William Tenn
Mögliche Welten
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William Tenn
Mögliche Welten
HEYNE-BUCH im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe OF ALL POSSIBLE WORLDS Deutsche Übersetzung von Heinz Nagel 2. Auflage Redaktion und Lektorat: Günter M. Schelwokat Copyright © 1955 by William Tenn Copyright © 1973 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1973 Umschlagentwurf: Atelier Frank & Zaugg, Wabern/BE, Schweiz Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg ISBN 3 -453-50210-9
Scan & K-Lesen: WS64 INHALT
Der Bewahrer (THE CUSTODIAN)
Die neuen Mieter (THE TENANTS)
Die Befreiung der Erde (THE LIBERATION OF EARTH)
Unter Toten (DOWN AMONG THE DEAD MEN)
Der Flirgelflipper (FLIRGLEFLIP)
Alle Welt liebt Irving Bommer (EVERYBODY LOVES IRVING BOMMER)
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Der Bewahrer
9. Mai 2190 – ich habe es geschafft! Beinahe wäre es schief gegangen, aber zum Glück bin ich eine sehr argwöhnische Natur. Beinahe hätte man mir meinen Triumph, meine Erfüllung gestoh len. Aber ich war für sie zu raffiniert. Und demzufolge kann ich jetzt mit Vergnügen in diesem meinem Letzten Willen, feststel len, daß jetzt das letzte Jahr meines Lebens beginnt. Nein, ich will es genauer ausdrücken: Dieses letzte Jahr meines Lebens, das Jahr, das ich in einem offenen Grab verbringen wer de, begann in Wirklichkeit heute mittag. Und dann habe ich zum drittenmal im zweiten Untergeschoß des Museums der modernen Astronautik ein Meßgerät befragt und eine völlig negative Reak tion erhalten. Das hieß, daß ich, Fiyatil, das letzte lebende menschliche We sen auf der Erde war. Was mußte ich mich doch mühen, um mir diesen Vorrang zu erarbeiten. Aber jetzt, da alles vorüber ist, bin ich meiner Sache ziemlich sicher. Trotzdem werde ich in der nächsten Woche jeden Tag einmal hinuntergehen und das Anthropometer überprüfen. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ich ein positives Er gebnis ablesen werde. Ich habe meinen absolut letzten und end gültigen Kampf mit den Kräften der Rechtschaffenheit geführt – und gewonnen. Im sicheren, unbestrittenen Besitz meines Sar ges bleibt mir jetzt nichts übrig, als mich zu vergnügen. Und das sollte nicht zu schwierig sein. Schließlich habe ich mich seit Jahren darauf vorbereitet! Trotzdem mußte ich unwillkürlich an die anderen denken, als ich meinen blauen Berrillitanzug ablegte und nach oben ins helle Sonnenlicht kletterte. Gruzeman, Prejaut, und vielleicht sogar Mo-Diki. Sie wären jetzt auch hier gewesen, wenn sie eine Spur weniger akademischen Eifer und eine Spur mehr intelligenten Realismus besessen hätten. In gewisser Weise war es schade. Und doch macht es meine Wache um so feierlicher, um so ruhmreicher. Als ich auf der Marmorbank zwischen Rozinskis heroischen Statuen des Raum
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fahrerpaares Platz nahm, zuckte ich die Achseln und schob die Erinnerung an Gruzeman, Prejaut und Mo-Diki von mir. Sie hatten versagt. Ich nicht. Ich lehnte mich zurück und entspannte mich zum erstenmal seit mehr als einem Monat. Meine Augen schweiften über die riesigen Bronzestatuen, die über mir aufragten, zwei Werke der Bildhauerkunst, die geradezu schmerzhaft nach den Sternen lechzten. Ich mußte lachen. Zum erstenmal wurde mir die abso lute Ironie meines Verstecks klar – man stelle sich vor: Das Mu seum der modernen Astronautik. Die unglaubliche Nervenspan nung, die andauernde Angst der letzten fünf Tage ließen aus dem Lächeln ein Kichern und schließlich ein schallendes Lachen werden, das einfach nicht mehr aufhören wollte. Sämtliche Hir sche und Rehe aus dem Museumspark kamen gerannt und stell ten sich vor die Marmorbank, wo Fiyatil, der letzte Mensch auf der Erde, über seine Leistung lachte. Ich weiß nicht, wie lange der Anfall angehalten hätte, aber eine Wolke schob sich vor die Sonne. Es stoppte mich. Ich hörte zu lachen auf, als wäre eine Verbin dung gelöst worden, und blickte nach oben. Die Wolke zog weiter und die Sonne schien so warm wie zuvor auf mich herab. Dennoch schauderte ich. Zwei trächtige junge Rehe kamen etwas näher und sahen mir zu, wie ich meinen Nacken massierte. Ich hatte ihn mir beim La chen verrenkt. »So meine Lieben«, sagte ich, »es scheint, daß wir mitten im Leben wahrlich mitten im Tode stehen.« 11. Mai 2190 – die letzten beiden Tage verbrachte ich damit, mich und meine Vorräte etwas zu organisieren und Pläne für die unmittelbare Zukunft zu machen. Ein Leben in ernster Vorberei tung auf die Pflichten eines Bewahrerlebens zu verbringen, ist eine Sache. Plötzlich festzustellen, daß man selbst der Bewahrer geworden ist, das letzte Mitglied seiner Sekte und gleichzeitig der ganzen Rasse – und dennoch in eigenartiger Weise die Erfül lung beider –, ist eine völlig andere Sache. Ich ertappte mich
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immer wieder dabei, wie mich geradezu wahnsinniger Stolz er füllte. Und kurz darauf spüre ich die ganze Last der geradezu majestätischen Verantwortung, die auf mir lastet. Nahrung wird kein Problem sein. In der Vorratskammer dieses Instituts gibt es genügend Konserven, um einen Mann wie mich zehn Jahre am Leben zu erhalten. Und wohin auch immer ich auf dem Planeten gehe, vom Museum der buddhistischen Antiquitä ten in Tibet bis zum Panorama der politischen Geschichte in Se wastopol, werde ich ähnlich reiche Vorräte vorfinden. Natürlich sind Konserven eben nur Konserven: Das, was irgend jemand für ein brauchbares Essen hält. Jetzt, da der letzte Be stätiger dahingegangen ist und seine verdammte Sparsamkeit mit sich genommen hat, ist es nicht mehr nötig, daß ich den Heuchler spiele. Ich kann ganz in Luxus schwelgen und meine Zunge mit kulinarischen Köstlichkeiten delektieren. Unglückli cherweise bin ich unter der Herrschaft der Bestätiger zum Manne herangewachsen, und die Heuchelei, die ich mir in sechzig spar samen Jahren angewöhnt habe, ist ein dauernder Bestandteil meines Charakters geworden. Ich bezweifle daher, daß ich mir irgendwelche frische Nahrung nach den alten Rezepten zuberei ten werde. Außerdem würde frische Nahrung den Tod von Geschöpfen voraussetzen, die jetzt am Leben sind und Vergnügen an ihrem Leben finden. Unter den gegebenen Umständen scheint das et was albern… Ich brauchte auch keine der automatischen Wäschereien einz u schalten. Und dennoch habe ich es getan. Warum die Kleider reinigen, fragte ich mich, wo ich doch einen schmutzigen Um hang wegwerfen und ein neu hergestelltes Kleidungs stück anle gen kann, das noch die Erinnerung der Maschinenmatrize in sich trägt, die es geschaffen hat? Meine Gewohnheit sprach sich dagegen aus. Die Konzeption des Bewahrers macht es mir unmöglich, das zu tun, was ein Be stätiger in meiner Lage als das Einfachste empfinden würde: Ir gendwo den Umhang einfach wegwerfen und ihn liegenlassen. Andererseits ist ein großer Teil der Lehren der Bestätiger, die
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mein bewußter Verstand jahrzehntelang abgelehnt hat, zu mei nem großen Leidwesen gleichsam durch Osmose in mein Unter bewußtsein eingedrungen. Die Vorstellung, bewußt etwas so Funktionelles, wenn auch relativ Unästhetisches zu zerstören wie einen schmutzigen Umhang, männlich, warme Jahreszeit, Bestä tigerschiffsklassifizierungsnummer 2.352.558.3, ekelt mich an. Wieder und wieder rede ich mir ein, daß die Schiffsklassifizie rungsnummern jetzt nichts für mich bedeuten. Weniger als nichts. Sie sind genauso sinnlos wie Frachtmarkierungen am Tag nach Noahs Abreise für die Ladearbeiter auf der Arche waren. Und doch setze ich mich in einen einsitzigen Flugball, um den Museumspark zu durchwandern und irgend etwas in mir sagt: Nr. 58.184.72. Ich nehme eine Gabel voll Eiweißkonzentrat zu mir und stelle fest, daß ich die Klassifizierungsnummer 15.762.94 bis 15.763.01 kaue. Ich erinnere mich sogar daran, daß diese Nahrung zu einer Kategorie gehört, die erst am Ende an Bord gebracht werden darf, erst wenn der Vertreter des Über lebensministeriurns sein Kommando an den Vertreter des Rei seministeriums übergeben hat. Im Augenblick gibt es auf der Erde keinen einzigen Bestätiger. Zusammen mit ihren verdammten Regierungsbüros – darunter auch jenen, in dem alle Leute, die sich zum Bewahrertum be kannten, registriert werden mußten, dem Ministerium für Anti quitäten und sinnlose Relikte – sind sie jetzt über hundert oder mehr Planetensysteme in der Milchstraße verstreut. Sie sind so tüchtig diese Bestätiger, so schrecklich erfolg reich und effizient. Als Kind hatte ich einmal meinem geschwätzigen Freund Ru-Sat anvertraut, daß ich begonnen hatte, in meinen Mußestunden auf Leinwand zu malen. Unmit telbar darauf hatten meine Eltern gemeinsam mit meinem Freizeitberater mich frei willig zu der »Sonderarbeit für besonderes Überleben«-Gruppe gemeldet, wo man mir den Auftrag gab, Nummern und Symbole auf Packstücke zu malen. »Nicht das Vergnügen, sondern Be harrlichkeit wird die menschliche Rasse erhalten«, mußte ich aus dem Katechismus der Bestätiger wiederholen und zwar jedes mal, ehe ich mich zum Essen setzen durfte.
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Später natürlich war ich alt genug, meine Gewissensent scheidungen selbst zu treffen und mich als Bewahrer registrie ren zu lassen. »Bitte«, sagte mein Vater mit halberstickter Stimme, als ich es ihm mitteilte, »komm nicht mehr zu uns. Belästige uns nicht. Ich spreche für die ganze Familie, Fiyatil, und das schließt deine Verwandten mütterlicherseits ein. Du hast dich ent schlo ssen, ein Toter zu sein, das ist deine Angelegenheit. Vergiß einfach, daß du je Eltern und Verwandte hattest – und laß uns vergessen, daß wir einen Sohn hatten.« Das bedeutete, daß ich mich von den ganzen lästigen Überle bensarbeiten freimachen konnte und doppelt soviel Arbeit für die Mikrofilmteams leisten konnte, die von Museum zu Museum, von einer archäologischen Fundstelle zur anderen und von einer Wo l kenkratzerstadt zur nächsten reisten. Aber es gab immer noch die periodischen Examina, die zwar für Bewahrer keinen beso n deren Reiz hatten, die wir aber dennoch als Geste gegenüber der Gesellschaft ablegten, die es uns gestattete, nach unserem Ge wissen selig zu werden. Examina, die es erforderten, daß wir beispielsweise ein Band mit dem Titel Religiöse Dekoration in den Tempeln des Oberen Nil beiseite legten und dafür den lang weiligen Schmöker mit der Aufschrift Schiffsklassifizierungsma nual und Ladungsstauanweisung zur Hand nahmen. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, einmal Künstler zu werden, aber diese häßlichen kleinen Kodebezeichnungen stahlen mir Zeit, die ich darauf verwenden wollte, das Werk von Männern zu betrachten, die in weniger fanatischen und weniger hektischen Jahrhunder ten gelebt hatten. Und sie tun es immer noch! Die Macht der Gewohnheit ist so stark, daß ich mich selbst jetzt noch, da ich keine Fragen über Lebensmitteltrocknung mehr zu beantworten brauche, dabei er tappe, wie ich in Gedanken die Logarithmentafel abfrage, um zu ermitteln, wo eine Substanz unterzubringen ist, sobald man ihr das Wasser entzogen hat. Es ist schrecklich frustrierend, im Schlamm eines Erziehungssystems zu stecken, von dem ich mich völlig abgewandt hatte! Natürlich helfen mir die Studien, mit denen ich mich im Augen blick befasse, auch nicht sonderlich. Dennoch ist es sehr richtig
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für mich, aus den elementaren Nachschlagewerken des Museums zum Beispiel genügend Informationen zu sammeln, um sicherz u stellen, daß ein Versagen meines Flugballs über einem Dschun gelgebiet mich nicht in Gefahr bringt. Ich in kein Techniker, kein Mechaniker. Statt dessen muß ich lernen, wie man gut funktio nierende Gerätschaften aussucht und sie so bedient, daß die empfindlichen Teile nicht beschädigt werden. Diese Beschäftigung mit der Technik irritiert mich. Draußen winken Kunstschätze aus siebzigtausend Jahren – und der sitze ich und lerne langweilige Einzelheiten über die Anriebsaggregate von Arbeitsrobotern auswendig, starre gebannt die Blaupausen der Antigravschrauben eines Flu gballes an und verhalte mich für jeden Außenstehenden wie ein Capitän der Bestätiger, der sich darum bemüht, eine Belobigung vom Reiseministerium zu erhal ten, ehe er startet. Und dennoch ist es genau diese Haltung, die dafür ver antwortlich ist, daß ich jetzt hier bin, anstatt mürrisch und nie dergeschlagen mit Mo -Diki, Gruzeman und Prejaut auf einem Forschungsschiff der Bestätiger zu sitzen. Während sie sich ihrer Freiheit erfreuten, begab ich mich zum Museum der modernen Astronautik und lernte, wie man ein Anthropometer bedient und wie man das Berrillit aktiviert. Ich bedauerte es, so viel Zeit ver schwenden zu müssen, aber ich vergaß auch nicht, wie wichtig für einen Bestätiger, insbesondere einen modernen, der Begriff von der Heiligkeit des menschlichen Lebens ist. Einmal hatten sie uns überlistet; sie würden bestimmt zurückkommen, um sich zu vergewissern, daß kein Bewahrer zurückgeblieben war, der sich seiner Erfüllung erfreute. Ich hatte damals recht und ich weiß auch, daß ich jetzt recht habe – aber es ist so langweilig, nur Nützliches zu tun! Weil wir gerade vom Anthropometer sprechen – vor zwei Stun den bekam ich einen häßlichen Schock. Der Alarm ertönte – und verstummte. Ich rannte hinunter und schüttelte dabei den Berril litanzug aus in der Hoffnung, beim zweiten Versuch, ihn anz ule gen, nicht in die Luft zu fliegen. Als ich zur Maschine kam, hatte sie aufgehört zu heulen. Ich
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drehte die Skala bestimmt zehnmal nach allen Richtungen, aber da kam keine Reaktion. Demzufolge bewegte sich, wenn man dem Anthropometerhandbuch Glauben schenken dürfte, nichts Menschliches im ganzen Sonnensystem. Ich hatte die Maschine elektrozephalographisch auf mich abgestimmt, so daß ich den Alarm nicht auslösen konnte. Und dennoch hatte es einen Alarm gegeben, was ganz unzweifelhaft die Anwesenheit eines anderen Menschen anzeigte, gleichgültig wie kurz das auch gewesen sein mochte. Das hatte mich sehr erstaunt. Mein Schluß ist, daß irgendeine atmosphärische Störung oder vielleicht ein schadhafter Kontakt in dem Gerät die Maschine ausgelöst hat. Oder ich hatte vor ein paar Tagen in meiner über schäumenden Freude, endlich allein zu sein, das Gerät irgendwie beschädigt. Ich habe selbst mit angehört, wie das Forschungsschiff der Be stätiger die Nachricht von der Festnahme meiner Kollegen sei nem Mutterschiff draußen außerhalb der Kreisbahn des Pluto mitteilte: Ich weiß also, daß ich der letzte Überlebende auf der Erde bin. Außerdem, wenn noch irgendwelche Bestätiger zurückge blieben und damit der Grund für den Alarm gewesen wären, so hätte ihr eigenes Anthropometer gleichzeitig mich ent deckt. Schließlich war ich ja ohne den isolierenden Schutz eines Berrilli tanzuges herumgelaufen. Im nächsten Augenblick wäre das Mu seum von Flugbällen umgeben gewesen, und man hätte mich sofort festgenommen. Nein, ich kann einfach nicht glauben, daß ich von den Be stätigern noch etwas zu befürchten habe. Ihre Rückkehr in letz ter Minute hat sie befriedigt, da bin ich ganz sicher. Ihre Doktrin würde darüberhinaus auch weitere Expeditionen verbieten, da sie damit ja ihr eigenes Leben riskieren müßten. Schließlich sind nur noch dreihundertdreiundsechzig Tage übrig – allerhöchstens – ehe die Sonne zur Nova wird. 15. Mai 2190 – ich bin zutiefst beunruhigt. Offengestanden ha be ich sogar Angst. Und das Schlimmste ist, daß ich nicht weiß, wovor ich Angst habe. Ich kann jetzt bloß warten.
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Gestern habe ich das Museum der modernen Astronautik ver lassen, um eine vorläufige Weltreise zu machen. Ich hatte vor gehabt, zwei oder drei Wochen in meinem Flugball herumzurei sen und dann zu entscheiden, wo ich den Rest des Jahres ver bringen wollte. Mein erster Fehler war die Wahl meines ersten Ziels. Italien. Wäre mein kleines Problem nicht plötzlich aufgetaucht, hätte ich möglicherweise elf Monate dort verbracht, ehe ich die vorläufige Suche fortsetzte. Das Mittelmeer ist eine sehr gefährliche Was serfläche für einen, der erkannt hat, daß seine eigenen Talente nicht ausreichen, und der daher beschlossen hat, seine Zeit da mit zu verbringen, die Meisterwerke zu bewundern, die andere, begabtere Individuen der Menschheit geschenkt haben. Zuerst begab ich mich nach Ferrara, da die sumpfige Ebene außerhalb der Stadt ein bedeutender Startplatz der Bestätiger gewesen war. Ich verbrachte einige Zeit in einem meiner Lieb lingsgebäude, dem Palazzo di Diamanti, und schüttelte ver ständnislos den Kopf, als ich wieder einmal die schweren Bau steine sah, aus denen es gebaut ist, und die wie riesenhafte Ju welen geschnitten und facettiert sind. Für mich ist die Stadt selbst ein Juwel, heute vielleicht etwas abgestumpft, das aber in den Tagen der Este in geradezu unglaublichem Glanz erstrahlte. Eine kleine Stadt, ein winziger arroganter Hof – ich hatte sie mit großem Vergnügen gegen die zwei Milliarden sturer Bestätiger eingetauscht. Sechzig Jahre beinahe unangefochtener politischer Kontrolle – und doch hatte ein ganzer Planet voll Bestätiger kei nen einzigen Menschen hervorgebracht, der einem Tasso oder einem Ariosto ebenbürtig gewesen wäre! Und dann wurde mir klar, daß wenigstens ein Eingeborener Ferraras sich in der Welt, die mich gerade verlassen hatte, wohl gefühlt hätte, ihr letzter Romantiker nämlich. Ich erinnerte mich, daß Savonarola in Fer rara zur Welt gekommen war… Auch die ebene Fläche außerhalb Ferraras erinnerte mich an den Dominikaner. Der Stadtplan, der sich ein paar Meilen weit erstreckte, war mit genügend Habseligkeiten, die im letzten Au genblick aufgegeben worden waren, bestreut, um einen riesigen Scheiterhaufen der Eitelkeit daraus zu machen.
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Aber was für armselige Dinge es doch waren! Hier ein Rechen schieber, den irgendein Schiffskommandant vor dem Start hatte hinauswerfen lassen, weil man bei der letzten In spektion festge stellt hatte, daß er über die maximale Zahl der Rechenschieber hinausging, die nach dem Schiffsklassifizierungsmanual für ein Schiff dieser Größe nötig war. Dort eine vervielfältigte Sammlung von Ladelisten, die man aus der Luftschleuse geworfen hatte, nachdem man der Anweisung entsprechend jeden Gegenstand darauf abgehakt hatte – ein Haken, den das Überlebensministe rium angebracht hatte, und ein Haken, den das Reiseministerium angebracht hatte. Schmutzige Kleider, leere Treibstofftanks, leere Konserven dosen lagen auf dem feuchten Boden. Alles höchst funktionelle Artikel, die irgendwie im Laufe der Zeit gegen die Funktion ge sündigt hatten – und nicht mehr benötigt wurden. Und überra schenderweise gelegentlich sogar eine Puppe, natürlich nicht sehr wie eine Puppe aussehend, aber immerhin auch nicht wie ein Gegenstand aussehend, der einen objektiven Zweck erfüllte. Wie ich mir so den jämmerlichen Schutt ansah, der so selten mit Sentimentalem durchsetzt war, fragte ich mich, wie viele Eltern vor Scham die Blicke gesenkt hatten, als trotz ihrer sorgfältig wiederholten Ermahnungen und Warnungen bei der letzten Su che doch Dinge aus den Falten der Umhänge ihrer Kinder zum Vorschein gekommen waren, die man nur als altes Spielzeug bezeichnen konnte – oder noch schlimmer: als Erinnerungsstück. Ich konnte mich gut erinnern, was mein Freizeitberater vor langen Jahren über dieses Thema gesagt hatte. »Es ist nicht so, daß wir der Ansicht sind, daß Kinder kein Spielzeug haben sollen, Fiyatil; wir wollen bloß nicht, daß sie besondere Zuneigung zu bestimmten Spielsachen entwickeln. Unsere Rasse wird diesen Planeten verlassen, der seit Anfang aller Zeiten ihre Heimat war. Wir werden nur solche Geschöpfe und Gegenstände mit uns nehmen können, die man dazu benutzen kann, andere Geschöp fe und Gegenstände zu erzeugen, die wir nach unserer Landung zu unserem Lebensunterhalt benötigen. Und da wir in jedem Schiff nur eine beschränkte Last befördern können, werden wir aus den nützlichen Gegenständen jene auswählen müssen, die
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besonders wichtig sind. Wir werden nichts nur aus dem Grunde mitnehmen, weil es hübsch ist oder weil es vielen Leuten gefällt, oder weil viele Leu te glauben, es zu brauchen. Wir werden es nur mit- nehmen, weil es von allen denkbaren Gegenständen der geeignetste ist, um eine wichtige Funktion zu erfüllen. Deshalb komme ich etwa jeden Monat in dein Haus, um dein Zimmer zu inspizieren, um sicherzustellen, daß sich in deinen Schubladen nur neue Dinge befinden, daß du nicht in gefährlich sentimentale Angewohnhei ten verfällst, die nur zum Behütertum führen können. Du hast viel zu nette Eltern, um einer von denen zu werden.« Dennoch war ich einer von denen geworden. Der alte Tobletej hatte recht gehabt: Der erste Schritt auf der Straße zum Verder ben waren Schubladen voll mit alten Erinnerungsstücken gewe sen. Der Zweig, auf dem der erste Schmetterling gesessen hat te, den ich fing, das Netz, mit dem ich ihn gefangen hatte und der erste Schmetterling selbst. Das zusammengeknüllte Papier, das eine gewisse zwölfjährige Dame nach mir geworfen hatte. Ein abgewetztes altes Buch – ein echtes gedrucktes Buch, kein Faksimile, ein Buch, das den Kuß echter Typen gekannt hatte und nicht nur den heißen Atem der Elektronen. Das kleine Holz modell von Kapitän Karmas’ Sternenschiff, Man’s Hope, das ein alter Raumfahrer mir auf dem Mondlandefeld geschenkt hatte… Diese alten Schubladen! Wie sehr doch meine Eltern und Lehrer sich bemüht hatten, mir Ordnung beizubringen und gleichzeitig abgrundtiefen Haß auf Besitz jeder Art! Und hier saß ich nun und freute mich über meinen Besitz, der so viele Meisterwerke der Kunst umfaßte, wie kein Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und kein Großkhan jemals auch nur zu erträumen gewagt hatte. Wieder lachte ich und fing an, nach den Robotern des Start feldes zu suchen. Sie waren weit verstreut, beinahe unsichtbar im Abfall des Raumfeldes. Nachdem sie das Schiff beladen hat ten, waren sie einfach ziellos herumgewandert, bis sie versagt hatten. Ich aktivierte sie aufs neue und beauftragte sie, das Feld zu säubern. Das ist etwas, was ich auf jedem der etwa zweihundert Start
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felder der Erde tun werde und das ist auch der Hauptgrund, warum ich Robotik studiert habe. Ich möchte, daß die Erde so hübsch wie möglich aussieht, wenn sie stirbt. Ich könnte wohl nie ein Bestätiger werden, dachte ich. Dazu empfinde ich eine viel zu starke Zuneigung zu den Dingen, die ich kenne. Und in dieser Haltung konnte ich natürlich meine Reise nicht fortsetzen, ohne wenigstens im Vorbeigehen einen schnellen Blick auf Florenz zu werfen. Natürlich. Aber wie ich es eigentlich hätte erwarten müssen, berauschte ich mich an Öl, Marmor und Metall. Florenz war leer von Floren tinern, aber die grandiosen Galerien waren immer noch dort. Ich ging über den herrlichen Ponte Vecchio, die einzige der berühm ten Arnobrücken, die der Zerstörung des Zweiten Weltkriegs entging. Ich errichtete Giottos Campanile und begann, Verzweif lung zu empfinden. Ich rannte zur Kirche des Heiligen Kreuzes, um dort Giottos Fresken zu sehen und zum Sankt-MarkusKloster, um Frau Angelico zu bewundern. Was nützte mir ein Jahr? Was konnte ich selbst in einer einzigen Stadt wie dieser in bloßen zwölf Monaten sehen? Ich konnte vorbeirennen, aber was würde ich wirklich sehen können? Ich war in den Boboligärten und versuchte verzweifelt zu entscheiden, ob ich mir Michelange los David ansehen sollte, den ich schon einmal gesehen hatte, oder irgendeinen Donatello, den ich noch nicht gesehen hatte. Und da kam der Alarm. Die Alarme besser gesagt. Beide. Am Tag vor meiner Abreise, hatte ich mein kleines Anthropo meter montiert, das man ursprünglich entwickelt hatte, um ver lorenen Kolonisten in den Sümpfen der Venus zu fin den. Es ba sierte auf einer völlig anderen Konstruktion als die große Ma schine, die ich im Museum gefunden hatte. Da die Konstruktion völlig anders war und man das Gerät für den Gebrauch in einer völlig anderen Atmosphäre entworfen hatte, glaubte ich, daß die beiden Geräte sich wunderbar ergänzen würden. Ich stimmte also die Geräte auf die Frequenz meines Interkoms im Flugball ab und verließ das Museum im Vertrauen darauf, daß wirklich nur die Anwesenheit eines anderen Menschen die beiden Anthro
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pometer auslösen würde. Ich flog sehr verwirrt zum Museum zurück. Beide Geräte hatten in gleicher Weise reagiert. Der Alarm war ausgelöst worden und deutete damit an, daß plötzlich ein Mensch auf dem Planeten aufgetaucht war. Dann, als der auslösende Im puls verschwunden war, hatten beide Alarme wieder aufgehört. Egal, wie oft ich auch die Richtantennen der Geräte verdrehte, es gab nicht den leisesten Hinweis auf einen Menschen innerhalb ihrer Reichweite, die immerhin beinahe ein halbes Lichtjahr ausmachte. Zuerst war ich nur verwirrt, aber jetzt fange ich an, mich recht unwohl zu fühlen. Irgend etwas stimmt hier nicht auf der Erde – und ich meine damit nicht, daß die Sonne sich anschickt, im Lau fe des nächsten Jahres zu explodieren. Wahrscheinlich habe ich den blinden Glauben des Nichttechnikers für ein Gerät, das ich einfach nicht ganz begreife, aber ich glaube einfach nicht, daß die Anthropometer so reagieren dürften, sofern nicht irgend et was Abnormales geschieht. Es hat mir Freude gemacht, diesen Planeten wie einen Oze andampfer zu sehen, der sich anschickt zu sinken und mich selbst als den mutigen Kapitän, der entschlossen ist, mit seinem Schiff unterzugehen. Aber jetzt ist mir plötzlich, als begänne das Schiff sich wie ein Walfisch zu verhalten. Ich weiß, was ich tun muß. Ich werde Lebensmittelvorräte in die Gerätehalle schaffen und unter dem Anthropometer schlafen. Der Alarm dauert gewöhnlich ein oder zwei Minuten. Ich kann aufspringen, den Richtungsanzeiger betätigen und erfahren, aus welcher Richtung der Impuls kommt. Und dann springe ich in meinen Flugball und sehe nach. Das ist wirklich sehr einfach. Bloß gefällt es mir nicht. 17. Mai 2190 – ich schäme mich schrecklich, so wie sich ein al ter Mann, der im Friedhof Gespenster gesehen hat, schämen müßte. Das ist auch die einzige Entschuldigung, die ich für mich selbst finden kann. Vermutlich habe ich in letzter Zeit zu viel über den Tod nachgedacht. Das kommende Ende der Erde und des Sonnensystems; meinen Tod, der unvermeid bar damit ver
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bunden ist; den Tod von Millionen von Geschöpfen, von zahllo sen Gattungen, den Tod stolzer alter Städte, die der Mensch in Jahrhunderten errichtet und bewohnt hat… Nun, vielleicht ist die Beschäftigung mit Geistern, Tieren und anderen fremden Er scheinungen verständlich. Aber ich fing wirklich an, Angst zu be kommen. Als heute morgen erneut Alarm ausgelöst wurde, bekam ich ei ne Ortsangabe. Die Appalachenberge im östlichen Nordamerika. In dem Augenblick, als ich aus dem Flugball stieg und den blaßblauen Nebel in mich aufnahm, der die Höhlenmündung vor mir bedeckte, begann ich zu begreifen - und mich zu schämen. Durch den Nebel, der an einer Stelle dünner, an anderen Stellen dicker wurde, sah ich einige Körper auf dem Höhlenboden liegen. Natürlich mußte einer von ihnen gelebt haben, anders hätte das Anthropometer nicht reagieren können, als der Berrillitnebel dünn genug wurde, um die Anwesenheit eines menschlichen Gei stes meßbar zu machen. Ich ging zur anderen Seite der Höhle, fand aber keinen Aus gang. Also begab ich mich in dem Flugball zum Museum zurück und kam mit entsprechenden Geräten wieder. Ich deaktivierte den Berrillitnebel am Eingang und trat vorsichtig ein. Das Innere der Höhle, die man offenbar als bequemes Versteck ausgestattet hatte, war völlig ruiniert. Jemand hatte sich einen Aktivator und einen Vorrat von Berrillit verschafft, dem man noch keine bestimmte Form verliehen hatte und das daher etwa genauso stabil wie Sauerstoff und Wasserstoff war – sofern man einen Ausdruck aus der Chemie verwenden darf, um Begriffe aus der Kraftfeldtechnik zu schildern. Das Berrillit war als eine Art von Vorhang über die Höhlenmündung aktiviert worden und war sofort explodiert. Da der Aktivator immer noch funktionierte und der Eingang ziemlich schmal war, funktionierte es weiterhin als ein Vorhang von isolierender Negativkraft, ein Vorhang, der Lö cher hatte, durch die man gelegentlich die Ausstrahlungen der darin gefangenen Menschen mit dem Anthropometer auffangen konnte. In der Nähe des Eingangs lagen drei Leichen, zwei Männer und
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eine Frau. Alle wirkten ziemlich jung. Aus den Figuren an den Höhlenwänden konnte man leicht entnehmen, daß diese Leute einer der zahlreichen Bewahrersekten angehört hatten, wahr scheinlich dem Feuer-am-Himmel-Kult. Als die Bestätiger in der letzten Woche des Auszugs den Crohiikvertrag aufgekündigt und erklärt hatten, daß die Bestätigung des Lebens aufforderte, daß selbst jene, die nicht bejahten, vor sich selbst geschützt wurden, waren diese Leute offenbar in die Berge geflohen. Es war ihnen geglückt, bis zum. Start des letzten großen Schiffes verborgen zu bleiben. Dann hatten sie, von der gleichen Annahme wie ich ausgehend, nämlich, daß wenigstens ein Schiff zurückkehren würde, um ganz sicherzugehen, die Eigenschaften des Anthro pometers untersucht und festgestellt, daß es nur eine Isolierung dagegen gab, nämlich Berrillit. Unglücklicherweise hatten sie nicht gründlich genug nachgeforscht. Tief im Innern der Höhle krümmte sich eine Gestalt. Es war die junge Frau. Meine erste Reaktion war absolutes Erstaunen dar über, daß sie noch lebte. Die Explosion schien sie unterhalb der Hüfte völlig zerschmettert zu haben. Sie war von der Höhlen mündung ins Innere gekrochen, wo die Gruppe den Großteil ih rer Nahrungsmittel aufbewahrt hatte. Während ich noch überleg te, ob ich sie alleinlassen und aus einem benachbarten Kranken haus Medikamente und Blutplasma holen sollte oder das Risiko eingehen sollte, sie sofort abzutransportieren, wälzte sie sich auf den Rücken. Sie hatte ein etwa zwölf Monate altes Kind mit ihrem Körper geschützt, offenbar unsicher, ob das Berrillit erneut explodieren würde. Und irgendwie hatte sie trotz der bestimmt unerträgli chen Agonie das Kind gefüttert. Ich beugte mich hinunter und untersuchte das Baby. Der Junge war völlig verdreckt und mit dem Blut seiner Mutter bedeckt, sonst aber unverletzt. Ich hob ihn auf und nickte auf die Frage, die ich in den Augen der Frau las. »Er wird durchkommen«, sagte ich. Sie versuchte zu nicken, erstarrte aber mitten in der Bewegung und starb. Ich untersuchte sie sorgfältig und, wie ich einräume,
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etwas erregt. Da war kein Puls, kein Herzschlag. Ich schaffte das Kind ins Museum und baute ihm aus Tele skopteilen eine Art Laufstall. Dann begab ich mich mit drei Robo tern zu der Höhle zurück und ließ die Leute begraben. Ich gebe zu, daß die Geste überflüssig war, aber es war nicht nur eine Frage der Ordnung. So fundamental auch unsere Meinungsver schiedenheiten sein mochten, allgemein gesprochen waren wir alle Bewahrer. Nachdem die Roboter ihr Werk vollendet hatten, stellte ich eine der religiösen Figuren – übrigens handelte es sich um äußerst primitive Stücke – an das Kopfende eines jeden Grabes und sprach sogar ein kurzes Gebet, oder besser gesagt eine Predigt. Ich führte den Gedanken weiter aus, den ich vor etwa einer Wo che gegenüber zwei Rehen zum erstenmal geäußert hatte – nämlich, daß wir mitten im Leben auch mitten im Tode stehen. Ich sprach einige Minuten darüber, und die Roboter, die meine Zuhörer bildeten, schienen noch weniger darüber erregt zu sein als es die Rehe damals gewesen waren. 21. Mai 2190 – ich ärgere mich. Ich ärgere mich sehr, und mein großes Problem im Augenblick besteht darin, daß ich nichts habe, woran ich diesen Ärger auslassen kann. Der Junge hat unglaublich viel Mühe bereitet. Ich brachte ihn zum größten medizinischen Museum in der nördlichen Halbkugel und ließ ihn von den besten Diagnose maschinen untersuchen. Er scheint sich ausgezeichneter Ge sundheit zu erfreuen, und das ist für uns beide ein Glück. Und sein Nahrungsbedarf ist, wenn er auch dem meinen nicht genau entspricht, doch ziemlich leicht zu befriedigen. Ich ließ mir ein Band mit den entsprechenden Nahrungsmitteln zusammenstellen und habe nach einigen geringfügigen Abänderungen der Kantine des Museums für moderne Astronautik veranlaßt, daß seine Nah rung täglich hergestellt und ihm vorgesetzt wird. Unglücklicher weise scheint er dieses Arrangement, das sehr viel Arbeit mei nerseits erforderte, nicht ganz als befriedigend zu betrachten. So nimmt er zum Beispiel von der Robotpflegerin, die ich für
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ihn aktiviert habe, keine Nahrung an. Das liegt wahrscheinlich an den eigenartigen Vorstellungen seiner Eltern: Er kennt wahr scheinlich mechanische Zuneigung überhaupt nicht. Er ißt nur, wenn ich ihn füttere. Diese Situation allein ist schon unerträglich. Hinzu kommt noch, daß es unmöglich ist, ihn mit der Robotpfle gerin allein zu lassen. Bis jetzt krabbelt er zwar nur, dies aber erstaunlich schnell. Dabei entwickelt er die Fähigkeit, immer wieder in dunklen Korridoren des Museums zu verschwinden. Dann erreicht mich eine Alarmmeldung, und ich muß meine Un tersuchung des riesigen Palastes des Dalai Lama, des Potala, unterbrechen und aus Lhasa um die halbe Welt herum zum Mu seum zurückeilen. Selbst dann würden wir Stunden brauchen, ihn wiederzufinden. Und unter »wir« verstehe ich sämtliche mir zur Verfügung ste henden Roboter – wenn mir nicht das Anthropometer zur Verfü gung stünde. Dieses bewunderungswürdige Gerät läßt mich sein Versteck sehr schnell finden; und nachdem ich ihn aus der Ab schußkammer der Raumhaubitze in der Waffenhalle herausgezo gen habe, stecke ich ihn wieder in seinen Laufstall. Dann, wenn die Fütterungszeit noch nicht gekommen ist, kann ich – auf kur ze Zeit – nach Tibet zurückkehren. Im Augenblick bin ich damit beschäftigt, eine Art riesigen Käfig für ihn zu konstruieren, einen Käfig, der eine automatische Hei zung und eine Toilette enthält, sowie Gerätschaften, die uner wünschte Tiere, Insekten und Reptilien von ihm fernhalten. Wenn dies auch viel zu viel von meiner Zeit in Anspruch nimmt, ist das vermutlich eine ausgezeichnete In vestition. Ich weiß nicht, wie ich das Fütterungsproblem lösen soll. Die einzige Lösung, die ich in der einschlägigen Literatur fin den kann und die Hoffnung auf Erfolg verspricht, besteht darin, ihn hun gern zu lassen, wenn er die Nahrung aus normalen Quellen ab lehnt. Nach einem kurzen Experiment jedoch, in dem er sich freudig dem Hungertode aussetzte, war ich gezwungen auf zugeben. Jetzt verabreiche ich ihm sämtliche Mahlzeiten. Das Dumme ist, daß ich nicht weiß, wem ich die Schuld dafür geben soll. Da ich seit Beginn meines erwachsenen Lebens als Bewah rer aufgewachsen bin, habe ich noch nie die Notwendigkeit zur
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Fortpflanzung gesehen. Ich habe mich nie auch nur im gering sten für Kinder interessiert. Ich weiß sehr wenig über sie und es interessiert mich auch nicht. Ich war immer der Ansicht, daß meine Haltung in Sokrates’ Bemerkungen im »Gastmahl« wiedergegeben wurde: »Wenn man an Homer und Hesiod und die anderen großen Dichter denkt, hätte ich lieber ihre Kinder als gewöhnliche Menschen ge habt? Wer möchte ihnen nicht in der Erschaffung solcher Kinder wie der Ihren nacheifern, Kinder, die ihre Erinnerung bewahren und ihnen immerwährenden Ruhm bereiten?… Es gibt viele Tem pel, die ihnen zu Ehren und um ihrer Kinder willen errichtet wor den sind, Tempel, wie man sie nie einem anderen Menschen um seiner sterblichen Kinder Willen gebaut hat.« Unglücklicherweise sind wir die beiden einzigen Menschen, die auf der Erde noch leben, dieses Kind und ich. Wir gehen gemein sam unserem Untergang entgegen, und die Schätze der Welt, die vor einer Woche mir allein gehörten, gehören jetzt minde stens zum Teil auch ihm. Ich wünschte, wir könnten über diese Dinge sprechen, nicht nur, um eine bessere Lösung zu finden, sondern auch um der reinen intellektuellen Freude der Diskussi on willen. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich dieses Ta gebuch aus unbewußter Angst begonnen habe, als ich nach der Abreise der Bestätiger merkte, daß ich völlig allein war. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich nach Unter haltung lechze, nach Ideen, die nicht meine eigenen sind, nach Meinungen, an denen ich meine eigenen messen könnte. Bald wird dieses Kind zu reden beginnen, aber nach all den Schrif ten, die ich über dieses Thema finde, wird die Katastrophe uns er reicht haben, lange bevor er mit mir argumentieren kann. Ich finde das sehr traurig, wenn auch unvermeidbar. Aber ich schweife ab. Ich werde davon abgehalten, mich so dem Studium der Kunst hinzugeben, wie ich es wünschte. Ich bin ein alter Mann und sollte keine Verantwortung mehr tragen; ich habe mein Leben dem Vorrecht dieses Studiums geopfert. Das Ganze irritiert mich ungemein. Und dann die Unterhaltung. Ich kann mir im Augenblick sehr
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gut vorstellen, wie ich mich mit einem Bestätiger unterhalten würde, sollte einer hier neben mir gestrandet sein. Welche Ein tönigkeit, welche sture biologische Idiotie! Wie kann man es nur ablehnen, all die Schönheit zu betrachten, die die Gattung Mensch über siebzigtausend Jahre geschaffen hat! Gesetzt den Fall, er wäre Europäer, dann hätte er höchstens eine Kleinigkeit über die allgemein anerkannten Künstler seiner Kultur erfahren. Was würde er aber beispielsweise über chinesische Malerei oder die Kunst der Höhlenbewohner wissen? Würde er begreifen, daß jede einzelne jener Kulturen primitive Perioden hatte, denen Zeiträume üppiger Ent wicklung folgten, worauf wiederum eine Konsolidierung der künstlerischen Erkenntnis und dann ein An wachsen von Formalismus folgte? Und am Ende dann eine deka dente, nach innen tastende Epoche, die beinahe unabwendbar wiederum zu einer primitiven und dann einer üppigen Periode führte? Und daß dieser immerwährende Kreislauf in all den gro ßen Kulturen immer aufs neue abgelaufen ist, so daß selbst überragende Genies wie Michelangelo, Shakespeare oder Beet hoven sich wiederholen werden – wenn auch etwas anders – in weiteren abgeschlossenen Zyklen. Daß es in jeder einzelnen Blü teperiode der altägyptischen Kunst einen Michelangelo, einen Shakespeare und einen Beethoven gegeben hat? Wie könnte ein Bestätiger solche Begriffe verstehen, da ihm doch das grundle gende Wissen fehlt? Da doch ihre Schiffe aus dem todgeweihten Sonnensystem flohen, beladen nur mit Gegenständen, die eine Funktion hatten! Da sie es doch ihren Nachkommen verwehrten, Schätze ihrer Kindheit zu bewahren, aus Angst, es könnte sich daraus Sentimentalität entwickeln – und das Ganze nur, um zu vermeiden, daß eines fernen Tages, wenn sie Prokyon XII kolo nisierten, daß dann Tränen aufkamen für die Welt, die gestorben war, oder das Hündchen, das hatte zurückbleiben müssen? Und dennoch macht sich die Geschichte über den Menschen lu stig! Sie, die von ihren Museen wegliefen und die nichts als einen kalten Mikrofilm von dem bewahrten, was Kulturen vor ihnen investiert hatten, werden lernen, daß die Sentimentalität des Menschen nicht frustriert werden darf. Die glatten, leistungsfähi gen Schiffe, die sie zu diesen fremden Welten brachten, werden
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Museen der Vergangenheit werden, wenn sie einmal auf fremden Welten stehend langsam dahinrosten. Ihre grausam funktionel len Linien werden Anreiz für Tempel und Tränen werden. Was in aller Welt geschieht hier mit mir? Wie ich mich ereifere! Schließlich wollte ich doch nur erklären, warum ich mich ärgere. 29. Mai 2190 – ich habe einige Entscheidungen getroffen. Ich weiß nicht, ob ich die wichtigste davon auch in die Tat werde umsetzen können, aber ich werde es versuchen. Aber um mir das zu geben, was ich im Augenblick am nötigsten brauche – Zeit – werde ich nur noch sehr wenig in dieses Tagebuch schrei ben, sofern ich überhaupt schreibe. Ich werde mich um Kürze bemühen. Zu Anfang die unwichtigste Entscheidung: Ich habe dem Kind den Namen Leonardo gegeben. Warum ich mich entschieden ha be, ihn nach dem Mann zu benennen, der trotz all seiner Talente – genau genommen wegen seiner Talente – nach meiner Mei nung der größte Versager in der Geschichte der Kunst ist, weiß ich nicht. Aber Leonardo war ein Mann von großer Allgemeinbil dung, etwas, was die Bestätiger ganz bestimmt nicht sind – und etwas, ich beginne es langsam zu erkennen, was auch ich nicht bin. Übrigens, der Junge kennt seinen Namen. Er kann ihn noch nicht aussprechen, aber er erkennt ihn auf geradezu wundersa me Weise. Man könnte sogar sagen… Aber ich will fortfahren. Ich habe beschlossen, die Flucht von der Erde zu versuchen – mit Leonardo. Es gibt dafür viele komplizierte Gründe und ich bin nicht sicher, daß ich sie alle begreife, aber eines weiß ich: Ich habe die Verantwortung für ein weiteres Leben außer dem mei nen und kann mich ihr nicht entziehen. Ich wende mich damit keineswegs der Doktrin der Bestätiger zu, vielmehr werden meine eigenen Ideen jetzt vor Gericht ge stellt. Da ich an die Realität der Schönheit glaube, insbesondere an die Schönheit, die der Geist und die Hand des Menschen ge schaffen hat, kann ich keinem anderen Weg folgen.
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Ich bin ein alter Mann und werde mit dem Rest meines Lebens nicht mehr viel erreichen. Leonardo ist ein Kind, er ist reines Po tential; es kann alles mögliche aus ihm werden. Ein Sonett, das weit über die Shakespeares hinausgeht. Ein Gedanke, wertvoller als die Newtons oder Einsteins. Oder etwas Böses, schlimmer als Gilles de Retz, ein Schrecken, schlimmer als Hitler. Aber das Potential soll sich erfüllen. Ich glaube, daß die Chan ce, daß es sich zum Bösen wendet, unter meiner Obhut geringer ist. Und damit liegt die Verantwortung bei mir. In jedem Fall, selbst wenn Leonardo eine Null sein sollte, trägt er vielleicht das Samenplasma eines Buddha, eines Euripides, eines Freud in sich. Und dieses Potential muß bewahrt werden… Es gibt ein Schiff. Sein Name ist Man’s Hope. Und es war das erste Schiff, das die Sterne erreichte, vor beinahe einem Jahr hundert, als man gerade entdeckt hatte, daß unsere Sonne in wenig mehr als hundert Jahren explodieren und zur Nova werden würde. Es war das Schiff, das für die Menschen entdeckte, daß andere Sterne Planeten besitzen und daß viele dieser Planeten für Menschen bewohnbar sind. Es ist lange her, daß Kapitän Karma sein Sternenschiff mit der Nachricht landete, daß es eine Rettung gab. Das war lange, ehe ich geboren wurde, lange ehe die Menschheit sich in Bewahrer und Bestätiger aufteilte und lange bevor einige Gruppen zu so l chen Fanatikern geworden waren wie vor fünf Jahren. Das Schiff steht im Museum der modernen Astronautik. Ich weiß, daß man es gepflegt hat. Ich weiß auch, daß vor zwanzig Jahren, ehe die Bestätiger die Doktrin entwickelt hatten, daß nichts aus den Museen genommen werden dürfte, das Schiff noch mit dem letzten Léugio -Antrieb ausgestattet worden war. Der Grund dafür war, daß es auf die Weise – sollte es je dazu kommen, daß man es am Exodustag brauchte – die Reise in Mo naten und nicht in Jahren wie beim ersten Flug bewältigen konn te. Das einzige, das ich nicht weiß, ist, ob ich, Fiyatil, Bewahrer der Bewahrer und Kunstkritiker, in der Zeit, die Leonardo und ich
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noch haben, es lernen würde, dieses Schiff zu steuern. Aber man kann es ja immerhin versuchen… Mich beschäftigt noch etwas anderes, in mancher Hinsicht so gar etwas viel Aufregenderes, aber das hier kommt zuerst. Ich blicke dieser Tage sehr oft zur Sonne. Mit sehr prüfenden Augen. 11. November 2190 – ich werde es schaffen. Mit Hilfe zweier Roboter, die ich für diesen Zweck umbauen werde, werde ich es schaffen. Leonardo und ich könnten sofort abreisen. Aber zuerst muß ich noch ein anderes Projekt zu Ende führen. Es handelt sich um folgendes: Ich werde all den leeren Raum im Schiff ausnutzen. Ursprünglich hatte man es für ganz andere Motoren und eine sehr große Mannschaft gebaut, und ich werde diesen Raum jetzt als Schublade benützen, und in diese Schub lade werde ich die Andenken der Menschheit, die Schätze seiner Kindheit und seiner Jugend stopfen – wenigstens so viel wie möglich ist. Seit Wochen habe ich Schätze aus der ganzen Welt gesammelt. Unglaubliche Keramiken, atemberaubende Friese, wunderschöne Bildhauerarbeiten und Ölgemälde füllen alle Kor ridore des Museums. Breughel liegt auf Bosch, Bosch auf Dürer. Ich werde von jedem etwas zu jenem Stern bringen, auf den ich mein Schiff richte, um dort zu zeigen, wie einst die Wirklichkeit war. Ich habe auch Dinge mitgenommen wie die holographi schen Manuskripte von Jane Austin’s Stolz und Vorurteil, Beet hovens Neunte Sinfonie, Gogols Tote Seelen, Mark Twains Huck leberry Finn und Holographien von den Briefen Dickens’ und Lin colns. Es gibt noch viele andere Din ge, aber ich kann nicht alles mitnehmen. Deshalb nehme ich zum Beispiel nichts von der Decke der Six tinischen Kapelle. Statt dessen habe ich zwei Stücke vorn Jüng sten Gericht mitgenommen. Es sind die beiden Stücke, die ich am meisten liebe: Die Seele, die plötzlich erkennt, daß sie verlo ren ist und die gepeitschte Haut , auf die Michelangelo sein Selbstporträt gemalt hat. Das Unangenehme ist nur, daß Fres ken so schwer sind. Gewicht, Gewicht, Gewicht – ich denke an fast nichts anderes mehr. Selbst Leonardo läuft die ganze Zeit hinter mir her und sagt: »Gewicht, Gewicht, Gewicht!« Es gibt
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kein anderes Wort, das er so gut aussprechen kann. Und doch, welches von Picassos Werken sollte ich mitnehmen? Ein paar Ölgemälde, ja, aber ich muß Guernica mitnehmen. Und auch das wiegt wieder. Ich habe einige wunderschöne russische Kupferutensilien und einige Bronzeschalen aus der Ming-Zeit. Dann eine wunderbare Alabasterfigur einer Kuh aus dem alten Sumer. Einen silbernen Buddha aus Nordindien. Einen geschnitzten Elfenbeinbehälter aus Benin, Westafrika, der einen europäischen Christen des fünf zehnten Jahrhunderts am Kreuz zeigt. Ich habe Min iaturen von Hilliard und Holbein, satyrische Drucke von Hogart, ein herrliches Kangragemälde aus dem neunzehn tem Jahrhundert das erstaunlich wenig Mughaleinfluß zeigt, ja panische Drucke von Takamara – und wo soll ich aufhören? Wie soll ich wählen? Ich habe koptische Stoffe aus dem sechsten Jahrhundert und Alençonspitze aus dem sechzehnten. Ich habe einen großartigen roten Krater aus einer der Seekolonien Athens und die hölzerne Galionsfigur einer Neuenglandfregatte. Einen Rubensakt und eine Odaliske von Matisse. In der Architektur – ich nehme das chinesische Kompendium der Architektur mit, das als Text seinesgleichen nicht hat und ein Modell eines Le-Corbusier-Hauses, das er selbst gebaut hat. Es wäre herrlich, wenn ich das Tadsch Mahal mit nehmen könnte. Dafür nehme ich aber wenigstens die Perle mit, die der Mogul jener Frau schenkte, für die er dieses grandiose Grabmal errich tete. Es ist eine rötliche Perle, geformt wie eine Birne und etwa acht Zentimeter lang. Kurz nachdem man die tote Geliebte des Moguls mit ihr zu Grabe getragen hatte, tauchte sie im Besitz eines chinesischen Kaisers auf, der sie in Goldblätter faßte und sie mit Jade und Smaragden umgab. Gegen Ende des neunzehn ten Jahrhunderts wurde sie irgendwo im Nahen Osten für eine lächerliche Summe verkauft und endete dann im Louvre. Und ein Werkzeug, eine kleine steinerne Faustaxt, das erste Werkzeug, das Menschenhand geschaffen hat. All das habe ich in
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der Nähe des Schiffes angesammelt. Aber ich habe noch nichts sortiert. Und plötzlich fällt mir ein, daß ich bis jetzt noch keine Möbel, keine geschmückten Waffen, kein geschliffenes Glas ge sammelt habe… Ich muß mich beeilen! November 2190. Kurz nachdem ich den letzten Eintrag geschrieben hatte, blick te ich zum Himmel. Die Sonne hatte grüne Flecken, und seltsa me orangerote Finger zuckten nach allen Seiten. Das waren die Symptome des Todes, die die Astronomen vorausgesagt hatten. Mein Sammeln hatte also ein Ende. Und das Sortieren war in weniger als einem Tag erledigt. Das einzige, von dem ich plötz lich wußte, daß ich es tun mußte, als ich erkannte, daß die Mi chelangelostücke so schwer sein würden, war, dennoch zur Dek ke der Sixtinischen Kapelle zu gehen. Diesmal schnitt ich ein re lativ kleines Stück aus – den Finger der Schöpfung als er Adam das Leben verleiht. Und dann beschloß ich, da Vincis La Giocon da mitzunehmen, obwohl seine Beatrice d’Este mehr meinem Geschmack entspricht, das Lächeln der Mona Lisa gehört der Welt. Eines von Toulouse-Lautrecs Plakaten steht für alle ande ren. Guernica ließ ich zurück. Picasso wird statt dessen von ei nem Ölgemälde aus seiner blauen Periode und einer einzigen Keramik vertreten. Und irgendwie habe ich in meiner Hast der letzten Minute noch eine große Zahl von Safavidflaschen aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert des Iran ausge wählt. Mögen sich zukünftige Historiker und Psychologen die Gründe für meine Wahl überlegen, ändern kann man dies nicht mehr. Wir sind auf dem Flug zum Alpha Centauri und sollten in fünf Monaten eintreffen. Wie werden wir und unsere Schätze dort aufgenommen werden, frage ich mich? Plötzlich fühle ich mich ungemein heiter. Ich glaube, das hat nichts mit meiner späten Erkenntnis zu tun, daß ich, der ich so wenig Talent habe und in all den Künsten so furchtbar versagt habe, dennoch einen Platz in der Geschichte der Kunst einnehmen werde wie kein anderer, eine Art Noah der Ästhetik.
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Nein, es ist die Tatsache, daß ich die Zukunft mit der Ver gangenheit zu einem Kompromiß führen werde. Kurz zuvor prall te Leonardos Ball gegen einen Bildschirm, und als ich hinsah, stellte ich fest, daß die alte Sonne sich auszudehnen begonnen hatte. Und da bemerkte ich zu ihm: »Zu meinem Erstaunen stel le ich fest, daß ich mitten im Tode – endlich, endlich! – mitten im Leben stehe.«
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Die neuen Mieter
Als Miß Kerstenberg, seine Sekretärin, Sydney Blake über die Sprechanlage davon informierte, daß soeben zwei Herren ge kommen seien und ein Büro mieten wollten, klang Blakes »Dann führen Sie sie nur herein, Esther, nur herein mit ihnen«, ölig wie ein ganzes Faß voller Tran. Wellington Jimm & Sons Inc. Immo bilien, hatten ihn erst vor zwei Tagen zum Agenten im McGowan Building ernannt, und die Aussicht, schon so schnell ein oder zwei Büros in diesem Alptraum aller Immobilienmakler loszuwer den, tat ihm gut. Als er freilich die künftigen Mieter gesehen hatte, war er sich weit weniger sicher. Die beiden ähnelten mit Ausnahme eines Punktes einander wie ein Ei dem anderen. Der eine Punkt war die Größe. Der eine war sehr groß – etwa zwei Meter zehn, nahm Blake an, als er sich erhob, um die Besucher zu begrüßen. Der Mann war an zwei Stellen abgeknickt: An den Hüften nach vorne und an den Schul tern nach hinten, so daß man den Eindruck hatte, er hätte keine Gelenke, sondern Scharniere. Hinter ihm rollte eine winz ige Ku gel von einem Mann, ein Minizwerg sozusagen – aber davon ab gesehen der Zwilling des großen. Sie trugen beide gestärkte weiße Hemden, schwarze Hüte, schwarze Mäntel, schwarze Kra watten, schwarze Anzüge, schwarze Socken und Schuhe, die so unglaublich schwarz waren, daß sie das Licht förmlich aufzusau gen schienen. Sie setzten sich beide und lächelten Blake zu – einstimmig so zusagen. »Äh, Miß Kerstenberg«, sagte er zu seiner Sekretärin, die im mer noch in der Tür stand. »Ja, Mr. Blake?« fragte sie aufmerksam. »Äh, nichts, Miß Kerstenberg, gar nichts.« Dann blickte er ihr bedauernd nach, wie sie die Tür schloß und hörte, wie ihr Dreh stuhl ächzte, als sie sich im Vorzimmer wieder an die Arbeit machte. Es war ein Unglück, daß sie keine telepathischen Talen te hatte und daher seinen dringenden geistigen Hilferuf nicht
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aufgefangen hatte, hierzubleiben und ihm moralische Unterstüt zung zu gewähren. Na schön. Man konnte ja schließlich nicht damit rechnen, daß Spitzenfirmen Büros im McGowan Building mieten wollten. Er setzte sich und bot ihnen Zigaretten aus einem nagelneuen Le derkästchen an. Beide lehnten ab. »Wir möchten gerne«, sagte der Große mit einer Stimme, die aus lauter tiefen Atemzügen zu bestehen schien, »ein Stockwerk in Ihrem Gebäude mieten.« »Das dreizehnte Stockwerk«, sagte der kleine Mann mit genau der gleichen Stimme. Sydney Blake zündete sich eine Zigarette an und sog langsam daran. Ein ganzes Stockwerk! Man sollte die Menschen wirklich nicht nach dem Aussehen beurteilen. »Tut mir leid«, erklärte er. »Das dreizehnte Stockwerk können Sie nicht haben, aber…« »Warum nicht«, schnaufte der Große. Er wirkte verärgert. »Weil es kein dreizehntes Stockwerk gibt. Viele Gebäude haben keines. Da die Mieter sie als Unglücksbringer betrachten, nennen wir das Stockwerk über dem zwölften das vierzehnte. Wenn Sie sich unseren Gebäudeplan ansehen, werden Sie feststellen, daß es keine Büros gibt, die mit der Nummer 13 beginnen. Aber wenn Sie so viel Raum haben wollen, können wir Ihnen wahr scheinlich im sechsten…« »Mir scheint«, sagte der Große sehr traurig, »daß, wenn je mand ein bestimmtes Stockwerk mieten möchte, es das we nigste ist, was der Makler tun kann, ihm dieses Stockwerk zu geben.« »Das allerwenigste«, pflichtete der Kleine ihm bei. »Ins besondere, wenn keine komplizierten mathematischen Fragen dabei gestellt werden.« Blake bewahrte mühsam die Ruhe und lächelte. »Ich wäre sehr froh, wenn ich Ihnen das dreizehnte Stockwerk vermieten könn
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te – wenn wir nur eines hätten. Aber ich kann Ihnen doch nicht gut etwas vermieten, das überhaupt nicht existiert, oder?« Er hielt ihnen die Hände mit den Handflächen nach oben hin. »Im zwölften und dem vierzehnten Stockwerk ist nur noch sehr wenig Raum frei. Aber ich bin sicher, daß Sie mit einem anderen Teil des McGowan Buildings zurechtkommen.« Und dann fiel ihm plötzlich ein, daß er eine wichtige Protokollfrage außer acht ge lassen hatte. »Mein Name«, erklärte er, und deutete mit mani kürtem Zeigefinger auf die Platte, die vor ihm auf dem Schreib tisch stand, »ist Sydney Blake. Und wenn ich fragen darf…« »Tohu und Bohu«, sagte der Große. »Wie bitte?« »Tohu, sagte ich und Bohu. Ich bin Tohu.« Er deutete auf sei nen winzigen Zwilling. »Er ist Bohu. Oder gelegentlich umge kehrt.« Sydney Blake dachte darüber nach, bis ein Stück Asche von seiner Zigarette brach und sich über seine wohlgebügelten Ho sen verteilte. Ausländer. Er hätte es gleich wissen müssen. Man brauchte ja bloß ihre olivfarbene Haut und ihren etwas unge wohnten Akzent zu beachten. Nicht, daß das im McGowan ir gendeinen Unterschied machte. Oder in sonst einem Gebäude, das Wellington Jimm & Sons Inc. verwaltete. Trotzdem hätte ihn interessiert, wo in aller Welt die Leute solche Namen hatten und solche eigenartigen Größen. »Schön, Mr. Tohu und – äh Mr. Bohu. So wie ich das Problem sehe…« »Es gibt gar kein Problem«, sagte der Große langsam und be tont, »wenn Sie nicht ein solches Theater darum machten, jun ger Mann. Sie haben ein Gebäude mit vierundzwanzig Stockwer ken. Wir möchten das dreizehnte Stockwerk mieten, das offen bar leer steht. Wenn Sie jetzt ein tüchtiger Geschäftsmann wä ren und uns dieses Stockwerk vermieteten, ohne weitere Ein wände zu erheben…« »Oder Haare spalteten«, warf der Winzige ein.
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»… dann wären wir zufrieden, Ihre Firma wäre zufrieden und Sie sollten zufrieden sein. Es ist wirklich eine sehr einfache Transaktion, die ein Mann in Ihrer Stellung spielend bewältigen könnte.« »Wie zum Teufel kann ich das…«, begann Blake zu brüllen, ehe er sich an Professor Scoggins in ›Verkäuferschulung II‹ erinner te. (Denken Sie daran meine Herren, wenn Sie die Nerven verlie ren, verlieren Sie einen Kunden, insbesondere im Immobilienge schäft. Wenn der Kunde in einem Ladengeschäft immer recht hat, so hat der Kunde in der Immobilienbranche nie unrecht. Der Immobilienhändler muß in beruflicher Hinsicht seinen Platz ne ben dem Arzt, dem Dentisten und dem Apotheker einnehmen und genau wie sie zu seinem Motto machen: selbstloser Dienst, immer erreichbar, immer verläßlich.) Blake beugte sich vor, er innerte sich seiner professionellen Pflichten und fuhr fort. »Hören Sie«, sagte er dann mit einem Lächeln, von dem er verzweifelt hoffte, daß es ein gewinnendes Lächeln war, »ich werde es jetzt so ausdrücken, wie Sie es gerade getan haben. Sie wollen aus Gründen, die Sie selbst am besten kennen, ein dreizehntes Stockwerk mieten. Dieses Gebäude hat aus Grün den, die der Architekt am besten kennt, kein dreizehntes Stock werk. Deshalb kann ich es nicht an Sie vermie ten. Oberflächlich betrachtet, das räume ich ein, könnte das wie ein Problem aus sehen. Man könnte den Eindruck bekommen, als würden Sie nicht genau das, was Sie wünschen, im McGowan Gebäude be kommen. Aber was passiert, wenn wir die Lage einmal gründlich überdenken? Zunächst stellen wir fest, daß es andere wirklich großartige Stockwerke gibt…« Er hielt inne, als er bemerkte, daß er allein war. Seine Be sucher waren aufgestanden und zur Tür hinausgegangen. »Sehr bedauerlich«, hörte er den Großen sagen, als sie durchs Vorzimmer gingen. »Die Lage wäre perfekt gewesen. So weit von allen anderen entfernt.« »Einmal ganz davon abgesehen«, fügte der Winzige hinzu, »wie das Gebäude aussieht. So heruntergekommen. Wirklich schade.«
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Er rannte hinter ihnen drein und erreichte sie in dem Korridor, der zur Lobby führte. Zwei Dinge ließen ihn dort erstarren. Das eine war das Gefühl, daß es unter der Würde eines Immobilien maklers war, potentielle Kunden in ein Büro zurückzuzerren, das sie gerade abrupt verlassen hatten. Schließlich war das kein Dis countladen – schließlich war es das McGowan Building. Und das andere war die plötzliche Erkenntnis, daß der Große allein war. Der Winzige war nirgends zu sehen. Höchstens – möglicherweise – nein, das konnte nicht sein… Der Mantel des Großen beulte sich an der rechten Tasche nämlich etwas aus… »Ein paar Verrückte«, murmelte er halblaut vor sich hin, als er zu seinem Büro zurückging. »Keine echten Kunden.« Er bestand darauf, daß Miß Kerstenberg sich die ganze Ge schichte anhörte, obwohl Professor Scoggins sie dringend davor gewarnt hatte, sich mit ihrem Personal zu sehr anzufreunden. Sie gluckste und starrte ihn dann durch die dicke Brille ernsthaft an. »Verrückte, nicht wahr, Miß Kerstenberg?« fragte er, als er ge endet hatte. »Keine echten Klienten, oder?« »Das weiß ich nicht, Mr. Blake«, antwortete sie. Sie rollte ein Blatt Firmenpapier in ihre Schreibmaschine. »Wollen Sie, daß das Hopkinson-Rundschreiben heute nachmittag hinaus geht?« »Was? Oh ja, ich glaube schon. Ich meine natürlich. Auf alle Fälle heute nachmittag, Miß Kerstenberg. Und ich möchte es noch einmal sehen, ehe Sie es wegschicken.« Er schritt in sein Büro und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Die ganze Geschichte hatte ihn wirklich durcheinander gebracht. Seine erste große Chance. Und dieser kleine Mann – Bohu hieß er doch – und diese ausgebeulte Tasche… Erst am Nachmittag schaffte er es wieder, sich auf seine Arbeit zu ko nzentrieren. Und da kam der Telefonanruf. »Blake?« dröhnte die Stimme. »Hier spricht Gladstone Jimm.« »Ja, Mr. Jimm.« Blake richtete sich unwillkürlich in seinem Drehstuhl auf. Gladestone war der älteste der Söhne.
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»Blake, was muß ich da hören. Sie weigern sich, Büros zu ver mieten?« »Ich tue was? Entschuldigen Sie Mr. Jimm, aber ich…« »Blake, da waren gerade zwei Herren. Sie nannten sich Tooly und Booly. Sie sagen mir, sie hätten ohne Erfolg versucht, das dreizehnte Stockwerk des McGowan Building von Ihnen zu mie ten. Sie sagen, Sie gäben zwar zu, daß der Platz zur Verfügung stehe, hätten sich aber hartnäckig geweigert, ihn an Sie zu ver mieten. Was soll das bedeuten, Blake? Warum glauben Sie wohl, daß die Firma Sie als Makler dort ein gesetzt hat, Blake? Daß Sie potentielle Kunden verjagen? Ich kann Ihnen ruhig sagen, Blake, daß das hier keinem sonderlich gefällt.« »Ich hätte den Herrschaften gerne das dreizehnte Stockwerk vermietet«, jammerte Blake. »Das Dumme ist nur Sir, wissen Sie…« »Was ist das Dumme, Blake? Raus damit Mann, raus damit.« »Es gibt kein dreizehntes Stockwerk, Mr. Jimm.« »Was?« »Das McGowan Building ist eines der Häuser, die kein drei zehntes Stockwerk haben.« Mühsam wiederholte er das ganze. Er zeichnete während des Redens sogar die Umrisse des Gebäu des auf seine Schreibunterlage. »Hm«, sagte Gladstone Jimm, als er geendet hatte. »Nun, ich muß zugeben, Blake, daß die Erklärung logisch klingt.« Und dann legte er auf. Blake ertappte sich dabei, wie seine Hände zitterten. »Ver rückte«, murmelte er. »Ganz entschieden Verrückte. Keine Mie ter für uns.« Als er am nächsten Morgen vor seine Bürotür kam, fand er Mr. Tohu und Mr. Bohu dort vor. Der Große hielt ihm einen Schlüssel hin. »In unserem Mietvertrag steht, Mr. Blake, daß ein Vertreter des Maklers den Schlüssel zu unserem Hauptbüro verwahren
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muß. Wir haben gerade eine Kopie anfertigen lassen. Ich nehme an, daß damit die Bedingung erfüllt ist?« Sydney Blake lehnte sich gegen die Wand. »Mietvertrag?« flü sterte er. »Haben Sie einen Mietvertrag vom Hauptbüro bekom men?« »Ja«, nickte der Große. »Wir hatten keine sonderlichen Schwie rigkeiten, so ein Dingsbums zu bekommen.« »Wir haben uns sofort verstanden«, trug der Kleine etwa aus der Kniehöhe seines Begleiters bei. »Eine hervorragende Ver ständigung. Ein Fluß von Informationen. In Ihrem Hauptbüro nimmt man es mit den Ziffern nicht so genau, junger Mann.« »Darf ich den Vertrag bitte sehen?« brachte Blake hervor. Der Große griff in seine rechte Manteltasche und brachte ein zusammengefaltetes Stück Papier zum Vorschein. Es war der Standardvertrag. Für das dreizehnte Stockwerk im McGowan Building. Aber es gab da einen kleinen Unterschied. Gladstone Jimm hatte einen Nachtrag eingesetzt:… der Vermie ter vermietet ein Stockwerk, von dem sowohl der Mieter als auch der Vermieter wissen, daß es nicht existiert. Dennoch hat der Anspruch darauf für den Mieter einen inneren Wert. Dieser Wert entspricht der Miete, die er bezahlen wird… Blake seufzte er leichtert. »Das ist etwas anderes. Warum haben Sie denn nicht gesagt, daß Sie nur einen Anspruch auf das Stockwerk haben wollten? Ich hatte den Ein druck, daß Sie vorhatten, auch einz u ziehen.« »Wir haben auch vor einzuziehen.« Der Große schob den Ver trag ein. »Wir haben eine Monatsmiete im voraus bezahlt.« »Und«, fügte der Winzige hinzu, »eine Monatsmiete Kaution.« »Und«, schloß der Große, »eine weitere Monatsmiete als Mak lerprovis ion. Wir haben wirklich vor, einzuziehen.« »Aber wie -« Blake kicherte beinahe hysterisch – »werden Sie denn einziehen, da es doch überhaupt…« »Guten Morgen, junger Mann«, sagten sie wie aus einem Mun
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de und gingen auf die Lifts zu. Er sah zu wie sie die Kabine betraten. »Dreizehnter bitte«, sagten sie zu dem Liftboy. Die Tür schloß sich. Miß Kerstenberg ging an ihm vorbei ins Büro und zirpte ein pflichtgemäßes »Guten Morgen, Mr. Blake«. Blake nickte ihr kaum zu. Er blickte immer noch auf die Lifttür. Nach einer Weile öffnete sie sich wieder, und der kleine dicke Liftführer kam heraus und unterhielt sich mit dem Hausmeister. Blake konnte einfach nicht anders. Er rannte zum Lift und starrte hinein. Die Kabine war leer. »Hören Sie«, sagte er und packte den Liftführer am Ärmel sei ner etwas schmuddeligen Uniform. »Diese zwei Männer, die Sie gerade raufgefahren haben – wo sind die ausgestiegen?« »In dem Stockwerk, das sie wollten, im dreizehnten. Warum?« »Es gibt doch kein dreizehntes Stockwerk. Überhaupt kein dreizehntes Stockwerk!« Der Mann zuckte die Achseln . »Hören Sie Mr. Blake. Ich tue hier meine Arbeit. Wenn einer sagt ›dreizehnter‹, dann fahre ich ihn in den dreizehnten. Wenn einer sagt ›einundzwanzigster‹, dann fahre ich ihn…« Blake deutete auf die Liftkabine. »Fahren Sie mich hin«, befahl er. »Zum einundzwanzigsten? Klar.« »Nein – Sie – Sie…« Blake bemerkte, daß der Hausmeister und der Liftführer einander verständnisvoll zugrinsten. »Nicht zum einundzwanzigsten«, fuhr er daher ruhiger fort. »Zum dreizehn ten. Fahren Sie mich ins dreizehnte Stockwerk.« Der Liftführer betätigte seinen Hebel, und die Tür schloß sich stöhnend. Sie fuhren hoch. Alle Aufzüge im McGowan Building waren sehr langsam, und Blake fiel es daher nicht schwer, die Stockwerkszahlen durch das kleine Fenster in der Lifttür mitzu verfolgen.
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… zehn… elf… zwölf… vierzehn… fünfzehn… sechzehn… Sie hielten an. Der Liftführer kratzte sich am Kopf. Blake fun kelte ihn triumphierend an. Dann fuhren sie hinunter. … fünfzehn… vierzehn… zwölf… elf…. zehn… neun… »Nun?« fragte Blake. Der Mann zuckte die Achseln. »Ist wohl nicht mehr da.« »Nicht mehr? Es ist nie hier gewesen. Wo haben Sie diese Leu te also hingebracht?« »Oh die. Hab’ ich Ihnen doch gesagt – ins dreizehnte.« »Aber ich hab’ doch gerade bewiesen, daß es kein dreizehntes Stockwerk gibt!« »Na und? Sie sind schließlich auf die Oberschule gegangen, Mr. Blake, ich nicht. Ich mach hier bloß meine Arbeit. Wenn einer einsteigt und sagt ›dreizehn‹, dann fahr ich…« »Ich weiß! Dann fahren Sie ihn in den dreizehnten Stock. Aber es gibt kein dreizehntes Stockwerk, Sie Idiot! Ich kann Ihnen die Blaupausen zeigen, die Originalblaupausen, und dann zeigen Sie mir mal ein dreizehntes Stockwerk. Wenn Sie mir ein dreizehn tes Stockwerk zeigen können…« Er verstummte, als er bemerkte, daß sie wieder in Parterre wa ren und daß sich eine kleine Menschenmenge um sie versammelt hatte. »Hören Sie, Mr. Blake«, schlug der Liftführer vor, »wenn Sie nicht zufrieden sind, dann kann ich ja den Mann von der Ge werkschaft kommen lassen, und dann reden Sie mal mit dem? Wie war denn das, he?« Blake griff sich hilflos an den Kopf und stampfte in sein Büro. Hinter sich hörte er, wie der Hausmeister den Liftführer fragte: »Was hat er sich denn so aufgeregt. Barney?« »Ah-aah, dieser Knilch«, sagte der Liftführer. »Ich soll an den Blaupausen für das Gebäude schuld sein. Wenn du mich fragst, ist der bloß zu lange auf die Schule gegangen. Was gehen mich
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denn die Blaupausen an?« »Ich weiß nicht«, seufzte der Hausmeister. »Ich weiß wirk lich nicht.« »Und dann noch was«, fuhr der Liftführer fort. »Was haben die Blaupausen mit mir zu tun?« Blake schloß die Bürotür und lehnte sich dagegen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch sein dünner werdendes Haar. »Miß Kerstenberg«, sagte er dann mit halberstickter Stim me. »Was meinen Sie? Diese Verrückten, die gestern hier waren – diese zwei verrückten alten Männer –, das Hauptbüro hat denen doch tatsächlich das dreizehnte Stockwerk vermietet!« »Wirklich?« Sie blickte von ihrer Schreibmaschine auf. »Und Sie können’s glauben oder nicht, die sind gerade hinauf gefahren und haben ihre Büros in Besitz genommen.« Sie lächelte. »Wie nett«, sagte sie. Und dann tippte sie weiter. Was Blake dann am nächsten Morgen in der Lobby sah, ließ ihn zum Telefon rennen. Er wählte die Nummer des Hauptbüros. »Mr. Gladstone Jimm«, verlangte er atemlos. »Hören Sie, Mr. Jimm. Hier spricht Sydney Blake aus dem McGowan Building. Mr. Jimm, jetzt wird es ernst! Die ziehen heute mit Möbeln ein. Bü romöbeln. Und ich habe gerade gesehen, wie ein paar Männer hinauffuhren, um Telefone zu installieren. Mr. Jimm, die ziehen wirklich ein!« Gladstone Jimm war sofort bei der Sache. Er widmete der An gelegenheit seine volle Aufmerksamkeit. »Wer zieht ein, junger Mann? Tanzen-Immobilien? Oder wieder die Blair Brothers? Erst letzte Woche habe ich gesagt, daß es im Immobiliengeschäft zu ruhig geworden ist; ich hab’s einfach in den Knochen gespürt, daß das nicht so weitergehen kann. Die versuchen also, uns in die Quere zu kommen?« Er knurrte bösartig. »Nun, wir haben auch noch ein paar Tricks. Zuerst stellen Sie mal sicher, daß alle wichtigen Papiere – Mieterlisten, Mietquittungen und so weiter, Sie wissen schon – im Safe sind. In einer halben Stunde bin ich mit drei Anwälten und einer einstweiligen Verfügung da. Inzwi
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schen…« »Sie haben mich nicht verstanden Sir. Es sind diese neuen Mie ter. Die, an die Sie das dreizehnte Stockwerk vermietet haben.« Gladeston Jimm trat in Gedanken auf die Bremse und überleg te. »Ah.« Er begriff. »Sie meinen – diese Burschen – äh, Toombs und Boole?« »Stimmt Sir. Es werden gerade Schreibtische, Stühle und Ak tenschränke hinaufgetragen. Und dann sind Männer von der Te lefongesellschaft da. Die fahren alle ins dreizehnte Stockwerk. Nur, Mr. Jimm, es gibt kein dreizehntes Stockwerk!« Eine Pause. Und dann. »Haben sich die anderen Mieter im Haus beklagt, Blake?« »Nein, Mr. Jimm, aber…« »Haben Toob und Boob die anderen Mieter irgendwie be lästigt?« »Nein, das nicht. Es ist nur…« »Es ist nur, daß Sie sich verdammt wenig um das Geschäft ge kümmert haben! Blake, ich kann Sie gut leiden, aber ich glaube, es ist meine Pflicht, Sie zu warnen, daß Sie hier einen Fehler machen. Sie sind jetzt seit einer Woche im McGowan, und die einzige wichtige Transaktion in diesem Gebäude mußte vom Hauptbüro erledigt werden. Das macht sich in Ihren Akten gar nicht gut, Blake. Überhaupt nicht gut. Haben Sie immer noch im dritten, sechzehnten und neunzehnten Stock so viel frei?« »Ja, Mr. Jimm. Ich hatte vor…« »Etwas vorhaben reicht nicht, Blake. Das ist nur der erste Schritt. Und dann muß etwas geschehen. Dampf muß in die Sa che. Dampf, Blake. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Schreiben Sie das Wort Dampf in großen roten Lettern auf ein Stück Karton und hängen Sie es sich gegenüber Ihrem Schreibtisch auf, daß Sie es jedesmal sehen, wenn Sie aufblicken, und auf der Rück seite machen Sie eine Liste von allen freien Büros in Ihrem Ge bäude. Und jedesmal, wenn Sie die Tafel anstarren, dann fragen
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Sie sich, wie viele Büros noch frei sind. Und dann tun Sie was, Blake, tun Sie was, Mann!« »Ja Sir«, sagte Blake niedergeschmettert. »Und inzwischen will ich nichts mehr über anständige Mie ter hören, die ihre Miete bezahlen und den Gesetzen gehorchen. Wenn die Sie in Frieden lassen, lassen Sie die auch in Frieden. Das ist ein Befehl Blake.« »Ich verstehe, Mr. Jimm.« Dann starrte er lange das Telefon auf seiner Gabel an. Schließ lich stand er auf, ging in die Lobby hinaus und betrat eine Liftka bine. Sein Schritt war elastisch, und er hatte das eigenartig er hebende Gefühl eines Mannes, der sich ganz bewußt einem Be fehl des obersten Chefs widersetzt hat. Zwei Stunden später kam er zurück, gebrochen, die Schultern gebeugt und die Mundwinkel herunterhängend. Jedesmal, wenn Blake mit den Telefonarbeitern und den Pak kern zusammen in der Liftkabine war, hatte es kein dreizehntes Stockwerk gegeben. Kaum hatten die Arbeiter aber den Lift ge wechselt, waren sie zu ihrem Ziel gelangt. Es war ganz offen sichtlich: Für ihn gab es kein dreizehntes Stockwerk. Für ihn würde es wahrscheinlich nie eines geben. Um fünf Uhr brütete er immer noch über diese Ungerechtigkeit nach. Soeben kamen die Putzfrauen an. »Wer von Ihnen«, fragte er plötzlich, »kümmert sich um das dreizehnte Stockwerk?« »Ich.« Er zog die Frau in dem grellgrünen Schal in sein Privatbüro. »Wann haben Sie angefangen, im dreizehnten Stockwerk sau berzumachen, Mrs. Ritter?« »Nun, als die neuen Mieter einzogen.« »Aber vorher…« Er wartete und sah sie etwas verängstigt an. Sie lächelte, und ein paar Runzeln in ihrem Gesicht verschoben sich. »Ach du lieber Gott, vorher waren doch keine Mieter da. Nicht im dreizehnten.«
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»Also…«, drängte er. »Also gab es dort nichts sauberzumachen.« Blake zuckte die Achseln und gab auf. Die Putzfrau wollte schon gehen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt sie fest. »Wie…«, fing er an. »Wie ist es denn – ich meine der dreizehnte Stock?« »Wie der zwölfte und der zehnte. Wie jeder andere Stock.« »Und alle«, murmelte er, »kommen dort hin. Alle außer mir.« Und dann wurde ihm klar, daß er zu laut gesprochen hatte. Als die alte Frau den Kopf mitfühlend zur Seite gelegt hatte und ihn ansah. »Vielleicht ist das«, meinte sie leise, »weil sie im drei zehnten Stockwerk nichts zu tun haben.« Er stand immer noch da und dachte darüber nach, als sie und ihre Kolleginnen mit ihren Mops, Besen und Eimern die Treppe hinunterklapperten. Er hörte ein Husten, und gleich darauf das Echo davon hin ter sich. Er wandte sich um. Mr. Tohu und Mr. Bohu verbeugten sich. Eigentlich sah es so aus, als knickten sie ab. »Für den Wegweiser in der Lobby«, sagte der Große und gab Blake eine weiße Geschäftskarte. »Wir möchten so eingetragen werden.« G. TOHU & K. BOHU SPEZIALISTEN FÜR UNFASSBARES Blake leckte sich über die Lippen, kämpfte gegen seine Neu gierde an, unterlag ihr aber. »Was für Unfaßbares?« Der Große sah den Kleinen an. Der Kleine zuckte die Achseln. »Weiches«, sagte er. Und dann gingen sie hinaus. Blake war ganz sicher, daß der Große den Winzigen, kurz bevor sie die Straße betraten, aufhob. Aber er sah nicht, was er mit ihm tat. Und dann ging der Große ganz allein die Straße hinun ter. Von dem Tag an hatte Sydney Blake ein Hobby. Er versuchte, sich einen guten Grund zurechtzulegen, um das dreizehnte
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Stockwerk zu besuchen. Unglücklicherweise gab es keinen Grund, solange die Mieter keinen Ärger machten und die Miete regelmäßig bezahlen. Einen Monat nach dem anderen zahlten sie regelmäßig ihre Miete. Sie machten keinen Ärger. Fensterputzer gingen hinauf, um Fenster zu putzen. Maler, Dekorateure und Zimmerleute gin gen hinauf, um die Büros im dreizehnten Stockwerk zu dekorie ren. Lieferanten stöhnten unter riesigen Ladungen von Briefpa pier. Selbst Leute, die offenbar Kunden waren, gingen in den dreizehnten Stock, eine Gruppe von Leuten, die eigenartigerwei se überhaupt nichts Gemeinsames zu haben schienen: Da ka men arme Hinterwäldler in großkarierten Jacketts, auffällig ge kleidete Buchmacher und gele gentlich sogar einige Herren in dunklen Schneideranzügen, die sich in der Lobby über Aktien kurse unterhielten und dann den Liftboy baten, sie zu Tohu & Bohu zu bringen. Eine ganze Menge Leute fuhren ins dreizehnte Stockwerk. Alle außer Sydney Blake, dachte Sydney Blake. Er versuchte, über die Treppe ins dreizehnte Stockwerk zu gelan gen. Aber im mer wieder kam er völlig außer Atem entweder im vierzehnten oder im zwölften an. Ein- oder zweimal versuchte er, sich hinter Tohu und Bohu in den Lift zu schleichen. Aber wenn er in der Kabine war, fand der Liftboy das Stockwerk nicht. Und dann hatten sich beide umgedreht und den Punkt angelächelt, wo er sich unter den anderen Menschen versteckt hatte, und er war mit rotem Gesicht hinausgegangen. Einmal hatte er sogar – vergebens – versucht, sich als Ge bäudeinspektor zu verkleiden… Nichts klappte. Er hatte einfach im dreizehnten Stockwerk nichts zu suchen. Tag und Nacht dachte er über das Problem nach. Er nahm ab dabei und hatte nicht einmal mehr Zeit, sich die Nägel manikü ren zu lassen. Selbst die Bügelfalten seiner Hosen lit ten darun ter. Und niemand zeigte das leiseste Interesse für die Mieter im dreizehnten Stockwerk.
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Und dann kam der Tag, an dem Miß Kerstenberg von ihrer Schreibmaschine aufblickte. »So schreiben die also ihren Na men?« fragte sie. »T-O-H-U und B-O-H-U? Komisch.« »Was ist denn so komisch daran?« »Diese Namen kommen aus dem Hebräischen. Ich weiß das, weil ich in einer hebräischen Schule Abendkurse gebe. Und mei ne Familie ist sehr religiös, deshalb hatte ich eine ganz orthodo xe Ausbildung. Ich glaube, Religion ist gut, besonders für ein Mädchen…« »Was ist mit diesem Namen?« fragte er ungeduldig. »Nun, in der hebräischen Bibel, ehe Gott die Welt erschuf, war die Welt Tohu oo Bohu. Das oo bedeutet und. Und Tohu und Bo hu – puh, das ist schwer zu übersetzen.« »Versuchen Sie es«, verlangte er. »Versuchen Sie es.« »Nun, die übliche Übersetzung für Tohu oo Bohu ist ohne Form und nichtig. Aber Bohu bedeutet in vielen Sprachen auch leer. »Ausländer«, lachte er. »Ich wußte, daß es Ausländer sind. Ausländer, die Unfug im Sinn haben. Mit solchen Namen.« »Da bin ich gar nicht Ihrer Meinung, Mr. Blake«, sagte sie be leidigt. »Ich bin gar nicht Ihrer Meinung, daß diese Namen nichts taugen. Schließlich kommen sie aus dem Hebräischen.« Und von da an hatte sie nur noch eine finstere Miene für ihn übrig. Zwei Wochen später erhielt Blake eine Nachricht aus dem Hauptbüro von Wellington Jimm & Sons Inc. Immobilien. Tohu und Bohu hatten gekündigt. Sie würden am Monatsende auszie hen. Etwa einen Tag lang ging er herum und führte Selbstge spräche. Wenn man dem Liftführer Glauben schenken durfte, lauteten sie etwa folgendermaßen: »Das sind echte Ausländer, die gehören nicht einmal in dieses Universum!« Die Putzfrauen schauderten, wenn sie einander von dem seltsamen Funkeln in seinen Augen erzählten, wenn er sagte: »Natürlich – dreizehntes Stockwerk. Wo sollten sie denn sonst unterkommen, diese nicht
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existenten Brüder? Ah!« Und einmal hörte Miß Kerstenberg, wie er seine Kaffeetasse anstarrte und sagte: »Die versuchen bestimmt, die Uhr um ein paar Milliarden Jahre zurückzudrehen und wieder von vorne an zufangen. Diese dreckigen Agenten!« Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, das FBI einzuschalten, entschied sich aber dann dagegen. Schließlich weiß man nie, was passiert, wenn die Polizei einmal anfängt, herumzuschnüffeln. Und außerdem begann nach einer Weile Sydney Blake wie der normal zu werden. Er rasierte sich wieder jeden Morgen, und seine Fingernägel waren wieder sauber. Aber er war ein fach nicht mehr der geschniegelte junge Immobilienmakler von frü her. Die ganze Zeit ging ein eigenartiges Triumphgefühl von ihm aus. Und dann kam der letzte Tag des Monats. Den ganzen Morgen war eine Möbelwagenladung nach der anderen hinuntergetragen und weggefahren worden. Als die letzten Pakete herunterkamen, ging Sidney Blake mit einer frischen Blume im Knopfloch auf den Lift zu und trat ein. »Dreizehntes Stockwerk bitte«, sagte er klar und deutlich. Die Tür schloß sich. Die Liftkabine stieg in die Höhe. Im drei zehnten Stockwerk hielt sie an. »Oh, Mr. Blake«, sagte der Große, »das ist aber eine Über raschung. »Was können wir für Sie tun?« »Wie geht es Ihnen, Mr. Tohu?« sagte Blake. »Oder sollte ich Bohu sagen?« Er wandte sich dem Kleinen zu. »Und Ih nen, Mr. Bohu – oder, je nachdem Tohu – ich hoffe, Sie fühlen sich wohl? Ausgezeichnet.« Er ging eine Weile in den leeren, luftigen Büros herum und sah sich um. Selbst die Trennwände waren herausgenommen wor den. Sie waren allein im dreizehnten Stockwerk. »Haben Sie etwas mit uns zu besprechen?« fragte der Große. »Natürlich hat er etwas mit uns zu besprechen«, sagte der
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Winzige mürrisch. »Er muß doch etwas hier zu erledigen haben. Ich wünschte nur, er würde sich beeilen.« Blake verbeugte sich. »Paragraph zehn, Abschnitt drei Ih res Mietvertrages:… der Mieter erklärt sich ferner damit ein verstanden, daß der Vermieter oder sein Beauftragter im Falle einer Kündigung das Recht hat, die Mietsache vor der Räumung durch den Mieter zu untersuchen, um sich zu vergewissern, daß die Mieter sie in ordentlichem Zustand übergeben…« »Das wollen Sie also«, sagte der Große nachdenklich. »Es mußte etwas von der Art sein«, sagte der Kleine. »Nun, junger Mann, dann beeilen Sie sich bitte.« Sydney Blake schlenderte gemächlich herum. Obwohl er eine eigenartige Erregung empfand, mußte er zugeben, daß das drei zehnte Stockwerk sich in nichts von den anderen unterschied. Und doch – ja – und doch. Er rannte ans Fenster und sah hinunter. Er zählte. Zwölf Stockwerke. Er blickte hinauf und zählte. Zwölf Stockwerke. Das machte mit dem Stockwerk, in dem er sich befand, fünf undzwanzig. Und doch hatte das McGowan nur vierundzwanzig Stockwerke. Wo kam dieses zusätzliche Stockwerk her? Und wie sah es in diesem Augenblick aus, wo er den Kopf zu einem Fen ster im dreizehnten Stockwerk hinaussteckte? Er drehte sich um und starrte G. Tohu und K. Bohu an. Sie würden es wissen. Sie standen bei einer Lifttür, die offen war. Ein Liftführer, bei nahe ebenso ungeduldig wie die beiden schwarzgekleideten Männer sagte: »Abwärts? Abwärts?« »Nun Mr. Blake«, sagte der Große. »Befindet sich die Mietsache in gutem Zustand oder nicht?« »Oh ja, das schon«, sagte Blake. »Aber das ist es nicht.« »Nun, das ist uns egal«, sagte der Winzige zu dem Großen. »Gehen wir hier.« »Richtig«, sagte der Große. Er beugte sich hinunter und hob den Kleinen auf. Dann klappte er ihn einmal nach vorne und
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einmal nach hinten. Dann rollte er ihn zusammen und steckte ihn in die rechte Manteltasche. Er trat rückwärts, in den Lift. »Kommen Sie mit, Mr. Blake?« »Nein danke«, sagte Blake. »Ich habe mich viel zu lange be müht, hier herauf zu kommen, um so schnell wieder weg zugehen.« »Wie Sie wünschen«, sagte der Große. »Abwärts«, wies er dann den Liftführer an. Als er ganz allein im dreizehnten Stockwerk war, warf Sydney Blake sich in die Brust. Es hatte so lange gedauert! Er ging zur Tür der Feuertreppe, die er so oft gesucht hatte und zog daran. Sie war verklemmt. Komisch. Er sah genauer hin. Sie war nicht abgeschlossen. Nur verklemmt. Er würde den Hausmeister be auftragen müssen, sich darum zu kümmern. Man konnte nie wissen. Vielleicht hatte er von jetzt an ein zu sätzliches Stockwerk im McGowan Building, das er vermieten konnte. Wie nur das Gebäude von außen aussehen mochte? Er stand vor dem Fenster und versuchte, hinauszusehen. Aber etwas hin derte ihn daran. Das Fenster war offen und doch konnte er den Kopf nicht hinausstecken. Er ging zu dem Fenster zurück, aus dem er zuerst gesehen hat te. Die gleiche Schwierigkeit. Plötzlich begriff er. Er rannte zum Lift und schlug mit der Faust auf den Rufknopf. Er drückte ihn nieder und sein Atem ging schneller und schneller. Durch die Fenster in den Lifttüren sah er Liftkabinen hinauf- und hinunterfahren. Aber im dreizehnten Stockwerk hielten sie nicht an. Es gab nämlich kein dreizehntes Stockwerk. Genaugenommen hatte es nie eines gegeben. Wer hatte je von einem dreizehnten Stockwerk im McGowan Building gehört…?
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Die Befreiung der Erde Das ist also die Geschichte unserer Befreiung. Hört nur gut zu. August war es, ein Dienstag im August. Jetzt sind diese Worte bedeutungslos. So weit sind wir fortgeschritten. Aber es gibt vie le Dinge, die unsere prim itiven Vorfahren kannten und liebten, unsere unbefreiten, unrekonstruierten Vorfahren – die unserem fortgeschrittenen, freien Verstand fremd sind. Dennoch verdient es diese Geschichte, erzählt zu werden mit all ihren unglaubli chen Ortsnamen und Bezugspunkten, die es nicht mehr gibt. Warum? Hat einer von euch etwas Besseres zu tun? Schön, dann hört zu. An einem Dienstag im August tauchte das Schiff am Him mel über Frankreich auf. Das ist ein Teil der Welt, der damals Europa genannt wurde. Fünf Meilen war das Schiff lang und sah, wie man uns berichtete, wie eine riesengroße silberne Zigarre aus. In dem Bericht ist auch die Rede von der Panik und der Verwir rung unter unseren Vorvätern, als das Schiff plötzlich am som merblauen Himmel materialisierte. Wie sie rannten, wie sie schrien! Und wie sie dann aufgeregt die Vereinten Nationen ver ständigten – das war damals eine ihrer wichtigsten Institutionen –, daß ein seltsames Fahrzeug aus Metall von unglaublicher Grö ße über ihrem Land materialisiert hatte. Wie sie hier Anweisung gaben, das Schiff mit Militärflugzeugen zu umgeben, dort über eilt Wissenschaftler zusammenriefen, die mit verschiedenen Ge räten versuchen sollten, sich dem Schiff mit freundlichen Gesten zu nähern. Wie Männer mit Kameras unter dem großen Schiff Bilder davon aufnahmen; Männer mit Schreibmaschinen Artikel darüber schrieben und Männer, die Lizenzen dafür bekamen, Modelle davon verkauften. All diese Dinge taten unsere Vorfah ren, versklavt und unwissend, wie sie waren. Dann klappte mitten am Schiff ein riesiges Stück der Schiffs wand auf, und der erste der Fremden trat mit seinem komplizier ten dreibeinigen Schritt heraus, den alle Menschen in Kürze so kennen und lieben sollten. Er trug Kleidung aus Metall, um sich
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vor den Auswirkungen unserer atmosphärischen Eigenarten zu schützen, ein Kleidungsstück von jener undurchsichtigen, lo cker gefalteten Art, wie es unsere ersten Befreier während ihres gan zen Aufenthalts auf der Erde trugen. In einer Sprache, die keiner verstand, aber die betäubend aus seinem riesigen Mund auf halber Höhe seiner mächtigen acht Meter dröhnte, redete der Fremde eine ganze Stunde, wartete dann, als er geendet hatte, geduldig auf eine Antwort und zog sich, als er keine erhielt, ins Schiff zurück. Jene Nacht, die erste Nacht unserer Befreiung! Oder sollte ich sagen die erste Nacht unserer ersten Befreiung? Jene Nacht je denfalls! Stellt euch unsere Vorfahren vor, wie sie ihren primiti ven Beschäftigungen nachgingen: Eishockey spielten, vor den Fernsehern saßen, Atome zertrümmerten, Bestätigungen unter schrieben – all die unglaublichen Kleinigkeiten, die dazu beitru gen, daß jene lang vergessene Zeit so kompliziert war – vergli chen mit der majestätischen Ein fachheit der Gegenwart. Die große Frage war natürlich – was hatte der Fremde gesagt? Hatte er die menschliche Rasse aufgefordert, sich zu ergeben? Hatte er verkündet, daß er sich auf einer friedlichen Handelsmis sion befand und hatte er dann ein Angebot gemacht – zum Bei spiel ein Angebot für die Eiskappe des Nordpols – und sich höf lich zurückgezogen, damit wir uns allein über seine Bedingungen unterhalten konnten? Oder hatte er vielleicht nur verkündet, daß er der neu ernannte Botschafter einer freundlichen, intelligenten Rasse war – und uns gebeten, ihn zu den richtigen Stellen wei terzuleiten, damit er seine Beglaubigungsschreiben vorlegen konnte? Es machte einen wahnsinnig, das nicht zu wissen. Da die Entscheidung bei den Diplomaten lag, kam man schließ lich in jener Nacht zu dem Schluß, die letztgenannte Möglichkeit anzunehmen, und demzufolge wartete am nächsten Morgen eine Delegation der Vereinten Nationen unter dem Bauch des bewe gungslosen Sternenschiffes. Die Delegation hatte den Auftrag, die Fremden willkommen zu heißen. Als weiterer Beweis der freundlichen Absicht der Menschheit erhielten die Flugzeuge, die über dem riesigen Schiff in der Luft patrouillierten, den Auftrag,
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nur eine einzige Atombombe mit sich zu führen und eine kleine weiße Flagge zu zeigen – neben dem UNO-Banner und ihren na tionalen Emblemen. So traten unsere Vorfahren dieser größten Herausforderung der Geschichte entgegen. Als der Fremde ein paar Stunden später wieder hervortrat, ging die Delegation ihm entgegen, verbeugte sich, und bat ihn in den drei offiziellen Sprachen der Vereinten Nationen – Englisch, Französisch und Russisch – diesen Planeten als seine Heimat zu betrachten. Er hörte ihnen würdevoll zu und wiederholte dann seine Rede vom Vortag – die für ihn offenbar mit Gefühlswerten und hoher Bedeutung ebenso angereichert war, wie sie für die Vertreter der Weltregierung unverständlich war. Zum Glück entdeckte ein gebildeter junger Inder aus dem Se kretariat der UNO eine auffällige Ähnlichkeit zwischen der Spra che des Fremden und einem obskuren bengalischen Dia lekt, mit dem er sich früher einmal beschäftigt hatte. Wie wir alle heute wissen, hatte das den Grund, daß beim letzten Besuch der Fremden auf der Erde die fortgeschrittenste Zivilisation der Menschheit in einem feuchten Dschungeltal in Bengalen lag. Man hatte damals ausführliche Wörterbücher jener Sprache angefer tigt, damit die Verständigung mit den Eingeborenen der Erde künftigen Forschungsexpeditionen keine Schwierigkeiten machen sollte. Aber ich eile meiner Geschichte voraus. Wie jemand, der zuerst die saftigen Wurzeln kauen möchte, ehe er die trockenen Stiele verzehrt. Laßt mich ausruhen und mich einen Augenblick Luft schnappen. Oho, das waren damals ungeahnte Erlebnisse für unsere Rasse. Ihr dort hinten, hört mir zu. Ihr seid noch nicht alt genug, um diese Geschichte zu erzählen. Ich erinnere mich gut, wie mein Vater sie mir erzählte und sein Vater vor ihm. Ihr werdet warten, genau wie ich gewartet habe, und werdet zuhören, bis zu viel Land zwischen den Wasserlöchern ist und mich vom Leben ab schließt. Dann könnt ihr euren Platz im saftigsten Binsenfeld ein nehmen und euch zwischen den Sprüngen ausruhen und den gleichgülti
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gen Jungen das große Epos unserer Befreiung schildern. Den Vorschlägen des jungen Hindu folgend, wurde der ein zige Professor der vergleichenden Sprachkunde in der ganzen Welt, der in der Lage war, jenen toten Dialekt zu verstehen und zu übersetzen, von einem akademischen Kongreß in New York her beigerufen, wo er gerade einen Vortrag hielt, den er achtzehn Jahre lang vorbereitet hatte: Vorstudien offenbarer Verwandt schaft zwischen gewissen Vergangenheitspartizipien im Altsans krit und der gleichen Zahl von Substantiven im modernen Sze chuanesisch. Ja all diese Dinge und noch viel viel mehr – mühten sich unsere armen Vorfahren zu tun. Soll man dagegen nicht unsere Freihei ten aufrechnen? Der verärgerte Gelehrte wurde – ohne, wie er sich bitter be klagte, einige seiner wichtigsten Wortlisten – mit der schnellsten Düsenmaschine in die Gegend südlich von Nancy geflogen, wo in jenen lang vergangenen Tagen der riesige schwarze Schatten des fremden Raumschiffs lag. Dort machten ihn die Delegationen der UNO mit seiner Aufgabe vertraut. Eine neue überraschende Entwicklung hatte nicht dazu beigetragen, ihre Nervosität zu mindern. Einige weitere Fremde waren aus dem Schiff zum Vorschein gekommen. Sie trugen große Mengen eines schimmernden Metalls, aus dem sie eine Art von Maschine zusammenzubauen begannen. Sie war größer als der größte Wolkenkratzer, den die Menschheit je gebaut hatte und gab Geräusche von sich wie ein lebendes Wesen. Der erste Fremde stand immer noch höflich bei den heftig transpirierenden Diplomaten und wiederholte gelegentlich seine kleine Rede in einer Sprache, die bereits beinahe vergessen war, als man den Grundstein zur Bibliothek von Alexandria legte. Die Männer von der UNO antworteten immer wieder, und jeder hoffte verzweifelt, die mangelnde Vertrautheit des Fremden mit seiner eigenen Sprache dadurch zu überkommen, daß er seine Rede mit reichli chen Gesten und ausdrucksvoller Mimik untermalte. Später ver kündete eine brillante Studie von Anthropologen und Psycholo gen, wie schwierig eine derart physische gestenhafte Verständi
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gung mit Wesen war, die – wie es bei den Fremden der Fall war – fünf manuelle Gliedmaßen hatten und ein ein ziges, regloses Auge von jener Art, wie Insekten es besitzen. Die Probleme und Qualen des Professors, den man sozusagen im Kielwasser der Fremden um die ganze Welt hetzte und der sich verzweifelt bemühte, ein brauchbares Vokabular in einer Sprache aufzubauen, deren Eigenheiten er nur aus den begrenz ten Beispielen extrapolieren konnte, die ein Fremder mit einem absolut fremdartigen ausländischen Akzent lie ferte – diese Qua len waren gleichsam unbedeutend, verglich man sie mit der Un ruhe, die die Vertreter der Weltregierungen empfanden. Sie mußten mitansehen, wie die extraterrestrischen Besucher jeden Tag einen neuen Ort auf ihrem Planeten aufsuchten und dort ein titanenhaftes Gebilde aus schimmerndem Metall errichteten. Zugegeben, da war immer der Fremde, der seine offenbar überwachende Arbeit unterbrach, um die vorbereitete kleine Re de zu halten; aber nicht einmal die vorzüglichen Manieren, die er an den Tag legte, wenn er bis zu sechsundfünfzig Ant worten in ebensovielen Sprachen entgegennahm, konnten die Panik min dern, die jedesmal dann entstand, wenn ein menschlicher Ge lehrter bei der Untersuchung der schimmernden Maschinen ir gendeinen Vorsprung berührte und sofort zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpfte. Zwar war dies kein häufiges Ereig nis, geschah jedoch oft genug, um bei den menschlichen Verwal tern jener Tage chronische Appetit- und Schlaflosigkeit hervorz u rufen. Schließlich hatte der Professor ein genügend großes Vokabular zusammengestellt, um eine Unterhaltung zu ermöglichen. Er – und durch ihn die Welt - erfuhren daraufhin folgendes: Die Fremden waren Angehörige einer hochentwickelten Zivilisation, die ihre Kultur durch die ganze Galaxis verbreitet hatte. Im Wis sen um die Grenzen der bis dato noch unterentwickelten Lebe wesen, die später auf der Erde die herrschende Rasse geworden waren, hatten sie uns einer Art wohlwollendem Scherbengericht unterworfen. Bis entweder wir oder unsere Institutionen eine Ebene erreicht hatten, die eine assoziierte Mitgliedschaft in der galaktischen Föderation erlaubte (in den ersten paar Jahrtausen
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den natürlich unter der Obhut einer der älteren und wichtigeren Spezies jener Föderation), bis zu jenem Zeitpunkt war jegliches Eindringen in unsere Privatsphäre und unsere Ignoranz – mit Ausnahme einiger weniger wissenschaftlicher Expeditionen, die unter strengster Geheimhaltung stattfinden mußten – durch uni versale Übereinkunft strikt verboten worden. Einige Individuen, die diese Vorschrift verletzt hatten – unter großen Kosten für unsere rassische Gesundheit und unter enor mem Nutzen für unsere herrschenden Religionen – waren so prompt und so streng bestraft worden, daß seit einiger Zeit kei ne Verletzungen der Vorschrift mehr vorgekommen waren. Un sere Wachstumskurve der letzten Zeit war so zufriedenstellend gewesen, um zu der Hoffnung Anlaß zu geben, daß dreißig oder vierzig weitere Jahrhunderte ausreichen würden, um uns für den Status eines Bewerbers um die Aufnahme in die Föderation reif zu m achen. Unglücklicherweise waren die Völker dieser stellaren Ge meinschaft vielfältig und in ihrer ethischen Einstellung ebenso verschieden wie in ihrer biologischen Zusammensetzung. Es gab eine ganze Anzahl Spezies, die in sozialer Hinsicht weit hinter den Dendi, wie unsere Besucher sich nannten, zurückhinkten. Eine davon, eine Rasse schrecklicher wurmartiger Organismen, die als die Troxxt bekannt waren – in technologischer Hinsicht ebenso weit fortgeschritten, wie ihre moralische Entwicklung zu rückgeblieben war –, hatte sich plötzlich freiwillig für die Position des absoluten Beherrschers der Galaxis gemeldet. Sie hatten einige wichtige Sonnen mit den dazugehörigen Planetensyste men annektiert und nach einer ausgeklügelten Dezimierung der so eroberten Rassen ihre Absicht verkündet, alle Spezies mit gnadenloser Vernichtung zu bestrafen, die nicht in der Lage wa ren, aus dieser Lektion den Wert bedingungsloser Kapitulation zu lernen. In ihrer Verzweiflung hatte sich die galaktische Föderation an die Dendi, eine der ältesten, selbstlosesten und mächtig sten Rassen im zivilisierten Raum gewandt und sie beauftragt – sozu sagen als militärischen Arm der Föderation – die Troxxt zu jagen und sie überall dort zu besiegen, wo sie auf illegale Weise die
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Herrschaft angetreten hatten, und ihnen gleichzeitig für alle Zei ten die Möglichkeit zu nehmen, Krieg zu führen. Dieser Befehl war beinahe zu spät gekommen. Die Troxxt hat ten überall das Gesetz des Handels an sich gerissen, so daß die Dendi die Eroberer nur unter enormen Opfern einigermaßen in Schach halten konnten. Jahrhunderte hatte der Konflikt in unse rem riesigen Inseluniversum getobt. In seinem Verlauf waren dicht besiedelte Planeten aufgelöst worden, Sonnen waren ex plodiert und ganze Sterngruppen zu kosmischem Staub zerfallen. Vor kurzer Zeit war eine Art kosmisches Patt eingetreten, und beide Seiten nutzten die Flaute, um schwache Stellen in ihrem Verteidigungsgürtel zu befestigen. So waren die Troxxt auch in jenen bisher friedlichen Abschnitt des Weltraums eingedrungen, in dem sich – unter anderem – unser Sonnensystem befand. Unser winziger Pla net mit seinen geringen Bodenschätzen interessierte sie nicht, auch unsere Nachbarn am Himmel wie Mars oder Jupiter erregten ihr Interes se nicht sonderlich. Sie hatten ihr Hauptquartier auf einem Pla neten von Proxima Centauri, dem unserer Sonne am nächsten liegenden Stern, eingerichtet und beschäftigten sich jetzt damit, ihr Offensiv-Defensiv-Netz zwischen Rigel und Aldebaran zu ko n solidieren. An diesem Punkt ihrer Erklärungen, so meinten die Dendi, wurde die interstellare Strategie zu kompliziert für verba le Darstellungen, und man brauchte dreidimensionale Karten. Wir sollten daher, so schlugen sie vor, einfach die Erklärung hin nehmen, daß es für sie von unmittelbarer Wichtigkeit war, schnell zuzuschlagen und die Position der Troxxt auf Proxima Centauri unhaltbar zu machen – das heißt einen Stützpunkt in nerhalb der feindlichen Verbindungslinien zu errichten. Und der geeignetste Punkt für einen solchen Stützpunkt war die Erde. Die Dendi entschuldigten sich ausführlich dafür, daß sie uns in unserer friedlichen Entwicklung störten, eine Störung, die uns bei unserem gegenwärtigen delikaten Entwicklungsstand teuer zu stehen kommen konnte. Aber – wie sie in makello sem Alt bengalisch erklärten – vor ihrer Ankunft waren wir praktisch be
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trachtet (natürlich ohne es zu wissen) eine Satrapie der schreck lichen Troxxt geworden. Jetzt dürften wir uns als befreit betrach ten. Dafür dankten wir ihnen überschwenglich. Außerdem, so erklärte ihr Anführer stolz, führten die Dendi ei nen Krieg für die Sache der Zivilisation gegen einen so schreckli chen, so unglaublich gemeinen Feind, daß man diesen kaum als zum intelligenten Leben gehörig bezeichnen durfte. Sie kämpften nicht nur für sich selbst, sondern für jedes einzelne loyale Mit glied der galaktischen Föderation; für jede einzelne kleine und hilflose Spezies; für jede einzelne obskure Rasse, die zu schwach war, um sich selbst gegen jenen übermächtigen Feind und Ero berer zu verteidigen. Wollte die Menschheit sich etwa aus einem solchen Konflikt heraushalten? Es gab nur ein kurzes Zögern, während diese Information bei uns aufgenommen und verdaut wurde. Und dann brüllte die Menschheit ein mächtiges »Nein!« durch ihre Massenmedien wie Fernsehen, Zeitungen und Dschungeltrommeln zurück. »Wir werden nicht abseits stehen. Wir werden euch helfen, diese Be drohung für das ganze Universum zu vernichten! Sagt uns nur, was wir tun sollen!« Nun, eigentlich nichts Bestimmtes, erwiderten die Fremden et was verlegen. Vielleicht würde es in Kürze etwas geben, das ganz nützlich wäre, aber wenn wir uns für den Augenblick darauf konzentrierten, sie nicht zu stören, solange sie ihre Geschütz stellungen aufbauten, dann wären sie uns wirklich sehr dank bar… Diese Antwort erzeugte unter den zwei Milliarden Menschen ei nige Unsicherheit. Es gab ein paar Tage – so berichtet die Le gende –, da die Menschen nicht wagten, einander in die Augen zu sehen. Und dann erholte sich die Menschheit von diesem Schlag, den ihr Stolz erlitten hatte. Sie würde auch in ihrer nie deren Position bestrebt sein, der Rasse zu helfen, die sie vor der Unterwerfung durch die schrecklichen Troxxt bewahrt hatte. Da für wollen wir das Andenken unserer Vorfahren hochhalten! Wo l len wir ihre ehrliche Mühe inmitten ihrer Ignoranz besingen!
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Alle stehenden Heere, alle See- und Luftflotten wurden neu or ganisiert, um die Waffen der Dendi zu bewachen. Kein Mensch durfte sich diesen Maschinen auf mehr als zwei Meilen nähern, wenn er keinen von den Dendi gegengezeichneten Paß vorwei sen konnte. Da aber nicht bekannt wurde, daß sie während der ganzen Zeit ihrer Anwesenheit auf diesem Pla neten einen sol chen Paß unterzeichnet hatten, wurde, soweit bekannt ist, diese Möglichkeit nie genutzt, und demzufolge blieb die unmittelbare Umgebung der extraterrestrischen Waffen völlig frei von zwei beinigen Geschöpfen. Die Zusammenarbeit mit unseren Befreiern erhielt Vorrang vor allen anderen menschlichen Aktivitäten. Ein Professor der Uni versität Harvard war es, der in einer Rundfunkdiskussion über »Die Position des Menschen in einem etwas überzivilisierten Uni versum« das Schlagwort dafür ausgab. »Wollen wir doch unser individuelles Ich und unsere kollektiven Vorurteile vergessen«, rief der Professor an einer Stelle aus. »Wollen wir alles dem Ziel unterordnen, daß die Freiheit des Sonnensystems im allgemeinen und der Erde im speziellen be wahrt werden muß!« Trotz des komplizierten Satzbaus wurde dieses Schlagwort überall aufgenommen und wiederholt. Dennoch war es manch mal schwer, genau zu wissen, was die Dendi wollten – zum Teil wegen der beschränkten Zahl verfügbarer Dolmetscher, zum Teil auch wegen der Tendenz ihres Anführers, nach mehrdeutigen und dennoch lakonischen Ankündigungen in seinem Schiff zu verschwinden – so wie zum Beispiel nach jenem Befehl »Evaku iert Washington!«. Bei dieser Gelegenheit schwitzten sowohl der Außenminister als auch der amerikanische Präsident fünf Stunden eines Julitages in jenem zeremoniellen Kostüm der barbarischen Vergangenheit, das politische Führer tragen mußten, wenn sie mit den Vertre tern einer anderen Macht verhandelten: Zylinder, steifer Kragen und dunkler Anzug. Sie warteten und schwitzten unter dem rie sigen Schiff, das zu betreten noch keinem Menschen gestattet worden war. Dort also warteten sie geduldig und schwitzend, bis
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der Anführer der Dendi zum Vorschein kam und ihnen sagte, ob er den Staat Washington oder die Stadt Washington gemeint hatte. Was uns über jene Evakuierung berichtet wird, ist ein Ruh mesblatt in der Geschichte jener Tage. Das ganze Capitol in we nigen Tagen zerlegt und beinahe intakt in den Vorbergen der Rocky Mountains wiedererbaut; die verschwundenen Archive, die später in der Jugendabteilung einer öffentlichen Bibliothek in Du luth, Iowa, wieder auftauchten; die Flaschen mit Wasser aus dem Potomac River, die man nach Westen trug und dann unter großem Zeremoniell in den kreisförmigen Betongraben goß, der um die Villa des Präsidenten errichtet worden war (aus dem es allerdings wegen der relativ niedrigen Luftfeuchtigkeit jener Ge gend leider innerhalb einer Woche verdunstete), all dies sind stolze Augenblicke in der galaktischen Geschichte unserer Spe zies, wovon auch das Wissen späterer Tage, daß die Dendi an jener Stelle gar keine Batterie errichten wollten, ja nicht einmal ein Munitionslager, sondern lediglich ein Freizeitgelände für ihre Truppen, keinen Abbruch tun kann. Es ist jedoch nicht abzuleugnen, daß der Stolz unserer Rasse einen schweren Schlag erlitt, als im Zug eines routinemäßigen Interviews in Erfahrung gebracht wurde, daß die Fremden in mi litärischer Hinsicht nur einer Gruppe entsprachen, daß ihr Anfüh rer also nicht der große Gelehrte und Militärstratege war, von dem wir angenommen hätten, daß die galaktische Föderation ihn für den Schutz Terras einsetzte, sondern nur das interstellare Equivalent eines Feldwebels war. Daß der Präsident der Vereinigten Staaten, der Oberbe fehlshaber von Armee und Marine, so unterwürfig auf einen Un teroffizier gewartet hatte, war nur schwer zu verdauen, aber daß die bevorstehende Schlacht um die Erde nur die historische Be deutung eines Scharmützels haben sollte, war unglaublich er niedrigend. Und dann war da die Sache mit dem »Lendi«. Gelegentlich warfen die Fremden beim Einbau oder der Betreuung ihres pla netenweiten Waffensystems ein offenbar unbrauchbares Stück
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des sprechenden Metalls weg. Von der Maschine getrennt, deren Teil es gewesen war, schien die Substanz all jene Eigenschaften zu verlieren, die es der Menschheit gefährlich machten, jedoch einige zu behalten, die recht nützlich waren. Wenn zum Beispiel ein Stück jenes fremdartigen Materials mit terrestrischem Metall in Verbindung gebracht wurde – und sorgfältig vom Kontakt mit anderen Substanzen isoliert –, so wurde es binnen weniger Stunden genau das Metall, das es berührte, ob das nun Zink, Gold oder reines Uran war. Dieser Stoff – die Fremden nannten ihn »Lendi« – war in kurzer Zeit in einer Wirtschaft, die durch plötzliche und unerwartete Evakuierung ihrer wichtigsten Industriezentren völlig zerrüttet war, äußerst gefragt. Überall, wohin die Fremden auch gingen, standen Horden von Menschen und riefen – natürlich außerhalb der Zwei-MeilenGrenze – »Bitte Lendi, Dendi!« Alle Versuche der Polizeibehörden des Planeten, dieses schamlose Betteln einzustellen, waren nutz los – insbesondere, da es den Dendi unerklärliches Vergnügen zu bereiten schien, kleine Lendistücke in die Menge zu werfen. Als dann schließlich die Polizisten und Soldaten begannen, sich dem alles niedertrampelnden Run auf jene Stellen anz uschließen, wo hin das so vielseitige Metall gefallen war, gaben die Regierungen auf. Die Menschheit begann beinahe darauf zu hoffen, daß der An griff bald kam, um damit nicht alltäglich ihre eigene Min derwertigkeit vor Augen zu haben. Einige besonders fanatisch Konservative unter unseren Ahnen begannen vielleicht sogar die Befreiung zu bedauern. Ja daß von gibt
das taten sie, Kinder, das taten sie! Wollen wir nur hoffen, diese Verräter unserer Rasse unter den ersten waren, die den roten Flammenbällen geschmolzen wurden. Schließlich es beim Fortschritt kein Zurück.
Zwei Tage, ehe der Monat September vorüber war, verkün deten die Fremden, daß sie auf einem der Monde des Saturn Ak tivität entdeckt hätten. Offenbar arbeiteten sich die Troxxt lang sam im Sonnensystem vor. Unter diesen Umständen, so warnten
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die Dendi, war in Kürze mit einem Angriff jener wurmartigen Monstren zu rechnen. Nur wenige Menschen schliefen in jener Nacht. Fast aller Augen waren zum Himmel gerichtet, einem Himmel, den die aufmerk samen Dendi sorgfältig von Wolken gereinigt hatten. Die Nach frage nach billigen Teleskopen und Filterscheiben war in einigen Bereichen des Planeten groß, während in anderen Gegenden wiederum ein wahrer Boom an Zaubersprüchen und Amuletten herrschte. Die Troxxt griffen in drei zylinderförmigen schwarzen Schiffen an; eines in der südlichen Halbkugel und zwei in der östlichen. Mächtige grüne Flammen schössen aus ihren windigen Fahrzeugen, und alles, was diese Flammen berührten, implodier te zu glasartigem Sand. Aber keiner der Dendi wurde verletzt, und aus den Waffenanlagen quollen scharlachrote Wolken, die die Troxxt hungrig verfolgten, bis sie wieder zur Erde zurückfie len. Hier hatten sie eine unglückliche Nachwirkung. Jedes bewohnte Gebiet, in das diese blaßrosa Wölkchen fielen, wurde schnell in einen Friedhof verwandelt – einen Friedhof freilich, der, wenn die Überlieferungen zutreffen, eher nach Kühle als nach Grab roch. Die Bewohner jener unglückseligen Gegenden hatten unter enormem Temperaturanstieg zu leiden. Ihre Haut wurde zuerst rot, dann schwarz; ihr Haar und ihre Nägel schrumpften ein; ihr Fleisch verflüssigte sich und faulte förmlich auf den Knochen. Wirklich eine unangenehme Todesart für ein Zehntel der menschlichen Rasse. Der einzige Trost war, daß eine der roten Wolken einen schwarzen Zylinder fing. Als er demzufolge weiß glühend geworden war und in Form eines metallenen Regens niederging, zogen sich die beiden Schiffe, die die nördliche Halb kugel angegriffen hatten, abrupt in den Asteroidengürtel zurück, wohin die Lendi wegen ihrer beschränkten Zahl sie nicht verfolg ten. In den nächsten vierundzwanzig Stunden hielten die Frem den – die ortsansässigen Fremden wollen wir sagen – Berech nungen, reparierten ihre Waffen und empfanden Mitgefühl für uns. Die Menschheit begrub ihre Toten. Letzteres war eine Sitte unserer Vorfahren, die äußerst bemerkenswert war; natürlich eine Sitte, die sich nicht bis in moderne Zeiten halten hat.
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Als die Troxxt zurückkehrten, war die Menschheit bereit, war konnten unsere Vorfahren nicht, wie sie so glühend wünschten, zu den Waffen greifen, doch konnten sie immer zusehen und Be schwörungen murmeln. Wieder eilten die kleinen roten Wolken in die oberen Bereiche der Stratosphäre hinaus; wieder heulten die grünen Flammen und zerrten an den schnatternden Türmen der Lendi; wieder starben Millionen von Menschen in den Flammen des Krieges. Aber diesmal war es etwas anderes: Die grünen Flammen der Troxxt veränderten, nachdem das Gefecht drei Stunden gedauert hatte, plötzlich die Farbe; sie wurden dunkler, beinahe blau. Und als das geschah, brach ein Dendi nach dem anderen in den Stel lungen zusammen und starb. Und dann wurde offenbar das Signal zum Rückzug gegeben. Die Überlebenden kämpften sich zu dem riesigen Schiff zurück, mit dem sie gekommen waren. Auf einer Feuerwand, die eine rotglühende Furche durch Südwestfrankreich brannte und Mar seille ins Mittelmeer stieß, raste das Schiff in den Weltraum und floh feige nach Hause. Die Menschheit wappnete sich für die bevorstehende Schrek kensherrschaft der Troxxt. Sie erinnerten in ihrem Aussehen wirklich an Würmer. Als die beiden nachtschwarzen Zylinder gelandet waren, kamen sie aus ihren Schiffen, ihre winzigen, in Segmente geteilten Körper, wa ren auf ein kompliziertes Gebilde aus Metallrücken gestützt. Sie errichteten eine kuppelartige Festung um jedes Schiff – eines in Australien, eines in der Ukraine –, fingen die wenigen mutigen Individuen ein, die sich nahe an die Landeplätze herangewagt hatten, und verschwanden mit ihren Gefangenen in ihren Schif fen. Während einige Menschen sich militärischem Drill unterwarfen, brüteten andere verängstigt über wissenschaftlichen Texten und Aufzeichnungen, die sich auf den Besuch der Dendi bezogen – und hofften dabei verzweifelt, einen Weg zu finden, um die Un abhängigkeit der Erde vor diesen Eroberern der Galaxis auf rechtzuerhalten.
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Dabei wurden während dieser Zeit die menschlichen Ge fangenen in den künstlich abgedunkelten Raumschiffen (da die Troxxt keine Augen hatten, brauchten sie nicht nur kein Licht, sondern empfanden es auf ihrer unpigmentierten Haut sogar als unangenehm) keineswegs zur Erlangung von Informationen ge foltert, und auch nicht viviseziert, sondern erzogen. In der troxxtischen Sprache erzogen. Zugegeben, eine große Zahl war völlig ungeeignet für die Auf gabe, die die Troxxt ihnen gestellt hatten, und deshalb wurden jene auch zu Dienern für erfolgreichere Schüler. Und eine ande re, wenn auch kleinere Gruppe verfiel in eine Art frustrierter Hy sterie – die von schwacher Unzufriedenheit bis zu völliger kata tonischer Depression reichte – wegen der Schwierigkeiten, die eine Sprache bot, bei der jedes einzelne Verb unregelmäßig war und deren Myriaden von Präpositionen aus Kombinationen von Nomina und Adjektiva gebildet wurden, die aus dem Subjekt des vorhergehenden Satzes abgeleitet waren. Aber am Ende wurden schließlich elf Menschen freigelassen, die als beglaubigte Dol metscher der troxxtischen Sprache glänzen durften. Diese Befreier, so schien es, hatten Bengalen zur Hochblüte seiner seit Jahrtausenden verblaßten Zivilisation nicht besucht. Ja, diese Befreier. Denn die Troxxt waren am sechsten Tag des alten, beinahe mythischen Monats Oktober gelandet. Und der sechste Oktober ist natürlich der Heilige Tag der Zweiten Befrei ung. Laßt uns immer daran denken, laßt es uns nie vergessen. (Wenn wir nur sagen könnten, welcher Tag in unserem Kalender das ist!) Der Bericht, den die Dolmetscher gaben, veranlaßte die Men schen, schamerfüllt die Köpfe hängen zu lassen und mit den Zähnen zu knirschen über die Täuschung, die die Dendi an uns geübt hatten. Zwar traf es zu, daß die galaktische Föderation den Dendi den Auftrag gegeben hatten, die Troxxt aufzuspüren, um sie zu ver nichten. Das hauptsächlich deswegen, weil die Dendi die galakti sche Föderation waren. Sie gehörten zu den ersten intelligenten
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Ankömmlingen auf der interstellaren Szene. Die riesigen Wesen hatten eine mächtige Polizeistreitmacht organisiert, um sich ge gen jede nur denkbare Auflehnung zu schützen, die sich in ferner Zukunft ergeben könnte. Diese Polizeimacht war dem Anschein nach ein Kongreß aller denkenden Lebewesen in der ganzen Ga laxis; in Wirklichkeit aber diente dieser Kongreß nur dazu, sie unter beständiger Kontrolle zu halten. Die meisten bis dahin entdeckten Spezies waren gelehrig und leicht zu führen; die Dendi hatten vom Anfang aller Zeiten an geherrscht, sagten sie – nun gut, dann sollten sie doch weiter regieren. Machte das einen so großen Unterschied? Aber im Laufe der Jahrhunderte wuchs die Opposition gegen die Dendi – und das Rückgrat dieser Opposition waren die proto plasmatischen Wesen. Das, was später als Protoplasmatische Liga bekanntgeworden war. Wenn auch nur von geringer Zahl, so unterschieden sich doch die Geschöpfe, deren Lebenszyklen von den chemischen und physikalischen Eigenschaften des Protoplasmas abhin gen, in Größe, Aufbau und Spezialisierung ungemein. Eine galaktische Gemeinschaft, die den Ursprung ihrer Macht von ihnen bezog, würde dynamisch statt statisch sein, würde For schungsexpeditionen außerhalb der Galaxis fördern, anstatt sie zu unterbinden, wie es im Augenblick der Fall war, weil die Dendi fürchteten, überlegenen Rassen zu begegnen. Eine solche Ge meinschaft würde eine wahre demokratische Vereinigung der Spezies sein – eine wirkliche biologische Republik –, in der alle Geschöpfe von ausreichender Intelligenz und genügender kultu reller Entwicklung selbst die Kontrolle über ihre Zukunft ausüben konnten, so wie es im Augenblick nur den Dendi möglich war, die auf Siliziumbasis aufgebaut waren. Aus diesem Grunde waren die Troxxt – die einzige wichtige Rasse, die es mit Nachdruck abgelehnt hatte, ihre Waffen abzu liefern, so wie man es von allen Mitgliedern der Föderation ver langte – von einem kleineren Mitglied der Protoplasmatischen Liga gebeten worden, es vor der Rache der Dendi zu schützen, einer Rache, die man ihm angedroht hatte, weil es eine unge
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setzliche Forschungsreise außerhalb der Grenzen der Galaxis un ternommen hatte. Im Wissen um die Entschlossenheit der Troxxt, ihre organisch chemischen Verwandten zu verteidigen und im Wissen um die plötzlich aufgeflammte Feindschaft von wenigstens zwei Dritteln der interstellaren Völker hatten die Dendi eine Rumpfsitzung des galaktischen Rates einberufen; hatten erklärt, daß Revolution herrsche und sich angeschickt, ihre Herrschaft durch die Vernich tung der Lebensformen von hundert Welten zu festigen. Die Troxxt waren hoffnungslos in der Minderzahl und auch an Ausrü stung unterlegen. Nur wegen der Genialität und der Selbstlosig keit anderer Mitglieder der Protoplasmatischen Liga hatten sie den Kampf fortsetzen können, da ihre Verbündeten die Vernich tung riskierten, nur um ihnen neuentwickelte Geheimwaffen lie fern zu können. Hätten wir es nicht ahnen müssen? Freilich, unsere Besucher der jüngsten Zeit hatten sorgfältig darauf geachtet, auch keinen Millimeterbreit ihrer Körper der äußerst gefährlichen Atmosphäre der Erde auszusetzen. Dennoch hätten wir ahnen müssen, daß ihre Körperchemie auf komplizierten Siliziumverbindungen ba sierte und nicht auf Kohlewasserstoff. Die Menschheit ließ den Kopf hängen und räumte ein, nie auf den Verdacht gekommen zu sein. Nun, so meinten die Troxxt großmütig, wir wären äußerst uner fahren und vielleicht etwas zu vertrauensselig gewesen. Dem konnte man es zuschreiben. Unsere Naivität sollte uns aber – ohne Rücksicht auf die ihnen (unseren Befreiern) entstehenden Kosten – nicht von jener Vollbürgerschaft abhalten, die nach Meinung der Troxxt einem jeden denkenden Wesen gebührte. Wenn nur unsere Anführer, unsere korrupten, verantwor tungslosen Anführer nicht wären… Die ersten Hinrichtungen von UNO-Beamten, Staatschefs, Prä bengalidolmetschern als »Verräter des Protoplasmas« – nach den längsten und beinahe fairsten Prozessen in der Geschichte der Erde – fanden eine Woche nach dem GA-Tag statt, jenem
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ruhmvollen Anlaß an dem unter großem Zeremoniell die Menschheit aufgefordert wurde, sich zunächst der Protoplasmati schen Liga und dann der Neuen und Demokratischen Föderation aller Spezies und aller Rassen anzuschlie ßen. Und das war noch nicht alles. Während die Dendi uns ge ringschätzig zur Seite geschoben hatten, als sie sich anschickten, unseren Planeten in die Tyrannei zu führen, zogen es die Troxxt – mit jener echten wahren Freundlichkeit, die ihren Namen gleichbedeutend mit Demokratie und Anstand gemacht hatte, wo auch immer denkende Wesen sich zwischen den Sternen trafen – , unsere Zweiten Befreier, wie wir sie voll Liebe nannten, tat sächlich vor, daß wir sie bei der Arbeit der planetarischen Vertei digung unterstützten. So lösten sich die Eingeweide der Menschen im unsichtbaren Licht der Kräfte auf, die dazu benutzt wurden, die neuen, un glaublich komplizierten Waffen zu montieren; Männer wurden zu Tausenden krank und starben in den Bergwerken, die die Troxxt gebaut hatten, tiefer als jedes Bergwerk, das der Mensch bisher gegraben hatte; menschliche Leiber platzten und explodierten auf den Ölfeldern unter dem Meer, die die Troxxt für wichtig er klärt hatten. Auch Kinder wurden für Sammelaktionen wie »Platinschrott für Prokyon« und »Radioaktiver Abfall für Deneb« eingesetzt. Die Hausfrauen wurden förmlich angefleht, Salz zu sparen – eine Substanz, die die Troxxt in geradezu fantastischen Mengen be nötigten –, und bunte Plakate baten: nicht salzen – zuckern! Und über allem – um uns besorgt wie kluge Eltern – standen unsere Behüter und schritten vorsichtig auf ihren Metallkrücken dahin, während ihre bleichen, kleinen Körper zusammengerollt in den Sänften lagen, die unter den Beinpaaren hingen. Inmitten völliger wirtschaftlicher Lähmung, wie sie die Konzen tration aller Produktionskapazitäten auf Waffen verursachte und trotz der verängstigten Hilferufe jener, die an besonderen Indu strieverletzungen litten, die unsere Mediziner einfach nicht heilen oder pflegen konnten – in all diesem Durcheinander tat uns doch die Erkenntnis gut, daß wir endlich unseren angestammten Platz
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in der künftigen Regierung der Galaxis eingenommen hatten und jetzt sogar mithelfen durften, das Universum der Demokratie zurückzugewinnen. Aber die Dendi kehrten zurück, um dieses Idyll zu vernichten. Sie kamen in ihren riesigen silbernen Raumschiffen, und die Troxxt, die in letzter Sekunde gewarnt worden waren, schafften es gerade noch, sich unter dem Schlag zu ducken und Ge genwehr zu leisten. Trotzdem wurde das Troxxtschiff in der Ukraine gezwungen, zu seinem Stützpunkt in den Tiefen des Weltraums zu fliehen. Nach drei Tagen waren die einzigen Troxxt auf der Erde die tapferen Angehörigen einer kleinen Gruppe, die das Schiff in Australien bewachten. Drei Monate tobte der Kampf, und es zeigte sich, daß es ebenso schwierig war, diese Troxxt vom Antlitz unseres Planeten zu entfernen, wie es schwierig gewesen wäre, den Kontinent selbst zu entfernen. Damit herrschte ein dauernder Belagerungszustand zwischen den Dendi auf der einen Seite unseres Globus und den Troxxt auf der anderen. Die Schlacht nahm ungeheure Ausmaße an. Meere kochten, ganze Steppen brannten, das Klima selbst än derte sich in dieser Apokalypse. Als die Dendi das Problem schließlich lösten, war der Planet Venus in einem komplizierten Manöver aus dem Himmel gesprengt worden, und die Erde hatte ihre Kreisbahn um die Sonne verlassen und nahm jetzt die Bahn der Venus ein. Die Lösung war einfach: Da die Troxxt sich so an den kleinen Kontinent klammerten und nicht vertrieben werden konnten, bauten die Dendi genügend Feuerkraft auf, um ganz Australien zu Asche zu verbrennen, die dann aus dem Pazifik ein Schlamm bett machte. Das geschah am vierundzwanzigsten Juni, dem Heiligen Tag der Ersten Wiederbefreiung. Allerdings ein Tag der Abrechnung für das, was von der menschlichen Rasse übrigge blieben war. Wie hatten wir so naiv sein können, wollten die Dendi wissen, uns von dieser chauvinistischen Protoplasma-Propaganda ein fangen zu lassen? Wenn schon physikalische Charakteristika die Kriterien unseres rassischen Empfindens sein mußten, so würden wir uns doch nicht auf einer so schmalen chemischen Basis ori
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entieren! Zugegeben, das Lebensplasma der Dendi war auf Sili zium und nicht auf Kohlewasserstoff aufgebaut, aber hatten denn nicht Vertebraten wie wir und die Dendi viel mehr gemein sam – wenn es auch einige geringfügige biochemische Unter schiede gab – als Vertebraten und beinlose, armlose, im Schleim kriechende Geschöpfe, die ganz zufällig aus der selben organi schen Substanz bestanden? Und was dieses fantastische Bild vom Leben in der Galaxis an ging. Nun! Die Dendi zuckten ihre fünffachen Schultern, während sie damit beschäftigt waren, auf den Ruinen unseres Planeten ihre Waffen zu erbauen. Hatten wir je einen Vertreter jener pro toplasmatischen Rassen gesehen, die die Troxxt angeblich be schützten? Nein, und das würden wir auch nie. Denn sobald eine Rasse sich genügend entwickelte, um auch nur eine potentielle Gefahr für die wurmartigen Aggressoren darzustellen, wurde ihre Zivilisation von den Troxxt systematisch zerstört. Wir standen noch auf einer so primitiven Entwicklungsstufe, daß sie es über haupt nicht für riskant gehalten hatten, uns den Anschein voller Beteiligung an der Regierung einzuräumen. Konnten wir denn behaupten, auch nur die geringste nützliche Information über die Technik der Troxxt bekommen zu haben – als Gegenleistung für all die Arbeit, die wir an ihren Maschinen geleistet hatten, für all die Leben, die wir dabei verloren hatten? Nein, natürlich nicht! Wir hatten nur unser Scherflein zur Ver sklavung weit entfernter Rassen beigetragen, die uns nichts zu leide getan hatten. Es gab so vieles, für das wir Schuldgefühle empfinden mußten, erklärten uns die Dendi ernst – sobald die wenigen Überlebenden Dolmetscher des präbengalischen Dialekts aus ihren Verstecken gekrochen waren. Aber unsere Kollektivschuld war ein Nichts verglichen mit jener, die die »Wurm-Kollaborateure« zu tragen hatten – jene Verräter, die unsere früheren Führer zu Märtyrern gemacht hatten. Und dann waren da noch die Dolmetscher, die sprachlichen Umgang mit Kreaturen gehabt hatten, die einen zwei Millionen Jahre währenden galaktischen Frieden vernichte ten! Der Tod war beinahe zu gut für sie, murmelten die Dendi, während sie sie umbrachten.
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Als etwa achtzehn Monate später die Troxxt die Herrschaft über die Erde wieder an sich rissen und uns die süßen Früchte der Zweiten Wiederbefreiung brachten – und eine überzeugende Niederlage der Dendi –, gab es nur wenige Menschen, die bereit waren, mit auch nur annähernd echter Begeisterung die Verant wortung für neu eröffnete und hoch bezahlte Positionen in Wis senschaft, Regierung und Sprache zu übernehmen. Natürlich hatten es die Troxxt bei ihren Bemühungen, die Erde wiederzubefreien, nötig gefunden, einen riesigen Brocken aus der nördlichen Halbkugel herauszusprengen, und so gab es oh nehin nur noch wenige Menschen… Dennoch verübten viele von ihnen lieber Selbstmord als den Ti tel eines Generalsekretärs der Vereinten Nationen anzunehmen, als die Dendi kurz darauf zur glorreichen WiederWiederbefreiung zurückkehrten. Das war übrigens die Befreiung, bei der eine ganze Materieschicht von unserem Planeten abge sprengt wurde, so daß er, wie unsere Vorväter das nannten, eine birnenförmige Gestalt annahm. Wahrscheinlich war es damals – möglicherweise auch ein oder zwei Befreiungen später –, daß die Troxxt und die Dendi ent deckten, daß sich die Erde jetzt auf einer viel zu exzentrischen Bahn um die Sonne bewegte, um noch die Mindestsicherheitsbe dingungen zu erfüllen, die man von einer Kampfzone verlangte. Deshalb entfernte sich auch der Kriegs schauplatz und bewegte sich im Zickzackkurs in Richtung auf Aldebaran. Das war vor neun Generationen, aber die Berichte sind von den Eltern auf die Kinder, von den Kindern an die Kindeskinder wei tergereicht worden und haben dabei nur wenig verloren. Ihr hört sie jetzt beinahe genauso von mir, wie ich sie hörte. Von mei nem Vater hörte ich sie, als ich mit ihm von Wasserpfütze zu Wasserpfütze rannte über die glühende Hitze des gelben Sandes. Von meiner Mutter hörte ich sie, als wir nach Luft schnappten und uns verzweifelt an den dicken grünen Filzstauden festhiel ten, wenn der Planet unter uns in Vorahnung geologischer Zuk kungen erzitterte, oder wenn kosmische Kreiselbewegungen drohten, uns in den leeren Weltraum hinauszuschleudern.
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Ja, wir haben es damals so gehalten wie heute und haben die gleichen Berichte weitergegeben und sind genauso wie heute über Zonen unerträglicher Hitze gerannt, um Nahrung und Was ser zu finden und haben die gleichen wilden Schlachten mit den Riesenkaninchen geführt - und haben immer wieder verzweifelt nach der so kostbaren Luft geschnappt, die bei jeder neuen Zuk kung unserer Welt auf ihrer verrückten Bahn in größeren Men gen ins Weltall entflieht. Nackt, hungrig und durstig sind wir in die Welt gekommen und nackt, hungrig und durstig leben wir auf ihr unser Leben unter der riesigen, stets unveränderten Sonne. Es ist immer derselbe Bericht, und er hat immer den gleichen traditionellen Schluß, den ich von meinem Vater, und den mein Vater von seinem hörte. Schnappt nach Luft, klammert euch am Schilf fest, und hört den letzten heiligen Satz unserer Geschich te: »Wenn wir uns umsehen, können wir voll verzeihlichem Stolz sagen, daß wir etwa so gründlich befreit worden sind, wie es für eine Rasse und einen Planeten nur überhaupt möglich ist!«
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Unter Toten
Ich stand vor dem Außentor des Müllplatzes und spürte, wie sich mir langsam der Magen umdrehte, so wie damals, als ich zuschauen mußte, als ein ganzer Flottenverband – annähernd zwanzigtausend Mann stark – in der zweiten Schlacht um den Saturn vor mehr als elf Jahren in Stücke geblasen wurde. Aber damals hatte ich Wrackteile von Schiffen auf dem Bildschirm ge sehen und mir die Schmerzensschreie der Männer vorgestellt; damals hatte ich die kastenähnlichen Fahrzeuge der Eoti durch die schreckliche Zerstörung stürmen sehen, die sie angerichtet hatten. Das alles hatte den kalten Schweiß erklärt, der sich mir wie eine Schlange um Stirn und Nacken gewunden hatte. Jetzt aber gab es nichts zu sehen als ein großes kahles Ge bäude, das nicht anders aussah als die vielen hundert Fabriken in den geschäftigen Vororten von Alt-Chicago. Eine ganz ge wöhnliche Fabrik, umgeben von einem hohen Zaun mit einem abgeschlossenen Tor und einem großzügigen Hof – der Müllplatz. Und doch war der Schweiß auf meiner Haut kälter und der Krampf in meinem Magen schmerzhafter als damals in irgendei ner dieser zahllosen blutigen Schlachten, die diesen Ort ins Le ben gerufen hatten. Das war natürlich alles sehr begreiflich, sagte ich mir. Was ich hier verspürte, war die Urgroßmutter aller Ängste, der funda mentalste Widerwillen, zu dem mein Fleisch fähig war. Es war begreiflich, aber das half mir auch nichts. Ich brachte es doch nicht fertig, auf den Posten vor der Tür zuzugehen. Es war alles gutgegangen, bis ich die riesige viereckige Abfall tonne vor dem Zaun gesehen hatte, die Abfalltonne, aus der die ser leichte Gestank kam, und die das große grelle Plakat trug: KAMPF DEM VERDERB BRINGT ALLEN ABFALL HIERHER DENKT DARAN WAS ABGEWETZT IST, KANN ERNEUERT WERDEN WAS BE SCHÄDIGT IST, KANN REPARIERT WERDEN WAS EINMAL GE BRAUCHT WURDE, KANN WIEDERBENUTZT WERDEN BRINGT ALLEN ABFALL HIERHER
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KONSERVIERUNGSPOLIZEI
Ich hatte diese viereckigen, in Fächer eingeteilten Trommeln und diese Plakate in jeder Kaserne, jedem Krankenhaus und je dem Genesungsheim zwischen hier und dem Asteroidengürtel gesehen. Aber sie jetzt hier an dieser Stelle zu sehen, verlieh ihnen eine völlig andere Bedeutung. Ich fragte mich, ob es im Innern des Gebäudes auch jene anderen Plakate gab, die kürze ren. Sie wissen schon: WIR BRAUCHEN ALL UNSERE RESERVEN, UM DEN FEIND ZU BESIEGEN – UND ABFALL IST UNSERE GRÖSSTE NATÜRLICHE RESERVE. Es wäre wirklich außerordentlich genial, auch die Wände dieses Gebäudes mit solchen Plakaten zu verzieren. Was beschädigt ist, kann repariert werden… Ich spannte unwillkürlich die Muskeln meines rechten Armes unter meinem blauen Pullover. Er fühlte sich an wie ein Stück von mir und würde sich immer so anfühlen. Und in ein paar Jah ren, vorausgesetzt, daß ich noch so lange lebte, würde die dün ne weiße Narbe, die den Ellbogen umgab, völlig unsichtbar wer den. Klar. Was beschädigt ist, kann repariert werden. Alles, mit einer Ausnahme. Und das war das wichtigste von allem. Ich verspürte noch viel weniger Lust, dort hineinzugehen. Und dann sah ich den Jungen. Den vom Arizonastützpunkt. Er stand vor dem Wachlokal und konnte sich offenbar genausowe nig wie ich bewegen. In der Mitte seiner Uniformmütze trug er ein nagelneues glänzendes goldenes »Y« mit einem Punkt in der Mitte: Das Abzeichen eines Schleuderkommandanten. Am Tag zuvor beim Befehlsempfang hatte er es noch nicht getragen; das konnte nur bedeuten, daß die Beförderung gerade durchgekom men war. Er sah sehr jung und sehr verängstigt aus. Ich erinnerte mich noch vom Unterricht her an ihn. Er war der jenige gewesen, der sich während der Fragestunde etwas zag haft gemeldet hatte und der dann halb aufgestanden war, ein paarmal ohne ein Wort hervorzubringen, den Mund auf und zu
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gemacht hatte und schließlich mit der Frage herausgeplatzt war: »Entschuldigen Sie, Sir, aber sie – sie riechen doch nicht, oder?« Ein stürmisches Gelächter hatte sich erhoben, jene Art von Ge lächter, wie es von Männern am Rande der Hysterie kommt, von Männern, die froh sind, daß jemand etwas gesagt hat, das sie für komisch halten können. Und der weißhaarige Ausbildungsoffizier hatte ohne mit der Wimper zu zucken darauf gewartet, daß die Hysterie sich legte, und dann mit ruhiger Stimme geantwortet: »Nein, sie riechen überhaupt nicht. Bloß wenn sie sich nicht waschen. Aber das gilt ja auch für Sie, meine Herren.« Das hatte uns zum Schweigen gebracht. Selbst der Junge war rot geworden und wieder auf seinen Stuhl zurückgesunken. Und erst zwanzig Minuten später, als der Unterricht zu Ende war, spürte ich, daß mein Gesicht sich wieder entspannt hatte. Das gilt ja auch für Sie, meine Herren… Ich schüttelte mich und schritt auf den Jungen zu. »Hello, Commander«, sagte ich, »schon lange hier?« Er grinste gezwungen. »Schon mehr als eine Stunde, Com mander. Ich hab’ den Achtfünfzehn vom Arizonastützpunkt ge nommen. Die meisten anderen schlafen noch den Rausch von gestern abend aus. Ich war früh zu Bett gegangen. Ich wollte möglichst früh damit anfangen, mich an diese Geschichte zu ge wöhnen. Nur scheint es nicht viel zu nützen.« »Ich weiß. Es gibt Dinge, an die kann man sich nicht ge wöhnen. Und an manche Dinge sollte man sich auch gar nicht gewöhnen können.« Er schaute auf meine Brust. »Ich nehme an, das ist nicht Ihr erstes Schleuderkommando?« »Mein erstes? Eher mein einundzwanzigstes, Junge! Aber dann fiel mir ein, daß alle sagen, ich würde für meine Orden noch sehr jung aussehen, und außerdem schließlich war der Junge recht weiß um die Nase – »Nein, mein erstes nicht. Aber ich hatte
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noch nie eine Klopsbesatzung. Das ist genauso neu für mich wie für Sie. He, was meinen Sie: Wie war’s, wenn wir dieses Tor da gemeinsam stürmen? Dann hätten wir das Schlimmste hinter uns.« Der Junge nickte heftig. Wir hakten uns unter und mar schierten auf den Posten zu. Wir zeigten ihm unsere Einsatz befehle. Er öffnete uns das Tor und sagte: »Geradeaus. Nehmen Sie einen der Fahrstühle zur Linken und fahren Sie ins fünfzehn te Stockwerk.« So gingen wir, immer noch Arm in Arm auf das Hauptgebäude zu, eine lange Treppe hinauf, bis wir unter einem großen Schild in schwarz und rot standen, auf dem wir lasen: PROTOPLASMARÜCKGEWINNUNGSZENTRALE DRITTER DISTRIKT Ein paar alte Männer, die sich sehr gerade hielten, gingen durch die Halle und eine ganze Anzahl uniformierter, recht gut aussehender Mädchen. Ich stellte erfreut fest, daß die meisten schwanger waren. Der erste angenehme Anblick seit beinahe einer Woche. Wir betraten die Liftkabine und sagten zu dem Mädchen: »Fünfzehn.« Sie drückte einen Knopf und wartete, bis die Kabine sich füllte. Sie schien nicht schwanger zu sein. Ich hätte wirklich gerne ge wußt, was mit ihr los war. Meine Fantasie wollte schon mit mir durchgehen, als ich die Schulterstücke der anderen Leute im Lift ansah. Das hätte mich beinahe geschafft. Ein kreisrunder roter Fleck mit den schwarzen Buchstaben: TAF über einem weißen G 4. TAF hieß natürlich Ter restrial Armed Forces, alle Etappeneinheiten trugen dieses Sym bol, aber warum benutzten sie nicht G 1, Personal? G 4 bedeute te doch Nachschub. Nachschub! In dieser Hinsicht kann man sich auf TAF verlassen. Tausende von Psychologen, von Spezialisten in jeder erdenklichen Rang stufe zerbrechen sich die Köpfe, wie sie die Kampfmoral der
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Männer an der Front erhalten – aber jedesmal wieder, wenn es wirklich darauf ankommt, dann suchen sie sich den häßlichsten und geschmacklosesten Mann aus. Natürlich, sagte ich mir. Man kann nicht einen fünfundzwanzig Jahre lang gnadenlosen interstellaren Krieg führen und dabei jeden Gedanken auf die Goldwaage legen. Aber doch nicht Nach schub, meine Herren. Nicht hier – nicht auf dem Müllplatz. Wir wollen doch wenigstens den Schein wahren. Dann setzte sich die Liftkabine in Bewegung, und das Mädchen rief die einzelnen Stockwerke aus. Das brachte mich auf andere Gedanken. »Dritter Stock – Leichenannahme und Klassifizierung. Fünfter Stock – Organvorbearbeitung. Siebenter Stock – Gehirnneubildung und Nervenanpassung. Neunter Stock – Kosmetik, Elementarreflexe und Muskel kontrolle. An diesem Punkt zwang ich mich, nicht mehr hinzuhören. So wie man es macht, wenn man, sagen wir, auf einem Schweren Kreuzer ist und der hintere Maschinenraum von einem Schuß der Eoti getroffen wird. Wenn man das ein paarmal mitgemacht hat, lernt man es einfach, die Ohren zu schließen und sich zu sagen: »Ich kenne keinen in diesem verdammten Maschinenraum, wirk lich keinen, und in ein paar Minuten ist ja alles wieder in Ord nung.« Und das ist es auch in ein paar Minuten. Das Unange nehme ist nur, daß man, ob es einem nun paßt oder nicht, ver mutlich zu dem Kommando gehört, das die Aufgabe bekommt, die blutige Schmiere in diesem Höllenloch von den Wänden zu kratzen und die Düsen wieder in Betrieb zu setzen. Jetzt war es genauso. Kaum hatte ich die Stimme des Mäd chens ausgeschaltet, da waren wir auch schon im fünfzehnten Stock angelangt (›Abschlußinstruktionen und Versand‹), und der Junge und ich mußten aussteigen. Er war wirklich grün im Gesicht, und seine Knie schienen aus Gummi zu bestehen. Die Schultern hingen ihm nach vorne. Ei
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gentlich war ich ihm dankbar dafür. Nichts stützt einen so, als wenn man sich um einen anderen kümmern kann. »Kommen Sie Commander«, flüsterte ich. »Sprung auf, Marsch, Marsch. Sie müssen es so sehen: Für Leute wie uns ist das schließlich das reinste Familientreff en.« Das hätte ich nicht sagen sollen. Er sah mich an, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpaßt. »Herzlichen Dank, Mister«, sagte er, »selbst wenn wir im gleichen Boot sitzen.« Dann ging er mit stei fen Schritten auf das Mädchen am Empfang zu. Ich hätte mir die Zunge abbeißen können. Ich eilte hastig hin ter ihm drein. »Tut mir leid, mein Junge«, sagte ich. »Das ist mir einfach so rausgerutscht. Aber seien Sie mir nicht böse. Mir tut es jetzt auch leid.« Er blieb stehen, schien zu überlegen und nickte dann. Dann grinste er. »Okay. Ist schon recht. Schließlich ist das ja ein Scheißkrieg, oder?« Ich grinste zurück. »Scheißkrieg? Nun ja, wenn Sie nicht auf passen, müssen Sie vielleicht sogar dran glauben.« Das Mädchen am Empfang war eine nette kleine Blondine mit zwei Eheringen an der rechten Hand und einem an der linken. Soviel ich über die augenblicklich gültigen Gebräuche wußte, be deutete das, daß sie zweimal verwitwet war. Sie nahm unsere Marschbefehle entgegen und sprach in Ihr Tischmikrophon: »Achtung. Ausbildungsabteilung. Achtung Aus bildungsabteilung. Die folgenden Seriennummern für sofortigen Versand ausrufen: 70.623.152, 70.623.109, 7062-3166 und 70.623.123. Ebenso 70.538.966, 70.538.923, 70.538.980 und 70.538.937. Bitte lassen Sie sie durch die entsprechenden Abtei lungen laufen und überprüfen Sie noch einmal, daß alle Daten auf dem TAF-Formular AGO 362 gemäß TAF -Vorschrift 7896 vom 15. Juni 2145 richtig sind. Rufen Sie zurück, wenn die Abschluß besprechung stattfinden kann.« Ich war beeindruckt. Fast der gleiche Vorgang, wie wenn man zur Versorgungsabteilung geht und sich einen Satz Heckdüsen
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holt. Sie blickte auf und beglückte uns mit einem kurzen Lächeln. »Ihre Mannschaften sind gleich soweit. Wollen Sie sich nicht set zen, meine Herren?« Wir setzten uns. Nach einer Weile stand sie auf, um etwas aus einem Aktenregal zu holen. Als sie zu ihrem Schreibtisch zurückging, sah ich, daß sie schwanger war – etwa im dritten oder vierten Monat –, und ich nickte zufrieden. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Jun ge ebenfalls nickte. Wir sahen einander an und grinsten. »Wirk lich ein Scheißkrieg«, sagte er. »Wo kommen Sie denn her?« fragte ich ihn. »Ihrem Akzent nach stammen Sie nicht aus dem Dritten Distrikt.« »Da bin ich auch nicht her. Ich bin in Skandinavien geboren. Elfter Militärdistrikt. Ich bin in Göteborg in Schweden geboren. Aber nachdem ich – äh – befördert wurde, legte ich natürlich keinen großen Wert mehr darauf, meine Leute wiederzusehen. Also ließ ich mich in den Dritten versetzen, und deshalb werde ich, solange mich nicht ein Zerrütter trifft, meinen Urlaub und meine Krankenhausaufenthalte hier verbrin gen.« Ich hatte schon gehört, daß eine Menge der jüngeren Schleu dersoldaten so empfanden. Ich persönlich hatte nie Gelegenheit gehabt, darüber nachzudenken, was ich bei einen Besuch bei meinen Eltern empfinden würde. Mein Vater kam bei dem selbstmörderischen Versuch um, Neptun zurückzuerobern, als ich noch auf der Oberschule war und gerade die Grundausbil dung mitmachte. Meine Mutter war Stabsekretärin bei Admiral Raguzzi, als das Flaggschiff Thermopylae zwei Jahre später in der berühmten Abwehrschlacht bei Ganymed einen Volltreffer erhielt. Das war natürlich vor dem Fortpflanzungserlaß, als Frau en noch in Verwaltungsfunktio nen an vorderster Front dienen durften. Andererseits war es durchaus möglich, daß noch zwei meiner Brüder lebten. Aber ich hatte nie versucht, mit ihnen Verbindung aufzunehmen seit ich mein Ypsilon mit dem Punkt bekommen
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hatte. Also empfand ich wahrscheinlich genauso wie der Junge was eigentlich nicht überraschen sollte. »Sie kommen aus Schweden?« fragte das blonde Mädchen. »Mein zweiter Mann war Schwede. Vielleicht haben Sie ihn ge kannt – Sven Nossen? Ich höre, daß er eine Menge Verwandte in Oslo hatte.« Der Junge kniff die Augen zusammen, als müßte er nach denken. Sozusagen sich eine Liste aller Schweden in Oslo ver gegenwärtigen. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, nicht daß ich wüßte. Aber ich bin vor meiner Einberufung auch nicht viel aus Göteborg rausgekommen.« Sie kicherte über sein Provinzlertum. Die typische dumme Blondine aus den alten Witzen. Wirklich dumm. Und doch gab es in diesen Tagen auf den inneren Planeten eine ganze Menge hochintelligenter Klasseschönheiten, die sich mit einem Fünftel irgendeines dummen Knicks begnügen mußten oder vielleicht sogar bloß mit einem Zertifikat von der örtlichen Samenbank. Und unsere Blondine hier hatte schon ihren drit ten richtigen Ehemann ganz für sich allein. Vielleicht, so sagte ich mir, würde ich ebenfalls lieber so ein Mädchen zur Frau nehmen, um den Gestank der Zerrüt terstrahlen aus der Nase zu bekommen und das Hacken der Er vings aus meinen Ohren. Vielleicht würde ich es auch vorziehen, irgendein nettes, unkompliziertes Mädchen zu Hause vorzufin den, wenn ich aus einem dieser komplizierten Gefechte mit den Eoti heimkam, bei denen man die ganze Zeit darüber nachdenkt, was für einen Kampfrhythmus diese dreckigen Insekten diesmal anwenden. Wenn ich ans Heiraten dachte, würde ich vielleicht auch einen hübschen Dummkopf wie die vorziehen gegenüber einer – na ja. Vielleicht. Als psychologisches Problem betrachtet, war es ganz interessant. Jetzt merkte ich, daß sie mit mir redete. »Sie hatten noch nie eine solche Mannschaft, Commander?« »Zombies meinen Sie? Nein, Gott sei Dank bis jetzt noch nicht.«
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Sie zog einen Flunsch. Das sah genauso gut aus wie wenn sie lächelte. »Das Wort mögen wir nicht.« »Na schön, dann eben Klopse.« »Dieses Wort mögen wir auch nicht. Sie reden von mensch lichen Wesen wie Sie selbst eines sind, Commander. Genau wie Sie selbst.« Ich spürte, wie ich ärgerlich wurde, genauso wie der Junge draußen im Korridor, und dann machte ich mir klar, daß sie es nicht böse meinte. Schließlich wußte sie es ja nicht. Zum Teufel – es stand ja schließlich nicht in unseren Papieren. Ich entspann te mich. »Na, dann sagen Sie mir eben, wie Sie sie hier nen nen?« Die Blondine richtete sich steif auf. »Wir nennen sie Solda tenersatz . Der Ausdruck ›Zombies‹ wurde gebraucht, um das veraltete Modell 21 zu beschreiben, das vor fünf Jahren aus der Produktion gezogen wurde. Ihnen wird man Individuen der Mo delle 705 und 706 zur Verfügung stellen, die praktisch vollkom men sind. Wahr ist, daß sie in mancher Hinsicht…« »Keine blaue Haut? Kein Zeitlupennachtwandeln?« Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Augen leuchteten. Allen An schein nach hatte sie die ganze Propagandaliteratur gründlich studiert. Vielleicht war sie gar nicht so dumm – zwar kein großer Geist, aber für gelegentliche Gespräche mit ihren Ehemännern hatte es vielleicht ausgereicht. Begeistert plapperte sie weiter: »Die Zyanose war das Ergebnis unzureichender Sauerstoff zufuhr in den Blutstrom – Blut war unser zweitschwierigstes Pro blem beim Wiederaufbau der Gewebe. Am schwierigsten war das Nervensystem. Die Blutzellen sind zwar, wenn die Körper hier angeliefert werden, im schlimmsten Zustand. Aber wir sind jetzt in der Lage, ein funktionsfähiges Ersatzherz herzustellen. Aber wenn das Rückgrat oder das Gehirn auch nur die winzigste Ver letzung haben, muß man ganz von vorne anfangen. Und dann die Schwierigkeiten bei der Wie derherstellung! Meine Kusine Lorna arbeitet bei der Nerveneinstellung. Verbindung herstellen und die Reflexe in den jeweiligen Individuen sind so schlecht,
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daß man es in den dritten Stock zurückschicken muß und wieder von vorne anfangen. Aber darüber brauchen Sie sich den Kopf nicht zu zerbrechen. Seit Modell 663 haben wir bei der Nervenju stierung Doppelinspektionen eingeführt. Und die 700er-Serie – oh, die ist einfach großartig.« »Wirklich so gut? Besser als die altmodischen Söhne von Müt tern?« »Nu-u-u-un«, meinte sie. »Sie würden wirklich staunen, Com mander, wenn Sie die letzten Leistungstabellen sehen würden. Natürlich gibt es den einen großen Nachteil, über den wir bis jetzt noch nicht…« »Eines begreife ich einfach nicht«, mischte der Junge sich ein, »warum die Leichen benutzen müssen! Wenn ein Mensch sein Leben gelebt und seinen Krieg geführt hat – warum läßt man ihn dann nicht zufrieden? Ich weiß, daß die Eoti sich schneller ver mehren können als wir, indem sie einfach die Anzahl ihrer Köni ginnen in den Flaggschiffen vergrößern; ich weiß, daß das größte Problem der TAF das Menschenmaterial ist, aber schließlich stel len wir doch schon seit einer Ewigkeit synthetisches Protoplasma her. Warum denn nicht den ganzen verdammten Körper synthe tisch herstellen, von den Zehennägeln bis zum Fronthirn. Warum also nicht ein fach richtige ehrliche Androiden herstellen, die nicht nach Tod stinken, wenn man ihnen begegnet?« Die Blondine wurde richtig wütend. »Unser Produkt stinkt nicht! Die Kosmetik garantiert dafür, daß die neuen Modelle sogar ei nen geringeren Körpergeruch haben als Sie, junger Mann! Und wir reaktivieren auch keine Leichen oder erwecken sie zum Le ben. Sie sollten wissen, daß wir menschliches Protoplasma wie der aufbereiten, daß wir ausgeleiertes und beschädigtes mensch liches Zellenmaterial zurückgewinnen und zwar da, wo im Au genblick die größten Versorgungslücken bestehen, beim Militär personal. Sie würden nicht von Leichen reden, das kann ich Ih nen versichern, wenn Sie sehen würden, in welchem Zustand sich manche Körper befinden, wenn sie hier ankommen. Manch mal finden wir in einem ganzen Ballen – ein Ballen enthält zwan zig Verluste – finden wir in einem ganzen Ballen nicht genug, um
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eine einzige Niere daraus zu machen. Dann müssen wir das Ge webematerial zusammenflicken, ändern, sorgfältig zusammen setzen, aktivieren.« »Genau das meine ich. Wenn es so viel Mühe bereitet, warum fängt man dann nicht gleich mit dem richtigen Rohmaterial an?« »Womit denn zum Beispiel?« fragte sie. Der Junge gestikulierte mit seinen schwarz behandschuhten Händen. »Grundelemente wie Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauer stoff und so weiter. Das würde den ganzen Prozeß doch sehr viel sauberer machen.« »Irgendwoher müssen die Grundelemente auch kommen«, er innerte ich ihn nachsichtig. »Den Sauerstoff und den Wasserstoff könnte man ja aus der Luft gewinnen. Aber wo nehmen Sie den Kohlenstoff her?« »Von daher, wo ihn auch die anderen Synthetikhersteller neh men – Kohle, Öl, Zellulose.« Das Mädchen lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Das sind or ganische Substanzen«, erinnerte sie ihn. »Wenn Sie schon Roh material benutzen, das einmal gelebt hat, warum dann nicht gleich solches, das dem beabsichtigten Endprodukt so nahe wie möglich kommt? Das sind einfache wirtschaftliche Überlegungen, Commander, das können Sie mir glauben. Das beste und billig ste Rohmaterial für die Herstellung von Soldatenersatz sind Sol datenkörper.« »Richtig«, sagte der Junge. »Leuchtet mir ein. Was soll man auch sonst mit zerschlagenen Soldatenkörpern anfangen. Bes ser, als sie einfach im Boden zu verscharren, wo sie nichts ande res wären als Abfall, unnützer Abfall.« Die kleine Blondine setzte ein zustimmendes Lächeln auf, sah ihn dann aber prüfend an und überlegte es sich anders. Plötzlich wirkte sie sehr unsicher. Und als ihre Sprechanlage dann summ te, schien sie froh zu sein, davon abgelenkt zu werden. Ich sah sie beifällig an. Sie war ganz bestimmt nicht dumm. Eben nur eine Frau. Ich seufzte. Wissen Sie, ich verstehe nicht
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viel von zivilen Dingen, aber von Frauen verstehe ich überhaupt nichts. Das zeigt wieder nur, daß alles sich in meinem Fall doch nur zum Besten gewandt hat. »Commander«, sagte sie jetzt zu dem Jungen, »würden Sie bitte auf Zimmer 1591 gehen? Ihre Mannschaft wird in wenigen Minuten eintreffen.« Dann wandte sie sich zu mir. »Und Sie gehen bitte auf Zim mer 1524, Commander.« Der Junge nickte und stelzte davon. Sehr gerade, sehr auf recht. Ich wartete, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, und beugte mich dann über den Tisch des Mädchens. »Ich wünschte, die würden die Fortpflanzungsgesetze wieder än dern«, sagte ich. »Sie haben das Zeug zu einem ausge zeichneten Ausbildungsoffizier für die Etappe. Ich habe von Ih nen mehr über den Müllplatz erfahren als in zehn Unter richtsstunden.« Sie sah mich prüfend an. »Hoffentlich meinen Sie das ehrlich. Commander. Wissen Sie, uns liegt nämlich allen sehr viel an die sem Projekt. Wir sind sehr stolz auf die Fortschritte, die wir hier erzielt haben. Wir reden die ganze Zeit von der neuen Entwick lung – selbst in der Kantine. Ich habe zu spät daran gedacht, daß Sie vielleicht…« sie wurde rot, so tief rot wie nur Blondinen werden können, »… daß Sie das vielleicht persönlich auffassen könnten. Es tut mir wirklich leid, wenn ich…« »Nichts, was Ihnen leid tun müßte«, beruhigte ich Sie. »Wir haben nur eben ein bißchen gefachsimpelt, so wie letzten Monat, als ich im Krankenhaus war und mitanhörte, wie zwei Chirurgen sich darüber unterhielten, wie man den Arm eines Mannes repa riert. Das Ganze klang so, als ob es darum ginge, eine neue Armlehne an einem teuren Sessel anzubringen. Wirklich interes sant, und ich habe eine Menge dabei gelernt.« Als ich sie verließ, schaute sie mir dankbar nach, und das ist die einzige Art und Weise, in der man eine Frau verlassen soll. Ich suchte Zimmer 1524 auf. Offenbar benutzte man es normalerweise als Klassenzimmer,
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wenn es nicht dazu diente, wiederaufbereiteten menschlichen Müll abzuholen. Ein paar Stühle, eine lange Tafel und einige Schautafeln. Eine der Schautafeln befaßte sich mit der EotiGrundinformalion, die wir in dem Vierteljahrhundert über sie sammeln konnten, seit diese verdammten Käfer über den Pluto ins Sonnensystem eingedrungen sind. Die Schautafel hatte sich nicht sehr verändert und enthielt noch die gleichen Daten, die ich auf der Oberschule hatte auswendig lernen müssen. Der ein zige Unterschied war, daß etwas ausführliche res Material über ihre Intelligenz und ihre Motivation darin enthalten war. Natür lich nur Theorie, aber gründlicher fundierte Theorie als das Zeug, das ich gelernt hatte. Die großen Denker der TAF waren jetzt zu dem Schluß gekommen, daß alle Versuche, mit ihnen eine Ver ständigung aufzunehmen nicht deswegen gescheitert waren, weil sie eine blutdürstige Erobererrasse waren, sondern weil sie unter der gleichen extremen Xenopho bie litten wie ihre kleineren, we niger intelligenten, staatsbildenden Insektenvölker hier auf der Erde. Eine Ameise kommt an einen fremden Ameisenbau – knack! – es gibt gar keine lange Diskussionen, es wird ihr ein fach am Eingang der Kopf abgebissen. Und die Wächter reagie ren sogar noch schneller, wenn es sich um einen Angehörigen einer anderen Art handelt. Obwohl also die Wissenschaft der Eoti in mancher Hinsicht weiter fortgeschritten war als die unsere, war sie psychologisch einfach nicht in der Lage, jene Art Elastizi tät oder Empathie aufzubringen, derer es bedurfte, einmal zu erkennen, daß ein völlig fremdartig aus sehendes Individuum auch Intelligenz, Gefühle – und Rechte! – besitzen kann, genau so wie sie selbst. Nun, wie dem auch sei. Inzwischen jedenfalls hielten sich Men schen und Eoti in einem mörderischen Clinch umklammert, ent lang einer Frontlinie immerwährender Schlachten, die manchmal bis zum Saturn hinausreichte und sich gelegentlich bis zum Jupi ter zurück verlagerte. Wenn es nicht zur Erfindung einer neuen Waffe von solch unvorstellbarer Macht kam, daß wir damit ihre Flotte vernichten konnten, ehe sie die Waffen nachbauten – was ihnen bis jetzt immer noch gelungen war – bestand unsere ein zige Hoffnung darin, irgendwie das Sternsystem zu entdecken,
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aus dem sie kamen und irgendwie nicht nur ein Sternenschiff, sondern gleich eine ganze Flotte zu bauen und irgendwie ihren Heimatstützpunkt zu vernichten oder ihnen wenigstens einen solchen Schrecken einzujagen, daß sie ihre Invasionsflotte zu rückzogen, um ihre Heimat zu verteidigen. Eine Menge von Ir gendwies war das. Aber wenn wir unsere augenblickliche Position halten wollten, bis all diese Irgendwies eintrafen, mußten unsere Geburtslisten länger werden als die Gefallenenlisten. In den letzten zehn Jah ren war das nicht der Fall gewesen, trotz der immer einschnei denderen Fortpflanzungsgesetze, die langsam, aber sicher sämt liche Moralvorschriften und soziologischen Fortschritte zunichte machten. Und dann war der Tag gekommen, an dem irgend je mand in der Konservierungspolizei auf die Idee kam, daß beina he die Hälfte unserer Kriegsschiffe aus dem Schrott vergangener Schlachten hergestellt wurde. Wo waren denn die Männer, die diese Wracks bemannt hatten, fragte er sich… Und auf die Weise kam es zu dem, was unsere Blondine drau ßen und ihre Kollegen so diplomatisch Soldatenersatz nannten. Ich war Computermaat Zweiter Klasse auf der Dschingis Khan gewesen, als die erste Sendung als Ersatz für einige Verluste ankam. Ich kann euch sagen, wir hatten wirk lich allen Grund, sie Zombie zu nennen! Die meisten von ihnen waren genauso blau wie die Uniformen, die sie trugen, und ihr Atem ging so laut, daß man an Asthmatiker mit eingebauten Lautsprechersystemen denken mußte. Und ihre Augen glänzten so intelligent wie Schmierseife – und wie sie erst gingen! Mein Freund Johnny Cruro, der erste Mann, der beim großen Durchbruch 2143 dran glauben mußte, sagte immer, sie sahen so aus, als wären sie gerade dabei, einen steilen Hügel hinunter zusteigen, an dessen Ende ein großes offenes Familiengrab war. Das Gruseln konnte einem kommen. Man konnte sie wirklich nur für die primitivsten Arbeiten ge brauchen. Und selbst dann – wenn man ihnen sagte, daß sie ei nen Geschützverschluß polieren sollten, durfte man nicht ver gessen, eine Stunde darauf zurückzukommen und sie ab
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zustellen, sonst polierten sie wirklich ein Loch hinein. Natürlich waren nicht alle so schlimm. Johnny Cruro sagte im mer, er hätte einige Exemplare kennengelernt, die in besonders guter Stim mung sogar zu einer Art von Schwachsinn fähig waren. Aber was ihnen wirklich den Garaus machte, war der Kampf. Ganze Geschützbesatzungen habe ich erlebt, die Amok liefen, Leute, die mit Brechstangen und den bloßen Fäusten auf sie lo s gingen. Einmal habe ich sogar einen Offizier gesehen, der aus dem Kontrollraum gerannt kam und plötzlich stehenblieb und einen dieser blauäugigen Burschen niederstrahlte, bloß weil der ein Bullauge polierte, während sich gerade der Bug des Schiffes unter einem Strahl der Eotis auflöste. Das war auch der Grund, weshalb man sie schließlich wie der einzog, einfach weil die Kampfmoral rings um sie zusam menbrach. Sonst hätten wir uns vielleicht sogar an sie gewöhnt – schließlich gewöhnt man sich im Krieg an manches. Aber alle sagten, daß die neuen Zombies einen großen Fort schritt darstellten. Hoffentlich. Ein Schleuderkommando war zwar noch nicht gerade ein ausgesprochenes Selbstmord kommando, aber trotzdem mußte man sich auf jeden einzelnen Mann an Bord verlassen können, wenn man auch nur die gering ste Chance auf Erfolg haben wollte. Und Schleuderkommandos haben verdammt kleine Schiffe. Und die Männer müssen mitein ander in diesem engen Raum auskommen… Ich hörte Füße, einige Füße, die über den Korridor gerannt ka men. Vor der Tür kamen sie zum Stillstand. Sie warteten. Ich wartete. Meine Haut begann zu prickeln. Und dann hörte ich die ses unsichere Schlurfen. Sie waren nervös. Genauso nervös und unsicher wie ich. Ich trat ans Fenster und blickte auf den Exer zierplatz hin unter, wo alte Veteranen, deren Körper und deren Geist schon zu verbraucht waren, als daß sich eine Reparatur gelohnt hätte, Zombies in Drillichanzügen beibrachten, wie man die neu erworbenen oder aufgemöbelten Reflexe gebraucht. Die alten Marschkommandos drangen zu mir herauf: »Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier.« Bloß, daß sie nicht eins ge brauchten, sondern ein neues anderes Wort, das ich nicht ganz
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aufnehmen konnte. Und dann, als meine Hände schon beinahe schmerzten, so hat te ich sie zusammengepreßt, hörte ich, wie die Tür sich öffnete und die Schritte hereinkamen. Die Tür schloß sich, und acht Hacken knallten zusammen. Ich drehte mich um. Sie salutierten. Nun, was zum Teufel, sagte ich mir, schließlich mußten sie salutieren. Ich war ja ihr Vorgesetzter. Ich erwiderte den Gruß, und vier Arme senkten sich zackig. »Rührt euch«, sagte ich. Ihre Beine fuhren auseinander, und sie verschränkten die Hände auf den Rücken. Ich überlegte und sagte dann noch einmal: »Rührt euch.« Sie entspannten sich leicht. Ich schaute sie wieder an und sagte: »Verdammt Leute, setzt euch, wir wollen einander kennenlernen.« Sie hockten sich auf ihre Stühle, und ich setzte mich auf den Tisch vor der Tafel. Wir starrten einander an. Ihre Gesichter wa ren starr, wachsam – sie würden es mir nicht leicht machen. Ich fragte mich, wie mein Gesicht wohl aussehen mochte. Ich muß zugeben, daß ich trotz all der Informationen, die man uns gegeben hatte, bei ihrem ersten Anblick einen Schock erlitten hatte. Sie strotzten vor Gesundheit und sahen völlig normal aus. Aber das war nicht alles. Das war wirklich nicht alles. Warum ich am liebsten hin ausgerannt wäre, nicht nur aus dem Zimmer, sondern aus dem ganzen Gebäude, war etwas, worauf ich mich seit der letzten Unterrichtsstunde auf dem Arizonastützpunkt vorz ubereiten ver sucht hatte. Vier Tote starrten mich an. Vier sehr berühmte To te. Der Große, der dort in seinem Stuhl flegelte, war Roger Grey, der vor mehr als einem Jahr ums Leben gekommen war, als er mit seinem winzigen Scoutboot in die Vorderdüsen eines Eoti flaggschiffes gerast war. Das Flaggschiff war beinahe in zwei Tei le zerrissen worden. Er hatte so ziemlich jeden Orden, den man sich vorstellen konnte, und die Sonnenkorona. Grey sollte mein
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Kopilot sein. Der hagere, geschmeidige Mann mit der schwarz en Haartolle war Wang Hsi. Er war ums Leben gekommen, als er den Rückzug zu den Asteroiden nach dem Großen Durchbruch von 2143 deck te. Nach der fantastischen Geschichte, die Beobachter erzählten, hatte sein Schiff immer noch gefeuert, nachdem es drei Volltref fer von einem Zerrütterstrahl abbekommen hatte. So ziemlich jede Medaille, die man sich denken konnte, und die Sonnenkoro na. Wang sollte mein Ingenieur sein. Ein dunkelhäutiger, kleiner Bursche war Yussuf Lamehd. Er war in einem ganz unbedeutenden Gefecht bei Titan ums Leben ge kommen, aber als er starb, war er der höchstdekorierte Mann in der ganzen TAF. Zweimal die Sonnenkorona. Laniehd sollte mein Kanonier sein. Der kräftig gebaute war Stanley Weinstein, der einzige Kriegs gefangene, der je aus einem Gefangenenlager der Eoti entkom men war. Als er schließlich auf dem Mars eintraf, war nicht viel von ihm übrig, aber das Schiff, das er für seine Flucht benutzt hatte, war das erste Feindfahrzeug, das unsere Techniker studie ren konnten. Damals gab es noch keine Sonnenkorona, die man ihm selbst posthum hätte verleihen können, aber dafür werden immer noch Militärakademien nach ihm benannt. Weinstein soll te mein Astrogator sein. Als ich den Schock überwunden hatte, kam ich langsam wieder in die Wirklichkeit zurück. Das waren nicht die Originale. Ver mutlich hatten sie kein einziges Partikel von Roger Greys Blut oder Wang Hsis Fleisch auf ihren rekonstruierten Knochen. Es waren nur ausgezeichnete, sehr naturgetreue Kopien, die man nach genauen Spezifikationen hergestellt hatte. Es gab zwischen hundert und tausend Yussuf Lamehds und Stanley Weinsteins. Das durfte man nicht vergessen – und sie alle kamen von einem Fließband ein paar Stockwerke tiefer. »Nur die Tapferen haben ein Recht auf die Zukunft«, war das Motto des Müllplatzes, und im Augenblick versuchte man ihnen diese Zukunft zu verschaffen, indem man TAF -Männer, die be sonderes Heldentum gezeigt hatten, duplizierte.
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Da ging es wieder um den industriellen Nutzeffekt. Wenn man Methoden der Massenproduktion einsetzt – und genau das war es, was man auf dem Müllplatz tat – dann ist es ganz logisch, daß man einige Standardmodelle erzeugt. Und wenn man das schon tut, dann doch am besten solche Modelle, mit denen man positive Vorstellungen verbindet und nicht irgendwelche anony me Burschen vom Reißbrett eines Konstrukteurs. Der zweite Grund war beinahe noch wichtiger, dafür aber schwerer nachzuvollziehen. Nach dem, was uns der Ausbil dungsoffizier gestern gesagt hatte, herrschte die etwas unklare Vorstellung – beinahe eine Art Aberglaube könnte man sagen –, daß, wenn man die Gesichtszüge eines Helden, seine Muskeln, seinen Metabolismus und vielleicht sogar seinen Gehirnwindun gen sorgfältig nachbaute, man vielleicht wieder einen Helden konstruierte. Die ursprüngliche Persönlichkeit wurde natürlich nie wieder in Erscheinung treten können – die war das Produkt lan ger Jahre einer bestimmten Umgebung, bestimmter Erlebnisse und anderer, nicht greif barer Faktoren -, aber es bestand im merhin die Möglichkeit, meinten die Biotechniker, daß eine ge wisse Veranlagung zum Mut und zur Entschlußkraft in der Kör perstruktur selbst lag. Nun, jedenfalls sahen diese Zombies nicht wie Zombies aus. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog ich das Bündel mit unserem Marschbefehl aus der Tasche, tat so, als läse ich, und ließ es zu Boden fallen. Während die Papiere noch herunterflat terten, streckte Roger Grey die Hand aus und fing sie auf. Er gab sie mir mit der gleichen eleganten und doch schnellen Bewe gung, mit der er sie aus der Luft gegriffen hatte. Ich nahm sie ihm ab und hatte ein gutes Gefühl dabei. Ich sah es gerne, wenn ein Kopilot sich so benimmt. »Danke«, sagte ich. Er nickte bloß. Als nächsten schaute ich mir Yussuf Lamehd an. Ja, der hatte es auch. Was immer es ist, das einen erstklassigen Kanonier ausmacht, er hatte es. Man kann es nur sehr schwer beschrei
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ben, aber nehmen Sie zum Beispiel an, Sie gehen ir gendwo in einem Erholungszentrum in eine Bar und sehen eine Schleuder besatzung an einem Tisch sitzen. Dann wissen Sie sofort, wer der Kanonier ist. Das ist eine sorgfältig unter Kontrolle gehaltene Nervosität oder auch eine tödliche Ruhe, die sich bei der leise sten Berührung in Aktivität verwandelt. Es ist egal, was es ist, es ist das, was sie am Auslöser ihrer Kanone brauchen, wenn sie aus ihrer Angriffskurve kommen und das Ziel vor sich haben. Lamehd hatte es, hatte so viel davon, daß ich jeden Betrag auf ihn gesetzt hatte. Astrogatoren und Ingenieure sind anders. Man muß sie unter Druck arbeiten sehen, ehe man sie richtig einschätzen kann. Trotzdem gefiel mir die ruhige, selbstbewußte Art, wie Wang Hsi und Weinstein dasaßen. Und ich mochte sie. Mir war, als hätte jemand eine schwere Last von mir ge nommen. Zum erstenmal seit vielen Tagen war ich wieder ruhig. Meine Mannschaft gefiel mir, ob es nun Zombies waren oder nicht. Wir würden es schon schaffen. Ich beschloß, es ihnen zu sagen. »Männer«, sagte ich, »ich glaube, wir werden miteinander auskommen. Ich glaube, wir haben all das, was eine Schleuderbesatzung braucht. Und ihr werdet sehen…« Ich hielt inne. Dieser kalte, leicht spöttische Blick in ihren Au gen. Die Art und Weise, wie sie einander angesehen hatten, als ich sagte, daß wir miteinander auskommen würden. Jetzt fiel mir auf, daß keiner von ihnen ein Wort gesagt hatte, seit sie herein gekommen waren. Sie hatten mich bloß beobachtet, und ihre Augen waren keineswegs freundlich gewesen. Ich hielt inne und atmete tief. Zum erstenmal wurde mir klar, daß ich mir nur über die eine Seite des Problems Sorgen gemacht hatte, vielleicht die unwich tigere. Ich hatte mir darüber den Kopf zerbrochen, wie ich auf sie reagieren würde und wie weit ich sie als Schiffskameraden akzeptieren konnte. Schließlich waren es Zombies. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie ich auf sie wir ken mußte.
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Und daran stimmte offenbar etwas nicht. »Was ist los, Leute?« fragte ich. Sie sahen mich fragend an. »Was habt ihr auf dem Herzen?« Immer noch starrten sie mich an. Weinstein kniff die Lip pen zusammen und lehnte sich in sei nem Stuhl zurück. Er ächzte. Keiner sagte etwas. Ich stand auf und ging vor der Tafel auf und ab. Ihre Blicke folgten mir. »Grey«, sagte ich. »Sie sehen so aus, als drückte Sie irgendwo der Schuh. Wollen Sie es mir nicht sagen?« »Nein, Commander«, sagte er langsam. »Ich will es Ihnen nicht sagen.« Ich verzog das Gesicht. »Wenn jemand etwas sagen will – ir gend etwas – dann bleibt das unter uns. Und für den Augenblick wollen wir auch einmal solche Dinge wie Rang und TAFVorschriften vergessen.« Ich wartete. »Wang? Lamehd? Oder Sie, Weinstein?« Sie starrten mich an. Ich stand vor einem Rätsel. Was hatten sie denn gegen mich? Wir waren uns heute zum erstenmal begegnet. Aber eines wußte ich: Ich würde keine Mannschaft mit an Bord nehmen, die einen heimlichen Groll gegen mich hegte. Ich hatte keine Lust, mit die sen Augen in meinem Rücken durch den Weltraum zu segeln. Da hätte ich ebensogut den Kopf vor eine Irvinglinse halten und den Knopf drücken können. »Hört zu«, sagte ich. »Ich meine das durchaus ernst, daß wir den Rang und die Dienstvorschrift vergessen können. Ich möch te wissen, was hier los ist. Wir fünf werden auf engstem Raum in einem Schiff zusammenleben müssen, dessen einziger Zweck es ist, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit den Abwehrgürtel eines feindlichen Schiffs zu durchbrechen und einen einz igen Schuß aus einem übergroßen Irving abzugeben. Wir müssen miteinan der auskommen, ob wir uns nun mögen oder nicht. Wenn wir nicht miteinander auskommen, wenn irgendeine unausgespro chene Feindschaft zwischen uns herrscht, dann wird das Schiff nicht richtig funk tionieren. Und auf die Weise sind wir erledigt, ehe wir...«
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»Commander«, sagte Weinstein plötzlich. »Ich möchte Sie ger ne etwas fragen.« »Nur zu«, sagte ich und atmete erleichtert auf. »Fragen Sie nur.« »Wenn Sie an uns denken, Commander, oder wenn Sie von uns reden, welches Wort gebrauchen Sie dann?« Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Wie war das?« »Wenn Sie von uns reden, Commander, oder wenn Sie an uns denken, nennen Sie uns dann Zombies? Oder nennen Sie uns Klopse? Das hätte ich gerne gewußt, Commander.« Er hatte in so ruhigem, höflichen Tonfall gesprochen, daß es eine Weile dauerte, bis ich begriff. »Ich persönlich«, sagte Roger Grey mit einer Stimme, die eine Spur weniger höflich, eine Spur weniger ausgeglichen klang, »ich persönlich glaube, daß der Commander zu der Sorte gehört, die uns Büchsenfleisch nennt, stimmt’s, Commander?« Yussuf Lamehd verschränkte die Arme über der Brust und schien nachzudenken. »Ich glaube, du hast recht, Rog. Er ist eine Büchsenfleischtype. Ganz entschieden eine Büchsenfleisch type.« »Nein«, sagte Wang Hsi. »So eine Sprache gebraucht er nicht. Zombies ja; Büchsenfleisch nein. Ihr seht doch an der Art, wie er redet, daß er nie so wütend werden kann, um uns zu sagen, wir sollten wieder in unsere Büchse zurücksteigen. Und ich glaube auch nicht, daß er uns sehr oft Klopse nennen würde. Er ist von der Sorte, der einen anderen Schleuderkommandanten am Är mel faßt und ihm sagt: ›Mann, was hab’ ich doch für eine fabel hafte Zombiemannschaft. Die beste, die Sie sich vorstellen kön nen!‹ Ja, so schätze ich ihn ein. Zombies.« Und dann saßen sie wieder ruhig da und starrten mich an. Das war kein Spott an ihren Augen. Das war Haß. Ich ging zum Tisch zurück und setzte mich. Im Zimmer war es sehr ruhig. Drunten vom Exerzierplatz hallten die Befehle herauf.
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Woher hatten sie diese Ausdrücke: Zombie – Klops – Büchsen fleisch? Keiner von ihnen war älter als sechs Monate; keiner von ihnen hatte bisher den Müllplatz verlassen. Ihre Schulung, wenn auch intensiv und mechanisiert, sollte eigentlich garantiert nar rensicher sein und völlig normale Menschen hervorbringen, die in ihren verschiedenen Spezialgebieten gründlich ausgebildet waren und auch völlig ausgeglichen. Ich wußte, daß es nicht aus ihrer Ausbildung stammte. Woher aber… Und dann hörte ich es einen Augenblick ganz deutlich. Das Wort, das drunten auf den Exerzierplatz statt eins benutzt wur de. Das Wort, das ich zuerst nicht verstanden hatte. Der Mann drunten rief nämlich nicht eins, zwei, drei, vier. Er sagte: »Klops, zwei, drei, vier. Klops, zwei, drei vier.« War das nicht typisch. TAF? Was das nicht typisch für jede Ar mee zu jeder Zeit und an jedem Ort? Da gab man Unsummen Geld aus und setzte die besten Köpfe ein, die man zur Verfügung hatte, um ein notwendiges Produkt zu erzeugen, und tat dann etwas, das dieses Produkt völlig nutzlos machte. Ich war ganz sicher, die Offiziere, die für die Blondine draußen am Empfangs tisch verantwortlich waren, hatten bestimmt nichts mit diesen alten TAF-Schleifern zu tun, die dort drunten ihre Männer über den Exerzierplatz jagten. Ich konnte sie mir gut vorstellen, diese kleinen beschränkten Geister, die so eifersüchtig stolz auf ihre Vorurteile und ihr mühsam erworbenes militärisches Wissen wa ren und diesen Jungens jetzt ihren ersten Vorgeschmack vom Kasernenleben gab, ihren ersten Blick nach »draußen«. Es war so unvorstellbar dumm! Aber war es das wirklich? Man konnte es natürlich auch anders sehen. Man konnte es so pragmatisch sehen wie Soldaten immer gedacht hatten. Die Front war ein Ort immerwährenden Schrek kens, ein Ort qualvollen Todes, und die vor deren Kampfzonen, in denen die Schleuderkommandos operierten, waren noch schlimmer. Wenn Männer oder Material da draußen zusammen brachen, so konnte das sehr teuer kommen. Sollten sie doch so nahe wie möglich bei der Etappe zusammenbrechen. Vielleicht war das Ganze logisch, dachte ich. Vielleicht war es
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logisch, Lebende aus dem Fleisch der Toten zu machen und da für astronomische Summen auszugeben, dafür Mühe und Sorg falt aufzuwenden, wie man sie sonst nur bei Präzisions erzeugnissen wie Uhren und dergleichen aufwandte – und dann eben diese Produkte der häßlichsten und bösartigsten Umgebung auszusetzen, die ihre sorgfältig aufgepfropfte Loyalität in Haß und ihr feines psychologisches Gleichgewicht in neurotische Überempfindlichkeit umschlagen ließ. Ich wußte nicht, ob es im Grunde klug oder dumm war oder ob die Köpfe in den oberen Etagen unserer Hierarchie über das Pro blem je nachgedacht hatten. Ich sah jetzt nur mein eigenes Pro blem und mußte damit fertig werden. Ich dachte darüber nach, ehe ich diese Männer gesehen hatte, ehe sie mir vor Augen ge treten waren. Und dabei war mir ziemlich übel. Aber das brachte mich auch auf einen Gedanken. »He, hört mal her«, sagte ich. »Wie würdet ihr denn mich nen nen?« Sie sahen mich verblüfft an. »Ihr wollt wissen, wie ich euch nenne«, erklärte ich. »Sagt mir doch zuerst, wie ihr Leute wie mich nennt, Leute, die geboren sind. Ihr müßt doch auch Spitz namen für uns haben…« Lamehd grinste und zeigte seine Zähne, ein weißes, freudloses Grinsen vor seiner dunklen Haut, »Realos«, sagte er. »Wir nen nen Leute eurer Art Realos.« Und dann kam der Chor der anderen. Es gab noch eine ganze Menge anderer Namen. Ich mußte sie mir alle anhören. Sie un terbrachen einander, spuckten die Worte aus, funkelten mich an und warteten, welchen Eindruck sie damit machten. Einige der Spitznamen waren komisch, einige waren ziemlich bösartig. Utie und Schößchen fand ich besonders nett. »Na schön«, sagte ich nach einer Weile. »Fühlt ihr euch jetzt wohler?« Ihr Atem ging schnell, aber sie fühlten sich wohler. Das wußte ich, und sie wußten es auch. Die Stimmung im Zimmer war plötzlich nicht mehr so drückend und haßerfüllt.
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»Zunächst möchte ich euch allen klarmachen«, fing ich an, »daß ihr alle große erwachsene Jungens seid und selbst auf euch aufpassen könnt. Von jetzt an, wenn wir miteinander in eine Bar oder ein Lager gehen und jemand von etwa eurem Rang etwas sagt, das so ähnlich wie Zombie klingt, dann könnt ihr meinet wegen mit ihm machen, was ihr wollt – wenn ihr es schafft. Wenn er meinen Rang hat, werde wahrscheinlich ich ihm die Ab reibung verpassen, weil ich ein sehr empfindlicher Commander bin und es nicht mag, wenn man meine Leute falsch einschätzt. Und falls ihr jemals das Gefühl habt, daß ich euch nicht wie menschliche Wesen behandle, wie hundertprozentige vollwertige Bürger des Sonnensystems, so habt ihr jederzeit meine Erlaub nis, euch vor mir aufzubauen und zu sagen: »Jetzt hören Sie mal her, Sie dreckiger Utie, Sir…« Die vier grinsten. Es war ein warmes Grinsen. Und dann ver blaßte das Grinsen, und die Augen wurden wieder kalt. Schließ lich standen sie einem Mann gegenüber, der trotz allem ein Au ßenseiter war. Ich fluchte. »So einfach ist das nicht Commander«, sagte Wang Hsi. »Lei der. Sie können uns ruhig hundertprozentige Menschen nennen, aber wir sind es nicht. Und jeder, der uns Klopse oder Büchsen fleisch nennen will, hat schließlich das Recht dazu. Wir sind eben doch nicht so gut, wie – wie ihr Muttersöhnchen, und das wissen wir auch. Und wir werden auch nie so gut sein.« »Ich weiß nicht«, wandte ich ein. »Einige eurer Leistungs tabellen…« »Leistungstabellen, Commander«, sagte Wang Hsi mit sanfter Stimme, »machen noch keinen Menschen. Wir sind Soldatener satz, keine Soldaten. Wir sind keine Soldaten, weil Soldaten Menschen sind. Und wir, Commander, sind keine Menschen.« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Und dann platzte ich heraus: »Und wie kommt ihr darauf, daß ihr keine Menschen seid?« Wang Hsi sah mich überrascht an, aber seine Antwort war im mer noch leise und ruhig. »Das wissen Sie. Sie haben unsere
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Konstruktionsdaten gesehen, Commander. Wir sind keine Män ner, Commander. Keine wirklichen Männer, weil wir uns nicht fortpflanzen können.« Ich zwang mich dazu, mich wieder hinzusetzen, und legte lang sam die Hände über die Knie. »Wir sind genauso steril«, hörte ich Yussuf Lamehd sagen, »wie kochendes Wasser.« »Es hat eine Menge Männer gegeben«, fing ich an, »die…« »Hier geht es nicht um eine Menge Männer«, unterbrach mich Weinstein. »Hier geht es um alle, uns alle.« »Klops bist du«, murmelte Wang Hsi, »und zu Klops sollst du wieder werden. Wenigstens ein paar von uns hätten sie eine Chance geben können. So schlecht wären die Kinder gar nicht geworden.« Roger Grey schlug mit der Hand auf die Armlehne seines Stuhls. »Das ist es ja gerade, Wang«, sagte er mild. »Die Kinder wären vielleicht gut geworden – zu gut. Unsere Kinder wären vielleicht besser geworden als ihre Kinder – und wo würden sie dann stehen, diese verdammten Realomenschen?« Ich saß da und starrte sie wieder an. Aber diesmal sah ich ein anderes Bild. Ich sah nicht Fließbänder, die sich langsam dahin schoben und die mit menschlichem Gewebe und Organen gefüllt waren, an denen ernstblickende Biotechniker arbeiteten. Ich sah nicht einen Raum, voll mit einem Dutzend erwachsener Männer körper, die in einer Nährlösung schwammen, jeder einzelne Kör per mit einer Lehrmaschine verbunden, die Tag und Nacht In formationen in den Körper pumpte, um ihn dazu zu befähigen, eines Tages den Platz eines Mannes am blutigsten Teil der Kampffront einzunehmen. Diesmal sah ich Kasernen voll Helden, viele von ihnen doppelt und dreifach vertreten. Und da saßen sie und meckerten, wie Männer in Kasernen immer meckern werden, wenn sie in der Kaserne sitzen, gleichgültig auf welchem Pla neten es ist, und gleichgültig, ob sie wie Helden aussehen oder nicht. Aber sie be
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klagten sich über Erniedrigungen, die tiefer gehen als die Ernied rigungen, denen Männer sonst ausgesetzt sind – Erniedrigungen, die an das Innerste ihrer Persönlichkeit rühren. »Ihr glaubt also«, sagte ich, »daß man euch die Fähigkeit zur Fortpflanzung bewußt vorenthalten hat?« Weinstein schnitt eine Grimasse. »Aber Commander, jetzt er zählen Sie uns doch keine Märchen.« »Habt ihr euch denn nicht überlegt, daß das ganze Problem un serer Rasse im Augenblick die Fortpflanzung ist? Ihr könnt mir glauben, Männer, das ist alles, wovon draußen geredet wird. Schon in der Volksschule wird darüber debattiert. Und jeden Mo nat kommen neue Bücher auf den Markt, und die Archäologen und die Botaniker lassen sich in ihren Fachgebie ten etwas dar über einfallen. Jeder weiß, daß wir den Kampf mit den Eoti nur gewinnen, wenn wir unsere Fortpflanzungsfähigkeit steigern können. Glaubt ihr denn wirklich, daß unter diesen Umständen irgendeiner Person absichtlich die Zeugungsfähigkeit genommen würde?« »Was kommt es denn auf ein paar Klopse mehr oder weniger an?« wollte Grey wissen. »Nach den letzten Nachrichten haben die Vorräte in den Samenbanken ihren höchsten Stand seit fünf Jahren erreicht. Man braucht uns nicht.« »Commander!« Wang Hsi reckte mir sein Kinn entgegen. »Jetzt möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Wollen Sie uns denn wirklich weismachen, daß eine Wissenschaft, die fähig ist, einen lebenden menschlichen Körper mit einem komplizierten Verdau ungssystem und einem höchst komplizierten Nervensystem zu sammenzubauen – und zwar aus halbverwester Protoplasma masse –, nicht in der Lage sein sollte, wenigstens in einem ein zigen Fall auch das Keimplasma wiederherzustellen?« »Das werden Sie wohl oder übel glauben müssen«, sagte ich. »Es ist nämlich so.« Wang lehnte sich zurück, und die anderen drei taten es ihm gleich. Sie senkten die Augen. »Habt ihr denn noch nie gehört«, flehte ich sie an, »daß das Keimplasma in sehr viel höherem Ma
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ße das Individuum repräsentiert als jeder andere Teil des menschlichen Körpers? Daß es Biologen gibt, die der Ansicht sind, daß unsere Körper in Wirklichkeit bloß Träger sind, die das Keimplasma fortpflanzen? Das ist das komplizierteste biotechni sche Rätsel, das es gibt! Ihr könnt mir glauben, Männer«, fügte ich erregt hinzu, »daß ich die Wahrheit spreche, wenn ich sage, daß die Biologie das Problem des Keimplasma noch nicht gelöst hat. Ich weiß es.« Das rüttelte sie wieder etwas auf. »Schaut«, sagte ich, »wir haben mit den Eoti, die wir be kämpfen, eines gemeinsam. Insekten und warmblütige Lebe wesen unterscheiden sich in tausendfacher Weise. Aber nur un ter den staatenbildenden Insekten und den staatenbildenden Menschen gibt es Individuen, die – obwohl sie an der Fortpflan zung ihrer Rasse keinen Anteil haben – für ihre Gattung von grundlegender Bedeutung sind. So gibt es zum Beispiel Kinder gärtnerinnen, die zwar unfruchtbar sind, aber doch von un schätzbarem Wert für die Heranbildung von Persönlichkeiten un ter den Kindern, über die sie die Obhut haben.« »Vierte Lektion für Soldatenersatz«, sagte Weinstein trocken. »Das hat er aus dem Buch.« »Ich bin verwundet worden«, sagte ich. »Ich bin fünfzehn Mal schwer verwundet worden.« Ich richtete mich vor ihnen auf und begann, den rechten Ärmel hochzurollen. Er war von Schweiß durchnäßt. »Wir wissen schon, daß Sie verwundet worden sind, Com mander«, meinte Lamehd. »Das sehen wir an Ihren Abzeichen. Sie brauchen uns nicht…« »Und bei jeder Verwundung haben die mich so gut wie neu hergerichtet. Besser sogar. Schaut euch den Arm an.« Ich be wegte ihn. »Ehe er vor, sechs Jahren in einem kleinen Gefecht wegrasiert wurde, konnte ich nie einen solchen Bizeps zusam menbringen. Die haben mir auf den Stumpf einen besseren Arm aufgepfropft, und ihr könnt mir glauben, daß meine Reflexe nie so gut waren.«
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»Was wollten Sie sagen«, fragte Wang Hsi, »als Sie meinten…« »Fünfzehnmal bin ich verwundet worden«, übertönte ihn meine Stimme, »und vierzehnmal wurde die Wunde repariert. Beim fünfzehnten Mal – nun beim fünfzehnten Mal konnten sie die Wunde nicht reparieren. Beim fünfzehnten Mal konnten sie mir überhaupt nicht helfen.« Roger Grey öffnete den Mund. »Glücklicherweise«, flüsterte ich, »war es keine Wunde, die man sieht.« Weinstein machte Anstalten, mich etwas zu fragen, überlegte es sich dann aber anders und lehnte sich wieder zurück. Aber ich sagte ihm, was er wissen wollte. »Eine Nuklearhaubitze. Später hat man es sich so zurecht gelegt, daß die Granate defekt war. Es reichte aus, um die halbe Besatzung unseres Kreuzers zu töten. Ich wurde nicht getötet, aber ich befand mich im Bereich der Rückstrahlung.« »Die Rückstrahlung -« Lamehd verstand sofort, worauf ich hin auswollte – »die Rückstrahlung sterilisiert jeden im Umkreis von sechzig Metern, falls er nicht Blei…« »Ich trug kein Blei.« Ich hatte aufgehört zu schwitzen. Es war vorbei. Mein kleines Geheimnis war keines mehr. Ich atmete tief. »Ihr seht also – nun, jedenfalls weiß ich, daß man das Problem noch nicht gelöst hat.« Roger Grey stand auf und hielt mir die Hand hin. Sie fühlte sich ganz normal an. Vielleicht ein bißchen kräftiger. »Schleuderbesatzungen«, fuhr ich fort, »bestehen nur aus Freiwilligen. Nur in zwei Fällen kann man zu einer Schleuder ab kommandiert werden – als Kommandant oder als Solda tenersatz.« »Wahrscheinlich, weil man meint, daß man uns am leichtesten entbehren kann.« Er nickte. »Nun, da soll mich doch der Teufel holen.« Yussuf Lamehd lachte und streckte mir ebenfalls die Hand hin. »Willkommen in
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unserer Mitte.« »Danke«, sagte ich, »mein Sohn.« Er schien über die Betonung des letzten Wortes überrascht zu sein. »Das ist der Rest der Geschichte«, erklärte ich. »Niemals ver heiratet gewesen und im Urlaub immer zu sehr damit be schäftigt, die Stadt auf den Kopf zu stellen, um die Zeit zu ha ben, eine Samenbank zu besuchen.« »Oho«, sagte Weinstein und deutete mit dem dicken Daumen auf die Wand. »Das ist es also.« »Stimmt. Das ist es. Die Familie. Die einzige, die ich je haben werde. Ich habe fast genug von den da«, – ich deutete auf mei ne Auszeichnungen, – »um abgelöst zu werden. Als Schleuder kommandant kann ich mir dessen sicher sein.« »Was Sie noch nicht wissen«, sagte Lamehd, »ist, welch hoher Prozentsatz der Ablösung Ihrem Gedächtnis zugeteilt werden wird. Das kommt darauf an, wieviel von diesem Lametta Sie noch einsammeln, ehe Sie – äh – wie soll ich sagen – Rohmate rial werden.« »Ja«, sagte ich und kam mir plötzlich ganz leicht und ent spannt vor. Jetzt war ich alles losgeworden. Und dabei hatte ich vorgehabt, sie moralisch aufzumöbeln. »Nun, Boys«, fuhr er fort, »mir scheint, unser Commander soll noch mehr Lametta bekommen. Er ist ein netter Kerl. Und von der Sorte sollten noch mehr in unserem Klub sein.« Jetzt standen sie alle um mich, Weinstein, Lamehd, Gray, Wang Hsi. Sie sahen jetzt ganz freundlich aus und sehr tüchtig. Ich glaubte langsam, daß wir eine der besten Schleuder besatzungen in… Was soll das heißen – eine der besten? Die be ste, Mister – die beste. »Okay«, sagte Grey. »Wohin immer und wann immer Sie wol len, Sie brauchen es bloß zu sagen – Paps.«
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Der Flirgelflipper Banderling, Sie sind ein Tolpatsch! Ja, ich weiß. Es ist recht unwahrscheinlich, daß diese Botschaft Sie in den Jahren erreicht, die Ihnen noch von Ihrem selbstgefäl ligen Leben übrigbleiben; aber wenn irgend etwas, irgendeine neue Entdeckung – zum Beispiel eine unerwartete Krümmung im Raum-Zeit-Gefüge zum Beispiel – diese Blätter zur Oberfläche bringen sollte, dann möchte ich, daß Thomas Alva Banderling weiß, daß ich ihn für den aufgeblasensten, selbstgefälligsten, dümmsten Tolpatsch in der ganzen Geschichte der Menschheit halte. Mich natürlich ausgenommen. Wenn ich überlege, wie glücklich ich war, wenn ich in meiner Doliksammlung oder mit meinen Spindfars herumbasteln konnte, welche hervorragenden Fortschritte meine Arbeit über die »Gllianischen Ursprünge der Flirgmuster der späten Pegisepo che« machten – wenn ich mich an diese glücklichen Zeiten erin nere und dann wieder gewaltsam in die schmutzigen, primitiven Umstände meines augenblicklichen Berufs zurückgerufen werde, so neige ich zugegebenermaßen dazu, in meiner Meinung über Banderling etwas unakademisch zu werden. Welche Chance habe ich denn, jemals in die marmorweißen Türme des Instituts zu rückzukehren, das sich in pla stischer Schönheit über den anti septisch sauberen Boden Manhattans erhebt? Ich träume gerne von der wissenschaftlichen Hochstimmung, die ich empfand, als wir, das heißt die Forschungsexpedition neunzehn, mit einer Schiffsladung Punforg von den Gllianaus grabungen vom Mars zurückkehrten. Ich denke gerne zurück an die Freude, die ich empfand, als man mir die Teilnahme anbot, wußte ich doch, daß ich mich erneut mit den ungelösten Proble men beschäftigen konnte, die ich schon ein mal in Angriff ge nommen hatte. Banderling und sein widerlicher Strahlungsdämp fer? Nun, jener Abend war das erstemal, daß ich ihn wirklich bemerkte! »Turton«, fragte er plötzlich und sein Bild zeichnete sich auf
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dem Bildschirm meines Benskops ab, »Turton, könnten Sie einen Augenblick in mein Labor kommen? Ich brauche jemand, der mir etwas hält.« Das überraschte mich. Banderling und ich trafen uns höchstens gelegentlich bei Institutsversammlungen und hatten wenig Ver anlassung, miteinander zu reden. Es kam auch ziemlich selten vor, daß ein Hilfsforscher einen vollwertigen Forscher um Unter stützung bat, insbesondere, wenn beide in völlig verschiedenar tigen Disziplinen arbeiteten. »Können Sie keinen Labortechniker oder einen Roboter krie gen?« fragte ich. »Die Labortechniker sind alle schon weg. Wir sind die beiden einzigen, die noch im Institut sind. Ghandhis Geburtstag, wissen Sie. Ich habe meinem Roboter schon vor zwei Stunden gesagt, daß er sich einpacken soll. Da dachte ich, ich wäre fertig.« »Na schön«, seufzte ich und halste meinen Flirgelflipper und das Dolik, das ich damit untersucht hatte. Als ich in das Benskop trat und an meinem Halsband entsprechend gezupft hatte, um den gegenüberlegenden Institutsflügel zu erreichen, dachte ich bereits nicht mehr darüber nach, wie eigenartig Banderlings Bitte doch gewesen war. Das Dolik, mit dem ich mich beschäftigt hatte, war nämlich das sogenannte Thumtsedilemma – eine höchst faszinierende Ge schichte. Die meisten meiner Kollegen neigten zu Gurkhaysers Theorie, die dieser aufstellte, als er es vor mehr als fünfzig Jah ren in Thumtse entdeckte. Gurkhayser erklärte, es könnte kein Dolik sein, weil kein Flirgmuster vorlag; und ein Spindfar konnte es auch nicht sein, weil immerhin in winzigen Mengen Flirg vor handen war; deshalb handelte es sich um ein bewußt geschaffe nes Paradoxon, das demzufolge als Punforg klassifiziert werden mußte. Aber per Definition konnte es in Thumtse kein Punforg geben… Aber ich weiche vom Thema ab. Ich vergesse wieder einmal, wie meine Zuhörer auf dieses Thema reagieren. Wenn dem nicht so wäre, und selbst wenn es nur bei diesem einen Punkt so wäre
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– jedenfalls dachte ich immer noch über das Thumtsedilemma nach, als ich in Banderlings Labor aus dem Benskop trat. Ich war in keiner Weise darauf vorbereitet, die an und für sich offenkun digen Schlüsse aus seiner Nervosität zu ziehen. Und selbst wenn ich es gewesen wäre, wer hätte von einem Hilfsforscher solch psychotisches Verhalten erwarten können? »Danke, Turton«, nickte er, und sein Halsband klirrte mit all den Geräten, die Physiker die ganze Zeit für nötig zu halten scheinen. »Würden Sie bitte diese lange Stange vom Teller weg schieben und mit dem Rücken gegen das Gitter drücken? So ist’s gut. Er biß auf die Knöchel seiner Rechten, legte mit der Linken einen Schalter um, und ein Relais schnappte ein. Dann drehte er einen kleinen Knopf einige Skalenstriche weit, furchte zweifelnd die Stirn und drehte ihn auf den vorherigen Wert zurück. Der Teller vor mir – eine radartige Angelegenheit dessen Spei chen Resistorspulen und dessen Nabe eine riesige Mesotronen röhre war – begann zu leuchten und sich dann langsam zu dre hen. Hinter mir vibrierte das Gitter unter meinen Schulterblät tern. »Da – da ist doch nichts Gefährliches an dem, was ich tue?« fragte ich und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen, während ich den Raum voll Gerätschaften ansah. Banderlings kleiner schwarzer Bart schoß in die Höhe und selbst die Haare auf seiner Brust schienen sich zu sträuben. »Was sollte da denn gefährlich sein?« Da ich das nicht wußte, entschied ich mich, dies als eine beru higende Antwort aufzufassen. Ich hätte gerne Banderlings Bestä tigung gehabt, aber der hetzte jetzt geschäftig herum, betätigte Schalter und schaute böse auf seine Skalen. Ich hatte beinahe vergessen, in welch unbequemer Lage ich mich befand und dachte wieder an die mittlere Passage meiner Arbeit – dem Abschnitt, in dem ich beabsichtigte, den Beweis zu führen, daß der Einfluß Glls auf Pegis ebenso groß war wie der von Tkes – aber da riß mich Banderlings dröhnende Stimme aus meinen Gedanken.
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»Turton, sind Sie nicht oft unglücklich darüber, daß Sie in einer Intermediärzivilisation leben?« Er war vor dem Teller stehengeblieben und stemmte jetzt seine langen Hände in die Hüften. »Was meinen Sie – die Zeitgesandtschaft?« fragte ich. Ich hat te schon von Banderlings Ansichten gehört. »Genau das. Die Zeitgesandtschaft. Wie kann die Wissenschaft denn leben und sich entwickeln, wenn es eine solche Einrichtung gibt? Das ist tausendmal schlimmer als diese alten Unterdrücker, wie zum Beispiel die Inquisition, die Militärkontrolle oder die Uni versitätsbudgets. Das dürfen Sie nicht tun – das wird erst in ei nem Jahrhundert entwickelt, jenes dürfen Sie nicht tun – die so ziologische Auswirkung einer solchen Erfindung auf Ihre Periode ist für Ihr augenblickliches Fassungsvermögen zu groß; jenes sollten Sie tun – es wird zwar jetzt nichts dabei herauskommen, aber jemand in einem Nebengebiet Ihrer Fakultät wird in sound soviel Jahren aus Ihren Irrtümern eine brauchbare Theorie ent wickeln. Und wozu führen all diese Verbote und Einschränkun gen; wem nützen sie?« »Dem größten Nutzen, der größten Zahl, der größten Zeit periode«, zitierte ich aus dem Projekt des Instituts. »Auf daß die Menschheit sich andauernd verbessern möge, indem sie die Ver gangenheit auf der Basis ihres eigenen historischen Urteils und des Rates der Zukunft neu formt.« Er nickte und grinste dabei ironisch. »Wie wissen wir das? Was ist denn der Operationsplan jener Ultimaten Menschen in jener Ultimaten Zukunft, in der es keine Zeitgesandtschaft aus einer noch ferneren Periode gibt? Würden wir ihn billigen, diesen Plan? Würden wir…« »Aber Banderling, wir würden ihn nicht einmal begreifen! Men schen mit Gehirnen im Vergleich zu denen, die unseren wie ein fach Ganglienzellen wirken – wie sollten wir imstande sein, ihre Projekte zu begreifen und richtig einzuschätzen? Außerdem scheint es gar keine solche ultimate Zukunft zu geben, nur eine Zeitgesandtschaft nach der anderen, jede vom nächsten Zeital
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ter in das vorhergehende geschickt. Und der Rat einer jeden Ge sandtschaft basiert auf dem historischen Wissen der Periode, aus der sie kommt. Zeitgesandtschaften, die sich weit in die Vergan genheit erstreckten, aus der sich stets verbessernden Zukunft. Zeitgesandtschaften ohne Ende.« Ich hielt inne, da mir der Atem ausgegangen war. »Nur hier nicht. Mit Ausnahme von Zwischen zivilisationen, wie der unseren. Sie mögen sich in die Unendlich keit erstrecken, soweit es die Zukunft betrifft, Turton, aber in unserem Zeitalter hören sie auf. Wir schicken niemand in die Vergangenheit; wir erhalten Befehle, geben aber selbst keine.« Ich versuchte mir ein Bild von Banderling zu machen, während er die grünschimmernde Mesotronenröhre untersuchte und seine Geräte neu einstellte, was die Röhre noch mehr anzuregen schien. Man hatte ihn im Institut schon immer für eine Art Revo lutionär gehalten – doch keineswegs in dem Maße, daß man ihn für einen Anpassungskurs vorgeschlagen hätte. Aber er mußte schließlich doch auch wissen, daß die Bildung des Instituts selbst der erste Vorschlag war, den die Zeitgesandtschaft gemacht hat te, als unsere Epoche ihr Zeit feld erreicht hatte? Ich entschied, daß die Schwierigkeiten, die er augenblicklich mit seinen Geräten zu haben schien, ihn so gereizt haben mußten, daß sein norma les Denken nicht ganz funktioniert. Mein Geist schweifte wieder zu wichtigen Gegenständen, wie zum Beispiel Spindfarproblemen ab, und ich begann schon zu wünschen, daß Banderling mir end lich die lange Stange abnahm, so daß ich meinen Flirgelflipper wieder abhalsen konnte. Nicht daß ich glaubte, daß das Thumtsedilemma wirklich ein Spindfar war. Aber es war möglich, wurde mir plötzlich klar, denn Flirg… »Man hat mir gesagt, ich solle die Arbeiten an meinem Strah lungsdämpfer einstellen.« Die mürrische Stimme des Physikers riß mich aus meinen Gedanken. »Diese Maschine meinen Sie?« fragte ich einigermaßen höflich und verbarg meinen Ärger über die Unterbrechung und die uner klärliche Temperaturzunahme in dem Raum. »Hm ja. Diese Maschine.« Er wandte sich einen Augenblick ab
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und stellte dann einen umgebauten Benskopprojektor vor mich hin. »Die Zeitgesandtschaft hat natürlich nur vorgeschlagen, daß ich die Arbeiten einstelle. Sie haben es der Institutsverwaltung vorgeschlagen, die eine Anweisung daraus machte. Ohne Be gründung, völlig ohne Begründung.« Ich nickte mitfühlend und veränderte meinen Griff an der Stan ge. Die Vibration des Gitters hatte mir beinahe ein schach brettartiges Muster in den Rücken gedrückt, und die Vorstellung, an einem Experiment beteiligt zu sein, das zu einem gestriche nen Projekt gehörte, da ich doch in der gleichen Zeit nützliche Arbeit an Dolik, Spindfar und sogar Punforg leisten konnte, machte mich eigentlich recht unwillig. »Warum?« fragte Banderling theatralisch und fuchtelte mit den Händen herum. »Was ist denn an diesem Gerät, daß es eines Ultimatum bedarf, meine Forschungen einzustellen? Ich habe die Lichtgeschwindigkeit halbiert, vielleicht gelingt es mir sogar, sie in dieser Röhre noch weiter zu reduzieren, am Ende vielleicht auf Null. Scheint Ihnen denn eine solche Zunahme der wissenschaft lichen Erkenntnisse der Menschheit gefährlich, Turton?« Ich dachte über die Frage nach und stellte befriedigt fest, daß ich ehrlich mit nein antworten konnte. »Aber«, erinnerte ich ihn, »es sind schon andere Projekte di rekt eingestellt worden. Ich hatte auch eines. Da war dieses Do lik, das auf ganz eigenartige Weise geflirgelt war. Offenbar ein Produkt der Mittleren Rlla auf dein Höhepunkt ih rer Kultur. Ich hatte gerade festgestellt, daß es rllaianischen Ursprungs war, als man mich rief, und…« »Was haben denn diese schrecklichen unverständlichen Dings bumse mit der Lichtgeschwindigkeit zu tun?« fuhr er mich an. »Ich will Ihnen sagen, warum man mir befohlen hat, die Arbeit an meinem Strahlungsdämpfer einzustellen, Turton, nachdem ich elf Jahre lang Tag und Nacht daran gearbeitet habe. Diese Maschine hier ist der Schlüssel zur Zeitreise.« Ich hatte vorgehabt, beleidigt zu sein, vergaß das aber, und starrte ihn an. »Zeitreise? Sie meinen, Sie haben sie ent deckt?
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Wir haben den Punkt erreicht, an dem es uns gestattet wird, un sere eigene Zeitgesandtschaft in die Vergangenheit zu schik ken?« »Nein. Wir haben einen Punkt erreicht, von dem aus Reisen in die Zeit möglich sind, von dem aus man die Vergangenheit besu chen kann, von dem aus man eine Gesandtschaft in einer vor hergegangenen Periode errichten könnte. Aber man wird es uns nicht gestatten! Statt dessen stelle ich die Arbeit an meinem Strahlungsdämpfer ein, so daß in einem Jahrhundert, sagen wir, falls die Gesandtschaft es billigt, irgendein anderer Physiker un ter Benutzung meiner Notizen und Arbeiten eine Maschine bauen kann – und von der Geschichte als der Vater der Zeitreise ange sehen werden kann.« »Sind Sie sicher, daß es Zeitreise ist? Vielleicht ist es nur…« »Natürlich bin ich sicher. Habe ich denn nicht seit den ersten Anzeichen der elektromagnetischen Dämpfung meine Messungen betrieben? Habe ich nicht zwei Mesotronenröhren verloren, ehe das Umkehrfeld optimal wurde? Und habe ich nicht mehr als fünfzehn Kaninchen in die Vergangenheit geschickt, von denen keines zurückkehrte? Nein, es ist Zeitreise, Turton, und ich muß damit aufhören. Offiziell heißt das.« Sein Ton verwirrte mich. »Was soll das heißen offiziell?« Banderling zog ein Universalhalsband über den Bildschirm des Benskops, bis es zu pulsieren begann. »Nun, unter offiziell… Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Stange bis zu Ihrer Brust hochzuheben? Etwas höher noch. Sehr schön. In einem Augen blick ist es soweit. Angenommen, jemand aus der Gegenwart sollte als Ergebnis eines mißglückten Laborexperiments in die Vergangenheit geschickt werden? Dann wäre die Zeitreise ein fait accompli; der Mann, der die Maschine baute, die das bewirk te, wäre ganz offiziell der Ent decker – gleichgültig was die Zeit gesandtschaft davon hielte. Das würde Auswirkungen bis hinun ter zur letzten Krümmung des Raum-Zeitkontinuums haben!« Ich schauderte, obwohl es in dem Labor inzwischen unan genehm warm geworden war. »Allerdings«, nickte ich. »Wenn
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jemand so verrückt wäre, es zu versuchen. Aber ernsthaft ge sprochen, glauben Sie wirklich, daß Ihr Strahlungsdämpfer einen Mann aus unserer Gegenwart in die Vergangenheit schicken und wieder zurückholen könnte?« Der Physiker legte das Halsband beiseite, als daß Benskop die optimale Schwingungsfrequenz erreicht hatte. »Eine Rückkehr könnte ich mit meinen Geräten nicht bewerkstelligen. Aber das würde die Zeitgesandtschaft übernehmen. Die haben ja sogar Botschafter in den Präintermediärzivilisationen – ausgebildete Agenten, die insgeheim und unter großen Schwierigkeiten arbei ten, um die notwendigen Veränderungen in der kulturellen Ent wicklung zu bewerkstelligen, ohne dabei die negativen Auswir kungen einer Offenbarung der Zeitkultur an die Primitiven zu riskieren. Wenn jemand aus unserer Zeit in eine vergangene Pe riode geriete, würde er sofort zurückgeholt werden. Und da die Zeitgesandtschaft sich selbst in Intermediärzivilisationen wie der unseren nur beratende Funktionen zugesteht, würde er lebend zurückgeholt werden und unsere Verwaltung erhielte den Rat, ihn irgendwie zum Schweigen zu bringen. Aber gleichgültig, was nachher geschähe, das Geheimnis wäre draußen, und die Mission wäre erfüllt. Die Verwaltung würde wahrscheinlich mit den Schultern zucken und beschließen, die Existenz der Zeitreise hin zunehmen und damit auch den Status einer fortgeschrittenen Zivilisation. Die Verwaltung hätte dagegen nichts einzuwenden, sobald es einmal passiert ist. Und die Zeitgesandtschaften wür den wütend sein und das den nächsten paar Millionen Jahren mitteilen, aber sie würden ihre Pläne neu konzipieren müssen. Sie würden ihren Würgegriff am Hals der Geschichte aufgeben müssen.« Ich begriff. Faszinierend! Man stelle sich vor, daß man einfüral lemal das Thumtsedilemma lösen könnte, indem man miterlebte, wie es entstand! Und was für fantastische neue Erkenntnisse man über die Flirgler gewinnen würde? Wir wußten so wenig. Insbesondere würde mich die Beziehung zwischen Punforg und… Unglücklicherweise war das nur ein Traum. Banderlings Strah lungsdämpfer war gestrichen worden. Er würde ab morgen nicht mehr daran arbeiten. Die Zeitreise gehörte einer anderen Epo
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che. Ich lehnte mich bedauernd gegen das Gitter. »Das ist es, Turton!« rief der Physiker plötzlich begeistert. »Jetzt sind wir über das Optimum!« Er nahm sein Univer salhalsband und hielt es über den Bildschirm des Benskops. »Freut mich, daß es wieder funktioniert«, erklärte ich. »Die ses Gitter drückt am Rücken. Banderling, ich habe jetzt selbst wieder zu tun.« »Vergessen Sie Ihre Ausbildung nicht«, warnte er mich. »Hal ten Sie die Augen offen und merken Sie sich alles gut, was Sie sehen, bis man Sie festnimmt. Denken Sie daran, wie viele For scher in Ihrer Fakultät sich alle zehn Finger ablecken würden, um an Ihrer Stelle zu sein, Turton!« »An meiner Stelle? Sie meinen, indem sie Ihnen helfen? Nun, ich weiß nicht…« In dem Augenblick kam mir der Teller in einer Flut grünen Lichts entgegen; die Stange schien mit meiner Brust zu ver schmelzen, und das Gitter floß über meinen Rücken. Banderlings Gesicht verzerrte sich und verschwand hinter schim merndem Hitzeflimmer. Ein ohrenbetäubendes Pfeifen drohte mir den Kopf zu zersprengen. Irgend etwas enorm Großes, Unwiderstehliches stieß mich an, und dann verlor ich das Bewußtsein. Nichts blieb, nur die Erinnerung an Banderlings Grinsen. Und mir war kalt. Eisig kalt. Ich stand auf einer lächerlichen steinernen Brücke und blickte auf eine Szene aus Mark Twain, Washington Irving oder Ernest Hemingway – einem der Autoren jener Periode jedenfalls. Zie gelgebäude waren wahllos über die Landschaft verteilt; Metall fahrzeuge krochen lärmend zu beiden Seiten an mir vorbei; Leu te gingen auf den etwas erhöhten Steinflächen bei den häßli chen, kleinen Häusern. Sie hatten Lederstücke um die Füße ge bunden und waren in seltsame Stoffe eingehüllt. Und zu allem Überfluß war es kalt. Man stelle sich vor, die Stadt hatte nicht einmal eine Klimaanlage! Ich spürte, wie ich zu zittern anfing. Jetzt erinnerte ich mich an eine Zeichnung, die ich
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einmal gesehen hatte, ein junger Mann, der in genau dieser Szene stand und schauderte. Das mittelalterliche New York 1650 bis 1980 glaube ich. Plötzlich erinnerte ich mich an die letzten Augenblicke im La bor. Jetzt begriff ich. Ich ballte die Faust. »Banderling!« schrie ich sie an. »Bander ling, Sie sind ein Tolpatsch!« Soweit ich mich erinnern kann, war das das erstemal, daß ich diese Bemerkung machte. Später wurde sie zu einer stehenden Redewendung. Trotzdem will ich sie wiederholen aus vollem Her zen und schmerzendem Leib – Tolpatsch! Tolpatsch! Irgendwo schrie eine Frau. Ich drehte mich um und sah, daß sie mich anstarrte. Andere Leute lachten und deuteten auf mich. Ich gestikulierte ungeduldig, ließ den Kopf auf die Brust sinken und versuchte, meine Lage zu überdenken. Und dann erinnerte ich mich. Ich wußte nicht genau, wann ich war, aber eines hatten all die se Präintermediärzivilisationen gemeinsam: einen Kleiderfetisch mit schweren Strafen für die, die ihn mißachteten. Natürlich gab es Gründe dafür. Ich bin nicht sicher, welcher dieser Gründe hier besonders wichtig war. So gab es zum Beispiel in dieser Epoche offenbar keine Thermostatkontrolle der Atmosphäre, und die Jahreszeit war offenbar die kühle dritte der vier antiken natürli chen Jahreszeiten. Eine gestikulierende Gruppe hatte sich auf der etwas erhöhten Zementfläche mir gegenüber angesammelt. Eine vierschrötige Gestalt in blau, der primitive Waffen vom Gürtel baumelten, schob sich durch die Menge und kam schnell auf mich zu. »He, Sie Knilch«, sagte er in etwa. »Was bilden Sie sich denn ein, was das ist? Eine Gratisvorstellung, he? Herkommen!« Wie gesagt, das meinte er in etwa. Ich stellte fest, daß ich wirkliche Angst vor diesem Wilden hatte. Ich zog mich zurück, wirbelte herum und fing zu rennen an. Ich
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hörte ihn hinter mir rennen. Ich rannte schneller; ich hörte, wie er ebenfalls schne ller rannte. »Herkommen!« bellte seine Stimme. »Herkommen habe ich gesagt!« Befand ich mich in einer Zeitepoche, in der physischer Zwang gegen Leute angewandt wurde, die die Tabus dieser Gesellschaft verletzten? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich hielt es jedoch für nötig, allein zu sein, um mich auf meine nächsten Schritte zu konzentrieren. Ich rannte durch eine schmale Gasse und erblickte plötzlich ei nen großen Behälter aus Metall mit einem Deckel. Im Augenblick war niemand in der Nähe. Ich duckte mich, hob den Deckel ab, sprang in den Behälter und stülpte mir den Dek kel gerade in dem Augenblick über den Kopf, als meine Verfolger herangekeucht kamen. Eine unglaublich barbarische Epoche! Dieser Behälter – unsag bar, unsagbar… Ich hörte ein paar Füße herangetrottet kommen, und nach einer Weile folgten weitere Füße. »Nun, wohin ist er denn gerannt?« »Sie können’s mir glauben oder nicht, Sergeant, er muß über diesen Zaun dort hinten gesprungen sein. Dabei hätte ich ge schworen, daß er hierher gerannt ist.« »So ein alter Knabe, Harrison?« »Ziemlich munter für einen alten Knaben. Hat mich richtig ab gehängt.« »Kann man wohl sagen, Harrison. Der Bursche ist wahr scheinlich aus einer Heilanstalt durchgebrannt. Wird gut sein, wenn wir ihn finden, Männer, ehe er die ganze Umgebung terro risiert.« Die Füße tappten davon. Ich entschied, daß mein Entkommen durch die Aufmerksam keit, die ich bei den – wie es schien – höheren Beamten der Stadt erweckt hatte, mehr als aufgewogen wurde. Ich versuchte
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verzweifelt, aber vergebens, mich an meine terranische Ge schichte zu erinnern. Welche Funktion hatte ein Sergeant? Es hatte keinen Sinn. Schließlich waren sechzig Jahre vergangen, seit ich das in der Schule gelernt hatte… Obwohl mein augenblicklicher Aufenthaltsort eine Beleidigung für meinen Geruchssinn war, konnte ich den Behälter nicht ver lassen. Ich würde eine Weile warten müssen, bis meine Verfolger die Jagd aufgegeben hatten. Außerdem empfahl es sich, einen Plan zu haben. Generell gesprochen wußte ich, was zu tun war. Ich mußte ir gendwie einen Botschafter der Zeitgesandtschaft entdecken und ihn bitten, mir die Rückkehr in meine eigene Periode zu ermögli chen. Aber ehe ich daran gehen konnte, ihn zu suchen, würde ich mich mit gewissen Standardbedürfnissen ausrüsten müssen, wie zum Beispiel Kleidern. Wie stellte man es in dieser Periode an, Kleider zu bekommen? Tausch? Raub? Arbeitscoupons der Regierung? Oder webte man sie auf seinem eigenen Webstuhl? Banderling und seine idioti sche Idee, daß mein Spezialfach in einer solchen Welt nützlich sein könnte! Dieser Tolpatsch! Der Deckel des Behälters hob sich plötzlich. Ein sehr großer, junger Mann mit einem etwas ausdruckslosen, aber nicht un freundlichen Gesicht starrte mich an. Er klopfte an das Metall des Deckels. »Darf ich hereinkommen?« fragte er höflich. Ich funkelte ihn an, sagte aber nichts. »Die Bullen sind weg, Paps«, fuhr er fort. »Aber ich würde an Ihrer Stelle noch nicht rauskommen, nicht in Ihrer Uniform. Ich steh’ Schmiere, wenn Sie mir erzählen, was mit Ih nen los ist.« »W-w-wer sind Sie? Und was wollen Sie?« »Joseph Burns, ein armer, aber ehrlicher Zeitungsreporter.« Er überlegte einen Augenblick. »Nun, arm jedenfalls. Ich möchte Ihre Story hören. Ich war in der Menge am Bürgersteig, als der Bulle anfing, Sie zu verfolgen. Ich bin hinterdrein gerannt. Sie
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haben nicht wie einer von den Verrückten ausgesehen, die gerne nackt herumlaufen. Als ich in die Seitenstraße kam, war ich zu müde, um weiter hinter dem Gesetz drein zu rennen. Also habe ich mich an der Wand ausgeruht und die Mülltonne gesehen. Und dann Sie.« Ich trat in der weichen stinkenden Masse von einem Fuß auf den anderen und wartete. »Nun, eine Menge Leute«, fuhr er fort und drehte den Ton nendeckel geistesabwesend in der Hand, wobei er die Straße hi nuntersah, »eine Menge Leute würde sagen ›Joe Burns, was ist schon, wenn er nicht verrückt ist? Vielleicht hat er Ausziehpoker gespielt und dabei verloren.‹ Nun manchmal haben die Leute recht. Aber habe ich Sie jetzt gesehen oder habe ich Sie nicht gesehen, wie Sie mitten auf der Straße aus der Luft auftauch ten? Das ist es, was mich so aufregt, Paps. Und wenn es stimmt, wie kam das denn?« »Was machen Sie mit dieser Information?« »Kommt drauf an, Paps, kommt drauf an. Wenn was dahin tersteckt, wenn es dieses gewisse…« »Wenn ich Ihnen jetzt zum Beispiel sagte, daß ich aus der Zu kunft komme.« »Und es beweisen könnten? In diesem Fall würde ich Ihren Namen und Ihr Bild auf die Titelseite des dreckigsten, billigsten Käseblättchens im ganzen Land setzen. Ich meine damit das hochgeschätzte Presseorgan, dem ich angehöre. Ehrlich Paps, kommen Sie aus der Zukunft?« Ich nickte schnell und überlegte. Gab es einen besseren Weg, die Aufmerksamkeit eines Zeitbotschafters auf mich zu ziehen, als ihn durch ein wichtiges öffentliches Informationsmedium wis sen zu lassen, daß ich seine Anwesenheit in dieser Zeitperiode verraten konnte? Das ich das Geheimnis der Zeit gesandtschaft in einer Präintermediärzivilisation aufdecken konnte? Man würde verzweifelt nach mir suchen und mich in meine eigene Zeit zu rückführen.
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In die Welt der Wissenschaft zurückführen, zu Dolik und Spind far, zu Pundforg und dem Thumtsedilemma, zu meinem ruhigen Labor und meiner faszinierenden Arbeit über die Gllianischen Ursprünge der Flirgmuster der späten Pegisepoche… »Ich kann es beweisen«, sagte ich schnell. »Aber ich sehe nicht ganz, welchen Nutzen das Ihnen bringen sollte. Meinen Namen und mein Foto zu verbreiten, wie sie es ausdrücken…« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Joseph Burns wird’s schon richtig machen. Aber zuerst müssen Sie aus dieser Mülltonne. Und wenn Sie…« »Kleider. Wie bekommt man in dieser Periode Kleider?« Er kratzte sich am Kinn. »Nun, Geld soll da helfen. Es ist zwar nicht unerläßlich, aber gehört zu den wichtigsten Faktoren bei dieser Angelegenheit. Sie haben nicht zufällig ein paar Scheine irgendwo stecken? Nein, es sei denn, Sie hätten irgendwo eine versteckte Bauchtasche. Aber schließlich sind Sie kein Känguruh. Ich könnte Ihnen das Geld leihen.« »Nun, dann…« »Aber andererseits… Wieviel Kleidung kann man in diesen teu ren Zeiten für einen Dollar dreiundzwanzig kaufen? Ehrlich ge sagt, Paps, nicht viel. Ich bekomme erst übermorgen mein Ge halt. Außerdem, wenn Fergusson meine Story nicht mag, dann kann ich es nicht einmal auf Spesen schreiben. Und wenn ich Ihnen einen von meinen Anzügen bringe, hätte das wenig Sinn.« »Warum?« Die vielen Worte von oben und der Müll von unten wirkten sehr deprimierend auf mich. »Zuerst einmal, weil Sie inzwischen die Müllabfuhr ab transportieren und in Düngemittel verarbeiten könnte. Außerdem sind Sie etwas dicker als ich und ein gutes Stück kleiner. Schließlich wollten Sie doch keine Aufmerksamkeit erwecken, wenn Sie in diese bullenverseuchte Straße hinaus treten. Und in meinem Anzug, das können Sie mir glauben, Paps, würden Sie das. Wirklich eine schwierige Situation, Paps, sehr schwierig . Wir sind da etwas in der Zwickmühle.«
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»Ich begreife das nicht«, begann ich ungeduldig. »Wenn ein Reisender aus der Zukunft in meiner Periode auftauchte, könnte ich ihm spielend leicht helfen, die nötige soziale Anpassung durchzuführen. Kleinigkeiten wie Kleider…« »Kleinigkeiten sagt der Mann. Daß ich nicht lache. He! Die ses hammerförmige Dingsda an Ihrem Halsband – das ist nicht zu fällig Silber?« Ich drehte mit einiger Mühe mein Kinn zur Seite und blickte herunter. Er deutete auf meinen Flirgelflipper. Ich nahm ihn und reichte ihn ihm. »Vielleicht war es Silber, ehe man es für Flirgelzwecke re nukleifiziert hat. Warum? Hat es besonderen Wert?« »Soviel Silber? Ich will den Pulitzer Preis gewinnen, wenn es den hat. Können Sie es entbehren? Wir können zumindest einen gebrauchten Anzug und einen alten Mantel dafür bekommen.« »Nun, ich kann jederzeit einen neuen Flirgelflipper anfordern. Und für die wichtigeren Arbeiten verwende ich sowieso den gro ßen im Institut. Nehmen Sie ihn ruhig.« Er nickte und stülpte mir den Mülltonnendeckel wieder über den Kopf. Ich hörte, wie seine Füße sich entfernten. Nach einer Weile, in der ich mich hauptsächlich damit beschäftigte, Bander ling zu verfluchen, hob sich der Mülltonnendeckel wieder und einige Kleidungsstücke aus grobem blauem Tuch fielen mir auf den Kopf. »Dieser Räuber in dem Gebrauchtwarenladen hat mir bloß zwei Dollar für Ihren Dingsbums gegeben«, sagte Burns, während ich mich anzog. »Also mußte ich einen Arbeitsanzug nehmen. He, machen Sie die Knöpfe zu, ehe Sie rauskommen. Nein, das da. Knöpfen. Oh – lassen Sie mich machen.« Nachdem das Kleidungsstück richtig befestigt war, kletterte ich aus dem Behälter und ließ mir von dem Reporter die Schuhe an ziehen. Schuhe – das waren die Lederbandagen, die ich beo bachtet hatte. Meine Finger juckten förmlich nach einer Feuer steinaxt, um den Anachronismus vollständig zu machen.
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Nein, wahrscheinlich keine Feuersteinaxt. Aber eine Waffe, ein Karabiner vielleicht oder eine Armbrust schienen angemessen. Tierfelle und Pflanzenfasern an meiner Haut. Puh! Burns blickte vorsichtig nach allen Seiten und führte mich dann am Arm zu einer schlecht gelüfteten unterirdischen Kammer. Dort bahnte er sich den Weg in ein ungewöhnlich langes, häßli ches, in einzelne Abteile gegliedertes Fahrzeug – ein U-BahnZug. »Ich sehe, daß hier, ebenso wie sonst in Ihrer Gesellschaft, nur die Stärksten überleben.« Er hielt sich an der Schulter eines Mannes fest und drehte sich zu mir herum. »Was?« »Jene, die nicht stark genug sind, um sich Zutritt zu ver schaffen, müssen bleiben, wo sie sind, oder sich noch primiti verer Transportmittel bedienen.« »Ehrlich Paps«, sagte er bewundernd. »Sie reden wie gedruckt. Vergessen Sie nicht, bei Fergusson so zu reden.« Nach einiger Zeit der Unbequemlichkeit verließen wir den Zug und arbeiteten uns zur Straße empor. Ich folgte dem Reporter in ein mit Ornamenten überladenes Gebäude und blieb vor einem würdig dreinblickenden alten Herrn stehen, der in einer kleinen Glaskammer saß, ganz in nachdenk liches Schweigen gehüllt. »Wie geht es Ihnen Mr. Fergusson«, begann ich sofort, denn ich war angenehm überrascht. »Ich bin sehr glücklich, in Mr. Burns Vorgesetzten die deutlich spürbare geistige Ver wandtschaft vorzufinden, die ich beinahe…« »Mund halten!« flüsterte Burns, während der alte Mann sich zurückzog. »Sie machen dem Burschen ja Angst. Vierter Stock, Carlo.« »Wirklich, Mr. Burns«, bemerkte Carlo und zog einen schwar zen Hebel zu sich heran, worauf der Kasten mit uns drei in die Höhe schoß. »Sie bringen komische Käuze her.«
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Das Zeitungsbüro war ein unmögliches Durcheinander von Menschen mit allen möglichen Neurosen, die zwischen Massen von Papier, Schreibtischen und primitiven Schreibmaschinen hin und herhetzten. Joseph Burns setzte mich auf eine hölzerne Bank und lief in einen Glasverschlag, wobei er einige rituelle Be wegungen mit seinem Arm machte und Worte wie »hello Tim«, »he Joe«, »wie geht’s Abe«, von sich gab. Nach einer längeren Zeit, in der mich die Atmosphäre aus Schweiß und Nervosität beinahe krank machte, kam er, gefolgt von einem kleinen hemdsärmeligen Mann heraus, der am linken Auge ein nervöses Zucken hatte. »Ist er das?« fragte der kleine Mann. »Hm -m, es klingt ganz gut, muß wirklich zugeben, daß es gut klingt. Hm-m. Er weiß, daß er sich an seinen Tick mit der Zukunft halten muß, so sehr die sich auch bemühen, ihn umzuwerfen. Und wenn er umfällt, darf keiner wissen, daß wir mit von der Partie sind. Das weiß er, hm? Sieht gut aus. Gerade alt genug, der typisch verrückte Pro fessor. Sieht gut aus, Burns. Mhm, mhm, mhm.« »Warten Sie, bis Sie ihn gehört haben«, unterbrach ihn der Re porter. »Dann bringt er Farbe rein, Fergusson.« »Die prismatischen Verhältnisse sind mir nicht vertraut«, er klärte ich kühl. »Aber ich muß meiner großen Enttäuschung Aus druck verleihen, daß die ersten repräsentativen Individuen der präintermediären Zivilisation, die einen zusammenhängenden Bericht über meinen Ursprung hören, darauf bestehen, sich lal lend wie die Idioten…« Das Auge des Alten hörte plötzlich zu zucken auf. »Sparen Se sich den Vortrag. Heben Se ihn sich für Burns auf: der schreibt dann mit. Hör zu, Joey Boy. Der Mann ist gut. Mhm. Zwei Tage, ehe die Baseballsaison angeht. Und in der ganzen Stadt nichts Neues. Wir können die ganze Titelseite dann voll kriegen. Ich übernehme das Melken – die Kommentare von den Universitäten und den wissenschaftlichen Gesellschaften. Und sie schleppen jetzt den Mr. Dingsbums…« »Turton«, erklärte ich verzweifelt. »Mein Name ist natürlich…«
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»Turton. Mhm. Sie schaffen jetzt Turton in ein gutes Hotel, mieten eine anständige Suite und lassen sich was von ihm er zählen. Halten Sie ihn isoliert bis morgen früh, bis sich das Ge rücht etwas verbreitet hat. Morgen früh, mhm. Dann bringen Sie ihn wieder rüber, und ich halte ein paar Psychologen bereit, die beschwören, daß er verrückt ist und eine weitere Gruppe, die mit Tränen in den Augen verkünden, daß er ganz normal ist. Lassen Sie noch ein paar Bilder von ihm machen, ehe Sie weggehen.« »Klar, Fergusson. Das Dumme ist bloß, der Bulle erkennt ihn vielleicht als den Burschen, der splitternackt auf der Straße auf getaucht ist. Er behauptet, in seiner Periode trägt keiner Kleider. Die Bullen schnappen ihn uns sofort weg und stecken ihn ins Bel levue.« »Lassen Sie mich nachdenken.« Fergusson lief im Kreise herum und kratzte sich dabei an der Nase. »Dann tragen wir dicker auf. Mhm. Finden Sie raus, was er für einen Job hat – ich meine hat te. Ich meine haben wird. Mhm. Und ich hol ein paar Spezialisten aus demselben Fach zusammen, die dann darauf bestehen, daß er so wie einer von ihnen klingt, in tausend Jahren klingen wür de, meine ich.« »Augenblick mal«, unterbrach ich ihn. »Tausend Jahre ist fan tas…« Fergussons Auge zuckte. »Schaffen Sie ihn hier weg, Joey Boy«, sagte er. »Er ist Ihre Sache. Ich hab’ andere Arbeit.« Erst als wir in dem Hotelzimmer waren, konnte ich dem Repor ter gegenüber zum Ausdruck bringen, wie mich der Irrsinn seiner Kultur anwiderte. Und sein Verhalten vor Fergusson. Er hatte ja so getan, als teilte er Fergussons Meinung! »Nur ruhig, Paps«, sagte der junge Mann, nachdem er sich auf eine scheußlich gemusterte Couch geflegelt hatte. »Wir wollen uns Bitterkeit und Vorwürfe ersparen. Wir wollen unsere zwei üppigen Tage harmonisch verleben. Klar glaube ich Ihnen. Aber es gibt da gewisse Spielregeln. Wenn Fergusson je auf den Ver dacht kommt, daß ich irgend jemandem etwas glaubte – ganz abgesehen von einem Burschen, der im Adamskostüm über die
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Madison Avenue marschiert, müßte ich mir nicht nur bei einer anderen Firma einen Job suchen, sondern wahrscheinlich sogar in einem anderen Beruf. Außerdem in teressiert es Sie doch bloß, die Aufmerksamkeit eines dieser Zeitbotschafter zu erwecken. Und um das zu tun, müssen Sie ihm Ihrer Meinung nach mit Ver rat drohen. Glauben Sie mir, Paps. Wir werden so viel Aufmerk samkeit erregen, daß es selbst den Eskimos in Grönland noch in den Ohren klingt.« Ich überlegte eine Weile und nickte dann. Nachdem dieser Tol patsch Banderling mich wie einen Fehdehandschuh hingeworfen hatte, mußte ich mich wohl oder übel an die Gewohnheiten die ser lächerlichen Ära anpassen. Als Burns damit fertig war, mich auszufragen, war ich erschöpft und hungrig. Er ließ Essen heraufkommen, und obwohl es mich vor dem schlecht gekochten Mahl in unhygie nisch glasiertem Porzellan ekelte, fing ich sofort zu essen an. Zu meiner Überra schung waren die Geschmacksempfindungen ganz angenehm. »Sie kriechen am besten gleich ins Bett, wenn Sie genügend Kalorien in sich hineingeschaufelt haben«, riet Burns von dem Tisch aus, an dem er Maschine schrieb. »Sie sehen wie ein Hun dertmeterläufer aus, der gerade versucht hat, ein Marathon mit zumachen. Durchgedreht, Paps. Durchgedreht. Ich bring’ das Manuskript ins Büro nachher, wenn ich fertig bin. Sie brauche ich heute abend nicht mehr.« »Die Fakten sind also ausreichend und befriedigend?« gähnte ich. »Nicht gerade ausreichend, aber befriedigend. Genug, um Fer gusson ein paar zufriedene Grunzer zu entlocken. Ich wünschte nur – oh zum Beispiel die Datumsgeschichte. Das würde uns wirklich helfen.« »Nun«, meinte ich schläfrig, »ich kann ja nochmal über 1993 nachdenken.« »Nein, das haben wir ja zur Genüge probiert. Lassen Sie nur, Paps, und schlafen Sie ein wenig.«
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Das Zeitungsbüro hatte sich sehr verändert, als Burns und ich wieder durchgingen. Eine ganze Abteilung des riesigen Raumes war mit Seilen abgetrennt worden. In regelmäßigen Abständen hingen Tafeln mit der Aufschrift NUR FÜR WIS SENSCHAFTLER. Dazwischen gab es andere Tafeln, die den BESUCHER AUS DEM JAHRE 2949 willkommen hießen und verkündeten, NEW YORK GRÜSST DIE FERNE ZUKUNFT, sowie einige obskure Bemerkun gen, die sich mit Freiheit, Gerechtigkeit, dem Zeitenstrom und ähnlichen unbegreiflichen Dingen befaßten. Verschiedene ältere Herren bewegten sich in dem mit Seilen abgetrennten Quadrat, in das man mich halb hineinschubste. Blitzlichter – Joey hatte mir das erklärt – blendeten mich, und unzählige Fotografen, teils auf dem Boden liegend, teils an den Wänden lehnend, schienen nichts anderes zu tun zu haben als ihre eigenartigen Apparate auf mich zu richten. »Jetzt brodelt’s richtig, Joey Boy«, erklärte Fergusson, der sich zu uns durchgearbeitet hatte und dem Reporter ein paar druck frische Blätter in die Hand gedrückt hatte. »Einige sagen, er sei verrückt, mhm, und andere behaupten, er sei die Reinkarnation des Propheten Nehemaiah. Aber die ganze Stadt kauft unsere Zeitung. Zwei Tage vor der Baseballsaison, und unsere Auflage ist ausverkauft. Den anderen Blättern hängt die Zunge raus – aber die können mir den Buckel runterrutschen. Natürlich war es schwierig, ein paar Archäologen zu finden, die beschwören, daß Turton zu ihrem Verein gehört, aber Fergusson läßt sich nicht so leicht abwimmeln – wir haben unsere Leute.« Fergussons linkes Auge hörte plötzlich auf zu zucken und vibrierte statt dessen förmlich. »Hören Sie«, knurrte er heiser, als er mich in einen Sessel schob, »jetzt werden Sie uns bloß nicht zur Primadonna. Keine Dummheiten, kapiert? Mhm. So ist’s gut. Sie halten sich heute und morgen hübsch an Ihre Geschichte und holen sich ei nen hübschen Batzen vom Kies unseres Verlegers. Wenn Sie Ih re Sache gut machen, dauert’s vielleicht noch zwei Tage lä nger, auch wenn dann die Baseballsaison schon begonnen hat. Halten Sie sich an Ihre Geschichte - Sie sind aus der Zukunft gekom men, und mehr wissen Sie nicht. Mhm, und lassen Sie mir bloß die Tatsachen in Ruhe!«
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Er klatschte in die Hände, um die versammelten Wissen schaftler auf uns aufmerksam zu machen, und Joseph Burns nahm neben mir Platz. »Tut mir leid, daß er das mit den Archäologen gemacht hat, Paps. Aber vergessen Sie nicht, meine Berichte werden hier noch redigiert. Was Sie mir erzählt haben, sieht gedruckt einfach nicht gut aus. Marsianischer Archäologe reicht schon für die Mengen. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir eine genaue Beschreibung Ih res Berufs sparen. Das schafft bloß dicke Luft.« »Aber Marsianischer Archäologe ist völlig ungenau!« »Aber Paps, Sie vergessen wieder einmal, daß Ihr erstes Ziel darin besteht, Aufmerksamkeit zu erwecken, genug Auf merksamkeit, daß man Sie für ein gefährliches Großmaul hält und in Ihre eigene Zeit zurückschickt. Schauen Sie sich doch um. Reicht Ihnen die Aufmerksamkeit? So wird es gemacht: große Köpfe und laute Schlagzeilen.« Ich dachte immer noch über eine Antwort nach, als ich be merkte, daß Fergussons einführende Worte vorüber waren. Ein i ge der Gelehrten verzogen etwas den Mund. »Mhm. Und da ist er! Turton, der Mann aus der unendlich fer nen Zukunft. Er wird jetzt selbst mit Ihnen sprechen. Wir verlan gen lediglich, daß die Fragen kurz und zahlenmäßig beschränkt sind; nur für den ersten Tag, meine Herren. Schließlich ist unser Gast nach seiner langen mühsamen Reise durch die Zeit müde und noch etwas aufgeregt!« Die würdigen Fragen kamen aus allen Winkeln, während ich mich erhob. »Aus welchem Jahr behaupten Sie zu kommen, Mr. Turton? Oder stimmt die Zahl 2949?« »Sie stimmt nicht«, beruhigte ich den Fragesteller. »Das ge naue Datum, wie es sich aus einer Übertragung vom Octedka lender ergibt, den wir benutzen – ja, wie rechnet man aus dem Octedkalender um?« »Könnten Sie die Konstruktion eines Raketenmotors Ihrer Peri ode erklären?« fragte jemand anderer, als ich mich mit den
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komplizierten Fragen einer Kalenderumrechnung beschäftigte. »Sie sprechen von interplanetaren Reisen.« »Interstellaren Reisen«, verbesserte ich. »Nur daß wir keine Raketen verwenden. Eine komplizierte An triebsmethode wird da benutzt. Man nennt sie die Raum-DruckAusbreitung.« »Und was genau ist Raum-Druck-Ausbreitung?« Ich hustete verlegen. »Ich muß gestehen, daß mich das nie sonderlich interessiert hat. Soweit mir bekannt ist, basiert sie auf der Kuchholtzschen-Theorie vom verlorenen Vektor.« »Und was…« »Die Kuchholtz-Theorie des verlorenen Vektors«, erklärte ich sehr entschieden, »ist das einzige, was mich noch weniger inter essiert hat als die Raum-Druck-Verteilung.« Und so ging es weiter. Von einer Trivialität zur nächsten. Diese primitiven, wenn auch gutwilligen Gelehrten, die zu Beginn des Zeitalters der Spezialisierung lebten, konnten sich überhaupt nicht vorstellen, wie oberflächlich meine Erziehung außerhalb der von mir gewählten Disziplinen gewesen war. Schon in ihrer Zeit des mikroskopisch geringen Wissens und der rudimentären wis senschaftlichen Geräte war es für einen einzelnen schwierig, auch nur eine Andeutung vom Wissensstand seiner Zeit zu er werben. In wieviel stärkerem Maße das in meiner Zeit galt, ver suchte ich ihnen zu erklären. Schließlich gab es für jeden Plane ten eine eigene Biologie und Soziologie – um nur ein Beispiel zu erwähnen. Und dann waren schon so viele Jahre verstrichen, seit ich mich mit den Elementarwissenschaften befaßt hatte! Ich hat te so viel vergessen. Die Regierung – wie sie das nannten – war fast unmöglich zu beschreiben. Wie kann man Wilden aus dem zwanzig sten Jahr hundert die neuen Ebenen sozialer Verantwortung schildern, mit denen jedes Kind gründlich experimentiert hat, ehe es sein zehn tes Lebensjahr vollendete? Wie kann man den »juristischen« Status eines so grundlegenden Geräts wie eines Justimeter er
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klären? Vielleicht wäre jemand aus meiner Zeit, der sich intensiv mit der Stammeskunde und dem Aberglauben dieser Epoche be faßt hatte, in der Lage, ihnen mittels grober Parallelen eine Ah nung von solchen Dingen wie kommunaler Individualität oder Partnerwahl nach Neuronenmustern zu geben – aber nicht ich. Ich? Je mehr meine Zuhörer lachten, desto wütender wurde ich auf Banderling. »Ich bin Spezialist«, schrie ich sie an. »Ich brauche einen Spe zialisten aus meinem Fach, damit er mich verstehen kann.« »Sie brauchen allerdings einen Spezialisten«, erklärte ein braungekleideter Mann in mittleren Jahren, und erhob sich in der hintersten Reihe. »Aber keinen Spezialisten aus Ihrem Fach. Eher einen wie mich. Einen Psychiater.« Gelächter. Fergusson erhob sich nervös, und Joseph Burns trat schnell an meine Seite. »Ist das der Mann?« fragte der Psychia ter einen blaugekleideten Mann, der gerade eingetreten war. Ich erkannte meinen Verfolger vom Vortag. Er nickte. »Das ist er. Nackt herumgerannt. Schämen sollte er sich.« »Augenblick noch«, rief einer der Wissenschaftler, während Fergusson sich räusperte. »Wir haben schon so viel Zeit ver geudet. Jetzt sollten wir wenigstens noch herausfinden, was er als seine Spezialität bezeichnet. Irgendeine Art von Archäologie. Marsianische Archäologie natürlich.« Endlich. Ich atmete tief. »Nicht marsianische Archäologie«, be gann ich. »Nicht Archäologie.« Das war auch Banderlings großer Irrtum gewesen! Hinter mir stöhnte Burns und sank in seinen Stuhl zurück. »Ich bin Flirgelflipper. Ein Flirgelflipper ist jemand, der Flirgs mit einem Flirgelflipper flippt.« Einige holten tief Luft. Ich schilderte ihnen meinen Beruf ausführlich. Wie man die er sten Doliks und Spindfars, die man im Sand des Mars entdeckt hatte, einfach für geologische Anachronismen gehalten hatte, wie man den ersten Punforg als Briefbeschwerer benutzt hatte. Und dann Cordez und der geradezu begnadete Zufall, der ihn das Prinzip des Flirgelflippers hatte entdecken lassen; dann Gurkhayser, der seine Theorie vervollständig te und den man mit
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gutem Gewissen den Vater unseres Berufes nennen darf. Die ungeahnten Perspektiven, die sich uns eröffneten, als man die Flirgmuster erkannte und systematisierte. Die ungeheure Schön heit, die eine Rasse schuf, die sich selbst die heute lebenden Marsianer kaum vorstellen können, und die Teil der menschli chen Kultur wurde. Ich legte ihnen die allgemein anerkannte Theorie über das We sen der Flirgler dar: daß es sich um eine Energieform handelte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf dem roten Planeten In telligenz erwarb und uns nur die Flirgmuster hinterließ, die in gewisser Weise unserer Musik oder unserer subjektiven Kunst vergleichbar sind. Als Energielebewesen hinterließen sie in ihren einzigen materiellen Artefakten – den Doliks, den Spindfars und den Punforgs – Energieaufzeichnungen aller Art. Ich schilderte voll Stolz, wie ich schon in jungen Jahren beschlossen hatte, mich ganz auf die Flirgmuster zu konzentrieren; wie ich dafür verantwortlich war, daß moderne marsianische Ortsnamen be nutzt wurden, um die Fundstellen der Artefakte zu identifiz ieren. Und dann erwähnte ich in aller Bescheidenheit, wie ich in einem Dolik ein tatsächlich kontrapunktisches Flirgmuster entdeckt hat te – was mir eine Forscherposition am Institut eingetragen hatte. Ich kam auf meine in Vorbereitung befindliche Arbeit über Gllia nische Ursprünge der Flirgmuster der späten Pegisepoche und verstrickte mich so in alle Einzelheiten des Thumtsedilemma, daß ich beinahe glaubte, wieder im Institut zu sein und einen Vortrag zu halten – statt um meine eigene Identität zu kämpfen. »Wissen Sie«, hörte ich eine Stimme in meiner Nähe beinahe bewundernd sagen, »es klingt beinahe logisch. Wie einer dieser Schlager, in denen man kein Wort versteht oder der erste Vers im Jabberwocky. Es klingt beinahe, als gäbe es das alles.« »Augenblick«, sagte ich plötzlich. »Das Gefühl, das man bei ei nem Flirgmuster empfindet, läßt sich unmöglich mit Worten be schreiben. Sie müssen es selbst fühlen.« Ich riß das grobe Tuch meines Oberkleides auf und zog das Halsband heraus. »Hier, untersuchen Sie das sogenannte Dolik des Thumtsedilemmas selbst mit meinem Flirgelflipper. Beachten Sie…«
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Ich hielt inne. Ich trug den Flirgelflipper nicht! Das hatte ich vergessen. Joseph Burns sprang auf. »Mr. Turtons Flirgelflipper wurde ge gen die Kleider, die er jetzt trägt, eingetauscht. Ich werde ihn zurückkaufen.« Meine Dankbarkeit gehörte ganz ihm, als er sich den Weg durch die verwirrten Gelehrten bahnte. »Hören Sie, Mann«, flüsterte Fergusson mir zu. »Sie lassen sich am besten schnell etwas einfallen. Burns ist kein Genie. Kann durchaus sein, daß ihm nichts einfällt. Da ist ein Psychiater hier – Psychiater habe ich gesagt –, der steckt Sie in eine Gum mizelle, ehe Sie sich umsehen, wenn Sie sich jetzt nichts neues einfallen lassen.« Einer der jüngeren Wissenschaftler verlangte mein Hals band. Ich gab es ihm. Das Dolik hing immer noch daran. Er musterte beide Gegenstände und kratzte dann mit dem Fingernagel daran. Schließlich gab er mir das Halsband zurück. »Dieses Halsband… Sie haben doch gesagt, Sie können damit überallhin teleportieren. Stimmt das?« »Durch ein Benskop«, erklärte ich. »Man braucht Bensko pempfänger und -sender.« »Natürlich. Und dieses kleine Dingsda ist ein – wie haben Sie es genannt? – äh – ein Dolik. Meine Herren, ich bin, wie Sie wis sen, Industriechemiker. Ich bin überzeugt, daß dieses Halsband nichts anderes als fein gesponnenes Glas ist. Eine chemische Analyse würde das bestimmt bestätigen.« »Sie Narr, man hat es renukleifiziert, damit man es mit einem Benskop benützen kann! Was für einen Unterschied macht es denn, um was für Material es sich handelt, wenn man es einmal renukleifiziert hat?« »Das Dolik dagegen«, fuhr der junge Mann freundlich fort, »das marsianische Dolik ist wirklich ein Schatz. Etwas ganz Ein maliges. Oh ja. Alter roter Sandstein wie der durchschnittliche Geologe ihn innerhalb fünfzehn Minuten fast überall auf der Erde
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finden kann. Alter roter Sandstein!« Es dauerte eine Weile, bis ich mir wieder Gehör verschaffen konnte. Unglücklicherweise verlor ich die Nerven. Die Vor stellung, daß jemand das Thumtsedilemma als alten roten Sand stein bezeichnen konnte, machte mich wütend. Ich schrie sie an, beschimpfte sie wegen ihrer Engstirnigkeit, ihrer Unwissenheit. Fergusson brachte mich schließlich zum Schweigen. »Man wird Sie ganz bestimmt einlochen«, flüsterte er. »Sie haben ja Schaum vor den Lippen. Und bilden Sie sich bloß nicht ein, daß es unserem Blatt nützt, wenn man Sie in einer Zwangsjacke hier wegschafft.« Ich atmete tief. »Meine Herren«, sagte ich, »wenn einer von Ihnen sich plötz lich in einem früheren Jahrhundert finden würde, dürfte es ihm ziemlich schwerfallen, sein spezielles Wissen in Verbindung mit den primitiven Geräten einzusetzen, die er dort vorfinden würde. Um wieviel mehr muß ich…« »Da gebe ich Ihnen recht«, räumte ein Mann mit einem breit flächigen Gesicht ein. »Aber eines gibt es, womit sich ein Rei sender aus der Zukunft immer identifizieren kann.« »Und das wäre?« Einige drehten sich zu ihm herum. »Daten. Historische Ereignisse. Dinge, die in diesem Monat oder in diesem Jahr geschehen werden. Wichtige Ereignisse. Sie behaupten, daß diese Zeitepoche in Ihrer Vergangenheit liegt. Sagen Sie es uns. Was wird geschehen?« »Unglücklicherweise…« Ich machte eine niedergeschlagene Handbewegung und wieder erhob sich Gelächter, »… ist meine terranische Geschichte sehr lückenhaft. Ein kurzer Kurs in mei ner Jugend. Ich bin auf dem Mars erzogen worden und selbst an die marsianische Geschichte erinnere ich mich nur undeutlich. Ich konnte mir nie historische Daten merken. Wie ich Joseph Burns schon gestern abend sagte, erinnere ich mich in dieser Periode nur an drei.« »Ja?« Jetzt war ihr Interesse echt. »Zunächst 1993.«
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»Was geschieht denn in 1993?« »Das weiß ich leider nicht. Es scheint aber sehr bedeutsam zu sein. Vielleicht eine Epidemie, eine Erfindung oder die Er schaffung eines Meisterwerks. Vielleicht handelt es sich aber auch um ein Datum, das mir gegenüber nur beiläufig erwähnt wurde und das ich mir gemerkt habe. Jedenfalls nicht sehr nütz lich. Dann August 1945. Die Atombombe. Mr. Burns sagt, das sei nicht besonders nützlich, da dieses Ereignis schon einige Jahre zurückliegt. Bitte vergessen Sie nicht, daß Ihr Kalender mir gro ße Schwierigkeiten macht.« »Und was ist das dritte Datum?« rief eine Stimme. »1588«, sagte ich niedergeschlagen. »Die spanische Armada.« Stühle scharrten. Die Wissenschaftler erhoben sich und schick ten sich an zu gehen. »Halten Sie sie fest«, schrie Fergusson mich an. »Sagen Sie etwas, tun Sie etwas.« Ich zuckte die Achseln. »Einen Augenblick.« Das war wieder der junge Chemiker. »Ich glaube, wir können diesen Schwindel jetzt ein- für alle mal auf decken. Ich habe in Mr. Burns kleinem Artikel gelesen, daß Sie als Kind im Sand des Mars gespielt haben wollen. Was trugen Sie damals denn?« »Nichts.« Ich wußte nicht, worauf er hinauswollte. »Warme Kleidung, sonst nichts.« »Nicht irgendeinen Helm?« »Nein. Ganz und gar nicht.« Er grinste. »Bloß warme Kleidung. Und doch wissen wir, daß die Temperatur am Äquator selten über den Gefrierpunkt an steigt. Wir wissen auch, daß es – praktisch betrachtet – auf dem Mars keinen Sauerstoff gibt. Das haben uns spektroskopische Untersuchungen seit Jahren bewiesen. Warme Kleidung, kein Sauerstoffhelm. Ha!« Ich blickte ihnen nach, als sie den Saal verließen. Das begriff
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ich wirklich nicht, und wenn ihre Geräte wirklich nur winzige Sauerstoffmengen und eine Temperatur unter dem Gefrierpunkt auf dem Mars anzeigten? Ich hatte als Junge in der marsiani schen Wüste gespielt. Ich war dort gewesen und erinnerte mich ganz deutlich daran, daß ich keinen Sauerstoffhelm, getragen hatte. Diese Wilden und ihre Instrumente! »Am besten hauen Sie jetzt schleunigst ab«, riet mir Fergus son, dessen linkes Auge wieder zu zucken begonnen hatte. »Der Bulle und der Psychiater sind noch draußen im Gang. Für Sie sieht’s übel aus, und dem Blatt nützt es überhaupt nichts, wenn die Sie einlochen. Nehmen Sie den Materialaufzug.« Ich fuhr zur Straße hinunter und überlegte, wie die Zeitbot schafter jetzt mit mir Verbindung aufnehmen würden. Offenbar hatte ich zu wenig Aufmerksamkeit erweckt. Oder war es genug gewesen? Vielleicht war einer der Wissenschaftler ein Zeitbot schafter, der mich beobachtete und sich jetzt darauf vorbereite te, mich in meine eigene Zeit zurückzuschicken, ehe ich in dieser Periode weitere Unruhe auslösen konnte. »Hi, Paps. Ich hab’ das Büro angerufen. Ziemlich üble Sache.« »Bums!« Ich wandte mich erleichtert zu dem jungen Mann um, der an der Gebäudewand lehnte. Der einzige Freund, den ich mir in dieser verrückten barbarischen Epoche erworben hatte. »Sie haben den Flirgelflipper nicht bekommen. Die haben ihn ver tauscht oder verkauft oder verloren.« »Stimmt, Paps. Ich hab den Flirgelflipper nicht bekommen.« Er griff sachte nach meinem Arm. »Gehen wir.« »Wohin?« »Wir müssen einen Job für Sie finden. Einen Beruf, in dem Sie Ihre zukünftigen Talente einsetzen können.« »Und das wäre?« »Das ist das Problem, das unangenehme, schwierige Problem. In dieser Periode kann man nicht viele Flirgel flippen. Das ist das einzige, was Sie können, und Sie sind zu alt, um einen anderen Beruf zu lernen. Und dennoch müssen Sie essen.«
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»Offenbar haben Sie sich mit dem Zeitbotschafter geirrt.« »Nein, das habe ich nicht. Sie haben Aufmerksamkeit erweckt. Man hat Verbindung mit Ihnen aufgenommen.« »Wer denn?« »Ich.« Ich wäre in meinem Erstaunen unmittelbar vor einem Wagen stehengeblieben, wenn Burns mich nicht weitergezogen hätte. »Sie meinen, Sie sind Zeitbotschafter? Sie schaffen mich zu rück?« »Ja, ich bin Zeitbotschafter. Nein, ich schaffe Sie nicht zurück.« Völlig konfus schüttelte ich den Kopf. »Ich…« »Sie gehen nicht zurück, Paps. Erstens weil auf diese Weise Banderling beschuldigt werden kann, die Rechte eines Indivi duums zerstört zu haben, nämlich die Ihren. Auf die Weise kann das Institut entscheiden, daß der Strahlungsdämpfer noch jahre lang untersucht und weiterentwickelt werden muß, ehe er frei gegeben werden kann. Schließlich und endlich wird die Zeitreise entdeckt werden – und zwar in der richtigen Periode – als Er gebnis gewisser Notizen und Hinweise auf Banderlings Strah lungsdämpfer. Zum zweiten gehen Sie deshalb nicht in Ihre Zeit zurück, weil Sie jetzt unmöglich noch einmal etwas über Zeitbot schafter sagen können, ohne daß man Sie in eine Gummizelle steckt.« »Sie meinen, das war alles Absicht? Daß Sie mir den Flirgelflip per abgejagt haben und mich davon überzeugten, die Presse zu informieren, bloß um mich in eine Lage zu manövrieren, in der mir niemand in dieser Zeit wieder etwas glauben wird…« Wir bogen in eine kleine Seitengasse mit Straßencafés. »Ich meine, daß sogar noch mehr absichtlich und gewollt war. Ban derling mußte ein Mensch seiner Art sein…« »Ein Tolpatsch?« warf ich verbittert ein. »… so daß der Strahlungsdämpfer eine genügende Zahl von Jahren als Ergebnis der ›Turtontragödie‹ beiseite gelegt wurde.
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Es war notwendig, daß Sie genau Ihren Beruf hatten und für das Leben in dieser Periode völlig ungeeignet waren. Nur so konnte sichergestellt werden, daß Sie hier kein Unheil anrichteten. Fer ner war es nötig…« »Ich dachte, Sie seien mein Freund. Ich konnte Sie leiden.« »Ferner war es nötig, daß ich genau so war, wie ich bin, damit ich Ihr Vertrauen gewinnen konnte, sobald Sie – äh – eintrafen und das Projekt richtig in Gang kam. Und weil ich ein Mensch dieser Art bin, wird mir das, was ich Ihnen angetan habe, sehr unangenehm sein. Auch das ist wahrscheinlich für einen anderen Teil der Pläne der Zeitgesandtschaft nötig. Alles das zusammen, Turton – eines fügt sich ins andere – vermutlich sogar die Zeit gesandtschaft am Ende aller Zeiten. Für mich war das Ganze eben ein Job, den ich erledigen mußte.« »Und Banderling? Was wird aus ihm, wenn ich nicht mehr zu rückkehre?« »Er darf natürlich keine physikalischen Forschungen mehr be treiben. Aber da er jung ist, wird er bestimmt einen anderen Beruf finden. Und so wie die Sitten Ihrer Zeitepoche sind, wird er wahrscheinlich Flirgelflipper werden - also Ihren Platz in der Ge sellschaft einnehmen. Zuerst wird er einen Anpassungskurs mitmachen müssen. Und das erinnert mich an eines – ich habe mich so darauf ko nzentriert, Ihnen einen Job zu suchen, für den Sie geeignet sind, daß ich etwas ganz Wichtiges vergessen ha be.« Ich dachte über die Ironie nach, die darin lag, daß Banderlings Auflehnung zu den Plänen der Zeitgesandtschaft gehörte. Und ich sollte den Rest meiner Tage in dieser verrückten Epoche ver bringen. Plötzlich merkte ich, daß Burns das Dolik von meinem Halsband gelöst hatte. »Eines dieser Versehen«, erklärte er und steckte ihn in die Ta sche. »Nach den ursprünglichen Plänen hätten Sie es nicht mit nehmen dürfen. Jetzt muß ich dafür sorgen, daß es zu rückbefördert wird, sobald Sie Ihren Job haben, dieses Dolik ist nämlich das Thumtsedilemma, wissen Sie. Und dem Plan nach
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muß dieses Problem von einem Ihrer Kollegen im Institut gelöst werden.« »Wer löst es denn?« fragte ich interessiert. »Masterson, Foule, Greenblatt?« »Keiner von denen.« Er grinste. »Das Thumtsedilemma wird dem Plan nach am Ende von Thomas Alva Banderling gelöst.« »Banderling«, schrie ich, als wir vor einem schmutzigen Re staurant stehenblieben, in dessen Fenster ein Schild mit der Auf schrift TELLERWÄSCHER GESUCHT hing. »Banderling? Dieser Tolpatsch?«
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Alle Welt liebt Irving Bommer
Irving Bommer war sehnsüchtig einem Mädchen im grünen Rock gefolgt, als ihm das absolut Fantastische widerfuhr. Ein Kompliment. Die Zigeunerin, die gravitätisch auf der Steintreppe vor ih rem schmuddeligen kleinen Laden saß, beugte sich vor und rief: »He, Miistärr!« Und dann, als er stehenblieb und sie und das Schau fenster voll Traumbücher und Schriften über Numerologie ansah, räusperte sie sich. Es klang, wie wenn man Hafergrütze rührt. »He, Miistärr! Sie da, der Hübsche da!« Irving erstarrte mitten im Schritt und blickte dem Mädchen nach, wie es seinen grünen Rock um die Ecke schwenkte und damit aus seinem Leben entschwand. Für einen Augenblick war er wie gelähmt. Er konnte den Ort dieses genußvollen Kompliments nicht verlassen, selbst – selbst wenn Humphries selbst, der Haushaltswareneinkäufer von Greg worth plötzlich hinter einer unsichtbaren Ladentheke aufgetaucht wäre und mit den Fingern geschnippt hätte. Aber das war es eben. Manche Leute hielten es für komisch. Manche Leute, insbesondere Frauen… Seine blassen Wangen rö teten sich langsam, als er seinen etwas trägen Verstand abmüh te, um eine gleichzeitig schlagfertige und niederschmetternde Antwort zu geben. »Äh – äh – äh!« begann er, sozusagen aus dem Stegreif. »Kommän Sie här, hübscher Miistärr«, befahl sie ohne eine Spur von Spott in der Stimme. »Hier driinnän bekommän Sie, was Sie sich so dringend wiinschän.« Was er sich dringend wünschte? Woher wußte sie das? Selbst er, Irving Bommer, hatte nur eine ganze undeutliche Vorstellung davon. Und doch ertappte er sich dabei, wie er ihrer massigen, schwingenden Gestalt durch die Tür in einen Laden folgte, der mit drei Klappstühlen und einem Bridgetisch ausgestattet war, auf dem eine zersprungene Kristallkugel ruhte. Fünf Kinder, de ren Alter sich erstaunlich überlappte, spielten vor einem zer
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schlissenen Bettuch, das die hin tere Hälfte des Raumes abgrenz te. Auf einen entschiedenen Befehl der Frau verschwanden sie hinter dem Laken. Während er es sich auf dem Klappstuhl bequem machte, der sofort einen fünfundvierzig Grad-Winkel zum Boden einnahm, überlegte Irving Bommer, was er eigentlich hier tat. Er erinnerte sich daran, was Mrs. Nagenbeck ihm gesagt hatte, als er damals das Zimmer mietete: »Ich hebe keinem Mieter das Essen auf.« Und heute war in der Haushaltswarenabteilung Monatsinventur gewesen, und er war sowohl verspätet als auch hungrig. Und dennoch… Man konnte wirklich nie wissen, womit diese Zigeuner plötzlich herausrückten. Wirklich ein eigenartiges Volk. Ihre Schönheits begriffe stammten nicht aus Hollywood; sie gehörten einer Rasse an, die seit Pontius Pilatus Weltbürger hervorgebracht hatte; sie verstanden es, wahren Seelenadel zu erkennen und – ja viel leicht sogar gutes Aussehen. »Nun – äh«, er brachte ein leises Lachen zuwege, »was haben Sie denn, das ich – das ich – äh – mir so dringend wünsche? Ein Traumbuch, um bei allen Rennen zu gewinnen? Ich wette nicht auf Pferde. Und meine Zukunft lasse ich mir auch nicht weissa gen.« Sie stand vor ihm, eine üppige Gestalt in farbenfrohe Gewänder gekleidet und musterte ihn ernst aus ihren müden, schwarzen Augen. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ihnän sage ich nicht Zu kunft voraus. Ihnän gäbe ich das.« Sie hielt eine Medizinflasche in der ausgestreckten Hand, eine Flasche, die mit einer perlenden purpurfarbenen Flüssig keit ge füllt war, deren Farbe sich im Zwielicht des Ladenfensters zuerst in ein kräftiges Rot und dann ein dunkles Blau änderte. »Was – was ist das?« fragte er, obwohl er plötzlich wußte, daß es nur eines sein konnte. »Hat meinäm Mann gehert. Ar hat vielä Jahrä gebraucht, um äs zu machän. Und als är das haben, er sterben. Abär Sie, Sie andärs. Sie dürfen haben. Es Ihnen Frauen gebän.«
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Irving Brommer zuckte bei der Beleidigung zusammen. Er ver suchte zu lachen, statt dessen aber spürte man in seinem La chen nur seinen Glauben, sein Sehnen. Frauen. »Sie meinen, es ist ein Trank – ein Liebestrank.« Seine Stimme schnappte fast über. »Liebästrank. Wenn ich Sie sehän, ich wissen, Sie brauchen. Sie sähr unglicklich. Sähr sähr wenig glicklich. Abär nicht ver gessen. Nur benutzen, um zurücknämen, was weggenommen ist. Ihr Blut in einem Tropfen von Liebästrank und Liebestrank Ihrär. Jedesmal nur ein Tropfen. Zehn Dollar bitte.« Das war es. Zehn Dollar! Für irgendein farbiges Wässerchen, das sie im Nebenzimmer zusammengemixt hatte. Bloß weil er so leichtgläubig gewesen war, um hereinzukommen. Aber mit Ir ving Bommer konnte man das nicht machen. Er ließ sich doch nicht zum Narren halten. »Ich lasse mich doch nicht zum Narren halten«, sagte er, weil ihm der Gedanke so gut gefiel, daß er ihn aussprechen wollte. Er stand auf und schüttelte sich. »Hären Sie!« Die Stimme der Zigeunerfrau war heiser und be fehlend. »Sie jetzt dumm. Sie brauchen. Ich kannte verlangen fiimfzig, ich kannte verlangen tausänd. Abärr ich verlangen zehn, weil das Preis ist, weil Sie zahn ‘aben, weil Sie brauchen, und ich jetzt nicht brauchen. Seien Sie kein Narr. Nähmen Sie – Sie sind wirklich hübsch.« Irving stellte fest, daß er seine grimmige Miene nicht auf rechterhalten konnte, daß die Tür zu weit weg war. Sehr lang sam zählte er die zehn Dollar ab. Jetzt blieben ihm bis zum Zahl tag nur noch zwei. Selbst die Erinnerung an die fantastisch teure Flasche Rasierwasser, die man ihm letzte Woche aufgeschwatzt hatte, hinderte ihn nicht daran. Er mußte ein fach… »Ein Tropfän Blut, wenn Sie brauchen«, rief die Frau ihm nach als er aus dem Laden eilte. »Viel Glück, Miistärr.« Als er die zwei Straßen zu seiner Pension hinter sich gebracht hatte, war aus seinem Hochgefühl der Hoffnung seine übliche Niedergeschlagenheit geworden.
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»Was für ein Narr, was für ein dummer Tölpel!« ärgerte er sich, als er sich durch die Hintertür in Mrs. Nagenbecks Pension hi neinschlich und die Treppe hinaufging. Irving Bommer, der größ te Tölpel aller Zeiten! Man brauchte ihm bloß etwas zu zeigen, dann kaufte er es. Liebestrank! Aber als er die Tür seines kleinen Zimmers hinter sich zuge schlagen hatte, als er das Fläschchen wütend auf das Bett ge worfen hatte, biß er sich auf die Lippen und quetschte zwei riesi ge Tränen aus seinen kurzsichtigen Augen. »Wenn ich bloß ein Gesicht hätte anstelle einer Karikatur«, jammerte er. »Wenn ich nur – oh verdammt!« Und dann weigerte sich sein Verstand, der relativ normal war, weiter in diesen Kategorien zu denken. Wir wollen träumen, sag te sein Verstand zu seinem benommenen Unterbewußtsein; wir wollen träumen und uns vorstellen, wie angenehm es sein könn te… So saß er auf dem Bett, das Kinn auf das hochgezogene Knie gestützt und träumte von einer richtig erschaffenen Welt, in der die Frauen raffinierte Pläne schmiedeten, um seine Auf merksamkeit zu erwecken, in der die Frauen um ihn kämpften; wo sie, unfähig ihn für sich allein zu gewinnen, ihn, ob sie woll ten oder nicht, mit ähnlich entschlossenen Schwestern teilten. Durch diese herrliche Welt schritt er und freute sich wie stets darüber, wie die Regeln dieser ihm vertraut gewordenen Welt sich immer zu seinem Nutzen wandelten. Manchmal war er der einzige Mann, der nach einer Atom katastrophe am Leben geblieben war, und manchmal ruhte er auf purpurfarbenen Kissen und rauchte seine Wasserpfeife, wäh rend ein Harem voll atemberaubender Huris bewundernd warte ten. Und dann sahen wieder Dutzende von Männern, deren Ge sichter ihn alle an Humphries, den Haushaltswareneinkäufer, erinnerten, verzweifelt zu, wie Bommer, der Reiche, Bommer der Erfolgreiche, Bommer der unglaublich Welterfahrene ihre Frauen, Verlobten und Freundinnen aus luxuriösen Limousinen in sein Junggesellenapartment führte, das so umfangreich war, daß es ein ganzes Gebäude auf der Park Avenue füllte.
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Hin und wieder gab es auch eine Folge – eine völlig schmerzlo se natürlich! – mit einem Gesichtschirurgen, wobei dieser talen tierte Herr, nachdem er sein Meisterwerk vollendet hatte, befrie digt starb, ehe er sein Werk dadurch beein trächtigen konnte, daß er es wiederholte. Häufig schob Irving Bommer auch die schwierige Wahl zwischen einer üppigen Blondine und einer kna benhaft zarten Rothaarigen lange genug auf, um über solch ei genartige Ereignisse nachzudenken, die ihn einen Meter neunzig hatten werden lassen, ohne daß er es bemerkt hatte, wobei gleichzeitig seine Nase sich verkleinert und begradigt hatte und seine Schultern breiter geworden waren. Während er sich der neuen Resonanz seiner Stimme erfreute und auf seinen perfek ten Witz stolz war, ebenso stolz wie auf seine gute Erziehung, kehrten seine Gedanken doch immer wieder zu seinen hervorra genden physischen Attributen zurück. Die Haarmähne, die seine kahle Stelle überdeckte, jene dritten Zähne, die auf geheimnis volle Weise über die Ruinen aus gelb gewordenem Emaille ge wachsen waren, sein Bauch, der ihm nicht mehr über den Ho senbund hing, sondern ein einziger Muskelstrang zu sein schien. Dieser Bauch überhaupt – in ihm fanden sich nur noch Weine bester Jahrgänge, Gerichte, die die berühmtesten Küchenchefs zubereitet hatten, die delikatesten Leckereien… Und dann schluckte Irving Bommer abrupt den Speichel hinunter, der sich in seinem Mund gesammelt hatte, und erkannte, daß er schreck lichen Hunger hatte. Nach seiner Rechnung war die Küche jetzt dunkel und leer. Man konnte sie über die Hintertreppe erreichen, die draußen an seinem Zimmer vo rbeiführte. Wenn allerdings ein Überfall auf ihre Speisekammer Mrs. Na genbeck weckte, so neigte sie dazu, die hervorstechendsten Ei genschaften einer jeden der Furien zu vereinen. Irving Bommer zitterte bei den Gedanken, sie könnte ihn ertappen! Nun Freund, das Risiko werden wir eingehen müssen, drängte ihn sein Magen. Zitternd und seufzend schlich er auf Zehenspitzen hinunter. Er tastete in der Finsternis herum und berührte den Türgriff:
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des Kühlschranks. Hungrig furchte er die Stirn. Nach sorgfältiger Suche fand er drei Viertel einer Salami, einen halben Laib Schwarzbrot und ein kräftiges Messer von der Art, wie man es braucht, um eine spanische Galeone zu entern. Okay, sagte sein Magen. Fangen wir an! Licht ging hinter ihm an. Irving Bommer hielt mitten in der schneidenden Bewegung inne. Sein Körper erstarrte absolut, aber sein Herz und sein immer noch redseliger Magen stießen wie ein paar Akrobaten in ihrem großen Finale zusammen. Wie jedesmal, wenn er Angst hatte, begann er so zu transpirieren, daß seine Füße geradezu glitschig wurden. »Wer ist da?« rief Mrs. Nagenbeck. »Ist jemand in der Küche?« Irving Bommer zog es vor, keine Antwort zu geben, sondern floh schweißgebadet nach oben, wobei er das Essen, das Messer und seine jetzt völlig konfus gewordene innere Anatomie mit sich nahm. Wieder in seinem Zimmer, die Hand am Lichtschalter, atmete er einen Augenblick tief, lauschte und lächelte dann. Er hatte keine Spuren hinterlassen. Jetzt schlenderte er zum Bett, wobei er mit dem Messer eine Scheibe Salami zum Munde führte. Die purpurne Medizin lag da, wo er sie hingeworfen hatte. Sie sah rot aus; gleichzeitig wirkte sie etwas blau und dann wiederum… Er setzte sich und fing an, den flachen Deckel mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aufzuschrauben. Dann bemerkte er, wie schwierig das war. Also dachte er, wir nehmen das Mes ser in die rechte Hand, klemmen es uns unter die Schulter, hal ten die Flasche mit der linken Hand gut fest und drehen die Kap pe. Unterdessen kauen wir weiter. Der Deckel war verklemmt. Vielleicht sollte man ihn gar nicht öffnen. Vielleicht sollte man die Flasche zerschlagen und ihren ganzen Inhalt auf einmal anwenden. Darüber konnte er sich spä ter den Kopf zerbrechen. Im Augenblick hatte er Salami und Schwarz brot und zwei Dollar statt zwölf.
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Er stellte die Flasche beiseite und drehte noch einmal am Dek kel, gleichsam wie um zu zeigen, daß er mit ihr noch nicht fertig war. Der Deckel löste sich. Bommer schraubte ihn ganz auf und war etwas überrascht. Er hatte nie gewußt, daß es Medizinfla schen mit Linksgewinden gab. Eigenartiger Geruch. Wie ein eingeseiftes, abgeschrubbtes und frisch in Windeln gehülltes Baby, das plötzlich zu dem Schluß gelangt war, daß eine volle Blase nicht halb so angenehm wie eine leere war. Und die Flüssigkeit in der Flasche war blau. Wie der roch er. Nein, eher wie ein haariger Mann, der den Nachmit tag mit Pickel und Schaufel verbracht hatte und nicht einsah, warum er ein Bad nehmen sollte. Und doch, noch während Irving Bommer über die Glasphiole meditierte, schimmerte sie wieder in flammendrotem Scharlach. Als er sie, um noch einmal daran zu riechen, unter die Nase hielt, wunderte er sich darüber, wie er den Geruch so falsch hatte einschätzen können: Er war unange nehm, sehr unangenehm sogar, aber man konnte ihn leicht iden tifizieren. Es roch… nein nicht genau nach abgestandenem Ta bakrauch… nein eher wie ein frischgedüngter Acker… Er ließ ein paar Tropfen auf die linke Hand fallen. Purpurfarben. Eine Faust krachte gegen seine Tür. »He Sie!« schrie Mrs. Na genbeck. »Sie, Mr. Bommer! Machen Sie auf. Ich weiß, was Sie dort haben. Sie haben meine Lebensmittel dort drinnen, öffnen Sie die Tür!« Irving Bommer zuckte zusammen, und das Messer, das er un ter dem Arm hielt, machte einen wilden Sprung und zielte auf das linke Handgelenk, als wolle es die ganze linke Hand abtren nen. Zu Irving Bommers Glück zuckte die Hand jedoch instinktiv nach unten, um die Salami und das Schwarzbrot unter das Kis sen zu schieben. Das Messer klirrte zu Boden und mußte sich mit der Spitze des Ringfingers und einem kleinen Scheibchen des kleinen Fingers zufriedengeben. »Wenn Sie nicht sofort die Tür öffnen«, verkündete Mrs. Na genbeck durch das Schlüsselloch, »trete ich sie ein. Ich breche die Tür auf.« Und nachdem sie diese finstere Drohung ausgesto ßen hatte, dachte sie an ihren Geldbeutel. »Ich werde sie eintre
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ten, und dann zahlen Sie für eine Tür, zwei Scharniere und den Rahmen. Ganz zu schweigen von den Lebensmitteln, die Sie dort haben und die Sie jetzt angefaßt haben, so daß sie unhygienisch geworden sind, öffnen Sie die Tür, Mr. Bommer!« Er stieß das Messer ebenfalls unter das Kissen und zog die Decke über das Ganze. Dann verschloß er die Medizinflasche und ging zur Tür, wobei er an den blutenden Fingern saugte und schrecklich transpirierte. »Augenblick«, bettelte er. »Und dann noch das Schloß«, drohte Mrs. Nagenbeck. »Ein gu tes Schloß kostet heutzutage vier, fünf, sechs Dollar. Und dann natürlich die Kosten für die Arbeit. Wo kriegt man heute schon einen guten Tischler her? Aber ich werde diese Tür eintreten, und wenn mein eigenes….« Ihre Stimme erstarb zu einem eigen artigen Murmeln. Ir ving Bommer hörte Laute wie die einer Lo komotive. Und dann schloß er auf. Da stand Mrs. Nagenbeck in ihrem lavendelfarbenen Mor genrock, die Stirn gefurcht und die Nüstern gebläht. Die Salami! Mit ihrer langjährigen Erfahrung in der Leitung ei ner Pension konnte sie sie wahrscheinlich am Geruch allein unter seinem Kissen aufspüren. »Was für ein komischer…«, begann Mrs. Nagenbeck unsicher, und die feindseligen Linien in ihrem Gesicht glätteten sich. »Was für ein eigenartiger Geruch! Solch ein ungewöhnlicher Geruch – wirklich eigenartig – ach Sie armer Junge, Mr. Bommer. Sind Sie verletzt?« Er schüttelte den Kopf. Der völlig fremdartige Ausdruck in ih rem Gesicht verblüffte ihn. Das war nicht Ärger, und doch wirkte es entschieden gefährlich, auf ihn. Er zog sich ins Zim mer zu rück. Mrs. Nagenbeck folgte ihm, und ihre Stimme ex perimentierte mit verschiedenen Tönen. Am Ende schnurrte sie wie ein Kätzchen. »Zeigen Sie doch die verletzten Finger«, sagte sie und zog ihm die linke Hand vom Mund weg, und zwar mit solcher Kraft, daß
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beinahe ein paar Zähne dabei mitgegangen wären. »Oh, oh, tut es weh? Haben Sie Jod oder ein Antiseptikum? Vielleicht einen Septikstift? Und Gazebinden zum Bandagieren?« Von ihrem erstaunlichen Stimmungswechsel überwältigt, deu tete Irving Bommer mit der Nase auf den Medizinschrank. Sie gab immer noch die seltsamen Geräusche von sich, als sie ihm die Wunde verband. Es klang wie ein schnurrender Säbeltiger. Und jedesmal, wenn sie die Augen hob und Irving Bommers Blick begegnete, lächelte sie. Aber als sie dann seine Hand hob, um sie nach getanem Werk zu inspizieren, drückte sie ihm einen langen stöhnenden Kuß auf die Handfläche. Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun. Er ging zur Tür und zog Mrs. Nagenbeck mit der verletzten Hand hinter sich her. »Vielen Dank«, sagte er. »Aber es ist schon spät. Ich muß zu Bett.« Mrs. Nagenbeck ließ los. »Sie wollen, daß ich gehe«, meinte sie mißbilligend. Als er nickte, schluckte sie, lächelte tapfer und ging seitlich hinaus, so dicht an ihm vorbei, daß sie seine Knöpfe be rührte. »Arbeiten Sie nicht so schwer«, sagte sie, als er die Tür schloß. »Jemand wie Sie sollte sich nicht zu Tode arbeiten müssen. Gute Nacht, Mr. Bommer.« Die üppige Purpurfarbe des kleinen Fläschchens blinzelte ihm vom Bett zu. Der Liebestrank! Er hatte einen Tropfen auf die Hand fallen lassen und hatte, als er sich am Finger geschnitten hatte, unwillkürlich die Hand geballt. Die Zigeunerfrau hatte ge sagt, ein Tropfen seines Blutes, vermischt mit einem Tropfen des Trankes, würde diesen Tropfen zu seinem eigenen machen. Und offenbar war das geschehen: Mrs. Nagenbeck war entflammt. Er schauderte. Mrs. Nagenbeck. Eine schreckliche Vorstellung… Aber was auf Mrs. Nagenbeck wirkte, würde zweifellos auch auf andere, jüngere, begehrenswertere Frauen wirken. Wie zum Bei spiel auf dieses Mädchen mit den trägen Augen in der Schneid warenabteilung, oder dieses kleine Kätzchen beim Geschirr. Es klopfte an der Tür.
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»Ich bin es, Hilda Nagenbeck. Hören Sie, Mr. Bommer. Ich ha be es mir überlegt. Salami und Schwarzbrot sind sehr trocken. Außerdem bekommen Sie dabei bloß Durst. Ich habe Ih nen zwei Dosen Bier gebracht.« Er lächelte, als er die Tür öffnete und die beiden Dosen ent gegennahm. Die Zeit war für Mrs. Nagenbeck nicht stillge standen. Was in ihren Augen vorher nur geknospt hatte, stand jetzt in voller Blüte. Ihre Wimpern flatterten. »Vielen Dank, Mrs. Nagenbeck. Und jetzt gehen Sie zu Bett. Nur zu.« Sie nickte gehorsam und schlurfte die Treppe hinunter, wobei sie bei jedem Schritt einen sehnsuchtsvollen Blick zurückwarf. Irving Bommers Schultern waren viel stolzer und gerader, als er die Dose Bier öffnete. Mrs. Nagenbeck war natürlich nicht viel, aber sie deutete auf seine interessantere Zukunft hin. Er war jetzt hübsch – für jede Frau, die eine auch nur an nähernd empfindsame Nase hatte. Das Dumme war nur, daß von dem Zeug so wenig da war. Die Flasche war schrecklich klein. Wer wußte, wie lange die Wirkung anhielt? Und er hatte so viel nachzuholen. Als er die zweite Dose Bier geleert hatte, sehr mit sich zu frieden, kam ihm plötzlich die Lösung. Wunderbar! Und so ein fach. Zuerst goß er den Inhalt der Medizinflasche in die leere Dose. Dann streifte er die Bandagen ab, schob die zwei verletzten Fin ger in das dreieckige Loch und schabte die Wunde am Metall. Im nächsten Augenblick floß reichlich Blut in die Dose, ein Blut strom, den er durch weiteres Kratzen noch förderte. Als er fand, daß die Mischung stimmte, schüttelte er die Dose ein paarmal, verband seine jetzt blutverschmierten Fin ger und goß die ganze Mixtur in die große Flasche Rasierwasser, die er vor einer Woche gekauft hatte. Die Flasche war mit einem Sprühkopf versehen.
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»So«, sagte er, als er das Messer und das Brot auf den Schrank warf, das Licht ausknipste, ins Bett kroch und die Sa lami zu kauen begann, »jetzt sollen die mal sehen, was Ir ving Bommer für ein Kerl ist!« Er hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und so wurde er erst wach, als sein Nachbar im Nebenzimmer seine morgend lichen Waschungen begann. »Zwanzig Minuten, um mich an zuziehen und zur Arbeit zu gehen«, murmelte er, als er die Bett decke wegwarf und zum Waschbecken hetzte. »Kein Frühstück!« Aber Mrs. Nagenbeck erwartete ihn unten an der Treppe mit einem scheuen Lächeln und einem Tablett. Ohne seinen Protest zu beachten, bestand sie darauf, daß er »wenigstens einen Bis sen zu sich nahm, um etwas zum Kauen zu haben.« Während er gehetzt das Rührei in sich hine inschaufelte und da bei immer wieder den Kopf wegriß, um Mrs. Nagenbecks Küssen zu entgehen, fragte er sich, was aus seiner so abweisend stren gen Wirtin geworden war, seit er sie zum letztenmal gesehen hatte. Seit er sie zum letztenmal gesehen hatte… Er nützte die Gelegenheit, die sich bot, als Mrs. Nagenbeck wegrannte, um für ihn eine Dose Kaviar zu holen, und rannte in sein Zimmer zurück. Er riß sich Hemd und Krawatte und nach einiger Überle gung auch das Unterhemd herunter. Dann richtete er die Düse seiner Sprühflasche auf sich und drückte auf den Gummiball. Er sprühte sich Gesicht, Haar, Ohren, Hals, Brust, Rücken, Arme und sogar den Nabel ein. Dann schob er die Düse sogar unter den Gürtel und sprühte im Kreis herum. Als seine Hand von der ungewohnten Mühe zu schmerzen begann, hörte er schließlich auf und zog sich wieder an. Der Geruch bereitete ihm fast Übelkeit. Und doch war ihm eigenartig leicht ums Herz. Ehe er das Zimmer verließ, schüttelte er die große Flasche. Immer noch wenigstens zu neun Zehntel voll. Er würde schon auf seine Kosten kommen. Ehe die Flasche leer war, würde sich vieles ändern. Die Zigeunerin stand vor ihrem heruntergekommenen Laden,
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als er vorüberging. Sie fing zu lächeln an, hielt dann aber inne und schrie ihren Kindern etwas zu, worauf die wegrannten. Dann ging sie rückwärts in den Laden, hielt sich die Nase zu und jam merte. »Sie habän zu viel verwändet! Sie nicht alles auf einmal nemähn!« Er winkte ihr zu. »Hab' ich nicht. Ist noch eine ganze Menge da!« Der Zug war überfüllt, aber er sah vom Bahnsteig aus einen freien Sitz. Dann stürzte er sich auf die Menschentraube, die sich vor den sich öffnenden Türen gesammelt hatte und pflügte sie förmlich auseinander. Rücksichtslos stürzte er sich in den Zug, vor Glück und Selbstvertrauen beinahe sin gend, quetschte sich an zwei Frauen vorbei, trat einem alten Knaben gegen das Schienbein, um ihn abzulenken, und rutschte auf den Platz, als der Zug sich in Bewegung setzte. Der Ruck nahm ihm das Gleichgewicht und gab einer porzellangesichtigen jungen Dame von zwanzig oder fünfundzwanzig die Chance, sich unter seinem tastenden Gesäß hindurchzuschieben. Als er sich wieder gefan gen und sich umgedreht hatte, lächelte sie ihn selbstzufrieden an. Eines lernt der geübte U-Bahnfahrer bald – unter der Erde ist das Schicksal etwas Unerforschliches, es läßt die einen sitzen und zwingt die anderen immer wieder zum Stehen. Irving Bom mer griff nach der Haltestange und schickte sich in das harte UBahngesetz von Angebot und Nachfrage. Das Gesicht des Mäd chens war verzogen, als wollte sie gleich zu weinen anfangen. Sie schüttelte wie im Krampf den Kopf, starrte zu ihm hinauf und biß sich auf die Lippen. Ihr Atem ging sehr laut. Und dann stand sie plötzlich auf und deutete mit einer höfli chen Geste auf den Sitz. »Wollen Sie sich nicht setzen, bitte?« fragte sie mit einer Stimme, die ganz nach Milch und Honig klang. »Sie sehen müde aus.« Irving Bommer setzte sich, der vielen Köpfe bewußt, die sich in ihre Richtung gedreht hatten. Seine Nachbarin, eine etwas plumpe Neunzehnjährige, fing an, die Luft in die Nase zu ziehen und wandte dann ungläubig die Augen von ihrem Roman, um
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Bommer anzusehen. Das Mädchen, das ihm den Platz angeboten hatte, schob sich näher heran, obwohl all die anderen stehenden Fahrgäste sich jetzt in die andere Richtung lehnten. »Wir sind uns sicher schon einmal begegnet«, begann sie etwas unsicher und fuhr dann schneller fort: »Mein Name ist Iphigenia Smith, und wenn Sie mir den Ihren sagen, fällt mir ganz bestimmt gleich ein, wo wir einander vorgestellt worden sind.« Irving Bommer seufzte tief in den Urgründen seiner Seele und lehnte sich zurück. Die Biologie und er begannen endlich zu sammenzukommen. Er führte eine kleine Parade zum Angestellteneingang des Wa renhauses Gregworth. Untröstlich, daß der Liftfahrer es ablehn te, Kunden in den zerbrechlichen Lift zu lassen, der nur für Per sonal bestimmt war, drängten sie sich um die sich schließenden Türen und blickten ihm nach, als wäre er Adonis. Humphries ertappte ihn, als er gerade seinen Namen in die Anwesenheitsliste kritzelte. »Sieben Minuten zu spät. Das ist schlimm, sehr schlimm. Wir wollen uns doch alle bemühen, pünktlich zu sein, oder? Wirklich bemühen.« »Ich hab’ vergessen, den Wecker zu stellen«, murmelte Irving Bommer. »Wir wollen doch keine Ausreden gebrauchen, oder? Hier bei Gregworth stehen wir zu unseren Fehlern und bemühen uns alle darum, sie zu vermeiden.« Der Einkäufer zog sich seine perfekt geknotete Krawatte eine Spur enger und runzelte die Stirn. »Was in aller Welt riecht hier so? Bommer, baden Sie etwa nicht?« »Eine Frau hat in der U-Bahn etwas auf mich verschüttet. Das wird sich schon verteilen.« Nachdem er den gestrengen Blicken entkommen war, arbeitete er sich an Töpfen, Pfannen und Dampfkochern vorbei zu den Schälern und Würflern, wo er seine Position bezog. Er hatte ge rade angefangen, seine Theke für den Tag vorzubereiten, als ein
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Gong verkündete, daß die Außenwelt jetzt hereindurfte, um all die wunderbaren Angebote von Gregworth zu bestaunen und zu kaufen. Eine Hand glitt unsicher über sein Revers und lenkte ihn ab. Doris, die hübsche Blondine von den Salatschüsseln beugte sich über seine Theke und streichelte ihn. Doris! Sie, die sonst immer nur rüde Bemerkungen für ihn übrig hatte, wenn er ihr ein Kom pliment machte. Er packte sie am Arm. »Doris«, sagte er streng, »lieben Sie mich?« »Ja«, hauchte sie, »ja, Liebster, ja. Mehr als…« Er küßte sie zweimal, zuerst schnell und dann mit mehr Hinga be, als er bemerkte, daß sie nicht wegsprang, sondern statt des sen hingebungsvoll stöhnte und dabei eine ganze Reihe von Kar toffelschälern umwarf. Ein lautes Fingerschnappen ließ ihn zurückzucken und sie weg schieben. »Aber, aber«, sagte Humphries und musterte Irving etwas un sicher. »Alles zu seiner Zeit, nicht wahr? Wir wollen uns hier doch um unsere Arbeit kümmern; es gibt Kunden, die bedient werden wollen. Unsere Privatangelegenheiten wollen wir nach Ladenschluß erledigen.« Das Mädchen warf dem Einkäufer einen haßerfüllten Blick zu, aber als Irving eine abwehrende Handbewegung machte und Humphries immer noch mit den Fingern schnappte, wandte sie sich langsam ab und sagte mit leiser, eindringlicher Stimme: »Ich warte nach der Arbeit auf dich, Irving, Liebster. Ich geh’ mit dir nach Hause. Überallhin, immer…« »Ich weiß nicht, was in die gefahren ist«, sinnierte Humphries. »Dabei war sie immer so tüchtig.« Er wandte sich wie der Irving Bommer zu, schien mit sich selbst zu kämpfen und begann dann milde: »Jedenfalls, Bommer, wir wollen es nicht übertreiben. Die Kunden kommen jetzt. Wir wollen ihnen Messer verkaufen.« Er griff nach einer langen, gebogenen Klinge mit einem Beingriff
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und schwenkte sie vor einer Gruppe von Frauen, die sich um Ir vings Theke gesammelt hatten. »Die neueste Methode, um Gra pefruit, Orangen und Melo nen zu schneiden, meine Damen. Die einzige Methode. Warum mit altmodischen, geraden Messern schneiden?« Seine Stimme hatte soeben verächtlich geklungen und erhob sich jetzt in geradezu religiöse Verzückung: »Mit den neuen Hollywoodmessern können Sie Ihre Grapefruit, Ihre Oran gen und Ihre Melonen einfach und bequem schneiden. Sie verlie ren keine Vitamine mehr, und Melonenflecken auf Spitzen tüchern gibt es nicht mehr. Und außerdem haben Sie attraktive schräge Kanten. Kinder essen gerne interessant geschnittene Grapefruits und Orangen…« »Ist es das, was er verkauft?« fragte eine hünenhaft gebaute Frau mit muskulösem Kinn, Humphries nickte. »Dann nehme ich eines, wenn er es mir gibt.« »Ich möchte zwei. Ob er mir zwei gibt?« »Fünf! Ich will fünf. Ich hab’s zuerst gesagt. Sie haben mich bloß nicht gehört.« »Aber meine Damen«, strahlte Humphries, »wir wollen nicht drängeln, nicht schubsen. Es gibt mehr als genug Holly woodmesser. Sehen Sie, Bommer, sehen Sie«, zischte er, »was man mit ein wenig Schwung anfangen kann? Und jetzt wollen wir keinen Kunden mehr weglaufen lassen. Keinen.« Er schlenderte beschwingt davon und schnippte mit den Fin gern nach den umliegenden Tischen, deren weibliche Betreuer sämtlich diesen Bommertropismus zeigten. »Wir wollen an die Arbeit gehen, meine Damen. Die Kunden kommen. Und heute wird es ein großer Tag für die Schneidwarenabteilung, wie mir scheint.« Wie recht er hatte, begann er erst zu ahnen, als kurz vor der Mittagspause der Lagerverwalter hereingeplatzt kam und schrie: »Sie müssen mehr Leute einsetzen, Humphries. Das Lager schafft es nicht mehr.« »Schafft was nicht mehr?«
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»Was Bommer verkauft, das meine ich!« Der Lagerverwalter raufte sich die Haare und tanzte um seinen Schreibtisch. »Ich hab meine ganzen Leute auf Bommer angesetzt – kein einziger in der Verwaltung, keiner im Wareneingang, und dabei verkauft der Bursche so schnell wie wir ihm die Ware heranschaffen. Warum haben Sie es mir denn nicht gesagt, daß Sie einen Kar toffelschälerausverkauf vorhaben? Dann hätt’ ich mehr aus dem Auslieferungslager kommen lassen, anstatt jede halbe Stunde darum betteln zu müssen. Ich hätte Cohen bei Möbel oder Blake in der Spielwarenabteilung gebeten, mir ein paar Leute zu lei hen!« Humphries schüttelte den Kopf. »Wir haben keinen Kar toffelschälerausverkauf und auch keinen Saisonausverkauf, nicht einmal Sonderpreise. Reißen Sie sich zusammen, Mann, wir wol len nicht gleich zusammenbrechen, wenn es einmal rund geht. Wir wollen nachsehen und feststellen, was los ist.« Er öffnete die Tür seines Büros und blieb wie erstarrt auf der Schwelle stehen. Die ganze Haushaltswarenabteilung war mit einer stöhnenden, wogenden Masse von Frauen erfüllt, die sich alle in einem beständigen Strom auf die Kartoffelschäler zuz u schieben schienen. Irving Bommer war völlig hinter einer Flut aus Dauerwellen und verrückten Hüten verborgen, aber gele gentlich segelte ein leerer Karton aus der Richtung, in der Hum phries ihn vermutete, und eine dünne, sich überschlagende Stimme machte sich vernehmbar: »Ich brauche mehr Kartoffelschäler. Mir geht die Ware aus. Die Kunden werden unruhig!« Sämtliche anderen Tische waren ver lassen, von Kunden ebenso wie von Verkäufern. »Halten Sie aus, Bommer, halten Sie aus, Junge!« brüllte der Einkäufer, rückte sich sein Jackett zurecht und stürzte sich in die Schlacht. Während er sich an Frauen vorbeiarbeitete, die ganze Kartons mit Kartoffelschälern an ihren wogenden Busen preßten, bemerkte er, daß der eigenartige Geruch, der von Bommer aus ging, jetzt selbst aus einiger Entfernung zu bemerken war. Und er war stärker, schärfer geworden… Irving Bommer sah aus wie ein Mann, der ins Tal der Schatten
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hinabgestiegen war und dort Schreckliches gesehen hatte. Sein Kragen war offen, seine Krawatte flatterte über einer Schulter. Seine Brille hing an einem Ohr, die Augen waren blutunterlaufen, und der Schweiß quoll ihm so aus allen Poren, daß sein Anzug aussah, als hatte man ihn gerade aus einer Waschmaschine ge zogen. Er war völlig verstört. Solange er noch Ware hatte, mit der er seine Kunden ablenken konnte, war die Anbetung, die man ihm entgegenbrachte, noch relativ passiv. Aber kaum ging seine Wa re zu Ende, als die Frauen wieder anfingen, sich auf seine Person zu konzentrieren. Es gab keinerlei Rivalität unter ihnen. Alle drängten gleichzeitig auf ihn zu, um ihn besser sehen zu können. Am Anfang hatte er einigen gesagt, sie sollten nach Hause ge hen, und sie hatten ihm gehorcht, jetzt aber schienen sie zwar bereit, in jeder Hinsicht alles zu tun, was er von ihnen verlangte, aber ihn verlassen wollten sie nicht mehr. Die Zuneigung, die sie zeigten, war entschlossener geworden. Halb benommen erkann te er, daß das seinen Schweißausbrüchen zuz uschreiben war – der Schweiß mischte sich mit dem Liebestrank und verdünnte ihn weiter, verbreitete seinen Geruch noch stärker. Und die Liebkosungen! Er hatte nie gewußt, wie schmerz haft die Berührung einer Frau sein konnte. Jedesmal, wenn er sich vorbeugte, um einen Kassenzettel auszuschreiben, grif fen Hände – Dutzende von Händen – nach ihm und strichen über seine Ar me, seine Brust, jeden Körperteil, der ihnen zugänglich war. So ging das jetzt seit drei Stunden, und was als sanfte Berührung gedacht war, fühlte sich inzwischen wie ein mächtiger Uppercut an. Er weinte beinahe, als Humphries sich neben ihm an der Theke aufbaute. »Bitte sorgen Sie für Ware, Mr. Humphries«, stammel te er. »Ich habe bloß noch Eierschneider und ein paar Kohlmes ser. Und wenn die auch aus sind, bin ich erledigt.« »Ruhig Blut, Junge, ruhig Blut«, versuchte der Einkäufer ihn zu besänftigen. »Das ist die Probe, auf die wir alle gestellt werden; wir wollen ihr wie ein Mann begegnen. Werden wir ein tüchtiger, verläßlicher Verkäufer sein oder ein Halm im Winde, auf den sich
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keiner stützen kann? Wo sind denn die Verkäuferinnen? Sie soll ten da sein und Ihnen helfen. Nun, es wird eine Weile dauern, bis wir Nachschub bekommen. Wir wollen Pause machen. Wir wollen ihnen Handtuchständer und Toilettenartikel zeigen.« »He!« Ein in Chiffon gehüllter Arm griff über die Theke und tippte Humphries auf die Schulter. »Weg da, ich kann ihn nicht sehen.« »Einen Augenblick, gnädige Frau. Wir wollen nicht ungeduldig werden«, begann Humphries, verstummte dann aber, als er den mörderischen Blick in den Augen der Frau sah. Sie und auch die anderen, die neben ihr standen, schienen durchaus imstande, ihm ein Hollywoodmesser ins Herz zu stoßen, ohne sich etwas dabei zu denken. Er schluckte und versuchte, sich die Krawatte geradezuziehen. »Hören Sie, Mr. Humphries, kann ich nach Hause gehen?« fragte Irving unter Tränen. »Ich fühle mich gar nicht wohl, Und jetzt, da keine Ware mehr da ist, hat es ja keinen Sinn, wenn ich dableibe.« »Nun«, überlegte der Einkäufer, »wir können nicht gerade sa gen, daß es kein anstrengender Tag war, oder? Und wenn wir uns nicht wohl fühlen, fühlen wir uns nicht wohl. Natürlich kön nen wir für den Nachmittag kein Gehalt erwarten, aber wir kön nen nach Hause gehen.« »Vielen Dank«, strahlte Irving. Er drehte sich um, aber Hum phries hielt ihn am Ellbogen fest. Er hüstelte. »Ich wollte Ihnen noch sagen, Bommer, daß der Geruch eigentlich gar nicht unan genehm ist. Ganz angenehm sogar. Hoffentlich hat Sie meine gedankenlose Bemerkung bezüglich Ihrer Hygiene nicht belei digt.« »Nein, schon gut. Sie haben mich nicht beleidigt.« »Das freut mich. Ich möchte Sie wirklich nicht beleidigen. Ich möchte, daß Sie mich gut leiden können, ich möchte, daß Sie wissen, daß ich Ihr Freund bin. Wirklich, ich…« Irving Bommer floh. Er zwängte sich durch die wartenden
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Frauen, und alle machten ihm Platz – gleichzeitig tasteten aber auch alle nach ihm und versuchten, ihn zu berühren. Schließlich gelang es ihm, sich so lange frei zu machen, daß er den Personalaufzug erreichte. Er schauderte, als er das hungrige Stöhnen hörte, das sich erhob, als die Lifttüren sich vor ihren Gesichtern schlossen. Und als er hinunterfuhr, hörte er eine Mädchenstimme: »Ich weiß, wo er wohnt! Ich brin ge euch zu ihm!« Sie waren alle so verdammt hilfsbereit. Er hatte immer davon geträumt, ein Abgott der Frauen zu sein, aber er hatte nie damit gerechnet, daß Götter auch angebetet werden. Er rannte im Erdgeschoß aus dem Lift und winkte ein Taxi her an. Dabei fiel ihm auf, daß das Mädchen, das den Lift bedient hatte, ihm einfach nachgerannt war und ebenfalls ein Taxi nahm. Als er dem Fahrer seine Adresse sagte, sah er, daß überall auf der Straße Frauen in Taxis stiegen oder über Busse herfielen. »Schnell, schnell«, redete er auf den Fahrer ein. »Beeilen Sie sich.« »Ich beeil’ mich schon, Mac«, meinte der Mann über die Schul ter. »Ich muß mich aber um die Verkehrsregeln kümmern. Das ist mehr, als was man von diesen blöden Weibern dort hinten sagen kann.« Irving Bommer spähte verzweifelt durchs Heckfenster und sah eine völlige Mißachtung von roten Lichtern, mit den Armen we delnden Polizisten und Querverkehr als die Wagen hinter ihm sich in Bewegung setzten. Jedesmal, wenn sein Fahrer anhielt, nahm die Schar der Verfolger zu. Und doch schwitzte er noch ausgiebiger, je mehr seine Angst zunahm, und das Fluidum von Irving Bommer verbreitete sich durch alle Straßen. Er würde gleich ein Bad nahmen, wenn er nach Hause kam, er würde duschen und sich tüchtig einseifen und das schreckliche Zeug abwaschen. Aber er würde sich beeilen müssen. Die Bremsen des Taxis quietschten. »Da wären wir, Mister.
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Weiter kann ich nicht. Hier scheint es einen Auflauf zu geben.« Während Irving Bommer den Fahrer bezahlte, blickte er nach vorne und zuckte zusammen. Die Straße war schwarz von Frau en. Die Flasche mit Rasierwasser – das war es. Sie hatte eine offe ne Düse, und etwas von dem Geruch war herausgedrungen. Die Flasche war beinahe voll, also mußte es ziemlich stark gewesen sein. Trotzdem… Die Frauen standen auf der Straße, im Hof, in den Seiten gassen, und ihre Gesichter waren alle auf sein Zimmer gerichtet wie Hunde, die ein Oppossum einen Baum hinaufgetrieben hat ten. Sie waren sehr geduldig, sehr ruhig, aber hin und wieder erhob sich ein Seufzen, und bei der Zahl der Versammelten klang das wie eine Artilleriesalve. »Hören Sie«, sagte er zu dem Fahrer, »warten Sie auf mich. Ich komme vielleicht zurück.« »Das kann ich nicht versprechen, der Mob hier gefällt mir gar nicht.« Irving Bommer zog sich das Jackett über den Kopf und rannte auf den Eingang seiner Pension zu. Gesichter – verstörte, glück liche Gesichter – wandten sich ihm zu. »Das ist er!« hörte er Mrs. Nagenbecks heisere Stimme. »Das ist unser wunderbarer Irving Bommer!« »Ja! Ja!« Das war die Zigeunerin. »Der hübsche Mann!« »Mach Platz da«, schrie er. »Aus dem Weg.« Widerstrebend, bewundernd zog der Mob sich zurück und bahnte ihm einen Weg. Er stieß die Haustür auf, gerade als das erste der Verfolgerfahrzeuge um die Ecke geschossen kam. In der Halle waren Frauen, es waren Frauen in der Halle, es waren Frauen im Vestibül und im Speisesaal, es waren Frauen auf den Treppen, bis hinauf zu seinem Zimmer. Er schob sich an ihnen vorbei, vorbei an ihren glänzenden Augen, ihren betören den Liebkosungen. Er schloß seine Zimmertür auf. Er knallte sie
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hinter sich zu. »Ich muß nachdenken, nachdenken«, stieß er hervor und griff sich an den Kopf. Ein Bad würde nicht reichen, nicht solange die se große Flasche Rasierwasser dastand und ihren Inhalt ver strömte. Sie in den Abfluß entleeren. Der Inhalt würde sich mit Wasser vermischen, sich noch weiter auflösen. Vielleicht führte das dann dazu, daß ihn weibliche Ratten angriffen, nein, der Lie bestrank mußte vernichtet werden. Aber wie? Wie? Die Heizung im Keller. In dem Rasierwasser war Alkohol. Und Alkohol brannte. Das Zeug verbrennen und dann schnell duschen und nicht bloß Seife nehmen, sondern etwas wirklich Starkes – Schwefelsäure zum Beispiel. Die Heizung im Keller! Er klemmte sich die Flasche unter den Arm wie einen Rug byball. Draußen hörte er hundert Automobile hupen, tausend seufzende Frauenstimmen. In der Ferne, ganz schwach war der Klang der Polizeisirene zu hören, aber offenbar gelang es dem Gesetz nicht, sich durch die Menge hindurchzuarbeiten. In dem Augenblick, als er die Tür aufschloß, spürte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Frauen drängten herein, als ob die Kombination des Liebestranks, seines Schweißes und der undich ten Flasche absolut unwiderstehlich wäre. »Zurück«, brüllte er. »Zurück! Ich will hinaus!« Langsamer als vorher, widerstrebender ließen sie ihn hinaus. Er arbeitete sich bis zur Treppe vor und zuckte jedesmal zusam men, wenn eine weiche Hand nach ihm griff. »Macht die Treppen frei, verdammt nochmal! Macht die Trep pen frei!« Einige zogen sich zurück, andere nicht, aber er konnte hin durchgehen. Die Flasche dicht an sich gepreßt, ging er weiter. Ein junges Mädchen streckte die Arme nach ihm aus. Er warf sich zur Seite. Unglücklicherweise hatte sein rechter Fuß die er ste Stufe bereits betreten. Er taumelte auf dem linken. Sein Kör per ruckte vor; er versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Eine grauhaarige Matrone versuc hte, ihn am Rücken zu streicheln,
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und er duckte sich weg. Zu weit. Er stürzte, und die Flasche entglitt seinen schweißigen Händen. Er prallte gegen ein paar Stufen und stürzte schließlich auf die Flasche, die dabei in Scherben ging. Und dann wurde ihm klar, daß seine Brust sehr feucht war. Er blickte auf und konnte noch einen Schrei ausstoßen, als der Strom sehnsüchtiger, anbetender, flehender Frauen sich über ihm schloß. Deshalb hat man in White Willow ein Stück blutdurchtränktes Linoleum begraben. Und der riesige Grabstein darüber, wurde vom Geld errichtet, das eine enthusiastische Menge in einer Stunde sammelte. Ende
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