Hans Hellmut Kirst
Mit diesen meinen Händen
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Hans Hellmut Kirst führt diesmal...
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Hans Hellmut Kirst
Mit diesen meinen Händen
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Hans Hellmut Kirst führt diesmal das Leben einer kleinen deutschen Stadt vor. Vor allem das zweier Familien: die des Schlossermeisters Golder, dessen Frau die angesehene Hebamme des Ortes ist, und die des Papierfabrikanten Siegert, der mit der jetzigen Frau Golder in seiner Jugendzeit, vor dreißig Jahren etwa, ein für ihn schmerzlich endendes Liebesverhältnis gehabt hatte. ISBN 3-453-00349-7 Wilhelm Heyne Verlag Printed in Belgium 1974 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München
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»Wie es auch sei, das Leben - es ist gut.« »Ich will dich hier nicht sehen«, sagte der Mann. Er stand vor der hellbeleuchteten Haustüre und hielt zu allem Überfluß noch eine Laterne in der Hand; das ließ auf jene besorgte Gründlichkeit schließen, die Menschen zu eigen ist, die in ihrem Leben eine Fülle schlechter Erfahrungen gesammelt haben. Der Mann schien ein wenig aufgeregt zu sein, war aber dennoch bemüht, Würde zu zeigen. »Ich will nichts mit dir zu tun haben!« sagte er mit ziemlich fester Stimme. »Da du kein Kind kriegst, Siegert«, sagte die Frau, die vor ihm stand und eine altmodische Reisetasche in der Hand hielt, »habe ich auch mit dir nichts zu tun. Versperre mir also nicht länger den Weg, und verdrücke dich lieber in deinen Weinkeller, damit du die nächsten schweren Stunden überlebst.« »Ich habe ausdrücklich Doktor Pracht gebeten, meiner Frau Geburtshilfe zu leisten - ihn allein, sonst niemand.« Nach wie vor versperrte er der Hebamme Golder den Eingang zu seinem Wohnhaus, nicht gewaltsam, denn er war nur mittelgroß und nicht besonders stämmig, aber mit einer Hartnäckigkeit, die, wie er glaubte, auf geistiger Entschlossenheit basierte. Sie war geeignet, erneut seine große Energie zu bestätigen, die er als Kaufmann und Industrieller so oft bewiesen hatte, zum Wohle des Ortes und zur Pein einiger Mitbürger. »Doktor Pracht kommt nicht«, sagte die Hebamme Golder gelassen. Sie stellte ihre Tasche ab, schnaufte kurz und erinnerte mit diesem teils verächtlichen, teils unwilligen Geräusch ein wenig an ein Pferd, dem der vorgesetzte Hafer nicht behagt. »Der Doktor hat mich aufgefordert, ihn zu vertreten.« -2-
»Das geschah weder mit meiner Einwilligung noch in meinem Sinne!« »Aber zum Wohle deiner Frau!« sagte die Hebamme Golder. Sie bewegte ihre im Zwielicht etwas stämmig wirkende Figur, deren mütterliche Fülle nicht zu verkennen war, auf Siegert zu. Und einen Augenblick lang sah es aus, als beabsichtige sie, das männliche Hindernis, das sich mit leichtgespreizten Beinen vor ihr aufgebaut hatte, mit einer einzigen Bewegung zur Seite zu schieben. Sie sah den Mann an, und der Mann sah sie an. Sie standen sich gegenüber, als gedächten sie, sich wie Kampfhähne anzufallen. Dann jedoch lachte die Hebamme Golder auf; sie lachte hell und jetzt auch herzhaft in die Nacht hinein. »Ich kenne dich ziemlich gut, Siegert«, sagte sie und hatte Mühe, ihrer Heiterkeit Herr zu werden, »und deshalb kann ich dich auch durchaus verstehen. Darüber hinaus habe ich einige hundert Väter in solchen Nächten kennengelernt; das macht nachsichtig.« »Gerade von dir«, sagte Siegert, und dabei beugte er sich etwas vor, »habe ich ein wenig mehr Verständnis erwartet vielleicht sogar das, was man Takt nennt.« »Wenn ich nicht wüßte«, sagte Mutter Golder ungekränkt und mit jener Duldsamkeit, die Kinder und Kranke gleichermaßen reizt, »daß in deinem Hause eine Frau schreit ...« »Sie schreit nicht!« beeilte sich Siegert empört zu versichern. »Sie stöhnt gelegentlich. Meine Frau schreit überhaupt nicht.« »Deine Frau schreit! Ich höre das bis hierher.« Siegert schien zu erstarren; er zog, aufhorchend, die Schultern ein wenig ein und senkte den Kopf. Er lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Und plötzlich war ihm, als stöhne das Dunkel rings um ihn auf; mit jener kreatürlichen Inbrunst, die aus letzter -3-
Daseinsangst kommt, beginne dann zu schreien, erschreckend heftig und doch völlig lautlos. Er stieß die Tür auf, mit einer heftigen Bewegung seines Körpers, so als stoße er sich rücksichtslos durch ein Gedränge. Er stürzte in das Haus hinein, die Treppen hoch, mit hastigen Schritten. Mutter Golder nickte kurz und so, als müsse sie sich etwas bestätigen, was sie schon immer gewußt hatte; in diesen Situationen kannte sie sich aus. Für sie, die Vielerfahrene, war eine Geburt ein nahezu alltäglicher Vorgang. Sie bückte sich, hob ihre Tasche auf, ächzte dabei ein wenig und Setzte sich dann in Bewegung. Sie betrat gemächlichen Schrittes die Halle und betrachtete mit einiger Anteilnahme, was sich ihren Augen bot. Breite Sessel, auch für die mächtigsten Sitzflächen geeignet, standen in der Mitte des Raumes, Ein riesiger Kamin nahm nahezu die ganze Stirnwand ein. Und an den Wänden ringsum hingen alte Ölgemälde; sie waren dunkel getönt und leicht rissig. Dieser Siegert, dachte sie immer noch erheitert, scheint tatsächlich ziemlich viel Geld und gar nicht wenig Geschmack zu besitzen. Zumindest konnte er Preislisten lesen und derzeit hoch im Kurs stehende, angebliche Kunstwerke bar bezahlen. Er hatte es geschafft, soviel stand fest. Das jedoch war schon früh vorauszusehen gewesen - schon damals, vor nahezu dreißig Jahren. Mutter Golder zog ihren dünnen Mantel aus, warf ihn über einen der breithüftigen Ledersessel und stand dann noch einige Zeit tatenlos da. Ihr frischgestärkter Arbeitskittel, der an Ärzte erinnerte, an Krankenschwestern oder Apotheker, leuchtete blütenweiß. Sie betrachtete ein Bild, das eine Art Kaiser in blitzender Rüstung darstellte; der starrte angeregt und wahrhaft majestätisch eine Papierrolle an und sah aus, als halte er damit irgendein Reich, das sicherlich von dieser Welt war, in seinen, -4-
vom Maler schmeichelhaft gestalteten zierlichen und doch zupackenden Händen. Dieses Porträt erinnerte an Siegert. Die Hebamme riß sich von diesem Anblick souveräner Konzentration in dunklen Ölfarben los und stampfte dann, als müsse sie einen Berg bewältigen, die Treppe hinauf. Sie fand das Schlafzimmer der Frau Siegert mühelos. Sie begab sich an deren Bett und betrachtete die unruhig Daliegende kaum anders, als ein Sammler seine Briefmarken betrachtet. Sie lächelte und nickte der Hochschwangeren aufmunternd zu. »Alles raus hier!« sagte sie dann robust. »Wir Mütter wollen ein paar Minuten allein sein.« Neben dem Bett saß eine Frau, in der man die Wirtschafterin des Hauses Siegert vermuten konnte. Sie hatte mit beinahe feindseliger Abneigung den Einzug der Hebamme zur Kenntnis genommen. Sie erhob sich steif, sehr zögernd und so, als weiche sie lediglich der Gewalt. Sie warf dabei einen fragenden, doch unerwiderten Blick auf Siegert. Dann schritt sie zur Tür. »Alle - habe ich gesagt!« Mutter Golder erklärte das ausgesprochen unfreundlich und fordernd. Sie beugte sich sodann über die Frau, die schweißüberströmt mit verkrampften, ineinandergekneteten Händen im Bett lag. Sie hörte befriedigt, doch ohne ihre Zufriedenheit auch nur im mindesten zum Ausdruck zu bringen, wie sich Siegert entfernte. »Noch nicht die Zähne zusammenbeißen«, sagte Mutter Golder. »Das kommt erst später. Ganz tief atmen, mit offenem Mund. Nicht die Hände verkrampfen. Strecken Sie sich aus, dehnen Sie sich, denken Sie an nichts - oder an Ihren Mann und dann daran, daß er immer glaubt, mindestens doppelt soviel leiden zu müssen wie Sie. Versuchen Sie, ihm das zu ersparen.« Frau Siegert lächelte angestrengt, mit krampfig verzerrtem Gesicht; sie war tapfer, doch völlig vergeblich bestrebt, die Schmerzen zu leugnen, die in ihrem Körper tobten. »Es ist gut, daß Sie da sind«, sagte sie. »Ich freue mich darüber, daß er Sie -5-
holen ließ. Ich hatte ihn immer wieder darum gebeten, aber er hat mir gesagt, daß es nicht notwendig sei. Er sagte, er würde den Arzt kommen lassen. Doch was weiß denn schon ein Mann, wie es in uns aussieht? Jetzt aber sind Sie da - und ich bin froh, daß Sie da sind. Mein Mann hat Sie also doch kommen lassen. Er ist so gut zu mir.« »Gewiß«, sagte Mutter Golder, »das wird wohl so sein.« Sie warf, mit geübter Bewegung, die Bettdecke zurück, die die Hochschwangere einhüllte. Und dann betastete sie mit ihren kleinen, nervigen Händen den Leib der Frau, die ergeben vor ihr lag und die Augen schloß. Frau Siegert richtete sich mühsam auf; sie keuchte, da immer wieder würgende, stoßende, ziehende Schmerzen sie erbarmungslos anfielen, »ich will Vertrauen zu Ihnen haben werden Sie mir helfen können?« »Ich habe sieben Kinder geboren«, sagte Mutter Golder. »Und ich war knapp über dreißig Jahre alt, als das letzte kam. Sieben Mägen aber wollen gefüllt sein; und da ein Mann das alleine nicht schaffen kann, suchte ich nach irgendeiner Möglichkeit, uns ausreichend zu ernähren. Und so bin ich Hebamme geworden. Schließlich hatte ich ja genug Gelegenheit gehabt, Erfahrungen zu sammeln. So kam es denn, daß ich die halbe Stadt mit diesen meinen Händen ans Licht gezogen habe. Warum sollten wir es bei Ihnen nicht auch schaffen?« Frau Siegert tastete nach der Hand der Hebamme, ergriff sie und preßte sie heftig. »Es ist gut, daß Sie da sind«, sagte sie wieder. »Jetzt wird alles einfacher sein - ich spüre das.« Sie zuckte zusammen, wie von gebündelten Nadeln gestochen, und ihr Körper bäumte sich auf. Aber sie schrie nicht; sie riß die Hand von Mutter Golder an ihre gleich einem Blasebalg Luft pumpende Brust und krallte sich in sie fest. »Ich habe Angst gehabt«, stöhnte sie. »Ich habe gefürchtet, daß Sie mich hier liegen lassen würden, ohne mir zu helfen. Ich -6-
habe gedacht, ich werde verbluten, und niemand wird da sein. Aber jetzt sind Sie doch gekommen - in dieses Haus. Ich habe nicht geglaubt, daß Sie in dieses Haus kommen würden.« »Das ist doch mein Beruf«, sagte Mutter Golder. »Ich mache das mehrmals in einer Woche - warum nicht auch bei Ihnen?« Die Hebamme fühlte Hitze auf sich zuströmen, die vom fiebrigen Körper der Frau ausging. Sie legte ihre noch freie Hand auf die Stirn der Hochschwangeren und begann dann, deren Schläfen mit sanften Bewegungen zu massieren. »Und alles das, was damals geschehen ist«, sagte Frau Siegert mühsam, »werden Sie das vergessen können - wenigstens doch für diese Nacht?« »Das alles hat nichts mit dieser Geburt zu tun«, sagte die Hebamme. »Beruhigen Sie sich. Denken Sie nicht weiter nach. Denken Sie an Ihr Kind, das sich mit Ihrer Hilfe befreien will, um leben zu können. Denken Sie jetzt nur daran, und an nichts sonst!«
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Teile der Familie Golder, fünf Menschen lediglich, saßen in der Wohnküche. Sie vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen, Zeitungslesen, Radiohören oder Hausarbeit. Nur Otto, der Elektriker, saß völlig tatenlos, doch nicht etwa tatenunlustig, in der Ecke neben dem Fenster. Er hatte sich in den hochlehnigen, gepolsterten Stuhl gesetzt, in dem sonst Vater Golder zu präsidieren pflegte. »Da gerade der Alte wieder einmal in seinem Keller herumwerkt«, begann Otto mit starker, alles übertönender Stimme, »da wir also mindestens für die nächste halbe Stunde vor ihm einigermaßen sicher sind ...« »Sage bitte nicht ›Alte.‹«, unterbrach ihn Paul, der Polizist sanft. Er tat das, ohne von der Zeitung aufzusehen, in der er gerade, mit betrübter Nachsicht, die politischen Meldungen durchsah. »Sage: Vater. Ich rate dir dazu.« »Na schön«, murmelte Otto grollend. »Das kommt ja schließlich auf das gleiche raus! Entscheidend allein ist, daß wir endlich einmal unter uns sind - denn was ich euch zu sagen habe, wird besser in Abwesenheit von Vater gesagt.« »Das ändert natürlich nichts daran«, sagte Paul, abermals ohne dabei von seiner Zeitung hochzusehen, »daß Vater dennoch alles erfahren wird.« Otto hatte erhebliche Mühe, einige spontan erdachte, überaus massive Wortgebilde hinunterzuschlucken. Mit diesem Paul, davon durfte er überzeugt sein, war nicht zu spaßen; hinter seiner mit entnervender Herausforderung zur Schau getragenen Sanftmut, die er selbst beim Eingreifen in schwere Schlägereien zu bewahren wußte, hinter dieser irritierenden Duldermiene mußte sich Fürchterliches verbergen. Zwar hatte Otto das, was bei Paul heimlich lauernd da sein mußte, noch nicht entdeckt; aber er war felsenfest überzeugt davon, daß es vorhanden sei. Denn doch wohl nicht so ganz grundlos, so sagte er sich immer wieder, habe Bruder Paul, der jetzige Polizist, einstmals im -8-
Gefängnis trockenes Brot gegessen. »Ich bin zwar nur Elektromeister«, verkündete Otto mit jenem Stolz, mit dem er sich zu würdigen liebte, »und dazu noch unselbständig, weil kein Geld vorhanden war, mir ein Geschäft einzurichten; aber es würde sich bei meinen Kenntnissen und Fähigkeiten glänzend rentiert haben, das steht doch wohl fest!« »Es ist uns allen durchaus bekannt«, sagte Paul unvermindert sanft, »daß wir in dir eine ebenso von sich überzeugte wie auch überzeugende Persönlichkeit unserer kleinen, aufstrebenden Stadt besitzen. Du bist auch ein durchaus würdiger Vertreter unseres ältesten Bruders, des Seefahrers. Aber es wäre ratsam, nicht durch lange Vorreden eine künstliche Spannung zu erzeugen. Denn die Sache, in die du dich einmengen willst, verdient das keinesfalls. Also: Worauf willst du, die Abwesenheit von Vater und Mutter nutzend, hinaus?« »Ich bin zwar nur, wie schon gesagt, ein einfacher, unselbständiger Elektromeister, aber das Elektrizitätswerk habe ich praktisch in der Hand - wenn ich will, kann ich alle Betriebe in unserer Stadt lahmlegen und völlige Dunkelheit herbeiführen.« »Das jedoch ist strafbar«, stellte Paul milde fest; und es hörte sich an, als ermahne er spielende Kinder, nicht die Fahrbahn zu benutzen. »In einem solchen Fall würde ich nicht zögern, dich einzusperren.« Otto nickte wider alles Erwarten, und er tat das sogar mit einiger Heftigkeit, als wolle er damit bekunden, daß er sich mit seinem Bruder Paul, sogar mit diesem, im Prinzip einig wäre. »Sehr richtig!« rief er zur allgemeinen Überraschung. »Du kannst, wenn du willst, Menschen einsperren, denn du bist ein Mann mit einigem, nicht unerheblichem Einfluß. Aber auch ich kann mir einiges leisten! Und nicht nur wir beide haben in dieser Stadt ein gewichtiges Wort mitzureden. Es existieren schließlich auch noch einige andere Brüder, die gleichermaßen Ansehen -9-
und Einfluß besitzen; von unserem Emil, der die Meere befährt, ganz abgesehen. Und dann dürfen wir auch nicht vergessen, daß wir darüber hinaus noch auf weitere Kräfte rechnen können: auf die Männer unserer Schwestern nämlich - sofern diese so tüchtig waren und schon einen Mann bekommen haben.« »Ich bin doch erst achtzehn«, sagte Susanne. Ottos vorwurfsvoller Blick hatte sie kurz gestreift, und nun fühlte sie sich, überaus empfindsam wie sie war, fast ein wenig schuldbewußt. »Mit achtzehn«, erklärte Otto souverän, »erwartete meine damalige Braut bereits ihr erstes Kind. Oder soll ich etwa erst dann Großvater werden, wenn ich vor dem ersten Schlaganfall stehe? Das liegt doch nicht in unserer Familie drin!« Der schmalgesichtige Gustav, der in einer Ecke vor einem Zeichenblock saß, den er vorsorglich verdeckt hatte, meldete sich behutsam, um Otto von seiner Schwester Susanne abzulenken. »Du hast jetzt schon eine Viertelstunde lang geredet, Bruder - aber was du eigentlich willst, wissen wir immer noch nicht.« Otto richtete sich auf und stemmte die Arme vor sich auf den Tisch; er gab deutlich zu verstehen, wie empört er sei, in seinen Gedankengängen derartig plump gestört zu werden. Daß eine solche Unterbrechung noch dazu ausgerechnet von einem nichtstuenden Milchknaben kam, der weiter nichts als Weiber und Faulenzen im Kopf hatte, war eine Frechheit dem stellvertretenden männlichen Oberhaupt der Familie gegenüber. Denn als solches hatte man ihn, in Abwesenheit des Vaters und solange Emil die Weltmeere befuhr, zu respektieren. Das aber vor allem dann, wenn man im Leben noch nicht bewiesen hatte, daß man selbst ein handfester Kerl, also ein echter Golder war. »Daß ausgerechnet du es wagst«, sagte Otto schließlich, seinen Schnurrbart - erst links, dann rechts - kurz streichend, »mich hier zu unterbrechen, das ist ja wohl bezeichnend für -10-
dich. Du hast ja noch nicht einmal einen richtigen Beruf! Warum willst du eigentlich nicht Friseur werden, Gustav? Dann könntest du dir endlich deine langen Haare selbst schneiden.« »Laß Gustav aus dem Spiel«, riet Paul, der Polizist, mit freundlicher Nachsicht; und diesmal blickte er Otto mit seinen verwirrend klaren blauen Augen an. »Und außerdem: Kein Mensch kann sich selbst die Haare schneiden!« Otto wich diesem warnenden brüderlichen Blick aus und überhörte dessen Einwurf. Er hatte ein neues und, wie ihm schien, ergiebiges Thema gefunden. Er glaubte, daß dessen intensive und ideenreiche Behandlung durchaus geeignet wäre, seine Stellung als stellvertretendes männliches Familienoberhaupt zu festigen. »Gustav sollte endlich aufhören, immer nur vor sich hinzustarren und buntes Viehzeug zu malen. In meinen Augen ist er der geborene Friseur.« »Darüber entscheidet Mutter allein«, rief Gustav. »Richtig«, sagte Otto zur neuerlichen allgemeinen Überraschung. »Sehr richtig. Und genau darauf wollte ich auch hinaus - das entscheidet Mutter! Mutter ist hier der liebe Gott und Vater noch dazu so etwas wie ein Heiliger Geist. Und was sind wir?« »Was du bist, weiß ich«, sagte Paul mit mildem Polizistenlächeln. »Wir sind erwachsen«, führte Otto nunmehr aus, »aber hat das hier, in diesem Hause, irgendwelche Bedeutung? Haben wir hier irgend etwas zu sagen? Nicht einmal ich werde zu Beratungen herangezogen, dabei bin ich doch schon lange Vater, und im Elektrizitätswerk stehen alle zweiunddreißig Arbeiter stramm, wenn ich komme - denn ohne mich sind sie im Eimer, und das wissen sie auch genau. Bei einigen von euch ist das in anderen Bereichen nicht anders. Ihr steht mitten im Leben, schafft kräftig an, sorgt unentwegt dafür, daß sich was rührt - aber kaum seid -11-
ihr dann zu Hause, da macht Mutter mit euch, was sie will.« »Sie macht mit jedem, was sie will«, stellte Paul nachsichtig fest, wobei jedoch jetzt nicht ganz klar erkennbar war, wem eigentlich diese Nachsicht galt. »Außerdem brauchst du ja nicht mehr hierherzukommen, wenn es dir im sogenannten Schöße der Familie nicht gefällt - schließlich bist du ja verheiratet, hast eine Frau und eine Wohnung.« »Aber hier bin ich doch zu Hause!« Paul nickte abermals. Sie waren alle hier zu Hause, und das war die selbstverständlichste Sache von der Welt. Otto holte tief Luft, als käme er jetzt zum schwersten Teil seiner aufreibenden Arbeit als stellvertretendes männliches Familienoberhaupt. »Wißt ihr eigentlich, wo unsere Mutter heute abend hingegangen ist - zu Siegert! Ausgerechnet zu diesem Siegert!« »Warum denn nicht«, sagte Paul noch sanfter, als er gewöhnlich sprach; was Eingeweihte wohlberechtigt als Zeichen heftiger Gemütsbewegung deuteten. »Schließlich handelt es sich hierbei ja nicht um einen Besuch, sondern um die Ausübung eines Berufes. Ganz genau besehen: Mutter mußte es tun.« »Also hat dieser Kerl sie gezwungen! Dieser scheißarrogante Kerl übt auf unsere Mutter einen Zwang aus - ausgerechnet er, der sich früher einmal so überaus schäbig gegen sie benommen haben soll. Er hat es nötig!« »Laß doch diese alten Geschichten ruhen«, schlug Paul sanftmütig vor. »Warum wohl arbeitet denn Vater jetzt noch, kurz vor Mitternacht, in seinem Keller?« grollte Otto, um sich dann sofort selbst die Antwort auf seine Frage zu erteilen, damit nicht etwa jemand auf die Idee käme, ihn abermals zu unterbrechen, »weil unserm Vater die Sache nahegeht! Und warum wohl, meint ihr, war Mutter heute abend so wortkarg und nicht einmal freundlich zu mir? Weil sie wußte, was ihr blüht! Ich aber, der -12-
genau Bescheid weiß, ich sage euch: Wir sollten dafür diesem Siegert eins auswischen, daß er sein Leben lang daran denkt! Mit allen Schikanen; rücksichtslos! Bis er auf den Knien liegt und wimmert! Das sind wir Mutter schuldig.« »Was du Mutter schuldig bist, wird sie dir, wenn sie Lust dazu haben sollte, selbst sagen«, entschied der sanfte Paul. »Aber komme ja nicht auf die Idee, sie oder Vater voreilig danach zu fragen ich möchte dir nicht gerne etwas antun, lieber Bruder.«
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Siegert saß in der Halle seines repräsentabel gestalteten Hauses, das er vom Vater ererbt und dann großzügig ausgebaut und sogar mit einer gewissen Sorte von Kunstschätzen ausgestattet hatte. »Sie begeben sich sofort zu Doktor Pracht«, sagte er zu seinem Dienstmädchen, das er herbeigeklingelt hatte und das ihn jetzt ergeben von der Tür aus anstarrte. Denn es kam sehr selten vor, daß Siegert seine Wünsche dem niederen Personal direkt mitteilte; vielmehr war es bei ihm üblich, seine Frau oder die Wirtschafterin zwischenzuschalten. »Ich bitte Doktor Pracht, unverzüglich zu kommen - ich ersuche ihn darum. Sie haben die Aufgabe«, ordnete Siegert abschließend an, »nicht nur den Doktor zu benachrichtigen, sondern auch auf ihn zu warten. Sie erklären sich ihm gegenüber außerdem bereit, die Tasche mit seinen Instrumenten zu tragen. Der Doktor soll sich darauf vorbereiten, die Hebamme abzulösen und selbst zu amtieren.« Nachdem das Dienstmädchen davongeeilt war, dachte er, während er sich eine Zigarre beschnitt: Mag sein, daß die Golder, die als durchaus schätzenswert zu bezeichnen er sich keinen Augenblick lang sträubte, lediglich gewillt war, ihrem Beruf nachzugehen. Möglich sogar, daß sie wirklich nichts weiter und nichts anderes tat als das, was sie für ihre Pflicht hielt. Nur das Beste von ihren Beweggründen zu denken, grundsätzlich anzunehmen, daß sie ein honoriger Mensch war, möglicherweise sogar hilfsbereit, das und mehr des Guten von ihr zu glauben, war er ihr zweifellos schuldig. Allerdings: Was ihr Taktgefühl betraf, so hegte er da gewisse, behutsame Bedenken. Sie hatte sich, fand er, in dreißig Jahren erstaunlich wenig verändert. Denn so lange war es jetzt schon her, seitdem sich ihre Wege, mit geradezu fatal zu nennenden Folgen, gekreuzt hatten. In der Tat: vieles war ihr geblieben, zumindest viel zu dem, was ihr Wesen betraf. Rein äußerlich gesehen war sie natürlich das Mädchen von damals nicht mehr; denn alle -14-
Schönheit ist vergänglich, und eigentlich nur ein Mann, so dachte er, nimmt mit den Jahren an Interessantheit mehr und mehr zu. Noch nicht ganz erlöst von diesen, wie er glaubte, tiefsinnigen und klärenden Gedankengängen, sah er Mutter Golder entgegen. Sie kam langsam, fast ein wenig schwerfällig, die Treppe herunter, die vom oberen Stockwerk unmittelbar in die wohnliche Halle führte. Er betrachtete die Frau, die er einst als Mädchen gründlich kennenzulernen ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, nicht ohne Rührung; das sprach sehr für sein Gemüt, das noch lange nicht, davon durfte er überzeugt sein, verschüttet war. »Ich würde mich freuen«, sagte er, um versöhnliche Atmosphäre bemüht, »wenn du ein Glas Wein mit mir trinkst.« »Lieber nicht«, sagte Mutter Golder, und sie verbarg ihre Überraschung über diese plötzlich auftauchende Freundlichkeit hinter geschäftiger Eile. »Ich glaube, es wird heute nacht noch viel zu tun geben. Kann die Frau, die sich vorhin oben aufhielt, wieder hinaufgehen? Wer ist das eigentlich?« »Meine Wirtschafterin«, sagte Siegert kurz. Er war unangenehm berührt durch diese weibliche Geschäftigkeit, die ihn offenbar ausschließen und vor vollendete Tatsachen stellen wollte. Er erhob sich mit der ihm eigenen Würde; er schritt zu einem Nebenraum und gab dort einige Anweisungen, mit erheblicher Lautstärke und in unüberhörbar unpersönlichen Formulierungen. Die Wirtschafterin war sofort zur Stelle, da sie offenbar gehorcht hatte; sie schritt steif die Treppe hinauf, die unter ihren kräftigen Schritten unwillig knarrte. Sie hatte ihre gedrungenen Körperformen herausfordernd hervorgereckt und würdigte die ein wenig amüsierte Mutter Golder keines Blickes. Siegert setzte sich wieder. »Wann wird es eigentlich soweit sein?« fragte er dann. Er -15-
entzündete eine Kerze und setzte hieran, sehr zeremoniell und fast ein wenig feierlich, seine dicke Zigarre in Brand. »In etwa zwei Stunden, denke ich.« Mutter Golder setzte sich nun ebenfalls; sie lehnte sich bequem zurück, als gedenke sie, längere Zeit geruhsam dazusitzen. »Es kann aber auch drei Stunden dauern.« Siegert nickte, und wieder geschah das mit jener feinen Überlegung, die er sich mit viel Selbstbeherrschung nach langjähriger Übung erworben hatte. »Das ist ausgezeichnet«, versicherte er. »Das beruhigt mich sehr. Denn dann wird Doktor Pracht sicher noch rechtzeitig hier eintreffen, um die ganze Angelegenheit in seine Hand zu nehmen.« »Ich bin durchaus damit einverstanden«, sagte Mutter Golder friedfertig. »Er wird bestätigen, daß es sich um eine sehr komplizierte Geburt handelt.« »Keine Geburt ist unkompliziert«, sagte Siegert und gab sich eingeweiht in diese Geheimnisse menschlichen Lebens. »Aber Doktor Pracht wird das schon schaffen. Schließlich ist der Mann ja ein tüchtiger Arzt, geprüfter Geburtshelfer und in Ehren ergraut. Und wenn er sich der Sache nicht ganz gewachsen fühlen sollte, dann lassen wir eben eine Kapazität aus der Landeshauptstadt anrollen, oder wir transportieren meine Frau in die Klinik.« »Dazu dürfte es jetzt zu spät sein. Wenn du mich ein paar Tage früher hättest verständigen lassen, wäre das alles noch möglich gewesen. Und ich hätte dir auch dazu geraten; denn eine Geburt, die kompliziert erscheint, kann niemals sorgfältig genug betreut werden. Aber nach Lage der Dinge ist ein Transport in das Krankenhaus der Kreisstadt jetzt nicht mehr zu verantworten, und einen Experten wirst du nicht in wenigen Stunden herbeizaubern können. Doch du brauchst dir keine Sorgen zu machen - wir werden es schon schaffen.« »Jedenfalls«, sagte er nunmehr, »danke ich dir, daß du -16-
gekommen bist. Es ist doch sehr beruhigend, jemanden während der doch wohl immer ein wenig prekären Vorbereitungszeit im Hause zu haben, der einiges von der Sache versteht. Wenn der Doktor eintrifft, wird er den Rest alleine erledigen.« Mutter Golder richtete sich ein wenig auf. »Ich verstehe dich nicht ganz. Willst du mir nicht ein wenig deutlicher erklären, was du meinst?« »Dein Honorar ist dir natürlich sicher«, beeilte sich Siegert zu sagen. »Das ist für mich selbstverständlich, und ich bitte dich, es anzunehmen. Du brauchst es nicht nur dringend, du verdienst es auch. Beim Eintreffen des Doktors ist deine Arbeit in meinem Hause abgeschlossen. Alles weitere, das nicht ohne erneute Peinlichkeit wäre, wollen wir uns ersparen. Du wirst einsehen, daß deine Anwesenheit in meinem Hause, zu diesem Zeitpunkt zumindest - nun sagen wir: deplaciert ist. Reichlich deplaciert.« »Ich sehe das durchaus nicht ein. Ich bin hier als Hebamme, dort oben liegt eine Frau, die mich dringend braucht; also werde ich ihr helfen. Das ist ein einfacher und selbstverständlicher Vorgang nichts anderes sonst.« »Und diese alte, überaus heikle Geschichte, von der die ganze Stadt weiß!« »Dreißig Jahre sind inzwischen vergangen. Selbst ich erinnere mich nur noch höchst selten daran. Und als ich dich heute sah, ist mir erst richtig klargeworden, wie unendlich weit das alles zurückliegt. Die lange Zeit, die inzwischen vergangen ist, hat alles verwischt und das meiste ausgelöscht.« »Da kennst du aber unsere Mitbürger schlecht! Was sind für die denn dreißig Jahre! Ein Krieg wird hier in drei Jahren vergessen; eine derartig peinliche Geschichte aber, wie die unsere, in hundert Jahren nicht.« Mutter Golder schüttelte zweifelnd den Kopf. Die ganze Angelegenheit war in einer derart betrüblichen Weise komisch, daß sie nicht einmal mehr darüber zu lächeln vermochte. Er war -17-
offenbar, zumindest in diesem Punkt, das Opfer seines eigenen guten Gedächtnisses geworden. Er hatte einen Vorgang nicht vergessen können, der für ihn zwar nicht sonderlich angenehm gewesen sein mußte, dessen Unkorrigierbarkeit er jedoch längst eingesehen und überwunden haben sollte. Denn was war schon geschehen? Ihr Vater hatte ein Papierwarengeschäft en detail und en gros; sein Vater besaß eine Papierfabrik. Sie waren so gut wie einander versprochen gewesen; in der Stadt galten sie als verlobt. Dann kam der Schlosser Anton. Sie verliebte sich in ihn, heiratete ihn und bekam sieben Kinder. Das war alles. »Das alles ist doch schon lange vorbei«, sagte Mutter Golder. »Und wenn es einmal schmerzhaft war und nicht ohne Peinlichkeit, und das gewißlich nicht nur für dich, so hat doch die Zeit auch hier viele Wunden geheilt. Du hast doch auch inzwischen geheiratet.« »Gewiß«, sagte Siegert, »selbstverständlich. Und das sogar zweimal. Meine erste Frau starb, wie du weißt, bei der Geburt meines Sohnes. Meine zweite Frau heiratete ich vor zwei Jahren - jetzt erwartet sie ihr erstes und mein zweites Kind. Wie das alles aber auch sein mag - sieben Kinder habe ich nicht!« »Das ist wohl mehr eine Sache der Veranlagung«, sagte Mutter Golder, und jetzt lächelte sie. »Außerdem muß man dazu Zeit finden und sehr viel Liebe zu Kindern besitzen. Man muß stark sein, um die Last, die sie zweifellos auch sind, zu tragen.« »An mir«, sagte Siegert, und er trank in einem Zug sein drittes Glas Wein leer, »hätte es nicht gefehlt! Und ich hätte sieben Kinder glänzend ernähren können.« Seine erste Frau, die er vielleicht ein wenig übereilt geheiratet hatte, die ihm aber dennoch eine gute Frau gewesen war, starb im Wochenbett; sie hinterließ ihm den Sohn Siegfried Siegfried Siegert junior. Der war zwar noch sehr jung, aber er besaß unverkennbar einige seiner Qualitäten; einmal würde der sein Werk fortsetzen. Seine jetzige zweite Frau war lange Zeit -18-
seine Sekretärin - und mehr - gewesen. Er hatte sie geheiratet, weil ihm sein Gewissen das befohlen und weil sie sich bewährt hatte - und weil die Stunden, in denen er einsam war, mehr und mehr zunahmen. »Sie ist sehr schwach«, sagte Mutter Golder nachdenklich. »Du genießt das, nicht wahr?« rief er heftig. »Dir hätte das nicht passieren können, dir nicht. Du bist stark, kräftig und gesund und hast ihm jedes Jahr ein Kind geboren.« Das Erscheinen von Dr. Pracht befreite Mutter Golder von einer Antwort; die hatte sie sich, in Anbetracht seiner gebieterischen Hartnäckigkeit, nicht gerade sehr schmeichelhaft gedacht. Der Doktor, der in der Tür stand, war ein alter Mann in zerknittertem Anzug von einst feierlichem Schwarz. Er schabte seinen Ziegenbart und unterdrückte ein Gähnen. Dann rückte er seine Nickelbrille zurecht und betrachtete die Anwesenden, als gehörten sie automatisch zu seinen Patienten. »Was soll ich denn noch hier?« fragte er mißmutig. »Sie sind doch Arzt und Geburtshelfer!« Siegert fühlte sich durch diesen aufreizend gleichgültig erscheinenden medizinischen Greis nicht nur unzureichend respektiert, sondern geradezu übersehen. »Ich habe Sie hergebeten, um meiner Frau beizustehen.« Dr. Pracht warf auf Siegert einen flüchtigen Blick, der nicht frei von Tadel war, wie er sich vordrängenden Knaben gebührt, die nicht abwarten können, bis sie gefragt werden. Er zog, als fröstelte ihn, sein fadenscheiniges Jackett über der schmalen Brust noch ein wenig mehr zusammen. Dann winkte er Mutter Golder zu sich. Er zog sie abseits in eine Fensterecke hinein. Sie flüsterten miteinander, und der Arzt nickte dabei mechanisch mehrmals; und einmal lachte er, ziegenartig meckernd, auf. Dann schlurfte Dr. Pracht, wieder ohne Siegert zu beachten, mit seinen großen ungeputzten Schuhen die Treppe hinauf. Er stolperte auf der obersten Stufe, denn er hatte sich selbst auf -19-
seine Korkenzieherhose getreten, was ihn sehr zu verwundern schien. Er blieb prüfend stehen, sah an sich hinunter und schüttelte den Kopf, so daß sein Ziegenbart wimpelartig einherwehte. Dann trompetete er kräftig in sein Taschentuch. »Den Hut könnten Sie doch wenigstens abnehmen!« rief ihm Siegert nach. »Im Krankenzimmer«, sagte der Arzt. Er suchte zunächst nach einem Nebengelaß, das er auch prompt fand, und verschwand darin. Kurze Zeit danach hörte man dort das Wasser rauschen. Siegert hatte alle Mühe, sich zu beherrschen. Er sah aus, als erleide er heftige Schmerzen und sei nun nicht mehr bereit, sie zu verschweigen. »Du kannst beruhigt sein«, versicherte Mutter Golder. »Doktor Pracht ist zwar ein Original, aber ein ganz vorzüglicher Arzt.« »Ich hoffe es«, antwortete Siegert. Er begann wieder aufzuatmen, denn er glaubte an das, was die Hebamme Golder ihm sagte; und er dachte gar nicht daran, sich zu fragen, warum er das so bedingungslos glaubte. »Jedenfalls«, sagte er dann, das unterbrochene Gespräch wieder aufnehmend, »wirst du sicherlich einsehen, daß ausgerechnet du hier in meinem Hause keine Hebammendienste leisten kannst, nach allem, was zwischen uns einmal geschehen ist. Dich in dieser Stunde bei meiner Frau zu wissen, bedrückt mich, und es muß doch auch dir unangenehm sein. Außerdem würde die ganze Stadt darüber reden.« »Das Gerede der ganzen Stadt ist nicht soviel wert wie eine gute, gelungene Geburt.« »Als vor mehr als zwanzig Jahren mein Sohn Siegfried geboren wurde und als meine erste Frau dann starb, unmittelbar nach der Geburt, warst du, Gott sei Dank, hier noch nicht Hebamme; sonst hätten sie bestimmt gesagt, du habest sie -20-
umgebracht. Die Menschen sind so! Ihre spärliche Fantasie ist bösartig - sie nehmen immer gleich das Schlimmste an; sie sind süchtig danach, jemanden aufzuspüren, der noch schlechter ist als sie. Aber das ist es nicht allein. Etwas anderes kommt hinzu: Wie kann man einem Menschen, mit dem man sich einmal innig verbunden wähnte und der dann alle Bande verletzend zerschnitt, Einblick in seine privatesten Dinge gewähren! Das kommt einer Schändung gleich, zumindest einer Preis gäbe. Ich hätte dich auch damals nicht, mein Ehrenwort darauf, in unser Schlafzimmer gelassen. Versteh das doch endlich!« Mutter Golder schwieg. Sie verstand ihn nicht ganz; doch sie verstand, daß Siegfried Siegert sie einmal mit jenem alles beherrschenden Gefühl geliebt hatte, das nur sehr selten im Leben auftritt. Auch sie hatte ja damals geglaubt, daß ihr Leben nur denkbar sei als ein gemeinsames Leben mit ihm - so lange hatte sie das geglaubt, bis der Schlosser Adam kam. Siegerts Gefühle aber, das spürte sie erst jetzt, in dieser Stunde, bestürzend deutlich, waren stärker gewesen, als sie es jemals zu ahnen vermocht hatte; es waren überdies sehr egozentrische Gefühle gewesen. Die aber, das wußte sie, verlöschen am langsamsten. Das Beharrungsvermögen der Männer, besonders in diesem Punkt, schien ihr erschreckend und bewundernswert zugleich. »Es sollte nicht sein«, sagte Mutter Golder nachdenklich. »Und es ist sinnlos, heute noch darüber zu reden. Selbst die erschütterndste Todesanzeige liest sich nach dreißig Jahren anders. Denken wir nicht mehr zurück. Es ist so banal, das zu sagen, aber es stimmt: Das Leben geht weiter. Und was damals uns nicht gelungen ist - vielleicht gelingt es unseren Kindern.« »Wie kommst du darauf?« fragte Siegert, plötzlich hellwach. »Was willst du damit sagen? Meinst du irgend etwas Bestimmtes? Du willst doch nicht etwa im Ernst behaupten, daß mein Sohn Siegfried eine deiner Töchter näher kennt?« Siegert, grundsätzlich mißtrauisch, wie es einem erfolgreichen -21-
Handelsmann geziemt, fixierte Mutter Golder herausfordernd. »Ich traue meinen Ohren nicht! Um welche deiner Töchter handelt es sich denn? Wie weit ist das bereits gediehen? Das ist ja alarmierend!« Der alte Doktor Pracht schlurfte die Stufen der breiten Treppe herunter, mitten in Siegerts erregten Monolog hinein. Er hatte das Jackett nach wie vor bis oben zugeknöpft und den Hut immer noch nicht abgelegt. »Schreien Sie nicht so herum«, sagte er gemütlich, »auch wenn Sie hier zu Hause sind. Dort oben liegt eine schwerkranke Frau!« Dann wandte sich der Arzt an die Hebamme, ohne den prompt verstummenden Siegert noch weiter zu beachten. »Ihre Diagnose, Frau Golder«, sagte er, »stimmt wie immer. Die Geburt ist mehr als kompliziert. Aber Sie werden es schon schaffen.« »Sie werden es schaffen, Doktor! Sie allein!« rief Siegert. Und er glich, eine winzige Zeitspanne lang, einem Ertrinkenden, der auf einen Rettungsring zustrebt. »Mutter Golder kann das viel besser als ich. Sie hat die größeren Erfahrungen, viel ruhigere Hände - und sie ist eine Mutter.« »Sie können mich doch nicht einfach hier im Stich lassen!« Siegert erhob sich, fast taumelnd, und ging auf den Doktor zu. Der entfaltete gerade sein Taschentuch und machte Anstauen, sich zu schneuzen. »Ich lasse Sie und Ihre Frau in den besten Händen, die ich kenne. Wenn es Mutter Golder nicht schafft, schafft es niemand. Verlassen Sie sich darauf!« Dr. Pracht trompetete in sein Taschentuch hinein; dann faltete er das Tuch wieder sorgsam zusammen. Hierauf lüftete er ein wenig, kaum merklich, seinen Hut, zwinkerte Mutter Golder verständnisinnig zu und schlurfte hinaus. Er verschwand wie ein Schatten. Nach Sekunden war zu hören, wie er, schon sehr -22-
ferne, erneut in sein Taschentuch hineintrompetete. »Das«, sagte Siegert nach ausgedehnter Pause, »ist ein Komplott - gegen mich, gegen meine Familie! Das kann ich mir doch nicht bieten lassen? Das lasse ich mir nicht bieten!« Die großen Bruder der Familie Golder schwiegen, nachdem die erste Welle der Auseinandersetzungen abgeebbt war, nun schon seit geraumer Zeit. Margarete, die Zweitjüngste, ein schwarzäugiges, wildgelocktes Mädchen, legte sich auf einem Brett, das sie auf ihren Knien hielt, eine Patience; die wollte nicht aufgehen, worüber aber Margarete nicht sonderlich betrübt zu sein schien. Denn mehr als für ihre Karten interessierte sie sich für ihre Schwester Susanne, die dicht neben ihr saß. Susanne war spürbar bestrebt, den Eindruck zu machen, daß sie durch nichts anderes in Anspruch genommen sei als durch das Stopfen von Strümpfen. Dabei aber schaute sie, mit scheuen und wie zufällig wirkenden Blicken, immer wieder auf die Küchenuhr, die in der Nähe des Herdes hing. »Wie schnell doch die Zeit vergeht«, sagte Margarete vor sich hin und wechselte zwei Karten aus. Es belustigte sie, ihre jüngere Schwester, die überaus empfindlich war, nicht wenig verlegen zu sehen. »Es ist schon kurz nach zehn Uhr«, flüsterte Susanne auf Margarete ein. »Zwischen zehn und halbelf Uhr wollte er vor dem Kino auf dich warten.« Susanne sagte das beschwörend leise und offenbar mit starker innerer Anteilnahme, wie sie einer Sache von erheblichem Wert zukommt. Und fast schien es, als sei sie erregt, wenn nicht gar in maßvoller und zarten Gemütern eigener Zurückhaltung ehrlich empört darüber, daß ihre Schwester nicht sofort aufsprang und davoneilte. »Du hast nicht mehr viel Zeit.« »Was hat das junge Gemüse zu flüstern!« verlangte der Elektriker Otto zu wissen. »Bei uns gibt es keine Geheimnisse.« -23-
»Aber bei uns!« rief Margarete, die sich gerne Rita nennen ließ, streitbar; und ihre großen schwarzen Augen funkelten. Dann nahm sie ihr Geflüster mit Susanne unbekümmert wieder auf. »Gefällt er dir denn etwa nicht?« wollte Susanne wissen; und es war ihr deutlich anzumerken, daß es ihr schwerfiel, eine derartige Frage überhaupt zu stellen. »Er ist doch einfach fabelhaft.« »Na ja - er ist nicht unflott«, gestand Rita zu. Sie gab sich recht überzeugend gleichmütig; nur ihre Augen verrieten, wie stark ihre innere Anteilnahme bei diesem Thema war. »Aber schließlich ist er ein Siegert.« »Und selbst, wenn alles stimmt - ihr beide habt doch nichts damit zu tun. Das geht euch nichts an.« Susanne stellte das mit schönem Eifer fest; und ihre Bewegtheit ließ besonders bei ihr, die ansonsten nicht der geringsten Gefühlsaufwallung fähig schien, auf heftige Anteilnahme schließen. »Ich an deiner Stelle würde Siegfried nicht warten lassen.« »Du bist aber nicht an meiner Stelle«, sagte Rita, und das klang fast ein wenig hochmütig und abweisend. Sie ging dann zur Tür. »Wo willst du hin?« fragte Otto sofort, aufmerksam wie ein Wachhund. »Wohin du nicht mitkommen kannst!« erklärte Rita. Sie erfreute sich noch kurz an des älteren Bruders gutgespielter Empörung, die sie sichtlich mit großer Genugtuung genoß. Dann ging sie hinaus, wobei sie sich mit Erfolg, wenn auch nicht gerade sehr gekonnt, herausfordernd in den Hüften wiegte. »Das sind vielleicht Manieren!« rief Otto ihr nach. »Als ich so alt war wie du, pflegten wir noch um Erlaubnis zu fragen, ob wir überhaupt austreten dürfen! War das nicht so?« Seine Zustimmung erheischende Frage fand kein hörbares Echo. Paul wendete mit deutlich zur Schau getragener Gleichgültigkeit ein weiteres Blatt seiner Zeitung um. Gustav -24-
malte mit verträumt leuchtendem Gesicht weiterhin an seinen Pferden. Und Susanne stopfte schon wieder ihre Strümpfe; mit einem Eifer, als gedächte sie einen neuen Heimrekord aufzustellen. In der Wohnküche Golder herrschte jetzt wieder ein nahezu wohltuend wirkendes Schweigen; auch Otto hielt es nunmehr für angebracht, sich dem anzuschließen. Margarete war offenbar gewillt, ihre Begegnung mit dem jungen Siegert hinauszuzögern. Sie überquerte den schwacherleuchteten Flur, schaltete das Kellerlicht ein und stieg dann die Treppe hinunter. Unten blieb sie lauschend stehen und hörte, daß ›der Alte‹, der Stille, der mit Distanz geliebte und mit Vorsicht respektierte Vater, in seiner privaten Werkstatt unentwegt arbeitete: Eine Handsäge kreischte sich in regelmäßigen Abständen durch ein Stück Metall hindurch. Margarete öffnete die schwere Bohlentür, die Vater selbst gezimmert hatte, angeblich, um die Familie durch seine Arbeit nicht zu stören, in Wirklichkeit, um selbst möglichst ungestört werken zu können. Denn er liebte die Ruhe, das Alleinsein und das Weben der Fantasie in der Stille. War er besonders glücklich, was aber niemand außer Mutter merkte, begab er sich in seinen Keller; hatte er Sorgen, durchdachte er sie hier. Jetzt zersägte er, unter einer schräggestellten Arbeitslampe, ein leichtangerostetes Eisenrohr; er hatte es offenbar irgendwo abmontiert, um mit seiner Hilfe irgendeinen der unbestimmbaren Apparate, an denen er mit heiterer Leidenschaft bastelte, zu vervollständigen. »Komm nur herein«, sagte Vater Golder, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Ich baue gerade an einem neuen Falltank für Mutters Waschküche. So schaffe ich ihr einen nicht unerheblichen, bequem zugänglichen Wasservorrat, der ihr die Arbeit ein wenig erleichtern wird. Auf diese Weise verbinde ich das Angenehme, denn das und nichts anderes ist eine solche Beschäftigung für mich, mit dem Nützlichen.« Rita kam langsam näher und betrachtete dabei ihren Vater. -25-
Das Licht der hellen Lampe fiel auf ihn, und zwar derartig intensiv und ausschließlich, als befände er sich, alleiniger Mittelpunkt wichtiger Ereignisse, auf einer Bühne. Er war klein, aber breit von Statur; er stand stets ein wenig gebückt und wirkte dennoch nie müde, eher sprungbereit. Sein Haar aber schimmerte grauweiß wie altes Silber. Ein dichtes Faltennetz lag über seinem schmalen Gesicht, das von zwei Augen beherrscht wurde, die zunächst nur forschende Güte ausstrahlten, die aber, wie jeder wußte, der ihn näher kannte, einer kühlen, prüfenden Ironie fähig waren, die nicht nur junge Menschen in große Verwirrung stürzen konnte. Seine Hände arbeiteten sehr ruhig und sicher; ohne sichtbare Kraft zwar, aber in harmonischem Rhythmus und mit bannender Regelmäßigkeit. »Will denn heute niemand schlafen gehen?« fragte Vater Golder. »Vielleicht solltest du den Anfang machen, Vater?« »Ich warte auf Mutter«, sagte ›der Alte‹, wie ihn die Kinder, besonders die Söhne, mit heiterem Respekt zu bezeichnen liebten; das jedoch nur dann, wenn er oder die Mutter nicht zugegen waren. »Das kann die ganze Nacht dauern.« »Das weiß ich - aber ich bin alt und brauche daher nur noch wenig Schlaf. Doch wenn ich an deiner Stelle wäre, Rita, dann würde ich jetzt im Bett liegen oder mit einem netten Menschen Spazierengehen.« »Genau das wollte ich auch tun, Vater.« Sie lächelte ihm zu, dankbar allein schon, weil er ›Rita‹ zu ihr gesagt hatte, nicht ›Margarete‹. Denn ›Margarete‹ klang ihrer Ansicht nach sehr streng und wollte ihr bar jeder Zärtlichkeit erscheinen - in gewissen Situationen, von denen sie wußte, obwohl sie sie noch niemals erlebt hatte, mußte es, sagte sie sich, geradezu entzaubernd sein, Margarete genannt zu werden. »Ich wollte tatsächlich Spazierengehen.« Der alte Golder sah hoch, ohne seine Arbeit zu unterbrechen; -26-
er blinzelte seiner Tochter kaum vernehmbar zu, wie es ansonsten nur zwischen alten Freunden üblich ist. Dann sagte er: »Na also - viel Vergnügen.« »Das ist alles, Vater?« »Das ist sehr viel - meinst du nicht auch?« Der alte Golder betrachtete seine Tochter. Sie schien, trotz ihrer neunzehn Jahre, schon von verführerischer Reife; vollerblüht, heißblütig und von großer Lebenskraft. So, wie sie dastand, scheinbar unbekümmert, doch sich bewußt präsentierend, erinnerte sie ihn mit bestürzender Heftigkeit an seine Frau. Durch sie erlebte er den Menschen, der sein Lebensinhalt war, erneut. Nie hatte er das so heftig empfunden wie in diesem Augenblick. Und er sah zur Seite, um das Übermaß seines Glücks nicht zu zeigen. »Du läßt mich so einfach gehen?« fragte Margarete verwundert und fast ein wenig gekränkt, da sie für mangelndes Interesse hielt, was kluge Zurückhaltung war. »Du fragst nicht, mit wem ich gehen will und wie lange ich zu bleiben gedenke? Du siehst nicht einmal nach der Uhr? Du gibst mir keinerlei Verhaltungsmaßregeln?« »Soll ich das tun, Rita?« »Mutter hätte es getan!« »Das ist doch etwas ganz anderes«, sagte der alte Golder, und er hatte abermals einige Mühe, seine Freude beim Anblick Ritas nicht allzu deutlich zu zeigen. »Mutter ist eine Frau - sie versteht viel mehr von diesen Dingen als ich. Frauen kennen sich auf diesem Gebiet aus; Männer vermuten das meiste nur. Sprich also gelegentlich mit Mutter darüber. Das mit mir zu tun, will ich dir gar nicht zumuten.« »Du hast sehr viel Vertrauen zu mir, Vater.« »Du bist meine Tochter«, sagte der Alte und sägte fröhlich weiter. Und er hütete sich wohl, ihr zu sagen, in welchem Ausmaß sie seine Lieblingstochter war; berückendes Ebenbild jener Frau, die Sein Leben verändert und erfüllt hatte, die ewig -27-
jung blieb, unzerstörbar und immer gegenwärtig durch diese Tochter! Margarete konnte nicht ahnen, warum ihr Vater beharrlich schwieg, und so zögerte auch sie, weiterzusprechen. Der alte Golder spürte das; zwar sägte er unentwegt und mit den gleichen schwingenden Bewegungen weiter, doch weit weniger stark als vorhin: Das Kreischen wurde ein rhythmisches Schaben. Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als wolle er genau hören, was seine Tochter ihm mitzuteilen hatte. »Der junge Mann«, sagte Margarete behutsam, »mit dem ich mich treffen will, ist Siegfried Siegert.« Der Alte hörte auf zu sägen. Er überprüfte vorsichtig und als sei das jetzt, in diesem Augenblick, dringend vonnöten, die Zähne seines Werkzeuges mit dem Daumen der rechten Hand; dann blies er kräftig die feinen Späne aus dem Eisenrohr. Hierauf sägte er weiter. Schließlich sagte er: »Na schön, Rita wenn er dir gefällt, dann laß dich nicht aufhalten.« »Mehr willst du dazu nicht sagen, Vater?« »Kindchen - das ist doch dein Rendezvous, nicht meins.« Und als er das gesagt hatte, scheinbar gleichmütig, fast unbekümmert, dachte er intensiv an seine Frau und an damals, als sie jung war und ausgesehen hatte, wie Rita jetzt aussah. Er hatte immer noch nicht die Lehre vergessen, die ihm damals erteilt worden war und die da lautete: Niemand läßt sich zu dem zwingen, was andere sein Glück nennen. »Aber es handelt sich um Siegfried Siegert!« »Gewiß, das habe ich bereits gehört. Du mußt es mir nicht dreimal wiederholen. Meine Ohren funktionieren noch recht gut.« Margarete sah ihn mit jenen ungläubigerstaunten Blicken an, wie sie Kindern eigen sind, die nicht zu fassen vermögen, daß sie behalten dürfen, was ihnen an Wunderbarem zufällig in die Hände geriet. »Und du hast nichts dagegen?« -28-
»Nein«, sagte Vater Golder; und er unterbrach jetzt seine Arbeit, sah seine junge Tochter an und lächelte ihr zu. Und diesmal verbarg er nicht, wie sehr ihn ihr Anblick mit Glück erfüllte, welch große Freude es ihm bereitete, daß sie zu ihm gekommen war. »Fast scheint mir«, sagte er dann heiter, »daß dich meine Haltung ein wenig enttäuscht. Hast du etwa angenommen, ich würde eine Warnung aussprechen oder gar ein Verbot? Wäre dir das womöglich gar nicht einmal unwillkommen gewesen? Solltest du etwa die kühne Absicht haben, mir eine Entscheidung zuschieben zu wollen, die du ganz allein treffen mußt? Wie ist das, Rita - gefällt er dir sehr?« »Ich weiß das, wenn ich ganz ehrlich sein soll, wirklich nicht genau, Vater. Er ist mir sympathisch - er ist sehr nett, ganz besonders nett. Susanne meint sogar, er sei fabelhaft! Aber schließlich ist er ein Siegert. Und Otto vertritt die Ansicht, daß wir mit einem Siegert nichts zu schaffen haben sollten.« »Otto ist ein Esel«, sagte Vater Golder überzeugt und doch mit jener schwebenden Ironie, wie sie Menschen eigen ist, die eine Menge bitterer Erfahrungen gemacht haben und dennoch bar jeglicher Bosheit geblieben sind. »Was war eigentlich los mit diesem Siegert, Vater? Irgend etwas Besonderes muß doch einmal zwischen euch vorgefallen sein. Und einige scheinen das nicht vergessen zu können. Als Otto vorhin seine Andeutungen machte, sah er nicht wie ein Esel aus.« »Mein liebes Kind«, sagte der alte Golder friedfertig. »Kein Mensch kann auf dieser Erde ganz für sich leben. Wir stoßen immer wieder, ob wir nun wollen oder nicht, mit anderen Menschen zusammen. Keine Lebenslinie gleicht einer Schnur, in einen freien Raum hineingezogen; jede kreuzt andere Linien, umschlingt sie, wird umschlungen, verknotet sich, löst sich dann wieder, ob wir es wollen oder nicht; und manchmal merken wir -29-
es nicht einmal.« »War das eine schlimme Sache, die damals zwischen Siegert und dir und Mutter passiert ist?« »Nein«, sagte der alte Golder. »Nichts jedenfalls ist damals passiert, was für dich heute von Interesse sein könnte - auch dann nicht, wenn du dich mit einem Siegfried Siegert treffen willst.« »Danke, Vater«, sagte Margarete und lächelte ihm liebevoll zu. Er quittierte ihr Lächeln mit einem verschmitzten, kaum wahrnehmbaren Augenzwinkern. Das war, wie Eingeweihte wußten, der höchste Grad der Vertraulichkeit, den er zu vergeben hatte. Hierauf entfernte sich Margarete. Sie verließ den Keller; sie begab sich aber nicht in die Stadt, wo sie erwartet wurde. Sie betrat wieder die Wohnküche. Und hier setzte sie sich, unaufgefordert, neben Otto. Dieser Annäherungsversuch erfüllte Otto zunächst mit erheblichem Mißtrauen. Dann jedoch empfand er die Genugtuung, sich als älterer Bruder respektiert zu wissen und als bewährter Beschützer auserkoren worden zu sein. Auf Margaretes anteilnehmende Fragen erfolgten erschöpfende Antworten; und die schienen auf gläubiges Interesse zu stoßen. Otto fand, daß dieser Vorgang von familiärem Verantwortungsbewußtsein zeugte. Seine Auskünfte über den ›Fall Siegert‹ kamen einer schweren Anklage gleich.
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Siegfried Siegert, Direktor der Vereinigten Papierfabriken, der jetzt im Begriff war, zum zweiten Male in seinem Leben Vater zu werden, saß immer noch in der Halle seines Hauses. Seinen nicht sonderlich breiten Rücken hatte er der Standuhr zugekehrt, als beabsichtige er, die Zeit zu ignorieren. »Wo ist eigentlich Siegfried?« fragte er seine Wirtschafterin. Sie schaukelte gerade an ihm vorüber und hatte einen Stapel Frottiertücher an ihren stattlichen Busen gepreßt. »Im Kino«, sagte sie, blieb abwartend stehen und richtete die großen, sinnlichen Kuhaugen erwartungsvoll auf ihn. Siegert wußte nicht recht, ob er jetzt ein wenig erschüttert zu sein habe. Die Tatsache, daß der Junge in ein ordinäres Kino ging, während seine Mutter, genauer: seine Stiefmutter, ihrer schwersten Stunde entgegensah, war mehr als nur bemerkenswert - es war zu tadeln. Andererseits mußte man bei kluger Wertung der gegebenen Situation zugestehen, daß diese Lösung zwar nicht gerade als würdig bezeichnet werden konnte, dennoch aber ein brauchbarer Ausweg war: Was sollte denn der Junge hier in diesem jammernden Wirrwarr, in diesem hektischen Betrieb der sich wichtigtuenden Weiber, denen nur ein Mann und Vater recht gewachsen war? Helfen konnte er nicht, herumstehen sollte er nicht. Und schließlich war ja auch das Verhältnis des Jungen zu seiner Stiefmutter, das Verhalten der beiden zueinander, nicht gerade sonderlich liebevoll. »Hat der Junge eigentlich eine Freundin oder so etwas Ähnliches?« wollte Siegert wissen. Er stellte diese Frage, ohne dabei hochzublicken; und es schien, als gedenke er lediglich, nahezu notgedrungen, ein wenig Konversation zu machen. »Er ist gelegentlich mit der kleinen Golder gesehen worden, mit Margarete«, berichtete die Wirtschafterin bereitwillig. Siegert nickte. Siegfried war, davon durfte er überzeugt sein, ganz sein Sohn. Er fühlte das nicht nur, er wußte es ganz genau; -31-
behutsame Beobachtungen hatten zu dieser Erkenntnis geführt, sorgfältig ausgesuchte, überzeugend gelöste Aufgaben sie noch vertieft. Das stand unerschütterlich fest: Siegfried hatte sein Organisationstalent geerbt, seine kaufmännische Klarheit und das, was gemeinhin, besonders von Faulpelzen und Dummköpfen, Ehrgeiz genannt wurde. Siegfrieds wegen konnte er also beruhigt sein. Der wußte um die letzten Endes unüberbrückbaren sozialen Unterschiede, die es, bei allen Bestrebungen schwärmerischer Idealisten und umstürzlerischer Heuchler, gegeben hatte, solange die Welt besteht. Und die es immer geben wird, solange Menschen in ihr leben. Gewiß, bei jungen Menschen, deren labile Gefühle noch nicht von einem klärenden Verstand beherrscht wurden, bei diesen noch unkontrolliert reagierenden Heranwachsenden war vieles möglich, worüber das reife Alter nur die Hände über dem klugen Kopf zusammenschlagen konnte. Er wußte das; denn auch er war einmal jung gewesen. Damals jedoch, als er sich um die Frau bewarb, die heute die Hebamme Golder war, war sie - was als entscheidend angesehen werden mußte! - die Tochter eines ebenso reichen wie geachteten Kaufmanns. Heute aber könnte es sich lediglich um die Tochter dieser Frau handeln, um das Kind eines Schlossers also. Und Siegfried war doch schließlich der alleinige Erbe des mit Abstand größten Besitzes, des ansehnlichsten Vermögens der Stadt, des Kreises sogar. Das, sagte sich Siegert zuversichtlich, sind Mauern, die niemand von außen übersteigen kann! »Geht oben alles in Ordnung?« fragte er, zufrieden vor sich hinlächelnd. »Im allgemeinen schon«, sagte die Wirtschafterin. Sie atmete heftiger, denn sie wußte, daß erhöhte Lungentätigkeit ihren stattlichen Busen verlockend in Bewegung setzte und außerdem noch in der Lage war, erregte Empörung vorzutäuschen. »Aber diese Hebamme benimmt sich, als gehört ihr das ganze Haus.« »Dafür trägt sie auch die alleinige Verantwortung«, sagte -32-
Siegert. »Sie behandelt uns wie Angestellte«, sagte die Wirtschafterin; und sie war bemüht, das wie eine sachliche Feststellung zu sagen und beschwörende Untertöne zu vermeiden. Auch hielt sie es für angebracht, das Wogen ihres Busens einzustellen, da er es nicht zu bemerken schien. Sie glaubte ihren Herrn recht genau zu kennen, und sie war ihm treu ergeben, durch mehr als ein Jahrzehnt hindurch; selbst noch nach dieser Ehe, die sie für eine menschliche Katastrophe hielt und unter der sie mit Haltung litt. »Wie Angestellte!« »Das«, sagte Siegert bedächtig, »trifft ja auch zu - nur handelt es sich in diesem Fall um meine Angestellten und nicht um die der Hebamme Golder. Ich bitte sie also zu mir.« Die Wirtschafterin nickte zustimmend. Sie sah ihn noch einmal mit ihren dumpfglänzenden Tieraugen hingebungsvoll an, sodann setzte sie sich in Bewegung, das kunstseidene Kleid, im schlichten Schwarz der dienstbaren Geister, allseitig prall ausfüllend. Ihre betonte Eilfertigkeit sollte anzeigen, wie überaus willig sie war. Siegert nippte indessen wieder ein wenig an seinem Glas. Die Wirtschafterin kam wieder zurück und stellte sich dicht vor ihm auf, so daß er an ihr das Lavendelwasser seiner Frau hätte riechen können, wenn er sich für derartige Darbietungen interessiert haben würde. »Sie will nicht!« berichtete sie. »Sie sagt, sie habe jetzt keine Zeit.« Siegert tupfte seine Zigarre ab; er erhob sich mit einer gewissen Spontaneität, doch ohne sonderliche Hast. Er ging mit kleinen festen Schritten auf die Treppe zu, die in das obere Stockwerk führte, wo sich das Schlafzimmer seiner Frau befand. Er stieg hinauf, knarrende Geräusche erzeugend, gereckt und mit abgezirkelter Bewegung; wie ein Soldat, der aufwärtsschreitet, um einen untergeordneten Wachtposten an seine Aufgaben zu mahnen. -33-
Plötzlich begann er zu erstarren. Er hatte den einen Fuß bereits erhoben, um eine neue Stufe zu gewinnen; er ließ ihn wieder sinken. Seine Schultern, leicht vorgebeugt, um das Gleichgewicht zu halten, beugten sich noch einige Zentimeter weiter vor, blieben dann regungslos; und es schien, als hinge der Mensch an ihnen. Ein heller, anhaltender Schrei drang ihm entgegen, der in ein zitterndes, flatterndes Stöhnen überging. Er umkrampfte das Geländer, auf dem seine Hand gelegen hatte und sagte: »Mein Gott, wie ist das nur möglich!« Mutter Golder stieß die Tür auf. Das Stöhnen wurde lauter, warf sich ihm entgegen, schien das ganze Haus auszufüllen, benahm ihm den Atem. Er spürte tief im Magen, daß ihm schlecht wurde. »Das heiße Wasser und die warmen Tücher!« rief Mutter Golder. Dann schlug sie die Tür wieder hinter sich zu. Das geschah mit einer Rücksichtslosigkeit, die Siegert barbarisch erscheinen wollte, ihn jedoch, wie elektrisierend, übergangslos in heftige Erregung riß. »Hören Sie denn nicht!« schrie er die Wirtschafterin an. »Das heiße Wasser und die warmen Tücher!« Die Wirtschafterin lief wie ein aufgescheuchtes Huhn davon. Die Köchin trabte mit einem riesigen dampfenden Gefäß an. Und das Dienstmädchen jagte mit einem halbgefüllten Eimer, dem ein entsetzlicher Geruch, wie aus Krankenhausluft und Schlachthofgestank, entströmte, an Siegert vorüber. Eine erneute, schrille, endlos erscheinende Schreifolge, trotz der geschlossenen Tür von quälender Stärke, stürzte sich dem Mann entgegen. Siegert spürte, daß ihm der Schweiß ausbrach. Mühsam, als habe ihn jegliche Kraft verlassen, stieg er die Treppe abwärts. Verfolgt von den hellen, sich jagenden Schreien, stürzte er in die Halle, auf den Kamin zu, in dem noch niemals ein Feuer -34-
gebrannt hatte. »Mein Gott!« rief er unterdrückt, wobei er, ihm völlig unbewußt, seinen Kopf an eine Vase aus echtem Delfter Porzellan lehnte; sie spendete ihm ein wenig Kühle, ohne die Glut in ihm eindämmen zu können. »Das habe ich nicht gewollt! Warum muß sie so fürchterlich leiden? Ich will nicht, daß sie für mich leidet! Das habe ich nicht verdient. Ich habe viel zuwenig für sie getan; ich habe ihr keine Sorgen abgenommen und sie an den meinen nicht genügend teilnehmen lassen. Ich habe sie ohne sonderliche Liebe mehr aus Bequemlichkeit, vielleicht sogar aus Berechnung, und weil ich mich einsam fühlte, zu meiner Frau gemacht - und jetzt muß sie dafür bezahlen! Mein Gott, sie darf nicht sterben! Laß sie leben, mein Gott!« Er preßte die Hände auf den Sims des Kamins, neigte den Kopf vor, so weit, daß er jetzt die wunderbare Delfter Vase zur Seite schob, bis sie herabzufallen drohte. Und während seine Knie zu schlottern begannen und sich seine Stimme, die ihm nicht mehr zu gehorchen schien, in ein hastiges Gestammel verlor, während er also der Kontrolle über sich und seine Gefühle entsagte, sprach er kaum vernehmbar weiter zu sich: »Ich werde anders leben, wenn sie diese Stunden überlebt. Ich werde fortan immer zart und rücksichtsvoll sein, wie sie es verdient und wie es sich für mich gehört, denn sie war stets bestrebt, mich glücklich zu machen.« Er horchte in den Raum hinein. Stille umgab ihn jetzt - es war eine friedvolle, fast feierliche Stille. Freudige Erwartung stieg in ihm auf. Und jetzt schien es ihm, als beginne dort oben ein Kind zu schreien; hell, heftig und mit beglückender Ausdauer. Ein kräftiges Stimmchen krähte sich in die Welt. Siegert lächelte entspannt. Dann stieg er diesmal auf Zehenspitzen, erneut die Treppe hinauf. Er wurde von Mutter Golder bereits an der Tür abgefangen und unnachsichtig zurückgewiesen. -35-
Geduldig wartete er vor der Tür. Er lauschte den Geräuschen, die zu ihm drangen. Er vermochte sie nicht zu deuten; sie waren jedoch jetzt bar jeglicher Hast und zeugten von einer fast freudigen Geschäftigkeit. Sie taten seinen Ohren gut und erwärmten sein Herz. Hoffnungsvoll übte er sich in Geduld und wartete, bis die Hebamme wieder erschien. Mutter Golder sagte: »Die Geburt war kompliziert, aber nun ist es überstanden. Der Mutter geht es den Umständen nach gut. Das Kind ist gesund und ganz normal. Es ist ein Junge.« »Ich danke dir«, sagte Siegert und schien ehrlich bewegt. Er trat dabei auf Mutter Golder zu, breitete seine Arme aus und machte Anstalten, sie zu umarmen. »Das«, sagte sie abwehrend, »würde wirklich zu weit gehen. In einer halben Stunde kannst du deine Frau beglückwünschen und das Kind betrachten.« Sie wandte sich ab, damit er ihr Lächeln nicht sah. Sie lächelte über ihn, wie sie über einige hundert Väter vorher gelächelt hatte; voller Nachsicht und nicht ganz frei von mütterlicher Überlegenheit. Aber da sie ihn noch immer recht gut kannte, wußte sie auch, daß es nicht ratsam sei, ihn dieses Lächeln sehen zu lassen - er würde es prompt mißdeuten. So zog sie denn die Tür wieder hinter sich zu und ließ ihn allein. Siegert stand noch geraume Zeit im oberen Flur, angeweht von Glück und erfüllt von Zufriedenheit. Dann stieg er, gleich einem Sieger, die Treppe hinunter. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte die Wirtschafterin. Sie hatte sich an ihn herangepirscht und stand nun vor ihm, gereckt und massig, fast so, als erfülle sie Genugtuung bis zum Bersten. »Danke«, sagte Siegfried Siegmund Siegert, und er nickte ihr leutselig zu. Ihre Aufgeblasenheit hielt er für übertriebene, doch nicht zu tadelnde Anteilnahme. »Sie können ein Glas Champagner mit trinken, wenn Sie wollen.« »Gerne«, sagte die Wirtschafterin. Sie setzte sich vorsichtig -36-
auf die Kante eines Sessels, klemmte die runden Knie betont züchtig aneinander und schob den Busen leicht vor, ihm entgegen. Während sie ihm somit willig gute Übersicht gewährte, blickten ihn ihre großen Schleiereulenaugen fordernd betrübt an. »Es ist mir eine Ehre«, sagte sie. Sie öffnete ihre vollen Lippen, ließ eine Reihe gesunder Pferdezähne sehen und lächelte ihn mit verlangender Ergebenheit an. Doch zu ihrem Glück schien Siegert, allein beherrscht von rauschhafter Zufriedenheit, ihre Darbietungen überhaupt nicht zu bemerken. »Auf Ihr Wohl, Herr Siegert.« »Auf das meines Hauses«, korrigierte der freundlich. Sie nippte an ihrem Glas und hielt es dann steif vor sich hin. Sie öffnete ihren Mund, schloß ihn jedoch sofort wieder, als koste es ihr große Mühe, das Wort an ihn zu richten. Sie nippte abermals an ihrem Glas; dann trank sie es, als müsse sie sich stärken, in einem Zug leer. Schließlich sagte die Wirtschafterin, den Kopf ein wenig gesenkt, aber die Augen auf ihn gerichtet: »Komisch eigentlich - ich wußte gar nicht, daß Sie auch noch Gustav heißen.« »Ich heiße Siegfried Siegmund Siegert«, erklärte der Mann vor ihr; und er verbarg seinen Unwillen über derartig herausfordernd dumme Gedankengänge seiner Wirtschafterin hinter würdiger Gelassenheit. »Wirklich sehr komisch«, sagte die stattliche Person vor ihm; sie wich jetzt seinem Blick aus und gab sich mit letzter Kraft völlig harmlos. »Denn als Ihre Frau in den Wehen lag, hat sie mehrmals ›Gustav‹ gerufen. Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört. Aber es war ganz deutlich. Vielleicht hat sie sich versprochen.« Siegert erstarrte. Seine Augen wurden klein, und seine Lippen glichen zwei waagerechten, dicht nebeneinanderliegenden Strichen. Sein vorher leicht gerötetes Gesicht sah plötzlich grau -37-
aus. Und die Finger, die spielerisch am Stiel des Champagnerglases hinauf- und hinuntergeglitten waren, blieben kurze Zeit bewegungslos und griffen dann sofest und krampfhaft zu, daß das Glas brach. Das Mißtrauen, das in langen Jahren eines aufreibenden Existenz und Konkurrenzkampfes ausreichend Nahrung erhalten hatte, schnellte in ihm hoch, als sei ein Wasserhauptrohr gebrochen. Sein hastig arbeitendes Hirn fahndete nach dem Namen Gustav. Aber er kannte niemanden, der so hieß; in seiner Familie nicht und in seiner Umgebung auch nicht. Doch es mußte diesen Gustav geben! Ein kurzer Seitenblick auf seine Wirtschafterin ließ keinen Zweifel darüber aufkommen: Sie hatte diesen Namen gehört, und also war er gefallen! Was hatte das zu bedeuten? Wenn es das wirklich bedeutete, was zu vermuten war, dann war das eine menschliche Katastrophe schlimmsten Ausmaßes! »Das ist doch nicht wahr«, sagte er dann tonlos. »Das kann doch gar nicht wahr sein.« sich den Schädel an der Kombüsentür eingerannt und der Erste lag mit Malaria in der Koje - Malaria ist eine Krankheit, kein Weib!« Emil lachte kräftig, um so den Anwesenden anzudeuten, daß auch sie Veranlassung zum Lachen hätten; und also wieherten sie freudig. Dann tranken sie einen Rum mit Zucker. Und dann noch einen Rum, nunmehr einen doppelten, ohne Zucker. Und als einer wissen wollte, wo Emil eigentlich diesmal überall ›hingeschifft‹ habe, ob seine Reisen an Gefahren groß und reich an Abenteuern gewesen wären, da winkte der Weltumsegler nur gelassen ab. »Nicht sonderlich aufregend - für einen alten Seemann wie mich jedenfalls nicht«, berichtete Emil zwischen dem zweiten und dritten Rum, der diesmal mit Arrak vermischt war, nach Emils Erklärung ein Getränk für wärmere Gegenden und mittelmäßige Windstärken. »Nur mal schnell runter nach Neuseeland und Australien, und dann mal rauf nach Hongkong -38-
und Tokio. Geladen hatten wir Nähmaschinen und Ölsardinen so stand das jedenfalls auf den Kisten und in den Papieren. Aber mit den Nähmaschinen konnte man Löcher in die Gegend knallen; und wenn einer auf die Idee gekommen wäre, sich die Ölsardinen mit dem Streichholz zu besehen, wäre er glatt in die Luft geflogen - und die ganze ›Odysseus‹ mit.« »Na, na!« rief einer aus dem Hindergrund. »Der gibt ja mächtig an!« Er lachte herausfordernd. Da er erst in den letzten Monaten zugezogen war, kannte er also Emil noch nicht und hatte daher auch nicht die geringste Ahnung, daß es nicht nur unangebracht, sondern sogar gefährlich war, die Berichte des mehrfachen Weltumseglers anzuzweifeln. »Der flog glatt in die Luft!« sagte Emil freudig bewegt. Und er bemerkte mit Anerkennung, daß die Anwesenden instinktiv einen freien Raum um den leichtsinnigen Zweifler geschaffen hatten. »Ungefähr so!« Und nun knallte Emil dem voreiligen Zwischenrufer seine mächtige Faust unter das Kinn. Der zuckte kurz hoch, kippte dann nach hinten und segelte über den Boden. Schließlich landete er unter einem Tisch. »Kinder!« rief Emil beglückt, »bei euch ist es immer so furchtbar gemütlich! Aber ich muß mich dennoch von euch losreißen, so schwer es mir auch fällt. Auch meine Familie hat ein Anrecht darauf, von mir beglückt zu werden. Doch ihr wißt ja, wo ihr mich fast jeden Abend finden könnt. Und am Samstag in zwei Wochen will ich euch alle wieder sehen - zu Emils Seemannsball; wie alljährlich im Hirschen!« Damit ging Emil mit wiegenden Original-Seemannsschritten, und drei besonders begeisterte Anhänger begleiteten ihn. Sie schleppten ihm, sehr bald keuchend, seinen überdimensionalen Seemannssack und die beiden Koffer nach. Emil brummte derbe Lieder vor sich her und begrüßte zwischendurch die wenigen Bürger, die bereits aufgestanden waren; das tat er mit ebenso -39-
herzlichen wie kräftigen Worten, ob er die Beglückten nun kannte oder nicht. Denn er war überzeugt, daß sie ihn alle kannten. In der Ritterstraße Nummer vierzig wohnte die Familie Golder. Hier stellte er sich breitbeinig mitten auf das Pflaster, holte tief Luft und trillerte sodann gellend und mit Ausdauer auf einer Seemannspfeife. Vereinzelte Fensterscheiben in der Nachbarschaft klirrten unwillig. Er brüllte: »Alles aufstehen und Ladung löschen! ›Odysseus‹ läuft ein.« »Emil ist wieder da!« rief Rita. Sie war als erste aufgewacht und trachtete, ihre taumelnde Halbschlafträgheit durch heftige Gesichtsmassage zu überwinden. Sie sprang von ihrem Lager auf und zwängte sich durch die Reserve- und Aufstellbetten hindurch, in denen die Geschwister noch mit dem Schlaf kämpften. Sie lief, barfuß und im Nachthemd wie sie war, durch die Küche, über den Flur, auf die Straße hinaus, Emil entgegen. Emil brüllte beim Anblick seiner Lieblingsschwester ein gedehntes, freudiges »Ah!«. Er breitete seine Arme aus, umfaßte Margarete und wirbelte mit ihr dreimal um die eigene Achse, hob sie dann hoch über sich. »Rita, du Rabenaas!« rief er begeistert. »Eine reine Freude, dich zu sehen. Und von Jahr zu Jahr wirst du strammer.« Er setzte sie ab und gab ihr einen herzlichen Klaps auf das wohlgeformte Hinterteil. »Au!« schrie Rita. »Alter Seemannsbrauch«, versicherte Emil. »Aber du bist hier nicht in einer deiner Hafenkneipen.« »Leider«, röhrte Emil, »leider! Da war ich doch neulich in Schanghai - aber das geht dich schließlich nichts an. Minderjährigen ist der Zutritt verboten: Oder hast du etwa schon versucht, zu erfahren, was Liebe ist?« »Nur so ganz flüchtig.« -40-
Emil stellte seine kleine, niedliche Schwester vor sich auf. Sein breitflächiges, biederbrutales Fleischergesicht mit den rührend blauen, einfältig dreinblickenden Kinderaugen glänzte ihr entgegen. »Das eine sage ich dir: Wenn der Kerl bei dir nicht rangeht, ist er ein Idiot; aber wenn er dich nachher nicht heiratet, ist er eine Leiche. So wahr ich Emil heiße!« Er schlang seinen muskulösen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich; so vermittelte er ihr eine Probe der gewaltigen Kraft, die gegebenenfalls zu ihrer Verfügung stand. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte seine unrasierte Wange; er nahm das zufrieden brummend zur Kenntnis. Arm in Arm betraten sie sodann die Wohnküche; dorthin ließ er auch seinen Seesack und das sonstige Gepäck transportieren. Alle im Hause anwesenden Geschwister schoben sich auf den großen Bruder zu. Sie waren nur flüchtig bekleidet. Die männlichen Familienmitglieder begrüßten ihn herzlich, denn sie hatten ihn gern; er war der denkbar selbstloseste Beschützer und Ratgeber, sofern er sich nur respektiert wähnte. Die weiblichen Familienmitglieder aber liebten ihn; für sie war er der Inbegriff gewaltiger Männlichkeit, dem selbst Filmstars nicht das Wasser reichen konnten. Jedesmal, wenn er im Elternhaus›aufkreuzte‹, gab es für sie ein Fest. Und so schöne und schreckliche Geschichten, wie er sie pausenlos erzählen konnte, standen nicht einmal im Wochenblatt. Emil hielt kurze Musterung. Er fand die meisten unverändert, vor allen Dingen in ihrer Zuneigung zu ihm; und das bezeichnete er als erfreulich. Dann begab sich Emil an die Tür, hinter der seine Eltern schliefen. Er klopfte hier nahezu behutsam, mit der Spitze des rechten Zeigefingers, das sah ein wenig seltsam aus und ließ an ein geheiligtes Ritual denken. Obendrein noch schien ihn dieser Vorgang mächtig anzustrengen. Er grinste dabei seinen Geschwistern, nicht wenig verlegen, zu. Artig wartete er auf ein -41-
Zeichen von innen. »Komm nur herein, mein Sohn«, rief Golder. Emil nahm, was nicht nur die Geschwister, sondern auch ihn selbst verwunderte, seine Mütze ab; dann fuhr er sich schnell mehrmals mit den gespreizten Fingern seiner linken Hand durch die Haare. Er zog sogar den Rockärmel über eine seiner schönsten Tätowierungen, die sich über seinem Handgelenk befand; sie stellte einen Affen dar, der in einen vornehmen Handspiegel blickte. »Guten Tag, Vater«, sagte er dann, als er vor dem Bett des ›A1ten‹ stand, der sich in den Kissen aufgerichtet hatte. Und er sprach jetzt bemerkenswert gedämpft, wie zu niemandem sonst, mit feierlichergebenen Untertönen. Auch hatte sein Blick jede unbekümmert kühne Forschheit verloren, mit der er sonst die Welt und ihre zumeist kläglichen Produkte betrachtete. »Wollte wieder mal sehen, wie es euch geht.« »Herzlich willkommen, Emil«, sagte Vater Golder und streckte seinem Sohn die magere Hand entgegen. Dieser ergriff sie nahezu behutsam und schüttelte sie nicht ohne Ehrfurcht. »Wo ist denn eigentlich Mutter?« fragte Emil. Er fühlte sich unter den sanftprüfenden Blicken seines Vaters nicht sonderlich behaglich und spürte Verlangen nach mütterlicher Wärme. »Mutter ist beschäftigt«, sagte der alte Golder. »So alle vier oder fünf Tage wird hier bei uns immer noch ein Kind geboren und da darf sie natürlich nicht fehlen.« »Wir sehen uns dann ja noch später«, sagte Emil. Er benahm sich immer noch bemerkenswert zahm; und jetzt deutete er sogar, ziemlich unbeholfen, eine Verbeugung an, wie sie Schüler produzieren, die sich von ihrem Lehrer zurückziehen, der ganz gegen jedes Erwarten keine guten Noten ausgeteilt hat. »Ich will auch weiter nicht stören.« Damit entfernte sich das Prunkstück der Familie aus dem Schlafzimmer seiner Eltern. Und kaum hatte er die Schwelle -42-
übertreten, die Tür hinter sich geschlossen, da wuchs er wieder zu beherrschender Größe; er dehnte seine Brust, und sein Gesicht schien verraten zu wollen, daß er soeben eine große Prüfung mit zu erwartendem Erfolg bestanden habe. Nachdem er so sein Selbstbewußtsein wieder gefunden hatte, begab er sich in die Wohnküche. Und hier umstanden die Geschwister erwartungsvoll sein Gepäck. »Der Alte«, sagte Emil, langsam wieder auf volle Lautstärke drehend, »hat sich aber auch gar nicht verändert. Wenn ich ihn sehe, muß ich immer an einen meiner Kapitäne denken, der einmal ein berühmter Walfischfänger gewesen war. Wenn der einen ansah, hatte man das Verlangen, auf die höchste Mastspitze zu kriechen. Ich war eigentlich der einzige, der ihm einigermaßen gewachsen war; und einmal, in einer vertrauten Stunde, wir tranken gerade die dritte Flasche Scotch, und zwar Red Label, zeichnete er mich dadurch aus, daß er behauptete, er habe schon immer gewünscht, daß ich dabeigewesen wäre, als er noch Walfische jagte.« Dieser Vergleich, so schmeichelhaft er auch war, schien Emil dennoch nicht sonderlich zu gefallen. Er traf nicht den Kern der Sache; die wenig zustimmende Reaktion seiner Geschwister zeigte ihm das deutlich. Vater und ein Walfischfänger hatten nicht viel Gemeinsames, und der weite Ozean war etwas anderes als die enge Wohnung in der Ritterstraße. Es schien daher geraten, das Thema zu wechseln. Er holte tief Luft und fragte dann dröhnend: »Bei wem angelt denn diesmal Mutter Golder Babys aus dem großen Teich?« Zu seiner Überraschung schien niemand rechte Lust zu verspüren, ihm diese Frage zu beantworten. Eine gewisse schleichende Verlegenheit machte sich breit; sie hatte automatisch bei Emil wachsende Neugier zur Folge. Gustav war der erste, der erkannte, daß die Wahrheit nicht verschwiegen werden könne; und es wurde ihm auch klar, daß ein Hinauszögern der geforderten Antwort nichts anderes bedeuten -43-
würde als ein wenig wünschenswertes Ansteigen von Emils Interesse. »Bei Siegert«, sagte er daher. »Bei Siegert!« brüllte Emil überrascht auf. Und auf seinem großflächigen Gesicht zeigte sich zunächst Verblüffung und dann Empörung; aber es verging geraume Zeit, bis ihm klar wurde, warum er eigentlich empört war. Nachdem das in ihm geklärt war, überzog Zornesröte sein Gesicht; und im Geiste sah er vor sich Siegert, den er, der Offenherzige, Weitgereiste, für einen heimtückischen Skorpion hielt. »Ausgerechnet bei dieser Niete! Wie hat der wohl ein Kind fertiggebracht?« »Du kannst ihn ja mal fragen«, empfahl ihm Rita unbekümmert. »Das werde ich auch tun«, verkündete Emil spontan, zur allgemeinen und auch zu seiner eigenen Überraschung. Er stülpte sich seine Mütze unternehmungslustig über den Schädel und rieb sich vielversprechend die Hände. »Schließlich muß ich meinem lieben Mütterchen ›Guten Tag‹ sagen. Will etwa jemand mitkommen?« Die Anwesenden empfanden über soviel streitbare Entschlossenheit in diesem doch wohl sehr heiklen Punkt wachsendes Unbehagen. Sie bedauerten, daß Paul, der Polizist, nicht anwesend war, da er Nachtdienst hatte; er wohl alleine hätte Emil in dieser Situation zu einem klärenden, behutsamen Gespräch veranlassen können. So aber war es völlig hoffnungslos, an Emils Einsicht zu appellieren. Und überdies war es gefährlich, Emil durch Widerspruch noch mehr zu reizen. Er war da; und also herrschte und handelte er, wie er allein es für richtig hielt. Niemand bekundete also das Verlangen, Emil auf diesem wahrlich nicht ungefährlichen Gang zu begleiten. Das verwunderte den Heimgekehrten ein wenig; denn er war es bisher gewohnt, daß ihn, solange er die Straßen seines Heimatstädtchens durchschritt, Trabanten jeglicher -44-
Größenordnung erwartungsvoll umkreisten. »Ich komme mit«, sagte Rita, nachdem ihr die besorgte Susanne unmißverständlich fordernd in die Seite gestoßen hatte. »Ich will dich wenigstens bis zur Ecke begleiten.« Emil nickte zunächst seiner flotten Lieblingsschwester zu, dann allen anderen Anwesenden, deren spürbare Besorgtheit ihn erfreute. Er rückte sich augenzwinkernd und mit kunstvollem Griff die Mütze schief und trabte dann, mit einem Arm Rita umschlingend, davon. »Mach keine Dummheiten, Emil«, sagte Rita, scheinbar überaus zutraulich und wie von bewundernder Anhänglichkeit erfüllt. »Nie!« versicherte Emil. Und er atmete die Morgenluft schnuppernd ein; das Meer ist das nicht, wollte er damit sagen, aber die Heimat ist das schon. Und ein Mann, der die hohe See beherrscht, wird auch mit den Problemen des kleinstädtischen Alltags fertig. »Dieser Siegert, Kindchen, ist für mich nicht mehr als eine Laus ich zerquetsche ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, wenn ich will.« »Tu mir den Gefallen«, beschwor ihn Rita, dicht an ihn geschmiegt, »und mach bei dem kein Theater. Ich bitte dich darum, und ich habe meine Gründe dafür - sehr persönliche Gründe sogar. Ich hoffe, du verstehst mich.« »Schau mal einer an!« rief Emil dröhnend und blieb mitten auf der leeren Straße stehen. Er betrachtete Margarete, als sehe er sie zum erstenmal; doch in seinen Augen lag verständnisvolles Wohlwollen. Denn er, der selbstverständlich auch in den intimsten Dingen Vielerfahrene, genoß die freudige Überraschung, die ihm seine kleine Schwester bot. Er verstand sie sofort; er würdigte das ihm entgegengebrachte Vertrauen und war selbstverständlich bereit, es nicht zu enttäuschen. »Der junge Siegert«, sagte er bedächtig, »ist so uneben nicht; und er muß ja nicht unbedingt genauso wie sein Alter werden. -45-
Dann nämlich würde ich schwarz sehen!« »Meine Bitte an dich«, sagte Margarete vorsichtig, »hat nichts mit bereits bestehenden, also vollendeten Tatsachen zu tun. Ich wollte dich nur auf eine eventuelle Möglichkeit hinweisen.« »Nun gut«, gestand Emil sofort zu, geschwellt von dem wohltuenden Gefühl, Vertrauen durch Großzügigkeit quittieren zu können. »Wenn dein persönliches Interesse derartig stark ist, dann ist es für mich Ehrensache, darauf Rücksicht zu nehmen. Aber deinen Knaben sehe ich mir bei nächster sich bietender Gelegenheit an - einverstanden?« »Einverstanden«, sagte Rita. Wesentlich erleichtert und sehr liebevoll verabschiedete sie sich von ihrem großen Bruder, der sich aufrichtig und nahezu hingebungsvoll bewundert wähnte. »Du kannst dich auf mich verlassen«, rief ihr Emil nach. Und seine mächtige Stimme schien mühelos dazu geeignet, einen Großteil der Bewohner des kleinen Städtchens aus dem Schlaf zu reißen. »Schließlich bin ich ein Mann von Welt!« Er fand das Haus, das am Rande der Stadt in einem Garten lag, ohne erst lange danach suchen zu müssen. Schon als Knabe hatte er gewußt, wo es stand. Und nachdem er in jungen Jahren ein Gespräch zwischen Tanten belauscht hatte, das ihm über das Verhältnis seiner lieben Mutter zu diesem Kerl hinreichend Aufklärung bescherte, war er mit einem Stein bewaffnet über den Zaun gestiegen. Geworfen allerdings hatte er diesen Stein nicht; das liebte er heute noch als fehlgeleitete Anständigkeit zu bezeichnen. Der Wunsch jedoch, dieses Versäumnis nachzuholen, wurde immer wieder in ihm wach, sobald er nur den Namen Siegert hörte. Er überquerte den Vorgarten; seine raumgreifenden Schritte schienen kein Zögern zu kennen. Er betrat das Haus; da auch die Eingangstür offen war, brauchte er nicht erst umständlich anzuklopfen und zeitraubend auf eine Aufforderung zum Eintreten zu warten. -46-
Er stampfte in die Halle hinein, als betrete er respektgebietend eine Kommandobrücke. Und hier fand er seine Mutter vor, die gerade die Treppe heruntergekommen war und ein neugeborenes Kind auf dem Arm trug. Im Hintergrund saß in einem Sessel dieser Siegert; Emil beschloß, ihn vorerst einfach zu übersehen. »Guten Morgen, Mutterchen«, sagte Emil und ging ihr entgegen, mit breitestem Lächeln und lärmhafter Zärtlichkeit. »Da bin ich wieder einmal! Das wollte ich dir nur mitteilen.« Er umarmte seine Mutter, ohne dabei das Kind, das sie hielt, zu gefährden, worauf er sehr stolz war. Er löste dann seine Arme behutsam von den Schultern der ›alten Dame‹, wie er sie zu nennen liebte, klopfte ihr auf den Rücken und nickte ihr mit freudiger Bewegtheit zu. Dabei konnte er es sich jedoch nicht verkneifen, einen Blick auf diesen Siegert zu werfen; und es mißfiel ihm sehr, daß dieser schäbige Geldsack einer doch gewiß rührenden und erhebenden Szene mit einer derartigen Teilnahmslosigkeit zusah. Emil beschloß, das als eine Herausforderung zu betrachten; sein Versprechen Rita gegenüber hatte er völlig vergessen. »Ich komme gleich nach Hause, Emil«, sagte Mutter Golder. Sie blinzelte ihm liebevoll zu und gab deutlich ihre Freude darüber zu erkennen, daß er endlich wieder einmal da war; nicht weniger strapaziös zwar wie sonst auch, aber doch gesund, was die Hauptsache war. »Bitte, geh schon voraus und setz das Kaffeewasser auf - wir plaudern dann noch ein wenig.« »Was ist das für ein niedlicher Affe!« sagte Emil mit spontanem Einfall. Und er wies auf das vor kurzem geborene Kind, das sie in ihren Armen trug. »Das ist Herrn Siegerts Sohn« sagte Mutter Golder. Sie wandte sich von Emil ab und dem Mann Siegert zu. Der lehnte scheinbar gleichgültig in seinem Sessel, desinteressiert und offenbar nicht willens, den Ereignissen um sich die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. -47-
Die Hebamme Golder vermochte sich sein Verhalten nicht zu erklären; und darüber war sie nicht wenig betrübt, hatte sie doch geglaubt, ihn recht gut zu kennen. »Hier ist dein Sohn, Siegert«, sagte sie. »Das soll der Vater sein?« rief Emil. Und er produzierte ein herzhaftes Gelächter, das Siegert, wie er freudig bemerkte, tief zu treffen schien. Emil schloß daraus, daß dieser trübe Gummisohlenbesitzer keinen echten männlichen Scherz vertrug. »Keine Spur von Familienähnlichkeit!« »Du gehst jetzt«, sagte Mutter Golder zu ihrem vorlauten Sohn. »Raus!« rief Siegert wutbebend. Er hatte sich erhoben und schien mit flatternden Bewegungen nach einem Gegenstand zu suchen, der geeignet war, an Emils Kopf zu landen. Siegert war jetzt bar jeglicher Selbstkontrolle und versprühte hilflose Wut. Abermals schrie er: »Raus - Sie abscheulicher Mensch!« Emil neigte ein wenig den Kopf, wie es ein Stier tut, der nach heftigem Schnauben nunmehr gewillt ist, zum tätlichen Angriff überzugehen. »Du verläßt sofort dieses Haus«, sagte Mutter Golder bestimmt. Emil wich zurück. Er sah seine Mutter nahezu flehend an, einem Kind vergleichbar, dem ein ersehntes Spielzeug verweigert wird. Doch er fand keinerlei Gnade vor ihren Augen, nicht einmal Verständnis vermochte er darin zu lesen, was ihn tief betrübte. So schlich er denn wie ein zu Unrecht geprügelter Hund davon, allerdings nicht, ohne noch einen drohenden Blick auf Siegert zu werfen, der ihm anklagend nachstarrte. »Die Wahrheit wird man doch wohl noch sagen dürfen«, maulte Emil, ehe er endgültig ging.
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Siegert war erschüttert. Er begab sich auf die Terrasse, um von hier aus in den Garten zu sehen, der nach seinen eigenen, wohldurchdachten Angaben bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten in sinnvoller Planung angelegt und bepflanzt worden war. Er blickte den schnurgeraden Hauptweg entlang, der zu den sogenannten Familieneichen hin führte. Die hatte er zeremoniell und spielerisch zugleich gepflanzt. Eichen - für jedes Mitglied seiner Familie eine; der Erde anvertraut unter gutgelaunten Gesprächen just an dem Tag, da sich die Familie vermehrt hatte - sei es nun durch Geburt oder durch Hochzeit. Und in besonders zukunftsträchtigen Stunden, bei einem Johannisberger oder gar einer Flasche MM, hatte er von einem kleinen Eichenwald geträumt, dessen Begründer er war und der die Jahrhunderte, seinen Namen verkündend, überdauern würde. Der Gedanke aber, daß möglicherweise jetzt gar kein Anlaß mehr bestünde, eine neue, von Familienstärke und Familienstolz kündende Eiche zu pflanzen, traf ihn tief ins Herz. Daß darüber hinaus sogar einer dieser kernigen, Generationen überdauernden Bäume unter Umständen zuviel gepflanzt worden sein könnte, der seiner jetzigen Frau nämlich, diese aufdämmernde Erkenntnis beunruhigte ihn mehr und mehr. »Willst du denn immer noch nicht deinen Sohn sehen?« fragte Mutter Golder. Sie war ihm besorgt nachgegangen und stand jetzt in einiger Entfernung hinter ihm. Siegert vermied es, hierauf sofort zu antworten. Er hatte es von jeher verabscheut, irgendeinen anderen Menschen, und schien er ihm auch noch so vertraut, genau das wissen zu lassen, was er wirklich dachte. Das geschah einmal, um die Kraft seiner Selbstbeherrschung zu demonstrieren, insbesondere vor sich selber; dann aber auch, um keinerlei interne oder gar intime Vertraulichkeiten innerhalb seiner engeren oder näheren Umgebung aufkommen zu lassen. Denn nach den von anderen gemachten Erfahrungen pflegten sich derartige menschliche -49-
Schwächen eines Tages garantiert wie fällig gewordene Wechsel zu präsentieren, die rücksichtslos zur Zahlung drängten. »Ist soweit alles in Ordnung?« fragte er; und er war nicht ganz überzeugend bemüht, hausherrliche Überlegenheit auszustrahlen und Distanz zu schaffen. »Ich meine: Bestehen irgendwelche Komplikationen?« Mutter Golder schloß ein wenig die Augen, als habe sie einen leichten Schmerz oder eine kurze Müdigkeit zu überwinden. Sie sagte, sich ihm langsam nähernd: »Ich bin als Hebamme hier, und als solche habe ich das getan, was gemeinhin Pflicht genannt wird; es ist also alles in Ordnung. Deine Frau hat die Geburt ihres Kindes gut überstanden, dein Sohn ist gesund und besonders stattlich - warum willst du ihn also nicht sehen?« »Ich pflege die Gründe, die mich zu meinen Entschlüssen führen«, sagte Siegert bedächtig und eindeutig abweisend, »kaum jemals näher zu erläutern; niemandem und also auch dir nicht - besonders nicht in diesem Fall.« »Jede Frau will das neugeborene Kind dem Vater zeigen«, sagte die Hebamme eindringlich, doch nicht fordernd. Und mit einer fast unpersönlich klingenden Stimme, damit nicht der Eindruck entstehe, sie gedenke ihn zu irgend etwas zu zwingen, vielmehr als zitiere sie aus irgendeinem Handbuch für Hebammen oder einem Merkblatt für werdende Väter, fügte sie erklärend hinzu: »Sie will nämlich sehen, ob der Erzeuger glücklich ist, zumindest aber doch zufrieden. Und jeder Vater hat zufrieden zu sein, besonders wenn alles so gut verlaufen ist wie bei dieser Geburt.« Siegert schüttelte nachdenklich den Kopf; er hatte ihn ein wenig, zusammen mit den Schultern, nach vorne geneigt, wodurch der Eindruck entstand, als trüge er an einer schweren, unsichtbaren Last. »Wenn diese Entbindung in einem Krankenhaus stattgefunden haben würde«, sagte er mühsam, »hätte ich Kind und Mutter auch erst nach Tagen zu sehen -50-
bekommen. Und ich vermag mir durchaus vorzustellen, daß eine Mutter, nach allem, was sie bei einer Geburt durchgestanden hat, nicht sonderlich viel Bedürfnis verspürt, unmittelbar danach einen Mann zu sehen.« »Sie will dich sehen«, sagte Mutter Golder unvermittelt eindringlich; und ihre Stimme, die stärker geworden war, schien jetzt dicht neben ihm aufzuklingen. »Ich spüre, daß es so ist.« »Und was ich spüre«, sagte Siegert mit plötzlich hervorbrechender Heftigkeit, »sollst du auch wissen: Ich spüre dein Verlangen, meine Reaktionen zu sehen, wenn ich Mutter und Kind betrachte. Du willst erleben, daß ich unsicher werde, daß ich womöglich Zweifel äußere und meine Haltung verliere, zum Gespött aller, die davon unterrichtet werden. Du willst mich gedemütigt oder zumindest verlegen sehen und dich daran weiden!« Mutter Golder starrte Siegert an, als habe er sich blitzschnell in ein kurioses, unbekanntes, nicht einmal zu erahnendes Tier verwandelt. »Wenn du mein Mann wärst«, sagte sie ehrlich empört, »und dich konsequent so aufführen würdest, wie du das jetzt tust, wärst du vermutlich gar nicht erst über die Schwelle meines Schlafzimmers gelangt. Zu einer Geburt wäre es also gar nicht gekommen!« »Soll das etwa eine Andeutung sein«, wollte Siegert sofort wissen, »ein Hinweis oder gar eine Behauptung?« »Mann«, sagte Mutter Golder breit, »du solltest hier nicht so fürchterlich verworrene Reden führen, sondern lieber zu deiner Frau gehen. Du kannst völlig beruhigt sein - ich lege nicht den geringsten Wert darauf, dich dabei zu begleiten.« »Es ist also schon soweit«, behauptete Siegert starr und hartnäckig, völlig geblendet von dem furchtbaren Verdacht, den er in sich entfacht hatte. »Du bist deiner Sache absolut sicher. Du brauchst gar nicht dabei zu sein, um zu wissen, wie ich reagieren werde!« -51-
Mutter Golder sah mit müde gewordenen Augen in den neuen Tag, in den noch fahlen Glanz des Morgens, der sich nebelhaft kühl verlor, zerfließend davonwehte, wie das mit vielen Hoffnungen geschah, und mit nicht wenigen Sorgen. Und sie fragte sich, ob das wohl ein besonderer Tag sei. Aber es war, fand sie, ein Tag wie viele andere - die Dummheit starb nicht, und die Sonne kam immer wieder, die Menschen quälten sich, und die Kinder, die geboren worden waren, veränderten ihre Eltern nicht. Siegert wandte der Hebamme den gebeugten Rücken zu und beharrte in seiner Unzulänglichkeit. Er war bestrebt, die Frau, die er hinter sich wußte, abweisend aufzuklären, denn ihre Gegenwart war ihm in peinigender Weise lästig. »Du darfst überzeugt sein«, sagte er, »daß ich genau Bescheid weiß. Meine Wirtschafterin hat mich vollständig über alles informiert, was sich ereignet hat. Und jetzt ziehe ich es vor, die sich hieraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen planvoll und unbeeinflußt, also allein, zu durchdenken.« Er ließ Mutter Golder auf der Terrasse stehen und betrat den ein Meter zwanzig breiten Weg aus Kies, der unter seinen Schritten zu knirschen begann. Seine Haltung blieb unverändert gebückt; sie ließ ein wenig an einen garantiert echten Kupferstich denken, der in seinem Arbeitszimmer hing und der den großen Friedrich darstellte, wie er nach der mörderischen Schlacht von Kolin nahezu zerschmettert, doch um Fassung ringend, fürbaß schritt. Mutter Golder strebte dem gedankenschwer dahinschreitenden Siegert unverzüglich nach und setze sich an seine Seite. »Deine Wirtschafterin«, sagte sie entschieden, »ist eine dumme Gans. Sie verträgt es schlecht, daß sie bei dir nie recht zum Zug kam. So was heizt die Fantasie.« »Bemerkenswert«, sagte Siegert gallebitter. »Immerhin ist schon viel wert, daß man mich nicht auch noch zu allem Oberfluß verdächtigt, ein Verhältnis mit meiner Wirtschafterin -52-
zu haben.« »An ihr hat das bestimmt nicht gelegen«, sagte Mutter Golder robust. Sie war bemüht, alles zu tun oder zu sagen, was geeignet schien, seine panikartige Stimmung zu dämpfen. »Ich kenne mich in diesen Typen aus! Aber noch ein wenig besser glaube ich, dich zu kennen; und für dich war die Verlockung wohl nicht sonderlich groß. Als dann deine Frau kam, muß die Wirtschafterin kräftig aus dem Himmel der Erwartungen auf die Erde geplumpst sein; sie hat diesen Schock bis heute noch nicht überwunden. Und sie wird ihn deiner Frau nie verzeihen.« »Ich habe meine Prinzipien«, sagte Siegert, »aber ich habe sie nicht, um sie anderen vorzutragen. Ich halte sie ein. Und jeder, der mit mir zusammenlebt, kann sie ohne Anstrengung erkennen. Für mich ist die Ehe eine heilige Institution. Ich fordere immer nur das, was ich selbst' zu geben bereit bin. Wer mich zu betrügen versucht, betrügt sich am Ende damit selber.« »Sag das deiner Wirtschafterin; vielleicht merkt sie sich das endlich.« »Sie ist seit mehr als zehn Jahren bei mir im Hause; sie ist noch niemals unkorrekt gewesen.« Siegert stellte das nachdrücklich fest, als habe er soeben die einzelnen Posten einer Rechnung überprüft und das Endresultat als richtig bestätigt. Mutter Golder erkannte, daß Siegerts Bestreben, auf einer einmal gefaßten Meinung zu beharren, stark und eindeutig war ein erneutes Nachgeben wäre in den Augen dieses Mannes, der sich für unerhört charakterstark hielt, vermutlich etwas wie prinzipienloses, wetterfahnengleiches Umschwenken. Aber sie dachte gar nicht daran, sich hier einfach mit Tatsachen abzufinden, die er für gegeben hielt. »Diese überaus mitteilsame Person«, sagte sie, »kam doch in dein Haus, als du fast völlig alleine warst. Deine erste Frau war schon lange gestorben, und dein Sohn besuchte das Gymnasium in der Kreisstadt - das ist eine Situation ganz nach dem Herzen -53-
hochstrebender Weiber. Sie wird bestimmt nicht ohne recht eindeutige Hoffnungen gekommen sein.« »Aber sie blieb auch bei mir, nachdem ich geheiratet hatte.« »Sie hat das geschluckt, vielleicht nicht zuletzt aus rein finanziellen Gründen, oder weshalb auch immer. Aber ob sie es auch verdaut hat?« Siegert stutzte, und seine Schritte wurden ein wenig langsamer. Was er da hörte und was ihn anfangs empört hatte, wie ihn jede Einmischung in seine ureigensten Angelegenheiten zu empören pflegte, begann ihn langsam mehr und mehr zu interessieren. Er spürte, daß sich sein Mißtrauen verlagerte. Und das war ihm, zuallererst im Interesse der Familie, der er vorstand, gar nicht so unwillkommen, wie es vorläufig noch den Anschein hatte. »Ich jedenfalls«, gab er zu bedenken, »habe ihr niemals Hoffnungen irgendwelcher Art gemacht - das kannst du mir glauben.« »Davon bin ich überzeugt. Aber darauf kommt es doch gar nicht an. Entscheidend ist doch nur, ob sie sich Hoffnungen gemacht hat; und ich bin sicher - sie hat!« Siegert näherte sich wieder ein wenig mehr den angenehmen, zukunftsträchtigen Empfindungen, die ihn, in Erwartung der Geburt, noch vor ein paar Stunden angeweht hatten. »Du meinst also, es wäre angebracht, ihr nicht alles zu glauben, was sie sagt?« »Lügen wird sie vielleicht nicht«, erwiderte Mutter Golder bedächtig. »Sie wird wissen, daß sie das bei dir nicht machen kann. Aber sie wird danach trachten, die Dinge zu verschieben; sie wird einiges verschweigen und anderes in den Vordergrund drängen. Das muß nicht einmal aus Berechnung geschehen und heimtückische Intrige sein - so etwas kann ganz instinktiv erfolgen; wie es ja auch oft geschieht, daß man aus einem Gespräch mit einem Menschen, den man nicht mag, immer nur -54-
das heraushört, was unseren schlechten Eindruck von ihm bestätigt. So ungefähr mußt du dir das auch in diesem Fall vorstellen. Es wird sich also um eine allzu menschliche Reaktion gehandelt haben. Nimm sie gelassen hin - vielleicht solltest du sogar versuchen, darüber zu lachen. Mehr ist diese Angelegenheit bestimmt nicht wert.« Über Siegerts Gesicht waren ferne Schimmer von Hoffnung gefallen; es schien sich zu entspannen und willens zu sein, erlösende Gedanken wiederzuspiegeln. Doch bei Mutter Golders letzten Erklärungen waren seine Züge wieder hart und verschlossen geworden; er lachte nicht, er dachte nicht im mindesten daran, diesen Ratschlag zu befolgen. »Also stimmt das«, sagte er vielmehr gepreßt. »Es stimmt also, daß sie ›Gustav‹ gerufen hat.« »Nun ja«, sagte Mutter Golder unwillig, »sie hat den Namen Gustav genannt - aber was ist denn schon dabei!« »Ich heiße nicht Gustav«, erklärte Siegert steif, »ich heiße Siegfried.« »Herrgott - dann wird eben irgendwer anders Gustav heißen!« Mutter Golder gab sich redliche Mühe, diesen offenbar ein wenig heiklen Punkt, heikel geworden allein durch Siegerts wuchernde: Mißtrauen, zu überspielen und als unwesentlich hinzustellen. »Vielleicht handelt es sich um ihren Vater.« »Der heißt Eberhard«, sagte Siegert mit verbissenem Eifer. »Es gibt überhaupt niemand in meiner oder ihrer Familie, der Gustav heißt!« »Und wenn schon!« Mutter Golder tat diese ihr nahezu lächerlich erscheinende Geschichte mit einer kurzen, unwilligen Handbewegung ab. Ihre Geduld, die Siegert ihrer Meinung nach allzu hartnäckig strapaziert hatte, ging zu Ende; für Albernheiten, fand sie, wai ihre Zeit zu schade. Und wie abschließend sagte sie: »Das hat doch alles gar keine Bedeutung!« -55-
»Erlaube mal!« Siegert stellte sich vor ihr auf, als gedenke er, wider besseres Wissen und ganz gegen seinen Willen, einen Kampf auszutragen, dessen Ausgang bereits entschieden war. »Du hast doch sicherlich Fantasie genug, um dir vorzustellen, was in mir vorgehen muß. Ich weiß, daß du das kannst; ich erinnere mich noch ganz genau an bestimmte Situationen in früheren Zeiten. Du hast immer ein Gefühl für die entscheidenden Nuancen gehabt. Tu doch jetzt nicht so, als ob du mich nicht verstehen könntest. Da liegt also eine Frau, die meine Frau ist. Sie schreit; gut, das ist eine normale Situation. Aber dann nennt sie Namen. Doch sie ruft nicht etwa nach mir sie ruft nach einem gewissen Gustav! In einer entscheidenden Situation wie dieser, in der sie nicht mehr klar denken kann, in der das Unterbewußtsein sich vordrängt, schreit sie den Namen Gustav. Was das zu bedeuten hat, liegt doch wohl klar auf der Hand. »Für mich liegt nur auf der Hand, daß du ein fürchterlicher Dickkopf geworden bist!« Mutter Golder zuckte resigniert ihre Schultern; sie mußte in den Nächten, da sie neue Menschen in das Leben zog, vieles über sich ergehen lassen. Aber dieser Siegert schien wie versessen darauf, ihre Erfahrungen auf ebenso kuriose wie grausame Weise vermehren zu wollen. »Sie hat auch deinen Namen genannt, und zwar mehrmals, und gerade in ihren schwersten Minuten.« »So«, sagte Siegert störrisch, »wirklich? Vermutlich aus Versorgungsgründen!« »Nimm dich doch endlich zusammen«, sagte Mutter Golder. Und sie stieß Siegert in die Seite, was dieser überrascht geschehen ließ - es erinnerte ihn an die blutjunge Gertrud, der einige Monate seines Lebens, die schönsten und betrüblichsten zugleich, gehört hatten. Genauso hatte sie ihn abgewehrt, wenn er das anfangen wollte, was sie Dummheiten nannte. Die Erinnerung an diese lang vergangene Zeit stieg mächtig in ihm auf, verdrängte fast ein wenig die Gegenwartsprobleme, die er -56-
als qualvoll und dennoch unausweichlich empfand. Er war nahe daran, zu lächeln. »Sie hat in ihrer schwersten Stunde immer nur an dich gedacht«, fuhr Mutter Golder unbeirrt fort. »Darauf kannst du dich verlassen. Und wenn sie tatsächlich ein oder zweimal Gustav gesagt hat, dann geschah das vielleicht nur, um deine Wirtschafterin, die ihre Qualen sichtlich genoß, zu ärgern.« »Meinst du wirklich?« fragte er. Und erneute, noch sehr ferne Bereitwilligkeit wurde spürbar, unter Umständen zu glauben, was ihm willkommen war. Denn daß es wirklich so gewesen sein konnte, wie Mutter Golder es gesagt hatte, war immerhin möglich, wenn auch vielleicht nicht unbedingt die ausschließliche Wahrheit. Aber daß ihre Worte ihm wohltaten, wenn sie ihn auch noch nicht ganz überzeugten, stand fest. Er machte jetzt den kläglich wirkenden Versuch, sie anzulächeln. »Frauen haben manchmal sonderbare Einfalle - nicht wahr?« »Ihr Männer zwingt uns dazu«, sagte Mutter Golder erleichtert. Sie nahmen beide, scheinbar einträchtig nebeneinander einherwandelnd, den Spaziergang im Garten wieder auf. In der Luft lag der Duft von Rosen, die er in vielen wohlgelungenen Paradereihen an den Wegen hatte aufbauen lassen. Das noch nachtfeuchte Grün des Rasens begann in der Morgensonne zu leuchten, und der alljährlich erneuerte Kies schimmerte feierlich weiß. Dieser Anblick wohlgepflegter Natur, deren Erdenker und Betreuer er war, begann ihm gutzutun. »Ich freue mich ehrlich, daß du vernünftig geworden bist«, sagte Mutter Golder nach längerer Pause vorsichtig. »Das gibt mir Mut, noch eine andere Sache mit dir zu besprechen.« »Komm mir jetzt nur nicht mit meinem Sohn und deiner Tochter!« Das niemals schlummernde Mißtrauen des sich vielerfahren dünkenden Menschenkenners wurde schlagartig wach. Er glaubte die Dschungelkämpfe des Lebens um Platz -57-
und Vorteil zu kennen. Das üppiggewachsene Vorurteil des reichen Mannes, der gelernt hat, seine Schätze zu hüten, drängte sich in den Vordergrund. Er sah nun nichts mehr von der Natur, er sah nur noch Mutter Golder. Ihr traute er zu, daß sie Schadenfreude genug besitzen würde, um sich über ihn, bei erster sich bietender Gelegenheit, lustig zu machen. Sie hatte sich im Laufe der Jahre ganz zwangsläufig an eine rauhe Lebensweise gewöhnt und würde vermutlich mit Entschiedenheit bereit sein, eine etwas diffizile Situation zu ihren Gunsten rücksichtslos auszuwerten. »Die beiden werden schon allein miteinander fertig«, sagte Mutter Golder nachsichtig. »Ich habe dir etwas viel Wichtigeres mitzuteilen: Die Geburt war nicht nur kompliziert, sie war sogar gefährlich. Deine Frau ist überaus zart, sie ist nicht dafür eingerichtet, viele Kinder in die Welt zu setzen. Ihre nächste Geburt, ich weiß das aus Erfahrung, wird noch weit komplizierter sein, wenn nicht sogar lebensgefährlich. Das wollte ich dir noch sagen. Richte dich, bitte, danach.« Siegert war stehengeblieben, erneut angefallen von dumpfen Gedanken. Er starrte hinab auf den Kies; er sah dort die Spitzen seiner Schuhe und stellte, nahezu mechanisch fest, daß sie ungeputzt waren. »Das heißt also«, sagte er dann langsam, »daß meine Frau, deiner Meinung nach, kein weiteres Kind mehr haben soll?« »Das tut mir aufrichtig leid - aber das mußte ich dir sagen. Es ist nicht zu ändern und gewiß keine Tragödie. Vielmehr ist es ein Glücksfall, daß sie dir dennoch einen derartig kräftigen Sohn geboren hat. Dafür solltest du dem Schicksal dankbar sein.« Siegert horchte in sich hinein und war betroffen, nichts anderes als würgende, lähmende Unzufriedenheit zu empfinden. Er war brutal um Triumph und Segen dieser Nacht gebracht worden. Man hatte es ihm unmöglich gemacht, reine Vaterfreuden zu empfinden. Das quälte ihn. -58-
»Du bist kein Arzt«, sagte er schließlich. »Mithin kannst du gar nicht einwandfrei feststellen, ob deine Vermutungen einer eingehenden Untersuchung standhalten werden.« »Ich kenne mich aus. Ein Arzt wird dir auch nichts anderes sagen können.« Siegert war tief getroffen. Und er war empört, daß es ausgerechnet Gertrud Golder war, die ihm eine Feststellung oder auch nur Vermutung von einer derartigen Wichtigkeit übermittelte. Er fühlte sich als Hausherr mißachtet, als Gatte überflüssig und als Mann gekränkt. »So ist das also«, sagte er schwerfällig und dumpf. Er räusperte sich dann heftig, um seiner Stimme jene Deutlichkeit zu verleihen, die ihm jetzt unvermeidlich schien. »Jetzt also glaubst du triumphieren zu können - du hast mich endlich in einer Situation gesehen, die ich nicht zu beherrschen vermochte und in der ich kläglich zu versagen schien. Und das vor deinen Augen! Ein Vorgang von hoher Peinlichkeit. Zuerst wurde ich gezwungen, durch das Versagen des Arztes, oder durch irgendeine Intrige, deine Hilfe anzunehmen. Sodann bekam meine Frau, ausgerechnet mit deinem Beistand, ein Kind. Und dabei rief sie nach einem Gustav; zu deiner heimlichen Freude, nehme ich an. Ich darf mir also zunächst einmal überlegen, ob ich überhaupt der Vater dieses Kindes bin oder nicht und in welchem Umfang ich dich damit amüsiert habe und dem Klatsch der Weiber auf ewige Zeiten Nahrung gab. Doch nicht genug damit. Kurz danach kommst du zu mir und erklärst, daß ich nie wieder ein Kind haben darf, wenn ich diese Frau nicht gefährden will. Weißt du eigentlich, was das bedeutet?« »Ich sage dir das lieber nicht.« »Das bedeutet nämlich, daß es mir jetzt praktisch nicht mehr möglich ist, unter Umständen das zu korrigieren, was sich hier, unfaßbar für einen Menschen wie mich, ereignet haben könnte. Ich werde also nicht noch einmal Vater sein und muß außerdem -59-
damit rechnen, daß ich es auch diesmal nicht war. So darf kein Mensch über einen anderen triumphieren!« »Langsam tust du mir leid, Siegert.« Der Mann vor ihr war überaus erregt, ohne allerdings viel von seiner stets vorbildlichen Haltung zu verlieren. Auch die Stimme klang nicht laut. Wäre nicht die nervöse Unbeherrschtheit seiner Hände gewesen, die vergeblich nach einem Halt suchten, dazu die flackernde Unruhe in seinen Augen, die von heimlichem Fieber zu zeugen schienen, es hätte fast den Anschein gehabt, als beschimpfe Siegert einen ungetreuen Lagerverwalter, auf den er, ohne es zu zeigen, große Hoffnungen gesetzt hatte. »Und wie ist das eigentlich heißt nicht auch zu allem Überfluß einer deiner Söhne Gustav?« Mutter Golder betrachtete den Mann, der vor ihr auf dem Kiesweg stand, mit müder Verwunderung, die langsam ehrlicher Betrübnis wich. Ihre Geduld war erschöpft, ihr Verständnis auch. Sie fühlte sich nur noch müde und verbraucht. Die Nacht war anstrengend, und dieser Mann war eine einzige Strapaze; sie bedauerte ihn, aber sie vermochte jetzt nichts weiter für ihr zu tun. Sie ließ ihn im Garten stehen und ging auf das Haus zu, entschlossen, den Heimweg anzutreten. Sie sehnte sich nach langem Schlaf. »So leicht ist die Sache nicht aus der Welt geschafft!« rief ihr Siegert nach. »Ich bin nicht der Mann, der so einfach aufgibt. Und um deinen Gustav werde ich mich kümmern - und Gnade ihm Gott, wenn ich ihm auch nur das Geringste nachweisen kann!« Gustav, der jüngste Sohn der Familie Golder, war ein bleichgesichtiger Mensch mit verträumten Augen, seidenen Haaren und fast mädchenhaften Lippen; das wohlgeschwungene Kinn sprach seinem Träger jegliche Energie ab. Er saß in einer Ecke der Wohnküche, neben dem Fenster, fast völlig durch den großen Schrank verdeckt; und dennoch hatte er das Gefühl, von -60-
allen Seiten beobachtet zu werden. Und da er zur offenen Auflehnung nicht geboren war und lediglich in seinem Innern heftig tobende Kämpfe ausfocht, machte er stets den Eindruck artiger Bescheidenheit, grübelnder Nachdenklichkeit und erwartungsvoller Stille. Nicht wenige Familienmitglieder irritierte das stark. Gustav Golder entsprach dem Familiencharakter so wenig, daß er den ältesten Brüdern laufend Gelegenheit verschaffte, sich auf Kosten des ›aus der Art geschlagenen‹ Jüngsten lustig zu machen. Gustav ertrug das duldsam, als sei es sein unabänderliches Schicksal, Prüfungen zu überstehen, ehe es ihm gelang, für seine Ziele frei zu werden, die noch in verschwommener, jedoch magisch erleuchteter Ferne lagen. Zehrend von dieser Zuversicht, betrachtete er nachsichtig seine Brüder und Schwestern. Sie hatten sich zusammengefunden, um einige von Emils Abenteuern zu hören, die dieser regelmäßig am ersten Abend seiner alljährlichen Heimkehr im engsten Familienkreis zu erzählen liebte, ehe er damit seine Freunde, Kameraden, Gönner und Gefolgsleute in der kleinen Stadt erfreute. Und er erzählte mit mächtiger Stimme, die rauh klang von Wind und Wetter, Tabak und Alkohol. Von Zeit zu Zeit schlug er, als versichere er, wortwörtlich die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt zu haben, gegen seine breite Brust, die, wie alle wußten, auf sehr erheiternde Art tätowiert war. Gustav Golder aber ›hing‹ gar nicht, wie das wohl von ihm erwartet worden war, ›an den Lippen‹ seines berühmten Bruders, des mehrfachen Weltumseglers. Wohl sah er dorthin, wo dieser saß, jedoch ohne ihn dabei zu sehen; wohl hörte er dessen dröhnende Stimme, doch er lauschte den wahrhaft haarsträubenden Geschichten eines geborenen Abenteurers nicht mit der ratsamen Hingabe. Gustav träumte vielmehr vor sich hin. Er sah sanftleuchtende Farben, wo das verwohnte, ausgebleichte Grün der Küchenwand -61-
war; und die Glanzleinwand auf dem Tisch verwandelte sich in fließende Seide von lichtblauer Feierlichkeit. Er wünschte, Kerzen zu sehen. Und während so seine Fantasie die Konturen verschob, die Gegenstände auflöste und sein Gesicht einen Ausdruck bekam, als schlafe er angenehm mit weitgeöffneten Augen, bemerkte er nicht, daß ihn seine Mutter mit forschender Aufmerksamkeit beobachtete. »Unser Kapitän«, erzählte gerade Emil, absolut sicher, die allgemeine Aufmerksamkeit zu besitzen, »befand sich ausgerechnet beim Schiffsarzt in Behandlung, als im Laderaum drei das Feuer ausbrach. Eine recht unangenehme Sache, denn er hatte einen Furunkel auf dem Hintern; rechts oben glaube ich. Wir kreuzten gerade auf dem Atlantik, so in der Höhe von Durban, allerdings lediglich bei Windstärke acht oder neun, als es mächtig zu rauchen begann, und zwar gleich derartig, daß die Sicht erheblich behindert wurde. Kurze Panik trat ein; Geschrei und Gefluche überall, drei mittlere Verletzungen beim Herausspringen aus den Kojen, eine Prügelei zwischen zwei Nichtseeleuten um einen Rettungsring. Bis ich das Kommando übernahm! Ich ließ mich, ein nasses Handtuch vor den Mund gebunden, an einem Tau mitten in die Flammen hineingleiten ...« Emil legte eine Kunstpause ein, um die allgemeine Spannung, deren er sicher war, noch zu erhöhen. Er griff nach der Bierflasche, die vor ihm stand, und schlug den Verschluß mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf; so pflegten es, nach seinen Erklärungen, alle Seeleute zu tun, sofern sie mindestens drei Jahre außerhalb Europas verbracht hatten und der Handelsmarine angehörten. Er setzte an und trank; und er wußte, daß man von ihm erwartete, daß er die ganze Flasche, ohne abzusetzen, leertrinken würde. Das war ebenfalls strenger Brauch in seinen Kreisen. Und während er trank, betrachtete er die nahezu andächtig um ihn Versammelten mit gönnerhaftbrüderlichen Blicken. Er sah -62-
seine Mutter, und er fand, daß es die beste Mutter von der Welt war; niemand anders sonst hätte so einen Kerl wie ihn gebären können. Er sah seinen Vater, der vor sich hinlächelte, alt und weise und gütig; er war der einzige, vor dem er, Emil, einen Heidenrespekt hatte, ohne genau zu wissen, warum das eigentlich so war. Er sah seine zwei Schwestern; sie alle, davon war er überzeugt, wünschten sich einen Mann, wie er einer war. Und so einen gönnte er ihnen auch von ganzem Herzen, obwohl er wußte, daß das praktisch nicht möglich war. Er sah auf seine Brüder, auf Otto zuerst, den Elektriker; der blinzelte ihm vertraulich und zufrieden zu. Dann sah er auf Paul, den Polizisten, den er nicht ausstehen konnte und der das auch zu spüren schien; denn er gab vor, nicht übermäßig stark beeindruckt zu sein. Und dann sah er Gustav. Emil setzte die leergetrunkene Flasche langsam ab; er bemerkte mit Erstaunen, daß Gustav der einzige zu sein schien, der keinerlei Begeisterung zeigte, nicht einmal höfliche Anteilnahme. Der saß lediglich da, starrte in die Gegend wie ein Mondkalb und kritzelte zwischendurch verträumt in seinem Block herum. Das, fand Emil, war zumindest taktlos, wenn nicht gar herausfordernd. Es war die perfekte Mißachtung seiner Person; noch dazu im elterlichen Hause und überdies von einem jungen Springer, der noch nicht trocken hinter seinen Ohren war. »Dich, Gustav, interessiert es wohl gar nicht, was ich hier erzähle?« fragte er. »Aber ja«, beeilte sich Gustav zu versichern. »Ich höre genau zu, auch wenn ich zeichne.« »Zeichnest du etwa mich?« wollte Emil wissen. »Kann durchaus sein«, sagte Paul, der Polizist, mild. Er war gewillt, den leicht verwirrten Gustav, dem nicht das mindeste an Emils Zorn gelegen sein konnte, aus seiner Verlegenheit herauszuhelfen. Er hatte sich über dessen Skizzenblock gebeugt und dort, zu seiner stillen Freude, ein klobiges Pferd entstehen sehen. -63-
»Das will ich nachher sehen«, entschied Emil am anderen Ende der von den lauschenden Familienmitgliedern gefüllten Wohnküche. »Und wenn du behauptest, mir zugehört zu haben, dann wirst du mir ja wohl auch jetzt sagen können, wo ich in meiner Erzählung stehengeblieben war.« »Auf hoher See«, sagte Gustav diplomatisch und bemüht, es mit dem gewaltigen großen Bruder nicht zu verderben. Der war ihm immer ein wenig wie ein Alpdruck erschienen, wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt, eine Art Fabelwesen, ein Rübezahl des Ozeans. »Stimmt«, sagte der, »auf hoher See - aber in welcher Situation?« »Du warst nahe daran, dich in ein Spanferkel zu verwandeln«, half der Polizist Paul gutmütig aus. »So war es«, bestätigte Gustav erleichtert. »Vom Essen war die Rede.« Emil schnaufte wie eine mittlere Brise und weitete seinen enormen Brustkasten. »Schläfst du hier etwa, während ich erzähle?« wollte er wissen. »Oder hast du etwa die Absicht, mich zu verulken, mein Kleiner?« »Er sollte endlich einen anständigen Beruf ergreifen«, sagte Otto in dem ihm eigenen drängenden Tonfall. »In meinen Augen ist er der geborene Friseur.« »Das wird er können«, sagte Emil zustimmend, nachdem er den ›Kleinen‹ mit einem kurzen, umfassenden Steuermannsblick gemustert hatte. Er hatte das Leben, davon waren alle überzeugt, gemeistert; das machte ihn großzügig. Er war jederzeit bereit, den Schwachen in der Familie seinen starken Arm zu leihen, sich für sie einzusetzen und mit einer Handbewegung das zu erreichen, wofür gewöhnliche Sterbliche Monate, wenn nicht Jahre vertrödeln. »Gleich morgen werde ich dich beim besten Meister des Ortes unterbringen, vorausgesetzt natürlich, daß der über eine heiratsfähige und erbberechtigte Tochter verfügt. Ein -64-
Friseurladen in der Familie - das wäre ganz praktisch. Was meinst du, Mutter?« »Ich meine«, sagte Mutter Golder bestimmt, »daß ihr Gustav in Ruhe lassen sollt.« »Aber gerne - sobald er Friseur geworden ist.« Otto nickte Emil zu und gab ihm deutlich zu verstehen, daß sie beide, die Ältesten und Erfolgreichsten der Familie, in vorbildlichster Weise miteinander harmonierten. »Gustav scheint mir im Augenblick ganz andere Sorgen zu haben«, sagte Mutter Golder. Sie betrachtete ihren Jüngsten mit leicht zusammengekniffenen Augen, doch nicht ohne Nachsicht. »Vermutlich beschäftigt ihn schon wieder einmal eine von seinen Weibergeschichten«, sagte Otto mißbilligend; und er tat das mit jener ehrenwerten Verständnislosigkeit, die langjährigen Ehemännern eigen ist. »Ich habe keine Weibergeschichten!« wehrte Gustav aufgebracht ab. »Ich kann nichts dafür, wenn mir einige nachlaufen. Aber ich mach mir nichts aus ihnen. Ich habe ganz andere Interessen im Kopf.« Emil, der Seemann, war baß erstaunt, doch keinesfalls unangenehm berührt. Das Thema, um das es sich hier handelte, war ihm geläufig. Er schüttelte kurz seinen dicken Kopf, wie es manchmal Pferde tun, wenn ihnen das Futter, vielleicht seiner neuartigen Zusammenstellung wegen, ungewohnt erscheint. »Ich höre wohl nicht richtig«, sagte er gedehnt. »Der Kleine dort hat Weibergeschichten? Wie ist so etwas nur möglich! Die Weiber hier müssen von allen guten Geistern verlassen sein! Die wissen wohl nicht mehr, was ein richtiger Mann ist! Weibergeschichten hat er!« »Sogar in den allerhöchsten Kreisen - habe ich kürzlich erzählen hören.« Otto sonnte sich in seinem Wissen und blinzelte erneut seinem seefahrenden Bruder verständnisinnig zu. »Und ohne Rücksicht auf eventuell bestehende Bindungen!« -65-
Gustav war blutrot angelaufen. Diese Andeutungen hatten ihn tief verletzt; unerwartet waren sie nicht gekommen, denn er war darauf gefaßt gewesen, leiden zu müssen. Mutter Golder ließ ihren Sohn nicht mehr aus den Augen. Sie überprüfte jede Regung seines Gesichtes; und sie wäre nicht verwundert gewesen, Schuldgefühl darin zu lesen. Aber sie vermochte nicht klar zu erkennen, was ihren Sohn beherrschte. Die Schwestern schwiegen. Susanne schämte sich mit Gustav, nicht etwa für ihn. Die unbekümmerte Rita aber beschloß, den kleinen Bruder eingehend nach Einzelheiten zu befragen, um eventuell daraus lernen zu können. Alle aber erwarteten sie, daß Gustav irgend etwas sagen, sich verteidigen werde. Aber Gustav, tief getroffen von dieser brüderlichen Roheit, in seinen heiligsten Gefühlen verletzt, brachte kein Wort heraus. Er glaubte zu wissen, daß der Mensch bestimmt war zu leiden; und so litt er denn. Er war es gewohnt, daß Verständnis fehlte, Hoffnungen zusammenbrachen und die Seele verletzt würde. So groß dachte er über die kleinen, gewöhnlichen Vorgänge; und das erfüllte ihn mit Wehmut. »Wie ging das eigentlich weiter?« wollte Vater Golder bedächtig wissen. Und es schien, als habe er in den letzten Minuten überhaupt nicht zugehört, als sei das, was soeben gesagt worden war, gar nicht wert, daß man sich damit befasse. »Du hast dich also, an einem Tau, mitten in die Flammen hineingleiten lassen?« »So war es«, sagte Emil; er war sofort bereit, sein Garn weiterzuspinnen und im Grunde heilfroh darüber, daß ›der Alte‹ es vorgezogen hatte, sich jeden Kommentars zu seinen und Ottos Deutlichkeiten zu enthalten. Denn bei Vater konnte man nie so genau wissen, in welche Richtung er zielen würde - und getroffen hätte er, wenn er wollte, allemal. »Also: Qualm strömte mir entgegen, ein fürchterlicher Qualm, den man hätte mit Messern zerschneiden können, denn es -66-
handelte sich um eine Salpeterladung. Und die Flammen zischten wie aus Schweißbrennern, richtige Stichflammen von zehn und mehr Metern Länge, nach Schätzung des Obermaats. Ich stürzte an das Flutventil und öffnete es; Wasser strömte in den Laderaum, und ich ließ mich von dem eiskalten, salzigen Meerwasser überströmen. War ich also noch vor einigen Sekunden kurz davor in Flammen aufzugehen, so war ich jetzt nahe daran zu ersaufen.« »Fein«, rief Rita leicht atemlos; und sie meinte damit lediglich die hohe Qualität der soeben erzählten Geschichte. Emil und die Anwesenden mißverstanden sie nicht. Nur Vater Golder lächelte noch stärker als gewöhnlich. »Denn«, rief Emil triumphierend, »das war der springende Punkt! Es kam nämlich nicht nur darauf an, die Flammen zu löschen, was ja durch das eindringende Wasser automatisch geschah, sondern viel wichtiger noch war, das Flutventil wieder zu schließen! Und hierbei, Herrschaften, handelte es sich um eine Arbeit, die die Kraft von Elefanten erforderte. Nun, ich habe es geschafft.« Emil sah mit Stolz, in den er kluge Bescheidenheit mengte, um sich; er war sicher, beifällige Zustimmung zu erhalten für das nachwirkende Vergnügen, das er vermittelt hatte. Er sah in Gesichter, die ihm zulächelten, nahm zahlreiche Komplimente entgegen und drückte seinem lieben Bruder Otto die ihm spontan entgegengestreckte Hand. Aber alle diese mehr oder weniger herzhaften Ovationen, die er einsteckte, wie ein souveräner Croupier Spielmarken an sich zieht, dieser nicht gerade sehr lautstarke, doch keinesfalls gefühlsarme Beifall bescherte ihm nicht wie sonst reine und rechte Freude. Denn Gustavs verweichlichtes, verträumtes, geradezu herausfordernd unmännliches Gebaren mißfiel ihm gründlich. Und Emil nahm sich vor, Wesentliches dagegen zu tun; möglichst bald, bei erster sich bietender Gelegenheit. Abermals öffnete er, durch einen besonders kräftigen Schlag mit dem -67-
rechten Zeigefinger, eine neue Flasche Bier und setzte sie an seine Lippen. Hierauf erklärte er, vorerst genug erzählt zu haben. Er behauptete, den dringenden Wunsch zu verspüren, seine lieben Brüder und vielleicht auch später, wenn die Zeit es erlauben sollte, die eine oder andere seiner Schwestern in launigen Einzelgesprächen ›zu beriechen‹. Galt es doch, die alten Bande neu zu knüpfen, mit Schiffstauen gewissermaßen. Er setzte sich zunächst zu Otto. Der wollte ein Gespräch über elektrische Maschinen beginnen und über Wirkungsbereich und Einfluß des ersten Mannes in einem Kraftwerk. Aber bereits nach drei Minuten flüsterte er mit Emil über interne, ihn bewegende Einzelheiten, die gründlich bereinigt werden müßten; das aber stellte ja nun, da Emil endlich wieder einmal heimgekehrt sei, kein allzugroßes Problem mehr dar. Gemeinsam würden sie es schon schaffen. Und Emil lauschte Ottos breiter und mit kräftigen Details gewürzter Darstellung über die herausfordernde Art des größenwahnsinnigen Siegert mit steigender Anteilnahme. Das bewog Paul, den Polizisten, wortlos, doch hochinteressiert mitzuhören; und fast schien es, als bleibe selbst er nicht ganz unbeeindruckt von dem, was seine Ohren vernehmen mußten. »Das«, sagte Emil nach beendetem Bericht grollend, »kann sich auch nur so ein vergilbter Papierfritze leisten, für den alle Menschen Angestellte sind, und der liebe Gott dazu. Aber unsere Mutter darf der nicht ungestraft herumkommandieren! Das müssen wir ihm austreiben. Verlaßt euch darauf - das wird diesem Lackaffen teuer zu stehen kommen.« »Aber unter Beachtung der bestehenden Gesetze«, sagte Paul. Und er brachte diese sanfte Mahnung nicht als indirekte Warnung, mehr als einen Hinweis darauf an, daß es ratsam sei, hier mit einiger Überlegung vorzugehen. »Ich müßte sonst nämlich einschreiten.« -68-
»Dich regt das wohl gar nicht auf«, sagte Emil bedrohlich leise, »daß unsere Mutter von diesem Kerl wie ein Dienstmädchen behandelt wurde! Du willst doch nicht etwa dulden, daß sich dieser Bursche über uns lustig macht!« »Genausowenig, wie ich dulden kann, daß ihr euch Dinge leistet, die strafbar sind. Und unter die Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches fällt so vieles, von dem ihr nicht die geringste Ahnung habt, worüber aber Siegert ziemlich gut Bescheid weiß. Mit Gewalt ist da gar nichts zu machen - in diesem Punkt ermahne ich euch besonders.« Paul lächelte schwach. Er sah aus, als bedauere er einerseits, als Bruder, derartige Ausführungen machen zu müssen; er ließ aber keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er andererseits, als Polizist, nicht einen Augenblick lang zögern würde, genau das zu tun, was seine Pflicht war. »Ist es zum Beispiel strafbar, wenn man die Wahrheit sagt öffentlich sagte?« wollte Otto wissen. Und er blinzelte dabei Emil wie einem Mitverschworenen zu. »Wenn es die Wahrheit ist und nicht nur für Wahrheit gehalten wird - dann ist das nicht strafbar«, gab Paul bereitwillig Auskunft. Emil und Otto sahen sich erneut verständnisinnig an, zwinkerten sich abermals zu und tranken dann, nach weiteren Flaschen greifend, auf ihr Wohl und auf das Wohl ihrer Mutter, der geliebten, auf die sie nichts kommen ließen. Und sie erklärten, daß jedermann ein Schweinehund sei, der dafür kein Verständnis aufbringe, was einmal unmißverständlich gesagt werden müsse! »Prost also!« Paul seufzte ein wenig und trank mit. Mutter Golder aber hatte Gustav zu sich gerufen. Der saß jetzt auf dem von Emil verlassenen Ehrenplatz, zwischen Vater und Mutter. Er fühlte sich von allen Seiten beobachtet, so daß seine Unruhe, die ihn seit Tagen und Wochen schon beherrschte, in -69-
quälender Weise zunahm. Er hatte sich sein Skizzenbuch an die Brust gedrückt, den Kopf ein wenig vorgeneigt, so daß sein seidiges Haar angenehm glänzte. Und so wartete er auf die Dinge, die da kommen würden unvermeidbar und unausweichbar, wie er glaubte. Wenn Mutter eines ihrer Kinder allein zu sprechen begehrte, wurde daraus erfahrungsgemäß kaum jemals ein sonderlich erbauliches Gespräch. Denn eine erfreuliche Ankündigung, ein wohlverdientes Lob, eine besondere Vergünstigung pflegte sie laut und vor möglichst vielen Familienmitgliedern zu verkünden. Die unangenehmen Angelegenheiten aber wurden zumeist unter vier Augen geregelt; und dabei konnte Mutter unerbittlich sein. Darauf war Gustav gefaßt. Aber zu seiner Überraschung war es Vater, der zu reden begann. »Du hast«, sagte Vater Golder, »die Volksschule, die Handelsschule und die sogenannte höhere Handelsschule hinter dir. Du bist begabt, und du hättest es verdient, auf eine Hochschule zu gehen. Aber das können wir, wie du weißt, nicht bezahlen.« »Manchmal«, sagte Gustav aufatmend, da er ein wesentlich anderes Gesprächsthema erwartet hatte, »manchmal soll es vorkommen, daß wohlwollende und begüterte Menschen Unterstützungen gewähren.« »Das soll manchmal vorkommen«, gab Vater Golder nachsichtig zu. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß das in unserer kleinen Stadt vorkommt - denn wer wohl sollte sich das hier leisten können?« »Langsam«, sagte Mutter Golder, wobei sie ihre starken Augenbrauen ein wenig hochzog, was ihr den Anschein lauernder Listigkeit gab, »scheint mir einiges klarzuwerden.« »Mir auch«, sagte Vater Golder, und seine Stimme schien ein wenig schwer zu klingen; aber sein gütiges Lächeln verschwand nicht. -70-
»Du kennst die Familie Siegert?« fragte Mutter Golder frei heraus. »Ja«, gab Gustav zu. Und er versuchte zu verbergen, wie stark er von dieser verwirrend plötzlich aufgetauchten Frage beeindruckt war. Er wich den prüfenden Blicken seiner Mutter aus. »Ich bin mit Siegfried Siegert, dem Sohn, so gut wie befreundet.« »Seit wann, Gustav?« »Seit etwa einem Jahr.« »Also hat der junge Siegert«, stellte Mutter Golder fest, »durch dich Margarete kennengelernt. Du bist mithin in dieser Angelegenheit so etwas wie ein Vermittler gewesen. Auch das habe ich bisher nicht gewußt, aber das erklärt mir vieles. Es ist also richtig, wenn ich annehme, daß du im Hause von Siegert aus und ein gehst.« »In letzter Zeit nicht mehr so oft«, gestand Gustav. Er vermochte diesem leise geführten Gespräch, das ihn wie ein Verhör anmutete, nicht auszuweichen; die Augen seiner Mutter hinderten ihn daran. Aber Vaters fast körperlich spürbare Güte begann zu bewirken, daß sich die lähmende Angst vor dem Unbestimmten in ihm langsam aufzulösen schien. Die Ungerechtigkeit der Mitmenschen, ihr mangelndes Gefühl für die Nöte der anderen, ihre immer wieder durchbrechende Freude am Quälen, alle diese Vorgänge, die das Leben zu bestimmen schienen, hatten jetzt an Intensität verloren. Er war bereit, zu glauben, daß er bei seinen Eltern Hilfe finden könnte; und das beruhigte ihn. »Und was sagt Herr Siegert dazu?« »Das weiß ich nicht, Mutter. Er war niemals anwesend, wenn ich mich dort aufgehalten habe. Es ist daher sehr leicht möglich, daß er gar keine Ahnung davon hat.« »Doch«, sagte Mutter Golder trocken, »darüber ist er mittlerweile informiert worden.« -71-
Vater Golder sah ein wenig seitwärts hoch, um in dem Gesicht seiner Frau nachlesen zu können, was sie dachte. Und er las darin, zu seiner Überraschung, unnachgiebige Härte und, besonders in ihren Augenwinkeln, jene alarmierende kühle Entschlossenheit, die nichts anderes bedeuten konnte, als daß sie gewillt war, einer ihr lebenswichtig erscheinenden Entscheidung nicht auszuweichen. Eigentlich nur einmal noch in ihrem Leben hatte er diese Regung an ihr bemerkt, damals, vor vielen Jahren, als sie rücksichtslos mit ihrer Vergangenheit brach; seinetwegen. Vater Golder senkte den Kopf wieder, ein wenig tiefer als vorher; und er schien das spinnwebartige Tischtuchmuster zu betrachten. »Du kennst also Frau Siegert«, stellte Mutter Golder ruhig fest. »Ja«, sagte Gustav spontan; und in diesem Augenblick war ihm nichts von dem anzumerken, was man gewöhnlich schlechtes Gewissen nennt. »Sie ist eine wunderbare Frau. Sie ist es auch, die mir helfen will. Sie hat die Absicht, mit ihrem Mann über mich zu sprechen.« »Das ist wohl, nach Lage der Dinge, kaum noch nötig«, sagte Mutter Golder und nickte schwer. Sie suchte nach weiteren Worten, was bei ihr ein recht ungewöhnlicher Vorgang war. Gustavs scheinbare Unbekümmertheit, mit der er auf ihre letzten Fragen eingegangen war, hatte sie stark beeindruckt; seine anfängliche Unsicherheit jedoch vermochte sie nicht zu vergessen. Sie war sich nicht klar darüber, ob er sich verstellte, lediglich halbe Wahrheiten zugab, Wichtiges geschickt überging und verschwieg. Oder war er etwa gar wirklich der verträumte, unbekümmert in sich versponnene Junge, für den er sich auszugeben schien? Emil schob sich an seine Eltern heran, baute sich vor ihnen auf und lächelte sie freundlich fordernd an. Dann sagte er, mit dem Daumen auf Gustav weisend: »Wenn ihr genug mit diesem -72-
Säugling geredet habt, dann laßt mal einen Mann von Welt zu Wort kommen - ich habe euch nämlich was zu sagen.« »Später«, sagte Mutter Golder abweisend. »In der Zwischenzeit«, gab Vater Golder zu bedenken, »hast du ausreichend Gelegenheit, ein wenig über deine vorzüglichen Geschichten nachzudenken. Es hat nämlich den Anschein, mein Sohn, als wenn es sich empfiehlt, sie ein wenig gründlicher vorzubereiten. Zum Beispiel könnte ein gelegentliches Kartenstudium gar nichts schaden. Der Hafen Durban nämlich liegt gar nicht am Atlantik, sondern am Indischen Ozean.« Emil räusperte sich heftig. Er vermied es, seinem Vater in die Augen zu sehen oder sich gar, aus den verschiedenartigsten Gründen, auf ein Streitgespräch mit ihm einzulassen. »Man kann sich ja mal irren«, sagte er nur; und das klang fast ein wenig kleinlaut. »Mal schon - aber bei dir kommt das ziemlich oft vor.« Vater Golder lächelte; und das Faltennetz, das seine Augen umgab, verriet milden Spott und heimliche Freude. Emil zog stampfend davon und nahte sich wieder seinem Bruder Otto. »Unterhalten wir uns noch ein wenig, Gustav«, hatte inzwischen Mutter Golder gesagt und sich bequem zurechtgesetzt. Und Vater Golder hatte begonnen, sich umständlich die Pfeife zu stopfen. Gustav wußte nunmehr, daß ihm hier eine lange und sehr eingehende Unterredung bevorstand. Seine Ergebenheit in das Schicksal war groß; sein Respekt vor seiner Mutter jedoch war nicht kleiner. Denn empfindsam, wie er war, ahnte er, daß Mutter, wenn es nicht anders ging, von einer Härte sein konnte, die an die Grenze der Erbarmungslosigkeit ging. Und ganz rein war sein Gewissen auch nicht - wer wohl könnte sich eines solchen rühmen? Doch er entging, für dieses Mal, der mütterlichen -73-
Wahrheitserforschung. Denn die Hebamme Golder wurde, nur wenige Sekunden später, zu einer dringlichen Geburt gerufen. Gustav atmete auf, sprang hoch, ein eifrig bemühter Sohn; er half ihr in den Mantel, der neben der Tür zu hängen pflegte. »Schade«, erlaubte er sich noch zu bemerken, als er ihr die Tasche reichte. »Gustav«, sagte Mutter Golder, ehe sie ging, »wenn du eine Dummheit gemacht hast - gut, dann werden wir sie bereinigen. Wenn du aber eine Schweinerei begangen haben solltest - dann wirst du deine Mutter von einer Seite kennenlernen, die du nie bei ihr vermutet hast.«
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Siegfried Siegert junior hatte das sympathisch offene Gesicht eines mit Intelligenz gesegneten Leichtathleten. Er stand im öffentlichen Park der kleinen Stadt, sprungbereit sozusagen, als befände er sich unmittelbar vor einem entscheidenden Start. Er sah, sich mehr und mehr seiner drängenden Ungeduld überlassend, auf die Armbanduhr. Die Stellung der Zeiger schien ihm sehr zu mißfallen; er winkelte seinen linken Arm noch stärker und hielt sich die Uhr prüfend an sein Ohr. Er mußte dabei feststellen, daß sie unverändert regelmäßig tickte und nicht etwa, wie er erwartet hatte, schneller und heftiger. Er bemühte sich, seine nicht mehr wegzuleugnende Enttäuschung von gedämpfter Empörung in den Hintergrund drängen zu lassen. Und er beschloß, jetzt nicht mehr länger zu warten, oder doch höchstens nur noch fünf Minuten, zehn Minuten im äußersten Fall und unter keinen Umständen länger als eine Viertelstunde. Er steckte die Hände tief in die Taschen seines Regenmantels und sah zu den dichtbelaubten Bäumen des Stadtparks hoch, die im letzten Licht des Tages einem festgefügten Dach glichen. Doch er sprach ihnen, in seiner Stimmung, jede Schönheit ab. Er glaubte herausgefunden zu haben, daß dieser überbaute Parkweg einem Bahnsteig glich, mit der Öde und Einsamkeit jener Orte, an denen Schicksale vom Rauch der Lokomotive verweht und von Tausenden von Füßen gefühllos zertreten werden. »Mich warten zu lassen«, sagte er zu sich. Und er kämpfte tapfer mit der sich ihm immer wieder aufdrängenden Bereitschaft, nach Erklärungen zu suchen und mögliche Entschuldigungen vorwegzunehmen. »Mich so lange warten zu lassen! Das ist doch im Grunde kaum etwas anderes als eine Unverschämtheit.« Er wartete nunmehr bereits länger als sieben Minuten, zusätzlich dann noch fünfzehn Minuten, die er unter Umständen für eine zulässige Verspätung hielt, über die ein Mann und ein Kavalier kein Wort zu verlieren pflegte. Erst gestern jedoch -75-
hatte er, in der Nähe des Kinos, länger als eine geschlagene Stunde auf Margarete Golder warten müssen. Und dazu noch völlig vergeblich! Sie hatte es nicht einmal für nötig gefunden, ihm irgendeine Erklärung zu übermitteln, geschweige denn eine Entschuldigung zu erfinden. Erst Susanne, Margaretes Schwester, hatte ihm den Wunsch nach dieser Zusammenkunft übermittelt. Wäre sie nicht gewesen - so leicht hätte er keinen Versuch mehr in dieser Richtung unternommen. Der junge Siegert fand, daß er sich derartige Herausforderungen auf die Dauer nicht gefallen lassen durfte; nicht nur, weil in seinen Augen Pünktlichkeit ein selbstverständliches Zeichen von Höflichkeit war, wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Was ihm vielmehr als dringlich und von entscheidender Wichtigkeit erschien, war sein Verlangen, Margarete Golder spürren zu lassen, daß mit ihm und seinen Gefühlen nicht zu spaßen sei. »Noch eine Minute«, sagte er entschlossen. Er schritt sodann vier Minuten lang unruhig hin und her, ohne dabei der Versuchung zu unterliegen, auf seine Uhr zu sehen. Sein an sich schon ernsthaftes junges Gesicht mit dem schmalen, feinbogigen Siegert-Mund über dem kantigen Kinn, bekam noch zusätzlich einen Zug, der als bitter und verächtlich geplant war. Dieser Gesichtsausdruck schien jedoch nur kindischen Trotz zu verraten und jene herzerwärmende Unruhe, die Liebenden zu eigen ist. »Jetzt aber Schluß!« sagte er nach weiteren sieben Minuten. Doch er blieb noch geraume Zeit auf dem vereinbarten Platz stehen, an der Bank neben der Birkenholzbrücke. Er hielt intensiv Ausschau, vergeblich, um zu ergründen, ob ihn auch niemand zufällig sehe oder ihn gar vorsätzlich beobachte. Denn man hätte mit Leichtigkeit feststellen können, daß er, ausgerechnet er, Siegfried Siegert junior, schmählich ›versetzt‹ worden war, um im landläufigen Jargon zu sprechen. Ein Mann, so sagte er, kann Enttäuschungen ertragen, nicht jedoch auch -76-
noch schadenfrohe Zuschauer. Er bemerkte jedoch dann, daß sich ihm, noch in weiter Entfernung, undeutlich im verendenden Tageslicht, eine Gestalt näherte. Er glaubte sie als diejenige Margaretes zu erkennen. Behutsame Freude bemächtigte sich seiner; und sie wurde intensiver mit jedem Schritt, der sie ihm näher brachte. Er bezähmte seinen heftigen Wunsch, ihr entgegenzueilen, und rang sich zu dem Entschluß durch, ihr deutlich zu zeigen, wie ungehalten er sei. Wenigstens aber mußte er sie merken lassen, daß er ein derartiges Verhalten mißbilligte, zumindest als nicht korrekt empfinde. Er stellte sich auf, den rechten Fuß ein wenig seitwärts gestemmt, abwartend und mit deutlich zur Schau getragene Gelassenheit. Und in dieser Haltung war er gewillt, stehenzubleiben, bis sie sich ihm auf Handdruckweite genähert hatte. Als er jedoch ihr Gesicht deutlicher sah, dieses rundliche Gesicht mit der kecken Nase und den vollen Lippen, als er ihre samtschwarzen Augen fröhlich und unternehmungslustig auffunkeln zu sehen glaubte, da setzte er sich spontan in Bewegung. Er ging mit immer schneller werdenden Schritten auf sie zu und hörte sich sagen: »Schön, daß du noch gekommen bist, Margarete!« »Guten Abend, Siegfried«, sagte das Mädchen unbekümmert. Es ergriff seine Hand und drückte sie enttäuschend kräftig; so wie es Kameraden zu tun pflegen, nicht jedoch Liebende, die es nach Zartheit verlangt. »Welch ein Zufall, daß wir uns hier treffen!« Sie sagte das betont munter, mit jener flotten Zutraulichkeit, wie sie nur Mädchen eigen ist, die so selbstsicher sind, daß sie jede Phase der Annäherung kontrollieren und bestimmen zu können glauben. Und außerdem hielt Margarete es für angebracht, herausfordernd hinzuzufügen: »Hoffentlich sieht uns hier -77-
niemand - deinetwegen. Ich würde es bedauern, wenn du deshalb Unannehmlichkeiten hättest.« Der junge Siegert fühlte sich, wie anfänglich immer in ihrer Gegenwart von soviel unverbindlicher Impulsivität beunruhigt. Er war jedoch bereit, ihre Eigenart hinzunehmen, kritiklos und duldsam; denn er hielt sich für außerordentlich tolerant. Das jedoch schloß nicht aus, daß er auftretende Irrtümer zu klären bestrebt war. »Aber wir waren doch miteinander verabredet hier, an dieser Stelle, vor nicht ganz einer Stunde!« »Das ist mir völlig neu«, sagte Margarete. Sie griff nach einem Weidenzweig, der in den Weg hineinhing; sie zog ihn, besitzergreifend, an sich und betrachtete ihn prüfend, als sei er das im Augenblick Interessanteste auf der Welt. »Hat dir denn deine Schwester Susanne nicht ausgerichtet ...« »Meine Verabredungen pflege ich allein zu treffen«, stellte Margarete fest. Und sie brach den Weidenzweig ab, entfernte mit sicherem Griff seine Blätter, um ihn dann, gleich einer Reitgerte, spielerisch zu schwingen. Die Luft, die er durchschnitt, wich mit fauchendem Pfeifen, was sie mächtig zu amüsieren schien. »Aber vielleicht wolltest du dich mit meiner Schwester Susanne verabreden, hattest jedoch ihren Namen vergessen? Das ließe sich ohne weiteres korrigieren. Und Susanne würde bestimmt immer sehr pünktlich sein.« »Du weißt doch, Margarete«, sagte Siegfried mit mühsam hervorgebrachter scherzender Vertraulichkeit, »daß du mir sehr viel bedeutest; du allein, Margarete, und niemand sonst. Habe ich dir das nicht deutlich genug zu verstehen gegeben?« »Warum eigentlich«, wollte das Mädchen prompt wissen, »sagst du immer Margarete zu mir - warum nicht Rita?« »Margarete«, sagte der Befragte mit behutsamer Festigkeit, »klingt seriöser.« »Ich bin aber gar nicht so seriös, wie du vielleicht glaubst; und ich liebe pedantische Menschen nicht. Prinzipien sind mir -78-
ein Greuel, und minutiöse Pünktlichkeit kann man von Fabrikarbeitern verlangen, aber nicht von Mädchen, die es gar nicht so leicht haben, von zu Hause wegzukommen. Und vor allen Dinge finde ich, daß Rita viel besser zu mir paßt als jeder andere Name.« »Wie du meinst, Margarete«, sagte der junge Mann mit mäßiger Zustimmung und eingedenk seines Entschlusses, stets tolerant zu sein; ihr gegenüber auf jeden Fall. »Die Hauptsache ist ja schließlich, daß du gekommen bist.« »Ich muß aber gleich wieder gehen«, verkündete Rita Golder geschäftigt. »Ich habe wenig Zeit. Wir sind eine große Familie, und zu Hause wird jede Arbeitskraft gebraucht. Ich wollte lediglich einen kleinen Abendspaziergang machen; und Susanne gab mir den Rat, bis zur Birkenholzbrücke zu gehen. Es sei ein besonders schöner Weg, sagte sie; sehr ruhig und daher erholsam. Sie hat sogar von Einsamkeit gesprochen. Und allein deshalb bin ich hier. Wir haben uns also ganz zufällig getroffen. Oder sollte das etwa zwischen Susanne und dir so besprochen worden sein? Ihr wollt doch nicht etwa den Versuch machen, über mich zu verfügen?« »Aber nein!« beeilte sich Siegfried zu versichern. »Wie kannst du so etwas denken!« »Das wäre auch reichlich unklug«, stellte Margarete fest. Und sie bog ihre Weidengerte so, daß sie zu brechen drohte. »Ich lege großen Wert auf Selbständigkeit. Über meine Gefühle verfüge ich allein und sonst niemand. Unter keinen Umständen lasse ich mich zu irgend etwas zwingen - zu so etwas schon gar nicht!« Der junge Siegert machte Anstalten, stehenzubleiben. Er hatte die Hoffnung, sie würde das gleiche tun und ihm das Gesicht voll zuwenden. So würde sie sehen können, mit welchem Ernst er zu argumentieren gedachte. Sie jedoch schritt weiter. Und es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. »Sieh mal, -79-
Margarete«, begann er behutsam, »wir kennen uns nun schon so lange Zeit.« »Noch nicht lange genug!« Rita schien entschlossen, den drängenden jungen Mann neben sich auf Distanz zu halten. Sie sah überhaupt nicht zu ihm hin; sie spielte weiter mit ihrer Weidengerte, betrachtete dabei ihre Hände, dann die sinkende Sonne am Horizont und die Bäume, die an ihrem Weg standen. »Du bist verändert«, beklagte sich Siegfried. »Du bist auf einmal spröde wie Glas geworden. Warum ist das so? Habe ich Fehler gemacht? Hast du irgend etwas gegen mich?« »Nicht so sehr gegen dich«, sagte Rita gedehnt. Sie blickte ihn kurz mit ihren dunkelglühenden Augen an, prüfend, warnend und herausfordernd zugleich. Dann strebte sie mit kleinen tänzelnden Schritten beschleunigt dem Ausgang des Stadtparks zu. »Aber vielleicht habe ich was gegen deine Familie.« Siegfried verstand das nicht. Er bewegte sich mit großen Schritten neben ihr und blickte vor sich hin. Er stellte sich, unwillig grübelnd, die Frage, was man wohl gegen seine Familie, die doch ehrenwert, angesehen und auch reich war, vorbringen könne. Und er fand die Antwort nicht. Er fand überhaupt keine Antwort auf Margeretes geheimnisvolle Andeutung. »Das verstehe ich nicht«, sagte er schließlich. »Das sieht dir ähnlich«, stellte Rita fest, mit nachsichtigem Hohn, hinter dem sie, mit bestaunenswerter Geschicklichkeit, ferne Enttäuschung aufklingen ließ. Dann brach sie die dünne Weidengerte entzwei. »Um ganz deutlich zu werden: Du bist mir zu vornehm.« Siegfried war ehrlich betroffen. Er hatte jeden anderen Einwand erwartet, diesen nicht. Er war darauf gefaßt gewesen, sie sagen zu hören, daß sie eine Menge an ihm auszusetzen habe, seine betonte Ernsthaftigkeit zum Beispiel, seine Schweigsamkeit, seine Zurückhaltung. Ja, selbst die Erklärung, -80-
ein anderer Mann sei in ihr Leben getreten, hätte ihn kaum so zu erschüttern vermocht wie diese schockierende, offenbar völlig aus der Luft gegriffene Behauptung: Sie möge ihn nicht, weil er zu vornehm sei! Er fühlte sich durch diese kindischen Argumente verletzt und zurückgestoßen. Seine doch wohl recht überzeugend hervorgebrachte Zuneigung, fand er, wurde in unbegreiflich leichtsinniger Weise mißachtet und verschmäht. Und lächerlich gemacht! »Und das«, sagte er bitter, »willst du erst jetzt festgestellt haben? Nichts anderes sonst - nur das? Monatelang kennen wir uns bereits, du weißt alles von mir und hast alles überdenken können. Und am Sonntag vor zwei Wochen, bei unserem Ausflug, ist doch alles klar und gut und eindeutig gewesen!« »Weil ich dir erlaubt habe, mich zu küssen? Einmal übrigens nur, um ganz genau zu sein! Was bedeutet das schon! Das kann ein Versprechen gewesen sein; und ich will auch gerne zugeben, daß ich Neigung verspürt habe, diesen Vorgang sehr ernst zu nehmen. Aber das schließt doch nicht aus, daß ich damals ganz entscheidende Dinge noch nicht gewußt habe, die ich heute weiß.« »Ich bin nicht vornehm!« rief der junge Siegert aufgebracht. »Ich kann doch nichts dafür, daß mein Vater Geld hat und daß ihm die halbe Stadt gehört! Ich besitze ein eigenes Zimmer mit einem Schrank voller Anzüge; ich habe ein eigenes Bad zur Verfügung und kann, wenn ich will, Auto fahren - daraus darf man mir doch keinen Vorwurf machen! Ich habe mein Abitur bestanden und die Hochschule besucht, weil mir das befohlen worden war. Dann aber habe ich in der Fabrik gearbeitet, in der Heizung ebenso wie im Maschinenraum, im Büro und auf dem Lager - jetzt arbeite ich in der Transportabteilung und kutschiere zweimal in der Woche einen Lastzug in die Hauptstadt. Was ist daran vornehm?« »Mein Vater ist ein Schlosser«, sagte Rita hoheitsvoll, »und -81-
das wird er auch immer bleiben. Und meine Mutter ist Hebamme. Damit ist alles gesagt.« »Jawohl«, sagte Siegfried heftig erregt, und er ließ seine guten Vorsätze, die von den Begriffen ›kritiklos, duldsam, tolerant‹ umschlossen waren, unbedenklich fahren. »Damit ist alles gesagt, was an Dummheiten zu sagen war.« »Du bist widerwärtig hochmütig!« rief Rita nicht minder heftig. »Alles, was du sagst, beweist mir nur, wie recht ich habe! In deinen Augen bin ich dumm, und es ist eine Gnade für mich, zu dir emporgezogen zu werden. Wenn ich dich jemals als ›vornehm‹ bezeichnet haben sollte, dann hatte ich mich geirrt du bist viel schlimmer! Ich hätte mich nie mit dir einlassen sollen!« Ihre Schritte wurden noch kleiner und noch schneller. Er blieb beharrlich an ihrer Seite. Minutenlang sprach niemand ein Wort, jeder wartete darauf, daß der andere zu sprechen beginnen werde. Der dunkle Himmel hing gelassen über ihnen, und die sandige Erde verschluckte den stampfenden Klang ihrer Schritte; eine Uhr schlug in der Ferne. Sie atmeten heftig, und das Verlangen beherrschte sie, sich ganz nah gegenüberzustehen. »Margarete«, sagte Siegfried plötzlich, fordernd, fast schon befehlend. Und er blieb stehen. Er packte ihren Arm, umspannte ihn mit kräftigem Griff, so daß sie nicht ungehindert weitergehen konnte, stehenbleiben mußte, sich zu ihm drehte. Sie stieß einen Laut aus, der Schmerz zu sein schien, der aber sich sträubendes Erstaunen war. Er sah ihre funkelnden Augen durch die beginnende Nacht leuchten und riß sie an sich, mit jähem Ungestüm. Er spürte ihren Körper, der sich steif, doch ohne Gegenwehr, mit uneingestandenem Verlangen, an ihn lehnte. Er küßte sie auf den krampfhaft geschlossenen Mund. Er tat das mit einer Heftigkeit, die hemmungslos und ohne Hoffnung -82-
war. »Margarete«, sagte er dumpf. Und sie preßten sich aneinander, mit äußerster Kraft, zum Bersten angespannt und fern jeglicher lösenden Zärtlichkeit. Und wieder sagte er, hilflos und wie ersterbend: »Margarete.« »Ich heiße Rita«, erklärte sie. Und sie entwand sich ihm hastig, mit störrischen Bewegungen, wie sie Kinder haben, die ein Spielzeug, das sie heftig enttäuschte, von sich stoßen. »Aber Rita heiße ich nur für Menschen, die ich mag - du kannst mich weiter Margarete nennen!« Dann lief sie davon. Er sah ihr lange nach, und er lächelte dabei; etwas verzerrt zwar und wie von den taumelnden Wellen eines Schwindelanfalls heimgesucht. Denn er war durch seine heftige Umarmung, die einem ungeschickten, besinnungslos herbeigeführten und daher besonders anstrengenden Ringkampf zu vergleichen gewesen war, ein wenig außer Atem gekommen. Er fuhr sich, mit ratloser Geste, durch sein Haar; nervös und heftig, als wollte er seine Kopfhaut massieren und dadurch Schmerzen bannen. Geraume Zeit stand er so da und bedachte das soeben Geschehene mit machtvoll aufsteigendem jugendlichem Optimismus. Nicht ohne Mühe kam er hierbei zu dem Schluß, daß er wahrhaftig und überzeugend geliebt werde. Ihre drängende Heftigkeit schien ihm eindeutiger Beweis. Gleichgültigkeit, sagte er sich, handelt anders. Also beschwingt setzte er sich in Bewegung. Er pfiff haarsträubend falsch, aber herzhaft die Melodie eines banalen und daher einprägsamen Schlagers, dessen desillusionierenden Text er zu seinem Glück vergessen hatte. Er begab sich, ohne sonderliche Umwege, nach Hause. Er hatte die Absicht, dort noch ein wenig zu lesen, möglichst von der Liebe und den in diesem Zusammenhang immer wieder auftretenden Mißverständnissen. Denn die wahrhaft edlen -83-
Frauenseelen, denen allen gewiß maßvolle Sprödigkeit zu eigen war, konnten sich nicht schenken, ohne sich aufzugeben. Ein Vorgang von wundersamer Selbstlosigkeit! Ein unbestreitbarer Höhepunkt des Daseins. Ihm in greifbare Nähe gerückt. Er legte seinen Mantel ab, achtlos, mit schwungvoller Bewegung. Er begab sich in die Halle, um von hier in sein Zimmer zu gelangen. Aber er stieß auf seinen Vater, der sich tief in einen der riesigen Sessel versenkt hatte und die Tageszeitung zu durchblättern schien. »So früh schon heim?« fragte Siegert senior seinen Sohn, ohne von seiner Beschäftigung aufzusehen. Und gerade diese wenig überzeugend gespielte Gleichgültigkeit war es, die dem jungen Siegfried vorsichtige Aufmerksamkeit anempfahl. »Wie geht es Mutter?« fragte er. Jetzt sah Siegert hoch, ganz gegen seine Absicht, leicht überrascht und mit prüfendem Seitenblick. Denn er war es gewohnt, daß sein Sohn, so er von des Vaters zweiter Frau sprach, immer die ausweichende Redewendung ›deine Frau‹ benutzte; die Vokabel »Mutter« in diesem Zusammenhang war völlig neu. »Wie es ihr geht?« wiederholte Siegert gedehnt die ihm gestellte Frage, um seine Antwort hierauf nicht minder gedehnt hinzuzufügen: »Gut.« Siegfried setzte sich, einer offenbar unvermeidlichen Aufforderung zuvorkommend, seinem Vater gegenüber. »Ich gedenke etwas mit dir zu besprechen«, sagte der alte Siegert über seine Zeitung hinweg. »Es handelt sich hierbei um nichts sonderlich Wichtiges, doch auch nicht um irgend etwas Unbedeutendes.« Und er verkündete diesen Wunsch mit jener Sachlichkeit, die immer dann in Erscheinung trat, wenn er Entschlüsse, besonders solche kaufmännischer Natur, gründlich durchdacht hatte und zu verkünden sich anschickte. Und in seiner Stimme lag eine Warnung vor jeglichem Widerspruch. »Soll ich etwa schon wieder irgend etwas angestellt haben, -84-
das dir mißfällt?« fragte Siegfried mit aufsteigendem Unwillen. Er glaubte befürchten zu müssen, nunmehr über sein Privatleben ausgefragt zu werden. Und gerade darüber eine erschöpfende Antwort gegen zu können, wie er es gewünscht hätte, war ihm nach dem augenblicklichen Stand der Dinge wohl doch nicht möglich, ohne vorzeitige und voreilige Preisgabe vager Geheimnisse. Siegert senior jedoch schüttelte den Kopf, an den privaten Gedankengängen seines Sohnes im Augenblick erfreulich desinteressiert. Er schien weiter seine Zeitungen zu betrachten und fragte dann: »Hattest du nicht einen Schulkameraden oder Jugendfreund, der Arzt geworden ist?« »Ja«, sagte Siegfried. Er war spürbar erleichtert und nahezu froh darüber, einer möglicherweise wichtigen Unterredung über ein noch nicht völlig zur Entscheidung reifes Thema vorläufig entronnen zu sein. Er entspannte sich und ließ sich tiefer in den Sessel gleiten. »Sicherlich meinst du Robert Bächler.« »Den meine ich«, sagte Siegert. »Er soll, wenn ich nicht irre, ein recht begabter Arzt sein, der zur Zeit irgendwo assistiert; in einer Frauenklinik, glaube ich. Eine eigene Praxis jedenfalls besitzt er wohl noch nicht?« »Du irrst dich nicht«, sagte Siegfried. Und er fragte sich vergeblich, doch ohne sonderliche Anstrengung, warum wohl sein Vater Auskünfte über einen Mediziner einholte; seine Interessen gingen doch ansonsten kaum über den Papiermarkt hinaus. »Eine ärztliche Praxis einzurichten kostet sehr viel Geld; Beziehungen muß man außerdem haben. Allein schon die Krankenkasse ist ein schweres Hindernis; wenn die dort nein sagen, kann man wohl gleich einpacken. Und Robert Bächler hat sicherlich niemand, der ihm Geld gibt.« »Hat er denn wenigstens Ehrgeiz?« »Den hat er - der reicht sogar für drei Ärzte aus.« »Ich würde ihn gerne einmal sprechen«, sagte Siegert senior; -85-
und in seiner Stimme lag jetzt jene verbindliche Sachlichkeit, die das Bestreben eines nunmehr festen, nicht mehr rückgängig zu machenden Entschlusses verkündete. »Möglichst bald - sagen wir, gleich am kommenden Sonntag. Du kannst mit ihm telefonieren oder ihm ein Telegramm schicken. Ich werde mich einen ganzen Nachmittag für ihn frei machen. Er soll, wenn möglich, alle Unterlagen mitbringen, die für seine ärztliche Laufbahn von Wichtigkeit sind.« »Ich würde gerne wissen, Vater«, fragte Siegfried mit instinktivem, ihm völlig unerklärlichen Mißtrauen, »was das zu bedeuten hat?« »Das heißt nichts anderes, mein Sohn, als daß ich mich versucht fühle, diesem jungen Mann eine Chance zu geben unter der Voraussetzung natürlich, daß er meinen Erwartungen entspricht und meine speziellen Hoffnungen, die ich auf ihn setze, nicht zu enttäuschen gewillt ist. Ich weiß, was du jetzt einwenden könntest: daß wir in unserer kleinen Stadt bereits zwei Ärzte haben. Und das wäre wohl auch ausreichend, wenn es sich tatsächlich um zwei vollwertige Mediziner handeln würde. Aber der eine scheint mir mehr ein Tierarzt zu sein; und der andere, dieser Doktor Pracht, ist ein alter Mann, der die Grenze seiner Leistungsfähigkeit schon lange überschritten hat. Hier also zusätzlich noch einen dritten, einen jungen und verläßlichen Arzt vorausschauend zu installieren, erscheint mir durchaus angebracht.«
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Emil Golder, der Seemann, gab sehr bald, kaum zwei Tage nach seiner Ankunft, zu verstehen, daß ihm das weite Meer fehle, der endlose Horizont und der gewaltige Himmel. Gewiß, die Heimat sei schön und so etwas Ähnliches wie lieblich. Aber ein echter Seemann brauche nun einmal Gefahren und die ständige Herausforderung seiner Kühnheit. So schwankte er denn einher, gleich einem treibenden Kahn, zwischen Urlaubsfreuden und kleinstädtischer Langeweile. Er saß in der Wohnküche seiner Eltern und sah, mit den gutmütigmatten Augen eines abwartenden Bernhardiners, seiner Schwester Susanne zu, die das Mittagessen vorbereitete. »Wo ist eigentlich Vater?« wollte er vorsorglich wissen. »Wie immer bei seiner Arbeit im Eisenbahnausbesserungswerk. Wenn du Sehnsucht nach ihm haben solltest, könntest du ihm ja das Mittagessen hinbringen.« Emil bekundete keinerlei Verlangen danach, sich seinem Vater auf eine ganze Plauderstunde auszuliefern; bei der sanften Gründlichkeit des ›Alten‹ versprach die alles andere als amüsant zu werden. »Und wo ist Mutter?« wollte er nunmehr wissen. »Die Frau des Bahnhofsvorstandes bekommt ein Kind«, sagte Susanne; und sie unterbrach ihre Arbeit nicht eine Sekunde lang. Sie überflutete die geschälten Kartoffeln mit Hilfe eines heftig sprudelnden Wasserstrahles. »Der Bahnhofsvorstand soll so aufgeregt sein, daß er vergessen hat, ein Signal zu stellen.« »Flattert wie ein Wimpel bei mittlerem Wind! Aber so sind sie alle! Versauern im ewigen Einerlei, dösen Tag für Tag vor sich hin, durch schnarchen die Nächte. Und wenn es dann mal ein bißchen braust, bei einem Dachstuhlbrand, bei einem Verkehrsunfall, oder eben bei einer Geburt, dann strampeln sie vor Aufregung wie die Hampelmänner. Sag selbst, Susanne habe ich da nicht den besseren Teil gewählt?« Susanne goß das Wasser von den Kartoffeln und antwortete nicht. Sie hantierte schnell und sicher. Die riesige Schürze, die -87-
sie sich um ihr zierliches Körperchen gewunden hatte, schlug groteske Falten und ließ sie klumpenhaft plump erscheinen. Das stille Gesicht darüber wirkte unnatürlich zart; und die blaßblauen Augen blickten unendlich sanft und behutsam verträumt. »Wenn ich hier an Mutters Stelle wäre«, sagte Emil mit geruhsamer Oberzeugungskraft und ohne seine Schwester weiter zu beachten, »würde ich die werdenden Väter systematisch weich machen, bis sie aus dem Leim zu gehen drohen. Vielleicht merken sie dann endlich einmal, daß sie Waschweiber sind und keine Männer. Mutter kennt dieses spießige Leben hier zur Genüge - eigentlich ein Wunder, daß sie noch Männern gegenübertreten kann, ohne gleich Lachkrämpfe zu bekommen.« Er grinste und fuhr fort: »Aber schließlich hat sie ja mich - das wird ihr Hoffnung geben.« Susanne stellte die große Schüssel mit den geschälten und saubergewaschenen Kartoffeln mit sanftem Schwung auf den Tisch, an dem Emil saß. Sie stemmte ihre Kinderhändchen daneben und beugte sich ein wenig vor, wobei sich ihre Schürze mächtig aufbauschte und trügerische Wölbungen in Brusthöhe hervorbrachte. Emil betrachtete diesen Vorgang mit einiger Verwunderung. Susanne galt als das geduldige Lamm der Familie; sie wurde daher auch off nur ›Suse‹ genannt, was besonders die ältesten Brüder als außerordentlich treffend empfanden und was sie selbst mit scheuem Lächeln zu dulden pflegte. Daß es nun ausgerechnet diese sanftmütige Suse war, die sich ihm mit geradezu kindlicher Robustheit näherte, registrierte Emil nicht ohne ferne Anerkennung. Er führte eine derartige Regung auf seinen guten Einfluß zurück. »Und wo ist eigentlich deine Frau?« wollte Susanne wissen. »Meine Frau?« fragte Emil erstaunt zurück. Er runzelte seine Stirn, und in seinen Augen leuchtete die Unschuld eines -88-
ruhebedürftigen, wohlgesättigten Jagdhundes. »Was soll die schon machen? - sie wird ihren Haushalt in Ordnung bringen und die Kinder versorgen.« »Man merkt es dir nämlich gar nicht an, daß du verheiratet bist«, sagte Susanne; und sie verband zaghafte Neugier mit tastendem Vorwurf. »Ist das etwa bei dir Absicht?« »Das ist eine Eigenschaft von mir«, gab Emil bereitwillig Auskunft, »eine von denen, die meine Persönlichkeit ausmachen. Ich wirke immer so stark und so vollkommen, daß sich niemand neben mir einen anderen Menschen vorstellen kann. Nur noch Mutter ist so ähnlich.« »Denken eigentlich alle Männer so?« »Die meisten schon - aber wer kann sich das mit einiger Berechtiung wirklich leisten? Da bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, als in der Ehe eine Art Ergänzung zu suchen ...« »Eine Gemeinsamkeit.« »So etwas Ähnliches, das zumeist purer Schwäche entspringt.« Emil demonstrierte gerne seine Kraft und Überlegenheit dieser seiner jüngsten, vermutlich rührend unerfahrenen Schwester; er hoffte, sie möge daraus lernen und erstreben, sich seiner doch wohl recht überzeugend vorgelebten Auffassung anzunähern. »Du kennst doch sicher den jungen Siegert?« fragte Susanne vorsichtig. »Zu welcher Sorte Männer zählst du ihn?« »Interessiert er dich etwa?« wollte Emil gedehnt wissen. »Ich frage nicht meinetwegen«, sagte Susanne schnell. Emils prüfende Blicke überflogen das für ihn niedlichnichtssagende Gesicht seiner kleinen Schwester. Und er glaubte bestätigt zu finden, was er schon immer über sie gedacht hatte: Sie war ein harmloses, fleißiges Geschöpf, dem Herd zugetan und von jener geduldigen Reinmachewut beseelt, die auch seine Mutter auszeichnete. -89-
»In meinem vorigen Urlaub«, sagte er, sich abermals genußvoll dehnend, »habe ich den jungen Siegert kräftig verprügelt. Ich weiß nicht mehr genau, aus welchem Anlaß das geschah - aber ich weiß noch, daß das gar kein leichtes Stück Arbeit gewesen ist. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß er das Zeug in sich hat, ein ganz brauchbarer Kerl zu werden.« »Du hättest nichts dagegen, wenn er eine von uns ... ich meine: wenn er zum Beispiel Rita heiraten würde?« Es kostete Susanne viel Anstrengung, das herauszubringen. Aber nachdem sie es geschafft hatte, atmete sie erleichtert auf, denn offenbar war Emil weit davon entfernt, sie auszulachen, wie sie befürchtet hatte. Ganz im Gegenteil: Der mächtige Bruder lauschte ihrer Frage mit erheblichem Interesse. Emil hatte seine Antwort hierauf sofort parat; dennoch kraulte er sich, als denke er schwer nach, in den Haaren. Und diese Haare umstanden seinen dicken Schädel, der nahezu konturenlos in die prallen Schultern überging. Ein Berg aus Muskeln, darin eisenharte Knochen - das war genau das Bild, das er zu bieten bestrebt war. »Es kommt in einer Ehe immer darauf an«, sagte Emil schließlich, sich ungemein gedankenschwer gebend, »daß die Frau ihren Mann liebt, und zwar höchst bereitwillig, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und ohne Forderung, das ist besonders wichtig! Sie darf ihm auch nicht nachlaufen. Sie hat nur zu warten, da zu sein, bereit zu sein das ist schon alles. Aber das erst, mein Kleines, gibt dem Manne das so unerhört wichtige Gefühl von Freiheit - und das macht dann dankbar. Und zu so einer Frau kommt er auch immer wieder zurück, was ja praktisch heißt: Er geht ihr niemals verloren.« Durchdrungen von wohltuender Zufriedenheit massierte er sich mit den Handflächen liebevoll den muskulösen Brustkasten. Er dachte an seine Ehe; und er zögerte keine Sekunde lang, sie als ungemein glücklich zu bezeichnen. Seine liebe Frau war ein kleines, wohlgestaltetes, kuhwarmes und lammgeduldiges -90-
Geschöpf; sie hatte ihn noch nie mit einem Vorwurf erschreckt, sich nicht einmal einen einzigen vorwurfsvollen Blick zuschulden kommen lassen. Er schenkte ihr in jedem Jahr, in einer der heiter verbrachten Urlaubsnächte, ein Kind; mit den natürlichen Folgen dieses Ereignisses war sie dann, wie er fest glaubte, während der Zeit seiner Weltabenteuer voll beschäftigt. Und außerdem paßte ja Mutter, die vorbildlich familiär dachte, in der Zwischenzeit auf sie auf. »Was nun unsere muntere Rita betrifft«, sagte er dann, Susanne brüderlich herzhaft zulächelnd, »so scheint sie mir nicht gerade das Ideal einer Ehefrau im alten Sinne zu sein. Von dieser Sorte kann man heute noch größere Mengen auf den Südseeinseln finden, auch in Indien und Arabien. Weißt du, unsere Rita aber kann ich mir nicht gerade als Heimchen am Herd vorstellen. Sie hat ganz andere Qualitäten, sie besitzt ein paar fast männliche Eigenschaften. Das spricht zwar sehr für sie, macht sie aber nicht gerade in angenehmer Weise heiratsfähig.« »Aber wenn sie von Siegfried Siegert geliebt wird - was soll man da machen?« Susanne strahlte ihren großen Bruder mit forderndem Zutrauen an, was diesem wie öl einging. Und der, geschwellt von dem Gefühl, ihm werde letztes Vertrauen entgegengebracht, kam gar nicht auf die Idee, ein wenig eingehender über die verräterisch eigenwilligen Formulierungen von Susanne nachzudenken. »Du meinst also«, sagte er bereitwillig, »daß ich da ein wenig eingreifen sollte, damit die Sache ins rechte Lot kommt?« Susanne betrachtete ihn mit ihren rührenderstaunten Kinderaugen, als habe sie ihm für ein großes, unerwartetes Geschenk zu danken. »Du bist immer sehr hilfsbereit«, sagte sie dankbar. »Aber du darfst Margarete unter keinen Umständen vor den Kopf stoßen du weißt ja, daß sie sehr eigensinnig ist.« »Aber Mädchen«, verkündete Emil, »wenn hier einer weiß, was Takt ist - dann bin ich das! Ich habe schon die heikelsten -91-
Missionen erledigt. Neulich erst bin ich mit einem Häuptling von Somaliland Schlitten gefahren - bei vierzig Grad im Schatten. Und wenn es irgendwo Schwierigkeiten mit den Konsuln gab, mußte ich sie bereinigen. Entweder gab der Konsul klein bei - oder er war eben nicht mehr als Konsul zu gebrauchen.« »Aber vor allen Dingen«, sagte Susanne eindringlich, »darf Siegfried Siegert nichts dabei passieren.« »Wenn der Junge spurt«, versprach Emil, »krümme ich ihm kein Haar. Wenn er allerdings nicht einsehen will, was ihm hier für sein Leben geboten wird, dann werden die Fetzen fliegen.« Susanne mußte sich an der Kante des Tisches festhalten, um nicht zu verraten, daß sie ein wenig zitterte. Leichter Schwindel überfiel sie. Sie hatte das peinigende Gefühl, fürchterliche Dinge angerichtet zu haben; ungewollt, aber nicht unschuldig. Und sie sah, wie immer sie sich auch abmühte, keine Möglichkeit, das heraufziehende Gewitter einzudämmen. Dann jedoch glaubte sie einen Funken Hoffnung zu verspüren und eine möglicherweise funktionierende Bremswirkung entdeckt zu haben. Eine leichte, freudige Röte überflog ihr schmales Gesicht, vom schlanken Hals hinauf bis zu den flachen Schläfen. »Wäre es nicht das beste, zunächst einmal, ganz vorsichtig, mit Mutter über diese Angelegenheit zu sprechen?« »Mit Mutter - über einen Siegert? Du bist ja naiv, Kleines. Für Mutter ist der Name Siegert ein rotes Tuch. Warum das so ist, brauchst du noch nicht zu wissen, dafür bist du nicht entwickelt genug. Nur soviel: Mutter darf mit dieser Sache nicht belästigt werden. Die machen wir unter uns aus. Denn so, wie der Wind jetzt steht, kann Mutter weder ja noch nein dazu sagen, ohne sich quälen zu müssen - na, und das will doch wohl keiner von uns?« Susanne nickte, nicht sonderlich überzeugt; aber sie gab deutlich zu verstehen, daß sie unter keinen Umständen gewillt -92-
sei, Mutter vor qualvolle Entschlüsse zu stellen. Dann schwieg sie, und ihre Hände lagen untätig auf der Tischplatte. Sie kam sich hilflos und verlassen vor und war nahe daran, zu weinen. »Das kriege ich schon hin«, versprach der große Bruder. »Ehe ich hier meine Zelte abbreche, um wieder in See zu stechen, lasse ich entweder ein glückliches Paar zurück - oder ein paar krankenhausreife Idioten.« Siegfried Siegert senior, Inhaber und Direktor der Vereinigten Papierfabriken, stand, graudunkle Falten im fleischigen Gesicht, hinter den Gardinen des großen Fensters. Von hier aus ließen sich Terrasse und große Teile des Gartens gut übersehen; und was sich dort seinen Blicken bot, beschäftigte ihn stark. Das Telefon hinter ihm klingelte, schrill und fordernd; aber er überhörte das. Seine Wirtschafterin stand lauernd an der Tür, schien sprunghaft bereit, ihm jederzeit ihre Willigkeit unter Beweis zu stellen. Ohne sich nach ihr umzuwenden, fragte er: »Seit wann befindet sich Frau Siegert im Garten?« Dieses »Frau Siegert« sprach er fest und entschlossen aus. Und sosehr es ihn auch schmerzen mußte, seinen ehrenwerten, hochgeachteten Namen nach allem, was geschehen war, mit dieser Frau in Verbindung zu bringen, so konnte er doch nicht umhin, das Gesicht zu wahren und die Form einzuhalten. Solange nicht die Beweise erschöpfend und eindeutig waren, die gegen seine Frau sprachen, durfte er sich offiziell nicht von ihr distanzieren. Und er vermochte immer noch nicht zu glauben, daß diese Frau sich nicht gescheut zu haben schien, ihn und sein Ansehen leichtfertig für kurze Minuten unwürdiger Lust preiszugeben. »Frau Siegert«, sagte die Wirtschafterin mit dem wissenden Geflüster eilfertiger Vertraulichkeit, »befindet sich seit zwei Stunden im Garten. Sie hat sich inzwischen zweimal danach erkundigt, ob der gnädige Herr bereits heimgekommen wäre, -93-
was ich wahrheitsgemäß verneinen konnte.« »Hat sie das Verlangen bekundet, mich zu sprechen?« Auch diese Frage konnte die Wirtschafterin verneinen. Und sie zog sich sofort zurück, als Siegert mit einer souverän anmutenden Handbewegung zu verstehen gab, daß er ihre weitere Anwesenheit als unwesentlich betrachte. Sie stelzte durch die Halle mit kurzen Schritten, da sie der strammsitzende Seidenrock beengte; sie hüpfte die Treppen hinauf und verschwand im Schlafzimmer Siegerts. Hier schien sie sich eifrig, mit einem Putztuch in der Hand, zu beschäftigen, und zwar in der Nähe des Fensters, durch dessen Scheiben Teile der Terrasse sichtbar waren. Dieses Fenster öffnete sie behutsam und blieb daran stehen; sie lauschte, ohne zunächst deutlich hören zu können, was unter ihr vorging. Siegert stand längere Zeit beobachtend da, regungslos und mit ernsten Blicken. Er befingerte seine Krawatte; die war, wie nicht anders erwartet werden konnte, tadellos gebunden. Aber der schneeweiße Kragen seines Hemdes schien ihm ein wenig zu eng zu sein. Durchflutet von dunklen Gedanken betrachtete er das Bild, das ihm seine auf der Terrasse sitzende Frau bot: mild leidend, ein dünnes Faltennetz im bleichen Gesicht, dessen Augen glanzlos waren und hilfeflehend ins Weite zu starren schienen. Das, so konstatierte er, konnte als die Signatur des schlechten Gewissens angesehen werden. Siegert straffte sich, setzte sich sodann in Bewegung. Durch die weitgeöffnete Glastür schreitend, näherte er sich seiner Frau. Die hörte seine Schritte, schien zusammenzuzucken und sah ihm dann, mit der Kopfhaltung eines um Pardon bittenden Tieres, still verängstigt entgegen. »Das Kind schläft jetzt«, sagte sie; und so begann sie ein wenig hastig das Gespräch, auf das sie seit Tagen bangend gewartet hatte. »Ich habe mich zum erstenmal wieder ins Freie -94-
gewagt - die frische Luft tut mir gut.« »Ich gönne sie dir«, sagte Siegert mit gemessener Großmut. »Und ich sehe mit Interesse, daß du dich langsam von den gewiß strapaziösen Ereignissen zu erholen scheinst.« »Das Kind ist gesund und stark und sehr lebhaft.« »Das freut mich«, sagte Siegert gemessen, »das freut mich für dich und dein Kind.« Barbara Siegert öffnete ihren Mund, fischartig, als müsse sie Luft schnappen; ein schneller Schmerz huschte über ihre Augen. Dann schloß sie den Mund wieder und preßte die Lippen, wie in wehem Trotz, aufeinander. Ihr Mann hatte ihr nicht die Hand gegeben, sie keines Lächelns gewürdigt, schien sie nahezu übersehen zu wollen, während seine Worte, scharf und leise, auf sie zukamen gleich gleitenden Rasiermessern. Er zog sich, mit dem Fuße nachhelfend, scharrend und quietschend einen Stuhl herbei; es handelte sich um irgendein aus Birkenholz gezimmertes Gartenmöbel, das nicht durch Kissen verziert war und daher kaum zum Sitzen einlud. Er nahm darin Platz, die Hände dicht bei den Knien ineinandergezwängt. »Ich hoffe aufrichtig«, begann er tastend, »daß es dir dein Gesundheitszustand nunmehr erlaubt, mich anzuhören, ohne dadurch körperlich Schaden zu erleiden. Denn ich darf annehmen, daß der Gegenstand meines Gespräches nicht gerade dazu angetan sein wird, dein allgemeines Wohlbefinden zu heben.« »Du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen«, sagte Barbara ahnungsvoll. »Ich bedauere, das in diesem Fall auch nicht tun zu können«, erklärte Siegert; und er hatte seine Augenbrauen, nahezu feierlich, um mehrere Millimeter gesenkt. Barbara, ergeben und demütig, war erfüllt von dem sie belastenden Gefühl, sein fürsorgliches Vertrauen und seine -95-
ritterliche Achtung verloren zu haben. Wodurch das auch immer geschehen sein mochte, sie litt darunter in Demut und der Hoffnung, daß sich ein möglicher Irrtum aufklären werde. Doch sein Verhalten war beängstigend und konnte nicht grundlos sein; er war nicht der Mann, sich über Lappalien zu erregen. Er betrachtete, wie magisch angezogen, ihre kaum merklich zuckenden Lippen. Diese Lippen, einst von bemerkenswertem Schwung geformt, waren ihm immer verschwenderisch zärtlich und mit Vorsicht verlangend entgegengeblüht; doch heute waren sie rissig und blutlos und schienen nicht mehr in der Lage zu sein, Worte zu formen, die ihn erfreuen konnten. Alles weist darauf hin, dachte er bitter, daß sie sich verloren hat. »Ich hatte Sehnsucht nach dir«, flüsterte Barbara tapfer, kaum vernehmbar, mit beschwörender, hervorbrechender Zuversicht. »Warum bist du nie gekommen, um das Kind zu sehen - und mich?« Blechsteif saß Siegert da, als habe er sich gegen einen Sturmwind zu stemmen, der seine gute Haltung zu bedrohen in der Lage war. Seine Falten auf der Stirn vertieften sich noch; sie demonstrierten schmerzliche Betroffenheit und peinliches Erstaunen. »Wir wollen doch nicht sentimental werden«, erklärte er ablehnend. »Die Wahrheit verträgt keine kaschierten Gefühle.« »Ich verstehe das alles nicht«, sagte Barbara. Und sie raffte die Strickjacke, in die sie sich trotz der angenehmen Witterung eingehüllt hatte, über der Brust zusammen; über eine Brust, von der Siegert fand, daß sie fülliger und vermutlich auch fester geworden war. Aber die quälende Peinlichkeit der Situation, in der er sich, durch diese Frau, befand, ließ keinen Raum für zärtlichintime Betrachtungen. Im Gegenteil, es war, als entflamme diese Darbietung gereifter Fraulichkeit in ihm nichts anderes als Empörung. -96-
»Wenn einer von uns«, rief er und blickte sie herausfordernd an, »behaupten kann, so gut wie nichts zu verstehen, wenn auch so ziemlich alles zu wissen - dann bin ich das. Ein Opfer meiner Gutmütigkeit, meines blinden Vertrauens, meiner unbedenklichen Ritterlichkeit! Vulgäre Elemente werden mich für einen Trottel halten. In Frankreich, glaube ich, gebrauchen moralfeindliche Komödienschreiber für Männer in meiner Situation das Wort Hahnrei.« Fleckiges Rot kroch reptilartig über Barbaras Gesicht; vereinzelte Flecken von fahlem Weiß mit kränklichem Gelb verzerrten ihre leidende Mütterlichkeit ins Traurig-Groteske. Sie würgte, vorerst ohne ein deutliches Wort herauszubekommen. Schließlich war zu vernehmen, daß sie mit dem krampfhaften Gesprudel eines Ertrinkenden sagte: »Das ist - gemein.« »Ich widerspreche dir nicht«, sagte Siegert. Er hatte sich auf dieses Gespräch gründlich grübelnd vorbereitet. Und nun glaubte er, mit seiner so errungenen Überlegenheit am sichersten zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen, indem er massiv zum Angriff überging. »Denn ich heiße nicht Gustav!« »Was hat denn der arme Junge damit zu tun?« fragte sie hilflos. »Du gibst also zu, daß du ihn kennst! Immerhin ist das schon etwas. Nicht mehr zuzugeben brauchst du, daß du in der Stunde der Geburt mehrmals seinen Namen genannt hast. Was das bedeutet, brauche ich dir ja wohl nicht zu erklären, das weißt du - und andere wissen das leider auch schon.« »Vielleicht habe ich wirklich seinen Namen genannt. Ich weiß es nicht, aber ich versuche auch gar nicht, es zu bestreiten. Mutter Golder sagte mir, ich hätte eine halbe Stunde lang allerlei sinnloses Zeug gestammelt. Das käme öfters bei Geburten vor. Aber das hat doch keinerlei Bedeutung. Das mußt du mir glauben, Siegfried.« »Ich glaube, was ich weiß«, sagte der stark; und er sagte das -97-
mit jener kraftvollen Beharrlichkeit, die er für eine Manifestation seiner Charakterstärke hielt und die zweifellos zu seinen bemerkenswerten merkantilen Erfolgen beigetragen hatte. »Und ich glaube ferner, daß ich nunmehr deine Offenheit verdiene. Selbst wenn es mir jetzt auch nicht mehr gegeben sein sollte, sie zu würdigen, so kann ich doch wenigstens versprechen, sie nach bestem Willen zu achten. Also - es stimmt tatsächlich, daß du in jener fraglichen Nacht, ja sogar in der wichtigsten Stunde, vielleicht sogar im entscheidenden Augenblick, den Namen Gustav genannt hast!« »Ich weiß das nicht.« »Du mußt das aber wissen!« Siegert beugte sich vor; er atmete laut, während die Hände, die seine Knie umklammert hielten, sich lösten, zusammenfanden und ineinander verkrampft wurden. Barbara schüttelte, wie von starren Drähten gezogen, den Kopf; bleichlippig, erstarrt, mit unbeweglichen Augen, wie unter einer Maske. »So kannst du doch nicht mit mir sprechen«, sagte sie. »Ich wollte, ich brauchte das nicht zu tun«, gab Siegert, mit dem Kinn scharf vorstoßend, zurück. »Nicht mein Verlangen treibt mich dazu, allein dein Verschulden zwingt mir diese Handlungsweise auf.« »Bitte«, sagte sie stammelnd, »sprich nicht so zu mir. Das darfst du nicht tun. Das habe ich nicht verdient. Und es ist deiner nicht würdig.« Siegert litt; und nur mit letzter Kraft gelang es ihm, aufrecht und ungebrochen zu erscheinen. Seine Haltung erweckte nahezu den Eindruck, eine durch nichts zu brechende kämpferische Natur streite unerschütterlich für Haus und Hof, für Ehre und Ansehen. Doch er fühlte heftige Schmerzen in der Brust, vornehmlich in der linken Hälfte; es wollte ihm scheinen, als sei er ein Chirurg, der das Skalpell ansetzt, um sich selbst einen -98-
Arm zu amputieren. Aber er war durchdrungen von der Überzeugung, daß das, was er jetzt tat, getan werden mußte. Wenn er Wert darauf legte, nicht auch noch den letzten Rest seiner bisher stets standhaft bewahrten Selbstachtung zu verlieren, blieb ihm keine andere Wahl, als sich den letzten, hieraus zu ziehenden Konsequenzen mannhaft zu stellen. »Es wird zunächst notwendig sein«, sagte er schließlich, »daß du mir mitteilst, um welchen Gustav es sich eigentlich handelt.« »Um Gustav Golder vermutlich«, sagte Barbara. Und sie machte ihm diese niederschmetternde Eröffnung, seiner Ansicht nach, mit einer derartig naivraffinierten Aufrichtigkeit, daß er zutiefst erschrak. Er wähnte, einen schwindelerregenden Blick in die Abgründe fraulicher Verworfenheit getan zu haben. Er hatte verzweifelte Ausweichmanöver erwartet und schließlich ein reumütiges Geständnis - diese von jeglicher Gewissenslast freie, von sittlicher Verantwortung unbeschwerte Offenheit nicht. »Gustav Golder«, wiederholte er. »Ausgerechnet.« Und stark, wie von Triumph und Entsetzen zugleich gepackt, fügte er hinzu: »Also doch.« Er vermochte nicht mehr, sitzen zu bleiben. Er wanderte, erregt und mit Heftigkeit seine Erregung bekämpfend, auf der Terrasse auf und ab. Der Duft der Rosen schien ihm auszuweichen, und den unbekümmerten Gesang der Vögel hörte er nicht. Es trieb ihn dazu, seiner Frau mit höhnischem Vorwurf in das schuldgezeichnete Gesicht zu blicken; aber er betrachtete lediglich seinen Schatten, der klein, gedrungen und scharfkantig vor ihm herwanderte. »Hat dieser Lümmel, dieser Gustav Golder, tatsächlich jemals mein Haus betreten?« fragte er grollend. Er sah sie immer noch nicht an; sein Blick glitt, über den gepflegten Kiesweg, zu den Eichen hin, die Standfestigkeit und Wachstum seiner Familie symbolisieren sollten. Und wie geblendet schloß er die Augen. -99-
»Gustav Golder war oft hier«, sagte Barbara hinter seinem Rücken. Ihre Stimme klang matt, aber in ihr war der krampfhafte Wille spürbar, ihm behilflich zu sein. »Er ist mit Siegfried befreundet.« »Also auch mein Sohn!« rief Siegert schmerzlich. Und er fühlte sich wie verwundet, wie von einem Dolch getroffen; hinterrücks und heimtückisch, Cäsar nicht unähnlich. Barbaras Verwirrung wuchs, ihre Hilflosigkeit nahm mehr und mehr zu. Sie glaubte, daß hier allein nur noch Offenheit helfen könne. Alles in ihr verlangte danach, eine Szene zu beenden, die erschreckend an ihren Nerven zerrte und durchaus dazu geeignet schien, sie bis an den Rand ihrer in den letzten Wochen beharrlich strapazierten Kräfte zu treiben. Zaghaft versuchte sie, sein Verständnis zu erflehen, und sie sagte: »Du mißverstehst das alles dieser Gustav ist ein unglücklicher Mensch, aber ein netter und begabter Junge.« »Das glaube ich!« rief Siegert unbeherrscht. »Nett und begabt! Wer kann daran noch zweifeln.« Er löste seinen nach vernichtender Wirkung ausspähenden Blick schnell von dem schmerzverzerrten Gesicht seiner Frau. Er wollte sich und ihr keine Pause der Nachsicht gönnen, niemand einen Atemzug der Entspannung gewähren, ehe nicht das erreicht wurde, was er als letzte Klarheit zu bezeichnen gewillt war. »Während ich also für euch arbeite, mich sorge und meinem Tagewerk nachgehe, treibt sich hier, bei meiner Frau, ein lümmelhafter Nichtstuer herum. Und der eigene Sohn spielt dabei den Zuhälter!« »Jetzt ist es genug«, sagte Barbara. »Ich ertrage das nicht länger.« Die Verletzungen, die er ihr pausenlos zugefügt hatte, waren zu groß. Sie drohte zu taumeln, aber sie hielt sich aufrecht. Sie schwankte zwischen Qual und Stolz. Sie erhob sich mühsam und bewegte sich rückwärts; sie tastete sich zur Glastür hin, von ihm fort. -100-
Er stürzte ihr nach, unbeherrscht, einem Tiger vergleichbar, der seine Beute anfallen will; er hielt dicht vor ihr und bedrängte sie. »So einfach«, sagte er ihr ins Gesicht, »kommst du nicht davon. Ich will jetzt die ganze Wahrheit von dir wissen.« »Wenn du sie nicht selbst weißt ...« »Ich will sie von dir wissen! Du sollst mir ins Gesicht sagen, daß dieser Gustav der Vater deines Kindes ist!« Sie taumelte, sich weiter rückwärts bewegend; sie war nicht mehr in der Lage, ihren kraftlosen Körper zu beherrschen. Sie fiel gegen die Tür, die hellauf klirrte; sie vermochte sich nur noch mühsam auf den Beinen zu halten. »Du tust mir leid«, sagte sie kaum vernehmbar. »Ist dieser Gustav der Vater deines Kindes?« fragte er besessen. Und in ihm war jetzt der Rausch der Selbstvernichtung, der Wille zur Qual; er war zu tief getroffen worden, er hatte zu unbarmherzig zurückgeschlagen. Da, wie er wähnte, der Sinn seines wohlgeordneten Lebens vernichtet worden war, wollte er nibelungengleich den völligen Untergang. Sie schloß die Augen, als habe sie ein unbarmherzig grelles Licht angefallen. Und da sie den Kopf nach rückwärts, wie unter großer Atemnot, fallen gelassen hatte, sah er ihren Hals, über den so oft seine Hand geglitten war; spielerischzärtlich, mit festerem Zugriff auch, wenn ihn die Leidenschaft erhitzt hatte. Und dieser Hals, schmal, nervig und fleischlos, von den nicht einzuebnenden Kanälen des heranrückenden Alters durchzogen, bot sich ihm dar wie der eines willigen Opfertieres. »Antworte!« sagte er gnadenlos. Barbara legte beide Hände über das Gesicht, als müsse sie es gegen einen rohen, unvermeidlichen Angriff schützen. Dann war es, als zöge sie, mit eben diesen schützenden Händen, ihren Kopf aus der quälenden Rückenlage. Obgleich sie zitterte, sah sie ihn fest und unfeindlich an. Mit einer in dieser Situation erschreckend klaren und festen, wenn auch keinesfalls lauten -101-
Stimme sagte sie: »Diese Frage beantworte ich dir nicht. Es ist unter meiner Würde.« Dann verließ sie ihn; sie schleppte sich durch die Halle, zog sich die Treppe hinauf. Und oben, vor ihrem Schlafzimmer, brach sie lautlos zusammen, abwärtsgleitend, als wäre sie ein Schleier, der zu Boden fällt. Siegert aber stand, die Hände zu Fäusten geballt, breitbeinig, wie ein trotziger Knabe auf der Terrasse. Er stöhnte, als hätten ihn die bösen Mächte in ihre erdrosselnde Klammer genommen. »Mein Gott - warum muß mir das passieren? Warum ausgerechnet mir!« Und er fand, daß sein Schmerz groß und tief war und von ihm forderte, männlich und mit Haltung ertragen und überwunden zu werden. Das war er sich und seiner Familie, seinem Ruf und seinem Ansehen, schlicht: seinem Lebenswerk schuldig. Er neigte den Kopf, als lausche er einem Urteilspruch und beuge sich ihm.
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Mutter Golder las einen Brief. Der Rechtsanwalt Marktschreiter hatte ihn im Auftrage seines Mandanten, des Herrn Siegert, an sie geschrieben. Sie las diesen Brief mehrmals, mit steigender Verwunderung. Es dauerte geraume Zeit, ehe sie begriff, daß in diesen drei oder vier verklausulierten Sätzen eine Gemeinheit verborgen war, die sie nicht erwartet hatte. Ihr gutmütig vollmondrundes Gesicht mit den nahezu mädchenhaft jung gebliebenen Augen begann, nach Minuten ausdruckslosen Staunens, zu lächeln. In diesem Lächeln nistete die Schläue der im Lebenskampf listig gewordenen einstigen Einfalt; und in ihm war auch die unbelesene, schlichte Weisheit der Vielerfahrenen. Doch was vor allen Dingen bei Mutter Golder immer wieder durchbrach, war die heimliche Freude, die sie am Leben empfand. Sie hatte sehr schnell gelernt, und ihr Mann hatte ihr entscheidend dabei geholfen, daß nichts auf dieser Erde ewigen Bestand hat; die Freude nicht und auch nicht das Leid, weder die Enttäuschungen noch gar die Erfüllungen. Alles ändert und verändert sich, blüht auf und verwelkt. Und selbst der herzzerreißende Tod ist morgen kaum mehr als eine leise Erinnerung. Ein Brief wie dieser da - bald nichts als ein Fetzen Papier; gut genug, um damit ein Feuer anzuzünden, um einen wackeligen Schrank zu stützen oder um in eben jenem Ort ausgehängt zu werden, der von niemandem zu umgehen ist. »Der Brief scheint dir Vergnügen zu bereiten«, sagte Margarete neugierig. »Scheint so«, sagte Mutter Golder. Und sie faltete das vor ihr liegende Schriftstück, diese Infamie auf Kanzleipapier, einmal und noch einmal. Sie wollte Neugierigen die Möglichkeit versperren, voreilig und völlig unnötig Einblick in dieses seltsame Produkt verquerer Denkweise zu nehmen. Mutter Golder sah sich prüfend um, so als müsse sie sich vor überraschenden Zugriffen schützen. Doch in diesen frühen -103-
Nachmittagsstunden war die Wohnküche nahezu leer. Lediglich Gustav saß scheinbar lesend in seiner Ecke. Und Margarete bügelte bereits seit fast einer Stunde mit eitler Sorgfalt an ihrem matrosenblauen Faltenrock herum. Aus dem Nebenraum ertönte kräftiges Schnarchen; Emil, der Seemann, verdaute dort sein Mittagessen und stärkte sich zu neuen Taten. Gustav, hellhörig und nervös wie ein umstelltes Tier, mißdeutete den prüfenden Blick seiner Mutter. Er erhob sich, als habe er es plötzlich sehr eilig, und strebte, das Buch unter dem Arm, zur Tür. »Ich will nichts von dir - noch nicht«, sagte Mutter Golder mit leicht belustigtem Seitenblick. »Du kannst also getrost hierbleiben.« Gustav murmelte irgend etwas von einer dringenden Verabredung, die er ›um ein Haar‹ verpaßt hätte. Es handle sich um den Friseurmeister, bei dem er sich morgen vorstellen solle; dessen Tochter habe ihm heute, völlig unverbindlich, selbstverständlich, einige Hinweise zu geben sich erbötig gemacht. »Ich zwinge dich nicht dazu, Friseur zu werden«, sagte Mutter Golder. »Es gibt noch andere Berufe; nur muß es einer sein, dessen Ausbildung keinerlei Kosten erfordert. Das ist leider die Bedingung, die ich stellen muß. Aber es ist die einzige.« Gustav nickte, die Hand auf der Türklinke. Er stimmte der Forderung der Stunde zu. Er bezeugte das Verlangen, sich nützlich zu machen; dabei kannte er nur das eine Ziel: Mutters Zorn, den er kommen fühlte, unabwendbar, wie die Flut nach der Ebbe, durch bewiesene Willigkeit möglichst zu dämpfen. »Zum Glück«, sagte Mutter Golder resolut, mit sitzfester Behaglichkeit trotz des vor ihr liegenden hinterhältigen Schreibens, »ist die Tochter des Friseurs nicht verheiratet. Ich sage das nicht etwa, um dich zu ermutigen, sie zu heiraten; ich stelle das lediglich fest. Demnach scheint es, daß diesmal -104-
peinlich berührende Komplikationen nicht zu befürchten sind.« Gustav schob sich mit Hast, als hätten ihre Worte ihn gestoßen, durch die halbgeöffnete Tür. Mutter Golder öffnete noch einmal den vor ihr liegenden Anwaltsbrief; denn kurz hatte sie das Gefühl beherrscht, es sei möglich, daß sie sich verlesen habe, daß sie möglicherweise allzu bereitwillig einem neuen Mißverständnis zum Opfer gefallen sei. Margarete bügelte unentwegt weiter; und Emils Schnarchen nahm ein Ausmaß an, als gedenke er das Balkengefüge des Hauses zu erschüttern. Das lag durchaus im Bereich der Möglichkeiten, denn es war ein altes, zerwohntes, verwittertes Haus. Dieser Rechtsanwalt Marktschreiter, ein bewährter Tatsachenverdreher, teilte ihr, der Hebamme Golder, mit: Sein Mandant, Herr Direktor Siegert, mache darauf aufmerksam, daß er in Erwägung ziehe, über den in seinem Hause stattgehabten Vorgang, die Geburt eines Kindes männlichen Geschlechts, ein fachärztliches Gutachten nachträglich einzuholen, da seiner Ansicht nach der Verdacht als nicht unbegründet anzusehen wäre, daß es hierbei zu folgenschwerer Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht gekommen sei. Dieser Vorwurf, hieß es dann im nächsten Absatz weiter, müsse nicht zuletzt auch seiner, des Mandanten, Meinung nach, gegen die unbefriedigende, wenn nicht gar fahrlässige oder doch zumindest nachlässige, dennoch als ›Zusammenarbeit‹ ausgegebene Tätigkeit zwischen Doktor Pracht einerseits und Hebamme Golder andererseits erhoben werden. Das alles jedoch, hieß es im dritten Absatz, habe bisher das Stadium der Überlegungen und Nachprüfungen noch nicht überschritten; somit handele es sich bei diesem Schreiben vorerst um eine Art Mitteilung, die nicht zu verschweigen ein Gebot des seinem Mandanten eigenen Anstandsbestrebens sei; dieser sehe unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen sich gezwungen, daß er sich weitere juristische Schritte, inklusive Anzeige, vorbehalte. -105-
»Du könntest mir eine Tasse Kaffee brauen«, sagte Mutter Golder. Die erneute Lektüre des kanzlistischen Wortgebrodels schien sie immer stärker zu erheitern. Obgleich sie wußte, daß mit Siegert nicht zu spaßen war, vermochte sie nicht ernsthaft zu bleiben. »Haben wir etwa geerbt?« fragte Margarete. »Wie kommst du darauf?« wollte Mutter Golder wissen. »Logik«, sagte Rita, freudigselbstbewußt und mit strahlendem, vertraulichem Lächeln; das stand ihr, wie sie genau wußte, besonders gut. »Der Brief kam vom Rechtsanwalt. Und da du dich über ihn zu freuen scheinst, muß es ein angenehmer Brief sein. Warum also nicht die Mitteilung, daß wir geerbt haben?« »Um so eine Art Erbschaft handelt es sich hier schon«, sagte Mutter Golder gedehnt. »Aber noch ist nicht erwiesen, ob sie sich lohnt oder ob wir draufzahlen müssen.« »Wird es lange dauern, ehe sich das herausstellt?« fragte Margarete vom Herd her. Sie hatte das Kaffeewasser aufgesetzt, das für eine Tasse ausreichte. Jetzt zählte sie fünfzig Bohnen ab; das war genau die Menge, die Vater nach vielen Versuchen als besonders bekömmlich für Mutter erklärt hatte. Mutter Golder beantwortete die Frage ihrer munteren und wißbegierigen Tochter nicht. Sie dachte, in Erwartung des wohltuenden Kaffees, noch ein wenig über den Brief nach. Vermutlich, sagte sie sich, handelte es sich hierbei um den Versuch einer indirekten Erpressung. Es war vermutlich die versteckte Aufforderung, zu schweigen. Zu schweigen über alles, was sich bei der fraglichen Geburt ereignet hatte. Siegert hielt die Vorgänge in jener Nacht offenbar für weltuntergangsähnliche Ereignisse; und er traute ihr nicht zu, daß sie schweigen würde. So ließ er sich denn zu diesem Versuch hinreißen, ihr indirekt zu drohen, indem er sie auf die Gefahr aufmerksam machte, daß er durchaus in der Lage sei, ihr -106-
ein Verfahren wegen mangelhafter Sorgfalt anzuhängen. Von Rechtsanwalt Marktschreiter war bekannt, daß er jederzeit Bereitwilligkeit zeigte, sich über angestiftete Verwirrung zu ergötzen, zumal wenn er gut honoriert wurde. Fest stand jedoch wohl, daß nur Siegert und sie allein genau wußten, was an Forderungen und Wünschen hinter diesem Schreiben steckte. »Was meinst du, Rita«, fragte sie, wobei sie den Duft des Kaffees zufrieden einatmete, »wie groß hat wohl das Verständnis zu sein, das eine Frau einem Mann entgegenbringen muß? Seinen Angewohnheiten, zum Beispiel, seinen Eigenarten und sogar, wenn sie vorhanden sind, seinen Besonderheiten etwa seiner strapazierenden Art, zu denken und zu handeln.« »Sie braucht überhaupt kein Verständnis dafür aufzubringen«, erklärte Margarete überzeugt. »Es ist doch ausschließlich die Sache der Männer, die Frauen verstehen zu lernen - sonst kriegen sie eben keine.« »Besonders weit«, sagte Mutter Golder, »wirst du mit dieser Anschauung nicht kommen. Männer, mein liebes Kind, sind nämlich ungleich komplizierter als Frauen. Warum wohl, habe ich mich oft gefragt, hat die Schöpfung die lange Qual der Geburt der Frau zugeteilt? Weil der Mann viel zu empfindlich ist - er würde das niemals überstehen! Das heißt aber nicht, daß die Frau robuster wäre als der Mann; sie ist nur ungleich leidensfähiger. Mit einem Mann aber muß man Nachsicht haben.« »Das sehe ich nicht ein«, sagte Rita. Und sie legte, mit winzig hervorgestreckter Zunge, die zweiunddreißigste Falte in ihren Sonntagsrock. »Dann«, sagte Mutter Golder aufmerksam, »wirst du vermutlich noch niemals einen Mann geliebt haben; du würdest sonst alle oder doch sehr viele, die meisten, verstehen können. Du würdest dann um ihre Schwächen wissen, die aus der -107-
Eitelkeit kommen, die sie für Stolz halten. Du würdest erkannt haben, daß sie böse werden, wenn sie Grund zu der Annahme zu haben glauben, daß man ihnen nicht wohl will. Sie geben vor, Kerle zu sein, bleiben aber Kinder und wehe, wenn sie merken, daß sie als solche erkannt worden sind. Und dreimal wehe, wenn sie sich betrogen glauben oder gar ihres Spielzeuges beraubt werden. Ich kenne einen von dieser Sorte.« Und es war, als blinzelte sie, gnädig amüsiert, dem Brief zu, der vor ihr lag. »Das ist mir zu kompliziert«, gestand Rita; und sie legte nachdenklich den rechten Zeigefinger auf das zierlichstupsige Naschen. »Aber vermutlich liegt das daran, daß ich wirklich noch niemals einen Mann geliebt habe - außer Vater natürlich.« »Dein Vater«, sagte Mutter Golder fast ein wenig verschämt, »ist kein Mann im gewöhnlichen Sinn. Manchmal glaube ich, er besteht nur aus einem männlichen Herzen.« Und schnell, wie ein eilfertig gehandhabter Schwamm über eine Tafel wischt, überwand sie diese ihr sentimental erscheinenden Sekunden dankbaren Abschweifens. »Du jedenfalls behauptest, noch keinen Mann zu kennen, den du liebst. Wenn das wirklich stimmt, dann bleibt dir und uns vielleicht einiges erspart.« »Wie soll ich das verstehen, Mutter?« wollte Margarete wissen; und sie beugte sich tief über ihre eigentlich bereits beendete Arbeit. »Du bist gelegentlich mit dem jungen Siegert gesehen worden bedeutet er dir viel?« »Es ist nichts passiert - wenn du etwa das meinst.« »Das meine ich nicht«, erklärte Mutter Golder mit großer Festigkeit. »Es hat nichts zu passieren! Aber wie bist du eigentlich an den Jungen geraten?« »Gustav hat mich mit ihm bekannt gemacht, seit geraumer Zeit schon. Ab und zu treffen wir uns. Er gibt sich ziemlich Mühe, mir klarzumachen, wieviel ich ihm bedeute. Ein paarmal hat er sogar Anlauf genommen, um mir einen regelrechten -108-
Heiratsantrag zu machen; doch er stolperte schon bei den ersten Hindernissen. Aber einmal habe ich mich von ihm küssen lassen. So - jetzt weißt du alles. Beruhigt?« »So ganz uninteressiert scheinst du also doch nicht zu sein«, stellte Mutter Golder prompt fest. »Und mit unserem Gustav muß ich mich endlich einmal eingehend unterhalten. Der war es also, der zuerst den jungen Siegert kennenlernte; und Gustav war es auch, der dich mit diesem Siegfried bekannt gemacht hat. Und als kleine Gegenleistung durfte er dann das Haus Siegert heimsuchen. Das scheinen mir recht bemerkenswerte Zustände zu sein.« »Susanne kennt den jungen Siegert auch - um das Bild abzurunden.« »Dieses Thema, mein Kind, scheint dich stark zu beschäftigen; deine Reaktionen lassen diesen Schluß zu. Und die Tatsache, daß ihr diese Freundschaft mir und Vater verheimlicht habt, deutet darauf hin, daß ihr euch ganz besondere Gedanken darüber gemacht haben müßt. Irgendwie muß euch klargeworden sein, daß bei uns nicht gerade helle Begeisterung geherrscht hätte, wenn wir davon erfahren hätten. Ich will das nicht als mangelndes Vertrauen bezeichnen, aber ein wenig sonderbar muß ich es schon nennen.« Mutter Golder zögerte, ehe sie weitersprach; und wie zufällig legte sie ihre kraftvolle, fleischige und doch langgliedrige Hand auf das Schreiben des Rechtsanwaltes vor sich. »Wenn ich nun sagen würde: Mach Schluß mit denn jungen Siegert, die Sache kann nicht gut ausgehen - was dann?« »Ist das ein Verbot, Mutter?« »Nein - vorerst ist das nichts anderes als eine Frage. Aber wenn ich tatsächlich ein Verbot aussprechen müßte, Margarete was würdest du tun?« »Um ganz ehrlich zu sein, Mutter - ich weiß das nicht.« »Das heißt also«, fuhr Mutter Golder mit behutsamer -109-
Hartnäckigkeit fort, »du weißt noch nicht ganz genau, was du willst. Oder glaubst du, daß es besser sei, mich vorläufig noch nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen? Das wäre ein großer Irrtum, Margarete. Denn gerade jetzt würde ich gerne wissen, was deine Pläne sind. Du brauchst keinerlei Bedenken zu haben, sie mir mitzuteilen. Ich werde dich zu verstehen versuchen und mich auf deine Seite stellen. Und ich möchte gerne, daß du mir eine Frage beantwortest: Fühlst du dich zu diesem jungen Siegert hingezogen, zu ihm und keinem anderen, willst du mit ihm zusammen sein, ganz gleich, was kommt und unter welchen Umständen auch immer?« Margaretes Augen wichen dem vorsichtig forschenden Blick der Mutter aus. Ihre beiden Hände hatten den Griff des Bügeleisens umfaßt. Sie schwieg. »Du solltest eingehend darüber nachdenken«, sagte Mutter Golder. »Und zwar möglichst bald und mit schnellem Resultat. Ich muß wissen, was dir der junge Siegert bedeutet; es hängt nicht wenig davon ab. Bedeutet er dir nicht viel, gut - dann vergiß ihn. Das würde uns allen vermutlich vieles ersparen. Ich kann dir noch nicht sagen warum das so ist, aber es ist so. Wenn du ihn aber unbedingt haben willst, Margarete - nun gut, dann sollst du ihn auch bekommen. Das verspreche ich dir. Und wenn ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen muß!«
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Emil hatte seinen intensiven Nachmittagsschlaf im elterlichen Hause mit einem mächtigen Schnarchkonzert hinter sich gebracht. Nun ruhte er sich aus, in der Küche sitzend, beide Beine auf der Kante des Tisches abgestützt. Seine Urlaubstage pflegten selbst ihn gelegentlich anzustrengen. Er verspürte das Verlangen nach einem starken Kaffee; doch er verlangte Bier. Susanne stellte ihm, geschickt und eilig, eine Flasche hin, die sie aus einem Winkel zwischen Küchenschrank und Ausguß geholt hatte. Emil befingerte die Bierflasche, als prüfe er die Härte einer Wurst, und ordnete dann an: »Kühlen sechs Minuten lang.« Susanne drehte, wortlos und flink, den Wasserhahn auf. Sie stellte die Flasche in die Spülwanne, genau unter den fingerdick hinabschießenden Strahl. Hierauf arbeitete sie angestrengt weiter, mit den Glastüren des Küchenschrankes beschäftigt. Sie hatte sich katzenbuckelkrumm vorgebeugt, mit versonnener Anstrengung, wie sie Menschen eigen sind, die sich unbeobachtet fühlen. Emil aber, machtvoll hineingeflegelt in den großen Familiensessel, beobachtete sie mit jener gelassenen Anteilnahme, die Seebären in allen Lebenslagen wohl ansteht. »Na - Cindarella«, sagte er gönnerhaft, mit seiner angeblich auf sieben Weltmeeren zusammengesammelten Allgemeinbildung prunkend; denn Cinderella bedeutete, wie er erfahren hatte, das gleiche wie Aschenbrödel. »Du trainierst wohl auf Hausfrau? Betreibe das nicht zu heftig, Kleines. Die Männer behaupten zwar immer, Sehnsucht nach einer echten Hausfrau zu haben, aber sie verstehen etwas wesentlich anderes darunter, als man allgemein annimmt. Die Kenntnisse in der Küche schaffen zwar Zufriedenheit, aber die Fähigkeiten im Schlafzimmer verschaffen erst die Freuden, die eine Ehe glücklich machen. Glaube mir, es ist eine weitverbreitete Unverschämtheit, alle Anstrengungen auf letzterem Gebiet ausschließlich uns Männern zu überlassen - daran krankt -111-
nämlich die Welt. Das ist es auch, was uns so unruhig macht und in die Ferne treibt.« Susanne tat, als höre sie nichts. Ihr Gesicht war ein wenig röter geworden, vielleicht vor Anstrengung, und ihre Hände mit dem Staubtuch glitten noch schneller über das spiegelnde Glas. Diese Reaktionen befriedigten Emil sehr, und er verlangte nunmehr nach seinem, inzwischen wohl gekühltem Bier. »An Bord«, sagte er, »haben wir Eisschränke, in denen sechs Rinder, vier Schweine und zwölf Faß Bier Platz haben.« Diese Ausführungen Emils mit bewundernder Zustimmung zu quittieren, wurde Susanne enthoben. Denn Gustav öffnete die Tür und spähte herein. Und als er sah, daß lediglich Emil und Susanne anwesend waren, trat er näher, um sich in seiner Ecke neben dem Fenster niederzulassen. Er tat das behutsam, als wolle er unter keinen Umständen irgend jemand stören. Er lächelte Susanne scheu zu und schlug dann sein Buch auf. Emil betrachtete diesen Auftritt des in seinen Augen total mißratenen Bruders mit verwunderter Unzufriedenheit. »Du wolltest wohl erst sehen, Kleiner«, sagte Emil breit, »ob die Luft rein ist? Du weichst Mutter aus, scheint mir. Hast du was ausgefressen? Das eine sage ich dir, Jungchen - wenn du etwa Mutter auf die Nerven gehst, werde ich dich einer Kur unterziehen, die Wunder wirken wird.« »Vorhin«, sagte Susanne ablenkend, »bei deinem Mittagsschlaf, da hast du geschnarcht wie eine Lokomotive - das ist Mutter auf die Nerven gegangen.« »Das ist völlig ausgeschlossen«, erklärte Emil überzeugt. »Ein Mensch, der einem nahesteht, kann schnarchen, soviel er will, ohne zu stören. Das ist erwiesen; und ich bin nun mal Mutters Lieblingssohn. Ich habe das außerdem auch außerhalb der Familie mehrmals durchprobiert, mit vollem Erfolg. Außerdem weiß doch jedes Kind, daß Schnarchen ein Beweis von Kraft ist. Dazu gehört nämlich ein gewaltiger Brustkasten, und auch die -112-
Lungen müssen in Ordnung sein. Nur wer einen gesunden und tiefen Schlaf hat, wird schnarchen, daß die Wände beben. Wer ehrlich liebt, dem gefällt das.« »Das Schnarchen«, glaubte Gustav bemerken zu dürfen, »hat zumeist drei Ursachen: falsche Lage, behinderte Atmung und Mißbildung des Gaumensegels.« »Mißbildung?« rief Emil aufgebracht. »Ich soll eine Mißbildung besitzen? Das wagst du Zwerg mir zu sagen ausgerechnet du? Du bist ja nicht einmal imstande, Friseur zu werden!« »Imstande schon«, erwiderte Gustav; und er tat das mit der stoßfreudigen Unbeholfenheit eines gereizten Rehbockes, dem aber doch, da er seiner Kraft nicht ganz vertraut, die letzte Entschlossenheit fehlt. »Aber was kann ich dagegen tun, wenn die Lehrstelle bereits besetzt ist! Der Sohn des Pförtners von der Papierfabrik bekommt sie. Vermutlich hat der mehr Beziehungen als ich.« »So?« fragte Emil aufhorchend, sofort zuverlässig abgelenkt. »Der Sohn des Pförtners von der Papierfabrik?« Und es war, als erblicke Emil plötzlich Neuland; nicht ganz unerwartet, doch schneller als er gedacht hatte. Denn letzten Endes war er es ja gewesen, der zu dieser Berufswahl seinen Segen bereitwillig erteilt hatte. Jetzt Gustav Schwierigkeiten machen zu wollen, hieß doch nichts anderes, als sich ihm in den Weg zu stellen versuchen. Daß man es wagte, sich seinen Wünschen entgegenzustemmen, war Herausforderung genug. Daß dieses Wagnis aber gar aus der Richtung Papierfabrik kam, war alarmierend. »Das ist nicht uninteressant«, versicherte er. Und endlich wieder sah er ein Ziel, das durchaus geeignet schien, seine sich tagsüber etwas langweilig dahinquälende Urlaubsperiode angenehm aufzulockern. »Das interessiert mich sogar sehr.« Er trank in unternehmungslustigen Zügen sein Bier aus. Dann -113-
reckte er sich tatenfroh und betrommelte kurz seinen dabei dröhnenden Brustkasten. Hierauf erhob er sich, reckte sich noch einmal mit gedehnten Armen, nickte seinen Geschwistern zu und stampfte hinaus. Kaum daß er das Haus verlassen hatte, feuerte er mit aufmunternden Worten zwei Knaben an, die sich mit breitflächigen Holzsäbeln dröhnend bekämpften. Er griff schließlich, da sich eine Entscheidung zu lange hinauszögerte, persönlich ein. Er schob die Kampfhähne derartig dicht aufeinander, daß sie sich heftig auf die Hände schlugen, schließlich sogar, nicht weniger dröhnend, auf die Köpfe. Emil wollte sich ausschütten vor Lachen. Und einer entsetzt aus dem Küchenfenster herausblickenden Mutter eines dieser nunmehr verbissen herumwalkenden Gassenritter rief er dröhnend zu: »Das werden mal Kerle! Die gehen ran!« Auf dem Markt schäkerte Emil mit der Blumenfrau. Er kaufte ihr die schönste Rose ab, die sie besaß, und steckte sie ihr dann, die darob in ein hühnerartiges Dankesgezeter ausbrach, an den schwindenden Busen. Nach einem launigen Zuruf an den städtischen Straßenkehrer, Pferdeäpfel betreffend, ihre Verwendungsmöglichkeit und ihr Vorkommen - »Was du auf der Schippe hast, haben andere im Kopf!« -, widmete sich Emil einem Haufen Schulkinder. Bestaunt umstanden brachte er ihnen bei, was ›Noch eine Flasche Rum - aber Jamaika‹ auf englisch heißt. Dann stiftete er vier Tafeln Schokolade und ließ sich zum Dank das Lied von den Vögeln, die alle schon da sind, vorsingen. Also gestärkt schritt er, hier und dort Grüße dröhnend erwidernd, auf die Papierfabrik zu, die, von zwei müde rauchenden Schornsteinen überragt, am Rande der Kleinstadt stand. Am Eingang prallte^ Emil auf den Pförtner. Der lebte offenbar in dem kuriosen Wahn, daß es notwendig sei, eine so stadtbekannte Persönlichkeit wie Emil danach zu fragen, was sie begehre. -114-
»Du machst mir Spaß«, sagte Emil belustigt. »Ich habe meine Vorschriften«, beharrte der Pförtner. »Und außerdem hast du einen Sohn, der ganz dringend Friseur werden muß. Aber dein Knirps schafft das nicht alleine da hat einer kräftig nachhelfen müssen. Weißt du eigentlich, wie man so etwas nennt? Korruption!« Emil schob den verblüfften Pförtner mit kurzer Bewegung zur Seite, so daß dieser gegen das hölzerne Torhäuschen knallte, worauf dessen Glasscheiben erregt zu klirren begannen. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, strebte der aktionsfreudige Seemann auf das Bürohaus zu. Und hier landete er, mit bewundernswertem Instinkt, direkt im Büro des Direktors Siegert. Die sogenannte Vorzimmerdame war von wieselhafter Winzigkeit; sie flitzte vom Regal zur Schreibmaschine, von dort zum Arbeitstisch, wo sie einen Zettel aufgriff, mit der linken Hand, während sie mit der rechten Hand nach dem Telefonhörer angelte. Sie sah Emil gar nicht an. Sie hatte lediglich einen Besuch registriert, irgendeinen; und nun war sie bestrebt, ihn abzufertigen. »Sie wünschen?« »Von Ihnen gar nichts«, erklärte Emil gemütlich. »Sie können ganz beruhigt sein. Ihnen passiert nichts.« Er ging an ihrem Schreibtisch vorbei, auf die Polstertür zu, von der anzunehmen war, daß sie in das Zimmer des Chefs führte. Er öffnete sie, sah grüne Sessel, braunes Holz, weiße Vorhänge; und er sah eine zweite, auf den Hinterhof hinausgehende Tür, die geöffnet war. Den Mann Siegert sah er nicht. Draußen, auf dem Hof, sprang ein Motor an, heftig auf Touren getrieben; dann, nur Sekunden später, rollte dort ein Wagen mit hastig rotierenden Rädern davon. »Vermutlich ist dein Chef getürmt«, sagte Emil und kehrte enttäuscht ins Vorzimmer zurück. »Daß der nicht gerade ein Held ist, war mir ja von vorneherein klar, aber warum er sich -115-
gleich die Hose vollmachen muß, leuchtet mir nicht ein. Immerhin kannst du mal sehen, wie ich hier respektiert werde. Also beim nächstenmal: Kein langes Palaver, auf die Tür und her mit dem Chef!« Und bereits an der Tür erklärte Emil: »Wenn sich dein Boß inzwischen noch einmal hier blicken lassen sollte, dann kannst du ihm erklären: Er braucht sich erst gar nicht in Unkosten stürzen, er entwischt mir doch nicht. Über kurz oder lang werde ich ihn vereinnahmen. Bestelle ihm das wörtlich - ich habe ›vereinnahmen‹ gesagt.«
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Mutter Golder trat ein wenig gebückt ins Freie. Die Tür fiel hinter ihr, als sei sie soeben ausgesperrt worden, ins Schloß. Das Haus am Burggraben mit den zigarrenkistengroßen Fenstern lag wie ausgestorben da. Mutter Golder warf, ehe sie weiterschritt, noch einen Blick darauf. Ihr war, als riesele dieses Haus unendlich langsam auseinander. In der Stille dieses lautlosen Zerfalls glaubte sie die Angst der Frau, die sie soeben untersucht hatte, schreien zu hören. »Es hat viel länger gedauert als sonst«, sagte Susanne; sie hatte auf ihre Mutter in der Gasse gewartet, geduldig wie immer. »Es ist auch schlimmer als gewöhnlich«, sagte Mutter Golder. Und sie atmete den Gassengeruch aus faulendem Kohl und feuchten Kohlen tief in sich ein, als sei es notwendig, ihn deutlich zu spüren, damit sie ihn so leicht nicht wieder vergesse. »Ich verstehe nicht«, sagte Susanne und nahm ihrer Mutter mit zärtlichem Nachdruck die Tasche ab, »daß es Leute gibt, die in diesen Löchern wohnen können.« »Sie müssen hier wohnen.« Mutter Golder schritt vorwärts, wie immer mit besorgt gesenktem Kopf, ohne dabei auch nur im geringsten gebeugt oder gar krumm zu erscheinen; vielmehr war es, als denke sie angestrengt nach. »Wenn ich so etwas sehe«, sagte Mutter Golder mit ernsthafter Bescheidenheit, »dann weiß ich erst, daß es uns noch lange nicht schlecht geht.« »Niemand behauptet das, Mutter.« »Aber ich weiß, Kind, daß ihr manchmal derartigen Gedanken nachgeht - ohne Vorwurf, gewiß, aber auch nicht ohne Bedauern. Wir sind nun einmal eine Menge Menschen; wir haben aber lediglich drei Räume zur Verfügung. Und nur jeden Sonntag gibt es Braten. Die Jüngeren tragen die Anzüge der Älteren auf, und ihr Mädel müßt eure Fähnchen selbst schneidern und euch mit billigsten Stoffen begnügen. Niemand kann eine Schule besuchen oder eine Ausbildung bekommen, -117-
die Geld kostet. Wer heiraten will, kann nichts in die Ehe einbringen.« »Sprich nicht so«, sagte Susanne mit milder Eindringlichkeit; und sie griff nach dem Arm der Mutter, als wolle sie sich anschmiegen. »Niemand von uns beklagt sich.« »Ich wollte«, sagte Mutter Golder, befriedigt über Susannes Auskünfte, »ich könnte meine ganze Familie an dem Bett der kranken, angstgequälten Frau versammeln - damit einige, denen es not tut, endlich erkennen, daß ihr Leben gar nicht so trostlos ist, wie sie manchmal meinen.« »Schau mich an«, sagte Susanne, »ich mache meine Sache doch gar nicht schlecht. Ich habe schon mit vierzehn Jahren gekocht, und heute versorge ich in deiner Vertretung fast den ganzen Haushalt allein. Das ist gewiß nicht einfach. Aber ich habe noch nie daran gedacht, mich zu beklagen. Und wenn es mir auch nicht gerade glänzend geht, so geht es mir doch gut ich lebe gerne und bin zufrieden.« »Du bist ein komisches Kind«, sagte Mutter Golder gerührt. »Du bist genauso, wie ich damals mit achtzehn war - zu jeder Torheit bereit und zu keiner Dummheit fähig. Du wirst vermutlich genau wie ich ein schweres Leben haben, aber auch dir wird es Freude machen.« »Besonders eine Eigenschaft«, sagte Susanne schmeichlerisch, »habe ich von dir - auch ich trinke gerne eine gute Tasse Kaffee. Darf ich dich dazu einladen?« Sie hatten sich dem Marktplatz genähert, der großzügig angelegt und quadratisch war, hartgepflastert und fantasielos kahl; kantige, brave und aufreizend glattflächig erbaute Häuser umstanden ihn. Hier lag auch, zwischen Apotheke und Rathaus, das Cafe Stein. In ihm standen wagenradgroße Marmortische, die gelblichgrau geworden waren von den verschütteten Getränken, angekratzt und abgewetzt. Der Kaffee jedoch, der hier ausgeschenkt wurde, verriet durch seinen Duft und seine -118-
dunkelbraune Zähflüssigkeit die Solidität des Unternehmens. »Eine Tasse Kaffee«, sagte Mutter Golder, leicht widerstrebend, »kann natürlich nichts schaden. Aber wir können uns das leider nicht leisten.« »Ich bezahle«, sagte Susanne großzügig und drängend zugleich. Sie spähte durch die große Glasscheibe hindurch, um erkennen zu können, wer sich dort alles in dem zur Zeit spärlich besuchten Cafe Stein eingefunden hatte. Sie betraten das Cafe. Der junge Herr Stein, der jetzige Inhaber, eilte persönlich herbei. Er wedelte eifrig die Marmorplatte des für bevorzugte Gaste reservierten Fenstertisches ab, entfernte das Schild ›Belegt‹ und rückte die Stühle zurecht. »Ist mir eine Ehre, Frau Golder«, versicherte er. »Warum?« fragte Mutter Golder gemütlich zurück. »Sie erwarten doch nicht etwa ein Kind? Soweit ich informiert bin, sind Sie doch noch gar nicht verheiratet?« »Das eine schließt ja wohl das andere nicht aus«, witzelte der junge Stein mit geschäftlicher Beflissenheit. »Aber ganz ohne Scherz: Natürlich erwarte ich kein Kind, leider.« Und dabei warf er einen bedeutungsvollen Seitenblick auf Susanne. »Leider bin ich noch immer unbeweibt.« »Dann geben Sie sich Mühe«, empfahl ihm Mutter Golder, »ehe hier in der Gegend alle tüchtigen Mädchen ausverkauft sind. Aber vorher können Sie uns Kaffee bringen- zwei Tassen.« Der junge, birnengesichtige Stein, mit wundersam angeöltem Blondhaar, produzierte sein gelungenstes Kundendienstlächeln und entschwand. Mutter Golder sah sich ungeniert um; und wo sie hinsah, bemerkte sie Bekannte, die sie mit Respekt grüßten. Nicht wenige von ihnen hatte sie in diese Welt hereingeholt und dann im Laufe der Jahre heranwachsen sehen. Nicht viel mehr fehlte, und sie würden wohl bald selbst Väter oder Mütter werden. Es tat ihr gut, zu spüren, wie sehr sie geachtet wurde. Ein Jüngling gar, der an einem Ecktisch saß, erhob sich ein -119-
wenig und verbeugte sich dann tief. Diesen Vorgang allerdings registrierte Mutter Golder nicht ganz ohne Betroffenheit. Sie warf einen schnellen Blick auf Susanne und sah, daß sie lächelte. Als habe ihn dieses Lächeln ermuntert oder gar aufgefordert, erhob sich der Jüngling. Er trat aus dem Nischenhalbdunkel hervor und bewegte sich, nunmehr voll vom Tageslicht getroffen, auf den Fenstertisch zu. Mutter Golder schloß kurz die Augen, als wären ihr dort unversehens Sandkörner hineingeflogen. Sekundenlang war ihr, als sei die Zeit ausgelöscht, als habe sie nahezu dreißig Jahre überhaupt nicht gelebt, als sei alles wie damals, als sie noch blutjung war, voller Appetit auf das Leben, immer erwartungsfroh und ständig unentschlossen. Denn der Jüngling, der auf sie zuschritt, war Siegfried Siegert. Er verbeugte sich, betont artig und nicht wenig verlegen. Offenbar erst nach reiflichen Überlegungen hatte er den Entschluß gefaßt, sich hier in Positur zu stellen. »Guten Tag, Susanne«, sagte er. »Ich freue mich, dich zu sehen. Darf ich dich bitten, mich vorzustellen?« »Unnötig«, sagte Mutter Golder schroff. »Darf ich fragen, ob ich ungelegen komme?« wollte Siegfried wissen. Und er demonstrierte steife Jünglingswürde mit zähem Anstand, was die Ähnlichkeit mit seinem Vater noch frappierender machte. »Ich hoffe, daß ich nicht störe.« »Bestimmt nicht«, versicherte Susanne mit Eifer. »Nimm doch Platz bei uns, wenn du noch ein wenig Zeit haben solltest. Nicht wahr, Mutter - du hast doch nichts dagegen?« Mutter Golder nickte, ohne den um Zustimmung heischenden Siegfried aus den Augen zu lassen. Der besetzte die Kante des gebrechlichen, verlegen knarrenden Stuhles. Es schien, als wolle er mit seinen nervös bewegten Händen nach den rechten Worten greifen. -120-
»Wenn ich erklärt habe, daß eine Vorstellung unnötig sei«, eröffnete Mutter Golder, »so sagte ich das deshalb, weil ich weiß, wer Sie sind. Sie haben große Ähnlichkeit mit Ihrem Vater.« »Eine Familienähnlichkeit, gewiß«, beeilte sich Siegfried zu antworten. »Er soll in seiner Jugend nicht wesentlich anders ausgesehen haben.« »Genauso«, stellte Mutter Golder fest. »Aber das wundert mich nicht. Neu dagegen ist mir die Tatsache, daß Sie Susanne so gut kennen. Ich dachte, Sie hätten sie nur gelegentlich einmal gesehen?« »Wir sind, das darf ich wohl sagen, recht gut miteinander befreundet«, erklärte Siegfried. »Und ich dachte immer, es wäre meine Tochter Margarete, die Sie interessiert.« »Das stimmt auch ganz genau«, erklärte Susanne eifrig. »Jawohl«, stimmte Siegfried zu. »Deshalb sind wir ja auch so gut befreundet.« Susanne schien hauchzart zu erröten. Siegfried wurde sich seiner wenig schmeichelhaften Fehlleistung sofort bewußt; er biß seine Zähne in die Oberlippe. Und diese Reaktion empfand Mutter Golder als derartig typisch für einen Siegert, daß sie ungewollt herzhaft lachen mußte. Der Kaffee kam. Der junge Herr Stein persönlich schleppte ihn an, wobei er seiner Verwunderung über das von Siegfried getroffene Sitzarrangement nicht verbergen konnte. »Es war schon immer mein Wunsch«, versicherte Siegfried, »Sie endlich einmal kennenzulernen, Frau Golder - nicht zuletzt, damit Sie mich kennenlernen.« »Ich kenne Ihren Vater«, sagte Mutter Golder, »das genügt vielleicht schon.« Siegfried neigte, Ergebenheit in sein Schicksal darstellend, -121-
sein jugendliches Haupt. »Ich darf nur hoffen«, sagte er artig, »Sie werden Ihre Abneigung meinem Vater gegenüber, auf welcher Voraussetzung auch immer sie beruhen mag, nicht auf mich übertragen.« »Von Abneigung, junger Mann«, sagte Mutter Golder robust, »kann überhaupt keine Rede sein. Im schlimmsten Fall handelt es sich um Mißverständnisse.« »Das sollte mich freuen«, versicherte Siegfried hoffnungsvoll. »Mißverständnisse lassen sich bereinigen.« »Mir müssen Sie das nicht sagen«, erklärte die Golder, und dabei lächelte sie mit kaum wahrnehmbarer Ironie. »Sagen Sie das lieber Ihrem Vater.« »Das werde ich auch zu gegebener Zeit tun«, versicherte Siegfried. »Und ich hoffe, Sie versagen mir inzwischen nicht die Erlaubnis, mit Ihren Töchtern zu verkehren.« »Wie soll ich das verstehen?« fragte die Golder mit mütterlicher Wachsamkeit und gewitzt durch ihre Erfahrungen als Hebamme. »Was verstehen Sie unter verkehren?« »Ich würde mich freuen«, sagte Siegfried, »wenn Sie mir erlauben, daß ich mich Ihrer Familie näher anschließe.« »Wie nahe?« »Ich bitte darum, Ihnen meine Aufwartung machen zu dürfen.« »Das«, sagte Mutter Golder mit entschlossen blitzenden Augen, »sollten Sie vielleicht wirklich einmal tun. Schaden kann das auf keinen Fall. Was meinst du, Susanne?« »Vielleicht ist es besser«, sagte die ausweichend, «wenn du in diesem Punkt Margarete um ihre Meinung fragst.« »Gewiß«, stimmte Siegfried zu. »Ich möchte nichts unternehmen, ohne der Zustimmung von Margarete sicher zu sein.« »Zu einem Besuch in meinem Hause«, sagte Mutter Golder -122-
abschließend und trank ihre Kaffeetasse leer, »brauchen Sie nichts anderes als meine Zustimmung - und die will ich Ihnen geben. Wir erwarten Sie also morgen abend, nach dem Essen, gegen acht Uhr.« Sie erhob sich, groß und breit, würdig und gewichtig. Dann bekundete sie ihr Verlangen, bezahlen zu wollen. Der junge Herr Stein, flott herbeigeeilt, wehrte ab; er bat darum, sie mögen sich, mit Ausnahme von Herrn Siegert, als seine Gäste betrachten. Das aber lehnte Mutter Golder rundweg ab. Herr Stein nannte hierauf einen minimalen Betrag. Den bezahlte sie und gewährte zusätzlich genau zehn Prozent Trinkgeld. Susanne, die ihren Geldbeutel zücken wollte, wurde bedeutet, daß sie sich als eingeladen zu betrachten habe. Mutter Golder verabschiedete sich von dem sich konventionell verbeugenden Siegert junior. Dann verließ sie, von Susanne gefolgt, das Cafe. »Ist er nicht wirklich nett?« fragte Susanne, kaum daß sie draußen waren. »Das muß sich erst noch herausstellen«, sagte Mutter Golder gelassen. »Immerhin wundert mich, wie sehr du um das Glück deiner Schwester besorgt bist. Wie dem auch sei - vergiß bitte nicht, die beim Kartoffelhändler eingesparten drei Mark wieder der Haushaltskasse hinzuzufügen.«
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Siegfried Siegert senior, als Mann des Geistes, zumindest des kaufmännischen Geistes, war allen groben Praktiken abhold. Er hatte sich den rüden Zudringlichkeiten dieses Emil, der die Stirn besaß, ihn bis zu seinem Büro flegelhaft zu verfolgen, mit Hilfe seines stets im Hinterhof wartenden Fahrzeuges entzogen. Mit nicht gerade ortsüblicher Geschwindigkeit jagte er seinen Wagen durch die Straßen, seinem Wohnhaus entgegen. Hier angekommen, begab er sich unverzüglich in sein Arbeitszimmer, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und klingelte seine Wirtschafterin herbei. »Ich habe mit Ihnen zu reden«, verkündete er kurz. Die Wirtschafterin stand mit willfährigen Augen und erwartungsvoll vorgestrecktem Kinn an der Tür. Sie harrte seiner Aufforderung, näher zu treten , die sie auch erhielt. Sie setzte sich, mit Gesten damenhaft sein wollender Geschraubtheit, auf einen Stuhl in seine Nähe, faltete die Hände geziert in ihrem Schoß und streifte ihn mit dem Blick eines treuergebenen Wachhundes. »Ich bin«, begann Siegert, durch das Fenster sehend, an dem sein Schreibtisch stand, »wie Sie ja wissen, ein Mann des Ausgleichs, der Tätigkeit und der Verantwortung.« Er übersah ihr zustimmendes Nicken und fuhr, nach einer schöpferischen Pause, in seinen Selbstbetrachtungen fort. »Und in Besonderheit hasse ich Tätlichkeiten jeder Art. Ich bin jetzt leider nicht mehr in der körperlichen Konstitution, eine Ohrfeige durch einen Faustschlag zu erwidern - ganz abgesehen davon, daß ich schon immer ein Mensch war, der den geistigen Waffen den Vorrang vor kleinhirniger Muskelkraft gegeben hat.« Die Wirtschafterin nickte abermals. Sie versicherte, da sein hausherrlicher Blick bedauerlicherweise abschweifte, zusätzlich noch mündlich, das ganz genau zu wissen. »Wenn ich also«, sagte Siegert, »von primitiven Bestien angegriffen werde, und zwar zäh, beharrlich und mit penetranten -124-
Methoden, die offenbar selbst vor geheiligten Institutionen keinen Halt machen, dann habe ich als geistiger Mensch nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, mich mit allen mir als gebildetem Menschen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.« Siegert löste seinen Blick vom Fenster. Er hatte, sich angeblich auf seine Ausführungen konzentrierend, in den Garten gesehen. Der war leer geblieben - betrüblich leer; trostlos fast, als solle ihm so seine Einsamkeit, entstanden durch brutale Eingriffe von außen, überzeugend demonstriert werden. Er atmete tief ein, bedrückend schwer, als bereite es ihm Qualen, Luft zu schöpfen. Dann befahl er sich Sachlichkeit, Entschlossenheit, Schonungslosigkeit. Er begann mit der gewollten Nüchternheit eines Staatsanwaltes, der zunächst nichts tut, als Schutt fortzuräumen, ehe er dann, nunmehr aber mit schatzgräberischer Emsigkeit, zum eigentlichen Kern der Dinge vorstößt. »Dieser Mensch dieser Gustav Golder ... ist er oft hier im Hause gewesen?« »Sehr oft. Manchmal in der Woche zwei- bis dreimal.« »Seit wann?« »Seit einem Jahr ungefähr. Er kam meistens am frühen Nachmittag und blieb dann bis gegen Abend.« »Wer hat ihn hierhergebracht?« »Herr Siegfried - soviel ich weiß. Aber er kam gelegentlich auch dann, wenn Herr Siegfried gar nicht zu Hause war. Er unterhielt sich dann immer mit der gnädigen Frau.« »Worüber?« »Das weiß ich nicht. Ich war niemals zugegen.« Siegert, maskenhaft starr, zögerte eine kurze Zeitspanne, ehe er, sich überwindend, zur nächsten Frage ansetzte: »Das heißt also - dieser Mensch und meine Frau waren oftmals allein?« Sie mimte sittsame Scheu und gab zu verstehen, daß es ihr -125-
schwerfalle, diese verfängliche Frage zu beantworten. Allein dieses Zögern glich einer peinlichen Enthüllung; eine andere Auslegung dafür fand er nicht. Angetrieben von ahnungsvollem Erschrecken fuhr er in seinem Verhör fort. »Wo hielten sie sich auf?« »Zumeist in der Halle, manchmal auch im Garten ...« »Und sonst nirgends?« »Ich kann das nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich war ja nicht selten während dieser Zeit unterwegs, um Besorgungen zu machen.« »Besorgungen - im Auftrag meiner Frau?« »Ja - manchmal schon. Einige dauerten zwei Stunden und noch länger. Was währenddessen geschah, kann ich natürlich nicht wissen.« »Das genügt mir«, verkündete Siegert mit dumpfem, ungenossenem Triumph. Und er stand auf und schritt, damit sie sein Gesicht nicht sehe, an das Fenster. »Tut mir leid«, sagte sie mit schöner Scheinheiligkeit und machte Anstalten, taktvoll zu seufzen. »Und mir tut leid«, rief Siegert, ohne sich umzuwenden, nahezu bebend vor Zorn und Enttäuschung, »daß Sie es nicht ein einziges Mal für notwendig befunden haben, mich auf diese Zustände in meinem Haus aufmerksam zu machen! Es wäre Ihre Pflicht gewesen - besonders dann, wenn Sie, wie Sie oft und gerne behaupten, mir treu ergeben sind. Das aber kann ich nun, nach Lage der Dinge, nicht mehr finden. Sie haben mich schwer enttäuscht. Gehen Sie!« Sie flatterte verstört hoch, einer Henne gleichend, die vom Nest gejagt wird. »Aber, Herr Siegert ...« »Verschwinden Sie!« rief der stark. Er begann in seinem geräumigen Arbeitszimmer auf und ab zu wandeln, nachdenklich und grübelnd, zweifelnd und wägend. -126-
Mit jedem Schritt fast fielen neue Gedanken in sein Gehirn: kleine und kleinliche, gute und große, niedere und erhabene. Und immer wieder fragte er sich: Warum das mir, ausgerechnet mir? Ich habe das doch nicht verdient! Ein kurzes, forderndes Klopfen ertönte; kurz, dröhnend, mit starken Knöcheln geschlagen. Siegert schrak auf und fiel dann in ein nur flüchtig anhaltendes Stadium der Verwunderung. Er war es nicht gewohnt, daß ein derartig aufdringlicher Lärm in seinem Haus vollführt wurde. Doch ehe er noch seiner Empörung gebührend Ausdruck zu geben vermochte, wurde die Tür aufgestoßen. Und Emil, der Seemann, betrat den Raum. »Da sind Sie ja endlich!« rief Emil dem bestürzten, um widerstandswillige Haltung bemühten Siegert entgegen. Und es war, als gedenke er ihn zu umarmen. »Ich habe Sie nicht hierhergebeten«, sagte Siegert mit erzwungener Schärfe. »Und ich fordere Sie auf, sofort mein Haus zu verlassen. Anderenfalls sehe ich mich gezwungen, Ihr Eindringen als Hausfriedensbruch zu betrachten und eine Anzeige zu erstatten.« »So sehen Sie aus!« rief Emil kampflustig. »Und das eine sage ich Ihnen gleich: Die einzige Anzeige, die hier überhaupt in Frage kommt, ist Ihre Todesanzeige. Aber da Sie ja nicht gerade dumm sind, werden Sie keinen gesteigerten Wert darauf legen.« »Was wollen Sie von mir?« verlangte Siegert zu wissen, erfüllt von Widerwillen. »Sie vor einer Dummheit bewahren - das will ich, und zwar aus purer Menschenliebe!« Emil witterte instinktiv seine Überlegenheit und genoß sie. »Wir Golders«, verkündete er dann »sind ein enorm friedliebendes Geschlecht - solange uns keiner mit Dreck bewirft oder uns einen Knüppel in die Speichen schiebt.« »Ich habe nichts mit Ihnen zu tun«, sagte Siegert, »ich kenne Sie ja kaum.« -127-
»Dann werden Sie mich eben kennenlernen!« »Wenn Ihre Frau Mutter«, sagte Siegert, um suggestive Sachlichkeit bemüht, »zu dem Schreiben meines Rechtsanwaltes Stellung beziehen will, so möge sie es selbst tun. Ich bin zu jeder Aussprache bereit, die zu einer Klärung führen kann. Aber auf Erpressungen reagiere ich grundsätzlich negativ.« »Ich weiß nicht genau, was eine Erpressung ist«, sagte Emil mit gemütlicher Grobheit. »Und ein Vormund meiner Mutter bin ich auch nicht. Daß Sie meine alte Dame mit einem Schreiben vom Rechtsanwalt angeödet haben, ist mir neu, paßt aber genau in das Bild, das ich mir von Ihnen gemacht habe.« »Es hat keinen Zweck, diese Unterhaltung fortzusetzen«, sagte Siegert ablehnend. »Wer unterhält sich denn mit Ihnen?« fragte Emil. »Ich will Ihnen nur mal was sagen, nämlich das: Wir lassen uns von Ihnen nicht ansauen! Wir erlauben es nicht, daß Sie unsere Mutter wie ein Dienstmädchen behandeln. Wir Golders sind nicht der letzte Dreck. Das merken Sie sich endlich!« »Ich tue nur, was ich für meine Pflicht halte. Ihre Drohungen vermögen mich in diesem Vorhaben nur zu bestärken. Ich habe nichts gegen Ihre Frau Mutter persönlich, aber ich wehre mich entschieden gegen jeden Versuch, meinen guten Namen und mein wohlerworbenes Ansehen in den Schmutz zu ziehen - ganz gleich, von welcher Seite aus derartige Versuche unternommen werden. »Mensch«, sagte Emil Golder leicht beeindruckt. »Ich kannte mal einen Konsul, der war so ähnlich wie Sie; wir haben ihm sein Monogramm mit Leuchtschrift auf den Hintern gemalt. Von wegen Pflicht, guter Name, wohlerworbenes Ansehen! Große Segel, aber kein Wind dahinter. Sie können uns Golders einfach nicht ausstehen; und aus wer weiß welchen Gründen auch immer das geschieht, anständig wird keiner von ihnen sein. Denn nur ein Schuft kommt auf die Idee, für seine schäbigen -128-
Rachegefühle den kleinen unschuldigen Gustav büßen zu lassen, indem man seine Stellung torpediert und irgend so einen Protektionslümmel vorschiebt. Sie haben den Friseur geschmiert - das ist doch klar.« Die Nennung des Namens Gustav traf Siegert tief; das allzudeutlich zu zeigen, fand er, wäre einem Eingeständnis wenn auch nur unwesentlicher Schwäche gleichgekommen. »Die Angelegenheit mit dem Friseur«, sagte er, »die Sie soeben erwähnen, ist mir neu. Ich habe nichts damit zu tun. Über diesen Gustav allerdings, den Sie, in Unkenntnis einiger schwerwiegender Tatsachen, klein und unschuldig nennen, ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.« Und eindringlicher rief er: »Mann - Sie wissen vermutlich gar nicht, wofür Sie sich hergeben!« »Alles, was ich weiß«, sagte Emil, weit weniger lautstark als vorher, »ist das: Unsere Mutter ist eine prachtvolle Frau! Und ich werde nicht dulden, daß jemand auch nur in Gedanken wagt, ihr ein Haar zu krümmen. Eher breche ich diesem Kerl das Genick. So - das wollte ich Ihnen nur einmal gesagt haben. Richten Sie sich danach! Und jetzt gehe ich - einen saufen, aber bestimmt nicht auf Ihr Wohl.«
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Die Familie Golder war gerade dabei, ihr Abendessen zu beenden. Es war das große, traditionelle Familienessen am Freitag, zu dem Mutter Golder persönlich Erbsen mit Rauchfleisch zuzubereiten pflegte, ein Essen, von dem die Golders allwöchentlich sechs Tage lang schwärmten. Sie saßen in der geräumigen Wohnküche an zwei Tischen; Vater präsidierte an dem einen, Mutter an dem anderen. Niemand sonst hatte einen festen Platz, außer Emil. Der wich in seinen kurzen Urlaubstagen Mutter beim Essen nicht von der Seite, ohne dadurch aber, was das Essen anbelangt, in Qualität und Menge, irgendwie bevorzugt zu werden. Alle anderen wurden von Mutter eingewiesen. Einen Platz in ihrer oder in Vaters Nähe zu bekommen galt als ein Vorzug; weit von den Eltern weggesetzt zu werden, kam einem Tadel gleich. »Ihr dürft jetzt rauchen«, verkündete Mutter Golder. Und sie meinte mit dem ›ihr‹ ausschließlich die männlichen Familienmitglieder; das war allgemein bekannt und wurde widerspruchslos hingenommen. Vater stopfte sein Pfeifchen und mehrere seiner Söhne, einschließlich Gustav, gaben ihm Feuer. Mutter ließ die altbekannten, immer wieder mit Eifer und durchaus glaubwürdig vorgebrachten Komplimente nachsichtig über sich ergehen. »Ich koche gar nicht so gut«, erklärte sie abwehrend, »ihr habt euch nur daran gewöhnt.« »Ich«, rief Emil in den zufriedenen Lärm hinein, »habe in Hongkong chinesisch gegessen und auf den Hawaii-Inseln in Blättern gebratene Spanferkel verzehrt; ich kenne Haifischflossen und Hummer, australische Steaks und indische Reisgerichte - aber das eine sage ich euch: Man muß erst wie ich die ganze Welt kennen, um zu wissen, wie gut es bei Muttern schmeckt!« Diese Erklärung fand allgemeine Zustimmung. Die wohlige Zufriedenheit, die sich unter den zahlreichen -130-
Familienmitgliedern mehr und mehr ausgebreitet hatte, von Löffel zu Löffel sozusagen, schien sich in guttemperierte Fröhlichkeit umwandeln zu wollen. Mutter aber bremste diese Bestrebungen, indem sie, vieldeutig, um Ruhe bat. »Wir erwarten noch einen Besuch«, verkündete sie. »Doch nicht etwa ein neues Familienmitglied?« Emil stieß Otto an, und beide lachten sich zu, während Paul, der Polizist, diese ebenso voreilige wie taktlose Bemerkung als unangebracht empfand. Mutter Golder zögerte ein wenig; nachsichtig gönnte sie ihrer Familie noch eine kleine Atempause. Dann sagte sie: »Der junge Siegfried Siegert will uns besuchen.« Das Staunen war allgemein, an beiden Tischen. Allein Vater Golder verriet nicht im mindesten, was er dachte; er rauchte mit ausgewogener Gleichmäßigkeit an seiner Pfeife weiter. »Das«, sagte Emil, spürbar im Namen von vielen sprechend, »ist doch wohl ein Scherz.« »Ich neige nicht zu solchen Scherzen, mein Sohn«, wies ihn Mutter Golder zurecht. »Das solltest du allmählich erkannt haben.« Otto, der Beherrscher des Elektrizitätswerkes, beugte sich vor. »Emil wundert sich natürlich, ich kann das verstehen. Ich wundere mich nämlich auch, nach all dem, was vorgefallen ist.« »Jawohl«, verkündete Emil, »in diesem Punkt sind wir älteren Brüder alle einer Meinung.« »Dann«, sagte Mutter Golder gelassen, »weicht eure Meinung von der meinen ab - aber meine ist hier maßgebend.« »Was sagst denn du dazu, Vater?« wollte Otto wissen. Der alte Golder stopfte seine Pfeife nach. »Hast du schon einmal erlebt«, fragte er, »daß Mutter und ich nicht einer Meinung waren?« »Aber ich habe ihn nicht eingeladen«, stellte Margarete -131-
entschieden fest. »Das versichere ich euch!« »Es fällt mir verdammt schwer«, sagte Emil dumpf, »ausgerechnet diesem Menschen die Hand zu drücken.« »Aber es zwingt dich doch niemand dazu«, erklärte Mutter Golder nachsichtig. »Es kann doch auch sein, daß du gar keine Zeit hast - wolltest du dich denn nicht heute abend mit einigen Bekannten im Gasthaus treffen?« »Wie konnte ich das nur vergessen«, sagte Emil erleichtert. »Du hast recht - ich muß ja noch diverse Vorbereitungen zu meinem Seemannsball treffen.« »Ich würde gerne noch hierbleiben«, wagte Emils Frau mit herziger Schüchternheit einzuwenden. »Du gehst nach Hause«, entschied Emil, »du mußt die Kinder betreuen.« Er erhob sich schwer. Und seine Frau beeilte sich, ein gleiches zu tun, wobei sie leicht verlegen ihrem mächtigen Ehemann zulächelte. Mutter Golder betrachtete dieses Paar nicht ohne Rührung; und an einem leichten Verschieben der Mundwinkel von Vater Golder erkannte sie, daß der sich mächtig amüsierte. »Auch ich«, sagte Otto, »habe noch einiges zu tun - ich muß im Elektrizitätswerk die Nachtschicht kontrollieren.« Paul, der Polizist, erhob sich ebenfalls, wobei er einen unmißverständlichen Blick auf seinen Bruder Emil warf. »Da heute nacht ruhestörender Lärm zu erwarten ist, wird es wohl gut sein, wenn ich mich auf dem Revier in Bereitschaft halte.« »Ich will zum Abendkursus«, sagte Gustav. »Und ich habe große Lust«, erklärte Margarete widerspenstig, »heute abend ins Kino zu gehen.« »Bravo, Mädchen«, rief Emil zustimmend. »Die Eintrittskarte bezahle natürlich ich - hier hast du zwei Mark; der Rest ist für Eis.« -132-
»Margarete bleibt hier«, entschied Mutter Golder, »zumindest so lange, bis das Geschirr abgewaschen ist. Ihr anderen könnt ruhig gehen.« Sie verabschiedeten sich fast alle, wobei ihnen Emil, drängend und gebieterisch, kräftig Hilfestellung gab. Am Ende blieben Vater und Mutter Golder zurück, dazu Margarete und Susanne, die sich bereits mit dem schmutzigen Geschirr beschäftigten. Noch einmal kehrte Emil zurück. Er baute sich in seiner ganzen Größe mitten in der Küche auf und sagte beschwörend: »Mutter ich bitte dich: Denke an unseren Namen und vergiß nicht, was dieser Kerl, der Alte, uns angetan hat. Ganz ehrlich, Mutter, als dein Sohn: daß du es dem Sprößling dieses Kerls erlaubst, sich in unserer Familie breitzumachen, das geht fast schon gegen meine Ehre.« »Etwa gegen deine Ehre als Geschichtenerzähler?« fragte Vater Golder gemütlich; kaum wahrnehmbar zwinkerte er mit seinem rechten Auge. »Du hast heute nachmittag die Barentssee mit der Beaufortsee verwechselt; zwar liegen beide im Polargebiet, aber die eine bei Rußland, die andere bei Alaska. Mach so etwas nicht zu oft, Emil es könnte auch noch anderen auffallen.« Emil war sichtlich getroffen und schnaufte kurz; er schwankte zwischen massivem Breitseitenangriff und Streichen der Segel. Schließlich zog er davon, und zwar in voller Fahrt. Er stieß in dem nur spärlich beleuchteten Hausflur mit dem jungen Siegert zusammen. Der brachte eine Entschuldigung hervor und machte Anstalten, Emil freundlich, sozusagen vorausschauend, familiär zu begrüßen, wozu es der eilige Emil aber gar nicht kommen ließ. Siegfried Siegert betrat, einen respektablen Blumenstrauß vorantragend, die Wohnküche der Golders. Hier sah er sich zunächst um, leicht verwirrt über die Fülle der leer -133-
herumstehenden Tische und Stühle. Dann steuerte er auf Mutter Golder zu. Er begrüßte sie, dankte für ihre Einladung, nochmals und von Herzen. Hierauf bat er sie um die Erlaubnis, ›ein paar Blumen‹ überreichen zu dürfen. »Das war nicht nötig«, sagte Mutter Golder. »Ich habe Blumen sehr gerne und besitze sogar einige; sie stehen in sechs Töpfen auf den Fensterbrettern in unserem Schlafzimmer. Außerdem haben wir einen kleinen Garten vor der Stadt gepachtet. Aber ich habe es nicht gerne, wenn Blumen abgeschnitten und in Vasen aufgestellt werden. Sie verwelken dann zu schnell - und da ich rechnen gelernt habe, kommt mir das vor wie Verschwendung.« »Beim nächsten Mal«, versicherte Siegfried lebhaft, »werde ich mir erlauben, Blumenzwiebeln mitzubringen.« Siegfried, von Mutter Golder dazu aufgefordert, begrüßte die Anwesenden: den still und aufmerksam dasitzenden Vater; dann Margarete, die sich herausfordernd unfreundlich benahm und nur flüchtig eine Hand an der Küchenschürze abgetrocknet hatte; schließlich begrüßte er noch Susanne, die ihm fest und ermunternd die Hand drückte, wobei sie ihn aber nur schnell und scheu und leicht errötend ansah. »Was willst du eigentlich hier?« fragte Margarete. »Willst du zusehen, wie ich Geschirr abwasche?« »Geniert dich das?« fragte Mutter Golder friedlich. »Das ist doch ein ganz normaler Vorgang in einem gewöhnlichen Haushalt - oder glaubst du, das sei ausschließlich eine Angelegenheit für Dienstmädchen?« »Wir sind für Besuch nicht eingerichtet«, sagte Margarete unwillig. »Also sollten wir auch keine Besucher empfangen.« »Du meinst also«, sagte Mutter Golder, völlig unverändert gelassen, »wenn wir keine Besuchszimmer haben, keine Fremdenzimmer, keine Garderobe, keine zusätzliche Toilette, weder Gartenterrasse noch Rauchsalon, dann können wir auch -134-
niemand einladen?« »Aber darauf kommt es doch gar nicht an!« sagte Siegfried tapfer. »Spielen Sie Schach?« fragte Vater Golder. Und diese bescheideninteressiert vorgebrachte Frage verwirrte den jungen Mann mehr als Margaretes ungestüme Tiraden. »Ja«, sagte er, »ein wenig.« »Dann wollen wir es doch einmal miteinander versuchen«, sagte Vater Golder mit kaum wahrnehmbarem Lächeln. Und Susanne, froh, eine peinliche Situation überwunden zu wissen, eilte willig in das Hinterzimmer, um das Brett und die Figuren zu suchen. Margarete trocknete jetzt beide Hände sorgfältig an der Küchenschürze ab. Sie näherte sich dem Tisch, an dem Siegfried saß, und sagte: »Ich habe dich zwar nicht eingeladen, uns zu besuchen, aber jetzt ist es mir schon recht, daß du da bist. Du siehst also, woher ich komme und wie ich hier lebe. Das wird dir hoffentlich zu denken geben.« »Er wird nicht gerade angenommen haben, daß du in einem Palast wohnst«, sagte Mutter Golder. »Bestimmt nicht«, versicherte Siegfried mit schöner Naivität. »Schließlich kann ja auch nicht jeder gleich Direktor sein.« »Du willst doch damit nicht etwa sagen«, verlangte Margarete angriffslustig zu wissen, »daß ich es als großes Glück betrachten muß, ausgerechnet mit dir befreundet zu sein?« »Dein junger Freund«, warf Mutter Golder ein, »wird vielleicht sogar schon eingesehen haben, daß es alles andere als sein Glück sein könnte, wenn er sich mit dir abgibt. Ich fürchte fast, sein Vater wird ihn enterben, wenn er davon erfährt.« »Und wenn schon!« rief Siegfried spontan, wofür er mit einem großen, vollmondhaften Lächeln von Mutter Golder belohnt wurde, das ihn erfreute und zuversichtlich stimmte. »Ich -135-
kann mir auch meinen Lebensunterhalt allein verdienen - ich bin nicht verwöhnt. Ich mag verwöhnte Menschen nicht, schon gar nicht Mädchen, die durch ein bequemes Leben so verdorben sind, daß sie nicht einmal Strümpfe stopfen können!« »Sie dürfen wählen«, sagte Vater Golder. Er hielt dem jungen Siegert seine beiden zusammengeballten Hände hin, in denen sich je eine schwarze und eine weiße Schachfigur befanden. Siegfried wählte sofort, durch Hinweis mit dem rechten Zeigefinger, die weiße Farbe und durfte anfangen. Sie bauten ihre Figuren auf, und dann begannen sie, tastend und doch zielstrebig, achtsam, doch ohne sich zu belauern - sie trugen kein Turnier aus, sie spielten ein Spiel. Mutter Golder blätterte indessen ihr Hebammen-Arbeitsbuch durch und verlangte ihren Abendkaffee. Susanne bereitete ihn vor; , und sie stellte, zwischen zwei nicht sonderlich wichtigen Schachzügen, die sie instinktsicher abgepaßt hatte, Siegfried die Frage, ob er auch eine Tasse Kaffee mittrinken wolle. Das bejahte er unbedenklich, kaum aufschauend, mit erfreulicher Selbstverständlichkeit. Geraume Zeit verging so; kaum ein Wort fiel. Mutter las, die Männer spielten, und die Mädchen betätigten sich im Haushalt. Es war schließlich, als habe sich überhaupt nichts Ungewöhnliches ereignet, als sei Siegfried schon immer dagewesen und habe seit Jahren mit Vater Golder Schach gespielt. Dann öffnete sich die Tür. Und Emil und Otto, die sich überraschend lärmlos genähert hatten, traten brüderlich vereint ein, getrieben von unstillbarer Neugier. Sie gaben vor, nicht stören zu wollen, schon gar nicht die Schachspieler. Sie ließen sich, nach höchst flüchtiger Begrüßung des Gastes, in einer Ecke nieder, wo sie, offenbar stark animiert, zu flüstern begannen. Dann verlangten sie Bier und erhielten es von Susanne, nachdem Mutter Golder ihre Zustimmung gegeben hatte. -136-
»Eigentlich«, flüsterte Emil, der dieses neuartige Idyll in Golders Wohnküche skeptisch betrachtet hatte, »scheint der junge Siegert ein ganz passables Kerlchen zu sein - viel Ähnlichkeit mit seinem Vater hat er nicht.« »Das täuscht«, flüsterte Otto zurück. »Der Bengel ist ausgekocht bis auf die Knochen - der ist ein echter Siegert. Denn was macht er? Schäkert er etwa mit den Mädchen, oder raspelt er gar mit Mutter Süßholz? Weit gefehlt. Der spielt mit dem Alten Schach!« »Du hast recht«, brummte Emil alarmiert. »Der hat genau erkannt, woher hier der Wind weht - und das innerhalb weniger Minuten. Der macht sich tatsächlich an den Alten ran: So ein ausgekochtes Bürschchen ist das. Du - der Bengel ist gefährlich! Dem müssen wir aber ganz scharf auf die Finger sehen.«
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Dr. Robert Bächler, der Schulfreund des jungen Siegert, hatte, wie er es nannte, einen ›Job‹ als Erster Assistent an einem großen Krankenhaus. Er war zum Wochenende in der kleinen Stadt eingetroffen, vorsichtig erwartungsvoll und unhemmbar tatenlustig. Er hatte ein Gastzimmer im Hause Siegert bezogen und Gefallen an der kostspieligen Einrichtung des Hauses und dem wertvollen Wohlwollen des Hausherrn gefunden. »Lieber Doktor Bächler«, sagte Siegert, als sie bei einem Mokka und einer Zigarre im Rauchzimmer saßen, »ich habe Sie hergebeten, um Ihre Bekanntschaft zu machen. Und das wiederum geschah, weil ich einen ganz realen Zweck damit zu verbinden gedachte.« »Auch wir Mediziner sind Geschäftsleute«, sagte der junge Bächler unbekümmert. »Das allgemeine Laiengerede von der Verpflichtung der Menschheit gegenüber hemmt naturgemäß gefühlsträchtige Kollegen, von denen es gar nicht einmal so wenige gibt.« Der alte Siegert lächelte verkniffenzustimmend. Die sich ihm mit begrüßenswerter Offenheit offerierende Berufsmoral des jungen Bächler hätte ihn vielleicht in jungen Jahren zu sehr schockiert, inzwischen aber hatte er seine Mitmenschen gründlich kennengelernt. Allein mit Güte und Nachsicht, so glaubte er erfahren zu haben, kam man keinen Schritt weiter. Der junge Doktor Bächler versuchte, seinem Schulfreund Siegfried zuzublinzeln, wovon dieser aber, in seinen Sessel tief hineingelümmelt, keinerlei Kenntnis zu nehmen schien. Siegfried wirkte abwesend, zumindest desinteressiert. »Um der sogenannten Menschheit helfen zu können«, führte Doktor Bächler aus, wobei sein unbekümmertes Gesicht einen leisen Zug pessimistischer Ironie erhielt, die sich von den Mundwinkeln aus unaufhaltsam auszubreiten schien, »um also seinen Beruf mit Überzeugung und Nachdruck ausfüllen zu können, bedarf es doch nicht nur der Fähigkeiten, sondern auch -138-
der Mittel. Instrumente, Medikamente und die persönliche Gesundheit des Arztes, sein Wohlbefinden und seine Zufriedenheit, sie sind doch erst die entscheidenden Voraussetzungen für seine Wirksamkeit. Seine Leistungen werden sich automatisch mit seinem Lebensstandard erhöhen.« »Was betrachten Sie als Existenzgrundlage?« wollte Siegert wissen. »Etwa tausend Mark monatlich.« »Ich habe über Sie als Arzt Erkundigungen einziehen lassen«, erklärte Siegert offen. »Das ist Ihr gutes Recht«, gestand ihm Bächler zu. »Sie gelten«, führte Siegert aus, wobei er tief und fast versonnen in seinem Sessel lehnte, ein friedfertiger Plauderer und wohlwollender Genießer, »als recht brauchbarer Arzt. Sie sollen einen soliden Ehrgeiz entwickeln. Außerdem haben Sie Erfahrungen als Geburtshelfer. Das letztere ist von besonderer Wichtigkeit.« Siegfried richtete sich in seinem Sessel ganz langsam auf und stemmte sich umständlich hoch. Er beugte sich sogar, als lege er Wert darauf, besser hören zu können, ein wenig vor. Dieser eigenartige Handel, der sich hier anbahnte, begann ihn zu interessieren. »Ihr Chefarzt«, fuhr Siegert fort, wobei er mit leichtverschleiertem Blick den jungen Doktor fixierte, »bringt Ihnen viel Wohlwollen entgegen - erstaunlich viel. Er ist bereit, Sie vorzeitig und ohne weitere Formalitäten aus Ihrem Vertrag zu entlassen. Warum eigentlich? Wissen Sie zuviel?« »Ich weiß einiges«, sagte Bächler gelassen. »Aber das hat praktisch nicht die geringste Bedeutung. Kunstfehler gibt es überall. Aber der eigentliche Grund, der zudem verdächtigen Wohlwollendes Chefs geführt haben wird, liegt auf einer ganz anderen Ebene - sein Neffe würde meine Stelle bekommen.« -139-
Siegert sah befriedigt aus. Diese Erklärung schien ihm glaubhaft. Er hielt, von reicher Erfahrung darüber aufgeklärt, derartige Bestrebungen keinesfalls für etwas, was biedere Gemüter oder zu kurz gekommene Bewerber mit »Vetternwirtschaft« zu bezeichnen liebten. »Jeder weitsichtige Mann«, sagte er, »wird bei nahezu gleichwertigen Qualitäten immer Freunden oder Verwandten den Vorzug geben - so wird er Vertrauen beweisen und Verläßlichkeit erwarten dürfen.« »Daß mich Siegfried bei Ihnen in Erinnerung gebracht hat«, sagte der junge Bächler, »liegt wohl auf der gleichen Linie. Natürlich verpflichtet mich das.« »Ich habe mit der ganzen Sache wenig zu tun«, glaubte Siegfried bemerken zu müssen. »Vater war es, der sich an dich erinnert hat, Robert. Ich habe lediglich auf seinen Wunsch zwischen ihm und dir vermittelt.« »Wärst du damit nicht einverstanden gewesen, hättest du das nicht getan«, sagte Doktor Bächler herzlich, und er nickte dem Schulfreunde dankbar zu. »Ich werde dir das nie vergessen.« »Sie merken vermutlich langsam, worauf ich eigentlich hinauswill«, sagte der alte Siegert. Er hatte diese erfreuliche Szene anhalten der Jugendfreundschaft mit großem Wohlwollen zur Kenntnis genommen. »Ich würde es begrüßen, wenn wir nicht nur gemeinsame Geschäftsinteressen besäßen, sondern darüber hinaus auch persönliche Bindungen. Die Voraussetzungen für eine wirksame Zusammenarbeit können dadurch nur erfreulicher werden.« »Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte Doktor Bächler. »Diese Stadt«, sagte Siegert mit der betonten Bescheidenheit, die wahrer Größe eigen ist, »die mir einiges verdankt und deren Wohl mir nicht gleichgültig sein kann, scheint mir nicht ausreichend ärztlich betreut zu sein. Der eine Arzt ist alt und arbeitet mit völlig überholten Methoden; der andere besitzt alle Qualitäten eines guten Tierarztes - mit Menschen versteht er -140-
nicht umzugehen. Also muß, meiner Meinung nach, ein dritter Arzt her. Der aber muß begabt sein, Ehrgeiz besitzen und arbeiten können. Und vor allem muß er ein guter Geburtshelfer sein warum gerade das, sage ich Ihnen später. Ich könnte mir nun durchaus vorstellen, daß Sie der richtige Mann dafür wären.« »Warum nicht«, sagte der junge Bächler, betont gleichmütig, obwohl ihn Wellen freudiger Erregung durchfluteten. »Eine eigene Praxis zu besitzen, ist der Wunsch jedes jungen Arztes. Aber er ist natürlich nicht leicht zu realisieren.« »Für Sie nicht - für mich schon«, sagte Siegert souverän. »Sind Sie unabhängig?« »Meine Eltern leben nicht mehr«, sagte Bächler. »Geschwister habe ich nicht. Meine Verwandten haben nie für mich gezählt. Ein Mädchen, das ich heiraten will oder der ich die Heirat versprochen hätte, existiert nicht. Niemand kann unabhängiger sein als ich.« »Gut«, sagte Siegert befriedigt. »Was Ihnen also nur noch fehlt, sind Geld und Beziehungen - die habe ich. Ihre Praxis wäre damit so gut wie gesichert.« »Und die Bedingungen?« fragte Doktor Bächler gewitzt. »Wir sind uns doch wohl, glaube ich, dahingehend einig, daß Menschenfreundlichkeit nur dann einen Sinn hat, wenn sie praktische Ergebnisse zeitigt?« »Hören Sie erst, was ich Ihnen anbiete«, sagte Siegert. Und er produzierte das zustimmende Lächeln des Einverständnisses, wie es Pferdehändler haben, wenn sie auf einen nahezu gleichwertigen Kenner der Materie geprallt sind. »Ich besitze einige Häuser in der Stadt, darunter ein besonders repräsentatives am Marktplatz; von dort werde ich eine Familie in einen Neubau umquartieren - die freiwerdenden Räume bekommen Sie für Ihre Praxis. Weiterhin stelle ich Ihnen ein unverzinsbares Darlehen in Höhe von zwanzigtausend Mark zur -141-
Verfügung. Nach meinen Erkundigungen müßte das vorerst für Instrumente und Einrichtungsgegenstände ausreichen.« »Ausgezeichnet«, sagte Doktor Bächler, dessen freudige Erregung sich immer noch nicht gelegt hatte. »Mein Rechtsanwalt, Marktschreiter mit Namen, ist ein vorzüglicher Kenner der örtlichen Verhältnisse und der maßgeblichen Behörden; er ist außerdem ein Schnorrer und ein Schmierer, aber ein brauchbarer Mann, wenn man seine Schwächen kennt. Er hat bereits vorsorglich alle Vorbereitungen in Angriff genommen, die Ihnen Ihre Praxis rechtlich sichern werden.« Bächler schwindelte leicht vor soviel Wohlwollen. Er begriff dabei langsam, daß der Preis, den er dafür zu zahlen haben würde, gar nicht niedrig sein könne. »Sie haben drei Tage Zeit«, sagte Siegert, »um Ihre Angelegenheiten im Krankenhaus abzuwickeln. Weitere drei Tage Zeit gebe ich Ihnen, um hier Ihre Praxis einzurichten. In einer Woche bereits können Sie in unserer Stadt praktizieren. Ihr Schild wird lauten: Dr. med. Bächler, praktischer Arzt und Geburtshelfer. Und Geburtshelfer! Darauf lege ich besonderen Wert. Das gehört zu meinen Bedingungen.« »Ich bin einverstanden«, sagte Bächler freudig erregt und entschlossen. »Ich wäre ja ein Narr, wenn ich mir diese Chance entgehen ließe! Ich bin bereit. Es wird im Anfang schwer sein. Es werden Wochen vergehen, ehe ich die Zulassung zur Krankenkasse bekomme. Die Menschen werden mißtrauisch sein, wie allem Neuen gegenüber. Aber ich werde mich schon durchboxen.« »Ich bin davon überzeugt«, sagte Siegert hoffnungsvoll, jedoch ohne den mindesten Anflug von Triumph. »Und nicht nur, um Ihnen den Übergang zu erleichtern, sondern auch, um Ihnen einen Beweis meines Vertrauens zu geben, biete ich Ihnen einen zunächst einjährigen Vertrag als Betriebsarzt meiner -142-
Papierfabrik an.« »Danke«, sagte Bächler. Seine ganze wohlerworbene pessimistische Grundhaltung war von zukunftsträchtigen Gedankensprüngen überrundet worden. Er bedachte nun auch gar nicht mehr, daß in seiner Welt jede Ware ihren Preis hatte und keine Wohltat bedingungslos gegeben wurde. »Dann sind wir uns also einig«, sagte Siegert. »Auf den Geburtshelfer«, sagte er nachdrücklich, »lege ich ganz besonderen Wert. Eine erst kürzlich gewonnene schmerzhafte Erfahrung zwingt mich dazu. Sie werden hier, lieber Herr Bächler, Kräfte am Werk finden, denen gegenüber Mißtrauen angebracht ist. Wenn Sie der gute Arzt sind, für den ich Sie halte, werden Sie alsbald merken, wo die gefährlichen Fehlerquellen liegen. Und dagegen werden Sie dann mit allen Mitteln Ihrer ärztlichen Autorität und notfalls mit allen zu Gebote stehenden juristischen Mitteln vorgehen.« »Aha«, sagte Doktor Bächler aufmerksam. »Ich werde mir erlauben, Sie zu gegebener Zeit noch eingehend darüber zu informieren. Ich bin überzeugt, daß Sie mich dann restlos verstehen werden.« Mit dieser nicht nur vorausschauenden, sondern auch höchst eindeutigen, wenn auch noch lange nicht informierenden Bemerkung betrachtete Siegert die Unterredung als beendet. Das erstaunte, abweisende, befremdlich unruhige Gesicht seines Sohnes beachtete er nicht. Er war seiner Sache sicher. Was Doktor Bächler anbetraf, konnte er es auch sein. »Ein bemerkenswerter Mann - dein alter Herr«, sagte Robert Bächler. Und seine kaum gedämpfte Begeisterung war derartig beherrschend, daß er keine Zeit fand, von der grüblerisch aufbegehrenden Haltung Siegfrieds auch nur flüchtig Notiz zu nehmen. »Mit dem werde ich mich prachtvoll verstehen.«
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Paul Golder, der Polizeibeamte, schaute aus dem Fenster des Reviers auf den Marktplatz hinaus. Er tat das gelassen, fast uninteressiert, als wollte er lediglich ein wenig frische Luft einatmen oder nach dem Stand der Sonne sehen. Aber sofort spielten die Kinder weniger wild, die Fahrzeuge fuhren vorsichtiger, der Straßenkehrer arbeitete sorgfältiger, und der Kolonialwarenhändler entfernte eigenhändig einen Fetzen Papier, der auf dem Bürgersteig vor seinem Laden lag. Paul bemerkte das alles, ohne auch nur im geringsten verwundert zu sein. Er schien derartige Reaktionen für selbstverständlich zu halten. »Herr Siegert will Sie sprechen«, sagte ein jüngerer Polizist ergeben und dienstbereit. Und er schaute, das Telefon in der Hand haltend, auf die Rückenpartie des hinauslehnenden Paul mit dem gleichen Respekt, als sehe er diesem ins Gesicht. »Hat er ausdrücklich meinen Namen genannt«, wollte Paul wissen. »Oder hat er lediglich den rangältesten Polizeibeamten verlangt?« »Er nannte Ihren Namen«, verkündete der jüngere Polizist mit Eifer. »Soll ich sagen, daß Sie ihn aufsuchen werden?« »Wenn Herr Siegert mich sprechen will«, ordnete Paul sanft an, »dann wird er gebeten, mich hier im Polizeirevier aufzusuchen. Ich habe Bereitschaftsdienst und bin daher leider nicht abkömmlich.« Der Polizist richtete Pauls Anordnung prompt, wortgetreu und mit der in diesem Revier üblichen Höflichkeit aus. Er übermittelte hierauf den Entschluß des Herrn Siegert, in einer knappen Viertelstunde auf dem Polizeirevier erscheinen zu wollen. Paul quittierte das soeben Gehörte mit einem lässigen Kopfnicken. »Ich bitte Sie nunmehr«, sagte Paul sodann, ohne seinen Platz am Fenster zu verlassen, »innerhalb der nächsten Stunde eine Zählung der in der Kreuzstraße parkenden Fahrzeuge -144-
vorzunehmen, getrennt nach Gattung, wobei dann noch rechte und linke Straßenseite besonders zu berücksichtigen sind. Ich gedenke bei zu häufigem Parken um die Erstellung eines Parkverbotsschildes zu ersuchen.« Der Polizist wiederholte diese Anordnung, einschließlich ihrer Begründung. Damit gab er deutlich zu erkennen, wie wichtig er alles nehme, was von Paul komme. Er schnallte um, salutierte und verschwand. Paul verließ seinen Platz am Fenster noch immer nicht. Er erwiderte die achtungsvollen Grüße einiger Bürger mit gemessener Liebenswürdigkeit, doch wortlos, lediglich durch ein Nicken des Kopfes, durch das Heben der linken Hand. Und fast war es, als begrüße ein kleiner König seine Untertanen, die an seinem Fenster vorüberwandeln und beglückt sind, wenn kein ungnädiger Blick auf sie fällt. Paul pflegte nur zu reden, wenn sich das als unumgänglich notwendig erwies, und auch dann tat er es nur leise, betont friedlich, wie es Wärter tun, die ihre Tiere nicht erschrecken wollen. Brüllen jedenfalls oder auch nur laut reden hatte ihn noch niemand gehört. Die unfaßbare Sanftmut, die von ihm ausging, die bedrückende Stille, die er zu bevorzugen liebte, dazu sein verschleierter, vieldeutiger Blick, das alles machte ihn in unerklärlicher, geradezu geheimnisvoller Weise bedrohlich. Seine Vergangenheit, die jedermann kannte, von der aber niemand zu reden wagte, schon gar nicht in seiner Gegenwart, war ganz dazu angetan, ihn noch unheimlicher erscheinen zu lassen. Denn Paul Golder war als junger Mensch wegen angeblichen Gewaltverbrechens zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden - völlig zu Unrecht, wie sich später herausgestellt hatte. Allerdings wurde an Pauls Unschuld nicht von allen geglaubt, obgleich sein nachträglicher Freispruch wohlbegründet gewesen war und sehr überzeugend geklungen hatte. So war es denn nicht zuletzt die Furcht vor Paul, die viele -145-
Bürger der kleinen Stadt dazu veranlaßte, das Gesetz und besonders die polizeilichen Verordnungen bedingungslos zu respektieren. Jedenfalls hatte sich Paul schon im Zuchthaus als besonders begabt für Ordnung und Aufrechterhaltung der Ordnung erwiesen. Der Zuchthausdirektor wurde sehr bald auf Paul aufmerksam; gemeinsam mit ihm arbeitete er allgemeine Verbesserungsmethoden aus, und zugleich wurden die Sicherheitsbestimmungen vereinfacht und größere Wirksamkeit durch nahezu geniale Kontrollmethoden erreicht. Diese im Zuchthauswesen Aufsehen erregenden Neuerungen führten dann später zur Beförderung und Gehaltserhöhung des Direktors. Der jedoch vergaß seinen ›lieben Paul‹, wie er ihn nannte, gegen jede Erwartung nicht. Als sich dann endlich Pauls Unschuld herausstellte, hatte er sich inzwischen so stark an das neue Milieu und die damit zusammenhängenden Aufgaben gewöhnt, daß er nicht leichten Herzens von dieser seiner erfolgreichsten Zeit Abschied zu nehmen vermochte. Der verehrte Direktor jedoch erkannte, was in Paul vorging, und machte ihm den Vorschlag, die Polizeilaufbahn zu ergreifen; er versprach, ihm alle Wege durch intensive Fürsprache zu ebnen. Paul empfand dieses Angebot als großzügig, und er zögerte nicht, es anzunehmen. Er wurde einer der vorzüglichsten Polizeibeamten, die jemals in diesem Bezirk ausgebildet wurden. Seine Lehrer waren stolz auf ihn und überzeugt, daß er einer großen Zukunft als Polizeibeamter entgegengehe. In kurzer Zeit, nach glänzend absolvierten Kursen, führte ihn seine Laufbahn an die Spitze des zwar kleinen, doch überaus selbständigen Reviers seiner Heimatstadt. Doch seine Vergangenheit, so sauber ausradiert sie auch zu sein schien, lastete immer noch auf Paul. Diese Bedrückung war keinesfalls sichtbar und selbst für Eingeweihte kaum spürbar, und doch war sie die entscheidende Kraft, die zu seiner schier übermenschlichen Ruhe geführt hatte, zu dem wissenden, -146-
abgeklärten Fischblick, vor dem nicht nur junge Mädchen schwach wurden. Er hatte viele menschliche Schwächen kennengelernt und Einblick in die Niederungen des Lebens genommen. Er kannte nur ein Ziel: seinen Mitbürgern seine Erfahrungen zu ersparen - mit Gewalt, wenn es nicht anders ging. Die Macht hierzu war ihm gegeben. Paul ging an das Telefon, rief das Elektrizitätswerk an und ließ sich mit seinem Bruder Otto verbinden. Der versicherte sofort, wie erwartet werden konnte, daß er keine Zeit habe; er wolle nicht riskieren, daß die Stümper im Werk die Sicherungen durchbrennen ließen. »Ich brauche diese Dilettanten nur drei Minuten allein zu lassen«, erklärte Otto, »und die ganze Stadt ist für drei Stunden ohne Strom.« »In welch hohem Grade du unentbehrlich bist«, sagte Paul nachsichtig, »ist mir hinreichend bekannt. Mich interessiert im Augenblick nur, ob Emil irgend etwas angestellt hat.« »Ich bin Emils Bruder, aber doch nicht sein Kindermädchen«, sagte Otto ablehnend. »Und selbst wenn ich etwas wüßte oder gar dabei gewesen wäre - was geht dich das an? Emil und ich, wir haben dich mehr als einmal eingeladen, mit uns zu feiern. Aber du scheinst ja auf einen guten Kontakt mit deinen älteren Brüdern keinen Wert zu legen.« »Ich traue Emil allerhand zu«, sagte Paul. »Und ich weiß auch, daß du meistens deine Finger mit im Spiel hast, wenn er irgend etwas anstellt. Daß einiges passiert ist, halte ich durchaus für möglich, zumindest bin ich immer darauf gefaßt. Ich erkundige mich danach vorbeugend, in eurem Interesse - denn Herr Siegert hat seinen Besuch auf der Polizeistation angemeldet und kann jeden Augenblick hiereintreffen.« »Du wirst den Kerl natürlich im hohen Bogen hinausfeuern!« verlangte Otto prompt. »Und wenn ich das sage, dann auch zugleich im Namen von Emil; wir erwarten von dir endlich einmal brüderliche Solidarität.« -147-
»Wenn ich im Dienst bin«, sagte Paul, »und ich bin immer im Dienst, dann darfst du nur das von mir erwarten, was meine Pflicht ist.« Paul war es, als vernehme er einen höchst ordinären Fluch. Dann war die Verbindung unterbrochen. Der Polizist lächelte nachsichtig und ein wenig betrübt. Seine Brüder machten ihm viel Kummer, doch es waren seine Brüder, wenn sie sich auch gerne wie Saufkumpane aufführten. Man mußte, nicht zuletzt Mutters wegen, Geduld mit ihnen haben. Draußen auf dem Marktplatz rollte ein schwerer Wagen heran und hielt unmittelbar vor dem Polizeirevier. Paul wußte, daß das Siegerts Mercedes war und daß sich damit ein höchst offizieller Besuch ankündigte, der Wert darauf legte, auch rein äußerlich schon seine Bedeutung zu demonstrieren. Paul atmete tief ein, als gedenke er einen längeren Tauchversuch zu unternehmen. Dann ging er zur Tür und öffnete sie weit. Er begrüßte seinen Besucher mit großer Höflichkeit, wenn auch nicht ohne Reserve. In dieser fast zeremoniellen Art pflegte der Polizist jedermann zu empfangen, ob es sich um einen Straßenarbeiter oder um einen Fabrikdirektor handelte immer unter der Voraussetzung, daß keiner von ihnen eine einwandfrei bewiesene kriminelle Handlung begangen hatte. Siegfried Siegert senior zeigte sich sehr angetan von Pauls Korrektheit. Die war zwar stadtbekannt, konnte aber in diesem besonderen Fall nicht unbedingt erwartet werden - begegnete doch ein Siegert einem Golder. Sie nahmen einander gegenüber, durch einen Tisch getrennt, Platz. »Was kann ich für Sie tun?« fragte Paul erwartungsvoll. »Darf ich zunächst eine allgemeine, vorläufig noch unverbindliche Frage an Sie richten?« erkundigte sich Siegert. Und als hierauf Paul, selbstverständlich, Zustimmung nickte, verlangte der Besucher, mitten in eines seiner Anliegen hineinspringend, zu wissen: »Wenn ich eine Anzeige wegen -148-
Hausfriedensbruchs zu erstatten hätte - würden Sie sie entgegennehmen?« »Warum sollte ich mich weigern?« fragte Paul ahnungsvoll. »Wenn der Tatbestand klar liegt, werde ich nicht zögern, diese Anzeige entgegenzunehmen und ihr nachzugehen.« »Das auch dann nicht, wenn es sich um Ihren Bruder Emil handelt?« »Natürlich auch dann nicht«, erklärte Paul, ohne zu zögern und ohne auch nur die mindeste Bewegung zu zeigen, ganz einig mit sich und seinem Pflichtgefühl. Er war durch Siegerts Vorstoß nicht überrascht, er hatte ihn erwartet. Und er lächelte sogar, als er Siegerts Reaktion spürte. »Ich bin bereit«, sagte er nur. »Ich will nicht unbedingt Gleiches mit Gleichem vergelten«, sagte Siegert vorsichtig. »Ich bin ein Gegner jeglicher Gewalt; gewalttätige Menschen sind mir zuwider. In der Tat ist Ihr Bruder Emil in mein Haus eingedrungen, um mich dort zu beschimpfen, hemmungslos und unbegründet. Ich habe ihm dann, der vorher bereits in mein Büro eingedrungen war, mein Haus verboten, ohne daß ihn das zu beeindrucken schien - ganz im Gegenteil: Er wurde noch ausfallender als zuvor.« »Damit«, sagte Paul kühl, »ist der Tatbestand eines Hausfriedensbruches gegeben. Ich werde also Ihre Angaben protokollieren.« »Ich lege keinen Wert auf eine Anzeige zu diesem Punkt«, erklärte Siegert, hochbefriedigt von der einzigartigen Reaktion des Polizisten. »Ich nahm mir lediglich die Freiheit, und ich hoffe, Sie werden mich verstehen, Ihre vielgerühmte und von mir jetzt nicht mehr angezweifelte Loyalität einer Probe zu unterziehen.« »Ich kann Sie nicht daran hindern, die Zuverlässigkeit der Polizei erproben zu wollen«, sagte Paul unbewegt. »Aber ich habe die Pflicht, Sie auf folgendes aufmerksam zu machen: Die -149-
behördliche Kenntnisnahme eines Hausfriedensbruches zieht keine automatische Verfolgung nach sich; es muß sich in jedem Fall um eine Anzeige des Betroffenen handeln. Das heißt also: Erstatten Sie diese Anzeige nicht, gilt auch, nachdem Sie mir den Tatbestand mitgeteilt haben, das Delikt offiziell als nicht geschehen.« »Ich nehme Abstand«, erklärte Siegert verbindlich. »Aber nun gestatten Sie mir bitte, ein persönliches Wort an Sie zu richten, nicht an den Beamten, sondern ausschließlich an den Menschen. Bitte, machen Sie Ihren Bruder, dessen urwüchsiges Benehmen mir keinesfalls konveniert, mit großem Ernst darauf aufmerksam, daß ich unter keinen Umständen gewillt bin, einen ähnlichen Auftritt noch einmal hinzunehmen. Ich würde mich dann gezwungen sehen, unnachsichtig eine Anzeige zu erstatten. Welche Folgen das haben müßte, werden Sie ihm am besten klarmachen können.« »Ich werde das meinem Bruder Emil wortwörtlich ausrichten«, sagte Paul. Und er sagte das in einem Ton, als gelte es lediglich, unverbindliche Grüße zu übermitteln. »Und was wünschen Sie weiterhin von mir?« Siegerts Respekt vor diesem ruhigen, unbeeindruckten Mann wuchs noch. Daß es derartige Beamte nahezu klassischer Prägung noch gab, bereitete ihm Genugtuung. Nichts wünschte er ehrlicher. Und langsam überkam ihn die Begierde, die er für Drang nach Erkenntnis hielt, zu erleben, wann wohl dieser Golder seine Fassung verlieren würde. »Fernerhin«, sagte Siegert, »habe ich noch eine Anzeige zu erstatten, die zwar ebenfalls in meinem Ermessen liegt, von der ich aber nicht Abstand zu nehmen gedenke.« Paul legte sich seinen Notizblock zurecht, griff nach einem Bleistift und nickte dann schreibbereit. »Um was für ein Delikt handelt es sich?« »Um Ehebruch«, sagte Siegert, schwer und entschlossen, nach -150-
kurzem, kaum wahrnehmbarem Zögern, das allerdings Paul nicht entgangen war. Er sah den Polizisten offen an. Und in seinen Augen lag jene Furchtlosigkeit, wie sie Männern eigen ist, die überzeugt sind, nun nicht mehr ausweichen zu können koste es, was es wolle. Die Entscheidung war gefallen. »Erlauben Sie mir vorher noch einen Hinweis«, sagte Paul, der den Blick von seinem Schreibblock nicht löste und die Hand mit dem Bleistift zurückzog. »Wir Beamte sind zum Schweigen verpflichtet. Auch kann ich Ihnen, darüber hinaus, versprechen, daß ich den Fall persönlich bearbeiten und das Protokoll selbst in die Maschine schreiben werde. Dennoch bleibt ein Durchschlag hier, wenn auch im Panzerschrank. Eventuelle Rückfragen, mein plötzlicher Ausfall oder irgendwelche andere Umstände könnten es möglich machen, daß auch andere Beamte mit diesem Fall in Berührung kommen. Damit wäre die Möglichkeit gegeben, daß sich gewisse Peinlichkeiten für Sie nicht vermeiden ließen. Sie haben aber die Möglichkeit, in der Nachbarstadt, wo sich der Sitz eines Amtsgerichtes befindet, die gleiche Anzeige zu erstatten.« »Ich bin nicht der Mann«, sagte Siegert hierauf, »der unvermeidlich gewordene Konsequenzen scheut. Die Erfahrung lehrt, daß ein sofortiges Bekanntwerden der Wahrheit, so fürchterlich sie auch erscheinen mag, besser ist als langsam durchsickernde, von Vermutungen und Gerede aufgebauschte Halb-Wahrheiten. Da ich sicher bin, daß nichts mehr zu verschweigen ist, darf ich auch nicht mehr ausweichen. Ich will daher eine genaue, amtliche Untersuchung mit einwandfreiem Ergebnis. Ich will absolute Klarheit. Nur halbe Wahrheiten können Menschen langsam ruinieren. Die ganze Wahrheit aber, allen zugänglich, schafft auch schließlich die Sauberkeit, in der allein man leben kann.« »Mag sein«, sagte Paul. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung. Gegen wen richtet sich die Anzeige?« »Gegen Gustav Golder«, erklärte Siegert mit starker Stimme. -151-
Paul sah hoch; sein verschleierter Blick verriet immer noch keine Regung. Aber er hatte die schmalen Lippen noch stärker zusammengepreßt als sonst. Und die Hand, die den Bleistift hielt, krümmte sich langsam, ohne aber eine Faust zu ballen. »Können Sie mir das nicht ersparen?« fragte er leise. Siegerts Kinn schob sich zentimeterweise vor. »Soll das heißen, daß Sie sich weigern, diese Anzeige entgegenzunehmen?« Sie sahen sich in die Augen. Jeder war bemüht, nicht zu zeigen, was er dachte. Eine wartende, würgende Stille breitete sich um sie aus. »Also«, sagte dann Paul, »eine Anzeige gegen Gustav Golder wegen Ehebruch.« »Die Zeugen«, sagte Siegert, ohne doch so überzeugend triumphieren zu können, wie er sich das vorgestellt hatte, »die Zeugen sind: meine Wirtschafterin und - die Hebamme Golder.« »Und die Hebamme Golder«, wiederholte Paul, ohne aufzusehen. Seine Hand zitterte nicht, als er den Namen seiner Mutter niederschrieb. Aber der sonst von ihm so sanft geführte Bleistift drückte sich tief in das Papier ein, als wolle er es verwunden.
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Die Hebamme Golder, die Tasche in der Rechten, ging gemächlich an den Anlagen vorbei, auf die enge Gasse zu, deren Häuser an der verfallenden Stadtmauer standen. Sie bemerkte Siegfried Siegert junior frühzeitig; der bewegte sich auf der anderen Seite der Straße parallel auf sie zu und schien es eilig zu haben. Und Mutter Golder fragte sich, nicht frei von Neugier, ob der junge Mann wohl, ohne Rücksicht auf neugierige Mitmenschen, sie grüßen werde. Siegfried grüßte von weitem. Er zog mit einer großen Bewegung seinen Hut und lächelte breit. Es hatte den Anschein, fand Mutter Golder angenehm überrascht, als ob der junge Mann sich ehrlich freute, sie zu sehen. Er überquerte, seine Schritte erheblich beschleunigend, die Straße und strebte auf sie zu. »Darf ich fragen, wie es Ihnen geht?« wollte er wissen, um dann sofort hinzuzusetzen: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« »Sie verwechseln mich doch nicht etwa mit meiner Tochter?« fragte Mutter Golder, leicht belustigt durch soviel unerwartet stürmischen Eifer. »Ich freue mich ehrlich, Sie zu sehen«, sagte Siegfried aufrichtig. »Lieber junger Freund«, sagte Mutter Golder, ihren Weg fortsetzend, »Sie denken vermutlich: Wer die Tochter haben will, der muß sich gut mit der Mutter stellen. Aber das gilt bei uns nicht; meine Kinder können tun, was sie mögen, und sich abgeben, mit wem sie wollen. Ich werde ihnen in ihre privatesten Dinge niemals hineinreden, denn das hat keinen Zweck - und außerdem bin ich sowieso von vornherein überzeugt, daß sie das Richtige tun werden.« »Darf Ich Ihnen Ihre Tasche abnehmen?« fragte Siegfried. Und er bemächtigte sich ihres stark strapazierten Lederbeutels, den sie seit einigen Jahrzehnten schon mit sich auf ihren -153-
Mütterbesuchen herumschleppte. »Sie scheinen viel Zeit zu haben«, stellte Mutter Golder amüsiert fest. »Für wichtige Dinge nehme ich mir Zeit!« »Und was die Leute dazu sagen werden, wenn Sie mich begleiten, das interessiert Sie gar nicht? Ich vermute, Sie wissen doch genau Bescheid, daß unser gemeinsamer Spaziergang bei unseren lieben Mitmenschen einigen Staub aufwirbeln wird? Und ich nehme weiter an, Sie wissen auch, warum das so ist.« »Das läßt mich völlig gleichgültig«, behauptete Siegfried unbekümmert. »Und wenn es nach mir geht, will ich diesen Leuten von Herzen gern noch ganz anderen Gesprächsstoff verschaffen.« »Sie scheinen mir auf dem besten Wege dazu zu sein«, sagte Mutter Golder. »Aber vergessen Sie nicht, wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte: Ich habe Sie gewarnt.« »Auch ich will Sie warnen«, verkündete Siegfried ein wenig geheimnisvoll. Mutter Golder war plötzlich nachdenklich geworden, und sie empfand das Bedürfnis, Zeit zu gewinnen, damit nichts Übereiltes geschehe. »Bevor Sie damit anfangen«, sagte sie, »können Sie mich begleiten. Ich will eine Frau aufsuchen, die demnächst ein Kind bekommen wird. Sie dürfen mitkommen und ein wenig Einblick in eine Welt nehmen, die Ihnen sicherlich nicht sehr bekannt sein wird.« »Aber das geht doch nicht gut«, wehrte Siegfried ab. »Doch«, sagte Mutter Golder, »das geht sogar sehr gut; lassen Sie mich das nur machen. Die Frau, die wir aufsuchen werden, heißt Sielenmeyer. Kommt Ihnen der Name nicht bekannt vor?« »Einer unserer Fabrikarbeiter heißt so, wenn ich nicht irre.« »Sie irren sich nicht, Siegfried - das ist der Mann, zu dem diese Frau gehört. Und soweit ich etwas davon verstehe, ist er -154-
ein ziemlich primitiver Mann; fast dumpf und bar jeglicher Intelligenz.« »Das stimmt genau«, sagte Siegfried erstaunt. »Sie sind der geborene Personalchef.« »Ein wenig Menschenkenntnis gehört zu meinem Beruf. Und daher weiß ich auch, daß es die Frauen dieser Sorte Männer ganz besonders schwer haben, sofern sie nicht ebenso dumpf und primitiv sind. Diese Frau aber hat das Leben, und nicht zuletzt das Leben mit diesem Mann, zu einem Nervenbündel gemacht. Was sie vor allen Dingen braucht, ist Zuspruch. Sie ist glücklich über jede Sekunde, in der sich Menschen mit ihr freundlich und hilfsbereit unterhalten. Wenn sie aber sogar der Juniorchef ihres Mannes aufsucht, wird sie außer sich ein vor Glück; möglich, daß das dann ein paar Tage vorhält.« »Soll ich ihr irgend etwas mitbringen - vielleicht Blumen?« »Nicht Blumen«, entschied Mutter Golder. »Denken Sie praktisch, Siegfried, wenn Sie einfachen Leuten eine Freude machen wollen. In diesem Falle wäre Obst angebracht.« Siegfried nickte mit Eifer. Er spürte das Wohlwollen, das Mutter Golder ihm entgegenbrachte. Und er fühlte sich geehrt, von ihr ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Geborgenheit und Güte gingen von dieser Frau neben ihm aus. Er eilte in ein Geschäft und kaufte Apfelsinen und Bananen, die er in zwei großen Tüten verpacken ließ. Unter dem einen Arm das Obst, in der anderen Hand die Hebammentasche, ging er neben Mutter Golder zufrieden einher. Sie betraten das futteralschmale, graudunkle Haus an der alten Stadtmauer. Mutter Golder schob mit kräftiger Bewegung die stark klemmende Haustüre auf, die sich nur spaltbreit öffnen ließ. Sie zwängte sich hinein und Siegfried folgte ihr. Ein fauliger Geruch aus abgestandenem Wasser, morschem Holz und verwesendem Gemäuer schlug ihnen entgegen. Von oben rief eine brüchige Stimme: »Wer ist da?« Und diese -155-
schwache Stimme schien von weither zu kommen; sie durchdrang die zaunartigen Bretterwände, die das Häuschen in Wohnkästen aufgeteilt hatten, nur mühsam. »Ist da jemand?« »Die Hebamme«, sagte Mutter Golder. Sie stieg vor Siegfried, der respektvoll Abstand hielt, die Stufen einer knarrenden, ausgetretenen Leitertreppe hoch; sie wagte kaum, die brüchige Geländerlatte zu berühren. Siegfried folgte mit gleicher Vorsicht. Im oberen Raum, einer einstmals grüngestrichenen Wohnhöhle mit schuhkartongroßen Fenstern, saß Frau Sielenmeyer, mit schmalen Schultern und mächtig vorgewölbtem Leib. Ihre Augen schienen übernatürlich groß; und die derben, knochigen Hände beschäftigten sich mit den Haaren, die sorgfältig gekämmt vom Mittelscheitel abwärts bis über die Schultern hingen. »Frau Sielenmeyer«, sagte Mutter Golder ermunternd, »besitzt die schönsten Haare, die ich jemals gesehen habe. In unseren Tagen gibt es so etwas Vollkommenes kaum noch irgendwo, denn die Frauen entwickeln immer mehr Ehrgeiz, den Pudeln ähnlich zu sehen. Weiß Ihr Mann eigentlich, Kindchen, wie prachtvoll Ihr Haar ist?« »Ich weiß das wirklich nicht«, gestand Frau Sielenmeyer zaghaft. »Dann wollen wir ihn doch bei Gelegenheit darüber aufklären«, sagte Mutter Golder herzhaft. »Und der junge Mann hier will Ihnen gerne guten Tag sagen - es ist Herr Siegert.« »Guten Tag«, sagte Siegfried; er war bestrebt, den bewußten Optimismus von Mutter Golder zu kopieren. »Und hier ein paar Kleinigkeiten - zur Pflege der Gesundheit.« »Danke«, sagte Frau Sielenmeyer; sie errötete ein wenig, was ihr bleiches Gesicht angenehm belebte. »Wie geht es euch beiden?« fragte die Golder mütterlich robust. Und sie legte, während sich Siegfried, so gut es ging, -156-
zurückzog, ihre flache Hand auf den Leib der Frau Sielenmeyer, die verlegen auf ihrem grobgezimmerten Stuhl hin und her zu rutschen begann. »Nur keine falsche Scham«, sagte Mutter Golder herzhaft. »Jeder Mensch hat einmal seiner Mutter so unter dem Herzen gelegen, wie Ihr Kind das jetzt tut. Das ist die natürlichste Sache von der Welt.« Siegfried hatte einige Mühe, seine jugendliche Abneigung gegen Entstellungen jeglicher Art zu überwinden; und bisher hatten für ihn auch diese unförmigen Ankündigungen neuen Lebens dazu gezählt. Aber Mutter Golder verstand es, diesem Vorgang jede Peinlichkeit zu nehmen. Bald wollte ihm scheinen, daß kaum etwas anderes existierte, das geeigneter schien, mit gütiger Anteilnahme betrachtet zu werden. Und es war ihm dann, als habe er sich den Quellen des Daseins genähert. Er fühlte sich um ein großes Erlebnis reicher. Er wünschte »Viel Glück« und verabschiedete sich mit dem Versprechen, demnächst einmal wiederzukommen, spätestens, wenn das Kind da wäre. »Wenn ich erst einmal in unserem Betrieb zu bestimmen habe«, behauptete Siegfried und atmete die frischere Luft in der Gasse tief ein, »dann werde ich für meine Arbeiter Häuser bauen, in denen sie gesünder leben können.« »Ihr Vater«, sagte Mutter Golder nachsichtig lächelnd, »hat das auch einmal gesagt; ebenfalls zu mir. Er war damals ungefähr genauso alt, wie Sie es jetzt sind, Siegfried.« »Sie wollen damit vermutlich sagen, Frau Golder, daß sich mein Vater inzwischen stark verändert hat - und das stimmt auch.« »Wir alle haben uns inzwischen verändert. Wir sind älter und ruhiger geworden; wir haben viele Träume begraben und uns nur ein Bruchteil an Hoffnung bewahrt. Aber gerade weil das -157-
alles so ist, leben wir sinnvoller. Einst wollten wir die Welt verändern; jetzt trachten wir nur noch, das Gute in ihr zu bewahren. Es fängt immer damit an, daß man für die Menschheit Häuser bauen will - am Ende ist man glücklich, wenn man ein eigenes Heim besitzt.« »Daß gerade Sie resignieren, verstehe ich nicht«, erklärte Siegfried, ein wenig mehr erstaunt als vorwurfsvoll. »Sie stehen doch mit beiden Beinen im Leben - gerade haben Sie das deutlich gezeigt.« »Ich resigniere auch gar nicht, Siegfried - ich habe nur im Laufe der Jahre meine Grenzen erkannt. Das nämlich macht bescheiden; und nicht zuletzt die Bescheidenheit ist die Voraussetzung für den wahren Lebensgenuß. Erst wenn man gelernt hat, mit sich selber fertigzuwerden - denn auf Hilfe von außen darf man nie warten -, beginnt man zu begreifen, was Glück ist. Und wenn dann noch ein zweiter Mensch existiert, der an diesem Glück Anteil nimmt, ist das Leben vollkommen.« »Gut - Sie erwarten also keine Hilfe von außen. Aber Sie rechnen doch wohl mit Störungen von außen. Sie müssen das tun! Es könnten sich sonst gefährliche Situationen ergeben.« »Sie machen sich zuviel Gedanken über ihren Vater«, sagte Mutter Golder mit wissendem Lächeln. »Kein Kind sollte das tun.« »Aber verstehen Sie denn nicht«, sagte Siegfried eindringlich, daß mich das alles nicht gleichgültig lassen kann!« »Das verstehe ich durchaus«, sagte Mutter Golder und lächelte noch stärker. »Denn im Grunde fürchten Sie weder um Ihren Vater noch für mich. Sie fürchten vermutlich allein, daß Ihre eigenen Kreise zu stark gestört werden könnten, weil sich zwischen Ihrem Vater und mir Mißverständnisse ergeben haben.« »Das nennen Sie Mißverständnisse!« rief Siegfried errregt. »Das geht doch viel weiter. Das greift immer mehr um sich. -158-
Eines Tages wird das nicht mehr gutzumachen sein.« »Ich kenne Ihren Vater ein wenig länger als Sie«, sagte Mutter Gelder ruhig. »Und ich habe ihn recht eingehend kennengelernt verzeihen Sie mir diese Offenheit, aber ich sage Ihnen ja damit nichts Neues. Und eben weil ich recht gut weiß, was Ihr Vater für ein Mann ist, bin und bleibe ich ruhig. Denn das steht fest: Er hat wohl sehr viel Stolz, aber keinen schlechten Charakter.« »Gut, gut - nennen Sie das Stolz! Aber verkennen Sie nicht, wie gefährlich das sein kann. Ich muß Sie warnen, gleichgültig zunächst, warum; ob aus Sympathie oder purem Eigennutz. Vater wird Ihnen Schwierigkeiten bereiten, ich weiß das. Die Gefühle, die er Ihnen entgegenbringt, grenzen an Haß. Was ist eigentlich passiert? Irgend etwas Ungeheuerliches muß sich ereignet haben - anders ist das alles nicht mehr zu erklären.« »Vielleicht geschieht es Ihretwegen? Der Gedanke, daß Sie eine meiner Töchter heiraten könnten, scheint Ihrem Vater unerträglich zu sein.« »Nein«, sagte Siegfried überzeugt, »das allein ist es nicht. Vater hätte, wie ich ihn kenne, offen mit mir darüber gesprochen und mir unnachsichtig seine Einwände klargemacht. Es muß noch mehr geschehen sein, es muß sich noch etwas wesentlich anderes ereignet haben. Wollen Sie nicht mit mir darüber sprechen?« »Und wenn es sich um eine Sache handelt, die nur Ihren Vater angeht, ihn allein und niemand anderen sonst?« »Dann sprechen Sie doch mit ihm darüber!« »Lieber junger Freund«, sagte Mutter Golder, gelassen weiterschreitend, scheinbar unberührt und so, als führe sie eine zwar ernsthafte, aber doch nicht sonderlich bedeutsame Unterhaltung. »Ich kann mir recht gut denken, was Sie erstreben: Sie würden es begrüßen, wenn ich zu Ihrem Vater ginge, um mit ihm zu reden!« -159-
»Ja«, sagte Siegfried mit lebhafter Zustimmung, »das wäre gut.« »Es wäre sinnlos«, sagte Mutter Golder ruhig. »Ihr Vater hat sich offenbar in eine Sache verrannt, aus der er sich nur selbst wieder befreien kann. Mit ihm darüber diskutieren zu wollen, könnte gleichbedeutend damit sein, ihn nur noch mehr herauszufordern.« »Versuchen Sie es doch wenigstens«, bat Siegfried. »Mir zuliebe - Ihrer Tochter zuliebe.« »Ich warne Sie«, sagte Mutter Golder gutmütig. »Versuchen Sie jetzt nicht, an meine sogenannte Güte zu appellieren, an meine Einsicht, meine Erfahrung - ich bin nämlich auch nur ein Mensch, mit vielen Fehlern und mühsam verborgenen Leidenschaften. Auch ich habe so etwas wie Stolz, sicherlich nicht ganz so viel wie Ihr Vater, aber immerhin eine ganz tüchtige Portion. Und was meine Tochter anbelangt, so weiß ich ja nicht einmal, ob die Sie liebt.« »Aber ich liebe Ihre Tochter!« sagte Siegfried. Und er sprach dieses Bekenntnis mit so viel feuriger Beharrlichkeit und angeblich völlig veralteter Innigkeit aus, daß sich Mutter Golders nachsichtiges Lächeln in freudigbewegte Zufriedenheit wandelte. »Also gut«, sagte sie, nicht ganz leichten Herzens, »ich werde versuchen, mich mit Ihrem Vater auszusprechen.« Und ahnungsvoll fügte sie hinzu: »Hoffentlich ist es nicht schon zu spät dazu.«
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Gustav Golder spürte das Unheil, das sich um ihn zusammenbraute, fast körperlich. Die Blicke, die ihm folgten, verletzten ihn; und das abwartende Schweigen seiner Mutter tat ihm ebenso weh wie die rauhherzigen Verdächtigungen von Emil oder Ottos hinterhältiger Spott. Mehr und mehr wuchs in Gustav das Bedürfnis, sich zu stellen, um endlich diesem Netz aus schweigenden Vorwürfen und stiller, verächtlicher Ablehnung entrinnen zu können. Aber immer wieder bemächtigte sich seiner die würgende Scheu, die, wie er glaubte, aus der Haltlosigkeit des Lebens kam, des Lebens im allgemeinen und damit auch seines eigenen. Denn das Leben schien ihm ebenso qualvoll wie kompliziert, undurchsichtig und voller Fußangeln und Fallen, die Menschen zu Tieren machten. Auf die Güte lauert der Haß und die Liebe findet den Hohn. Jäger überall! Und wer nicht Jäger sein konnte, der war umstelltes Wild. Gustav überlegte, ob er sich Vater anvertrauen sollte; doch der erschien ihm zu einfach und zu klar, um die brodelnde Unruhe in ihm verstehen zu können. Mutter war zu streng, Emil zu grob, Otto bar jeglicher Güte, Margarete hatte mit ihren eigenen Gedanken genug zu tun, und Susanne besaß ein viel zu harmloses Gemüt, um auch nur zu ahnen, was alles in einem Menschen an Verwirrendem, Bedrückendem, Vernichtendem vorgehen konnte. Die anderen Geschwister waren nicht wesentlich anders. Wohl am wenigsten in Frage kam Paul, der Überkorrekte, der sich der Welt der Paragraphen und der Gesetzlichkeit verschrieben hatte. Wenn ihn Emil grob verspottete, so nahm der doch immerhin noch Anteil. Aber Paul nahm kaum seine Gegenwart zur Kenntnis, warum sollte er sich jemals um sein Innenleben kümmern. Doch gerade Paul war es, der sich Gustav unverkennbar interessiert näherte. Er sah ihn zunächst betrübt an und forderte dann den jungen Bruder auf, mit ihm in den Keller zu kommen. -161-
Das war, fand Gustav, um so ungewöhnlicher und beunruhigender, als es zu einer Tageszeit stattfand, in der Paul gewöhnlich Revierdienst hatte. Mutter Golder sortierte gerade in der Küche Wäsche; sie hatte drei Körbe vor sich stehen, einen für Wollsachen, einen für Leinen, den dritten ausschließlich für Bettzeug. Sie brauchte ihre Arbeit nicht einen Augenblick lang zu unterbrechen, um zu registrieren, was um sie herum vorging. Sie unterzog die Unterwäsche ihrer jüngeren Tochter einer zwar flüchtig erscheinenden, doch eingehenden Prüfung und sagte dabei: »Du kannst dich auch hier mit Gustav unterhalten, Paul.« »Ich will dich nicht stören, Mutter«, erklärte der Sohn höflich. »Und ich muß Gustav unter vier Augen sprechen - in Vaters Kellerwerkstatt stört uns niemand.« »Ihr habt doch nicht etwa Geheimnisse miteinander?« fragte Mutter Golder, die mißtrauisch geworden war. »Im Augenblick habe ich gar keine Zeit«, sagte Gustav hastig, schlug seinen Skizzenblock zu und erhob sich. »Ich bin in der Stadt verabredet. Vielleicht ein anderes Mal.« »Ich habe mit dir zu reden«, sagte Paul mild. Doch seine sonst so sanften blauen Augen sahen den jüngeren Bruder durchdringend an, sie schimmerten kalt. »Du gehst in den Keller und wartest dort auf mich.« Gustav nickte, nach kurzem Zögern; er klemmte sich den Block unter den Arm und ging, den Kopf vorgebeugt, hinaus. Mutter Golder sah Gustav nach. Dann sah sie Paul an und fragte ruhig: »Irgend etwas Besonderes?« »Ich werde dich später eingehend unterrichten, Mutter.« »Später werde ich kaum Zeit haben - ich muß mich nämlich mit einem ganz besonderen Freund von mir in einer dringenden Angelegenheit unterhalten.« »Ich muß dich bitten, Mutter«, sagte Paul artig, »diese -162-
Unterredung zunächst zu verschieben. Ich habe einiges von Wichtigkeit mit dir zu besprechen, das keinerlei Aufschub duldet. Aber diese Besprechung kann erst dann stattfinden, wenn ich mit Gustav fertig geworden bin.« »Deine Feierlichkeit macht mir Spaß«, sagte Mutter Golder mit ernstem Gesicht. Sie sah sehr nachdenklich aus, als sie sich wieder über ihre Arbeit beugte. Paul stieg, ohne seine Mappe abzulegen, in den Keller hinunter. Er ging sicher durch den dunklen Gang auf die letzte Tür zu, hinter der sich Vaters Werkstatt befand. Er trat ein und schloß die Tür hinter sich sorgsam; fast schien es, als gedenke er sie zu verriegeln. Er trat auf seinen Bruder zu und sah ihn an. Gustav saß auf dem Drehstuhl beim Kellerfenster; angstvoll, aufgereckt und sprungbereit. Ober seinen dunklen Augen lag ein fiebriger Glanz; das schwarzseidene Haar fiel ihm ein wenig in die Stirn. Es schien ihn Mühe zu kosten, dem großen Bruder voll in das Gesicht zu sehen; er versuchte es dennoch tapfer. »So einen Menschen wie dich«, sagte Paul nach längerem, quälenden Schweigen, »habe ich schon irgendwo einmal gesehen - auf einem Bild, glaube ich, das irgendeinen jungen Adligen mit seinem Hund darstellte. Der Maler war ein Engländer, wenn ich nicht irre; und die Grundfarbe dieses Bildes war leuchtendes Blau. Es war ein überaus schönes und ein unendlich widerliches Bild; ein Mann, der einem Weibe glich, in Seide gehüllt und mit Händen, die noch niemals gearbeitet hatten.« »Wenn du mir nichts anderes zu sagen hast, brauchen wir uns erst gar nicht zu unterhalten.« Paul legte die mitgebrachte Mappe behutsam auf Vaters Hobel-Bank. Er zog sich eine Kiste herbei und ließ sich dort nieder; und es hatte den Anschein, als habe er die Absicht, sich auf eine längere Unterhaltung vorzubereiten. »Es wird wohl nicht mehr viel fehlen«, sagte er, »und du wirst anfangen, uns zu -163-
hassen, so wie man Mitgefangene haßt; gleich welches Maß an Schuld sie auf sich geladen haben mögen. Sie können sogar völlig schuldlos sein, sie werden eines Tages dennoch gehaßt; die Enge, in die sie hineingezwängt wurden, schafft bei nicht wenigen nahezu automatisch derartige Zustände.« »Ich will nichts von dir«, sagte Gustav, der nur noch bestrebt war, sich seines Bruders zu erwehren. »Ich habe dir nichts getan, ich verlange und erwarte nichts von dir - von dir nicht und von niemandem! Laß mich also in Ruhe.« »Wir«, sagte Paul beeindruckt und aufregend nachsichtig, »wir alle sind in deinen Augen primitive, einfältige Menschen. Vater ist ein simpler Handwerker, Mutter von gluckenhafter Betriebsamkeit, Emil ein hirnloses Großmaul, Otto ein starrköpfiger Intrigant, Margarete eitel und triebhaft, Susanne schafdumm, und die anderen sind Herdenvieh.« »Und was bist du?« fragte Gustav. Er vermochte sich kaum noch zu beherrschen, so tief verletzt fühlte er sich, so unbarmherzig nahe an eine Wahrheit herangetrieben, die er kaum jemals zu denken wagte, die aber in seinem Gehirn herumspukte, und das seit geraumer Zeit schon, heimlich und heftig und anhaltend. »Ich«, sagte Paul, wobei er still und duldsam vor sich hinlächelte, »bin vermutlich in deinen Augen ein Tagedieb mit Gerechtigkeitskomplexen. Letzten Endes wohl nichts anderes als ein zweckentfremdeter Raubmörder.« Gustav wich, ohne es gewahr zu werden, zurück. Er starrte Paul an, als sehe er ihn jetzt zum erstenmal, als habe er noch niemals einen Menschen gesehen, der mit diesem zu vergleichen gewesen wäre, mit dieser niederträchtigen, herausfordernden, teuflischtreffsicheren, auf Vernichtung abzielenden Sanftmut! »Du bist der Fürchterlichste von allen«, sagte Gustav wider seinen Willen. »Und du, Gustav, bist so ganz anders, nicht wahr? Du hast -164-
Seele und Gefühl, du verspürst in dir den Drang zum Wissen, dich beherrscht das Verlangen nach höheren Werten. Du bist ein künstlerischer Mensch, siehst auch so aus, wirst von deinen Altersgenossen verehrt, von den Weibern geliebt - du strebst immer weiter hinauf, willst dich mehr und mehr von der Stallwärme deiner Familie befreien, willst uns abschütteln, als wären wir Ungeziefer, gierst also nach einem Umgang, der dir gemäß ist. Und landest schließlich bei den Siegerts!« »Das geht niemand etwas an!« rief Gustav heftig. »Als ich in deinem Alter war«, sagte Paul, »wußte ich noch nicht genau, was man mit Frauen anstellen kann; aber ich war ja auch ein simpler Golder, kein Ausnahmemensch wie du. Und mir ist auch keine Frau Siegert begegnet.« »Diese Frau«, sagte Gustav mit jugendlichem Ungestüm, »ist über alle deine dreckigen Gedanken erhaben.« »Ich verstehe«, sagte Paul. »Was bei primitiven Menschen ein dreckiger Vorgang ist, das ist bei Übermenschen edelste Harmonie.« Gustav Golder schnellte, wie vorwärtsgestoßen, auf Paul zu; er versuchte ihn, getrieben von Empörung und Entsetzen, zur Seite zu drängen, um den Ausgang zu gewinnen. Doch Paul ergriff den Arm des Bruders, krallte sich darin fest, packte mit der zweiten Hand zu und zog so Gustav zu sich, bis dessen bleiches, verkrampftes Gesicht dicht vor ihm war. Paul stieß ihn zurück, gegen die Kellerwand, an der er wie leblos hinprallte und abzurutschen drohte. Aber ehe Gustav noch niedergleiten konnte, und es schien, als wolle er das tun, wobei er die Hände schützend aufwärtshob, ehe noch die Beine einknickten, schlug Paul zu. Er traf mit der flachen, gestrafften Hand in das zuckende Gesicht des Bruders - einmal, zweimal, dreimal. Über Gustavs Augen legte sich ein blaßroter Schleier, verschwand wie weggeweht, kam wieder, löste sich dann auf in -165-
nebelhafte Nässe. Und Gustav sah das Gesicht des Bruders deutlicher und größer werden; und er sah keinerlei Erregung darin, nicht einmal den Anflug eines Bedauerns, nur kühle, prüfende Gelassenheit. »Das«, sagte Paul ruhig, »war eine Warnung - nichts anderes und nicht mehr.« Gustav richtete sich, rückwärts Halt suchend, wieder auf; er ließ seinen Bruder, bebend vor Angst und Scham, nicht aus den Augen. Ihm war, als habe ein mörderisches Tier auf ihn eingeschlagen, tastend vorerst nur, spielerisch fast, ohne den Willen zur Vernichtung. Ihm graute vor diesem Menschen - vor diesem und vor allen anderen auch, die bereit waren, ihn zu demütigen, zu quälen, zu vernichten. »Direktor Siegert«, sagte Paul, »hat gegen dich eine Anzeige wegen Ehebruch erstattet. Darauf steht Gefängnis. Natürlich wirst du das leugnen. Natürlich wird auch Frau Siegert leugnen, jemals mit dir in nähere Beziehungen getreten zu sein. Aber das schafft die Anzeige nicht aus der Welt. Die Verdachtsmomente sind nicht einfach zu widerlegen. Es scheinen Zeugen zu existieren, von denen vermutet wird, daß sie belastende Aussagen zu machen haben.« »Aber das kann doch nicht möglich sein«, sagte Gustav tonlos; und er hob, als wolle er eine unbeholfene Bitte vortragen, die linke schlaffe Hand. »Kein Mensch wird sich finden, der mit etwas Derartigem zu tun haben will.« »Einer der von Siegert benannten Zeugen«, sagte Paul, »ist unsere Mutter.« Gustav schien nicht mehr fähig, sich auf den Beinen zu halten. Er tastete sich nach Vaters Arbeitsschemel hin und ließ sich darauf fallen. Das Licht, das aus dem vergitterten Kellerfenster fiel, legte über sein dunkles Haar jenen seidigen Glanz, den alle Frauen, die ihn kannten, liebten. »Ich gebe dir eine Stunde Zeit«, sagte Paul, »um gründlich -166-
nachzudenken. Ich werde dir nicht helfen, aus dieser Sache herauszukommen; denn wenn dir das nicht selber überzeugend gelingt, bist du vermutlich schuldig. Und ich werde dich ohne Erbarmen ins Gefängnis bringen, wenn durch deine Schuld unsere Mutter in eine Angelegenheit hineingezogen wird, die unserer Familie Schande bringt.« Paul griff die Mappe auf, die immer noch auf Vaters Hobelbank lag; noch einmal sah er Gustav kalt und fordernd an. Dann ging er hinaus, schlug die Tür hinter sich zu und drehte von außen den Schlüssel zweimal im Schloß herum. Diesen Schlüssel zog er ab und steckte ihn in seine Tasche. Er stieg hinauf, mit ruhigen Schritten, als käme er gerade von der Toilette, die sich auch im Keller befand. Er betrat die Wohnküche, legte dort die Mappe ab und sagte zu den Anwesenden überaus höflich: »Bitte - laßt mich und Mutter allein.« Nach wenigen Minuten war die Küche protestlos geräumt; und Mutter Golder hatte sich, erwartungsvoll und auf vieles gefaßt, zurechtgesetzt. »Mutter«, sagte Paul, nachdem er neben ihr Platz genommen hatte, »ich weiß, daß ich bei dir keine großen Worte zu machen brauche und daß es nicht nötig ist, dich schonend auf irgend etwas vorzubereiten, auch dann nicht, wenn es sich um sehr unangenehme Dinge handelt. Du kennst das Leben und bist daher auch auf jede Schweinerei gefaßt. Was ich dir jetzt zeigen muß, geht zwar über das Gewöhnliche weit hinaus, aber umwerfen wird es dich auch nicht.« »Siegert«, sagte Mutter Golder; und die wohltuende Wärme, die sonst in ihrer Stimme lag, schien erloschen. »Ja«, sagte Paul einfach. »Und ich habe gewußt, daß es dich nicht überraschen würde. Hier«, und jetzt öffnete er seine Mappe mit eilig arbeitenden Händen, »sind zwei Schriftstücke, die ich dir - in amtlicher Eigenschaft, Mutter - vorlegen muß. Das ist die Anzeige des Siegert gegen Gustav Golder, wegen -167-
Ehebruch. Das andere ist die Vernehmung der Wirtschafterin des Siegert. Das dritte Schriftstück aber, das wir jetzt anfertigen müssen, wird deine Vernehmung sein.« Mutter Golder zog, ohne weiter zu zögern, die Schriftstücke zu sich. Sie beugte sich über sie. Ihr sonst so straffes, fröhlichgütiges Mondgesicht war von metallener Starre. Sie hatte die Hände an der Brust gefaltet und atmete schwer. Paul erhob sich und ging behutsam, ohne jedoch verhindern zu können, daß die Dielen knarrten, an das Fenster. Hier starrte er hinaus. »Glaubst du«, fragte Mutter Golder endlich, »daß Gustav ...« »Es ist nicht unmöglich«, sagte Paul; er drehte sich herum und kam auf seine Mutter zu. »Diese Frau ist fast zwanzig Jahre älter als er.« »Das schließt nichts aus«, sagte Paul. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Mutter Golder. »Ich glaube es nicht.« »Das ändert nichts daran«, erklärte Paul unbeirrt, »daß ich diese Sache verfolgen und sogar dich als Zeuge vernehmen muß.« »Was soll ich denn bezeugen?« »Das, was die Wirtschafterin bereits ausgesagt hat: Kurz vor der Geburt des Kindes soll die Frau Siegert den Namen Gustav genannt haben. Du warst dabei. Diese Wirtschafterin hat dann noch eine Menge anderer Dinge zu Protokoll gegeben: häufige Besuche Gustavs bei dieser Frau in Abwesenheit von Siegert Ausdehnung der Besuche auf mehrere Stunden - mehrfache Versuche, allein und ungestört zu bleiben - auffällige Harmonie und diverse Gunstbeweise. Kurz: so ziemlich alles, was auch in einschlägigen Romanen steht. Aber das geht dich praktisch nichts an. Was dich allein betrifft, ist diese Behauptung: Frau Siegert habe in den Wehen Gustavs Namen wiederholt gerufen.« -168-
»Das ist doch Unsinn!« rief Mutter Golder empört. »Dieser Kerl, dieser Siegert, scheint seinen Verstand verloren zu haben. Ich weigere mich einfach, auch nur ein Wort dazu zu sagen.« »Bitte nicht, Mutter«, sagte Paul begütigend. »Das kannst du nicht gut machen. Die Verweigerung einer Zeugenaussage ist eine üble Sache und kann außerordentlich unangenehme Folgen haben.« dir als meinem Sohn erwarte ich, daß du mir in dieser Sache bei-»Nicht doch, Mutter«, bat Paul mit bewundernswerter Ausdauer, »das hat gar keinen Zweck. Außerdem ist es gefährlich. Die Wirtschafterin des Siegert ist nämlich bereit, ihre Aussage zu beeiden.« »Nun höre mir mal gut zu, Paul«, sagte Mutter Golder. »Du bist ja schließlich nicht nur Polizist, du bist auch mein Sohn. Und von dir als meinem Sohn erwarte ich, daß du mir in dieser Sache beistehst. Du weißt doch am besten, wie man da herauskommen kann. Du wirst sicherlich einen gangbaren Weg finden, um diese Angelegenheit aus der Welt zu schaffen oder sie wenigstens auf Eis zu legen.« »Das muß jetzt seinen Gang gehen«, sagte Paul. »So leid mir das tut - ich kann nichts daran ändern.« »Das sieht ja beinahe so aus, als hätte ich dich als Polizisten geboren!« »In dieser Angelegenheit«, erklärte Paul unerschütterlich, »bin ich nur Polizist - und sonst nichts.«
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Siegfried Siegert senior telefonierte mit dem Bürgermeister. Nach einleitenden Höflichkeitsfloskeln begann er, vorsichtigtastend, sich über die Arbeit des Elektrizitätswerkes mit nicht gerade anerkennenden Worten auszulassen. Der Bürgermeister gestand, sich überfragt zu fühlen; er habe bisher immer geglaubt, versicherte er, das Elektrizitätswerk läge bei Herrn Otto Golder in den besten Händen. Wenn das allerdings nicht hundertprozentig der Fall sein sollte, und das könne Herr Siegert als Großabnehmer besser beurteilen als er, werde er sich baldmöglichst persönlich um diese Materie kümmern. Das, versicherte Siegert, halte er für angebracht. Und er erlaube es sich, den Rat zu erteilen, notwendige Eingriffe nicht allzu lange hinauszuzögern. Hierauf telefonierte Siegert mit dem ihm gutbekannten Leiter des Eisenbahnausbesserungswerkes. Er erkundigte sich, wiederum nach einigen allgemeinen Redensarten, nicht ohne gewisse Anteilnahme nach den Leistungen und der Arbeitsintensität des Maschinenmeisters Golder. Ihn, Siegert, interessiere in seiner Eigenschaft als Betriebsführer insbesondere das Problem Arbeiter und Familie. Er könne sich vorstellen, erklärte er behutsam weiter, daß zum Beispiel ein nicht einwandfrei geordnetes Familienleben nahezu automatisch zu gewissen Verminderungen der Arbeitsleistung führe; speziell darüber aufgeklärt zu werden, wäre ihm erwünscht. Der leitende Beamte des Eisenbahnwerkes bedauerte lebhaft, keinerlei diesbezügliche Auskünfte geben zu können; er versprach aber, das baldmöglichst - »stets gerne zu Ihren Diensten« nachzuholen. Nachdem Siegert also das Feuer unter dem großen Kessel ein wenig geschürt hatte, begann er sich wieder seinem prachtvoll eingespielten Betrieb zu widmen. Das ihn fast ausschließlich beherrschende private Projekt ließ er selbst dabei nicht aus den Augen. Und es konnte vorkommen, daß er, über einen kommerziellen Schriftsatz gebeugt, nichts anderes als den -170-
Namen Golder zu lesen glaubte. Er nahm eine der Mappen zur Hand, die rechts und links wohlgeschichtet auf seinem Schreibtisch lagen. Er schlug sie auf, klingelte seine Sekretärin herbei, damit eventuelle Beanstandungen sofort registriert wurden. Er überprüfte zunächst den Produktionsrapport der letzten Wochen, dann die Lagerlisten, schließlich die Küchenbücher seiner Betriebskantine. Die Durchsicht der letzten geschah mit besonders deutlich zur Schau getragener Anteilnahme. Er pflegte niemals eine Gelegenheit zu versäumen, seine Verbundenheit mit dem einfachen Arbeiter überzeugend zu demonstrieren. »Sind Sondervergütungen, Gratifikationen, Anerkennungsspenden fällig?« fragte er seine Sekretärin. Die legte ihm, mit hühnerhafter Hastigkeit, die entsprechende Liste auf den Schreibtisch; das dazugehörige Scheckheft, ausgefüllt und unterschriftsbreit, legte sie daneben. Siegert las: Hochzeitsgeschenk zwanzig Mark; für zehnjährige Dienste fünfzig Mark; für fünfjähriges unfallfreies Fahren fünfundzwanzig Mark; Geburtsbeihilfe dreißig Mark. Und hier stutzte Siegert. »Geburtsbeihilfe dreißig Mark«, sagte er gedehnt. »Ist das zuviel?« fragte die Sekretärin, sofort beunruhigt. »Es handelt sich um den Hilfsarbeiter Sielenmeyer - er ist bereits zwei Jahre bei uns und seit einigen Monaten als Heizer im Kesselhaus beschäftigt.« »Ist das Kind schon da?« fragte Siegert. »Das Kind soll in den nächsten Tagen kommen, Herr Direktor. Es war bisher üblich, die Geburtsbeihilfe im voraus oder doch nicht später als am Tage des Eintreffens auszuzahlen. Herr Direktor dürfen versichert sein ...« »Schon gut«, sagte Siegert abwehrend. Und er erhob sich und ging, alle Arbeit liegen lassend, zur Tür. »Versuchen Sie, -171-
Doktor Bächler zu erreichen«, ordnete er an. »Er wird in seinen neuen Praxisräumen am Markt zu finden sein.« Siegert schritt, ohne die eifrige Auftragsbestätigung seiner Sekretärin zu Ende zu hören, aus seinem Büro auf den Fabrikhof hinaus. Er ging, an den Lagerschuppen vorbei, auf das Kesselhaus zu. Hierbei achtete er darauf, daß ihn keiner der Arbeitenden grüßte - er hatte das, während der Arbeitzeit, streng untersagt und damit begründet, daß es ihm richtig erscheine, konzentrierte Tätigkeit nicht durch konventionelle Gepflogenheiten zu unterbrechen. Er hatte weiterhin verlautbaren lassen, daß er sich auch so mit seinen Arbeitern auf das herzlichste verbunden wisse, so daß er auf Äußerlichkeiten keinen Wert zu legen brauche. Im Kesselhaus angekommen, winkte er den Maschinenmeister zu sich und fragte ihn: »Wer von Ihren Leuten heißt Sielenmeyer?« Der biedere Alte mit dem stattlichen Schmerbauch, den Siegert schon seit Jahrzehnten kannte, wies auf einen mittelgroßen Mann, der mit nacktem Oberkörper im Schuppen Kohlen schaufelte. Siegert nickte; und der Maschinenmeister war entlassen. Hierauf schien Siegert die Heizkessel einer näheren Oberprüfung zu unterziehen, was sämtliche heimlich zuschauenden Arbeiter mit Respekt und nicht ohne Anerkennung vermerkten. Siegert öffnete die Feuerungsklappen, befingerte deren Scharniere, klopfte gegen die Druckanzeiger, verglich die Dampfkesseltemperaturen mit der aushängenden Tabelle. Dann begab er sich in den Kohlenschuppen, dessen Verbindungstür zum Kesselraum weit geöffnet war. »Na, Sielenmeyer«, erkundigte er sich gemessen freundlich, »wie geht es Ihnen denn? Zufrieden mit der Arbeit?« »Jawohl, Herr Direktor«, sagte Sielenmeyer; er richtete sich geschwind auf und war um ergebene Haltung bemüht. Daß ihn der allmächtige, unnahbare Chef mit vollem Namen genannt, -172-
ihn also erkannt und sich seiner erinnert hatte, erfreute ihn mächtig. »Und wie geht es Ihrer Frau, Sielenmeyer?« erkundigte sich Siegert weiter. »Ich höre, sie soll ein Kind bekommen?« »Jawohl, Herr Direktor«, sagte Sielenmeyer. Und er wußte nicht recht, unter den kühlprüfenden Blicken seines Chefs unsicher geworden, ob er nun väterlichen Stolz zu zeigen habe oder etwa gar menschliche Besorgnis. »Ihr setzt da so einfach Kinder in die Welt«, sagte Siegert und gab sich nachdenklich besorgt, »ohne die ausreichende finanzielle Grundlage zu besitzen. Wohlgemerkt, Sielenmeyer, ich habe gar nichts gegen Kinder, ganz im Gegenteil! Ich fühle mich nur verpflichtet, für meine Betriebsangehörigen mitzudenken, was allerdings sehr oft gleichbedeutend damit ist, daß ich für sie mitsorge. Sie brauchen sich also keinerlei Gedanken zu machen; ich werde Ihnen schon helfen. Vielleicht gebe ich Ihnen sogar eine Lohnaufbesserung, wenn Sie das verdienen.« »Jawohl, Herr Direktor«, sagte Sielenmeyer hoffnungsvoll. »Schon alles zur Geburt vorbereitet?« wollte Siegert nunmehr, das Kinn ein wenig vorstreckend, wissen. »Jawohl, Herr Direktor«, sagte Sielenmeyer. »Die Hebamme Golder wird kommen. Sie hat meine Frau schon untersucht. Noch ein paar Tage hat sie gesagt, dann ist es soweit.« »Das ist sehr schön«, sagte Siegert; und er zögerte nicht, zustimmend zu nicken. »Aber vielleicht ist das nicht ausreichend. Eine Geburt ist niemals unkompliziert, und wir Väter haben da auch unser Stück Verantwortung zu tragen. Man kann nie vorsichtig genug sein, und ein Unglück ist schnell geschehen. Sie sollten sich zunächst noch einen Arzt nehmen, Sielenmeyer. Das ist sicherer.« »Jawohl«, sagte der und schwankte zwischen gutem Willen und dem Wissen um seine kargen Mittel hilflos einher. »Das ist -173-
bestimmt sicherer, aber ich kann mir das nicht leisten, Herr Direktor.« »Mein lieber Sielenmeyer«, sagte Siegert und gab sich großzügig, »was das Finanzielle anbetrifft, so lassen Sie das getrost meine Sorge sein. Ich lege nämlich nicht nur Wert darauf, daß alles in meinem Bereich in Ordnung ist; ich bin auch daran interessiert, daß das Privatleben meiner Angestellten und Arbeiter in erfreulicher Harmonie verläuft. Ich werde die Sache für Sie in die Hand nehmen, Sielenmeyer.« »Danke, Herr Direktor«, sagte der, tief gerührt von soviel wohltuender Fürsorge. »Nichts zu danken«, sagte Siegert, bevor er ging. »Ich tue das gerne.« Sielenmeyer sah seinem Direktor, der zufrieden davonschritt, mit verblüffter Dankbarkeit nach. Und er sagte sich, daß seine Frau ihn gar nicht verdiene und nicht den geringsten Grund besitze, ihn stets nur vorwurfsvoll anzuglotzen; ausgerechnet ihn, der das Wohlwollen des Direktors besitze und vor einer Lohnerhöhung stehe. Das mußte, beschloß er, der Frau einmal klar und deutlich gemacht werden! Siegert aber kehrte wieder in sein Büro zurück. Hier wartete er auf Dr. Bächler, der nach Auskunft seiner Sekretärin bereits unterwegs war. Diese Wartezeit verkürzte sich Siegert durch ein Telefongespräch, das er diesmal mit Marktschreiter, dem gerissenen Winkeladvokaten, führte. Bei dem konnte er es sich leisten, ohne sonderliche Vorsichtsmaßregeln und indirekte Andeutungen zu operieren. Siegert erklärte dem bereitwillig lauschenden Marktschreiter ohne Umschweife, was er von ihm erwarte; nämlich das: Dieser Emil Golder besitze doch einige Anlagen zu Gewalttätigkeit, die nahezu kriminelle Delikte nicht nur als möglich erscheinen ließen, sondern sie vielleicht sogar bereits veranlaßt haben könnten. Eine diesbezügliche Anfrage bei Reedereien, -174-
Hafenpolizei und ähnlichen Institutionen könnte vielleicht zu nicht uninteressanten Ergebnissen führen. Marktschreiter fand das auch und verkündete, sofort ans Werk gehen zu wollen. Inzwischen war Dr. Bächler eingetroffen. Er wurde in das ›Allerheiligste‹ hineingebeten; so nannten die Angestellten Siegerts Zimmer, in dem er zu residieren pflegte. Siegert wußte um diese Bezeichnung und duldete sie stillschweigend. Er bat Dr. Bächler Platz zu nehmen, lächelte ihm ermunternd zu und offerierte ihm eine Zigarre; sie wurde dankend angenommen. »Die Sache läuft recht gut an«, erzählte Dr. Bächler unaufgefordert. »Meine Zugehfrau ist beim Einrichten der Praxis über ihren eigenen Bohnerbesen gestolpert und hat sich die Hüfte verrenkt. Somit habe ich bereits meinen ersten Patienten.« »Der zweite ist auch schon da«, verkündete Siegert. »Es handelt sich um die Frau eines meiner Arbeiter - Sielenmeyer ist sein Name. Sie bekommen die genaue Adresse in meinem Sekretariat. Verarzten Sie diese Frau.« »Hat sie ihr Mann behandlungsreif gemacht?« fragte Dr. Bächler unbekümmert. »Das kann man wohl sagen - sie kriegt ein Kind. Das ist in den nächsten Tagen zu erwarten.« »Die Hebamme hier soll aber recht brauchbar sein«, sagte Bächler leicht enttäuscht. »Das werden Sie ja bei dieser Gelegenheit feststellen können«, sagte Siegert gedehnt. Und er sprach jedes Wort mit zwingender Deutlichkeit aus, was seinen hellhörigen Besucher aufhorchen ließ. »Die Ansichten über die Qualitäten dieser Hebamme gehen sehr auseinander.« »Und was ist Ihre Ansicht, Herr Siegert?« fragte Dr. Bächler frei heraus. »Ich hoffe, es wird die gleiche sein, die auch Sie haben -175-
werden«, sagte Siegert eindringlich. Und er fühlte sich verstanden. »Das heißt also«, sagte Dr. Bächler völlig ungeniert, »Sie erwarten von mir, daß ich der alten Dame auf die Finger sehe, und zwar gründlich. Das können wir machen. Und wie weit, meinen Sie, soll ich da gehen?« »Es liegt mir völlig fern«, sagte Siegert vorsichtig, »in Ihre Bereiche einzugreifen oder Ihnen gar Vorschriften machen zu wollen. Sie werden selbst am besten wissen, wie weit Ihre Befugnisse reichen.« »Ziemlich weit«, sagte Bächler unternehmungslustig. »Sehen Sie, Herr Siegert, ich verstehe einiges von Geburtshilfe; in der Klinik war das meine Spezialität. Und ich weiß aus Erfahrung, daß es gar nicht schwer ist, eine Hebamme bei vorsintflutlichen Methoden zu erwischen. Das würde mir bei so ziemlich allen Hebammen gelingen, die sich schon lange Jahre betätigen. Die haben nämlich nichts zugelernt und wollen auch nichts zulernen. Sie waschen sich noch mit Kernseife, wenn sie vorschriftsmäßig ihre Hände zu sterilisieren gedenken. Sie verwenden Watte, die schimmelig geworden ist, und benutzen Fieberthermometer, die nicht mehr einwandfrei funktionieren. Wenn ich also so etwas bei einer Hebamme entdecke, und das dürfte nicht sonderlich schwerfallen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: entweder ich rede ihr das aus, oder ich mache eine Meldung.« »Was für eine Meldung, Doktor?« »Wenn so eine Anzeige gut begründet wird, kann sie zum Berufsverbot führen. Bei besonders kraß gelagerten Fällen von eindeutigem Versagen oder erwiesener Unfähigkeit ist es uns Ärzten sogar möglich,' die Tätigkeit einer Hebamme an Ort und Stelle zu unterbinden - sie kann also zum Teufel gejagt werden. Schwebt Ihnen so etwas Ähnliches vor?« Siegert war von soviel Unternehmungsgeist stark beeindruckt. Da hatte er nun gedacht, diesen Mann anfeuern zu müssen; jetzt -176-
aber schien es fast, als sei es notwendig, ihn ein wenig zu bremsen. Ein wenig nur, und das noch mit äußerster Behutsamkeit, damit Schwung und Feuer nicht etwa verlorengingen oder gar ins Gegenteil umzuschlagen drohten. »Es wäre mir sehr recht«, sagte er, »wenn Sie zunächst nur vorfühlten. Verfrühte Radikalmaßnahmen müssen unter allen Umständen vermieden werden. Allerdings darf auch keine wertvolle Zeit verlorengehen.« Dr. Bächler nickte verständnisvoll. »Ich werde also meine Fühler ausstrecken und dann darüber berichten. Seien Sie versichert: Ich werde mein Möglichstes tun.«
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Emil setzte sich, breit und massig, Gustav gegenüber; er strahlte in verdächtigem Umfang Wohlwollen aus. Er nickte seinem jüngeren Bruder zu, wie es Kumpane tun. Und dann legte er seinen klobigen Unterarm auf den Tisch und beugte sich darüber. »Na, Gustav«, sagte er gemütlich, »nun erzähl mir mal, was unser lieber Bruder Paul von dir gewollt hat?« Gustav antwortete nicht; und er merkte deutlich, daß Emil zu der Erkenntnis zu gelangen drohte, bei des jüngsten Bruders Verschwiegenheit handele es sich um verstocktes Schweigen. »Ein andermal«, sagte er schließlich ausweichend. »Gustav«, sagte Emil mit hartnäckigem Interesse und rückte noch näher heran, »ich bin dein ältester Bruder. Als solcher fühle ich mich natürlich für dich verantwortlich. Außerdem habe ich ein gewisses Recht darauf, zu wissen, was in der Familie vorgeht.« »Frage Paul danach - vielleicht sagt er es dir.« »Ich frage aber dich, Gustav. Also los - was wollte Paul von dir?« »Nun gut«, sagte Gustav ergeben und überzeugt davon, daß es vor der gefährlichen Hilfsbereitschaft seines Bruders kein Entfliehen gab. »Paul hat mich verhört; es liegt eine Anzeige gegen mich vor.« »Gegen dich?« fragte Emil, ehrlich überrascht, und zwar schien er gar nicht einmal unangenehm überrascht zu sein. »Das ist doch wohl kaum zu glauben!« »Ich soll Ehebruch begangen haben«, sagte Gustav. Und tapfer sah er dem ihm unvermeidlich erscheinenden Ausbruch von Emil entgegen. »Nanu«, sagte der Seemann verblüfft. »Seit wann ist denn so etwas strafbar?« »Jeder Ehemann«, sagte der inzwischen polizeilich umfassend aufgeklärte Gustav, »hat nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch das -178-
Recht, einen Ehebrecher zu verklagen. Darauf steht Gefängnis bis zu drei Jahren.« »Donnerwetter«, sagte Emil baß erstaunt. »Wenn das tatsächlich zutrifft, dann müßte ja die ganze Marine laufend eingesperrt werden. Und was mich persönlich anbelangt - ich glaube, ich käme aus dem Gefängnis überhaupt nicht mehr heraus. Das wäre ja glatt das Ende der christlichen Seefahrt!« Gustav glaubte seinen Augen und Ohren nicht trauen zu dürfen; er hatte ein tobendes Unwetter erwartet, ein wesentlich heftigeres noch als das von Paul. Emils Reaktionen waren überraschend; doch sie würden sich ändern, wenn er nähere Einzelheiten mitteilen mußte, in Besonderheit, wenn ein gewisser Name fiel ... »Komische Kerle gibt es auf der Welt«, sagte Emil. »Da schämt so ein Versager sich nicht und zeigt tatsächlich vor aller Öffentlichkeit den Mann an, der ihm Hörner aufgesetzt hat.« »Die Furcht vor der möglichen Schande«, sagte Gustav, indem er Pauls Argumente wiederholte, »ist nicht selten geringer als der Haß gegen den mutmaßlichen Verführer.« »Und wer hat dich angezeigt?« wollte Emil wissen. »Herr Siegert«, sagte Gustav ergeben. »Mensch!« sagte Emil zunächst nur; und er atmete schwer. Dann sagte er noch einmal: »Mensch!« Und unmittelbar danach rief er: »Das ist ein starkes Stück! Das muß ich sofort unserem Bruder Otto erzählen!« Er hob die Hand und schlug dem sich angstvoll zusammenduckenden Gustav auf die Schulter, zwar kräftig, aber unverkennbar herzhaft; mehrmals. Seine Augen leuchteten, als habe er soeben einen Riesenwal gesehen und sei überzeugt davon, daß er ihn auch erlegen werde. Er erhob sich und grinste den maßlos verwirrten Gustav freudestrahlend an. Er verließ das Haus und strebte mit beschleunigten Schritten dem Elektrizitätswerk zu, um hier seinen geliebten Bruder -179-
aufzusuchen. Er fand Otto Golder mißmutig vor der zentralen Schalttafel sitzend. Der Beherrscher des örtlichen Elektrizitätswerkes schien unguter Stimmung zu sein; selbst das strahlende Lachen seines mächtigen Bruders heiterte ihn nicht im mindesten auf. Er spielte nahezu nervös mit einem Hebel seiner großen Apparatur und versäumte es, Emil einen Platz anzubieten. »Alles großer Mist«, sagte Otto verärgert. »Da bekommt man es doch tatsächlich fertig, gegen mich zu stänkern. Und was das Schlimmste ist; man versucht sogar, mich in meiner Berufsehre zu treffen. Ich habe große Lust, diesem Kerl den Strom abzuschalten.« »Von wem sprichst du, Bruderherz?« fragte Emil ungetrübt in guter Laune. »Von Siegert - von wem denn sonst!« »Wie sich das trifft«, rief Emil mit polterndem Entzücken. »Aber während du hier tatenlos herummaulst, während ich wenigstens doch dem Kerl handgreiflich auf den Pelz gerückt bin, währenddessen hat unser kleiner Bruder Gustav uns alle beide stillschweigend übertrumpft und ganze Arbeit geleistet.« »Ach nein«, sagte Otto mißmutig, »hat er etwa den Siegert gemalt?« »Er hat der Frau Siegert ein Kind gemacht!« rief Emil triumphierend. »So einer ist das!« Nun war auch Otto baß erstaunt; er schluckte ein paarmal, als habe er einen besonders dicken Brocken in sich hineinzuwürgen. »Hat Gustav dir das gesagt?« »Natürlich nicht; zumindest nicht direkt. Und schließlich kann ich ja über so etwas mit dem Kleinen nicht gut ausführlich sprechen der ist ja noch viel zu jung für derartige Männergespräche.« »Vermutest du nur irgend etwas, Emil - oder hast du -180-
Beweise?« »Siegert hat Gustav angezeigt, wegen Ehebruch! So etwas gibt es nämlich tatsächlich, mußt du wissen; darauf steht sogar Gefängnis Und unser lieber Bruder Paul hat die ganze Sache übernommen, zu treuen Polizistenhänden.« Otto kratzte, ein Zeichen, daß er angestrengt nachdachte, mit den Fingerspitzen der Rechten auf der Kopfhaut herum. »Daher also weht der Wind«, sagte er dann. »Das ist es, was Siegert auf die Palme gebracht hat.« »Und ausgerechnet unser Gustav hat ihm Hörner aufgesetzt wer hätte dem Kleinen derartiges zugetraut!« »Und wenn Gustav wirklich dafür ins Gefängnis kommt?« fragte Otto. Emil verstummte betroffen für geraume Zeit; an diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht. Daß die Sache, in seinen Augen, ein großer Spaß war, stand von vorneherein fest; daß aber gefährlicher Ernst daraus werden könnte, hatte er nicht so ohne weiteres für möglich gehalten. Otto aber schien das anzunehmen. Das kam wohl daher, daß dieser mit Siegert zu rechnen gewohnt war, während er, Emil, vorerst allein seine helle Freude an Gustavs überraschendem Draufgängertum hatte. »Gustav«, sagte dann Emil nach längerem Oberlegen, »ist ja schließlich nicht dämlich. Er scheint sogar mehr Hirn zu haben als manch ein anderer von uns - Anwesende sind natürlich ausgeschlossen. Siehst du, und weil der Bengel nicht gerade auf den Kopf gefallen ist, wird er auch nichts zugeben. Und ich kann mir auch nicht gut vorstellen, daß eine Frau wie die Siegert ihre Versorgung riskiert und so mir nichts, dir nichts alles zugibt, was man von ihr hören will. Am Ende kriegt man sie noch heran wegen Verführung Minderjähriger! Wie dem auch sein mag, eins steht doch wohl fest: In dieser Sache ist einfach alles drin!« »Durchaus möglich«, sagte Otto. Er schien nicht ganz gewillt, -181-
den weitgespannten schadenfrohen Optimismus seiner Bruders zu teilen. »Möglich ist aber auch, daß die Sache viel komplizierter ist, als wir annehmen. Auch Siegert ist kein Idiot. Ich kann mir nicht gut vorstellen, daß der Schlitten fahren will, wenn kein Schnee vorhanden ist. Vielleicht existieren Zeugen.« »Und vergiß nicht, daß auch Paul noch existiert, der schließlich unser Bruder ist. Du brauchst mich da gar nicht so notwendig anzuschauen. Selbstverständlich ist Paul ein Querkopf und der geborene Schutzmann - aber in erster Linie ist er ein Golder. Das allein entscheidet. Paul wird also, auf seine Weise, gewiß, für uns vom Leder ziehen. Na - und dann wir beide, Mensch! Das allein entscheidet doch schon die Schlacht. Aber darüber hinaus gibt es ja noch Mutter, Vater und die restliche Familie Golder mit sämtlichen Haupt- und Nebenlinien, mit neuen Bewerbern und alten Freunden. Mann und Bruder - mit dem Siegert und seiner Blase räumen wir im Handumdrehen auf!« »Wenn ich hier diesen Hebel umlege«, sagte Otto augenzwinkernd, »dann ist der Stromkanal drei unterbrochen, dann steht die Papierfabrik still.« »Los, leg den Hebel um!« rief Emil spontan. »Das wäre zu einfach«, sagte Otto souverän, »das wäre meiner nicht würdig. Jeder Hanswurst könnte den Hebel wieder zurücklegen. Aber es gibt andere Methoden: man kann eine Hauptsicherung zum Durchschmelzen bringen, man kann einen Leitungsdraht abschneiden, man kann einen Kontrollzähler künstlich unterbrechen. Und jede Stunde ohne Strom während der Arbeitszeit kostet den Siegert eine Stange Geld.« »Du bist richtig, Otto«, versicherte Emil hochbefriedigt. »Aber ich bin auch nicht von Pappe. Und wenn ich Paul veranlassen muß, Siegert einzulochen!« »Du rechnest in dieser Angelegenheit ernsthaft mit Paul?« fragte Otto skeptisch. -182-
»Er ist unser Bruder!« sagte Emil. »Und wenn er das etwa vergessen haben sollte, werde ich ihn daran erinnern.«
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Susanne Golder sah von ihrer Küchenarbeit hoch; sie vermochte ihre Überraschung nicht ganz zu verbergen und ihre nahezu kindliche Neugier auch nicht. Ihre Schwester Margarete war wortlos eingetreten und hatte sich in die Fensterecke gesetzt. Dort griff sie nach der zerlesenen Tageszeitung und blätterte darin mit gereizten Bewegungen herum. Susanne schob sich anteilnehmend näher. »Schon zurück?« fragte sie zutraulich. »Nein«, sagte Margarete sichtlich verärgert, »ich befinde mich zur Zeit noch im Stadtpark und amüsiere mich köstlich.« »Ist Siegfried denn nicht gekommen?« wollte Susanne wissen. »Wenn er sich auch das noch geleistet hätte«, sagte Margarete überzeugt, »dann wäre er für mich gestorben. Mich versetzt man nicht ungestraft!« »Ist irgend etwas passiert?« fragte Susanne besorgt. Ihr Kindergesicht mit dem rührend unschuldigen Mund bezeugte heftige Anteilnahme; sie sah aus, als habe sie in einem Bilderbuch schreckhafte Gestalten entdeckt. »Was soll denn schon passiert sein?« fragte Margarete unwillig. »Bei dem reicht es ja nicht einmal zum Händchenhalten! Glaubst du, der macht auch nur den Versuch, dir den Arm um die Schultern zu legen oder gar um die Hüften? Der ist ja wirklich hoffnungslos rückständig!« »Er ist hochanständig!« rief Susanne mit Eifer. »Alles was du sagst, spricht im Grunde nur für ihn und gegen dich! Oder willst du etwa einen Mann haben, der seine Hände überall hat - und bestimmt nicht nur bei dir?« »Natürlich nicht!« rief Margarete verächtlich, wobei sie durch ihr zierlich gebogenes Naschen schnaufte. »Aber wenn er ernsthafte Absichten hat, dann genügt es mir nicht, wenn er nur davon redet dann muß er sie mir doch auch zu verstehen geben. Aber was macht er? Er redet! Ununterbrochen. Und immer nur -184-
hochtrabendes Zeug, wie einer aus dem vorigen Jahrhundert. Und glaubst du etwa, er nennt mich Rita, obwohl er weiß, daß ich das gerne habe - weit gefehlt; er sagt immer Margarete zu mir.« Susanne setzte sich anteilnehmend neben Margarete, still und lieb, wie das ihre Art war. Sie legte eine Hand behutsam auf den Arm ihrer Schwester, die leicht zusammenzuckte. »Du solltest glücklich und zufrieden sein«, sagte Susanne zart. »Du hast alle Veranlassung dazu.« »Wenn aber Siegfried es wirklich ernst mit mir meint, warum dann immer diese betonte Distanz? Natürlich würde ich ihm nicht alles erlauben - aber etwas mehr als bisher könnte er sich schon leisten. Warum also tut er das nicht? Es bleibt eigentlich nur übrig, anzunehmen, daß er mich gar nicht ernsthaft haben will.« »Aber er bemüht sich doch so sehr um dich!« »Er will vermutlich, über mich, irgendeine Sache ins reine bringen, die offenbar seinen Vater angeht. Du mußt doch auch merken, daß hier seit Tagen etwas vorgeht, von dem wir, die Jüngsten, natürlich nichts wissen sollen. Das hängt alles miteinander zusammen.« »Warum fragst du denn nicht einfach Siegfried danach?« »Du bekämst das vermutlich glatt fertig«, sagte Margarete überlegen. »Aber glaubst du, mir fällt es leicht, einen Verehrer wie Siegfried einfach zu schockieren? Ich habe große Lust dazu, aber ich weiß nicht, ob ich mir das leisten kann, ihn im Handumdrehen zu verlieren. So einen wie den kriege ich nie mehr im Leben wieder.« »Also liebst du ihn doch!« »Ich finde ihn nicht unsympatisch - aber das ist alles. Ich könnte mir sogar vorstellen, mit ihm verheiratet zu sein. Er ist eine glänzende Partie und im Grunde sicherlich ein netter Kerl. Wenn ich nur wüßte, ob er es wirklich ehrlich meint!« -185-
Ein zögerndes Klopfen ertönte an der Küchentür. Die beiden Mädchen sahen sich an und fühlten, daß sie genau das gleiche dachten. Beide riefen zugleich: »Herein.« Die Tür ging auf, und Siegfried spähte, artig und vorsichtig, in den Raum. Als er dort nur die beiden Mädchen sah, versuchte er ein freundliches, zutrauliches Lächeln; das aber mißglückte. Dann trat er zaghaft näher. »Guten Tag; Susanne«, sagte er. Offenbar war er froh, zunächst zu einem unmittelbaren Gespräch mit Margarete nicht unbedingt verpflichtet zu sein. »Wie geht es dir?« »Danke gut«, sagte Susanne; sie war bemüht, ihn verständnisvoll und freundschaftlich anzuschauen. »Und wie geht es dir?« »Wenn ich hier stören sollte«, sagte Margarete boshaft, »dann kann ich ja gehen.« Susanne wurde durch diesen heftigen und, wie ihr scheinen wollte, völlig unangebrachten Einwurf nicht wenig erschreckt. Sie war nicht fähig, hierauf irgendeine Antwort zu finden. Ihre Augen blickten in den Raum, hilfeflehend und ängstlich, als habe sie allen Grund, anzunehmen, es werde versucht, ihr irgendein Leid anzutun. »Aber ich bin doch allein deinetwegen hier, Margarete«, versicherte Siegfried lebhaft. »Entschuldige, wenn ich dir nachgegangen bin aber ich muß dich unbedingt noch sprechen. Zwischen uns darf es doch keinerlei Mißverständnisse geben!« »Ich lasse euch beide allein«, sagte jetzt Susanne. »Du bleibst hier«, entschied Margarete. »Was wir uns zu sagen haben, kann jeder hören. Oder sollte dir das etwa peinlich sein, Siegfried?« »Natürlich nicht«, versicherte der ohne sonderliche Begeisterung. Margarete richtete sich steif in ihrem Stuhl auf und deutete an, daß sie bereit sei, ihn anzuhören. -186-
»Sieh mal«, begann Siegfried vorsichtig, »es ist doch nicht gerade schön, wenn wir uns immer streiten.« »Wer streitet sich?« fragte Margarete hoheitsvoll. »Willst du etwa behaupten, daß ich streitsüchtig bin?« »Aber nein«, beteuerte Siegfried. Er sah fasziniert in ihre funkelnden Augen, von dort über das braune, zierlichsüße Gesicht, auf die Lippen; die waren jetzt fest geschlossen, erschienen ihm aber dennoch voll und verlockend. »Natürlich trage ich, wenn Mißverständnisse entstanden sind, allein die Schuld daran. Aber ich habe sie nicht gewollt; das versichere ich dir, Margarete.« »Warum sagst du eigentlich niemals Rita?« fragte Susanne und wurde furchtbar verlegen dabei. »Rita klingt doch hübsch und viel vertraulicher.« »Margarete ist würdiger«, behauptete Siegfried ernsthaft. »Rita scheint mir mehr eine Spielerei zu sein und nicht ganz ernst zu nehmen.« »Wenn du so weiter machst«, sagte Margarete und gab sich gleichmütig, »werde ich dich auch nicht mehr ganz ernst nehmen können. Denn ich frage mich: Was hat ein eventueller Streit zwischen deinem Vater und meiner Mutter, oder um was es sich gerade handelt, um eine Auseinandersetzung oder um eins deiner mir langsam auf die Nerven gehenden Mißverständnisse - was hat so etwas mit uns zu tun?« »Sehr viel«, versicherte Siegfried lebhaft. Und er fühlte sich Susannes Zustimmung sicher; ein eifriges Kopfnicken hatte ihm das angezeigt. »Es ist doch alles leichter und einfacher, wenn sich unsere Eltern verstehen.« »Meine Mutter«, sagte Margarete, »ist eine sehr verträgliche Frau.« »Das mag stimmen«, gab Siegfried bereitwillig zu. Und er beeilte sich, nachdem er ein warnendes Aufleuchten in den Augen der geliebten Margarete bemerkt hatte, hinzuzufügen: -187-
»Ich bin überzeugt davon.« »Na also!« sagte Margarete. »Demnach liegt die Schuld bei deinem Vater.« »So ist es wohl wiederum auch nicht«, sagte Siegfried mit mühsamen Eifer. »Es kommen verschiedene Dinge hinzu Einflüsterungen, Einflüsse, Eingriffe von dritter Seite. Wenn das so weitergeht, garantiere ich für nichts mehr. Und eben deshalb, habe ich mir gedacht, wäre es wohl gut, wenn auch du deiner Mutter zureden würdest, eine Aussprache mit meinem Vater nicht zu scheuen.« »Ich soll meine Mutter beeinflussen?« fragte Margarete hohnvollverwundert. »Da sieht man wieder einmal, wie wenig du von uns weißt! Du glaubst doch nicht im Ernst, daß sich Mutter irgend etwas von mir aufschwatzen läßt? Schon gar nicht in einer Angelegenheit, von der ich selbst nicht überzeugt bin.« »Du könntest es ja einmal versuchen«, redete Susanne ihrer Schwester zu. »Ich bitte dich, Margarete«, sagte Siegfried beschwörend, »du mußt doch einsehen, daß wir nichts unterlassen dürfen, um unser Glück zu sichern.« »Ja«, sagte wiederum Susanne zu ihrer Schwester, »das mußt du einsehen.« »Ich will nicht«, sagte Margarete heftig, »daß die von mir erwartete Zuneigung von irgendwelchen Bedingungen abhängig gemacht wird - schon gar nicht von solchen, die in Zusammenhang mit meiner Mutter stehen. Und wenn du mich wirklich liebst, Siegfried, wie du mir mehrmals versichert hast, dann wirst du auch zu mir stehen ganz gleich, was kommt!« »Aber er kann sich doch nicht gegen seinen Vater stellen!« rief Susanne. »Warum nicht?« sagte Margarete, entschlossen, die große Probe, vor der sie immer gebangt hatte, zu wagen. »Niemand -188-
zwingt ihn. Er kann tun und lassen, was er will. Er muß sich nur entscheiden und das möglichst bald.«
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Mutter Golder saß bei Frau Sielenmeyer, die lang ausgestreckt auf dem Bett lag. Die Hände der Hebamme glitten behutsamtastend über den Leib der hochschwangeren Frau. Sie lächelte, während ihre Augen dunkel und ernst auf ihre Hände blickten. Die Frau, die hier vor ihr lag, war jetzt schon hochgradig verkrampft - das war eine Gefahr. »Ist alles in Ordnung?« fragte Frau Sielenmeyer angstvoll. »Nichts Besonderes«, sagte Mutter Golder freundlich. Und sie freute sich, bei der Sielenmeyer ein winziges Lächeln um die Mundwinkel aufflattern zu sehen. Doch plötzlich zuckte Frau Sielenmeyer zusammen; sie richtete sich hoch und horchte angestrengt. »Ich glaube«, sagte sie ängstlich, »mein Mann kommt.« Und sie fügte, wobei sie ihre Kleider ordnete, hastig hinzu: »Er kommt heute viel früher als sonst.« Mutter Golder betrachtete die heftige Veränderung, die mit Frau Sielenmeyer vorging, mit einfühlsamem Mitgefühl, aber auch nicht ohne gewisses aufmerksames Berufsinteresse: Die gleiche Frau, die soeben noch matt und still vor ihr gelegen hatte, begann jetzt mit hastigen, fast hektischen Bewegungen grundlos und wie getrieben Ordnung zu schaffen. Sie verrückte einige Gegenstände, sie befingerte eilig ihr Kleid und riß sich dabei einen Knopf ab; das brachte sie nahezu zum Weinen. Der Mann Sielenmeyer hatte inzwischen in den unteren Räumen, die aus einem stallartigen Flur und einer schief wandigen Wohnküche bestanden, sein Fahrrad abgestellt. Hierauf hatte er sich die Schuhe ausgezogen und den Rock gewechselt. »Schläfst du etwa?« rief er nach oben. »Nein«, rief Frau Sielenmeyer mit Hast; und sie versuchte vergeblich einige Fröhlichkeit in ihre hohe, weinerliche Stimme zu legen. »Frau Golder, die Hebamme, ist bei mir.« »Das trifft sich ja gut«, rief Sielenmeyer von unten. »Der Doktor kommt natürlich auch gleich. Mach dich schon fertig, -190-
damit er dich untersuchen kann.« »Was für ein Doktor?« rief Frau Sielenmeyer angstvoll. »Ich brauche keinen Doktor, wenn Frau Golder da ist.« »Ich halte das für richtig«, behauptete Sielenmeyer, ohne etwa Anstalten zu machen, die Leitertreppe hochzusteigen und seine Frau zu begrüßen. Er klapperte mit dem Herdgeschirr. Und die Frau oben wußte, daß er das für ihn bereitstehende Essen besichtigte und, wie immer, nicht zufrieden mit dem Vorgefundenen war. »Ich will aber keinen Doktor!« rief die Kranke schrill; und ihre nervösen Hände zerrten an einem taschentuchähnlichen Stoffetzen. »Immer willst du nicht«, grollte Sielenmeyer von unten herauf. »Niemals willst du, nichts willst du. Aber was hast du denn schon zu wollen!« »Lassen Sie nur, Frau Sielenmeyer«, sagte Mutter Golder ruhig. »Er meint es sicherlich gut mit Ihnen. Wenn noch ein Arzt dabei ist, kann erst recht nichts schiefgehen.« Sie nickte der langsam wieder Mut fassenden, krampfhaft aufschluchzenden Frau gütig zu. Dann stieg sie, ein wenig mühsam, die leiterartige Treppe mit dem zerbrechlichen Lattengeländer hinunter. »Das richtet sich nicht gegen Sie«, sagte unten der Mann Sielenmeyer; er rumorte intensiv mit Kochtöpfen, um Mutter Golder nicht in die Augen sehen zu müssen. »Das hat der Herr Siegert für mich getan, als Direktor und Mensch sozusagen.« »Um welchen Arzt handelt es sich denn?« fragte Mutter Golder. Ihre Stimme klang gleichgültig; doch sie hatte die Augen ein wenig zusammengekniffen. »Wie heißt der Arzt?« »Weiß ich nicht«, sagte Sielenmeyer und schöpfte sich dickflüssige Suppe in einen Teller. »Ist ja auch nicht so wichtig. Warten Sie hier ruhig - er muß gleich da sein.« -191-
Mutter Golder setzte sich wortlos auf einen Schemel und wartete. Breit und gelassen saß sie da, mit erwärmender Würdigkeit, wie sie Glucken eigen ist. Aber in ihrem Inneren brodelten Unruhe und Empörung. Der Name Siegert in diesem Zusammenhang hatte alarmierend gewirkt. Sie brauchte nicht lange zu warten, um zu erkennen, daß ihre düsteren Ahnungen nicht unberechtigt waren. Forsche Schritte ertönten auf der Gasse. Und dann wurde die Tür, nach kurzem Klopfen, aufgestoßen. Ein reiferer Jüngling, blond und breitschultrig, mit schnell registrierenden Grauaugen, kam herein und sah sich besitzergreifend um. »Sie haben sich ja hier so eine Art Taubenschlag zugelegt, Sielenmeyer«, rief der unternehmungslustige junge Mann zur Begrüßung. »Fühlen Sie sich eigentlich in diesem Familienschuppen wohl? Aber lassen Sie sich deshalb nur keine grauen Haare wachsen - Kinder sind auch schon in Erdhöhlen und auf freiem Feld zur Welt gekommen.« »Ich bin die Hebamme Golder«, sagte die Frau, vor der er stand. »Das freut mich aber«, sagte Bächler überaus munter. »Ich hatte Sie für eine Art Tante gehalten.« »Wofür ich Sie halte, sage ich lieber nicht«, entgegnete Mutter Golder frei. Dr. Bächler stutzte, trat ein wenig zur Seite, so daß jetzt das Licht auf dem zigarrenkistenartigen Fenster voll auf die Frau fiel, die sich als Hebamme Golder zu erkennen gegeben hatte. Der Anblick, der sich ihm bot, entsprach keinesfalls seinen Erwartungen. Er hatte ein bissiges, ausgemergeltes Weib vermutet, zäh und gerissen - die gewachsene Gelassenheit, die ihm hier entgegensah, irritierte ihn ein wenig» »Gestatten Sie«, sagte er, vorsichtig geworden, »daß ich mich vorstelle. Ich bin Doktor Bächler, praktischer Arzt und Geburtshelfer; seit einigen Tagen in dieser Stadt tätig.« -192-
»Und diese Patientin«, stellte Mutter Golder fest, »hat Ihnen Direktor Siegert zugeschanzt.« »Zuschanzen«, sagte Dr. Bächler wenig freundlich, »ist hier doch wohl nicht der richtige Ausdruck. Frau Sielenmeyer fällt automatisch in meinen Zuständigkeitsbereich - ich bin nämlich Vertragsarzt bei den hiesigen Papierfabriken.« »Wie sich das trifft«, sagte Mutter Golder bitter. Sie begann die Zusammenhänge zu durchschauen und zu erkennen, in welchem Ausmaß Siegert aktiv war. »Das kann man wohl sagen!« Bächler schien bereit, da die Fronten nun klar erkannt worden waren, die Feindseligkeiten ungesäumt zu eröffnen; das war er sich und seinem Wohltäter schuldig. »Sie haben Frau Sielenmeyer untersucht - was halten Sie von der Sache? Ich frage Sie als Arzt. Keine Antwort? Verschwinden Sie hier, Sielenmeyer, setzen Sie sich draußen in die Sonne oder genehmigen Sie sich einen in der nächsten Kneipe. Während der kommenden dreißig Minuten wollen wir ungestört sein.« Sielenmeyer schlürfte in seinen ausgetretenen Hausschuhen hinaus, undeutliche Proteste murmelnd. Er zerrte die Tür hinter sich zu. Im Raum war es eine Zeitlang still. »Der Arzt hört«, sagte Bächler dann. »Die Hebamme möge berichten.« »An sich«, sagte Mutter Golder langsam, »bin ich keinesfalls dazu verpflichtet, Ihnen meine Beobachtungen mitzuteilen.« »Stimmt genau«, sagte Bächler mit gutgelaunter Zustimmung. »Sie müssen nicht! Und ich weiß, daß es auch Hebammen gibt, die das gar nicht können; trotzdem mögen sie recht brauchbar sein. Aber da ich ein Anfänger bin, wovon Sie ja überzeugt zu sein scheinen, wäre es vielleicht angebracht, mich aufzuklären; allein im Interesse der Schwangeren selbstverständlich.« »Nun gut«, sagte Mutter Golder mit nachsichtigem Lächeln. »Sie wollen brennend gern wissen, ob ich etwas von meinem -193-
Beruf verstehe oder nicht - warum soll ich Ihnen die Freude nicht machen? Spätestens bei der Geburt selbst wissen Sie ja doch genau Bescheid. Und bis dahin haben Sie sich vielleicht sogar ein wenig an mich gewöhnt - das wird dann der Schwangeren zugute kommen.« »Also - klären Sie mich auf«, sagte Bächler und lehnte sich erwartungsvoll gegen die Wand. »Sie werden sich schmutzig machen«, sagte Mutter Golder. »Die Wand hinter Ihnen ist mit Kalkfarbe, nicht mit Leimfarbe gestrichen worden.« Bächler besah unwillig seinen Ärmel, der stark angefärbt war. »Was Frau Sielenmeyer anbelangt«, führte die Hebamme Golder sachlich aus, »so muß von ihr gesagt werden, daß sie nicht im geringsten robust oder vital ist. Sie ist etwa mittelgroß, noch nicht dreißig Jahre alt, sieht aber wesentlich älter aus. Schwacher Knochenbau, wenig ausgebildete Muskulatur, keine Fettpolster. Herz und Lungen scheinen zwar ohne Befund, sind aber wohl kaum strapazierfähig. Leibesumfang nicht unnormal, etwa siebenundneunzig Zentimeter. Schmales Becken. Das Kind, von offenbar mittlerem Gewicht, nimmt die zweite Hinterhauptlage ein. Kopf am Beckeneingang. Aber die Frau ist jetzt schon völlig verkrampft. Ich fürchte Komplikationen - der Muttermund wird sich bei der Geburt sperren. Ich schlage vor, die Geburt ins Kreiskrankenhaus zu verlegen.« Dr. Bächler sagte lange Zeit nichts. Der Bericht der Hebamme Golder glich einer vorbildlichen Diagnose. Daß diese Frau nicht wenig von ihrem Beruf verstand, schien festzustehen. Irritierend oder vielleicht sogar bezeichnend war allerdings, daß diese Hebamme Verantwortung zu scheuen schien. Denn warum wohl sonst wollte sie diese Geburt, die noch dazu seine erste Geburt und fast sogar sein erster Fall in dieser Stadt überhaupt war, ausgerechnet in das Kreiskrankenhaus verlegen? Aus Unfähigkeit? Aus Bosheit gar, ihm gegenüber, damit er nicht -194-
zum Zuge komme? Möglich; alles war möglich. Aber Siegert hatte ihn schließlich unmißverständlich gewarnt. »Ich werde mich selbst davon überzeugen«, sagte Bächler entschlossen. Er stieg, von Mutter Golders prüfenden Blicken verfolgt, unternehmungslustigflott die Leitertreppe hoch. Er stolperte über eine Stufe, ohne zu fallen. Er fluchte unterdrückt, jugendlich unbekümmert, lachte dann aber und stieg weiter. »Na, junge Frau«, rief er laut und geschäftig, als er oben angekommen war. »Dann wollen wir mal sehen, was der Nachwuchs macht! Legen Sie sich schön hin, denken Sie dabei an gar nichts schon gar nicht daran, daß ich ein Mann bin. Ich bin Arzt. So - so ist gut; nur keine falsche Scham.« Dann wurde es oben für längere Zeit still. Mutter Golder blieb unbeweglich auf ihrem Schemel sitzen; ihre Tasche hielt sie auf dem Schoß. Sie sah vor sich hin, auf das schmutzige Grau der zertretenen, verfaulenden, zerfallenden Dielen. Ihr Gesicht war ausdruckslos, flächenhaft und ohne Konturen. Das schmale Licht, das aus dem Fensterchen fiel, lag auf ihren Händen, die die Tasche hielten. »Nur Mut!« rief oben Doktor Bächler suggestiv. »Wir werden das Kind schon schaukeln.« Dann kam er hinunter, strich sich ein paar Haare aus der Stirn und stellte sich vor der Hebamme Golder auf. »Ihr Bericht«, sagte er und sah über sie hinweg, »entspricht zum großen Teil meinem Befund. Aber er entspricht ihm nicht völlig. Gewiß, die Frau ist weder stark noch hat sie besondere Energie; allzu große Kraftreserven sind also kaum zu erwarten. Doch Sie werden ja selbst aus Ihrer Praxis wissen, daß Frauen, besonders in solchen Situationen, zäh wie Wildkatzen sein können.« »Sie sehen keine besonderen Komplikationen?« fragte die Hebamme aufmerksam. »Komplikationen sind schon möglich«, sagte Dr. Bächler. -195-
»Sie sind immer möglich - aber wozu ist man Arzt? Und Verkrampfungen vor der Geburt können sich lösen. Was aber die von Ihnen befürchtete Sperrung des Muttermundes anbelangt, so nehmen wir einfach ein synthetisches Spasmolytikum. Außerdem bin ich der Ansicht, daß das Kind nicht die zweite Hinterhauptlage einnimmt, sondern die erste.« »Sie sind also bereit«, fragte Mutter Golder ungläubig, »die volle Verantwortung für diese Geburt zu übernehmen?« »Sie nicht?« fragte Dr. Bächler zurück. »Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, heißt das, daß Sie Ihre Mitarbeit versagen? Wollen Sie tatsächlich soweit gehen? Ich stelle es Ihnen selbstverständlich frei. Aber ich behalte mir vor, das als Verweigerung der Geburtshilfe auszulegen - was das bedeuten kann, werden Sie vermutlich, bei Ihrer Erfahrung, wissen. Oberlegen Sie sich das gut. Ich werde mich morgen nach Ihrer Entscheidung erkundigen.« Siegfried Siegert senior war mit dem Verlauf seiner Aktionen einigermaßen zufrieden, wenn er auch kein sonderliches Triumphgefühl empfand. Das, versicherte er sich, stand ihm auch nicht zu. Er hatte lediglich Ehre und Ansehen zu verteidigen, wie es sich für einen Mann geziemte. »Herr Rechtsanwalt Marktschreiter«, meldete ihm seine Sekretärin. Sie war an der Tür, die vom Vorzimmer in sein Büro führte, stehengeblieben; verhuscht und trippelig, mit gezücktem, stets schreibbereitem Block in den Händen. »Er bittet um eine Unterredung - in bewußter Sache.« Was die ›bewußte Sache‹ war, wußte Siegert wohl; seine Sekretärin aber konnte das nicht wissen. Und die Bezeichnung ›bewußte Sache‹ war durchaus angetan, sie neugierig zu machen. »Was ist das für eine bewußte Sache?« fragte Siegert und gab sich, nicht ganz ohne Erfolg, ahnungslos. »Das hat Herr Marktschreiter nicht gesagt«, erklärte die -196-
Sekretärin nicht undiplomatisch. »Können Sie sich denken, worum es sich handelt?« fragte nunmehr Siegert. Und er, ein gelernter Meister des Auf-denBusch-Klopfens, betrachtete dabei die Papierschere vor sich, mit der seine Finger spielten. Die Sekretärin antwortete nicht sogleich. Sie schwankte zwischen dem Verlangen, durch ihr Wissen zu glänzen, und dem Wunsch, wie ein schweigender Schatten zu seiner Verfügung zu stehen. In den langen Jahren, in denen sie für Siegert gearbeitet hatte, war es ihr immer noch nicht gelungen, herauszubekommen, was dieser eigentlich mehr schätzte: informative Zuträgerei oder aktionslose Ergebenheit. »Sie scheinen«, sagte Siegert gedehnt, »immer noch nicht bei mir gelernt zu haben, daß ich wenig Sinn für unklare Formulierungen habe. Ich erwarte von allen meinen Angestellten, und von Ihnen besonders, eine gewisse Präzision. Wenn Sie von einer ›bewußten Sache‹ sprechen, so ist das eine höchst unklare Begriffsbestimmung, mit der ich nichts anfangen kann. Sie hätten also diesen Ausdruck vermeiden oder aber Herrn Marktschreiter um Aufklärung bitten sollen - es sei denn, Sie wüßten selbst, was unter dieser ›bewußten Sache‹ zu verstehen ist. Wissen Sie das?« »Vermutlich«, sagte die aufgescheuchte Sekretärin. Sie begann dieser Maßregelung verhängnisvolle Folgen anzudichten und hielt es deshalb für richtig, sich informiert zu zeigen. »Vermutlich wird es sich um Ihre Anzeige gegen Gustav Golder handeln.« »Was wissen Sie davon?« fragte Siegert, ohne den Blick von seinen mit der Papierschere spielenden Händen zu nehmen. »Keine Einzelheiten«, beteuerte die Sekretärin, deren Verwirrung immer mehr zunahm. »Nur was man so hört.« »Was hört man so?« fragte Siegert unnachgiebig. »Und von wem?« -197-
»Sie sollen eine Anzeige gegen Gustav Golder erstattet haben weil er sich in Ihrem Hause unanständig betragen hat. Das ist alles, was ich weiß. Man redet in der Stadt davon.« »Ein Mensch mit Herzensbildung«, sagte Siegert und blickte dabei seine Sekretärin vernichtend an, »kümmert sich nicht um das Geschwätz der Gosse. Und eine Sekretärin mit Berufsethos wird es vermeiden, ihren Chef mit fragwürdigen Gerüchten zu bedienen. Merken Sie sich das, bitte. Und jetzt lassen Sie, in genau fünf Minuten, Herrn Marktschreiter herein.« Die Sekretärin huschte hinaus. Siegert starrte längere Zeit vor sich hin; sein Gesicht sah jetzt grau und verfallen aus. Und er sagte: »Also doch!« Er hatte es kommen sehen, daß sich der Pöbel mit seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigen würde; die Schnelligkeit, mit der das geschah, war allerdings nicht vorauszusehen gewesen. Die Kampfhandlungen waren also im vollen Gange - er hatte es nicht anders gewollt. Also weiter! Siegert zog den zweiten Telefonapparat auf seinem Schreibtisch, der einen direkten Postanschluß hatte, naher zu sich heran. Er wählte eine Nummer; die aber gehörte einem Teilnehmer, der selbst gerade ein Gespräch führte. Siegert legte daher den Hörer wieder auf die Gabel zurück, griff nach seinem Merkblock und schrieb eine Notiz nieder. Sie lautete: Umstellung von Eisenbahn- auf Lastwagentransporte Eisenbahnausbesserungswerk. Nachdem fünf Minuten vergangen waren, betrat Marktschreiter mit überdrehter Lebhaftigkeit das Zimmer; der Rock über der geblümten Weste war offen, und er schwang seine Mappe wie eine Trophäe. »Erfreuliche Dinge bahnen sich an«, verkündete er. Marktschreiter nahm von dem ihm zugewiesenen Stuhl Besitz, indem er sich fest hineinzwängte, und machte Anstalten, seine Füße um die Stuhlbeine zu winden. »Ich habe in der Tat -198-
Nachrichten mitgebracht, die außerordentlich vielversprechend sind.« Erfreuliche Dinge, die sich anbahnten; vielversprechende Nachrichten, die er mitgebracht hatte - das waren, so sagte sich der mißtrauische Siegert, kaum mehr als Theorien, Vermutungen und Kombinationen. Keine Realitäten. Er hätte diesen Marktschreiter ruhig noch fünf Minuten länger warten lassen sollen; mindestens noch fünf Minuten. Damit wäre diesem verdächtigen Zweckoptimisten Gelegenheit gegeben worden, sich ein wenig abzukühlen. Und Siegert beschloß, ihm diese Kühlung nachträglich in ausreichender Weise zuteil werden zu lassen. »Herr Marktschreiter«, sagte er, »wie Sie wissen, sah ich mich gezwungen, nachdem Sie mir alle juristischen Unterlagen zusammengestellt hatten, eine Anzeige gegen Gustav Golder zu erstatten.« »Und das mit vollem Recht«, bestätigte Marktschreiter nachdrücklich, »sowohl juristisch als auch moralisch mit vollem Recht.« »Nun scheint es aber, wie ich einigen Mitteilungen durchaus zuverlässiger Personen entnehme, daß diese Anzeige zum Tagesgespräch der Bevölkerung geworden ist.« »Nicht durch meine Schuld!« versicherte Marktschreiter sofort. »Ich habe mich streng an meine Schweigepflicht gehalten. Mein Wort darauf. Ich würde niemals einen meiner Klienten bewußt oder auch nur fahrlässig bloßstellen - schon gar nicht Sie!« »Sie haben mich beraten«, sagte Siegert, kaum merkbar belustigt, »ich persönlich habe die Anzeige erstattet, der Polizeibeamte Paul Golder hat sie entgegengekommen. Das sind also drei Menschen, die davon wissen.« Marktschreiter witterte sofort eine neue Möglichkeit, sein Licht leuchten zu lassen. Sein rosiges Rotweintrinkergesicht -199-
glänzte, die kleinen fleischigen Händchen, die an warme Würstchen denken ließen, rieben sich aneinander. »Das paßt doch ganz großartig«, sagte er unternehmungslustig. »Ich habe geschwiegen, Sie haben geschwiegen - bleibt also der Polizist, der ausgerechnet Golder heißt. Der muß seine dienstliche Schweigepflicht gebrochen haben!« »Und was für Weiterungen ergeben sich, Ihrer Meinung nach, daraus?« fragte Siegert. Und in seinen sonst so unergründlich dreinblickenden Augen kam Spott auf, was Marktschreiter aber, zu seinem Nachteil, nicht bemerkte. »Da haben wir doch wieder einen von der Sippschaft am Kragen! Dem hängen wir eine Untersuchung an - Vergehen im Amt. Die wird ihm zu schaffen machen. Strafversetzung ist das mindeste, was dabei herauskommt. Geben Sie mir Vollmachten, und ich werde auch diese Sache sofort in Angriff nehmen.« »Marktschreiter«, sagte Siegert mit einer Schärfe, die seinen Gesprächspartner zusammenzucken ließ. »Sie schießen zu schnell und denken zu wenig. Sie wollen sich beschäftigen, und ich soll das bezahlen. Aber ich pflege mein Geld nicht zu verpulvern. Wenn ich einen Einsatz wage, muß er sich auch lohnen.« »Aber wir könnten«, versuchte sich Marktschreiter zu verteidigen, »diesem Polizisten wirklich allerhand Schwierigkeiten bereiten. Das ist sicher.« »Was Sie Schwierigkeiten bereiten« nennen, Marktschreiter, das sind nichts anderes als krampfhafte Versuche am untauglichen Objekt; sie würden wirkungslos verpuffen.« Marktschreiter saß jetzt weit weniger bequem in seinem Sesselstuhl als vorher. Er schnappte ein paarmal nach Luft. Er hatte Siegert, wie er glaubte, gründlich kennengelernt; und daher wußte er, daß der niemals Vorwürfe erhob, ohne sie sich genau überlegt zu haben. Das, vermischt mit dem peinlichen Gefühl, sich eventuell blamiert haben zu können, machte Marktschreiter -200-
vorübergehend sprachlos. »Wie ich schon andeutete, Marktschreiter«, sagte Siegert unnachsichtig, »denken Sie nicht folgerichtig. Die Situation sieht doch so aus: Sie, der Polizeibeamte Golder und ich, wir wissen um diese Anzeige. Nun wird aber der Polizeibeamte Golder, den ich übrigens für alles andere als einen Schwätzer halte, Vernehmungen und Nachforschungen angestellt haben, und zwar mindestens bei drei Personen: bei Gustav Golder, bei meiner Wirtschafterin, bei der Hebamme Golder. Wenn nun einer von den dreien spricht - wer will ihm das verwehren? Sehen Sie das ein?« »Ja, allerdings«, sagte Marktschreiter beeindruckt. »Das ist richtig.« »So könnte ich mir zum Beispiel vorstellen«, sagte Siegert nachdenklich und suggestiv, was Marktschreiter, der sich erwartungsvoll aufrichtete, nicht entging, »daß dieser Gustav Golder mit seinen Angehörigen über diese Anzeige gesprochen hat. Es ist vielleicht sogar möglich, daß der eine oder andere von den Golders darauf gedrungen hat. Nun ist aber so eine Anzeige ein Schriftstück, in dem Wort für Wort festgelegt ist; man kann das also weder nach Belieben ausdeuten noch darf man es willkürlich verdrehen. Nehmen wir nun einmal an, ein Mann mit einer ebenso groben wie heftigen Fantasie bemächtigt sich dieses Vorgangs ...« »Emil Golder, der Seemann!« fiel Marktschreiter ahnungsvoll ein. Er war begierig darauf, den nicht gerade günstigen Eindruck, den er offenbar hervorgerufen hatte, zu verwischen. »Sie haben mehr Instinkt als Verstand«, stellte Siegert nicht ohne Anerkennung fest. »Jedenfalls ist diesem maritimen Elefanten so manche Trampelei in unseren Porzellanläden zuzutrauen. Man sollte, meine ich, darauf ein wenig achtgeben, vielleicht lohnt es sich.« »Sie haben genau, wenn ich so sagen darf, den wunden Punkt -201-
der ganzen Sippschaft Golder entdeckt!« rief Marktschreiter geschäftig und schlug dabei auf seine Mappe. »Nehmen Sie, bitte, zur Kenntnis«, erklärte Siegert ernst und gemessen, »und zwar ein für allemal, daß ich nichts, aber auch nicht das geringste gegen die Familie Golder an sich habe. Im Gegenteil: Ich schätze ihre Tüchtigkeit und bewundere ihren Familiensinn. Frau Golder in Besonderheit gehört meine Achtung, um nicht zu sagen meine Verehrung. Das alles jedoch hindert mich natürlich keinesfalls, die Ehre meines Hauses zu wahren und für gewisse Prinzipien, die mir seit früher Jugend zu eigen sind, mit Nachdruck einzutreten. Bitte - merken Sie sich das. Und jetzt können Sie weiter berichten. Sie sprachen, wenn ich nicht irre, von Emil Golder.« »Jawohl«, sagte Marktschreiter; er vermochte nur mühsam sein Erstaunen über diese Demonstration der Siegertschen Moralbegriffe zu überwinden. »Ich habe Auskünfte über Emil Golder aus Hamburg bekommen, die hochinteressant zu sein scheinen.« »Feststehende Tatsachen, einwandfreie Unterlagen?« »Nicht gerade Dokumente, wenn Sie so etwas meinen. Aber die Auskünfte einer mit mir zusammenarbeitenden Agentur sind derartig vielversprechend, daß es sich lohnen würde, zu deren Vervollständigung nach Hamburg zu fahren.« »Lohnen?« fragte Siegert unfreundlich. »Heißt das etwa, daß Sie auf meine Kosten mal wieder eine lohnende Spesenrechnung machen wollen?« »Wenn ich Ihnen meine Unterlagen zeige, die zwar noch nicht vollständig und beweiskräftig sind ...« »Ich will sie nicht sehen«, erklärte Siegert souverän. »Erzählen Sie mir Tatsachen, bringen Sie mir Dokumente, und ich werde sie nach ihrem Wert bezahlen. Daß ich nicht kleinlich bin, wissen Sie genau. Für Spekulationen und Vermutungen aber keinen Pfennig! Das ist mein letztes Wort in dieser Sache. -202-
So - und nun gute Reise, Marktschreiter, wenn Sie so fest glauben, daß es sich lohnt.« Marktschreiter erkannte, daß Siegert diese Unterredung für beendet ansah. Er erhob sich und produzierte mit dem fülligen Körper eine zeremonielle Verbeugung. Dann verließ er den Raum. Siegert sah ihm mit kargem Lächeln nach. Aber dieses Lächeln hielt nicht lange vor. Seine Sekretärin erschien; sie blieb, wie immer, abwartend an der Tür stehen. Nach kurzer Zeit schon erhielt sie, durch ein kurzes Hochheben seines Kopfes, die Erlaubnis, zu sprechen. »Das Elektrizitätswerk hat angerufen«, berichtete sie. »Wegen dringender Reparaturen wird die Stromzufuhr für ungefähr zwei Stunden unterbrochen sein.« »Können diese Leute denn nicht in der Nacht reparieren!« rief Siegert aufgebracht. Zwei Stunden ohne Strom waren für seine Fabriken gleichbedeutend mit zwei Stunden Arbeitsausfall. Da diese Unterbrechung der Stromzufuhr noch dazu unangekündigt erfolgte, also nicht vorauszusehen gewesen war, mußte er für diese Zeit Lohn und Gehälter voll auszahlen. Eine Schadensersatzklage war dabei so gut wie sinnlos; im Vertrag mit dem Elektrizitätswerk war nachzulesen, daß bei unvorhergesehenen Ereignissen und höherer Gewalt kein Schadenersatzanspruch bestehe. Das bedeutete aber: Dieser Stromausfall konnte ihn ein kleines Vermögen kosten. »Verbinden Sie mich sofort mit dem Leiter des Elektrizitätswerkes!« »Ich soll Herrn Direktor ausrichten«, sagte die Sekretärin, »daß das zwecklos sei. Herr Otto Golder läßt schön grüßen und Ihnen bestellen, daß es ihm zwar von Herzen leid tue, aber er könne im Augenblick unter den gegebenen Umständen nichts für Sie tun.« »Wer läßt mich grüßen?« fragte Siegert fassungslos. »Herr Otto Golder, der Meister des Werkes. Und er hat noch -203-
gesagt, ich solle Ihnen, Herr Direktor, folgendes wortwörtlich ausrichten: Wenn keine grundsätzlichen Änderungen eintreten, ist es durchaus möglich, daß in der nächsten Zeit der Strom noch mehrmals abgeschaltet werden wird.« »Das kann doch nicht wahr sein!« rief Siegert empört. »So etwas darf es doch nicht geben!« »Außerdem ist Ihre Wirtschafterin am Apparat«, meldete die Sekretärin. »Sie sagt, es sei dringend. Soll ich verbinden?« Siegert nickte wie geistesabwesend. Die Nachricht von der mitten in seiner Hauptbetriebszeit unterbundenen Stromzufuhr erregte ihn; die herausfordernde Art und Weise aber, mit der diese Nachricht formuliert worden war, empörte ihn mächtig. Grüße von Herrn Otto Golder! Und dann noch diese freche, nahezu erpresserische Drohung: Wenn keine grundsätzlichen Änderungen eintreten ... Das Telefon auf seinem Schreibtisch surrte gedämpft. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Seine Wirtschafterin berichtete ihm, daß sich die Hebamme Golder in seinem Haus aufhalte; sie befinde sich bei seiner Frau. Siegert warf den Hörer auf die Gabel, stand auf, straffte sich entschlossen. Er ging auf die Tür zu, die in das Vorzimmer führte, und stieß sie auf. »Meinen Wagen!« rief er. »Es ist dringend!« Mutter Golder hatte die Hände gefaltet, und das verlieh ihr ein irreführend friedliches Aussehen. Sie saß Frau Siegert gegenüber. Der Kaffee, der vor ihr stand, war bisher nicht berührt worden. Irgendwo in einem der Nebenräume schien die Wirtschafterin heftig am Werk zu sein. »Es ist nicht mein Amt«, sagte Mutter Golder ein wenig schwerfällig, »mich um die Väter zu kümmern, erst recht nicht, wenn meine Hauptarbeit erledigt ist. Und das ist hier der Fall: Sie haben diese Geburt überstanden. Aber Sie wissen auch, daß es eine nächste Geburt für Sie nicht geben darf.« »Gerade aus meiner Situation«, sagte Frau Siegert leise, -204-
»wäre vielleicht ein neues Kind der letzte Ausweg.« Und sie fügte, noch leiser, kaum vernehmbar hinzu: »Ich muß ihn doch überzeugen!« »Wenn sich so ein Mann erst einmal in eine Idee verrannt hat«, sagte Mutter Golder, »ist er durch Nachgiebigkeit, Ergebenheit oder sonstige Bereitschaft zur Demütigung am allerwenigsten zur Vernunft zu bringen.« »Es stimmt also doch«, sagte Frau Siegert betrübt. »Sie haben irgend etwas gegen meinen Mann.« »Normalerweise müßte ich jetzt aufstehen und gehen«, sagte Mutter Golder, und sie schnaufte verächtlich durch die Nase. »Aber es sind schon viel zuviel Dummheiten gemacht worden, als daß auch ich mir noch einige leisten könnte. Sie wissen sicherlich, daß ich Ihren Mann seit meiner frühesten Jugend kenne, recht gut übrigens. Aber Sie sollten keine falschen Folgerungen daraus ziehen.« »Es soll doch vorkommen, daß sich Zuneigung in Abneigung verwandeln kann und Liebe in Haß.« Und Frau Siegert, die immer noch geschwächt war, sagte das tapfer und zutraulich zugleich. Sie glaubte zu spüren, daß die Frau, die vor ihr saß, bei all ihrer Robustheit ein Mensch war, mit dem man offen reden konnte. Und sie hatte allzulange Zeit einen derartigen Menschen entbehren müssen. »Es scheint tatsächlich so«, sagte Mutter Golder, »daß Sie zuviel allein sind und dabei schlechte Romane lesen. Von wegen: junge Liebe - alter Haß! Das ist ein Unsinn, den sich nur Menschen mit viel unausgefüllter Freizeit ausbrüten können. Natürlich ist mir Ihr Mann nicht gleichgültig - aber Sie glauben doch nicht etwa im Ernst, daß bei einer Begegnung mein altes Herz schneller schlägt?« »Auch Sie sind ihm alles andere als gleichgültig - das steht fest.« Frau Siegert empfand die ruhige Gelassenheit ihrer Besucherin wie einen Vorwurf; und sie, die sich ruhelos fühlte, -205-
begann diesen Menschen, dem es offenbar gelang, mit allem fertig zu werden, zu beneiden. »Mein Mann hat sogar einen dicken Ordner in seinem Aktenschrank, in dem sich ausschließlich Unterlagen, Briefe, Zeitungsausschnitte und ähnliche Dinge befinden, die sich mit ihnen und ihrer Familie befassen.« Mutter Golder lachte laut, doch nicht sonderlich herzhaft. »Das sieht ihm ähnlich«, sagte sie. »Er ordnet selbst seine abgelegten Gefühle. Die großen Gedankenflüge von gestern sind zum Aktenstück geworden. Und Sie wußten wirklich nichts Besseres, als in seinem Aktenschrank herumzuwühlen, wo Sie dann auch prompt die Quittung für Ihre Neugier fanden.« »Es war nicht Neugier«, verteidigte sich Frau Siegert schwach, »es war Sorge.« »Es war vermutlich Langeweile, die Sie dazu verleitete!« stellte Mutter Golder fest. »Sie können mit sich allein nichts anfangen das wird es sein! Erst waren Sie seine Sekretärin; Sie haben den ganzen Tag für ihn geschuftet und die ganze Nacht an ihn gedacht. Dann hat er Sie geheiratet, und plötzlich hatten Sie keine Arbeit mehr, die Sie ausfüllte. Vermutlich war es die Wirtschafterin, die sie Ihnen abnahm. Aber Ihre Gedanken an ihn und über ihn blieben - Sie hatten nur viel mehr Zeit dazu als jemals vorher. Viel zuviel Zeit!« Frau Siegert senkte den Kopf; ihre Hände lagen still nebeneinander auf ihren Knien. »Das ist schon möglich«, gab sie zu. »Er hätte Sie heiraten und weiter als seine Sekretärin beschäftigen sollen. Oder noch besser: Er hätte seine Wirtschafterin zum Teufel jagen sollen; aber vielleicht hat er auch erwartet, daß Sie das tun würden. Zumindest wohl wäre es notwendig gewesen, dieser Person den Platz anzuweisen, auf den sie gehört.« »Ich wollte keinen Streit«, sagte Frau Siegert schwach. »Sie -206-
gingen einer unvermeidlichen Auseinandersetzung aus dem Weg - das rächt sich meistens. Statt dessen brüteten Sie Ihre dunklen Gedanken aus. Wohin das führen kann, sehen Sie jetzt. Aber Sie können ja nicht einmal richtig sehen. Machen Sie ruhig Ihre Augen auf und betrachten Sie mich - und was sehen Sie? Einen abgearbeiteten Karrengaul! Ich habe sieben Kinder geboren und mich mit ihnen dreißig Jahre herumgeschlagen. Ich bin noch nicht fünfzig Jahre alt, aber ich bin breit und behäbig geworden. Meine Füße sind jeden Abend geschwollen, die Hände schmerzen, und mein Haar ist fast grau; zum Lesen brauche ich eine Brille; das Aufstehen fällt mir immer schwerer; ich habe stechende Schmerzen im Kreuz, und von Zeit zu Zeit wird mir schwindelig, besonders dann, wenn ich eine ganze Nacht durchgearbeitet habe. Kind - ich bin doch keine Frau mehr, um die sich Männer bemühen.« »Auch ich werde alt«, bemerkte Frau Siegert trostlos. »Das ist unvermeidlich«, sagte Mutter Golder, »es kommt darauf an, wie man sich damit abfindet.« »Sie haben ein erfülltes Leben hinter sich!« »Wieso?« fragte Mutter Golder gelinde empört zurück. »Wie kommen Sie auf die absurde Idee, daß ich mein Leben schon hinter mir habe? Und was Sie erfülltes Leben nennen, das ist doch weiter nichts als ein selbstverständliches Leben.« »Mir ist es nicht gegeben.« »Nein«, grollte Mutter Golder, »Ihnen nicht und hunderttausend anderen auch nicht. Sie gehören zu den Unzufriedenen, die im Grunde weiter nichts als innerlich leer sind, ausgehöhlt oder unausgefüllt. Und wenn ein Mensch erst soweit ist, dann beginnt er sich suchend umzusehen. Und was sieht er? Eine Menge anderer Menschen, die reicher sind als er, mächtiger, beliebter - er sieht nicht etwa solche, die mehr geliebt werden, natürlich nur von einem Menschen; die sieht man nicht, die interessieren auch gar nicht. Ein eigenes Haus, einen Wagen, -207-
einen Mann, der Direktor ist - alles das hat man erreicht, aber es genügt natürlich nicht! Ein Fetzen Sehnsucht flattert immer um eine Nasenlänge voraus. Und wenn man mächtig wäre wie ein Diktator, umschwärmt wie ein Filmstar, reich wie ein Ölmillionär: es würde immer noch nicht genügen!« »Sie irren sich in mir«, sagte Frau Siegert. Mutter Golder schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich spreche jetzt als die Mutter von Gustav«, sagte sie rauh. »Was wissen Sie davon?« fragte Frau Siegert matt. »Nicht mehr, als was die ganze Stadt weiß - aber das, finde ich, ist mehr als genug!« Mutter Golder setzte sich zurecht. Und jetzt war es, als throne sie auf ihrem Sessel, Abstand gebietend, fordernd, doch nicht ungnädig. »Ihren Sohn Gustav schätze ich sehr«, sagte Frau Siegert und sah dabei Mutter Golder um Verständnis bittend an. »Er hat mir oft Gesellschaft geleistet, sich mit mir unterhalten und mir vorgelesen. Er hat ungewöhnlich gute Manieren, er ist gebildet und besitzt zeichnerisches Talent. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, zu studieren.« Ehrliches Erstaunen breitete sich auf Mutter Golders großflächigem Gesicht aus. Sie beugte sich ein wenig vor, als sei dringend geboten, keins von den Worten der Frau Siegert zu verlieren. »Wenn man Sie so reden hört, könnte man fast glauben, daß Sie ein ahnungsloser Engel sind. Aber von Gustav habe ich bis vor wenigen Tagen genau dasselbe geglaubt - und der ist immerhin mein Sohn.« »Gustav ist ein rührender Mensch. In ihm ist die Sehnsucht nach den großen und guten Dingen. Er ist von zartem Gemüt und leidet sehr unter der Rauheit des Lebens. Er wollte mir immer wie ein jüngerer Bruder erscheinen; ich habe keine Geschwister, müssen Sie wissen, aber ich habe mir immer welche gewünscht. Gustav war für mich die Erfüllung einer Sehnsucht. Er bedeutet mir viel. Man muß ihn ja auch gern -208-
haben.« »Gustav ist doch noch ein Kind!« »Aber nein«, sagte Frau Siegert versonnen. »Gustav ist den Jungen seines Alters weit voraus.« »Vielleicht können Sie das besser beurteilen als ich«, sagte Mutter Golder. »Und Ihr Mann glaubt sogar ganz genau zu wissen, was mit Gustav los ist und welchen Reifegrad er bereits erreicht hat. Ihr Mann sah sich nämlich veranlaßt, eine Anzeige gegen Gustav zu erstatten. Wegen Ehebruch!« Frau Siegert hob erschreckt den Kopf; ihr Mund blieb offen, ihre Augen waren ausdruckslos. »Nein«, sagte sie tonlos. »Das ist nicht wahr.« »Er hat Ihnen nichts davon gesagt? Er hat es Ihnen nicht einmal angedroht? Hat er Sie niemals aufgefordert, zu diesen Vorgängen Stellung zu nehmen? Oder sind Sie ihm einfach ausgewichen, wie Sie allen Problemen des Lebens ausweichen?« »Das kann nicht wahr sein«, sagte Frau Siegert hilflos. Mutter Golder sah die blasse Frau vor sich prüfend an. Sie brauchte lange Sekunden, ehe sie den Blick von Frau Siegert löste, die sie schnell und heftig atmen hörte. Und dann war es ihr, als beginne die Frau zu weinen, lautlos. Sie sah kurz hin, sah ein tränenüberströmtes Gesicht, ein merkwürdig leeres, regungsloses Gesicht, in dem nichts anderes vorging als das haltlose Dahinfließen der Tränen. Und auch dann änderte sich nichts an dieser Frau, als draußen vor dem Haus ein Wagen vorfuhr und schnelle Schritte über den Kiesweg eilten. Eine Tür wurde aufgestoßen, hastig und rücksichtslos. Siegerts Stimme ertönte; und er sprach nur ein einziges Wort: »Wo?« »Er kommt wie gerufen«, sagte Mutter Golder und erhob sich entschlossen. -209-
Sie ließ die immer noch fassungslos vor sich hinweinende Frau sitzen, ging durch den Raum, Siegert entgegen. Sie stellte ihn in der Halle. Sie stellte sich vor ihm auf und sah ihn herausfordernd an. »Ich entsinne mich nicht«, sagte Siegert schroff, »dich in mein Haus gebeten zu haben. Aber ich akzeptiere deine Anwesenheit, wenn du gekommen sein solltest, um mit mir zu sprechen.« »Allerdings habe ich mit dir zu reden«, sagte Mutter Golder grob. »Aber das wird vermutlich anders sein, als du dir das vorstellst. Du scheinst den Verstand verloren zu haben.« »Ein derartiger Vorwurf trifft mich nicht«, antwortete Siegert souverän, »schon gar nicht, wenn er von dir kommt. Aber wenn du Streit suchen solltest - bitte, nicht in diesem Haus! Ist dagegen dein Anliegen versöhnende Aussprache, dann stehe ich selbstverständlich zu deiner Verfügung.« »Was erwartest du eigentlich von mir?« fragte Mutter Golder interessiert. »Ich bin durchaus bereit, vernünftig mit dir zu reden aber auf die Knie fallen werde ich nicht.« »Ich verlange keine Gesten - ich erwarte Einsicht und Umkehr.« »Wie stellst du dir das vor?« Siegert hob den linken Arm und winkelte die Handfläche ein wenig nach außen. Damit gab er zu verstehen, daß er ersuche, Platz zu nehmen. Mutter Golder folgte dieser Aufforderung bereitwillig. Siegert rückte sich ebenfalls einen Stuhl zurecht und ließ sich nieder. »Also«, begann er wohlüberlegt, denn seit geraumer Zeit schon hatte er sich auf diese Unterredung gründlich vorbereitet. »Zunächst einmal begrüße ich es, daß du gekommen bist. Ich habe mich also nicht in dir getäuscht. Wie du weißt, bin ich weder nachtragend noch kleinlich. Ich lege darauf keinen Wert darauf, mich um Schuld oder Nicht-Schuld oder Teil-Schuld mit -210-
dir zu streiten. Es geht mir lediglich um Tatsachen.« »Und mir geht es darum, diese lächerlichen Auseinandersetzungen endlich zu beenden.« »Das aber«, sagte Siegert, »ist nur möglich, wenn einige ganz bestimmte, mich sehr schmerzende Tatsachen in meinem Sinne bereinigt werden.« Er spürte mit Genugtuung Mutter Golders Bereitwilligkeit, fand sie wirklich erfreulich. Er wähnte sich nahe seinem Ziel. »Ich darf also meine Forderungen stellen.« »Stellen kannst du sie schon«, erwiderte Mutter Golder warnend. Siegert war seiner gerechten Sache sicher und glaubte an deren Sieg. Und da er nie daran gezweifelt hatte, daß er sich am Ende durchsetzen werde, überhörte er das heimliche Grollen, das in Muter Golders ruhig klingender Stimme mitschwang. »Also«, verkündete er, »erstens: Dein Sohn Emil hat sich bei mir für sein flegelhaftes Benehmen zu entschuldigen. Und zwar ist diese Entschuldigung schriftlich niederzulegen und mir persönlich zu übergeben.« »Das mußt du mit meinem Sohn Emil ausmachen«, sagte Mutter Golder ruhig. »Der ist großjährig und für sich selber verantwortlich. Aber wenn es dich beruhigt, dann werde ich mit ihm sprechen. Genügt denn nicht, wenn er sich mündlich bei dir entschuldigt, mit ein paar Worten - meinetwegen in Gegenwart von Zeugen?« »Das könnte, unter Umständen, genügen«, gab Siegert zu, wobei er unüberhörbar deutlich machte, wie großzügig er doch sei. »Der nächste Punkt wäre eine Entschuldigung deines Sohnes Otto.« »Was soll der denn angestellt haben?« fragte Mutter Golder ehrlich verwundert. »Er hat«, sagte Siegert mit immer noch nachklingendem Zorn, »die Stromzufuhr einfach unterbrochen, und zwar heute -211-
nachmittag. Dabei hat er einen Schaden angerichtet, der bei mir in die Tausende geht. Aber, um endlich meine Ruhe zu haben, bin ich sogar bereit, auf jeden Schadensersatz zu verzichten. Allerdings muß gewährleistet sein, daß derartige Dinge in Zukunft unterbleiben.« »Du bist nicht gerade maßvoll in deinen Forderungen«, sagte Mutter Golder mit funkelnden Augen. »Du willst Emil ausschalten und Otto festlegen. Sodann verlangst du womöglich von Gustav eine eidesstattliche Erklärung und von mir die Versicherung, daß ich mich mehrfach geirrt habe, beziehungsweise verhört habe. Und vermutlich sollen dann noch meine Töchter schriftlich bestätigen, daß sie nie den Versuch machen werden, deinen Sohn zu verführen.« »Du übertreibst«, sagte Siegert verärgert. »Du mußt mir doch zugestehen, daß meine Forderungen in Anbetracht der Sachlage gerechtfertigt sind. Vermutlich stößt du dich an meinem Prinzip der Sicherungen - gerade darauf aber muß ich bestehen. Und ich brauche wohl nicht zu versichern, daß keine der abzugebenden Erklärungen mißbraucht werden wird. Dafür bürgt doch meine mehrfach dokumentierte und dir hinreichend bekannte Lebensauffassung.« »Vermutlich ist dir das Aktenstück, das du über mich und meine Familie angelegt hast, noch nicht dick genug. Ich liebe diese Dinge nicht, Siegert; ich habe nicht das mindeste Verständnis dafür. Ich mache dir aber einen anderen Vorschlag, der mir mehr liegt: Bereinigen wir alles, jeder auf seine Weise und jeder in seinem Bereich. Ich verspreche dir, daß ich mein Möglichstes tun werde. Ich setze meine ganze mütterliche Autorität ein, und den Rest bewältigst du mit deinem großen Einfluß. Ist das erledigt, vergessen wir alles.« »Unmöglich!« rief Siegert empört. »Und wenn ich dich darum bitte, Siegfried?« »Das kommt nicht in Frage«, sagte Siegert unumstößlich -212-
überzeugt. »Dann«, sagte Mutter Golder leise, »müssen wir eben warten, bis einer von uns beiden zugänglicher werden wird.«
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Dieser Tag, fand Margarete, war geradezu unverschämt schön. Die Sonne leuchtete, die Luft war angenehm warm, und die Erde duftete stark und gesund. Und Rita fragte sich, ob wohl zu Siegerts Haus, das ja möglicherweise einmal ihr Haus sein könnte, ein Schwimmbassin gehöre. Sie schaukelte die Hebammentasche ihrer Mutter in kühnen Schwüngen an ihrem zierlichfesten Körper vorbei. Sie hatte den Auftrag, diese Tasche zu einer gewissen Frau Sielenmeyer in der Burggrabengasse zu tragen, ihrer Mutter voraus. Und die gescheite Rita, die abwechselnd mit ihrer Schwester Susanne oftmals derartige Gänge machen mußte, hatte schnell herausbekommen, daß hier nicht etwa Bequemlichkeit im Spiel war, sondern daß Mutter schon wieder einmal darauf aus war, ihren Töchtern eine Lektion zu erteilen: Sie gab ihnen nämlich so die Gelegenheit, andere Menschen, andere Anschauungen und andere Wohnungen kennenzulernen. Margarete hatte sehr bald herausgefunden, daß dieser Einfall ihrer Mutter, wie manch anderer auch, besonders dafür geeignet war, bemerkenswerte Maßstäbe aufzustellen. Mutter gewährte ihnen Einblick in Zustände, an denen gemessen ihr eigenes so überaus bescheiden erscheinendes Leben fast üppig anmutete. Rita konnte sich ungefähr denken, was sie diesmal antreffen würde; ein Wohnloch und darin eine tierhaft dreinblickende Frau, die auf das Hereinbrechen der nächsten Wehen wartet; Armut und Schmerz. Was Margarete jedoch in dem bezeichneten Haus vorfand, war ein noch junger, stabiler Mann. Der stand mitten in der scheußlich verwahrlosten Küche an einem weißgedeckten Tisch und schien hier Instrumente zu ordnen. »Sie sind doch nicht etwa die Hebamme Golder!« rief der Jüngling, den Rita sofort als munter, frech und überheblich registrierte. »Ich bin deren Tochter«, erklärte Margarete unfreundlich. -214-
»Und wer sind Sie?« »Doktor Bächler, praktischer Arzt und Geburtshelfer. Ein Mitarbeiter Ihrer Frau Mutter, wenn Sie so wollen; und wenn Sie Wert darauf legen: der Ihre auch.« »Dann sind Sie also«, stellte Margarete wenig freundlich fest, »der bewußte neue junge Mann, der alles besser weiß.« »Ich registriere nicht ohne Genugtuung«, behauptete Bächler feixend, »daß man bereits von mir zu rühmen gewußt hat.« Margarete betrachtete ihn herausfordernd. »Wenn Sie das rühmen nennen, dann verwechseln Sie eine Laus mit einer Schildkröte. Aber Ihnen ist das ohne weiteres zuzutrauen. Ihre Diagnosen sollen ja ausgesprochene Heiterkeitserfolge sein.« »Ganz erstaunlich«, sagte Dr. Bächler, »und sehr bezeichnend: Ihre Frau Mutter verwendet also dienstliche Geheimnisse, um mit ihnen das allabendliche Familiengespräch zu würzen.« »Sie erzählt gelegentlich mal einen Witz aus dem tatsächlichen Leben - ist das etwa verboten? Und bei uns wird gerne gelacht.« Margarete musterte Bächler mißtrauisch. Sein Hinweis auf die fragwürdige Verwendung angeblicher Dienstgeheimnisse zum Zweck familiärer Belustigungen machte sie vorsichtig. »Wenn es Sie beruhigt«, sagte sie deshalb, »dann will ich Ihnen mitteilen, daß ich gelegentlich Mutter helfe und vielleicht sogar einmal deren Beruf ergreifen werde.« Das stimmte keinesfalls, aber Margarete gelang es beinahe, gelassen dreinblickend, ihm das glaubhaft zu machen. Sie hielt einen derartigen Hinweis für klug. Einer einzigen Bemerkung ihrer Mutter, die sie mitgehört hatte und die ausschließlich an Vater gerichtet gewesen war, hatte sie nämlich entnommen, daß sich dieser Dr. Bächler wenig erfreulich aufzuführen schien. Der Anblick dieses herablassendselbstbewußten Jünglings bestätigte diese Vermutung nur. Sie stellte Mutters Hebammentasche auf den Tisch und wollte gehen. -215-
»Sie erlauben«, sagte Dr. Bächler geschäftig. Und er wartete gar nicht ab, bis er eine entsprechende Erlaubnis erhalten hatte, er griff nach der Hebammentasche und zog sie zu sich. Er öffnete sie mit zwei geschickten Griffen und sah hinein. Margarete, die nicht zu erkennen vermochte, was Bächler eigentlich vorhatte, trat interessiert näher. »Wenn Sie gut aufpassen«, sagte er ein wenig gnädig, »dann können Sie gleich bei dieser Gelegenheit einiges zulernen. Dabei leuchtet es mir aber gar nicht ein, warum ausgerechnet Sie Hebamme werden wollen. Meinen Erfahrungen nach hängt die Wahl des Berufes einer Hebamme meist mit gewissen Komplexen zusammen. Es ist, milde ausgedrückt, ein Jungfernberuf - verstehen Sie mich? In ihm wird nicht selten die heimliche und unerfüllt gebliebene Sehnsucht nach Kindern abreagiert.« Margarete betrachtete diesen munteren Jüngling mit wachsendem Erstaunen. Der war ja, fand sie, noch weit herausfordernder, als das Mutter Vater gegenüber angedeutet hatte. Der benahm sich hier wie ein Roß auf grüner Weide und schlug unbekümmert Zaunpfähle um. Er war ihr, davon war sie überzeugt, auf Anhieb von Herzen zuwider. Wenn sie ihn dennoch nicht sofort stehenließ und davonging, so nur, um zu erleben, wie weit dieser Bursche noch aus sich herausgehen würde. »Sie«, sagte Margarete herausfordernd sanft, »der Sie doch ein Arzt sind, scheinen ganz übersehen zu haben, daß selbst Sie einmal Vater sein könnten. Ich vermag mir das zwar nur sehr schwer vorzustellen, aber möglich ist ja schließlich alles. Was fangen Sie armer Mann aber dann mit Ihren Theorien an?« »Sie vermuten doch nicht etwa bei mir landesübliche Gefühle«, sagte Robert Bächler bedenkenlos und gewillt, ihr zu imponieren. »Mit diesen Sentimentalitäten aus dem vorigen Jahrhundert werden Sie bei mir nicht landen. Für mich ist die Geburt ein biologischer Vorgang, nichts sonst; eine Zeugung -216-
übrigens auch.« »Sie sind ein Ferkel!« rief Margarete empört. »Sie sind viel schlimmer, als meine Mutter das jemals vermutet hat.« »Wir werden schon herausbekommen«, sagte Bächler, den diese massiven Vorwürfe nicht unbeeindruckt gelassen hatten, »wie weit meine Vermutungen zutreffen. Denn Ihre Frau Mutter und ich, wir scheinen uns beide ziemlich gleich einzuschätzen.« Er sah in Frau Golders Hebammentasche hinein, versenkte seine Hände darin und begann zu wühlen. Bächler fand eine Flasche mit einer bläulichbraunen Flüssigkeit, studierte deren Etikett und hielt sie dann gegen das Licht. Er betrachtete sie mehrere Sekunden; dann schüttelte er, offensichtlich mißbilligend, den Kopf. Hierauf entnahm er einem Paket knirschende Watte, zupfte sie auseinander und roch daran. Schließlich zerrte er ein Gummituch aus der Tasche, entfaltete es und fuhr mit seinen Fingerspitzen prüfend darüber. »Es ist kaum zu glauben«, sagte er schließlich. »Das finde ich auch«, stellte Rita höchst unfreundlich fest. »Was geht Sie eigentlich Mutters Tasche an?« »Sehr viel«, sagte Bächler. »Schließlich bin ich Arzt.« »Sie brauchen das nicht andauernd zu betonen, es wird dadurch nicht einleuchtender.« Margarete schien gewillt, ihre Empörung unmißverständlich deutlich zu zeigen. »Jedenfalls habe ich Ihnen nicht die Erlaubnis gegeben, in Mutters Tasche herumzuschnüffeln.« »Ich habe nicht herumgeschnüffelt! Ich habe lediglich ein paar Feststellungen getroffen, die meine Vermutungen vollauf bestätigen.« »Ich werde selbstverständlich meiner Mutter berichten, daß Sie sich an ihrem Eigentum vergriffen haben. Sie werden sich vor ihr verantworten müssen.« »Im Gegenteil«, sagte Dr. Bächler triumphierend, »Ihre -217-
Mutter wird sich vor mir verantworten müssen, wenn nicht sogar vor einer noch höheren Instanz. Denn ihre ganze Tasche ist ein einziger Kramladen. Die Flüssigkeit BS ist alt und abgestanden und bildet schon Flocken; die Watte ist feucht und verfilzt; und das Gummituch ist nach seiner letzten Benutzung nicht gepudert worden.« Margaretes Augen, die dunkel und groß waren, funkelten. Sie war entschlossen, mit welchen Mitteln auch immer, ihre Mutter zu verteidigen. »Die Flüssigkeit BS«, sagte sie, obwohl sie gar nicht wußte, worum es sich im einzelnen handelte, »wird nie gebraucht. Ersatzwatte ist immer ausreichend vorhanden. Und das Gummituch pflegt Mutter erst unmittelbar vor Gebrauch einzupudern.« »Sie haben verdammt schöne Augen«, stellte Robert Bächier überrascht und ganz gegen seinen Willen fest. »Und Sie haben ein großes Schandmaul!« rief Rita unbeherrscht. Sie standen sich ziemlich dicht gegenüber und betrachteten sich erregt. Er sah in ihre Augen; sie sah auf seinen Mund. Erwartungsvolle Stille war um sie. Oben stöhnte die hochschwangere Frau auf; aber keiner von den beiden hörte sie. »Nun gut«, sagte Robert Bächler schließlich und senkte ein wenig seinen Kopf, als habe er nachzudenken. »Warum sollen wir uns streiten. Warum sollte ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten. Es ist besser, Sie bleiben ganz aus dem Spiel.« »Auf mich brauchen Sie keinerlei Rücksichten zu nehmen; Sie nicht!« erklärte Rita streitbar. »Ich habe also vom Inhalt dieser Tasche keinerlei Kenntnis genommen. Ich sehe sogar ein, daß es nicht ganz fair von mir war, sie in Abwesenheit Ihrer Mutter zu durchsuchen. Sie dürfen also unbesorgt sein.« »Geschenke, ganz gleich welcher Art, nehme ich von Ihnen überhaupt nicht an!« Margarete nickte heftig, als müsse sie sich -218-
selbst überzeugen. »Kein Mädchen würde das tun, das auch nur das geringste von Ihren perfiden Anschauungen über Liebe und Ehe weiß. Bei Ihnen scheint es ja tatsächlich nichts anderes als biologische Funktionen zu geben. Und da Anständigkeit nicht dazugehört, wissen Sie auch vermutlich gar nicht, was das überhaupt ist.« »Jetzt hören Sie aber auf!« rief Bächler. Dieses wütende, erregte Mädchen mit den verwirrenden Märchenaugen war durchaus in der Lage, seine ganze mühsam zusammengesammelte Gelassenheit in Gefahr zu bringen. »Verschonen Sie mich, bitte, mit Ihren Phrasen. Und meine Ansichten über Liebe und Ehe gehen Sie gar nichts an. Ich will nichts von Ihnen. Und heiraten werde ich eine von Ihrer Sorte bestimmt nie.« »Weil Sie keine von meiner Sorte kriegen werden!« rief Margarete triumphierend. Dann drehte sie sich von ihm weg, mit einer graziösen Kehrtwendung, die ihre elastische Figur voll zur Geltung brachte. Sie schrie, hocherhobenen Kopfes, zur Tür. Hier verweilte sie zwei Sekunden lang. Dann kehrte sie noch einmal zurück, bis an den Tisch. Sie zwang sich ein spöttisches Lächeln auf und verkündete. Die Tasche nehme ich wieder mit. Ich habe mich nämlich zu Hause geirrt - es ist die alte Tasche, die Mutter schon seit Jahren nicht mehr in Gebrauch hat.« Dann ging sie endgültig und ließ den verblüfften Dr. Bächler allein zurück.
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Otto Golder, der Meister des Elektrizitätswerkes, verspürte das dringende Verlangen, seinen Triumph zu genießen und sich einer gleichgestimmten Seele anzuvertrauen. Er erklärte seine Arbeit für beendet und eilte zu seinem lieben Bruder Emil. Er traf ihn im Schrebergarten der Familie Golder an. Dort saß er, tatenlos und daher unzufrieden, und starrte die Kohlköpfe versonnen an. »Emil«, rief Otto schon von weitem freudig erregt, »ich habe unserem Freund die Luft abgedreht!« Emil horchte angenehm überrascht auf und löste seinen träumerischen Urlaubsblick von den Kohlköpfen in Mutters Garten. »Tatsächlich?« fragte er ein wenig ungläubig und nicht ganz frei von Konkurrenzneid. »Was hast du denn angestellt?« »Ich habe einfach einen Hebel umgelegt«, verkündete Otto. Er genoß die staunende Bewunderung, die ihm Emil entgegenbrachte; in solchen Sachen war der, zumal unter Brüdern, absolut fair. »Für mich war das eine Kleinigkeit - eine Handbewegung nur, und bei Siegert standen alle Räder still.« In Wirklichkeit jedoch lag der Fall wesentlich komplizierter: Eine Schaltweiche war dringend reparaturbedürftig geworden; und ein Blick des erfahrenen Otto hatte genügt, um sofort zu erkennen, daß eine Reparatur die gesamte Stromzufuhr zu den Papierfabriken lahmlegen würde. Otto hätte nun, sogar ziemlich bequem, durch einige Querverbindungen eine Strombrücke herstellen können. Das unterließ er jedoch. Und da er der einzige im ganzen Betrieb war, der derartige Vorgänge beherrschte, bedeutete sein scheinheiliges Achselzucken vor der großen Schaltanlage praktisch nichts anderes als eine kleine Katastrophe für den großen Siegert. »Sieh mal an«, sagte Emil anerkennend. »Da hast du doch tatsächlich so ganz einfach einen Hebel umgelegt. Und jetzt steht die Fabrik unseres lieben Freundes still. Da werden sich aber die Arbeiter freuen! Wann wirst du den Hebel wieder -220-
zurücklegen?« »Nach zwei Stunden etwa - ich glaube, das genügt zunächst einmal. Außerdem habe ich dem Siegert schöne Grüße ausrichten und ihm sagen lassen, er soll sich in Zukunft gefälligst anständiger benehmen. Wenn er weiter in gewohnter Weise sein Licht leuchten lassen wolle, dann müsse ich eben annehmen, daß er auf elektrischen Strom keinen Wert lege. Jawohl, das habe ich ihm sagen lassen!« »Das ist großartig«, stellte Emil mit ehrlicher Bewunderung fest. »Du hast manchmal Gedanken wie ein Admiral. Das müssen wir Mutter erzählen.« »Aber mit Vorsicht«, riet Otto. »Darauf kannst du dich verlassen, das mache ich schon. Schließlich bin ich einer der taktvollsten Menschen von der Welt.« Gemeinsam lachten sie über die reichhaltigen Details, die Otto zu erzählen wußte. Den kurzen Weg vom Schrebergarten zur Golderschen Wohnung legten sie unter angeregten Gesprächen in geringer Zeitspanne zurück. Sie waren sicher, daß sie mächtig angestaunt werden würden, wenn sie ihre Neuigkeiten auspackten. Sie trampelten gemütlich in die Küche, gleich Ochsen, die in den Stall heimkehren, wo sie eine volle Raufe wittern. »Ihr kommt wie gerufen«, sagte Mutter Golder streng. Emil und Otto bremsten ihren vermeintlichen Siegeslauf und blieben vor der Mutter stehen. Die schien gar nicht sonderlich erfreut über den Anblick ihrer ältesten Söhne und bekundete nicht das mindeste Verlangen, sie anzuhören. Und Vater, der danebensaß, spielte schon wieder einmal Familiensphinx; er sah unergründlich und wie immer ein wenig lächelnd vor sich hin. »Dir scheint eine Laus über die Leber gelaufen zu sein, Mutter«, sagte Emil. Er machte damit den Versuch, zu scherzen, was aber nicht sonderlich erfolgversprechend erschien. »Wir -221-
werden dich aber sofort erheitern! Wenn du hörst, was wir dir zu erzählen haben, lachst du dich kaputt; so komisch ist die ganze Angelegenheit!« »Ich habe keine Lust, zu lachen«, sagte Mutter Golder, »schon gar nicht über Dinge, die ihr komisch findet. Stimmt das, Otto, daß du heute nachmittag einfach den Strom abgeschaltet hast?« »Du weißt das schon?« fragte Otto zurück; er war enttäuscht, denn er hatte eine wesentlich andere Reaktion auf seine Glanzleistung erwartet. »Ich habe gute Lust, euch erwachsenen Lümmeln ein paar kräftige Ohrfeigen zu knallen! Ihr seid mir nicht nur zu unternehmungslustig, ihr seid auch reichlich dumm. Wie kannst du es denn wagen, Otto, einfach den Strom abzuschalten! Das ist ein Einfall für Schulkinder, aber doch nicht für ausgewachsene Kerle! Das mindeste, was dir passieren kann, wenn diese Sache aufgegriffen wird, ist fristlose Entlassung.« »So dumm bin ich ja nun auch wieder nicht«, versuchte sich Otto trotzig zu verteidigen. »Es handelte sich tatsächlich um eine Reparatur; und die dauert etwa zwei Stunden. Das ist eine ganz einwandfreie Sache und im Betriebsbuch genau eingetragen.« »Wenigstens etwas«, sagte Mutter Golder. »Und was ist mit dem saudummen Telefongespräch, das du geführt hast - mit Grüße an Herrn Siegert und erpresserischen Andeutungen?« »Es wird sich bestimmt um Mißverständnisse handeln«, behauptete Otto, der unter Mutters Zornesblicken sehr kleinlaut geworden war. »Unsere Telefonapparate im Elektrizitätswerk sind alte Kästen. Ich habe lediglich eine sozusagen amtliche Mitteilung an die Betroffenen ausgegeben. Wenn die nun entstellt weitergeleitet worden ist, kann ich nichts dafür. Soll sich der Siegert seine Ohren waschen oder die seiner Sekretärin!« -222-
»Mit dir, Emil, habe ich immer besonders viel Nachsicht gehabt«, verkündete Mutter Golder. Emil faßte sich schnell. »Ich bin ja auch schließlich dein Lieblingssohn, Mutter«, sagte er mit biederem Seemannsstolz. Und sein Blick war bernhardinerhaft treuherzig, was jedoch diesmal, zu seinem Erstaunen, ohne jeden Einfluß blieb. »Ich habe alle meine Kinder gleich gern«, sagte Mutter Golder entschieden. »Du hast immer nur ein wenig mehr Narrenfreiheit als die anderen genossen.« »Das kommt doch auf dasselbe raus«, sagte Emil unbeirrt. Soviel selbstbewußte Hartnäckigkeit war fast dazu angetan, sogar die zielstrebige Mutter ein wenig zu verwirren. Sie suchte nach einem neuen Anfang für ihre Unterredung mit Emil, ohne ihn zu finden. Sie blickte zu Vater Golder hinüber, und der füllte sofort mit seiner ruhigen, kaum spürbar ironischen Stimme die so entstandene Lücke. »Mein Sohn Emil«, sagte er, »hat mir schon immer besondere Freude bereitet. Er besitzt nämlich erstaunlich viel Fantasie; und das ist eine der liebenswertesten Gaben Gottes.« Emil wußte nicht recht, ob er sich nun freuen sollte oder aber einigen Grund habe, Vaters hintergründige Bemerkung als eine behutsame Warnung zu nehmen. So grinste er denn unentschlossen vor sich hin und stieß, in Ermangelung eines besseren Einfalls, seinem Bruder Otto lausbubenhaft in die Seite. »Daß sich Emil gelegentlich in seinem Urlaub wie die Axt im Walde aufführt, daran haben wir uns langsam gewöhnt.« Mutter Golder hatte sich wieder gefangen und blickte ihren Seemannssohn streng an. »Bisher jedenfalls hat er sich auch darauf beschränkt, seine Dummheiten mit Leuten anzustellen, die für so was empfänglich sind. Jetzt aber habe ich vernommen, daß du angesehene Männer wie Herrn Siegert nicht nur belästigst, sondern sogar bedrohst!« -223-
»Was denn, was denn!« rief Emil unerschütterlich. »Man wird sich doch wohl noch unterhalten können! Und dann höre ich immer angesehener Mann«! Und das ausgerechnet im Zusammenhang mit diesem Siegert!« »Der dich gar nichts angeht!« rief Mutter Golder mit starker Stimme. »Schließlich wollten wir ja doch nur helfen«, sagte Emil und gab zu verstehen, daß er sich beleidigt fühle. »Wir haben es doch nur gut gemeint.« »Emil«, mischte sich jetzt Vater Golder überraschend ein; und seine Stimme klang leise, doch ungewohnt scharf. »Dinge, die allein uns, deine Eltern, angehen, die erledigen wir auch - allein. Dazu brauchen wir keine Kinder.« Emil steckte selbst dieses, wie ihm scheinen wollte, höchst zweideutige Wort von den ›Kindern‹ mit sturmerprobter Gelassenheit ein. Er blinzelte seinem Bruder Otto zu und produzierte eine zum Ausgang hindeutende Kopfbewegung. Otto jedoch reagierte nicht darauf; die geschlossene Front der Alten hatte ihn tief beeindruckt. Schließlich packte Emil seinen Bruder beim Arm und zog ihn zur Tür. »Wir gehen einen saufen!« verkündete er. Die beiden trabten ohne Umweg in ihre Lieblingskneipe. Und hier setzten sie sich in ›Emils Seemannsecke‹, die eigens zu Ehren des Weitgereisten eingerichtet worden war. Ein Rettungsring aus Blech und ein Holzanker standen darauf. Und auf den kreisrunden Tisch hatte Emil persönlich eine herrliche Windrose gezeichnet; die war mit Deckfarbe nachgepinselt und dauerhaft lackiert worden. Sie verlangten Rum. »Aber aus Wassergläsern«, ordnete Emil an. »Ich verstehe unsere Alten nicht«, klagte Otto bewegt. »Sie haben doch allen Grund, zufrieden mit uns zu sein! Aber was ist der Dank? Wir werden abgekanzelt wie die kleinen Kinder! Und das mir, der ich doch bereits ein ganzes Elektrizitätswerk leite!« -224-
»Habe ich dir schon einmal die Geschichte von meinem Kapitän und dem deutschen Konsul in Hongkong erzählt - oder war es Honolulu? Habe ich dir das erzählt?« wollte Emil wissen. »Mutter ist doch sonst nicht so«, sagte Otto abwesend und trank Rum. »Diese Frau hat bisher immer eine Menge Spaß vertragen. Wo soll das bloß enden! Du, ich sage dir: Die Sache ist schlimmer, als wir angenommen haben, viel schlimmer. Da liegt irgendwo ein ganz dicker Hund begraben!« »Also habe ich dir die Geschichte von meinem Kapitän und dem deutschen Konsul doch noch nicht erzählt. Das war nämlich so: Dieser Konsul war ein Armleuchter ersten Ranges und ganz wild darauf, Schwierigkeiten zu machen. Vielleicht war seine Frau daran schuld, mit der sich nichts mehr anfangen ließ; so was macht Männer immer arbeitsam oder unsolide. Vielleicht hatte der Kerl auch nur zuviel Ehrgeiz und wollte bei seinen Vorgesetzten auffallen und befördert werden. Nun, genau dafür haben wir denn auch gesorgt.« »Irgendeine große Schweinerei ist im Rohr! Ich sage dir: Wenn Mutter anfängt, ernst zu werden, dann ist es auch ernst.« »Unterbrich mich doch nicht andauernd, Otto. Laß mich ruhig erst zu Ende erzählen, und dann wirst du wissen, wie man es macht. Denn unser Kapitän, der mich liebte wie einen Sohn, war einer von den ganz Gerissenen; selbst Mutter hätte Gefallen an ihm gefunden. Also, dieser Armleuchter von einem Konsul stänkerte überall herum, natürlich auch auf unserem Kahn, denn schließlich segelten wir unter deutscher Flagge und der Affe erklärte sich für uns als zuständig. Solange wir in diesem Hafen lagen, und das waren immerhin zwei Wochen, kreuzte er jeden Tag auf, produzierte seine Schwierigkeiten, hatte neue Verordnungen ausgekocht oder uralte ausgegraben. Zuerst verbot er uns Lokale, dann ganze Straßenzüge; schließlich ging diese gesprenkelte Wildsau sogar soweit, ein generelles Ausgehverbot auszubrüten.« -225-
»Was hat das denn mit uns zu tun!« warf Otto ungeduldig ein. »Sehr viel! Du wirst gleich erkennen, worauf ich hinauswill. Mehr Rum - eine ganze Flasche! Also: Der Kerl fiel uns mächtig auf den Wecker, und wir ballten unsere Fäuste in den Taschen; aber wir wußten nicht, was der Kapitän zu einem eventuellen Versuch sagen würde, den Hintern des Konsuls mit Hilfe von Tauenden etwas mehr der amerikanischen Nationalflagge anzunähern. Der Kapitän aber - wie gesagt: er war wie ein Vater zu mir - erkannte frühzeitig unser Bestreben. Er versammelte uns alle an Deck und sagte: ›Kerls, unser Konsul ist eine Respektsperson, verstanden; daß ja niemand auf die Idee kommt, ihn über ein Seil stolpern zu lassen, einen Topf Farbe auf ihn zu schütten oder ihn auf seifigem Deck ausrutschen zu lassen. Ist das klar?‹ - Siehst du - so war unser Kapitän.« »Und?« fragte Otto. Er begriff immer noch nicht ganz, worauf sein Bruder eigentlich hinauswollte. »Und, und?« Emil war von soviel Begriffsstutzigkeit schwer enttäuscht. »Verstehst du denn noch immer nicht? Das waren doch hervorragende Ratschläge, die wir dann auch prompt befolgt haben. Sieh mal, so ein Kapitän ist gewissermaßen eine Amtsperson; er kann nicht immer, wie er will - er muß das Gesicht wahren, verstehst du? So wie Mutter und Vater auch das Gesicht wahren müssen. Fällt endlich der Groschen? Denn während der Kapitän das alles sagte, ganz ernst, zwinkerte er uns zu.« »Mutter hat aber nicht gezwinkert«, glaubte Otto feststellen zu müssen. »Weil Mutter gar nicht zwinkern kann!« sagte Emil abschließend. »Aber hat sie nicht wiederholt gesagt: ›Stellt euch nur nicht so dumm an!‹ Und das heißt doch ganz eindeutig: Wenn ihr schon so etwas macht, dann stellt euch klug an! Na, hörst du jetzt die Nachtigall trapsen, Bruder?« Otto nickte mit Eifer; Emils Ausführungen begannen ihm -226-
mehr und mehr einzuleuchten, wobei es nicht zuletzt der Rum war, der diese seine neuartigen Erkenntnisse beflügelte. Friedlich vereint und nunmehr getrost in die nähere Zukunft blickend, tranken sie einander zu. Bald füllte sich ›Emils Seemannsecke‹ mit guten Freunden: Der Spediteur war gekommen, der Postvorsteher, der technische Leiter des Wasserwerks, ein Stadtrat, der Fahrdienstleiter vom Bahnhof und der Besitzer der drei Tankstellen am Ort. Sie rochen an ihren Getränken, brannten dicke Zigarren nieder und lauschten den abenteuerlichen Erzählungen ihres Weltumseglers. Der hatte heute, zur allgemeinen Freude, das Thema ›Hafenkneipen‹ mehr als nur angeschnitten. Die Stimmung stieg stündlich; das war an der Dichte der Qualmwolken, den leeren Flaschen und an dem immer heftiger werdenden Gelächter meßbar. Die maßgeblichen Männer der kleinen Stadt, die Emil umsaßen, fühlten sich auserwählt. Sie kannten sich alle gut, die meisten schon von der Schule her. Sie hatten eine Menge Gemeinsamkeiten, und fast alle fanden, daß ihr Leben nüchtern und grau sei - es wäre eintönig gewesen, hätte es für sie nicht Emil gegeben, den verehrten und bestaunten Emil, der sie bereitwillig an seinen Abenteuern teilnehmen ließ. Kurz vor Mitternacht bekundete Emil sein heftiges Verlangen, endlich wieder einmal ein echtes, heimatliches Volkslied hören zu wollen. Jedermann war bereit, dieses offenbar dringende Bedürfnis Emils zu stillen, und zwar mit erheblicher Lautstärke. Emil verkündete den als geradezu rührend empfundenen Wunsch, dieses Lied in Gottes freier Natur zu vernehmen, unter dem gestirnten Himmel und dem freundlich lächelnden Mond. So zogen sie, Arm in Arm, gemeinsam vor die Stadt. Hier bauten sie sich auf; zufälligerweise gerade dort, wo sich Siegerts Haus befand. Und hier gröhlten sie, auf Emils Wunsch, mit voller Kraft in die sternenklare Nacht das Lied von dem Mädchen, das nicht warten konnte, das lieben mußte, nur weil -227-
der Flieder blühte. »Ich danke euch!« rief Emil gerührt; und er stieß dabei seinen feixenden Bruder Otto warnend in die Seite. »Und jetzt noch das Lied mit dem schönen Text: Sie hat mir die Treue gebrochen! Aber alle fünf Strophen, bitte.«
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»Ich bin gerade dabei«, sagte Siegert zu seinem Sohn, »eine private Bilanz, lediglich für den internen Familiengebrauch, zu ziehen.« Sie schritten nebeneinander von Fabrikhalle zu Fabrikhalle und waren gerade bei den großen Holländern angelangt. »Wie hoch würdest du den Wert der fünften Maschine ansetzen?« »Fünfunddreißigtausend«, sagte Siegfried sachverständig und ohne länger nachdenken zu müssen, »Ich habe sie mit dreißigtausend in meinen Listen eingezeichnet«, sagte Siegert zufrieden. Und er legte seine linke Hand auf den rechten Arm seines Sohnes, fast als bedürfe er einer Stütze. Das geschah vor allen Arbeitern, die ihren Brotgeber mißtrauisch, aber unauffällig zu beobachten pflegten, wenn er in ihre Bereiche eindrang. Und das geschah auch in Gegenwart des ersten Maschinenmeisters, der prompt diese Geste genauso deutete, wie sie gedacht war: Er behandelte beide Siegerts gleichermaßen respektvoll. »Meine Schätzung«, sagte Siegfried, den diese Demonstration des Vertrauens nicht wenig befremdete, »ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen.« »Ich halte sie für absolut korrekt«, versicherte Siegert. »Und sie beweist mir erneut, daß du in den letzten Jahren viel gelernt hast. Wenn meine Schätzung darunter liegt, und das ist sicherlich bei allen von mir aufgestellten Summen der Fall, dann geschieht das doch nur, um meine persönliche Bilanz unter keinen Umständen aufzubauschen. Der gute Kaufmann rechnet genau; der kluge und weitsichtige Kaufmann aber darf seine Passiva niemals unterschätzen und seine Aktiva unter keinen Umständen überschätzen.« Siegfried folgte mit reichlich unklaren Gefühlen dem Vater, der verließ den Raum mit den Holländern und Entwässerungsmaschinen und ging auf die langen Hallen zu, in denen die neuen Langsiebmaschinen untergebracht waren. »Ich trage mich mit dem Gedanken«, sagte Siegert, »eine ganze -229-
Ersatzserie wichtiger Einzelteile zu kaufen und einzulagern, in Besonderheit für die Gautschpresse.« »Vorratswirtschaft frißt Kapital«, sagte Siegfried. »Unsere Finanzlage ist zur Zeit so günstig«, erklärte Siegert, »daß vorausschauende Anschaffungen so gut wie Spargelder sind, denen keinerlei Währungsschwankungen gefährlich werden können.« Siegfried nickte zustimmend. Dann aber sagte er: »Wenn auch kaum neue umwälzende Erfindungen für unseren Fabrikationszweig zu erwarten sind, so scheinen doch die technischen Fortschritte der Amerikaner recht interessant zu sein: Kapazitätssteigerung, Raumersparnis durch Verkürzung des Trockenvorgangs und Vereinfachung in der Bedienung.« »Willst du auf ein paar Monate nach Amerika fahren?« fragte der alte Siegert unvermittelt. Siegfried stutzte; er sah seinen Vater überrascht an, wobei er schnell und nicht sonderlich angestrengt nachdachte. »Vielleicht später einmal«, sagte er dann, »wenn wirklich der Ankauf neuer Maschinen für uns in Frage kommen sollte.« Siegert sagte hierzu nichts. Er schritt mit Siegfried die lange Papierbahn entlang, am Kalander vorbei, zu den Endtrommeln hin, die surrend rotierten. Siegert legte seine Hand auf das gleitende Papier; und es schien fast, als läge in dieser Geste geheime Zärtlichkeit. »Ausstoß normal?« fragte er einen Arbeiter. Ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, denn das wäre ein Verstoß gegen die bestehenden Verordnungen gewesen, antwortete der: »Ausstoß normal, Herr Direktor.« Siegfried spürte immer deutlicher, daß dieses Schauspiel direktorialer Intensität, das ihm sein Vater völlig überraschend seit nahezu drei Stunden bot, einen gewichtigen Hintergrund haben müsse. -230-
Direktor Siegert schritt nunmehr seinem Bürohaus zu. Er benutzte aber nicht den Sondereingang, der unmittelbar in seine Räume führte, sondern er hielt sich zunächst, immer von Siegfried begleitet, in der Buchhaltung auf, dann im Transportbüro, dann in der Versandabteilung. Überall stellte er Fragen, sah Belege durch, blätterte in der Korrespondenz. »Meine Leute«, sagte Siegert, als sie in seinem Büro angelangt waren, »lieben mich nicht, aber sie schätzen mich. Für Gefühle vergeuden wir keine Zeit; ich gefalle mir weder in der Pose eines Wohltäters noch habe ich Herrenallüren. Ich habe die Sachlichkeit als reibungsloseste Form des Verkehrs zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erkannt. Jede Leistung hat ihren Preis, und kluge Sozialfürsorge gehört ganz selbstverständlich dazu.« »Es geht natürlich auch anders«, sagte Siegfried bewußt herausfordernd; denn nur so glaubte er, den Beweggründen näherzukommen, die zu diesem denkwürdigen Nachmittag geführt hatten. »Trinkst du Kaffee oder Tee?« fragte Siegert seinen Sohn höflich. Der begehrte, nach kurzem Zögern, eine Tasse Tee zu trinken. Er empfand das Verlangen nach einem doppelten Kognak, wußte aber, daß es völlig zwecklos war, derartiges zu fordern; denn Siegert duldete in seinem Betrieb keinen Alkohol, auch nicht zum ›Begießen‹ von Geschäftsabschlüssen. Wohl war er ein Freund guter Weine, und er lehnte auch die kurzen, scharfen Getränke nicht ab - das jedoch nur außerhalb seiner Fabrik. Siegert bestellte bei seiner Sekretärin zwei Tassen Tee, was sein Sohn Siegfried mit abermaligem Erstaunen quittierte; denn ansonsten pflegte der Vater im Büro nur Kaffee zu trinken. Weiterhin war bemerkenswert, daß Siegert nicht etwa auf seinem Direktorstuhl sitzen blieb, sondern neben seinem Sohn in der Konferenzecke Platz nahm und dann sogar soweit ging, ihm -231-
eine seiner Privatzigarren anzubieten. Sie rauchten schweigend; der Vater mit gutgetragener Würde, der Sohn mit steigender Erwartung. Dann tranken sie einen Schluck Tee. Als sie die Tassen abgesetzt hatten, klingelte Siegert noch einmal seine Sekretärin herbei und gab ihr die Anordnung: »Sorgen Sie bitte dafür, daß wir in der nächsten Stunde nicht gestört werden.« »Du scheinst wichtige Dinge mit mir besprechen zu wollen, Vater? Sollte ich etwa, deiner Meinung nach, irgendeine Dummheit begangen haben?« »Wir alle«, sagte Siegert gewichtig, »sind nicht frei von Torheit. Im Geschäft kosten törichte Taten Geld, im Privatleben zumeist nur Nerven; manchmal aber auch mehr, viel mehr. Auch ich habe sicherlich eine Menge Dummheiten hinter mich gebracht; von einigen aber bin ich bewahrt worden - durch meinen Vater, durch meine Mutter, durch meine Frau, die deine Mutter war und die leider so früh starb.« »Und vor welchen Dummheiten willst du mich bewahren?« fragte Siegfried hellhörig. Siegert lächelte väterlichnachsichtig, ohne selbst dadurch die ferne Müdigkeit, die in seinen Augen lag, ganz verdrängen zu können. »Als ich so jung war wie du«, sagte er, »war ich wohl nicht wesentlich anders. Du kennst vermutlich die Geschichte zwischen der jetzigen Frau Golder und mir, die ich mir damals geleistet habe - die ganze Stadt hat sie niemals vergessen und ist jetzt gerade wieder dabei, sie aufzuwärmen. Womit soll ich mich heute entschuldigen, wenn nicht mit meiner Jugend? Und du weißt auch sicherlich, was mir neuerdings mit meiner zweiten Frau passiert ist. Diesmal allerdings könnte ich mich eigentlich nur noch mit meinem zunehmenden Alter entschuldigen ...« »Ich habe deine zweite Frau nie gemocht«, sagte Siegfried mit der ganzen Ehrlichkeit seiner Jugend, »aber das war wohl, -232-
Mutters wegen, ganz selbstverständlich oder doch erklärlich. Jetzt aber tut sie mir leid. Ich halte sie nicht für unanständig, Vater.« Siegert vermied es, seinen Sohn anzusehen. Er griff nach seiner Tasse Tee, trank aber nicht davon. »Du warst es«, sagte er bedächtig, »der diesen Gustav Golder in unser Haus gebracht hat. Ein junger Mensch, fast noch ein Kind ... Verstehe mich recht: Ich erhebe keinen Vorwurf gegen dich; wenn ich auch eine Zeitlang glaubte, Grund dafür zu haben. Das war ein Irrtum, und ich habe ihn eingesehen. Ich versuche auch meine Frau zu verstehen; ihr zu verzeihen, wird mir allerdings kaum jemals möglich sein. Bei diesem jungen Golder scheint es sich um einen außerordentlich angenehm wirkenden Menschen zu handeln, der zu allem Oberfluß wohl noch das Fluidum des Genialischen hat. Ich vermag mir durchaus vorzustellen, daß für solche Wesen eine Frau heftige Zuneigung empfinden kann zumal dann, wenn es ihrem Mann nicht gegeben war, ihr Dasein sinnvoll auszufüllen.« »Ich kann das nicht glauben, Vater.« »Ich bin gewiß nicht schuldlos an dieser Entwicklung«, gestand Siegert ein, unnachsichtige Selbsterkenntnis demonstrierend. »Meine Schuld besteht darin, daß ich nicht erkannt habe, daß die von mir geheiratete Frau keine tiefere Bindung an mich besaß. Die Voraussetzung, allen Versuchungen zu widerstehen, war somit nicht gegeben - und wer wohl wollte behaupten, daß ein Leben ohne Versuchung denkbar sei?« »Warum erzählst du mir das alles, Vater? Über diese Dinge habe ich mir niemals unruhige Gedanken gemacht. Es waren deine ganz persönlichen Probleme, und ich wußte, daß du sie lösen würdest auf deine Art. Und ich bin sicher, daß es die einzig richtige Art ist für dich.« Siegert lächelte jetzt wieder ein wenig. »Du scheinst mir -233-
heute beweisen zu wollen, mein Sohn, daß ich mich nicht in dir getäuscht habe. Aber etwas anderes habe ich auch niemals erwartet. Nur hat mich, mit aller Ehrlichkeit, mein Versagen bei meiner zweiten Frau mißtrauisch gegen mich selbst gemacht. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um ein Versagen als Mensch, Mann und Hausvater; allein mein Versagen bei der Wahl dieser Frau ist es, das ich unentschuldbar finde. Wenn aber mein einst so gesunder Instinkt im privaten Bereich nicht vollwertig reagiert, dann muß ich auch fürchten, im Geschäft Fehler zu machen. Und deshalb, mein Sohn, gedenke ich, dich jetzt schon an der Leitung meiner Fabrik gleichberechtigt zu beteiligen.« »Du bist doch nicht alt, Vater!« rief Siegfried spontan. »Du hast noch zwanzig, dreißig arbeitsreiche Jahre vor dir!« »Ich fühle mich jetzt manchmal sehr allein«, sagte Siegert leise. »In Besonderheit wohl, weil meine Frau derartig niederschmetternd versagt hat. Ich brauche jemanden, dem ich voll vertrauen kann.« »Du kannst mir vertrauen«, sagte Siegfried herzlich. »Aber es soll dennoch in der Fabrik alles so bleiben, wie es ist. Wenn du mich trotzdem hier und dort zu Rate ziehst, werde ich mich aufrichtig freuen. Aber im übrigen will ich mich in erster Linie auch weiterhin gründlich vorbereiten und meine Kenntnisse vervollkommnen.« »Ich akzeptiere deine Vorschläge«, sagte Siegert, ein wenig allzu bereitwillig. Er warf einen kurzen, prüfenden Seitenblick auf seinen Sohn und glaubte feststellen zu können, daß er nach wie vor ahnungslos und gutmütig war; eigentlich zu gutmütig, dachte Siegert nicht sonderlich befriedigt. »Jedenfalls«, fuhr er eilig in seiner Erklärung fort, »mußt du stets daran denken, daß mein Vermögen und meine Fabrik einmal dir gehören werden. Du bist der nächste Siegert. Und was du auch tust, vergiß dabei niemals, daß es Einwirkung haben kann auf unser Werk und unsere Familie.« -234-
»Wie soll ich das verstehen?« fragte Siegfried. Er war unangenehm berührt und hatte plötzlich das Gefühl, daß sein Vater möglicherweise eine wohlvorbereitete Vorstellung gegeben haben könnte, mit ganz eindeutigen Absichten. »Heißt das etwa, daß ich zum Beispiel kein Mädchen aus einfachen Kreisen heiraten dürfte?« »Du kannst heiraten, wen du willst«, beeilte sich Siegert zu versichern. »Sie kann armer Leute Kind sein, sie muß keine höhere Schulbildung haben, sie braucht von Geschäften, von Repräsentation und von sonstigen mehr oder weniger erlernbaren Dingen nichts zu verstehen. Die Hauptsache ist immer, du liebst sie und sie liebt dich! Daß sie von angenehmem Äußeren sein wird, setze ich bei dir als selbstverständlich voraus. Geld jedenfalls ist Nebensache; Geld haben wir selber. Aber du hast ja noch sehr viel Zeit; und du wirst schon die Richtige finden.« »Und wenn ich sie bereits gefunden hätte, Vater?« Siegert sah jetzt seinen Sohn fest und fordernd an. Nach längerem, vieldeutigem Schweigen sagte er: »Eine Golder darf es natürlich nicht sein.« »Und warum nicht, Vater?« »Ganz einfach: Weil du mein Sohn bist! Wir verstehen uns doch! Wir wissen, daß Sohn und Vater eine untrennbare Einheit sind; besonders in unserem Fall, in dem es um mehr geht als nur um die Befriedigung persönlicher Wünsche. Du wirst mich immer verständnisvoll und nachgebend finden, Siegfried, das habe ich dir auch wiederholt bewiesen. Aber es gibt eine Ausnahme, eine einzige: diese! Zwischen mir und den Golders klafft ein unüberbrückbarer Abgrund.« »Du verlangst also von mir«, fragte Siegfried schwer, »daß ich mich entscheide?« »Ich verlange zunächst nichts anderes von dir, als daß du nachdenkst«, sagte Siegert eindringlich. »Nichts weiter -235-
vorläufig. Laß dir Zeit, nicht zuviel Zeit allerdings, und überlege alles gründlich. Ich weiß jetzt schon, wie du dich entscheiden wirst. Denn zu erwarten, daß du gegen deinen Vater Partei nimmst und ein Lebenswerk leichtfertig verschenkst, wäre doch wohl absurd.« »Du stellst dir das so einfach vor, Vater«, sagte Siegfried bedrückt. Er erhob sich und stand wie verloren da, mit hängenden Armen. Und er lächelte hilflos, als bäte er um Verzeihung, sei jedoch im gleichen Atemzug überzeugt, daß er sie nicht erhalten werde. »Ich glaube«, sagte er sodann, »daß man für eine Frau alles aufgeben und auf alles verzichten kann. Wenn man sie wirklich liebt, existiert nichts mehr, was wichtiger wäre als sie. Nichts. Keine Fabrik, kein Lebenswerk, kein Vater. Man kann nichts dagegen machen.«
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Dr. Bächler traf, wenn auch nicht gerade peinlich sorgsam, so doch mit einer bei ihm kaum vermuteten Gewissenhaftigkeit seine Vorbereitungen zur Entbindung der Frau Sielenmeyer. Er entnahm seiner umfangreichen Tasche eine stattliche Anzahl Instrumente; unter ihnen befanden sich einige, die Mutter Golder noch niemals gesehen hatte. Sie verfolgte, am Herd stehend, diese blinkende und klirrende Geburtshelferouvertüre mit Anteilnahme und mit Neugierde. »Haben Sie Angst?« fragte die Hebamme Golder, als sich Dr. Bächler zum zweitenmal innerhalb der letzten Viertelstunde die Hände wusch. »Damit wären Sie also wieder bei Ihrem Thema angelangt«, sagte Dr. Bächler unerschütterlich; und er massierte seine Hände. »Sie wollen mir immer noch einreden, daß diese Geburt kompliziert sein wird. Nun schön, ich gebe zu - ganz einfach wird sie kaum werden, aber das ist allein bedingt durch die schwächliche Konstitution der Frau. Ansonsten ist alles normal.« »Wir hätten sie in ein Krankenhaus bringen sollen«, sagte Mutter Golder besorgt. »Sie haben übrigens eine erstaunlich hübsche Tochter«, sagte Bächler. Mit diesem Gedankensprung trachtete er danach, dem ihm immer unangenehmer werdenden Thema zu entkommen. »Ich habe mich überaus angeregt mit ihr unterhalten.« »Ich hörte bereits davon«, erwiderte Mutter Golder trocken. »Sie haben meiner Tochter offenbar mächtig imponiert.« »Das freut mich aber.« »Sie ist davon überzeugt, noch niemals einem derartigen Flegel begegnet zu sein.« »Sie haben recht«, sagte Dr. Bächler ungekränkt. »Ich muß ihr tatsächlich starken Eindruck gemacht haben.« »Sie können von Glück sagen«, erklärte Mutter Golder, »daß -237-
Margarete Ihnen keine heruntergehauen hat. Ich an ihrer Stelle und in ihrem Alter hätte es getan.« »Die Jugend von heute hat eben keinen rechten Schwung mehr da sieht man es wieder einmal!« Bächler erfreute sich an seiner gutgemachten optimistischen Gelassenheit und rieb sich die Hände warm. »Kommen Sie nicht immer vom Thema ab«, forderte ihn Mutter Golder auf. »Sagen Sie mir lieber, was wir machen, wenn Komplikationen eintreten. Ohne den großen Apparat einer Klinik sind wir in einem solchen Fall ziemlich hilflos.« »Hören Sie doch endlich mit Ihren Unkenrufen auf!« rief Bächler verärgert. »Ich bin hier der Arzt und übernehme jede Verantwortung. Wenn Sie durchaus wollen, dann gebe ich es Ihnen schriftlich, daß Sie mit meinen Ansichten nicht übereinstimmen, daß Sie mich sogar gewarnt haben. Damit Sie endlich Ruhe geben und zufrieden sind!« Sie schwiegen dann und horchten nach oben. Beide kalkulierten ein, daß die Möglichkeit einer Ohnmacht nicht ausgeschlossen war. Aber die Decke über ihnen, aus Balken und Brettern bestehend, war dünn. Sie hörten fast jedes Geräusch. Und sie hörten auch schwere, taumelnde Schritte, die sich draußen durch die Gasse auf das Haus zubewegten. Sielenmeyer erschien in der Eingangstüre und starrte in den Raum. Er schien sich auf seine Vaterschaft durch reichlich viel Alkohol vorbereitet zu haben. »Ist es denn immer noch nicht soweit?« fragte er mit schwerer Stimme. »Machen Sie die Tür zu«, sagte Mutter Golder resolut, »möglichst von außen!« Der Mann schob sich näher und knallte die Tür so heftig hinter sich zu, daß der Kalk von den Wänden rieselte. Mutter Golder sah instinktiv nach oben. Dr. Bächler betrachtete den Trunkenen mit geradezu beruflichem Interesse. -238-
»Sie scheinen ja mächtig geladen zu haben.« »Für mein Geld!« sagte Sielenmeyer; und er hob den Zeigefinger, wohl um die bemerkenswerte Wichtigkeit seiner Feststellung zu unterstreichen. »Ich feiere die Geburt meines Sohnes, der einmal seinem alten Vater zur Hand gehen und ihm den Lebensabend sichern wird.« »Was diese Kerle immer mit den Jungen haben!« sagte Mutter Golder verächtlich. »Als ob nicht ein Mädchen ebensoviel wert wäre! Ohne Frauen wären sie doch gar nicht auf der Welt.« »Aber das Männliche ist das Schöpferische!« warf Dr. Bächler, nicht ganz ernsthaft, ein. »Sehr richtig!« rief Sielenmeyer, der sich bis zum Herd vorgearbeitet hatte. Dort machte er Anstalten, Mutter Golders Kaffee auszutrinken; die Hebamme bemerkte das und duldete es, wenn auch mit wenig freundlichen Blicken. »Da haben Sie Ihren schöpferischen, echt männlichen Mitmenschen«, sagte Mutter Golder. Sie wies auf Sielenmeyer, den der Drang, sich als Vater bestätigt zu sehen, mächtig gepackt zu haben schien. Er nahm gerade Anlauf zu einer größeren Erklärung. »Wenn eine Frau einen Mann richtig liebt«, sagte er dumpf, »das habe ich erst gestern gelesen, dann wird das Kind ein Junge. Also muß es ein Junge werden. Oder meine Frau liebt mich nicht. Und dann soll sie der Teufel holen.« »Woher mag der Kerl diesen Unsinn haben?« fragte Mutter Golder. Ihr Zorn auf diesen langsam immer lautstärker werdenden Eindringling nahm mehr und mehr zu. »Wenn sie keinen Jungen kriegt«, grölte Sielenmeyer mit weinerlichen Untertönen, »dann bin ich blamiert. Dann kann ich meinem Direktor nicht mehr in die Augen sehen und meinen Arbeitskameraden auch nicht. Aber sie wird sich hüten, keinen Jungen zu kriegen. Tun Sie, was Sie können, Doktor. Dafür sind Sie ja schließlich da.« -239-
»Ich helfe lediglich bei der Geburt des Kindes«, sagte Dr. Bächler belustigt. »Gezeugt habe ich es nicht.« »Wozu haben Sie eigentlich studiert?« fragte Sielenmeyer hartnäckig. »Aber mein Direktor wird schon wissen, warum er Sie hierhergeschickt hat. Sielenmeyer, hat er zu mir gesagt, ich schicke Ihnen einen Doktor - kostet Sie keinen Pfennig, hat er gesagt. Und der Mann ist auf Draht, das hat er auch gesagt; der wird die Sache schon schaukeln. Also schaukeln Sie, Doktor!« Die Hebamme Golder war diesen aufschlußreichen Erklärungen mit steigendem Interesse gefolgt. Dr. Bächler bemerkte das besorgt. Der betrunkene Sielenmeyer wußte zwar so gut wie nichts, ahnte aber vielleicht einiges; der war dabei, fand Bächler, mehr Porzellan zu zerschlagen, als er Siegert gegenüber verantworten konnte. »Ich hätte gute Lust«, sagte er, »den Mann an die frische Luft zu setzen.« »Tun Sie das ruhig«, sagte Mutter Golder. »Er ist hier völlig überflüssig. Und vermutlich hat er auch bereits alles gesagt, was ich noch nicht wußte.« »Der Mann ist total betrunken«, sagte Dr. Bächler verächtlich. »Ich will zu meiner lieben Frau«, erklärte jetzt Sielenmeyer. Und er machte Anstalten, die Treppe hinaufzusteigen. Er rutschte aber bereits auf der zweite Stufe aus und fiel mit dumpfen Knall auf den Hintern. »Los«, sagte Mutter Golder, »zögern Sie nicht. Transportieren Sie den besoffenen Kerl hinaus. Hier stört er doch nur. Er kann sogar gefährlich werden.« Dr. Bächler schüttelte ablehnend den Kopf. »Schließlich ist das hier seine Wohnung«, erklärte er. »Rein juristisch gesehen könnte er sogar uns beide, wenn er wollte, hinausweisen. Allerdings würde in diesem Falle ein anderes Gesetz das erste außer Kraft setzen; denn es handelt sich ja bei unserer Tätigkeit um Hilfeleistung in Notfällen.« »Sie wollen wohl einem Lieblingskind Ihres Siegert nicht -240-
wehtun?« fragte Mutter Golder zornig. »Am Ende plaudert er dann noch mehr aus?« »Ich bin Arzt, aber kein Hausknecht.« »Dann machen Sie wenigstens einer alten Frau die Tür auf.« Die Hebamme Golder stand groß und herausfordernd da; sie wartete geduldig, bis Bächler Anstalten machte, die Tür zu öffnen. Sie ermunterte ihn mit einigen kurzen befehlenden Gebärden, diese Tür weit, ganz weit zu öffnen, was auch geschah. Dann schnappte sich Mutter Golder den Sielenmeyer, der immer noch dumpf und plump auf der Erde saß. Sie hob ihn mit staunenswerter Kraftentfaltung hoch, schob den Verdutzten vor sich her, eine Hand im Kragen, eine im Hosenboden. Und dann feuerte sie ihn hinaus! Sie schloß die Tür fast geräuschlos und drehte den von innen steckenden Schlüssel zweimal um. »So«, sagte sie, »das hätten wir geschafft. Jetzt müssen wir nur noch sehen, wie wir am besten mit uns beiden fertig werden.« Von oben war ein wie unter Decken erstickter, langanhaltender Schrei zu vernehmen. Mutter Golder lief sofort die Treppen hoch, auf das Bett der Gebärenden zu. Sie riß das Deckbett zur Seite. Nach kurzem Blick rief sie: »Es ist soweit!« Dr. Bächler kam sofort nach. Ohne die wild und gequält nach Luft schnappende, dazwischen gurgelndschreiende Frau näher zu betrachten, hielt er der Hebamme Golder die Gummihandschuhe hin. Beide halfen sich mit schnellen, sicheren, fast mechanischen Bewegungen, sie überzuziehen. Der Arzt beugte sich über Frau Sielenmeyer. Seine Hände griffen wie Schaufeln zu. Er bemühte sich, die Beine kraftvoll aufgestemmt, eine gute Ausgangsstellung zu gewinnen. »Breiter«, rief er ungeduldig. »Breiter!« »Alles ist stocksteif«, sagte die Hebamme Golder. -241-
»Muskelkrämpfe.« »Versuchen wir, die Spreizlage mit Gewalt zu erreichen«, sagte der Arzt. Er beugte sich, mit eckig vorgestemmten Schultern, tiefer. Er gab seine Anordnungen ohne Rücksicht auf die gebärende Frau. Und die Hebamme Golder erteilte ihre Antworten und Vorschläge gleichermaßen unbedenklich deutlich. Beide wußten, daß die von Schmerzen durchtobte Frau nichts von dem mit vollem Bewußtsein aufnahm, was um sie gesprochen wurde. Sie wollte, mit allen Fasern des Körpers, nur gebären - nur das, sonst nichts. Dann glitt, von geschickt zupackenden hilfreichen Händen unterstützt, das Kind in die Welt; überraschend schnell, als sei Eile geboten, diesem steifen, verkrampften, aufgerissenen Körper zu entfliehen. Schleim und Blut umhüllte dieses neue Leben. Die Hebamme hielt das Kind bei den Füßen hoch und lächelte Bächler zu. Und Bächler lächelte zurück. Dann schrie die Frau noch einmal auf, bäumte sich hoch und fiel wie vernichtet zurück. Eine Wellenkette von Blut schoß aus ihrem Leib; leuchtendes, klebriges, scharf riechendes Blut. Und dieses stoßweise Dahinfließen schien kein Ende nehmen zu wollen. Bächler war tief erschreckt. Eine knappe Sekunde lang stand er wie gebannt. Dann warf er sich förmlich über die blutende Frau. »Mein Gott«, sagte er kaum vernehmbar, »das ist doch nicht möglich.«
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In dieser Nacht saß Gustav Golder seinem Bruder Paul, dem Polizisten, in der Revierstube gegenüber. Paul hatte sich tief in seinen Stuhl geschoben und die Beine weit ausgestreckt; es schien, als schlafe er erschöpft. Aber seine Augen blickten den jüngeren Bruder fragend und prüfend an; seit langer Zeit schon. Gustav schwieg aus falscher Scham und echtem Trotz und weil er sicher war, nicht verstanden zu werden. Letzteres hielt er für seine besondere Tragik. Über sie geriet er nur deshalb nicht in Verzweiflung, weil er gelesen hatte, daß der Weg zur Größe nicht denkbar sei ohne Schmerzen. »Ich habe dir nichts zu sagen«, verkündete er; und dabei kam er sich tapfer und leidensbereit vor. Paul schien diese Äußerung überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er spürte die wachsende Unruhe und Unsicherheit seines Bruders und war entschlossen, sie zu nutzen. Er war ein Mann, der sich viel Zeit nahm, wenn er Dinge erreichen wollte, denen mit Brachialgewalt nicht beizukommen war. »Ich will nach Hause«, sagte Gustav ungeduldig. »Wie lange soll ich denn noch warten?« »Ich habe sehr viel Zeit«, sagte Paul ruhig. »Die ganze Nacht, und wenn es sein muß, noch einen Tag dazu. Und niemand wird uns stören. Wenn nicht gerade unser Bruder Emil eine Dummheit macht, die mein Eingreifen bedingt, gehören die nächsten Stunden ausschließlich dir. Und du wirst mich nicht eher verlassen, bis du mir alles erzählt hast. Alles, Gustav.« Sie sahen sich in die Augen. Und nach längerer Zeit blickte Gustav zur Seite. Er wußte, daß Paul kein Schwätzer war; und er spürte die lauernde Hartnäckigkeit des Bruders fast körperlich. Es würde nicht möglich sein, erkannte Gustav, hier auszuweichen. »Vielleicht solltest du einmal versuchen«, sagte Paul milde, »mich ein wenig über dich aufzuklären.« »Du bist sehr listig«, sagte Gustav hastig, wie um sich gegen -243-
seine neu aufdämmernden Gefühle für Paul zu wehren. »Du gibst dich sanft, aber du bist gefährlich. Alle in der Familie sagen das. Und mich hast du sogar geschlagen - mich; vermutlich, weil ich der wehrloseste von allen Brüdern bin, weil ich nicht soviel körperliche Kraft habe wie die anderen.« Paul erhob sich. Er sah, wie Gustav in seinem Stuhl zusammenzuckte, und lächelte traurig. Dann begab er sich an das Fenster, öffnete es weit und starrte lange in die Nacht, ohne irgend etwas mit vollem Bewußtsein zu sehen; auch die trüb brennenden Laternen nicht, die den verlassenen Marktplatz umstanden. »Wie du weißt, war ich im Zuchthaus«, sagte er, ohne sich umzuwenden. Und es war, als rede er in die Dunkelheit hinein. »Unschuldig, wie später festgestellt wurde. Aber ich habe mich niemals unschuldig gefühlt. Das hatte nichts mit der Sache zu tun, deretwegen ich verurteilt worden war - mein Schuldgefühl hatte ganz andere Gründe. Ich erkannte nämlich, daß ich kein guter Mensch war, denn ich hatte gelogen, war unverträglich und rücksichtslos ehrgeizig; ich hatte ein Mädchen betrogen, und ich hatte viel zuviel an mich gedacht. Man könnte nun sagen: Wir alle sind so; das liegt in der menschlichen Natur. Man könnte auch sagen: Die Umstände sind schuld daran, zumindest teilweise. An Ausreden war ja die Welt noch nie arm. Aber ich habe mir damals geschworen: Ich will fortan ein anderes, sauberes Leben führen.« »Und, wenn es sein muß, andere ebenfalls dazu zwingen - mit Gewalt.« »Ja«, bekannte Paul schlicht. »Deshalb bin ich Polizist geworden.« Gustav schaute verwirrt auf den breiten Rücken Pauls am Fenster. Er war bereit, sich vor soviel Einfalt gerührt zu fühlen; die Summe der Erkenntnisse seines Bruders vermochte er nicht anders zu bezeichnen. Er erhob sich ebenfalls, ging auf Paul zu, -244-
stellte sich neben ihn und sagte: »Du kannst versichert sein, es ist zwischen mir und Frau Siegert nichts passiert, dessen ich mich zu schämen hätte.« Paul wandte sich seinem Bruder zu; auf seinem beinahe asketisch wirkenden Gesicht zeichnete sich deutlich die Frage ab, wo wohl die Grenzen der Scham zu suchen wären. Aber er sprach nicht aus, was er dachte. Er sagte nur dunkel und rauh: »Hüte dich vor der Liebe, Bruder.« Gustav zögerte kurz, ehe er sich wieder von Paul entfernte. Er ging in den Raum zurück und stellte sich neben das Aktenregal, an das er sich leicht anlehnte. »Niemand kann gegen seine Sehnsucht ankämpfen«, sagte er. »Sehnsucht wonach?« fragte Paul mit mühsam verborgenem Interesse, während er das Fenster schloß. »Nach einem anderen Leben«, sagte Gustav und lächelte scheu. Paul nickte schwer. »Das kann ich verstehen«, sagte er nachdenklich. »Ist es mir nicht ebenso gegangen?« »Ich gebe zu«, erklärte Gustav mit wachsender Aufrichtigkeit weiter, »daß ich nicht immer glücklich über alles war, was bei uns geschah. Mutter ist eine prachtvolle Frau; und Vater ist sicherlich der beste Vater der Welt. Und wenn ich meine Geschwister auch nicht heiß liebe, so habe ich doch niemanden verachtet und mich für keinen je geschämt. Mich hat nur manches befremdet. Dir, Paul, ist es ja nicht anders gegangen.« Paul blickte zu Boden und verbarg seine Hände hinter seinem Rücken. Es schien, als wolle er vermeiden, sich von Gustav in das Gesicht sehen zu lassen. Er vermochte es kaum noch, ruhig dazustehen; und er verbrauchte viel Kraft, um sich zu beherrschen. »Unsere Welt«, sagte Gustav, »ist nicht nur klein, sie ist auch eng. Das ist kein Vorwurf, natürlich nicht; ich stelle das lediglich fest. Und ich habe auch nicht, wie Emil, das -245-
Verlangen, zeitweise diese Welt zu vergessen. Ich will sie vergrößern, erweitern, mir eine eigene Welt verschaffen. Eine Welt, in der die bedrückende Armut überwunden wird und ein anderer, freier Geist herrscht.« »Und deshalb vermutlich dein Weg zu Siegert.« »Diese Frau«, berichtete Gustav bereitwillig, immer noch in dem Glauben, er sei endlich auf wohlwollendes Verständnis gestoßen, »war ganz anders als alle Menschen, die mir bis dahin begegnet waren. Mit ihr konnte man reden, wie es einem ums Herz war. Sie allein verstand mich. Die Stunden mit ihr waren beglückend. Man mußte sie lieben.« »Lieben?« fragte Paul leise und lauernd. Gustav schreckte aus seinen freundlichen Träumereien auf, als er jetzt des Bruders Gesicht dicht vor sich sah. »Liebe, die Verehrung war, weiter nichts«, sagte er hastig, bedrängt von dem Gefühl, sich nun verteidigen zu müssen, nachdem er leichtfertig genug gewesen war, Paul einen Einblick in sein Inneres gewährt zu haben. »Passiert ist nichts. Mein Wort darauf. Einmal hat sie mich geküßt; spontan, aus einer Gefühlsaufwallung heraus.« »Das«, stellte Paul scheinbar ruhig fest, »bringt uns einen Schritt weiter. Das nämlich kann bereits als ehewidriges Verhalten ausgelegt werden und stellt einen Scheidungsgrund dar.« »Das ist gemein!« rief Gustav empört. Er blickte Paul herausfordernd an; und jetzt, in diesem Augenblick, fürchtete er sich auch vor Schlägen nicht. »Das ist eine Infamie. Und das sieht dir ähnlich. Ich hätte mich nie mit dir einlassen sollen.« »Zwei Seelen also«, sagte Paul mit sanfter Ironie, die ihn selbst am meisten zu schmerzen schien. »Zwei Seelen, die sich in der Einsamkeit begegnen. Beflügelt von der sogenannten Sehnsucht nach dem Leben - nach einem anderen, besseren Leben, wie du gesagt hast. Und es gibt immer ein anderes -246-
Leben! Und es gibt nie Befriedigung für die, die es suchen. Du redest von Armut - als ob Mutter ein armer Mensch wäre! Und was den Geist anbelangt, den freien ist denn Vater etwa hirnlos?« »Jedes weitere Wort ist überflüssig!« rief Gustav verzweifelt darüber, erneut solchem Unverständnis ausgeliefert zu sein. »Du hast mich nicht verstanden. Wir reden zwei verschiedene Sprachen.« »Aber wir werden so lange miteinander reden, bis einer den anderen versteht«, sagte Paul und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. »Und ich bin fest entschlossen, viel Zeit dafür zu opfern meine und deine Zeit. Ich sage dir in aller Offenheit: Ich werde deine Welt zerstören! Und mir ist es fast gleich, ob du selbst dabei zerstört wirst oder ob du davonkommst.« »Warum dieser Haß?« fragte Gustav. »Was habe ich dir getan?« Und es war ihm, als sehe er vor sich einen jener demütig dreinschauenden Fanatiker aus dem Mittelalter, die, wie er gelesen hatte, mit frommem Augenaufschlag Ketzer brennen sehen konnten. »Du bist in Gefahr«, sagte Paul, »ich spüre das. Und du kannst zu einer Gefahr für uns alle werden - möglich sogar, daß das bereits so ist. Ich verfolge dich, um eine Möglichkeit zu finden, dich zu bewahren.«
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Vater Golder überlegte, ob er den jungen Siegert mit drei Zügen matt setzen sollte oder ob es ratsam sei, das Ende des Spiels noch ein wenig hinauszuzögern. Es war schon ziemlich spät, und die Partie konnte mühelos beendet werden. Aber man sollte, sagte sich Vater Golder, einen jungen Menschen nicht allzufrüh wissen lassen, wie sehr man ihm überlegen ist; im Schachspiel zumindest. »Ihre Kombinationen überraschen mich immer wieder«, sagte Vater Golder diplomatisch. Der junge Siegert nahm diese vieldeutige Erklärung freudig entgegen und legte sie als Anerkennung aus. Er schaute kurz zu Margarete hinüber, um festzustellen, ob auch sie diese doch offenbar lobend gemeinten Wort gehört habe. Die jedoch löste, von Susanne aufmerksam unterstützt, Kreuzworträtsel; und damit schien sie intensiv beschäftigt zu sein. »Schach«, sagte Siegfried. Er war selbst überrascht von der Tatsache, daß es ihm gelang, seine Dame bedrohlich vor dem andersfarbigen König aufbauen zu können. »Du wirst dich doch nicht etwa matt setzen lassen, Vater!« rief Emil vom Nebentisch her. »Schnappe ihm die Dame mit dem Springer weg.« Emil spielte mit Otto Skat. Der hierfür notwendige dritte Mann war der Schwager; der hatte bei den beiden gewichtigen Golder-Brüdern nichts zu bestellen und wußte das auch ganz genau. Er erfüllte lediglich eine Funktion; schweigend, bereitwillig und dennoch nicht ohne Stolz, da er sich auserwählt fühlte. »Laß die Spielführung getrost meine Sorge sein, Emil«, sagte Vater Golder freundlich lächelnd. »Das Studium von Seekarten wäre für dich ratsamer.« Er blockierte die bedrohliche Dame mit einem Turm und schob so abermals das Ende der Partie künstlich hinaus. »Schade«, sagte Siegfried zwischen zwei Zügen zu seinem -248-
Schachpartner, »daß Ihre Frau nicht da ist. Ich hätte mich gerne mit ihr unterhalten.« »Auch sie wird das bedauern«, versicherte Vater Golder. »Aber sie ist heute nicht mehr zu erwarten. Sie befürchtete eine besonders schwere Geburt; Mutter pflegt sich in solchen Fällen selten zu irren. Sie wird die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen.« »Das tut mir aber leid«, sagte Siegfried konventionell. »Mutter braucht Ihnen nicht leid zu tun«, glaubte Otto vom Nebentisch aus einwerfen zu müssen. »Sie hat sich in ihrem Leben einige hundert Nächte um die Ohren geschlagen und sich langsam daran gewöhnt. Wenn diesmal einer zu bedauern ist, dann kann das nur Ihr Freund Doktor Bächler sein.« Margarete hatte während der ganzen Abendunterhaltung offenbar genau zugehört, ohne allerdings auch nur ein einziges Mal Interesse bekundet zu haben. Jetzt aber unterbrach sie ihre Beschäftigung mit den Kreuzworträtseln. »Was höre ich da?« fragte sie; und sie gab sich empört und überrascht zugleich. »Dieser Doktor Bächler ist mit dir befreundet, Siegfried? Ausgerechnet der?« »Wir waren Schulkameraden«, sagte Siegfried. »Wir haben auch zusammen die Universität besucht - er studierte Medizin, ich Volkswirtschaft.« »Ist etwa diese Schulfreundschaft«, fragte Margarete inquisitorisch, »der Anlaß gewesen, daß uns dieser Mensch jetzt beglückt?« Vater Golder schien nichts anderes zu tun, als das Schachbrett nachdenklich zu betrachten. Emil und Otto hatten die Karten niedergelegt; sie lauschten mit vergnügter Anteilnahme den trefflichen Ausfällen ihrer Schwester Margarete. Der Schwager wußte, daß er lediglich zum Skatspielen geduldet wurde; daher dachte er auch nicht im entferntesten daran, aus dieser Geste die Erlaubnis für eine allzu deutliche Anteilnahme an den internen Familienangelegenheiten -249-
der Golders herzuleiten; er schwieg also und sah versonnen zu Emil hoch. Susanne aber sah ehrlich besorgt aus; sie schien, nicht zu Unrecht, erneute Komplikationen zu befürchten. Siegfried fühlte sich ein wenig eingeengt, jedoch nicht bedrückt; denn er brachte den Familienmitgliedern starke Sympathien entgegen, auch Emil und Otto, die er heimlich, ihrer einzigartigen Selbstschätzung wegen, bewunderte. Mit schöner Offenheit erklärte er: »Mein Vater brauchte einen tüchtigen Betriebsarzt. In einer Besprechung zwischen uns fiel der Name Bächler. Ich konnte nicht umhin, ihn zu empfehlen.« »Welch eine gute Tat!« rief Margarete hohnvoll. »Aber warum sollte ich das denn nicht tun?« fragte Siegfried bestürzt. »Eben!« stimmte ihm Susanne herzhaft bei. »Ich finde das ganz selbstverständlich.« Und sie sah Siegfried mit lebhafter Zustimmung an, was er jedoch nicht bemerken konnte, da seine ganze Aufmerksamkeit der empörten Margarete galt. »Dieser Bächler«, rief Margarete entflammt, »ist ein Flegel sondergleichen!« Vater Golder verbarg sein Lächeln mit Mühe hinter seiner Hand; er hatte sie sich über Stirn, Augen und einen Teil der Mundpartie gelegt und mimte so das konzentrierte Nachdenken eines Schachspielers. Emil und Otto nickten zufrieden; der skatspielende Schwager schloß sich diesen Kundgebungen selbstverständlich an. Susanne schien entsetzt. »Wenn sich Robert Bächler«, sagte Siegfried mühsam, »dir gegenüber unkorrekt benommen haben sollte, so werde ich veranlassen, daß er sich entschuldigt.« »Ich brauche seine Entschuldigung nicht«, sagte Margarete, »schon gar nicht, wenn sie durch einen Dritten veranlaßt wird. Ich will diesen Kerl überhaupt nicht mehr sehen. Aber daß ausgerechnet du es bist, Siegfried, der ihn hier eingeschleppt hat, das finde ich zumindest sehr merkwürdig.« »Dieser Bursche«, sagte Emil breit, »ist doch nur engagiert -250-
worden, um unserer Mutter Schwierigkeiten zu machen. Aber da hat er sich verrechnet! Wie ich Mutter kenne, wird sie mit ihm Schlitten fahren.« »Ich glaube nicht«, sagte Vater Golder behutsam und blickte dabei seinen Sohn Emil vernichtend freundlich an, »daß du Veranlassung hast, dich im Hinblick auf Mutters Reaktionen besonderer Kenntnisse zu rühmen. Mir will nämlich scheinen, daß dir Mutter noch manche Überraschung bereiten wird. Im übrigen, finde ich, sind der Beruf eines Seemanns und der einer Hebamme so grundsätzlich voneinander verschieden, daß es für keinen der beiden ratsam scheint, dem anderen ins Handwerk pfuschen zu wollen. Ganz abgesehen übrigens davon, daß ich genau weiß, daß Mutter eine großartige Hebamme ist, während ich von deinen seemännischen Qualitäten keinesfalls in gleicher Weise überzeugt bin.« »Schon gut«, sagte Emil brummig, »schon gut. Man wird doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen!« »Jedenfalls«, versicherte Siegfried mit Eifer, wobei er Margarete um Verständnis bittend ansah, »darf man überzeugt davon sein, daß ich niemals etwas gesagt oder getan habe, was Frau Golder, die ich sehr verehre, schaden könnte.« »Deshalb sitzen Sie ja auch mit heilen Knochen in unserer Mitte«, sagte Otto. »Unter anderen Voraussetzungen hätten Sie unser Haus niemals betreten.« »Otto«, erklärte Vater Golder friedlich, »liebt es, in großen Begriffen zu denken. Wenn er›unser Haus« sagt, dann meint er die drei Zimmer, die wir bewohnen. Und vom städtischen Betrieb, bei dem er angestellt ist, spricht er immer nur als von›seinem Elektrizitätswerk«. Solange das mehr oder weniger spielerische Worte bleiben, ist nichts dagegen einzuwenden; die Hauptsache ist, daß daraus keine Begriffsverwirrungen entstehen.« »Du kennst mich doch, Vater«, sagte Otto bieder. -251-
Vater Golder nickte zustimmend; ohne Zweifel, er kannte seinen Sohn, und die anderen Söhne kannte er auch. Er sah mit Vergnügen, daß Otto und Emil wieder die Skatkarten aufnahmen. Er selbst wandte sich erneut dem Schachspiel zu; er bewegte, ohne sonderlich nachdenken zu müssen, eine Figur und sagte: »Schach - und matt.« »Noch ein Spiel?« fragte Siegfried. »Es ist bereits nach Mitternacht«, sagte Vater Golder. Und hinter dieser fast gleichmütig klingenden Feststellung verbarg sich ein deutlicher Hinweis, den Siegfried sofort verstand. Der junge Siegert erhob sich und stellte fest, daß es spät geworden sei; er bat um Entschuldigung, daß er das Schachspiel über eine gebührliche Zeit hinausgezogen habe. Er bedankte sich artig für die erwiesene Gastfreundschaft, was Emil gnädig nickend quittierte, und ersuchte um die Erlaubnis, sich verabschieden zu dürfen. Er erhielt sie und drückte die Hände der Anwesenden. »Willst du deinen Gast nicht begleiten?« fragte Vater Golder seine Tochter Margarete. Die erhob sich gehorsam und ging wortlos auf die Tür zu. Die Zurückgebliebenen schwiegen zunächst kurze Zeit, bis die Schritte von Margarete und Siegfried verklangen und die Außentür ins Schloß fiel. Emil grinste Otto verständnisvoll zu; und der Schwager erlaubte sich mitzugrinsen. Susanne hatte sich über das von Margarete zurückgelassene Kreuzworträtsel gebeugt. »Allerhand«, sagte Emil schließlich und lächelte seinem Vater vorsorglich zu. »Ich hätte nie gedacht, daß du das erlauben würdest. Mitten in der Nacht! Und was dann, wenn die Kleine, des väterlichen Segens sicher, erst am frühen Morgen wieder zurückkommt?« »Siegfried ist ein hochanständiger Mensch!« rief Susanne mit glühendem Eifer. -252-
»Woher willst du das wissen?« fragte Emil sie ungeniert. »Du hast das doch nicht etwa ausprobiert?« »Ich glaube«, sagte Otto und betrachtete dabei seinen Vater fragend, »daß in dieser Sache Vater und ich gleicher Meinung sind.« »Und was«, fragte Vater Golder interessiert, »ist deine Meinung?« »Ich finde nämlich«, sagte Otto, »daß die Situation völlig klar ist. Der junge Siegert scheint ziemlich ungefährlich für unsere Rita zu sein und somit ist es ganz gleichgültig, ob es sich nun bei ihm um einen erklärten Ehrenmann handelt oder nicht.«
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Dr. Robert Bächler wollte nicht glauben, was er sah. Die leuchtende Blutlache vor ihm, die klebrig und schleimig war und wie von trübem, milchigem Wasser zersetzt, bereitete ihm Übelkeit. Mit unsicher gewordenen Händen zog er eine neue Spritze voll. »So helfen Sie doch!« rief er dabei gepreßt. »Es ist zwecklos«, hörte er die ruhige, jetzt sehr müde klingende Stimme der Hebamme Golder sagen. »Es muß noch eine Hoffnung geben!« rief Bächler verzweifelt. »Die Frau ist tot.« Die Hebamme beugte sich vor und betrachtete das leblose Gesicht der Frau Sielenmeyer. »Seit etwa zehn Minuten schon. Sie ist verblutet.« Dr. Bächler saß da wie erstarrt. Sein Blick war auf das blutige Bett gerichtet, dorthin, wo die Beine der Toten lagen; aber er sah nichts. Das grelle Rot des Blutes schien sich mit dem fleckigen Blauweiß der Bettwäsche zu vermengen, mit dem fahlen Graugelb der Menschenglieder und dem gepuderten Braun der Gummidecke; und dieses Gebrodel der Farben flutete auf ihn zu. Ihm schwindelte; die halbgefüllte Spritze entfiel seinen Händen. Fast mechanisch nahm er das Glas mit Wasser, das ihm Mutter Golder reichte. »Also verblutet«, sagte er dann dumpf. »Unter meinen Händen verblutet.« Er erhob sich schwer und schien kein Gleichgewichtsgefühl mehr zu besitzen. Er lehnte sich, als brauche er dringend einen Halt, gegen die gekalkte, fleckige, feuchte Wand. Sein Gesicht war erschreckend bleich, bis in die Lippen hinein, die er zusammengepreßt hielt. »Aber das Kind lebt«, sagte die Hebamme Golder; und sie wies auf den Wäschekorb, der in der Ecke stand. »Es ist gesund und normal«, sagte Mutter Golder. -254-
Bächler betrachtete nahezu mechanisch die Frau, die vor ihm stand, diese stämmige Frau mit den ruhigen Bewegungen. Ihr ein wenig breites, sonst fast immer glatt und rund erscheinendes Gesicht war schweißig und wirkte eingefallen; in den Augen lag bleischwere Müdigkeit. Doch ihre Stimme verriet eine schier unerschöpfliche Energie. »Ich werde uns einen starken Kaffee brauen«, sagte Mutter Golder, »ich glaube, wir haben ihn nötig.« Sie ging, mit schwerfälligeren Schritten als sonst, auf die Leitertreppe zu und stieg behutsam hinunter. Bächler folgte ihr nach langen Minuten. Er schien sich langsam wieder zu fangen. Er kam zu Mutter Golder an den Herd und zündete sich hier mit zitternden Händen eine Zigarette an. »Warum triumphieren Sie jetzt eigentlich nicht?« fragt er. Mutter Golder sah erstaunt zu Bächler hoch. »Warum wohl sollte ich triumphieren, junger Mann - weil dort oben eine Leiche liegt?« »Weil Sie recht behalten haben«, sagte Bächler. »Was meinen Sie wohl, wie gerne ich gerade in diesem Fall unrecht gehabt hätte! Es ist das erstemal für mich, bei nahezu tausend Geburten - ich fühle mich hundeelend.« »Ich habe mein Möglichstes getan!« rief Bächler beschwörend. »Das will ich gar nicht abstreiten«, sagte Mutter Golder und überbrühte das Kaffeepulver mit kochendem Wasser. »Aber beruhigt Sie das etwa?« »Es ist meine erste Geburt hier, ja, praktisch mein erster Fall in dieser Stadt.« »Das ist natürlich schlecht«, sagte Mutter Golder bitter. »Das ist ja geradezu geschäftsschädigend. Gleich bei der ersten Amtshandlung eine Leiche - wenn so etwas doch wenigstens erst nach vier Wochen Praxis eingetreten wäre!« -255-
Sie trug den Kaffee zum Küchentisch und füllte zwei starklädierte Tassen. Sie setzte sich hin und begann, aus der ihren, ein wenig schlürfend, zu trinken. Der Arzt setzte sich neben sie und zog die für ihn übriggebliebene Tasse zu sich; er_ umspannte sie mit beiden Händen, als müsse er sich wärmen. »Was werden Sie tun?« fragte er dann. »Mich zunächst einmal um das Kind kümmern - was denn wohl sonst?« »Und dann - später?« »Dann mache ich meine Eintragungen in mein Tätigkeitsbuch.« »Ich kann Ihnen natürlich nicht verwehren«, sagte Dr. Bächler gepreßt, »einen umfassenden Bericht über den Verlauf dieser Geburt niederzuschreiben.« Die Hebamme Golder nickte schwer. »Das können Sie mir allerdings nicht verwehren.« »Und ich werde Ihnen dann bestätigen, daß Sie mich vor dieser Geburt gewarnt haben, daß Sie mehrfach eine Überführung in ein Krankenhaus empfohlen und schließlich sogar darauf gedrängt haben.« »Das kann Ihr Ruin sein, Doktor Bächler.« »Mir ist das gleich«, sagte der dumpf. Und er nahm seine Hände von der Kaffeetasse und legte sie vor sich, schlaff und energielos, auf den Tisch. Mutter Golder betrachtete voll müder Traurigkeit diese Hände, die sie geschickt und griffsicher hatte arbeiten sehen. Dann horchte sie in die Nacht. Und sie vernahm torkelnde Schritte, die sich dem Haus in der Gasse näherten. »Ihnen scheint wirklich nichts erspart zu bleiben«, sagte sie. Sielenmeyer stieß die stallartige Tür auf, die unmittelbar von der Gasse in den unteren Raum führte. Er schien noch wesentlich stärker betrunken zu sein als vorher. Er hielt sich am -256-
Türrahmen fest und fragte: »Na - seid ihr jetzt soweit?« Dr. Bächler antwortete nicht. Er schien Sielenmeyers Anwesenheit überhaupt nicht bemerken zu wollen. Mutter Golder begab sich langsam zur Treppenleiter hin, wo sie sich vorsorglich aufstellte. »Bin ich nun Vater?« Mutter Golder nickte. »Sie sind Vater. Sie sollten versuchen, sich entsprechend zu benehmen.« »Wo ist mein Sohn?«- rief Sielenmeyer fordernd. »Ich will ihn sehen!« »Es ist kein Sohn«, sagte Mutter Golder. »Es ist eine Tochter.« »Was?« Der Betrunkene schien empört. »Eine Tochter? Das ist typisch für dieses Weib! Habe ich nicht schon immer gesagt, daß sie zu nichts taugt?« Er taumelte vor, auf Mutter Golder zu. Er wollte sich an ihr vorbeidrängen, aber sie hielt ihn mit beiden Händen an den Schultern fest. »Ihre Frau«, sagte die Hebamme schwer, »ist bei der Geburt Ihres Kindes gestorben. Aber das Kind lebt und ist gesund.« Sielenmeyer begriff geraume Zeit nicht, was ihm mitgeteilt worden war. Er stierte Mutter Golder an; und es war, als werde er von Sekunde zu Sekunde, ruckartig, nüchtern. Seine blaßblöden Säuferaugen verloren ihre wässerige Trägheit; er öffnete den Mund, und seine Lippen schienen zu zittern. Er wandte sich von Mutter Golder ab und ging, mit steifen, wie gelähmten Beinen, auf den Tisch zu. Hier ließ er sich nieder. »Wir konnten sie nicht mehr retten«, sagte Hebamme Golder. »Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand.« Sielenmeyer begann, fast übergangslos, zu weinen. Die Tränen strömten ihm über das Gesicht, und er schluchzte heftig. »Wie konnte sie mir das nur antun«, klagte er, kaum -257-
verständlich. »Ich habe sie doch so sehr geliebt!« Mutter Golder unterdrückte eine heftige Bemerkung, was sie sehr viel Mühe zu kosten schien, denn sie atmete stark. Bächler erhob sich schockiert. Sielenmeyer hörte ebenso schnell zu weinen auf, wie er angefangen hatte. Er wischte sich mit den Handflächen mehrmals über das Gesicht, schneuzte sich kräftig und begann wieder, fordernd einherzublicken. »Kann ich meine liebe Frau sehen?« verlangte er. »Nein«, sagte Dr. Bächler hastig. »Jetzt noch nicht - nicht in diesem Zustand.« Und er meinte den Zustand, in dem sich die verblutete Frau oben in ihrem Bett befand. »Das beste wird wohl sein«, schlug Mutter Golder vor, »wenn Sie hier wieder hinausgehen. In einer halben Stunde etwa können Sie zurückkommen. Wir bereiten inzwischen alles vor.« Sielenmeyer ließ sich von Doktor Bächler, der auf einen Wink von Frau Golder hin aktiv geworden war, fast ohne jeden Protest hinausdrängen. Bächler schloß die Tür und drehte sich herum. »Warum«, fragte er, »haben Sie das getan?« »Die frische Nachtluft«, sagte Mutter Golder, »wird ihm gut tun. Vielleicht bringt ihn dieser Schock ein wenig zur Besinnung. Er ist im Grunde ein bedauernswertes Geschöpf - er weiß nicht, was er will; und was mit ihm auch geschehen mag, er ist niemals zufrieden damit. Nicht wenigen geht es ähnlich; sie haben immer nur Hunger nach dem Brot, das andere essen. Wenn gerade bei diesen Menschen das Schicksal besonders hart zuschlägt, dann vielleicht, um sie zu retten.« »Warum haben Sie das getan?« fragte Bächler abermals. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Sie hätten doch diesem Sielenmeyer die ganze, ungeschminkte Wahrheit sagen können. Sie hätten ihm sagen können: ›Da oben liegt Ihre Frau; sie ist verblutet, und Doktor -258-
Bächler hat Schuld daran.‹ Statt dessen aber sagten Sie: ›Wir konnten sie nicht mehr retten; wir haben alles getan, was in unserer Macht stand.‹ Warum haben Sie das gesagt?« »Aus verschiedenen Gründen«, erklärte die Hebamme Golder ruhig und mit lächelnder Nachsicht. »Zunächst einmal war der Mann nicht nüchtern - es wäre also nicht ratsam gewesen, ihn in diesem Zustand aufzuklären. Es ist möglich, daß er die Tragweite einer derartigen Erklärung gar nicht erkannt hätte. Möglich ist aber auch, daß er einen Tobsuchtsanfall bekommen hätte. Der Mann hat Kraft und ein Toter erscheint mir für eine Nacht mehr als ausreichend.« »Weiter«, sagte Bächler drängend. »Weiterhin«, erklärte Mutter Golder gelassen, »bin ich vollkommen davon überzeugt, daß sich ein nüchterner Sielenmeyer morgen seine eigenen Gedanken über diesen Vorgang machen wird; und die könnten vielleicht sogar ziemlich zutreffend sein. Ein Mann mit engem Horizont setzt auch bei anderen einen engen Horizont voraus. Außerdem suchen solche Leute die Schuld grundsätzlich nie bei sich selbst. Sie können sich also auf einiges gefaßt machen.« »Ich bin auf alles gefaßt«, sagte Bächler starr. »Und ich werde alle Konsequenzen aus diesen Geschehnissen ziehen - alle! Verlassen Sie sich darauf.« »Dann aber gibt es noch etwas, das bedacht werden muß«, sagte Mutter Golder; und sie tat, als habe sie die letzten, nahezu steif und feierlich verkündeten Erklärungen von Doktor Bächler überhaupt nicht gehört. »Ich frage mich immer wieder: Was ist eigentlich Wahrheit? Manchmal will es mir fast scheinen, als ob das reine Ansichtssache wäre - eine Frage des Standpunktes und der Situation, abhängig von Verstand, Charakter und Erziehung. Oder stimmt das etwa nicht, daß Sie wirklich alles getan haben, was in Ihrer Macht stand?« »Das sagen Sie - ausgerechnet Sie?« -259-
»Sie scheinen sich ein sonderbares Bild von nur gemacht zu haben. Ich will nicht fragen, warum das geschehen konnte. Es ist passiert und nicht zu ändern. Aber sehr oft ist ja das, was wie ein Urteil erscheint, nichts anderes als ein Vorurteil. Im übrigen verstehe ich durchaus, daß ein gewisses Mißtrauen mir gegenüber angebracht war, denn Sie kannten mich ja nicht. Ich war für Sie lediglich irgendeine Hebamme; Sie aber waren ein zwar junger, aber erfahrener Klinikarzt, noch dazu einer, der sich als Geburtshelfer recht erfolgreich betätigt hatte.« »Warum demütigen Sie mich«, sagte Bächler bitter. »Es ist nicht nötig - ich erkenne meine Schuld.« »Ich denke gar nicht daran, Sie zu demütigen.« Mutter Golder trat ein wenig näher zu Bächler heran, als wolle sie ihn deutlicher sehen. »Ich versuche nur, mir Ihre Handlungsweise zu erklären. Als wir uns bei Frau Sielenmeyer trafen, habe ich, auf Ihr Verlangen, meine Ansichten geäußert; danach haben Sie Ihre Diagnose gestellt. In vielen Punkten stimmten wir überein, in einigen anderen gingen unsere Meinungen auseinander. Wer wollte es Ihnen verübeln., daß Sie Ihre eigene Diagnose für die einzig richtige hielten?« »Ich hätte Ihre Erfahrung respektieren sollen!« »Sie waren doch von meinen Erfahrungen nicht im geringsten überzeugt. Und warum sollten Sie das auch gewesen sein? Überzeugt waren Sie nur von sich selber. Und auch das ist verständlich.« »Nein«, rief Doktor Bächler heftig; und in diesem Augenblick war er ganz von seinem elenden Versagen, seiner ihn quälenden Nichtigkeit überzeugt. »So war das nicht! Ich wollte diesen, meinen ersten Fall in dieser Stadt nicht abgeben. Das ließ mein Ehrgeiz nicht zu. Und ich wollte Ihnen auch beweisen, daß ich es besser weiß und kann als Sie!« »Das stimmt ja auch«, sagte Mutter Golder. »Sie sind ein vorzüglicher Arzt. Ich bin nur eine Hebamme.« -260-
»Ich komme mir vor wie ein Mörder!« Mutter Golder schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf. Der junge, maßlos zerknirschte Mann vor ihr beanspruchte ihre mütterlichen Gefühle. Das, fand sie, ging eigentlich ein wenig zu weit - sie hatte genug Kinder zu betreuen. »Nun werden Sie doch endlich sachlich, junger Mann!« rief sie. »Kein Arzt kann Wunder tun.« »Aber seine Pflicht!« »Es gibt Dinge, denen gegenüber jeder Arzt machtlos ist. Ganz ehrlich: Haben Sie derartige Komplikationen bei dieser Geburt vorausgesehen?« »Nein«, sagte Bächler. »Hätten Sie mit den Mitteln einer modernen Klinik den Tod dieser Frau verhindern können?« »Vielleicht«, sagte Bächler. »Genau wissen Sie es also nicht. Ich jedenfalls weiß, daß unter den gegebenen Umständen niemand mehr hätte tun können als Sie. Beruhigt Sie das endlich?« »Sie beschämen mich«, sagte Bächler tonlos. »Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge. Warum tun Sie das alles?« »Damit Sie nicht weiter so entgeistert hier herumstehen!« erklärte Mutter Golder. »Es ist noch viel zu tun, und ich bin eine alte Frau und kann auf Ihre Hilfe nicht verzichten. Im übrigen brauchen Sie nicht zu denken, daß ich mich hier zu Ihrem Kumpan aufschwingen will. Sie werden die Suppe, die Sie sich eingebrockt haben, auch auslöffeln müssen. Aber auf vernünftige Art! Was darunter zu verstehen ist, werde ich Ihnen schon noch beibringen.«
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Siegfried Siegert senior wanderte unruhig durch die Räume seines Hauses. Er schritt durch die Halle auf die Terrasse hinaus und zündete sich hier eine neue Zigarre an; die fünfte in dieser Nacht. Er starrte dann, ein wenig geblendet, in die Dunkelheit hinein. Die Unruhe, die ihn befallen hatte, seit Tagen schon, wurde noch gesteigert durch bedrückend stille Nächte. Seine Einsamkeit belastete ihn; zwar war er gewillt, sie mit stiller Kraft und in nobler Haltung zu tragen, aber er spürte, daß sie mehr und mehr an seiner Substanz zehrte. Seine Frau benahm sich unwürdig; sein Sohn entzog sich ihm; und die Arbeit an seinem Werk schien zur Sinnlosigkeit verdammt. »Wünschen Sie einen Schal oder eine Strickjacke?« fragte die Wirtschafterin, die ihm lautlos gefolgt war. Siegert, nebelhaften Nachtgedanken hingegeben, in die Dunkelheit hineinlauschend, als sei von dort irgendein Ratschlag oder wenigstens doch Zuspruch zu erwarten, zuckte erschreckt zusammen. Ihm war, als habe man versucht, ihn anzustoßen. »Wie können Sie es wagen«, rief er empört, »mich anzuschleichen! Was sind das für abscheuliche Manieren!« »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, versicherte die Wirtschafterin störrisch. »Ich bin geschickt worden. Ihre Frau hat gesagt: ›Die Nacht ist sehr kühl.‹ Und dann hat sie mich beauftragt, zu fragen, ob Sie einen Schal oder eine Strickjacke wollen.« »Meine Frau«, sagte Siegert streng, »ist für Sie immer noch die gnädige Frau - nach wie vor. Falls sich das einmal ändern sollte, werde ich es Ihnen mitteilen. Wo befindet sich meine Frau jetzt?« »In ihrem Zimmer«, sagte die Wirtschafterin. Nach dem Klang ihrer Stimme zu urteilen, mußte ihr Gesicht, das die Dunkelheit wohltätig schützend verbarg, alles andere als freundlich und ergeben aussehen. -262-
Siegert schritt, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, an dein dunklen, kurvenreichen Schatten neben der Terrassentür vorbei. Er begab sich in das Haus, stieg die Treppen hinauf und klopfte an die Tür jenes Zimmers, das er seiner Frau nach der Geburt ihres Kindes hatte zuweisen lassen. Er wartete nicht ab, bis eine Aufforderung zum Eintreten ertönte; er öffnete die Tür und ging hinein. Er sah seine Frau unter einer Stehlampe sitzen und lesen. »Ich vernehme nicht ohne Genugtuung«, sagte er, ohne sich ihr zu nähern, »daß du dein Gesicht als Frau dieses Hauses wieder zu wahren trachtest, indem du vorgibst, um mich, der Nachtkälte wegen, besorgt zu sein.« »Ich wollte dich nicht belästigen«, sagte die Frau leise. »Ich nehme diese Regung als ein erfreuliches Zeichen deines guten Willens«, erklärte Siegert nicht unfreundlich, was - ihm sehr viel Mühe bereitete. »Ich habe sehr lange und gründlich über uns und unsere Situation nachgedacht. Es kommt jetzt darauf an, reinen Tisch zu machen. Um üblen Klatsch und niederträchtige Verleumdung im Keime zu ersticken, habe ich das Opfer bringen müssen, mich der Öffentlichkeit zu stellen, indem ich eine polizeiliche, beziehungsweise gerichtliche Klärung der ganzen Angelegenheit bewußt herausgefordert habe. Es gibt somit nur noch zwei Möglichkeiten: wir trennen uns, oder wir beweisen deine Unschuld.« Die Frau, die regungslos unter der Stehlampe saß, sah Siegert groß und flehend an. »Ist nicht schon zuviel an Vertrauen zerstört worden?« »Ich entnehme aus dieser ein wenig eigenwilligen und doch wohl nicht den Kern der Sache berührenden Formulierung, daß dir eine Trennung nicht genehm wäre. Ich begrüße das, und zwar aus mehreren Gründen. Somit bleibt also übrig, daß der unerschütterliche Beweis für deine Unschuld erbracht wird. Ich -263-
bitte dich, darüber eingehend nachzudenken. Ich werde dich morgen, wenn es dir recht ist, aufsuchen; dann wollen wir Einzelheiten besprechen und unser, nunmehr vermutlich wohl gemeinsames Vorgehen festlegen.« Siegert verbeugte sich nahezu formell vor seiner Frau, die ihn wortlos ansah. Dann zog er sich zurück, schloß die Tür hinter sich behutsam und ging wieder auf die Terrasse, in den Garten hinaus. Die Dunkelheit, wollte ihm scheinen, war noch undurchdringlicher geworden als vorher. Aber er sagte sich tröstend, daß er geblendet sei, von dem hellen Licht der Stehlampe, unter der seine Frau gesessen hatte. Er betrat den Kiesweg und spürte die Feuchtigkeit des Rasens. Ihn fröstelte, aber ihm wollte scheinen, als käme die Kälte, die er fühlte, aus seinem Inneren. Er war gezwungen worden, glaubte er, sich zu demütigen; er hatte seiner Frau Vorschläge unterbreitet, die einer Kapitulation gleichkamen. Gewiß, das war in einer Form geschehen, die weder auf einen plumpen Anbiederungsversuch noch auf würdelose Versöhnungsbereitschaft hindeutete - aber es war geschehen. Und langsam, während er in der Nähe des Zaunes stand, löste sich die Dunkelheit der Nacht auf; der Himmel schien von fahlem Licht überzogen, die Sträucher bekamen deutliche Konturen, und die Äste der Bäume reckten sich gleich Schattenbildern um ihn. Er hörte Schritte. Und er fragte sich, bedrückt und empört zugleich, ob sich wohl wieder ein Trupp Betrunkener nahe, um anzügliche Lieder in die Nacht zu gröhlen. Aber es war nur ein einzelner Mensch, der auf das Haus zukam; und Siegert erkannte, daß es sein Sohn Siegfried war. »Um diese Zeit«, sagte Siegert über den Zaun hinweg, »pflegt in unserer Stadt kein Gasthof mehr geöffnet zu sein.« »Ich war bei Golder«, sagte Siegfried offen. »Ich habe dort Schach gespielt.« Siegert schwieg lange Zeit. Vater und Sohn standen sich -264-
gegenüber wie Schatten, die ein Zaun trennte; und jeder schien auf ein Wort des anderen zu warten. Schließlich sagte der alte Siegert mit spürbarer Selbstbeherrschung: »Ich möchte gerne noch ein wenig mit dir plaudern. Wir treffen uns in der Halle.« Siegfried bekundete sein Einverständnis; er schritt, um den Zaun herum, auf das Haus zu. Siegert selbst verharrte noch, minutenlang, auf dem gleichen Fleck. In der Ferne bellte ein Hund, und irgendwo röhrten Frösche ihre mechanischen Melodien. Von der Halle aus fiel Licht in den Garten. Und Siegert ging, wie angerufen, hinein. Der Sohn war dabei, Whisky mit Wasser zu verdünnen. Der Vater verlangte das gleiche Getränk und ließ sich in einem der bequemen Sessel neben dem Kamin nieder. Siegfried brachte die gefüllten Gläser herbei, stellte sie ab und setzte sich auf die Kante des Sofas. Sie tranken. »Wenn ich dich also recht verstanden habe«, begann der alte Siegert tastend das Gespräch, »dann verkehrst du neuerdings im Hause Golder.« »Du hast mich recht verstanden«, sagte Siegfried einfach. »Und wie weit, wenn ich fragen darf, sind deine Bemühungen um die kleine Golder bisher schon erfolgreich gewesen?« »Das«, sagte Siegfried ausweichend, »geht vorerst nur zwei Menschen etwas an.« Siegert schloß kurz die Augen, als sei er geblendet; in diesem Fall durch eine hell aufleuchtende Erkenntnis. Er horchte der Stimme seines Sohnes nach; sie hatte, davon durfte er überzeugt sein, alles andere als zufrieden geklungen. War er also erfolglos, oder begann er sich bereits zurückzuziehen? Das eine wäre wie das andere zu begrüßen. Siegert trank sein Glas leer. »Es gibt also Schwierigkeiten«, stellte er fest, »von deiner oder ihrer Seite?« »Wir machen es uns eben nicht leicht!« sagte Siegfried -265-
unwillig, da er sich gestellt fühlte. »Aber das ist ausschließlich unsere Sache.« »Du sagtest das bereits.« Siegert schob sein leeres Glas dem Sohne zu, der es sofort neu füllte. »Ich bin müde«, sagte Siegfried. »Du kannst ruhig schlafen gehen, mein Sohn.« Siegert nickte, ein wenig abwesend, Zustimmung. Er sah auf sein Glas; er hörte, wie sich Siegfried entfernte und die Tür schloß. Und er sah immer noch nachdenklich auf sein Glas, als die Standuhr viermal schlug; dumpfdröhnend, mahnend und machtvoll. Der neue Tag brach an; vereinzelte Vogelstimmen umzwitscherten ihn, und das Grün des Gartens leuchtete matt und magisch auf. Es war Siegert, als läge ein Rauschen wie von fernen Wassern in der Luft. Er fühlte sich müde und dennoch fast frei von dem Bedürfnis, zu schlafen. Die Türglocke schrillte, und er schreckte hoch. Siegert stellte das Glas ab, stieß sich aus dem Sessel mühsam hoch und schritt zur Haustür. Er öffnete sie, und vor ihm stand Dr. Bächler. Und dieser Bächler sah aus, als habe er die ganze Nacht Alkohol in sich hineingegossen. »Frau Sielenmeyer ist tot«, sagte Dr. Bächler. Siegert packte seinen offenbar heftig in Verwirrung geratenen Besucher am Arm und zog ihn mit sich in das Haus. Er wies ihm in der Halle einen Sessel zu und goß ihm reichlich Whisky in ein Glas. Bächler nahm dieses Glas und trank es leer, in einem Zug. »Sie müssen mein Eindringen entschuldigen«, sagte Dr. Bächler. »Ich wollte noch nicht nach Hause gehen. Ich bin durch die Nacht gewandert und zufällig hier vorbeigekommen. Und da ich bei Ihnen noch Licht brennen sah, habe ich geläutet.« »Frau Sielenmeyer ist also bei der Geburt ihres Kindes gestorben«, sagte Siegert langsam, während er sein Hirn zwang, -266-
heftig zu arbeiten. »Das ist tragisch.« »Es war allein meine Schuld«, sagte Bächler dumpf. »Sind Sie tatsächlich davon überzeugt?« fragte Siegert eindringlich und mit leiser Schärfe. »Oder sollte es jemandem gelungen sein, Ihnen das einzureden?« Bächler begriff nicht, was Siegert mit dieser Frage bezweckte. Der jetzt wieder zielsicher denkende Siegert stellte fest, daß sein Besucher überhaupt nicht mehr fähig zu sein schien, seine Situation zu übersehen. Und dieser Bächler war, vor allen Dingen, offenbar noch weit entfernt von der Erkenntnis, daß sein vermutliches Versagen auch auf den Mann seine Schatten zu werfen in der Lage war, der ihm praktisch erst die Möglichkeit dazu verschafft hatte. »Wir müssen diese Angelegenheit eingehend durchsprechen«, sagte Siegert. »Es ist gut, daß Sie gleich damit zu mir gekommen sind. Wir werden retten, was noch zu retten ist.«
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Mutter Golder betrat am frühen Morgen ihre Wohnung; sie war erschöpft und doch nicht müde. Sie dämpfte ihre Schritte kaum, und ihre Bewegungen wurden nicht behutsamer; sie wußte, daß ihre Kinder einen guten Schlaf hatten. Sie ging in die Wohnküche und stellte ihre Tasche ab. Sie stellte sie in ein Regal, das sich dicht neben der Tür befand. Vater Golder hatte sich diese Vorrichtung als eine Art Familiengarderobe ausgedacht und sie in seiner Kellerwerkstatt zusammengebastelt. Da hatte ein jedes Ding seinen genau zugewiesenen Platz; Mutters Hebammentasche stand neben Vaters Aktentasche, mit der er zur Arbeit ging; etwas tiefer standen zwei Einkaufstaschen und ein Gemüsekorb, für welche die jüngsten Mädchen zuständig waren; weiter unten lagen Gustavs Malgeräte, einige Bücher, sorgfältig aufgestapelt; rechts davon waren Haken für Bekleidung, wie Mäntel und Jacken, und zwar für Vater und Mutter je zwei, für jedes Kind einer; ganz rechts aber wölbte sich im Halbbogen ein Holzstück, über das Paul, der Polizist, sein Koppel zu hängen pflegte. Mutter Golder sah sich um. Die allgemeine Ordnung, von der frühen Morgensonne mild beschienen, war erfreulich; bei Susannes Fleiß und Margaretes Tüchtigkeit konnte auch kaum etwas anderes erwartet werden. In dem Feldbett in der linken hinteren Ecke, das tagsüber eine Art Sitzbank war, lag Gustav. Er war jetzt der einzige, der in der Küche schlief; früher hatten manchmal bis zu drei Jungen hier gelegen. Alle Mädchen und die kleineren Knaben schliefen im zweiten Raum. »Hast du Ärger gehabt?« fragte Vater Golder und richtete sich in seinem Bett auf. »Du siehst nicht sehr gut aus.« Mutter Golder bückte sich, ein wenig schnaufend, und zog ihre Schuhe aus. »Wie gut du mich kennst«, sagte sie dabei. »Früher hast du mir damit fast Angst gemacht, aber langsam habe ich mich daran gewöhnt. Wenn das heute nicht mehr so wäre, könnte ich mit Berechtigung annehmen, daß ich dir gleichgültig geworden bin.« -268-
»Du bist mir gar nicht gleichgültig «, sagte Vater Golder lächelnd. »Fast möchte ich behaupten: ganz im Gegenteil! Aber das ist ein bißchen schwer zu beweisen.« Mutter Golder versuchte das Lächeln ihres Mannes zu erwidern; aber dieser Versuch scheiterte kläglich. Ihr gutmütiges Gesicht sah hilflos und erschöpft aus. »Was ist passiert?« fragte Vater Golder besorgt. »Frau Sielenmeyer ist gestorben - verblutet; unter unseren Händen.« »Das ist schlimm«, sagte Vater Golder betroffen. Er stand auf und zog sich einen Hausrock über; der war aus chinesischer Seide, ein fürchterliches Prunkstück, das ihm Emil verehrt hatte. Immerhin war dieses funkelnde Monstrum nicht ganz ohne praktischen Wert und wurde gelegentlich gerne gebraucht, wenn es auch Vater Golder peinlich vermied, zum Kummer Emils, sich jemals in dieser Gewandung seiner Familie zu präsentieren. Er setzte sich zu seiner Frau, die sich an diesen exotischen Anblick ihres Mannes längst gewöhnt hatte. »Es ist bei dir das erstemal«, sagte er mitfühlend, »daß eine Geburt mit dem Tod endet. Aber kommt so etwas nicht immer wieder einmal vor? Ich kenne mich in deinem Metier nicht allzugut aus, jedoch glaube ich, irgendwelche Prozentzahlen gelesen zu haben: auf tausend Geburten drei oder vier Todesfälle, wenn nicht mehr. Und an die tausend Geburten ohne katastrophale Folgen hast du doch bereits hinter dir. Nun besitzt du zweifellos reiche Erfahrungen und geschickte Hände - aber du kannst doch nicht immer erwarten, daß du auch noch Glück hast.« »Ich bin immer außerordentlich vorsichtig gewesen«, sagte Mutter Golder ehrlich. »Das ist vielleicht schon alles, was zu meiner Tätigkeit als Hebamme zu bemerken ist. Wenn ich auch nur die geringsten Komplikationen spürte, habe ich immer gleich veranlaßt, daß die Entbindung im Krankenhaus -269-
stattfindet. Vielleicht war das gar nicht Vorsicht; vielleicht war das sogar so etwas Ähnliches wie Feigheit. Aber dieser junge Bursche, dieser Bächler, der hat Mut gehabt. Von meinem Standpunkt aus war das Tollkühnheit.« »Du hast ihn gewarnt - nicht wahr?« »Ja. Aber vielleicht nicht eindringlich genug; vielleicht mit zu wenig Überzeugungskraft. Übrigens war es imponierend, diesen Burschen arbeiten zu sehen. Er hat sich wie ein Besessener um die Frau bemüht. Weißt du, man kann beinahe sagen: Er hat mit dem Tod gerungen. Ich habe so etwas noch niemals gesehen.« »Ich verstehe dich«, sagte Vater Golder. Er war nicht wenig betroffen über diese immer noch nicht abgeklungene, wohl erst hier offen hervorbrechende Erregung einer sonst so gelassen wirkenden Frau. »Jedenfalls steht doch wohl fest, daß er allein die Verantwortung trägt. Aber ich frage mich: Wird er sie auch allein tragen wollen?« »Es sieht so aus«, sagte Mutter Golder müde. »Wird das auch morgen, wenn der erste Schock vorüber ist, immer noch so aussehen?« »Das weiß ich nicht«, sagte Mutter Golder. »Aber ich hoffe es.« »Man soll wohl stets das Beste erhoffen, aber auch immer auf das Schlimmste gefaßt sein.« Vater Golder legte beruhigend seine Hand auf den Arm seiner Frau. »Denn wenn ich den Namen Bächler höre«, sagte er dabei, »muß ich immer an Siegert denken.« »Es ist das erstemal«, sagte Mutter Golder aufmerkend, »daß du diesen Namen in diesem Zusammenhang aussprichst.« Frau Golder sah in das ruhige, gefaßte, trotz der vielen tiefen Falten immer noch ein wenig bubenhaft wirkende Gesicht ihres Mannes. Und in diesem Blick lag Liebe und ein fernes Lächeln der Verwunderung über diese in mehr als dreißig Ehejahren -270-
immer noch nicht abgeklungene Zuneigung, die wohl nicht ganz frei von einer nahezu kindlich wirkenden Zärtlichkeit war. Und sie sah, um ihm nicht zu deutlich zu zeigen, was sie dachte, zum Fenster hin; sie betrachtete die graue Mauer des gegenüberliegenden Hauses, auf die sie ein Leben lang gesehen hatten, ohne sie jemals abstoßend oder bedrückend empfunden zu haben. Ihre Welt war dicht umstellt und winzig klein - doch welch ein pulsierendes Leben hatte immer in ihr geherrscht! »Was bist du doch für ein seltsamer Mensch«, sagte Mutter Golder, während sie mit frohem Erstaunen spürte, daß die Erregung in ihr abzuklingen begann. »Ich habe dir in unsere Ehe nichts mitgebracht als die Verwünschungen eines mächtigen Mannes, den ich in ziemlich herausfordernder Weise brüskiert hatte. Und selbst heute, nach soviel Jahren, ist diese alte Geschichte immer noch nicht beendet - und sie trifft dich mit.« »Es ist zuwenig!« sagte Vater Golder herzlich. »Es ist viel zuwenig! Seitdem du damals meine Frau geworden bist, habe ich mich immer gefragt: Was wird der Preis sein, den ich dafür zu zahlen habe? Werde ich mich ändern müssen, wird viel Leid zwischen uns sein, werde ich Berge an Unzufriedenheit abzutragen haben - ich, der einfache Schlosser, der die deshalb ausgestoßene Tochter eines reichen Kaufmanns geheiratet hatte? Und was geschah? Nichts! Welches war der Preis? Ein kleiner Streit mit einem Herrn Siegert! Zuwenig; viel zuwenig!« Jetzt lächelte Mutter Golder wieder. Und sie sagte, um ihre Rührung zu überspielen: »Ich kann mir nicht helfen: In diesem chinesischen Monstrum siehst du aus wie ein alter Rabe, der sich Pfauenfedern zugelegt hat.« »Es kommt noch besser«, sagte Vater Golder froh. »Denn Emil hat mir diesmal einen roten türkischen Fez und eine Wasserpfeife mitgebracht. Er hat sich bisher nicht getraut, mir das zu verehren er wartet auf eine günstige Gelegenheit.« »Vielleicht kommt die bald!« -271-
»Du denkst doch nicht etwa an eine Verlobung, Mutter?« »Warum denn nicht!« sagte Mutter Golder. »Der junge Siegert macht doch ziemlich heftige Anstrengungen. Oder bist du grundsätzlich dagegen?« »Nein«, sagte Vater Golder ruhig. »Wenn eins unserer Mädchen ehrlich liebt, und wenn diese Liebe genauso ehrlich erwidert wird, dann ist es mir völlig gleichgültig, wie dieser junge Mann heißt meinetwegen Siegert.« »Leider machen sich in dieser Sache unsere Herren Söhne ein wenig zu selbständig.« »Das sind die Auswüchse der Kindesliebe«, erklärte Vater Golder mit gütiger Ironie. »Ein sonst recht erfreulicher Familientrieb macht sich hier ein wenig allzu breit - sie wollen für uns sorgen! Daß sie dabei Kleinholz fabrizieren, kommt ihnen gar nicht zum Bewußtsein.« »Dabei habe ich sie gewarnt! Ich habe sogar angedroht, ihnen die Ohren lang zu ziehen.« »Um das tun zu können, müßtest du bei Emil beinahe auf einen Stuhl steigen. Und dabei hält er dann noch seine Länge für Größe. Aber Emil ist lediglich ein Rauch und Feuer speiender Vulkan, bei dem nicht unbedingt die Gefahr eines wirklichen Ausbruches besteht. Bedenklicher ist die Sache allerdings bei Otto. Bei dem handelt es sich nämlich um pures Geltungsbedürfnis, und zwar versucht er, so komisch das klingt, seinem vielbewunderten Bruder zu imponieren. Ich habe mir lange überlegt, ob ich ihn nicht gründlich über Emil aufklären soll. Denn mir ist da so nach und nach einiges aufgefallen, das ich recht erheiternd finde. Emil beginnt das auch bereits zu ahnen. Aber das so einfach frei heraus zu sagen, bekomme ich nicht übers Herz. Man soll liebevoll gebaute Luftschlösser nicht brutal zerstören; das erscheint mir unmenschlich.« »Du sprichst in Rätseln, Vater.« »Am wenigsten zu durchschauen aber«, sagte der alte Golder -272-
ablenkend, »ist unser Sohn Paul, der Polizist.« »Er ist absolut korrekt«, sagte Mutter Golder überzeugt. »Er würde niemals eine Dummheit machen.« »Wenn aber - dann gleich eine riesengroße! Nun, hoffen wir, daß er dazu keine Gelegenheit erhält. Mit Gustav muß ein ernstes Wort geredet werden; aber das ist kein Problem, das mache ich schon. Wenn wir dann also so nach und nach alle Hindernisse beseitigen und unseren lieben Gönner Siegert zufriedenstellen, dann, so glaubst du sicherlich, wird auch der Weg frei werden für ein glücklich liebend Paar.« »Das glaube ich.« »Leider aber«, sagte Vater Golder behutsam, »ist mir heute abend etwas sehr Wesentliches klargeworden: Unsere Margarete liebt den jungen Siegert gar nicht; sie spielt lediglich mit ihm. Das geschieht nicht etwa aus Berechnung oder aus Böswilligkeit; aber daß sie ihn nicht liebt, steht für mich fest. Sie weiß vermutlich noch gar nicht, was sie will.« »Das ist schlecht«, sagte Mutter Golder nachdenklich. »Das ist sehr schlecht.« »Dennoch«, sagte Vater Golder mit stiller Heiterkeit, »scheint eine Verlobung in der Luft zu liegen; allerdings nicht zwischen Margarete und dem jungen Siegert. Die daran unmittelbar Beteiligten ahnen noch gar nichts von ihrem Glück.« »Zieh deinen fernöstlichen Fetzen aus und geh schlafen«, sagte Mutter Golder, auf frohe Art verwundert; sie neigte zur Annahme, ihr Mann leiste sich, ihr zur Freude und Beruhigung, einen kleinen Spaß. »Was ich heute nacht alles erleben mußte, scheint dich doch sehr mitgenommen zu haben.«
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Siegert sah mit einem Anflug von Mitleid und nicht ohne Besorgnis auf den reichlich strapaziert erscheinenden Doktor Bächler. »Es wird langsam Zeit«, sagte Siegert fordernd, »daß Sie versuchen, einen klaren Überblick zu gewinnen. Ihr Verhalten«, sagte er. planvoll betrübt, »enttäuscht mich ein wenig; ich muß das ganz offen gestehen.« »Auch ich bin von mir enttäuscht«, sagte Dr. Bächler. »Lieber junger Freund«, sagte Siegert, »jedes Leben - und es mag sich handeln um welches auch immer, ob um das eines primitiven Schlossers oder um das einer umstrittenen Persönlichkeit - jedes Leben also, sage ich, ist voller Glück und Unglück, hat Höhen und Tiefen, wird bestimmt von Augenblicken der Stärke oder Schwäche. Wir pendeln einher; es ist uns dabei nur gegeben, uns zu beherrschen.« »Das mag durchaus sein«, gab Bächler bereitwillig zu; und er ließ nicht die mindeste Lust erkennen, sich auf einen Meinungsaustausch irgendwelcher Art jetzt noch einzulassen. »Und wenn das so ist, dann bin ich eben in diesem Augenblick unten - ganz unten.« »Aber Sie werden nicht unten bleiben«, sagte Siegert suggestiv, »weil Sie nicht unten bleiben wollen und das auch gar nicht können.« »Auch das mag sein«, sagte Dr. Bächler matt. »Ich hatte einmal einen Freund«, erklärte Siegert; und er vermied es dabei, Bächler anzusehen, vermutlich weil er dessen Anblick wenig ermutigend fand. »Es ist schon lange her; wir beide waren damals sehr jung und sahen die Welt zumeist im rosigen Licht, weil wir in den Nächten gut schliefen und wenig Gelegenheit hatten, die Schattenseiten des Daseins kennenzulernen. Vielleicht waren wir ein wenig oberflächlich und allzu unbekümmert; wir allerdings hielten das damals in unserer Jugend für Großzügigkeit und Großmut.« -274-
Dr. Bächler regte sich kaum. Er blinzelte gegen die Morgensonne und sah, umflirrt von frühem Licht, Siegert groß und grau dasitzen, felsenhaft nahezu; trotz seiner sonst gar nicht imponierenden Gestalt wirkte er jetzt massig und wie verwittert. »Jedenfalls«, fuhr Siegert in seiner fast tonlos vorgebrachten Erzählung fort, »passierte es damals meinem Freund, der bis dahin sein Leben freudig und erwartungsvoll zu genießen pflegte, daß er sich in eine Frau verliebte. Derartiges kann vorkommen und kommt gewiß immer wieder vor. Aber wohl nur einmal, wenn überhaupt, in einem Leben ereignet es sich, daß man mit aller Kraft liebt. Das tut man dann völlig selbstlos und hingabefreudig, bis zur Auslöschung der eigenen Substanz.« »Sind Frauen das überhaupt wert?« fragte Bächler ohne sonderliche Anteilnahme und eigentlich nur, um eine Gesprächslücke auszufüllen. »Ich wage diese Ihre Frage nach dem Wert der Frauen nicht zu beantworten«, sagte Siegert schließlich. »Vielleicht gibt es wirklich welche, die jeden Einsatz wert sind und für die kein Opfer zu schade ist. Jene Frau aber, von der ich erzähle, wurde in einer Weise verehrt, geliebt und umsorgt, die ich niemals bei einem Menschen für möglich gehalten habe. Sie wurde in das Zentrum eines ganzen Lebens gestellt; sie war alleiniger, unumstößlicher Mittelpunkt einer Welt. Kaum noch ein Gedanke wurde gedacht, der nicht irgendeinen Bezug auf sie gehabt hätte.« »Und sie«, fragte Bächler mit langsam erwachendem Interesse, »was tat sie?« »Sie hat ihn betrogen und verlassen«, sagte Siegert mit würgender Härte. »Sie ließ ihn monatelang in dem Glauben, daß auch sie ihn liebte. Sie nahm alle seine Liebe, seine Mühen, seine Selbstaufgabe entgegen; und sie belog ihn mit jedem Wort. Anders war das, was kam, nicht zu erklären. Von einem Tag auf den anderen, erschreckend und vernichtend und völlig -275-
übergangslos, erklärte sie ihm: ›Ich habe dich verlassen; ich konnte nicht anders!‹« Bächler sah Siegert verwundert an. »Und Ihr Freund?« fragte er. »Wer?« fragte Siegert zurück, von leichter Verwirrung befallen. »Ihr Freund, dem diese Geschichte passiert ist - wie reagierte er?« »Er wollte sich das Leben nehmen«, sagte Siegert dumpf. »Er hielt schon die Pistole in der Hand aber ich, mein Verstand, mein noch gesund funktionierender Menschenverstand, hielt ihn zurück. Er hat sich gefangen.« »Hat er vergessen können?« »Er hat einsehen gelernt, daß das Leben kein Spielplatz ist. Das Leben ist hart. Es ist ungerecht und voller Leid. Man muß sich damit abfinden. Mehr noch: Man muß von vornherein damit rechnen!« »Warum erzählen Sie mir das alles?« fragte Bächler beunruhigt; und er vermochte sich nicht zu erklären, was es war, das diese Unruhe in ihm auslöste. »Ich erzähle Ihnen das alles«, sagte Siegert, sich zu einer deutlichen, fast unpersönlich sachlichen Sprache zwingend, »damit Sie daraus lernen. Lernen, über den eigenen Schatten zu springen! Man muß die Tiefpunkte seines Lebens mit aller Energie überwinden, wenn man nicht frühzeitig vor die Hunde gehen will.« »Ich danke Ihnen«, sagte Bächler vage, »für Ihr Vertrauen. Sie machen mir wieder Mut.« Siegert erhob sich; und er tat das fordernd und abschließend mit einer unmißverständlichen Geste der rechten Hand, die das Ende dieses Gespräches bestimmte. »Ich begleite Sie noch ein wenig«, sagte er. »Ich bin noch nicht müde; und ich will die -276-
frühe Tageszeit ausnutzen, um mich in meiner Fabrik sehen zu lassen. Derartige Überraschungen pflegen sich schnell herumzusprechen und sind dazu angetan, den Arbeitseifer in erwünschter Weise zumindest konstant zu erhalten.« Sie verließen gemeinsam das Haus und gingen auf die kleine Stadt zu. Nur wenige Menschen begegneten ihnen, aber fast alle bezeugten ihren Respekt dem großen mächtigen Siegert gegenüber, was er aufmerksam registrierte. »Letzten Endes«, sagte Siegert, während sie dem Marktplatz zuschritten, »liegt in jedem Leben auch eine Art Rechnung. Es läßt sich nämlich nicht vermeiden, Menschen zu bewerten, also ihren Wert festzulegen; das geschieht gar nicht einmal so selten in nackten Zahlen, als Gehalt, Lohn, Honorar oder Kredit. Was Sie zum Beispiel mir wert sind, lieber Doktor Bächler, das steht doch wohl ziemlich genau fest. Noch ist mein Vertrauen nicht erschüttert - und Sie wissen ja wohl, daß Vertrauen gleichbedeutend mit Kredit ist. Ein einziger Anruf von mir würde genügen, Ihr Konto zu sperren. Und was wäre dann?« »Dann könnte ich hier einpacken«, sagte Dr. Bächler mit ernüchternder Erkenntnis; ursprünglich verspürte er die ganze bedrohliche Lage, in die er sich hineinmanövriert hatte. »Und selbst wenn mich wieder eine Klinik nehmen wollte, hätte ich lange damit zu tun, meine Schulden abzudecken.« »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, sagte Siegert mit dem zähen Lächeln eines Geschäftsmannes, der eine Fehlinvestierung zielsicher zu vermeiden trachtet. »Wie gesagt: Noch haben Sie Kredit.« Siegert ließ Bächler auf dem Marktplatz stehen, nachdem er ihm die Hand gereicht hatte, zwar ein wenig flüchtig, doch keinesfalls frei von fordernder Herzlichkeit. Er nickte dem übernächtigen, schlafgierigen Arzt zu. Dann lenkte er seine Schritte, ein paar Häuser weiter, zur Polizeiwache hin, vor deren Tür Paul Golder stand. »Guten Morgen, Herr Polizeimeister«, -277-
sagte Siegert verbindlich. Er lüftete seinen Hut, als wäre er einem wichtigen und daher mit Vorzug zu behandelnden Geschäftsfreund begegnet. »Guten Morgen, Herr Siegert«, sagte Paul Golder, der Polizist, mit großer Höflichkeit. »Es ist gut, daß ich Sie treffe«, sagte Siegert. »Leider ist der Anlaß, der mich Sie aufsuchen läßt, schon wieder einmal keineswegs erfreulicher Natur.« »Ich stehe dienstlich stets zu Ihrer Verfügung«, erklärte Paul. »Es handelt sich abermals um eine Anzeige«, sagte Siegert und trat entschlossen näher.
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Die zu Ehren von Emil gegründete Stammtischrunde ›Die Koje‹ kegelte ihre dritte Großrunde um den ›Weltmeerpokal‹ und um die ›Überseetrophäe‹. Die Männer hatten sich die Röcke ausgezogen, rauchten dicke Zigarren und stemmten große Biere. Ihre Stimmen nahmen ständig zu an unternehmungslustiger Lautstärke und kampffroher Rauheit. Den Pokal hatten Emils Freunde gestiftet. Er bestand aus purem Silber, war als Wanderpreis gedacht und mußte nach den Satzungen dreimal hintereinander errungen werden, ehe er in den persönlichen Besitz eines Stammtischmitgliedes überging. Auf ihm war ein Dreimaster eingraviert, dazu der sinnvolle Spruch: Schiffahrt tut not! Diesen Aufruf zur weltumspannenden Seefahrt pflegte Bruder Otto zur allgemeinen Belustigung auf volkstümliche Art zu vereinfachen, indem er ausrief: »Schiffen tut not!« Worauf die gesamte Runde im Gänsemarsch, von Emil angeführt, jenen Nebenraum aufsuchte, wo Männer unter sich sind. »Mit diesen neun, die ich soeben gekegelt habe«, stellte der Großtankstellenbesitzer stolz fest, »liege ich an der Spitze der dritten Großrunde. Danach steht mir das Recht zu, unseren Emil nach seiner diesjährigen Überseetrophäe zu befragen.« Emil nickte gönnerhaft. Die Männer schoben sich näher und umringten im Halbkreis die mittelgroße Kiste, die unter der Registriertafel stand. Diese Kiste war mit Leinwand umspannt und mit Latten vernagelt; kuriose Schriftzeichen in roten, braunen und weißen Ölfarben bedeckten sie. In ihr befand sich die von Emil mitgebrachte, alljährlich lebhaft umkämpfte geheimnisvolle Überseetrophäe. Nach der dritten von fünf Kegelgroßrunden hatte der jeweilige Etappensieger das Recht, Emil um allgemeine Einzelheiten über die Herkunft des begehrten Preises zu ersuchen. Nach der vierten Großrunde war eine ungefähre Beschreibung des Gegenstandes selbst fällig, um so den Endspurt der Kegelbrüder zu beflügeln. Aber erst bei Emils -279-
großem Seemannsball durfte der Siegert unter allgemeiner Anteilnahme die Trophäe auspacken und sie dem begeisterten Volk präsentieren. »Diesmal«, sagte Emil und sah seine Freunde mit vielversprechen - dem Spenderlächeln augenzwinkernd an, »ist es mir wiederum gelungen, euch einen Preis zu stiften, der wahrlich eigenartig ist. Vor drei Jahren brachte ich original chinesische Seide mit. Ich zog sie einem Händler in Singapur buchstäblich aus den Klauen; wo sich die Wunde befindet, die sein Messer verursacht hat, habe ich euch ja wohl schon gezeigt.« Die Anwesenden nickten begeistert. »Diese Seide«, sagte der Kreisstraßenbaumeister anerkennend, »trägt meine Frau immer wieder; sie hat sich einen Schlafanzug daraus machen lassen.« »Und vor zwei Jahren«, sagte Emil, »bestand die Trophäe in einem echten japanischen Samurai-Schwert, rasiermesserscharf geschliffen und mit der Inschrift versehen: Des Gegners Blut wird rot leuchten wie die Morgensonne, die er nicht mehr sieht!« »Ich«, sagte der Leiter des Arbeitsamtes, »konnte damals diesen Preis gewinnen. Ich habe dieses Samurai-Schwert meinem Sohn Egon versprochen. Alljährlich zu Weihnachten zeige ich es ihm und erkläre, daß er es einmal bekommen wird wenn er fleißig ist. Seitdem lernt der Kerl wie verrückt.« »Voriges Jahr«, sagte der Wirt, Molkereibesitzer und Kantinenpächter, »hat es sich um altmexikanischen Schmuck gehandelt.« »Stimmt«, sagte Emil versonnen. »Dem Erwerb dieser kleinen Kostbarkeiten war eine attraktive Schlägerei im Hafen von Veracruz vorausgegangen. Sechs Mexikaner landeten im Krankenhaus. Zwei von unserer Mannschaft waren auf Wochen dienstunfähig; der ' Kapitän zerplatzte fast vor Wut, aber ich -280-
habe die Arbeit der beiden Wackeren mit übernommen, bis sie wieder einigermaßen krauchen konnten.« »Diesen Schmuck«, sagte der Wirt, Molkereibesitzer und Kantinenpächter und rieb sich seine mächtige Speckbrust, »will partout meine Frau haben; aber so einfach kriegt sie ihn natürlich nicht.« Emil lachte breit, und Otto lachte brüderlich mit; Emils Glanz bestrahlte auch ihn. »In diesem Jahr nun«, sagte Emil, »ist mir, so glaube ich, wieder eine Überraschung ganz eigener Art gelungen.« »Wieder etwas ganz anderes?« fragte der Großtankstellenbesitzer neugierig. »Natürlich«, versicherte Emil. »Und besonders dir würde ich diese Trophäe gönnen. Sie paßt irgendwie zu dir und deiner Tätigkeit. Aber noch stehen ja die Endergebnisse, und damit der Sieger, nicht fest. Greifen wir also nicht vor! Nur soviel kann jetzt gesagt werden: Die Trophäe kommt diesmals von den Südseeinseln! Der Erwerb selbst war nicht gerade einfach. In gewisser Weise gefährlich wurde die Sache allerdings erst nachher; und ich kann euch versichern, ich habe diese Sache hier mit Klauen und Zähnen verteidigen müssen, und zwar meinen eigenen Leuten gegenüber. Zeitweise schlief ich sogar mit der Pistole unter dem Kopfkissen, während diese Kiste am Fußende meiner Koje stand, dort also, wo ich sie immer im Auge behalten konnte.« Die Neugier der Anwesenden wuchs. Sie bestürmten Emil, weitere Einzelheiten anzugeben; sie versprachen schließlich, sich mit einigen vagen Andeutungen zufriedenzugeben. Doch Emil blieb in gemütlicher Weise hart. So nahmen sie ihr Kegeln erneut auf. In Besonderheit war es der Besitzer der Tankstelle, der seine Kugel mit Schwung und Hingabe schob. »Diesmal muß ich die Überseetrophäe gewinnen«, bekannte -281-
er Emil in einer Ruhepause. »Ich würde dir das von Herzen gönnen«, sagte Emil und zwinkerte dabei seinem Bruder Otto zu, der grinsend dabeistand. Denn Emil war absolut sicher, daß diesmal der Tankstellenbesitzer gewinnen würde. Das einmal, weil Bruder Otto die Wurfkladde führte; in sie übernahm er die vielen Zwischenresultate, die er persönlich mit Kreide auf die Registriertafel zu schreiben pflegte; einige mehr oder weniger leichte Korrekturen ergaben sich dabei wie von selbst. Dann aber besaß der Kegeljunge Peter eine geradezu sklavische Ergebenheit Emil gegenüber; er hätte sich für den Vergötterten vom Hauptmast aus mitten in einen Haifischschwarm stürzen können. Wenn nun der Kegeljunge bei dem einen oder anderen der Kumpane zusätzlich Kegel zu Fall bringen durfte, so tat er auch das mit Hingabe. Emil liebte die kraftvollmännliche Geselligkeit, und Otto fand in Emils Ansehen die Erfüllung seiner Jugendträume; beide waren sich dahingehend einig geworden, daß es nicht nur klug, sondern auch kameradschaftlich gedacht sei, wenn sie alljährlich das Glück der Kegelsieger ein wenig korrigierten. Nur auf diese Weise konnte so nach und nach jeder der bewährten Freunde einmal in den Genuß der ersehnten Überseetrophäe kommen. Und diesmal war eben die Wahl auf den Tankstellenbesitzer gefallen. Die Kegelkugel rollte dumpf surrend über die Bahn. Die Rauchwolken schoben sich zu den schmalen Fenstern hinaus. Gläser klirrten, und kehlige Männerstimmen gröhlten. »Darf ich die Herren stören?« fragte eine sanfte Stimme von der Tür her. In der Tür stand Paul, der Polizist, und blinzelte mit leicht betrübter, nachsichtiger Miene in den Zigarrenqualm hinein. Er war es gewohnt, sich zu unpassender Zeit unter randalierende Männer mischen zu müssen; höchst unwillkommen fast immer, -282-
manchmal sogar verwünscht und auf Anhieb angefeindet. Er trug auch diese Last seines Amtes mit ruhiger Gelassenheit. »Du willst doch nicht etwa mit uns kegeln?« fragte Otto ehrlich überrascht. »Nein«, sagte Paul sanft, »Ich bin vielmehr in dienstlicher Eigenschaft hier.« »Wenn Sie uns etwa das Kegeln verbieten wollen«, sagte der Wirt, Molkereibesitzer und Kantinenpächter, »so muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Polizeistunde noch nicht überschritten ist.« »Moment«, sagte Paul ungerührt; und seine kühlen, sanften Augen glitten nachsichtig prüfend über die nicht gerade korrekt gekleideten Sauf- und Kegelbrüder. »Ich bin hier, um einer Anzeige nachzugehen. Sie lautet: Gegen Emil Golder und Konsorten. Sie betrifft: Nächtlichen, ruhestörenden Lärm; das Absingen schmutziger Lieder. Letzteres kommt zusätzlich einer Verletzung des allgemeinen sittlichen Empfindens gleich.« »Und erstattet hat diese Anzeige kein anderer als Siegert!« rief Otto mit nahezu revolutionärem Schwung. »Ich ersuche die betroffenen Herren«, verkündete Paul mit sanfter Eindringlichkeit, »sich im Verlaufe des morgigen Vormittags, zwischen neun und zwölf Uhr, auf dem hiesigen Polizeirevier zwecks Einvernahme einzufinden. Im übrigen erlaube ich mir darauf aufmerksam zu machen, daß in fünf Minuten Polizeistunde ist.« Paul legte die Hand an seine Polizeimütze und grüßte korrekt; dann verschwand er still und sanft, wie er gekommen war. Unhörbar zog er die Tür ins Schloß und ließ die Pokal- und Trophäenkegler zurück, die zunächst zwischen Überraschung und Empörung schwankten. »Meine lieben Freunde«, sagte Emil, »laßt mich nur die Sache deichseln. Wer denn anders als ich soll dieses Kind schaukeln? Die Anzeige dieses Kerls geht doch eindeutig gegen mich – was -283-
›und Konsorten‹ sind, wird niemand aus mir herausbekommen.« »Dieser Entschluß«, sagte der Tankstellenbesitzer, »ehrt dich, Emil. Er beweist unsere Freundschaft. Aber Freundschaft kann doch niemals einseitig sein - findet ihr das nicht auch? Ich jedenfalls werde nicht zulassen, daß du dich für uns opferst!« »Niemand wird das zulassen«, versicherte der Wirt, Molkereibesitzer und Kantinenpächter; und er stellte sich demonstrativ vor seinen liebsten und wertvollsten Gast. »Außerdem - was kann uns schon passieren? Ruhestörender Lärm kostet kaum mehr als zehn Mark. Und das muß uns doch die Sache wert sein.« »Und das Absingen schmutziger Lieder?« fragte der Hauptlehrer besorgt. »Das Verletzen des sittlichen Empfindens? Darauf steht, wenn ich nicht irre, Gefängnis?« »Freunde«, sagte Emil, »in Casablanca war ich einmal mit der gesamten dienstfreien Mannschaft in einem Puff, aber der Herbergsvater verweigerte uns die primitivste Gastfreundschaft. Empört zogen wir davon. Und am nächsten Tag behauptete doch der Gauner, wir hätten dabei unsere Hosen heruntergelassen und ihm außerdem die Einrichtung demoliert. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung. Und was soll ich euch sagen: Vierzehn Aussagen von uns standen gegen die Behauptung eines Schuftes! Natürlich wurden wir freigesprochen.« »Jedenfalls«, grollte Otto, »bin ich für diesen Kerl noch lange nicht ›und Konsorten‹ - seid ihr das etwa? Es ist eine Schande, wie der uns zu behandeln wagt! Nur ganz schäbige Hunde können sich das ungestraft gefallen lassen! Aber mit mir kann man das nicht machen - was mich anbelangt, so habe ich das feste Gefühl, morgen wird der Strom ausfallen, und zwar für den ganzen Tag!« »Du bist ein Mann nach meinem Herzen!« rief der Tankstellenbesitzer kameradschaftlich und legte seinen Arm um Otto. »Aber ich bin auch keine Filzlaus. Ich schließe morgen -284-
meine Betriebe. Damit lege ich dem Kerl den ganzen Wagenpark lahm.« »Das ist aber verdammt peinlich«, sagte der Kreisstraßenbaumeister und grinste freudig. »Denn zu allem Überfluß muß ich morgen alle meine Baukolonnen ausgerechnet auf der Straße zweihundertzwölf ansetzen, und das ist die einzige Straße, die zur Papierfabrik führt.« »Wie sich das trifft!« rief der Wirt, Molkereibesitzer und Kantinenpächter entzückt. »Dann brauche ich ja morgen nichts zu liefern, weil ich gar nicht durchkommen würde. Essen und Trinken für die gesamte Belegschaft muß also ausfallen.« »Und eine eingehende Überprüfung dieses Betriebes«, stellte der Leiter des Arbeitsamtes fest, »ist auch schon lange fällig. Es wäre beinahe schon Pflichtvergessenheit, wenn ich damit nicht gleich morgen anfangen würde.« »Jetzt weiß ich ganz genau«, rief Emil begeistert, »daß ihr meine Freunde seid! Und letzten Endes verdanke ich diese Erkenntnis unserem lieben Siegert! Ob wir ihm nicht ein ausgedehntes Ständchen bringen sollten?«
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Sielenmeyer trug schwer an der Last dessen, was er sein Schicksal nannte. Tief gebückt und mit schleppenden Schritten betrat er das Büro des Direktors Siegert, hielt seine Mütze in schlaffen Händen und blieb abwartend an der Tür stehen. Er blickte aus entzündeten Augen trostlos in den Raum, und seine Stimme klang, als friere er. »Ich bin herbestellt«, sagte er. Siegerts Sekretärin sah von ihrer Routinearbeit hoch, erkannte Sielenmeyer und nickte ihm anteilnehmend zu. »Sie können einem wirklich leid tun«, sagte sie. »Ich werde Sie gleich dem Chef melden.« »Ja«, sagte Sielenmeyer schwer. »Das ist schlimm.« Die Sekretärin nickte abermals und begab sich in Direktor Siegerts Zimmer. Sielenmeyer stand regungslos wartend da, starrte auf den Fußboden und dachte weiter über sich und sein schweres Los nach. Er hatte viel Unglück in seinem Leben gehabt, viel mehr, so schien ihm, als jeder andere; daß ihm auch noch die Frau sterben mußte, war einfach zuviel. Direktor Siegert betrat sein Vorzimmer, von der Sekretärin gefolgt; er ging auf Sielenmeyer zu, gereckt und würdig, mit raumgreifenden und dennoch nahezu feierlich wirkenden Schritten. Er blieb vor Sielenmeyer, der sich aufrichtete, stehen und reichte ihm die Hand. »Mein Beileid«, sagte Siegert und neigte ein wenig den Kopf. »Danke«, sagte Sielenmeyer ergriffen. Und wieder schienen Tränen in seine Augen treten zu wollen; aber er weinte nicht, deutete jedoch seine starke männliche Rührung durch heftiges Nasenschnauben an. »Ich verstehe Sie sehr gut, mein lieber Sielenmeyer«, versicherte Siegert. »Der Verlust, der Sie betroffen hat, ist groß.« »Sie war so eine gute Frau«, sagte Sielenmeyer dumpf. »Auch ich«, sagte Siegert gedämpft, »habe ähnliches durchmachen müssen - auch mir starb meine erste Frau.« -286-
Sielenmeyer schnaubte abermals heftig durch die Nase. Die vertraulich klingenden Worte seines Direktors spendeten ihm Trost. Kurz blitzte in ihm der Gedanke auf, daß nun auch er sich nach einer zweiten Frau umsehen müsse; »Ja«, sagte er, »das ist schwer.« »Jeder Schmerz, auch der größte«, erklärte Siegert tröstend, »geht einmal vorüber. Das Leben fordert sein Recht, und wir haben uns seinen Gesetzen zu fügen. Was geschehen ist, ist geschehen - zu ändern ist es nicht.« »Aber es ist schwer, sehr schwer«, sagte Sielenmeyer. »Daß Sie das nicht leicht nehmen, mein lieber Sielenmeyer, ehrt Sie. Aber irgendwelche Vorwürfe brauchen Sie sich nicht zu machen - ich finde, das ist besonders wichtig. Sie haben getan, was Sie konnten. Sie haben sogar außer der Hebamme noch einen Arzt zu Rate gezogen.« »Dank Ihrer Hilfe, Herr Direktor«, erklärte Sielenmeyer gerührt. »Es ist nicht der Rede wert«, sagte Siegert abwehrend, »es war eine Selbstverständlichkeit. Genauso wie es selbstverständlich ist, daß ich Sie für die nächsten Tage beurlaube - sagen wir: für die nächsten drei Tage, bei vollem Lohn, selbstverständlich.« »Herr Direktor sind zu gütig«, stammelte Sielenmeyer ergriffen. »Ich tue das doch gerne«, sagte Siegert mit großer Selbstverständlichkeit. »Und bis dahin werde ich mir überlegen, was sonst noch geschehen kann. Vielleicht teile ich Ihnen einen anderen Arbeitsplatz zu, einen, der mit einer gewissen Lohnaufbesserung verbunden ist.« Sielenmeyer, schier überwältigt von soviel Güte, griff spontan nach der Hand seines Direktors und drückte sie heftig. Er stammelte ein paar dankbare Worte und versuchte, Wasser in seine Augen zu pressen. Dabei schüttelte er den Kopf, als -287-
vermöge er nicht oder nur mühsam zu begreifen, warum die Welt ihn, den Schwergeprüften, doch noch nicht ganz abgeschrieben und vergessen habe. Siegert überreichte Sielenmeyer ein von der Direktionssekretärin bereitgehaltenes Kuvert, in dem sich, wie er dezent ausführte, eine ›Begräbniszulage‹ befand. »Ich würde es begrüßen«, fügte er behutsam fordernd hinzu, »wenn Sie Doktor Bächler aufsuchen würden, und zwar umgehend, um sich bei ihm für seine Hilfe zu bedanken. Das, scheint mir, erfordert der Anstand. Und, wie gesagt, ich würde das begrüßen.« Sielenmeyer versprach ergeben, das sofort zu tun. Er durfte noch einmal die Hand seines Direktors drücken, sah diesen entschreiten und stand dann, noch leise benommen von dem erhebenden Erlebnis dieser Minuten, allein im Raum. Er brauchte geraume Zeit, um sich wieder zu sammeln; dann ging er, gestärkt, davon. Er stand kurze Zeit danach, die Mütze wieder in den Händen haltend, Dr. Bächler in dessen leer und kahl erscheinendem Praxisraum gegenüber. Der junge Arzt sah seinen Besucher ernst und forschend an; er war auf einiges Unerfreuliche gefaßt. Er lehnte sich, die Hände rückwärts aufgestützt, gegen seinen Schreibtisch. »Ich kann mir denken, warum Sie kommen«, sagte Dr. Bächler. »Ja«, sagte Sielenmeyer und vermied es, dem Arzt ins Gesicht zu sehen. »Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken.« »Was wollen Sie?« fragte Bächler nahezu fassungslos. »Mich bei Ihnen bedanken - wie sich das ja wohl auch gehört.« »Wofür denn?« fragte Bächler erregt zurück. »Wofür wollen Sie sich denn bedanken - dafür etwa, daß Ihre Frau nicht mehr -288-
lebt?« »Sie haben doch getan, was Sie konnten.« »Jawohl - ich habe getan, was ich konnte! Aber viel war das nicht!« »Hätte denn ein anderer Arzt sie retten können?« fragte Sielenmeyer betrübt und lauernd zugleich. Er hob ein wenig den Kopf, und seine geröteten Augen wurden kleiner. »War denn überhaupt noch irgend etwas zu machen?« »Nein«, sagte Bächler, »ich glaube es nicht - in dem Zustand jedenfalls nicht. Es war hoffnungslos.« »Na ja«, sagte Sielenmeyer dumpf, »es sollte eben sein. Wird die Rechnung sehr hoch werden, Herr Doktor?« »Sie brauchen keinen Pfennig zu bezahlen«, sagte Bächler eilig, »mir jedenfalls nicht. Aber wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann gehen Sie zu der Hebamme Golder und erzählen Sie ihr alles, was Sie mir soeben gesagt haben. Alles!« Sielenmeyer nickte willig und entfernte sich, froh, diese Unterredung hinter sich gebracht zu haben. Sie war ihm mehr als nur unangenehm gewesen, sie entsprach nicht seiner Überzeugung; und er hatte sich nur auf sie eingelassen, um seinen Direktor, dem er so überaus verpflichtet war, nicht zu enttäuschen. Er begab sich in eine Kneipe, trank einen Schnaps, Direktor Siegert zu Ehren, dann einen weiteren, um sein großes Leid ein wenig zu vergessen, hierauf einen dritten, um sich für eine Unterredung mit der Hebamme Golder zu stärken. Und einen vierten Schnaps trank er so nebenbei, um die Endsumme abzurunden; denn vier Schnäpse kosteten genau eine Mark. Er zahlte, dankte für das vom Kneipenwirt ausgesprochene Beileid und begab sich in die Ritterstraße, wo er bei Golders heftig klopfte. Mutter Golder war gerade dabei, mit Margarete einen -289-
Kuchenteig für den Sonntag und für irgendeinen Geburtstag und für Emil anzurühren. Sie nickte Sielenmeyer zu und schien nicht gewillt, ihre Beschäftigung zu unterbrechen. »Freut mich«, sagte sie, »daß Sie mich besuchen kommen.« »Eine Freude will ich Ihnen gar nicht machen«, sagte Sielenmeyer alkoholgestärkt; und er versuchte, sie fordernd anzusehen. »Ich war eben bei Doktor Bächler - und der hat mich zu Ihnen geschickt.« Mutter Golder beauftragte ihre Tochter Margarete, weiter den Teig umzurühren. Sie säuberte sich die Hände mit einem Handtuch und kam auf Sielenmeyer zu. »Hat Ihnen der Doktor zu trinken gegeben?« fragte sie. »Der Doktor«, sagte Sielenmeyer rauh, »hat mir gesagt, daß er bei meiner Frau getan hat, was er konnte. Stimmt das?« »Das wird schon stimmen«, sagte die Hebamme bedächtig. »Also ist es nicht seine Schuld, wenn sie starb?« »Hat das der Doktor genauso gesagt?« fragte Frau Golder langsam. »Hat er etwa gelogen - behaupten Sie das?« »Ich habe das nicht behauptet!« »Also kann ich ihm glauben?« »Tun Sie das«, sagte die Hebamme und betrachtete dabei ihre Hände. Dann warf sie einen schnellen Blick zu Margarete hinüber, die aufgehört, hatte, den Teig zu rühren. Margarete nahm sofort die unterbrochene Arbeit wieder auf, hörte aber, mit leicht seitwärts geneigtem Kopf, genau zu. »Wenn also, wie Sie zugeben, der Arzt keine Schuld an dem Tod meiner lieben Frau hat«, sagte Sielenmeyer lauernd, »dann muß die Schuld bei wem anders liegen.« Mutter Golder sah ihren Besucher scharf und ruhig an. »Also waren Sie das!« rief Sielenmeyer dumpf triumphierend. »Wenn er es nicht war, müssen Sie das gewesen sein. Sie haben meine Frau ...« -290-
»Raus!« rief Mutter Golder hart. »Machen Sie, daß Sie hier rauskommen, Sielenmeyer!« Sie ging langsam, mit bedrohlicher Entschlossenheit auf ihn zu. Der hob, aus Protest und Abwehr zugleich, beide Hände. Er öffnete den Mund weit; Alkoholdunst entströmte ihm. Seine Augen funkelten böse. Er machte eine hastige Kehrtwendung, riß die Tür auf und entschwand.
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Margarete betrachtete das Praxisschild, das an der frischgestrichenen Tür hing, aggressiv und verächtlich. Sie hob ihr zierlich gebogenes Näschen noch ein wenig höher als sonst, sie fuhr mit dem ausgestreckten Zeigefinder der rechten Hand über die Buchstabengruppen, die da besagten: DR. MED. ROBERT BÄCHLER Prakt. Arzt und Geburtshelfer Sprechstunden: wochentags von 8-12 Uhr »Das sieht ihm ähnlich«, sagte Margarete entrüstet; sie besah ihre Fingerspitze, die staubig geworden war. Dann drückte sie heftig auf den Klingelknopf, heftig und mit Ausdauer. Die Glocke schrillte alarmierend durch die Stille des Hauses. Sie hörte hastige, sich nähernde Schritte. Die Tür wurde aufgerissen und Bächler, hochrot vor Zorn, steckte seinen Kopf heraus. »Was soll dieser Lärm«, rief er und kniff seine Augen zusammen, jedoch nur, um sie sofort wieder aufzureißen »Sie haben doch nicht etwa geschlafen?« fragte Margarete stark interessiert. »Sie haben mir gerade noch gefehlt!» rief Bächler. Er fühlte sich in die Verteidigung gedrängt, denn er hatte tatsächlich geschlafen; und es kostete ihn einige Mühe, seine Müdigkeit so schnell zu überwinden. »Was wollen Sie von mir?« »Ihnen sagen, daß Sie ein Miststück sind«, erklärte Margarete mit eindringlicher Schlichtheit. Und sie leistete es sich sogar, ihn dabei kühl anzulächeln. Dr. Bächler mußte sich sehr anstrengen, um seine Fassung zu bewahren. Er suchte mechanisch Halt am Türpfosten und fand ihn auch. »Kommen Sie herein«, sagte er fordernd. »Was ich Ihnen zu sagen habe«, erklärte Margarete beharrlich, »kann das ganze Haus hören - von mir aus: die ganze Stadt.« »Wenn Sie nicht hereinkommen wollen, dann scheren Sie sich -292-
zum Teufel!« Damit wendete er ihr seinen breiten Rücken zu und ging hinein. Die Tür ließ er weit offen. Margarete zögerte kurz, ehe sie ihm nachging. Ihre Bewegungen waren von großer Selbstverständlichkeit; und sie machte den Eindruck, als gedenke sie die ganze Praxis einschließlich Praxisinhaber zu kaufen. Sie sah sich prüfend um. Sie blickte kurz in den Warteraum hinein und begab sich dann in sein Ordinationszimmer. »Nicht schlecht - was?« fragte Dr. Bächler mit naivem Besitzerstolz. »Sie haben sich ganz schön schmieren lassen«, erklärte Margarete ungerührt. »Sie wollen mich mit aller Gewalt beleidigen«, stellte Bächler ärgerlich fest. »Was versprechen Sie sich davon? Was bezwecken Sie damit? Was wollen Sie eigentlich von mir? Habe ich Ihnen irgend etwas getan?« »Sie - mir?« fragte Margarete zurück und gab sich höchst erstaunt. »Sollte Ihnen denn wirklich nicht klar sein, daß Ihr Verhalten meiner Mutter gegenüber als eine glatte Schweinerei bezeichnet werden muß?« »Sie sehen das nicht richtig«, erklärte Bächler unruhig. »Indem ich, als der Hauptverantwortliche, die fraglichen Vorgänge ins rechte Licht rücke, helfe ich damit doch nicht nur mir, sondern praktisch auch Ihrer Mutter.« »Meine Mutter hat Ihre Hilfe nicht nötig, verehrter Herr. Sie sind der allerletzte, der für etwas Derartiges in Frage kommt. Das sollten selbst Sie langsam gemerkt haben.« »Wenn Sie sich so aufregen«, sagte Bächler spontan, »sehen Sie verteufelt hübsch aus.« »Das«, sagte Margarete, empört nach Worten suchend, »das ist wohl das Unverschämteste, das ich jemals gehört habe! Was denken Sie sich eigentlich dabei?« -293-
»Vielleicht sage ich Ihnen das später einmal, Margarete. Oder hören Sie es lieber, wenn ich Sie mit Rita anrede?« »Nur noch ein Shakespeare«, sagte Rita heftig, »hätte sich ein Monstrum ausdenken können, wie Sie eins sind: die Mutter ins Unglück stürzen und die Tochter verführen wollen! Grinsen Sie nicht so dumm vor sich hin!« Bächler betrachtete das blutjunge, vor Erregung glühende Mädchen mit heftig wachsendem Interesse. Ihr Anblick beglückte ihn maßlos; und er war überzeugt, noch niemals vorher ein derartig aufregendes Menschenkind gesehen zu haben. »Am liebsten«, sagte er, »würde ich jetzt fragen: Was wollen Sie trinken? Aber das ist sinnlos. Ich habe sowieso nur Kognak im Haus. Mögen Sie ein Glas davon?« »Was denn - besoffen machen wollen Sie mich auch noch? Mir ist schon schlecht, wenn ich Sie nur sehe!« Doktor Bächler angelte aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund, schritt zum Wandschrank, auf dem ein großer Totenkopf prangte, öffnete die dreifach verschlossene Tür und entnahm dem inneren Giftfach eine halbvolle Kognakflasche. »Das wird uns guttun«, sagte er. »Woher wollen Sie wissen, was mir guttut«, warnte Margarete ungnädig, »ich bin weder ein kleines Kind noch eine Patientin von Ihnen. Und Sie glauben doch nicht etwa, daß ich mich mit einem schäbigen Kognak besänftigen lasse?« »Auch nicht mit einem großen - noch dazu mit einem von bester Qualität?« Bächler nahm zwei Wassergläser, die neben einer Karaffe auf dem Fenstertisch standen und füllte sie halb voll. »Darauf, daß wir uns weiterhin so gut verstehen«, sagte er. Und hielt ihr ein Glas entgegen. Margarete rührte sich nicht. Ablehnend bog sie ihren Oberkörper ein wenig zurück. Ihr rosiges Gesicht mit der niedlichen Nase war maskenhaft erstarrt. Aber ihre Augen funkelten und glitzerten gefährlich; und sie spürte bestürzt -294-
zuerst, daß Bächler diese als Ablehnung gedachte Demonstration gründlich mißverstand und ungemein anziehend fand. »Wir machen es uns doch wohl ein wenig zu einfach«, sagte sie tonlos, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie rührte sich dabei nicht. Lange Sekunden blieb sie so, gegen seinen Schreibtisch gelehnt, stehen. Langsam ließ er das Glas, das er ihr entgegengehalten hatte, sinken. Sein Lächeln verstärkte sich noch. Er ging ein paar Schritte zurück; dann begann er, beide Gläser in den Händen haltend, im Zimmer auf und ab zu wandern. »Ich versuche gar nicht, Ihnen irgend etwas vorzumachen, Rita«, sagte Bächler vorsichtig. »Und ich weiß, daß Sie das genau erkannt haben, wenn Sie es auch nicht zugeben wollen.« »Nichts auf Kosten meiner Mutter«, sagte Margarete starr. »Ich könnte jetzt«, sagte Bächler und sah Margarete unverwandt an, »ungefähr folgendes erklären: Der Ausgang dieser peinlichen Geschichte entscheidet über meine ganze Laufbahn. Wenn es ganz schlimm könnt, kann ich in Zukunft Steine klopfen gehen.« »Schaden würde Ihnen das nichts«, erklärte Margarete überzeugt. »Aber wer heiratet denn schon einen Chausseearbeiter?« »Eine, die Sie wirklich liebt«, sagte Margarete. »Und wenn ich etwas Derartiges einer Frau, die einmal meine Frau sein soll, nicht zumuten will, vielleicht gar nicht zumuten darf - was dann? Wenn ich weiterhin fest davon überzeugt bin, daß ich nichts anderes sein kann als Arzt - was dann? Und wenn es so ist, dann könnte ich nunmehr sagen: Ich habe noch ein ganzes Leben vor mir und bin auch für die Frau verantwortlich, die dieses Leben mit mir teilen soll. Eine Hebamme Golder aber ...« -295-
»Mutter ist noch lange nicht am Ende!« rief Margarete heftig. »Aber ob ich heute am Ende bin oder erst in ihrem Alter, also zwanzig Jahre später - das ist wohl doch ein großer Unterschied.« »Sie denken nur an sich - und vielleicht noch an eine Frau. Was ist das schon. Mutter hat an einen Mann zu denken und an sieben Kinder und an noch viele andere Menschen. Was ist dagegen ein Doktor Bächler mit seiner geschmierten Praxis.« »Warum beschimpfen Sie mich eigentlich immer nur, Rita?« Bächler blieb vor dem Mädchen, das nun nicht mehr vor ihm zurückwich, stehen. »Dabei ist doch alles ganz einfach zu lösen.« »Auf Kosten anderer Menschen!« Bächler schüttelte langsam den Kopf. Und jetzt vermied er es, ihr in die Augen zu sehen; er schien die beiden Gläser zu betrachten, die er in seinen Händen hielt. »Sie glauben von mir, Rita, daß ich ein skrupelloser Bursche bin, ein Mistvieh - wie Sie mich vorhin tituliert haben.« »Ich sagte Miststück«, erklärte Margarete sanft. »Nun gut. Mag vielleicht sogar sein, daß Sie recht haben oder wohl besser recht hatten! Ich versuche, mich meiner Haut zu wehren! Daß dieser Versuch dann obendrein noch anderen ganz gut ins Konzept paßt, kann schon sein, aber das ist für mich erst in zweiter oder dritter Linie wichtig. Ich wehre mich also meiner Haut - nichts ist natürlicher.« »Also muß, wenn es nach Ihnen geht, Mutter daran glauben?« »Von mir«, sagte Bächler und sah dabei Margarete kurz und fordernd an, »hängt das nicht ab.« »Von mir etwa?« »Genau!« Bächler trank, wie um sich zu stärken, ein wenig aus einem Glas. »Vielleicht könnte es wirklich so aussehen, als wollte ich die Hebamme Golder belasten, indem ich mich, durch -296-
günstige Umstände erleichtert, reinwasche. Aber glauben Sie im Ernst, Rita, es würde auch nur ein Mensch anzunehmen wagen, daß ich etwa die Absicht haben könnte, mich auf Kosten meiner Schwiegermutter zu entlasten?« Margarete war fassungslos und öffnete ihre Augen weit. »Was soll das heißen?« »Habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt, Rita?« »Mutter erlaubt das nie«, sagte Margarete leise, kaum vernehmbar; und sie atmete gepreßt. Bächler ging langsam auf das Mädchen zu. »Dann«, sagte er und blieb dicht vor Margarete stehen, »müssen wir sie eben vor vollendete Tatsache stellen!« Margarete sah in das Gesicht, das unmittelbar vor ihren Augen war; sie sah sein Lächeln, und dieses Lächeln irritierte sie. Denn sie hatte in einer Situation wie dieser nahezu feierlichen Ernst erwartet. Und außerdem sträubte sich alles in ihr dagegen, über das soeben Gehörte nachzudenken oder etwa gar daran zu glauben. Verwirrung überflutete sie wie eine Welle. Spontan stieß sie ihn zurück. »So einfach«, rief sie heftig, »geht das nun doch nicht, Herr Doktor!« »Ich heiße Robert«, sagte Bächler friedlich. »Und ich habe mir :immer gewünscht, daß ein Mensch, der mich liebt, Bert zu mir sagt.« Sie sah ihn mit großen, fragenden, funkelnden Augen an. Dann stürzte sie hinaus, fluchtartig; als werde sie von einem Rudel gieriger Jagdhunde verfolgt. Sie schlug die Tür des Ordinationszimmers heftig hinter sich zu. Nach wenigen Sekunden schlug sie die Wohnungstür zu, nicht minder heftig. Kurz danach die Haustür. Dr. Bächler horchte diesen barbarischen Geräuschen nach, als vernehme er Mozartmusik. Er trank ein Glas nach dem anderen -297-
aus. »Welch ein Mädchen!« sagte er.
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Emil fühlte sich in der Kampagne contra Siegert wie ein Großadmiral; breit und gelassen saß er da. Otto hingegen hing froh und erwartungsvoll am Telefon, dann hüpfte er munter zwischen den Stühlen des Stammtisches ›Die Koje‹ umher. Mit trefflichen Worten redete er auf ›die Freunde der guten Sache‹ ein. »Nach meinen Informationen«, verkündete er beglückt, «ist Siegert nahe daran, vor Wut zu zerplatzen!« »Wir brauchen ihn lebend«, sagte Emil gemütlich; und die Freundesrunde röhrte fröhlich Beifall. Die Anwesenden genossen die Früchte ihrer Taten mit jugendlichem Stolz. Sie bevölkerten bereits am frühen Nachmittag den ihnen angestammten Platz in Emils Lieblingsrestaurant. Hier erstatteten sie Bericht, hörten sich die Berichte der anderen an, kritisch zwar, doch auch mit Wohlwollen. Den neueintreffenden Nachrichten lauschten sie mit inniger Anteilnahme, und immer wieder versuchten sie, sich gegenseitig mit handfesten Erzählungen zu überbieten. »Ich«, sagte Otto Golder und zwinkerte heftig, »bin nahezu sterbenskrank. Jedenfalls bin ich nicht in der Lage, ohne Gefahr für Leib und Leben irgendwelche anstrengende Tätigkeit auszuführen. Das habe ich schriftlich, von unserem guten alten Doktor.« »Wie sich das trifft«, bemerkte der Stadtinspektor, dem das Arbeitsamt unterstand, versonnen. »Da sieht man wieder einmal, wie wertvoll und wie entscheidend doch eine einzige Persönlichkeit sein kann. Aber ich wußte das schon immer: Ohne das Arbeitsamt und die Arbeiter könnten die Fabrikanten am Hungertuche nagen. Denn wenn wir sie im Stich lassen, sind sie im Eimer; sie sind bei ihrer Konstitution ja nicht einmal fähig, Kühe zu hüten oder Straßen zu fegen.« »So ist nun mal das Leben«, verkündete Otto tiefsinnig. »Gerade heute muß mir das passieren, wo eine dringende -299-
Reparatur fällig ist, die kein anderer als ich ausführen kann. Der liebe, gute Herr Siegert, und seine Fabrik - so ganz ohne jeden Strom! Wie leid mir das doch tut!« Die Anwesenden wieherten ein heftiges Gelächter durch den darauf wild aufflatternden Zigarrenrauch; sie nickten sich zu und tranken. Sie fühlten sich zu großen Taten beflügelt. Die großen Gastzimmertüren wurden aufgestoßen, und eine Anzahl Arbeiter des Siegertwerkes strömten herein. Sie grüßten Emil und seine Kumpane und verteilten sich an den freien Tischen, muntere Redensarten von Freizeit und Freibier vor sich hermurmelnd. Sie ließen sich behaglich nieder, stürzten sich auf die Tischplatten und verlangten zu trinken. »Diese Herren«, verkündete Emil mit großspurig einladender Bewegung, »sind meine Gäste.« Die Herren dankten und gaben unmißverständlich zu erkennen, daß sie sich geehrt fühlten. Der Leiter des Arbeitsamtes setzte sich für einige Minuten zu ihnen und klärte sie dahingehend auf, daß dieser Arbeitsausfall, bei korrekter Auslegung der bestehenden Bestimmungen, keinerlei Lohnausfall mit sich bringen würde; er garantiere dafür. So stieg denn die allgemeine Fröhlichkeit mit ständig wachsender Beschleunigung an. Ein großes Rudel Straßenarbeiter, fast das ganze Personal der stillgelegten Tankstellen und weitere Fabrikarbeiter und Angestellte gesellten sich erlebnisfreudig, wie durch Geheimkuriere benachrichtigt, hinzu. Ein großzügiger Nachmittagsschoppen auf breitester Basis bahnte sich an. Und der Wirt, tief beglückt über das große Geschäft, war einfallsreich genug, Emil und seinen Freunden stimmungsfördernde Sonderpreise zu gewähren. Beim gemeinsamen Absingen des erhebenden Liedes von der Rasenbank am Eiterngrab, die der schönste Platz sei, den die Anwesenden auf Erden hätten, einem Chorus von gewaltiger Innigkeit, öffnete sich die Fügeltür des großen Gastzimmers. -300-
Paul Golder, der Polizist, erschien dort. Er blieb eine kurze Zeitspanne stehen und musterte die Anwesenden mit bedrohlicher Sanftmut. Dann schritt er auf den Stammtisch zu. Niemand schien ihn, der bemützt und umgürtet war, vorerst zu bemerken. Sie öffneten ihre Münder weit und starrten vor sich hin; sie widmeten sich ihrem Lied. Und Paul wartete standbildhaft ab, bis sie geendet hatten. »Was willst du trinken?« fragte Emil seinen Bruder. »Ich bin dienstlich hier«, antwortete Paul ablehnend. Emil lehnte sich gemächlich zurück, wie es auch viele der Anwesenden erwartungsvoll taten. »Ihre Tankstellen«, sagte Paul und wandte sich an den ihm zunächst Sitzenden, »sind geschlossen. Das ist nicht im Interesse der öffentlichen Ordnung.« »Ich bin ein freier Unternehmer«, sagte der Tankstellenbesitzer gelassen, wobei er es nicht versäumte, den allgemeinen Beifall seiner Runde augenzwinkernd zu kassieren. »Ob ich meine Ware verkaufe oder nicht, das ist allein meine Sache.« Paul steckte diese Belehrung mit guter Haltung und unbeweglichem Gesicht ein. Er wandte sich an den Straßenmeister, der, sich stärkend, aus seinem großen Bierglas schlürfte. »Sie haben die Straße zweihundertzwölf aufreißen lassen und damit den Verkehr lahmgelegt.« »So was kann vorkommen«, sagte der Befragte und nickte zufrieden vor sich. »Aber doch nicht«, sagte der Polizist Paul mit der ihm eigenen sanften Hartnäckigkeit, »ohne vorherige Ankündigung und die Schaffung von Ausweichmöglichkeiten.« »Fliegen sollte man eben können«, sagte der Straßenbaumeister und heimste zustimmendes Gelächter ein. »Eine andere Ausweichmöglichkeit für Sackstraßen ist leider -301-
noch nicht gefunden. Und da wir auch keine Brückenbauer sind, bleibt nur die Umfahrung der aufgerissenen Straße auf dem danebenliegenden Landstreifen übrig. Und was die vorherige Ankündigung anbelangt, so habe ich selbstverständlich derartiges von Amts wegen geschrieben - vor einigen Monaten bereits. Aber vielleicht ist der Brief nicht angekommen?« »Ich werde das nachprüfen«, verkündete Paul mit sanfter Schärfe. »Seit wann denn«, fragte der Leiter des Arbeitsamtes interessiert, »ist die Polizei auch zugleich oberste Straßenbaubehörde?« An Pauls Unerschütterlichkeit glitt auch diese anzügliche Bemerkung ab. »Und dich«, sagte er zu seinem Bruder Otto, »fordere ich auf, deiner Arbeit im Elektrizitätswerk unverzüglich nachzugehen.« Otto weidete sich in dem Bewußtsein, nunmehr seine große Szene zu erleben und auskosten zu können. Er richtete sich erwartungsvoll auf und wollte wissen: »Sprichst du dienstlich mit mir?« »Ja«, sagte Paul; und er harrte tapfer im Mittelpunkt des allgemeinen, auf Hohn und Neugier basierenden Interesses aus. Er betrachtete, äußerlich völlig ungerührt, die Menschen, die ihn in stattlicher Menge umsaßen und die zu erwarten schienen, daß er ihnen alsbald zum Fraß geworfen werde. »Ja«, sagte er abermals, »dienstlich.« »Wenn dem so ist«, sagte Otto feixend, »dann müßtest du eigentlich Sie zu mir sagen.« »Du kommst sofort mit«, sagte Paul. »Ein Elektrizitätswerk ist kein Privatunternehmen, es ist eine öffentliche Einrichtung.« »Das ist eine Bedürfnisanstalt auch«, erklärte Otto zum allgemeinen Vergnügen. »In diesem Falle«, sagte Paul beharrlich, »liegt ein Notstand -302-
vor. Das gibt uns automatisch besondere Vollmachten. Nach dem Gesetz bin ich durchaus in der Lage, dich zu deiner Arbeit zu zwingen.« »Doch nicht etwa mit Gewalt?« fragte Otto entzückt und mit funkelnden Augen. »Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln!« »Aber mich doch nicht«, sagte Otto; und er genoß seines großen, berühmten Bruders Emil strahlende Zustimmung. »Ich bin nämlich krank - schwer krank.« »Was bist du?« fragte Paul; und zum erstenmal schien er überrascht zu sein. Otto griff, sich hoheitsvoll zurücklehnend, mit aufreizend langsamen Bewegungen nach seiner Brieftasche. Er legte sie fast feierlich vor sich auf den Tisch, nachdem er einige Gläser zur Seite geschoben hatte. Er klappte sie auf und entnahm ihr einen zusammengefalteten Bogen Papier. Diesen Bogen entfaltete er höchst sorgsam, glättete ihn dann, hob ihn hierauf hoch, dem Polizisten Paul entgegen. Paul las, was dort geschrieben stand, mehrmals. Er vermochte es nicht zu glauben, daß er ein formal einwandfreies ärztliches Attest vor sich hatte. Er überprüfte, als letzte Möglichkeit, einer hinterhältigen Täuschung auf die Spur zu kommen, das Datum es war vom heutigen Tag. Die Unterschrift des alten Arztes kannte er; auch der verwendete Briefbogen war ihm bekannt. Langsam ließ er das Attest sinken, und fast schien es, als senke er seinen Degen. Er hörte wie in weiter Ferne die triumphalgemütliche Stimme seines Bruders Emil, die da herzhaft fragte: »Na, willst du vielleicht jetzt einen trinken?« Er blickte in eine Unzahl boshaftfreudiger Gesichter und hörte ein Gewirr von Stimmen, die ihm gelächterartig entgegenbrandeten. »Das ist noch nicht das letzte Wort in dieser Sache«, sagte Paul kaum vernehmbar. Dann drehte er sich herum und schritt, ein wenig steif, davon. -303-
Die hellbegeisterten Anwesenden glaubten, daß sie soeben einen entscheidenden Sieg errungen hätten. Der Wirt rollte eilig ein neues Faß Bier heran. Die Stimmung schnellte, gleich einer riesenhaften Fontäne, in ungeahnte Höhen. »Nicht viel hätte gefehlt«, sagte Otto strahlend, »und unser lieber Bruder wäre geplatzt wie ein Luftballon. Ich möchte nur wissen, wie dieser Nußknacker in unsere Familie kommt!« »Also Freunde«, begann Emil, sich breit und behaglich dehnend, »ich muß euch jetzt die Geschichte von dem Maharadscha erzählen. Der hatte unseren ganzen Kahn gemietet, so zwischen zwei Überseeladungen, um eine Art Umzug von einem seiner Schlösser auf das andere durchzuführen vermutlich war seine Privatjacht gerade mal leck. Jedenfalls kreuzte er mit riesigem Reisegepäck auf und - das war der springende Punkt! - mit seinem ganzen Harem. So an die achtzig Stück! Und das bei nur achtundvierzig Mann Besatzung! Es verging noch nicht eine Viertelstunde, da ... Aber ehe ich jetzt weiter erzähle, muß ich ernsthaft fragen: Sind etwa Minderjährige anwesend?« Lebhafte Verneinung ertönte. Der Wirt schickte eilig seine noch schulpflichtige Tochter, die beim Gläserspülen half, in die Küche. Nicht wenige Freibiertrinker rückten interessiert näher. »Dieser Maharadscha«, erzählte Emil, »war ein vielbeneideter Lustgreis, der eines Tages ...« »Ich muß dringend mit dir sprechen, Emil!« Emil, der wohl überlegt und nicht ohne Konzentration sein Garn zu spinnen bemüht war, sah unwillig zu dem dreisten Störenfried auf. Es war sein kleinerer Bruder Gustav, der sich derart respektlos in seine Erzählung einmischte. Unerfreulich aufgeregt stand er vor dem Stammtisch. »Du kannst mich doch jetzt nicht stören!« sagte Emil vorwurfsvoll. »Es ist aber wirklich sehr dringend«, sagte Gustav mit einer -304-
ihn spürbar peinigenden Beharrlichkeit. »Hör mal, mein Kleiner«, sagte Emil, »wir sind hier gerade mitten in einem Männergespräch - das ist noch nichts für dich. Mag immerhin sein, daß es Frauen gibt, die dich bereits für voll nehmen, was sogar diverse Folgen haben kann, aber allein deswegen bist du doch noch lange nicht reif, mit uns Feuerwasser zu gurgeln. Ist das klar, mein Kleiner?« Gustav wurde noch ein wenig bleicher, als er es bereits schon war. Er drehte sich, nach einer Sekunde der Starre, hastig um und lief, wie vorwärtsgestoßen, hinaus. »Na ja«, sagte Emil, leicht konsterniert von soviel Haltlosigkeit. »Diese jungen Burschen von heute verlieren so schnell ihr Gleichgewicht ... Uns kann so was nicht passieren, ob es sich nun um Admiräle, Maharadschas oder Papierfabrikanten handelt.«
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Siegfried Siegert junior, ›der junge Herr‹, wie er allgemein im vaterlichen Machtbereich genannt wurde, entfloh dem hektischen Betrieb des Direktionsbüros. Er war ehrlich entsetzt und vermochte kaum den Sinn aller Vorgänge zu begreifen. Die schneidende Stimme seines Vaters lag noch immer in seinem Ohr; diese klare, jetzt fast knurrende, um präzise Betonung stets bemühte Stimme schien ihn zu verfolgen. Er verließ das Fabrikgelände zu Fuß und schlenderte dahin, lässig und wenig entschlußfreudig. Ihn widerten derartig geführte Auseinandersetzungen an. Er blieb nachdenklich am Ende der aufgerissenen, verlassenen Straße stehen. Er betrachtete die Trümmerhaufen mit betrübtem Lächeln. Und er sah, wie sich eine Kolonne Telegrafenarbeiter näherte und sich über einen Kabelknotenkasten hermachte. Sie waren, wie ihre Auskunft auf sein Befragen lautete, gerade dabei, die Telefonverbindung zwischen Zentrale und Fabrik zu unterbrechen; eine lästige Fehlerquelle müsse gesucht werden. Der junge Siegert schüttelte verständnislos den Kopf. Er sah den Weg entlang, der links abzweigte und zum väterlichen Haus führte. Dann sah er nach rechts, dorthin, wo sich der Weg befand, auf dem man die Innenstadt erreichte. Er zweigte nach rechts ab. Er umging den Marktplatz und begab sich in die Ritterstraße, wo die Familie Golder wohnte. Er fand Mutter Golder mit ihrer jüngsten Tochter Susanne vor. Sie standen in der Küche und falteten Wäsche zusammen, weiße, grobe Bettwäsche zumeist, die schon mehrfach geflickt, aber auffallend sauber war und nach guter, kräftiger Kernseife roch. Er sagte »Guten Tag«. Und er packte, Mutter Golder ablösend, sofort zu. Mutter Golder setzte sich und betrachtete ihn aufmerksam. Sie spürte seine müde Trostlosigkeit, die ihn vorübergehend befallen hatte. Sie nahm daran Anteil, als handele es sich bei diesem jungen Mann um einen ihrer Söhne. Er gefiel ihr sehr, -306-
und sie wollte ihn nicht betrübt sehen. »Sie sind doch bestimmt nicht hierhergekommen«, sagte sie, »um sich im Haushalt zu betätigen.« »Vermutlich sucht er Margarete«, sagte Susanne; und sie zog heftig die noch ein wenig feuchte Bettwäsche stramm. »Aber Margarete ist nicht hier - sie ist anderweitig beschäftigt.« »Die großen Tücher«, sagte Mutter Golder eilig, »müssen zweimal gefaltet werden; zweimal in der Länge und in der Breite.« »Margarete«, sagte Siegfried, und das ohne den geringsten Vorwurf durchblicken zu lassen, »scheint in letzter Zeit sehr viel zu tun zu haben.« »Sehr viel«, sagte Susanne bedeutsam. Und sie wich den prüfenden und zugleich warnenden Blicken ihrer Mutter aus, indem sie vorgab, intensiv beschäftigt zu sein. »Ich habe gehört«, sagte Mutter Golder ablenkend, »daß einige meiner Söhne fröhliche Narrenspiele aufführen sollen.« Siegfried nickte. »Sie tun tatsächlich das, was ich befürchtet hatte. Und die Reaktion meines Vaters ist genauso, wie sie erwartet werden mußte. Wir können das dann ausbaden. Was soll denn aus Margarete und mir werden?« »Vielleicht«, sagte Susanne rasch, »kann dir das Margarete jetzt schon ganz genau sagen. Du solltest sie aufsuchen und sie offen danach fragen. Du findest sie vermutlich bei deinem sogenannten Freund, dem Doktor Bächler.« Mutter Golder sah ihre jüngste, sonst so überaus zurückhaltende Tochter mit großen Augen an; und es schien ihr, als erblicke sie ihre wie über Nacht verwandelte Susanne zum erstenmal. »Mir scheint, du hast dir das, was du soeben gesagt hast, nicht genau überlegt, mein Kind.« »Ich weiß sehr wohl«, erklärte Susanne mit stiller Festigkeit, »was ich in diesem Fall sagen mußte. Ich kann -307-
Unanständigkeiten nicht leiden! Und mir scheint, daß Margarete dabei oder doch kurz davor ist, eine zu begehen. Das hat Siegfried nicht verdient. Und er darf nicht im unklaren gelassen werden.« »Das«, sagte Siegfried und sah starr auf das Tuch in seinen Händen, »hat mir gerade noch gefehlt.« »Es muß ja nicht zu spät sein«, sagte Susanne teilnahmsvoll. Siegfried nickte schwer. Er übergab Susanne, mit einer matten Bewegung, das noch nicht zusammengefaltete Laken. »Jedenfalls danke ich dir.« Dann ging er, ohne ein Wort zu sagen. Er begab sich hinaus in den hellen Tag. Das Licht der Sonne tat seinen Augen weh. Er ging, fast automatisch, auf den Marktplatz zu und näherte sich dem Haus, in welchem sich die Praxis von Dr. Bächler befand. Hier blieb er, ohne auf die Menschen zu achten, die an ihm vorübergingen, stehen. Er sah zum ersten Stockwerk hoch, wo sich die Privaträume von Doktor Bächler befanden. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte ein paar Züge und warf sie weg. Langsam ging er auf die Haustür zu. Und hier prallte er mit seinem Vater, der gerade herauskam, zusammen. Die beiden musterten sich überrascht. Dann versuchten sie, fast ein wenig verlegen und ohne sonderlichen Erfolg, einander anzulächeln. »Willst du zu deinem Freund oder zu deiner Freundin?« fragte Siegert. Er schien wesentlich besserer Stimmung zu sein, als noch eine Stunde vorher. »Du wirst sie beide oben vorfinden und sie werden, schätze ich, nicht gerade angenehm überrascht sein.« »Dich scheint das zu amüsieren«, sagte Siegfried, und durch seine aufbegehrende Stimme klang bitterer Hohn. »Das Leben ist doch viel amüsanter, als man gemeinhin glaubt«, sagte Siegert; und er versuchte das mit einer gewissen -308-
anteilnehmenden, verständnisvollen Herzlichkeit zu sagen. »Manche Probleme, die überaus kompliziert erscheinen, erweisen sich bei näheren, Hinsehen lediglich als Mißverständnisse. Und ich hoffe, du wirst diesmal ein wenig näher hinsehen als sonst.« »Es wäre nicht das erstemal, Vater, daß du dich irrst.« »Gewiß«, gab der bereitwillig zu, »man irrt sich oft - doch in diesem Falle sehe ich ganz klar. Das Mädchen mag allerlei Qualitäten haben - aber sie paßt einfach nicht zu dir, davon bin ich überzeugt. Und wenn es dir auch weh tun sollte - glaube mir, mein Junge: Das ist kein Verlust für dich.« »Die Hauptsache ist doch: Für dich handelt es sich hier offenbar um einen klaren Gewinn. Und das freut dich.« »Mein lieber Junge«, sagte der alte Siegert väterlich, »mein konsequenter Geschäftsgeist ist doch ein guter Teil deiner Zukunft. Und natürlich verschafft es mir eine gewisse Genugtuung, daß der Einsatz dieses Bächler keine Fehlspekulation war, wenn er sich auch in einer wesentlich anderen Weise als nützlich erwiesen hat, als ich zunächst annahm. Und du wirst gut darüber hinwegkommen, denn du bis ja ein Siegert. Gesunder Wirklichkeitssinn kann dir daher nicht fremd sein.« Damit ließ Siegert seinen Sohn stehen, nickte ihm noch einmal aufmunternd zu und ging davon. Siegfried sah ihm nicht nach. Er begab sich in das Haus, stieg die Treppe hinauf und klingelte an der Wohnungstür von Dr. Bächler, der nach kurzer Zeitspanne selbst öffnete. »Störe ich?« fragte Siegfried. »Natürlich«, sagte Dr. Bächler nach kurzer Pause; und er blieb mitten im Türrahmen stehen. »Dann komme ich im richtigen Augenblick«, sagte Siegfried. Er schob Dr. Bächler, der sich das zögernd gefallen ließ, zur Seite, überquerte den Korridor und ging in den Wohn- und -309-
Schlafraum seines Studienfreundes hinein. Er sah einen für zwei Personen gedeckten Kaffeetisch. Er sah Margarete, die auf dem tagsüber in eine Couch verwandelten Bett saß und nicht wenig verlegen zu sein schien. Er bemerkte eine Likörflasche und zwei Gläser. Er lächelte starr. »Ich hoffe«, sagte Margarete, »du mißverstehst diese Situation nicht.« »Sie scheint mir unmißverständlich zu sein«, sagte Siegfried. Er war an der Tür stehengeblieben und machte keinerlei Anstalten, sich zu nähern. »Jedenfalls«, sagte Bächler, »ist doch wohl anzunehmen, daß du Fräulein Margarete nicht gepachtet hast. Schließlich ist es kein Verbrechen, wenn sie bei mir Kaffee trinkt.« »Ein Verbrechen nicht«, sagte Siegfried rauh, »aber eine Schweinerei. Und zwar von dir, Bächler! Was geht dich das Mädchen an, das so gut wie offiziell als meine Braut gegolten hat?« »Tut mir leid«, sagte Bächler formell. »Aber es gibt Dinge, gegen die man nichts machen kann.« »Wir haben uns lediglich unterhalten«, sagte Margarete mit heftiger Abwehr. »Es ist nicht das geringste zwischen uns passiert. Ganz im Gegenteil! Ich bin lediglich hier, um Doktor Bächler zu sagen, daß ich seine Handlungsweise mißbillige.« »Nun gut«, sagte Siegfried herausfordernd, »das hast du gesagt. Dann kannst du jetzt ja gehen.« »Das werde ich auch tun«, sagte Margarete und erhob sich. »Aber sie hat mir noch nicht alles gesagt!« behauptete Dr. Bächler. »Hast du ihm alles gesagt - oder nicht?« fragte Siegfried. »Das ist mir einfach zu dumm!« stellte Margarete fest, wobei sie sich außerordentlich wirksam empört gab. Sie ging hinaus, ohne noch einen der Männer eines Blickes zu würdigen, nicht -310-
einmal eines vernichtenden Blickes. Sie räumte das Feld, ohne sich, wie sie glaubte, irgendwie festgelegt zu haben. Robert Bächler ging zum kleinen Tisch, entkorkte die Likörflasche und goß zwei Gläser voll. »Trinken wir auf das, was wir lieben«, sagte er. »Ich habe große Lust, dir in die Fresse zu schlagen«, sagte Siegfried. »Ich kann dich sehr gut verstehen.« Robert Bächler nahm ein Glas und hielt es Siegfried entgegen. »Auch du solltest versuchen, für mich Verständnis aufzubringen. Ich konnte nicht anders handeln.« Siegfried schlug mit einer kurzen, heftigen Bewegung seinem Freund das Glas aus der Hand; es segelte über den Tisch, prallte auf den Boden auf und zerschellte. Die gelbbraune Flüssigkeit spritzte über den Wollteppich. »Das ändert nichts«, sagte Robert Bächler herausfordernd ruhig. »Und der Segen deines Vaters scheint mir sicher zu sein.« »Was dir sicher ist, weiß ich«, sagte Siegfried drohend. »Und wenn du das auch weißt, dann wirst du ein Leben lang bereuen, deine Chloroformfinger nach diesem Mädchen ausgestreckt zu haben.« Das Festkomitee, das sich die hohe Aufgabe gestellt hatte, ›Emils Seemannsball‹ zu organisieren, tagte in der letzten Woche vor dem alljährlichen großen Ereignis nahezu ununterbrochen. »Meine lieben Freunde«, pflegte Emil einleitend zu sagen, »das Fest, das ihr mir zu Ehren alljährlich gebt, kann mich natürlich nicht uninteressiert lassen. Und da es zu meiner Freude und auch auf meine Kosten geplant ist, will ich euch auch gerne dabei behilflich sein, mich zu erfreuen, und mit dafür Sorge tragen, daß ich auf meine Kosten komme.« Erwartungsvoll und hoffnungsfroh umsaßen die Kameraden, -311-
Freunde, Gefährten und Schicksalsgenossen ihren Emil. Und es waren, seit Jahren schon, immer die gleichen, die da gemeinsam speisten, tranken, kegelten und planten. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten manchen Sturm erlebt und frühzeitig ihre Sympathie füreinander erkannt. Sie waren im Laufe der Jahre erfolgreiche Leute und angesehene Bürger geworden. Praktisch bestimmten sie - wenn man von Siegert absah - das Gesicht der kleinen, abseitsgelegenen Stadt. Emil aber war ihr Prunkstück und Prachtexemplar. Und so kam es, daß ›Emils Seemannsball‹ das einzige wahrhaft neutrale, überparteiliche Fest der kleinen Stadt geworden war, durch keinerlei soziale, politische, weltanschauliche oder konfessionelle Differenzen getrübt. Selbst die beiden Chöre der Ortes, der Männerchor ›Treue um Treue 98‹ und der gemischte Chor ›Vaterland 04‹ stritten dann mit einiger Haltung um die Palme des Sieges; sie wurde denjenigen verliehen, denen es gelungen war, das schönste und ergreifendste Seemannslied des Jahres hochkünstlerisch gestaltet zu haben. »Diesmal«, verkündete Emil den lauschenden Freunden, »wird ein echter Palmenzweig überreicht werden - und zwar einer aus dem Heiligen Land! Ich persönlich habe ihn dort, auf einem Esel reitend, abgebrochen, ihn dann in Ölpapier verpackt und im Kühlraum meines Schiffes aufbewahrt. Wenn es dennoch ein wenig zusammengeschrumpft und vergilbt sein sollte, so deshalb, weil er dieses Klima nicht gut verträgt.« Die Freunde nickten sachverständig. Der Tankstellenbesitzer murmelte etwas von den Tropen, in denen alles anders wäre; von dort käme ja auch sein Benzin, deshalb sei er darüber so gut informiert. Der Leiter des Arbeitsamtes glaubte zu wissen, daß es sich doch wohl um öl handeln müsse, das erst in Raffinerien in Benzin, beziehungsweise in Benzol verwandelt werde. Eine hartnäckige Auseinandersetzung drohte auszubrechen. Emil beendete sie diplomatisch mit dem Hinweis, daß ja auch in den -312-
Tropen Automobile gefahren würden; also müsse es auch dort Benzin geben, außerdem natürlich Öl. »Meine Herren vom Komitee«, rief Otto Golder beschwichtigend, »als stellvertretender zweiter Vorsitzender mache ich den Vorschlag, den Palmenzweig in diesem Jahr dem Männergesangverein zu verleihen.« »Der gemischte Chor«, gab der Straßenmeister zu bedenken, »darf doch nicht von vornherein benachteiligt werden. Sie verfügen dort über ganz beachtliche Stimmen.« »Die Palme«, verkündete Emil autoritativ, um den sich anbahnenden neuen Streit abzukürzen, »gebührt diesmal eindeutig dem gemischten Chor! Denn die Sangesbrüder und Schwestern werden sich diesmal nicht nur in Seemannsliedern produzieren, sondern sie werden darüber hinaus auch noch eine Art Festspiel aufführen.« Das war für die Anwesenden eine überraschende Neuigkeit. Etwas derartig Interessantes hatte niemand erwartet. »Was ist das für ein Festspiel?« wollten die Komitee- und Kegelbrüder wissen. Emil verschränkte die Arme über der mächtigen Brust. »Es wird eine Überraschung sein«, verkündete er zufrieden. »Der Oberlehrer, der ja auch zugleich Chorleiter ist, hat es geschrieben - und zwar nach meinen Angaben.« Der nächste Punkt der Tagesordnung hieß: Einladungen! Die ganze Bürgerschaft sollte es sein, soweit sie angesehen, vermögend oder zumindest trink- und tanzfreudig war. Memmem, Nichtraucher und Schlafmützen - so drückte sich Emil aus -, Arschkriecher der Obrigkeit, meerfeindliche Elemente und die Trabanten des Superkapitalisten Siegert galten als unerwünscht. »Wir werden«, sagte Otto geschäftig, »wie jedes Jahr den Bürgermeister und den Gemeinderat einladen, auch die beiden Pfarrer, aber nicht die Polizei - die kommt ja sowieso von allein. -313-
Die Feuerwehr erscheint geschlossen, denn ihr Musikzug muß ja spielen; die beiden Chöre müssen singen und Theater aufführen. Beim Sportverein genügt, wenn wir den Vorstand einladen; der Rest darf trainieren. Der Kriegerverein stellt die Saalordner und die Rausschmeißer.« »Und was ist mit Siegert?« fragte einer lauernd. »Der bekommt ein Schreiben«, schlug der Leiter des Arbeitsamtes vor, »das mit den Worten beginnt: Wir erlauben uns, Sie zu Emils diesjährigem großen Seemannsball im ›Hirschen‹ nicht einzuladen!« »Natürlich ist er uns herzlich willkommen«, sagte Emil gemütlich. »Was soll denn das?« empörte sich Otto. »Du willst dich doch nicht etwa mit diesem Kerl versöhnen?« »Im Gegenteil«, sagte Emil breit grinsend, »ganz im Gegenteil. Ihm zu Ehren habe ich ja schließlich dieses Festspiel schreiben lassen! Wir müssen ihn sogar darauf aufmerksam machen - und zwar ganz eindringlich -, daß wir ihn sehnsuchtsvoll erwarten und fest mit seinem Kommen rechnen. Er muß absolut überzeugt davon sein, daß er viel versäumt, wenn er nicht erscheint. Und seid versichert, Freunde - die ihm zugedachte Ehre wird ihn überwältigen. Das walte Neptun!«
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Die große Hitzewelle, die in den Tagen vor ›Emils Seemannsball‹ einsetzte, wurde eigentlich nur von drei Gruppen uneingeschränkt begrüßt: von den Kindern, den Gastwirten und Emil. Die Kinder bekamen Hitzeferien, und große Mengen von ihnen bevölkerten die Wiese am kleinen Fluß, der sich im Süden vorsichtig an das Städtchen heranschlängelte. Diese Wiese grenzte unmittelbar an Siegerts Grundstück, und die Kinder spielten mit Vorliebe ›Emils Abenteuer auf hoher See‹, wobei das mühsam dahinfließende Gewässer zum Atlantischen Ozean erklärt wurde. Alltäglich entbrannten unter den Knaben heftige Kämpfe, denn jeder von ihnen wollte mindestens einmal Emil sein. Und dieser Streit wurde oftmals mit einer derartigen Lautstärke geführt, daß im Hause Siegert alle Fenster geschlossen werden mußten. Der Name Emil war zu einem Kriegsgeschrei geworden. Gelegentlich tauchte sogar Emil persönlich auf der Wiese auf und wurde dann ehrfürchtig bestaunt. In diesen heißen Tagen trug er Tropenkleidung und war von Kopf bis Fuß weiß gewandet. Das kurzärmelige Hemd klaffte über seiner mächtigen Brust weit auseinander und ließ herrliche Tätowierungen sehen: Meerjungfrau, Anker, Steuerrad und, von der Nabelgegend aufsteigend, einen Dreimaster, auf dem deutlich der Name ›Odysseus‹ zu lesen war. Gleich für den nächsten Tag verkündeten die Knaben einen Wettbewerb: Die schönste Tätowierung sollte preisgekrönt werden. Der Preisträger dürfe drei Tage hintereinander Emil spielen und die führenden Positionen auf seinem Schiff ›Odysseus‹ besetzen. Emil selbst wurde durch eine Abordnung der Knaben gebeten, Schiedsrichter und Preisgericht in einer Person zu sein; seine Entscheidung, so versicherte man eindringlich, werde selbstverständlich als bindend hingenommen werden. Es herrschte großer Jubel, als Emil nicht -315-
nur verkündete, daß er diese Ehrung anzunehmen gedenke, sondern darüber hinaus sogar versprach, wertvolle Preise zu stiften. Noch am gleichen Tage verschwanden in der kleinen Stadt fast sämtliche Kopierstifte und alle Farbstifte vom blassesten bis zum schwärzlich leuchtenden Blau. Die Knaben fertigten Entwürfe an, und die Mädchen halfen ihnen dabei. Schließlich wurden diese Entwürfe fein säuberlich mit großer Anstrengung auf Arme, Brust, Bäuche, Beine und Rücken übertragen. Einer hatte sogar den Einfall, sich auf den verlängerten Rücken zwei Windrosen aufmalen zu lassen; er bekam dafür später einen ansehnlichen dritten Preis und wurde wegen seiner Kühnheit und Fantasie gelobt. Den ersten Preis aber, der aus einer wetter- und kältefesten Ölhaut bestand, gewann ein Knabe, dem seine beiden Schwestern nicht nur überaus einfallsreich, sondern auch mit großem künstlerischen Gestaltungsvermögen, wie Emil ausführte, den ganzen Rücken bemalt hatten. »Hier sehr ihr«, sagte Emil, »daß sich der echte Seemann nicht etwa wahllos tätowieren läßt, sondern daß es immer darauf ankommt, Symbole zu schaffen. Gehabte Erlebnisse oder erhabene Gedanken sollen gestaltet werden. Kurz: Man muß nach Sinnbildern suchen, die allgemeine Gültigkeit besitzen und geeignet sind, ein ganzes Leben lang in steter Erinnerung zu bleiben.« Diese preisgekrönte Tätowierung zeigte eine Art Neptun, der unverkennbar Emils mächtige Statur besaß und auch seine Gesichtszüge trug. Dieser Neptun aber, und das war die eigentliche Feinheit, hatte seinen Dreizack abwärts gestoßen, in das Genick einer Seeschlange, die sich zu seinen Füßen wand. Der garstige Kopf dieses glorreich besiegten Meeresungeheuers aber trug ebenfalls menschenähnliche Züge; und diese wiederum ließen lebhaft an Siegert denken. Emil zögerte nicht einen Augenblick, hierfür den ersten Preis zu verleihen. -316-
Aber Emil versäumte es auch nicht, die leer Ausgehenden mit diplomatischem Geschick zu trösten. »Ich kenne Seeleute«, versicherte er, »die zu den ganz großen Abenteurern gehören und die jeden Winkel dieser Erde kennen - und dennoch sind sie schlecht oder unzulänglich oder überhaupt nicht tätowiert! So eine Tätowierung ist also nur eine Art Schmuck, kaum mehr. Über die Qualitäten eines echten Seefahrers vermag sie nur bedingt etwas auszusagen. Denn noch wichtiger, als die Symbole auf seinem Rücken zu tragen, ist die innere Bereitschaft, dafür streiten zu wollen, daß das Gute siegt und das Böse unterliegt!« Die Knaben glühten vor Begeisterung; und die Mädchen machten keinerlei Anstalten, dieses edle Feuer zu dämpfen. Sie alle bewunderten Emil sehr. Ehe er ging, gab er noch eingehende technische Anleitungen zum Bau eines steuerbaren Floßes. Dieses Floß wurde auch prompt gebaut. Zahlreiche Latten aus dem Zaun des Herrn Siegert fanden hierfür Verwendung. Unter Absingen eines fröhlichen Seemannsliedes und mit einem dreifachen, donnernden »Hurra« auf Emil, das die Fensterscheiben im Hause Siegert erklirren ließ, wurde das Floß von Stapel gelassen.
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Gustav Golder wich seinen Eltern und Geschwistern mehr und mehr aus. Er fand keinerlei Freude mehr daran, bunte Tiere zu zeichnen, und er litt unter der Hitze. Er suchte sich mit Vorliebe Plätze aus, an denen er sicher war, niemandem zu begegnen. Es gab jedoch immer einige, die ihn fanden. Die Tochter des Friseurs wußte um das Birkenwäldchen im Norden der Stadt, in dem er sich aufzuhalten pflegte. In einer Anwandlung von Leichtsinn und in der etwas forcierten Hoffnung, es sei vielleicht doch möglich, einen liebenden Menschen zu finden, hatte er einmal mit ihr ein Rendezvous in diesem Wäldchen vereinbart. Das Ergebnis war katastrophal gewesen, aber das Mädchen kam immer wieder. »Ich will dich nicht stören«, sagte die Kleine, die rund und rosig und sehr hübsch war. Sie roch auch besonders gut, und ihre Locken waren vorzüglich onduliert; auf ihren Fingernägeln lag mattglänzender Lack. »Du störst mich aber!« sagte Gustav leidend. »Die ganze Welt stört mich. Ich habe nichts gegen dich - das mußt du wissen. Aber ich will allein sein.« »Vielleicht«, sagte hartnäckig das niedliche Mädchen, »wirst du dich an mich gewöhnen. Es kann sein, daß ich noch sehr dumm bin. Aber ich werde sicherlich noch sehr viel lernen. Und wenn ich erst so alt bin wie die Frau Siegert, dann kann ich doch auch genauso interessant und anziehend sein - oder etwa nicht?« »Laß diese Frau aus dem Spiel«, rief Gustav heftig. »Sie geht dich gar nichts an.« »Du mußt nicht böse auf mich sein«, sagte das rosige Friseurmädchen zutraulich. »Schließlich will ich doch nichts anderes, als dir helfen.« »Niemand kann mir helfen!« sagte Gustav ausschließlich zu sich. »Doch«, sagte das wohlgelockte Kind und rückte ein wenig -318-
näher an Gustav heran. »Ich weiß nämlich, daß alles, was die Leute reden, nicht stimmt. Ich weiß das so gut wie aus eigener Erfahrung - du hast noch niemals etwas Ernsthaftes mit einer Frau gehabt; natürlich auch nicht mit Frau Siegert!« »Was soll das alles!« sagte Gustav. Und er gedachte, sie streng und abweisend anzublicken. Doch was seine Augen sahen, verwirrte ihn ein wenig: Sie hatte die leichte lose Jacke, die genau zu ihrem Kleid paßte, ausgezogen. Jetzt sah er ihre wohlgerundeten Schultern; und der Ausschnitt ihres Kleides war ungewöhnlich tief. So drohte denn auch Gustav, vorübergehend, ein indirektes Opfer der großen Hitzewelle zu werden. Doch er überwand diese Gefahr bald. »Man soll mich in Ruhe lassen mehr will ich nicht!« »Man will dich aber nicht in Ruhe lassen«, sagte das Friseurmädchen. »Ich weiß das ganz genau: Auf ›Emils Seemannsball‹ wird deine Person eine große Rolle spielen, und auch deine Frau Siegert wird da nicht ungeschoren bleiben. Wenn du sehr nett zu mir bist, erzähle ich dir einige Einzelheiten. Willst du sehr nett zu mir sein?« »Wenn du nicht gehst, dann muß ich eben gehen«, sagte Gustav. Und er entfernte sich mit schnellen Schritten, verließ das Birkenwäldchen und wanderte über die Wiesen. Sein Gesicht war naß; der in dieser Hitze hervorbrechende Schweiß sah beinahe so aus wie Tränen. Gustav wähnte sich verfolgt und mied die normalen Wege. Unter einer alleinstehenden Fichte legte er sich nieder und starrte in wild flimmernde Luft, über die sich ein blaßblauer Himmel wölbte. »Diese Menschen!« sagte er. »Diese fürchterlichen Menschen!« »Hier«, sagte Robert Bächler, mit weiter Geste, »kommt der große Instrumentenschrank hin. Er wird fast ganz aus Glas bestehen und nach den neuesten Errungenschaften der Chirurgie ausgerüstet sein.« -319-
»Und wieviel Patienten müssen daran glauben«, fragte Margarete, »bis so ein Monstrum bezahlt ist? Und täuschen Sie sich nicht das hier ist eine ziemlich gesunde Gegend.« »Vergessen Sie nicht«, sagte Bächler, »daß die Menschen wie versessen darauf sind, uns Arbeit zu verschaffen. In unserer Zeit gibt es Dinge, von denen meine Kollegen noch vor fünfzig Jahren gar nicht zu träumen wagten: Betriebsunfälle, Verkehrsunfälle, vorbeugende Reihenuntersuchungen, Freßkrankheiten, Kreislaufstörungen - und dann noch der ganze Zauber mit der Psychoanalyse. Kein normaler Mensch ist heute noch gesund!« Margarete lächelte skeptisch. »Alles schön und gut«, sagte sie. »Aber Sie übernehmen sich bestimmt. Wenn Sie tatsächlich Ihre Praxis so vollkommen einrichten wollen, wie Ihnen das vorschwebt, dann brauchen Sie dazu ein kleines Vermögen.« »Mein Vermögen ist mein Können«, erklärte Bächler mit schönem Selbstbewußtsein. »Aber das allein wird vermutlich doch noch nicht ganz ausreichen - am Anfang wenigstens nicht.« »Na also!« sagte Rita. »Langsam werden Sie vernünftig.« »Sie werden gleich erfahren, Rita, in welchem Ausmaß ich vernünftig bin.« Er lachte sie verheißungsvoll an. »So eine Praxis ist zwar schon sehr viel wert, und ich selbst bin ja auch nicht gerade der letzte Dreck.« »Der letzte nicht«, sagte Rita; sie war immer noch heftig bemüht, ihm zu zeigen, wie sehr er ihr mißfiel. Doktor Bächler lächelte ihr zu, als habe er soeben ein Kompliment vernommen. »Genauso wie eine Praxis einen guten Arzt braucht, so braucht auch ein Arzt eine gute Frau, die ihm hilfreich zur Seite steht, die mit den Patienten umzugehen weiß und die noch dazu ein wenig Gefühl für Organisation und geschäftliche Belange hat. Darüber hinaus darf natürlich auch das Privatleben nicht zu kurz kommen.« -320-
»Ihr Wunsch ist doch wohl ganz einfach zu erfüllen«, sagte Margarete spöttisch. »Sie engagieren einfach eine Krankenschwester, die etwas von Ihrem Beruf versteht und die darüber hinaus noch dazu bereit ist, auf Ihre privatesten Wünsche einzugehen. So etwas sollte sich doch finden lassen.« »Zu teuer!« sagte Bächler grinsend. »Viel zu teuer! Bedenken Sie: Unterkunft, Verpflegung und ärztliche Behandlung frei. Und dann noch dazu Gehalt!« »Nun gut - dann heiraten Sie diese Krankenschwester einfach, und das Problem ist gelöst.« Bächler schüttelte den Kopf, sehr bedächtig, als sei er erst nach langem Nachdenken zu einem anderen, weit brauchbareren Ergebnis gekommen. »Ich kenne leider keine solche Krankenschwester«, sagte er. »Aber ich kenne jemand anderen, der hier recht gut hineinpassen würde. Das Mädchen, an das ich denke, hat einige beträchtliche Qualitäten. Zum Beispiel: hausfrauliche Eigenschaften, ausreichend Energie, zielbewußtes Handeln, selbstsicheres Auftreten, Eignung zur Mutter und das sowohl physisch wie psychisch. Außerdem ist diese Person noch verteufelt hübsch. Und was darüber hinaus noch recht angenehm ist: Dieses Mädchen besitzt bereits gewisse Einblicke in meinen Beruf - sie ist nämlich die Tochter einer Hebamme.« Margarete hatte alle Mühe, sich ihre abweisende Haltung zu bewahren. Sie lächelte, und sie versuchte das mit herausfordernder Überlegenheit zu tun. »Ganz abgesehen davon«, sagte sie gedehnt, »daß niemand so leicht auf die Idee kommen wird, Sie ernst zu nehmen, und ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß Sie dieser Tochter einer Hebamme völlig gleichgültig sind - Sie dürfen überzeugt davon sein, daß Sie im hohen Bogen hinausflögen, wenn Sie meiner Mutter gegenüber auch nur eine Andeutung zu diesem Thema machen würden.« »Das kann durchaus sein«, sagte Doktor Bächler nachsichtig. »Ich habe eingehend darüber nachgedacht. Und ich bin daher zu -321-
dem Entschluß gekommen, daß wir Ihre Mutter vor vollendete Tatsachen stellen sollten. Schließlich ist sie ja zu unserem Glück Hebamme und wird daher frühzeitig merken, was dann nicht mehr zu ändern ist.« »Doktor Bächler!« sagte Margarete; sie war blutrot geworden und bestrebt, dieses Farbenspiel auf ihrem hinreißend schönen Gesicht als reine Empörung auszugeben. »Noch ein Wort in dieser Richtung und ich haue Ihnen eine herunter!«
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Der einzige, bei dem die Hitze dieser Tage keine sichtbaren Spuren hinterließ, war Paul Golder, der Polizist. Er sah auch jetzt noch immer frisch und kühl aus. Das erreichte er durch sparsamste Bewegung und häufiges Duschen; außerdem war er darauf bedacht, sein Blut nicht in Wallung geraten zu lassen. Er ließ sich bei Direktor Siegert anmelden. Der saß hemdsärmelig in seinem Arbeitszimmer; doch als ihm der Besuch des Polizisten Golder angekündigt wurde, zog er sein Jackett an. Er war absolut sicher, daß er einem außerordentlich korrekt gekleideten Mann begegnen würde. Siegert irrte sich nicht. Pauls Uniformrock war bis zum Hals zugeknöpft; er war straff umgürtet, und seine Beine steckten in hohen Schnürschuhen. Der absolute Höhepunkt aber bestand darin, daß Paul Handschuhe mit sich führte. Dennoch war kein Tröpfchen Schweiß an ihm zu erblicken, vielmehr schien es, als komme er soeben aus einem erfrischenden Bad. Paul grüßte Siegert mit raumsparenden und fast ein wenig schleppenden Bewegungen. Abermals verkündete er seinen Wunsch, Herrn Siegert zu sprechen. Siegert erteilte diese Erlaubnis nicht nur, er versicherte darüber hinaus, daß er sich freue, wieder einmal Herrn Paul Golder zu sehen, wenn auch der Anlaß hierzu, wie er wohl annehmen dürfe, gewiß dienstlicher Natur sei. Sie setzten sich einander gegenüber. Siegert bot Erfrischungen an; Paul lehnte dankend und sehr entschieden ab. »Es ist mein Prinzip«, sagte er erklärend, »während einer Hitzeperiode nur äußerst geringe Mengen Flüssigkeit zu mir zu nehmen. Auch vermeide ich gesalzene Speisen. Der Körper gewöhnt sich sehr schnell daran und reagiert darauf außerordentlich wohltuend.« »Ich verstehe Ihre Prinzipien sehr gut und würdige sie«, versicherte Siegert. »Darf ich fragen, was Sie zu mir geführt hat?« -323-
Paul Golder nickte verbindlich. Er entnahm seiner Mappe, die auf seinen Knien lag, zwei Aktenstücke; eins davon war sehr dünn, das andere besaß normalen Umfang. »Zunächst«, sagte er, »möchte ich Sie über das Ergebnis Ihrer Anzeige gegen Emil Golder wegen nächtlicher Ruhestörung unterrichten. Emil Golder leugnete; das heißt, um ganz genau zu sein, er verfiel dabei in den Fehler, zu behaupten, er besinne sich auf nichts mehr. Damit aber schob er, ohne es genau zu wissen, mir die Beweisführung zu. Nun, ich habe den Beweis erbringen können. Er hat also gesungen; er und Konsorten. Die Anzeige wird mit der nächsten Kurierpost weitergereicht - Anfang nächster Woche. Oder wünschen Sie Beschleunigung?« »Ich respektiere voll und ganz Ihre dienstlichen Gepflogenheiten«, sagte Siegert. »Das bin ich Ihnen schuldig. Glauben Sie, daß eine Bestrafung erfolgen wird?« »Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich nehme es an. Erlauben Sie mir jetzt, über die andere Anzeige mit Ihnen zu sprechen.« »Sie gestatten, daß ich mich ein wenig stärke«, sagte Siegert. Er goß sich ein mittelgroßes Glas nahezu voll mit Kognak und trank es aus. »Ihrer Anzeige gegen Gustav Golder wegen Ehebruch«, sagte Paul und schlug das dickere Aktenstück auf, »ist ebenfalls inzwischen nachgegangen worden. Das Verfahren darf also als eingeleitet bezeichnet werden; die ersten Vernehmungen haben stattgefunden. »Und das Ergebnis?« fragte Siegert tonlos. »Ich wage nicht«, sagte Paul Golder, »ein abschließendes Urteil vorwegzunehmen. Jedenfalls hat sich bisher, in ganz groben Zügen, folgendes ergeben: Gustav Golder selbst leugnet; das war ja auch nicht anders zu erwarten. Die Befragung von Frau Siegert ist derartig ergebnislos verlaufen, daß sie einer Verweigerung gleichkommt; ich vermochte das durchaus zu -324-
verstehen und glaube taktvoll gehandelt zu haben, wenn ich mich vorläufig damit begnügte. Die Hebamme Golder bestätigt, daß der Name Gustav in den Stunden vor der Geburt gefallen ist, allerdings nicht unmittelbar in den Minuten der Geburt selbst. Aber das alles ist nichts Neues und nichts Entscheidendes. Wesentlich anders sieht die Vernehmung Ihrer Wirtschafterin aus. Nach ihren Ausführungen existieren eine Menge verdächtiger Momente. Einen eindeutigen Beweis vermag aber auch sie nicht zu erbringen.« »Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, Herr Golder, daß es das beste wäre, das Verfahren niederzuschlagen?« »Keinesfalls«, sagte Paul. »Ich würde meine Kompetenzen überschreiten, wenn ich mir anmaßte, Ihnen derartig weitgreifende Ratschläge zu erteilen. Aber ich darf wohl annehmen, daß Ihnen ein eingehendes Aktenstudium nicht unwillkommen wäre. Allerdings darf ich die Unterlagen nicht aus der Hand geben.« »Unter keinen Umständen?« »Unter keinen Umständen«, versicherte Paul. »Nur die Gerichtsbehörde kann eine entsprechende Erlaubnis erteilen.« Er erhob sich und sah Siegert mit verschleierten Blicken an. »Ich habe eine Bitte«, sagte er. »Sie können über mich verfügen«, sagte Siegert. »Ich muß noch, einer Verkehrsübertretung wegen, einen Ihrer Kraftfahrer vernehmen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir erlauben würden, meine Aktentasche inzwischen hier liegen zu lassen. Es ist sehr heiß, und jeder unnötige Ballast sollte vermieden werden. Ich glaube in etwa zwei Stunden fertig zu sein und werde dann meine Aktentasche wieder bei Ihnen abholen.« Siegert vermochte nur noch zu nicken.
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»Ich freue mich«, versicherte Susanne. »Ich freue mich ehrlich darüber, daß wir uns ganz zufällig getroffen haben.« »Auch ich bin gerne mit dir zusammen«, sagte der junge Siegfried Siegert. »Hast du ein wenig Zeit für mich?« »Soviel du willst«, sagte Susanne mit Eifer. »Willst du eine Portion Eis mit mir essen?« Susanne nickte bereitwillig. Siegfried setzte sich an ihre linke Seite und nahm ihr die schwere Einkaufstasche ab. Einträchtig schlenderten sie nebeneinander über den fast menschenleeren Marktplatz, auf das Cafe Stein zu. Sie waren beide nahezu gleich groß, aber Siegfried wirkte neben der außerordentlich schlanken, hochbeinigen Susanne geradezu stämmig. Herr Stein eilte auf Susanne zu, übersah den jungen Siegert außerordentlich geschickt und rief: »Herzlich willkommen!« »Danke«, sagte Susanne; und sie lächelte, nicht ganz mühelos, Herrn Stein vertraulich zu. »Ich komme immer wieder gerne in Ihr Cafe.« »Das ist mir eine Ehre und eine Freude«, versicherte Herr Stein lebhaft. »Für Sie, Fräulein Susanne, steht immer mein bester Fensterplatz zur Verfügung.« Susanne dankte leicht errötend. Der junge Siegert forderte, nicht sonderlich freundlich, zwei große Portionen Eis. Herr Stein erkundigte sich nach Susannes Sonderwünschen und verschwand dann. »Dieser Gigolo scheint ja ein Auge auf dich geworfen zu haben«, sagte Siegfried unzufrieden. »Vielleicht sogar alle beide Augen«, sagte Susanne und gab sich gleichmütig. »Er ist immer sehr entgegenkommend, besonders mir gegenüber. Er ist ein netter Junge - findest du das nicht auch?« »Mir gefällt er gar nicht«, sagte Siegfried ablehnend. »Nun ja«, sagte Susanne tastend, »er ist vielleicht nicht gerade -326-
der ideale Schwager für dich.« »Das ist doch gar nicht so wichtig«, sagte Siegfried mit Eifer. »Viel wichtiger scheint mir zu sein, daß dieser gelackte Affe gar nicht zu dir paßt. Du bist viel zu schade für ihn! Du verdienst einen ganz anderen Mann!« »Glaubst du das wirklich?« fragte Susanne und sah ihn mit ihren großen Kinderaugen aufmerksam an. »Ich bin überzeugt davon«, sagte Siegfried. »Du bist nämlich ein ganz besonderes Mädchen, und ich wäre sehr glücklich, wenn ich mit dir in verwandschaftliche Beziehungen treten könnte. Aber Margaretes Verhalten macht mir große Sorge.« »Du darfst dich nicht durch sie beunruhigen lassen«, sagte Susanne; und sie beugte sich vor, ihm entgegen. »Du mußt immer daran denken, daß Margarete ein sehr eigenwilliger Mensch ist. Und eine Heirat ist doch eine Entscheidung für das ganze Leben, nicht wahr?« »Manchmal«, sagte Siegfried schwer, »glaube ich, daß sie mich gar nicht liebt.« »Aber man muß dich doch lieben!« sagte Susanne spontan; und im gleichen Augenblick erschrak sie heftig über ihre Unbeherrschtheit. »Ich meine«, sagte sie, »daß Margarete gar keine andere Entscheidung treffen kann. Ich halte es für völlig selbstverständlich, daß sie dich wählen wird - dich und keinen anderen sonst.« »Du bist ein guter Mensch«, sagte Siegfried dankbar. »Man muß dich gern haben.« »Du kannst dich immer auf mich verlassen«, sagte Susanne nahezu feierlich und bedeutungsvoll. »Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst.« Gustav Golder umkreiste ruhelos die kleine Stadt. Er schlenderte über die Wiesen, auf das Flüßchen zu, er wich den spielenden Kindern aus und befand sich plötzlich am -327-
Gartenzaun, der das Anwesen Siegert umgrenzte. Er wollte sich sofort zurückziehen. Jedoch ein Blick auf die Armbanduhr belehrte ihn, daß jetzt die Stunde war, in der sich der Direktor Siegert fast niemals in seinem Hause aufhielt. Auch die Wirtschafterin pflegte um diese Zeit ihre Einkäufe zu machen. Und daher sah Gustav über den Zaun. Er bemerkte in der hinteren Laube Frau Siegert. Sie hatte sich über einen großen Tragekorb gebeugt und spielte mit ihrem Kind. Sie tat das wortlos, mit liebevollen, behutsamen Gebärden. »Guten Tag«, sagte Gustav. »Wie geht es?« Frau Siegert unterbrach ihr Spiel, drehte sich zu ihm herum und lächelte ihm, ein wenig gequält, zu. Dann hob sie das Kind behutsam hoch, umfing es sanft und schritt auf Gustav zu. »Es ist ein zauberhaftes Wesen«, sagte sie. Gustav betrachtete das Kind eindringlich. Es wollte ihm unförmig und hilflos erscheinen. Nichts Zauberhaftes vermochte er zu erblicken. Aber auf dem Gesicht der Mutter leuchtete Glück. »Jetzt bin ich glücklich«, sagte Frau Siegert. »Und wenn dieses Glück auch schwer ist und voller Schatten - es ist Glück. Ich habe nie gewußt, daß es das gibt.« »Vielleicht empfinden nur Mütter so«, sagte Gustav schwermütig. »Für einen Mann gibt es keine derartige Lösung. Wir müssen dieses Leben allein und einsam ertragen. Uns hilft kein Kind, das Schwere zu vergessen.« »Ein Mensch allein ist nichts«, sagte Frau Siegert. »Erst wenn ein zweiter Mensch da ist, bekommt sein Leben einen Sinn. Von dem Augenblick an ist man nie mehr einsam.« »Die Menschen erzählen fürchterliche Dinge von uns beiden.« »Ich werde darüber hinwegkommen«, sagte Frau Siegert. »Das Kind hilft mir. Ich bin ein anderer Mensch geworden. -328-
Mein Leben ist jetzt nicht mehr leer, mich beherrscht keine unbestimmbare Sehnsucht mehr, in mir ist Ruhe, und ich fühle mich, trotz allem, geborgen und sicher. Ich glaube auch jetzt nicht mehr daran, daß die Menschen dazu verurteilt sind, zu leiden und ewig gequält und mißverstanden werden. Die Natur läßt den Menschen nicht im Stich. Eine Zeitlang habe ich gefürchtet, daß es mir nicht mehr gegeben sein könnte, mich zu fangen, denn ich hatte mich selbst durch wirre Gedanken verdorben und durch falsche Hoffnungen krank gemacht. Das alles ist jetzt überwunden - durch dieses Kind.« Und Gustav senkte den Kopf, wandte sich ab und ging davon. Margarete Golder schleppte Mutters großes Hebammenbuch herbei, legte es auf den Tisch in der Küche und sagte: »Ich will jetzt alles wissen!« Mutter Golder, die gerade dabei war, Susannes Haushaltskladde zu überprüfen, sah überrascht hoch. »Damit«, sagte sie, »hat es doch wohl noch Zeit. Du bist weder verheiratet noch hast du jemals die Absicht bekundet, Hebamme zu werden.« »Wie Kinder entstehen«, sagte Margarete hartnäckig, »weiß ich bereits; darüber hast du mich aufgeklärt. Aber jetzt möchte ich gerne erfahren, und zwar mit allen Einzelheiten, wie diese Kinder zur Welt kommen. Mir ist bekannt, daß man neun Monate Zeit dazu braucht - aber was geschieht in diesen neun Monaten?« »Mein liebes Kind«, sagte Mutter Golder, immer noch verwundert, »darüber sind viele Bücher geschrieben worden, und einige davon stehen dir gerne zur Verfügung. Aber du wirst aus ihnen nichts anderes entnehmen können, als daß diesem Vorgang eine gewisse Gesetzmäßigkeit innewohnt. Damit jedoch ist das Entscheidende noch nicht gesagt.« »Fest steht also doch wohl«, sagte Margarete, »daß alles nach Schema F vor sich geht, bei Zulunegerinnen genauso wie bei -329-
Millionärinnen in Amerika. Und bei dir war es genau dasselbe, wie es bei mir sein wird: im Anfang ab und zu Schwindelanfälle, dann ein unförmiger Bauch; schließlich diese furchtbaren Wehen, bei denen man beinahe den Verstand verliert; sie dauern aber nur beschränkte Zeit, und wenn man sie überstanden hat, ist alles geschafft. Das stimmt doch so - oder?« »Das stimmt alles - und das stimmt doch alles wiederum nicht.« Mutter Golder betrachtete ihre heftig interessierte Tochter überaus aufmerksam; sie vermochte sich immer noch nicht zu erklären, welche Beweggründe eigentlich zu dieser bemerkenswert starken Wißbegierde geführt haben mochten. Wie immer in Zweifelsfällen beschloß sie, das Beste anzunehmen und geduldig darauf zu warten, bis sie eines anderen belehrt werde. »Mütter«, sagte Margarete, »sind auf der ganzen Erde gleich oder gibt es da Unterschiede?« »Mehr als genug«, sagte Mutter Golder nachsichtig. »Ich habe Frauen kennengelernt, die bereits vierundzwanzig Stunden nach der Geburt wieder Kühe gemolken haben; ich kenne andere, die Monate brauchten, um wieder auf die Beine zu kommen.« »Aber ob ein Kind ehelich oder unehelich zur Welt kommt, das ist doch wohl gleich?« »Diese Frage«, sagte Mutter Golder bedächtig, »ist von dir gestellt, eine Unverschämtheit. Das Problem der unehelichen Mütter ist so ziemlich das letzte, das ich mit dir diskutieren möchte.« »Das ist mir völlig neu«, sagte Margarete streitbar, »du hast doch niemals Unterschiede zwischen verheirateten oder unverheirateten Müttern gemacht!« »Es hat sich dabei auch niemals um eine meiner Töchter gehandelt«, erklärte Mutter Golder. »Und damit du es ganz genau weißt: Dieses Problem hat für dich überhaupt nicht zu existieren!« -330-
»Ich wollte doch lediglich eine Frage stellen«, erklärte Margarete; sie war bemüht, den offenbar bedenklichen Eindruck, den ihre Formulierungen bewirkt hatten, zu verwischen. »Überhaupt, mein Interesse für diese Dinge ist doch nur rein theoretischer Natur. Ich habe sogar angenommen, ich würde dir eine Freude damit machen, denn du solltest daraus entnehmen, daß mich alles lebhaft beschäftigt, was zu dir gehört.« »Schon gut«, sagte Mutter Golder versöhnungsbereit. »Und vielleicht ist es sogar nicht unwichtig, wenn ich dir deine Frage beantworte. Höre gut zu, Margarete: Es gibt einen großen und sehr wichtigen Unterschied zwischen einer ehelichen und einer unehelichen Mutter. Und dieser Unterschied ist vielleicht sogar der Schlüssel zu dem eigentlichen Geheimnis einer Geburt. Frauen, weißt du, sind naturnahe Geschöpfe; sie sind es unbewußt und instinktiv. Sie wählen einen Mann, um Mutter zu werden, denn das ist ihre Bestimmung. Eins ihrer großen Anliegen ist Sicherheit - sie wollen ein normales, gesundes, naturgemäßes Leben führen. Diesem großen Ziel aber ist eine verheiratete Frau immer näher als eine unverheiratete.« »Ja«, sagte Margarete lebhaft, »davon habe ich bereits gehört; ich glaube, irgend jemand bezeichnete diesen Vorgang als Herdentrieb oder als tierische Reaktion.« »Dann ist dieser Irgendjemand ein Idiot«, erklärte Mutter Golder überzeugt. »Ich weiß aus meiner Erfahrung mit Sicherheit, daß derartige Probleme theoretisch überhaupt nicht zu lösen sind. Fest steht nämlich, daß es von vielleicht entscheidender Wichtigkeit ist, was eine Frau in diesen neun Monaten bewegt. Ist alles um sie harmonisch und ist sie selbst körperlich und geistig gesund, dann wird sie auch ihr Kind mit Freude und Hoffnung erwarten. Die Geburt selbst verliert unter diesen Umständen viel von ihrer Qual und ihren Schmerzen; das Bewußtsein des Glücks läßt alles leichter ertragen.« »Um das zu fühlen, Mutter, muß man doch nicht unbedingt -331-
verheiratet sein.« »Doch!« sagte Mutter Golder ganz entschieden. »Erst die Ehe gib Sicherheit und vermindert die Sorgen - vorausgesetzt natürlich, daß es sich um eine richtige Ehe handelt, nicht aber um ein legalisiertes Verhältnis oder um eine Interessengemeinschaft mit gegenseitiger Haftung. Zu einer Ehe gehören unzweifelhaft drei Dinge: Vater, Mutter und Kind. Nun kann zwar jemand Mutter werden, ohne daß der Vater zu ihr gehört, ein Kind aber braucht beide. Und das weiß jede Mutter, oder sie fühlt es zumindest. Siehst du - und deshalb kann eine unverheiratete Frau, die Mutter wird, auch nicht ungetrübt glücklich sein.« »Ich werde darüber nachdenken«, versprach Margarete. Der große Mercedes des Direktor Siegert verließ das Fabrikgelände. Der Chauffeur ging auf Tempo, denn es war ihm bedeutet worden, daß es sehr eilig sei. Ein dringendes Schreiben sollte in die Kreisstadt gebracht und dort dem Amtsgericht übergeben werden. Der Chauffeur gedachte die große Straße zu umfahren. Er benutzte Nebenwege und wollte über die Holzbrücke fahren, unter der sich das Flüßchen dahinschlängelte. Ein morsch gewordenes Brett brach; der Wagen rutschte mit dem rechten Hinterrad hinein, wurde blockiert und blieb stehen. Der Chauffeur stieg fluchend aus. Er zog sich, der brütenden Hitze wegen, seinen Rock aus, krempelte sich die Ärmel hoch und versuchte, den Schaden zu beheben. Es war vergeblich. Seine Kräfte reichten nicht aus; und der Wagenheber, den er ansetzte, versagte. Emils Freunde, die Kinder, verließen ihren in der Nähe gelegenen Spielplatz und umringten interessiert den verzweifelten Chauffeur, der davon überzeugt war, daß ihm die Ungnade seines Herrn und Direktors sicher sei. Bald erschien darauf auch Emil persönlich. Er übersah die Situation mit einem -332-
einzigen Blick. »Schlimm«, sagte der Chauffeur und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »sehr schlimm.« »Für Sie vielleicht«, sagte Emil. »So leicht bekomme ich den Kasten jetzt nicht mehr flott«, klagte der Chauffeur. »Das geht weit über meine Kräfte.« »Kann schon sein«, sagte Emil. »Besonders kräftig sind Sie gerade nicht.« »Niemand schafft das«, versicherte der Chauffeur. »Ohne Schlepper ist da nichts zu machen. Kein normaler Mensch ist stark genug, um diesen Wagen heben zu können.« »Emil schafft das!« riefen die Kinder. »Das schafft auch Emil nicht«, sagte der Chauffeur. Emil fühlte sich herausgefordert. »Macht Platz!« rief er. »Das wäre doch gelacht!« Er krempelte sich die Ärmel hoch und spuckte sich in die Hände. Er dehnte seinen mächtigen Brustkasten und atmete tief aus und ein. Er zwinkerte den atemlos gespannten Kindern zu. Dann bückte sich Emil. Er umprankte die hintere Stoßstange und stemmte die Beine ein wenig auseinander. Er streckte das Kinn vor, biß die Zähne zusammen und spannte alle Muskeln seines gewaltigen Körpers an. Langsam, während Emil tomatenrot anlief, hob sich das Hinterteil des schweren Wagens. Zentimeter um Zentimeter wurde das rechte Hinterrad befreit. Schließlich schob Emil den ganzen Wagen nach links; er stand nun dicht neben der Einbruchstelle. »Na also!« sagte Emil keuchend. Die Kinder schrien begeistert: »Bravo!« Der Chauffeur vergaß seinen weitaufgerissenen Mund zuzuklappen. Und Emil blickte hochbefriedigt auf sein Werk. Niemand weit und breit, davon durfte er überzeugt sein, konnte ihm das nachmachen. »Danke«, sagte der Chauffeur schließlich. -333-
»Nicht der Rede wert!« versicherte Emil großmütig. »Herr Siegert wird sich freuen, wenn ich ihm das erzähle«, sagte der Chauffeur. »Er wird sich gewiß dafür erkenntlich zeigen.« »Wer?« fragte Emil überrascht. »Sagten Sie soeben: Siegert?« »Ja«, sagte der Chauffeur. »Der Wagen gehört Herrn Siegert.« »Dann«, sagte Emil entschlossen, »habe ich mich geirrt.« Und Emil stemmte sich, jetzt auf der linken Seite, mit abermaliger gewaltiger Kraftentfaltung gegen den Wagen, so daß der erneut mit dem rechten Hinterrad in das Loch hineinrutschte und damit wieder unbeweglich wurde. »So«, sagte Emil befriedigt. »Das hätten wir also auch geschafft. Und wenn Sie das Ihrem Herrn Siegert erzählen, dann wird er, hoffe ich, ganz schnell erkennen, daß er keinen Grund zur Freude hat. Und ich erlaube es ihm, sich dafür erkenntlich zu zeigen.« Damit entfernte sich Emil; er war überzeugt davon, wieder einmal einen Sieg errungen zu haben. Er pfiff ein fröhlich klingendes Seemannslied vor sich hin. Und auch das belustigte ihn sehr, denn der Text dieses Lieds war ungewöhnlich ordinär, aber für Siegert, wie ihm scheinen wollte, durchaus angemessen. Am Tage vor ›Emils 5eemannsball‹ ballte sich die trockenflimmernde Hitze zusammen, wurde ermattend feucht und bedrückend schwer. Der Himmel verlor sein blaßfieberndes Aussehen, und kochende Luft pumpte bläuliche Schwärze in ihn hinein. Ein mächtiges Gewitter braute sich über der kleinen Stadt zusammen. Blitze zuckten hernieder, und ihre grellen Flammen verliehen den Häusern scharfe Konturen und ließen die Gesichter der Menschen bleich und angstvoll erscheinen. Die blendende Helligkeit vertrieb für Sekunden das Dämmerlicht aus den Kirchen, und selbst die engsten und dunkelsten Stuben in den -334-
hinteren Gassen erlebten Augenblicke schmerzhafter Deutlichkeit. In diesen Stunden wich Siegert nicht vom Fenster, von dem aus er sein Fabrikgelände genau übersehen konnte. Seine Frau hatte sich über das Kind gebeugt und summte ein Lied. Der junge Siegert aber lag in seinem Zimmer angezogen auf dem Bett; er starrte zur Decke empor und zählte die Sekunden zwischen Blitzschlag und Donnergrollen. Im Elektrizitätswerk brüllte Otto herum und versuchte vergeblich, den dumpfprasselnden Lärm des Gewitters zu übertönen. Er nahm virtuos Ein-, Aus- und Umschaltungen vor; sie waren nicht unbedingt notwendig, verliehen ihm aber das Gefühl, die Stadt titanenhaft zu beherrschen. Und er imponierte Emil, der danebenstand, mächtig. Mutter Golder arbeitete mit ihren Töchtern Susanne und Margarete unbeeindruckt in der Küche. Sie dachte an die beiden Frauen, die kurz vor der Entbindung waren; und sie beschloß, sie unmittelbar nach dem Unwetter zu besuchen. Ihre Töchter hatten andere Sorgen; sie unterhielten sich angeregt darüber, wie wohl ihre Sonntagskleider mit kleinen modischen Zutaten und geringen Veränderungen auf angenehme Weise zu verändern wären. Vater Golder machte seinen Sohn Gustav in der Fensterecke mit dem Wesen einer Werkzeichnung vertraut. Er versuchte dann Gustav zu erklären, daß er dessen Zeichenmethode für nicht ausgesprochen sinnreich halte. Die Verwandlung von realen Gegenständen in Symbole oder Grundzeichen, mit knappen Linien, blockartigen Andeutungen und neuartigen Farbtönen halte er zwar keinesfalls für falsch; was ihn aber irritiere, sei ein gewisser Mangel an Folgerichtigkeit. Erst müsse man die Grundmaterie restlos beherrschen, versuchte Vater Golder zu erklären, dann erst könne man sie aufzulösen oder zu verdichten versuchen. Gustav lauschte diesen Erklärungen mit gesenktem Kopf; er hörte nur den Tadel heraus - und abermals -335-
glaubte er, allen Grund zu haben, sich mißverstanden zu fühlen. Er blickte in das Unwetter hinaus und kam sich vor, als sei er gewaltigen Mächten hilflos ausgeliefert. Die Blitze tobten lange Zeit über den Himmel hinweg, ehe die Wolken zerbarsten und sich der Regen in Strömen über der kleinen Stadt ergoß, den Dächern dunklen Glanz verlieh und die Straßen in Kanäle zu verwandeln schien. In diesem zuckenden, polternden, zischenden Gebrodel der Natur schritt unbekümmert über den Marktplatz ein einziger Mensch. Es war Emil, mit einer Ölhaut bekleidet. Er demonstrierte wieder einmal seine Unerschütterlichkeit. Er besuchte seine Brüder und Freunde, um ihnen zu beweisen, daß ihn nichts davon abhalten könne, sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Er traf Paul bei einer vorausplanenden Besprechung mit dem Brandmeister der örtlichen Feuerwehr an; Paul hatte ihn vorsorglich alarmiert, um besser auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Nach wenigen Stunden war das Gewitter vorüber. Die Sonne schien wieder. Die Erde hatte den Regen aufgesogen. Und die kleine Stadt glänzte und funkelte, als wäre sie soeben frisch gewaschen worden - und zwar, wie es bei den Freunden der großen und guten Sache hieß: zu Ehren von›Emils Seemannsball‹. Das Fest konnte also beginnen.
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Vater Golder sah, über die Zeitung hinweg, seine Frau prüfend an; dann warf er einen Blick auf die Küchenuhr, deren Zeiger die siebente Stunde durchkrochen. »Du wirst dich langsam entscheiden müssen«, sagte der alte Golder ruhig. »Ich brauche mich nicht zu entscheiden«, sagte Mutter Golder und blinzelte ihrem Mann zu. »Meine Entscheidung haben mir bereits zwei tüchtige Männer vor neun Monaten abgenommen.« »Gleich zwei?« fragte Vater Golder amüsiert. »Natürlich hätten die sich das besser einteilen können. Aber ich fürchte, sie haben dabei nicht an mich gedacht. Auch ihre Frauen werden heute noch keinerlei Rücksichten nehmen und ihre Kinder zur Welt bringen, wann es ihnen und dem Himmel paßt. Hoffentlich gibt es kein Gedränge.« »Immerhin dürfte es dabei kaum strapaziöser zugehen, als auf Emils Angeberball.« »Du wirst mich dort sicherlich gut vertreten«, sagte Mutter Golder und betrachtete ihren Mann mit wohlwollender Neugier. »Da kennst du mich aber schlecht«, sagte der Alte lächelnd, »ich kann dich doch in den schweren Stunden deiner Mütter nicht allein lassen.« »Vater«, sagte Mutter Golder erheitert, »ich habe das sichere Gefühl, daß du dich diesmal um Emils Fest herumdrücken willst.« »Ich tue genau das Gleiche wie du«, sagte Vater Golder, »mit dem Unterschied, daß ich mir meine Ausrede erst zusammensuchen muß, während du mit deinen beruflichen Verpflichtungen fein heraus bist.« »Dir gefällt also die ganze Geschichte auch nicht?« fragte Mutter Golder. »Nein«, sagte der Alte, »sie gefällt mir ganz und gar nicht. Bisher nämlich war in Emil weiter nichts als ein großer Spieltrieb; und das ist im Grunde immer eine liebenswerte -337-
Sache. Aber in diesem Jahr hat er sich in eine massive Gegnerschaft hineingesteigert. Und das wird ihm, fürchte ich, nicht gut bekommen.« Mutter Golder schien den geschäftigen Geräuschen und undeutlichen heftigen Gesprächen nachzuhorchen, die aus dem danebenliegenden großen Raum herüberklangen. Dort machten sich ›die Kinder‹ zum Ball fertig; doch es schien eher, als bereiteten sie sich auf eine Auseinandersetzung vor. »Ich bin davon überzeugt«, sagte sie dann langsam, »daß ein gewichtiges Wort von dir genügen würde, um Emils Tatendrang zu bremsen.« »Schon möglich«, gab Vater Golder zu. »Aber was wird damit erreicht? Jeder muß seine Dummheiten, zu denen es ihn mit aller Heftigkeit drängt, machen - anders kommt er nicht von ihnen los.« »Aber das ist doch nicht ungefährlich!« »Der gute Emil«, sagte der alte Golder, »ist im Grunde ein gutmütiger und außerdem ein einfältiger Bursche. Er fällt zunächst lediglich durch Muskelkraft und Lautstärke auf, sodann durch seine Art von Fantasie; aber in ihm ist nichts Hintergründiges, nichts Gefährliches. Einer wirklichen Gemeinheit, zum Beispiel, ist er nicht fähig. Er ist lediglich wild darauf, umschwärmter Mittelpunkt zu sein. Aber diese Vordergrundmenschen sind häufig die Aushängeschilder, hinter denen sich die zwielichtigen und dunklen Charaktere verschanzen.« »Du willst also gar nichts tun?« fragte Mutter Golder enttäuscht. »Du willst den Dingen ihren Lauf lassen?« »Das Äußerste, was ich unternehmen kann, ist eine behutsame Warnung dem einzigen gegenüber, den ich wirklich für gefährlich halte - denn ihm ist das Menschliche leider allzu fremd; und das Allzumenschliche haßt er sogar.« »Du hast recht«, sagte Mutter Golder zustimmend, »du -338-
solltest Paul ins Gewissen reden - auf dich wird er vielleicht hören.« Sie legte behutsam eine Hand auf den Arm ihres Mannes und lächelte ihm vertrauensvoll zu. Sie zog diese Hand nicht zurück, als die Tür des Nebenraumes aufgestoßen wurde und sich von dort Margarete und Susanne, reichlich ungestüm, in die Wohnküche hineindrängten. »Das ist doch wohl das letzte!« rief Susanne überraschend temperamentvoll. »Wißt ihr eigentlich, wen Margarete heute abend zu Emils Ball mitnehmen will? Diesen Doktor Bächler!« »Ich kann gehen, mit wem ich will«, rief Margarete empört. »Und Siegfried Siegert?« fragte Susanne mit heftigen Vorwürfen. »Du kannst ihn ja trösten, wenn er dir so leid tut!« Margarete gab sich überlegen, ohne verleugnen zu können, wie erregt sie war. »Jedenfalls finde ich es wenig anständig von dir, Vater und Mutter mit derartigen unwichtigen Angelegenheiten zu belästigen.« »Was den Anstand betrifft«, sagte Mutter Golder wenig freundlich, »so wollen wir wohl besser darüber im Augenblick nicht reden. Immerhin finde ich es ganz interessant, daß du, Margarete, es vorziehst, das Fest mit Doktor Bächler zu besuchen und nicht mit Siegfried Siegert.« »Verbietest du mir das, Mutter?« fragte Margarete mit heimlicher Drohung. »Du weißt genau«, sagte Vater Golder ruhig, »daß Mutter nur höchst selten ein Verbot ausspricht. Wenn das aber geschieht, dann wird es auch eingehalten. Ich verbürge mich dafür. Was aber deine Mutter und mich ein wenig nachdenklich stimmt, ist die überraschende Wahl deiner jeweiligen Freunde, die offenbar stets in einem etwas komplizierten Verhältnis zu unserer Familie stehen müssen.« -339-
»Dieser Doktor Bächler«, sagte Margarete heftig, »ist nicht mein Freund! Klein soll er werden, ganz klein und häßlich mehr will ich nicht von ihm.« Und fast beschwörend setzte sie hinzu: »Ich tue es doch deinetwegen, Mutter.« »Das ist sehr lieb von dir«, sagte der alte Golder lächelnd. »Aber es ist sicherlich auch überflüssig. Bisher ist Mutter mit ihren Problemen immer noch selbst recht gut fertiggeworden.« Emil erschien, mit kleinem brüderlichen Gefolge, um die Eltern zu seinem Ehrenfest abzuholen. Er war ganz in Marineblau; die Knöpfe, Rangabzeichen und sonstige Verzierungen leuchteten, als wären sie aus purem Gold. Er war noch prachtvollerer Laune als sonst. »Alles fertig zum Ball! rief er dröhnend. »Steuermann Golder ersucht seine verehrten Eltern, ihm zu folgen. Zwei Kutschen stehen draußen bereit - eine für mich, eine für euch. Die Stühle an der Ehrentafel sind bekränzt, und der Champagner ist bereits kalt gestellt worden.« Mutter Golder betrachtete ihren stattlichen Sohn mit liebevoller Nachsicht und auch mit heimlichem Stolz. Er war ein Koloß von einem Kerl, und er vermochte es, bärenhafte Gemütlichkeit auszustrahlen. Er war ihr ewiger großer und dummer Junge; immer ein Sorgenkind und stets eine Augenweide. Dieser, ihr erster Sohn, war zugleich ihr großer, nie ganz eingestandener Kummer und ihre verborgene Freude. Wie konnte sie seinem Kinderherzen böse sein! Und in diesem Augenblick wäre sie gerne seiner Einladung gefolgt. »Tut mir aufrichtig leid, Emil«, sagte Mutter Golder schließlich, »aber ich kann leider nicht mitkommen. Ich erwarte in dieser Nacht zwei Geburten. Und von Babys kann man schließlich noch nicht erwarten, daß sie wissen, wie wichtig Emils Seemannsball ist.« »Du könntest ja auf diese Geburten auch im Saal warten, Mutter«, sagte Emil werbend. »Dort vergeht dir die Zeit -340-
schneller.« »Es ist zu umständlich«, sagte Frau Golder. »Ich muß sofort erreichbar sein. Und es würde mir auch sicherlich schwerfallen, dein Fest zu verlassen, ganz abgesehen davon, daß ich nicht ständig gehen und kommen kann, ohne zu stören und Unruhe zu verbreiten.« »Ich bleibe natürlich bei Mutter«, sagte der alte Golder. »Auch ich will dein Fest nicht stören. Und wie ich dich kenne, Emil, wirst du nichts dagegen einzuwenden haben.« »Natürlich nicht«, sagte Emil enttäuscht. »Wirklich schade, daß ihr so viel versäumen müßt - denn gerade dieses Fest hat seine ganz besonderen Reize. Aber ich werde euch laufend durch Kuriere berichten lassen, was sich alles ereignet. Und wenn die Neugeborenen versorgt sind - dann müßt ihr kommen!«
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Siegfried Siegert senior, der Direktor, stand in seinem Arbeitszimmer. Er löste seinen nachdenklichen Blick von der gediegenen Rembrandt-Kopie des Mannes im Goldhelm, die über seinem Rauchtisch aus Eiche hing. Hierauf betrachtete er mit leicht verächtlicher Miene die herausfordernde Einladung zu diesem ordinären Seemannsball, die auf seinem ebenfalls eichenen Schreibtisch lag. Er lächelte grimmig. Dann zog er aus einer Tasche seines Hausrockes einen Zettel und entfaltete ihn. Es handelte sich um ein Telegramm, das ihn am frühen Nachmittag dieses Tages erreicht hatte und das folgenden Wortlaut aufwies: »Eintreffe heute Samstag mit sensationellen Ergebnissen recherchierender Hamburgreise stop glückwünschend grüßt ergebener Marktschreiter.« Nach dieser Lektüre lächelte Siegert trotzigkampfbereit. Siegert klingelte, und alsbald watschelte seine Wirtschafterin willig herbei und betrachtete ihn mit ergebenen Augen. »Ich lasse meinen Sohn zu mir bitten.« »Der junge Herr ist nicht zu Hause«, sagte die Wirtschafterin. »Hat er einen dunklen Anzug angezogen oder einen seiner guten Anzüge?« »Er sah, als er fortging, nicht so aus, als ob er ein Fest besuchen wollte«, sagte die stets aufmerksame Wirtschafterin. Und es freute sie tief, zu spüren, daß sie genau das Richtige getroffen hatte. »Wenn mein Sohn hier wieder auftauchen sollte, dann sagen Sie ihm bitte, daß ich ihn ersuche, dem sogenannten Volksfest im Wirtshaus fernzubleiben.« »So etwas Ähnliches habe ich ihm bereits geraten«, erzählte die Wirtschafterin eifrig. »Aber er scheint das nicht sehr gerne gehört zu haben. Er meinte, daß mich das nichts anginge wörtlich hat er gesagt: ›Das ist meine Privatangelegenheit, die geht Sie einen Dreck an.‹« »Womit mein Sohn völlig recht hatte«, stellte Siegert fest, -342-
prinzipiell unduldsam jeder subalternen Einmischung gegenüber. »Auch ich ersuche Sie, sich irgendwie gearteter persönlicher Einmengung in interne Belange meines Hauses zu enthalten.« »Das habe ich nicht verdient«, sagte die Wirtschafterin anklagend. »Was Sie verdienen, bekommen Sie regelmäßig ausgezahlt«, sagte Siegert, um grenzenziehende Sachlichkeit bemüht. »Sie können gehen.« »Herr Rechtsanwalt Marktschreiter wartet in der Halle«, sagte die Wirtschafterin nach einigen Sekunden vorwurfsvollen Schweigens. »Er soll sofort hereinkommen«, sagte Siegert; und er setzte sich, intensive Arbeit vortäuschend, hinter seinen mächtigen Schreibtisch. Als sein Besucher eintrat, schien es, als müsse er sich erst von dem Studium eines umfangreichen Aktenstückes losreißen. »Ah - da sind Sie ja«, sagte er geschäftig. Rechtsanwalt Marktschreiers Gesicht schien den totalen Endsieg verkünden zu wollen. Er schwenkte seine Aktenmappe. »Ein voller Erfolg«, triumphierte er. »Diese Reise nach Hamburg hat sich wirklich gelohnt!« »Welche Summe verstehen Sie darunter?« fragte der allzeit geschäftstüchtige Siegert. »Es war mir eine Ehre, Ihnen behilflich sein zu können«, versicherte Marktschreiter. »Und daß das in so überaus erfolgreicher Weise geschehen konnte, freut mich aufrichtig.« »Nennen Sie mir die Höhe Ihrer Forderung«, sagte Siegert trocken. »Also«, sagte der durch nichts zu kränkende Marktschreiter, »die Endsumme setzt sich zusammen aus Reise und Aufenthaltsspesen, Schmiergeldern, Kopiekosten und Gebühren -343-
für Auszüge aus Dokumenten. Hinzu kommt mein Honorar alles in allem: achthundert Mark.« »Nicht gerade billig«, sagte Siegert. »Aber durchaus dem Wert entsprechend«, versicherte Marktschreiter. »Das Endresultat meiner Recherchen ist vielleicht sogar als unbezahlbar zu bezeichnen.« »Ich möchte die Unterlagen sehen«, sagte Siegert. Marktschreiter nickte zuversichtlich, öffnete seine Aktenmappe und entnahm ihr einen Stoß Dokumente; er ordnete sie noch einmal kurz und legte sie dann vor Siegert auf die giftgrünbezogene Schreibtischplatte. »Sie werden staunen«, versicherte er siegesgewiß. Siegert demonstrierte Gelassenheit, indem er sich betont langsam und nahezu zeremoniell eine Zigarre anzündete. Er stieß, ungetrübten Genuß vortäuschend, sich sanftkräuselnde Rauchwolken in den Raum. Dann erst begann er mit dem Studium der Unterlagen. Bereits nach Durchsicht des zweiten Dokumentes legte Siegert seine Zigarre in den großen tiefblauleuchtenden Kristallaschenbecher. Er beugte sich vor und las angeregt Zeile um Zeile. Und langsam verlor er dabei seine wohlberechnete Reserve, nahm mehr und mehr Anteil und begann schließlich ausdauernd zu lächeln. Die Zigarre war schon lange ausgegangen, als er das letzte der Dokumente zur Kenntnis genommen hatte. »Na«, fragte Marktschreiter erwartungsvoll, »was sagen Sie nun?« »Wie hoch war doch gleich Ihre Forderung?« fragte Siegert. »Achthundert«, sagte der. Siegert nickte, zog eine Schreibtischschublade auf, entnahm ihr ein Scheckbuch, schraubte seine Füllfeder frei und begann zu schreiben. Dann übergab er Marktschreiter den ausgefüllten Scheck; der dort verzeichnete Betrag lautete auf tausend Mark. »Sie wissen«, sagte Siegert erklärend, »daß ich nicht kleinlich -344-
bin und als seriöser Geschäftsmann jede Ware nach ihrem tatsächlichen Wert zu bezahlen pflege. Diese Informationen hier sind mir tausend Mark wert. Sie haben ganz vorzüglich gearbeitet, Marktschreiter. Ich danke Ihnen dafür.« Marktschreiter, dem so das Ende der Audienz unmißverständlich angedeutet worden war, erhob sich stolz und zufrieden. Nahezu bewegt über soviel unerwartete Großzügigkeit versicherte er, Herrn Direktor stets gern zu Diensten zu sein - weiteren Aufträgen hoffnungsvoll entgegensehend. Nachdem sich sein Besucher entfernt hatte, durchblätterte Siegert erneut die Unterlagen und Dokumente. »Wirklich ausgezeichnet«, murmelte er tief befriedigt. Und der Blick, den er dem Mann im Goldhelm zuwarf, war vor kämpferischer Zuversicht erfüllt. Er klingelte seine Wirtschafterin herbei und beauftragte sie, seiner Frau auszurichten, daß er sie bitte, ihn aufzusuchen. Frau Siegert erschien unverzüglich. Sie betrat sein Arbeitszimmer und blieb an der Tür stehen; sie sah ihn mit großen Augen an. Er erhob sich höflich und bat sie, Platz zu nehmen. Er setzte sich erst wieder, nachdem sie sich niedergelassen hatte. »Ich wollte dich bitten, mich zu begleiten«, sagte er verbindlich. »Gerne«, sagte sie mit großer Erleichterung, da sie etwas wesentlich anderes erwartet hatte; eine erneute Auseinandersetzung, eine abermalige Belehrung oder gar ein Urteil. »Ich habe die Absicht«, sagte er, »an einer sogenannten Festlichkeit teilzunehmen, welche die nicht gerade seriöse Bezeichnung ›Emils Seemannsball‹ trägt.« Seine Frau, die dabei war, ihren Stuhl näher zu rücken, erstarrte. »Willst du das wirklich von mir verlangen?« fragte sie -345-
angstvoll. »Ich verlange nichts von dir«, sagte Siegert gedämpft. »Ich bitte dich lediglich, mir einen Wunsch zu erfüllen.« »Ich will ja alles tun, was du verlangst«, versicherte Frau Siegert tonlos. »Aber gerade das ...« »Gerade das erscheint mit sehr wichtig«, erklärte Siegert mit sanfter Eindringlichkeit. »Gewiß, die halbe Stadt wird anwesend sein und darunter werden sich einige Menschen befinden, deren Anblick dir peinlich sein muß. Du wirst vielleicht sogar etwas über dich ergehen lassen müssen, was gemeinhin als Spießrutenlaufen bezeichnet wird - allerdings: an meiner Seite!« »Nach all dem, was geschehen ist ...« »Eben, weil das alles geschehen ist«, versicherte Siegert, »muß ich jetzt diese Bitte aussprechen. Und ich rechne ganz fest mit deiner Klugheit ebenso wie mit deinem Verantwortungsgefühl mir und meiner Familie gegenüber.« »Du verlangst sehr viel«, sagte Frau Siegert; und sie versuchte verzweifelt, zu erkennen, was wohl die Beweggründe waren, die ihren Mann zu dieser unmißverständlichen Forderung veranlaßt hatte. »Ist es wahr«, fragte sie tapfer, »daß du gegen Gustav Golder nicht nur eine Untersuchung eingeleitet hast, sondern daß du ein Gerichtsverfahren gegen ihn beabsichtigst - wegen Ehebruchs?« »Ich hatte keine andere Wahl«, sagte Siegert, und diesmal vermied er es, seiner Frau in die Augen zu sehen. »Es ist nicht das erstemal, daß eine zufällige Äußerung, ein einziges Wort, durch einige fatal zusammentreffende Umstände zu unabsehbaren Weiterungen führten. Diese Wort ist bedauerlicherweise in der Nacht deiner Entbindung gefallen; zwei Zeugen existieren, die es gehört haben. Verleumder griffen es auf. Unser Name geriet in die Gosse, und ich drohte zum Gespött dieser Leute zu werden.« »Und deshalb«, klagte Frau Siegert, »allein deshalb ...« -346-
»Der Angriff ist bekanntermaßen die beste Verteidigung. Ich mußte dem großen Gerede zuvorkommen und Voreilige bremsen. So übergab ich denn die ganze Angelegenheit, um ein für allemal Klarheit zu schaffen, der öffentlichen Gerichtsbarkeit. In kürzester Zeit würde so, sagte ich mir, gewissermaßen amtlich die Haltlosigkeit dieser Behauptung festgestellt werden. Das aber erst war die Voraussetzung, die mir die Handhabe schaffen konnte, nunmehr mit allen Machtmitteln gegen eventuell sich dann noch hervorwagende Verleumder vorzugehen.« »Und der Abend heute - dieser Ball?« »Unser Besuch wird eine Art Demonstration sein. Wir zeigen so der Stadt, daß wir selbstverständlich zusammengehören und daß wir in jeder Beziehung über alles Gerede erhaben sind.« »Gehören wir denn noch zusammen?« fragte Frau Siegert mit aufflackernder Hoffnung. »Ich habe dir Zeit zum Nachdenken gegeben und Gelegenheit genug, eine Trennung herbeizuführen. Du bist hiergeblieben, und damit ist wohl, soweit ich übersehen kann, eine Entscheidung gefallen. Warum sie so und nicht anders ausgefallen ist, steht zur Zeit nicht zur Debatte. Ich darf wohl annehmen, daß deine Bindungen an mich, an meine Familie und an mein Werk größer sind als die gelegentlichen Verlockungen des Lebens, die sich am Ende doch nur als Torheiten erweisen.« »Du glaubst also nicht«, sagte Frau Siegert hastig, ohne sonderliche Überlegung, angesprungen von neuer Hoffnung, noch zerquält von den erlittenen Enttäuschungen, »daß ich jemals ... auch nur in Gedanken ...?« »Jetzt noch darüber zu reden«, sagte Siegert, der auf seine Taschenuhr sah und dann auf die Uhr im Glassturz, die auf dem Schrank mit den Familienakten stand, »würde mehr Zeit kosten, als uns noch zur Verfügung steht. Darf ich also meine Bitte noch einmal wiederholen?« -347-
»Ich tue, was du von mir verlangst.« »Es ist eine Bitte!« »Ich werde immer tun, was du von mir verlangst. Und wenn es sein muß, begleite ich dich sogar auf dieses Fest.« »Ich danke dir«, sagte Siegert förmlich. »Ich werde den Wagen in einer halben Stunde vorfahren lassen. Ich würde es begrüßen, wenn du ein Kleid auswähltest, das einer fröhlichen Festlichkeit angemessen ist und deine Vorzüge wirksam betont. Wenn du die anfängliche Peinlichkeit gut überstanden hat, wird es, vermute ich, dann noch sehr heiter werden - nicht für alle; aber für uns schon, sofern wir genügend Souveränität besitzen.«
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Vater Golder blätterte im Medizinischen Wochenblatt. In diesem Heft sollte sich, nach Angaben des alten Doktors Pracht, ein bemerkenswerter Aufsatz über neuartige Methoden der Schmerzlinderung bei Geburten befinden. Er fand diesen Aufsatz auch und begann in ihm zu lesen, wobei er von Zeit zu Zeit ein vierbändiges Lexikon benützte, das vor ihm auf dem Tisch lag. Der alte Golder liebte es, die Stunden seines Alleinseins entweder in seiner Werkstatt im Keller oder aber mit einer derartig komplizierten Lektüre zu verbringen. Was er während der Abwesenheit seiner Frau tat, um die Wartezeit zu verkürzen, hing lediglich davon ab, ob er ungestört in der Wohnküche sitzen konnte oder ob er sich mit seinen Gedanken vor den anwesenden Familienmitgliedern in den Keller flüchten mußte. Einen so ruhigen Abend wie diesen hatte er seit langer Zeit schon nicht mehr erlebt. Die Wohnung, in der sieben Kinder geboren worden waren, in der sie herumgetobt hatten und nur durch Mutter gebändigt werden konnten, lag jetzt still und verlassen da. Er las, um seiner Frau nahe zu sein. Er hatte sich im Verlauf der Jahre ein beachtliches Wissen um das Naturereignis der Geburt angeeignet. Nur Mutter wußte von dieser Beschäftigung, die er ansonsten streng geheimhielt. Er pflegte die Ergebnisse seiner Studien im Extrakt seiner Frau zu unterbreiten; denn sie, von Berufs-, Mutter und Hausfrauenpflichten arg bedrängt, fand weit weniger Zeit als er, sich auf derartige Lektüre zu konzentrieren. Ihm war es, als sehe er jetzt Mutter vor sich, über eine Hochschwangere gebeugt. Auf ihrem Gesicht lag jenes Lächeln, das nicht nur elementare Güte war, sondern auch vom Wissen um die Leiden in der Welt geprägt; und es war nicht ganz frei von nachsichtiger Überlegenheit, wie es Weisen eigen sein mag, die sich geduldig das Gestammel von Schulkindern anhören. Seine Frau, so wollte ihm scheinen, wußte soviel von den -349-
Menschen, daß sie klug geworden war, nur noch wenig zu erwarten. Vater Golder horchte in die Stille hinein, die ihn umgab und die jetzt unerwartet gestört wurde. Er hörte vorsichtige, zögernde Schritte im Korridor, die näher kamen. Er schlug das Medizinische Woblatt zu, bedeckte es mit einem Lexikonband und sah auf die Tür. Sie öffnete sich langsam, und Susanne trat ein. »Störe ich dich?« fragte Susanne; und der Blick, mit dem sie ihn ansah, war eine einzige Bitte, keine Fragen zu stellen. »Du bist hier zu Hause«, sagte der alte Golder lächelnd. Und da er sie genau kannte und sofort verstand, tat er, als nehme er seine unterbrochene Lektüre wieder auf. Er blätterte im Lexikon und schien dort irgend etwas zu suchen. Susanne hatte ihr himmelblaues Sonntagskleid an, das ihre zarte Gestalt, ihre fast noch kindliche Schlankheit in rührender Weise unterstrich. Sie kam behutsam näher und setzte sich, sehr zögernd, an den Tisch. Sie betrachtete ihren Vater, sein stilles, ergebenes, faltenreiches Gesicht mit den klaren Augen, die es vermieden, sie anzusehen. »Festlichkeiten«, sagte Vater Golder ohne aufzublicken, und beinahe war es, als entnehme er diese Erkenntnisse dem Lexikon, »sind nur dann genußvoll, wenn sie selbstlos sind. Ihr einziger Sinn sollte Fröhlichkeit sein. Auf Kosten anderer feiern, sich selbst in den Mittelpunkt stellen, irgendeine Zweckmäßigkeit damit verbinden, alles das dezimiert die Freude, degradiert sie zum Vergnügen.« »Auf Emils Ball sind alle sehr lustig«, sagte Susanne. »Aber ich habe es dort nicht mehr ausgehalten.« Der alte Golder blätterte in seinem dicken Buch und tat, als sei er an einem Gespräch mit seiner Tochter gar nicht sonderlich interessiert, machte lediglich ein paar Bemerkungen, um irgend etwas zu sagen. »Für das bloße Vergnügen muß man vermutlich -350-
geboren sein.« »Mir tut Siegfried Siegert leid«, sagte Susanne. Vater Golder sah noch immer nicht hoch; aber seine Hände lagen jetzt still auf der Tischplatte, zu beiden Seiten des Buches. »Es ist gut, daß dich die Angelegenheiten deiner Schwester nicht gleichgültig lassen. Daß du aber, weit darüber hinaus, derartig heftig Anteil nimmst, finde ich immer wieder bemerkenswert.« »Irgend etwas muß doch geschehen, Vater! Man darf doch einen Menschen wie Siegfried nicht derartig herausfordern und verletzend behandeln!« Und als Vater Golder schwieg, fuhr sie in heftiger Erregung fort: »Sie hat sich nicht um Siegfried gekümmert! Sie hat sich ausschließlich mit diesem Doktor Bächler beschäftigt!« Susanne ballte ihre Kinderhände zu Fäusten. »Schließlich hat Siegfried das Fest verlassen.« »Da du jetzt hier bist, Susanne«, sagte Vater Golder und sah seine Tochter zum erstenmal während dieses Gesprächs offen an, »darf ich wohl annehmen, daß du ihm nicht nachgegangen bist. Vielleicht hättest du das tun sollen - es ist nie gut, wenn junge Menschen mit verzweifelten Gedanken allein sind.« »Ich bin zu dir gekommen, Vater, weil ich glaube, daß du der einzige bist, der jetzt noch helfen kann. Dir hat bisher noch niemand zu widersprechen gewagt. Auf dich hört jeder. Wenn du Margarete ins Gewissen redest, wird sie tun, was du von ihr verlangst.« Vater Golder sah jetzt wieder auf seine Hände, die im milden Schein der tief herabgezogenen Deckenlampe lagen. Es war, als betrachte er nachdenklich die blauen Adern, die über seinen Handrücken bis zu den Fingerspitzen liefen. »Nein«, sagte er dann schwer, »das kann ich nicht tun.« -351-
»Soll sich denn alles wiederholen?« fragte Susanne heftig. Und sie schien, kaum daß sie diesen Satz ausgesprochen hatte, entsetzt zu sein über ein derartiges Wagnis. »Was weißt denn du«, fragte der alte Golder langsam, »von dieser alten Geschichte?« »Ich hätte das nicht sagen sollen«, stammelte Susanne. »Bitte, verzeih mir.« »Wer weiß überhaupt schon etwas davon«, sagte Vater Golder mit gleichbleibender Ruhe, als sei er gar nicht unterbrochen worden. »Die einzigen, die wirklich wissen, was damals passiert ist, sind deine Mutter, Siegert und ich. Und jeder von uns sah die Sache anders. Ich will sie dir erzählen und versuchen, so ehrlich wie nur irgend möglich zu sein.« »Du mußt es nicht tun, Vater!« »Es soll wohl so sein«, sagte der alte Golder; und seine kleine, fast zierliche Gestalt schien noch ein wenig mehr in sich zusammenzusinken. »Es heißt immer, deine Mutter und ich, wir hätten uns damals über alle Maßen geliebt, und für Siegert sei daher jede Hoffnung sinnlos gewesen. Nun gut, das stimmt auch; im Prinzip wenigstens. Aber so einfach ist die Sache nicht gewesen.« Susanne beugte sich ein wenig vor und hörte angespannt zu. Die kleinen Hände, die sie immer noch zu Fäusten geballt hatte, lagen, auf den Rand des Tisches gestützt, unter ihrer Brust. Sie atmete mit leichtgeöffnetem Mund, und in ihren Augen war frauliche Anteilnahme ebenso zu lesen wie weibliche Neugier. »Deine Mutter«, sagte der alte Golder, angestrengt nach Worten suchend, »war damals, vor dreißig Jahren, nicht nur mit Siegert befreundet, nicht nur ihm versprochen - sie war mit ihm verlobt. Sie war oft mit ihm zusammen. Sogar der Tag der Hochzeit stand bereits fest.« »Aber dieser Siegert, Vater, war doch kein Mensch von den Qualitäten seines Sohnes Siegfried.« -352-
»Dieser Siegert, mein Kind, war damals ein Mann von hohen Gaben, ein fröhlicher, herzgewinnender und optimistischer Mensch: liebenswert, jungenhaft und von strahlendem Äußeren. Als ich den jungen Siegert, diesen Sohn Siegfried, vor einigen Tagen zum erstenmal sah, erschrak ich fast, obwohl mich Mutter vorher darauf vorbereitet hatte. Denn der junge Siegert, mein Kind, ist heute fast das Ebenbild seines Vaters, als dieser dreißig Jahre jünger war.« »Ein Grund mehr, ihm beizustehen, Vater.« »Ein Grund weniger, mein Kind. Ich will dir mit aller Offenheil erzählen, was damals passiert ist. Ich lernte deine Mutter zufällig kennen, durch eine gemeinsame Freundin; es war drei Wochen vor ihrer Hochzeit. Zwei Wochen später war alles entschieden. Deine Mutter war entschlossen, nur mit mir zu leben.« »Und Siegert, Vater?« »Für ihn brach damals eine Welt zusammen; anders kann das, was mit ihm geschehen ist, wohl nicht bezeichnet werden. Er war dicht am Abgrund seines Lebens. Er hat um Mutter verzweifelt gekämpft, er hat fast gebettelt und um sie geweint. Schließlich war er nahe am Selbstmord. Uns aber war es nicht gegeben, irgendwelche Rücksicht auf ihn zu nehmen. Er war am Ende. Es dauerte Monate, vielleicht auch Jahre, bis es ihm gelang, sich einigermaßen wieder zu fangen. Überwunden hat er es nicht; bis heute noch nicht. Und seit damals ist er ein völlig anderer Mensch geworden.« »Und genau das gleiche, Vater«, sagte Susanne gepreßt, »soll jetzt mit Siegfried geschehen? Du weißt, daß es geschehen wird; du ahnst es zumindest - und du tust nichts dagegen? Du weigerst dich, irgend etwas dagegen zu tun?« »Ja«, sagte der alte Golder. »Ich weigere mich, irgend etwas dagegen zu tun - weil ich weiß, daß es sinnlos wäre. Es ist sinnlos, verbieten zu wollen, wozu es den Menschen drängt. -353-
Man soll und darf Liebe nicht regulieren oder gar befehlen wollen; und mit dem Verstand allein ist nicht ein einziger Tropfen Herzblut zu bewegen. Auch wir, deine Mutter und ich, taten damals nur das, war wir tun mußten, und nichts von dem, was wir hätten tun sollen.« »Und nichts, gar nichts ist dagegen zu machen, Vater?« »Nichts! Wir wußten damals genau um alles, was geschehen ist. Ich habe deine Mutter um eine Entscheidung ringen sehen ich habe, nahezu kaltblütig, alles getan, um eine Entscheidung zu meinen Gunsten herbeizuführen. Wir wußten, was in Siegert vorging, wir sahen, wie er sich verrannte - wir hatten, glaube ich, nicht einmal Mitleid mit ihm. Wir hatten uns nur auf unsere Liebe konzentriert.« »Ich bin sehr traurig, Vater«, sagte Susanne; sie atmete schwer und weinte dabei lautlos. »Ich habe nicht gewußt, daß es so etwas gibt.« »Wenn du das jetzt auch noch nicht glauben kannst, Kind, einmal wirst du es erfahren. Und wenn du dich dann an dieses Gespräch erinnerst, wirst du vielleicht eine winzige Erleichterung verspüren. Und auch deshalb habe ich dir das alles erzählt, Susanne.« »Ich fühle mich so schrecklich hilflos, Vater,« sagte Susanne leise. »Ich wollte, ich könnte etwas für ihn tun.« »Wenn das einer kann, Kind, dann bist vielleicht du allein das. Denn Liebesschmerz kann vermutlich nur durch Liebe geheilt werden. Und ich habe das Gefühl, du liebst ihn. Ist das nicht so?« »Ja, Vater«, sagte Susanne leise. »Ich liebe ihn.« »Vielleicht solltest du ihm das ein wenig zeigen. Wenn sein Herz nicht ganz verschüttet ist, dann müßte er verhext sein, nicht bei dir Schutz zu suchen und Heilung zu finden.« »Ich liebe dich auch, Vater!« -354-
»Mein Kind - es würde sich nicht lohnen zu leben, wenn es anders wäre.«
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Der große Saal im ›Hirschen‹ war gefüllt mit fröhlichem Lärm. Starke und noch nicht durch Bier oder beißenden Rauch geschwächte Zungen bliesen rhythmische Luftstöße durch gekrümmtes Blech oder redeten auf Nachbarn, Familienangehörige und das Bedienungspersonal ein. ›Emils Seemannsball‹ schien wie alljährlich ein brausender Erfolg zu werden, zumindest nach der Meinung der Freunde und Anhänger des Weitgereisten, die mit ihren Angehörigen und Anverwandten erwartungsvoll erschienen waren. Und Emils innerer Freundeskreis bestand aus hochangesehenen und zumeist recht vermögenden, also einflußreichen Männern des Städtchens. Diese Organisatoren und Protektoren zogen automatisch Anhängerschaft nach sich. Somit konnte von einem umfassenden Ereignis für nahezu die gesamte Bevölkerung gesprochen werden. Emil thronte an der breiten Quertafel unterhalb der Bühne. Die zumeist braven und biederen Bürger bewunderten oder bestaunten ihn fast alle, und nicht wenige taten das mit einem Schauder, als sähen sie vor sich einen riesigen Löwen, der sich, durch keinen Gitterschutz von ihnen getrennt, höchst ansehnlich produzierte. Die vereinigte Bläsergemeinschaft des Ortes, aus überparteilicher Feuerwehrkapelle und Mitgliedern des christlichen Posaunenchors bestehend, dröhnten einen Tusch. Die Gespräche verstummten nahezu völlig; lediglich hinter der Theke im Nebenraum klapperten Gläser. Der Tankstellenbesitzer erhob sich; ihn hatte Emils Festkomitee ausersehen, in diesem Jahr zu präsidieren. Er griff über sich, faßte einen Strang und schüttelte ihn heftig: die an einem Balken montierte, schon vor einem Jahr von Emil gestiftete Schiffsglocke ertönte. Sie wurde, wie allgemein bekannt, durch eine Inschrift verziert, die da lautet: Von Sturm zu Sturm -356-
von Hafen zu Hafen der Mensch ist kein Wurm Auch ein Seemann muß schlafen.
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Nachdem das helle Gebimmel der Schiffsglocke verklungen war, das den anwesenden Geistlichen heftige Ohrenschmerzen zu bereiten schien, rief der Präsident: »Verehrte Honoratioren unserer geliebten Vaterstadt, liebe Freunde und Mitbürger! Hiermit eröffne ich das diesjährige Seemannsfest zu Ehren unseres Emil Golder, der die ganze Welt kennt und daher unsere Heimatstadt und seine freundlichen und friedfertigen Bewohner innig liebt. Ich danke allen Anwesenden für ihr Erscheinen und heiße sie herzlich willkommen. Wir beginnen zunächst mit dem Wettsingen um die Siegespalme, die unser Weltreisender aus dem Gelobten Land mitgebracht hat.« Emil nickte gönnerhaft; und in diesem Augenblick war er eigentlich nur noch dem Sonnenkönig vergleichbar, der gnädig seinen Untertanen gestattet, ihn zu erfreuen. Und während sich auf der Bühne die Chöre Schafherdenhaft formierten, betrachtete er die Seinen: die Kegelbrüder und Gesinnungsfreunde, die mit ihm an gleichen Tisch saßen; unter ihnen befand sich Otto, der Lieblingsbruder, der Mitverschworene und Hauptrandalierer, allzeit verläßlich und ergeben. Jetzt blickte der Brave mit blanken Augen in eine Welt, in der er sich unbestritten als der zweite der großen Männer fühlen durfte. Otto genoß diesen Zustand; und Emil freute sich darüber. Und als der Männergesangverein das Lied vom Ozean, der das Grab aller echten Seeleute sei, dumpfdämonisch einherröhrte, begannen Emils Augen zu den Nebentischen hinzuschweifen. Hier saß die zweite Garnitur: die Obrigkeit und seine nächsten Verwandten - außer Paul. Der Polizist stand in eindeutig dienstlicher Haltung, wenn auch nicht umgürtet und bemützt, nahe der Tür; und er schien alles andere als festlich gestimmt zu sein. Aber selbst diesen Anblick des brüderlichen Polizisten ertrug Emil, des kompakten Erfolgs sicher, mit überlegener Gelassenheit. Er wandte sich wieder, während jetzt der -358-
gemischte Chor ›Mit fröhlichem Herzen im Sturmgebraus‹ sang, seinen Lieben zu: seiner wohltuend stillen und willigen Frau, die erwartungsvoll dasaß; seinem angeheirateten Schwager, der sich glücklich schätzen durfte, daß er es ihm gestattet hatte, sich einer Golder zu nähern. Und mit besonderer Anteilnahme ruhten seine wasserblauen Seemannsaugen auf Rita, seinem erklärten Liebling unter den Geschwistern. Und es erheiterte ihn mächtig, daß die muntere Kleine offenbar gerade dabei war, einem Vollmediziner das Herz zu brechen. Nachdem die Chöre, unter lebhaftem Beifall der mitfühlenden Menge, geendet hatten, steckte das Festkomitee die Köpfe zusammen und tat, als berate es angestrengt. Dann verkündete der amtierende Präsident, was bereits Tage vorher beschlossen worden war: »Die Leistungen unserer Chöre standen auf einem derartig hohen Niveau, daß wir uns außerstande sehen, sofort eine endgültige Entscheidung zu fällen. Wir bitten daher um Geduld. Inzwischen werden wir uns an turnerischen Vorführungen erbauen. Sie finden diesmal, und zwar zu Ehren unseres Seemannes, an Stricken und Strickleitern statt, wie sie ja an Bord üblich sind.« Emil trillerte auf seiner Pfeife, und eine Turnriege, in blauweiß gestreiften Seemannstrikots, zog in den Saal, montierte eilfertig die mitgebrachten Geräte und begann sich munter umherzutummeln. Emil tat, als interessiere ihn, den Sachverständigen, diese Darbietung mächtig. Aber sein Blick ruhte längere Zeit auf zwei bekränzten, jedoch leeren Stühlen am Ehrentisch. Hier sollten, so hatte er geplant, seine lieben Eltern sitzen, um die Kette seiner Triumphe mitzuerleben, damit sie mit noch größerem Stolz als bisher an ihn, ihren lieben Sohn, denken konnten. Und dieser Abend, so sagte sich Emil, hätte vielleicht sogar Vater zu überzeugen vermocht, denn dessen stille Skepsis und heimliche Ironie machten dem Weltumsegler, uneingestanden, immer mehr zu scharfen. Die turnerischen Vorführungen endeten unter starkem Beifall. -359-
Der Wortführer führte tönend aus, daß hiermit ›die stählerne Kraft unserer deutschen Jugend‹ so recht überzeugend unter Beweis gestellt worden wäre, worauf sich der Beifall für die kühnen Kletterer noch erhöhte. Hierauf sang der Dachdeckermeister, der als hochmusikalisch galt, das Lied von den Wolgaschiffern und als Zugabe ein Liederpotpourri ›Vom Fels zum Meer‹. Nunmehr aber trat, zum ersten-, doch wahrlich nicht zum letztenmal an diesem Abend, Emil persönlich in Aktion. Er verkündete, daß er die heißumstrittene Überseetrophäe dem Sieger aus fünf Kegelgroßrunden zu übergeben gewillt sei. Der Tankstellenbesitzer legte vorübergehend sein Amt als Präsident nieder und trat stolz hervor, während eine Kiste auf einer Schubkarre hereingerollt wurde. Dieser Kiste näherte sich der Tankstellenbesitzer traditionsgemäß mit einem zurechtgelegten Beil. Er zertrümmerte unter größter Anteilnahme der Anwesenden, angefeuert durch witzige Zurufe, sich zwischendurch stärkend mit Bier, den Deckel der Kiste, zerrte große Mengen von Holzwolle hervor und stieß dann auf einen harten Gegenstand. Es war ein kleines Fäßchen, das er zutage förderte, es trug die Aufschrift: ›Captain Morgan - 73 *Vo.‹ »Es handelt sich«, erklärte Emil der interessierten Menge, »diesmal um ein Fünfzehn-Liter-Faß echten Jamaikarums. Ich selbst habe es eigenhändig gefüllt, nachdem ich in einem Wettkampf sechs ausgesuchte Kulis des Plantagenbesitzers nacheinander innerhalb von dreißig Minuten auf die Bambusmatte gelegt hatte; jeder von ihnen brachte mir also zweieinhalb Liter besten Rums ein. Der eigentliche große Kampf jedoch begann erst an Bord. Wir gerieten in einen Taifun und blieben, durch große Schäden gehandikapt, fünf volle Tage länger auf hoher See als vorausgesehen war. So wurde uns denn der Proviant knapp, was aber einem echten Seemann nicht viel ausmacht; weit schlimmer war, daß uns der Rum ausging! Nur -360-
noch dieses Fäßchen befand sich an Bord. Und nun fing die Sache erst richtig an, gefährlich zu werden: Wie die reißenden Tiere fahndeten die durstigen Seeleute nach meinem Rum! Einer wurde für längere Zeit seeuntüchtig, zwei mußten ins Lazarett, vier fielen für mindestens eine Woche aus - so verteidigte ich diese Trophäe. Schließlich schlief ich nur noch mit entsichertem Revolver.« »Und?« fragte ein besonders naiver Alter aufs höchste gespannt. »Da ist der Rum!« sagte Emil mit großer Geste. Während einer nahezu halbstündigen musikalischen Einlage wurden Proben des einzigartigen Rums an interessierte Männer ausgeteilt. Und es gab niemanden im Saal, der sich uninteressiert zeigte. Bald war das Faß leer, aber die Stimmung heftig angestiegen. Und dann war es, als spüle ausgerechnet diese Welle enggemeinschaftlichen Frohsinns einen Mann mitten in den Saal, bei dessen Anblick die Menge in gaffendes und nahezu lautloses Erstaunen verfiel: Siegert senior, der Direktor. Festlich gewandet, mit gefrorenverbindlichen Gesichtszügen, so trat er auf. Er wurde begleitet von seiner Gattin; sie stand neben ihm, ein wenig füllig, doch in gestraffter Haltung von einiger Ansehnlichkeit. »Ich habe mir erlaubt«, sagte Siegert gemessen in die Stille hinein, »Ihrer liebenswürdigen Einladung Folge zu leisten. Ich hoffe, es sind noch irgendwo zwei Plätze für uns vorhanden.« »Herzlich willkommen!« dröhnte Emil. Und die blanke Freude stand auf seinem im Augenblick überaus bieder erscheinenden Seemannsgesicht geschrieben. »Sie haben zwar schon einiges versäumt, aber das Beste kommt erst noch.« Emil schaukelte im waschechten Seebärengang auf seine neuen Gäste zu; er grinste sie hochbefriedigt an und gefiel sich sehr darin, mit gauklerhaften Obertreibungen den Weltmann zu spielen. Er wies Siegert und dessen Frau die beiden bekränzten -361-
Plätze seiner Eltern an. Dann läutete er kräftig die Schiffsglocke und rief: »Einen Tusch für unseren hochverehrten Herrn Siegert! Und jetzt, da wir endlich vollzählig sind, kann auch das Festspiel beginnen.«
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Vater Golder, die Reserve-Hebammentasche seiner Frau in der Linken, wanderte durch die nächtliche Stadt, die leer wirkte und doch nicht verlassen. Die Straßenlaternen beleuchteten matt das in vielen Jahrzehnten strapazierte Kopfsteinpflaster; sie ließen es in sanftem Zwielicht anheimelnd und fast ein wenig geheimnisvoll erscheinen. Vater Golder wußte um diese Täuschung, die mangelhafte Beleuchtung geschaffen hatte; und er lächelte darüber. Ein Blick auf die Rathausuhr belehrte ihn, daß es wohl noch ein wenig zu früh sei, seine Frau abzuholen. Er wanderte, um die Wartezeit zu verkürzen, auf das Gasthaus zu, in welchem Emils großer Seemannsball stattfand. Schon von weitem hörte er die stampfende Musik, Sekunden später dann auch das in kurzen Wellen anflutende und abebbende Geschwätz der Menge. Er sah in der Nähe des Gasthofes Siegerts großen Wagen stehen, und das verwunderte ihn ein wenig. Aber hinter den hellerleuchteten Fenstern tönte nichts als jene hellflackernde Stimmung, für deren Motor der Alkohol das Öl war. »Guten Abend, Herr Golder«, sagte artig ein Mann, der im Schatten eines Torweges stand. Vater Golder erkannte einen von Pauls Stadtpolizisten; er erwiderte dessen Gruß freundlich und fragte: »Träumen Sie nur so in die Nacht hinein oder schieben Sie Dienst?« »Ihr Herr Sohn«, sagte der Polizist bereitwillig, »hat für seinen Dienstbereich volle Alarmbereitschaft angeordnet. Wir sind auf alles vorbereitet.« »Hoffentlich auch auf eine ruhige Nacht«, sagte Vater Golder sanft. Und dann fragte er: »Haben Sie eigentlich zufällig meinen jüngsten Sohn, den Gustav, irgendwo gesehen?« »Jawohl«, sagte der Polizist; er freute sich, dem verehrten Vater seines gestrengen Vorgesetzten einen Dienst erweisen zu können. »Und zwar sah ich Ihren Sohn Gustav heute abend bereits zweimal; er ging hier in der Nähe spazieren, allerdings -363-
ohne das Gasthaus zu betreten.« »Sollten Sie ihn noch einmal sehen«, sagte der alte Golder, »dann lassen Sie ihn bitte wissen, daß ich ihn gerne sprechen möchte. Sagen Sie ihm, ich hätte vergessen, ihm etwas Wesentliches mitzuteilen.« »Gern«, sagte der Polizist. Und es salutierte mit jener verbindlichen Lässigkeit, wie sie Uniformierte respektgebietenden Zivilister gegenüber anzuwenden pflegen. Vater Golder verabschiedete sich höflich; nach Siegfried und Susanne zu fragen, verbot ihm die Schicklichkeit. Er warf noch einer Blick auf das hellerleuchtete Gasthaus und schwenkte dann, nahezu ein wenig verspielt, Mutters Reservetasche. Er verschwand in eine Seitenstraße und wanderte zu dem Haus hin, in welchem er seine Frau in Tätigkeit wußte. Die Fenster der Wohnung, in der die Hebamme am Werk war, waren hell erleuchtet. Inmitten dieser künstlich erbauten Scheinwerfer, der schwarzgrauen eintönigen Miethäuserfassaden, starrten die grellgelben Rechtecke alarmierend in die Nacht. Doch was hinter ihnen vorging, blieb dem Außenstehenden verborgen. Vater Golder aber, der sich an die gegenüberliegende Hauswand gelehnt hatte, wußte genau, was dort vorging. Er kannte, aus eigener Erfahrung, aus Büchern und aus den Erzählungen seiner Frau, jede Einzelheit. Er wußte auch um die Besonderheiten der Hebamme Golder, um ihre schmerzlindernden Massagen und ihre festen Zugriffe in den entscheidenden Minuten der Geburt. Immer, wenn er seine Frau bei einer Mutter wußte, war es ihm, als müsse er an diesem Prozeß des werdenden Lebens Phase um Phase teilnehmen. Siebenmal war er selbst seiner Frau in ihrer schwersten Stunde hilfreich zur Seite gestanden. Das hatte sich, bei der Geburt des ersten Kindes, Emil, fast selbstverständlich ergeben, denn das Kind kam so überraschend -364-
schnell, daß er Hebammendienste leisten mußte. So hatte er einen Menschen in allen Stadien seines Lebens kennengelernt - in Not und Freude, Lust und Schmerz. Nichts mehr war ihm bei seiner Frau fremd - bis auf den Tod. Und er liebte sie in Demut, weil er sie ganz kannte; und durch sie wußte er um das Wesen aller Mütter in der Welt. Der alte Mann stand nachdenklich da und sah zu den grellgelben Lichtflecken auf. Er hatte die Tasche neben sich auf die Erde gestellt; und sein Gesicht sah aus, als erträume es Geduld. Er lächelte, als er im Treppenhaus gegenüber Schritte hörte, die er genau kannte. Als sich dort die Türe öffnete, löste er sich von der Mauer und schritt seiner Frau entgegen. Die Hebamme Golder war nicht überrascht, ihren Mann zu sehen. Sie ging auf ihn zu und sagte: »Eine herrlich gesunde Frau; die Geburt war leicht. Der Junge drängte sich mit Gewalt ins Leben.« »Er weiß eben noch nicht, was das Leben sein kann«, sagte Vater Golder im Bestreben, seine Frau nach ihrer anstrengenden Tätigkeit ein wenig zu unterhalten. »Und wenn er Glück hat, wird er es nie erfahren. Je älter ich werde, Mutter, um so mehr glaube ich an meine Theorie, daß die ganz Dummen und die ungewöhnlich Klugen am glücklichsten im Leben werden. Die einen erkennen nicht, was um sie vorgeht, die anderen aber werden damit fertig; sie überwinden sich und leben fortan in weiser Bescheidenheit. Aber die Mittelmäßigen leiden.« »Ist Gustav ein mittelmäßiger Mensch?« Vater Golder nahm seiner Frau die Tasche ab und lächelte sie liebevoll an; es geschah so oft, daß sie die gleichen Dinge dachten, aber es war immer wieder überraschend. »Gustav«, sagte er, während sie nebeneinander durch die Nacht gingen, »ist nicht dumm - aber er ist auch noch nicht klug geworden. Er befindet sich offensichtlich in einer Krise; aber um sie ganz erkennen zu können, müßte man in seiner Haut stecken. Da das -365-
niemand vermag, kann ihm auch keiner helfen.« »Und wenn auch wir nicht unschuldig an all dem wären, was in ihm vorgeht?« »Er muß erkennen lernen, Mutter, daß ein Unterschied besteht zwischen böswilliger Schuld und dem Schuldigwerden durch unberechenbare, schicksalsträchtige Verwickelungen. Wenn er das nicht erkennen lernt, wird er dazu verdammt sein, ewig leiden zu müssen. Dann wird er ein unglückliches Leben führen und nicht wissen, daß er allein verantwortlich dafür ist.« Langsam schritten sie weiter durch die Nacht. Sie umgingen den Marktplatz und bewegten sich auf die Siedlungskolonie zu, in der die Häuser der höheren Beamten und der mittleren Angestellten standen. Hier wartete eine zweite Mutter auf die Geburt ihres Kindes und damit auf die Hebamme Golder. »Susanne hat vorhin das Fest verlassen«, berichtete Vater Golder. »Sie fand sich bei mir ein und wollte mich dazu veranlassen, Margarete ins Gewissen zu reden.« »Hast du ihr das versprochen?« »Natürlich nicht, Mutter. Margarete liebt Siegfried Siegert nicht. Man kann nichts dagegen tun. Tut es dir leid?« »Siegfried tut mir leid - er ist ein anständiger Junge.« Mutter Golder sagte das bedächtig und mit Bedauern. Es schien, als wolle sie dem Gesagten noch etwas hinzufügen; aber sie schwieg. »Ich kann mir denken, was dich bewegt«, sagte Vater Golder vorsichtig. »Daß sich so vieles von damals heute zu wiederholen scheint beunruhigt dich. Aber du warst die einzige Tochter deiner Eltern, wir aber haben neben Margarete noch Susanne und Susanne liebt den jungen Siegert. Sie hat es mir selbst gesagt.« »Der Junge hat ein unverschämtes Glück«, sagte Mutter Golden nach längerer Pause zufrieden. »Hoffentlich erkennt er -366-
das auch.« »Männer sind in diesen Dingen, wie du weißt, nicht sonderlich klug«, sagte Vater Golder mit behutsamer Heiterkeit. »Sie heiraten zumeist weder künftige Hausfrauen noch kommende Mütter; sie vergaffen sich in Frauen.« »Aber die Frauen«, sagte Mutter Golder, »vergessen kaum jemals völlig ihren Verstand; ihr Instinkt gebietet ihnen darüber hinaus einen Mann zu heiraten, bei dem sie sich geborgen wissen - ein ganzes Leben lang. Sie werden immer Männer in Position und mit Zukunft bevorzugen.« »Zum Beispiel - einen Schlossergesellen!« Mutter Golder lachte in die Nacht hinein; und diese ungekünstelte, spontan hervorbrechende Fröhlichkeit tat dem Herzen des alten Mannes unendlich wohl. Und die Dunkelheit verbarg, daß sein zerfurchtes, sonst so nachdenkliches Gesicht von einem großen, lautlosen Lachen überflutet war. »Du warst eine Ausnahme«, sagte Mutter Golder. »Und wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich selbstverständlich Siegert geheiratet. Aber Margarete ist noch unfertig und launisch obendrein; sie ist noch lange nicht reif für eine Ehe. Und was das Entscheidende ist: Für sie gibt es keinen Schlossergesellen.« »Doch, Mutter - den gibt es.« Frau Golder blieb urplötzlich stehen, als sei sie gegen ein Hindernis gerannt. Sie versuchte, im Gesicht ihres Mannes zu lesen, ob er sich etwa einen Scherz leiste. »Du meinst doch nicht etwa ...« »Genau den meine ich, Mutter. Ritas aufgesetzte, immer wieder heftige betonte Abneigung gegen diesen Jüngling war mir von Anfang an verdächtig.« »Das eine sage ich dir, Vater«, versicherte Mutter Golder unerwartet heftig, »dieser Doktor Bächler ist für mich ein rotes Tuch. Einen frecheren Burschen habe ich noch niemals -367-
getroffen. Und solange ich Hebamme bin, hat keiner wie er versucht, mir ins Handwerk zu pfuschen. Er kann eine Serie Ohrfeigen von mir beziehen, aber nicht meine Tochter!« »Du wirst erwartet«, sagte Vater Golder; und er wies auf den hellerleuchteten Eingang eines der Siedlungshäuser. Mutter Golder nahm ihrem Mann die Reservetasche ab; und die Heftigkeit, mit der das geschah, ließ ihn auflachen. Sie stand noch einige Sekunden wie unentschlossen da, dann drehte sie sich herum und ging auf das Haus zu. Doch dann, nach vier oder fünf Schritten, kam sie wieder zurück. »Diesem Bächler«, sagte sie höchst ungehalten, »traue ich es zu, daß er Margarete aus purer Berechnung den Kopf verdreht. Aber so einfach, wie er sich das denkt, ist die Sache nicht. Der Bursche wird sich an mir die Zähne ausbeißen - verlaß dich darauf!«
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Das von Emil inspirierte Spiel, das Festspiel, spielte natürlich auf hoher See, und zwar in den Tropen. In den Kulissen hing ein lachsfarbener Mond, der Himmel war giftblau ausgepinselt; und mit wenigen Versatzstücken und mehreren Wäscheseilen, die Taue darstellen wollten, war eine Art Oberdeck angedeutet worden. Zuerst erschien Siegi, der Kapitän. Und allein schon bei seinem Anblick quietschten und grunzten einige sich für besonders hell haltende Mitbürger heftig belustigt vor sich hin. Denn der Kapitän auf der Bühne, den der Kolinialwarenhändler Stransky mit raumfüllenden Gesten und affenartiger Mimik darstellte, hatte eine unverkennbare äußerliche Ähnlichkeit mit Siegert. Und zu allem Überfluß war da ja auch noch der beziehungsvolle Name ›Siegi ...‹ Emil war behaglich in seinen Stuhl gerutscht und genoß diese seiner schöpferischen Fantasie entsprungene Darbietung mit spürbarem Behagen. Er betrachtete Akteure und Aktionen mit wohlwollender Anteilnahme und ließ dann seinen Blick kurz, prüfend und erwartungsfroh zu Siegert hinüberschweifen. Doch merkwürdigerweise schien der Direktor nicht im mindesten beeindruckt von dem, was er sah; vielmehr lag auf seinem Gesicht geringe Amüsiertheit, als sei allzu dürftig, was ihm da vorgesetzt werde. »Der scheint wohl schwer von Begriff zu sein«, flüsterte Otto seinem Bruder zu. »Dem gelingt es vorläufig noch, sich zusammenzunehmen«, sagte Emil überzeugt. »Aber was meinst du wohl, was dem noch alles bevorsteht!« Kolonialwarenhändler Stransky als Kapitän Siegi, eingehüllt in den blauen Konfirmationsanzug seines Neffen, ausgestattet mit Messingknöpfen und einer Segelklubmütze, produzierte sich zunächst als Alleinherrscher und Tyrann. Er wedelte mit einem Tauende umher und verprügelte Schiffsjungen; diese wurden -369-
von den jüngsten weiblichen Mitgliedern des gemischten Chors dargestellt und zwar, höchst erfolgreich, in enganliegenden Hosen. Das war einer der vielen Einfalle des Autors, der auch zugleich Regisseur und, wie sich alsbald herausstellen sollte, Träger der Hauptrolle war. Doch zunächst noch beherrschte Kapitän Siegi den Dampfer, beziehungsweise die Bühne. Er prüfte das Essen und fand es zu fett. Dann kamen zwei der Schiffsjungen mit einem Kübel vorbei; Siegi kostete den Inhalt und rief »Prima Suppe!« Es war aber Abwaschwasser. Und obgleich fast alle im Saal diesen bescheidenen Witz kannten, gab es doch kaum einen, der nicht über ihn lachte. Einer der wenigen, die nicht eine Miene verzogen, war Siegert; lediglich sein überlegennachsichtiges Lächeln schien sich noch ein wenig verstärkt zu haben. Das Gesicht seiner Frau, die stocksteif neben ihm saß, war völlig ausdruckslos. Emil irritierte das ein wenig; er hatte weit mehr Wirkung erwartet. Doch er vertraute den Dingen, die noch kommen würden. Auf der Bühne erschien zunächst die Frau des Kapitäns. Sie forderte vom Koch eine Extraportion Butter für sich und verlangte außerdem, daß der Schiffsjunge in ihrer Gegenwart durchgeprügelt wurde. Hierauf regte die Kapitänin eine allgemeine Betstunde an und verlangte den Ersten Steuermann zu sehen, um mit ihm Einzelheiten zu besprechen. Der Erste Steuermann erschien. Und kaum wurde die Menge im Saal seiner ansichtig, brauste ein viele Sekunden anhaltender Beifallssturm los: denn der Erste Steuermann sollte unverkennbar Emil sein - er wurde zwar Egon genannt, ging aber ganz wie Emil, räusperte sich wie er, schlug sich mit den gleichen trommelnden Bewegungen gegen die Brust, spuckte dieselben hohen, weitgeschwungenen Bogen. Der tüchtige Chorleiter kopierte den weitgereisten Sohn der kleinen Stadt mit Inbrunst. -370-
Emil, beziehungsweise Egon, beherrschte sogleich die Szene. Er war, wie sich schnell herausstellte, Herz und Seele des Unternehmens, der verkörperte gesunde Menschenverstand, das personifizierte soziale Gewissen, gekoppelt mit einem stark der Praxis zuneigenden Christentum. Er gab der Kapitänin unzweideutige Antworten, tätschelte ihr gut gelaunt die hinteren Rundungen, entwand ihr nach kurzem neckischen Ringen die Butter und warf sie, mit der Papierhülle, in einen Kübel, den gerade zwei Schiffsjungen vorübertrugen - natürlich befand sich diesmal kein Abwaschwasser darin. Nunmehr begann auf der Bühne die Verführungsszene, zunächst unter dem Vorwand, passende Bibeltexte für die gemeinsame Andacht aussuchen zu wollen; zu diesem Zweck rückte die Kapitänin eng und immer enger Egon auf den Leib. Aber Egon blieb standhaft. Denn erstens, erklärte er ihr, sei ihr Mann sein Kapitän, und wenn er auch ein großer Armleuchter sei, so verbiete ihm doch das Gesetz der See und der Disziplin, auf ihr unmißverständliches Angebot näher einzugehen. Zum zweiten aber sei ihm eine Ehe grundsätzlich heilig, so wahr er hier sitze. Dann jedoch aber, drittens, letztens allein entscheidend: Sie wäre nun einmal nicht sein Typ. Auch diese Vorgänge auf der Bühne hatten die Anteilnahme des Publikums, das langsam in dem Spiel behutsame Aufklärung über bisher der Öffentlichkeit vorenthaltene Tatsachen sah. Die örtlichen Parallelen zu diesem Hochseetropenspiel schienen unverkennbar und durften als höchst pikant gelten. Die Kegelbrüder am Ehrentisch, in der Erwartung auf weitere intime Details, befeuert durch Schnaps, Bier und Rum, waren glänzender Stimmung. Emils Anverwandte, mit Ausnahme von Paul, staunten. Kaum jemand, der sich nicht amüsierte. Siegert aber verlor seine lächelnde Nachsichtigkeit immer noch nicht. Auf der Bühne ging indessen das Tropenhodiseedrama weiter. Die Kapitänin, sich verschmäht wissend, schier bebend ob der Kränkung, die ihr zugefügt worden war, klagte bei ihrem Siegi -371-
den Ersten Steuermann an, also Egon, alias Emil. Sie bezichtigte den braven Seemann der Gottlosigkeit und nannte ihn einen Teuflischen, der nicht gezögert habe, ihr unsittliche Anträge zu machen. Selbst ihre wiederholten Hinweise auf die Gesetze der See, auf Disziplin und Treue zum Vorgesetzten, auf die Heiligkeit der Ehe und auf die Tatsache, daß er ihr von Herzen zuwider sei, hätten nichts gefruchtet. Aber sie habe ihm zu erkennen gegeben, daß sie bereit sei, ihre Ehre als Frau und Kapitänin bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Hierauf schäumte Siegi, der Kapitän. Er tat es so heftig, daß sämtliche Kulissen wackelten und der lachsfarbene Tropenmond zu schaukeln begann. Schließlich platzten ihm seine Messingknöpfe vom Konfirmandenanzug; und die Menge wartete gespannt darauf, ob ihm auch noch die Hosen herunterrutschen würden, was aber nicht geschah. Jedenfalls fauchte der Hauptdarsteller seine Mitspieler derartig an, daß sie zusammenzuckten; er spuckte sogar über die Rampe hinweg auf den Tisch des Komitees; und wenn er die Bretter betrampelte, staubte es heftig. Die Seemannsflüche aber, die in den Saal prasselten, brachten mehr als eine Dame zum Erröten. »Ich habe gar nicht gewußt«, sagte einer der Gemeinderäte nahezu ergriffen, »daß wir einen so großen Schauspielerin unserer Stadt haben.« Außer Paul, der nach wie vor abwartend und täuschend gleichgültig am Eingang stand, war Siegert der einzige, der immer noch nicht sonderlich beeindruckt zu sein schien. Das begann Emil langsam zu beunruhigen. Er fragte sich, was wohl der Grund so aufregender Gleichgültigkeit wäre - war das Stück etwa noch nicht deutlich genug? Sollte dieser Siegert seinen Verstand verloren haben? Aber Emil vertraute den letzten Szenen des Spieles; sie würden, davon war er überzeugt, selbst den stärksten Mann aus dem Sattel werfen - also auch Siegert. Das Spiel auf der Bühne zeigte nun, wie der Kapitän Siegi, der hinterlistig von seiner Frau aufgestachelt worden war, -372-
nunmehr alle seine Machtmittel spielen ließ: Er prügelte die Schiffsjungen noch heftiger als bisher, schikanierte die Mannschaft, degradierte den Herz- und Seelen-Egon zu niedersten Diensten, kommandierte ihn zu den gefährlichsten Aufgaben - was jedoch den Wackeren nicht verdroß; allzeit frohen Gemütes schrubbte er das Deck, schaufelte Kohlen, sprach den Schiffsjungen Mut zu, gab dem Kapitän männliche Antworten und hohnlachte der Kapitänin ins erblassende Gesicht. Und dann, Emil lehnte sich erwartungsvoll zurück und blinzelte seinen Freunden und Anhängern zu, kam die entscheidendste Szene des Spiels. Nun wurde vom Autor, also vom Schicksal, ein Schiffsjunge in den Vordergrund geschoben, der schon immer Egon mit aufrichtiger Ergebenheit lernbegierig angehangen hatte. Denn in Egon sah dieser Schiffsjunge Bruder, Vater und Volksheld zugleich, für ihn war er Christoph Columbus und Lord Nelson in einer Person. Dieser Schiffsjunge aber hieß Gustl. »Ah!« riefen einige, die blitzschnell erkannt hatten, daß Gustl Gustav bedeutete. Und selbst Emil dachte: Ah! - denn er glaubte gesehen zu haben, daß Siegert leicht zusammengezuckt war. Frau Siegert jedenfalls, obgleich regungslosen Gesichts, zerrte mit nervösen Fingern an ihrem Taschentuch. Es kam alles, wie allgemein erwartet wurde: Egon schob, nach munteren Intrigen, den lebenshungrigen Gustl, dem sich so günstige Gelegenheit bot, endlich die Hörner abzustoßen, in die Arme der gierigen Kapitänin. Und der Kapitän, der nur im Dienst ein sehr aktiver und draufgängerischer Mann war, hielt zur gleichen Zeit im heftigsten Sturm auf der Kommandobrücke Wache. Egon sorgte dann dafür, daß der Kapitän die beiden in flagranti ertappte - so wurden sie dann bestraft: der Kapitän für seine Dummheit und Arroganz, die Kapitänin für ihre Verlogenheit und Begierde. Der nette Gustl aber hatte endlich das Leben kennengelernt und der großartige Egon erneut -373-
bewiesen, daß niemand auf der Erde und schon gar nicht auf hoher See existierte, der ihm das Wasser reichen konnte. Beifall, Beifall, Beifall. »Nun?« fragte der vor Neugierde nahezu platzende Emil den immer noch stereotyp lächelnden Siegert. »Was sagen Sie jetzt?« »Sehr amüsant«, sagte Siegert. »Aber doch wohl nicht ganz so amüsant, wie das, was ich für Sie vorbereitet habe.«
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Gustav Golder wandelte so gut wie ziellos durch die Straßen der Stadt; er trachtete lediglich danach, nicht in die unmittelbare Nähe des Gasthofes zu gelangen. Dennoch geriet er immer wieder, wie magisch angezogen, dorthin. Und in der Seitengasse hinter dem Wirtsgarten traf er auf den jungen Siegfried Siegert. Beide streiften sich knapp, erkannten sich erst dann und machten den gequält wirkenden Versuch, sich zu entschuldigen. Ihre Verlegenheit vermochten sie nur schwer zu überspielen; sie reichten sich die Hände und verzogen die Gesichter, als ob sie sich anlächeln wollten. »Auch nicht auf dem Fest?« fragte Siegfried. »Nichts für mich«, sagte Gustav. Sie versicherten einander zunächst, daß sie wenig Verständnis für derartige Veranstaltungen aufzubringen vermochten; und das sei schon immer so gewesen. Sie behaupteten, nächtliche Spaziergänge seit jeher zu bevorzugen. Und sie waren sich dahingehend einig, daß sie der Trieb, zu beobachten, das Verlangen danach, Menschen und Milieu zu registrieren und zu analysieren, rein zufällig zusammengeführt habe. Die beiden ahnten, daß es verwandte Beweggründe waren, die sie um das von Festgewimmel erfüllte Wirthaus herumkreisen ließen. Sie beschlossen, nunmehr noch ein wenig zusammenzubleiben. »Mich interessieren«, behauptete Gustav, »die geradezu aufdringlichen Lichteffekte, die der Rauch bildet, wenn er aus den Fenstern quillt, sich dort mit dem giftigen Grün der Bäume vermischt und schließlich von dem fahlen nebelhaften Leuchten des Mondes aufgeschluckt wird.« »Mich«, behauptete nun Siegfried, »interessieren in erster Linie die Menschen und in Besonderheit jene Veränderung, die der Alkohol in ihnen hervorruft. Auch die lärmfördernde Kraft, die von dem gemeinsamen Erlebnis ausgeht, scheint mir eingehender Betrachtung wert.« -375-
»Man müßte«, sagte Gustav versonnen, »eine Möglichkeit erfinden, die es erlaubt, diesen viehischen Lärm zeichnerisch einzufangen.« »Es gibt ein Gesetz der Masse«, sagte Siegfried. »Ich habe einiges darüber gelesen. Und ich glaube, daß jede Anhäufung von Menschen das Bedürfnis des Sich-Angleichens erzeugt; und das ist nur möglich durch die Mobilisierung der niedrigsten Instinkte.« So redeten sie aneinander vorbei, ohne dadurch ihre Sorgen und Nöte, die sie durch die Nacht trieben, vergessen zu können. Sie zogen mehrere Kreise um das Gasthaus; und diese Kreise wurden immer enger und enger. »Ich habe kein Verlangen«, sagte Gustav, »in das Gasthaus hineinzugehen; aber ungesehen näher herankommen, um besser beobachten zu können, das möchte ich schon.« »Das möchte ich auch«, gestand Siegfried. »Und vielleicht gibt es sogar eine Möglichkeit dazu. In der Nähe steht unser Mercedes; und da mein Vater die Angewohnheit hat, niemals die Fenster zu schließen, kann es durchaus sein, daß wir dort hineinkommen.« Gustav erklärte, daß dieser Vorschlag ausgezeichnet sei. Siegfried begab sich unverzüglich an das rechte vordere Wagenfenster. Er fand es eine Handbreit offen, streckte seinen Arm hindurch und legte innen den Verschlußhebel um, worauf sich die Tür leicht öffnen ließ. Siegfried winkte Gustav zu. Er rutschte dann in den Wagen hinein, ganz nach links auf den Sitz hinter dem Steuerrad; sein nächtlicher Weggefährte nahm daneben Platz. Nun vermochten sie, wie in einem großen, breiten Rahmen, ungesehen alles zu verfolgen, was um das Gasthaus herum vorging. Siegfried fand kleine Zigarren im Handschuhfach und eine bruchsichere, handliche Taschenflasche, die mit schwerem französischem Kognak gefüllt war. Sie rauchten und tranken -376-
und schwiegen lange Zeit. »Hast du nicht eigentlich erwartet«, fragte schließlich Siegfried, »daß ich mit deiner Schwester dieses Fest besuchen würde?« »Mit welcher?« fragte Gustav zurück. »Mit Margarete - mit wem denn sonst?« Gustav schüttelte den Kopf, obwohl er wußte, daß Siegfried diese seine Geste nicht sehen konnte; einmal der Beleuchtung wegen, denn der Schein der Lampen fiel nur spärlich in den großen, schweren Wagen; dann aber auch, weil Siegfried auf den Eingang des Wirtshauses starrte, als erwarte er dort jemand Bestimmten herauskommen zu sehen. »Das einzige, was ich erwartet habe«, sagte Gustav dann, »war euer gemeinsames Fernbleiben von diesem widerlichen Trubel.« »Margarete«, sagte Siegfried schwer, »besucht das Fest mit Doktor Bächler.« »Hast du dich geweigert, sie zu begleiten?« »Sie hat mich überhaupt nicht gefragt, ob ich mitkommen will.« Hierauf eine rechte Entgegnung zu finden, empfand Gustav als schwer, schließlich als unmöglich. Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Taschenflasche und hielt sie dann Siegfried hin, der ebenfalls heftig daraus trank. »Dort drinnen«, sagte Gustav, »führen sie ein Spiel auf, das eine einzige Gemeinheit ist. Die Tochter des Friseurs, die im gemischten Chor mitwirkt und im Stück einen Schiffsjungen spielt, hat mir davon erzählt. Es ist gegen deinen Vater gerichtet, und ich werde darin mißbraucht - die alte, schmutzige Geschichte.« »Du hast nichts dagegen tun können?« »Ich habe versucht, mit Vater oder Mutter zu sprechen; beide hatten keine Zeit für mich. Ich habe mich auch an meinen -377-
Bruder Paul gewandt. Der erklärte, dafür nicht zuständig zu sein, es sei denn, es würde sich herausstellen, daß die öffentliche Moral und Sittsamkeit gefährdet sei. Dann allerdings werde er nicht zögern, ein Verbot auszusprechen. Schließlich ließ ich mich bei deinem Vater anmelden; er empfing mich nicht und erklärte obendrein, mich persönlich hinauswerfen zu wollen, wenn ich nicht sofort verschwinde. Schließlich ging ich zu Emil, aber der lachte nur schallend und nannte mich Rindvieh, Windelscheißer und Rotzbube.« »Was kümmern wir uns noch um sie!« rief Siegfried bitter. »Sie verdienen es alle gar nicht anders, als daß sie in dem Dreck ersticken, mit dem sie sich pausenlos bewerfen.« »Ich habe deiner Mutter - der zweiten Frau deines Vaters«, verbesserte sich Gustav, »die immer so gut zu mir war, nur Unglück gebracht.« »Auch die Bekanntschaft mit deiner Schwester hat mir kein Glück gebracht.« »Reine und makellose Liebe«, sagte Gustav traurig, »wird nicht verstanden.« »Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit werden nicht erwidert«, sagte Siegfried nicht minder traurig. »Lohnt es sich überhaupt noch, in dieser Welt zu leben?« Und während sie noch diesen Worten nachsannen, unbeweglich, lautlos, vom süßlichschweren Qualm der Zigarren umwallt, strömte eine Schar randalierender, in flackerhafter Hochstimmung befindlicher Männer aus dem Seiteneingang des Saales. Diese Herde überquerte, schon leicht schwankend, den Hof und strebte unter den Rufen ›Schiffen tut not‹ einem abgelegenen Gebäude zu, von wo alsbald heftiges Plätschern ertönte, das immer wieder von Ausrufen der Befriedigung über das soeben Erlebte übertönt wurde. »Mich kotzt das alles an«, sagte Gustav. Siegfried aber starrte nach der anderen Seite, auf eine -378-
Tornische, die sich auf der dem Gasthof gegenüberliegenden Straßenseite befand. Dort stand, eng umschlungen, ein Liebespaar; und es schien, als hätten sie sich ineinander verbissen. Siegfried sah, wie die Hand des Mannes die Hüften des Mädchens entlang strich, wie das Mädchen die Beine verschob und ihre Schenkel den zupackenden Händen entgegenstemmte. »Widerlich«, sagte Siegfried. »Ich will weg von hier, weit weg«, sagte Gustav dumpf. »Auch ich kann das nicht mehr sehen!« rief Siegfried. Und er griff tief in die Seitentasche des Wagens hinein, wo sich, wie er wußte, die Reserveschlüssel befanden. Er suchte mit nervösen Händen nach ihnen, fand sie auch, steckte den Zündschlüssel ein und drückte krampfhaft auf den Anlasserknopf. Der Motor jaulte wild auf. Der schwere Wagen sprang vorwärts, rollte dann immer schneller die Straße zum Marktplatz entlang, wurde um die Ecken gerissen, rammte einen Bordstein und schoß, mit hell aufbrüllendem Motor, zur Stadt hinaus. »Das tut gut«, rief Gustav und lehnte sich zurück. »Vielleicht hilft uns das, zu vergessen!« schrie Siegfried. Die Bäume surrten an ihnen vorbei; die Straße quoll ihnen entgegen, schien dann, sich auflösend, zur Seite zu springen. Die Sterne über ihnen begannen zu fliehen, und die Kälte der Nacht zerrte an ihren Gesichtern, bis sie heiß wurden. Es ist, dachte Gustav, beherrscht von dem wundersamen Gefühl, sich zu verströmen, sich auflösen zu können, schwerelos zu sein, es ist, dachte er, als flögen wir in eine andere, bessere Welt. Und niemand mehr vermag uns einzuholen; alles, was bisher existierte, ist gewesen, liegt weit hinter uns, wird, in Sekunden vielleicht schon, vergessen sein - für immer und ewig! Es ist, dachte Siegfried, die Hände am Steuerrad, den Blick in die Weite gerichtet, weit über den grellen Lichtkegel hinaus, es -379-
ist, dachte er, als beherrsche ich jetzt, in diesem Augenblick, das Dasein ganz; ich kann, wenn ich will, wählen zwischen Leben und Tod; und die entfesselte Kraft in acht Zylinderköpfen überbrüllt meine Gedanken, verdrängt meine Erinnerungen, reißt mich aus der Dunkelheit. »Herrlich!« schrie Gustav. »Herrlich!« schrie Siegfried. Und jetzt war ihnen, als sinke die Straße unter ihnen ab ins Wesenlose; der Wagen schien, gleich einem surrenden Pfeil, nicht mehr vorwärts, sondern aufwärts zu jagen - himmelwärts! »Herrlich, herrlich, herrlich!« schrien sie. Und dann fiel sie, um eine Ecke schießend, grelles Licht an. Es war, als baue sich eine gigantische Wand vor ihnen auf; tief schwarz, wie aus Schlamm und Beton zugleich. Diese Wand schien auf sie zu stürzen, begrub sie unter sich und sog sie auf. Endlose Dunkelheit zerpreßte sie. Und das große Vergessen jetzt war es da.
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Es waren Zwillinge, die Mutter Golder in das Licht der Lampen zog. Sie schrien unter den Rüttelschlägen der Hebamme auf. Sie dehnten sich wohlig im warmen Wasser, das sie reinigte. Und dann lagen sie nebeneinander, rotfleckig und faltenreich. Die Welt hatte sie und erblickte sie in ihrer ganzen, erschütternden Hilflosigkeit. Die Hebamme Golder ließ sich, zum erstenmal seit einer ruhelosen Stunde, auf einen Stuhl am Rand des Bettes nieder. Sie war erschöpft und atmete schwer; ihre Augen blickten müde und glanzlos auf die frischweißen Tücher, die sie ausgebreitet hatte. Mit einer Hand tupfte sie, nahezu mechanisch, mit müden Bewegungen, das schweißnasse Gesicht der Mutter ab. Die Frau, die vor ihr lag, war bis an den Rand ihrer Kräfte getrieben worden. Ihr in langen Monaten schwer und träge gewordener Körper hatte sich im letzten, hochgesteigerten Lebenswillen aufbäumend befreit; und wieder war das Gewaltige geglückt. »Es ist alles gut«, sagte die Hebamme Golder und zwang sich dazu, froh zu lächeln. »Es ist herrlich«, sagte die Mutter leise. Frau Golder nickte verständnisvoll. Sie legte der Mutter, die sich ein wenig aufzurichten bestrebt war, ein zweites Kissen unter den Kopf. Dann erhob sich die Hebamme, ein wenig ächzend, trug die Zwillinge herbei und legte sie behutsam in die kraftlosen Arme der Mutter. »Hoffentlich«, sagte die Frau nach Minuten stiller Zärtlichkeit, »wird mein Mann zufrieden sein.« »Er wird glücklich sein«, versicherte die Hebamme Golder. Und sie sagte das ernsthaft und überzeugt, obwohl sie es so oder doch so ähnlich bereits einige hundert Male in ihrem Leben gesagt hatte. »Die Kinder sind gesund.« »Sie sind schön«, sagte die Frau. -381-
»Sie sind sehr schön«, versicherte Muuter Golder. »Ich habe nicht oft Kinder wie diese gesehen. Sie sind kraftvoll und ungewöhnlich lebhaft. Sie werden mit dem Leben hoffentlich gut fertigwerden.« »Bestimmt«, sagte die Frau und schloß beglückt die Augen. Mutter Golder nickte; und es war, als nicke sie ihren eigenen Gedanken zu, die sie nicht aussprach. Sie nahm die Zwillinge wieder an sich und legte sie in den Wäschekorb zurück. Ihr Gesicht war jetzt, da sie der Frau den Rücken zukehrte, erfüllt von dunklem Ernst. Sie betrachtete die Kinder; und langsam leuchtete in ihren Augen wieder ihre mütterliche Fröhlichkeit auf. Das Telefon im Nebenraum klingelte heftig und anhaltend. Mutter Golder ging hinaus, nachdem sie einen kurzen prüfenden Blick auf die Frau im Bett geworfen hatte; in den strapazierten Körper war wieder Leben gekommen, das aber nicht frei von heimlicher Unruhe zu sein schien. Mutter Golder nahm den Hörer ab und meldete sich. »Ist es schon soweit?« fragte eine muntere Stimme. »Wo treiben Sie sich denn eigentlich herum?« fragte Mutter Golder robust zurück. »Natürlich auf dem Fest Ihres Sohnes!« rief der Mann, und er sagte das, als gebe er eine höchst selbstverständliche Erklärung ab. »Wo soll ich denn sonst sein?« »Sie haben Nerven«, sagte die Hebamme. »Schließlich«, sagte der Mann und seine Stimme klang gekränkt, zumindest schien er verwundert, »bin ich mit Emil befreundet.« »Und mit Ihrer Frau sind Sie verheiratet«, erklärte Mutter Golder ungerührt. »Deshalb rufe ich ja auch an!« sagte der Mann. »Also - ist es schon soweit?« -382-
»Kommen Sie her«, sagte Mutter Golder abschließend, »und fragen Sie Ihre Frau selbst danach.« Sie legte den Hörer auf und schüttelte den Kopf. Hierauf verständigte sie eine hilfsbereite Nachbarin und teilte ihr mit, daß ihre Anwesenheit nunmehr erwünscht sei. Die Hebamme empfing den herbeieilenden Vater im Korridor. »Ist etwa schon alles vorbei?« fragte der festlich gekleidete und offenbar gutgelaunte Mann, in dessen wohlgenährtem Gesicht zwei kleine Äuglein blitzten. Und seine Stimme klang, als hole er lediglich Auskünfte über Preisentwicklungen ein, von Anfang an überzeugt, daß die Angebote nur günstig für ihn sein könnten. »Sie scheinen ja alles recht gut überstanden zu haben«, sagte Mutter Golder mit gelinder Ironie. »Wenn es ein Junge ist«, erklärte er, der sich bereits als planmäßig zum Vater avancierter Ehemann fühlte, »dann werde ich ihn Emil nennen - zu Ehren Ihres prachtvollen Sohnes, der mein Freund ist.« »Es ist kein Junge«, sagte Mutter Golder; sie zögerte eine abschließende Mitteilung bewußt hinaus, um den ihr reichlich arglos erscheinenden Erzeuger noch ein wenig eingehender betrachten zu können. »Ich nehme auch eine Tochter in Kauf«, sagte er großzügig. »Sie werden sogar zwei davon in Kauf nehmen müssen«, sagte Mutter Golder. Und sie freute sich ein wenig, den gesegneten Vater derartig überraschen zu können. »Warum denn nicht!« sagte der ungetrübt. »Das kann ich mir ohne weiteres leisten. Und ich bin verdammt stolz darauf, daß ich das geschafft habe.« »Schließlich«, sagte die Hebamme, trotz ihrer reichen Erfahrungen nicht wenig verwundert über soviel männliches Selbstbewußtsein, »ist Ihre Frau nicht ganz unbeteiligt daran.« »Die Gute!« rief der Mann anerkennend. »Sie hat ein schönes -383-
Stück Arbeit hinter sich, aber ich war von Anfang an überzeugt, daß sie es leisten würde. Ich wußte das eigentlich schon am ersten Tag. Sie ist prachtvoll dafür geeignet - finden Sie nicht auch? Wie geht es ihr? Kann man sie und die Kinder sehen?« Mutter Golder nickte entwaffnet. Sie gab ihm den Weg frei, nachdem sie ihn aufgefordert hatte, wenigstens doch seinen Hut abzunehmen. Sie ging, während der Vater zur Besichtigung der Seinen schritt, an ein Fenster, das zur Straße hinausführte. Sie öffnete es und atmete die frische Luft tief ein. Sie sah hinunter, sah die kleine Gestalt ihres Mannes an der gegenüberliegenden Hauswand stehen und hatte das Gefühl, daß seine Augen sie suchten. Sie lächelte; und obwohl sie genau wußte, daß er dieses Lächeln nicht sehen konnte, lächelte sie ihm zu. Hinter ihr, im Zimmer, in dem die Mutter mit den Zwillingen lag, erklang die starke Stimme des Mannes, der seine ersten Vaterfreuden genoß. Er lobte seine Frau, nachdem er für die Kinder anerkennende Worte gefunden hatte. Er lachte zufrieden, tätschelte seiner beglückten Lebensgefährtin die heißen Wangen und kam dann zur Hebamme. »Meinen verbindlichen Dank«, sagte er. »Sie bekommen eine Rechnung«, sagte Mutter Golder sachlich. Der Mann lachte; er war immer ein Freund von Sachlichkeiten gewesen. »Jedenfalls«, sagte er leicht bedauernd, »kann ich nun nicht gut eins der Mädchen Emil nennen.« »Vielleicht Emilie«, schlug Mutter Golder mit leisem Spott vor. »Gar nicht schlecht«, sagte der Mann bereitwillig, »Ich werde mir das durch den Kopf gehen lassen und Ihren Sohn, meinen Freund, zu diesem Punkt befragen, zumal ich ihn gerne als Paten gehabt hätte.« -384-
»Sie scheinen Humor zu haben«, sagte Mutter Golder belustigt. »Das kann man wohl sagen«, erklärte der Mann ernsthaft. »Jedenfalls habe ich mich davon überzeugt, daß die Sache bei Ihnen in den besten Händen liegt. Mit den lieben Kindern kann ich ja vorläufig noch nichts anfangen, und meine gute Frau wird froh sein, wenn ich sie in Ruhe lasse. Somit kann ich also getrost weiter feiern gehen.« »Sie haben es aber eilig!« »Ich versäume sonst zuviel«, erklärte der Mann, während er nach seinem Hut fahndete. »Geburten wird es bei uns noch öfters geben, aber ein Fest wie dieses ist einmalig.« Damit ging er. Und Mutter Golder sah ihm mit einem Lächeln nach, in dem Nachsicht und Verwunderung einander zu verdrängen trachteten. Väter wie dieser, die überhaupt nicht aus der Ruhe zu bringen waren, hatte sie nur sehr selten angetroffen. Sie waren die schlechtesten nicht. Sie ahnten zwar so gut wie nichts von dem großen Geheimnis, dafür aber war ihr Vertrauen zum Leben beneidenswert selbstverständlich. Mutter Golder lächelte immer noch, als sie ihre Sachen zusammenpackte und in die Tasche legte. Sie widmete sich noch einmal den Kindern und der Mutter und gab der hilfswilligen Nachbarin ein paar Instruktionen. Dann ging auch sie. »Es waren, wie ich erwartet hatte, Zwillinge«, sagte sie zu ihrem Mann, neben dem sie durch die Nacht ging. »Ein ganzes Leben liegt vor ihnen - was mag ihnen bevorstehen?« »Sie werden leben«, sagte Vater Golder. »Und wenn Gott ihnen gnädig ist, wird in ihnen Fröhlichkeit darüber sein, daß sie leben dürfen.« »Vater - das Leben ist manchmal sehr schwer.« »Es muß schwer sein - wie soll man denn sonst wissen, was Heiterkeit sein kann?« -385-
Siegert senior hatte das heikle Festspiel überstanden. Er sah noch längere Zeit mit erkaltetem Lächeln in den Saal, wo ihn tausend Augen schadenfroh zu betrachten schienen. Er vermied es, erneut seine Frau anzusehen; er spürte deren lähmende Schwäche fast körperlich. Daß sie nicht, wie beinahe zu befürchten gewesen, zusammengebrochen war, erfüllte ihn mit solidem Familienstolz und hatte entschieden mitgeholfen, seine Überlegenheit zu festigen. Er zwang sich nun dazu, sein Lächeln zu verstärken; daß ihm das auch gelang, erhöhte die Zufriedenheit, die er jetzt mit sich empfand. Also das Bild freundlicher Anteilnahme bietend, beugte er sich ein wenig vor, Emil zu. Und er sagte, fein nuanciert und vieldeutig: »Sie sind in der Tat ein ganz erstaunlicher Mensch.« Emil, der nicht den mindesten Anlaß fühlte, einer ihm offensichtlich entgegengebrachten Bewunderung zu mißtrauen, nickte zustimmend. Er war gewiß, einen ebenso glänzenden wie vollständigen Sieg errungen zu haben; das stimmte ihn versöhnlich. »Ich freue mich«, sagte er, »daß Sie Ihren Sinn für Humor nicht verloren haben.« »Wäre ich denn sonst hier?« fragte Siegert zurück. »Nichts für ungut«, sagte Emil gutmütig, der entschlossen war, Großmut zu üben. »Ein echter Männerscherz hat noch nie geschadet; und was vorbei ist, sollte auch vergessen sein. Wollen wir nicht Frieden schließen?« »Auch ich bin dafür, diese Sache zu beenden«, stimmte Siegert zu. »Dann trinken wir darauf!« rief Emil. »Wenn Sie erlauben«, schlug Siegert vor, und er sah dabei an Emil vorbei, in die tausend Augen des Saales hinein, »wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich einen Trinkspruch auf Sie ausbringen.« »Was sollte ich dagegen haben?« fragte Emil dröhnend zurück. Diese Stunde, so glaubte er zu spüren, war groß; dieses -386-
Fest, dessen war er sicher, wuchs sich zum Fest der Feste aus. Sein war der Sieg! Selbst der ärgste Feind zeigte sich bereit, ihm zu huldigen. Kraftvoll zog Emil die Schiffsglocke. Er erhob sich, stand in seiner wuchtigen Breite und stattlichen Höhe beherrschend da, blickte auf das staunende Volk herab und verkündete: »Das Wort hat Herr Direktor Siegert.« Dann setzte er sich wieder und kreuzte die Arme über der stattlichen Seemannsbrust; sein großflächiges Gesicht strahlte Zufriedenheit aus. Eine einladende Handbewegung auf Siegert zu bewirkte, daß der, langsam, beinahe bedächtig, doch ohne zu zögern, aufstand und in den dichten Rauch blinzelte, der die immer mehr sich ausbreitende Stille im Saal zu umweben schien. »Meine sehr verehrten Damen und Herren«, begann Siegert; und er setzte seine Worte mit eindringlicher Bedächtigkeit, so als wären sie nicht gründlich vorbereitet worden, sondern entstünden jetzt, hier und in diesem Augenblick. »Ich habe schon immer Herrn Emil Golder, dem die allgemeine Bewunderung unserer Bevölkerung gehört, für einen ungewöhnlichen Menschen gehalten. Neuerdings erreichten mich nun Einzelheiten, die das Ungewöhnliche an ihm in besonders eindringlicher Weise deutlich machten. Ich muß ehrlich gestehen, daß mich Staunen erfüllt.« Emil nickte ahnungslos dazu und blinzelte seine engeren Freunde triumphierend an. Diese jedoch schienen langsam unruhig zu werden, da sie in langen Jahren hinreichend Gelegenheit gehabt harten, Siegert kennenzulernen. Sie blickten auf Otto; aber der wiederum blickte auf Emil mit nahezu hilflosem Erstaunen über dessen unerschütterliche Gutgläubigkeit. Die Menge schien vor hochgespannter Erwartung wie erstarrt. Nur Paul, der Polizist, schob sich aus dem Hintergrund des Saales langsam und entschlossen näher. Doch niemand beachtete ihn. Auch Siegert nicht. Der sah nur -387-
Emil. »Wir alle«, sagte Siegert jetzt, »sind einfache Alltagsmenschen, wir werken, um zu leben, wir schaffen Werte und halten die Welt in Bewegung. Einigen anderen Menschen aber ist dieses einfache, schöpferische Dasein nicht gegeben; sie haben sich Welten verschrieben, die uns wenig geläufig sind, die wir nicht kennen, für die wir uns aber dennoch stark interessieren. Das geschieht gewiß aus edelsten Motiven, aber doch mit einer gewissen Distanz, die ich als sehr gesund bezeichnen möchte. Fest steht also, daß es einmal zahllose Menschen gibt wie wir - dann aber existieren zum anderen Lebewesen, die wir als Sondermenschen bezeichnen dürfen. Und zu ihnen gehört Herr Emil Golder.« Und zum erstenmal traf jetzt Emil ein kurzer, kalter, alarmierender Blick aus den Augen von Siegert. Die Freunde des Gefeierten zuckten ahnungsvoll zusammen, und Otto zog sein Kinn an die Brust und rutschte tiefer in seinen Stuhl. Der Polizist Paul aber schob sich näher und näher, ein wenig geduckt und mit schleppendem Gang; seine leicht zusammengekniffenen Augen begannen gefährlich zu funkeln. »Das einfache Leben«, sagte Siegert, nunmehr Emil mit offener, verachtungsvoller Feindschaft fixierend, »das wir hier führen, behagt all den Menschen nicht, denen es nicht gegeben ist, die Größe im Kleinen zu erkennen. Sie betrachten unser bescheidenes Dasein mit Verachtung. Denn in ihren Augen kriechen wir auf dem Boden, während sie vorgeben, den Himmel stürmen zu wollen. Wir tun lediglich unsere Pflicht, und unsere Tage laufen im ständigen Gleichmaß dahin. Sie aber wenden sich von uns und leben nur ihrer Fantasie - oder ihren Fantastereien, wie man es nimmt.« »Was soll das«, sagte Emil dumpf; aber niemand schien ihn verstanden zu haben. In seinen großen, weit aufgerissenen Kinderaugen stand fassungsloses Erstaunen. Doch keiner sah ihn an; alle starrten wie gebannt auf Siegert. Sie spürten, daß der -388-
dabei war, den Mann, den er für seinen Todfeind hielt, vernichtend zu treffen - und damit auch alle seine Gegner. Und Siegert ließ Emil nicht mehr aus den Augen, wie ein Jäger jede Bewegung eines angeschossenen Tieres verfolgt, um genau erkennen zu können, wann der Fangschuß zu erfolgen hat. Den Polizisten Paul, der jetzt bereits neben ihm stand, übersah Siegert völlig. »Wir bescheidenen Menschen«, sagte Siegert jetzt mit steigender Lautstärke, »haben eine Schwäche für Fantasiegebilde, die aber sehr leicht zu einer öffentlichen Gefahr werden kann, wenn wir sie nicht als solche erkennen. Wir geben uns dann Wunschträumen hin, ohne den gesunden Menschenverstand sprechen zu lassen, dem es gegeben wäre, Wünsche und Träume von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Und das allein wäre das Gebot in diesem Falle gewesen. Denn alles - aber auch alles! -, was aus der Wunsch- und Wahnsphäre dieses mit einer bestaunenswerten Fantasie ausgestatteten Menschen kommt, ist bloße Erfindung. Um nicht grob zu sagen: Lüge!« Emil sprang auf, keuchend vor Wut, die Fäuste krampfhaft geballt, kaum mehr fähig, zu sprechen. »Das«, gurgelte und fauchte er, vergeblich bemüht, irgendein fürchterlich verletzendes oder auch nur ein erklärendes Wort zu finden. »Das ...« »Dieser Mensch«, rief Siegert, überwältigt von seinem Triumph, »hat niemals die Weltmeere befahren. Keine seiner Geschichten ist wahr. Er hat sich die ganzen Jahre immer nur in Hamburg aufgehalten, im Hafen und dort auf einer Fähre. Auf einer Fähre, die alle halbe Stunde von einem Ufer zum anderen fährt. Das ist alles. Das ist die Wahrheit.« Siegert schwieg. Er war darauf gefaßt, nunmehr von Emil brutal zusammengeschlagen zu werden; aber das war ihm völlig gleichgültig. Er hatte gesiegt, er hatte seinen lautesten und damit auch, wie er glaubte, seinen gefährlichsten Gegner moralisch -389-
vernichtet. Die Menschen im Saal brauchten geraume Zeit, um sich einigermaßen über die Bedeutung des Gehörten klarzuwerden. Sprachlos starrten sie die beiden Hauptakteure an. Sie witterten Blut. Irgendwo im Saal schrie eine Frau schrill auf. Emil stürzte urplötzlich vor, um sich auf Siegert zu werfen. Aber er prallte auf Paul, der sich unbeachtet zwischen die beiden Gegner gestellt hatte. »Laß mich das machen, Bruder«, sagte Paul gefährlich ruhig. Und er hatte die Hand lässig erhoben, nicht anders, als gedenke er, den Verkehr zu regeln. Dann drehte sich Paul herum. Und er sagte zu Siegert mit seiner sanften, suggestiven Stimme: »Sie sind verhaftet. Folgen Sie mir.«
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»Das werden Sie schwer bereuen«, sagte Siegert wutbebend. »Das hätten Sie sich niemals leisten dürfen!« Er versuchte seinen Arm dem festen Zugriff des Polizisten zu entziehen. Es war völlig vergeblich. Je mehr er zerrte, um so härter griff Paul zu. Siegert gab diese Befreiungsversuche sehr bald auf, denn er erkannte schnell, daß er dabei keine sonderlich gute Figur machte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Paul Gelder auf das Polizeirevier zu folgen. »Das ist Ihr Ende!« rief er empört. »Das wird sich erst noch herausstellen«, erklärte Paul ungerührt. Er schritt neben Siegert einher, mit nahezu gemächlichen Schritten, und es sah so aus, als bewege er sich lediglich neben einem Bekannten, dessen Arm er in vertraulicher Weise gefaßt hatte. Die restlichen, von Paul eingesetzten Polizisten gaben ihrem Vorgesetzten Rückendeckung. So war es auf dem Revier geplant und geprobt worden, so wurde es im Gasthaus und in der Straße durchgeführt. Die gaffende Menge wurde abgedrängt und zerstreut. Pauls vorausschauende Organisation funktionierte vorzüglich. »Ich verlange, daß sofort mein Rechtsanwalt verständigt wird!« »Sie können verlangen, was Sie wollen«, sagte Paul und schritt unbeeindruckt weiter. Siegert traute noch immer seinen Augen und Ohren nicht. Daß es ausgerechnet Paul war, der ihn in einer derart schikanösen Weise anpöbelte, nachdem er ihn kurz vorher durch einen unerhörten Rechtsmißbrauch um die Früchte seiner Bemühungen gebracht hatte - er begriff es einfach nicht. Und ausgerechnet diesen Mann hatte er für den korrektesten Menschen und Polizisten gehalten, dem er jemals begegnet war! Er schritt neben Paul Golder durch die Nacht. Dabei beobachtete er ihn heimlich und mit ständig wachsendem Mißtrauen - entweder hatte der Mann neben ihm den Verstand -391-
verloren oder sein wahres, bisher raffiniert verdecktes Wesen war in beängstigender Weise durchgebrochen. Dieser Polizist blinzelte in das Licht der Laternen, als interessiere ihn im Augenblick nichts anderes als das vorschriftsmäßige Funktionieren der Straßenbeleuchtung. »Sie sind sich doch hoffentlich darüber im klaren«, sagte Siegert, jetzt jedoch weit vorsichtiger als vorher, »daß Ihr Verhalten Folgen haben wird, die zwangsläufig zum Abschluß Ihrer polizeilichen Laufbahn führen müssen.« »Da irren Sie sich aber gewaltig«, sagte Paul unerschütterlich. »Ich habe völlig korrekt gehandelt, als ich Sie in Schutzhaft nahm.« »Das war Freiheitsberaubung!« rief Siegert. »Sie irren sich«, sagte Paul mild. »Ich nahm Sie lediglich in Schutz gegen die möglichen Angriffe eines von Ihnen bis aufs Blut gereizten Menschen.« »Was Sie tun, ist ein Rechtsmißbrauch sondergleichen!« »Ich bin, lieber Herr, als korrekt bekannt. Und deshalb werde ich von meinen Vorgesetzten nicht nur geschätzt, sondern ich werde auch mit ziemlicher Sicherheit von ihnen gedeckt werden. Um ganz deutlich zu sein: Niemand wird mir eine Unkorrektheit zutrauen - im schlimmsten Falle wird man einen Mißgriff annehmen.« »Und das«, sagte Siegert fassungslos, »erklären Sie mir ganz offen.« »Warum nicht«, sagte Paul gleichmütig. »Wir sind doch beide allein, ohne jeden Zeugen. Niemand hört uns, und keiner wird uns stören. Ich plaudere lediglich ein wenig mit Ihnen, unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Denken Sie darüber nach - es lohnt sich bestimmt. Wenn allerdings Ihre keinesfalls gerechtfertigten Revanchegedanken anhalten sollten und Sie sogar den Versuch wagen würden, unser jetziges Gespräch leichtfertig zu rekonstruieren, dann werde ich jede mich -392-
möglicherweise belastende Erklärung ableugnen. Dann steht Aussage gegen Aussage. Aber meine Sachlichkeit und Korrektheit habe ich hundertmal überzeugend bewiesen. Derartiges geschah, wie sich mühelos nachweisen läßt, selbst Ihnen gegenüber und es ist gar nicht einmal so schwer, Sie Ihrer laufenden Anzeigen wegen in den Augen meiner Vorgesetzten als typischen Querulanten erscheinen zu lassen. Sie befinden sich also von vornherein auf verlorenem Posten.« »Das ist ja haarsträubend!« sagte Siegert; und er begriff die Welt nicht mehr. »Warum, meinen Sie wohl«, fragte Paul nahezu gemütlich, »bemühe ich mich in hundert und aberhundert Fällen objektiv zu sein bis zur völligen Selbstentäußerung? Warum opfere ich Tage und Nächte meinem Beruf und seinen Verpflichtungen? Der Gerechtigkeit wegen? Ja, der Gerechtigkeit wegen. Aber in viel weiterem Sinn, als Sie wohl denken. Ich tat es nicht zuletzt, um meinem Leben, in einem Fall, der anders nicht zu lösen schien, durch unbedenklichen Rechtsbruch wahrhaft gerecht zu sein!« »Von der ganzen Sippe Golder«, sagte Siegert überzeugt, »sind Sie der Schlimmste.« »Das ehrt mich«, sagte Paul zufrieden. »Mehr noch als das: Sie machen mich nahezu noch stolz und fast ein wenig glücklich - das sind Gefühle, mit denen ich in diesem Leben kaum noch gerechnet habe. Das macht aber auch dankbar. Und deshalb will ich Ihnen mit Offenheit einen mir wichtig erscheinenden Punkt erklären: Wenn ich Sie jetzt eine Nacht kaltblütig einsperren werde und Ihnen einige Knüppel zwischen die Beine zu werfen gedenke, so sollen Sie vorher noch wissen, daß ich das alles nicht wegen meinem Bruder Emil tue. Ich hätte Sie genauso behandelt, wenn an Stelle des armen Emil irgendein anderer Mensch dort gesessen hätte.« »Dieser sogenannte arme Emil hat mich immer wieder herausgefordert und mit Schmutz beworfen. Ich mußte mich -393-
wehren. Ich hatte keine andere Wahl. Wenn Sie schon dieses Ihnen unerschütterlich erscheinende Rechtsgefühl in die Waagschale werfen müssen warum dann nicht ebensogut für mich? Auch ich hätte es verdient und ich hätte es ebenfalls gebrauchen können. Auch ich bin ein Geschmähter und Verfolgter. Und überdies habe ich diesen meinen Kampf ganz allein geführt - gegen eine ganze Meute. Sie, gerade Sie, hätten mir beistehen müssen!« »Sie sind ein Mensch, der denken kann«, sagte Paul. »Sie verfügen über Lebenserfahrung und haben mehr als einmal eine gewisse Klugheit bewiesen. Sie hätten erkennen müssen, was dieser Emil darstellt, was ihn bewegt und treibt, wessen Geistes Kind er ist: Er ist ein gutmütiger Träumer mit einem Kindergemüt und einer ewig ungestillten Sehnsucht, die ihn erfüllt und für die er lebt. Jetzt haben Sie ihm alles zerstört, was er jemals besessen hat.« »Und was ist mir zerstört worden?« fragte Siegert aufbegehrend. »Ein Stück Eitelkeit, eine Menge Geltungsbedürfnis, eine Reihe von Mißverständnissen - alles Dinge, die Sie bei einigem Nachdenken, bei Anwendung Ihrer reichen Lebenserfahrung, umgehen, vermeiden oder bereinigen konnten. Dafür tötet man doch nicht die Sehnsucht eines Menschen und gibt ihn für immer der Lächerlichkeit preis!« »Er hat mich herausgefordert!« sagte Siegert mit hervordrängender, zuschnappender Heftigkeit. »Er hat mich bedrängt und mich bei jeder sich bietender Gelegenheit beleidigt. Er hat sich benommen wie ein Stier - sollte ich mich von ihm umbringen lassen?« »Er wäre mit einem einzigen Hinweis zu bremsen gewesen bei Ausschluß der Öffentlichkeit. Zwei Worte hätten genügt, um ihn zur Vernunft zu bringen. Sie hätten ihm Ihre teuer erkauften Unterlagen nur zu zeigen brauchen, und er hätte bedingungslos -394-
das Feld geräumt. Jetzt aber wird ihn das Gefühl der Schande niederdrücken, und das Gelächter der Menge kann ihn tödlich verletzen. Sehen Sie - auch ich weiß seit geraumer Zeit, daß Emil schwindelt; vermutlich weiß das auch unser Vater. Ich bin bereits vor Jahren mißtrauisch geworden und habe dann einfach eine polizeiliche Auskunft verlangt und so alles über Emil erfahren, was Sie vermutlich auch wissen. Aber ich habe geschwiegen, auch Emil gegenüber.« »Hätten Sie das nicht getan, wäre vermutlich alles anders gekommen.« »Ich konnte einfach nicht anders«, sagte Paul; und er blieb auf der Straße stehen, unter der beleuchteten Laterne, die über dem Eingang zum Polizeirevier hing. »Stellen Sie sich doch das vor: Der Mann arbeitet elf Monate im Jahr hart; er arbeitet nur, um dann einen Monat lang zu Hause zu sein und hier von seinen Träumen erzählen zu können. Für diese wenigen Wochen im Jahr lebt er; er denkt nur an sie, er spart für sie. Und dann kommt er hierhier, glücklich und mitteilsam, er beschenkt alle, die ihn mit offenen Armen aufnehmen, er sammelt um sich seine Freunde und führt schlimmstenfalls einen fröhlichen Kinderkrieg gegen alle, die seine Sehnsüchte nicht mit ihm teilen wollen. Er schlägt keine Bitte aus; er zerreißt sich fast vor tolpatschiger Hilfsbereitschaft, er beglückt zahlreiche Menschen durch seine kuriosen Geschichten. Das ist sein großes, so teuer und entbehrungsreich erkauftes Glück. Er kennt nichts anderes im Leben sonst. Ich gebe offen zu: Ich verstehe nicht, wie man so leben kann. Aber die Tatsache, daß er es tut, hat mein Herz bewegt. Doch vielleicht haben Sie kein Herz.« Siegert schwieg; er stand regungslos, mit gesenktem Kopf, im Schein der Lampe. Er schien angestrengt nachzudenken. Dann war es, als wolle er reden; und Paul wartete darauf. Aber Siegert schwieg. »Warum«, sagte Paul, und es war jetzt, als rede er lediglich vor sich hin, »versucht niemand, den anderen zu verstehen? -395-
Warum fallen immer die Menschen einander an? Warum wird die Fantasie geschmäht und das Gefühl belächelt? Warum denkt niemand gut vom Nächsten? Warum hilft niemand dem anderen, Gutes zu tun? Warum sind die Menschen so?« Paul wartete keine Antwort ab; und es war fast so, als wollte er es sogar vermeiden, eine Antwort zu hören. Er drehte sich schroff herum und schritt voran, auf das Polizeirevier zu. Siegert folgte ihm unaufgefordert. Die anwesenden Polizeibeamten erhoben sich beim Eintritt ihres Vorgesetzten. Sie machten Anstalten, eine Ehrenbezeugung zu produzieren, aber Paul winkte ab. »Ein Unfall«, sagte einer der Beamten; und er legte Paul ein Blatt mit den dazugehörigen Notizen vor. Paul las aufmerksam und langsam. Sein Gesicht zeigte nicht die mindeste Reaktion. Es las die Notizen des Unfallberichtes abermals. Und jetzt schien es, als beginne die Hand, die das Blatt hielt, zu zittern. Paul legte den Notizzettel auf seinen Schreibtisch. Er wandte sich Siegert zu und sagte: »Bitte, begeben Sie sich sofort in das Krankenhaus. Ihr Sohn hat einen Unfall gehabt. Mein Bruder Gustav befand sich bei ihm. Ich muß Mutter benachrichtigen.«
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›Emils Seemannsball‹ versank in einem Gebrodel aus Männergelächter, Mädchengekreisch, Gläsergeklirr, Tabaksqualm und Schnapsgeruch. Der seines Glanzes entkleidete theoretische Weltreisende brütete dumpf vor sich hin. Er hing seine Nase über sein Rumglas, seine mächtigen Schultern waren zusammengesackt, und seine Augen schienen in eine Ferne zu starren, die der Weite sämtlicher Ozeane nicht nachstand. Der Zuspruch restlicher Freunde erreichte ihn nicht. Der Drang in Emil, einfach aufzustehen und nach Hause zu gehen, oder besser: irgendwo in die Dunkelheit hineinzulaufen, war riesengroß; aber er wagte es einfach nicht, ihm nachzugeben. Sein Unterbewußtsein befahl ihm, wie ein Kapitän zu handeln, dessen Schiff sinkt; dort, wo er war, befand sich die Kommandobrücke. »Natürlich«, sagte einer der wenigen, die noch an seiner Seite ausharrten, »hast du die Welt gesehen! Das steht für mich einwandfrei fest. Dieser Siegert hat dich verleumdet - oder warum denn sonst hätte Paul ihn abgeführt?« Der Rest der Freunde nickte zustimmend und ganz entschieden. Für sie war Wahrheit, was sie glaubten. Sie hatten einen Schutzwall um ihren Emil gebildet und wimmelten jeden Neugierigen ab. Daß ihr Idol tief getroffen war, vermochten sie nicht zu leugnen; daß er sich alsbald wieder zu Macht und Ansehen erheben würde, stand für sie fest. Sie tranken sich neuen Mut an, als vermöge das ihn zu stärken. Otto war nicht eine Sekunde lang von Emils Seite gewichen. Seine Wut auf Siegert war ungleich größer als das Gefühl, an einer Niederlage beteiligt zu sein. Der Zusammengehörigkeitswille der Golders beherrschte ihn ganz. Er nahm diese Stunde als Prüfung und war überzeugt, sie zu bestehen. Von Zeit zu Zeit blickte er bedrohlich forschend um sich, um zu ergründen, ob sich etwa jemand finde, der bereit sei, -397-
seinen Bruder zu schmähen - er hätte ihn, wie er das nannte, zu Kleinholz verarbeitet. »Das mit Paul«, sagte Otto zu Emil, sich vertraulich seinem Ohr zuneigend, »ist für mich die größte Überraschung gewesen, die ich jemals erlebt habe. Dem hätte ich das niemals zugetraut.« »Ja«, sagte Emil schwer. Und es war das erstemal seit Siegerts vernichtender Erklärung, daß er überhaupt wieder sprach. »Ich habe nie gewußt, daß mich auch dieser Bruder liebt.« Und dann versank er wieder in sein dumpfes Dahinbrüten; er roch aber zwischendurch, allerdings noch recht unlustig, an seinem Glas. Von all dem, was um ihn herum geschah, schien er keine Notiz nehmen zu wollen. Erst dann kam wieder ein wenig Leben in ihn, als ihn Otto heftig in die Seite stieß. Emil blickte auf und sah, daß sich ihm sein Vater näherte. »Auch das noch«, sagte er ergeben. »Mir bleibt heute aber auch gar nichts erspart.« Der alte Golder hatte sich seine arg strapazierten, aber sauberen und gutgebügelten Sonntagskleider angezogen. Das war offenbar mit einiger Eile und ohne Mutters Hilfe geschehen, denn sein blütenweißer Kragen schlug Falten, und die leuchtende Krawatte aus chinesischer Seide, die ein Geschenk von Emil war, ließ jeden eleganten Schwung vermissen. Der alte Golder durchquerte den Saal lächelnd und drängte sich mit heiteren Worten durch das Spalier der Neugierigen, die ihm sofort auswichen - allein aus Respekt. »Na, mein Sohn«, sagte Vater Golder augenzwinkernd. Er klopfte Emil auf die breiten, jetzt jedoch sichtlich zusammengesackten Schultern und setzte sich neben ihn. »Wie geht es dir denn? Sonderlich groß scheint dein Vergnügen nicht zu sein. Aber vielleicht verstehe ich nur zu wenig davon. Ich habe bisher nicht gewußt, daß ein Seemannsball gewisse Ähnlichkeiten mit einem Leichenschmaus hat.« -398-
»Du scheinst wohl noch gar nicht darüber informiert zu sein, Vater, was sich hier alles ereignet hat.« Otto schaltete sich ein; er stellte sich damit gewissermaßen symbolisch vor seinen Bruder. Er war gewillt, ihn sogar gegen den Vater zu verteidigen. »Hier war der Teufel los, und wir konnten ihn nicht einmal bei den Hörnern packen. Hast du nichts davon gehört?« »Jedenfalls habe ich, was Emil anbetrifft, nichts Neues gehört«, sagte der Alte lächelnd und bestellte sich ein Bier und weidete sich an ihrer Überraschung. Er betrachtete seine großen Söhne mit unverhülltem Wohlwollen. »Denn daß unser Emil nichts anderes als ein großer Geschichtenerzähler ist, das war mir bereits bekannt.« »Das weißt du?« fragte Emil ungläubig und richtete sich auf. »Das hast du womöglich seit geraumer Zeit schon gewußt?« »Schon immer«, sagte Vater Golder. »Um genau zu sein: seit einigen Jahren.« »Ich habe es geahnt«, bekannte Emil. Und er nickte, scheinbar tiefsinnig, mehrmals vor sich hin. Er blickte seinen Bruder Otto an, der fassungslos dasaß und den ›Alten‹ anstaunte. »Das war, weiß Gott, nicht schwer zu erraten«, sagte Vater Golder; und es schien fast, als zwinkere er seinen Söhnen wie ein völlig unerwartet auftauchender Mit Verschwörer zu. »Es war doch nur nötig, deine Geschichten rein zeitlich und den Ortsbestimmungen nach zu überprüfen - und da hast du dir von Anfang an haarsträubende Widersprüche geleistet, mein Sohn.« »Na ja«, gab Emil spürbar erleichtert zu. »Im Eifer des Gefechtes konnte das schon mal passieren.« »Du hast aber immer gleich so eifrig gefochten, Emil, daß sich in deinen Geschichten gar zuviel Fehler einschlichen. Außerdem lese ich ziemlich viel, wie du weißt. Und nicht wenige deiner Geschichten habe ich wiedergefunden; die eine oder andere steht bei Jack London, zwei oder drei hast du von Joseph Conrad, und einige sind im Moby Dick zu finden. Nun, -399-
das ist ein wunderbares Buch, und ich freue mich, daß du es auch gelesen hast.« »Es ist mein Lieblingsbuch«, sagte Emil und stärkte sich durch einen Schluck Rum; und mit langsam aufkeimender Freude spürte er, daß er wieder Gefallen an diesem Getränk fand. Er blickte Vater knabenhaft zutraulich von der Seite an; er grinste sogar ein wenig: »Aber die meisten Gesichten sind wirklich von mir! Ich habe sie mir ganz alleine ausgedacht.« »Ich hatte es erhofft«, sagte Vater Golder. Er trank sein Bier; fast schien es, als trinke er Emil zu. Er blickte mit heiterer Gelassenheit in den Saal und bemerkte mit Genugtuung, daß seine spürbar gute Laune ansteckend wirkte. Doch er wandte sich unverzüglich wieder seinem Sohne zu. »Im übrigen wußte ich sogar, daß du auf einer Fähre arbeitest.« »Donnerwetter«, sagte Emil respektvoll und trank abermals einen Schluck Rum. »Wie hast du denn das herausgekriegt?« »Auch das war nicht sonderlich schwer. Vor vier Jahren unterhielten wir uns beide einmal über Fähren; und dabei fiel mir sofort auf, daß du auf diesem Gebiet, im Gegensatz zu vielen anderen, über ganz präzise Kenntnisse verfügtest. Ich habe mir dann deine Angaben gemerkt und sie mit denen eines Handbuches, das ich mir kommen ließ, verglichen - sie stimmten genau. Außerdem hast du dir auf diesem Spezialgebiet niemals auch nur einen einzigen Widerspruch geleistet. Damit war für mich die Sache klar.« »Allerhand«, sagte Emil; und er blickte seinen alten Vater bewundernd und ergeben zugleich an. Er schämte sich in jener rührenden Weise, mit der sich junge Hunde schämen, wenn sie Teppiche mißbraucht haben, räusperte sich heftig und lief langsam tomatenrot an. »Ich muß mich ja in deinen Augen aufgeführt haben wie ein Clown.« »Du hast deine Nummer aber gut beherrscht; und ich habe viel Spaß daran gehabt.« -400-
»Ja«, sagte Emil und machte den vergeblichen Versuch, bitter aufzulachen. »Und jetzt lacht sogar die ganze Stadt darüber.« »Damit lachen sie ja auch über ihre eigene Dummheit«, sagte Vater Golder. »Das ist nicht ungesund, und es vergeht sehr bald wieder. Doch seit wann denn liebt man einen Menschen allein seiner Abenteuer wegen? Es ist sein Wesen, das ihn uns sympathisch macht. Und wenn deine Freunde wirklich ehrlich sind, was ich hoffen möchte, dann werden auch sie gerne zugeben, daß sie ihre helle Freude an dir und deinen Geschichten gehabt haben.« »Jawohl«, sagte der Straßenbaumeister spontan, »so ist es.« »Es wird uns in Zukunft«, sagte der Tankstellenbesitzer im Namen aller, die diesem Gespräch mit steigender Anteilnahme zugehört hatten, »vieles fehlen, wenn wir Feste wie diese nicht mehr erleben.« »Unser Leben hier«, sagte der Leiter des Arbeitsamtes, »ist ziemlich eintönig. Was fangen wir in Zukunft ohne ›Emils Seemannsball‹ an?« »Ihr müßt euch andere Feste ausdenken«, sagte Vater Golder. »Fantasie, wenn sie zur Freude und Fröhlichkeit führt, ist eine Gottesgabe. Emil scheint sie zu besitzen; er hat sie nur gelegentlich mißbraucht - aber ich bin nahezu überzeugt davon, daß du das in Zukunft kaum mehr tun wirst.« »Das verspreche ich dir«, versicherte Emil nahezu feierlich. »Ich verspreche dir ...« »Nichts«, sagte der alte Golder bremsend. »Versprich mir lieber nichts. Ich werde in Zukunft etwas mehr achtgeben und rechtzeitig meine Forderungen stellen. Daß du die dann respektieren wirst, brauchst du mir nicht erst zu versichern - das ist ja dann wohl selbstverständlich.« Otto erlaubte sich, diese Betrachtungen zu unterbrechen leicht erregt wies er auf den Eingang des Saales hin: Dort erschien Paul, der Polizist; und neben ihm ging Frau Siegert. -401-
Paul hatte seiner Begleiterin den Arm geboten. Nahezu hoheitsvoll und dabei doch ein wenig wie schutzbedürftig schritt Frau Siegert neben dem Polizisten durch den Saal. Die Anwesenden rissen die Augen auf und staunten; diese Szene zu deuten, vermochten sie nicht. »Dieser Bursche«, sagte Otto, ganz gegen seinen Willen nicht frei von Bewunderung, »überrascht mich mehr und mehr. Was mag der jetzt wieder angestellt haben?« »Endlich!« rief Vater Golder. Und es war ihm anzumerken, daß er diesen seinen Sohn dringend erwartet hatte. Er sah ihm angespannt entgegen, und seine klugen Augen schienen bestrebt, frühzeitig zu erkennen, was Paul berichten würde. »Es scheint nicht übermäßig schlimm zu sein, Vater«, sagte Paul. »Der Wagen ist zwar ein einziger Trümmerhaufen, aber die beiden Insassen werden wohl mit Gehirnerschütterungen und einigen Knochenbrüchen davonkommen.« Der alte Golder neigte ein wenig den Kopf; die große, entspannende Erleichterung, die er empfand, war deutlich spürbar. Die letzte Stunde war schwer für ihn gewesen. Aber er hatte, während Mutter zu Gustav geeilt war, bei Emil sein müssen, denn ihm konnte er, wie wohl niemand sonst, helfen. Jetzt aber, spürte Vater Golder dankbar, war die große Gefahr vorüber. Dem alten Mann war, als müsse er beten. Und er sagte in sich das Wort »Gott«. Mehr nicht. Dann lächelte er wieder, erhob sich und begrüßte Frau Siegert mit echter Herzlichkeit, wobei er eine nahezu galante Verbeugung produzierte; und überdies fand er Worte, die seine Söhne mit begeistertbewunderndem Grinsen quittierten. Sie sahen sich augenzwinkernd an, und endlich wieder kam in ihnen ein wenig Fröhlichkeit auf. »Mein Mann«, sagte Frau Siegert tapfer zu Emil, »wird Sie sicherlich noch aufsuchen, um mit Ihnen alle Mißverständnisse in loyaler Weise zu klären.« -402-
»Das ist gar keine schlechte Idee«, sagte einer der Freunde. »Wenn er sich in aller Form entschuldigt«, sagte Otto, der sich unverzüglich einmischte, »und alles mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknimmt - dann wird er die Erfahrung machen, daß wir nicht kleinlich sind.« »Herr Siegert will sich mit Emil unterhalten - nicht mit dir«, sagte Vater Golder entschieden. »Und wie ich Emil kenne, so bin ich sicher, daß der niemals eine ihm offen hingestreckte Hand ausschlagen wird. Emil besitzt Großmut - er verachtet jede Form von Kleinlichkeit. Ist das nicht so, Emil?« »Na ja«, gab der ein wenig mühsam zu. »Wenn du das sagst, dann wird es ja auch wohl so sein.« »Es ist so«, erklärte Vater Golder abschließend. »Und wenn niemand etwas dagegen hat, dann möchte ich jetzt ein Tänzchen riskieren. Erlauben Sie, Frau Siegert?« Frau Siegert errötete leicht. Emil und Otto grinsten erstaunt. Paul rückte geschäftig ein paar Stühle zur Seite und rief der Kapelle einige Anweisungen zu. Sie tanzten überaus rücksichtsvoll miteinander - er nahm Rücksicht auf die junge Mutter, sie auf den älteren Herren. Aber da ihnen sehr schnell klarwurde, daß der sogenannte ältere Herr ein recht gewandter Tänzer war, die junge Mutter aber mit weicher Grazie mehr und mehr Gefallen an diesen beschwingten Bewegungen fand, schwebten sie alsbald in bemerkenswerter Harmonie über das glatte Parkett. Die Menge starrte die beiden zunächst erstaunt an. Dann wurden heftige Vermutungen ausgetauscht; und diese Gespräche verdickten sich zu einem Lärm, der zunächst von Ratlosigkeit zu zeugen schien, sich dann jedoch mehr und mehr in zustimmende Anerkennung auflöste. Schließlich standen die Anwesenden auf und klatschten Beifall. Sie begannen, alle Vorgänge dieses Abends und auch die Ereignisse der vergangenen Wochen für Emils bisher großartigste und wohlgelungenste Überraschung zu -403-
halten. Es verlangte sie nach möglichst konzentriertem Alkohol, munteren Reden und tänzerischer Bewegung. In kürzester Zeit war jener Zustand wieder erreicht, der mit ›Stimmung‹ bezeichnet wurde. Die Freunde stifteten Freibier. In dei linken hinteren Ecke wurde das Verlangen wach, Emil hoch leben zu lassen. Aber der winkte entschieden ab. Paul hatte sich neben Emil niedergelassen und betrachtete seinen Bruder mit kargem Lächeln. »Wie ist das eigentlich«, fragte er sanft, »soll ich hier verdursten oder findet sich jemand, der ein Glas Rum mit mir trinkt?« »Jede Menge«, versicherte Emil sichtlich gerührt. »Du mußt wissen«, sagte Otto, »daß wir dich immer sehr gerne gehabt haben - wir konnten das nur nicht so zeigen.« »Du bist unser lieber Bruder«, sagte Emil schlicht. Und er. teilte seinen Rum mit Paul und bat ihn um die Erlaubnis, auf sein Wohl trinken zu dürfen. »Ja«, sagte Paul schließlich und blickte verlegen in sein leeres Glas, »eigentlich wollte ich einiges mit dir besprechen, Emil.« »Aber doch nicht heute!« warf Otto ein, denn bei Paul war er immer auf das Schlimmste gefaßt. »Es ist nicht das, was du vermutest«, wehrte Paul ab, »es ist nichts Dienstliches. Es handelt sich nur um folgendes: Ich habe mir, wie ihr ja wißt, allerhand Geld erspart. Heute abend habe ich gedacht, ich gebe es für Gustav aus, für die Klinikkosten, Medikamente und so weiter. Aber Gustav wird ja bald wieder auf den Beinen sein. Und da dachte ich, Emil, du nimmst das Geld und machst damit eine kleine Überseereise - vielleicht nach Südamerika oder nach Indien.« Emil vermochte nicht zu sprechen. Er legte seine Hand schwer auf den Arm des Bruders und schüttelte nur den Kopf. Seine Augen waren feucht und er schnaufte heftig. »Das ist eine ganz ausgezeichnete Idee«, sagte einer der -404-
Freunde; und alle, die dabeisaßen, nickten zustimmend. »Aber unser Emil hat noch mehr als nur das verdient. Ich schlage vor: Wir legen alle zusammen und ermöglichen ihm so eine richtige Weltreise. Mensch, was wirst du dann erst alles erzählen können!« »Ich fürchte«, sagte Vater Golder bremsend, »die Wirklichkeit hat bedeutend weniger Glanz als die Fantasie eines geborenen Erzählers.« »Da kannst du recht haben«, sagte Emil zustimmend. Er blickte seinen Vater offen und dankbar an und erwiderte das Lächeln des geliebten, respektierten, verehrungswürdigen Alten ohne Scheu. Sie fühlten, daß sie sich wieder verstanden - wie einst, als der riesenhaft gebaute, mächtige Mann noch ein Kind war. »Und im Grunde bin ich sogar froh«, erklärte Emil weiterhin, »wenn ich endlich richtig zu Hause bleiben kann. Ich will einfach nicht mehr fort - mir gefällt es hier nämlich. Geld habe ich mir genug gespart; ich dachte schon seit längerer Zeit an ein solides Fuhrunternehmen in der Heimat. »Der Gedanke ist gar nicht schlecht«, sagte Vater Golder. »Wenn du elf Monate zu Hause bist und einen Monat irgendwohin fährst, meinetwegen sogar ans Meer - so ist das immer noch besser als umgekehrt.« Mutter Golder und Siegfried Siegert senior saßen im grauweißen Wartezimmer des Krankenhauses nebeneinander. Mutter Golder hatte die Augen ein wenig geschlossen und die Hände in den Schoß gelegt. Siegert blätterte mit hastigen Bewegungen in einem Magazin. »Seltsam«, sagte er dann, »darüber nachzudenken, wie schnell und oft wie ungewollt man in das hineinstolpert, was später dann Schuld genannt wird.« »Du solltest lieber darüber nachdenken«, sagte Mutter Golder, ohne ihre Haltung zu verändern, »was man alles tun kann, um -405-
Menschen glücklich, zumindest doch zufrieden zu machen.« Er sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Die Zeit verging schnell. Aber jetzt, da sie wußten, daß ihre Söhne ihnen erhalten bleiben würden, waren selbst diese Stunden nicht mehr von zerstörender Unruhe erfüllt. Sie hätten schon lange nach Hause gehen können, aber sie wollten es nicht. Es schien ihnen selbstverständlich, gemeinsam zu warten. »Warum eigentlich«, sagte er nach längerem Schweigen wieder hartnäckig, »muß immer erst Gefahr oder Gewalt da sein, damit man begreift, was ein friedliches Leben wert ist, und bereit wird, seine Fehler einzusehen und sich in Großmut, Nachsicht und Verständnis zu üben? Warum ist die Klarheit, die zur Güte führt, nicht ein wenig selbstverständlicher?« »Das kommt«, sagte sie, »von der Trägheit des Herzens, dem kurzen Gedächtnis, der lähmenden Selbstzufriedenheit und dem Mangel an Nächstenliebe. Die meisten von uns glauben nur an das, was sie am eigenen Leib erfahren haben; die Nöte der ändern kümmern sie nicht. Nicht wenige bleiben blind wie neugeborene Hunde. Die meisten Menschen kennen nicht den Tod und die Gefahr, oder sie haben das sehr schnell wieder vergessen. Das ist ähnlich wie mit dem Hunger - wer ihn erlebt hat, der wird entweder fortan gierig sein oder bescheiden. Nur wer bewußt lebt, wird auch gütig leben. Und dazu gehört auch wohl, daß wir uns gelegentlich anderer wegen vergessen können.« »Du weißt, was Güte ist«, sagte Siegert. Und er lächelte ihr zu, wie sonst nur alte Menschen spielenden Kindern zulächeln, in denen sie ein Stück ihrer eigenen Jugend wieder zu erkennen glauben. »Mein Leben war einfach, schwer und dennoch voller Glück ich habe mir keinen Augenblick lang ein anderes Leben gewünscht.« Siegert beugte, sich ein wenig vor; ihn verlangte danach, sie -406-
deutlich zu sehen. Und in ihren Augen fand er das Mädchen wieder, dem es gegeben war, sein Leben viel stärker zu bestimmen, als er das jemals eingestanden hatte. Er legte ihr vertraulich die Hand auf den Arm; und er ließ sie dort liegen, als Doktor Bächler, mit einem Ärztekittel angetan, das Wartezimmer betrat. »Von Ihren Töchtern«, sagte er zu Mutter Golder, »ist eine immer hübscher als die andere; und tüchtig scheinen alle zu sein. Ihre Tochter Susanne ist eine prachtvolle Krankenpflegerin. Und damit kenne ich jetzt schon zwei, die ich vom Fleck weg heiraten würde am liebsten gleich alle beide: eine für die Praxis, die andere für den Haushalt. Aber leider interessiert sich Susanne überhaupt nicht für mich, sondern ausschließlich für Papierfabrikantensöhne. Also habe ich mich nunmehr entschlossen, allein mit Ihrer Tochter Margarete glücklich zu werden.« »Junger Mann«, sagte Mutter Golder, die sich nur langsam aus der nachdenklichen Stimmung der vergangenen Minuten lösen konnte, »meine Familie hat Sie nicht im geringsten zu interessieren.« »Doch, doch«, versicherte Doktor Bächler munter. »Ihre Familie interessiert mich sogar sehr. Denn schließlich will ich dort Mitglied werden. Der Antrag ist bereits gestellt - ich bitte um Ihre Zustimmung.« »Und das ist nun der Mann«, sagte Siegert entwaffnet, »den ich hier zum Arzt gemacht habe.« Und mit einem ein wenig verlegenen Lächeln wandte er sich an Frau Golder. »Das«, sagte er, »habe ich deiner Familie denn doch nicht antun wollen.« Mutter Golder lächelte zurück, und sie tat das mit freundschaftlicher Herzlichkeit. »Aus den leichtfertigen Reden dieses munteren jungen Mannes«, sagte sie, an Siegert gewandt, »entnehme ich, daß es wirklich nicht übermäßig schlimm mit unseren Jungen steht. Ich glaube, wir können jetzt beruhigt nach -407-
Hause gehen.« »Du erlaubst mir doch sicherlich«, sagte Siegert, »daß ich dich begleite. Ich habe noch viel mit dir zu besprechen.«
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