bei uns wohnt. Jedenfalls nicht, solange Vati weg ist.» «Das ist doch eine alberne und spießige Haltung. Was für eine niveaulose Bemerkung. Jimbob ist aus allerbestem Hause. Die Zierde jeder Gesellschaft und ein perfekter Kavalier alter Schule.» «Meiner Meinung nach ist er ein Säufer, Faulpelz und Schmarotzer. Und ein Snob. Ich wußte nicht, daß Kavaliere irgendwelche dieser Züge haben sollen.» «Wir sprechen später noch darüber. Wer waren diese Leute hier? Du solltest niemand ohne meine Erlaubnis in mein Schlafzimmer führen.» «Ich dachte, du seist krank. Deshalb ließ ich einen Arzt kommen. Die Frau war … eine Krankenschwe ster.» «Hielt er mich für krank?» «Ich glaube, er hat dich für betrunken gehalten. Das wars, was er sagte.» 171
«Da hat er recht. Ich war betrunken. Ich bin es immer noch etwas, auch noch nach dem Kaffee. Ich weiß keinen andern Weg, diese endlosen Tage und Nächte durchzustehen. Ich kenne hier niemanden außer ein paar albernen Frauen, die schlechtes Bridge spielen. Ich mag das kalte Wetter nicht. Ich vermisse die See und das Haus in Mobile. Ich habe es satt, in diesem gräßlichen Lehmkloß voll schmieriger India nerteppiche zu hausen, mit einem Garten, den man laufend bewässern muß, weil es nie regnet. Ich habe es satt, daß dein Vater fort ist und jede Entscheidung auf mir lastet.» Der letzte Satz leuchtete mir nicht ganz ein. Die einzigen nennenswerten Entscheidungen, die sie ge troffen hatte, seit wir allein waren, betrafen Jimbob und die Entlassung der Montoyas. Beides faule Ent scheidungen, meiner Meinung nach. «Zu den Entscheidungen will ich gern etwas bei tragen. Vielleicht glücken sie uns gemeinsam bes ser.» «Und völlig satt habe ich deine vorlauten Bemer kungen. Mein Gast und ich haben seit Monaten kein höfliches Wort von dir gehört. Und ich kenne deine Freunde nicht. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, hier nachts allein zu sitzen und sich zu fragen, in was für dreckige Geschichten du mit Mädchen gerätst? Der kleinen Corky schreibst du nie mehr. Sie ver zehrt sich vor Kummer, und du schreibst ihr nicht mal.» «Ich habe inzwischen neue Freunde. Wenn ich 172
hier wohnen soll, warum soll ich dann keine Freunde hier haben? Mobile ist dreitausend Kilometer ent fernt.» «Ja, Freunde. Und was für eine Auslese. Keiner, nicht einer von ihnen, kommt aus dem gleichen Stall wie du. Keinen bringst du gern nach Hause und stellst ihn mir vor. Eine Bande klebriger, staubiger kleiner Hinterwäldler, die noch nie einen Zahnarzt gesehen haben.» «Ich weiß nicht, woher du deine Informationen beziehst. Ich glaube, Steenie und Marcia zum Bei spiel gehen so oft zum Zahnarzt wie ich, und selbst, wenn sie es nicht täten, verstehe ich den Zusammen hang nicht. Vielleicht solltest du lieber etwas schla fen. Soll ich morgen den Arzt wieder rufen?» «Was ist das für ein Arzt?» «Ein Psychiater.» «Du widerliche Rotznase. Diesmal bist du zu weit gegangen.» Ich nahm den Teller und die Kaffeetasse. «Wenn du es nicht willst, werde ich ihn nicht mehr rufen. Er glaubte, du hättest im wesentlichen nur zuviel ge trunken.» «Das war scharfsinnig von ihm. Ich bin neugierig, was für eine Rechnung er für das Glanzstück von Diagnose schickt.» «Vielleicht sollten wir über die ganze Angelegen heit lieber ein andermal sprechen. Möchtest du, daß ich zu den Montoyas gehe?» «Ich koche so gut wie eh und jeh, und draußen ist 173
im Winter nie viel zu tun. Wir können gut ohne sie auskommen.» «Ich sage dir das ungern, aber du kochst misera bel. Sogar schlechter als ich, und ich kann überhaupt nicht kochen. Laß mich wenigstens Excilda zurück holen. Wie soll das gehen, wenn Jimbob aus der Kli nik kommt? Willst du auch für ihn kochen? Wie ich ihn in Erinnerung habe, ist er ein Mann, der pünktli che Mahlzeiten schätzt, auch wenn er am Geschmack was auszusetzen hat.» «Du kannst versuchen, sie zurückzuholen, wenn du willst. Wenn du willst, kannst du jeden Mexikaner in Sagrado einladen, dann setzen wir uns alle zu sammen, essen Tortillas und quasseln Spanisch. Wird das ein Spaß!» «Du wirst nichts dagegen haben, wenn ich Vati schreibe, was sich hier so tut. Schließlich hat er auch noch etwas zu sagen.» «Nichts, was hier vorgeht, absolut nichts, braucht dein Vater zu wissen. Er ist zur Marine gegangen, weil er es gewollt hat. Er wurde weder eingezogen, noch gebeten, noch sonst etwas. Er wollte gehen. Er wollte von uns fort. Er hat dich mir aufgehalst, gera de als du anfingst, schwierig zu werden. Er weiß, wie ich es hier hasse. Ich habe es jeden Sommer gehaßt, und er weiß es.» Als sie ihren Dampf abgelassen hatte, schloß sie die Augen und kehrte mir wortlos den Rücken. Ich machte ihre Nachttischlampe aus, und ging in die Küche und richtete mir auch ein Brot. 174
13. Kapitel
Ein klappriger kleiner Bus fährt täglich die Dörfer in Cabezón County ab, von Sagrado durchs Yunquetal hinauf in die Berge über San Esteban, Santa María, Villa Galicia, Ojo Amargo, Río Venado, Río Conejo, Amorcita, bis nach La Cima, der Endstation in über dreitausend Meter Höhe. Gleichgültig, wie das Wet ter ist, der Bus kocht immer, wenn er oben ankommt, und der Fahrer muß ihn vor der Abfahrt eine Stunde stehen und abkühlen lassen. Ich schwänzte am nächsten Morgen die Schule und fuhr rauf nach Río Conejo, um die Montoyas zu besuchen. Wir waren einmal vorher, als ich sieben oder acht war, am vierten Juli, dem Unabhängig keitstag, zu ihnen zum Essen gefahren. Doch hatte ich vom Dorf nichts mehr in Erinnerung als einen dünnen, von riesigen Pappeln gesäumten Bach, eine kleine Lehmkirche mit einem Blechdach und einen ausgedörrten Lehmplatz, der von Hunderten schla fender Hunde bevölkert schien. Der Bus hielt vor Montoyas Tabak-SpirituosenFeinkostladen mit Poststelle, einem schiefen, in sich zusammengesackten Gebäude, das offensichtlich sämtliche Bedürfnisse Río Conejos deckte. Es war ungefähr elf. Der Fahrer sagte, er käme gegen drei 175
wieder vorbei; wenn ich mit ihm zurückwollte, sollte ich hier warten. Drinnen hinterm Ladentisch stand ein Mädchen, und ich fragte sie, die Straße hinunter zeigend, ob in dieser Richtung Montoyas wohnten. Ja, sagte sie, und in der andern Richtung auch. Jeder in Río Conejo heißt entweder Montoya oder Romero. Sie war eine Romero. Ich fragte dann nach Amadeo Montoya, der mit Excilda verheiratet ist und zwölf oder dreizehn Kinder hat. Sie erklärte mir den Weg. Die Straße schlängelte sich zwischen kahlen Espen und Pappeln ungefähr parallel zum Río Conejo durch die Hügel. Entlang der Straße standen die Häuser in weiten Abständen verstreut. Jedes hatte seinen eige nen Briefkasten und jeder Briefkasten trug den Na men Romero oder Montoya; sie unterschieden sich lediglich durch die Vornamen oder Initialen. Ama deos Haus lag etwa anderthalb Kilometer von der Post bergauf. Es war ein gepflegtes, solides, altes, einladendes Haus. Wie groß, ließ sich von der Straße aus schlecht schätzen. Einstöckig und mit geteertem Dach setzte es sich unregelmäßig vom mittleren Fachwerkzim mer in verschiedene Richtungen fort und verlief in die angrenzenden, im Herbst frisch verputzten Schlafzimmer und Lagerräume aus Lehmziegeln. Mehrere Holzstapel standen sauber geschichtet am portal bei der Eingangstür, und getrockneter roter Chile hing aufgereiht von den vigas. Als ich einen in den Schnee geschaufelten Pfad aufs Haus zuging, bellte ein gewaltiger Hund, halb Schäferhund, halb 176
Pferd, und trottete mir erwartungsvoll entgegen: entweder wollte er hinterm Ohr gekrault werden oder er hoffte auf eine Rauferei. Ich kraulte ihn gerade, als ein kleiner, rundköpfi ger Junge die Tür aufmachte und mich ernst ansah. «Tag», sagte ich. Er verschwand im Haus und tauchte mit einem älteren Mädchen wieder auf. Dann ver schwand sie, und es tauchten immer mehr Kinder auf, um mich zu beäugen, eins älter als das andre. Ein Junge ungefähr meines Alters fragte mich schließlich, was ich wollte. Er war ein bulliger Rundkopf und sah seinem Vater ähnlich. «Ich möchte zu Mr. oder Mrs. Montoya. Ich bin Joshua Arnold aus Sagrado.» «Einen Moment.» Er machte die Tür zu. Ich ging mit dem Hund zurück unter das Vordach, das portal, hockte mich auf die Kopfsteine und strei chelte ihn. Er hatte einen dicken, aber glänzenden Winterpelz und war gutgenährt und frischgebürstet. Schließlich erschien Excilda im portal und fragte, warum in Gottes Namen ich nicht reinkäme, bevor ich zu Tode fröre. «Aber laß mir ja nicht das unnütze Vieh von Hühnerdieb rein. Eines schönen Tages schnappt er sich das Baby, schleppt es in eine Höhle und frißt es auf.» Ich gab ihm einen Abschiedsklaps. Er wedelte mit dem buschigen Schwanz. Er sah mir nicht aus, als stähle und fräße er Kinder, eher, als würde er sich an Ostereiern mit Schokoladenkruste vergreifen. Montoyas großes Bauernhaus war hell und sauber, 177
die Wände frischgeweißt, die Möbel selbstgebaut, einfach und gut. Hier in den Bergen war die Familie bekannt dafür, immer gute Handwerker verschiede ner Richtungen hervorgebracht zu haben; wenn auch keiner je durch besondere Fähigkeiten berühmt wurde – zum Beispiel durch Heiligenschnitzen oder Ge sundbeten –, einen guten Tischler oder Maurer konn ten sie immer anbieten, dazu gelegentlich auch einen Tierarzt, eine Hebamme, einen Weber oder ganz ein fach eine brauchbare Kraft. In letzter Zeit hatten sich einige als Mechaniker hervorgetan. Sie waren nie besonders fromm oder gelehrt, aber lesen konnten sie alle. Außer den Eltern wohnten ungefähr noch zwölf Leute im Haus, obwohl ich da nie ganz die Übersicht behielt. Kinder, zwei Enkel und eine Nichte aus ei nem weniger glücklichen Zweig der Familie. Einige verheiratete Kinder wohnten nicht mehr zuhause. Tony, der zwar kleiner war als ich, aber genauso stark aussah wie Chango, war das älteste noch vor handene Kind. Ob ich mich noch an Vicky erinnern könnte, fragte Excilda. «Nein.» «Erinnerst du dich nicht an den Vierten Juli vor zehn Jahren?» «Ich entsinne mich, daß wir zum Essen hier wa ren.» «Wie ein Schäferhund bist du Vicky den ganzen Nachmittag nachgelaufen. Du hast ihre Hand gehal ten und sie geküßt, und Amadeo und mir hast du er 178
zählt, du würdest sie heiraten, sobald du das Geld für ein Haus und einen Ring zusammenkratzen könntest.» «Ich kann mich erinnern», sagte Vicky. Es gibt einen mexikanischen Filmstar, Maria Fe lix, mit einem gleichmäßigen ovalen Gesicht, das aus Porzellan gegossen scheint und nie altert. Victoria ähnelte ihr, nur war ihre Haut weicher als Porzellan. Große Augen, indianische Backenknochen und ein spitzes Kinn. Ein schlanker Körper, der sie größer erscheinen ließ, als sie war. Dickes, dichtes schwar zes Haar, das ihr, im Nacken von einer Spange zu sammengehalten, über den Rücken fiel. Eine ruhige, leise Stimme und ein entfernt anklingender spani scher Sprachrhythmus. «Wenn du mich in Verlegenheit bringen willst, ist dir das gut gelungen», sagte ich. «Du hast versprochen, katholisch zu werden und Spanisch zu lernen, wenn Vicky dich heiraten würde. Deine Mutter hat das wohl nicht grade gerne gehört, aber dein Vater fand es urkomisch.» Excilda hatte einen achtflammigen schwarzen Herd in der Küche, und die vigas hingen voller Ge würze, die sie selbst gepflanzt oder gepflückt hatte. Sie nannte mir einige Namen, und als sie bei yerba de lobo ankam, fragte ich, wozu Wolfsmilch denn am besten schmecke. Sie lachte. Es schmecke zu gar nichts. Tee mache man daraus, der einen zwei Tage lang ununterbrochen aufs Klo rennen ließe. Das sei gegen Ausschlag, Furunkel und Zahnfleischbluten. Ebenso mag man es für widerborstige Kinder brau 179
chen. Anstatt sie zu verhauen, gibt man ihnen eine Tasse yerba de lobo, das schlägt ihnen für achtund vierzig Stunden die Flausen aus dem Kopf. Am Küchentisch saß eine kleine, aufgeregte Spa nierin und rauchte eine Zigarette. Es war Mrs. Saiz, eine von Vickys Lehrerinnen in Yunque. Offensicht lich mußten die Montoyas eine Auseinandersetzung mit ihr gehabt haben, denn sie sagte dauernd: «Ja más! Jamás! Es una tontería tremenda!», was in etwa: «Niemals, auf keinen Fall, das wäre eine Riesen dummheit!» bedeutet. Das ist keine wörtliche Über setzung, aber sie gibt den Sinn wieder. Mrs. Saiz er hob sich, als ich hereinkam. Als sie an Vicky vorbei ging, stieß sie sie sanft mit der flachen Hand vor die Stirn und sagte: «Cretina!» Dämlich sah Vicky nicht aus. Sie war erst sechzehn und bereits in der Ober prima. Ich setzte mich mit Excilda, Toni und Vicky in die Küche und trank Kaffee aus einer kleinen Schale. Excilda hatte mich nicht gefragt, was ich an einem Schultag in Río Conejo mache, und ich wußte, daß es hier oben nicht als höflich gilt, gleich aufs Thema zu kommen. Waren Montoyas in Sagrado, nahmen sie die städtischen Sitten an, aber zuhause blieben sie fest bei ihren ländlichen Bräuchen. Tony hatte seit meiner Ankunft kaum gesprochen, aber jetzt bat er seine Mutter, ihm Essen zu machen, weil er zurück mußte. «Tony hilft Procopio Romero sein Haus wieder aufbauen. Weißt du, daß es vorige Woche abgebrannt ist? Stand im Conquistador was 180
drüber? Nein? Also für Conejo war es ein großes Feuer. Ihr Leben und ein paar Krüge Saft, sonst ha ben sie nichts gerettet. Jeder hilft.» Sie nahm eine Schüssel carnitas de puerco aus dem Herd – nach gefüllten Muscheln mein Leibge richt – und tat Tony eine Portion mit Tortillas aus blauem Maismehl auf. Er schlang es runter, trank noch eine Tasse Kaffee, sagte, er wäre zum Abend essen wieder da, und ging. «Hast du Hunger», fragte sie mich. «Nein, ich habe reichlich gefrühstückt und noch ein Brot im Bus gegessen.» Das war gelogen. Ich war am Verhungern. «Iß doch trotzdem ein paar carnitas.» «Nein, wirklich nicht. Unmöglich. Ich würde plat zen.» «Los, komm Vicky, gib deinem novio hier carni tas, bevor ich wild werde und ihn raus in den Schnee jage.» Während Vicky mir die carnitas auftat, redete Excilda weiter. «Hör zu, ninito, wir haben genug Schweine übrig. Wenn’s sein muß, kommen wir ohne einen Pfennig durch den Winter, und das könnt ihr nicht. Iß deine carnitas, das ist ja eine Beleidigung.» Die kleinen Fleischwürfel hatten den ganzen Mor gen gebrutzelt. Sooft ich hineinbiß, wurden die Lider mir schwer, als riebe sie mir jemand mit warmer But ter. Es sollte gesetzlich verboten sein, irgend etwas anderes mit einem Schwein zu machen, als es in kleine carnita-Würfel zu schneiden. Kein Schinken, kein Kotelett, kein Braten, kein Speck. 181
«Amadeo müßte gleich da sein», sagte Excilda. «Er ist nach Molybdenum gefahren und fragt beim Bergwerk nach Arbeit.» «Deswegen bin ich hier», sagte ich. «Könntet ihr nicht zurück zu uns nach Sagrado kommen? Wir brauchen wirklich Hilfe.» «Darüber sprichst du besser mit Amadeo, wenn er kommt. Das hat er zu bestimmen. Er war ganz schön wütend, als wir neulich abgefahren sind. Ich habe ihn noch nie so gesehen.» «Gut, ich spreche mit ihm darüber. Aber ich wäre schon froh, wenn ihr zurückkommt.» «Wir sind nicht gegangen, wir sind entlassen wor den. Reden wir nicht davon. Vicky, geh mit deinem esposado ins große Zimmer und schick mir die Kin der zum Essen.» Wir setzten uns im Vorderzimmer auf das klobige Sofa, während die Kinder aßen. Vic toria war ungefähr so alt wie ich, doch eine Schön heit. Ich ahnte nicht, daß sechzehnjährige Mädchen wirklich schön sein konnten. Ich war nervös und wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie schien sehr ru hig und offen. «Wie heißt der Hund?» sagte ich schließlich, um das Schweigen zu brechen. «Don Carlos.» «Ein netter Hund.» «Finde ich auch.» «Was ist er für eine Rasse?» «Weiß ich nicht. Verschiedene.» Mit der Hundegeschichte kam ich bei Maria Felix jr. 182
offensichtlich nicht an, also drückte ich mal auf die Erinnerungstube. «Was deine Mutter da erzählt hat, erinnerst du dich noch daran? Ich bin dir überall nachgelaufen?» «Ja.» «Also, ich kann mich daran wirklich nicht erin nern.» Victoria sagte nichts, und die nie sehr lebhafte Un terhaltung starb wieder ab. Blieb nur noch Kino und Schule. «Hast du in letzter Zeit einen guten Film gesehen?» Sie dachte einen Moment nach. «Dick und Doof.» Gerettet. «Dick und Doof, was?» «Beim Militär, glaube ich.» «Klar, ,Dick und Doof beim Militär’, den habe ich in Mobile gesehen. Hat er dir gefallen?» «Ja.» Ihr Blick wanderte zum Fenster, sie sah hin aus. Ich dachte schon, mir sei ein schwerer faux pas unterlaufen oder ich röche schlecht. Da fiel mir ein, daß sie heute, an einem Wochentag, nicht in der Schule war. «Warst du krank?» «Krank? Nein.» «Ich dachte nur, weil du heute nicht in der Schule bist. Gehst du hier in Conejo?» Sie sah mich an, und zum erstenmal kam etwas Leben in ihr Gesicht. «Nein, im Tal, in Yunque. Ich ging da zur Schule. Ich bin abgegangen, als sie» – sie deutete mit dem Kinn zur Küche – «ihre Arbeit ver loren haben. Ich muß jetzt arbeiten und Geld verdie 183
nen.» Ihre Augen flammten. Sie wandte sich auf dem alten Sofa direkt zu mir. «Ich war sehr gut in allen Fächern in Yunque. Ich hatte überall Einser. Mrs. Saiz meinte, nach dem Abitur könnte ich an jeder Universität ein Stipendium bekommen. Sie hielt mich für verrückt, als ich ihr sagte, ich ginge ab, auch als ich ihr erklärte wieso.» Ihre Stimme war hart und scharf geworden, und sie spuckte mir die Sätze nur so an den Kopf. Sie sah jetzt wirklich aus wie Maria Felix, wenn sie dem Gangster erklärt: «Los, vergewaltigen Sie mich. Was immer Sie mit meinem Körper machen, meine Seele berührt es nicht!» Den Titel des Films habe ich vergessen, aber er war voll von solchem Kraut, was sie in Mexiko, glaube ich, maiz nennen. Excilda hörte Victorias Stimme und kam mit ei nem der Schreihälse unterm Arm aus der Küche. «Mrs. Saiz hat recht. Du bist verrückt. Auf jeden Fall solltest du noch das Abitur machen. Du brauchst nicht zu arbeiten.» «Ich bin sechzehn, ich kann tun, was ich will.» «Que no seas cabezuda! Sei doch nicht so dick köpfig!» Aber an der Art, wie Excilda das sagte, konnte man sehen, daß sie schon x-mal ergebnislos dagegen angegangen war. «Das Mädchen ist ein Maulesel! Faßt einen Entschluß und Schluß! Wie ein Stein.» Don Carlos bellte draußen auf dem portal. Man hörte einen Lastwagen. «Papa», sagte Excilda. «Wi dersprich ihm ja nicht.» 184
Wir hörten, wie Amadeo Don Carlos einige spani sche Kosenamen zurief: «Dreifache Fehlgeburt eines schafstehlenden Coyoten, grimmer Bezwinger blin der Kätzchen», etc. Dann erschien er, setzte die Mütze ab und zog sich die pelzgefütterte Jacke aus. «Tag, Josh, na wie gehts? Wolltest du Vicky mal besuchen? Das ist eine weite Reise für ein dummes Mädchen.» Ich stand auf. «Nein, ich bin gekommen, um zu fragen, ob vielleicht Sie und Excilda wieder …» «Ach was. Wir sind glatt rausgeflogen. Was hast du damit zu tun?» Er drehte sich um zu Excilda: «El capataz me dijo que hubiera trabajo en dos, tres semanas.» «Amadeo, Sie brauchen keine drei Wochen auf Arbeit zu warten. Wirklich. Und ich erinnere mich, daß Sie mit meinem Vater über die Arbeit gespro chen haben. Er hat gesagt, daß die Stelle hundert fünfzig Kilometer entfernt ist.» «Sie ist gut bezahlt. Mach dir keine Sorgen. Ich habe früher schon auf der Zeche gearbeitet.» «Mit meiner Mutter würde es bestimmt klarge hen», bat ich. «Sie ist so durcheinander, sie weiß nicht mal, weshalb Sie weg sind. Sie war krank. Wir brauchen wirklich Hilfe.» «Deine Mutter hat damit nichts zu tun. Hätte sie uns nicht gekündigt, wären wir auch so gegangen. Es ist kein Mann da, der sagt, was zu tun ist. Dein Vater ist irgendwo bei der Marine, und dieser maricon mit seinem roten Morgenmantel, der weiß doch nicht mal, was er redet. Soll bloß froh sein, daß ich ihn 185
nicht umgebracht hab, was der so zu mir gesagt hat.» «Also ich weiß nicht, wie man den Vorgesetzten spielt. Außerdem wissen Sie doch mehr über die Ar beit, als ich je könnte. Schließlich bin ich siebzehn.» «Mein Großvater war sechzehn und hatte Frau und Kind, da bestellte er hier in Conejo vier Hektar. Zwei Indianer aus San Ysidro haben ihm den Herbst ge holfen. Junge, Mensch, ich meine, machst du nun den Mund auf für ‘ne Weile oder willst du, daß die se … Frau das Kommando hat?» «Amadeo, ich verstehe nichts von der Arbeit.» «Gott, Mensch, ist doch wurscht. Was habt ihr da unten? Acht, neun Morgen? Ihr habt vierzig Apfel bäume, vier davon sterben, dann eine acequia menor und zehn Gräben, ihr habt etwas Rasen, ein paar Ro senstöcke, Lilien, Japanzwetschgen, sechs Linden und ein Tulpenbeet. Zweimal im Jahr gibt es ein biß chen zu tischlern und zu verputzen. Über die Arbeit kannst du mir nichts beibringen. Alles, was ich brau che, ist irgendein gallo, der dafür sorgt, daß ich sie auch machen kann, und der, wenn mal was an Geld gebraucht wird, sagt: ‚Ja, das geht’ oder ,Nein, das geht nicht’.» «Mehr nicht», sagte Excilda. «Cállate. Halt den Mund.» Amadeo sah sie nicht mal an. «Aber recht hat sie. Vergiß nicht, das ist nicht mein Land da unten. Es gehört deinem Vater, und ich arbeite darauf. Hier oben, das ist mein Land, und ich bestelle es, wie ich will. Wenn ich etwas 186
falsch mache, ist es mein Fehler, und viele Fehler ma che ich auf meinem Land nicht. Aber bei euch in Sa grado bin ich nicht mein eigener Herr. Also bitte, übernimmt jemand die Verantwortung oder soll ich für sechzig Dollar die Woche nach Molybdenum gehen?» Die ganze Geschichte wuchs mir über den Kopf. Ich setzte mich zu Victoria aufs Sofa und tat, als dächte ich nach. Victoria war auch keine Hilfe. Sie saß nur da und sah von mir zu ihrem Vater, als ma che ihr die Unterhaltung der Erwachsenen einen Hei denspaß. «Amadeo, ich weiß nicht …» «Stimmt, du weißt nicht. Deshalb habe ich gestern an deinen Vater geschrieben, über diese verrückte Adresse, nach der er in New York sein soll, wo er in Wirklichkeit irgendwo in der Gegend von Spanien ist. Victoria, hol mir den Brief.» Victoria ging schnell in ein anderes Zimmer. «Excilda, Victoria und ich waren gestern bis fast elf auf, um diesen Brief zu schreiben. Victoria kennt sich besser in der Rechtschreibung aus und hat ihn erst mal mit Bleistift ins Unreine geschrieben, dann hat Excilda ihn mit Tinte abgeschrieben. Excilda hat eine gute Schrift.» Victoria kam mit zwei aus einem linierten Heft ge rissenen Seiten wieder und gab sie Amadeo. Der zog aus der Innentasche eine Brille, die ich vorher noch nie gesehen hatte. «Yo me vuelvo ciego por cierto», sagte er über seine leichte Kurzsichtigkeit: «Ich wer de bestimmt blind.» 187
«Lieber Herr Arnold! Hier ist alles in Ordnung, außer, daß Ihre Frau uns entlassen hat. Wir wissen nicht, warum, wo wir wie immer gearbeitet haben.» «Ich habe ihm gesagt, es müßte ,weil wir’ heißen», sagte Victoria. «In deinen eigenen Briefen kannst du schreiben, was du willst», sagte Amadeo. «Das ist mein Brief. Weiter: ,Wir sind beide kein Arzt, aber wir glauben beide, Ihre Frau ist krank und Ihr Sohn Joshua soll, solange Sie weg sind, zu bestimmen haben. Wenn Sie mir das in einem Brief so schreiben, arbeiten wir wieder bei Ihnen. Inzwischen suche ich andere Ar beit. Hoffentlich geht es Ihnen gut. Ihr sehr ergebe ner Amadeo Lorenzo Montoya R.’ Was hältst du da von?» «Das kann sicher nichts schaden. Was bedeutet das ,R’?» «Romero, Familienname meiner Mutter.» «Eins ist übrigens sicher», sagte ich. «Alles Geld ist auf der Bank, hier oder in Mobile, und ich darf keine Schecks unterschreiben. Also kann ich weder Rechnungen noch Lohn zahlen. Wenn meine Mutter irgend etwas nicht bezahlen will, kann ichs nicht än dern.» «Dazu wird sich dein Vater bestimmt was einfal len lassen. Und wir können eine Weile ohne Bezah lung arbeiten. Du mußt deiner Mutter nur sagen, daß sie uns nicht entlassen kann, es sei denn, auf Anwei sung deines Vaters.» «Junge, Junge, das hört sie bestimmt gern.» 188
«Ich habe den Brief mit Luftpost geschickt. Wir warten, bis dein Vater geantwortet hat, bevor wir zu rückkommen.» «Das wird deiner Mutter guttun, eine Weile ihr ei genes Essen zu essen», sagte Excilda. «Mir wird das nicht besonders guttun.» «Wenn sie was zu tun hat, zum Beispiel kochen, vielleicht hört sie auf mit all dem Wein. Wann kommt Mr. Buel aus dem Krankenhaus?» «Ich weiß es nicht genau. Aber bald, eher, als es gut ist. Ich habe gedacht, das würde ihn bestimmt umbringen.» «Dem fehlt gar nichts», sagte Amadeo. «Gesund ist er, an der Front sollte er sein. Er ist jünger als dein Vater.» «Ein Schnorrer ist er. Er tut nichts als Leute besu chen und rumhängen. Ich dachte, hier oben wären wir aus dem Schuß, aber der läuft um die Welt für ein Gratisessen.» «Gut», sagte Amadeo. «Eine Weile werdet ihr es da unten schon allein schaffen. Ich habe hier sowieso noch zu tun. Ich muß noch jagen.» «Ist die Jagdzeit nicht schon lange vorbei?» «Wenn man so viel Kinder ernähren muß, ist die Jagdzeit nie vorbei. Ich weiß, es ist verboten, aber es ist genauso verboten, Kinder hungern zu lassen. Wenn du den Mund hältst, nehme ich dich mal mit auf die Elchjagd. Tony und ich könnten noch jeman den brauchen, der mit anfaßt. Für den letzten Bullen brauchten wir drei Tage, bis wir ihn hier hatten.» 189
Amadeo ging in die Küche, um zu Mittag zu es sen. «Wenn du dich bei uns umsehen willst, laß dir von Vicky alles zeigen. Vicky, führ’ ihn ‘rum. Morgen gehst du wieder zur Schule, da kannst du dir heute wenigstens einen schönen Tag machen.» «Ich gehe niemals mehr zurück zur Schule», sagte Vicky. «Ich arbeite und helfe euch.» «Ich sage dir Bescheid, wenn ich Hilfe brauche», sagte Amadeo. «Ärger mit Förstern macht mir nichts aus, aber Leute von der Schulbehörde kann ich nicht verdauen. Wenn du nicht freiwillig gehst, stecke ich dich in einen Sack und trage dich hin.» Wir zogen uns den Mantel an und gingen. Es war ein klarer Nachmittag, nicht zu kalt zum Spazieren gehen. Vicky stieg in schwarze Gummistiefel, Don Carlos lief manchmal bis zum Bauch im Schnee wa tend, hinter uns her. Vicky war schweigsam, aber sie antwortete, wenn ich nach etwas fragte. «Das ist das Bohnenfeld, da die Scheune», oder «Paß auf, hier ist ein Graben.» Einmal zeigte sie sogar auf eine wollig aussehende braune Stute. «Ein Pferd.» Mit dem Her zen war sie wohl nicht dabei. «Tatsächlich, ein Pferd? Das hatte ich mir fast ge dacht.» «Ich dachte, du bist aus der Stadt.» «Du, wenn du mich nicht herumführen willst, sag es. Ich kann auch am Laden auf den Bus warten. Du brauchst mich nicht zu unterhalten.» «Willst du denn gar nichts sehen?» 190
«Ich würde mir gern alles angucken, aber wenn es dich stört, können wir es auch lassen. Wenn du auf jemand sauer sein willst, sei sauer auf meine Mutter. Das bin ich auch.» «Ich kenne deine Mutter nicht. Ich kann mich auch nicht mehr an sie erinnern.» Sie stapfte feierlich neben mir her. Ihre Gummi stiefel ließen tiefe Abdrücke im Schnee. Don Carlos spürte irgendwelchen Dingen unterm Schnee nach und pflügte wirre, krumme Furchen um uns herum. Dann lief er von uns weg und hopste kläffend durch den Schnee auf eine Kuh zu, die friedlich unter ei nem Baum einen Ballen Heu fraß. Er schnappte bel lend nach ihren Hufen, bis sie sich in Gang setzte, dann trieb er sie in die Nähe einer anderen Kuh, um kreiste beide und kam zurück. «Was soll das?» «In den warmen Monaten hütet er das Vieh. Jetzt hält er sich nur in Form. Wenn wir nicht nebeneinan der gingen, würde er uns zusammentreiben. Er kann Tiere einfach nicht verstreut sehen. Menschen auch nicht.» «Ich dachte, er sei eher ein Jagdhund.» «Er jagt mit meinem Vater. Don Carlos soll für fast alles Wild brauchbar sein. Mein Vater hat ihn mal mit auf die Entenjagd genommen, das machte er wirklich gut. Dann kauften wir Enten, weißt du, keine Wildenten, sondern Hausenten. Da kannte sich Don Carlos überhaupt nicht mehr aus. Weil die Enten überall rumliefen, ohne daß jemand auf sie schoß, 191
wußte er, daß er sie nicht totbeißen sollte, aber ein fach zusehen konnte er nicht. Da hat er sie dann eines Morgens im Frühjahr, als der Boden noch weich war, einfach genommen und eingebuddelt.» «Eingebuddelt, was soll das heißen?» «Oh, er hat ihnen nicht wehgetan. Über den gan zen Hof hat er kleine Löcher gegraben, nahm die En ten in die Schnauze und hat sie reingesteckt. Dann hat er sie mit Matsch zugedeckt, daß nur die Köpfe raussahen. Das hat er mit dreizehn Enten gemacht, und als Tony dazukam, war er grade bei der vier zehnten. Wir haben lange darüber gesprochen. Mein Vater sagt, Don Carlos hätte Angst gehabt, die Enten liefen weg, und hat sie in die Löcher gesteckt, weil er keinen Käfig bauen kann. Ein schlauer Hund.» Amadeos Hof hörte auf dieser Seite auf. Ich sah einen kleinen Holzbau mit einem Kreuz auf dem Dach. Er wirkte alt und verwittert und war fensterlos; vor der Tür hingen Kette und Vorhängeschloß. «Ist das eine Kirche?» «Morada nennen wir das. Die Penitentes benutzen so was statt gewöhnlicher Kirchen.» «Ist Amadeo Penitente?» Das ist eine Art abtrün niger Katholiken, die alles sehr genau nehmen, be sonders Karfreitag. Jedes Jahr wird ein Sektenbruder ausgewählt, der Jesus verkörpert. Mit Kaktushaut und ungegerbten Lederstriemen peitschen sie ihn aus, während er das Kreuz trägt. Dann wird er ge kreuzigt. In den letzten Jahren banden sie ihn nur noch ans Kreuz und ließen ihn so den ganzen Tag in 192
der Sonne hängen. Vor hundert Jahren machten sie es noch richtig, mit Nägeln. «Nein, ist er nicht, ist er auch nie gewesen.» «Wozu dann die morada?» «Versprichst du, niemand etwas zu erzählen?» Ich sagte ja, das verspräche ich, obwohl mir das albern vorkam. Es war mir gleich, wozu sie die mo rada benutzten. Wir gingen hinüber, sie zog einen Schlüsselring aus der Tasche, öffnete das Schloß und zog die Tür auf. Das Gebäude lag versteckt im nördlichen Abhang eines Hügels. Im Winter fiel die Sonne nie direkt darauf. Es war der ideale Ort für eine Speisekammer. Drei Hirschseiten hingen von den Deckbalken, und eine ganze Wand bestand nur aus Regalen voller Steinkrüge mit eingelegtem Fleisch. Von einer höl zernen Querstange hingen dutzendweise abgezogene Hasen. «Alle Leute hier jagen außerhalb der Jagdzeit», sagte Victoria, «und sie werden erwischt. Mein Vater sagt, daß nicht einmal Forstaufsichtsbeamte in eine Privatkapelle eindringen.» «Wenn mich einer fragt, ich erzähle jedem, dein Vater sei ein tiefgläubiger Mann.» «Ich wollte nur nicht, daß du denkst, er sei Peni tente. Der Erzbischof haßt sie. Mein Vater ist ein ganz normaler Katholik.» Wir gingen zum Haus zurück, und ich verabschie dete mich von Excilda und Amadeo. «Warum geht ihr nicht einmal zusammen ins Kino, Victoria und 193
du», sagte Excilda. «Du brauchst sie nicht zu heira ten, wenn du nicht willst.» Victoria schien die Idee nicht gerade zu begei stern, dabei hatte ich es grade selbst vorschlagen wollen. «Ich habe auch so genug Scherereien ohne einen Anglo als Freund.» «Auf die Art kriegst du überhaupt nie einen Freund», sagte Excilda. «Für ein Fell voll bist du noch nicht zu groß, hörst du?» «Wollen wir nicht mal zusammen ins Kino ge hen?» fragte ich pflichtschuldig. «Frag mich später mal, wenn du wirklich willst.» Amadeo fuhr mich zurück zum Haushalts-PostLaden. Ein paar Minuten später kam der Bus ange schaukelt. Ich gab dem Fahrer meinen Rückfahr schein, und wir fuhren los, hinunter ins Tal zurück. «Kurz vor La Cima ist mir der Keilriemen geris sen», sagte er. «Ich dachte schon, ich müßte über Nacht dableiben. Jetzt fahre ich diesen Bus acht Jah re täglich da rauf, außer sonntags, aber die Säcke da oben glasen einen immer noch an, wie wenn ich ein Fremder wäre.» Meine Mutter war angezogen und auf, als ich nach Hause kam. Und nüchtern. «Jimbob wird in einigen Ta gen aus der Klinik entlassen», sagte sie. «Muß ich ihn wirklich bitten, zu gehen? Das bricht ihm das Herz.» «Das ist deine Sache. Mir ist es gleich, ich sehe sowieso nicht viel von ihm. Ich war heute übrigens nicht in der Schule. Ich bin nach Río Conejo gefah ren und habe mit den Montoyas gesprochen.» 194
«Wollen sie wieder bei uns arbeiten? Es war wirk lich nicht besonders klug, sie zu entlassen.» «Vielleicht. Nicht sofort. Wir werden sehen.» «Ich mache uns Rührei», sagte sie und tat es auch. Es war eßbar. Während ich abwusch, las sie eine Weile und ging dann wieder ins Bett. Ich suchte im Keller zwei Flaschen aus, einen Hermitage und einen Beaujolais, tat den Wein in eine Papiertüte und ging zu Romeo in die Werkstatt. Durch die Tür hörte ich Stimmen, aber erst nachdem ich geklopft hatte, merk te ich, daß drin eine Prügelei im Gange war. Romeo riß die Tür auf, noch rot vor Wut, und sagte: «Sie dir an, was du angerichtet hast, hier! Sieh es dir an!» Shirley rannte gestikulierend auf und ab und nannte Romeo einen verdammten dreckigen Itaker. Es klang zwar irgendwie wirr, aber ich kriegte mit, daß sie keine Sandalen mochte, daß sie Schuhe haben und in die Stadt zum Friseur wollte. «Das sind die Schilddrüsentabletten», sagte Romeo. «Als gäbe man ihr Benzedrin. Seit anderthalb Tagen führt sie sich so auf.» «Mach diese Scheißtür zu, du verfluchter Kack stiefel, ich frier mir den Arsch ab!» «Komm schon rein, Josh», sagte er. «Lieber nicht. Hier.» Ich gab ihm die Flaschen. «Vielleicht nützt das was. Und vielleicht sollte man ihr weniger von dem andern Zeug geben.» «Nein. Ich kaufe ihr eine Riesenröhre davon, und ab mit ihr nach San Francisco. Sie wird jetzt schon zurechtkommen.» 195
«Nun mach die Tür zu!» schrie Shirley.
«Gute Nacht, Josh. Vielen Dank für den Wein.»
«Wiedersehen», sagte ich.
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14. Kapitel
Jimbob Buel kam Ende der Woche aus dem Kran kenhaus zu uns zurück. Er war zittrig und schwach und legte sich sofort ins Bett. Als es ihm gut ging, hatte er so viel gejammert, daß ihm die Krankheit nun nichts mehr übrig ließ, also lag er still, und mei ne Mutter fütterte ihn mit Toast, Kakao und Hühner brühe aus der Dose. Ich sah plötzlich, daß er einsam war. Von allen Leuten, die ich kannte, war er der einzige, der nie Post bekam. Seine «Freunde» hatten wahrscheinlich Angst, auf einen Brief hin würde er vorschlagen, sie zu besuchen und eine Weile bei ihnen zu wohnen. Ich weiß nicht, was sein Gastrekord war; sein Besuch in Sagrado zog sich nun schon Monate hin. Manchmal las ihm meine Mutter oder ich vor. So viel ich weiß, zieht eine Lungenentzündung die Au gen nicht in Mitleidenschaft. Aber er sagte, der Auf wand, sich hinzusetzen und die Augen hin und her zu bewegen, griffe ihn doch etwas an. Irgendeinen Ge schmack hatte er; meiner war es nicht. Ich wollte ihm die Frontmeldungen vorlesen: die Erste Armee hatte Aachen genommen, die Kanadier hatten die Scheide mündung gesäubert, so daß wir den Antwerper Hafen benutzen konnten, die Russen standen in Ostpreußen, 197
und wir hatten eine bedeutende Seeschlacht in der Leytebucht gewonnen. Die Scheidemündung interes siere ihn einen Dreck, sagte er, das sei alles zu grob für seinen zarten Zustand. Von da an überließ ich meiner Mutter das Vorlesen. Ich hatte sowieso genug für die Schule zu tun. Zwar ließ sich der Schulhof der Helen-De-CrispinSchule nicht mit dem üppigen Gras und den Hockey feldern von Point Clear vergleichen, aber der Unter richt war erstklassig. Wer an der De-Crispin-Schule Amerikanische Geschichte hatte, war sich bestimmt nie im Zweifel über den Ausgang des Bürgerkriegs: es stand schwarz auf weiß in unserm Buch. Es gab sogar traditionelle Feiern an der Schule. Die wesentlichste war der «Jahresvortrag über india nische Kultur», gehalten von Helen De Crispin selbst, einer reichen Dame aus Boston, die ungefähr zur Zeit der Schlacht beim Little Big Horn in den Westen gezogen war. Der Stadtrat von Sagrado hatte der Schule wegen einer hochwillkommenen und großzügigen Spende ihren Namen gegeben. Als der Architekt in den zwanziger Jahren die Schule entwarf, vergaß er die Toiletten, und das Ge bäude stand, bevor jemand das Versehen bemerkte. Im ersten Vierteljahr mußten Schüler und Lehrer die serhalb zur Post gegenüber, und da war schließlich ein derartiger Andrang, daß der Postfilialleiter nie manden mehr aufs Klo lassen wollte, der nicht vor her einen Brief abschickte. Das zur Verfügung stehende Geld war ausgegeben –, 198
da legte Mrs. De Crispin eine runde Summe für ein Separatgebäude voller Toiletten auf den Tisch. Es war eine solch vornehme Geste, daß der Rat die Schule nach ihr und den Anbau nach dem Architek ten benannte. Romeo hatte mir von ihr erzählt. Als sie gegen 1870 herkam, alles zurücklassend, nur nicht ihr Geld, fand sie ihr Hobby: Indianer. Eine Weile hatte sie bei den Yankton Sioux in Süddakota gelebt, hauste dann kurz mit einem Navajostamm bei Tuba City in Ari zona und ließ sich schließlich in Sagrado nieder, um in der Nähe der Pueblos zu sein. Alle Indianer hatten Angst vor ihr. Die Sioux hielten sie persönlich für das Aussterben des Büffels verantwortlich. Ihr Be such bei den Navajo-Indianern fiel zeitlich mit einer Maltafieberepidemie unter den Schafen zusammen. Als sie sich den Pueblos zugesellte, wurden die von einer zweijährigen Dürre getroffen und ihr Getreide verdorrte. Jetzt lebte sie in einem großen, düsteren, mit Töpfereien, Federschmuck, Bastarbeiten und Jagdfetischen vollgestopften Haus am Stadtrand von Sagrado. Parker Holmes war einmal bei ihr gewesen. Er hatte seine Fuchsfallen mit dem Zehn-Mark-Fehen urin aus Tennessee geködert und Mrs. De Crispins Cockerspaniel gefangen. Als er den Hund wieder abgeben wollte, ließ sie ihn zuerst nicht herein: sie hielt ihn für einen Jicarilla-Apachen, der sie verge waltigen wollte. Er sagte, sie hätte ein ewiges La gerfeuer mitten auf dem Fußboden im Wohnzimmer 199
und ein Loch im Dach, um den Rauch abziehen zu lassen. Ich ging mit Marcia zu ihrem Vortrag. Fast alle Schüler waren angetreten, und hier und da saßen auch ein paar Erwachsene. Wir setzten uns vor zwei Puebloindianer um die vierzig, die sich leise in einer Mischung aus Englisch und Tewa unterhielten, einer Sprache, die klingt, als erstickte jemand grade an ei ner Fischgräte. Ich weiß nicht, was sie da wollten. Vielleicht ihr Volksgut etwas auffrischen. Romeo war da. Als ich ihn Marcia vorstellte, wurde er sehr galant und küßte ihr die Hand. «Was machen Sie hier?» fragte ich. «Helen und ich sind alte Freunde», sagte er. «Als ich herkam, war sie furchtbar nett zu mir. Ein Miß verständnis. Sie hielt mich für einen Medizinmann der Yavapai. Sie hat mir Geld geliehen und ein paar meiner Arbeiten gekauft. Als meine Haare dann spär licher wurden, merkte sie, daß sie sich geirrt hatte. Yavapai kriegen anscheinend keine Glatze.» «Was für ein süßer Mann», sagte Marcia, «mit dem könnte ich ein Erlebnis haben, hmmmmm.» Ratoncito kam auf die Bühne und stellte die Red nerin vor. Er faßte sich ausnahmsweise kurz. Sie kam langsam aus den Kulissen, die Arme über der Brust gekreuzt. Sie trug ein knöchellanges, reich verziertes Squawwams aus Hirschleder und gewickelte Mokassins. Ihr dünnes weißes Haar war glatt nach hinten gekämmt und mit einem roten Band zusam mengehalten, aus dem eine enorme Adlerfeder sichel 200
gleich herausstak. Stirn und Backen hatte sie sich bunt beschmiert: im ganzen sah sie aus wie Sitting Bulls Großmutter. Strauchelnd unter einem riesigen SiouxKriegsfederputz folgte ihr ein schwächlich aussehen der Indianerjunge, ungefähr so alt wie ich, in einem schlabbrigen Lendenschurz, der vorn und hinten an ihm runterhing. Die Wirkung des Kostüms wurde etwas durch ein Paar quiekender weißer Turnschuhe beeinträchtigt. Mit einem Stöckchen schlug er eine kleine Trommel, hüpfte dazu in einem zackigen Tanzschritt und grummelte fast unhörbar: «Hej-ja, hej-ja.» Mrs. De Crispin erhob feierlich die Rechte: «How! Dies ist mein kleiner Freund Willi Vogelflügel.» Sie zeigte auf den Jungen mit der Trommel. «Er ist halb Arapahoe und halb Cheyenne und kommt aus dem fernen Oklahoma, das, wie ihr wißt, viele Monde weit entfernt ist.» «Ich bin in fünf Stunden mit dem Lastwagen da», sagte der eine Indianer hinter mir. Nachdem er nun vorgestellt war, fing Willi Vogel flügel wieder an, frenetisch zu trommeln und zu hüp fen. «Vielen Dank, Willi», sagte sie. Er hielt inne und sah schafsblöd drein. «Vor vielen vielen Monden – das ist die farbige Wendung der Indianer für ,es ist schon lange her’ –, bevor der weiße Mann mit seinen bösen und schädli chen Sitten kam und Whisky und Schießpulver 201
brachte, lebte der nordamerikanische Indianer in völ liger Eintracht mit der Natur. Er nährte sich vom mächtigen Büffel und der Antilope. Frieden und Ein tracht herrschten, denn seinen Bruder befehden, hieß sündigen vor Gitschii Manitu, dem Großen Vater. Alles indianische Leben war durchdrungen vom Glauben. Willi, willst du uns ein kleines Gebet auf sagen?» Willi setzte seine Trommel ab und kam mit erho benen Armen nach vorn: «Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu, Vater laß die Augen dein über meinem Bette sein.» «Das war sehr schön, Willi», unterbrach sie. «Aber kannst du uns wohl ein indianisches Gebet vormachen?» «Hej-ja.» Ohne seine Trommel schien er hilflos, aber er versuchte ein paar Hopser in den Tennisschu hen. «Der Tanz der Indianer ist ihr Gebet. Willi, den Adlertanz.» Willi breitete die Arme aus, tanzte genauso weiter und warf ein paar Hej-jas ein. «Dieser Tanz fleht um Adler», erklärte sie ge heimnisvoll. «Einst waren die Indianer ein stolzes Volk, und zahlreich waren die Pfeile in ihren Köchern. In ihren Schlingen fingen sie den flinken Hasen und jagten den verschlagenen Büffel.» «Du meine Güte», sagte einer der Indianer leise hinter uns. «Ich habe da ein paar Guernsey-Kühe, die sind verschlagener als der verschlagenste Büffel.» «Aufrecht und stolz standen sie auf Hochebenen 202
und Bergesspitzen und waren eins mit der Natur. Sie waren stark und von zähem Wuchs. Ihre Weiber wa ren sanftmütig und ihre Kinder stramm. Friede herrschte im Wigwam, und sie tranken frisches Was ser aus lauteren Quellen. Alle Indianer sprachen mit gerader Zunge. Als der böse weiße Mann kam, brachte er Gewehre, Munition und unbekannte Krankheiten. Er brachte die bittere Medizin, die die Indianer Feuerwasser nennen. Schon verschwand der Büffel, und die großen Krieger wurden vom Großen Weißen Vater betrogen.» «Wen meint sie denn da?» fragte einer der Pueb los. «Keine Ahnung», sagte der andere, «wahrschein lich Woolworth. Los, gehn wir.» Sie standen auf und verließen unbewegten Gesichts den Saal. Mrs. De Crispin bemerkte den Auszug und wartete, bis sie draußen waren. «Ich spreche von geheiligten Dingen», sagte sie, «Dingen so heilig, daß Indianer nicht von ihnen hören mögen. Nicht wahr, Willi?» «Jawohl, Gnä’ Frau, hej-ja, hej-ja.» «Heute, nach vielen grausamen Niederlagen und Enttäuschungen, ist der rote Mann Bürger dritter Klasse, will er nicht den Weg des weißen Mannes einschlagen. Willi Vogelflügel wird euch von den Qualen berichten, die dies ihm bereitet hat.» Willi nahm ihren Platz vor dem Mikrophon ein, und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. «Mein innianische Name is Tse-hunk-ana-obobwi, das heißt Junge-mit-Flügel-wie-Vogel, aber der weiße 203
Mann nenn mich Willi Vogelflügel, weil er Tse hunk-ana-obobwi nich sagen kann.» «Eine Schande», murmelte Mrs. De Crispin. «Sie schicken mich auf Christi-Jünger-Schule und versuchen ein Christijünger aus mir zu machen. Mein Vater ist schon Weg weißer Mann gegangen. Er hat John-Deere-Traktorfabrik in Anadarko. Aber ich will Weg nich gehen, weil weißer Mann redet mit gespal tener Zunge. Ich will innianische Weg gehen in Fuß stapfen von meine Vorfahren.» «Großartig», sagte Mrs. De Crispin. «Und jetz tanz ich euch Hirschfrauentanz. Mrs. De Crismer tanz mit mir, weil es müssen zwei Leute den Tanz tanzen, ein Mann und eine Frau. Mrs. De Cris mer is großer Freund von alle Innianer.» Willi hob seine Trommel auf und schlug den Takt. Beide hüpften in ihrem Hej-ja Trott und stampften in einem kleinen Kreis herum. Mrs. De Crispin tanzte wie ein arthritischer Storch, verrenkte sich übel das Bein und mußte aufhören und es massieren, aber Willi hoppelte sein Lied zu Ende. Schweigen herrschte, nachdem die Trommel verstummt war, bis Ratoncito hysterisch klatschend auf der Bühne er schien, um den Applaus in Gang zu bringen. «Na?» fragte Marcia. «Wie einst die Alten sungen, hast du’s mitgekriegt?» Auf der Treppe zum Eingang wartete Romeo und wollte uns nach Hause fahren. «Eine scheußliche alte Krähe, nicht wahr? Was meinst du?» «Ich hatte irgendwas irgendwie wissenschaftliches 204
erwartet», sagte ich. «Vielleicht eine Vorführung über Feueranmachen mit zwei kleinen Zweigen. So ganz sitzt das bei ihr wohl nicht.» «Die schwätzt seit zwanzig Jahren dasselbe», sagte Marcia. «Ich habe das viermal gehört, natürlich immer mit einem anderen Indianer. Dieser hier war der schlechteste bisher. Wo mag sie sie herhaben?» «Ich glaube, sie grast jedes Jahr die Indianerreser vate ab und kauft sie ein wie Äpfel», sagte Romeo. «Sie hat doch einen Haufen Geld.» Eine Weile fuhren wir schweigend durch die ver schneiten Straßen. Beim Pfarrhaus hielt Romeo an. «Können wir nicht zu Ihnen gehen», fragte Marcia, «ich möchte gern Ihre Geliebte kennenlernen.» Romeo fiel aus allen Wolken. «Meine was?» «Ihre Geliebte. Ich habe gehört, Sie haben eine Geliebte, und ich habe noch nie eine echte getroffen. Zur Ergänzung meiner Erziehung.» «Hat dir dieser Idiot …» Er zeigte auf mich. «Nein, nein. Er hat mir nichts erzählt. Aber so was hört man doch überall. So was wie Dings ist pleite und Dings hat einen tätowierten Wal auf dem Bauch und so weiter.» «Selten, ganz ganz selten kommt eine junge Frau, die mir Modell steht. Manchmal haben diese Frauen wenig Geld, und ich erlaube ihnen, in der Werkstatt zu wohnen. Gegenwärtig bin ich allein.» «Was ist mit Shirley?» fragte ich. «Das Schilddrüsenwunder müßte inzwischen zu rück in der Gegend von San Francisco Bay sein. Und 205
wenn die Pillen noch nicht alle sind, ist sie mit Si cherheit unten am Fischereihafen und nennt alle Leute Kackstiefel.» «Ich möchte so gern für Sie Modell stehen, Mr. Bonino», sagte Marcia. «Ich habe absolut kein Schamgefühl, was meinen Körper betrifft.» «Verschwinden Sie nach Hause, gnädiges Fräu lein, und beten Sie um Vergebung. Es ist grausam, einen alten, kranken Mann in Versuchung zu führen. Hätte dein Vater auch nur eine blasse Ahnung, er würde dich grün und blau schlagen.» «Eines Tages schaffe ich es schon noch in diese wilde Künstlerclique. Sonst ist doch nichts los hier.» «Die wilde Künstlerclique, wie du dich aus drückst, hat ein Durchschnittsalter von siebenund fünfzig Jahren. Die meisten von uns sind herz- und blasenleidend. Geh nach Hause. Raus!» Ich brachte sie an die Tür und sagte gute Nacht, während Romeo wartete. «Wir sehen uns morgen, wenn das Bellen der Hunde in die verschlafenen Wigwams dringt und der Geruch von gebratenem Koyoten durch die Luft zieht.» «Meine Schwestern werden mich bereiten. In mei nem weißen Damhirschkleid komme ich in dein Zelt und lasse meine Unschuld auf deiner Büffeldecke.» «Ich schenke dir Geschmeide für dein rabenflügel schwarzes Haar. Ich schenke dir roten Samt und einen Spiegel, damit du dich putzen kannst.» «Außerdem möchte ich etwas Taschengeld und ein Einkaufskonto bei Wormser», sagte sie. 206
«Gute Nacht, Mädchen-mit-Gang-wie-Ente.» «Gute Nacht, Krieger-der-bei-der-kleinsten-Gefahr Reißaus-nimmt.» «Beeil dich, Josh», schrie Romeo, «bevor ich er friere!» Wir fuhren zu ihm, und zur Feier von Shirleys Ab reise bot er eine der Flaschen von meinem Vater an. «Du hast recht gehabt», sagte er, «hätte ich ihr das Schilddrüsenzeug nicht gegeben, wäre sie jahrelang hiergeblieben und schließlich auf mir angewachsen wie ein Schwamm.» Wein steigt einem in dreitausend Meter Höhe schnell zu Kopf. Mir war schwummrig auf dem Nachhauseweg. Ich kratzte eine Handvoll harten Schnees von einer Mauer, rieb mir das Gesicht damit und lutschte darauf. Dann riß ich einen Kiefernzweig ab und zerkaute die Nadeln in der Hoffnung, das nähme die Fahne wie Kaffeebohnen. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Meine Mutter und Jimbob schliefen schon, als ich ankam, und ich hatte die ganze Nacht den Harzgeschmack im Mund.
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15. Kapitel
Im Dezember fing es dann wirklich an zu schneien, und der Neuigkeitswert verblaßte langsam für mich. Nach einem fast warmen Tag unter einer tiefhängen den, undurchdringlichen Wolkendecke schneite es den ganzen nächsten Tag lang. Im Osten, jenseits der Cordillera, gab es schwere Schneestürme, und die Bauern fanden ihr Vieh erfroren, stehend an einem Zaun zusammengedrängt. Doch Sagrado lag durch die Berge windgeschützt, und der Schnee fiel einfach gerade herab. Nach einem Schneefall überzog sich der Himmel mit einem dünnen Blau, und dann herrschte eine Woche lang eine Kälte wie in Alaska. Jimbob Buel erhob sich schließlich von seiner Krankenstatt, schlurfte wieder durchs Haus und spielte Bridge mit den Sommerfreunden meiner Mutter. Sie nannte sie immer ,die Mädchen’. «Joshua, mußt du denn jetzt gleich in die Stadt? Die Mädchen kommen. Ich brauche deine Hilfe.» Die Mädchen kamen am Sonnabend vormittag. Keine war unter sechzig. Meine Aufgabe bestand darin, ihnen aus dem Wagen zu helfen und sie auf recht zu halten, während sie nach ihren Stöcken oder Krücken grabbelten. Eine hatte sogar einen Stab, ei nen dünnen schwarzen, einen Meter achtzig langen 208
Stab mit einem Goldknauf. Die Mädchen hinkten und humpelten ins Haus und ließen sich mit ächzen dem Gebrummel in ihren Bäuchen vorsichtig in den Sessel sacken. Die sechs Mädchen, meine Mutter und Jimbob inklusive, machten zusammen zwei Bridgetische. Lagen die alten Pötte erst sicher vor Anker, ging ich irgendwohin: zu Romeo, zu Steenie, zu Rumpp, ins Kino, manchmal trank ich auch bei Chango und seinen Eltern Kaffee. Sie nannten mich inzwischen primito, Vetterchen. Oder ich wanderte mit Marcia durchs verschneite Vorgebirge. Sie meinte, so würde sie in den Hüften nicht so breit. «Am Bau meines Beckengürtels, so wie er ist, kann ich nichts ändern, aber der Speck ist wirklich überflüssig. Los, den Berg da rauf. Wer zuletzt oben ist, ist gallina.» Ohne eine Entscheidung meines Vaters blieben Amadeo und Excilda in Río Conejo und verbrauch ten ihren Vorrat an Bohnen und Hirschkeulen für die Kinder. Eines Morgens hatte ich Amadeo in Sagrado getroffen. Er war in die Stadt gekommen, um etwas von seinem gewilderten Hirschfleisch gegen Mehl, Mais und Zucker einzutauschen. Das Geschäft liefe den ganzen Winter, sagte er, und die Forstbeamten drückten beide Augen zu, wenn es um schieres Über leben ging, und darum ging es oft. Victoria sei wie der auf der Schule in Yunque. Ihren Edelmut hätte sie schließlich aufgegeben. «Wir sind immer gute Arbeiter gewesen», sagte er, «aber Dickschädel. Victoria ist die erste, die seit langem wieder wirklich Köpfchen hat. Kommt nicht in Frage, daß sie als 209
Serviererin im Café del Norte landet. Hast du schon was von deinem Vater gehört?» «Nein, kein Wort. Aber die Zustellung dauert wahrscheinlich lange, wo er auch gerade sein mag.» Ich hatte da irgendwie so eine Idee, vielleicht nicht ganz zutreffend, wie die Marine ihre Post bekommt: ein kleines Flugzeug überfliegt das Schiff und wirft einen Postsack an Deck. Pech, wenn’s mal daneben geht. Das Essen zuhause war gräßlich. Das schien nie mand zu stören außer mir. Jimbob schlang dreimal täglich, strahlte meine Mutter nur so an und erging sich in Äußerungen wie: «Mrs. Ann, dies muß der Nektar sein, daran sie sich im Olymp laben.» Sie hatte da sowas entdeckt, eins der Kriegsgreuel, be stehend aus Stücken gehackter Katze gemischt mit Hafergrütze, das ganze zusammengepreßt zu einem Backstein. Das kannste braten, backen, kochen, roh essen, es schmeckt immer gleich: wie Gummischuh. Dann wurde sie besonders schick und einfallsreich und garnierte alles mit Bananenscheibchen, die sie manchmal vorher in einer süßen Rahmsoße anwärmte. In begnadeten Augenblicken datschte sie dann die Sahnebananen auf den Backstein, und dann ging’s ans Schlemmen! Ich fuhr extra zum El-Chivo-Buchladen und kaufte auf Empfehlung der Verkäuferin Farmers Lieblings kochbuch. Das sollte ein Weihnachtsgeschenk für meine Mutter sein, aber ich gab es ihr vorher. «Bo stoner Küche?» fragte sie. «Was verstehen Yankees 210
schon vom Essen.» Dann ging sie los und kochte ein richtiges klassisches italienisches Gericht. Die Spag hetti ließ sie ein paar Stunden im sprudelnden Wasser («Langes Kochen bringt den Geschmack erst richtig zur Geltung»), bis sie zu einem grauen blasigen Klumpen zusammengepappt waren. Jimbob fand es einfach toll, und das sagte er auch. Ich blieb soviel wie möglich von zuhause fort, schlief nur dort und stahl für Romeo Wein. Er fand den Châteauneuf du Pape und den Nuits Saint Georges zu rar und zu teuer und schlug vor, ich sollte nur Beaujolais und Bardolino stibitzen. «Ich gebe zu, es ist nur ein feiner Unterschied», sagte er, «aber von Bedeutung. Eines Tages stehe ich vor deinem Vater. Ich möchte nicht, daß die Schuld mir zu sehr auf der Seele liegt.» Manchmal wurde es zuhause auch zum Schlafen zu bedrückend, dann schlief ich ein oder zwei Nächte bei Steenie. Mrs. Stenopolous störte das nicht. Dafür, daß sie nur ein Kind hatte, schien sie mir die geplagteste Mutter, die ich je gesehen habe. Wahrscheinlich lag es daran, daß alles, was sie plante – Essen, Einla dungen, Kinderchor, Schlafen – von den ungestümen Anrufen der Frauen in den Wehen gestört wurde. Sie wußte, nichts, was sie gerade angefangen hatte, konnte sie zu Ende machen, ohne daß das Telefon klingelte. «Guten Tag, ja, Mrs. Stenopolous. Also jetzt hat er sich grade hin … was, alle acht Minuten? Naja, bis dahin werden sie schon aushalten … Nein, ich bin keine Ärztin, aber … Gut, ich sage ihm Be 211
scheid.» Dann legte sie auf, ging ins Eßzimmer und sah ihren Mann mit hochgezogener Augenbraue an: «Das war Mrs. Gillespie. Sie ist auf der Unfallstation und kriegt das erste Kind der Welt.» Dann stand Dr. Stenopolous nach einem Abschiedsblick auf sein Abendessen auf und ging. Er war ein schmaler, freundlicher Mann, der nie über die Arbeit klagte, die ihn so in Trab hielt. Er machte den Eindruck eines Klempners, der losgeht, ein Klosett wieder in Gang zu bringen. Sie war es mehr, der das ewige Geheimnis Geburt zu Herzen ging, und ich glaube, sie liebte die Rolle der sich aufopfernden Gattin. «Joshua, ich habe den Rat meinem Sohn gegeben, und ich gebe ihn dir: heirate keine Frauenärztin. Das ist die Hölle auf Erden.» «Ich denke gar nicht daran, eine Frauenärztin zu heiraten. Auf die Idee bin ich noch nie gekommen.» «Komm nicht erst drauf. Sollte ich jemals hören, daß du eine Frauenärztin heiratest, renne ich in die Kirche und mache eine Szene. Kein menschliches Wesen dürfte mit einem Frauenarzt zusammenleben. Sieh dir das an. Sieh dir das schöne Essen an, und jetzt wird es kalt. Das hat man davon, wenn man sich mit so was einläßt.» «Das ist doch das Essen Ihres Mannes, nicht Ihres. Ihres wird doch nicht kalt.» «Wollen Sie sich mit mir anlegen, junger Mann? Ich sage dir, es ist ein elendes Leben, und ich muß es ja wissen. Wenn ich erführe, wann diese elenden Babies gezeugt würden, ich ginge von einem Schlaf 212
zimmer zum andern und begösse die Paare mit kal tem Wasser. Auf ein Nichts würde die Geburtsrate zusammenschrumpfen.» «Dürfte das nicht vielleicht dem Geschäft scha den?» «Ah! Er hätte sich ja was anderes aussuchen kön nen. Sein bester Studienfreund war vernünftig. Er ist Dermatologe. Nie weckt den einer um drei Uhr früh wegen eines dringenden Pickels. Nee! Ich habe es ihm ja gesagt, Bill, habe ich gesagt, mach Augen, Lungen, Halsnasenohren, Psychologie, wurscht, was. Aber hat er hören wollen?» «Nee», sagte Steenie, «hat er nicht.» «So ist es. Hier, nimm noch moussaka. Gott sei Dank jedenfalls einer, der ißt, was ich koche.» Wenn ich bei Steenie schlief, versorgte er mich mit einem Schlafsack, den ich neben seinem Bett auf dem Fußboden ausrollte. Sein Bett war für zwei zu klein. Teil seines körperlichen Ertüchtigungspro gramms für die Kommandobrücke oder die Muske tiere oder was immer das war, bestand darin, nachts die Heizung abzudrehen und die Fenster aufzureißen. Der Schlafsack, ein leichtes, für stickige Tropen nächte geplantes Fabrikat, genügte gegen zwei Uhr morgens nicht mehr, und ich fing an, mich auf der Suche nach einer warmen Stelle auf dem Betonfuß boden herumzuwälzen und mich zusammenzuku geln, bis ich schließlich Steenie aufweckte. «Mir friert der Schwanz ab hier unten. Ich bin blau vor Kälte.» 213
«Richtig kalt, he?» «Du wirst es kaum glauben, aber auf dem Schlaf sack liegt daumendick Eis. Ich glaube, die Zehen faulen mir langsam ab.» «Na, Mensch, wenn das so kalt ist …» Dann pfiff er Thunder, seinem Hund, einer uralten Kreuzung aus Schäferhund und Pudel, und der klaubte seine brüchigen Knochen vom Boden und sprang zu ihm ins Bett. «Kann doch meinen treuen Gefährten nicht so frieren lassen. Der Menschen bester Freund ver dient bessere Behandlung. Na komm, alter Junge. Kuschel dich schön unter die Decke. Attaboy. Guter alter Thunder.» Meiner Mutter war es nicht völlig recht, wenn ich mal bei Stenopolous schlief, weil sie nicht aus unse ren Kreisen waren. Ich erklärte ihr schließlich, daß es in Sagrado niemand gäbe, der ihren Ansprüchen ge nügte, und daß ich versuchte, mir die besten Freunde aus einem miesen Haufen herauszusuchen. Entweder das, oder ich würde verrückt vor Einsamkeit. «Du könntest ja Bridge lernen.» «Nie. Das ist mir zu hoch. Ich werde es nun mal mit den Leuten hier versuchen müssen.» «Wären wir nur wieder in Mobile.» Eines Nachmittags kurz vor Weihnachten kam ein unförmiger Brief von meinem Vater. Drin steckte ein Brief an mich und etwas, das wie eine Pergamentrolle aussah. Ich sah es mir genauer an: es war eine Per gamentrolle. Dies ist der Brief:
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Ich habe an Mutter geschrieben und ihr hoffentlich deutlich gesagt, daß Amadeo und Excilda ohne An laß nicht gekündigt werden können. Anlaß besteht bei schwerem Diebstahl oder Mord eines Familien mitglieds. Sie arbeiten für uns nach gemeinsam fest gesetztem Entgelt. Dafür haben sie einen Vertrag, der dadurch, daß er mündlich statt schriftlich ist, nicht weniger bindet. Wäre der Yunque befahrbar, würde ich mit dem plumpen Kahn hier sofort den Kanal hinaufdampfen und ein paar Köpfe gegeneinanderschlagen. Da er es nun mal nicht ist, bin ich gezwungen, darauf zu ver trauen, daß Ihr Euch wie vernünftige Menschen be nehmt. Beiliegend die von Amadeo gewünschte Urkunde. Ihre Unanfechtbarkeit kann ich nicht beschwören, aber es ist eine saubere graphische Leistung. Ein junger Matrose, Boudreau, ein Neger, der an der Universität Chicago Kunst studiert hat, zeichnet nicht nur für Entwurf und Beschriftung, sondern hat auch – eine wahre Leistung auf einem Geleitzerstö rer – das Pergament aufgetrieben. Unnötig zu sagen, daß Boudreau hier Stewart ist, ein Posten, auf den er nach sechs Jahren in seiner vorherigen Stellung als Müllsammler avanciert ist. Zwar habe ich den Eindruck, er verdient eine ver antwortlichere Position in der Marine, doch fehlen ihm, wie mir der Skipper erklärt hat, ein paar Scheine zum Staatsexamen. Mach dir nicht zuviel Sorgen wegen der Geschichte 215
in der Bastogne. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß es ein letzter Verzweiflungsakt von Rundstedts ist. Den Deutschen gehen die Rohstoffe aus, eine glückliche Lage, zu der ich hoffentlich mein Quent chen beitrage. Paß um Himmels willen auf, daß bei Euch alles glatt geht, und versuche zur Abwechslung eine Stütze und keine Last zu sein. Der Psychologe in Point Clear sagte, Du seist trotz Deines schweren Hirn schadens imstande, einfache Aufgaben zu erfüllen, Du könntest zum Beispiel allein essen und die Herren toilette ausfindig machen. Da fällt mir ein: Romeo Bonino leidet an angebo rener Armut und kann sich keinen anständigen Wein leisten, den er über alle Maßen schätzt. Ich glaube, gewöhnlich trinkt er etwas namens Flor de Yunque, ein hiesiges Insektizid. Bring ihm doch bitte ein paar Flaschen (nicht den Weißen, ja!). Viele der kleineren roten Burgunder werden zu Salattunke, wenn sie nicht bald jemand trinkt, und niemand würde sie freudiger genießen als Romeo. Dem Krieg gebe ich noch sechs Monate in diesem Theater, trotz von Rundstedt. Mein Plan, den Rhein mit einer Flotte Krabbendampfer hinaufzulaufen und den Feind mit dem Gestank in die Knie zu zwingen, ist von einigen kurzsichtigen Generalstäblern ver worfen worden. Wir werden den Kampf mit orthodo xeren Mitteln weiterführen müssen. Es ist Zeit, daß ich meine Runde bei den Decks offizieren mache. Das ist eine gänzlich unfähige 216
Bande, besonders Leutnant Tailor, ehemalige Ankerwache seiner Reservistenklasse an der Southern Illi nois Universität. Wenn er nicht gerade gegen den Wind spuckt, sieht er in jedem Wrackfetzen ein U Boot-Periskop. Darin hält er Flottenrekord. Einmal meinte er, er sähe eines genau zwanzig Meter vom Strand in Cannes entfernt. Es stellte sich als Fuß ei nes achtjährigen Jungen heraus, der da nach See gras tauchte. Mach weiter so, Dein Vater Die Pergamentrolle war schwer verziert mit Schlei fen und Girlanden in vielen Farben. Das H war leuchtend hervorgehoben wie die Initialen in handge schriebenen Bibeln: HIERMIT SEI ALLEN ANWESENDEN KUND UND ZU WISSEN: Ich, Unterzeichneter, Francis Arnold, Erster Offizier des Staats gesetzmäßiger Streitmacht (nautisch), verwickelt im Kampf bis zum äußersten mit Staats feind Nr. 1, A. Hitler, Oberkommandierender, und deshalb nicht in der Lage, meine vielfältigen Pflich ten als Haushaltsvorstand in Corazón Sagrado wahr zunehmen, ohne Schande über mein Haupt und Schimpf über meinen Vatersnamen zu bringen und zu desertieren, setze hiermit meinen Sohn, Joshua M. 217
Arnold, siebzehn Jahre alt, als meinen Bevollmäch tigten und Stellvertreter ein und erkläre fürder, daß er Order, Edikte, Kommandos, Leitsätze und Ukasse aufsetzen, ausgeben und verhängen darf, soweit diese die Leitung obgenannten Haushalts und angrenzen den Landes betreffen, vorausgesetzt, er hole vorher weisen Rat ein und schnappe nicht über. So festge setzt am achtzehnten Dezember AD 1944 an Bord des Begleitzerstörers USS JOHN T. MAYS und be stätigt von Kapitän Philip Baines, United States Navy. Mit derselben Post war ein Brief an meine Mutter gekommen. Ich weiß nicht, was darin stand, sie hat ihn mir nie gezeigt. Sie kam dann herein und sagte: «Ich habe darüber nachgedacht und sehe ein, daß ich die Montoyas nicht hätte gehen lassen sollen. Ich kann dieses Haus wirklich nicht allein halten, beson ders jetzt nicht, da wir einen Gast haben.» «Ja. Dieser Gast. Wie lange bleibt er noch? Ich habe keinen Schimmer von guten Manieren, aber sein Kredit hier scheint mir ziemlich abgelaufen.» «Über Weihnachten wird er doch noch bleiben können. Ihn grade vor Weihnachten zu bitten abzu reisen, wäre zu gräßlich.» «Gut, vielleicht findest du nach Neujahr einen an dern Bridgepartner. Jimbob verschwindet, und zwar je eher, desto besser.» «Er ist sehr einsam, Joshua.» «Kein Wunder. Meinst du, er wäre immer noch hier, wenn Vati hier wäre? Meinst du, Vati würde 218
sich für ihn einsetzen? Weißt du, was in der Schule geredet wird?» «Geredet? Schule? Soll das heißen, daß geklatscht wird?» «Bitte, dies ist eine winzige Stadt. Alle wissen alles über alle. Meistens ist es ihnen gleichgültig, aber wissen tun sie es. Seit seiner Ankunft werde ich ge piesackt. Dein Ruf ist ziemlich erledigt.» «Das … ist … die … widerlichste … Verleum dung …» «Sicher ist es das. Woher sollen die Leute wissen, daß ihr nichts als ,kein Trumpf und ‚Prämie’ ruft und zusammen ein bißchen Sherry schlürft? Vergiß nicht: du hältst die Leute für gemeinen Pöbel. Was wun dern dich gemeine Pöbelgedanken?» «Das … ist … lächerlich.» «Sicher. Du hast die Montoyas entlassen, und weg war das Alibi. Hast du mir nicht immer vorgebetet, man müßte den Anschein des Bösen vermeiden?» «Montoyas kommen doch bestimmt wieder?» fragte sie mit schwacher, unterwürfiger Stimme. «Du gehst doch zu ihnen, für mich? Excilda könnte zum Beispiel einen Puter braten. Ich muß deswegen noch die Mädchen fragen. Ob die wohl denken, ich … Nein, das ist einfach ausgeschlossen.» «Ich spreche mit Montoyas. Und halte Jimbob von Amadeo fern. Hiernach habe ich das Recht, von jetzt an zu bestimmen, was hier geschieht.» Ich reichte ihr die Rolle und sah ihr zu, während sie nachdenklich das Dokument las. 219
«Dein Vater kann sehr launisch sein. Der Krieg muß ihn sehr belasten.» «Er hält sich besser als du.» Da jammerte Jimbob im Bett nach einem winzigen Krümel Essen, ein mitleiderregendes Geräusch, und ich ging in die Stadt. Ich wollte ein Würstchen essen und ins Kino: «Arsen und Spitzenhäubchen». Er gab mir interessante Anregungen, wie man sich Jimbobs entledigen könnte, aber den Betonfußboden im Kel ler aufzureißen ist harte Arbeit. Den ganzen nächsten Vormittag verbrachte ich in der Telefonzelle vor Rumpps Drug-Store und versuchte, Amadeo zu er reichen. Das einzige Telefon in Río Conejo steht in dem Post-Juwelen-Kartoffelladen. Das Mädchen, das abnahm, sagte, ich sollte einen Moment warten, gleich käme ein Lastwagen vorbei. Sie würde den Fahrer bitten, bei den Montoyas zu halten und auszu richten, es sei ein Anruf da. Bis die Nachricht über mittelt war, vergingen vierzig Minuten, dann kam Amadeo mit dem Wagen am Laden an. Er sagte, er hätte auch einen Brief von meinem Vater erhalten. Montag kämen Excilda und er, und wenn Mr. Buel ihn auch nur einmal schief ansähe, würde er zuschlagen; hoffentlich sei gerade eine Axt zur Hand. Dann rief ich den Sagradoer Anwalt meines Vaters an, Mr. Günther. Er hatte manchmal bei uns Bridge gespielt. Wozu mein Vater in Sagrado einen Anwalt brauchte, weiß ich nicht. Er erwies sich ein einziges Mal als nützlich, und das war beim Kauf des Grund 220
stücks, als jemand die Besitzansprüche zu entwirren hatte. Alles Land hier hatte früher entweder den In dianern oder dem König von Spanien gehört (dessen Anspruch erschien mir etwas wackelig). Kaufte je mand auch nur einen Quadratmeter caliche mit ei nem begrabenen Koyoten darin, mußte ein Anwalt die Geschichte des Landes bis 1634 zurückverfolgen. Anzufangen war bei der allgültigen, unanfechtbaren Verfügung Seiner Majestät, in der er ungefähr eine Million Quadratvaras dessen, was er Neuspanien nannte, seinen Untertanen zur Besiedlung freigab, ein Gebiet, dessen Grenzen im Osten etwa der Mississippi und im Westen der pazifische Ozean bildeten. Nie mand wußte genau, wie groß eine vara war, aber das mußte in der Größe zwischen einer Elle und einer Meile liegen, je nachdem, wer gerade Vizekönig ge wesen war. Hatte der Anwalt das einmal raus, ging der die Familien durch, die das Land besessen und es ihren Kindern weitervererbt hatten. Sie hießen Vigil oder Espinosa und schrieben ihr Testament in alter tümlichem Spanisch mit winziger Schrift in lila Tinte. Dann gab es noch Gegenansprüche, Prozesse über «Tilgen des Besitzanspruchs», die nie durchzukom men schienen, Hypotheken von Banken und Versiche rungen, Überlassungen, Grundstückskaufverträge oh ne Haftung für Rechts- oder Sachmängel, Neutaxie rungen, Zwangsverkäufe und gerichtlich angeordnete Enteignungen. Ein guter, umsichtiger Anwalt konnte einen Landverkauf zehn Jahre hinziehen und seine Kinder von den Honoraren nach Princeton schicken. 221
Als mein Vater das Land kaufte und bebaute, hatte er Günther sechs Monate für die Abwicklung der Sache gegeben, und das hatte Günther nie verwun den. Aber als ich bei ihm anrief und ihm sagte, es sei sehr wichtig, war er damit einverstanden, mich nach der Schule in seinem Büro zu empfangen. Ich zeigte ihm die Pergamentrolle von meinem Vater, und er las sie – wie Anwälte offenbar alles lesen – ganz langsam und sorgfältig mit einem kaum sichtbaren Grinsen, als klebte ein zerquetschter Käfer daran. «Das ist ein ausgefallenes Dokument», sagte er dann. «Ich nehme an, es handelt sich um einen Witz.» «Nein, es ist kein Witz.» Ich erzählte ihm die Ein zelheiten, ließ allerdings den Sherry und Dr. Temple aus. «Wie alt bist du, Johua? Doch nicht älter als sieb zehn?» «Siebzehn stimmt. Weshalb?» «Mit siebzehn bist du juristisch gesprochen un mündig. Neben den bekannteren Sachen, die du nicht tun darfst, wählen, alkoholische Getränke kaufen etc. darfst du keine Verträge unterzeichnen, weder in ei nen Vereinsvorstand gewählt werden, noch einen wählen, keinen Wagen ohne Sondererlaubnis fahren, nicht heiraten – denn das wäre natürlich ein Vertrag –, kein Geschworener sein und kein öffentliches Amt innehaben.» «Meinetwegen. Hier steht ja nur, daß ich Zuhause bestimmen darf, solange mein Vater nicht da ist.» 222
«Hm.» Er ließ sich das durch den Kopf gehen. «Ist deine Mutter für unzurechnungsfähig erklärt wor den?» «Naja, ich habe ihr so etwa gesagt, daß ich sie für unzurechnungsfähig halte.» «Das ist etwas völlig anderes. Die Unzurech nungsfähigkeitserklärung erfolgt gewöhnlich nach einem psychiatrischen Gutachten durch einen Richter. Dann muß dieser oder ein anderer Richter zugunsten des Unmündigen eine Mündigkeitserklärung ausstel len. In anderen Worten: du würdest für bestimmte Rechtsbereiche für mündig erklärt. Im allgemeinen ist die Mündigkeitserklärung begrenzt.» «Damit wollte ich mich an sich nicht rumschlagen. Ich will wissen, ob das, was da auf der Rolle steht, brauchbar ist. Ob ich danach handeln kann, meine ich.» «Nach meiner Erfahrung als praktizierender An walt hat das Dokument höchstens Kuriositätenwert. Juristisch taugt es keinen Pfifferling, und eine rich terliche Untersuchung würde das sehr schnell zeigen. Trotzdem, angenommen, dies hier unten sei die Un terschrift deines Vaters und wir übersehen für den Augenblick die amüsante sprachliche Altertümelei, scheint es in einigen Punkten bezüglich der Leitung seines Haushalts den Willen deines Vaters auszu drücken. Obwohl dein Vater physisch abwesend ist, kann er, als Familienoberhaupt, eine gewisse Ver antwortung, vermute ich, übertragen. Üblicherweise geht im allgemeinen die Verantwortung zuerst auf 223
die Mutter über. Ich kenne deine Mutter seit gerau mer Zeit. Ich muß sagen, ich habe sie immer für aus gesprochen zurechnungsfähig gehalten. Sie spielt zum Beispiel ein hervorragendes Bridge, was gene rell einen guten Kopf und gesundes Urteilsvermögen voraussetzt.» «Mein Vater will wohl nicht sagen, sie sei unzu rechnungsfähig. Ich weiß bloß, daß sie es nicht liebt, Amadeo und Excilda zu sagen, was zu tun ist und …» «Wer sind Amadeo und Excilda?» «Montoyas, von denen ich Ihnen erzählt habe. Sie arbeiten bei uns. Sie arbeiteten schon bei uns, als ich noch kaum laufen konnte. Amadeo macht die schwere Arbeit, Excilda kocht und hält das Haus sauber. Meine Mutter gibt ungern Anweisungen und wenn sie wel che gibt, dann auf die falsche Art, mit dem Ergebnis, daß alle sauer werden. Und dann ist da noch dieser Buel, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er ist unser Gast. Er kommandiert auch. Amadeo kann ihn nicht ausstehen, was ich ihm nicht übel nehme. Was dabei herauskam, war, daß meine Mutter hüh sagte und Jimbob hott. Amadeo und Excilda waren dann die Sündenböcke.» «Haben sie gekündigt?» «Sie sind entlassen worden. Meine Mutter hat ih nen eines Abends gekündigt, als sie … schlechter Laune war. Mein Vater sagt, niemand könne die bei den grundlos entlassen, und von Grund war keine Rede. Sie haben ungefähr ein Dutzend Kinder und schwimmen nicht gerade im Geld.» 224
«Deine Sorge um ihr Wohl ist sicher löblich, doch wenn deine Mutter sie entlassen hat, muß doch …» «Darum dreht es sich ja. Sie hat keinerlei Recht, sie zu entlassen, sagt mein Vater. Er hat sie ange stellt, nicht sie. Und auf dieser Pergamentrolle steht, daß ich sozusagen Boß bin, solange ich – wie war das? – weisen Rat einhole.» «Ja. Weisen Rat. Vermutlich den Rat deiner Mut ter.» «Das glaube ich nicht. Ich dächte, er meint eher Amadeos und Excildas Rat, denn die sind beide ganz hübsch weise.» «Aber sie sind Angestellte. Der Arbeitgeber oder der – in deinem Fall rechtlich nicht bindend delegierte – Vertreter des Arbeitgebers sucht sicher kaum den Rat des Arbeitnehmers, bevor er genanntem Arbeitneh mer einen Auftrag erteilt.» «So ist das immer gegangen. Ich meine, Amadeo ging zum Beispiel zu meinem Vater und sagte, der Zweig an dem und dem Apfelbaum müßte abgestützt werden, sonst knickt ihn das Gewicht der Äpfel bis Oktober weg. ,Gut, dann stützen Sie ihn ab’, sagte mein Vater. Auf diese Weise gab mein Vater zwar die Anordnungen, aber Amadeo sagte ihm vorher, welche zu treffen seien. Es stimmt, wie Amadeo mir es neulich erklärt hat: es seien nicht seine Apfelbäume. Er wüßte, was er täte, gehörten sie ihm. Aber da es nicht seine sind, muß er fragen, bevor er irgend etwas tut.» «Ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst, 225
aber die ganze Geschichte schlägt nicht in mein Fach. Wenn deine Mutter dies … dies exzentrische Papier als Ausdruck des Willens deines Vaters aner kennen will und wenn sie weiterhin gewillt ist, ihre Stellung als Haushaltsvorstand pro tempore – ein la teinischer Ausdruck, es heißt vorübergehend, wie du sicher weißt – aufzugeben, sehe ich kein Problem für dich.» «Gut. Das war’s, was ich wissen wollte.» «Wenn sie andererseits die Urkunde nicht aner kennen möchte und es vorzieht, sie als verspieltes Produkt eines sarkastischen Gemüts abzutun, bist du wieder da, wo du angefangen hast. Nach dem Gesetz hast du keinerlei Rechte und deine Mutter hat alle. Im Endeffekt handelt es sich darum: gilt das Wort deines Vaters bei euch oder nicht? Wird sich deine Mutter seinem Willen beugen oder nicht? Das sind Angelegenheiten, die nicht von Anwälten, sondern nur von den Betroffenen entschieden werden kön nen.» «Ich glaube, sie richtet sich nach seinem Willen. Er hat immer alle Entscheidungen getroffen, sie hat sich nie darum gerissen.» «Dann hast du keine Schwierigkeiten. Für deine Zwecke reicht das Papier aus. Dabei fällt mir ein … könntest du einen Augenblick warten? Ich will dies, äh, Dings von meiner Sekretärin kopieren lassen. Nächste Woche habe ich eine Vorlesung über Ver tragsrecht, und ich würde den Studenten gern ein Musterbeispiel dafür geben, was passiert, wenn ein 226
juristischer Laie versucht, einen Vertrag aufzuset zen.» «Sicher, bitte. Ich hielt es aber für ziemlich gelun gen.» «Zugegeben, es ist ein Kunstwerk. Aber hat es keine Haken? Ist es perfekt? Ha, nein. Vertragsrecht lich gesehen ist es die luftigste Handhabe, die ich je gesehen habe.» «Vielen Dank, Mr. Günther. Was schulde ich Ih nen für Ihre Zeit und so weiter?» «Nichts, mein Junge, gar nichts. Du hast dazu bei getragen, meiner Vorlesung nächste Woche etwas Leben einzublasen.» Amadeo und Excilda kamen also am nächsten Montag, dem ersten Weihnachtsfeiertag. Jimbob kroch zum Abendessen aus der Falle und schnurrte über dem Lammbraten, vergaß dabei aber nicht, mei ner Mutter ins Ohr zu flüstern, daß er natürlich nicht so vollkommen sei, als wenn sie ihn gemacht hätte. Doch die Lüge kam nicht aus vollem Herzen. Ich wollte ihm schon die Wahrheit sagen: es sei gar kein Lamm-, sondern Kinderbraten, aber fand es dann doch unweihnachtlich, den armen Jungen wieder krank zu machen. Während der Lungenentzündung hatte er abgenommen und sah sehr zerbrechlich aus. Zum Essen wurde mir ein Glas Rotwein zugestanden – ein Mâcon, glaube ich –, nachdem ich meiner Mutter versprochen hatte, nicht betrunken zu werden. Wir stießen alle zusammen an: Jimbob, dem die Zitate nicht so schnell ausgehen, sagte: «Gott schütze uns 227
alle» und murmelte: «Thackeray.» Das verdarb etwas den Effekt. Ich bat Excilda, doch hereinzukommen. Ob sie nicht einen Sagradoer Trinkspruch für uns hätte. Sie hob ihr Glas, sah Jimbob gerade ins Ge sicht und sagte mit breitem Lächeln: «Más vale lle gar a tempo que ser invitatio.» Das übersetzte sie dann als irgendwas über Gott und Geld, und wir klatschten. Richtig hieß es: «Besser pünktlich als eingeladen.»
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16. Kapitel
Am grauen kalten Silvester, das alles andere als eine Galanacht zu werden versprach, holten Steenie und ich unsere Festdamen ab und gingen mit ihnen ins Kino. Es gab eine Wiederholung vom «Dieb von Bagdad» mit Sabu. Es war nicht ganz klar, wer mit wem war. Die eine war Marcia, die andere Eleanor Pickens, eine Klassenkameradin, die gerade die Na del der National Honor Society bekommen hatte, weil sie ein Spezialgedächtnis für Algebraformeln besitzt. Marcia sollte bei Eleanor schlafen, direkt ge genüber von Steenie. Ich schlief auf dem Betonfuß boden in Steenies Zimmer. Eleanors Eltern waren auf einer Bauunternehmerversammlung in Denver, er zählte mir Steenie, als wir nebeneinander im Kinoklo standen. Wir waren teils aus den natürlichen Grün den zusammen gegangen, teils, um den dürftigen Vorfilm zu vermeiden. Es handelte sich um eine drittklassige Conga-Band – Bananas Lupo und seine Hawaieros –, die in einem tagsüber offenen Nacht klub Kastagnetten rasselten plus fünfzig Mann grin sender Jubelchor, die an kleinen Tischen verteilt im Takt nickten. Ich glaube, so startet Hollywood seine jungen Nachwuchskräfte. Wenn sie etwas Bewegung in ei 229
nen Haufen gelangweilter Kubaner auf einer Bühne bringen, dürfen sie sich bereits Höherem zuwenden. Wechselnde Kameraeinstellungen, eine lange Auf nahme des Gesamtensembles, kürzere Aufnahme von links, während die Trompeter hochhopsen, um einen Takt zu blasen, Nahaufnahme des Kastagnettenmannes mit Goldzähnen, der sich schüttelt wie eine Klapper schlange. Es war eine der wenigen Sachen, die mich aus dem Kino treiben. Hat noch nie versagt. «Es liegt was in der Luft», sagte Steenie. «Merkst du was?» «Schnee? Es hat sich ganz schön bewölkt, als wir ankamen.» «Es ist Liebe. Eleanor steht unheimlich drauf und Marcia nicht gerne abseits. Egal, wie sich das ver teilt, es sieht nach Aktion aus.» Als wir an unsern Platz zurückkamen, sagte Marcia, wir hätten das Beste versäumt: «Ein Mädchen mit einer Obstschale auf dem Kopf. Sie sah toll aus und sang ,Shoo-Fly Pie’ auf Portugiesisch. Anschließend kamen drei Flamencotänzer, Farbige, in seidenen Anzügen und schwarz-weißen Schuhen.» «Ich seh mir das morgen nochmal an», sagte Stee nie. Wir aßen Spaghetti und Eirollen im Chinarestau rant, das bis zum Krieg einen japanischen Koch hatte; der wurde interniert. Der neue Koch war Grieche. Den Minestronepaps ließen wir aus, da zu riskant, und die süß-scharfen Rippchen in Weinblättern, da zu exotisch. Alle Bars waren zu – es war Sonntag – 230
und so feierte Sagrado zwangsweise ein ruhiges Sil vester. Nach dem kalten Weg zu Eleanor zündeten wir den Kamin an und knurrten herum, während die bei den Mädchen Kakao machten, «Sie zögern nur die Stunde der Abrechnung hinaus», sagte Steenie. «Ich lasse mich nicht abweisen.» «Oh, doch», sagte Marcia, die gerade sehr haus fraulich aussehend mit einem Tablett erschien. «Ele anor und ich haben darüber gesprochen. Wir können tanzen, Monopoli spielen, Gruselgeschichten erzäh len, aber geküßt wird nicht außer um Mitternacht.» «Wir sind größer und stärker als ihr», sagte Stee nie. «Wir nehmen euch mit Gewalt, stimmts, Tiger?» «Stimmt. Ihr könnt euch ebensogut friedlich erge ben.» «Trinkt jetzt euren Kakao, bevor er kalt wird», sagte Eleanor. «Ich hole das Monopoli.» «Ich habe keine besondere Lust, die Verhandlun gen gerade jetzt abzubrechen», sagte Steenie. «Mo nopoli kann ich spielen, wenn ich achtzig oder neun zig bin. Hic Rhodos, hic salta.» Eleanor hatte im Nu drei Häuser auf der Parkstraße, und Marcia errichtete ein schönes modernes Hotel an der Hafenstraße. Um elf hatten sie Steenie und mich vom Brett gefegt. «Ich scheine keine gute Nase für Bodenspekulation zu haben», sagte ich. «Ich glaube, ich bin eher ein Künstlertyp.» 231
«Du schuldest mir genau achttausend Mark», sagte Marcia. «Eine Hypothek auf der Badstraße wird dir nicht viel nützen. Zahl oder stirb.» «Setzen wir uns doch auf die Couch und sehen in die Flammen», schlug Steenie vor. «Ihr habt nicht zufällig eine Flasche Sekt, Eleanor?» «Mein Vater hat seinen Schnaps abgeschlossen im Schrank. Möchtest du Ginger Ale?» «Im Schrank, eh? Das war aber indiskret von dir.» Das Schloß war ein Kinderspiel. Ein kleiner Kratzer mit dem Taschenmesser in der Politur, und Steenie grub eine noch fast volle Flasche Gilbey’s Gin aus. «Das sieht mir sehr gut aus», sagte er. «Bei schweren Wehen benutzt mein Vater den zur Betäubung.» Er plierte nochmal in den Schrank. «Hmm. Johnny Walker. Ist das nicht irgendein Bourbon oder Sherry? Wahr scheinlich läßt sich das sehr gut mit dem Gin mixen.» «Den laß stehen», bettelte sie. «Mein Vater hat ihn seit Kriegsanfang aufgehoben.» «Horten ist unpatriotisch und feige. He, was haben wir denn da, in der Flasche ohne Etikett? Brennt dein Alter schwarz? Bös, bös.» Er schraubte den Deckel ab und probierte ein Schlückchen. «Das ist das rich tige Zeug!» Er schüttelte sich. «Das ist Silberputzmittel», sagte Eleanor. «Und ziemlich vergammeltes dazu», sagte Steenie. «Ich bleibe bei Gin und Sherry.» «Ich weiß nicht, was ich sagen soll, wenn mein Vater das erfährt.» 232
«Erfährt er nie. Ich gieße nur ein bißchen von oben ab. Er ist doch wohl kein solcher Knauser, der sich Striche ans Etikett macht, was?» Er nahm einen Zug Johnny Walker aus der Flasche und spülte ihn mit Gin runter. «So also schmeckt ein Martini», sagte er versonnen. «Josh, nicht auch einen Schluck? Vielleicht kann ich irgendwo ein sauberes Glas finden.» «Nein, danke, ich bin ein Weinsnob.» «Langsam, langsam. Das ist nichts als Dextro Energen für die jugendliche Frische. Eine medizini sche Tatsache: kein Mensch in deinem Alter hat je eine Leberzirrhose gehabt. Das gesunde jugendliche Gewebe spült den Alkohol einfach raus und absor biert das Vitamin A.» «Gut. Gib mir einen Scotch, ich hole Eis.» «Scotch? Welches ist Scotch?» «Der Johnny Walker.» «Das ist Scotch? Ich hatte nicht gewußt, daß man Martinis mit Scotch macht. Lebe und lerne.» «Schweine seid ihr», sagte Marcia. «Ihr verderbt unser ganzes Silvester.» «Und ob mein Vater das merkt», jammerte Elea nor. «Ich weiß genau, daß er es merkt.» «Mein Vater wird das deinem Vater alles voll erss… sss… setzen», versicherte Steenie. «Sobald der Krieg aus ist. Heeeh! Sieh an, sieh an, noch eine ganze Flasche Gilbey’s. Sieht einfach aus wie Was ser. Erfährt er nie, niemals, wenn du nicht petzt. Schnickschnacker mögen wir alle nicht.» 233
Ich trank zwei Glas Scotch, er schmeckte greulich, und füllte die Flasche mit Leitungswasser wieder auf. So sah sie zwar etwas blasser aus, aber bei einer Kontrolle würde es wohl nicht auffallen. Steenie blieb beim Gin. Als wir die Glocken um Mitternacht das Neue Jahr einläuten hörten, suchten wir die Mäd chen. Sie hatten sich in Eleanors Zimmer eingeschlos sen. Wir machten den Sekretär von Mrs. Pickens auf, schrieben «Ein glückliches Neues Jahr, alles Liebe von Steenie und Josh, 1. Januar 1945» auf ein Blatt teuer aussehenden Briefpapiers und scho ben es unter Eleanors Tür. Dann stießen wir mit einem Gin auf unser Wohl an. Steenie fand es ein echtes Opfer, daß ich auf Gin umgestiegen war, so was täte nur ein großer Gentleman und Freund. Ich stimmte dem zu. Es wurde von innen an Eleanors Tür geklopft. «Wir ham wohl Post», sagte Steenie. «Ich bring sie durch», versprach ich. Ein gewalti ges, lautloses Erdbeben hatte das Haus um dreißig Grad gekippt, so daß ich mich auf dem Weg zu Elea nors Zimmer mit den Armen gegen eine Wand des Korridors abstützen mußte. Dasselbe Stück Papier, einmal gefaltet, lag unter der Tür. Gerade als ich mich bückte, es aufzuheben, kippte das Haus noch zehn Grad weiter, so daß ich das Gleichgewicht ver lor und hinfiel. Ich stand auf und donnerte mit der Faust gegen die Tür: «Erdbeeren!» «Was?» Das war Marcia. Arme, süße Marcia. Das Zimmer wird ihre Falle, stürzende Balken, Flammen. 234
Wir mußten sie retten. Eleanor auch. «Raussa! Haus fallein!» «Rutsch mir den Mondschein runter», sagte sie. Ihr egal, was passiert. Will im Zimmer bleiben, mit ihrer Freundin sterben. Sterben mit Eleanor. Dazu sind Freunde da. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und zeigte Steenie den Zettel. «Wassas?» fragte er. «Wewichtiger Brief.» Ich faltete ihn auf und ver suchte zu lesen, aber die Buchstaben rutschten immer quer durcheinander an den Rand. Das war das Erd beben. «Weißnich. Mit bwechlicher Tinne geschie ben.» «Ummöchlich. Gibbs nich. Hier, nochn Dschil bies. Schärfn Geiss. Zeichma her.» Ich gab ihm den Brief, beugte mich dabei aber zu weit über und fiel in den Kamin, in dem die Kiefernscheite prasselten. «Raussm Kamin», sagte Steenie. «Verbrennssich dritten Grad. Hauverflansung. Aaauuuuuu.» «Liesn Brief.» «Lauded aaso: ,Getsm Deibel. Unnerschriem Mar cia Neleanor’.» «Erbeern verschünn se. Mir wurscht. Nochn Dschilbie.» Etwas später brachen wir auf und gingen vorsich tig über die Straße zu Steenie. Die Häuser standen alle noch. «Nur kurss Beben», sagte ich. «Erdbe – ben nur unter Elnors Haus.» Steenie blieb an einem Baum stehen und übergab sich. «Gut fürn Baum», sagte er. 235
«Organsche Stoffe. Guer Dünger. Mirs übel. Eirollen Spazotti.» Ich setzte mich auf den Schlafsack am Boden und zog mich aus, als wir in Steenies Zimmer kamen. Er setzte sich auf die Bettkante und betrachtete seinen rechten Fuß. «Was endeck», grummelte er, «Füße schwellen von Dschilbies.» «Woher weiß das?» «Krichte Überschuh fass nich rauf. Muß mit eim Fuß baafuß rüberlaufen. Krich Lunzünnung. Jetz gehter nich mehr ab.» «Helf dir ziehn», sagte ich. Der Überschuh saß so fest, daß wir fünf Minuten lang zogen und zerrten. Als er kam, kam darunter der zweite zum Vorschein. «Du hass ein übern annern angezon», sagte ich. «Desshalb.» Steenies Gesicht verzog sich und er brach in Trä nen aus. «Schöne Erklärung, schönsse Erklärung, die ich je gehört habe. Jetz alles so klar, das heiss … ich meine … erklärt viele Fragen. Kanns ganze Lem auf sowas aufbaun.» Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab und zog sich aus. «Gunach, Josh. Ahs Gu te.» «Dir auch ahs Gute, Steenie. Wos Licht?» «Anner Wand.» Ich kroch vorsichtig an die Wand, stand auf und machte das Licht aus. Das Erdbeben hatte nachgelassen, aber der Schlafsack warf sich noch solange herum, bis ich eingeschlafen war.
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17. Kapitel
Excilda lud mich zum Weihnachtsessen fünf Tage darauf in Río Conejo ein. Weihnachten am 25. zu feiern, gilt in den Bergen als protestantische Irrlehre. Dort wird am 6. Januar gefeiert, was bei uns in Mo bile Zwölfte Nacht heißt. Aber bei uns heißt es nur so, und damit hat es sich. Da die Montoyas wieder einigermaßen bei Kasse waren, gab es einen Haufen Gäste, und von zwölf Uhr mittags an brachte Excilda das Essen schichtweise auf den Tisch. Sie hatte drei Nächte lang daran gekocht, sobald sie aus Sagrado zurück war, ein Festschmaus, neben dem ein AngloWeihnachtsessen wie eine Hungerration auf der Teu felsinsel aussah. Es gab zwei lechoncillos – Spanfer kel, gefüllt mit Äpfeln, Zwiebeln und Mais – und drei guajalotes asados, das sind Puter in rotem Chile, die ungefähr einen Tag in einem Bottich unter heißen Steinen gelegen haben. Das waren natürlich erst die Appetithäppchen. Ich saß neben Victoria am großen Tisch und unterhielt mich mit ihr auf Englisch. Ne benher versuchte ich, mit einem zahnlosen Onkel oder Vetter fünften Grades auf Spanisch Konversati on zu machen, bis ich einen üblen Schluckauf bekam und raus aufs portal mußte, um den Atem anzuhalten und Kopfstand zu machen. Don Carlos war auch da 237
draußen. Er fraß so was wie einen Elch- oder Dino saurierschenkelknochen. Als ich den Kopfstand machte, kam er her und leckte mir das Gesicht. Ich mußte lachen und kippte um und der Schluckauf war weg. Obwohl kompliziert: das ist eine Schluckauf kur, die ich jedem empfehle. Ich ging zurück ins Zimmer und zwang mich, et was gesitteter und langsamer aufzuessen. Es war keine große Leistung von mir: mehr als zwei empanadas konnte ich nicht runterkriegen, bevor mir schwinde lig wurde. Ich zog mich ins große Zimmer zurück, legte mich auf den Fußboden und schnappte nach Luft. Victoria saß daneben auf dem alten Sofa und sah zu mir herunter: «Du brauchst Bewegung. Möch test du Spazierengehen?» «Tut mir leid, ich kann mich nicht rühren. Ich muß mich verletzt haben.» «Du hast nur zuviel gegessen, komm, gehen wir spazieren.» Victoria zog mich am Arm, zwei ihrer kleinen Brüder schoben mich von hinten, und so wurschtel ten sie mich gemeinsam auf die Füße. Sie mußten mich stützen, während ich mir die Stiefel anzog. Ich konnte mich nicht vorbeugen, ohne das Gleichge wicht zu verlieren. Amadeo kam sich den Bauch patschend aus dem Eßzimmer. «Wo wollt ihr hin?» «Spazieren», sagte Victoria. «Josh hat sich über fressen.» «Du brauchst Bewegung? Hack Holz.» 238
«Oh Papa, er will doch kein Holz hacken. Nie mand hackt Weihnachten Holz.» «Na dann mal los, geht spazieren. Viel Spaß.» Don Carlos war wieder mit von der Partie, den Elefantenknochen im Maul. Das Paket, das ich nach Conejo mitgebracht hatte, trug ich bei mir. Ich hatte es unterm Arm, weil es nicht in meine Manteltasche ging. Victoria war zu wohlerzogen, als daß sie gefragt hätte, was das sei. Wir gingen die Straße hinauf, bis wir von einem erhöhten Punkt Amorcita, das nächste Dorf, sahen. Die kleine, fast völlig im Schnee versunkene Stadt schien zu brennen. Dicker grauer Rauch quoll aus allen Häusern. «Sie verbrennen die luminarias», sagte Victoria. «Jeden Weihnachten veranstalteten sie abends eine Art Umzug, und alle zünden vor dem Haus ein Freu denfeuer an. In La Cima machen sie das auch.» «Und weshalb?» «Ich weiß nicht. Irgendein alter Brauch. Papa hat mir erzählt, das wurde früher auch in Conejo und woanders gemacht. Möchtest du rauf nach La Cima heute abend und es dir ansehen? Es ist hübsch.» «Zu Fuß, meinst du?» «Nein, Papa kann uns hinfahren, oder vielleicht läßt er dich fahren. Die Straße ist in Ordnung. Nur darf man auf keinen Fall aussteigen. Die sind ir gendwie brutal da oben.» Als der Wind schärfer wurde, gingen wir in einen alten Schuppen an der Straße und setzten uns auf die 239
Heuballen. Don Carlos nagte immer noch an seinem Knochen und bewachte die Tür. «Ich habe dir was mitgebracht», sagte ich. «Fröh liche Weihnachten.» Ich gab ihr das Paket, das mir während des Spaziergangs lästig geworden war. Sollte sie es doch herumtragen. «Ich hatte schon gesehen, daß du was unterm Arm hattest. Darf ich es aufmachen?» «Natürlich. Warte. Du kannst doch Spanisch le sen?» «Sicher kann ich Spanisch lesen. Was hast du denn gedacht?» «Gut, dann frohe Weihnachten.» Es war gar nicht so einfach für die Verkäuferin im El-Chivo-Buchladen gewesen, eine spanische Aus gabe des «Don Quijote» aufzutreiben. Ihre Lieferan ten hatten normalerweise verschiedene Übersetzun gen, aber ich bestand auf dem Original, sonst sollte sie es lassen. Über die Universität bekam sie schließ lich eine Studienausgabe mit einem Glossar des un gebräuchlichen Wortschatzes. Ich hatte es «Der edlen Dulcinea von Don José von Corazón Sagrado» ge widmet. Victoria wickelte es aus, wog es in der Hand, las den Titel, blätterte einige Seiten durch und las, was ich ihr hineingeschrieben hatte. «Hijo! Was ist das?» «Was soll das heißen, was ist das? Ein Buch. ,Don Quijote’.» «Für mich?» 240
«‘türlich für dich, Mensch.» «Zum Lesen?» «Wie du meinst. So war es gedacht.» «Oh. Das haben wir schon in der Schule gehabt. Mit den Windmühlen.» «Ich wette, das ganze Buch habt ihr nicht gehabt. Hier.» Ich fuhr mit dem Daumen durch die Seiten. «Neunhundertdreiundvierzig Seiten. Zwei Teile. Da sind noch viel mehr als nur die Windmühlen drin.» «Aber wieso ist das denn auf Spanisch? Was ich gelesen habe, war Englisch. Wir haben so ein Lese buch ,Erweitere deinen Horizont’, da sind haufen weise Geschichten und Gedichte drin, aber alle auf Englisch.» «Der Mann, der dies geschrieben hat, schrieb Spa nisch. Er ist Spanier. Für Leute, die kein Spanisch können, gibt es Übersetzungen in einer Masse Spra chen. Aber dies hier ist das Original, genau wie Cer vantes es geschrieben hat.» «Ist es schwer?» «Lang ist es. Schwierig würde ich nicht sagen. Das läuft ganz munter, vor allem der erste Teil.» «Ich verspreche, jeden Abend darin zu lesen, bis ich es durch habe, egal wie schwer es ist.» «Es war nicht als Strafe gedacht. Es sollte dir ei gentlich gefallen.» «Vielen Dank für das wunderbare Geschenk», sag te sie, als läse sie den Satz von einem ungewohnten Rollenskript. «Bitte.» 241
«Wer ist diese Dulcinea? Ich heiße nicht so.» «Ich weiß. Das steht auch nur zum Spaß da. Dul cinea ist das Mädchen in dem Buch, die, für die Don Quijote dauernd Abenteuer besteht. Sie ist schön.» Victoria umarmte mich und gab mir einen Kuß auf die Backe. «Du bist der erste, der mir was zu Weih nachten schenkt, außer den Verwandten.» Ich nahm sie in die Arme, küßte sie auf den Mund und zog sie hinunter ins lose Heu. Don Carlos ließ seinen Kno chen liegen und trottete knurrend zu uns rüber. «Komm, geh, Junge», sagte ich. Sein Knurren wurde eindringlicher, und er legte die Schnauze di rekt an mein Ohr, damit ich es auch ja hörte. «Braver Kerl», sagte Victoria und setzte sich auf. «Du magst mich, was?» Don Carlos leckte ihr die Hand und wedelte begeistert mit dem Schwanz. Und wie er sie mochte. «Wir sollten lieber nach Hause gehen, bevor es ganz dunkel wird», sagte sie. «Wie geht es übrigens deinem Magen?» «Viel besser, danke.» Wir standen auf und klopf ten das Heu ab. Victoria nahm ihren Don Quijote, und Don Carlos sicherte sich den Knochen. Ich hoffte, wenn Victoria heiratete, ginge der Hund nicht mit auf die Hochzeitsreise. Bei Sonnenuntergang fuhr uns Amadeo nach La Cima. Von Conejo sind es nur dreißig Kilometer oder so, aber es ist eine verzwickte Fahrerei auf einer engen Straße mit tausend Meter Steigung. In Amor cita, dem Dorf, das Victoria und ich auf unserem Spaziergang aus der Entfernung gesehen hatten, war 242
die Hauptstraße gesäumt mit Freudenfeuern, und Kinder sangen vor einem Haus. Aber es hingen auch kitschige Pappweihnachtsmänner von hoch über die Straße gespannten Drähten. Es war eine von diesen Mischungen, die irgendwie nicht ganz überzeugend wirken. Hinter Amorcita lag der Schnee höher. Die Fichten wurden seltener, statt dessen standen hier hohe Kie fern. Die Kälte wurde schärfer, und wir waren alle für die Heizung im Lastwagen dankbar, die röhrend jede Unterhaltung erschwerte. Hell leuchteten die Sterne. Die Gegend lag weiß und zerklüftet vor uns. «Schön ist es hier oben», schrie ich Amadeo zu und beugte mich dazu über Victoria. «Ja. Und auch eine ganz schöne Schufterei zu fah ren.» «Kommen Sie oft hier rauf?» «Nein, nicht besonders oft. Sind komische Leute, da in La Cima. Sie sehen das nicht gern, wenn Frem de oft hinkommen.» «Sie sind doch kein Fremder.» «Doch. Für die ist jeder ein Fremder, der nicht aus La Cima kommt.» «Sie sprechen komisch», sagte Victoria. «Ja, sie sprechen altes Spanisch. Das ist anders als unseres. Sie haben viele alte Wörter. Einmal kam ein Professor für Sprachen, vor ein paar Jahren. Er wollte ein Buch oder so schreiben, sagte er. Er hat sich ein altes Haus gemietet und fragt beim Bürgermeister, ob er … äh …» 243
«Interviews machen», sagte Victoria. «Ja, ob er Interviews machen könne, um zu sehen, wie die Leute sprechen. Das wollte er dann in eins von seinen Büchern schreiben. Am ersten Tag haben sie ihm alle Reifen gestohlen, am nächsten stopfte ihm jemand einen Lumpen in den Tank und ver brannte den Wagen. Es gibt hier kein Telefon, den Sheriff konnte er nicht anrufen. Und jedesmal, wenn er aus dem Haus kam, kriegte er einen Stein ab. Bei einem ging seine Brille drauf, da konnte er auch nicht mehr richtig sehen.» «Und die Polizei?» «Die kommen hier nur rauf, wenn sie unbedingt müssen. Wenn jemand ermordet wird, wollen die Leute das unter sich abmachen. Manchmal wird dann der Mörder von jemand anders ermordet, manchmal nicht. Sie finden, die Polizei geht das nichts an.» «Wie ging das weiter mit dem Professor?» «Oh, den haben sie nicht umgebracht. Schließlich sind sie bei ihm eingebrochen und haben all seine Papiere und Bücher verbrannt. Sein Geld haben sie auch gleich mitgenommen, nur ließen sie ihm grade noch genug, daß er mit dem Bus nach Sagrado fahren konnte. Er hat großen Wind gemacht, aber da konnte keiner was tun. Hier wären wir.» Wir fuhren jetzt nach einer harten Steigung eine Strecke über eine flache Hochebene. Vor uns über einem schroffen Abhang lag wie ein Adlernest auf einem Felsvorsprung La Cima. Die weißen Gipfel im Hintergrund leuchteten. Tausend kleine Feuer erhell 244
ten das Dorf, und aus den Bergen trug der Wind den süßen Geruch von brennendem Kiefern- und Fichten holz. «Schön ist es», sagte ich, und das war es wirklich. Zweihundert Jahre schienen vor uns zu versinken, wir waren zurückversetzt in die Zeit von Vizeköni gen und Apachen. Nur das Motorengeräusch des Lastwagens und das Röhren der Heizung verband uns mit dem 20. Jahrhundert. Ich konnte nicht auf Anhieb sagen, was das Dorf so entrückt aussehen ließ. Amadeo half mir. «Es gibt hier kein elektrisches Licht, nur Feuer und Petroleumlampen. Elektrizität wollen sie nicht.» Amadeo schaltete herunter und wir rollten den Biegungen und Krümmungen der Straße nach ins Tal. Unten lag eine Holzbrücke über einem gefrore nen Bach, dann kam das Ortsschild: Dorfgrenze La Cima, 406 Einwohner, 3241 m. Darunter hatte je mand als Willkommensgruß chinga todos gekritzelt. Über die letzte Steigung rutschten und schlidderten wir auf der schneebedeckten Straße nach La Cima hinein. Amadeo sagte, der Schneepflug der Straßenwacht mache den letzten Kilometer nicht mehr, weil bei seiner Ankunft immer jemand ein Maschinenteil geklaut hätte. Als Ferienort schien sich La Cima nur so anzubieten. Wie in vielen anderen Bergdörfern gab es hier nur eine Straße. Sie schlängelt sich auf der Hügelkuppe zwischen dickwandig aussehenden Fachwerkhäusern hindurch. Viele schienen überhaupt fensterlos; andere 245
hatten ölgetränkte Häute straff über kleine quadrati sche Löcher gespannt, um Licht einzulassen. Der einzige Fremde, der hier offensichtlich eine Weile toleriert worden war, muß ein Blechhändler gewesen sein. Alle Dächer waren aus Wellblech und tief vor nübergezogen. Sie leuchteten matt im Schein der Feuer. Es hatte hier viel geschneit, der Schnee lag hoch. Er war von den Dächern gerutscht und häufte sich zwischen den Häusern auf. Die Hügelkuppe war nicht mehr als dreißig Meter breit; das genügte für die Straße und die Häuserfront. Dahinter fiel das Land auf beiden Seiten steil ab, und ich konnte sehen, daß ein Haus, das vorn einstöckig war, eine zwei- oder dreistöckige Rückseite hatte, mit Felsbrocken und Balken gegen Abrutschgefahr gesichert. Die dunklen Häuser lauerten auf der Kante wie auf die Hinterbeine aufgerichtete Tiere, um zu verschlingen, was immer des Wegs kam. Die Mehr zahl der erwachsenen Einwohner stand oder lehnte gegen die Häuser auf der linken Straßenseite, als wir in die Mitte des Dorfes fuhren und parkten. Es war eiskalt. Männer und Frauen hatten dunkle Decken um die Schultern, die sie mit der Hand über der Brust zuhielten. Sie beobachteten die Vorstellung auf der anderen Straßenseite, ein kleines Drama, das sich langsam von Haus zu Haus auf uns zu bewegte. Dreißig oder vierzig Kinder quirlten die enge Straße hinunter. Viele von ihnen trugen brennende Knüppel statt Fackeln. Sie leierten etwas in einer Melodie herunter, die nur aus drei oder vier Noten zu 246
bestehen schien; keine davon war als Musik erkenn bar. Ein Paar war bei ihnen: ein alter Mann am Stock mit einem kurzen schmutzigweißen Bart und eine junge Frau, die trotz des Wetters nur ein dünnes Baumwollkleid anhatte. Sie war hochschwanger – im vierzehnten Monat, wenn das möglich wäre – und schob den Bauch vor sich her wie einen Melonenkar ren. Der Alte stützte sie unterm linken Ellbogen, ein Junge unterm rechten. Ihr einziges Zugeständnis ans Wetter war ein ausgelatschtes Paar Wanderstiefel mit lose hängenden Schnürsenkeln. Als die Gruppe nä herkam, konnte ich sehen, daß einige der Kinder ei nen Esel führten. «Das sollte sogar ein Protestant kapieren», sagte Victoria. Die Kinder hielten vor einem Haus und sangen wieder. Ich kriegte den Text nicht mit, aber Amadeo flüsterte mir eine ungefähre Übersetzung zu: Die Nacht ist kalt. Lang war der Weg. Die Frau muß ruhen. Ihre Füße bluten. Ein Alter ist bei ihr. Er kann kaum gehen. Macht auf und gebt uns Obdach und Brot. Als das Lied zu Ende war, ging das Paar mühsam an die Tür, und der Alte schlug mit dem Stock dagegen. Sofort flog die Tür auf. Eine Frau kam heraus, schrie 247
und fluchte in unverständlichem Spanisch. Dann goß sie der Schwangeren einen Eimer Wasser über und knallte die Tür zu. «Wir haben keinen Platz, verschwindet von un serm Grundstück!» übersetzte Amadeo. «Die Flüche lasse ich aus.» Sie zogen vor das nächste Haus und sangen wie der. Diesmal kamen ein Mann und eine Frau heraus, und während die Frau schrie und fluchte, trat der Mann auf den Esel ein, daß er brüllte vor Schmerz. Wir parkten am Straßenrand neben La Cimas ein ziger dunkler, bretterverschlagener Tankstelle mit einer einzigen handbetriebenen Benzinpumpe. Als Kinder und Paar näherkamen, ließ Amadeo an und fuhr rückwärts in einen verschneiten Durchgang ne ben der Tankstelle, um mit dem Wagen niemandem im Wege zu sein. Die Gruppe versammelte sich bei der Pumpe. Die Frau zitterte in ihrem nassen Kleid. Von den Wänden gegenüber lösten sich langsam die Zuschauer und kamen auf uns zu. Jeder der Männer hatte ein Stück Holz oder einen Ast in der Hand. Ei ner nach dem anderen knieten sie auf dem kleinen Platz vor der Tankstelle hin und schichteten die Höl zer, mit einem Viereck anfangend und langsam höher bauend, zu einem würfelförmigen Stoß. Der Alte mit dem Stock nahm einen Eimer und pumpte langsam Benzin hinein. Dann ging er vorsichtig zum Holzstoß und goß den Eimer darüber aus. Die Kinder schleu derten ihre Fackeln hinein, die Flammen loderten auf. Der starke Benzingeruch wurde schwächer, als 248
das Holz Feuer gefangen hatte. Niemand achtete auf uns oder den Lastwagen. Im Schein der Flammen leuchteten Hunderte von dunklen, glänzenden, ausdruckslosen Gesichtern auf, ausgenommen die der Kinder, die aufgeregt und hin gerissen zusahen. Zwei oder drei dicht ans Fenster gekauerte Männer begannen auf winzigen, kurzen, selbstgemachten Flöten mit wenigen Tönen zu spie len, die Menge fiel singend ein. Ich erinnerte mich verschwommen an die Melodie. Der Chor in Laceys katholischer Kirche in Mobile hatte das auch einmal gesungen; an den Titel des Lieds erinnerte ich mich nicht mehr. Hier in La Cima klang es orientalisch oder arabisch, und der Text war Spanisch statt Latei nisch. «Gruselig», sagte Victoria. Amadeo zischte sie still. Die Menge ums Feuer teilte sich auf einer Seite, und vier Hünen, die wild an ellenlangen Ketten zerr ten, kamen in den inneren Kreis. Sie zogen, stolper ten und schwitzten im Licht der Flammen und zerr ten einen großen Schwarzbären mit. Das Singen ver stummte und Gemurmel erhob sich. Ich verstand nur: «Oso santo.» «Was soll das heißen?» flüsterte ich. «Weiß ich nicht», sagte Amadeo. «Ich bin katho lisch. Steig ja nicht aus.» «Keine Angst, das habe ich auch nicht vor.» Der Bär schnaufte und warf den Kopf hin und her, während die vier Männer an den Ketten zogen, die an 249
seinem breiten Lederhalsband befestigt waren. Par ker hatte mir erzählt, Schwarzbären seien nicht be sonders gefährlich, es sei denn, sie stolpern grade über einen oder man geht an ihre Jungen heran. Sie fräßen Beeren und Honig und hätten nie Geschmack für Menschen entwickelt wie Braunbären und Grizz lys, die hier inzwischen glücklicherweise ausgestor ben waren. Dieser hier sah mir aber doch groß und gefährlich aus. Er hatte schwere Schultern, die viel höher als der Rumpf waren, zehn Zentimeter lange Krallen und einen ungeduldigen Blick, der sich in offene Gereiztheit verwandelte. Ich fragte mich, ob sie diesen für die jährliche Aufführung im Käfig hiel ten oder jedes Jahr einen neuen fingen, und wollte gerade danach fragen, da trat zögernd die Schwangere in den feuerhellen Kreis. Sie trug nun außer dem Kleid und den Stiefeln ein paar leinene Arbeitshandschuhe – zum Schutz vor Bissen, nahm ich an – und einen Kranz Immergrün. Es war ein lächerlicher Aufzug, aber etwas an ihr, vielleicht der große Bauch oder der ernste Ge sichtsausdruck, ließen nichts komisch erscheinen. Sie näherte sich dem gefesselten Bären ohne ein Zeichen von Furcht, ging herum um die Männer, die das Tier hielten, hob ihr nasses Kleid bis fast an die Hüften und kroch ungeschickt mit gespreizten Beinen dem Bären auf den breiten Rücken. Die Menge war still. Die Männer kämpften lautlos mit den Ketten. Die Frau auf dem Bären streichelte seinen dicken Nacken und sprach leise über seinen 250
Schulterberg gebeugt auf ihn ein. Amadeo sah mit leicht abweisendem Ausdruck gespannt zu. Victoria hielt sich die Augen zu. Kein Laut außer dem Pras seln des Feuers und dem Keuchen des Bären. Kein Gesang. All die eng zusammengedrängten Gesichter waren aufmerksam und gespannt auf die Frau und den Bären gerichtet; alle außer einem, das verwirrt und fast entsetzt aussah, einem dunklen, hübschen Gesicht. «He, Victoria, die kenne ich ja.» Ohne nachzuden ken machte ich die Tür auf und sprang vom Tritt brett. Amadeo wollte mich noch festhalten. «Mein Gott!» rief er. Ich war halb um den Kreis herumgegangen, bis mir, wie üblich benommen von der Kälte, einfiel, wo ich war und was ich tat. Aber da hatte ich schon «Viola!» gerufen, und es war zu spät. Sie wandte die Augen vom Bären ab und sah mich zuerst fragend an, dann hatte sie mich erkannt. Ich stand nur zwei Schritte entfernt und konnte sehen, daß sie tödlich erschrak. Sie verdeckte ihr Gesicht mit der Hand, drehte sich um und lief in den Schatten der anderen Straßenseite. Jemand stieß mich, dann noch einer, dann fiel ich mit den Knien auf die Straße. Dann traten sie auf mich ein. Ich rollte auf den Rücken und sah einen Kreis wütender Gesichter und viele Stiefel; einige beugten sich dicht zu mir herun ter und spuckten. Zwei Männer faßten mich um die Knöchel und schleiften mich zurück zum Wagen, wo Amadeo und 251
Victoria bleich und ängstlich standen. Sie ließen meine Füße los und der eine stieß Amadeo gegen die Wagentür. «Schaff ihn weg», sagte er auf Englisch, «und ver schwindet hier sofort.» Wir stiegen ein und knallten die Türen zu. Ama deo fuhr langsam und vorsichtig um den Kreis her um. Einige sahen hinter uns her, aber die meisten hatten sich wieder zur Frau umgedreht, die immer noch den Bären ritt und auf ihn einredete. Meine Rippen taten mir weh, als ich mein Taschentuch he rauszog und mir den wäßrigen Schnee und die Spucke aus dem Gesicht wischte. Victoria weinte. «Gehts?» fragte Amadeo. «Ja. Gut. Es tut mir leid.» «Junge, du hättest uns umbringen können da, ist dir das klar?» «Ich weiß. Es tut mir furchtbar leid.» «Was bist du bloß aus dem Wagen gesprungen? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst drinbleiben?» «Ich sah da plötzlich eine Bekannte, mit der ich zur Schule gehe. Ich hatte alles vergessen, als ich ausstieg.» «Meinst du, du hast dir was gebrochen? Die haben ganz schön zugetreten, als sie dich unten hatten.» «Meine Rippen tun weh. Aber ich glaube nicht, daß welche gebrochen sind. Ganz schön brutal sind die hier oben.» Als wir in Amorcita waren, weinte Victoria nicht mehr, und den Rest der Strecke nach Conejo hielten 252
wir uns bei den Händen, aber so, daß es Amadeo nicht sehen konnte. Die Nacht schlief ich in einem Schlafsack vor dem Kamin in Montoyas Wohnzimmer. Excilda bestand darauf, daß ich mein Hemd auszöge, um sich den Schaden anzusehen. Sie gab zu, gebrochen war nichts, aber die langsam sichtbar werdenden Quet schungen rieb sie mir mit einer Salbe ein. Das brannte und roch scharf und durchdringend. Sie und Victoria sagten, ich sei sehr tapfer, aber Amadeo bestand weiter darauf, daß ich einfach ein Dummkopf war. Das kam der Wahrheit näher. Als das Haus stiller wurde und das Dutzend Kinder in dem Labyrinth von Schlafzimmern verstaut war, lag ich und sah ins Feuer, pflegte meine schmerzenden Rippen und fragte mich, was in aller Welt Viola Lopez bei der Bärenritt-Weihnachtsfeier in La Cima verloren hatte. In der Schule war sie immer das bravste Kind gewesen, eine künftige Nonne, Jesus versprochen, soviel ich wußte. Also Montag würde ich Chango deswegen fragen. Kurz vor Mitternacht schlüpfte ich leise aus dem Schlafsack und stieß die Tür zu Victorias Zimmer auf. Durch ein Fenster fiel genug Licht, daß ich sie sehen konnte. Sie schlief auf der Seite, ihr dichtes schwarzes Haar fiel aufs Kopfkissen. Es war auch hell genug, um Don Carlos auf dem Boden neben ihren Pantoffeln zu sehen: den Kopf erhoben, sah er mich ruhig an. Ich ging rückwärts aus der Tür und schloß sie leise. «Na komm», flüsterte ich, «hier hast 253
du ein schönes Strychninsteak, mmm, mmm.» Dann kroch ich zurück in den Schlafsack und drehte mich auf die Seite, die weniger wehtat.
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18. Kapitel
«Viola? Du spinnst, amigo.» «Chango, ich sage dir, es war Viola. Das war nicht zu verwechseln. Nicht nur das Gesicht, auch … du weißt schon.» Ich machte die bewußte Geste vor der Brust und wartete, daß er zuschlüge, aber er nickte nur. «Abends geht sie manchmal rüber ins Kloster, was lernen. Sie will ins Kloster, wenn sie mit der Schule fertig ist, und die Nonnen bringen ihr irgendwas bei.» «Sonnabend ungefähr um acht Uhr abends war sie in La Cima», wiederholte ich. «Sie stand mit einem Haufen Leute um ein Feuer und sah sich irgendeine Geschichte mit einem Bären an. Ich weiß es nicht. Mag sein, daß es lehrreich ist, aber in Begleitung ei nes Priesters habe ich sie gewiß nicht gesehen.» «Sonnabendnacht hat sie bei einer Freundin ge schlafen.» «Ich will es nicht beschwören, frag sie.» «Ich rede am Abend mit ihr. Sie ist zuhause ge blieben.» Wir hatten nachmittags gerade Sozialkunde und saugten begierig jene wenig bekannten Einzel heiten über die Legislative in uns auf, als das Ge schrei auf dem Korridor los ging und Black John 255
Cloyd reingeprescht kam, den kläffenden Ratoncito auf den Fersen. Cloyd hatte sein Gewehr in der Hand und humpelte immer noch etwas, obwohl der Gips ab war. «Würden Sie bitte ins Büro kommen», sagte der Direktor. «Ich bin sicher, alles läßt sich …» «Halten Sie den Mund, Sie Hanswurst. Fragen Sie die Jungs da, sonst verdammt noch mal frag ich sie hiermit!» Er wedelte mit dem Gewehr. Ratoncito fummelte an seiner kleinen Fliege und räusperte sich. «Jungen und Mädel», fing er an, dann schwieg er und wurde rot. «Ich kann sie nicht einfach so fragen», sagte er zu Cloyd. «Ich bin sicher, da liegt ein …» «Dann frag ich sie eben», sagte Cloyd. «Hop!» Er zielte auf Ratoncito, der wurde blaß und verließ den Raum. Mrs. Loughran stand noch an der Tafel, die Kreide in der Hand, gebannt und offensichtlich hyp notisiert von der Szene. Sie hatte gerade geschrieben «Unterzeichnet am 6. Februar 1933». Cloyd trug denselben schwarzen Hut wie damals, als ich mit Parker die Mädchen abgeholt hatte. Man sprach davon, daß seine Klage abgewiesen worden war und daß er für seinen Rücken keinen Pfennig kriegen würde und für das Bein nicht mehr, als was ihn die Sache gekostet hatte. Das mochte zu seiner schlechten Laune beigetragen haben. «Na schön. Alle Mädchen da rüber an die Wand.» Er zeigte auf die Fensterseite. «Und alle Jungs rüber auf die andere Seite. Dalli, verdammt nochmal!» 256
Das gab ein Durcheinander, bis wir an den Plätzen waren. Marcia fand das ganze wie üblich aufregend, und ihre Augen tanzten. Steenie und ich standen ne beneinander an der Wand. «Los», flüsterte er, «nimm ihm das Gewehr ab. Den Griff, den ich dir gezeigt habe, den Armbrecher.» «Mach du doch. Bei mir sitzt das noch nicht so richtig.» «Nächster, der redet, schieß ich einen vor’n Arsch, dem Kerl.» Bucky Swenson trat aus der Reihe heraus und sah Cloyd blaß, aber tapfer an, ein Bild der Tugend. «Sie sind sich doch sicher bewußt, Mr. …» Cloyd zielte auf ihn: «Meinetwegen kanns auch dein Arsch sein.» Swenson blieb noch eine oder zwei Sekunden so ste hen, um zu zeigen, daß er keine Angst hatte, dann reihte er sich wieder ein. «Na schön», sagte Cloyd. «Einer hat was mit meinen Mädchen gehabt. Ich will wissen, wer. Ich kann mir denken, einer von euch hat da die Pfoten drin. Und raus mit der Sprache! Ich schieß ihm die Rübe runter!» Mrs. Loughran ließ die Kreide fallen. Das war der einzige Laut. «Alle beide», sagte er, «beide sind sie geschwollen wie Luftballons.» Er überwachte unsere Reihe mit den Augen und der Gewehrmündung. «Alle beide! Dritten Monat und gehen auf wie Hefe. Einen ganzen Haufen von euch Brüdern habe ich bei uns rumschnüffeln sehen wie die Köter. Du da, wie heißt du noch, der Dürre da.» Er legte auf Parker an. 257
«Nein, nein. Ich nicht. Ich bin nur mal mit Venery Ann ins Kino gegangen, stimmts, Josh?» «Das stimmt, Park», sagte ich, dankbar, daß er Cloyd auf mich aufmerksam gemacht hatte. «Nur ins Kino.» «Und du?» «Nur ins Kino, Sergeant York.» «Was?» «Sergeant York, wissen Sie, dieser Bursche aus Tennessee oder Kentucky da irgendwo her, und der glaubt an die Bibel und will niemand umbringen und Kriegsdienst verweigern, aber dann haben sie ihn doch eingezogen, und dauernd hat er Streit mit den Vorgesetzten, ob …» Ich wußte, ich quasselte wie ein Papagei, aber ich konnte nicht aufhören. Das Gewehr war auf mich gerichtet. «… Gott will, daß man Menschen tötet, wenn es für eine gute Sache ist, und York sagt ,nein’, aber schließlich kriegen sie ihn dazu, daß er nach Frankreich geht, und dann kommt er zu dieser Infanterieeinheit und …» «Halt den Mund!» schrie Cloyd. «In Dreiteufels namen, will mir keiner hier eine gerade Antwort ge ben?» Er hinkte schnell an die Tür und trat auf sie. Vier, fünf Lehrer standen vornübergebeugt vor der Tür, als ob sie besser horchen wollten. Sie richteten sich auf, als sie ihn sahen. «Raus hier!» Sie sprühten den Flur hinunter. Cloyd drehte sich wieder zu uns um. Mrs. Loughran hatte die Gelegenheit ergriffen, um unters Pult zu kriechen. 258
«Mr. Cloyd?» Das war natürlich Marcia, ständig bereit, sich in alles einzumischen, was sie nichts an geht. «Haben Sie schon mal Ihre Töchter gefragt?» Cloyd sah sie vernichtend an. «Was hast du ge sagt?» «Haben Sie Ihre Töchter gefragt, wer … wer dafür verantwortlich ist? Dabei kommt vielleicht mehr raus, als wenn Sie den Leuten einen Schrecken ein jagen.» «Ah, gefragt. Gefragt habe ich sie. Denkst du, sie sagen mir was, ihrem Vater? Nee, Kleines, die kleinen Huren nicht.» Einige Mädchen fuhren zusammen, die mehr Angst vor dem Wort als vor dem Gewehr hatten. «Weißt du, was sie mir erzählt haben? Sie haben mir erzählt, sie wissen es nicht. Na, was sagst du dazu? Ist das nicht der Gipfel?» «Stimmt wahrscheinlich», flüsterte Steenie. Die Tür ging wieder auf, und Ratoncito erschien mit dem Sheriff. Chamaco trug Dienstmütze und Arm binde. Die Pistole hing ihm á la Wild Bill Hickock in einem verzierten Halfter tief auf den Schenkel. Raton cito zeigte dramatisch auf Cloyd: «Das ist Ihr Mann, Sheriff.» Das schien überflüssig. Cloyd war offen sichtlich zu alt, um als Schüler gelten zu können, und außerdem trug er als einziger im Raum ein Gewehr. «Na, Tag, Mr. Cloyd», sagte Chamaco heiter. «Wo brennts denn?» «Verdammte Bengel hier, keiner will mit der Sprache raus», sagte Cloyd. «Wollte auch keinen richtig erschießen, nur ein bißchen auf Zack bringen.» 259
«Aber sicher», sagte Chamaco. «Und jetzt, Mr. Cloyd, lassen wir sie doch wieder an ihre Arbeit gehen. Sie haben sie schon genug auf Zack jetzt. Gehen wir doch mal ins Büro und reden wir darüber, ja?» «Verdammte Sauigel», sagte Cloyd. Er verlor schon an Fahrt und senkte das Gewehr. «Einer davon ist es gewesen, das weiß ich genau. Vielleicht zwei. Sollten das Maul aufmachen und ihre Medizin schlucken.» «Da haben Sie völlig recht, Mr. Cloyd», sagte Chamaco, «allerdings, da haben Sie recht.» «Verdammt recht.» «Lassen wir sie doch jetzt erst mal allein, Mr. Cloyd.» «Richtig, die Hosenscheißer sind meine Zeit so wieso nicht wert. Sollte man allen eins vorn Arsch schießen, bloß sind sie meine Munition nicht wert.» Cloyd ließ den Lauf ausschnappen, nahm die Patro nen heraus und steckte sie in die Jackentasche. Als Chamaco ihm auf den Flur vorausging, packte er noch Ratoncito bei der Fliege und zerrte ihn auf die Zehenspitzen. «Sie waren das doch nicht, Kleiner?» «Äh … äh … äh», sagte Ratoncito und lief wieder rot an. «Nee», sagte Cloyd, «Sie waren das bestimmt nicht», und ließ ihn los, fing ihn auf, als er zusam mensacken wollte, und stieß ihn aus der Tür. Die Aufstellung an der Wand löste sich auf, und wir gingen zurück an unsere Plätze. Einige von den Mädchen – Marcia natürlich auch – weinten, waren verlegen und mochten uns nicht ansehen. Marcia eilte 260
Mrs. Loughran zu Hilfe, die Schwierigkeiten hatte, unter dem Pult rauszukommen. Einmal herausgezo gen, verschwand sie hinter der Tür mit der Aufschrift «Lehrkörper Damen». «Meine Güte», sagte Marcia, «war das spannend. Hast du Angst gehabt, Steenie?» «Ich bin die ganze Zeit ruhig und kaltblütig gewe sen. Da mußt du mir schon was anderes als so ein Spielzeug unter die Nase halten, wenn du mich aus der Ruhe bringen willst.» «Wie kommt es dann bloß, daß dein Gesicht ganz verschwitzt ist?» «Die Hitze.» «Es war ungefähr zwei Grad unter Null, als ich herkam heute morgen.» «Ich gebe zu, ich fürchtete für Joshs Leben. Mann, du warst haarscharf vor deinem gewaltsamen Ende durch die Hand eines aufgebrachten Vaters.» «Du weißt doch genau, daß Josh damit nichts zu tun hat.» «Kann sein, aber er hat schuldig ausgesehen. Hast du Schuld je so deutlich auf einem Gesicht gesehen? Und hast du ihn vom Kino faseln hören? Er quasselte in Todesangst.» «Ich wette, das alte Schwein ist es selbst gewesen», sagte Marcia. «Er sieht nicht aus, als stünde er überm Inzest. Fieser alter Kerl.» «Da irrst du dich bestimmt», sagte Steenie. «Ich hätte einen Anwärter, aber ich möchte ihn nicht in Verdacht bringen. Er ist größer und stärker als ich.» 261
«Hast du überhaupt gesehen, wie Chamaco den angefaßt hat? Meisterhaft. Den pöbel ich nie mehr an.» «Ich hatte gehofft, er legt ihn mit einem elf Milli meter vors Auge um. Im Auftrag von Prinz Eisen herz. Auf eine Schießerei war ich vorbereitet. Ich hatte sogar schon gewußt, wo ich in Deckung gehe: hinter Steenie.» «Unterschätz Chamaco nicht», sagte Steenie. «Ich gebe zu, er ist ein Idiot, aber er legt nur einen um, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Das erste Mal seit Jahren, wo er die Pistole gezogen hat, war in der Bank, als er den Elch erschossen hat. Und auch mit dem hätte er versucht, sich friedlich zu einigen, hätte er nur Spanisch verstanden.» Mrs. Loughran erschien in dem Tohuwabohu und bat um Ruhe. «Wir sprachen gerade über die Legisla tive», sagte Steenie. «Sie hatten einige hochinteres sante Punkte in dem Zusammenhang vorgebracht, besonders bezüglich der Maßnahmen bei Tod oder Amtsunfähigkeit des Präsidenten.» «Noch ein Wort, Stenopolous», sagte sie, «ein ein ziges Wort.» Chango hielt mich an, als es um zwölf zur Mit tagspause klingelte. «He, Mann, ich will dich nicht stören, wenn du was anderes vorhast, vergiß, daß ich dich darum gebeten habe, aber könntest du mit zu mir nach Hause kommen? Ich glaube, ich sollte Viola wenigstens fragen wegen der Sache, die du mir er zählt hast.» 262
«Schon gut. Wahrscheinlich habe ich sie verwech selt, da oben war es dunkel.» «Los, bitte, komm schon.» Viola half ihrer Mutter beim Essenmachen, als wir hereinkamen. Mrs. Lopez bat mich, doch zum Essen zu bleiben. «Gern», sagte ich, und das stimmte auch. Es gab sopa de menudo. Viola hatte ein blaues Auge und sah im ganzen wenig nonnenhaft aus. Nach dem Essen gingen wir zu Chango ins Zim mer. Viola protestierte zwar, sie müsse abwaschen, aber Chango bestand darauf. Er hatte leichte Verän derungen an seinem Wandschmuck vorgenommen. Der Druck war von der Wand über der Kommode verschwunden, statt dessen hingen da die Bilder von Pius XII. und General Eisenhower. «Wo hast du das blaue Auge her?» fing er an. «Ich habs dir doch gesagt.» «Woher denn», fragte ich. «Das geht dich nichts an.» «Erzähl es ihm», sagte Chango. «Ich bin auf dem Bürgersteig beim Gericht auf dem Eis ausgerutscht. Ich hatte nicht aufgepaßt, und es war glatt. Ich dachte an die heilige Terese. Pater McIlhenny hat gesagt, sie sei eine große Mystikerin gewesen, genau wie Schwester Polycarp.» «Ich kann Pater McIlhenny sofort anrufen und fra gen, ob du Sonnabend da warst.» «Tu das nicht», sagte sie schnell. «Er ist verreist. Nach … nach Phoenix, zur Einweihung einer neuen Kirche.» 263
«Heute morgen um viertel vor acht hat er mit einem der Mönche auf der Plaza Schneebälle geworfen.» «Um zehn wollte er fahren, hat er mir gesagt.» «Hat dir jemand aufs Auge gehauen? Dich ge schlagen?» «Unsinn. Hör zu, ich muß den Abwasch machen. Ich brauche hier nicht zu sitzen.» «Josh will dich Sonnabend in La Cima gesehen haben.» «Er spinnt.» Sie sah mich an. «Weshalb hast du ihm das erzählt? Ich kann gar nicht in La Cima ge wesen sein. Ich bin noch nie dort gewesen.» «Es muß wohl jemand anders gewesen sein, aber sie glich dir ziemlich.» «Das Mädchen, das du gesehen hast, was hatte sie an?» fragte Chango. «Ich weiß es nicht. Einen Mantel, einen langen Mantel, dunkelblau oder schwarz. Und ein Kopftuch. Es war kalt oben.» «Viola hat einen Mantel.» «Alle möglichen Leute haben einen Mantel. Wer hier keinen Mantel hat, der spinnt.» «Plötzlich spinnen alle», sagte Chango. «Soll ich das Papa erzählen?» «Da gibt es Papa nichts zu erzählen. Ich bin nir gendwo hingegangen. Ich war beim Gericht. Sei kein solch verdammter jodido.» «Hörst du, wie sie mich nennt? Das wird mir eine Nonne werden. Als nächstes sagt sie mir noch ,toma la verga’.» 264
«Ich habe mich sicher geirrt. Auf jeden Fall möchte ich niemand Ärger machen. Wir sind Freunde, eh, Viola?» «Jetzt nicht mehr, du Mistvieh.» «Du wirst eine Nonne!» sagte Chango. Viola ließ uns allein und ging zum Abwasch zu rück. Chango legte sich auf seinem Bett zurück und faltete die Hände unterm Kopf. «Du hast recht. Sie lügt. Sie hat noch nie gelogen, deshalb ist sie so un geschickt.» «Ich war ziemlich sicher, daß ich Viola gesehen habe.» «Weißt du, all die Leute draußen in La Cima sind aus der Kirche ausgestoßen worden. Und ab und zu wird hier von der Kanzel auf sie gewettert. Sie haben keinen Priester mehr. Ihren haben sie vor fünf Jahren fortgeschickt. Er mischte sich in ihren Glauben ein, angeblich. Das klingt komisch, ich weiß, aber das haben sie gesagt. Darauf sind sie alle exkommuni ziert worden und wandern in die Hölle.» «Eine harte Strafe.» «Denen ist das gleich. Üble Typen dort. Deshalb will mir nicht in den Kopf, was Viola da zu suchen hat. Mann, sie ist eine gute Katholikin, die beste, die ich je gesehen habe, meistens. Sie geht lieber zur Messe als ins Kino.» «Vielleicht hat sie nur mal sehen wollen, was die andere Hälfte so macht.» «Sie darf da nicht mal hin. Niemand darf sich an sehen, was die da oben machen. Einer von den Prie 265
stern hat gesagt, sie seien böse Geister, sie verhexten die Leute.» «Mich haben sie nicht verhext, mich haben sie nur grün und blau getreten.» «Hat Viola dabei zugesehen?» «Nein. Als sie mich sah, ist sie weggelaufen. Den Spaß hat sie nicht mehr mitgekriegt.» «Mensch, ich weiß nicht, was ich machen soll. Wenn ich es meinen Alten erzähle, glauben die mir kaum. Ich habe schon sechzehn Jahre lang den Ruf, ein mieser Taugenichts zu sein, und Viola ist so was wie der Liebling der Familie. Ich meine, bitte, die ganzen Jahre, sie bringt einen Vogel nach Hause und schient ihm den Flügel, und ich jage die Hunde mit Fußtritten vor mir her.» Mrs. Lopez mahnte uns, es sei Zeit, zurück in die Schule zu gehen. Als wir losgingen, sagte Chango etwas in schnellem Spanisch zu Viola; sie ließ den Teller fallen. Ihre Mutter bückte sich, um beim Ein sammeln der Scherben zu helfen, da zeigte uns Viola auf gekonnte Art ‘nen Vogel. Sie schien die meisten von Changos schlechten alten Sitten anzunehmen. Ratoncito ordnete für den Nachmittag eine Ver sammlung der gesamten männlichen Oberstufe an. Wie Marcia sich ausdrückte: ihm platzte der Sack vor Schiß – das mußte sie bei ihrem Vater in der Bi belstunde gelernt haben. Die Maus war wahrhaftig nicht das selbstbewußteste Glied des Lehrkörpers. Gewöhnlich hatte er das Gefühl, die Schüler ließen es ihm gegenüber an Respekt fehlen, und wenn er 266
nervös war, also fast immer, neigte seine Stimme dazu, sich zu überschlagen. «Ich habe gehört, wie er heute mittag Mrs. Loughran sattgemacht hat», sagte Marcia. «Als ob es überhaupt nur ihre Schuld wäre, daß Cloyd zuerst zu ihr in die Klasse gekommen ist. Wahrscheinlich hat er alle außer Cloyd angeranzt. Er hat wohl Angst, er wird wieder am Schlips hochgezogen.» «Hoffentlich hält er keine Moralpredigt», sagte Steenie. «Ich möchte nicht plötzlich anfangen zu lachen und rausfliegen.» «Ich glaube, ihr kriegt einen Film gezeigt», sagte Marcia. «In der Aula wird ein Projektor aufgebaut. Wenn die Mädchen doch auch zusehen dürften. Wir müssen heute raus in den Schnee und Hockey spie len.» «Das ist verständlich», sagte Steenie. «Die glau ben, drastische Körperertüchtigung verringert die Leidenschaft. Ich könnte jetzt schon sagen, daß das nichts nützt, aber ich werde ihnen den kindlichen Glauben nie nehmen.» «Wir sind langsam als geilste Schule im Land be kannt», sagte Marcia. «Jungen sollen schon bis aus Denver hierher kommen, um es bei uns mal zu pro bieren. Bald fangen sie wahrscheinlich an und mieten Sonderbusse.» «Sowas ist also schon mal passiert», sagte ich. «Klar», sagte Marcia. «Alle Augenblicke ver schwindet ein Mädchen von der Schule, die Familie zieht in eine andere Stadt, und das Gemunkel fängt 267
an. Aber dies ist das erstemal, wo so viel los war, soweit ich weiß, mit Gewehren und allem.» «Die Cloyds gelten als Spezialfall», sagte Steenie. «Sie waren ein laufender Skandal, nur eine Frage der Zeit, bis das mal aufflog. Beide auf einmal ist natür lich ziemlich happig. Es sollte mich nicht wundern, wenn das in einer Nacht im selben Auto passiert ist.» «Im Auto?» fragte ich. «Wo sonst? Für einmal Autofahren tun die alles. Ei ne hat mir erzählt, sooft ihr Vater umzieht, besorgt er sich einen alten Lastwagen, packt seine Frau und den Hund nach vorn und die Mädchen auf die Ladefläche: deshalb erscheint ihnen ein richtiges Auto so lecker.» «Steenie, erzähl mir nachher alles haarklein aus dem Film», sagte Marcia. «Und laß nichts aus.» «Du meinst, du willst einen kompletten anatomi schen Bericht mit jedem einzelnen Pickel?» «Ach, sowas soll das werden? Ein SyphilisThriller?» «Natürlich. Wie ein Kommandotrainingsfilm. Ratoncito will uns zur Tugend einschüchtern.» «Das freut mich, daß er sich endlich zu vernünfti ger Information entschlossen hat. Erinnerst du dich an den Film über Sexhygiene vor ein paar Jahren? Über Mutter – Ei und Vater – Samen?» «Und wie. Und die endlosen Bilder von grienen den Lachsen, die den Columbia River raufzogen.» «Das vergesse ich nie», sagte Marcia. «Hinterher hatte ich keine so große Angst vor Jungen, aber sechs Monate lang mochte ich nicht mehr baden gehen.» 268
«Tobt ihr euch heute nur schön gründlich beim Hockey aus», sagte Steenie. «Ihr sollt so schlapp wiederkommen, daß euch keine schmutzigen Gedan ken mehr einfallen. Wenn das bei euch Schlampen nichts nützt, gehen wir rüber in den Werkraum und drechseln euch ein paar Dutzend Keuschheitsgürtel. Soviel ich sehe, seid ihr nichts als ein Haufen lüster ner Lenden.» Bei der Versammlung am Nachmittag sprach Ra toncito so unumwunden, wie er konnte, trotz des ro hen Gelächters, das immer wieder aus dem Zuhörerraum schwappte. «Sie kennen alle das Geheimnis Leben und so zeigen wir heute im Rahmen des all gemeinen Unterrichts einen Film über … äh … Zeu gung und … äh … Sex. Dieser Film soll Sie auf den Ehestand vorbereiten, der Sie später – viel später – erwartet, sobald Sie Ihre Ausbildung beendet haben. Es ist mir jedoch zu Ohren gekommen, daß einige Schüler … äh … die Ehezeremonie vorweggenommen und – ich weiß, das wird Sie schockieren, aber ich will es aussprechen – sich … äh … sexuell betätigt, jawohl, betätigt haben! Es ist zu haarsträubend, auch nur daran zu denken, aber es ist die Wahrheit.» «Was erwartet er von einem Haufen scharfer Halbstarker?» flüsterte Steenie. «Minnesang?» «Der Verwalter des St. Bonifacius Krankenhauses hat uns freundlicherweise einen Film zur Verfügung gestellt, der in der Schwesternausbildung gezeigt wird. Ich muß Sie warnen, dies ist ein sehr … äh … plastischer Film, und nur die Dringlichkeit des Pro 269
blems konnte die Ausleihung rechtfertigen. Es ist ein Film für Erwachsene, für Leute, die medizinisch tätig sind; ich möchte während der Vorführung kein La chen oder Kichern von Ihnen hören. Bevor wir nun den Film zeigen, wird Ihnen Dr. Temple, einer der führenden Psychiater hier im Westen, einige Worte über die … äh … Gefahren … äh … dieser … äh … Dinge vom medizinischen Standpunkt aus sagen. Dr. Temple, würden Sie … äh …» Dr. Temple, der in der ersten Reihe gesessen hatte, stieg die Stufen auf die Bühne hinauf und stellte sich hinter das Mikrophon. Er schielte uns eulenhaft durch seine Hornbrille an. «Hallo, Jungen und Mädchen», begrüßte er die ausschließlich männlichen Zuhörer. «Ich sage Mäd chen, weil einige von euch, ob sie es schon wissen oder nicht, vorwiegend weibliche Gefühlseigenschaf ten haben und eines Tages, sollten sie es nicht bereits sein, homosexuell oder, wie ihr sagen würdet, schwul werden. Das ist gar nicht weiter schlimm, im Gegen teil, völlig normal, und nach einigen der von mir aufgestellten Statistiken sind es mindestens vierund dreißig Prozent von euch …» «Da hat Ratoncito wohl den falschen Knaben für den Vortrag erwischt», sagte Steenie. «… Orgasmus auf verschiedenen Wegen errei chen, unter anderem …» «Der probiert eins seiner Bücher an uns aus», sagte Steenie. «Er ließ sie gewöhnlich in Europa bei dem gleichen Verleger veröffentlichen, der solche Sachen 270
wie ,Ein Matrose im Harem des Sultans’ heraus brachte.» «… rektal im Gegensatz zu oral …» «Mein Gott, der gibt da eine Gebrauchsanwei sung.» «Doch ist dies alles völlig nebensächlich unter den gegenwärtigen Umständen, bei denen es sich, wie Mr. Alexander mir erklärt hat, um experimentellen heterosexuellen Verkehr mit Schwangerschaftsfolge handelt. Eingangs möchte ich betonen, daß sexuelle Experimente völlig normal und gesund sind. Sie wir ken sich in der Tat nur positiv aus. Es besteht wenig Zweifel, daß viele jener Übel, die die Welt befallen haben, inbegriffen der gegenwärtige Krieg, der es europäischen Verlegern unmöglich macht, entschei dende psychiatrische Werke zu veröffentlichen, ihren Ursprung in der Repression normaler sexueller Akti vität haben. Die gesellschaftlich nicht tolerierten Schwangerschaften, um die es sich hier handelt, wie unglücklich auch immer sie für die jungen Frauen sein mögen, die das Pech hatten, in eine restriktive Gesellschaft geboren zu werden, sind offensichtlich das Resultat von Versteckspielerei und Unerfahren heit. Wahrscheinlich wurde der Akt hastig und heim lich zwischen vorhergehender Nervosität und nach folgenden Schuldgefühlen ausgeführt. Wie jeder an gesehene Arzt euch sagen würde, sind dies die schädlichsten aller möglichen Umstände, deren so fortige und unvermeidliche Folgen neben uner wünschter Schwangerschaft neurotische Angst vor 271
Strafe und Abkehr vom emotional befriedigendsten menschlichen Erlebnis sind.» Steenie und ich sahen von unserem Platz Ratoncito wieder mit knallrotem Kopf aus den Kulissen wilde Zeichen in Dr. Temples Richtung machen, der ihn einfach ignorierte. Mäusepeters Versammlungen schienen nie nach seinen Wünschen ablaufen zu wol len. «Es ist ein Verbrechen, jawohl, ein Verbrechen, den Jugendlichen den Weg zur sexuellen Erfüllung mit sozialen Barrieren zu verbauen. Vom Tage seiner Geburt an, ja sogar vielleicht bereits in utero, ist der Mensch ein sexuell orientiertes Wesen, und jeder Versuch, Furcht oder Unsicherheit bezüglich seiner natürlichen Triebe zu verursachen, ist Sadistenwerk. Wir hätten diesen Vorfall nicht zu bedauern, wären die Schüler über sexuelle Techniken und die Anwen dung von Verhütungsmitteln gebührend aufgeklärt worden.» Ratoncito, der eingesehen hatte, daß seine ver zweifelten Gesten nichts nützten, sprang, Hände überm Kopf, aus den Kulissen auf die Bühne und applaudierte. «Danke, Herr Doktor, danke, vielen Dank.» «Aber ich bin nicht …» «Ja, herzlichen Dank, daß Sie sich trotz ihrer vie len Termine die Zeit genommen haben, einige Worte an unsere Schülerschaft zu richten. Ich bin sicher, wir sind Ihnen hierfür alle dankbar, was, Jungens?» Wir klatschten alle. Jemand rief: «Temple hoch!» 272
Dr. Temple sah Ratoncito über seinen Brillenrand hinweg an. «Aber ich habe gerade erst ange…» «Lassen Sie mich nur eben das Mikrophon weg stellen», sagte Ratoncito, «dann beginnen wir mit dem Film. Licht aus! Licht aus!» Während es langsam dunkel wurde, kämpften sie kurz um den Besitz des Mikrophons. Ihre Silhouetten geisterten dramatisch über die Leinwand, als der Film anlief. Deutlich hoben sich ihre Schatten gegen den Titel ab: «Klassische Syphilissymptome, Serie 13, US Gesundheitministerium». Als die Musik ertönte – ein verglichen mit dem Thema ziemlich romantisch klingendes Streichorchester –, setzten die beiden ih ren Kampf neben der Bühne fort. Zu Anfang gab es einige Buhrufe. Es wurde ein Arzt gezeigt, der anhand einer Wachstumskurve dar legte, daß die Syphilis ebenso prosperierte wie die Produktion des Kampfflugzeugs B 17, wenn nicht schneller, dazu einige interessante Aufnahmen eini ger auf dem Mikroskopplättchen tanzender Trepo nema pallidum. Das Gejohle ebbte ab, als der Film sich den klinischen Auswirkungen zuwandte. In ei nem anderen Teil des Saals hörte ich einen erbre chen, aber es gab keine Epidemie. Jemand – ich habe nie erfahren, wer – grölte, die auf der Leinwand ge zeigten Symptome höben sich vorteilhaft von seinen ab. Er wurde niedergeschrien. Das ganze war uner freulich, aber keine Überraschung nach der Lektüre von Dr. Stenopolous Büchern. Nach ewigen Dias von Milz und Aorta mit grie 273
chischlateinischem Kommentar wurde in ein kleines Zimmer in einem öffentlichen Krankenhaus umge blendet. Die Kamera war hinter einem Trickspiegel versteckt. Der Erzähler sagte, der Mann, der jetzt zur Konsultation erschiene, litte an Rückenmarkschwund und progressiver Paralyse. Der Arzt am Schreibtisch hatte Kameraangst, obwohl das nicht erwähnt wurde. Der Patient – genannt Versuchsperson – kam her ein und ging mit etwas verrenkten Bewegungen auf einen Stuhl zu, ohne zu wissen, daß gefilmt wurde. Ein ziemlich übler Trick, wenn man mich fragt. Ich hätte wegen Einbruchs in die Intimsphäre geklagt. «Hallo, John», sagte der Arzt und griente fett für die Kamera, «wie gehts uns denn heute morgen?» John setzte sich mißtrauisch, leckte sich die Lip pen und wischte sich mit dem Handballen über sein spärliches Haar. «Hunnerprosent, Herr Doktor, mir gehts hunnerprosent.» «Und nun», sagte der Arzt ölig, «werde ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Ist das recht?» «Äh?» «Wie ist Ihre Körperbeherrschung?» John fuhr sich wieder mit der Hand durchs Haar. «Körperbeherrschung hunnerprosent.» «Die Reflexe in Ordnung?» «Reflexe hunnerprosent.» «Hier sind Bleistift und Papier. Würden Sie mir bitte Ihren Namen aufschreiben?» «Ihren Namen aufschreiben hunnerprosent», sagte John, ohne den Bleistift zu nehmen, «hunnerprosent.» 274
«Sehr gut, John. Wieviel sind vier und vier?» John rieb sich den Kopf. «Vier und vier?» «Immer mit der Ruhe, John», sagte der Arzt milde. «Vier und vier.» «Reflexe hunnerprosent, Herr Doktor.» John strei chelte sich den Kopf und grinste den Arzt breit und stolz an. «Ludwig van Beethoven.» «Bitte?» «Ludwig van Beethoven», wiederholte John. «Siebzehn siebzig bis achtzehn siebenundzwanzig.» Er schwieg und dachte darüber nach. «Hunnerpro sent.» «Vielen Dank, John, das wärs dann.» John stand mit Hilfe seines Stockes auf und hinkte auf den Hacken wie eine wirr geführte Marionette an die Tür. «Auf Wiedersehen, John.» «Vier und vier sind acht», sagte John. «Vier und vier sind acht. Rechnen hunnerprosent.» Er streckte dem Arzt die Zunge raus und verschwand. Nach der Szene zwischen John und dem Arzt ließ der Film nach und endete schließlich wieder bei der Wachstumskurve, die nachwies, daß die Syphilis ex plodiere wie die Bevölkerung Indiens. Dann folgte ein Plädoyer für pflichtmäßige Wassermanntests. He roische Musik schwoll auf, als der Film aus war und das Licht anging. Offensichtlich war Ratoncito Dr. Temple losge worden. Das Programm endete mit einem kurzen Schlußwort des Direktors über die deutlichen, pla 275
stisch veranschaulichten Übel dessen, was er «schlechtes Sexualverhalten» nannte, und dem Hin weis, daß gierige Spirochäten uns allenthalben um lauerten. «Ich weiß nicht», sagte Steenie, als wir in die Klasse zurückgingen, «kann sein, daß man Aus schlag oder Filzläuse von den Cloyds kriegt, aber mehr wohl nicht.» Das Schneehockey hatte die Mädchen trotz der Kälte ins Schwitzen gebracht, und rosig und duftend kamen sie zurückgestapft. «Wer davon keine Lun genentzündung kriegt, ist einfach ein Glückspilz», sagte Marcia. «Wie war der Film? Gab es auch or dentliche Geschwüre?» «Film», fragte Steenie und rieb sich das Haar mit dem Handballen, «Film? Hunnerprosent.» «Jawohl. Ludwig van Beethoven. Vier und vier ist acht. Hunnerprosent.» «Idioten», sagte Marcia. «Wußte ichs doch, daß ihr nichts erzählt.» «Morgen kommt die Schulambulanz», sagte Steenie. «Alle Mann zum Wassermanntest. Geh nicht aufs Klo in der Zwischenzeit.» Marcia machte Cloyds Stimme nach. «Nächster, der den Mund aufmacht, kriegt einen vor’n Arsch.» «Weißt du, daß Marcia als einzige bei den Pfad findern wegen schlechten Benehmens rausgeflogen ist?» fragte Steenie. «Beim Lagerfeuer brachte sie den andern den Text von ,Roll Me Over in the Clo ver’ bei.» 276
«Für eine Jungfrau habe ich den schlechtesten Ruf in der Stadt», sagte sie. «Ich könnte mich genauso der Basketballmannschaft anbieten.» «Fang an bei Swenson», sagte Steenie. «Mit Rückenmarkschwund sähe er süß aus. Übrigens, sollte er ihn nicht schon haben? Er ist überhaupt nicht mehr in Form in letzter Zeit.» «Chango hat ihn ganz nervös gemacht», sagte ich. «Er ist beharrlich wie ein Engländer beim Cricket. Wenn Bucky bei einem Freiwurf zielt, schreit Chango immer dazwischen: ‚Jawohl, Junge, jawohl, Bucky’, und schon wirft er daneben.» «Bleibst du noch dabei, daß das Viola war bei der Orgie in La Cima?» fragte Marcia. «Ich habe sie deutlich gesehen. Chango und ich haben sie etwas bearbeitet, aber sie will es nicht zugeben. Chango weiß, daß sie lügt.» «Vielleicht erzählt sie es mir. Mir erzählen sie im mer alle ihre Geheimnisse, warum, weiß ich nicht.» «An deiner Diskretion kann das kaum liegen», sagte Steenie. «Du bist das größte Klatschmaul in der Stadt. Erzähls Marcia heute, hörs morgen über Radio Tokio.» «Ich bin sehr diskret. Ich kann ein Geheimnis mit ins Grab nehmen. Zum Beispiel habe ich nie jeman dem erzählt, wie du in der Untertertia über den Zettel kichern mußtest, den ich dir rübergeschickt hatte, und in die Hose gemacht hast.» «Bis eben nicht, nein», sagte Steenie. «Telefoniere, telegrafiere oder sags Marcia.» 277
«Du hast wieder das Witzbuch über den Ersten Weltkrieg gelesen, was?» «Josh, gibt es solche Mädchen auch in Mobile?» «Nein. Da gibt es nur Damen. Etwas dumm, aber Damen.» «Nächster, der redet, kriegt einen vor’n Arsch.» «Ist dir klar, daß das Mädchen in ein paar Jahren anfängt, Kinder in die Welt zu setzen? Da kann ei nem schwindlig werden.»
278
19. Kapitel
Ich muß zugeben, daß Jimbob sich Mühe gab. Als er von seiner Lungenentzündung genesen war – einer der längsten Genesungsprozesse seit Menschenge denken –, fing er an, in Briefen an alle seine Bekann ten um Obdach zu betteln. Ich habe ein paar für ihn eingeworfen; dieser lange, tödliche Hundertmeter marsch zum Briefkasten an der Ecke richtete ihn ein fach völlig zugrunde. Er schien überall Bekannte zu haben. Die meisten wohnten in Virginia oder in der Gegend von Atlanta, Mobile oder New Orleans, aber er probierte es auch in Phoenix, Seattle, Cleveland und Boston. Für eine Gratisfalle, geregelte Mahlzei ten und die Gelegenheit, am Koch rumzumeckern, ginge der sonstwohin. Eines Abends saß ich mit ihm und meiner Mutter im Wohnzimmer. Sie nippten an ihrem Sherry – in zwischen nippten sie ihn: der Vorrat schrumpfte – und Jimbob ging seine Post durch. «Nun stellen Sie sich vor», sagte er, «Appersons sind geschieden und Millie hat eine Zweizimmer wohnung. Kein Fingerbreit Platz, schreibt sie.» «Chicago würden Sie doch ohnehin nicht mögen», sagte meine Mutter, «kalt und schmutzig.» «Wahrscheinlich haben Sie recht, Mrs. Ann. Na, 279
wollen wir mal sehen, was Peter und Fliss zu sagen haben. Hm. Guter Gott! Peter schreibt, Fliss sei Ma jor im Weiblichen Hilfscorps und lege einen Siegesgarten an. Nun ja, ich habe sie immer für ein wenig unfraulich gehalten. Das Haus ist voll von englischen Flüchtlingskindern, ich sei willkommen, wenn es mich nicht störe, mit drei kleinen Jungen aus Man chester in einem Zimmer zu schlafen. Nein, danke.» «Und Atlanta ist doch auch so schäbig, all diese vulgären Coca-Cola-Barone.» «Hier wäre noch der von Buster und Dot Bemis. Ich glaube, Sie kennen sie nicht. Sie sind aus Quincy, Massachusetts, aber nette Leute. Beide in der Ge gend von Charleston geboren.» «Sind sie verwandt mit Larry Bemis? Ich war mit ihm in meiner Schulzeit zusammen.» «Mrs. Ann, ich muß sagen, Sie kennen jeden, den zu kennen sich lohnt. Ich bin sicher, daß sie ver wandt sind. Nein, verwandt waren. Busters Flugzeug ist über Hamburg abgeschossen worden, schreibt Dot.» «Warum gehen Sie nicht nach Quincy und trösten die Witwe?» fragte ich. «Joshua, je älter du wirst, desto unerträglicher wirst du. Wäre ich nicht so schwach, würde ich dich glatt übers Knie legen. Dein Vater wäre mir dank bar.» «Entschuldigung», sagte ich, bevor meine Mutter Zeit hatte mir zu sagen, ich solle mich entschuldigen. «Ich ziehe den Vorschlag zurück.» 280
Jimbob las noch mehr Briefe vor. Natürlich hatte der Krieg alle seine Bekannten gezaust. Sie waren geschieden, tot, lebten in ungesicherten Verhältnis sen in fremden Städten, und ihr Dasein war anders, enger geworden. Jeder Brief überraschte ihn von neuem: der Krieg war ein frecher Lümmel, der seine Freunde belästigte und ihm das Schmarotzen sauer machte. All die freundlichen, gepflegten Häuser hatten ein Drunter unddrüber hinter sich, die Gästezimmer waren abge schlossen oder an Dienstboten vermietet, die Diener und Gärtner nieteten auf Schiffswerften, flogen Bomber oder schrubbten Unterwasserschiffe. Die ganze Geschichte war einfach unsagbar barbarisch. «Hier hätten wir eine Möglichkeit», sagte er. «Hackenschmidts. Sie kennen sie bestimmt nicht, Mrs. Ann. Sie sind aus Wisconsin Rapids in Wiscon sin. Irgendwie habe ich sie in Alexandria kennenge lernt. Textilien, glaube ich. Damenkonfektion. Sie sehnen mich herbei. Das sind … wie heißt sie? Oh, ja, Opal, meine Güte! Das sind Opals eigene Worte: ,Bernie und ich sehnen Sie herbei, Mr. Buel’. Bernie! Weiter. ,Es ist ein Jammer, daß Sie Menomenees Preiselbeererntefest versäumt haben, aber im März, wenn das Eis schmilzt, ist das Tri-Cities-Birken rindentourenkanufestival.’ Das Eis schmilzt! Herr des Himmels!» «Das sieht mir nach einer wirklichen Möglichkeit aus», sagte ich, «eine echte Einladung ohne versteckte Bedingungen.» 281
«Was meinst du, sind die Tri-Cities?» «Ich habe alles über sie gelesen», sagte ich. «In Erdkunde. Wisconsin Rapids, Nekoosa und Port Ed wards. Da wird Papier hergestellt oder so. Voll von Skandinaviern.» «Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, daß Hackenschmidts die einzigen sein sollten. Ich kann sie mir einfach in den Tri-Cities nicht vorstel len, ich weiß jetzt schon, wie es dort aussieht. Hohe Holzstapel und Leute mit Wollmützen und Ohren wärmern. Wahrscheinlich überhaupt keine Oper.» «Im Gegensatz zu Richmond», sagte ich, «das be kanntlich all seine abgelegten Tenöre an die Met zu schicken pflegt.» «Du bist wirklich ein abscheulicher Bengel. Mrs. Ann, sind Lebertran und Hustensaft noch erlaubt?» «Ich trinke alles, was Sie davon in mich hinein kriegen.» Ich stand auf. «Soll es gleich sein?» «Jetzt ist aber Schluß, Joshua», sagte meine Mut ter. «Setz dich hin und benimm dich. Der Krieg ist für Jimbob besonders hart gewesen. Seine wunder volle Lebensweise ist einfach auf ein Nichts zusam mengeschrumpft.» «Du meinst, während Vati draußen vor deutschen Torpedos auf einem verrosteten Begleitzerstörer schwimmt, heulst du, weil …» «Das langt!» Jimbob hatte ein erfrorenes Lächeln auf den Lip pen, das ausgewachsene Äquivalent von ,Naja, naja, nun’, und machte sich wieder an seine Briefe. Die 282
enthusiastische Einladung aus Wisconsin Rapids war die einzige gute Nachricht. Niemand sonst wollte ihn haben. Von da an trug es mir jedesmal einen wäßri gen Blick meiner Mutter ein, wenn ich darauf zu rückkam, daß Jimbob woanders eine Unterkunft fin den müßte. Im Sommer, mit den Gästen und Touristen, wird Sagrado freundlicher, aber im Winter ist es tot. Im vierten Kriegsjahr gab es fast kein Benzin mehr, und die Straßen waren leer. Die Räumpflüge schoben den Schnee auf den Bürgersteig (da, wo einer war, denn viele gab es nicht), und alle Leute stapften bestiefelt hindurch und trampelten ihn fest. Januar und Februar waren ein einziger langer Sechzig-Tage-Monat. Es war nichts los. Nicht mal einen anständigen Brand gab es, obwohl Steenie und ich ausführliche Pläne zum Abbrennen von Bacas Holzlager ersonnen hat ten. Wir gaben es auf, weil wir keinen Fluchtwagen hatten. Velva Mae und Venery Ann gingen von der Schule ab und verschwanden in der Hütte ihres Vaters in der cienega. In der Zeitung stand, Mr. Cloyd hätte seine Versicherungsklage wegen eines Schönheitsfehlers verloren. Er habe die Straße achtlos betreten, als er angefahren wurde. Seine Töchter sagten schließlich, wer schuld war an ihrem Zustand. Also doch Bucky Swenson. Er hatte sie Sonntag nach der Bibelstunde im Auto seines Vaters abgeholt. Cloyd erschien mit seinem Gewehr vor Swensons Haus, aber Bucky war am Tag vorher zum Militär gegangen. Steenie, Marcia 283
und ich versuchten, uns eine passende Unverschämt heit zur Feier des Ereignisses einfallen zu lassen. Wir entschieden uns für einen silbernen Becher zu sechs Dollar, die Kosten wurden geteilt. Beim Juwelier Manx ließen wir BUCKMINSTER SWENSON – VATER DES JAHRES eingravieren und schmuggel ten den Becher auf Buckys Trophäenbrett unter seine Basket-, Fußball- und Zehnkampfpreise. Ratoncito wurde erst darauf aufmerksam, als der Oberschulrat ihn darauf aufmerksam machte. Es gab wieder eine Versammlung und einen wenig schlüssigen Vortrag über sportliche Fairneß. Parkers kleine Schwester Betsy bekam Windpocken und steckte Parker an. Der steckte alle andern an, mich auch. Es war mir ein Vergnügen, sie an Jimbob weiterzugeben, dem es drei Wochen lang hundeelend ging. Es war wirklich der Höhepunkt des Winters, aber umgebracht hat es ihn nicht. An einem Sonntagmorgen Anfang Januar kam Amadeo grinsend wie ein Schuljunge mit Victoria nach Sagrado. Sie winkte mir mit einem Brief und rief: «Hier! Hier!» und gab mir einen Kuß. Der Brief war von der Universitätsverwaltung. Sie hatte ein bei guten Leistungen jährlich erneuerbares Vollstipendium be kommen. «Wozu der Kuß?» fragte ich. «Das soll nicht heißen, daß ich was dagegen hätte.» «Das war ,Don Quijote’. Ich hatte eine Buchbe sprechung für Englisch geschrieben – Mrs. Saiz hatte gesagt, wir sollten uns irgendein Buch aussuchen –, 284
und meine war über ,Don Quijote’. Sie hat sie, ohne mir etwas davon zu sagen, an die Uni geschickt und dazu geschrieben: ,Wenn Sie Victoria Montoya kein Stipendium geben, quittiere ich den Schuldienst und werde Serviererin’.» «Das muß ja eine Buchbesprechung gewesen sein», sagte ich. «Wie lange war sie denn?» «Och, vierzig Seiten oder so. Einfach der übliche Kram.» Wenn die Schule in Yunque unserer auch nur irgendwie ähnelte, mußte der übliche Kram un gefähr sowas sein: Robert Louis Stevenson DIE SCHATZINSEL Meine Buchbesprechung ist über «Die Schatzinsel» von Robert Louis Stevenson. Er erzählt von Jim Hawkins, einem Jungen, der mit ein paar Englän dern auf Schatzsuche geht. Sie heißen Dr. Livesy und Squire Trelawney. Dann ist da noch ein Pirat mit einem Holzbein. Er heißt Long John Silver. Und wie Jim sich in dem Apfelfaß versteckt, hört er, wie die Piraten sagen, sie wollen den Schatz rauben. Dann kommen sie auf der Insel an. Ich hatte keine Zeit, das Buch ganz zu Ende zu lesen, weil wir dafür nur drei Wochen hatten, aber es ist ein sehr gutes Buch und sehr spannend. Mir hat es gefallen. Ich führte Victoria herein und stellte sie meiner Mut ter vor. «Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, waren 285
Sie ein ganz kleines Mädchen. Was sind Sie hübsch geworden!» «Victoria hat gerade ein Stipendium bekommen», sagte ich. «Das klügste Mädchen im Tal. Trägt einen Kopf auf sich rum wie Albert Einstein.» «Ein Stipendium wofür, meine Liebe?» «Die Universität», sagte Victoria. «Joshua geht nach Harvard.» Das war mir seit Untertertia vorgebetet worden. Ich glaube nicht, daß Harvard davon eine Ahnung hatte. «Das ist eine großartige Universität in Boston.» «Das glaube ich, wenn ich sie gesehen habe. Komm, Vicky, gehen wir ins Kino. In der Stadt läuft ein Film, der ist erst zwei Jahre alt.» Wir sahen «Yankee Doodle Dandy». Victoria er zählte, Don Carlos hätte versucht, einen Puter ein zugraben, nur war der Boden zu hart gefroren. Ich sagte nicht, daß ich das außerordentliche Tier einmal vergiften wollte. «Interessiert dich sowas?» fragte sie, als wir durch den Schnee nach Hause gingen. «Interessieren dich meine kleinen Berichte über das Leben auf dem Hof? Das muß alles ziemlich langweilig klingen in der großen Stadt hier.» «Wenn du so redest, wird dir das hier keine Sym pathie bringen. Wir Stadtjungen sehnen uns alle nach dem Lande. Weißt du, hier ist alles so raffiniert, Cocktailparties jeden Tag nach dem Unterricht in der Schule. Wir gaffen auch nicht so wie ihr die großen Häuser an. Ich gehe jeden Tag an Wormsers Dry 286
Goods vorbei und merke nicht einmal, daß es zwei Stock hoch ist. Aber im Innern, hier drin, tief im Herzen, da sitzt uns die Sehnsucht nach ländlich sittlichen Freuden: Hunden, die Puter eingraben, und Mädchen, die Vierzigseitenaufsätze über Cervantes schreiben.» «Río Conejo ist ziemlich klein», sagte sie. «Sonn abendabends gehen wir alle runter zum Laden und hören zu, wie die Hunde bellen.» «Steenie, ein Freund von mir, hat mir erzählt, daß er vor dem Krieg nachts immer auf die Plaza gegan gen ist und die Nummernschilder gelesen hat, um zu sehen, woher die Autos kamen. Einmal, in einer Nacht im August, hat er Wagen aus elf verschiede nen Bundesstaaten gesehen. Das war eine große Nacht für ihn, die er nie vergessen hat.» «Also, jetzt machst du dich lustig über mich.» «Warum nicht? Was redest du auch fürn Quatsch. Conejo ist groß genug, um einem ein Stipendium zu verschaffen.» Das klang irgendwie schief. «Du weißt, was ich meine.» «Wie ist Mobile?» «Feucht. Heiß, nur im Winter nicht, da ist es ekel haft. Voll von Trotteln. Das einzig Gute ist das Meer.» «Das habe ich noch nie gesehen, ist es blau?» «Wie der Himmel, blau, grau oder schwarz. An flachen Stellen über Sandbänken ist es manchmal grün.» Ich blieb stehen und sah sie an. «Sag mal, was hast du bloß über den ,Don Quijote’ geschrieben, daß du gleich ein Stipendium bekommen hast? Ich hätte 287
selbst gern eins. Bei meinen Zensuren kann ich mich freuen, wenn mich die Universität von Alabama nimmt, und dazu braucht man nur ein paar eidesstatt liche Erklärungen, daß man weiß ist.» «Ich habe einfach geschrieben, es sei ein ernstes und kein komisches Buch. Ich meine, es hat komi sche Stellen, aber im ganzen ist es traurig. Ich habe geschrieben, ich glaubte, Cervantes hätte zuerst ein lustiges Buch schreiben wollen und sich dann im Laufe des Schreibens umentschlossen. Es ist das beste Buch, das ich je gelesen habe.» Wir gingen den Camino Tuerto hinauf auf das zwischen schneebeladenen Kiefern, Pappeln und Obstbäumen gelegene Haus zu. Das Land um das Haus herum war immer sauber und gut gepflegt. In den Schnee waren kleine Wege zu den Vogelkrippen und Außengebäuden geschaufelt. Amadeo arbeitete hier hart, eher wie ein Bauer als wie ein Gärtner, und mit derselben Sorgfalt wie auf seinem eigenen Land in Río Conejo. Durch die Fenster drang weiches Licht und Rauch stieg aus dreien der Eckschornsteine. Wärme und Pflege, die das Haus überall ausstrahlte, waren Excildas Verdienst. Sohn vom Boß zu sein, war immer ein sicheres, bequemes Gefühl gewesen, doch noch besser als das waren die Menschen, die das vergaßen oder es nie spürbar werden ließen oder es mir mit einem Witz, Klaps oder Flachs austrieben. Nie war ich weniger Sohn vom Boß als mit Victoria. Ich glaube, für sie war ich nichts als ein harmloser Tölpel ohne Sinn und Verstand. 288
«Ihr habt das größte Haus in Sagrado, weißt du das?» fragte sie, als wir in die Auffahrt bogen. «Mein Vater sagt, ihr habt fast neun Morgen hier mitten in der Stadt.» «So heißt es. Es ist auch eine schwere Verantwor tung. Denk nicht, daß das Fürstendasein nur aus Jux und Tollerei besteht. Täglich muß ich den Besitz ab reiten, die Leibeigenen verprügeln, Kinder im Mor gengrauen entbinden, Weihnachten Eßkörbe vertei len, Steuern eintreiben – ich kann dir sagen, es ist ein Haufen Arbeit. Ich wünsche mir manchmal, ich wäre ein Gemeiner. Lachend vor der Hütte sitzen und sich kratzen.» «Das mag allerdings ermüdend werden. Hast du je Ärger mit den Leibeigenen? Aufstände?» «Das würden sie nicht wagen. Wenn ich ausreite, führe ich meine gesamte bewaffnete Leibgarde mit. Die sehnen sich nach Ärger. Der erste, der sich nicht den Hut vom Kopf reißt, wird sofort von ei nem Gardisten gespalten vom Scheitel bis zur Sohle. Für die Kinder unter vier benutzen wir den Mor genstern.» «Wo war denn deine Leibwache neulich abends in La Cima? Hatte sie ihren freien Tag?» «Das ist eine interessante Frage. Um ehrlich zu sein, die Episode trug sich außerhalb meines Besitzes zu. Das erste Erbfolgegesetz, manchmal auch Sali sches Gesetz oder Code Napoleon genannt, besagt, daß derjenige, der bewaffnete Männer in ein fremdes Herzogtum führt, Panzerkettensteuer zahlen muß 289
oder sich verschärfter Herausforderung schuldig macht. Steht alles in der Magna Carta, sieh nach.» «Eine edle Fürstenfigur hast du gemacht, als du da im Schnee lagst und die Leute dir ins Gesicht ge spuckt haben.» «Auch ein Herzog hat seine schwachen Momente. Wir sind am Schloß angelangt. Nenn das Kennwort und die Brücken werden sich senken. Heute ist es ,Arnold und St. Georg’.» «Warum gehen wir nicht einfach rein, es ist kalt.» «Du kannst in ein Schloß nicht einfach so hinein gehen. Man muß sich den Gepflogenheiten anpas sen.» «Mir sterben die Füße ab.» «Leute wie du machen einem das Fürstsein sauer», sagte ich und öffnete die Tür. «Bleibst du zum Es sen?» «Bin ich eingeladen?» «Fürsten befehlen und laden nicht ein. Ich werde dem Diener Anweisung geben, ein weiteres Gedeck aufzulegen.» «Du redest von meiner Mutter.» «Stimmt. Tut mir leid, Fürsten haben keine sehr guten Manieren.» Meine Mutter und Jimbob schluckten es relativ freundlich, die Tochter der Köchin als Gast zum Abendessen zu haben. Schließlich war man im Krieg, da ließen sich die Vorkriegsregeln eben vorüber gehend nicht anwenden. Victoria beantwortete höf lich alle Fragen, auch die dummen, und Jimbob hatte 290
Mühe, sie nicht dauernd anzustarren. Sie war hübsch, kein Zweifel. Als Jimbob und meine Mutter anfin gen, von ihren Familien zu erzählen – eine ärgerli che, aber nicht ansteckende Gesellschaftskrankheit, an der sie beide litten –, hörte Victoria aufmerksam zu und hatte die richtigen Bemerkungen parat: «Ah, wie interessant … Man stelle sich vor … Das habe ich nicht gewußt … Unglaublich!» Devereaux’ hatten bei Oglethorpes Gründung Georgias (Sie wissen doch, wo Georgia liegt, meine Liebe?) mitgeholfen, und ein Buel war einer der kaufmännischen Wegbe reiter in Jamestown gewesen. «1707», sagte Jimbob, «wenn Sie sich das vorstellen können. Eine ganze Weile her.» «Ist Ihre Familie schon lange in Amerika, meine Liebe?» fragte meine Mutter herablassend. «Nein, nicht besonders lange, Mrs. Arnold. Mei nen Sie mit Amerika das heutige Mexiko oder die heutigen USA?» «Nun ja, ich meine doch wohl hier, in der Gegend von Sagrado.» «Das muß ich erst mal im Kopf nachrechnen», sagte Victoria. Sie kniff ein Auge zu und murmelte sowas wie: «Fünfzehn weniger sieben, einen im Sinn», und verkündete: «Dreihundertsiebenundvierzig, nein, sechsundvierzig Jahre. Im August sind sie ange kommen.» «Mal sehen», sagte Jimbob leicht verdattert, «das wäre …» «1598», sagte sie. «Dieser Teil des Landes gehörte 291
damals allerdings zu Spanien. Es waren Siedler, Un tertanen des Königs.» «Gewiß, ja», sagte Jimbob sichtlich erleichtert. «Ganz im Gegensatz zu Jamestown», sagte ich, «das von Anfang an hundert Prozent amerikanisch war.» «Ich dachte, Jamestown sei eine englische Kolonie gewesen», sagte Victoria, «auch mit einem König.» Jimbob erregte sich. «Das Wesentliche ist» – er fuchtelte mit dem Finger – «das Wesentliche ist, daß es sich um ein englischsprachiges Siedlungsgebiet handelt. Das ist die durchschlagende Besiedlung ge wesen, sozusagen. Die englischsprachige James townkolonie wurde bestimmend für Kultur und Spra che der USA. Habe ich recht?» «Si claro», sagte Victoria, «usted tiene razon.» «No cabe duda», sagte ich. «Wie wäre es mit noch etwas Huhn», sagte meine Mutter, «und wechseln wir doch das Thema.» «Und vergessen Sie nicht die Spanische Armada», warf Jimbob ein. «Bestimmt nicht, ganz gewiß nicht», sagte Victoria. «Sie wissen doch, wo Virginia ist, meine Liebe», sagte ich. Wir aßen noch etwas Huhn, das Excilda diesmal als Zugeständnis an Jimbob, der sich noch von den Pocken erholte, ohne Chile in Kräutern und Wein gekocht hatte. «Erinnerst du dich noch an dies Mädchen in La Cima?» fragte Victoria plötzlich. «Bei der Weih nachtsfeier?» 292
«Ah, ja», sagte meine Mutter, «Joshua hat mir da von erzählt, es sei sehr schön gewesen.» «Schön. Er wäre fast …» Ich trat sie unterm Tisch. «Die Atmosphäre hat mich mitgerissen», sagte ich schnell. «Das fröhliche Tanzen auf der Straße, Feuerwerk, Weihnachtsmänner, alles so bunt. Ich wollte mich unters Volk mischen, aber Amadeo und Victoria sagten, ich sollte das lieber lassen, ich sei kein Mitglied der Handelskammer oder sowas.» «Joshua ist schon als Kind ganz vernarrt in Weih nachten gewesen», sagte meine Mutter. «Es rührt ihn auch jetzt noch zu Tränen.» «Das ist mir auch aufgefallen», sagte Victoria. «Das Mädchen jedenfalls, das du unter den Zuschau ern um den …» «Um den Weihnachtschor, ja, ich erinnere mich, was ist mit ihr?» «Was für ein Mädchen?» fragte meine Mutter. «Ein Mädchen von unserer Schule. Was ist mit ihr?» «War das diese nette Amanda Suleika Cloyd? Ich hatte so gehofft, du würdest sie einmal zum Essen mitbringen.» «Nein, Amanda Suleika ist wieder in Texas», sagte ich. «Die ganze Familie mußte abreisen. Auf den Wie sen ist man auf Öl gestoßen und die Kühe fingen an, klebrig zu werden. Sie sagten, es sei Mißwirtschaft, Vieh und Öl auf einem Boden zu haben. Das Öl geht 293
ins Fleisch oder so was. Wann hast du sie gesehen, Victoria?» «Ungefähr vor einer Woche. Meine Eltern waren noch nicht aus Sagrado zurück. Tony und ich hörten ein Geräusch auf der Straße. Das Mädchen stand draußen mit einem Jungen. Sie versuchten, im Dun keln einen Platten zu flicken. Tony ging zurück und holte ihnen eine Taschenlampe, damit sie etwas se hen könnten. Das ist alles. Es war dasselbe Mäd chen.» «Wie sah der Junge aus?» «Nach einem Spanier. Er hielt sein Gesicht aus dem Licht, als wollte er nicht erkannt werden. Er sah aus wie einer von den pachuquitos aus La Cima. Ein Haufen Haare und Koteletten.» «Vielleicht betätigt sich Viola ein wenig als Für sorgerin, bevor sie ins Kloster geht», sagte ich. «Man muß das Leben wohl kennen, bevor man ihm entsa gen kann.» Meine Mutter unterbrach uns. «Es wäre mir lieber, wenn ihr bei Tisch Englisch sprecht, Joshua. Es ist unfair, uns so aus der Unterhaltung auszuschließen. Was ist ein Patschakito?» «Das ist so was wie die lokale Rockerart. Kaputtes Zuhause, unterprivilegiert, Jugendrichter, Rumstehen ums Wettbüro und den Mädchen nachpfeifen, Äpfel klauen vom Gemüsestand.» «Mord», sagte Victoria. «Mord, eben das Übliche.» «Ich möchte wetten, daß einige deiner besten 294
Freunde Patschakitos sind», sagte Jimbob. «Du bist immer infracaninophil gewesen.» «Ich gebe bereitwillig zu, Mr. Buel, das Wort ist mir in der gesamten Weltliteratur noch nicht unter gekommen.» «Es bedeutet ,Untermensch-Liebhaber’», sagte er. «Du solltest mehr lesen.» «Offenbar kann ich mich auf diese kleinen, krüme ligen Buchstaben einfach nicht konzentrieren. Seit dem Erntedankfest zum Beispiel ackere ich an die sem einen Buch herum. Ich glaube, es müßte sich glatt runterlesen, aber ich kriege davon nur Schädelbrummen. Es handelt von einem Jungen namens Dick und einem Mädchen namens Jane, und die ma chen dauernd etwas mit einem Ball. Von Zeit zu Zeit rennt ein Hund namens Spot bellend herein und un terbricht die Handlung. Es wird nicht gesagt, was für ein Hund Spot ist, aber er sieht aus wie ein Bouvier des Flandres mit einer Prise Whippet.» «Ich glaube, das habe ich gelesen», sagte Victoria. «Sind da nicht auch zwei Leute drin, die Vater und Mutter heißen?» «Erzähl mir ja nicht den Schluß. Da möchte ich mich diesmal ganz allein durchfressen.» «Du wirst wirklich unaussprechlich», sagte Jim bob. «Wir haben einen Gast, Mr. Buel. Würden Sie die Komplimente für später aufsparen? Man wird ja ver legen.» «Das solltest du auch sein», sagte meine Mutter, 295
«dich vor diesem netten Mädchen so zu benehmen. Du machst das Abendessen wirklich zur Qual.» «Ich dachte, es sei alles sehr ruhig und nett», sagte Victoria. «Bei uns zuhause sitzen gewöhnlich vier zehn Leute am Tisch, die sich gegenseitig anschreien, und ein Hund bettelt um Tortillas. Nein, es ist wirk lich sehr nett, ich danke Ihnen für die Einladung.» Ich beschloß sofort, am nächsten Morgen in den Buchladen zu gehen und Victoria Lope de Vegas ge sammelte Stücke zu kaufen. Sie hatte die besten, natürlichsten Manieren, die ich je gesehen hatte. Zu schade, daß Harvard sie nicht zulassen würde. Victoria und ich halfen Excilda nach dem Essen beim Abwaschen. Meine Mutter und Jimbob waren zum Bridge bei einem der Mädchen verabredet, der mit dem Backenbart und der schlimmen Hüfte. Unser Wagen war in der Garage aufgebockt, deshalb fuhr Amadeo sie im Lastwagen hin. Die Idee stammte von meinem Vater: Amadeo sollte unsere Benzin coupons als Abonnement benutzen. «Dies Mädchen», sagte Victoria, «in La Cima, wie heißt sie?» «Viola Lopez. Ihr Bruder ist ein Ex-pachuco, der jetzt auf die Heiligsprechung umsattelt. Viola will angeblich Nonne werden, aber ich weiß nicht. Ich glaube, sie hat Jungens entdeckt.» «Sie sieht nicht schlecht aus. Ich weiß nicht, wes halb sie nach La Cima gehen muß, um einen Freund zu finden. Dazu könnte sie wirklich was Besseres finden als den, mit dem ich sie gesehen habe. Typisch 296
macho, weißt du, so auf die Tour: ,Keine Witze oder es geht los, ja’. Und unglaublich häßlich, als hätte ihm jemand ein Ohr abgekaut.» Als ich Chango am nächsten Morgen davon er zählt hatte, sagte er, seine Eltern hätten Viola lange genug bearbeitet, um aus ihr rauszukriegen, daß sie nicht bei Pater McIlhenny gewesen war, aber mehr auch nicht. «Sie wollte nicht sagen, wo sie gewesen ist. Sie will große Spaziergänge unternommen haben voll mystischer Erleuchtungen und in Gedanken ganz bei der heiligen Therese.» «Naja, so ist es mir erzählt worden», sagte ich, «von jemandem, der sie nicht mal kennt.» «Hat sie wirklich gesagt, der Junge hätte ein komi sches Ohr gehabt?» «Abgekaut, hat sie gesagt.» «Ich glaube, wir sollten lieber Chamaco Bescheid sagen. Er geht nicht gern nach La Cima, aber es ist in Cabezón County und das ist sein Revier.» «Soll ich ihn anrufen?» fragte ich. «Ich rufe ihn an, es ist meine Schwester.» Als sie zum Essen nach Hause gingen, hätte sie Chamaco erwartet, erzählte Chango mir am Nach mittag. Chamaco sei nicht besonders hart mit ihr umgesprungen – ihre Eltern waren dabei gewesen –, aber nach ein paar Minuten hatte er alles aus ihr heraus. Einige Tage, nachdem Tarzan dafür gesorgt hatte, daß Chango ins Krankenhaus mußte, fand Viola sein Versteck. Sie hatte einen alten honcho nach ihm ge 297
fragt, der selbst die Polizei benachrichtigen wollte, aber zu feige war. Tarzan hatte sich einen Unterschlupf aus kaputten Sofas und Küchentischen mit abgebrochenen Beinen auf dem Schuttabladeplatz im Norden gebaut. Er hatte nicht daran gedacht, Essen mitzubringen, und in ein paar Tagen wäre er so ausgehungert gewesen, um sogar totes Pferd zu essen. Viola wanderte einfach zu dem Schuttabladeplatz und fand ihn da unter einer grünroten Couch verkrochen. Sie sagte, sie sei hin gegangen, um ihm zu verzeihen; ihren Rosenkranz hätte sie mitgehabt. Sie hatte mit ihm beten wollen. Seine Seele war vom rechten Wege abgeirrt, und sie wollte sie wieder zurückführen. Drei Nachmittage hockten sie fröstelnd unter der Couch und sagten Ave Marias her. Sie brachte ihm Bohnen, Brot und Wasser und suchte nach einem günstigeren Versteck für ihren Fund. Sie dachte, einer künftigen Nonne stünde das wohl an, hatte sie Cha maco erzählt. Tarzan zog in den Lagerraum der alten Kaserne, ein warmes, sicheres Versteck, das Viola für ihn aus findig gemacht hatte. Die Nationalgarde war dort schon seit 1941 nicht mehr stationiert, denn da waren sie plötzlich mobilisiert und auf die Philippinen ver schifft worden, weil die Armee annahm, ihre Spa nischkenntnisse könnten ihnen dort nützen. (Konnten sie nicht: inzwischen waren sie alle tot oder lernten in Gefangenschaft Japanisch.) Tarzan stahl Decken und ein brauchbares Klappbett. Viola brachte ihm 298
weiter Essen. Sie betete inbrünstig, sagte sie, und er mit ihr. Manchmal war sie nachts hingegangen, um weiterzubeten und ihm über die heilige Terese von Avila, Franz von Assisi und den heiligen Philipp Neri zu erzählen. Sie erzählte ihm alles, was Schwester Polycarp ihr über Nonnesein und Nonnewerden gesagt hatte. Tarzan hörte ihr wochenlang interessiert zu, nickte im richtigen Moment, stellte kluge Fragen, lernte wieder all die katholischen Gebete seiner Kindheit, nahm zu vom Essen, das sie mitbrachte, und entwickelte sich zu einem artigen Schüler. Eines Nachts im November ging er los, brach beim ,Korkenzieher’, einem Schnapsgeschäft, ein und machte sich mit zwei Fünfliterfässern La-VoragineSüßwein davon. Das eine trank er noch in der Nacht aus, und als Viola am nächsten Abend mit einer zu gedeckten Schüssel Eintopf kam, hatte er das zweite auch fast erledigt. Sie stellte die Schüssel auf die olivbraune Truhe, die sie als Tisch benutzten, sah Tarzans Augen, die Fässer, und versuchte wegzulau fen. Er erwischte sie am Knöchel, daß sie hinfiel, und dann machte er etwas mit ihr, das keine Gebete, egal wie viele, je wiedergutmachen konnten. Ruiniert wie sie war – sie hatte keine Zweifel, daß ruiniert das richtige Wort war, und die Tatsache selbst stellte sie nie in Frage –, blieb ihr wenig übrig, als ihr ruiniertes Leben weiter zu ruinieren. Dasselbe passierte dann fast jedesmal, wenn sie in die Kaserne ging. Sie fing an, Gefallen daran zu finden, sich dar auf zu freuen – die natürlichen Folgen des Ruins, der 299
einen die Dinge in veränderter Perspektive sehen und Böses gut und Gutes böse erscheinen läßt. Als es so kalt wurde, daß Tarzan die ganze Nacht in der leeren Kaserne fror, schenkte ihm Viola elf Dollar, und er kaufte sich eine Busfahrkarte nach La Cima, wo er, wie zu erwarten, Verwandte hatte. Bei Woolworth besorgte sie ihm einen Schnurrbart, dessen Enden sie herunterkämmte, damit er nicht allzu lächerlich aus sah, und einen Cowboyhut aus Filz und einen Woll schal. Den Hut trug er tief überm rechten Ohr und zusammen mit Schal und Schnurrbart war er nicht mehr zu erkennen. In La Cima hatte er keine Schwierigkeiten. Er wohnte bei einem schreibkundigen und deshalb für Fälschungen sehr gefragten Vetter. Außerdem konnte er die bestmöglichen Referenzen vorweisen: er stand wegen versuchten Mordes auf der Fahndungsliste. Unter vielen Tränen hätte Viola ihre Geschichte den Eltern und dem Sheriff erzählt, sagte Chango. Sie wäre weiter zu Tarzan gegangen, aber nicht mehr so oft. Der Vetter, bei dem er wohnte, arbeitete in Sagrado und fuhr mehrfach in der Woche hin und her und nahm sie in seinem Lastwagen mit. Sie hatte gewußt, daß ihre Geschichte mit Pater McIlhenny nicht ewig halten würde, aber es sei ihr gleich gewe sen. Sie war eine Sünderin, dies war Sünde, und des halb wollte sie denn auch gleich richtig sündigen. Ihre Pläne waren fix und fertig. Sie führe jetzt mit dem Bus nach El Paso und würde, da ihr nichts an dres übrig blieb, Prostituierte, es sei denn, sie müßte 300
ins Gefängnis, weil sie einen Verbrecher versteckt gehalten hatte. Darauf war sie auch gefaßt. Chamaco beruhigte sie und tröstete die Eltern, so gut er konnte. Zögernd schlug er vor, man sollte sie zum Arzt bringen und eine Blutuntersuchung machen lassen. «Mir hat er erzählt, es sollte ihn höllisch wundern, wenn Tarzan nicht jeden Tripper der Welt hätte», sagte Chango. «Mensch, für so blöd hätte ich sie eigentlich nicht gehalten.» «Wie meinst du das?» «Seit ich elf oder zwölf bin, hat sie immer für mich gebetet: ‚Lieber Gott, laß Maximiliano einen guten Jungen werden’ und so weiter. Dann hat sie mir Priester geschickt. Ein ganzes Jahr lang hat sie vier Tage in der Woche gefastet, ist barfuß mit zwei Eimern voll Nägel zur Guadalupe-Kapelle in Texcoco gelaufen. Nichts hat geholfen. Ich blieb immer das selbe Arschloch.» «Ich dachte, deine Desperadotage sind vorbei?» «Ja, aber damit hat sie nichts zu tun. Ich wollte so undso aufhören. Ich hatte es satt, jedesmal, wenn ir gendwo ein Reifen aufgeschlitzt oder was an die Wand geschmiert worden war, Chamaco und seine Burschen am Hals zu haben. Das ging so weit, daß Chamaco, so oft er grade nichts zu tun hatte, zu mir gekommen ist und mich vermöbelt hat. Vielleicht sieht er nicht so aus mit dem Bauch, aber er ist stark. Er sagte, er hätte noch nie einen Jugendlichen umgelegt, aber an mei nem achtzehnten Geburtstag käme er mit einer Ma gnum 357 bei mir vorbei und knalle mich ab.» 301
«Gut, das hat er nicht getan», sagte ich. «Nein. Und Viola denkt, das ist alles ihr Beten. Weil es bei mir so gut funktioniert hat, wollte sie es auch bei Tarzan versuchen, hat sie gesagt. Und mit Tarzan hätte es genauso funktioniert, wenn er sich nicht in der einen Nacht betrunken hätte.» «Was will Chamaco jetzt mit ihm machen? Wenn er sich in La Cima verkrochen hat, kriegen sie ihn da höchstens mit einer Panzerdivision raus.» «Ich glaube, er hat sich etwas ausgedacht. Den ganzen Winter hat er nicht nach Tarzan gesucht, weil er dachte, er sei tot. Jetzt ist er doppelt sauer.» Steenie und ich gingen nach der Schule aufs Re vier, um uns eine polizeiliche Vollmacht geben zu lassen. Wir wußten, wie so was im Kino aussieht: man legt den Eid ab, und der Sheriff schmeißt einem die Armbinde hin und setzt dich auf die Lohnliste. Chamaco sah nicht begeistert aus. «Ich kenne ein paar idiotensichere Abführgriffe, Sheriff», sagte Steenie. «Da brauchen Sie nicht mal Handschellen. Ich drückte bloß etwas, wenn er auf den Putz haut, und schnapp springt der Ellbogen raus.» «Hilfe», sagte Chamaco. «Ich kann ihn identifizieren», sagte ich. «Einmal habe ich ihn von ganz nah gesehen. Ich könnte ihn in einem Haufen Leute erkennen. Und ich kann mit ei nem Revolver und einem automatischen Gewehr umgehen.» «Ihr seid wirklich blutrünstig, heh?» 302
«Kein bißchen», sagte Steenie. «Wir wollen nur für Gerechtigkeit sorgen. Wenn Sie alle Ihre Unter gebenen da raufschicken, wer soll denn dann auf den Laden hier aufpassen? Das gibt eine Flut von Verbrechen, während Sie weg sind.» «Wenn Sie wegen der Verantwortung Sorgen ha ben», sagte ich, «unterschreibe ich, daß es auf meine eigene geht.» «Geben Sie Arnold ein Gewehr», sagte Steenie. «Ich werde überhaupt keine Waffe brauchen. Mein Kommandotraining wird sich bezahlt machen.» «Und euch soll ich eine Vollmacht geben?» «Wäre das nicht besser?» fragte ich. «Ich nehme an, wir könnten auch eine zivile Verhaftung vorneh men oder wie das sonst heißen mag, aber mit den Armbinden sähe es offizieller aus. Ich rufe nur eben meine Mutter an und sage ihr …» «Laß mich auch mal was sagen, ja?» sagte Cha maco. «Bevor du ein Wort sagst, will ich euch mal was erzählen.» «Wenn Sie sagen wollen, es sei gefährlich», fing Steenie an, «das wissen wir.» «Halt den Mund!» Chamaco stand auf und setzte sich seinen Cowboyhut auf. Dann ging er zur Tür und brüllte: «Alfonso, komm her.» Ein kleiner, drahtiger Polizist kam auf einem Zahnstocher kauend herein. «Alfonso, das ist Joshua Arnold, weißer Amerika ner, männlich, siebzehn Jahre alt. Besondere Kenn zeichen keine. Arnold hat eine kleine Narbe am Kopf. Zwei Großmäuler.» 303
«Jawohl», sagte Alfonso. «Arnold ist der, der herausgefunden hat, wo Ve larde steckt.» «Jawohl.» «Die wollen eine polizeiliche Vollmacht von mir und mir beim Einsammeln helfen.» «Tatsächlich?» «Der da ist ein Guerilla oder so, und der andere ein Scharfschütze. Beide äußerst gefährlich.» «Jawohl.» «Ich geh jetzt los und schnapp mir den Velarde. Behalt die Spinner zwei Stunden hier, dann kannst du sie nach Hause gehen lassen.» «Das können Sie nicht machen», sagte Steenie, «mein Vater ist …» «Weiß ich. Dein Vater ist Steuerzahler. Und deiner auch. Heute sollen sie mal was für ihr Geld haben. Alfonso paßt auf, daß keiner von euch ins Gras beißt, und wenn ihr nach Hause kommt, freut sich die Mammi, daß ihr gesund wieder da seid und macht euch was Schönes zu essen und steckt euch in die Heia.» «Wollen Sie allein nach La Cima?» fragte ich. «Sollten Sie nicht etwas Unterstützung mitnehmen?» «Arnold, La Cima ist mein einziger Spaß hier. Ich bin seit dreiundzwanzig Jahren Sheriff und habe fast nur mit Spinnern zu tun gehabt. In dreiundzwanzig Jahren hat es nur drei Morde in Sagrado gegeben, zwei davon mit mildernden Umständen – Messerste cherei in den cantinas – und der dritte war Totschlag. 304
Es gibt einfach nichts zu tun. Nichts als Halbaffen. Die schmeißen Scheiben ein und schlitzen Reifen auf, erschrecken Mädchen, bewerfen Köter mit Steinen und beschmieren die Wände. Das ist keine Arbeit für die Polizei, sondern für den Kindergarten. Das Ge richt schickt sie einfach nach Hause. Manchmal ödet es mich derartig an, hier rumzusitzen, daß ich lieber runtergehe und den Verkehr regele. Manchmal bete ich, daß ein Pfadfinder sich in den Bergen verläuft, damit ich eine Suche organisieren kann und ein paar Tage Wandern und Reiten einstreiche. Und einmal im Jahr ist in La Cima so viel Putz, daß die Polizei eingreifen muß – darauf warte ich. Wenn ich nach La Cima komme, spucken mir die Leute aufs Auto und bewerfen mich mit Steinen. Einer hat sogar mal mit einer Hirschflinte auf mich geschossen und mir die Windschutzscheibe zerlöchert. Nur so erinnere ich mich manchmal daran, daß ich Polizist und keine Fürsorgerin bin. Und ihr Affen wollt mir meinen Spaß und meine Gymnastik nehmen? Wenn ihr mir wirklich einen Gefallen tun wollt, geht los und macht einen Bankraub oder erschießt den Bürgermeister.» «So habe ich das bisher nicht betrachtet, Sheriff», sagte Steenie. «Hals- und Beinbruch.» «Wollt ihr ein Eis am Stiel auf Kosten der Ge meinde, während ihr hier seid? Das gehört zu unse ren kleinen Aufmerksamkeiten.» «Nein danke», sagte ich. «Kann ich meinen Anwalt anrufen?» fragte Steenie. «Das ist illegale Festnahme.» 305
«Laß sie um zwanzig nach vier gehen, Alfonso.» Chamaco verschwand. Wir blieben eine Stunde in seinem Büro und lasen uns gegenseitig Steckbriefe und Erläuterungen zu Fingerabdrücken vor. Steenie fand eine Ausgabe des Strafgesetzbuches, und wir überlegten, wie Tarzans Anklage lauten könnte. Indem wir seine Missetaten etwas auswalzten, kamen wir auf versuchten Mord, Vergewaltigung, Verletzung öffentlichen Eigentums, Raub, Einbruch, Verstoß gegen das Alkoholgesetz; dazu möglicherweise Entzug vor Stellungsbefehl und unerlaubtes Führen eines Motorfahrzeugs. Falls er nicht bei Chamacos Ankunft schlief, kam sicher noch Widerstand gegen die Staatsgewalt hinzu. Abends zuhause ließ ich das Radio an, um Nach richten über die Ereignisse in La Cima zu hören, aber es wurde nur vom Krieg geredet. Der Ortssender be saß ohnehin keinen eigenen Nachrichtendienst, und die Reporter vom Conquistador hatten entweder noch nie von Tarzan gehört oder alles Interesse ver loren. In Europa taute es, und unsere Truppen rück ten langsam wieder vor, nachdem die Front begradigt war. Die Deutschen hatten mit einer Ausnahme alle Rheinbrücken gesprengt; über die eine hatten wir Infanterie hinübergeschickt. Aber nichts über Tarzan, bis am nächsten Nachmittag die Zeitung erschien. Chamaco hätte Unterstützung brauchen können. Vielleicht nicht gerade von Steenie und mir, aber trotzdem. Passiert war folgendes: er war mit einem Behördenwagen nach La Cima gefahren, hatte da 306
gewendet, den Wagen mit der Schnauze bergab ge parkt und war zu Tarzans Vetter gegangen. Tarzan hatte nicht versucht, wegzulaufen. Nach dem Bericht hatte er auf einem Klappbett gelegen und mit seiner hojita an einem Stück Holz herumgeschnitzt, als Chamaco reinkam und «Komm mit, Tarzan» sagte. Velarde war ihm nach draußen auf die einzige Straße des Ortes gefolgt. Der größte Teil der Bevölkerung sah schweigend zu, als sie auf das Polizeiauto zugin gen. Da schnellt Tarzan blitzschnell mit einem Mes ser in der Hand herum. Er hatte auf Chamacos Augen gezielt, aber danebengestochen und ihm mit einem halbmondförmigen Schnitt von Augenbraue zu Au genbraue die Stirn aufgeschlitzt. Ein breiter Fleischfetzen fiel Chamaco über die Augen, und Blut lief ihm über Gesicht und Jacke. «Verdammt nochmal», sagte er mit müder, gelangweilter Stimme, trat einen Schritt zurück, schob sich den Lappen Stirn mit der linken Hand hoch, wartete, bis er wieder etwas sehen konnte, und schoß Tarzan in die rechte Schulter, etwa da, wo ein Entenschütze den Gewehrkolben anlegt. Tarzan setzte sich hin und schrie. Chamaco stand da, sah ihn an, hielt mit der freien Hand seinen Kopf zu sammen und blutete. Niemand rührte sich, ihm oder Tarzan zu helfen. Das dauerte fünf oder zehn Minu ten. Nach einer Weile war klar, daß Tarzan nirgend wohin wollte, und Chamaco versuchte, jemanden zu finden, der den Wagen nach Sagrado zurückfahren würde. Die Leute, die er fragte, schworen, sie könn ten nicht lenken. Es war aussichtslos. Da ratterte und 307
schlingerte plötzlich mit sieben Stunden Verspätung der blaue Bus nach La Cima herein. Eine Vergaser panne. Chamaco und der Fahrer luden Tarzan an Bord und waren bei Sonnenuntergang in der Stadt zurück. So oft der Bus ein Schlagloch erwischte, schrie Tarzan auf.
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20. Kapitel
Der Frühling kam und ging mehrmals im März und April. Rotkehlchen stellten sich ein und erfroren. Aus Schauern wurde erst Hagel, dann Schnee. Der Conquistador brachte eine Bildseite ,Frühlingsfieber in Sagrado’ mit sämtlichen gängigen Klischees: murmelspielende Knäblein, die ersten Krokusse, plätschernde Bächlein, das erste Baseballspiel des Jahres im Freien etc. Als die Fotos zwei Tage nach ihrer Aufnahme erschienen, lag dreißig Zentimeter Neuschnee, die ersten Krokusse waren schwarz und erfroren und das Baseballfeld war kaum wiederzu finden. Sagrado lag zwar auf der richtigen Breite für den Frühling, nur nicht auf der richtigen Höhe. Die Zeitung brachte auch noch andere aktuelle Nachrichten. Eine Meldung der Associated Press aus Muleshoe in Texas lief unter der Überschrift ,Ehemalige Einwohner Sagrados verletzt’ und be richtete, ein gewisser John Cloyd sei von einem Milchwagen in Muleshoe überfahren worden und erhole sich langsam von einem verrenkten Rückgrat. Wir freuten uns, daß er wieder aktiv war; das Geld kann er für seine Enkel gut brauchen. Ein Heeresbe richt meldete bald darauf, daß Buckminster Swenson, ehemaliges Sportaß am De-Crispin-Gymnasium, in 309
Camp Chaffee in Arkansas zum Rekruten des Mo nats ernannt worden und Meisterschütze im Gewehr schießen geworden sei. «Ich wußte, daß wir ihn un fair beurteilten», kommentierte Steenie. «Er hat das Zeug zum Gefreiten.» Im April entdeckte ein Nach bar im großen, düsteren Haus Mrs. De Crispins Lei che. Der Amtsarzt sagte, es sei ein Herzschlag ge wesen, wie es bei Frauen ihres Alters nicht selten vorkäme (wir erfuhren, daß sie erst siebenundacht zig Jahre alt war), und daß sie friedlich aus dem Le ben geschieden sei. Daran glaubte keiner von uns. Als sie gefunden wurde, lag sie auf den Kissen ne ben ihrem Lagerfeuer im Salon und hielt einen ver zierten Comanchenspeer in der Hand, ein wahres Sammlerstück, an dem drei alte, guterhaltene Kio waskalps baumelten. Zum Begräbnis bekamen wir alle frei. Ihr Testament forderte eine indianische Be stattung, aber die Pueblos, die sie stets für einen Unglücksboten gehalten hatten, wollten da nicht mitmachen. Marcias Vater hielt die Predigt und las die Standardpassage aus dem Anglikanischen Ge betbuch, anschließend einen wortgewaltigen Auszug aus Häuptling Josephs Kapitulationsrede vor Gene ral Howard und Oberst Miles. «Hört meine Worte, Häuptlinge. Ich habe gekämpft. Doch vom jetzigen Stand der Sonne an werde ich nicht mehr kämpfen, nimmermehr.» Eine anständige, rührende Geste, fanden wir, geistig, ja auch inhaltlich ganz vom an glikanischen Geist durchdrungen, wie Marcia später unter Tränen erläuterte. 310
Romeo Bonino war auch beim Begräbnis und tat große Trauer über den Tod seiner früheren Mäzenin kund. «Hätte ich bloß etwas Indianerblut in den Adern, jahrelang hätte sie mich unterstützt. Andrer seits, wie würde die Kunst heute aussehen, wäre Mi chelangelo ein Comanche gewesen? Für so was muß sich irgendwie eine gerechtere Lösung finden.» Er war in Begleitung seines neuen Modells, einer großen, lächelnden Rothaarigen namens Gwendolyn. Sie sei eine begehrte Figur in allen Ateliers der Royal Street in New Orleans gewesen, bevor der hohe Feuchtigkeitsgehalt der Luft in Louisiana ihr ein Ge fühl von permanentem Ertrinken suggerierte. «Wir haben sie inzwischen wieder hübsch trocken ge kriegt, was, Gwendolyn?» «Ja, Liebling.» «Und kochen kann sie! Was hast du gestern ge macht?» «Das war gar nichts, bloß gumbo aux herbes, Süßer. Das ist ein Kinderspiel. Warte bis ich eine doberge mache.» «Hast du sowas überhaupt schon mal gehört, Josh? Süß und weich wie Honig. Wann kommst du zum Essen?» «Sagt Bescheid, wenn es rote Bohnen mit Reis gibt. Ich bringe dann einen Bordeaux mit, soll mein Vater sagen, was er will.» Gwendolyn jammerte über die Kälte – viele aus dem Süden haben scheinbar die Eigenart, bei minus zwanzig Grad anzufangen zu frieren –, und Romeo 311
geleitete sie vom Grab zu seinem Lastwagen vor dem Friedhof. «Diese hier könnte sich, glaube ich, als dauerhaft erweisen», sagte ich. «Eben wegen der kreolischen Küche.» «Sie hatte keinen Büstenhalter an», sagte Marcia. «Hast du gemerkt?» «Eine schamlose Dirne, findest du nicht?», sagte Steenie. «Einfach obszön finde ich das, und dann noch auf einem Begräbnis.» «Schade», sagte ich, «daß sie nicht in ihrer Arbeits tracht gekommen ist, nackt und mit stierem Blick. Du bist wohl immer noch sauer, daß Romeo dich nicht haben wollte.» «Große Bildhauerei bedarf eines Busens», sagte Steenie. «Sieh dir die Venus von Milo an.» «Sieh dir all die dicken holländischen Bauernmäd chen von Rubens an», meinte ich. «Sieh sie dir selbst an.» Marcia schmollte. «Mit all den Drüsen hat man ab vierzig nur Ärger.» Der Friedhof lag auf einem niedrigen Hügel im Norden der Stadt. Die Leichen genossen einen schö nen Blick auf die Berge, falls sie Interesse hatten. Wo Schatten war, lag noch Schnee, und die Gipfel waren weiß. Im Tal schlugen bereits die Bäume aus; in Sagrado waren sie noch kahl. Es war eine so schöne Stadt, sogar am Ende des Winters, die weichen Brauns und Graus schienen aus der Erde zu wachsen. Nichts ragte heraus, nichts hob sich ab. Sogar die Schule, die deutlich von hier zu sehen war, lag teil 312
weise verdeckt von blattlosen Bäumen und gab der fremd wirkenden Stadt eine beruhigende amerikani sche Note wie ein Bahnhofslager in Nebraska. «Wieviele Einwohner hat Sagrado?», fragte ich Steenie, als wir langsam den Hügel hinuntergingen. «Ich weiß es nicht. Sieben- oder achttausend. Mein Vater sagt, solange er hier ist, ist es nicht viel größer geworden, also seit 1925. Er ist hier der zweite Anglo-Arzt. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, daß man ihn Anglo nannte, eine Beleidigung für ei nen Griechen, sagt er. Hat irgendwas mit Politik zu tun. Damals hat es hier fast nur Spanier gegeben. Beide Senatoren waren Spanier, und die Kinder hat ten in der Schule noch Mühe mit Englisch.» «Nach dem Krieg wird es größer werden», sagte Marcia, «paß mal auf. Da kommen sie alle nach Hause und wollen alles ummodeln. Sogar die Straßen werden sie pflastern und die cienga trocken legen.» «Gott, hoffentlich nicht», sagte ich. «Ich mag es ge rade so wie es ist. So fühlt man, man kann sich …» «Verstecken», sagte sie. «Verstecken vor Krieg, großen Städten, wirren Menschenhaufen, Reihenhäu sern, reichen Leuten, die mit Geld nur so um sich schmeißen … oh!» Sie berührte meinen Arm. «Dich meine ich nicht. Dein Vater ist nicht so. Er ist hierher gekommen, weil er im Sommer nicht in Mobile blei ben wollte. Mein Vater und deiner haben oft zusam men Schach gespielt. Entweder kam er zu uns ins Gemeindehaus oder sie gingen auf die Plaza und ha ben da auf einer Bank gespielt.» 313
«Ich weiß. Er hat immer gesagt, er wollte sich hier endgültig niederlassen, sobald er aufhöre zu arbeiten. Er wollte wie Odysseus mit einem Ruder auf der Schulter landeinwärts gehen und irgendwo bleiben, wo keiner wüßte, was ein Ruder ist.» In der Zebulon Pike Street sahen wir einem alten Mann zu, der langsam mit einer Reihe Esel vorbei kam. Jeder Esel trug eine unmögliche Last duftenden Kiefernholzes, das auf Kamingröße zugehackt war, und der Alte bedrohte sie leise auf Spanisch mit Ex kommunikation und Verstümmelung. «Bestimmt arbeitet sein Sohn in einer Waffenfa brik in Phoenix», sagte Steenie, «und ich möchte wetten, daß sein Enkel beim Militär ist. Wenn der Krieg aus ist, werden die mit dem Holzgeschäft nicht mehr anfangen wollen. Bald gibt es keine Esel mehr außer im Zoo, und ganz Sagrado hat Zentralheizung. Die Lehmhäuser reißen sie ab und setzen statt dessen neue Plastikklötze hin. Dem ersten, den man Spa nisch sprechen hört, entzieht der Rotary-Club die Mitgliedschaft und seinen Elchzahn, oder was sie da haben, muß er abgeben.» Bevor wir uns trennten, kauften wir den Conquista dor auf der Plaza. Die Russen standen in den Vororten Berlins; kein Wort über Hitler. «Der wird irgendwo in Berchtesgaden sein und die Gemsen aufnorden», grübelte Steenie. «Wenn sie den kriegen», sagte Marcia, «sollten sie ihn dem Oberrabbi übergeben und ihn eine große öffentliche Beschneidung mit dem Deckel einer Sar 314
dinenbüchse vorführen lassen. Der Rabbi sollte mög lichst besoffen sein, daß ihm die Hand zittert.» «Also alles hat der Krieg ja nicht geändert», sagte ich. «Du bist immer noch dasselbe süße kleine Mäd chen wie früher. Mich wundert, daß die Hunde dir nicht nachkläffen. Frankensteins Monster und die Mumie bellen sie immer an.» «Ich wünsche mir nichts weiter, als daß Roosevelt noch am Leben wäre und es miterlebte», sagte sie. Sein Tod vor zwei Wochen hatte uns alle hart getrof fen, und an das neue Jesus H. Truman Christus hat ten wir uns noch nicht ganz gewöhnt, es mußte wohl irgendwie schief klingen. «Was geht ihr beiden Dussel nicht auch irgendwohin an die Front, daß ich stolz auf euch sein kann? Ihr seid beide alt genug. Sind die Deutschen erledigt, gibt es immer noch genug Japa ner.» «Ich habe schon seit Jahren solche Schmerzen im Unterleib», sagte Steenie, «in der Gegend vom Kreuzbein. Das habe ich mir wohl beim Kommando training geholt. Für den Wehrdienst bin ich völlig untauglich, Stufe sechs.» «Ich nicht», sagte ich. «Ich melde mich zum Küs tenschutz. Flache Boote mit geringem Tiefgang, so was kann ich brauchen, wo die Torpedos drunterweg und nicht hineingehen. Natürlich will ich vorher erst mein Abitur machen und das Staatsexamen einiger maßen vorbereiten. Der moderne Küstenschutz hat keinen Bedarf an ungelernten Arbeitskräften.» «Sobald der Krieg in Europa aus ist, gebe ich mich 315
dem erstbesten hin, der mir in Uniform begegnet. Das wird mein persönlicher Beitrag, ein Opfer, das der Krieg von allen fordert, ein großherziger Akt der Nächstenliebe.» «Sieh lieber zu, daß du hier oben noch ein bißchen ansetzt», sagte Steenie. «In Frankreich und Italien sind die Jungs vielleicht ein wenig wählerisch ge worden.» «Viele werden mit interessanten Krankheiten zu rückkommen», sagte ich und schob mir das Haar mit dem Handballen zurück. «Hunnerprosent. Ludwig van Beethoven.» «Das läßt sich heute heilen», sagte Steenie. «Mein Vater hat es mir genau erklärt. So ein Zeug aus de stilliertem Brotschimmel, dauert drei Tage.» «Gibt es schon was gegen Grünen Tripper oder Rote Bauchfäule? Das soll doch so verbreitet sein. Irgendwo habe ich gelesen, daß 93,6% aller Gefreiten zwischen achtzehn und zweiundvierzig Jahren das haben. Die Fingernägel schrumpeln wie Zellophan, und am ganzen Körper brechen gelbe Beulen …» «Damit jagst du mir keine Angst ein», sagte Mar cia. Steenie ging, und ich brachte Marcia nach Hause. Es machte Spaß, spazierenzugehen, jetzt, wo der Schnee fort war. Wir hatten uns an den Händen ge faßt, ließen die Füße über den Lehmboden schlurfen und atmeten tief ein, um den ersten, weitgehend ein gebildeten Frühlingshauch zu spüren. «Ich glaube, ich gehe nach Barnard», sagte sie, als 316
wir am Gemeindehaus angekommen waren. «Meine Mutter ist dort gewesen. Ich habe eine Heidenangst, daß ich zu dumm bin. Mein armer Vater, das bräche ihm das Herz.» «Das wird schon klappen. Den Mädchen aus New York bist du schon eine Brustlänge voraus, was Fä cher wie Großschnäuzigkeit und Fluchen angeht.» «Gehst du tatsächlich nach Harvard? Von de Cris pin ist bestimmt noch niemand da gewesen.» «Das ist immer ein armseliger kleiner Traum mei ner Mutter gewesen. Eher gehe ich nach Alabama. Das ist mehr meine Kragenweite: vierzig Burschen schaften und ein Hörsaal, und da wird über die Ge schichte der Konföderation gelesen. Das Renommee besteht trotzdem nicht zu Unrecht. Seit 1831 kann niemand sie der Erziehung beschuldigen.» «Wo willst du wirklich hin? Ist es dir gleich?» «Ist Barnard in Columbia?» «Ja.» «Ich will nach Columbia.» Marcia errötete wie ein kleines Mädchen und küßte mich auf die Backe. «Du bist einfach der netteste Junge vom ganzen Block.» Dann rannte sie ins Haus. Amadeo kam mir an der Tür entgegen und faßte mich am Arm. «Komm rein, mein Junge, komm rein. Wir haben schlimme Nachricht.» Excilda schrie und weinte in der Küche. Jimbob blökte am Telefon über einen schlechten Anschluß. Meine Mutter saß mit geschlossenen Augen steif und unnatürlich in einem Sessel im Wohnzimmer und hielt sich die Ohren zu. 317
Das Telegramm, das elende Telegramm, das in jedem Kriegsfilm vorkommt, lag auf dem Kaffeetisch. Dr. Temple gab ihr ein paar Stunden später eine Spritze. Wir trugen sie ins Bett, als sie zusammen klappte. «Kommen Sie in zwei, drei Tagen zu mir», sagte er, «hier scheint irgend etwas vorzugehen.» Ich bat Amadeo und Excilda nach Hause zu gehen; es gab im Augenblick nichts für sie zu tun. Als sie weg waren, kam Jimbob zu mir und legte mir mit männli cher Geste die Hand auf die Schulter. «Ich habe auch meinen Vater verloren. Ich weiß, wie dir zumute ist.» «Tun Sie mir einen Gefallen, bitte nur diesen einen Gefallen.» Ich fand ein paar Dollar in meiner Briefta sche und gab sie ihm. «Schlafen Sie heute nacht in der Post. Wenn das hier nicht reicht, lassen Sie es auf Rechnung meines Vaters gehen.» Ich rief Marcia und Steenie an und sagte es ihnen. Anschließend – erst vergewisserte ich mich, daß meine Mutter auch schlief – ging ich zu Romeo und sagte es auch ihm. Er nahm mich in die Arme und sagte: «Scheiße. Immer die Besten. Jedes verdammte Mal.» Gwendolyn machte mir eine Tasse Kaffee, und ich ging wieder nach Hause. Als meine Mutter spät am nächsten Nachmittag aufwachte, hielt sie sich wieder die Ohren zu und rührte sich nicht. Ich sah, daß sie nicht einmal aufge standen und ins Bad gegangen war und rief Dr. Tem ple an. Irgendwas habe ich ihm unterschrieben. Eine Schwester half ihr in den Krankenwagen. «Das ist ein sehr fragwürdiges Verhalten», sagte Dr. Temple. 318
«Kommen Sie bitte in ein paar Tagen zu mir in die Praxis. Telefonisch können Sie mich jederzeit errei chen. Lassen Sie sich von Sigmund nicht abschrecken, er geht nicht mehr ans Telefon.» Mr. Günther kam. Ich zeigte ihm den Zettel, den ich unterschrieben hatte. Das ginge vorübergehend so, sagte er. Aus Mobile rief Paolo Bertucci an. «Gott, Josh, mein Gott. Es ist furchtbar. Lieber Gott, warum gerade er?» «Ich weiß es nicht. Es ist einfach so.» «Auf der Werft ist alles in Ordnung. Heute haben wir geschlossen, weil … Trauer. Verflucht nochmal, ist der Krieg nicht schon fast aus, um Himmels willen! Was ist es gewesen, weißt du das?» «Eine Mine, steht im Telegramm. Wo, steht nicht drin.» «Verdammte Schweine. Mein Gott. Hoffentlich war es eine deutsche und keine italienische Mine. Ich werde noch meinen dreckigen Namen ändern.» Er erzählte noch mehr von der Werft. «Anwälte überall. Lauter flinke Kerlchen vom Rüstungsausschuß wet zen rum und machen ein besorgtes Gesicht. Sag mal, wer zum Teufel ist James Buel?» «Ein … Freund meiner Eltern. Warum?» «Der hat hier gestern angerufen. Angeblich von euch, stimmt das?» «Ja, er wohnt bei uns.» «Er hat es mir gesagt mit deinem Vater. Dann stellte er einen Haufen dumme Fragen wegen des Geldes. Kriegt ihr nicht jeden Monat den Scheck?» 319
«Doch, soviel ich weiß, ja? Fünfhundert im Monat, oder?» «Genau, dieser Idiot schien sich jedenfalls gräßli che Sorgen zu machen, daß das jetzt aufhören würde. Warum zum Teufel soll das eigentlich aufhören? Und was geht ihn das überhaupt an? Ich war von der Nachricht über Frank so völlig vor den Kopf ge schlagen, keine Ahnung was ich ihm geantwortet habe. Er könnte mich mal kreuzweise, glaube ich. War das richtig?» «Und wie, das paßte.» «Gut. Also. Hör zu, deine Mutter und du, kommt ihr hierher? Ich weiß nicht, wie das Testament lautet, aber wahrscheinlich seid ihr jetzt die gemeinsamen Eigentümer der Werft. Ich meine, ich komme allein klar damit, aber wir brauchen doch sehr bald eine Vorstandssitzung.» «Meine Mutter ist im Krankenhaus, Mr. Bertucci. Die Nachricht hat sie sehr mitgenommen. Können Sie nicht einfach weitermachen und die Vorstands sitzung ohne uns abhalten?» «Deine Mutter. Lieber Gott, Josh, was tut es mir leid. Gut, mein Gott, ich mache erst mal weiter so, bis ich Bescheid von den Anwälten habe. Paß um Himmels willen auf dich auf. Der elende Krieg.» «Könnten Sie mir Geld schicken?» «Geld? Natürlich. Ich kann haufenweis Sachen machen. Wie viel brauchst du?» «Ich weiß es nicht. Einiges müßte vielleicht erle digt werden und dafür brauche ich etwas. Geht …» 320
Ich nannte die größte Summe, die ich mir vorstellen konnte. «Zweitausend Dollar, geht das?» «Ich schicke dir sofort einen Scheck. Laß es dir gut gehen, Josh. Gott, es tut mir leid.» Ich bin nicht wieder in die Schule gegangen. Dann bekam ich einen Brief, 1945 könnte ich nicht die Prüfung mit der Klasse machen. Ich antwortete, ich bäte um Entschuldigung. Am nächsten Tag rief mich Mr. Günther an. «Ich habe deinen Brief bekommen, Joshua. Ich bin Vorsitzender im Schulausschuß.» «Das wußte ich nicht. Ich bitte nochmals um Ent schuldigung.» «Wir haben das heute morgen besprochen. Du hast ausgezeichnete Zensuren und nach Meinung der Lehrer einen guten Einfluß auf die Klasse aus geübt.» «Meinen Sie da nicht jemand anders?» «Wie auch immer. Jedenfalls geben wir dir den Abschluß. Eine deiner Lehrerinnen war bei der Be sprechung und hat sich sehr für dich eingesetzt. Mrs. Loughran. Ich … äh … kann dir ruhig sagen, ich habe das auch getan. Könntest du übrigens zu mir ins Büro kommen? Jetzt gleich?» Als ich ankam, saß Jimbob da. Seit dem Abend, an dem das Telegramm angekommen war, war er nicht mehr bei uns gewesen. Fit sah er aus, der Gauner. «Mr. Buel hat mir einen, ich würde sagen, äußerst eindrucksvollen Vorschlag gemacht. Einen Vor schlag, der, wie ich sagen darf, strotzt vor …» «Deine Mutter ist schwer krank, Joshua», sagte 321
Jimbob. «Gebrochen. Sie wird Unterstützung brau chen. Eine so empfindliche, zarte Frau.» «Mr. Buel scheint recht zu haben. Ich habe aus führlich mit Dr. Temple gesprochen. Es scheint ihr wirklich schlecht zu gehen, eine Art Zusammen bruch, verursacht ohne Zweifel durch Trauer und Sorgen.» «Zweifelsohne», sagte Jimbob. «Mr. Buel, der, wie er versichert, nur dein Bestes will, hat vorgeschlagen, daß er dir zum Vormund be stellt wird, da deine Mutter, was alles Praktische be trifft, ihre elterlichen Pflichten gegenwärtig nicht wahrnehmen kann.» Ich sah kurz zu Jimbob hinüber. Er sah gesammelt und elegant aus in seinem alten Virginiatweed, und sein Gesichtsausdruck wäre fast fromm gewesen, hätte er sich nicht die Lippen geleckt. «Muß ich einen Vormund haben?» «Nein», sagte Günther. «Nein, du mußt nicht. Das Testament deines Vaters ist bisher nicht verlesen worden – vor der Versammlung des Schulausschus ses habe ich mit seinem Anwalt in Mobile gespro chen –, aber von jetzt an wärst du das einzige hand lungsfähige Mitglied der Familie. Du bist … sieb zehn?» «Ja. Nächsten Monat werde ich achtzehn.» «Erinnerst du dich an unsere frühere Unterhaltung wegen der Urkunde, die dein Vater geschickt hatte? Ich erläuterte dir die Mündigkeitserklärung.» «Ich erinnere mich.» 322
«Wir können ohne die geringste Schwierigkeit eine beschränkte Mündigkeit durchbekommen. In bestimm ten Angelegenheiten verlierst du deinen Rechtsstatus als Minderjähriger. So wirst du einen Vormund nicht brauchen. In Rechtsfragen können das Gericht und ich dich leiten.» «Der Junge braucht eine straffe Hand», sagte Jim bob. «Ich würde mich schämen, seiner Mutter ins Gesicht zu sehen, erlaubte ich … Mr. Günther, als enger Freund der Familie Arnold, als ihr ältester Freund …» «Mein Vater konnte Sie nicht riechen, Mr. Buel. Nein, das stimmt nicht. Er hat Sie für eine Art Schmetterling gehalten. Sie haben ihm wohl sogar leid getan. Seit bald einem Jahr schmarotzen Sie von ihm. Warum fahren Sie nicht zur Abwechslung nach Wisconsin und schmarotzen dort eine Weile?» «Das ist eine Lüge. Nichts als eine gemeine, kindi sche Lüge. Mr. Günther, ich flehe Sie an. Überlegen Sie. Überlegen Sie, bevor Sie die Zukunft einer be deutenden Werft des Südens einem Jungen in die Hände fallen lassen.» «Ach ja, die Werft», sagte Günther. «Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich darauf gebracht haben. Was wäre sie Ihrer Meinung nach wert?» Jimbob zögerte nicht. «Na, also ich bin sicher, sie brächte auf Anhieb 3,7 Millionen.» «Joshua, hier habe ich die nötigen Papiere. Richter Chavez ist bis drei Uhr im Gericht. Natürlich darfst du noch nicht wählen oder Alkohol trinken, aber …» 323
Als wir über die Straße zum Gericht gingen, sagte er: «Weißt du, dein Vater hat mich mal einen pompö sen Pferdearsch genannt. Mag ja vielleicht stimmen, aber meinen Spaß kann ich immer noch finden, und das eben war ein Spaß. Wer ist der Mensch eigent lich?» «Ein Freund der Familie. Das stimmt tatsächlich. Ich kenne ihn seit einer Ewigkeit.» «Den Süden werde ich nie begreifen», sagte Gün ther.
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21. Kapitel
Amalie Ledoux, die Gute aus Mobile, fuhr mit dem Zug nach Albuquerque und nahm den Bus nach Sa grado. Sie hatte alle Papiere bereit. Ich signierte mit meiner neuen emanzipierten Unterschrift, und im Handumdrehen schien sich alles zu vereinfachen. «Ich werde euch einen guten Preis beschaffen, Josh. Aber es ist mir ein Rätsel, wie Ann und du euch von dem alten Haus trennen wollt.» «An dem Haus mag ich nichts als die Badewanne mit den goldenen Löwenpfoten.» Sie besuchte meine Mutter in der Klinik. Als sie wiederkam, weinte sie etwas. «Sie scheint nicht ganz richtig zu sein. Weißt du, was ich meine? Aber es geht ihr bestimmt nicht so schlecht, wie ich gedacht habe. Einmal hat sie gesagt, Frank müßte ja jetzt bald wiederkommen, wo der Krieg aus ist. Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte, da habe ich einfach zur Abwechslung mal den Mund gehalten. Dann hat sie mich eine Weile lang angesehen und schließlich gesagt: ,Nein, er kommt doch nicht, und wem will ich eigentlich damit etwas vormachen?’» «Das sind die Dinge, die Dr. Temples Selbstbe wußtsein stärken», sagte ich. «Wiederherstellung der Umweltaufnahme oder so nennt er das. Weißt du, 325
daß es ihre Idee war, das Haus in Mobile zu verkau fen und hierzubleiben? Mobile sei so schwül und drückend. Wenn das kein klares Denken ist, weiß ich nicht, was sonst.» Amalie goß sich einen Bourbon ein und stöberte im Haus herum. Sie konnte kaum glauben, daß es aus Schlamm sei. «Ich garantiere dir, es ist Schlamm», sagte ich. «Wenn du so was in Mobile bautest, wäre es in zwei Wochen auseinandergelaufen.» Als sie ausgetrunken hatte, wollte sie die Gegend sehen. «Ich bin noch nie im Westen gewesen. Und diese Luft! So klar!» «Zieh dir feste Schuhe an und nimm eine Jacke mit. Für die vom platten Land und Sumpfratten ha ben wir eine Extratour.» Amadeo lieh mir den Lastwagen, und ich fuhr sie zu der Stelle, die Romeo Bonino mir gezeigt hatte. Es war ein kühler, süß duftender Nachmittag. Der Frühlingsregen hatte den würzigen Duft, den der Bo den im Winter verschlossen hielt, hervorkommen lassen, und die dünne Luft war wie Parfüm. «Hier sind wir», sagte ich, als ich anhielt. «Teta Peak, vierzehntausenddreihundertzweithöchster Berg der Erde.» Sie wippte auf den Hacken etwas zurück und sah hinauf. «Von Bergen wird mir schwindelig. Der hier sieht genau aus wie …» «Ja», sagte ich schnell, «stimmt, etwas.» 326
«Was heißt Teta Peak? Das klingt so romantisch.» «Äh, hm, Busenberg.» «Tittenberg heißt das, das weißt du doch genau. Dein Vater hat mir das einmal gesagt. Was soll das? Willst du mich vor der vulgären Welt schützen?» Sie war kein großer Bergsteiger – als ich zuerst nach Sagrado gekommen war, war ich das auch nicht gewesen –, aber sie holte das letzte aus sich heraus, und wir schafften es bis an das Gehölz, wo Romeos Figuren standen. Die großen Köpfe fand sie aufre gend. «Sie haben etwas Magisches», sagte sie, «Gott könnte so was geschaffen haben.» «Das hieße Romeo demütigen», sagte ich. «Er sagt, er macht es zur Verschönerung der Natur. Manchmal ist er von ihr enttäuscht, dann bringt er seine Korrekturen an.» «Sie sehen so lebendig aus. Wer sind sie?» Wir gingen von Kopf zu Kopf und versuchten sie zu identifizieren. «Romeo macht Köpfe von Men schen, die er bewundert», sagte ich, «Gratis. Dies ist Leo Trotzki. Er hat mich einmal darauf hingewie sen.» «Ist dein Freund Kommunist?» «Nein, ich glaube nicht. Irgendwo hat er hier auch den Kopf von Senator Robert Taft. Da ist Roosevelt, Garibaldi steht weiter oben. Winston Churchill, Dante, Beethoven.» «Unglaublich!» «Da drüben Haile Selassie. Der mit der Nase da soll Artur Schnabel sein, ein Pianist. Joe Louis, 327
Sokrates – den hat er über den Daumen gepeilt. Humphrey Bogart. Wer das ist, weiß ich nicht … mein Gott!» Ein frischer Stein ohne die Schmutzstreifen von geschmolzenem Schnee stand, den Hals tief im schwammigen Grund, unter einer Fichte. Es war der Kopf meines Vaters. Seine steinernen Augen starrten über das zerklüftete Land auf die Cordilliera. «Frank ist das! Das ist Frank Arnold!» «Ich weiß. Er ist neu. Romeo muß ihn vor kurzem allein heraufgerollt haben.» Mir kamen Tränen in die Augen. Ich konnte sie nicht zurückhalten. «Ist das nicht eine wahnsinnige Sache?» Als die Sonne später die Welt in rosa und purpur rot tauchte, saßen wir auf dem Hang und sahen dem Wechsel der Farben am Fuß der Berge zu. «Ich habe deinen Vater geliebt», sagte sie. «Ich meine, nicht nur gemocht wie einen guten Freund. Ich wäre mit ihm ins Bett gehopst, wenn er nur mit dem Finger geschnippt hätte. Ich war verrückt nach ihm.» «Amalie, muß das sein?» «Ja, ich will dir davon erzählen. Er hat gewußt, daß ich ihn liebte. Ein Lächeln, und ich hätte mich gefühlt wie ein Dreigroschen-Eckenstrich, aber er hat es nie getan. Nichts ist je passiert. Er war einfach weiter liebevoll und beschützend zu deiner Mutter. Beschützend, das war es, was mich aufgebracht hat. Ihr Vater verwahrte sie in Seidenpapier verpackt wie einen Wedgwood-Eierbecher bis zu ihrer Ehe, und 328
Frank umsorgte das Juwel weiter. Bald werdet ihr Männer noch merken, daß die Frauen aus dem Süden unter Krinoline, Spitzen, bestickter Wäsche und zier licher Konversation stahlhart sind. Die Verpackung ist deine Mutter jedenfalls los, und erzähl mir bloß nicht, sie sei gebrochen. Ein kleiner Nadelstich. Sie wird sich erholen. Wo ist übrigens Jimbob?» «Er ist zu irgendwelchen Hackenschmidts nach Wisconsin gefahren. Sein Kredit hier war abgelau fen. Amadeo hat ihn nach Albuquerque gefahren und auf den Zug gesetzt. Er soll fünfhundert Jahre alt ausgesehen haben.» Sie klopfte sich die Nadeln vom Rock, und wir kletterten wieder hinunter. «Nächsten Monat heiratet die kleine Corky diesen Holzkopf von Bubba Gagnier. Ich hoffe, das bricht dir nicht das Herz.» Ich versuchte mich zu erinnern, wie Corky aussah. Klein, honigfarbenes Haar und blaue Augen. Oder braune? Günther gingen endlich die Zettel aus, die ich zu unterzeichnen hatte, und er gab mir den Vormittag frei für die Abschlußfeier der Schule. Steenies Unter leibsschmerzen waren auf mysteriöse Weise an sei nem achtzehnten Geburtstag verschwunden und das Kreiswehrersatzamt nahm das offiziell zur Kenntnis. «Ich hatte verlangt, noch einmal gehört zu werden», sagte Steenie, «bestand auf erneuter Musterung, aber da redest du gegen die Wand.» «Das hört sich ja mutig an für einen ExKommando», sagte Marcia. «Ich habe immer ge 329
wußt, daß du ein Feigling bist, seit du dich geweigert hast, wie Josh in den toten Gaul zu kriechen.» «Ich kann immer noch krankspielen», sagte er. «Wetten, daß ich das besser kann als alle andern? Den Jargon kann ich auswendig. Herr Hauptmann, ich weiß nicht. Könnten Sie mich vielleicht vom La trinendienst suspendieren? Ich glaube, ich bin erysi pelatös.» «Wenn du ohne Auszeichnung zurückkommst, Stenopolous, erzähle ich freiweg aus deiner Bettnäs serzeit.» Chango meldete sich freiwillig. Parker wurde ein gezogen. Ich wurde freigestellt, weil ich Werftbesit zer war oder so. Ich rief Bertucci an, um mich zu vergewissern, daß es da unten auch ohne mich lief. «Werden wir schon schaffen», sagte er, «du bist ein anständiger Kerl und eigentlich mein Boß, aber was zum Henker verstehst du vom Bootsbau? Einen Dreck, wenn du dir das mal richtig überlegst.» Eines Nachmittags erschien bei uns ein Matrose, Boudreau. Er war ungefähr der erste Neger, den ich gesehen hatte, seit ich in Sagrado war. Er sei auf dem Weg von Portsmouth nach San Diego. Da hätte er sich gedacht, geh mal vorbei und mach deine Auf wartung. Ich grub die kunstvolle Urkunde aus einem Ordner und zeigte sie ihm. «Haben Sie das gemacht?» «Jawohl. Für Kapitän Arnold. Wir hatten beide ei nen Heidenspaß damit.» «Kommen Sie doch rein. Kaffee?» Er ließ sich 330
kaum dazu bewegen, sich mit mir hinzusetzen. Er dachte immer «Mobile, Alabama» und sah sich nach einem brennenden Kreuz um. «Vergessen Sie das doch», sagte ich. «Hier draußen sind wir nichts als irgendwelche Anglos.» Das Schiff sei nachts auf die Mine gelaufen, erzählte er. Ungefähr fünfzig Meilen vor der portugiesischen Küste. In zehn Minuten sind sie über den Bug gekentert. Über die Hälfte der Be satzung ging mit. «Es ging alles sehr schnell, ver dammt schnell, Mensch. Keiner war auf so was ge faßt. So weit draußen gab es kein einziges Minen feld. Jetzt meinen sie, eine ist losgerissen und trieb. Halt Schicksal.» Nach langem Hin und Her nahm er die Einladung zum Abendessen an. Excilda machte ein Hasenra gout mit Mais und Chile. Hinterher tranken wir ei nen Brandy, und er blieb für die Nacht. Am näch sten Morgen war er ruhiger, sah sich aber immer noch unsicher um, bis Amadeo ihn auf den Bus ge setzt hatte. Der Werbeoffizier auf der Post sagte, zwei Jahre seien Minimum. Also unterschrieb ich die zwei Jahre. Es kündigte sich ein grüner Sommer für Sagrado an. Der Regen war üppig gewesen, nicht stark, aber häufig, und im August würde das Tal leuchten. Der Krieg war aus oder halb aus, und es lag etwas Be friedigendes darin, mit den letzten Truppen nach Westen zu gehen. Marcia erschien kurz bevor der Bus abfuhr. Sie hatte rote Augen vom Lesen. Irgendwoher hatte sie 331
die fixe Idee, daß Barnard unerreichbare akademi sche Maßstäbe hätte, deshalb saß sie den ganzen Sommer über ihren Büchern. Ohne sich um die Pfiffe der andern Rekruten zu kümmern, kam sie in den Bus und gab mir einen Abschiedskuß. «Wann kannst du wieder hier sein? Allerfrühe stens?» «Ich weiß es nicht. Die Grundausbildung dauert zwei Monate. Dann gibt es, glaube ich, eine Woche Urlaub.» «Dann kommst du her. Du kommst in zwei Mona ten wieder, und ich halte mir solange die Augen zu.» «Was soll das heißen?» «Dann bist du der erste, den ich in Uniform sehe. Und komm mir ja nicht hunnerprosent wieder.» Sie legte ihren Mund an mein Ohr. «Oder ich schieß dir einen vor’n Arsch.» Der Bus fuhr schnell gen Süden. Vom Plateau ging es in die Wüste. Der Fahrer sagte, wir könnten die Fenster aufmachen und frische Luft reinlassen, wenn wir genug Mumm hätten. Mein Nachbar kämpfte mit dem Griff, ich drückte, und wir kriegten es auch ein paar Zentimeter hoch. «Danke», sagte ich. Wir gaben uns die Hand. «Arnold Joshua.» Es war uns bereits aufgefallen, daß die Marine die Namen lieber rückwärts hörte. «Romero Eladio.» «Bist du aus Sagrado?» Er drehte sich auf dem Sitz um und zeigte mit dem Kinn auf die verschwindenden Berge. «Río Conejo.» 332
Wir fuhren eine Weile schweigend weiter. «San Diego», sagte er, «das liegt am Meer, verdad?» «Direkt am Meer.» «Ich habe das Meer noch nie gesehen. Ich bin noch nicht über Sagrado hinaus gewesen. Wie sieht es aus?» «Wie der Himmel.»
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