Heimkehr nach Florenz Als Michelangelo am 18. Februar 1564, fast 89 Jahre alt, den Tod als eine Gnade des Himmels erwar...
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Heimkehr nach Florenz Als Michelangelo am 18. Februar 1564, fast 89 Jahre alt, den Tod als eine Gnade des Himmels erwartend, die Augen schloß, rüstete Rom ein fürstliches Grabgeleit für ihn, den schon seine I Zeitgenossen mit scheuer Ehrfurcht ,,11 Divino", den Göttlichen, nannten. Der Papst, so hieß es, wolle dem Baumeister des Petersdomes und obersten Bauleiter des päpstlichen Palastes in *• der neuen Peterskirche ein würdiges Grabmal errichten. Ehe sich aber der Prunk der feierlichen Zeremonien entfalten konnte, hatten Unbekannte den Sarg mit dem Toten aus der Stadt gebracht. In einen Warenballen verpackt, hatte man die kostbaren Gebeine als Frachtgut durch die Torzölle geschmuggelt und mit ' Eilwagen über die Grenzen des Kirchenstaates nach Florenz entführt. Denn die Arnostadt hielt Michelangelo so sehr für ihren t Sohn, daß sie sich berechtigt glaubte, ihn, den sie geboren, nun 1 nach seinem Tode in die Heimat zurückzuführen. Aber auch Rom betrachtete ihn als den Seinen, sodaß die Nachricht von dem Verlust des teuren Toten die Römer wie ein Unglück überfiel. Freiwillig hätte die Ewige Stadt den Leichnam Michelangelos niemals herausgegeben. Wie im Tode, so war Michelangelo auch im Leben zwischen diesen beiden Städten hin und her gerissen. Sein Dasein wurde bestimmt durch den tragischen Zwiespalt, der Stadt der Mediceerfürsten ebenso anzugehören wie der Stadt der Päpste. Florentinisch war sein leidenschaftliches Interesse an den politischen Geschicken seiner Vaterstadt, florentinisch war sein Heimatgefühl. Obwohl er nur die Hälfte seines Lebens an den Ufern des Arno hatte verbringn dürfen und sich im Alter, voller Enttäuschung über die politische Wendung in Florenz, geweigert hatte, dorthin zurückzukehren, hing er doch mit allen Fasern an der Stadt seiner Jugend. Er schickte seinen Brüdern I Geld, daß sie ihm in Florenz ein Haus erwürben und es für ihn verwalteten. Das Bürgerrecht der freiheitlichen Stadt schätzte er höher als die Bürgerwürde im päpstlichen Rom. Doch fesselte ihn an die Ewige Stadt die weltweite Atmo- j Sphäre, die der Metropole der Christenheit eigen war, der Zug i ins Große, den Florenz nicht in gleichem Maße besaß. Von hier aus liefen die Fäden des kirchlichen Weltreiches in alle Erd-| teile, die Abgesandten aus aller Herren Ländern ließen die Far-J bigkeit und Pracht der Ferne und Fremde in sie hereinströmen g 1
Hier vor allem strahlte nodi am unmittelbarsten der Geist dei Antike, aus den Stadttrümmern des lateinischen Rom ebenso wie aus den zahlreichen Antiken-Sammlungen. Noch freilich lagen unermeßliche Kulturschätze unter dem Schutt der Jahrtausende. Noch war das Forum Romanum,' der politische Schauplatz des Römischen Reiches, nicht freigelegt. Aber der Kenner xies Altertums studierte mit ehrfürchtiger Bewunderung die Säulen des Trajan und Marc Aurel, den Tempelbau des Pantheon und die herrlichen Plastiken, die der Boden in Überfülle preisgegeben hatte. Für Michelangelo, dessen Auge auch aus dem Unscheinbarsten und aus den Teilen das große Ganze erschaute, erwies sich angesichts der antiken Trümmer das Wort: „Roma quanta fuit, ipsa ruina docet" — was Rom einst war, das zeigen dir allein schon seine Ruinen
// divfno — // terribile Wer war nun dieser Mann, der nicht nur als Bildhauer, sondern auch als Maler und Baumeister, als Erzgießer, Anatom und Dichter gleich Ungewöhnliches geschaffen hat? Gewiß, sie nannten ihn ,,il divino", den Göttlichen, wenn sie von seinen geistgewaltigen Bildwerken sprachen; aber sie nannten ihn auch ,,il terribile", den Dämonischen, wenn sie ihn selber meinten: das Wetterleuchten seines Charakters, die geheimnisvolle Abgründigkeit seines Wesens, die oft so erschreckend rauhe Hülle, mit der er sich in abweisender Unnahbarkeit vor den Menschen verschloß. Diese Züge waren in seinem Bildnis so scharf geprägt, daß selbst Freunde und Bewunderer an ihm irre werden mußten. Auch wir müssen sie kennen, wenn wir den tragischen Grundton verstehen wollen, der sein Leben und seine Werke erschütternd erfüllt. Das Bewußtsein, über jedem seiner Zeitgenossen zu stehen und vor keiner Aufgabe versagen zu dürfen, die man ihm, die er sich selbst stellte, verband sich in Michelangelo zeitlebens mit der schmerzhaften Erkenntnis, daß allem Irdischen und seinem eigenen riesenhaften Schaffen Schranken gesetzt waren. So begreifen wir, warum viele seiner Werke unvollendet geblieben sind und selbst in jahrzehntelangem, unerhörtem Bemühen nicht abgeschlossen werden konnten. Und doch drängt Immer wieder das Bewußtsein seiner titanenhaften Kräfte in
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den Vordergrund. Nichts wollte er von anderen gelernt haben, alles glaubte er nur sich selber zu verdanken. Seinen ausgezeichneten Lehrer Ghirlandajo, ohne dessen Unterweisung Michelangelo vielleicht niemals die Wunderschöpfung der Sixtinischen Gemälde hätte vollbringen können, behandelte er in späteren Jahren, als er weit über ihn hinausgewachsen war, mit verletzendem Undank und oft mit überheblichem Spott. Immer stand er in Abwehr und Mißtrauen gegenüber den Großen, die in jenem Jahrhundert ungeheurer Kunstentfaltung neben ihm vorwärts drängten. Er suchte die Gelegenheiten, seh mit ihnen zu messen, vielleicht nicht so sehr, um sie zu demütigen, als vielmehr, im Wettstreit seine eigene unheimliche Urbegabung immer von neuem zu beweisen. Ein „verhauener" Marmorklotz auf dem Domhof zu Florenz, an dem sich ein Bildhauer versucht und den Leonardo da Vinci als unbrauchbar verworfen hatte, schien ihm gerade recht, seine Überlegenheit in der Verwandlung des ungefügen, ja selbst des unzulänglichen Stoffes aller Welt darzutun. Den Auftrag, die Längswand im Rathaus von Florenz auszumalen, nahm er nur an, weil man die Gegenwand dem großen Widersacher Leonardo da Vinci übertragen hatte-, so konnte er hier im gleichen Raum m : t dem bis dahin unbestrittenen Herrscher der Malkunst in die Schranken treten. Wie erbittert und hartnäckig wehrte er sich gegen den päpstlichen Auftrag zur Übernahme der Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle! Dann aber stieg er dennoch in die Gerüste, als er erfuhr, daß man sein malerisches Können in Zweifel zog und daß Intriganten aus dem Künstlerkreise des Hofes versuchten, ihn mit diesem Monumentalwerk in einen Mißerfolg zu treiben, weil er ihrem eigenen Ehrgeiz im Wege stand. Fast alle seine Werke stehen unter dem Zwang eines unbändigen Selbstbewußtseins und sind gewachsen aus dem unstillbaren Verlangen, alles Bisherige zu überbieten, alle anderen Größen vor ihm und mit ihm weit hinter sich zu lassen. Nur aus diesem Streben nach dem Höchsten läßt es sich vielleicht erklären, daß er es nicht ertragen konnte, aus einer Familie zu stammen, die zum einfachen Volk gehörte und sehr ehrbare, aber eben schlichte Kaufleute und Beamte zu ihren Ahnen zählte, sodaß er mit merkwürdigem Eifer bemüht war, seine adlige Herkunft irgendwie nachzuweisen. 4
Den Jugendgenossen bereits erschien Michelangelo dünkelhaft. Schon in frühen Jahren reizte er maßlos all seine Kameraden. In unbändiger Wut holte darum einmal einer von ihnen unversehens zu einem Schlage aus, der Michelangelo so furchtbar ins Gesicht traf, daß er ihm das Nasenbein zerschmetterte und ihn für sein Leben zeichnete. — „Mach Dich mit niemandem Freund oder vertraut... Sprich von keinem Gutes oder Böses, denn der Ausgang der Dinge ist ungewiß!" — Dieser Rat an seinen Bruder ist das bittere Ergebnis seiner leidvollen Erfahrungen, die ihn immer tiefer in die Einsamkeit trieben und ihm den Zugang zu gleichgesinnten oder gleichbegabten Mitmenschen immer mehr verschlossen. Nichts vermag das Alieinsein Michelangelos deutlicher zu machen als jene Anekdote von dem Zusammentreffen mit Raffael. Beide malten damals im Vatikan, Michelangelo in der Sixtina, Raffael in der Bibliothek. Keiner nahm vom anderen Notiz, bis sie sich eines Tages in den Gängen des Vatikans trafen; Raffael im Kreise seiner Schüler, Michelangelo wie stets allein. „Mit einer Bande wie ein Häscher", murmelte er verächtlich. „Und Du", erwiderte boshaft Raffael, „einsam wie ein Henker!" „Kunst", so schrieb Michelangelo einmal in Abwehr, „erfordert Nachdenken, Einsamkeit und Ruhe und kann Zerstreuungen nicht vertragen." Und gegen den Vorwurf des Hochmutes verteidigte er sich, indem er über andere sagte: „Mitnichten sind tüchtige Maler aus Stolz unzugänglich, sondern entweder, weil sie wenige finden, die Sinn und Verständnis für die Malerei haben, oder weil sie durch das eitle Geschwätz von Müßiggängern ihren Geist von den hohen Gedanken, von denen sie beständig erfüllt sind, nicht abgelenkt und zu alltäglichen Dingen herabgezogen wissen wollen." Am wohlsten fühlte er sich immer wieder im Kreise einfacher Menschen, in der Gesellschaft jener Durchschnittsnaturen, die neidlos seine Größe und Besonderheit anerkannten, die nichts von ihm wollten und nur den Menschen, nicht den Künstler in ihm sahen, die ihn auf dem Boden ihrer schlichten Selbstverständlichkeit ausruhen ließen von sich selbst und den Problemen seiner Kunst. Einfachheit bestimmte auch seine persönliche Lebenshaltung, die von spartanischer Kargheit beherrscht war. Obwohl er ein reicher Mann geworden war, lebte er doch wie ein Armer. In der „Armengasse", wie Michelangelo selber die Straße am Macel de'Corvi nannte, in der er unter
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geringen Leuten wohnte, hauste er bedürfnislos wie ein grie chischer Philosoph. Unter dem »ärmlichen Dach«, im Schatten von Santa Maria di Loreto, lag auch die einfache, helle Werkstatt, in der er den „Moses", die „Gefangenen" des Juliusgrabes und andere seiner Skulpturen aus dem Marmor schlug. Zwischen den Lorbeer- und Feigenbüschen des kleinen Gartens hielt er sich zur Freude und für den Haushalt eine Hühnerschar und im kleinen Stall das klapperdürre Maultier, mit dem er von Zeit zu Zeit hinüberritt zu den fernen Bauplätzen von St. Peter. Bei der Arbeit genügten ihm oft tagelang ein Stück Brot und etwas Wein. Häufig legte er sich mit allen Kleidern zu Bett, weil er vor Arbeit keine Zeit fand, sich auszuziehen. Seine Stiefel aus Hundsfell, die er ohne Strümpfe trug, kamen oft so lange nicht von seinen Füßen, „daß dann mit den Stiefeln zugleich die Haut mitging, wie bei den Schlangen." Von diesem Mann nun, der in aller Münde war, sagten die einen, daß er „jedermann Schrecken einjage, selbst den Päpsten", und andere wieder, „daß man ihm nur Liebe zeigen und Gunst erweisen brauche, damit er Werke schaffe, die jeden in Erstaunen setzen werden." Gewiß ist, daß viele seiner menschlichen Untugenden nur Selbstverteidigung waren in Zeiten, in denen er durchtobt und erschüttert war von den Jenseitsmächten, mit denen er rang. Es gibt Zeugnisse genug, die uns verraten, wie sehr Michelangelo auch der Liebe fähig war. In den Briefen an seine Brüder und den Vater, in der Zwiesprache mit der geistigen Freundin, der Marchese Colonna, und in seinen Gedichten klingen aus den dunklen Abgründen hellere, ja zärtliche Herzenstöne.
Der junge Meister Auf der Ahnentafel der Familie Buonarotti sucht man vergebens nach einem Zweig, aus dem sich das Talent Michelangelos wie eine lodernde Blüte hätte entfalten können. In keinem seiner Vorfahren ist seine Begabung vorgeahnt. Urplötzlich steht dieser hochveranlagte Knabe in der bürgerlichbiederen Umgebung seiner Familie und wächst, kaum zur Vernunft erwacht, weit über seine Brüder hinaus. Starrsinnig und selbstbewußt von früh an, sucht er den eigenen Weg. Statt in
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die Lateinschule, m die ihn der Wille des Vaters zwingt, treibt es den Zwölfjährigen schon zu den Palästen, Brunnen, den herrlichen Bildwerken, den Hallen und Gärten der Vaterstadt* die mit ihren Kunstschätzen und den antiken Erinnerungen ein einziges Freilichtmuseum ist. Neben Rom gibt es in Italien keine zweite Stadt mit solch erlesener Kultur. Seitdem die Adelsfanrilie der Medici die Herrschaft in der Stadt angetreten hat, ist Florenz auch der lebendige Mittelpunkt aller Gelehrsamkeit und hohen Kunstschaffens. Da wirkt inmitten einer großen Zahl von Schülern der Maler Domenico Ghirlandajo, und er genießt bewunderndes Ansehen in ganz Italien. Michelangelo quält den Vater, daß er ihn freigebe für die Malerschule dieses Meisters, und er trotzt allem Spott der Brüder und den Schlägen, die ihn zur Vernunft bringen sollen. Der Vater vor allem ist entsetzt, daß sein Sohn, der zweite unter fünfen, den er in seinen Wunschträumen schon in angesehener Beamtenstellung sieht, sich zu einem Handwerk erniedrigen will. Aber schließlich gibt er nach und unterschreibt den Lehrvertrag mit dem Malermeister Ghirlandajo. Ein Jahr bleibt Michelangelo in der Werkstatt des Meisters, dann aber empfiehlt ihn dieser weiter an den sogenannten Garten von San Marco, wo Lorenzo del'Medici besonders befähigte Jünglinge in der Bildhauerkunst unterrichten läßt. So kommt Michelangelo in frühen Jahren mit jenem kunstsinnigen Adels- und Fürstenhause in Berührung, für das er später die berühmten Medicigräber schaffen sollte, und von dem einer als Papst Leo X. ihn in Rom in seinen Dienst gezogen hat. Michelangelo ist schon in dieser ersten Schaffenszeit beherrscht von einem unbändigen inneren Trieb, seine Gedanken bildhafte Gestalt werden zu lassen. Mit Pinsel und Meißel entwirft er erregende Bildwerke, ja, mit den bloßen Händen: als an einem Wintertag Florenz einen der seltenen Schneefälle erlebt, fordert man ihn auf, seine formende Kraft an dem frisch gefallenen Schnee zu erproben. Mit sicherer Hand läßt er vor den Augen einer festlichen Gesellschaft eine Schneeplastik erstehen, die verblüfftes Erstaunen erregt. Damals hielt er es noch keineswegs für unter seiner Würde, seine Kunst für bloße Unterhaltungszwecke zu zeigen. Was er bedauerte, war lediglich die Tatsache, daß er durch jenen spielerischen Auftrag für ein paar Stunden von seinem eigentlichen Studium abgehalten wurde. Dieses Studium galt dem menschlichen Körper. Der Prior von St, Spirito hatte ihm den Zutritt zur Leichen•»
kammer des neben der Kirche gelegenen Hospitals ermöglicht, und hier saß er tage- und nächtelang und legte den Grund zu jenem überlegenen Wissen um den Menschenkörper, das seiner Kunst den entscheidenden Halt gab. Es gibt keiner! größeren und sichereren Anatomen unter den Bildhauern aller Zeiten als ihn. Dieses in scharfer Beobachtung und langem Studium erarbeitete Wissen um die natürlichen Formen und Bewegungen des nackten Körpers, um das Spiel seiner Linien und Lichter war es, was Michelangelo von vornherein unwiderstehlich zur Antike zog. Als Mensch der Renaissance war er dem ganzen Wesen nach der großen Kunst der Vergangenheit so stark verbunden, daß er eine Zeitlang, aus der eigenen Innenwelt f' schöpfend, — nicht kopierend — fast antike Figuren meißelte. So war es möglich, daß eine von seinen Arbeiten von einem Betrüger als „echte", eben ausgegrabene Antike nach Rom verkauft werden konnte. Doch der Betrug kam heraus, und der Vorfall wäre kaum bedeutsam genug, erwähnt zu werden, wenn er nicht den Anlaß gegeben hätte zu Michelangelos Besuch in Rom, jener Stadt, nach der er sich sehnte, und von der er sich die größten Offenbarungen und den höchsten Ruhm versprach. Fünf Jahre dauerte dieser erste Aufenthalt in der Ewigen Stadt. Er erfüllte seine Erwartungen nicht. Noch konnte er jenen Platz im Reiche der Kunst nicht erreichen, den er erstrebte und beanspruchte. Noch erkannte man in seinen Arbeiten nicht das Einmalige, Ureigene, das sie heraushob aus der Masse der Kunstleistungen. Noch wertete man sie allein als Nachahmungen der Antike. Wir aber empfinden vor allem eines jener Werke, die er damals schuf, als erstes in der Reihe seiner ganz großen unvergänglichen Schöpfungen: die römische Pietä. Das Motiv, die Klage der Gottesmutter um den toten Sohn, war seit Jahrhunderten bekannt, aber bis dahin in der Plastik Italiens noch nicht vertreten. Die deutsche Kunst jedoch liebte dieses Bild ergreifender Totenklage. Was aber Michelangelo — i er war damals gerade 23 Jahre alt! — aus diesem Thema machte, war etwas völlig anderes als bei allen mittelalterlichen Bildschnitzern und Malern bisher. In Michelangelos Pietä von St. Peter ist nicht mehr das Erschüttertsein ohne Maß und Form, das die Marienklagen der späten Gotik erfüllt. Es geht nicht mehr um den Ausdruck lauten, herzzerreißenden Weinens oder um die Offenbarung tiefen dumpfen Schmerzes. Die Gestalten dieser Pietä sind von körperlicher Schönheit, die selbst der 8
verzweifelte Schmerz nicht zerstören kann. Keine verzerrte Bewegung geht durch diese Gruppe. Wohlgeformt und in ihrem Linienspiel aufs vollkommenste durchgebildet sind die Glieder, und auch der Faltenwurf des Gewandes ist ein reifes, ausgeglichenes Spiel von Helligkeit und Dunkel. Für Michelangelo sind diese beiden Gestalten allem menschlichen Lautsein entrückt. Nichts Äußerliches dringt mehr in die tiefe, einsame Verhaltenheit dieser Gottesmutter; die stille Zwiesprache, die sie mit dem toten Sohne hält, ist von so weltenferner, innerer Gelöstheit, daß sie fast ohne Klage ist. Durch die schöne Harmonie der Formen klingt der Adel reiner Seelengröße, selbst den kalten, weißen Marmor scheint noch zarter, warmer Lebensstrom zu durchpulsen. Wie Michelangelos eigene Zeit, so hatten auch spätere Geschlechter für diese Form der Frömmigkeit und diese Art von Kunstwerk nicht das rechte Verständnis. Man bestaunte die vollendete und allen Kennern wie ein Wunder erscheinende Technik des Meisterwerks, aber man fand lange nicht den Zugang zu ihm. Man scheute sich auch*nicht, es später durch Zutaten zu „ergänzen", um es der Seelenstimmung des Betrachters zugänglicher zu machen: durch einen bronzenen Heiligenschein, durch vergoldete Engel mit einer Marienkrone und durch ein riesiges Marmorkreuz im Hintergrund. Erst der Ruhm des späten Michelangelo ließ auch dieses herrliche Werk seiner Jugend mehr hervortreten. Als „Pietä von St. Peter" steht das Marmorbild heute in einer Seitenkapelle des Petersdomes.
// Glgante Seit 30 Jahren lag im Dombauhof von Santa Maria del Fiore in Florenz der riesige Marmorblock aus den Brüchen von Carrara, den der Gehilfe eines Meisters einst beim Ausschlagen der äußeren Umrisse einer Kolossalstatue verdorben hatte. Im unteren Teil des Blockes klaffte ein großes Loch, das eine Weiterverarbeitung unmöglich zu machen schien. Im Jahre 1501 entschloß man sich zu einem letzten Versuch. Leonardo da Vinci lehnte ab, aber der Bildhauer Andrea Sansovino auf Florenz glaubte, die Aufgabe lösen zu können; — da griff der aus Rom zurückgekehrte Michelangelo zu. Unbehauener Mary
mor w a r für ihn wie eine magische Macht, die ihn mit tausencrw Kräften in ihren Bann zog. Und hier schien zudem eine nie wied e r k e h r e n d e Gelegenheit, das eigene Können zu beweisen, all j denen zum Trotz, die immer noch nicht an seine Berufung glaub- ] ten. Wie ein Fieber packte ihn das Bewußtsein, dem Mann, der 1 strahlend wie ein König über der Künstlerschaft v o n Florenz 1 stand, dem „göttlichen" Leonardo, die eigene Überlegenheit wie einen Triumph e n t g e g e n h a l t e n zu können. Alle drängten sie sich um Leonardos Bilder, b e w u n d e r t e n sie wie etwas, w a s noch nie dagewesen und nie wieder erreicht würde. Nun, er, Michelangelo Buonarotti, der äußerlich wie ein Knecht neben dem H e r r n war, er würde ihnen enthüllen, daß auch in einem häßlichen, armseligen Körper der F u n k e des Genius schlummern kann. In rasender Eile fertigte er das Wachsmodell eines biblischen David, legte es der W a h l k o m m i s s i o n v o r — und erhielt d e n Auftrag. Es war ein fast irrsinniges Unterfangen für den 26jährigen, ohne Gehilfen, ohne Schüler, mit eigener Hand den fünfeinhalb Meter hohen Koloß zu behauen und zu glätten. Ein Bretterschuppen erstand um den Marmor, und niemand hat ihn betreten, bevor die Statue fertig war. In krankhafter Scheu verschloß sich die Seele des Einsamen vor den kritischen, profanen Blicken der Menchen. Tag um Tag klirrten n u n die Hammerschläge aus dem Holzverschlag, und nachts, w e n n die Gleichaltrigen festesfroh und singend vom Tanze heimkehrten, d a n n blieben sie wohl stehen, horchten auf den sirrenden, knirschenden Klang des Meißels, der wie em Puisschiag den Platz und die Straßen erfüllte und bekreuzigten sich in bangem, verständnislosem Staunen. Vielleicht ist damals der N a m e entstanden, der ihm wie ein Schatten folgte: „il terribile", der v Dämonische, der Schreckliche. Seine Hände wurden knöchern, breitflächig, zernarbt und zerrissen. In dem h a g e r e n Antlitz b r a n n t e n die tiefliegenden Augen in erschreckendem Feuer, die Qual des Schaffens zeichn e t e ihre Leidlinien in die krankhaft gelbe Haut. Staubbedeckt wie ein Steinbrucharbeiter, den v e r b e u l t e n Filzhut ins Gesicht gezogen, eilte er zu den kurzen Ruhestunden nach Hause. Sein Blick e r k a n n t e niemand und schien in Fernen zu sehen, die n u r in seiner Seele lagen. W i e ein Bergstrom w a r sein Schaffen, brausend, von unmenschlicher Kraft erfüllt. 10
Kopf des „Gigante" (David} II
„Von Riesengipfeln, die sich stürzend neigen, Versteckt, von mächtigem Fels umschlossen, Kam ich herab ins Tal geflossen, Im Steinbett grollend mich der Welt zu zeigen." (Sonett v. Michelangelo) « Nach drei Jahren war der Gigant fertig, die Bretterwände I wurden niedergerissen. Zum erstenmal schien die Sonne von Florenz auf den gleißenden Marmor, blaute der Himmel Toskanas über dem trotzigen Haupt des Riesen. Und den Menschen des Quattrocento, begeistert von den Skulpturen der Antike, die aus dem Schoß der Erde gegraben wurden, schien es so, als ob wieder eine Zeit der Klassik angebrochen wäre. Ein neuer ) römischer Frühling erblühte auf dem Boden Italiens. Dieser David war die Verkörperung der künstlerischen Sehnsucht einer ganzen Generation. Auf einem Körper, wie ihn vor mehr als einem Jahrtausend die Meister Griechenlands und Roms gemeißelt, erhob sich der Kopf eines Cäsaren, stolz, voll kraftvoller Schönheit. Das war nicht der kleine, fast schwächliche David, wie er in der Vergangenheit dargestellt wurde, der in glückseligem Triumph des unerwarteten Sieges auf den gefällten Gegner blickt. Der Gigant Michelangelos hat seine Tat noch vor sich. In fast lässiger Haltung erwartet er den Gegner, sicher seiner Kraft, die geballt ist in den starken Muskeln der breiten Brust eines Athleten und den übermächtig ausgearbeiteten Händen. In dem Gesicht ist ein unbändiger Wille konzentriert, die Stirn wie von Blitzen zerrissen, die Augen sind kühl, i hart und entschlossen das Schicksal prüfend, das klirrend und unaufhaltsam heranschreitet. Der Tansport zum Palazzo Vecchio wurde zum Schauspiel, an dem ganz Florenz teilnahm. Fast über Nacht war David zum Symbol der Republik geworden, die sich von den Fesseln der Medici-Herrschaft befreit hatte. Auch die Anhänger des ge- , stürzten Herrscherhauses empfanden es wie einen Schlag, als hier der jungen, stürmischen Volksrevolution ein Bild ihrer selbst geschaffen war. Wenn die Dunkelheit Straßen und Plätze verhüllte, schlichen sie heran und warfen mit Steinen auf den Giganten. Da stellten die Bürger in den Nächten eine Wache an den Ort, bis das Standbild zum Transport bereit war. Langsam bewegte sich das schwere Gerüst, auf Holzrollen, von Winden gezogen, durch Florenz. Am vierten Tag stand die Statue an ihrem Platz. Ihr Schatten fiel wie eine drohende Mah-
nung in die Beratungssäle des Stadthauses, der harterkämpften Freiheit eingedenk zu bleiben. Als 23 Iahre später, bei einer jener häufigen inneren Unruhen, der Palast, vor dem der David stand, berannt wurde, zerschmetterte eine herabgeworfene Bank den linken Arm des Giganten. Aber selbst nachdem die Stadt gefallen, die Republik begraben und die Medici zurückgekehrt waren, wagte man es nicht, das einstige Symbol der Freiheit zu entfernen. Erst 1873 glaubte man, den Giganten vor den Unbilden der Witterung schützen zu müssen, und man brachte ihn ins Museum. Schon 1910 jedoch stand ein neuer David am alten Platz: eine fast 15 Tonnen schwere Marmorkopie des Originals. So sehr empfand die Bevölkerung von Florenz bis in die jüngste Zeit das Fehlen „ihres" Giganten als eine unerträgliche Lücke.
Die Decke der Sixtina Papst Julius II. hatte Michelangelo mitten aus dem Florentiner Schaffen herausgerissen und zu sich nach Rom berufen, damit ihm „der größte Bildhauer seiner Zeit" sein Grabmal meißelte. Aber dann kam Bramantes Plan, die Kirche von St. Peter zu einem Riesendom umzugestalten, und so verzichtete der Papst vorerst auf die Ausführung des Marmormonumentes. Der Florentiner sollte statt dessen die restaurierte Decke der Sixtinischen Kapelle ausmalen, in welcher der Papst und die Kardinäle das Meßopfer feierten. Da Michelangelo in dem Auftrag eine Heimtücke seiner Gegner sah, weigerte er sich, die Ausmalung der Vatikanskapelle zu übernehmen. Da aber sagten sie von ihm: „Michelangelo fürchtet sich davor, weil er noch nicht viel in gemalten Figuren gearbeitet hat und besonders deswegen, weil die Figuren hoch und verkürzt gebracht werden müssen, und das ist etwas anderes, als auf ebenem Grund zu malen!" Dieser Zweifel an seiner Kunst kränkte Michelangelo so sehr, daß er entgegen seinem ersten Entschluß das Werk der Sixtina doch übernahm. Mit zorniger Verzweiflung über die ihm aufgezwungene Arbeit, Qual im Herzen, beginnt er mit der Feder die ersten Entwürfe zu zeichnen. In zäher Hartnäckigkeit ringt er mit dem Papst um die Wahl der Bildthemen. Julius II. will sich bei der heiligen Handlung umgeben wissen von den Bildern der 13
Apostel. Der Künstler aber will frei schaffen können, ohne Vorschrift, allein dem Antrieb seines Genius folgend. Schließlich reißt dem Papst die Geduld: „Mach, was du wilsstl", sagt er. — Der Weg ist f r e i . . . Am 10. Mai 1508 hallen die ersten Hammerschläge für den Gerüstbau durch die 40 Meter lange und 14 Meter breite Halle. Das Gestänge, auf dem die Steinmetzen arbeiten, ist so geschickt auf den Fenstersimsen angebracht, daß es den Gottesdienst nicht behindert. Der alte Deckenbewurf wird heruntergeschlagen und der neue aufgetragen, über zwei Monate dauern die Vorarbeiten. Der Künstler sitzt währenddessen über seinen Entwürfen, verbohrt in die Arbeit, kämpfend mit den ungewohnten Schwierigkeiten der malerischen Perspektive und der Freskotechnik. Er schreibt nach Florenz und läßt fünf Gehilfen nach Rom kommen, die ihm zur Hand gehen sollen. Niemals würde er mit eigener Hand die fast tausend Quadratmeter große Fläche mit Farbe und Figuren anfüllen können. Etwas wie Angst packt ihn, als er zum ersten Mal den Pinsel auf den frischen Kalkbewurf der Decke setzt, Angst vor der unendlich sich dehnenden weißen Fläche des flachen Gewölbes, vor der Aufgabe, ohne Übersichtsmöglichkeit, unter der Malfläche hängend, liegend, knieend zu malen, ohne Eindruck und Richtigkeit der Formen und der Perspektive prüfen zu können; Angst auch vor der eigenen Unzulänglichkeit. Aber dann ergreift ihn die Besessenheit, der dämonische Schaffenstrieb, so wie damals bei dem Giganten in Florenz und bei dem Karton zu dem Fresko im Rathaus, als es galt, größer zu sein als der große da Vinci. Wie ein Feuer um sich greift und, vom eigenen Sturmwind genährt, seine Flammen in den Himmel jagt, so brennt die Seele dieses Mannes, der um das Göttliche ringt. Und immer wieder verzweifelt er an sich selbst, immer wieder läßt ihn das Schicksal gegen die Barrikaden des Zufalls, der Tücke, des Alltags anrennen. Die Farbe der ersten Figuren ist kaum aufgesaugt, da bilden sich große Schimmelflecken auf der Wand. Der Kalk, auf den die Farben aufgetragen werden, hat zuviel Wasser. Es muß neu begonnen werden . . . Die Gehilfen aus Florenz, bedeutende Maler und Fresko-Spezialisten, können dem Flug der Ideen, dem rasenden Tempo nicht folgen. Michelangelo verschließt ihnen die Tür zur Kapelle; bestürzt, betreten, erschlagen vom dämonischen Zauber eines Übermenschen, kehren sie heim nach Florenz. Er streitet mit den himmlischen Mächten wie sollen da Menschen vor ihm bestehen? M
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Sixtinisdie und dem Gemälde Mammen
Kapelle im Vatikan, erbaut 1470, mit den Deckenlresken Altarbild des „Jüngsten Gerichtes" von Michelangelo. Die an den Seilenwänden bis in die Bogenhöhe der Fenster von Pintoricchio, Botticelli, Roselli, Ghirlanda/o, Perugino 'ind Slgnoiellt
Ohne Beispiel ist sein Malen, und von beinahe erschreckender Gewalt sind die Gestalten, die er in ihren Umrissen mit dem Daumennagel in den Kalk reißt. Da teilt Gottvater die Gestirne, aber das ist nicht der uralte, gütige, hoheitsvolle König des sanften Himmels, sondern ein gewaltiger Erschaffer und Schöpfer, der die Planeten in ihre Bahn zwingt, der mit dem brausenden Sturmwind des Alls die Urnebel zerreißt und das Chaos zur Ordnung ruft. Tausendjährige Überlieferung in der Darstellung jener höchsten Macht wird in Stücke gebrochen im Schaffensrausch eines Begnadeten. Hier in der Sixtina entsteht aus den Abgründen des Nichts eine neue Welt, eine Revolution im Geistesbereich der Kunst. Briefe fliegen nach Florenz, zu Eltern und Geschwistern, Aufschreie der Angst, Not und selbstquälerischen Verzweiflung: „Das Malen ist nicht meine Profession, und somit verliere ich meine Zeit ohne Erfolg . . . " „Ich lebe hier in großer Sorge und unter den größten körperlichen Anstrengungen; ich habe keinen Freund, will auch keinen, nicht einmal zum Essen hab' ich Zeit: darum soll man mir nicht noch mehr Not machen..." „Ich arbeite mich mehr ab als je ein Mensch getan, wenig gesund und unter größter Anstrengung . . . " Häusliche Streitigkeiten der Familie machen ihm das Herz noch schwerer. Die päpstliche Kammer unterbricht die Zahlungen, überall Widerstände und Hemmnisse. Aber er m a l t . . . Tag und Nacht, mit unfaßbarer Kraft. Bis zum Morgengrauen brennen Kerzen in der Kapelle und können doch mit ihrem flackernden, trüben Licht den Riesenraum nicht erhellen. Flach unter der Decke liegt der Maler, seine Augen sind rot entzündet, auf dem Kopf trägt er einen Papierhelm, der mit brennenden Lichtern besteckt ist; der Atem geht keuchend und rasselnd. Die Lage, in der er arbeiten muß, seit Wochen und Monaten schon, ist kaum zu ertragen. Tiefe Furchen zerstören den letzten Rest von menschlicher Schönheit in diesem vom Leid gezeichneten Gesicht. Gegen Morgen taumelt er aufs Bett, von Erschöpfung überwältigt. Aber nach wenigen Stunden liegt er wieder auf den harten Brettern des Gerüstes. Die geschwollenen Hände können kaum noch den langen Pinsel halten. Doch jeder Strich ist von völliger Exaktheit. Michelangelo beherrscht jetzt das „al fresco" bis zur Vollendung, die Farben verfließen ineinander zur zartesten Tönung. Die Kolossalfiguren der Propheten und Sibyllen entstehen, fern 16
jeder herkömmlichen Überlieferung, erfüllt von dem Geist, den ihnen der Gewaltige einhaucht. Gestalten von griechisch-klassischer Schönheit beleben die Wände, die Zwickel, die Konsolen und Lünetten. Kein Zentimeter Fläche bleibt ungenutzt, unbelebt. Auf dem Mittelteil des Gewölbes wachsen die Gemälde, die das Werden von Welt, Erde und Mensch schildern, den Sündenfall und seine Folgen. Und immer wieder ist die beherrschende Figur Gottvater selber. Das Chaos unterwirft sich seinem Willen, der Funke des Lebens springt unsichtbar( sichtbai auf den ersten Menschen über, dessen Arm sich, unbewußt, im Traum des Erwachens angerührt, gelöst dem GottSchöpfer entgegenhebt. Hat Michelangelo in den Gestalten Gottvaters die rastlos tätige Energie, die ,vita activa', zur höchsten Form versinnlicht, hat er in den nackten Jünglingen und Kindern die Schönheit und Vielgestaltigkeit irdisch-körperlichen Seins zum Ausdruck bringen wollen, so ragen die Gestalten der Propheten und Sibyllen tief hinein in die Nachtseite dieses Lebens, in das unergründliche Geheimnis, aus dem die Kräfte der Tiefe aufsteigen, den Menschen überfallen und ihn ebenso plötzlich wieder fallen lassen wie ein Spielzeug. In diesen Sibyllen und Propheten geistert das Unbewußte, und ihre Größe ist es. daß sie nicht daran zerbrechen, sondern sich wie ragende Ginfei aus den dumpfen Niederungen des Daseins bis in die stille Klarheit göttlicher Geisteshöhen erheben und sich behaupten. Am 14. August 1511 ist die Hauptarbeit mit der Ausmalung der eigentlichen Decke beendet. Der Papst gibt die Kapelle zur Besichtigung frei, die Sixtina wird zur Wallfahrtsstätte des kunstbegeisterten Rom. Auch Raffael ist unter denen, die erstaunt, bestürzt und dann ergriffen erschauern unter der unerhörten Wucht des göttlichen Geschehens, das sich in den Deckengemälden offenbart. Nun grht die Arbeit langsamer voran. Eine tiefe körperliche und geistige Müdigkeit hat sich des Meisters bemächtigt, unter der allerdings das große Werk kaum leidet. Mit derselben Verzweiflung, mit der er begann, legt schließlich Michelangelo den Pinsel beiseite, unzufrieden mit dem Geschaffenen, zerfallen mit sich und der Welt. Am 31. Oktober 1512, dem Vorabend von Allerheiligen, war in Gegenwart des Papstes der erste Gottesdienst in der fertigiV
gestellten Kirche. Michelangelo aber schrieb an seinen Vatei nach Florenz: „Ich habe die Kapelle, die ich ausmalte, beendet; der Papst ist zufrieden damit."
Moses Seinen David und die Sixtinische Decke hatte Michelangelo mit unerhörter Anspannung der Kräfte wie im Sturm geschaffen, über dem Werk jedoch, das zeitlich zwischen dem Giganten und der Sixtina liegen sollte, und das die ursprüngliche und eigentliche Ursache gewesen war für seine Verbindung mit dem heiligen Stuhl: das Juliusgrab, d. h. das Grabmal für Papst Julius II., darüber schwebte von Anbeginn ein Unstern. Als es schließlich am Ende seines Lebens durch fremde Hände kümmerlich fertig wurde, war von den gigantischen Anfangsplänen fast nichts mehr geblieben. Nur die beiden ,,Sklaven" und die gewaltige Figur des Moses zeugen noch davon, was alles hätte entstehen können, wenn sich die Mächte des Schicksals nicht verbunden hätten, dieses „Heldengedicht in Marmor" zu verhindern. Die Tragödie des Kunstwerkes begann, als der Papst, der Michelangelo zur Berichterstattung jederzeit freien Zutritt zu sich gestattet hatte, fünfmal hintereinander den Künstler ohne jegliche Erklärung hatte abweisen lassen. Maßlos war Michelangelos Zorn. Der Marmor war in Carrara gebrochen und lag hochgeschichtet auf dem Petersplatz in Rom. Gehilfen waren angeworben, das Haus am Macel de'Corvi war für die Arbeit hergerichtet, — und nun diese Demütigung! Unverzüglich ließ Michelangelo satteln, verkaufte in Eile allen Besitz und verließ noch am gleichen Tage Rom. Dem Papst aber ließ er die Nachricht zukommen, er möge ihn, falls er danach Verlangen habe, „woanders suchen". Was war die Ursache des Bruches? Der Papst hatte den Plan für sein Grabmal keineswegs aufgegeben Er wünschte ihn nur hinauszuschieben, bis auch die Stätte dafür neu geschaffen war: der Dom Bramantes. Von diesen Zusammenhängen ahnte Michelangelo nichts, und als sie ihm klar wurden, war er schon in Florenz, und alle Brücken zur Vergangenheit waren abgebrochen. Erst in späteren Jahren nahm er die alten Pläne wieder auf. Aber die Arbeiten für das Juliusgrab schleppten r«
sicn nur mühsam durch die Jahrzehnte, bis schließlich von den 42 Figuren jene drei zu Ende geführt werden konnten. Das Werk war zuletzt seinen Händen entglitten. Umso eindrucksvoller wirkt in dem einfachen Rahmen Michelangelos berühmteste Skulptur, der Moses, der, als Randfigur geplant, nun zur Hauptfigur des Denkmals wurde. Die Zeitgenossen sahen in ihm das idealisierte Bildnis des streitbaren Papstes, und das rühmende Wort eines Kardinals: „Der Moses allein schon genügt, das Andenken von Julius zu ehren!" gibt der Überzeugung der Mitmenschen von dieser Bezogenheit des Werkes deutlich Ausdruck. Auch Michelangelo sah in der Plastik ein Ebenbild jenes Mannes, dessen ungestümes Temperament dem seinen so eng verwandt war. Andere wiederum sagten, mit dem Moses habe Michelangelo auch sich selber bekennen wollen, die Gewalt seiner Natur und die Wucht seines Geistes (siehe Umschlagbild). Moses — Julius II. — Michelangelo! Diese Deutung des Moses umreißt schon den tieferen Sinn des Bildwerks; sie will nicht besagen, daß die Züge des Gottesstreiters die des Papstes oder die Michelangelos selber sind, sondern daß in dieser machtvollen Gestalt und in diesem Löwenhaupt das Wesen der beiden großen Männer erregend zum Ausdruck gebracht ist. Aber wie beim David-Giganten drängte sich den Forschenden vor dem Moses auch die Frage auf, welchen durch die Bibel bezeugten Augenblick der Künstler gewählt habe, als er den Gesetzgeber des israelitischen Volkes in dieser so leidenschaftlichen Haltung darstellte. Es sei der Augenblick, so nahm man lange Zeit an, als Moses „eben vom Berge herabgestiegen, mit den zwei Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand, den Lärm des Siegestanzes um das Goldene Kalb vernimmt und nun in Zorn und Groll aufkocht. In Blitzen flammen seine Blicke über dies halsstarrige Volk, und mit Mühe bändigt er den Aufruhr in sich, ehe er, in höchstem Grimme auffahrend, die heiligen Tafeln zerschmettert." Heute ist die Kunstwissenschaft überzeugt, daß der Moses-Riese Michelangelos mit einer solchen Festlegung auf einen bestimmten, historischen Moment nicht in seiner ganzen Tiefe erfaßt werden kann. Wie der David den Florentinern damals als die Verkörperung ihrer Sehnsucht nach politischer Freiheit erschienen war, so war auch der Moses von tiefer sinnbildhafter Bedeutung. Man muß ihn neben die Propheten- und Sibyllengestalten des Sixtinischen Deckengemäldes stellen, jene Geschöpfe zwischen dem Himmel und
dem Irdischen, deren Gefährte er zu sein scheint. Vom Ewigen angeiührt, wie jene Seher und Weissagenden des Alten Testaments, liegt über ihm noch der Widerschein dessen, der ihn gerufen, und der Bann des allmächtigen Gottes, den er allein von Angesicht zu Angesicht geschaut, hat sich noch nicht von ihm gelöst. „Die Haut seines Angesichts glänzte davon, daß er mit Gott geredt hatte", berichtet die Bibel, und das abtrünnige Volk fürchtete seinen Anblick, da es Gott fürchtete. Nicht einmal den Abglanz des Allgewaltigen verdiente Israel zu sehen, und so wird er den Schleier über das Haupt decken, wenn er zu den Menschen von dem drohenden Gotte spricht. Der Gottgedanke ist es, den dieser Moses verkörpert. Der gewaltige, warnende, unerbittliche Jehova spricht aus ihm, derselbe, der in der Gestalt des Weltenrichters auf dem Bilde des „Jüngsten Gerichtes" erscheint. Um die Gewalt der Gottidee mit Menschenmitteln sichtbar zu machen, ist dieser Moseskörper mit riesenhafter Urkraft erfüllt. Das wildfallende Gelock des Bartes, die berstende Muskelspannung der Arme und Beine, die erregende Führung des Armes, die schwere Raffung des Schleiertuches, das Gegeneinander des fest aufgestemnten und des zurückgreifenden Fußes und die hornartigen Erhebungen über der Stirn — alles vereinigt sich zu einem Bilde von unerhörter Wirkung. Das ist Moses, der Gesetzgeber, der Glaubensstarke, Held und Heiliger, Mittler zwischen Gott und den Menschen.
Tag und Nacht Auf Papst Julius II. folgte ein Mediceer, der den Namen Leo X. annahm. Von ihm erhielt Michelangelo den Auftrag, ein Grabmal für zwei jüngst verstorbene Angehörige des Geschlechtes zu schaffen: Lorenzo und Giuliano. Michelangelos künstlerische Phantasie entzündete sich derart an dem Plan, daß sich vor seinem geistigen Auge die plastische Aufgabe zu einem großangelegten Monument der Innenarchitektur ausweitete. Auch hier aber wurde, ebenso wie beim Juliusgrab, nur der kleinste Teil vollendet. Michelangelo war nicht mehr der alte. Er war nicht mehr der lodernde Feuerkopf, der in wenigen Jahren die Sixtinische Decke bewältigt hatte, der mit eisernem Willen und körper>f!
s Grabmal Lorenzos in der Medici-Kapelle zu Florenz mit der Figur •enzoB und den beiden Gestalten der Abenddämmerung und d« Morgen*
licher Elastizität nicht nur die größten äußerlichen Schwierig keiten überwand, sondern auch der eigenen Melancholie Herr zu werden wußte. Fast fünfzig Jahre war er nun, und das Alter forderte sein Recht. Immer einsamer war er geworden, immer bitterer, immer schwermütiger. Jedes Werk, jeder Entwurf, den er schuf, mußte nicht nur der Materie, sondern auch dem eigenen Geiste abgerungen werden. So sind denn auch die Figuren der Medici-Kapelle Ausdruck der inneren Qual, ein Bekenntnis wie kaum ein anderes, darin die verzweifelte Not zur still verhaltenen und in sich gekehrten Klage wird, die Not der Menschenkreatur im aussichtslosen Ringen mit den andringenden Gewalten des Himmels und der Erde. Rein äußerlich schon ist auch die Medici-Kapelle etwas Neues, Außerordentliches. Hier ist nichts mehr zierlich und gefällig, wie es bisher in Grabkapellen üblich war. Eine klare, kahle, farblose, ja fast kalte Architektur bekommt erst durch die körperliche Rundung der Figuren Bewegung und Leben, aber ein Leben, das stolz und herb ganz für sich und in sich besteht und den Beschauer wie ein Eiseshauch überfällt. Wie beim Moses und beim David kam es Michelangelo nicht darauf an, eine ganz bestimmte Situation oder einen historischen Augenblick nachzubilden. Alle persönlichen Züge sind dem geistigen und seelischen Inhalt geopfert, und die beiden Mediceer erscheinen nicht nur in der Tracht, sondern auch in den Körper- und Gesichtsformen jugendlicher römischer Feldherren. Die mangelnde Porträihaftigkeit hat man Michelangelo zum Vorwurf gemacht. „In 1000 Jahren" — soll er lächelnd geantwortet haben — „wird doch niemand mehr wissen, wie diese einst wirklich aussahen." Viel bedeutsamer als ihr äußeres Gesicht war für Michelangelo die Ausstrahlung der Idee. Mit ihr zeichnete er das eigentliche Wesen der beiden Medici und ihrer ganzen Zeit; denn aus ihren CäsarenKöpfen sprechen Würde und Herablassung, Gedankenschwere und Empfindsamkeit, kalter Stolz und qualvolle Zerrissenheit. In den vier Gestalten, die paarweise zu Füßen der beiden Medicifürsten auf den Sarkophagen liegen, sahen viele die geheimste und tiefste Offenbarung der Kunst Michelangelos. Die Fülle der Deutungen, der religiösen, philosophischen, politischen und kulturhistorischen, ist kaum zu zählen. Es ist unmöglich, ihnen allen nachzugehen. Sicher jedoch ist, daß Michelangelo in diesen vier Plastiken den Tag und die Nacht
den Morgen und den Abend symbolisiert hat, und zwai in einer Form, deren tragischer Klang nur dem nachempfindenden Gefühl vernehmbar ist. Michelangelo klagt und trauert hier über das Leben und über den hoffnungslosen, raschen Lauf der Zeit. Zwischen Tag und Nacht, zwischen Geburt und Tod, zwischen dämmerndem Erwachen und schon traumverlorenem Versinken ist das Dasein ausgebreitet. Kaum erblüht es zur morgendlichen Schönheit seiner Glieder, da dämmert der Abend herauf und zieht die kraftvolle Fülle wieder hinab ins Dunkel der Nacht, ehe sie noch dazu kam, sich recht zu entfalten, bevor der Mensch überhaupt Gelegenheit hatte, sich zu erheben und die Unendlichkeit seiner Möglichkeiten zu entwickeln. Denn wie von einer lähmenden Kraft gehemmt, vermögen die vier Gestalten kaum über den Versuch hinauszukommen, sich aufzurichten, geschweige denn in ganzer Kraft und Größe aufzustehen, um der Welt all den Reichtum zu weisen, der dem Menschen als dem Ebenbilde Gottes eigen ist. So bleibt — und das ist das tragische Bekenntnis Michelangelos, das immer wieder in seiner Kunst und in seinen Gedichten zum Ausdruck kommt — die Nacht, das Dunkel und seine chaotische Fülle die eigentliche Sphäre menschlichen Seins, aus der man nicht entrinnen kann, so sehr man auch nach dem Licht streben mag.
Das „Jüngste Gericht" Als Michelangelo im Jahre 1512 die Decke der Sixtina vollendet hatte, zählte er 37 Jahre. Ein Menschenalter später bestieg er als Sechzigjähriger noch einmal das Malgerüst in der gleichen Kapelle. Papst Paul hatte ihn aus Florenz gerufen und ihm, obwohl es den Künstler in seine Bildhauerwerkstatt ?og, den Auftrag erteilt, an die Altarwand der Papstkapelle die Vision des „Jüngsten Gerichtes" zu bannen. Das göttliche Drama der Weltschöpfung und der Welterlösung, das Michelangelo in den Sixtinischen Deckenbildern bis zur Kreuzerhöhung gesteigert hatte, sollte in der Darstellung des Weltgerichts bis zum Ende der Tage geführt werden. Noch nie war auf abendländischem Boden ein gleiches Wagnis unternommen worden, noch nie hatte ein einzelner ein Werk von aleich riesenhaften Maßen in wenigen Jahren bewältigt. Da?
Bildwerk der Decke und die Altarfront der Sixtina wurden zusammen zu einem atemberaubenden Vorstoß ins Ewige. Wieder ging Michelangelo allein ans Werk, ohne jeden Gehilfen und Schüler. Fünfeinhalb Jahre rang er um die Komposition und die Einzelgestaltung dieser ungeheuren, schreckenerfüllten Schlußszene der Menschheitsgeschichte. Wir wissen, daß das „Jüngste Gericht" in einer Zeit entstand, als Michelangelo die „Divina Comedia" Dantes las und das „Inferno" ihn gewaltig erschütterte; in einer Zeit, in der er, von Todesahnungen gequält, wie ein Richter sein eigenes Leben auf Schuld und Sühne hin durchforschte. Die Gedanken, die ihn überkamen, waren ohne Trost, und so spiegeln sich in diesem Riesengemälde all die Stimmungen und Erkenntnisse, die ihn in jenen Jahren bestürzten. Nicht als gütiger Erlöser, sondern als zornbebender, unerbittlicher Richter steht Christus in dem ungeheuren Gewoge steigender, stürzender, ruhender, schwebender, seliger und verzweifelter Gestalten des Bildes. Ein zweiter Moses, gewaltig und mitleidlos in Statur und Bewegung, ein wahrhaft alttestamentlicher Gott, ein „rex tremendae majestatis" — so scheidet er Gerechte und Verdammte. Nackt und aller irdischen Beschönigung entkleidet, erwarten sie den Schuldspruch oder den Anruf der Engel, so wie Michelangelo sich selber in jener Zeit dem Gericht seines Gewissens unterwarf. Ist aber dieser Geist der Unerbittlichkeit, diese Darstellung Gottes als zornsprühenden Richters, Michelangelos letztes Wort? Was er nach dieser Titanenleistung noch schuf, belehrt uns, daß jenes Durchleiden des Weltgerichts nur ein Übergang war, ein Läuterungsprozeß oder im Sinne Goethes ein Bekenntnis, etwas, das ihn quälte und das er sich vom Herzen schrieb, um es zu überwinden. Wie fast alle seine Gestalten, die plastischen und die gemalten, die Grundhaltung seines Schaffens spiegeln: den Kampf des Willens mit der Last des Körpers, die Spannung zwischen Geist und Materie, das Gefesseltsein der Seele an die Trägheit der Masse — so ist vielleicht auch das „Jüngste Gericht" als Ganzes einer unter vielen Versuchen des Künstlers und Denkers Michelangelo, mit der Last dieses Lebens fertig zu werden.
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Liebe und Freundschaft Qualvoll und schmerzlich wie um die Gestalten und Themen seiner Kunst rang Michelangelo um die Liebe, die seine Seele begehrte. Er war einsam sein Leben lang, und vielen erschien er unnahbar wie ein Gletschergipfel; nur wenige ahnten die Glut, die ihn verbrannte, die marternde Sehnsucht nach Händen, die ihn hielten und ihn durch die Nacht der Irrungen geleiteten. Wie ein Orkan riß ihn die Suche nach Freunden und Vertrauten hin und her zwischen demutvoller, angstvoller Hingabe und enttäuschter, mißtrauischer, manchmal hassender Abneigung. Erfüllung war ihm versagt. Wie ein neidischer, mißgünstiger Gott hetzte ihn das Leben ruhelos durch die Gärten der Schönheit, die auf Erden erblühen, zeigte ihm die berauschenden Farben der Blumen und jagte ihn weiter, ohne ihm Rast an den ruhevollen, erquickenden Quellen zu gewähren. Selten nur erfährt er das Glück einer Freundschaft. Dann aber ist sein Fühlen nicht mehr mit den Maßen des Irdischen zu messen. Es ist so zart, so hoch gestimmt, so mit den Obertönen des Herzens spielend, daß kein Ohr es ganz auszuschöpfen und zu deuten vermag. Da ist er ein Spätgeborener der griechischen Antike, ein Geistesgefährte Piatons und Sokrates'. Einer, der den alten Göttern Hellas' nahe ist, hat hier noch einmal die Brücke zwischen Geist und Körper geschlagen. Im Körperlichen wird das Prinzip zur Gestalt, der Gedanke zur Anschauung. Die schöne Form erscheint ihm als das Gefäß der gottverwandten Seele. So malt er in seinen . Bildern die anmutigen Jünglinge seiner toskanischen Heimat, die prächtigen Frauengestalten des italienischen Volkes, und er zeichnet sie so, wie sie aus Gottes Hand kommen, in der Reinheit und sündenlosen Gelöstheit des Paradieses. Welch wahrhaft tragischer Zwiespalt: der häßliche, verkrümmte, verspottete, gemiedene Künstler, der in der Schönheit das Maß der Dinge und das Zeichen der Gottheit erblickt! Dieses Schicksal hat Michelangelo durch das Dunkel seiner Jahre getragen, bis die weise, entsagungsvolle Erkenntnis des Alters den Zwiespalt milderte und ihn die Hand einer Frau zu der aufatmenden Ruhe einer fast gotischen Frömmigkeit führte. Michelangelo war über sechzig Jahre, Vittoria Colonna fünfzig, als sich ihre Wege begegneten. Vittoria, die Witwe des 7ß
Marchese dt Pescara, galt als die bedeutendste Frau Italiens, erfüllt von dem Universalwissen der Renaissance, eine feine Kennerin der griechisch-römischen Antike, dabei tief religiös im Sinne der christlichen Kirche. Sie löste den Konflikt seines Glaubenskampfes, der, einst von den gewaltigen Bußpredigten des Florentiner Mönches Savonarola erregt, nie mehr zur Ruhe gekommen war. Nun trafen gleiche Gedanken zum zweitenmal sein Ohr. Wenn er im Freundeskreis oder allein mit der verehrten Frau auf der Steinbank vor der Efeuwand des Klosters San Silvestro auf dem Monte Cavallo saß, hoch über den Häusern und Palästen der Ewigen Stadt, dann hörte er ergriffen die Worte von der Eitelkeit der äußeren Dinge und von der Verachtung des Irdischen. Sie zerschlugen das Bild der Welt, das er sich mühsam errichtet hatte, machten den tröstlichen Stolz auf Werk und Ruhm zunichte. Aus den Trümmern erstand ein Neues: die Harmonie und Einfalt des Glaubens an die Erlösung in der Ewigkeit. Vittoria Colonna leitete die Kunst des Meisters ganz in den mächtigen Fluß der Lobpreisung Gottes. Als sie 1547 starb, klagte der Einsame in schmerzdurchtobten, düsteren Sonetten um die dahingegangene Freundin. Nun blieb nur noch der Tod und die Auferstehung in einem Licht, das alles Dunkel löscht und alles Leid verklärt; auch die Kunst, auch Farbe und Marmor konnten nicht mehr ausgleichender Trost sein. Nun stillt nicht Malen und nicht Meißeln mehr Die Seele, Liebe sucht sie nur bei Gott, Der uns vom Kreuz die offnen Arme beut. (Sonett von Michelangelot Zwar greift er noch einmal zum Meißel, aber das letzte nahezu vollendete Werk, die Pietä von Florenz, ist nicht mehr die Anbetung der Schönheit, der Kraft, des Willens, nicht mehr trotziges Suchen nach dem Weg, sondern Erkenntnis des Leides der ganzen Menschheit, die tiefe Trauer um das Verhängnis und die Nichtigkeit des irdischen Daseins. Es gibt nur eins: den Tod, in den alles Leben mündet. In wissendem Erbarmen beugt sich Josef von Arimathea — dem Michelangelo seine eigenen Züge gab — über den Leichnam des Gottessohnes, der di«? Sünde der Welt auf sich nahm. it
Di« Pietä (Grablegung) von Flöten» 11
Die Kuppel von St. Peter In jenen Jahren, da Michelangelo dem Tode näher ist als dem Leben, ais seine Greisenaugen bereits in die Ferne der Ewigkeit blicken, lädt er sich wie ein Kreuz die Last des Neubaues von St. Peter auf die leidgebeugten Schultern. Es ist bezeichnend für die Seelenstimmung des Gealterten, daß er die Leitung an diesem gewaltigsten Bauwerk der Christenheit „um Gottes Willen und ohne jedweden Lohn" übernimmt. Wie ein Anruf Gottes ist ihm der Auftrag. Seine Widersacher nennen es Wahnsinn, den „kindischen Alten", „einen Narren", einen „ausgezehrten Greis" mit dem gigantischen Erbe Bramantes zu betrauen. Aber wie hat dieser „Narr", dieser „wortkarge Alte" all die Hasser, Neider und Mißtrauischen Lügen gestraft! Mit welchem Ungestüm warf er sich in die Arbeit, sobald er die Stümper, die die ursprünglichen Dompläne verfälscht hatten, mit erbittertem Spott aus den Bauhütten gejagt. Rücksichtslos riß er ein, was kleinliche Geister seit mehr als dreißig Jahren, seit Bramantes Tod, dem Bauwerk angetan. Und dann entwirft er in seiner Werkstatt am Macel de' Corvi in nächtelanger Arbeit neue kühnere, himmelstürmende Pläne, um auf das bereits Gebaute, auf die hochgeführten Pfeiler, Mauern und Bögen siebzig Meter hoch seine Kuppel zu türmen, das architektonische Wunder von St. Peter. Im Wettlauf mit dem Tode treibt er das Werk voran, das sich wie der Bogen des Friedens über sein eigenes Leben spannen soll. Täglich kommt der Greis von seiner weitentfernten Behausung herüber in die Domhalien, anfeuernd steht er unter den Maurern und Steinmetzen, grollend, drohend, beschwörend unter den Lieferanten, Verwaltern, Bauunternehmern und Geldleuten, die die Arbeit hinhalten, um möglichst lange daran zu verdienen. Auf dem Maultier reitet er die Holzrampe hinauf bis in die Scheitelhöhe der Riesenbögen oder läßt sich mit dem Tragstuhl auf die Hochwände der Schiffe hinauftragen, um an Ort und Stelle den Baufortschritt an seinen Ideen zu messen. Nie wird er die Kuppel in ihrer Vollendung sehen: Michelangelo weiß das; zu gewaltig ist sie gedacht, als daß sie in der Frist der ihm gebliebenen Jahre geschlossen werden könnte. Aber in se'nen. schlaflosen Nächten steht der Riesenbau vor seiner Seele, schwebend über dem Steingebirge der Domschiffe, Gottbekenntnis seines Christenglaubens, Krone über der Grabkirche des Apostelfürsten. Je mehr Michelangelo sich seinem Ende nahe28
Blick von den Vatikanischen Gärten aut die Peteiskirdie und die Kuppel Michelangelos, die 12? m hoch aufragt. fühlt, um so eifervoller legt er in Rissen, Modellen, schriftlichen Erläuterungen, gleichsam wie eine letzte Willenserklärung, die weiteren Baustufen für die Titanenkuppel fest, so folgerichtig, daß keiner seiner Nachfolger das Begonnene jemals verfälschen kann. Und wirklich, die Späteren haben nur den vorgezeichneteo 19
Spuren zu folgen brauchen; es wäre auch keiner unter ihnen gewesen, der das technische Wagnis einer Abweichung hätte auf sich nehmen können. So erhebt sich heute die MichelangeloKuppel in klassischer Erhabenheit über die Ewige Stadt und „bietet von außen vielleicht die schönste und einfachste Umrißlinie dar, welche die Baukunst je erreicht hat" (Jakob Burkhardt).
Im
Urteil der Zeiten
Fast 90 Jahre alt ist Michelangelo geworden. Was er in der Jugend sehnsüchtig erstrebte, als größter Künstler seiner Zeit anerkannt zu sein, das war ihm im Alter immer mehr zur lästig-mühseligen Plage geworden. Nichts wagte man zu planen und zu unternehmen, ohne vorher sein Urteil eingeholt zu haben. So oft sich auch die Einstellung zu ihm im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat — niemand hat je versucht, seine ragende Größe anzuzweifeln oder zu mindern. Selbst Goethe, der sich weit mehr von Raffael als von Michelangelo angezogen fühlte, mußte beim Anblick seiner Werke bekennen, daß ihm „nicht einmal mehr die Natur schmeckte", da er sie doch nicht „mit so großen Augen wie er" sehen konnte. Am besten charakterisiert ihn wohl ein Wort von Philipp Otto Runge, dem großen Maler der deutschen Romantik: „Seine Arbeiten sind wie Gesichte der Propheten: es ist nie gelungen, ihn irgendeiner Ordnung oder Schule beizustellen." Dieses Urteil aus der Zeit vor 150 Jahren stimmt im wesentlichen mit dem der heutigen Kunstwissenschaft überein. Es scheint in der Tat unmöglich, einen so überragenden Geist wie Michelangelo auf die Stilprinzipien einer einzigen Kunstepoche festzulegen, ihn etwa als Vollender der Renaissance oder als Vorläufer des Barock zu bezeichnen. So einsam wie sein Leben, so allein und gewaltig steht sein Werk in der Reihe der kunstgeschichtlichen Epochen: es ist im wahrsten Sinne zeitenlos. Bis zum Tode hat Michelangelo mit sich und der Welt, mit Gott und seinem Werk gerungen. Bis zum letzten Atemzuge war er einer der großen Unvollendeten der Menschheit, einer, der niemals fertig war, der immer noch eine Steigerung kannte und sich wundstieß an den Schranken des Erreichbaren. Und eben deshalb hat er im Rahmen menschlicher Grenzen und Unzulänglichkeiten Vollendetes geschaffen
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Lebensdaten und Hauptwerke Michelangelos Eigentlicher Name: Michelagniolo di Ludovio di Lionardo flt Buonarotti Simono 6. 3. 1475 geb. in Caprese aus florent. Familie. 1488—94 Erste Florentiner Zeit: Schüler Ghirlandajos (1488), in der Kunstschule von San Marco (ab 1489), in dieser Zeit Erlebnis Savonarolas, Frühwerke: Madonna an der Treppe (1484), Kentaurenkampf (1494). 1494—96 Flucht vor den politischen Wirren in Florenz: Arbeiten in Vendig und Bologna, u. a. Leuchterengel (1595). 1496—1501 Erste römisdie Zeit; u. a. Pietä von St. Peter (1498—1501). 1501—05 Zweite Florentiner Zeit: David (ab 1501), Brügger Madonna mit dem Kind (1503), Rundbild d. Hl. Familie, einziges Tafelbild M's (1503), zwei Reliefs Madonna mit dem Jesus- und Johannesknaben (ab 1503), Karton der badenden Soldaten (im Wettstreit mit Leonardo, 1504). 1505—17 Zweite römisdie Zelt: Juliusgrab (ab 1505), Decke der Sixtina (1508—12), Moses (ab 1513), Gefesselter und Sterbender Sklave (1513), Christus (ab 1519). 1517—34 Dritte Florentiner Zeit: Mediceer-Grab (ab 1520), Medici-Grabkapelle an San Lorenco (ab 1520), Vorhalle zur Laurenzian. Bibliothek (ab 1523), Apoll (1530), Festungsbauwerke von Florenz. 1534—64 Dritte römische Zeit: Jüngstes Gericht (1536—41), Freundschaft mit Vittoria Colonna (1538—47), Paläste des Kapitolplatzes und Ausbau d. Palazzo Farnese (ab 1541), Fresko Pauli-Bekehrung (ab 1542), Fresko Petri Kreuzigung (ab 1546), Oberster Bauleiter v. St. Petri und Bau der Kuppel (ab 1547). Grablegung von Florenz (ab 1550), Pietä Rondanini (ab 1555), Torbau der Porta Pia (ab 1561). t8. 2. 1564 Tod in Rom, Grab in Santa Croce zu Florenz neben dem Grabe Dantes. 1588—90 Vollendung der Peterskuppel nach M's Plänen. 1623 Erste Veröffentlichung der Dichtungen M's.
Diesen Lesebogen schrieb Dr. Hans Schwalbe benutzte Literatur: Die Michelangelo-Biographien von Giorgio Vasari, Hermann Grimm, Hans Mackowsky, Anton Springer und Henry Thode.
LUX-LESEBOGEN Nr. 58 / Heftpreis 20 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte. Verlag Sebastian Lux, Murnau-München. Bestellungen (Vierteljährlich 6 Hefte zu DM 1,20) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. Druck; Buchdrucker«! Hans Holiraaan Bad Wfiilthofen 11 Signature Not Verified
Manni
Digitally signed by Manni DN: cn=Manni, c=US Date: 2006.05.11 17:11:12 +01'00'