Da Chen
Meister Atami UND DER KLEINE MÖNCH
Da, Chen, geboren 1962, wuchs in der chinesischen Provinz auf. Mit seiner...
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Da Chen
Meister Atami UND DER KLEINE MÖNCH
Da, Chen, geboren 1962, wuchs in der chinesischen Provinz auf. Mit seiner Bambusflöte und dreißig Dollar in der Tasche begann er mit dreiundzwanzig Jahren ein neues Leben in Amerika. Er absolvierte die Columbia Law School und lebt mit seiner Frau und seinen bei den Kindern als Schriftsteller und Kalligraph in New York.
Da Chen
Meister Atami
UND DER KLEINE MÖNCH Ein phantastischer Roman Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck
Piper
München Zürich
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Wandering Warrior« bei Delacorte Press, New York
ISBN 3-492-70034-9 © Da und Sunni Chen Family Enterprise, Inc. 2003 Copyright der deutschsprachigen Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2004 e-Book by Brrazo 09/2008 Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Germany www.piper.de
Erster Teil
»Der künftige Kaiser wird fünf schwarze Muttermale auf jeder Fußsohle tragen«, las Mönch Atami ehrfurchtsvoll aus den alten heiligen Schriften vor. An dieser Stelle pflegte er zu dem unschuldigen Knäblein, das Luka damals war, aufzublicken und fortzufahren: »Dieser auserwählte Kaiser steigt nur alle fünfhundert Jahre in sein heiliges Land herab.« »Was bedeutet das?« fragte Luka dann. »Es bedeutet, daß Ihr bestimmt seid, der nächste Heilige Kaiser und leibhaftige Gott aller Chinesen zu sein. Selbst alle gewesenen und künftigen Kaiser werdet Ihr wie ein Riese überragen und unermeßli chen Segen über das Reich der Mitte, genannt China, bringen.« Die Passage aus den Schriften enthielt noch mehr, doch Atami beließ es dabei, zumindest für den Augenblick. Dann pflegte der Mönch sich zu verneigen und ein Gebet und eine kurze Ermahnung folgen zu lassen: »Nie dürft Ihr anderen mitteilen, wer Ihr seid.« 9
»Warum?« wollte Luka wissen. »Weil die Mogo Euch fürchten.« »Weil ich schon so groß bin?« Luka stand auf und warf sich in die Brust. »Nein«, erwiderte Atami lächelnd. »Weil alle Chi nesen, wenn Ihr erst einmal inthronisiert seid, sich gegen die Mogo-Invasoren erheben werden. Sie ha ben uns das Land weggenommen und unsere Lands leute getötet. Diese Berge und Flüsse, unser Volk, Vieh und Getreide, ja selbst diese unsagbar schönen Blumen hier … sie alle warten nur auf Euer Kom men.« Dabei rollten Tränen über die Wangen des Mönchs, und Luka hörte ihm andächtig zu. Solange Luka denken konnte, hatte Atami ihn auf dem Rücken getragen, während sie von einem Berg volk zum anderen zogen und es sorgfältig vermie den, mit den Mogo in Berührung zu kommen, indem sie vorgaben, zur großen Schar wandernder Bettler zu gehören. Seine ersten Schritte hatte Luka im fel sigen Liao-shan-Gebirge getan, im schützenden lan gen Schatten des Mönchs. Seine ersten Worte laute ten: »Bitte gebt uns zu essen«, Atamis Bettelformel. So hatten sie tausend li zurückgelegt und hundert Flüsse überquert. Atami lebte in ständiger Sorge, daß Luka ange sichts der Mogo-Besatzung und der anhaltenden Hungersnot, die das Land heimsuchte, nicht zum Mannesalter heranwachsen würde. Doch er betete, wanderte und bettelte unermüdlich. Lukas außerge wöhnliche Auffassungsgabe und rasche Entwicklung 10
bestärkten ihn in seiner unerschütterlichen Hoffnung, daß der Kaiser überleben müsse und überleben werde. Und Atami war entschlossen, ihn nach besten Kräften gemäß chinesischer Tradition großzuziehen, unge achtet der ironischen Fußnote der Geschichte, wonach in diesem kleinen Kaiser tatsächlich das Blut der un seligen Mogo floß. Sie lebten und liebten sich wie Vater und Sohn, doch kaum waren sie allein, so hieß es »Eure Heilig keit« hier und »Eure Heiligkeit« dort. Schließlich trug Atami Chinas geheiligten Schatz auf seinem Rücken, und er würde alles tun, damit diesem Ge rechtigkeit widerführe. Im Alter von drei Jahren nannte Luka den Mönch eines Tages baba – Vater. »Ich bin nicht Euer Vater«, korrigierte ihn Atami verstört. »Ich bin Euer Diener. Ihr seid der Auser wählte, Eure Heiligkeit.« »Aber ich will nicht der Auserwählte sein. Ich möchte dich zum Vater. Warum bist du nicht mein Vater?« »Eure Heiligkeit, eines Tages werde ich Euch sa gen, wer Euer Vater ist. Doch vorerst müssen wir weiter unseren Lebensunterhalt erbetteln.« Einem Tag, an dem sie genug zu essen hatten, folgten drei Tage, an denen sie hungerten, während sie über einsame Pfade von einem versprengten Bergvolk zum nächsten zogen. Sie ernährten sich von toten Katzen und Hunden, von Baumrinde und verendeten Schlangen. Sie mußten sich mit wilden 11
Tieren um ihre schmale Beute streiten und wurden selbst oft zum Jagdwild der Geier. »Wann hört das Betteln auf?« fragte Luka. »Wenn die Mogo China verlassen und Ihr auf Eu rem Thron in der Verbotenen Stadt sitzt«, erwiderte Atami und meinte damit den Kaiserpalast in der Hauptstadt Peking. »Aber die sind doch überall in China.« »Dann müßt Ihr eben betteln, bis Ihr sterbt.« »Ich will aber nicht sterben.« »Solange ich lebe, werdet Ihr nicht sterben. Der Tag Eurer Inthronisation wird kommen. Es ist Euch vorbestimmt, das beweisen die Muttermale auf Euren Fußsohlen. Es sind die Zeichen des Buddha.« Einmal öffnete eine alte Frau ihre Tür, um dem Wandermönch etwas übriggebliebenes wawato, Maisbrot, anzubieten. Als Atami sich zum Dank ver neigte, wurde das dunkle Gesichtchen Lukas sicht bar, den er sich auf den Rücken gebunden hatte. Die alte Frau, eine hellhäutige Chinesin, spuckte dem Mönch ins Gesicht und wandte sich ab. »Bitte gebt dem Kind etwas zu essen.« »Einem solchen Bastard? Niemals!« Damit schlug sie ihre Tür zu. »Was ist ein Bastard?« fragte Luka. »Ein Pfirsich, der auf einem Birnbaum wächst«, entgegnete der Mönch. Und sie zogen weiter. An der Straße sahen sie immer wieder menschli che Leichen zwischen Tierkadavern liegen. Diebe beraubten Diebe. Bettler töteten Bettler. Die Leben 12
den bestahlen die Toten, und wilde Tiere taten sich an Leichen gütlich. Die schreckliche Hungersnot raffte Junge wie Alte dahin, denn unwissende MogoHerrscher hatten angeordnet, daß statt dem üblichen Reis nun Hirse und Weizen angebaut werden sollten. Deren Pflänzchen aber waren in den sumpfigen Fel dern der Ebenen hoffnungslos verdorben, denn dort peitschten Taifune den Regen heran, und die feuchte Jahreszeit wollte kein Ende nehmen. Von manchen Dorfbewohnern hieß es, sie hätten ihre eigenen Kin der gegessen, andere schlachteten ihre Hunde. Atami blieb nichts anderes übrig als zu beten, den Blick zum Himmel zu erheben und sich weiter in das ihm bestimmte, harte Los zu schicken. Er mußte leben, damit Luka überlebte. Also durchquerten sie Hand in Hand Gebirge und Täler und wanderten Tag und Nacht, bis sie den Stadtrand von Peking erreichten, wo die Hoffnung auf Nahrung und Überleben winkte. Dort unterwies Atami Luka in den alten Schriften und ließ ihn im Alter von vier Jahren deren Verse auswendig lernen. Jeden Tag saß er schon bei Tages anbruch in dem kleinen Zelt vor den Toren Pekings, das Atami als Sonnen- und Wetterschutz notdürftig errichtet hatte. Die Beine vor dem kleinen Tisch un tergeschlagen, arbeitete er sich durch die insekten gleiche Schrift. Luka begeisterte sich für diese uralten Texte, die die Entstehung der Welt schilderten. Zu nächst existierte nur die Leere des Nichts. Alles war still. Dann setzten Regengüsse ein, die den Ozean füllten. Als der Regen aufhörte, entstand das Land. 13
Am liebsten waren ihm jedoch die acht handgemal ten, glückverheißenden Symbole des Buddhismus: der Baldachin, das Banner, das Muschelhorn, die goldene Vase, der unendliche Knoten, das goldene Rad, der Fisch und die Lotosblüte. Er fragte sich oft, wie es wohl wäre, barfuß und mit aufgerollten Är meln den traditionellen Tanz des yang-ge beim herbstlichen Erntefest zu tanzen, und ob es ihm je mals vergönnt sei, der Auserwählte zu sein. Wenn die täglichen monotonen Rezitationen der alten Texte ihn langweilten, stellte er sich vor, eine lange Trom pete zu blasen oder laut das Zymbal oder die Trom mel zu schlagen, doch solche Abenteuer erlebte er nur in seiner Phantasie. Atami stand noch viel früher auf. Er war die Sonne vor der Sonne und der Mond vor dem Mond. Er machte sich um das kleine Zelt herum zu schaffen, bereitete lautstark den schwarzen Tee und an guten Tagen einige wawatos. Er rezitierte lange Gebete, während er Wasser aus dem verfallenen, von Un kraut überwucherten Brunnen im Hof schöpfte. Dann machte er sich zum Betteln auf. Mit den letzten Son nenstrahlen kehrte er auf hurtigen Füßen ins Zelt zu rück, den Rücken gebeugt und das kostbare Bündel an die Brust gepreßt. Während sein Blick noch furchtsam prüfte, ob ihm jemand gefolgt war, ent lockte die Freude über die Beute ihm eine heitere Melodie. »Kommt zum Essen, Eure Heiligkeit!« rief er dann und faltete sein Bündel auf. Für gewöhnlich enthielt 14
es einige Krümel wawato, sauer gewordenen Reis oder angebissene Früchte. Eines Tages verkündete Luka von seinen Büchern aufblickend: »Seine Heiligkeit wird heute nicht es sen.« »Warum denn nicht?« »Seine Heiligkeit wird sich die Nahrung selbst be sorgen, schließlich ist er ein großer Junge von zehn Jahren.« »Aber Ihr müßt doch lernen, Eure Heiligkeit. Ihr seid schon jetzt mit Eurem Pensum im Rückstand.« »Ach, vergiß doch das Lernen! Von heute an werde ich losziehen und betteln.« »Aber das ist Eure Arbeit. Heilige Arbeit. Gesegnete Arbeit. Die Beste, die Ihr jemals für Euch, für Euer Volk und für mich tun könnt. Ich flehe Euch an.« Mit diesen Worten fiel Atami auf die Knie. »Mach dir keine Sorgen, ich werde einfach dop pelt so schnell lernen. Auf diese Weise kann ich Zeit gewinnen, um dir zu helfen.« »Aber die Spiritualität Eurer Studien kann nicht beschleunigt werden. Jedes Wort braucht seine Zeit. Jeder Satz hat Bedeutung und Gewicht. Nur durch stille, ungestörte Meditation könnt Ihr jene Erleuch tung erlangen, nach der wir alle streben.« »Wenn du mir nicht traust, dann prüf mich. Na los doch, probier es.« Atami erklärte sich einverstanden, denn das Ab fragen seines Schützlings gehörte zu seinen liebsten Aufgaben. Der Mönch stellte hundert Fragen, und 15
Luka beantwortete sie nicht nur zu seiner Zufrieden heit, sondern wies außerdem daraufhin, daß zwei der Fragen eigentlich überflüssig seien, und bat um zwei weitere, damit er das tägliche Pensum auch wirklich erfüllen könne. »Hervorragend, Eure Heiligkeit.« »Darf ich jetzt gehen?« »Auf keinen Fall.« »Und warum nicht?« »Keine Heiligkeit mußte je betteln gehen.« »Keine Heiligkeit ist je so hungrig gewesen.« »Was soll ich nur anstellen mit Euch? Ihr zeigt Anzeichen von Aufmüpfigkeit. Das ist kein gutes Zeichen, Eure Heiligkeit. Ihr selbst verkörpert die Tradition, also könnt Ihr Euch nicht einfach dagegen auflehnen. Und wenn Ihr es tut, so werde ich als tau sendfacher Sünder dastehen. Diese Schmach kann ich nicht auf mich nehmen. Bitte, bleibt zu Hause, lernt und laßt mich für Euch sorgen!« flehte Atami, den Tränen nahe. »Na gut. Wenn dir soviel daran liegt.« Doch am folgenden Tag schlich sich Luka, kaum daß Atami weg war, aus dem kleinen Zelt. Er streckte die faulen Glieder und nahm einen tiefen Zug der frischen Morgenluft. Oft schon hatte er aus einem Loch im Zelt gespäht und allmorgendlich Atamis Kutte verschwinden sehen, doch er kannte sich nicht aus und wußte nicht, wohin er die ersten Schritte sei ner neuen Freiheit lenken sollte. Mit einem Sprung über den Zaun verließ er den kleinen Hof und befand 16
sich alsbald in einer von Pekings Straßen. Lärm lockte ihn zu einem staubigen Marktplatz. Dort hockten Chinesen in traditionellen Gewändern – seitlich geknöpft und in der Taille von Stoffgürteln gehalten –, die sie um sich in den Staub gebreitet hatten, während sie zankten, feilschten, kauften und verkauften. Hier wurde mit allem gehandelt, was Luka sich vorstellen konnte. Nomaden boten Tierhäute und Lammbutter an. Bauern aus den Tälern verkauften wawato und Gemüse. Rotbekammte Hähne zerrten an ihren Fesseln, während sie auf zusammengebun denen Beinen herumhüpften. Rubinäugige Kanin chen knabberten Grünzeug in ihren Bambuskäfigen. Eine dicke Schlange, die um einen Holzpflock ge wunden war, zischte vorbeifliegende Adler an. Ge webte Teppiche leuchteten in den Farben von Wald und Gebirge. In rustikalen Gemälden war das Mur meln der Bäche eingefangen. Lebende Kühe muhten, während ihre toten Artgenossen als triefendes Frisch fleisch neben Stapeln von gegerbten Häuten hingen und zusammen mit Ziegenmilch, Ziegenknochen, Ziegenfett und dem kostbaren Ziegendung feilgebo ten wurden. Eine Schar nomadisierender Hirten aus den Ber gen des Nordostens stimmte eine lustige Tanzweise an und hopste auf hurtigen Füßen zu den Klängen eines vierseitigen Zupfinstruments namens pipa und der zweiseitigen Schoßgeige erhu. Ein Dutzend Bau ersfrauen in buntbedruckten Kleidern sang den Re 17
frain dazu. Kinder rannten im wirbelnden Staub zwi schen den Beinen der Männer umher, über Hühnerstäl le hinweg und zwischen käuenden Yaks hindurch, geradewegs an den wallenden Busen ihrer schimp fenden Berglermütter. Warum soll ich zu Hause sitzen, wenn hier jede Menge los ist? fragte sich Luka. Schließlich mußte er sein Handwerk erlernen, das Handwerk des Le bens. Er schaute links, dann rechts und entdeckte zwei Jungen, einer barfuß, der andere mit laufender Nase. Sie schlichen sich an einen bärtigen Händler heran, der dösend neben den Gestellen saß, auf de nen er vielfältige Pelze und Tierhäute zum Verkauf anbot. Der barfüßige Junge ließ die Hand in die Hüfttasche des Händlers gleiten und zog einen di cken Geldbeutel heraus. Die spitze Nase des Händ lers zuckte, er öffnete die Augen und wandte den trägen Kopf langsam dem kleinen Taugenichts zu, der ihn angrinste. »Was hast du hier zu suchen?« fragte der alte Mann und rieb sich die Nase. »Nichts«, erwiderte der Junge. »Dann verschwinde!« »Bin schon fort.« Damit schob er den Geldbeutel, den er hinter dem Rücken versteckt hielt, seinem Kameraden zu, der damit eilig in der Menge ver schwand, während er selbst langsam zurücktrat. Als auch er davonrennen wollte, entdeckte er Luka, der unfreiwillig Zeuge ihres Diebstahls geworden war, und machte ihm Zeichen, den Mund zu halten. 18
Der Alte, der sich inzwischen auf die Tasche ge klopft und das Fehlen des Geldbeutels bemerkt hatte, sprang auf, packte den Jungen und rief: »Du kleiner Dieb!« »Das ist eine gemeine Anschuldigung!« »Gib mir mein Geld zurück!« Er durchsuchte den Jungen, fand aber nichts. »Wasch dir deine schmutzige Zunge!« Der Alte verstärkte seinen Griff. Um die beiden begann sich eine Menschenmenge zu bilden. »Der Junge ist unschuldig«, bemerkte eine Frau. »Er ist schuldig!« sagte eine andere. »Er ist ein unverbesserlicher Dieb!« »Mir hat er neulich den Hahn umgebracht!« Der Alte zog einen kleinen Dolch hervor. »Ich schneide dir deine schmutzigen Finger ab, damit du sie nie wieder in anderer Leute Taschen steckst.« »Aber ich bin unschuldig!« schrie der Junge. »Ich glaube dir kein Wort.« »Schneid ihm die Finger ab, Laoren!« rief eine Stimme. »Mir hat er kürzlich eine Zwiebel gestoh len.« »Nicht schneiden! Ich hab dein Geld nicht gestoh len. Der da war es.« Der Dieb deutete auf Luka, der unweit von ihm stand. Laoren ließ den Dieb los und kam lächelnd zu Lu ka herüber. Die Menge folgte ihm. »Wo ist mein Geldbeutel?« »Ich habe ihn nicht genommen«, sagte Luka sehr vernehmlich. 19
»Du lügst. Du steckst mit dem da unter einer Decke. Stimmt’s, du kleiner Mogo-Bastard?« »Ich bin Chinese, nicht Mogo. Und ich bin kein Bastard. Ich heiße Eure Heiligkeit.« Der Händler griff nach Lukas Gesicht und preßte es zwischen seinen fetten Fingern. »Eure Heilig keit!« höhnte Laoren. »Habt ihr das gehört, Leute?« Die Menge lachte. »Das ist mein Name. Warum lacht ihr über mich?« schrie Luka ärgerlich in die Menge. »Was brüllst du so? Ich hab dir ja noch nicht mal die Finger abgeschnitten.« »Ich bin kein Dieb. Du kannst mich ja durchsu chen.« Das tat der Alte, indem er Luka auf den schmutzi gen Boden warf und gründlich betastete, im Schritt ebenso wie in den Achselhöhlen. »Ich hab doch gesagt, daß ich es nicht habe. Und jetzt laß mich gehen«, forderte Luka. »So einfach ist das nicht. Ich werde dich hierbe halten, bis du mir sagt, wo mein Geld ist.« »Aber ich bin unschuldig.« »Die Sonne wird es an den Tag bringen.« Laoren band Luka mit auf dem Rücken gefesselten Händen an seinem Pelzgestell fest. Luka stand mit geschlossenen Augen unter der sengenden Sonne und rezitierte seine auswendig gelernten Verse. Bald war er müde und durstig, und die Hände taten ihm weh. Laoren forderte ihn wiederholt auf, zu gestehen, und ohrfeigte ihn, wenn er sich weigerte. Luka wurde 20
immer zorniger, verwarf aber seinen ursprünglichen Plan, den Dieb zu verraten. Statt dessen stand er mit zugekniffenem Mund da. Schließlich döste der Alte wieder ein. Lukas Ge sicht war von Schweiß und Staub bedeckt. Er rezi tierte mit trockenem Mund und geschlossenen Au gen und ließ die Welt nicht an sich heran. Als die Sonne sank, kehrten die beiden Diebe zurück. Sie schlichen von hinten an den Händler heran, banden Luka los, und bevor der alte Mann erwachte, mach ten sich die drei in eine entfernte Ecke des Marktes davon. »Was ich getan habe, tut mir leid, aber du hast dir soeben zwei gute Freunde erworben«, sagte der bar füßige Junge und streckte Luka seine schmutzige Hand entgegen. Dieser sah den Dieb scharf an, bevor er sich wie ein kleiner Tiger auf ihn stürzte. »Leid tun? Wir wollen sehen, wem hier was leid tut!« rief Luka, während er den anderen schlug und biß. »Was soll denn das?« fragte der Junge, der etwa in Lukas Alter war. »Schließlich hat er mir beinahe die Finger abge schnitten für die Sünde eines Diebstahls, die in Wahrheit du begangen hast!« »Sünde?« fragte der mit der Triefnase. »Was ist Sünde?« »Wenn man etwas Verbotenes tut«, antwortete Luka. »Ach ne. Was Verbotenes tun«, höhnte der Dieb. 21
»Wer bist du, daß du so mit mir redest? Ich bin Eure Heiligkeit.« »Geschenkt. Ich auch.« »Warum hast du mir das angehängt?« »Um meine eigenen Finger zu retten.« »Du bist ein sündhafter Junge!« »Wenn du weiterhin dieses Wort verwendest, muß ich dir weh tun.« »Und ich gehe jetzt nach Hause und wünsche, dich weder in diesem noch im nächsten Leben wiederzu sehen.« »In diesem oder im nächsten Leben. Bist du wirk lich ein kleiner Mönch, Eure Heiligkeit?« fragte der Größere von den beiden. »Zumindest redet er so«, warf der Kleinere ein. »Komm zurück!« rief der Größere Luka nach, als dieser sich zum Gehen wandte. »Bist du denn nicht hungrig?« Luka machte auf dem Absatz kehrt. »Sehr.« »Hier, nimm das Geld, und kauf dir und deiner Familie ein Dutzend wawatos.« Er zog eine große Banknote aus dem gestohlenen Geldbeutel und reich te sie Luka. »Ein Dutzend?« wiederholte dieser ehrfürchtig. »Vielleicht sogar mehr. Ist schließlich schon spät.« Luka war stark in Versuchung. Ein Dutzend! Ein weggeworfenes halbes wawato war für Atami schon Grund zum Singen und zum Tanzen, wenn er sein Bündel entfaltete. Doch dann fiel Luka der Vers aus den Schriften ein, der das Annehmen von 22
Diebesgut verbietet. »Ich kann es trotzdem nicht annehmen.« »Und warum nicht?« »Auch das wäre Sünde.« »Bruder, wenn man den quatschen hört, müßten wir mit Familiennamen Sünde heißen.« Beide lachten. »Lebt wohl«, sagte Luka kurz angebunden. »Auf bald«, erwiderte das Paar. »Das Geld gehört dir. Eure Heiligkeit kann es sich jederzeit abholen. Wir stehen in deiner Schuld.« An jenem Abend maßregelte Atami Luka zum ers ten Mal. Er hatte sich, nachdem er heimgekommen war und Luka nicht vorgefunden hatte, schreckliche Sorgen gemacht. Überzeugt, daß der Junge entführt worden sei, wollte er eben in die Stadt zurückeilen, als Luka verschwitzt, schmutzig und voller Schram men ins Zelt gestolpert kam. Atami war ratlos. Nachdem er den verstörten Jungen aufsein Lager gebettet hatte, brach Atami in Tränen aus und betete. »Wie leicht hätte ich ihn verlieren können, meinen verletzlichen kleinen Kaiser. Was soll ich nur tun? Ich kann ja nicht immer an seiner Seite sein. Bitte, himmlischer Buddha, gib mir ein Zeichen!« Er kroch zu seinem kleinen Schrein, entschlossen, im Gebet zu verharren, bis er ein Zeichen erhalten würde. Doch bald erfaßte ihn Müdigkeit, und er schlief ein. Schuldgefühle weckten ihn kurz darauf, und er mur melte: »Keine Antwort, kein Schlaf.« Jedesmal, wenn er einzunicken drohte, weckte er sich mit einem brennenden Räucherstäbchen, das er 23
sich in den Unterarm bohrte. Doch schon bald wirkte selbst dieser Schmerz nicht mehr, und friedlich schnarchend ließ er den brennenden Weihrauch auf ein Stück Papier sinken, das sich alsbald entzündete. Vom Rauch aufgeschreckt, schlug er die Flammen mit der flachen Hand aus. Als er seine Hand von dem verkohlten Papier wegzog und die Asche abwischte, fiel sein Blick auf eine Zeichnung, die Luka in einem seiner Tagträume angefertigt haben mußte. Auf der Insel unverbrannten Papiers war ein tanzender Mönch zu sehen – ein Bein hochgeschwungen, die Arme seitlich weggestreckt –, ganz so, wie es im Buch der Himmlischen Freuden geschildert wird. Die Augen waren ihm zu groß geraten, die Ohren zu lang, aber das Gesicht drückte echte Begeisterung aus. »Danke, Buddha!« rief Atami. »Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: seinen Geist beruhigen und seinen Körper wehrhaft machen.« Atami faltete das Papier zusammen und steckte es in die Tasche. Dann blies er die Kerze aus und verfiel augenblicklich in lautes Schnarchen. Am nächsten Morgen aber weckte Atami Luka noch vor Sonnenaufgang. »Die Sonne ist doch noch gar nicht da«, murmelte der erschöpfte Junge. »Wir haben neue Lektionen durchzunehmen, und die bringen wir nur dann in Eurem Stundenplan unter, wenn wir früher aufstehen.« »Was für Lektionen?« 24
»Übungen, die Eure Seele reinigen und Euer Tem perament zügeln.« Luka gähnte. »Willst du ein weiteres Buch über Geschichte oder Kultur auf meine Leseliste setzen?« »Nein, ich werde Euch etwas beibringen, das Euch in Euren Studien weiterbringen wird.« Lukas kleiner Mund verzog sich mißmutig. »Klingt langweilig.« »Ganz im Gegenteil. Ich werde Euch im Kung Fu der legendären Xi-ling-Schule unterweisen.« Da blieb Luka vor Erstaunen der Mund offenste hen. Seine Schläfrigkeit war wie weggeblasen. Statt dessen überzog ein breites, ungläubiges Lächeln sein Gesicht. »Du meinst Shaolin-Kung-Fu, wu-xia, cha cha-cha hai-ya Kung Fu?« sprudelte es nur so aus Luka hervor, während er mit Fäusten und Füßen die Luft bearbeitete. Atami war verblüfft, wie vertraut das Kind mit solch weltlichen Dingen war. »Wo habt Ihr denn wieder davon erfahren?« »Oh, das steht im Buch der Übel.« Luka schlug die Augen nieder und schielte von unten treuherzig zu dem Mönch hinauf. »Das Buch der Übel hat den Zweck, die Leser vor dem Bösen zu warnen. Ihr aber scheint Vergnügen an der Lektüre zu finden.« Wieder senkte Luka schuldbewußt den Blick. Atami seufzte und sagte energisch: »Hier geht es nicht darum, Eure kindischen Grillen zu befriedi gen, sondern um die himmlische Lösung eines irdi 25
schen Problems. In der vergangenen Nacht wurde mein verzweifeltes Gebet erhört. Selbst kleine Ver irrungen bedürfen großer Korrekturen. Versteht Ihr mich?« »Ja, ich verstehe«, erwiderte Luka. »Doch wer wird bei diesen neuen Lektionen mein Lehrer sein?« »Euer ergebener Diener«, sagte Atami mit einer Verbeugung. »Du?« fragte Luka verwundert. »Jawohl, Eure Heiligkeit.« »Aber, du bist doch …« Luka suchte nach dem rechten Wort. »Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, wie wir das Feuer überlebt haben, bei dem die anderen dreißig Mönche umkamen? Kung Fu ist ein Geschenk Budd has. Ein freundlicher Mönch vom Xi-ling-Gebirge, Meister Gulan, nahm mich bei sich auf und unterwies mich in seiner geheiligten Kunst, und zwar nicht weil ich stark war, sondern weil ich schwach war.« »Das hast du mir nie erzählt.« »Ich hatte nicht vor, Eure Heiligkeit über meine bescheidenen Fähigkeiten in Kenntnis zu setzen. Ich habe Buddha gegenüber das Gelübde abgelegt, diese Kunst nur einzusetzen, um Euch zu verteidigen und uns ein friedliches Leben zu sichern. Wenn ich sie an Euch weitergebe, dann handle ich im Sinne dieses Gelübdes, denn das Ziel der Unterweisung ist rein spiritueller Art. Die körperliche Anstrengung wird Euren Kopf leichter machen und Euer Herz reinigen. Buddha hat mir den Weg gewiesen.« 26
»Wann fangen wir mit den Übungen an?« Luka zappelte schon vor Ungeduld. »Noch nicht. Es gibt ein paar Dinge, die wir be denken müssen, bevor die Reise beginnt.« »Was immer die Regeln sind, ich werde gehor chen.« »Tut dies von ganzem Herzen und schwört es bei Eurem Leben.« »Das tue ich.« »Gut. Und jetzt kleidet Euch an.« Er warf Luka eine dünne weiße Kutte zu. »Ich habe sie genäht, während Ihr schlieft. Tragt sie von nun an zu den Übungsstunden.« Nachdem Luka sie übergestreift hatte, sah er prü fend an sich hinunter. »Paßt genau. Vielen Dank, Atami.« »Nicht der Rede wert, Eure Heiligkeit. Ich habe sie aus meinem Laken geschneidert.« »Kein Wunder, daß sie so weich und geschmeidig ist. Aber womit deckst du dich jetzt zu?« Atami war gerührt. »Denken wir erst einmal an Euch. Laßt uns beginnen.« Luka sprang aus dem Zelt und schauderte fröstelnd zurück. »Es ist aber viel zu kalt draußen.« »Daran werdet Ihr Euch gewöhnen.« Luka schlang die Arme um sich und hatte seine Zweifel. Sie gingen zu einer Lichtung, die jenseits des höl zernen Gatters ihres Hofes lag. Der Mond hing in winterkahlen Bäumen und neigte sich bereits gäh 27
nend nach Westen. In der Ferne heulte ein einsamer Wolf der schwindenden Nacht einen traurigen Abge sang nach, während der Wind durch Lukas dünne Kutte fuhr. Bänglich zupfte Luka an Atamis Kutte. »Warnt uns denn der Meister nicht vor jeglicher Gewaltan wendung und befördert das Wohlwollen unter allen Lebewesen?« »Wer redet denn von Gewaltanwendung? Kung Fu wurde entwickelt, damit wir unseren Geist trans zendieren und unsere Triebregungen beherrschen lernen. Und jetzt wollen wir niederknien und Meis ter Gulan ein Gelübde ablegen.« Atami ließ sich auf die Knie nieder, und Luka kniete sich ihm gegen über hin. »Meister Gulan, du hast das Vermächtnis des jin gong an mich weitergegeben«, betete Atami. »Heute möchte ich dir den künftigen Kaiser von China vor stellen, den ich als einzigen für würdig erachte, die Traditionen unserer Kunst und die Reinheit der Seele weiterzutragen. Ohne ihn würde dein Erbe nicht wei tergeführt werden. Im folgenden wird Seine Heilig keit geloben, seine Kenntnis des jin-gong so lange nicht weiterzugeben, wie ich, sein Meister, am Leben bin.« Luka wiederholte das darauf folgende Gelübde Wort für Wort. »Jedesmal wenn ich einem Gegner gegenüberstehe, laßt mich immer und ausschließlich das Gesicht Buddhas vor Augen haben«, fuhr Atami fort. »Und jedesmal wenn ich meine demütigen, schmutzigen 28
Hände erhebe, soll dein Prinzip der Toleranz meine wirksamste Waffe sein.« Luka hielt im Nachsprechen inne und fragte: »Be deutet das, daß ich niemandem weh tun kann, ohne unserem Buddha weh zu tun?« »Genau das«, entgegnete Atami lächelnd. »Und jetzt beginnen wir mit Lektion eins: die Pferde-Position.« Er stellte sich breitbeinig hin und ging in die Knie. Luka tat es ihm nach; er hockte mit gespreizten Beinen, als ritte er auf einem Pferd. Der Mönch run zelte die Stirn und schüttelte den Kopf, während er prüfend um den Jungen herumging. »Warum hat Euer Pferd einen so dicken Bauch?« Luka zog den Bauch ein. »Jetzt hat es einen Hängehintern.« Atami zog ihn am Kragen ein wenig nach oben. »Aha, so ist es rich tig. So müßt Ihr bleiben. Ich gehe jetzt ins Zelt, um meine Arbeit zu tun.« »Und was ist mit mir?« »Ihr wartet bis Sonnenaufgang.« »In dieser Haltung?« wollte Luka wissen. »Ja, Eure Heiligkeit. Mit der Zeit werdet Ihr mer ken, wie Ihr Euch im Boden verwurzelt.« »Mir ist aber kalt.« »Wenn Ihr das Pferd im Galopp haltet, so wird Euch bald genug der Schweiß ausbrechen, nur dürft Ihr es nicht in Schritt fallen lassen.« Mit diesen rät selhaften Worten überquerte Atami den Hof und ver schwand im Zelt. Durch die dünne Zeltwand war alsbald seine kniende Gestalt zu erkennen. 29
Nicht lange und Luka begann zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Seine Arme wurden bleischwer, und die Beine schmerzten. Nie hätte er gedacht, daß Kung Fu mit soviel Schmerzen verbunden sei. Die Beschreibungen, die ihn im Buch der Übel so faszi niert hatten, waren voll gewesen von Lobeshymnen über die Heldentaten der Kung-Fu-Kämpfer: wie die Meister Felsbrocken zerteilten, Wände hochgingen, über Dächer flogen. Niemand hatte jedoch von dieser Pferde-Position gesprochen. Sein ganzer Körper zitterte ohne Unterlaß, und der Rücken tat ihm weh. Der Bauch trat vor, die Wirbel säule erschlaffte. Atamis Ermahnungen im Ohr, zog Luka erneut den Bauch ein und hielt sich eine Weile so. Galoppieren? Verwurzeln? Was hatte er damit gemeint? Nie zuvor hatte sich Atami so rätselhaft ausgedrückt. Luka ließ seine Gedanken schweifen und stellte sich vor, er säße auf einem richtigen Pferd, einem Schimmel. Aus Schritt wurde bald Ga lopp, der den sandigen Staub zu ihren Füßen aufwir belte. Luka spürte, wie sich die Muskeln des Tieres spannten und dessen Stärke auf ihn überging. Sie wurden eins in ihrer wilden Jagd, und Luka fühlte, wie Wärme ihn durchströmte. Atamis schwielige Hände tippten ihm auf die Schulter. »Eure Heiligkeit, die Sonne ist aufgegan gen. Ihr habt es geschafft.« »Ja, sogar geschwitzt habe ich!« »Habt Ihr denn auch ein Gefühl der Verwurzelung empfunden?« 30
»Ich weiß nicht recht. Ich habe mir vorgestellt, auf einem Pferd zu sitzen und eins mit ihm zu werden.« »Ja, dann wart Ihr verwurzelt«, erklärte Atami vol ler Befriedigung. »Das Pferd war Eure Wurzel.« Luka schüttelte verwundert den Kopf. »Warum ist Verwurzelung so wichtig?« »Wenn Ihr verwurzelt seid und jemand Euch an stößt, dann werdet Ihr zwar wanken, aber nicht um fallen.« Das Textstudium fiel ihm an diesem Tag unge wöhnlich leicht. Luka hatte den Eindruck, sein Geist sei ein ausgetrocknetes Meer, das einen Himmel vol ler Regengüsse aufnehmen könnte, ohne auch nur zu rülpsen. Und die Tagträume, die sich für gewöhnlich mit sinkender Nachmittagssonne einstellten, wurden diesmal ersetzt durch freudige Erwartung auf den morgigen Tag. Am nächsten Morgen weckte Atami ihn sogar noch früher. Diesmal war die Katzen-Position an der Reihe. »Ein Pferd ist schwergewichtig, eine Katze dage gen leicht; sie ist immer zum Schlag bereit.« Atami schob Lukas Füße nahe zueinander. »Versetzt Euch in eine Katze mit behenden Pfoten«, sagte er und kehrte versonnen wieder ins Zelt zurück. Als er zurückkam, um den Sonnenaufgang zu ver künden, fragte er: »Fühlt Ihr Euch jetzt wie eine Kat ze?« »Wie eine Wildkatze aus den Bergen«, erwiderte ein schweißüberströmter Luka. »Ich bin über Eure Fortschritte sehr erfreut.« 31
»Und was lerne ich morgen?« »Morgen werdet Ihr lernen, Euer qi, die innere Energie, zu entwickeln. Ohne qi seid Ihr kraftlos.« An jenem Tag schwebte Luka wie ein Adler durch die schwierigsten Passagen seines Lesepensums. Ob gleich ihm Arme und Beine weh taten, empfand er den Schmerz als angenehm, als einen Vorgeschmack auf die aufregende Welt der Freiheit, die jenseits der Bücher lag. Am dritten Tag füllte Atami zwei Stoffsäcke mit Sand und band sie Luka an die Beine. »Von nun an werdet Ihr mit diesen Säcken leben, als wären sie Teil Eures Körpers.« Luka tat ein paar Schritte. »Die sind aber schwer.« »Nein. Längst nicht schwer genug«, entgegnete Atami. »Ich verspreche Euch, daß ich mehr Sand ein füllen werde, sobald Eure Kräfte gewachsen sind.« Die zehn Pfund Sand fühlten sich bald an wie hundert, und ihr Gewicht schien noch größer zu wer den, als Atami Luka befahl, auf eine niedere Stein mauer hinauf- und wieder hinunterzuspringen. Schmerz schoß ihm durch die Beine bis hinauf in die Eingeweide, so daß selbst der Gang auf den Abtritt ihm Qual bereitete. »Inwiefern können diese Sandsäcke mir helfen?« erkundigte sich Luka. »Ganz einfach: Sobald Ihr sie losseid, könnt Ihr fliegen.« Das spornte Luka noch mehr an. Der Mönch behielt immer im Auge, daß diese 32
Übung nur Mittel zu einem geheiligten Ziel war. Als er mehr Sand nachfüllte, erhöhte er zugleich das täg liche Lesepensum. Doch die körperliche Erschöp fung schien die geistigen Kräfte und Gelüste des Jungen nur weiter zu steigern. Nach lediglich sechs Monaten befand Atami Luka nicht nur reif für das Studium der geheiligten Philosophie, das sonst den Geist eines wesentlich älteren Schülers voraussetzt, sondern auch für die Lektionen der tie-sha-zhang, der Eisernen Sandhand. Atami beschaffte zwei Schubkarren voll feinem Sand und befahl Luka, seine ausgestreckten Finger hineinzustoßen. Lukas Nägel brachen, seine Haut schälte sich, die Fingerspitzen bluteten. Dennoch be griff er, daß gerade der Schmerz eine Herausforde rung für seinen Glauben darstellte. Die härteste Prüfung kam, als Atami eines Tages den Sand erhitzte. Doch Luka bohrte seine Finger mit um so größerer Entschlossenheit hinein. Atami nickte still vor sich hin, während ihm Tränen in die Augen traten. Die spielerische Eleganz und Flinkheit des Jungen erinnerte ihn an seinen alten Meister, Gu lan, und die Essenz des Xi-ling-Stils. Luka würde der vollkommene Bewahrer dieses Erbes sein. Doch wäre dieses Erbe auch gut für ihn? Solche Fähigkeiten würden ihn unweigerlich in Gefahr bringen. Seit Beginn des Trainings hatte sich Lukas Appe tit vervierfacht. Atami war bekümmert, daß er of fenbar nie genug Nahrung heranschaffen konnte, um den jungen Tiger satt zu bekommen. Auf seiner täg 33
lichen Suche nach Eßbarem blieb er nun um so län ger aus. Eines mondlosen Abends kehrte Atami humpelnd zurück und brach zusammen, kaum daß er das Zelt erreicht hatte. »Was ist mit dir?« fragte Luka, während er Atami stützte. »Macht Euch keine Sorgen um mich. Sorgt Euch lieber um Euch selbst, Eure Heiligkeit. Ich fürchte, heute werdet Ihr nichts zu essen bekommen. Die Hunde der Mogo-Garnison haben unsere Mahlzeit geraubt und mich in die Knöchel gebissen. Ich kehre mit leeren Händen zurück und werde wohl auch morgen nicht losziehen können, wenn die Bißwun den nicht rasch heilen. Bitte vergebt mir.« Am nächsten Morgen stand Atami nicht auf. Er erwachte nicht einmal, als die Sonne seinen knochi gen Hintern beschien. Luka schüttelte ihn, doch Atami öffnete bloß kurz die Augen, um sie sofort wieder zu schließen. Der Mönch fühlte sich heiß an, und seine Beine waren rot und geschwollen wie Baumstämme. Luka beschloß, daß dies nicht der richtige Tag für das Textstudium sei. Statt dessen erinnerte er sich der einzigen Menschen, die er kannte, und machte sich auf den Weg zum Markt platz, wo er bald die beiden grinsenden Taugenicht se entdeckte. »Schau mal, wer da kommt!« rief der größere Junge. »Eure Heiligkeit«, sagte der Kleine hämisch. »Willste zu uns?« fragte der Große. 34
»Ja.« »Hat ja ‘ne Ewigkeit gedauert. Immerhin kennen wir dich noch. Muß dein Glückstag sein. Gewöhn lich sind wir nämlich beschäftigt, aber heute gön nen wir uns einen freien Tag«, erklärte der Große und sah zu seinem Kumpel hinüber, der zustim mend nickte. »Ein lang ersehnter Ferientag. Wozu hat man Geld, wenn man sich damit nicht mal’n bißchen Ruhe für die eigenen Schmutzfüße kaufen kann?« »Hast du auch einen Namen?« fragte Luka. »Ich heiße Mahong. Das bedeutet ›Großfuß‹.« Zur Bekräftigung wühlte er mit den Zehen im Schlamm. »Und ich bin sein Bruder Mahing, ›die Nase‹.« Dabei wischte sich der kleine Kerl den tropfenden Rotz ab. »Mahong und Mahing.« Mahong nickte. »Leicht zu merken, was? Diesseits der Berge sind wir ein unschlagbares Paar. Ist dir zu helfen?« »Ich brauche das Geld, das ihr mir damals angebo ten habt. Ihr sagtet, ich könnte es jederzeit haben.« »Damals war es noch sündhaft. Jetzt etwa nicht mehr?« »So könnte man es ausdrücken, Mahong.« »Und was hast du damit vor?« erkundigte sich Mahong, während er Luka einige Banknoten hinzählte. »Was mir so in den Sinn kommt.« Darauf entriß ihm Mahong das Geld wieder. »Au genblick mal. Es gibt da ein paar Dinge, die du nicht 35
tun solltest. Du bist noch zu jung zum Rauchen und noch zu klein für das Glücksspiel.« »Ich hatte weder das eine noch das andere vor.« »Gut. Wenn es soweit ist, dann will ich dir persön lich ein paar Tricks zeigen.« Er zog eine Pfeife aus der Tasche und steckte sie sich in den Mund. Mahing stopfte sie mit einer Prise Tabak und gab ihm Feuer. Abwechselnd zogen sie daran. »Willste auch mal?« »Nein.« »Wie wär’s mit ‘nem Schluck?« Mahing zog eine kleine Schnapsflasche hervor. »Der Beste, der für Geld zu haben ist.« Er entkorkte die Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Sein Gesicht verzog sich schmerzvoll, als er ihn hinunterwürgte. »Ah. Das ist himmlisch, Eure Heiligkeit.« »Wie alt seid ihr beiden?« fragte Luka, den dieses lasterhafte Benehmen abstieß. »Gut über zwanzig, zusammengenommen«, rech nete Mahong. »Kommt etwa hin«, nickte Mahing benommen. Dann rülpste er. Das Trio schlenderte zu den belebten Verkaufs ständen, wo Luka wawatos und Obst kaufte. »Ich kann das für dich tragen«, erbot sich Mahong. »Nicht nötig«, sagte Luka. »Und ich kann auch al lein nach Hause gehen.« »Wir begleiten dich«, sagte Mahing. »Habt ihr kein Zuhause, wo man auf euch war tet?« 36
»Hatten wir nie«, erwiderte Mahong achselzu ckend. »Und werden wir auch nie haben«, ergänzte Ma hing und zuckte ebenfalls mit den Schultern. »Dann habt ihr also kein Zuhause?« »Muß ich denn alles zweimal sagen?« stöhnte Mahong. »Kommt mit zu mir.« »Ist das dein Ernst?« Luka nickte in der Hoffung, daß Atami nichts da gegen haben würde. Aber Atami konnte gar nicht. Sein Fieber war noch immer hoch, und er wälzte sich phantasierend auf seinem Schaffell, wobei er abwechselnd rezitierte und vor Schmerz stöhnte. »Nettes Plätzchen«, kommentierte Mahong, wäh rend er ins Zelt kroch. »Wir sollten uns auch so’n Dach überm Kopf besor gen«, meinte Mahing. »Was ist mit deinem Vater?« »Er ist nicht mein Vater.« »Wer ist er dann?« »Mein Diener.« »Dein Diener? Klar, und ich bin der Kaiser von China.« »Einer von den Militärhunden hat ihn gestern ge bissen, als er was zu essen besorgen wollte.« Mahong, der Gewitztere der beiden, überlegte blinzelnd. »Da weiß ich ein Mittel.« »Aber du bist doch kein Doktor«, gab Mahing gleich zu bedenken. 37
»In dem Fall schon. Ich bin auch mal von einem Hund gebissen worden. Weißt du noch? Damals hat ten wir tagelang nichts zu essen.« »Was ist das für ein Mittel?« fragte Luka. »Morgen werde ich es für dich besorgen.« »Aber vielleicht stirbt er heute nacht!« rief Luka. »Na, na, so schnell stirbt man nicht. Schau mich an. Bei mir ist auch erst Tage danach was passiert. Ich dachte schon, ich sei auf dem Weg ins nächste Leben, als plötzlich das Wunder geschah.« »Welches Wunder?« »Warf s ab, morgen wirst du es sehen.« Die drei aßen sich satt und hielten abwechselnd Wache bei dem kranken Mönch. Am nächsten Tag machte sich Mahong in aller Frühe auf und kam mit einem zugedeckten Bambus körbchen zurück. »Wie geht es ihm?« »Er schläft noch.« »Gut.« Mahong zog eine grüne Schlange aus dem Korb und packte sie kurz hinter dem Kopf. Er hielt die zi schelnde Schlange dicht an den rechten Knöchel des Mönchs. Das Tier biß zweimal zu, dann erschlaffte es in seiner Hand. »Ein Glück, Mahing, daß ich die richtige Schlange erwischt habe«, erklärte Mahong. »Dieselbe Sorte, die mich damals gebissen hat.« »Willst du damit sagen, daß du dir nicht sicher warst, ob es die richtige ist?« »Das kann man erst wissen, wenn sie schlaff wird. 38
Diese Art von Schlange stirbt, sobald sie ihr Gift ver spritzt hat.« »Du hast Atami Gift gegeben?« fragte Luka ent setzt. »Was glaubst du denn, was das war? Ein Kuß?« »Du hast mir nicht gesagt, daß es Gift war. Jetzt wird er sterben!« »Glaub mir, das wird er nicht«, versicherte Ma hong mit der Miene des erfahrenen Arztes, während er die tote Schlange zu Boden warf. »Wenn wir nichts unternommen hätten, dann wäre er gestorben. Auf diese Weise bin auch ich geheilt worden. Ich lag da im Gras und wartete auf den Tod, als eine Schlange, genau wie diese, kam und mich gebissen hat. Am nächsten Tag war ich wieder genauso putzmunter wie Mahing. Stimmt’s? Und du hattest schon einen Sarg für mich vorbereitet, was, Mahing?« »So war’s. Mag gar nicht dran denken«, bestätigte der Kleine schaudernd. »Alte Heulsuse! Ich versuch diesem Kerl hier doch bloß klarzumachen, daß er sich keine Sorgen um seinen Diener zu machen braucht. Morgen bei Sonnenaufgang ist er wieder kerngesund. Kannst mir glauben.« Also warteten sie und nahmen ihr Abendessen gemeinsam im Zelt ein. Mahong wollte rauchen, doch Luka scheuchte ihn hinaus. Daraufhin verlegten sich die beiden Diebe auf den Alkohol und schliefen schnarchend und ineinander verknäult wie junge Hunde bis zum Sonnenaufgang. 39
So erblickte sie Atami, als er am Morgen die Au gen aufschlug. »Was ist mit mir geschehen?« fragte er Luka. »Und wer sind die da?« »Du wärst beinahe gestorben. Der Große ist dein Arzt.« »Mein Arzt?« »Ja, siehst du die Schlange dort? Das war deine Medizin. Sie hat dich gebissen.« »Schlangengift, um den Biß eines infizierten Hun des zu heilen?« »Ich mußte etwas unternehmen.« Atami inspizierte seine Wunden. Sie waren bei nahe geheilt, die Schwellungen zurückgegangen. Er fühlte sich wie nach einem erfrischenden Schlaf. Sorgfältig untersuchte er die tote Schlange, dann konsultierte er einen dicken Band über chinesische Medizin und erfuhr dort, daß dies ein selten ange wandtes Mittel sei, da der Patient häufig an der Be handlung sterbe. Bekam er zu wenig Gift, so starb er an Blutvergiftung, erwischte er zuviel davon, so würde es die Knochen in Fäulnis versetzen und die Haut zerstören. »Da hätte ich ja gleich zweimal sterben können!« rief der Mönch. »Statt dessen wurdest du gerettet«, erwiderte Ma hong, der eben aufgewacht war. Atami schloß die drei Knaben in die Arme, herzte sie und küßte einen jeden auf die Stirn. »Vielen Dank, daß ihr mich gerettet habt. Ihr wißt gar nicht, was ihr getan habt.« 40
»Wir tun, was wir können, um einem Diener das Leben zu retten«, erklärte Mahong. »Wie kann ich euch jemals entlohnen?« fragte Atami. »Mach uns einen Oolong-Tee«, verlangte Mahing. Der Mönch lächelte und bereitete den stärksten Oo long für Seine Heiligkeit und die beiden Taugenicht se.
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Nur allzubald wurde die Bücherweisheit von tausend Jahren von den Possen zweier unbedarfter, barfüßiger, rotz nasiger Rabauken verdrängt. Luka sagte sich, eine kurze Pause in seinen Rezitationen könne niemandem schaden, und traf seine Freunde vor dem Zelt. Zur Begrüßung stürzten sie sich auf ihn und warfen ihn in den Schmutz, was er sich nur zu gern gefallen ließ, denn er liebte diesen rauhen Um gang. »Warum tut ihr das?« erkundigte sich Luka eines Tages. »Ringen? Alle chinesischen Männer lieben das. Genau wie rülpsen«, erklärte Mahong. Prompt ließ Mahing einen statten Rülpser hören. »Siehste, der kann das auf Stichwort, sogar im Traum.« »Respekt! Aber jetzt muß ich lernen, Freunde.« »Was um Himmels willen mußt du denn lernen?« fragte Mahong. 42
»Hat das was mit diesem Heiligkeits-Scheiß zu tun?« fügte Mahing hinzu. »In gewisser Weise, aber vor allem ist es wichtig für mich.« »Sind wir etwa nicht wichtig?« gab Mahong zu rück und bohrte mit den Zehen im Dreck. »Das seid ihr schon.« Solchermaßen bestätigt, sprangen sie ihn erneut an, umhalsten ihn und hängten ihm Gerüche an, die er nicht kannte. Nur zwei davon waren ihm seit neuestem vertraut: Fusel und billiger Tabak. »Du meine Güte!« rief Luka und fächelte sich Luft zu. »Euer Atem könnte einen Hund töten.« Das Duo zuckte mit den Schultern. »Heute werden wir dir was Neues zeigen«, ver sprach Mahong. »Und was ist das?« »Wo man am besten stiehlt, um seinen Lebensun terhalt zu sichern, das hatten wir schon.« »Auf dem Markt?« »Nicht schlecht«, lobte Mahong. »Heute zeigen wir dir, wie man sich eine Mahlzeit erbettelt.« »Das ist gut, dann kann ich Atami helfen.« »Ist dir aufgefallen, daß ich beim Stehlen von ›Le bensunterhalt‹ sprach, während betteln allenfalls für eine Mahlzeit gut ist?« »Das verstehe ich nicht.« »Kann ich dir nachsehen. Der Kopf Eurer Heilig keit ist eben mit diesem heiligen Mist zugemüllt. Was 43
ich sagen will ist folgendes: Stehlen ist ein Beruf, während man zum Betteln allenfalls durch Sach zwänge genötigt wird.« »Allenfalls«, echote Mahing. »Na gut, und jetzt zeigt mir wo.« »Warum so eilig?« fragte Mahong. »Denk dran: Dem Stehlen ist immer der Vorzug zu geben. Betteln tut man nur, wenn einem nichts anderes übrigbleibt.« »Aber wieso?« »Wieso? Weil Betteln was für Verlierer ist«, sin nierte Mahing. »Weißt du, wie viele Bettler wir hier in der Stadt haben?« »Wie viele?« fragte Luka. »Tausende«, erwiderte Mahing. »Und weißt du, wie viele sich wegen einer verrot teten Lammkeule den Kopf einschlagen, die Beine brechen und die Finger abschneiden lassen?« fragte Mahong. »Wie viele?« »Jeder einzelne von ihnen. Überzeug dich selbst, wenn du mir nicht glaubst.« Er deutete auf Mahing, der den Rücken entblößte und eine lange, tiefe Narbe zeigte. Ein Bruder lieferte die Theorie, der andere das Anschauungsmaterial. In der Tat ein ideales Paar. »Wie ist denn das geschehen?« »Messerwurf an einem heißen Sommertag«, sagte Mahong. »Nichts, was man ein zweites Mal erleben möchte.« Mahing nickte bestätigend. »Du meine Güte.« 44
»Das kannst du laut sagen. Aber damit ist jetzt Schluß. Inzwischen sind wir Diebe. Klingt das nicht gut? Diebe.« Mahing kniff genüßlich die Augen zu sammen. »Ja, wir sind Piraten ohne Schiff«, fügte Mahong hinzu. Luka konnte nicht umhin, diese faszinierenden Charaktere weiter zu erforschen. »Aber was findet ihr so gut daran, anderen Leuten ihr Eigentum weg zunehmen?« »Es ist mehr als das, wesentlich mehr. Dazu bedarf es gewisser Fertigkeiten, man muß gewitzt sein und die richtige Zeit abpassen, aber vor allem braucht man Mut. Wenn du bettelst, kriegst du bloß, was dir gegeben wird. Beim Stehlen dagegen nimmst du dir, was du magst«, sagte Mahong. »Das ist echt tiefsinnig, Mahong. Darüber habe ich nie nachgedacht«, sagte Mahing staunend. »Tja, wir ergänzen uns eben, nicht wahr?« sagte Mahong. »Das tun wir.« Luka wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Die vor lauter Durchtriebenheit berstenden Köpfe hat ten offenbar nie bedacht, wie sündhaft ihr Tun war und welch schreckliche Strafen sie auf den lodernden Stufen zur Hölle erwarteten. Das Leben war für sie ein einziger Spaß. Sie stolperten hindurch wie zwei frohgemute Helden, erfüllt von Abenteuergeschichten, laut lachend und gegen den Wind spuckend, der ihnen die Spucke prompt ins Gesicht zurückklatschte. 45
Schweigend folgte er ihnen durch die Hauptstraße und über den Marktplatz. Unterwegs vergriffen sich die beiden an einem Gemüsestand, dessen Besitzer ihnen einen Eimer Wasser hinterherschüttete, und kitzelten die schlaffen Zitzen einer Mutterziege, die heftig ausschlug. Nicht für einen Augenblick konn ten sie die Finger stillhalten. Endlich verlangsamte Mahong seinen Schritt. »Das ist die Mogo-Garnison«, flüsterte er. Die drei standen der Größe nach aufgereiht und starrten. Es war, als wäre ein sagenhaftes Königreich vom Himmel an diese staubige Straßenecke Pekings gefallen, so fremd und fehl am Platz wirkte das Ge bäude. »So!« Luka holte tief Luft. Vor ihnen erhob sich eine Mauer aus massiven Steinquadern. Das Eingangstor war verschlossen, die schweren Türflügel wirkten wie fest zusammen gepreßte Lippen. Zu beiden Seiten hockten Löwen; sie waren kein Willkommensgruß, sondern hüteten mit einem wütenden Knurren im steinernen Gesicht die Geheimnisse des Anwesens. Auf der Mauerkrone patroullierten, teilweise hinter Bewehrungen aus Ei senspitzen verborgen, bewaffnete Soldaten, deren forschende Blicke in alle Richtungen flogen. Eine weiße Flagge flatterte träge im Wind. »Was siehst du hier?« fragte Mahong. »Lauter Bettler am Fuß der Mauer«, erwiderte Lu ka. »Nicht schlecht. Sein Blick läßt sich nicht von 46
dem Firlefanz hier ablenken.« Mahong klopfte Luka anerkennend auf die Schulter. »Was siehst du noch?« »Ich sehe Waffen, und sie sind auf uns gerichtet.« »Bist du sicher, daß du erst elf bist?« fragte Ma hong beeindruckt. »Eigentlich sollte ich fünfzehn sein«, entgegnete Luka. »Hast’e das gehört? Fünfzehn sollte er sein!« Wie der tätschelte er Lukas Schulter. »Du könntest tat sächlich fünfzehn sein, weil du dich verdammt gut auskennst. Und man muß sich verdammt gut ausken nen, Kumpel, um in dieser Welt zu bestehen.« »Nenn mich nicht Kumpel!« »Gut, gut, dann eben Eure Heiligkeit.« »Und was siehst du dort?« Diesmal war es Luka, der Mahong fragte. »Ich sehe Haß. Ich sehe Blut. Ich sehe viele Dinge, die nicht in Ordnung sind. Das ist es, was ich sehe«, sagte Mahong. »Wo ich hinschaue, sehe ich Chine sen, die den Hintern versohlt kriegen. Eines Tages möchte ich diesem üblen General namens Ghengi eine ordentliche Tracht Prügel verpassen.« »Wer ist dieser General Ghengi?« »Du weißt nicht, wer Ghengi ist?« fragte Mahong erstaunt. »Dieser Mogo-Geier, der sich als unser Kaiser ausgibt. Viele unserer Frauen hat er belästigt. Das ist alles, was ich über ihn sagen kann. Dort in der Mitte, das ist sein Fenster. Siehst du es?« Ma hong deutete mit seinem schmutzigen Finger auf ein riesiges verziertes Fenster im Oberstock des Gebäu 47
des. »Eines Tages werde ich ihn eigenhändig bluten lassen.« »Du mußt ihn wirklich hassen.« »Hab auch allen Grund dazu.« »Wie das?« »Seine Leute haben bei einem Aufstand unsere El tern umgebracht.« »Wirklich?« »Und weißt du was? Auch uns wird er töten, noch bevor wir erwachsen sind. Das nämlich ist sein Ziel: Alle Chinesen abschlachten, bis keine mehr da sind. Dann können die Mogo unsere Berge und unser Land endgültig in Besitz nehmen. Doch der Tag wird kommen, an dem wir zurückschlagen.« »Und zwar bald«, bestätigte Mahing. »Besorgen wir uns da drüben erst mal was zu essen.« »Warte«, beschied ihn Mahong. »Weißt du, was sich hinter diesen Mauern verbirgt?« »Nein«, sagte Luka. »Eine außer Kontrolle geratene Armee. Kriegs herren. Und weißt du, was die dort treiben?« Luka zuckte mit den Schultern. »Sie warten auf Befehle von oben. Unbeschäftigte Soldaten werden faul – und bösartig. Wie nennst du so was …« »Sündhaft.« »Richtig, sie treiben sündhafte Dinge. Sie halten Bankette ab und vertilgen täglich Berge von Nah rungsmitteln.« Mahong unterbrach sich, um zu schlucken. »Sie haben Rind- und Schweinefleisch, 48
Eier, Fisch, Fässer voll Schmalz, Opium, Seide, Schmuck … Alles wandert dort hinein. Wirklich al les. Und was tun wir hier draußen? Wir verhungern wie die Köter, die sich auf angenagten Beinen durch die Straßen schleppen.« Luka nickte. Er hatte verstanden. Horden von Bettlern und schmutzigen Kindern la gerten am Fuß der Mauer und genossen die raren Sonnenstrahlen, während sie auf den Abfallkarren der Garnison warteten. Die Sonne stand genau über ihren Köpfen, als das Tor sich öffnete. Ein fetter Mogo-Koch schob einen Karren mit verdorbenen Speiseresten nach draußen. Sofort waren die Bettler auf den Beinen und umringten den Karren wie Flie gen warmen Dung. Höhnisch grinsend schüttete der Koch den Abfall zum Entsetzen der ausgehungerten Bettler in einen Kanalschacht. »Nicht wegschütten! Bitte gebt uns Nahrung!« rief eine ersterbende Stimme. »Das ist doch noch gut! Gebt es uns!« kreischte eine andere. »Das also ist Betteln, falls du es wissen willst«, sagte Mahong gelassen. Doch Luka war von dem Anblick so gefesselt, daß er ihn nicht hörte. Er trat näher an die Menge heran und entdeckte den Rücken einer vertrauten Gestalt – Atami, der sich vorzudrängeln suchte. Das kann nicht er sein, dachte Luka. Nur einen Augenblick lang wandte sich die gebrechliche Gestalt zu ihm um. Er war es! Lukas Herz pochte vor Mitleid und Trauer. 49
Atami kniete im Schmutz und schlürfte eine Flüssig keit, die er mit der hohlen Hand aus einer Vertiefung im Boden geschöpft hatte. Dann stopfte er sich ein staubiges Stück Fleisch in den Mund. Er benahm sich wie ein Tier, das sich auf sein Opfer stürzt, und schlang mit solcher Gier, daß er zu ersticken drohte. Als eine Schar Waisenkinder auf ihn zurannte, warf er sich besitzergreifend über ein Bündel Kohlblätter; er bedeckte sie mit seinem mageren Körper, um zu zeigen, daß er nichts abgeben würde. Die Waisen umringten ihn, zerrten ihn hoch und vertrieben ihn von seinem Platz. Gefolgt von seinen Freunden, eilte Luka zu Atami hinüber, der sich vor Schmerz krümmte. Er kniete neben dem Mönch nieder und fragte: »Alles in Ord nung?« »Ja«, erwiderte Atami überrascht. »Was tut Ihr hier? Bitte geht heim, Eure Heiligkeit.« »Ach, laß doch die Heiligkeit. Soeben habe ich die schrecklichste Szene meines Lebens mitverfolgt. Ich kann nicht zulassen, daß du weiter auf diese Weise um Nahrung bettelst.« »Was wollt Ihr tun? Das ist die Aufgabe, die ich übernommen habe, versteht Ihr?« »Nein, ich verstehe nicht. Warum hast du zugelas sen, daß diese Kinder dir weh getan haben? Warum hast du dich nicht gewehrt?« fragte Luka. »Hätte ich mich gewehrt, dann hätte man womög lich meinen Kampfstil erkannt. So etwas könnte uns in Gefahr bringen. Das hier ist bloß das übliche Ge 50
rangel ums Essen. Das geschieht hier jeden Tag. Im Grunde sind wir alle Freunde. Seht nur, ich habe so gar ein paar brauchbare Kohlblätter unter meiner Kutte versteckt.« Der Mönch hob die lange Kutte ein wenig an und lächelte mit aufgeplatzten, blutigen Lippen. »Das gibt ein gutes Abendessen.« Das Gerangel um die Essensreste war inzwischen zu einer regelrechten Schlacht ausgeartet, und die Karre brach unter dem Gewicht der vielen hungrigen Menschen zusammen. Zwischen nackten Knien kroch heulend der fette Koch hervor. Zwei Reihen Mogo-Soldaten kamen aus dem großen Eingangstor marschiert und stachen mit ihren qiang, eisenbe wehrten Speeren, schreiend und willkürlich auf die rasende Menge ein. Luka sah, wie ein junger Soldat den wackeligen Unterstand eines Bettlers als Zielscheibe benutzte. Wie von einer Schlange gebissen, kam kreischend ein alter Mann herausgekrochen; sein Arm blutete, wo die Waffe ihn getroffen hatte. Der Krüppel fiel vor dem Soldaten auf die Knie und flehte ihn an, nicht weiter auf seine Hütte einzustechen. »Da drinnen liegt mei ne Frau im Sterben, sie kann sich nicht rühren.« »Warum kommt sie nicht herausgekrochen wie du, du Narr?« brüllte der großgewachsene Mogo. »Sie ist von der Hüfte abwärts gelähmt.« »Ein Krüppel und eine Lahme, was denn noch al les?« Lachend durchbohrte der Soldat die dünnen Wände des Unterstands. Die Schmerzensschreie der Frau waren laut und deutlich zu vernehmen. 51
Der Krüppel erhob, noch immer kniend, die Hände gen Himmel. »Bitte, Buddha, gib uns einen Funken Hoffnung. Wo bist du?« Seine Worte gingen in hef tigem Schluchzen unter. Ein Offizier, der an seinem da dao, dem großen Schwert, als solcher zu erkennen war, tauchte neben dem jungen Soldaten auf. »Du rufst nach Buddha?« herrschte er den Alten an. »Ja, bitte, Buddha, schenk uns Hoffnung und gib, daß diese Soldaten unser Land bald verlassen!« flehte er erneut. »Du rufst nach Buddha, also wirst du ihn bekom men.« Der Offizier holte mit dem Schwert aus und traf damit die linke Schläfe des alten Mannes. Der Krüppel sank leblos in sich zusammen. »Schafft ihn fort und zündet die Hütte an!« befahl der Offizier, bevor er den Schauplatz verließ. Der Soldat griff sich eine Fackel und setzte den Unterstand in Brand. Atami trat ihm in den Weg. »Bitte, laßt mich die Frau heraustragen, mein Herr.« Seine Stirn berührte den Boden, seine Lippen küßten die Erde. Der Sol dat lächelte finster und spuckte auf Atami hinunter, bevor er ihm mir seinem Kampfstiefel in die Seite trat. Einmal, zweimal, dreimal. Atami verharrte bewegungslos wie eine Schildkröte. Kein Ton, kein Schrei. Luka wußte, daß er das alles heil überstehen würde. Atami hatte seine Rüstung angelegt. Sein inneres Selbst wurde von einer un 52
sichtbaren Hülle geschützt. Lebenslange Übung er möglichte ihm das. Andere Bettler riefen seinen Namen und beklagten die Wehrlosigkeit dieses friedliebenden Mönches. Sie fuchtelten mit den Armen, sie schrien, doch kei ner wagte sich dem Soldaten auch nur einen Zoll zu nähern oder ihn an seinem Tun zu hindern. Offenbar kümmern sie sich doch umeinander, dachte Luka, dem die Schreie der Bettler seine eige ne Untätigkeit schamvoll bewußt machten. Atami wird es überstehen, sagte er sich und zwang sich zur Zurückhaltung. Das war es, was Atami von ihm er wartete: ruhig bleiben, selbst im Auge des Sturms. Doch seine innere Stärke würde nur allzubald ins Wanken geraten. Aus den Augenwinkeln bemerkte Luka sechs hochgewachsene Soldaten, die stracks auf den knienden Mönch zumarschierten, die Speere griffbe reit erhoben und jeder ein Bündel Pfeile am Gürtel. Ihre Stiefel wirbelten den Staub auf. »Du sollst die Hütten niederbrennen und diesen Mönch wegschaffen!« brüllte ihr Anführer, der an einem roten Stirnband zu erkennen war. »Ich kann nicht. Er rührt sich nicht von der Stelle«, antwortete der Soldat. »Dann mach ihm Beine.« »Hab ihn schon getreten, Herr Feldwebel.« »Du Trottel! Warum trittst du ihn, wenn du einen Speer in der Hand hast?« »Ach ja.« Der Soldat ließ von Atami ab, wischte 53
sich über die Stiefel und hob die Waffe hoch über den Mönch, wobei die Spitze auf sein Opfer gerichtet war. »Ziel auf den Hals!« riefen seine Kameraden. »Besser auf den Kopf!« rief der Soldat fröhlich zu rück und hob den Speer, um mit voller Wucht zuste chen zu können. Er muß es doch gehört haben! brüllte es in Lukas Kopf. Er muß es gehört haben! Warum bewegt er sich nicht? Ist sein Panzer stark genug gegen eine so machtvolle Waffe? Ist sein zerbrechlicher Körper einem solchen Aufprall gewachsen? Doch im tiefsten Innern wußte er, daß die Antwort ja lautete. Atami hatte sein Leben lang für Momente wie diesen trai niert. Und dennoch schmerzte Lukas Herz und es schrie nein. Plötzlich rissen alle geistigen Fesseln, die Luka noch zurückgehalten hatten. Er machte den Leopar densprung – die Arme vorgestreckt wie bei dem Tier, das ihm den Namen gab, die Beine nachfolgend. Er sprang aus anderthalb Metern Entfernung über die Köpfe einiger Bettler hinweg. Einen kurzen Moment lang befand sich sein Körper in der Waagrechten und schoß wie ein Pfeil auf den Soldaten zu, den er von hinten überraschte. Die Bettler starrten ungläubig, die Soldaten ver harrten erschrocken. Gleichzeitig sauste mit aller Wucht die Speerspitze auf Atami zu, der noch immer kniete und wie eine 54
tote Schildkröte die Erde umarmte. Sie war nur noch wenige Fingerbreit vom kahlen Schädel des Mönchs entfernt, als Luka zu Füßen des Soldaten landete und seine Eisenfinger in den san-gu des Soldaten bohrte, den geheimen, verletzlichen Punkt an der hinteren Wade, den Atami ihm gezeigt hatte. Der Mann fühlte eine Welle der Taubheit durch Schenkel, Unterleib und Schultern jagen, bevor er zu Boden ging. Die blutige Speerspitze verfehlte Atamis Kopf nur um die Breite eines Seidenfadens. Atami erwachte in seinem Schutzpanzer, sein Kopf flog herum wie der eines Maulwurfs, wenn er sein Gelände sichert. Das um ihn herrschende Chaos war nicht bis in sein Bewußtsein gedrungen, dort herrschte Frieden. Erst Lukas Anwesenheit hatte ihn aufgerüttelt. Was habe ich getan? fragte sich Atami. Ich habe den Jungen in Gefahr gebracht. Er hätte doch wissen müssen, daß nicht einmal tausend jin schwere Waf fen meinen Panzer durchdringen können. Jetzt war der ganze Zweck der Panzerung – Frieden statt Auseinan dersetzung zu suchen – nutzlos, und Luka würde aus dem sicheren Schoß der Kindheit mitten hinein in das verworrene Gespinst dieser Welt katapultiert. Atami wünschte sich, ein Adlerweibchen zu sein, das das schutzlose Junge unter ihren Fittichen in den Himmel und in die fernen Berge entführen könnte. Doch die Soldaten rückten näher. Wenn er jetzt mit Luka floh, würden sie die Verfolgung aufnehmen und ihre Unterkunft entdecken. 55
Ich muß angreifen, bevor die sechs Soldaten den Jungen niederstechen. Ich muß kämpfen, auch wenn ich dabei unsere Identität preisgebe, sagte sich Ata mi. Dazu würde er sich der Technik des Trunkenen Mönchs bedienen. Und da er es mit nur sechs uner heblichen Gegnern zu tun hatte, reichte bereits ein moderater Rausch. Im Sprachgebrauch des Xi-ling bedeutete Trunke ner Mönch eine Taktik, die einen entwurzelten Baum imitiert, der vom Wind hierhin und dorthin geweht wird und sich überall und nirgendwo hinbewegt. Sei ne Schritte würden unsicher sein, seine Haltung einer Nudel gleichen, die Arme würden wirbeln wie Windmühlenflügel, und sein Kopf würde herumkol lern wie eine Melone. Alle Körperteile bewegen sich, aber niemals in dieselbe Richtung. Atami stand auf und torkelte betrunken in die Ar me des ersten Soldaten. Der Mann packte ihn ange widert bei den Schultern und stieß ihn weg. Atami sah aus wie ein zappelnder Fisch, er warf den Kopf herum und wedelte mit den Armen. Mit einem kraft vollen Schwung vorwärts rammte Atami gegen die Stirn des Soldaten und entließ in seiner kurzen Um armung genügend qi, um seinen Gegner bewußtlos zu machen. Sein nächstes Ziel war ein Soldat mit Schnauzbart. Atami, der selbst kaum Körperhaare besaß, war kein Freund üppigen Haarwuchses. Er stolperte nach vorn, schwang sich in die Luft, streckte seine berüch 56
tigte Rechte und bohrte den Daumen zwischen die Schulterblätter des Mannes. Der Soldat fiel vornüber, als schmölze er. Mit dem dritten würde er es nicht so leicht haben, denn der hatte Atamis betrunkene Charade mit Adler augen beobachtet. Er ließ seinen Speer sinken, denn er wußte, daß ein langer Arm keinen kurzen Kampf besteht, und zog statt dessen einen Dolch aus dem Stiefelschaft. Mit ihm beschrieb er zur Warnung ein Kreuz in der Luft. Atami stieß ein betrunkenes Kichern aus und kam tänzelnd auf den Soldaten zu. Dabei stolperte er über ein Zweiglein und landete mit dem Hintern auf dem rechten Fuß des Soldaten. Dessen zerbrechliche Ze hen zerbröselten unter der Wucht von Atamis eiser nem Steißbein wie trockener Lehm. Doch er hatte noch drei weitere Gegner abzuferti gen, und so legte Atami an Geschwindigkeit zu und geriet immer mehr außer Kontrolle. Er kreiselte dicht über dem Boden und erwischte dabei gleich zwei Gegner, die übereinander zu Boden stürzten. Der Befehlshaber mit dem roten Stirnband war der letzte Aufrechte. Die Sache gefiel ihm überhaupt nicht. Fünf seiner Männer am Boden, und das alles wegen eines besoffenen alten Mönchs. Was hatte der bloß getrunken? Der Offizier wich zurück, während Atami, sich im Schmutz ringelnd wie ein Regen wurm, auf ihn zukroch. Als der Soldat eben kehrt machen und fliehen wollte, deutete Atami mit dem Zeigefinger auf den flüchtenden Mann. Er schickte 57
ihm einen Strahl seines inneren qi nach, das den Mann geradewegs gegen die Festungsmauer rennen ließ. Wumm! Die Mauer bebte unter dem Aufprall. »Wahnsinn! Das war stark!« staunte Luka. »Keine Sorge. Er wird später nicht mehr wissen, was mit ihm passiert ist«, sagte Atami. Aus den Augenwinkeln sah Luka, wie seine bei den Freunde in Aktion traten. Sie schleuderten Steine und Felsbrocken auf die Soldaten, die zur Verstär kung herbeieilten, und riefen ihnen die übelsten Schimpfwörter zu, die Luka je gehört hatte. Ihre Rechnung ging auf: Die wütenden Soldaten jagten den beiden Missetätern nach. Zugleich wußte Luka, daß seinen Freunden nichts geschehen würde. Sie würden den Soldaten ein bißchen Bewegung ver schaffen, bevor sie sie im staubigen Straßengewirr von Peking abhängen würden. Er drehte sich um und sah, daß das Feuer die Hütte bereits eingeschlossen hatte. Er spürte die sengende Hitze der Flammen und machte sich schier in die Hose, als er die Frau aus der Hütte kriechen sah, die über ihr zusammenzubrechen drohte. Doch er rannte hinüber und packte die Frau. Mit aller Kraft zerrte er an ihr. Die Frau tat ihr Bestes, aber ihre Beine waren gelähmt. Zum ersten Mal fühlte Luka die Nähe des Todes. Da kam ihm Atami zu Hilfe und zog die Frau ge rade noch aus den Flammen, bevor die Hütte zu sammenstürzte. 58
»Eure Heiligkeit, ein Leben ist immer wert, geret tet zu werden, auch wenn es fast schon zu Ende ist«, sagte der Mönch. »Ja, Atami, und vielen Dank, daß du mein Leben gerettet hast.« »Schließlich wart Ihr es, der mich als erster zu ret ten versuchte«, erwiderte Atami. Luka ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid. Ich dachte, ich müsse kämpfen, aber jetzt merke ich, daß ich uns damit nur noch mehr Ärger eingehandelt habe.« »Das stimmt«, sagte Atami, obgleich er den Jun gen am liebsten für seinen Mut und seine Selbstlo sigkeit gelobt hätte. Doch ihm war klar, daß eine Verwarnung in diesem Fall hilfreicher war als ein Lob. »Denkt immer daran, Eure Heiligkeit: Eure Be gabung kann Segen oder Fluch bedeuten, und manchmal ist sie beides.« Er gab Luka ein wenig Zeit, um über diese Worte nachzudenken. Dann sagte er: »Laßt uns die Frau an den Stadtrand bringen und ihr ein Plätzchen im Schatten suchen.« Luka bückte sich und nahm die beiden versengten Beine der Frau auf seine Schultern, der Mönch trug ihren Oberkörper. So verließen sie den Platz und schleppten die Frau zum Stadtrand. Unterwegs be gannen Lukas Knie zu zittern, seine Arme wurden taub, als sie unter einer Trauerweide anlangten, brach er zusammen. Er hielt sich die Nase zu, um nicht länger den Gestank verbrannten Fleisches riechen zu müssen. »Und was tun wir jetzt mit ihr?« 59
»Macht Euch keine Sorgen. Sie ist erlöst.« Luka sprang mit einem Satz von dem leblosen Körper weg. »Es ist gut so. Tot ist sie besser dran. Ich werde heute abend und an den folgenden drei Tagen für ihre Seele beten, bis sie endgültig aus dem Körper gewi chen ist. Dann werden wir eine Himmelsbestattung für sie vorbereiten.« »Himmelsbestattung? Ist das nicht ein tibetischer Brauch?« »Stimmt«, sagte Atami. »Sie war tibetischer Ab kunft. Ihre Familie wurde von den Mogo hierher ver trieben. Wir müssen sie in der Tradition ihrer Ahnen beisetzen, andernfalls wird ihre Seele nicht in den Himmel gelangen. Möchtet Ihr das geheiligte Ritual miterleben, bei dem die Toten für immer in den Himmel gebracht werden?« Luka nickte betrübt. »Denkt immer daran, was die Mogo unschuldigen Menschen angetan haben. Eines Tages werdet Ihr diese Übeltaten rächen.« Am Tag der Himmelsbestattung versammelte sich eine große Menschenmenge am Fuß des Hügels. Lu ka hielt sich dicht bei Mahing und Mahong. »He, das hast du großartig gemacht neulich! Die ser Mogo-Soldat hat ganz schön alt ausgesehen«, sagte Mahong fachmännisch. »Vielen Dank auch, daß ihr die Soldaten abgelenkt habt.« 60
»Tja, wir sind eben sehr gut eingespielt«, entgeg nete Mahong. »Was ist denn nun dein Geheimnis, Eure Heiligkeit? Vielleicht bringst du uns das eine oder andere bei, damit wir nächstes Mal gemeinsam gegen die Mogo kämpfen können.« »Nicht der Rede wert.« »Oho, das ist durchaus der Rede wert. Wir waren schließlich dabei.« »Tut mir leid«, sagte Luka, »aber es ist nicht an mir, das weiterzugeben.« »Und warum nicht?« fragte Mahong verdutzt. »Wir haben Geld.« »Es gibt Dinge, die man nicht mit Geld kaufen kann. Ich habe meinem Meister geschworen, seine Lehre zu seinen Lebzeiten an niemanden weiter zugeben.« »Versprechen sind dazu da, gebrochen zu wer den«, sagte Mahing. »Aber nicht dieses.« Enttäuscht stützten die Brüder das Kinn auf einen Felsbrocken und starrten ins Leere. Die Zeremonie begann. Die zerhackten Leichenteile der Frau wurden, blu tig und übelriechend, wie sie waren, auf dem sanften Abhang einer Felskuppe ausgelegt. Die unterhalb versammelten Menschen wirkten traurig und ergrif fen, dichte Wolken zogen sich über ihnen zusammen. Nur das Schwirren zahlloser Adlerschwingen war zu vernehmen. Sie kreisten über ihrer Beute und ver dunkelten den ohnehin düsteren Nachmittagshimmel. 61
Atami sang gemeinsam mit einem tibetischen Mönch; sie hielten die Köpfe gesenkt und knieten auf dem felsigen Boden. Das blutbeschmierte Beil an seiner Seite, bat der tibetische Mönch die heiligen Adler, herabzukommen und sich die Reste des nutz los gewordenen Körpers zu holen, damit der Geist der Verstorbenen befreit zum Himmel aufsteigen könne. Das Gebet endete, die Menge verharrte schweigend. Niemand wagte zu atmen, als die Adler zu ihnen herabstießen. Auf einmal vernahm Luka ein sonderbares Sausen. Die Adler fielen schreiend zu Boden. Pfeile verdunkelten den Himmel. Immer mehr Ad ler fielen herab. Sie waren genauso blutig und zer fetzt wie das menschliche Fleisch, das sie hatten ver zehren wollen. Weitere Pfeile flogen … immer mehr, sie holten jeden einzelnen Adler vom Himmel. Kein Schrei war mehr zu hören, keine Feder rührte sich. Hinter einem Busch stieg eine weiße Fahne empor. Die Mogo! Ein Zug speerbewehrter junger Soldaten sprang aus einem Versteck hervor und kesselte die frommen Chinesen ein, die sich zur Bestattung versammelt hatten. Es war ein Hinterhalt. Aus der Ferne dröhnte eine Stimme: »Himmelsbe stattungen sind ein Aberglaube, der gegen die kaiser lichen Mogo-Gesetze verstößt. Alle Versammelten haben sich ruhig und unverzüglich von hier zu ent fernen!« 62
Mein Feind, durchschoß es Atami, als er die be kannte Stimme vernahm, die jede Nacht seine Alp träume beherrschte. Wieder hat er mich gefunden! Und Atami wußte auch wie. Der Kampf neulich vor dem Palast hatte ihn verraten. Wo war Luka? Atamis Augen suchten die Menge ab. Lukas Entsetzen war inzwischen maßlosem Zorn gewichen, der ihm durch den ganzen Körper bis in den Kopf drang. Er wußte, wie heilig diese Adler in den alten Schriften gehalten wurden. Sie waren mehr als nur Vögel: Sie stellten die spirituelle Verbindung zur fernen Vergangenheit, den Anfängen Chinas her. Wie er die Tiere nun qualvoll und blutig verenden sah, fühlte Luka sich tief erschüttert. Er meinte, sich übergeben zu müssen, brachte jedoch nur ein leeres Würgen zustande. Am liebsten hätte er geweint, aber die Tränen wollten nicht fließen. Seine beiden Freunde ahnten nicht, was in ihm vorging. Sie klopf ten ihm auf den Rücken, während er würgte. »Ist Eurer Heiligkeit übel?« flüsterte Mahing. »Nein, mir ist nicht übel. Ich bin bloß wütend. Diese Adler repräsentieren unsere Ahnen, wißt ihr das nicht?« »Doch, doch, aber es ist nicht wert, für sie in den Tod zu rennen. Halt dich lieber bedeckt«, warnte Mahong. Luka schüttelt die beiden ab und kletterte auf ei nen Felsen. Aus seinem winzigen Körper drang ein gewaltiges Brüllen: »Ihr Barbaren! Ihr habt unsere heiligen Adler getötet!« Seine Worte hallten an den 63
Berggipfeln wider und rüttelten die Menge auf. Furchtlos erhob sie sich. »Barbaren!« »Barbaren!« Das stille Tal war plötzlich erfüllt von zornigem Geschrei. Als der schmächtige Junge von dem Felsen aus zu seinem Volk sprach, empfand Atami einen Augenblick des Stolzes. Welch machtvoller Kaiser Luka doch war, und wie sehr er seinem Großvater glich, dem alten Kaiser. Doch was tat er dort oben? Ahnte er, daß sein Todfeind die Fährte bereits aufgenommen hatte? Welch ein Gerechtigkeitssinn, welch ein Leichtsinn! »Volk der Chinesen! Wir können diese Invasoren nicht länger dulden!« Mit diesen Worten hob Luka einen blutigen Pfeil auf und schleuderte ihn gegen die grinsenden Mogo-Soldaten. Zunächst konnte niemand glauben, daß ein so kleiner Bursche diesen Mut aufbrachte. Doch Luka stand leibhaftig da. Den Kampfruf der traditionellen chinesischen Krieger auf den Lippen, rannte er bar fuß und hielt den Pfeil hoch über dem Kopf; seine Kutte flatterte. Er muß verrückt geworden sein, dachte Atami bei sich. Inzwischen hatten auch die anderen Chinesen Pfeile ergriffen und folgten Luka. Jetzt lachten die Mogo nicht mehr. Sie zielten und schickten noch mehr ihrer Pfeile, diesmal mitten in die Menge, die auf sie zukam. Ein Dutzend Men schen stürzte getroffen zu Boden. 64
Pfeile surrten an Luka vorbei, während er nach links und rechts auswich. Solange er in seiner Ver wurzelung bleibt, kann ihm nichts geschehen, dachte Atami. Der Junge mochte zwar kurzzeitig seine Vernunft eingebüßt haben, nicht aber seine Kampfkunst. Im Zickzack rannte er auf einen Felsvorsprung zu, auf dem Bogenschützen postiert waren. Mit einem riesi gen Satz landete er auf den schreienden Soldaten. Augenblicklich hörte der Pfeileregen auf, die Solda ten brüllten vor Schmerz. Einen Augenblick später war alles still. Aus Angst, Luka könne getötet worden sein, rann te Atami zu ihm hinüber. Doch inmitten des wirbeln den Staubs stand der Junge mit blutendem Gesicht wieder auf. »Duckt Euch!« rief Atami ihm zu. Luka wandte sich um und sah den Mönch kommen. Was habe ich bloß getan? Und wie soll ich hier je wieder entkommen? fragte er sich angesichts Dut zender von Soldaten, die ihn umzingelten. Sein Kopf flog herum, und er entdeckte den einzigen Ausweg, der ihm noch blieb – einen Ausläufer des Abhangs oberhalb des Felsvorsprungs. »Dort hinauf!« brüllte Atami. Luka machte kehrt und schwang sich den Hang hinauf, hinter dem sich, wie er wußte, eine zwölf Meter tiefe, mit Dorngestrüpp bewachsene Schlucht auftat. Er würde verletzt, ja womöglich mit gebrochenen Knochen unten ankommen, aber er würde leben. Atami hatte recht. Doch die letzten drei Meter waren steil und äußerst schwer zu erklimmen. 65
Selbst die tie-sha-zhang, seine Eisenhände, stießen sich blutig, während sie im Gestein Halt suchten. Als er endlich am Rand des Abgrunds stand, warf er ei nen letzten Blick zurück und vernahm Atamis Wei sung: »Laßt Euch von der Strömung treiben und von den Wellen begraben.« Luka wollte eben springen, als Atami einen Hecken schützen entdeckte, der hinter einem dicken Baum stamm verborgen auf den Jungen zielte. Atami hatte nur die Spitze seines Pfeils, nicht aber das Gesicht des Mörders gesehen, dennoch wußte er, wer es war: der einzige Mensch, der Lukas wahre Identität auf spüren konnte. Du glaubst, daß der Baum dich verbirgt und dir Schutz gibt, dachte Atami, aber nichts, Ghengi, du Scheusal, ist vor der Zauberkraft des jin-gong sicher. Am allerwenigsten deine Bogenkunst. Atami griff nach seinem Dolch, den er in einem geheimen Futteral seines Ärmels immer bei sich trug, und küßte dessen Spitze. Er bedeutete dem Mönch mehr als nur eine Waffe, denn er war über Hunderte von Jahren von einem Xi-ling-Kämpfer an den näch sten weitergegeben worden. Dieser Dolch war mit Eigenleben begnadet; er konnte im Dunklen sehen und seine Ziele auch hinter Barrieren ausmachen. Jeden Monat weihte ihn Atami mit heiligen Gebeten, damit er seine Macht bewahre und seine wissende Seele schärfe. Atami schickte den Dolch los. Der Wurf wäre aussichtslos gewesen, hätte der 66
Dolch sein Ziel nicht selbst gesucht. Er flog nicht geradeaus, sondern schlängelte sich wie eine Schlange, erst nach links, dann nach rechts, auf unvorhersehbare Weise, um so den Gegner zu verunsichern. Vor dem eingelegten Pfeil kam er unvermittelt zum Stehen und starrte ihn an. Dann berührte er die Pfeilspitze mit einem mörderischen Kuß, so daß diese zerbrö selnd zu Boden fiel. »Aiii!« kreischte Ghengi hinter seinem Baum. Der Dolch wandte sich um und erblickte seinen Feind. Lautlos bohrte er sich in dessen rechte Schul ter und trennte den Arm exakt am Gelenk vom Kör per ab. Welche Schmerzen Ghengi dabei litt, konnte man nur aus dem wahnsinnigen Gebrüll schließen, das folgte. Der Dolch wußte, daß seine Mission damit been det war und Luka sich durch seinen Sprung in die Tiefe gerettet hatte. Er schwirrte um den Baum her um und erwartete im Angesicht seines Herrn ergeben neue Befehle. Atami holte den goldenen Dolch mit einem Wink seines Arms zu sich zurück. Diesmal kam er in einem sanften Bogen wie ein gezähmter Falke nach tödlicher Jagd auf dessen Hand geflogen. Alle Soldaten eilten zu ihrem Oberbefehlshaber und versorgten seine blutende Schulter. Alle außer einem, Ghengis Leutnant, der beste Bogenschütze der Garnison. Er legte einen weiteren Pfeil ein und verfolgte jede Bewegung Atamis. Vom Felsvorsprung aus sprang Atami hinter Luka her. Wäre er einen Augenblick früher gelandet, dann 67
hätte er Luka noch auffangen können. Aber es war zu spät – zwölf Meter zu spät. Luka stürzte von einem Felsen zum nächsten, jeder Aufprall ein schmerzvol ler Schrei. Atamis Herz blutete, und in diesem An flug von Zärtlichkeit wurde er verwundbar. Seine Gefühle zogen alle Energie um sein Herz zusammen und ließen seinen Rücken ungeschützt. Ghengis Leutnant war ebenfalls ein in den MogoBergen wohlbekannter Kung-Fu-Kämpfer. Unter an deren Umständen hätte er sich dem berühmten Kampfmeister nicht zu nähern gewagt, doch nun war sein Augenblick gekommen. Der Leutnant schoß seinen Giftpfeil in Atamis Ferse und durchtrennte die Sehne des Mönchs. Das, so wußte er, erwartete sein Gebieter Ghengi von ihm. Der Mönch würde nicht sterben, aber er konnte auch nicht mehr weglaufen. Als Luka wieder zu Bewußtsein kam, war es Nacht, und er spürte den Atem seiner beiden Freunde im Gesicht. »Wo bin ich?« fragte Luka. »In einem verlassenen Tempel«, vernahm er Ma hongs Stimme. »Warum?« »Die Mogo-Patrouillen suchen dich überall. An jeder Straßenecke hängt dein Steckbrief. Hier bist du sicher.« »Aber nicht ganz«, schränkte Mahing ein. »Was ist geschehen?« »Atami ist von den Mogo-Soldaten weggeschleppt 68
worden. Er hat noch Glück gehabt. Viele andere wurden getötet wie die Adler.« »Und wo ist er jetzt?« »Das wird keiner je erfahren.« »Keiner?« »Sie haben gesagt, sie bringen ihn ins Gefängnis, aber gewöhnlich machen sie mit den Gefangenen kurzen Prozeß, sobald sie außer Sichtweite sind. Dann sagen sie dir, der Gefangene sei im Kerker einer Krankheit erlegen, und drücken dir einen Topf voller Knochen in die Hand.« »Aber das darf nicht geschehen«, schluchzte Luka. »Reiß dich zusammen. Heulen hat noch nieman dem was genützt«, sagte Mahong. »Er war wie ein Vater für mich.« »Kein Problem, dann finden wir eben einen ande ren Vater für dich.« »Aber ich liebe ihn. Ich muß ihn rächen.« »Hör jetzt bitte mit dem Geflenne auf und benimm dich wie ein Mann.« Mahong versetzte Lukas rechter Schulter einen aufmunternden Schlag, so daß dieser fast vornüberfiel. »Au!« »Tut dir was weh?« »Die Schulter!« »Laß sehen.« Mahong, der selbsternannte Barfuß arzt, schob Lukas Kutte hoch und untersuchte mit krausgezogener Nase dessen Schulter. Dann forderte er Luka auf, den rechten Arm hängenzulassen und locker zu schwingen. 69
»Tut weh.« »Das sieht man, außerdem gehorcht er deinen Be fehlen nicht.« »Was habe ich denn?« »Du hast dir die Schulter ausgerenkt.« »Und was tut man dagegen?« »Wenn es so bleibt, wirst du dein Leben lang Schmerzen haben.« »Und was kann man dagegen tun?« »Sie wieder einrenken.« »Und wie willst du das machen?« »Das geht dich gar nichts an.« »Ich trau dir nicht.« »Du hast aber ein kurzes Gedächtnis. Wer war es denn, der deinen Diener von den Folgen seines Hun debisses geheilt hat?« »Du.« »Danke vielmals.« »Aber das hier ist etwas anderes.« »Einmal Doktor, immer Doktor«, kam Mahing seinem Bruder zu Hilfe. »Du hast gut reden. Warum läßt du dich nicht von ihm behandeln?« »Schluß jetzt. Ich habe genug von diesem respekt losen Gerede. Einrenken oder nicht?« wollte Mahong wissen. Luka stöhnte vor Schmerz. »Einrenken, bitte.« »Braver Junge. Mahing, bring mir das Gift.« »Gift?« fragte Luka entsetzt. »Er meint Schnaps, du Angsthase. Das betäubt den 70
Schmerz während der Behandlung.« Mahing zog ei ne kleine Flasche hervor, aber sie war leer. »Huch!« »Leer?« Mahong versetzte seinem Bruder einen Tritt. »Ich war so aufgeregt. Ich brauchte das Gift zu meiner Beruhigung.« »Jetzt können wir seinen Arm nicht einrenken«, schnaubte Mahong. »Warum denn nicht?« fragte Luka. »Weil du ohne Betäubung vor Schmerzen tot um fällst.« »Werd’s schon aushalten«, versicherte Luka. »Ja, ja, aber wir brauchen den Schnaps sowieso, damit deine Schulter abschwillt. Andernfalls wird sie dick wie ein Baumstumpf und rot wie eine Melone.« »Wo können wir denn welchen herkriegen?« frag te Luka. »Von Laoren, dieser alten Krämerseele«, sagte Mahing. »Aber der läßt ihn sich teuer bezahlen.« »Ich hab keinen einzigen Kupferkäsch«, entgegnete Luka. Dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf. »Moment mal, ich könnte diese Halskette verkau fen.« Er zog die Kette unter seiner Kutte hervor und streifte sie über den Kopf. »Eine Halskette?« Mahong unterzog sie einer ein gehenden Prüfling. »Woher hast du denn dieses Kleinod, Kleine Heiligkeit?« »Von meiner Mutter.« »Du hast uns nie erzählt, daß du eine Mutter hast.« »Was glaubst du denn, wo ich herkomme?« 71
»Keine Ahnung. Vielleicht aus einem Fels hoch in den Bergen?« »Meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Atami hat mir von ihr erzählt.« »Ich würde ja gern mit dir über deine hübsche Mami plaudern, aber mein Magen läßt mich nicht. Kommen wir zum Wesentlichen: Ist das Gold oder Silber?« »Reines Gold.« »Da sind ja Mogo-Schriftzeichen eingraviert. Kannst du das lesen?« »Klar. Das heißt batuh, das Mogo-Wort für ›Dra che‹.« »Aber warum stehen da Mogo-Zeichen drauf?« fragte Mahing. »Keine Ahnung.« Luka kratzte sich am Kopf. »Was schert uns das? Wir sind jedenfalls schwer beeindruckt, Kleine Heiligkeit. Aber jetzt müssen wir sie versetzen und Schnaps besorgen.« »Warte! Das ist das einzige, was ich von meiner Mutter habe.« »Spielt jetzt keine Rolle, wo es um dein Leben geht. Wir werden sie auslösen, wenn wir wieder Geld haben. Kommt schon!« Mahong trug Luka auf dem Rücken, und die Brüder Ma hasteten atemlos durch die Dunkelheit. Geschickt wichen sie den MogoPatrouillen aus und gelangten durch winzige Gäß chen zum Haus des Händlers. »Was wollt ihr?« Der Händler spähte durch ein winziges Schlüsselloch in der schäbigen roten Tür seines Ladens. 72
»Ich möchte diese Halskette verpfänden!« rief Mahong. »Euch traue ich nicht. Macht, daß ihr fortkommt!« Die Augen des Händlers verschwanden, und statt dessen bohrte sich eine Schwertspitze durch das Loch. »Bitte, laß uns ein.« »Auf keinen Fall, ihr Diebsgesindel. Haut ab!« »Hier. Ich schiebe die Halskette durch das Loch, damit du sie prüfen kannst.« Das Schwert verschwand. Mahong schob den Schmuck durch die Öffnung und zwinkerte seinen Gefährten zu. »Das ist wertloser Plunder. Wo habt ihr den her?« rief der Händler von drinnen. »Hat die Mutter von Eurer Heiligkeit ihm gegeben.« »Eurer Heiligkeit?« »Ja, der da.« Mahong schubste Luka vor das Loch und zog ihm die Fellmütze herunter. »Siehst du, das ist Eure Heiligkeit.« »Auch so ein schmutziger Dieb. Und wer ist deine Mutter?« »Eine schöne Frau namens Zuma«, antwortete Luka. Eine lange Pause folgte. Dann öffnete der Händler die Tür und ließ die drei Knaben ein. »Wenn du bist, wer zu sein du vorgibst, dann zieh deine Schuhe aus.« Der Händler nahm Luka beiseite und betrachtete sein Profil. »Los, tu, was der Mann gesagt hat«, drängte Ma hong. 73
Die beiden Jungen stießen Luka zu Boden und zerrten an seinen Stiefeln. Der alte Kaufmann unter suchte Lukas schmutzige Fußsohlen und entdeckte die zehn Muttermale, fünf an jedem Fuß. Dann half er Luka, die Schuhe wieder anzuziehen. »Wieviel wollt ihr dafür?« »Wieviel? Ich möchte sie gegen ein bißchen Schnaps der Marke Gift verpfänden plus hundert yuan in bar«, sagte Mahong. Der Alte rollte mit den Augen. »Eine Flasche Gift kostet aber schon fünfzig yuan.« »Unmöglich«, sagte Mahong. »Mach mir ein bes seres Angebot.« »Mein Angebot gilt, zuzüglich einer guten Mahl zeit und einem Platz für die Nacht.« Durchs Fenster drang der Lärm einer Mogo-Patrouille. Keiner von ihnen konnte diesem Angebot wider stehen, zuallerletzt ihre leeren Mägen. »Was gibt’s denn?« erkundigte sich Mahing. »Hammelbraten und jede Menge wawato, dazu Schnaps und feinen Tabak. Hab ich alles da.« »Einverstanden«, sagte Mahong. »Gib uns den Schnaps.« Der Kaufmann angelte mit einer langen Stange ei nen staubigen Schnapskrug vom obersten Regalbrett. Er reichte ihn Mahong und sagte: »Auf dein Wohl!« Kaum hatte Mahong den Krug entkorkt, da erfüllte das intensive Aroma von hochprozentigem Alkohol den Raum. »Bist du bereit, Luka?« Während Luka noch zögernd die Stirn runzelte, 74
nahmen die Brüder die Sache selbst in die Hand. Mahing packte Luka am Kopf, Mahong hielt ihm die Nase zu. Dann gossen sie ihm das schauerlichste Zeug in den Rachen, das Luka je gekostet hatte. Es explodierte in seiner Nase, seinem Hals und im rest lichen Körper. Die Wirkung war durchschlagend. Seine Schläfen pochten, sein Kopf rollte zur Seite, und die Schmerzen waren vergessen. Während Luka vor sich hindämmerte, nahm Mahong seinen rechten Arm und riß einmal kurz daran. Mit einem Knirschen sprang die Schulter zurück an ihren Platz. »Jetzt laß den Arm noch mal baumeln!« befahl Mahong. Luka in seinem halbwachen Zustand gehorchte prompt. Der Schmerz war weg. Luka lächelte benommen, während kleine Tränen an seinen Wim pern hingen. Die beiden Barfußärzte lächelten zu rück. »Ich glaube, es ist geglückt. Es war der richtige Ruck.« »Willst du damit sagen, daß du dir nicht sicher warst?« fragte Luka. »Hätte ich deinen Arm Richtung Westen gedreht, wäre er für immer lahm geblieben. Hast Glück ge habt, daß ich nach Osten gedreht habe.« Was dann folgte, war das heftigste Gelage, das je in einem von Hunger gebeutelten Land abgehalten wurde. Hammelfleisch, fett und leicht angebrannt, wurde händeweise und ohne viel Kauen in die Mäuler gestopft. In Windeseile war alles vertilgt, Mahong 75
saugte geräuschvoll das Mark aus einer Keule, wäh rend Luka die letzten Essensreste mit wawato auf tupfte. Mahing hielt einen leeren Schnapskrug über sich und erwartete mit wippender Zunge den aller letzten Tropfen. Währenddessen summte der Kaufmann vor sich hin und polierte genüßlich rauchend die neu erwor bene Halskette, die das offizielle Mogo-Siegel trug. Er hatte soeben den Handel seines Lebens gemacht. Lächelnd servierte er den Kindern einen weiteren vollen Schnapskrug. Die drei kommentierten das En de des Banketts mit schallenden Rülpsern. Sobald die Jungen wie die Ferkel auf dem warmen kang, dem geheizten Ofenbett, schnarchten, schlich sich Laoren lautlos aus der Hintertür. Er verschloß sie hinter sich und machte sich auf den Weg zur nächsten Mogo-Wache, die auf dem Marktplatz sta tioniert war.
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Bei Sonnenaufgang wurden Luka und seine beiden Brüder von furchtbarem Lärm geweckt. Zunächst glaubte Luka zu träumen, doch das erwies sich leider als Irrtum. Zehn junge Mogo-Soldaten stürmten in den Laden, fesselten die Jungen und stopften ihnen stin kende Lumpen in die Münder. Mahong stammelte schulterzuckend eine Frage, doch die Soldaten be achteten ihn nicht und warfen die drei in einen ge schlossenen Wagen, der sie unter morgendlichem Sternhimmel zu einem kleinen Gefängnis hinter dem Garnisonsgelände brachte, das für Diebe und Klein kriminelle benutzt wurde. Der Aufseher übergoß sie zunächst mit einem Eimer kalten Wassers, dann nahm man ihnen die Fesseln ab und ließ sie in einer winzigen Zelle warten. »Laoren hat uns verraten!« sagte Luka. »Der alte Sack. Werd ihm die Zunge abschnei den, sobald ich ihn zu Gesicht kriege«, schimpfte Mahong. 77
»Dazu müssen wir erst hier rauskommen.« Luka sah sich in der fensterlosen Zelle um und seufzte. »Wir sitzen in der Falle. Tut mir leid. Ich hätte das Gift nicht trinken sollen«, jammerte Mahing. »Jetzt müssen wir sterben.« »Müssen wir nicht«, widersprach Luka. »Wie kannst du da so sicher sein?« fragte Mahing. »Weil wir noch zu jung zum Sterben sind.« »Kein überzeugender Grund«, erwiderte Mahong. Wieder erschien der Aufseher, diesmal brachte er ein Namensschild für jeden. Sie verglichen die Holz schilder, die man ihnen um den Hals gehängt hatte. Solange sie zusammen blieben, waren sie glücklich, wenngleich Mut und Selbstvertrauen sie verlassen hatten. Die Lage war ernst. Das schlimmste war, nicht zu wissen, was mit ih nen geschehen sollte, und niemand verlor ein Wort darüber. Die Ungewißheit nagte an ihnen, selbst an dem erfahrenen Draufgänger Mahong. Der kleine Mahing war schon zufrieden, wenn er im Windschat ten seines Bruders bleiben durfte. Eine Trennung wäre für ihn schlimmer als der Tod gewesen. Ihre Kame radschaft war der einzige Reichtum, den die Brüder in dieser Welt besaßen. Still erwarteten sie ihr Schicksal. Stunden später kamen zwei Soldaten, um sie zu holen. Der Dünnere wirkte boshaft, der Größere war ein Haudegen. Sie schoben die drei durch einen lan gen Gang hinaus auf die Straße. Dort standen zwei Kutschen mit dem kaiserlichen Emblem, den Rap 78
pen, auf der Seitentür. Solche Kutschen wurden für Gefangenentransporte verwendet. »Ihr beiden kommt in die erste Kutsche«, sagte der große Soldat zu Mahing und Mahong. »Und du in die zweite«, sagte er zu Luka. »Wo bringt ihr mich hin?« schrie Luka. »Halt dein Maul!« schmutzte der Dünne. »Hoffentlich weit weg«, fügte der Große grinsend hinzu. »Ich will aber nicht allein sein! Laßt mich mit den anderen fahren!« rief Luka, aber niemand schien ihn zu hören. Bei den Kutschen angekommen, nahm man ihnen die Armfesseln ab. »Die bringt man bestimmt ins Wassergefängnis!« rief einer der Umstehenden. »Sie kommen ins Gefängnis von Lanka«, warf ein anderer ein. »Arme Waisenkinder.« »Schmutzige Diebe.« Einige warfen Steine nach den dreien, andere be spuckten sie. »Wartet hier und genießt den öffentlichen Emp fang. Eure Fahrer sind gleich da.« Damit setzten sich die beiden Soldaten zehn Meter von ihren Gefange nen entfernt auf eine Bank neben dem Eingang. Plötzlich erschien, mit Schweißperlen auf der Stirn, der alte Fellhändler in der Menge. Er drängte sich durch den Ring der Schaulustigen und drückte Luka ein gefaltetes Stück Papier in die Hand. »Lies das, dann weißt du Bescheid«, flüsterte er. 79
»Was ist das?« »Ich kann nur sagen, daß es mir leid tut. Lies es später, nicht jetzt.« Das seltsame Gebaren des Alten rührte Luka und machte ihn neugierig. Als die beiden Fahrer endlich kamen, wurden Mahong und Mahing in die erste Kutsche verfrachtet, Luka allein in die zweite. Die Freunde verabschiedeten sich durch Blicke. Keine Träne wurde vergossen. Sie wußten nicht, ob sie sich je wiedersehen würden und welches Schicksal sie erwartete. Luka würde die beiden Halunken vermis sen, denn nie im Leben würde er nur halb so gute und treue Freunde finden. Er schaute ihnen nach, bis sie verschwunden wa ren. Hätte er gewußt, wohin man ihn bringen würde, dann hätte er sich von Peking und seinen Bergen verabschiedet und einen letzten langen Blick auf die Verbotene Stadt geworfen. Doch er wußte es nicht.
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Zweiter Teil
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Kaum hatte die Kutsche die johlende Menge bei der Garnison hinter sich gelassen, verbarg Luka den Brief des Händlers in der Innentasche seiner Kutte. Täglich wurden Chinesen von hier weggebracht, und für die Dorfkinder war es der Höhepunkt eines jeden Tages. Sie bewarfen die Gefangenen mit allem mög lichen Unrat und rannten im aufwirbelnden Staub hinter den Kutschen her. Luka kauerte, mager und klein, in einer Ecke des Wagens auf dem kalten Bo den und hielt sich vom Fenster fern, um gegen Steine und Wasser geschützt zu sein. Er hatte keine Ah nung, wohin die Reise ging, doch es war ihm gleich gültig, jetzt da er von Atami und seinen beiden Freunden getrennt war. Diese Stadt war nicht länger von Bedeutung für ihn. Anderswo würde er vielleicht mehr Glück haben. Atami hatte ihn gelehrt, niemals zu lange an einem Knochen zu nagen. Als sich die Kutsche in sicherer Entfernung von der Stadt befand, zog Luka den Zettel des Händlers aus der Tasche. Dort stand: 83
Eure Heiligkeit, ich habe keinerlei Zweifel mehr dar an, daß Ihr der kleine Kaiser seid, für dessen Herab kunft wir gebetet haben. Wenn dem so ist, habe ich als einer Eurer ergebenen Untertanen die Pflicht, Euch in Euren letzten Tagen das Geheimnis zu ent hüllen, mit dem Ihr geboren seid. Euer Vater ist kein anderer als der Mogo-Herrscher Ghengi. Ihr mögt mich fragen, warum ich Euch das sage, und mich womöglich im Himmel dafür bestrafen, doch diese Wahrheit ist so groß wie der Berg Tai. Zuma, Eure Mutter, war mit sechzehn eine zarte Blume unserer Berge. Sie kam gern in meinen Laden, um die kostbaren Pelze zu bewundern, von denen ich zu viele hier versammelt habe. Eines Tages hieß es, sie sei von Ghengi vergewaltigt worden. Neun Mona te später kamt Ihr auf die Welt. Ob Klatsch oder Ge rüchte, ich bin immer gut darüber im Bilde, was hier in der Gegend geschieht. Befändet Ihr Euch nicht bereits auf der Straße des Todes, so hätte ich Eure Heiligkeit nicht mit diesem düsteren Geheimnis zu beleidigen gewagt. Ich bin ein frommer Mann, und die Frommen suchen allzeit das Rechte zu tun. Obgleich ich, wie Ihr wißt, viele Sün den begangen habe – darunter auch die, Euch verra ten und den Mogo ausgeliefert zu haben, weshalb Ihr vermutlich nie mehr zurückkehren werdet –, so habe ich doch viele Gebete an Buddha gerichtet und wer de noch viele aufsagen müssen, um mich von diesem Übel reinzuwaschen. Ich schwöre Euch, jetzt, da Ihr 84
noch atmet und am Leben seid, daß ich aufrichtig bereue. Bitte segnet mich im Leben wie im Tod und laßt mich wegen dieses kleinen Ausrutschers nicht zur Hölle fahren. Alle Menschen sind fehlbar, wie Ihr inzwischen zweifellos bemerkt habt. Ich habe diesen Brief in großer Eile geschrieben, damit Ihr vor Eu rem Tod die Wahrheit erfahren sollt. Bitte weist mir einen Platz im Himmel zu, wenn ich diese Welt ver lassen muß, und vergebt mir all den fragwürdigen Profit, den ich während meiner Laufbahn als Pelz händler gemacht habe, und auch das Kopfgeld, das mir durch Euch in den Schoß fiel. Ich konnte nicht anders. Es war einfach zu verlockend. Laoren Luka fuhr von seinem Sitz hoch. Seine Mutter, die schönste Frau, die er sich vor stellen konnte, zusammen mit diesem gräßlichen, bösen Ghengi? Und schlimmer noch – dieser Kerl war womöglich sein Vater! Dieses Scheusal? Luka war wütend und verwirrt, und zudem hatte er Angst. Ich werde sterben, dachte er. Ich werde sterben. Wa rum muß ich sterben? In seiner Ecke brütend, wurde ihm klar, daß zwi schen ihm und Ghengi eine unüberbrückbare Kluft be stand. Angeblich war er der Sohn dieses Ghengi, doch der lebte im Paradies, während er selbst in der Hölle hauste. Ghengi hatte seine Mutter und Atami aus dem Weg geschafft. Jetzt war die Reihe an ihm, Luka. Er war dem Mogo ein Dorn im Auge. Soviel stand fest. 85
Solch schreckliche Gedanken kreisten in Lukas Kopf, während der Wagen über steinige Bergstraßen rumpelte. Vielleicht wollten sie ihn ja auf einem ein samen Berggipfel mit vielen wilden Tieren ausset zen. Sie konnten ihn auch hängen oder – schlimmer noch – bei lebendigem Leib begraben, damit die wil den Hunde ihn finden und langsam und schmerzvoll zernagen konnten. Er warf sich gegen die Hintertür der Kutsche, doch sie war dick und stabil und mit mehreren Schlössern gesichert. Stunden und Tage vergingen. Doch das Ende war nicht so nahe, wie er geglaubt hatte. Die Kutsche fuhr einfach immer weiter. Vom Nordplateau aus legten sie viele hundert li auf einsamen, löchrigen Bergstraßen zurück, hinab bis sie in die Ebenen des Südens und in die Nähe des Tai-Gebirges. Die Reise brachte ihn fast um. Seine Nahrung bestand aus ein paar Scheiben sauer gewordenen Brotes und einem Becher Wasser, den seine Wärter aus dem Straßengraben schöpften. Das winzige Fenster gewährte flüchtige Ausblicke auf weiße Tiger und namenlose Raubtiere, die samt ihrer Beute neben der Kutsche herrannten. Mit je dem Höhenmeter, den sie hinter sich ließen, wurde die Luft feuchter, die Bäume wurden dicker und ihre Blätter üppiger. Endlich erreichten sie eine kleine Stadt. »Wo bin ich?« rief Luka und hämmerte gegen die Wand der Kutsche. »Geisterstadt!« brüllte der Mogo vom Bock herun 86
ter, während die Kutsche über die Pflastersteine ras selte. »Nur Verbannte kommen hierher.« Dann blieb das Gefährt jählings stehen, die Türen wurden entriegelt und aufgerissen. Das helle Sonnen licht blendete Luka. Zwei stämmige Mogo packten ihn an den Armen und zerrten ihn in eine schwerbe wachte Kammer. Man gab ihm Anstaltskleidung und führte ihn ins Vernehmungszimmer, in dem ein alter Offizier saß und Pfeife rauchte. Der Raum war erfüllt vom aromatischen Duft des Tabaks. Neben ihm thronte ein Richter. »Wie lautet die Anklage?« fragte der Richter den Offizier. Der Offizier flüsterte etwas ins Ohr des Richters. Dessen Augenbrauen zogen sich daraufhin weit hin auf in die hohe Stirn. »Zum Sterben geboren, wie?« bemerkte der MogoRichter spöttisch. »Aber ich habe nichts Unrechtes getan«, erwiderte Luka. »Das brauchtest du auch gar nicht.« Er ließ seinen Hammer herniedersausen. »Gemäß Paragraph neun undneunzig des Strafgesetzbuchs wirst du zum Tod durch Erhängen verurteilt. Gewöhnlich würdest du innerhalb von zehn Tagen hingerichtet werden, doch wegen des derzeit herrschenden Arbeitskräfteman gels wirst du laut der lokalen Bestimmungen zu nächst sechs Monate schwere Zwangsarbeit ableis ten. Deine Hinrichtung wird für diese Zeitspanne ausgesetzt.« 87
Der Richterspruch explodierte in Lukas Kopf. »Euer Ehren, bitte …«, schrie Luka. »Wachen, schafft ihn aus dem Gerichtssaal!« Luka fühlte seine Knie zittern und seinen Kopf schwindlig werden. Die Worte ›Tod durch Erhängen‹ dröhnten wie der Donner, der einen niedergehenden Taifun begleitet. Er wehrte sich wie ein gefangenes Tier gegen den Griff der Wachen. Er empfand nicht einmal Schmerz, als der Mogo ihn mit einer Keule auf den Hinterkopf schlug. Als er wieder erwachte, befand Luka sich allein in einer dunklen Zelle. Er sprang von der schmalen Pritsche und betastete die kalten, klammen Wände. Jeder Schritt, den er tat, brachte ein hallendes Echo hervor. Der ekelerregende Geruch von Moos, Schimmel und Urin umgab ihn. Einen Moment lang wollte Luka verzweifeln, doch dann biß er die Zähne zusammen und stieß einen kehligen Laut aus. Er würde sich durch die innere Stärke heilen, die ihm das jin-gong-Training ge bracht hatte. Alles was er sah, war das Sonnenlicht. Selbst in der dunkelsten Nacht würde er ein Leucht feuer finden, das für ihn blinkte. Und er würde über leben. Luka sah den sechsmonatigen Aufschub als gutes Omen, ein glückverheißendes Zeichen, denn je länger er lebte, desto mehr stiegen die Aussichten für eine erfolgreiche Flucht. Am nächsten Tag weckte ihn der Gong des Aufse hers. Er rieb sich die Augen und schloß sich der langsamen Prozession der Gefangenen an, die bei 88
einem kaiserlichen Begräbnis nicht trauriger und be drückter hätte sein können. Als er vor das Gefängnis trat, sah er zum ersten Mal, wo er sich überhaupt befand. Die grauen Steinmauern waren mit Speerspitzen bewehrt und mindestens zwölf Meter hoch. Draußen, unterhalb der Mauer, verlief ein kleiner Graben, der vorgab, ein Kanal zu sein. Auf der Südmauer befand sich ein Ausguck, von dem verborgene Pfeile auf die Gefängnisfenster gerichtet waren. Mit qiangSpeeren bewaffnete Wärter patrouillierten rau chend und plaudernd auf dem Gelände. Fünfzig Meter hinter den Gefängnismauern erhoben sich kahle Hügel. Unmittelbar vor Luka wurde ein Gefangener von einem Wärter ausgepeitscht und brüllte vor Schmer zen. Luka richtete den Blick wieder nach vorn und beschleunigte den Schritt, um zu dem Mann aufzu schließen. Das Meer, obgleich noch Meilen vom Ge fängnis entfernt, überspannte den Horizont wie eine Kuppel und glitzerte mit dem Versprechen von Son nenschein. Luka seufzte bei der Feststellung, daß er inmitten seiner liebsten Naturformationen lebte, dem großen Meer und den geheimnisvollen Bergen. In beiden Richtungen könnte er sich ins Nichts davon machen wie ein Fisch oder Tiger, aber um dorthinzugelangen, bedurfte es genauer Planung und eines eisernen Willens. Sechs Monate! Jeden Tag ein paar Zentimeter. Wenn er einen Weg aus dieser Todesfalle finden wollte, mußte er sofort damit anfangen. Zum 89
Ausruhen war keine Zeit. Aber wo und wie sollte er nur beginnen? Im Arbeitslager der Verbannten war es still wie in einem Grab. Ständig patrouillierten Wärter. Lu ka entdeckte in den Augen seiner Mitgefangenen nichts als Trauer und Resignation. Der alte Mann neben ihm in der Reihe, in der die Eimer mit feuch ter Erde für den Dammbau weitergereicht wurden, glich eher einem Skelett als einem lebendigen We sen. Seine Augen waren eingefallen, der Blick wirkte gehetzt, und die Beine, die nur spärlich vom Einheitsblau der Uniform bedeckt wurden, übersä ten rote, grünlich eiternde Schwären. Auf diesen blutigen, nässenden Kratern an den knochigen Schienbeinen versammelten sich mehr Fliegen als auf einem toten Schwein im nassen Schlamm. Doch der Alte beachtete sie kaum. Nur wenn eine der Fliegen das Glück hatte, inmitten einer Eiterwunde zu landen, sprang der Mann auf; nicht so fort, sondern mit einer verzögerten Bewegung, die ihm solche Schmerzen bereitete, daß er sich hinho cken mußte und ganz fahl im Gesicht wurde. Selbst dann warf er furchtsame Blicke über die Schulter, um festzustellen, ob die Wärter herübersahen. War dies der Fall, so blieb er aufrecht, mit zusammen gebissenen Zähnen und von Schmerzen geschüttelt, stehen und erduldete das Stochern und Zwacken der lüsternen Fliege, die sich in seine verletzlichste Stelle bohrte und sich am Saft seines faulenden Fleisches labte. 90
Luka konnte ihm sein Mitgefühl nur durch Blicke mitteilen und still den Kopf schütteln. Jedesmal wenn der Alte sich hinhockte, übernahm Luka seinen Erdeimer und brachte ihn zum nächsten in der Reihe. Als er das zum ersten Mal tat, starrte ihn der alte Mann aus seinen toten Augen an und murmelte: »Bist wohl neu hier.« »Ja.« »Wenn dieser Hund von einem Wärter dich dabei erwischt, wie du mir hilfst, wird er dich bestrafen.« »Danke, aber du brauchst doch Hilfe.« Der Wärter, der gehört hatte, wie Luka mit seinem Nachbarn sprach, kam herbeigerannt und rammte den Stiel seines qiang in Lukas nackten rechten Fuß. Während Luka sich vor Schmerz krümmte, schoß ihm der Zorn in den jugendlichen Kopf, und die Adern an seinen Schläfen pochten. Er griff nach ei nem faustgroßen Stein und warf ihn dem Wärter an den Hinterkopf. Das Lager der Verdammten erstarrte in tiefem Schweigen, als dieser flach aufs Gesicht in den Mo rast fiel. Sobald zwei andere Wärter ihm wieder auf geholfen hatten, griff er zu seinem Bogen. Pfeile schwirrten auf Luka zu. Luka dachte schon, er sei getroffen worden, als eine Ladung Schlamm ihn auf den feuchten Boden warf. Während er sich abklopfte, dabei aber keinen Schmerz verspürte, sausten die Stiele mehrerer qiangs auf ihn nieder. Luka suchte sich mit Händen, Armen und Beinen zu verteidigen. Einer traf ihn 91
dennoch an der rechten Schläfe, und er landete rück lings in einem Entwässerungsgraben. Ein scharfer Pfiff stellte die Ordnung wieder her. Die Gefangenen wurden mit Peitschen zurück auf ihren Platz in der Reihe getrieben und mußten die Aufschüttungsarbeiten fortsetzen. Luka blieb für den Rest des Tages bewußtlos in dem Graben liegen. Nur der alte Mann warf ihm gelegentlich Blicke zu, die Mitgefühl für Lukas Jugend und Unerfahrenheit aus zudrücken schienen. Als Luka erwachte, ging die Sonne über der Stadt am Meer unter, und zu seiner Überraschung fand er eine Gruppe junger Mädchen um sich versammelt, die ihn mit großen Augen anstarrten. Sie trugen dunkelblaue Blusen und weite Hosen aus grobem Stoff. Einzig ihre zarten Gesichtszüge und weibli chen Stimmen unterschieden sie von den männli chen Insassen. Noch ganz benommen winkte Luka ihnen zu, doch schon diese kleine Anstrengung schmerzte am ganzen Körper. Da blieb sein Blick an einer anmutigen Gestalt hängen; das Mädchen muß te etwa in seinem Alter sein, und sein strahlendes Lächeln tat seinem verwirrten Kopf wohl. Sie hatte große, kluge Augen, eine gerade Nase und ein lan ges, schmales Gesicht mit hohen Backenknochen. Für einen Moment, der einer Ewigkeit glich, trafen sich ihre Blicke und hielten einander, bis Luka errö tete. »Bist du der neue Todeskandidat?« flüsterte sie. »Ja. Ich heiße Luka. Und du?« 92
»Wir sind Waisen, die hier in der Uniformfabrik arbeiten.« Sie wies mit dem Kopf auf eine schäbige Hütte im Westen. »Wir haben dich hier entdeckt und dachten, sie hätten dich totgeschlagen, aber nachdem wir dir Wasser eingeflößt haben, wurdest du allmäh lich wieder lebendig.« »Wir müssen gehen. Der Wärter kommt!« flüsterte ein anderes Mädchen. In der Ferne sah Luka seine Mitgefangenen, die in der sinkenden Sonne auf ihn zumarschiert kamen. »Hier, das ist für dich.« Das hochgewachsene Mädchen drückte ihm eine Blume in die Hand. Luka war gerührt. Er setzte sich auf und steckte die Blume in seine Tasche. »Wie heißt du?« Sie drehte sich um, damit er die gestickte Nummer auf ihrem Rücken sehen konnte. »Drei-drei-drei!« »Mein richtiger Name ist Hau.« Sie lächelte traurig und flüsterte: »Leg dich wieder hin und tu so, als ob du schliefst.« Luka tat wie ihm geheißen, und die Mädchen eil ten davon wie ein Schwarm Schmetterlinge in einem sommerlichen Garten. »He, ihr Waisen, bleibt von dem Gefangenen weg!« brüllte der Wärter. Luka erhaschte einen letzten Blick auf den Engel. Ihre Blicke trafen sich erneut, und Lukas Herz boxte wie eine kleine Faust oberhalb seines leeren Magens. Was er sah, war nicht die verschossene, triste Farbe ihrer Uniform, sondern eine wunderschöne Rosen 93
knospe, die sich trotzig mitten im kalten Winter ent faltete. Zwei Gefangene trugen ihn in seine winzige Zelle zurück, die zur Hälfte unter der Erde lag. Als ein Strahl Mondlicht durch das schmale Fenster knapp unter der Decke drang, legte Luka die Blume auf sein Kopfkissen und kniete auf dem harten Lehmboden nieder. Er faltete die Hände und huldigte der freund lichen, sittsamen Mondgöttin. Er meditierte, schloß die derzeitige Umgebung aus seiner Wahrnehmung aus und versuchte, die Berge jenseits der Gefängnis mauern einzuatmen. In diesem Augenblick der Ruhe konnte er die frischen Pilze beinahe riechen und fast den Morgentau spüren, der auf den Blättern der alten Eichen ruhte. Doch darüber hinaus konnte er weiter nichts tun als schlafen. Sein junger Körper sehnte sich heftig nach der Welt da draußen, die ihm einst offenstand und die ihm nun so gänzlich unerreichbar war. Er versuchte, nicht an die drohende Hinrichtung zu den ken, sondern sich auf eine mögliche Flucht zu kon zentrieren, doch die düstere Todesahnung wollte nicht weichen. Zum ersten Mal hatte Luka richtige Angst, nicht vor dem Tod, sondern vor dieser Ein samkeit inmitten der lebendigen Toten. Doch Luka war entschlossen, sich nicht gehenzu lassen. Er saß mit gekreuzten Beinen wie die Berg mönche und meditierte. Dann machte er seine Übun gen. In der ersten Nacht schlief er wegen der unge wohnt harten Arbeit acht Stunden. In der zweiten 94
beschränkte er sich auf sechs Stunden und übte in der übrigen Zeit jin-gong. Beständig hielt er seine Geis teskräfte dabei nur auf ein Ziel gerichtet: seine Flucht. Am dritten Tag um Mitternacht hörte er, wie seine Zellentür sich öffnete. Es war der Wärter mit dem Schlachtergesicht und dem Doppelkinn. Hinter ihm schlich wie ein Geist der Alte mit den faulenden Beinen in die Zelle; er trug einen leeren Nachttopf, den er gegen Lukas benutzten auswechselte. Der alte Mann ließ den Kopf hängen und hielt den Blick gesenkt. In einer Hand hielt er eine Talglampe, die sein blasses Gesicht erhellte. Luka schien für ihn überhaupt nicht zu existieren. Mit großer Anstren gung hob der Alte den benutzten Nachttopf hoch, stellte den neuen an seinen Platz und schlich hinter dem Wärter wieder hinaus. Die Tür schlug zu, das Schloß rasselte. Luka beobachtete den gesamten Vorgang ruhig, doch mit großer Aufmerksamkeit. Das war es! Er lächelte verschmitzt ins Dunkel hinein. Morgen würde er den alten Mann ansprechen. Noch vor Sonnenaufgang stellten sich die Gefan genen wieder in einer Reihe im Gefängnishof auf. Die Hunde bellten, die Wärter schritten die Reihe ab und peitschten den einen oder anderen zurück ins Glied. Luka ging wie gewöhnlich hinter dem alten Mann, der ein schwaches Husten hören ließ und sich zum Wärmen die Hände rieb, wobei sein schwächlicher 95
Körper bebte wie ein Sieb. Das kühle Klima des süd lichen Fischerorts, das der Gesundheit eines alten Mannes nicht zuträglich war, wirkte erfrischend und belebend auf Luka. Er konnte kaum erwarten, daß sich Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Alten bot. Endlich, als die Wärter sich Zigaretten ansteck ten, stieß er ihn an. »He, leerst du alle drei Tage die Nachttöpfe?« Der alte Mann beachtete ihn nicht. Luka stieß ihn erneut. Diesmal drehte der Alte sich um und starrte Luka aus zornigen Augen an. »Komm schon, du brauchst bloß zu nicken. Ja oder nein?« Die Augen des Alten verengten sich zu Schlitzen, und seine Nasenflügel bebten. Den Rest des Tages schaute er kein einziges Mal in Lukas Richtung. Am dritten Abend erschien der Mann wieder in Beglei tung eines Wärters. Diesmal blinzelte er Luka zu, bevor er hinausging. Eine Woche verging ohne besondere Ereignisse. Dann, eines Tages, war das Lager plötzlich erfüllt vom Lärm chinesischer Instrumente. Eine Kinder gruppe aus der nahegelegenen Schule führte ein Stück für das Wachpersonal auf, dessen Leben fast ebenso trostlos war wie das der Gefangenen. Wäh rend der Aufführung hielt lediglich ein junger Auf seher Wache über fünfzig arbeitende Gefangene. Doch bald war auch dieser junge Wärter so fasziniert von der Darbietung der Kinder, daß er sich hinsetzte 96
und sich ein Pfeifchen anzündete, um wenigstens die Melodien mitsummen zu können. Luka war völlig überrascht, als der Alte ihn plötz lich am Ärmel zupfte und flüsterte: »Wie lange ist dein Urteil ausgesetzt worden?« »Sechs Monate.« Der alte Mann rollte mit den Augen und rechnete im stillen. »Zu jung zum Sterben.« Ratlos schüttelte er den Kopf. »Ich muß dich um einen Gefallen bitten.« »Pst!« Der alte Mann blickte sich um. »Sprich nicht mit mir. Ich werde mit dir sprechen. Schau heute abend in deinen Nachttopf. Und jetzt dreh dich um.« Luka nahm seine Hacke und arbeitete weiter, wäh rend die Wärter zurückkehrten. Als an diesem Abend der Alte hinter dem Wärter hereinkam, blieb Luka völlig still. Wie gewöhnlich lag er auf seinem Bett und tat so, als schliefe er fest. »Steh auf!« befahl der Wärter. Luka sprang aus dem Bett und stand, sich die Au gen reibend, vor dem Wärter. »Ja, mein Herr.« »Nimm die Arme hoch.« Der Wärter klopfte ihn mit geübten Händen ab, schleuderte ihn herum und stürmte hinaus. Schweigend wechselte der alte Mann die Nachttöp fe aus. An der Tür wandte er sich um und zwinkerte Luka noch einmal zu, bevor er ging. Als die Schritte verklungen waren, schlüpfte Luka leise wie ein Mäu schen zu dem Nachttopf und drehte ihn um. Es lag nichts darunter. Einen Moment lang war er verwirrt, 97
dann hob er den Deckel. Am Boden des Topfs sah er einen Stoffbeutel liegen, in dem sich die abgebroche ne Spitze einer Hacke und eine zusammengefaltete Nachricht befanden. Hastig faltete Luka den Zettel auf und entzifferte die zittrigen Schriftzeichen: Grabe westlich von der Vertiefung in der Außenwand. Damit mußte die Rückwand seiner Zelle gemeint sein. Der Gedanke gefiel ihm, nicht aber die Strecke, die vor ihm lag. Jeden Tag, wenn er in seine Zelle zurückkehrte, zählte Luka jetzt die Schritte vom Ein gangstor über den Hof bis zu seiner Gefängniszelle. Nach seinen Berechnungen betrug die Entfernung von der hinteren Außenmauer bis zu seiner Zelle mindestens fünfunddreißig Schritte; eine ungeheure Reise für eine winzige Hacke. Doch die entscheidende Frage war die nach der Beschaffenheit des Bodens. Wenn es sich um die lose rote Erde handelte, die im Süden so häufig anzutreffen war, dann ginge das Graben rasch vonstatten. Der Untergrund könnte aber ebensogut härter sein und teilweise sogar aus versprengtem Felsgestein bestehen. Als Luka die Hacke unter seinem Kopfkissen her vorzog und sie in der Hand wog, kam eine geheim nisvolle Kraft über ihn. Das Werkzeug hatte keine magische Kraft, doch es war das einzige, das er besaß; all seine Überzeugungen, Träume und Hoffnungen ruhten auf dieser winzigen, schwachen Hacke. Atamis Worte klangen in seinen Ohren: »Ihr seid geboren, um zu überwinden und zu über ragen. In Euch ist Größe!« 98
Es war schon nach Mitternacht, und der Mond blinzelte durch das winzige Fenster, als Luka sein Bett beiseite schob, den im Westen sinkenden Mond begrüßte und zu graben begann. Von dieser Nacht an gönnte er sich nie mehr als vier Stunden Schlaf. Sei ne innere Uhr weckte ihn, und er grub, bis der Mond untergegangen war und der Himmel sich silbern färbte. Dann schlief er, bis das Klopfen an seiner Zel lentür ihn unsanft zu einem Frühstück aus wäßrigem Reisschleim weckte. Bei der Zwangsarbeit ließ seine Energie deswegen keinesfalls nach. Ganz im Gegenteil, er lächelte jetzt öfter und summte manchmal sogar ein paar Takte eines Liedes aus seiner nördlichen Heimat. Am Ende eines jeden Arbeitstags hob er die Blume auf, die für ihn an der Wegkreuzung bereitlag. Jeder Tag be scherte ihm eine andere Blüte, und jede von ihnen bedeutete Leben und nicht Tod. Er wünschte sehn lichst, wieder einmal einen Blick auf das Mädchen zu erhaschen, doch es gelang ihm nie. Die einzigen Spuren von ihr waren der Duft der Blütenblätter und die Frische des Taus. Eines Tages, während der fünfminütigen Mittags pause, summte Luka über einer Schüssel schimmeliger Yamswurzeln vor sich hin, als der Alte ihn böse über den Schüsselrand hinweg anfunkelte. »Halt den Mund!« fauchte er und trat fest auf Lukas rechten Fuß. »Warum?« »Hier ist man nicht so vergnügt«, zischte er und gab Luka eine Kopfnuß. 99
»Danke«, flüsterte Luka. Wieder einmal hatte der Alte ihn gerettet. Jede Nacht kam Luka ungefähr sieben Zentimeter voran. Da die dunkelrote Erde feucht war, konnte er nahezu lautlos arbeiten. Fünfzehn Tage später hatte er unter seinem Bett einen L-förmigen Tunnel aus gehoben, groß genug, um zusammengerollt darin zu schlafen. Und was für eine Lust es war, dort für ei nen kurzen Augenblick auszuruhen, die Augen zu schließen und von der Welt draußen zu träumen. Eines Nachts, als Luka gerade in sein Loch gekro chen war, hörte er schwere Schritte den Gang ent langkommen. Er erstarrte vor Angst, denn es gab auf dieser Abteilung immer wieder unvorhergesehene Kontrollen. Wenn die Schritte zu ihm unterwegs wa ren, so hatte er kaum genug Zeit, um aus seinem Loch zu robben und sich schlafend zu stellen. Auch konnte er die mit Erde beschmierten Kleider nicht mehr wechseln. Rasch ringelte er sich wie ein Regenwurm aus sei nem Bau und wollte eben das Bett darüberschieben, als eines der Beine sich in dem Loch verfing. Er ver fluchte seine Unaufmerksamkeit und befreite das Bein. Die Schritte kamen näher, hielten an. Luka wußte, daß sie ihm galten, hatte aber keine Zeit, sich nach dem Grund zu fragen. Er schlüpfte aus seinen Kleidern und stopfte sie in den Nachttopf, der mit seinen Exkrementen gefüllt war. Als der Wärter die Tür aufstieß, stand Luka splitternackt über den Nachttopf gebeugt. Er hatte sich den Zeigefinger tief 100
in den Hals gesteckt und gab die Reste seines mage ren Nachtmahls von sich. »Unangekündigte Inspektion. Strammgestanden!« brüllte der Wärter. »Ich kann nicht. Mein Magen tut so weh.« Der Raum stank nach Erbrochenem, und der Wär ter wich zurück. Er leuchtete mit seiner Laterne in jede Ecke der Zelle, verharrte dann vor dem Bett und wollte gerade darunter schauen, als Luka der Länge nach hinfiel und sich erneut übergab, diesmal auf die Füße des Wärters. »Hör mit dem Unfug auf und putz die Sauerei weg!« »Sofort, mein Herr, sofort«, murmelte Luka, und wischte mit seiner Bettdecke über die Schuhe des Wärters. Dieser gab ihm eine Ohrfeige und verließ mit zugehaltener Nase die Zelle. Noch lange nach dem er gegangen war, murmelte Luka seine Dankge bete an Buddha.
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Die Aussicht auf den Tod ist schlimmer als der Tod selbst. Während das eine fin ster dräute, war das andere wenigstens schnell vorbei. Trotz seiner Hoffnungen fühlte sich Luka manchmal niedergeschlagen, aber er war getrieben von einem geradezu irrwitzigen Über lebenswillen. Einem jungen Tiger gleich, der in einer Grube gefangen ist, krallte er sich, den Tod vor Au gen, in die steilen Wände, nur um immer wieder mit blutigen Pranken abzurutschen. Jede Nacht, wenn der Mond seine östliche Bahn beschritt und einen Lichtstrahl durch den Spalt des winzigen Fensters schickte, stand Luka auf seiner Pritsche und badete das Gesicht im Mondschein. Mit dem Licht auf der Haut konnte er den Duft der Berg blumen in den endlosen Tälern des Nordens riechen. Der Gedanke an diese Blumen und an alles, was sein Leben lebenswert machte, gab ihm die Kraft, wieder in den schmalen Tunnel zu kriechen, den er weit in den Fuß des westlichen Berges vorangetrieben hatte. 102
Vor vier Monaten hatte er mit der Arbeit begon nen, war aber weit hinter seinen Erwartungen zu rückgeblieben. Seine anfängliche Schätzung war zu optimistisch gewesen. Felsbrocken hatten ihm den Weg versperrt, so daß er einen Monat in Verzug war. Das machte ihn wütend, und manchmal grub er mit solcher Besessenheit, daß er glaubte, seine Arme würden abfallen. Während der ersten Tage hatte er häßliche große Blasen bekommen, die sich in rote Schwären verwandelt hatten, doch Luka ließ nicht nach. Was zählte im Angesicht des Todes eine kleine Blase, was war ein kleiner Schmerz im Vergleich zur Lebenslust? Bald hatten sich die Blasen zu Schwie len verhärtet. Wenn er sich gelegentlich mit den Händen übers Gesicht fuhr, erschrak er unter der ei genen Berührung. Dies waren nicht mehr seine Hän de, eher schon abgehärtete Tigerpranken. Sanft rieb er damit die fünf Muttermale auf seinen Fußsohlen. Sie seien nicht umsonst da, hatte der Mönch gesagt, denn er sei der Auserwählte. Luka lächelte und spür te, wie Kraft in ihn zurückströmte, und die Müdigkeit wich wie ein Geisterschatten. Jedesmal wenn er seine Geheimwaffe hervorholte, um mit der nächtlichen Arbeit zu beginnen, dachte er an den guten alten Mann, der ihm die kleine Hacke zugesteckt hatte. Er wußte noch nicht einmal seinen Namen, nur seine Nummer – 788. Jeden Morgen, wenn er hinter ihm hermarschierte, fühlte er beim Anblick des taumelnden Alten die Last der Schuld. Eines Morgens jedoch schienen die Schritte von 103
788 mit neuer Energie geladen. Seine Hände zitterten nicht mehr so sehr, und er wirkte ein wenig größer als sonst. Er ließ die Arme locker vor- und zurück schwingen und ging nicht so steif wie sonst. Viel leicht lag es am hellen Sonnenschein und an der an genehmen Seebrise, die in den Blättern der umste henden Bäume spielte. Gleichwohl brach nur ein weiterer trostloser Tag in dieser Stadt an, kein Grund für einen alten Mann, wie ein kleines Kind zu hüp fen. An der Wegbiegung drehte 788 sich um und zwin kerte ihm zu. Es war ein freundliches Zwinkern, das eine kleine Geschichte zu erzählen hatte und nicht bloß ein Ja oder Nein enthielt, einen Morgengruß oder abendlichen Abschied. Es schien zu sagen: Ich habe gute Neuigkeiten. Ein Geheimnis. Und Luka konnte kaum erwarten, es zu erfahren. Zu Mittag schöpfte der fette Koch das Essen mit einer schmutzigen Kelle aus einem großen Holzbot tich. Er war ständig in Eile und immer über irgend etwas verärgert. Hatte man Glück, so erwischte man einen ganzen Schöpfer voll, doch oft verschüttete er die Hälfte und wandte sich gleich der nächsten leeren Schüssel zu. Beschwerden waren zwecklos, denn dann ging man bei den nächsten Mahlzeiten leer aus. Diese Praxis war der Lagerleitung gerade recht: Gebt ihnen genug zum Überleben, aber nicht soviel, daß sie stark werden und Fluchtgedanken hegen. Ein vorbildlicher Gefangener war der, dessen Rippen man zählen konnte, der einen sichtbar eingefallenen 104
Bauch und scharf hervorstehende Wangenknochen hatte. Kein Funke glühte in seinen Augen, keine Kraft, etwas zu begehren. 788, der bislang das Leben eines Toten geführt hatte, war ein gutes Beispiel für diese Politik gewesen. Doch der wandelnde Tote war ein anderer gewor den. Er saß dicht neben Luka und sah sich nach links und rechts um, bevor er wie gewöhnlich die Hälfte seiner Ration in Lukas Schüssel kippte. »Ich komme hier raus.« Die Stimme des Alten sang fast. Luka war entsetzt von dieser wunderbaren Nach richt. »Wann verläßt du uns?« »Bald, aber …« Er hielt inne und spähte gewohn heitsmäßig nach den Wärtern aus. Das wird sich der Mann sein Leben lang nicht mehr abgewöhnen kön nen, dachte Luka. Dann senkte sich die Stimme des Alten zu einem Flüstern: »Wart einfach ab. Viel leicht kann ich dir helfen. Doch jetzt Ruhe, der Wachhund kommt.« Obgleich der alte Mann nichts für ihn tun konnte, war Luka von Herzen froh für ihn. Er hatte in dieser Minute mehr gesprochen als in all den Monaten, die sie Seite an Seite gearbeitet hatten. Seine Stimme war verändert, und seine Haut hatte ungeahnte Farbe bekommen. Den ganzen Nachmittag über sah Luka ihn graben und vor sich hinsummen. Auch ein gele gentliches Lächeln beobachtete er, ein Lächeln, das nur ihm selbst galt. Was Freiheit – oder bloß die Er wartung von Freiheit – aus einem alten Mann ma chen konnte, war erstaunlich. 105
Wieder brach die Nacht herein. Luka stand wie gewöhnlich auf seiner Pritsche und wartete auf die Berührung des jungen Mondes. Damit würde sein nächtliches Leben beginnen. Er war erst sechs Meter weit gekommen, wo er eigentlich schon siebenein halb Meter hätte geschafft haben sollen. Bei dieser Geschwindigkeit würde er demnächst am Galgen baumeln, und seine ganzen Mühen wären umsonst gewesen. Er konnte den Geschmack des Todes be reits im Mund spüren. Vielleicht war es ja nur der Geschmack von Blut, aber er war da, und Luka fand ihn abscheulich. Am liebsten hätte er aus Leibeskräf ten geschrien und die Ungerechtigkeit dieser Welt angeprangert, aber er konnte es nicht riskieren, daß ihn jemand hörte. Tränen rannen ihm über das Ge sicht. Er weinte nicht oft, nicht einmal in jenem Au genblick, als ihm sein Todesurteil verkündet worden war, doch heute fühlte er eine neue, ungekannte Ein samkeit. Das mußte an der Nachricht von 788 liegen. Der alte Mann in seiner immer wachsamen, diebes gleichen Existenz wäre nun nicht länger an seiner Seite. Er hätte keinen Vertrauten mehr um sich, bloß noch die haßerfüllten Gesichter der Wärter. Nur die Ratten mit ihren nächtlichen Besuchen, die Schlan gen in den Gräben, an denen er täglich arbeitete, und die flüchtige Berührung des Mondlichts würden ihm bleiben. Obgleich er sich für den alten Mann freute, wurde seine Trauer immer größer. Doch Luka war zum Dulden und Ausharren gebo ren. Er ohrfeigte sich für seine Schwäche, griff nach 106
der Hacke und grub weiter. Er lobte sich für seine Fähigkeit, Gefühle auszuschalten und sein Ziel lo gisch und entschlossen anzugehen, wie man es von einem guten Bergbewohner erwartet, der plötzlich in eine Schneewehe gerät. Besonnenheit war hier von nöten. Und so machte er sich besonnen ans Graben. Als der Tag schon fast graute, traf Luka auf eine Mauer aus nassem, hartem Fels. Er hielt nur kurz in ne, um die neue Lage zu überblicken. Der Fels war massiv, und es war der erste, auf den er bislang ge stoßen war. Doch so leicht ließ er sich nicht abschre cken. Er wich nach oben aus. Auch da war Fels. Er probierte es nach unten, dann nach links und rechts. Er erweiterte seinen Tunnel auf über einen Meter Breite, doch der Fels schien kein Ende zu nehmen. Womöglich handelte es sich um die Spitze eines enormen Steinbrockens. Falls dem so war, wäre er ein toter Mann. Sein Plan war mit diesem Felsbro cken zusammengestoßen. Doch war er augenblick lich viel zu erschöpft, um noch Gefühle zu haben; er lehnte sich an den kalten Stein, besiegt und verloren. Dieser verdammte Brocken! Mit diesem Fluch kroch er zurück zu seiner schmalen Pritsche und fiel in ei nen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen erwachte Luka zum ersten Mal gänzlich ohne Hoffnung. Der Fels lastete schwer auf seinem Herzen, und seine Stimmung sank immer tiefer. Der morgendliche Gong, der ihm sonst als Symbol des Lebens gegolten hatte, klang nun wie eine Todesglocke. Nicht einmal seiner Frühstücks 107
schüssel schenkte er Beachtung. Er war weder kör perlich noch geistig aufnahmefähig. Als er 788 wiedersah, wirkte der alte Mann unge wöhnlich müde. Luka versuchte ein paarmal, mit ihm zu sprechen, doch der Alte wandte sich absichtlich von ihm ab. Dieses Verhalten war befremdlich, denn Luka be nötigte dringend seinen Rat. Als er ihn abermals an stieß, bemerkte er, daß der Alte in der kurzen Pause, die man den Gefangenen vergönnte, fest eingeschla fen war. 788 verhielt sich auch an den folgenden Tagen höchst sonderbar. Luka war völlig verzweifelt. Jede Nacht inspizier te er den Fels von neuem, und jedesmal wurde ihm deutlicher, daß er in der Falle saß. Er wünschte sich übermenschliche Kräfte, die den Stein gesprengt und seine Verzweiflung in ein großes Loch verwandelt hätten, doch so etwas gab es nicht. Jede Nacht, bevor er unwillig die Augen für den Luxus des Schlafes schloß, strich er einen weiteren Tag auf seinem pro visorischen Kalender an der Wand aus. Ein weiterer sinnloser Tag, der ihn seinem Ende näher brachte. Was würde er danach fühlen? Würde er sich in einen Geist verwandeln oder bloß zu einem Häuflein Asche werden, das der Wind für immer zerstreuen würde? Aus dem Nichts gekommen und ins Nichts zurückgekehrt. In dieser Nacht weinte Luka sich in den Schlaf.
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Am folgenden Morgen erschien 788 nicht. Offenbar war er entlassen worden. Auf dem Platz vor Luka stand ein anderer Gefangener mit der Nummer 787, ein Mann in mittlerem Alter mit gebeugtem Rücken und verschlagenem Blick. Wie konnte 788 einfach ver schwinden, ohne eine Nachricht oder Spur zu hinter lassen? Später, als Luka einen weiteren Tag an seinem Kalender ausstrich, hörte er im Osten Donner grol len. Ein Sturm war im Anzug. Für die ansässigen Fischern bedeutete Donner im Osten, daß sich Re gen über dem Meer sammelte und auflandiger Wind zu erwarten war. Blitze durchzuckten den Himmel. Plötzlich wurde Luka von einem Geräusch aus seinen Gedanken gerissen, das von der Mauer hinter der Pritsche kam. Er schloß die Augen und konzent rierte sich. Zwischen zwei Donnerschlägen hörte er es abermals. Es kam näher und näher. Als Luka sein 109
Ohr gegen die Mauer preßte, stellte er fest, daß das Geräusch nicht von dort, sondern aus dem Boden kam. Da grub jemand! Angst und Freude kämpften in seinem Herzen, während er mit der Hacke in der Hand abwartend dastand, bereit, sich auf den Eindringling zu stürzen. Als das Geräusch nur noch um Haaresbreite vom Boden unter seiner Schlafstatt entfernt schien, schob er schnell die leichte Pritsche weg und versteckte sich dahinter. Schließlich tat sich mit einem krachen den Schlag unmittelbar neben seinem Loch ein wei teres auf. Jemand hatte die Mauer untertunnelt. Da tauchte auch schon ein lehmverschmiertes Gesicht in der Öffnung auf. Es war niemand anderer als sein geliebter Freund. »788!« Luka ließ die Hacke fallen und half ihm auf die Füße. »Wie in Buddhas Namen hast du das geschafft?« »Ich arbeite schon eine ganze Weile daran. Komm! Ich möchte, daß du einen Besuch bei mir machst.« Luka sprang in das Loch. »Schieb die Pritsche darüber!« »Wohin gehen wir?« »Zu mir.« Luka kroch hinter dem alten Mann durch den en gen, aber sauber ausgeschachteten Tunnel, den der Alte gegraben hatte. »Wie hast du das so ordentlich hingekriegt?« fragte Luka, als er in der Zelle von 788 der Öffnung entstieg. 110
788 streckte ihm die Hände hin. Die Finger stan den ab wie zehn dicke Metallnägel. »Mit den Fingern?« Der Alte nickte und blickte Luka an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Dann nahm er ihn bei der Hand und lud ihn ein, auf seiner Pritsche Platz zu nehmen. »Weißt du, wer ich bin?« »Ich weiß nur, daß du mein Retter bist.« »Das ist nicht wichtig. Jedenfalls kenne ich dich. Du heißt Luka.« Luka war völlig verblüfft. In dieser Hölle namens Gefängnis war jeder nur eine Nummer. »Wie hast du meinen Namen erfahren?« »Rate.« Ein seltenes Grinsen schlich sich auf die Züge des alten Mannes. »Gefängnisakten?« »Ganz und gar nicht.« Jetzt strahlte der Alte ein breites Lächeln. »Ich habe deine Gegenwart schon am Tag unserer ersten Begegnung gespürt.« »Wirklich?« »Und ich war hocherfreut, als meine Ahnung durch die Muttermale auf deinen Fußsohlen bestätigt wurde.« Ein weiterer Schock. »Meine Muttermale?« »Weißt du noch, wie du bewußtlos in den Graben gefallen bist und deine Füße in den Himmel ragten? Ich wollte meinen Augen nicht trauen.« Luka schlug die Hände vor die Brust. Furcht pack te ihn, denn Atamis Stimme klang ihm in den Ohren: »Laßt nie jemanden wissen, wer Ihr seid!« 111
»Kein Grund zur Beunruhigung.« 788 legte die Hände auf Lukas Schultern. »Wer bist du?« »Ich heiße Gulan.« »Gulan?« Der Name kam ihm bekannt vor. Doch wo hatte er ihn gehört? Dann fiel es ihm wieder ein. Dieser heilige Name war nur einmal genannt worden, und zwar an jenem besonderen Abend, als Atami ihn in die Kunst des jin-gong eingeführt hatte. Luka schoß von der Pritsche hoch und packte den Mann. »Ihr seid der Meister meines Meisters?« »Dein Großmeister sozusagen.« Der Alte löste sich lächelnd von ihm. Luka fiel auf die Knie und machte Kotau, indem er ein-, zwei-, dreimal die Stirn auf den Boden schlug. »Vergebt mir, Großmeister. Euer ergebenster Schüler muß blind gewesen sein. Bitte straft mich hart. Ich war so unhöflich, so unwissend …« »Steh auf! Und vor allem schone deinen Kopf, sonst bricht er noch.« Er nahm Lukas Gesicht in bei de Hände und betrachtete ihn. »Heiliger Knabe. Oh, du bist es, mein heiliger Knabe!« »Laßt doch die Heiligkeit. Bitte sagt mir, warum Ihr hier seid.« »Zur Rettung unseres Xi-ling Kung Fu.« Er zog die Nase kraus und kniff die Augen zusammen, so als blicke er in das Dunkel seiner Vergangenheit zu rück. »Unsere Bruderschaft war Kaiser Ghengi seit langem ein Dorn im Auge, da es uns im Blut liegt, gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu kämp 112
fen. In einer dunklen Nacht vor fünfzehn Jahren, zehn Monaten und drei Tagen sahen sich alle unsere Xi-ling-Kämpfer plötzlich von den kaiserlichen Truppen der Mogo-Garnison umzingelt. Sie beschul digten uns des Landesverrats.« »Warum denn?« »Wegen Konspiration mit dem abgesetzten chine sischen Kaiser Lulan. Es begann, als Ghengi heraus fand, daß einer meiner fähigsten Meister sich heim lich dem Widerstand gegen die Mogo-Invasoren an geschlossen hatte. Sein Name war Mudana Mutami Atami.« »Mein Atami?« »Ja, dein sehr patriotischer Atami«, bestätigte Gu lan und fuhr fort: »Er wurde zum höchsten General des ehemaligen Kaisers Lulan. Atami führte die chi nesischen Truppen von einem Sieg zum nächsten.« »Davon hat Atami mir nie erzählt.« »Es gibt viele Dinge, die er dir zu deinem eigenen Besten vorenthalten hat«, murmelte der Alte. »Bald darauf kam die Katastrophe. Es hatte keineswegs damit zu tun, daß es Atami an Wagemut gemangelt hätte, vielmehr war es die Folge seines weichen Her zens.« »Was meint Ihr damit?« »Jahrelang hatte Atami gegen die Mogo-Armee gekämpft: Tagsüber führte er seine Truppen an, nachts bewachte er den ehemaligen Kaiser und seine Familie. Er zog mit ihnen über hohe Gebirge und durch reißende Flüsse, und während dieser langen 113
Reise verliebte er sich in Zuma, die schöne Tochter des Kaisers.« »Meine Mutter?« Gulan nickte. »Ja, es war eine Verirrung des Her zens, der der klare Verstand nichts entgegenzusetzen hatte. Es ist nichts Schlechtes, seine Liebe einer Würdigen wie Zuma zu schenken, doch das Unglück lag darin, daß Zuma auch von Mogo-Kaiser Ghengi begehrt wurde.« Luka glaubte sich im Auge eines Wirbelsturms zu befinden. Diese Eröffnungen waren zuviel für ihn, die Spannung brachte ihn schier um. »Was geschah dann?« »Atami war zu sehr Mönch. Ihre Liebe füreinander mußte geheimgehalten werden. Sie fürchtete sich vor der Ablehnung ihres Vaters und wollte die Zukunft eines großen Generals nicht in Gefahr bringen. Daher waren sie fast immer getrennt; Atami focht seine Schlachten, und Zuma verbarg sich vor den Mogo. Doch ihre Herzen waren immer beisammen. Ihre Liebe füreinander folterte sie. Dann erhielt Atami eines Tages die Nachricht, daß Zuma verschwunden und ihr Pferd allein ins Lager zurückgekehrt sei. Auf seiner Suche nach ihr tötete er alle Soldaten, die sich ihm in den Wege stellten. Doch als er sie schließlich fand, war Zuma, deine Mutter, bereits von Ghengi entehrt.« Gulan senkte den Kopf, Luka ballte die Fäuste. »Aber damit war die Tragödie noch nicht zu Ende. Während Atami fort war, geriet seine Armee in einen 114
tödlichen Hinterhalt. Alle Zelte wurden niederge brannt, die Pferde gemetzelt und seine Soldaten er mordet. Der ehemalige Kaiser und seine Familie ka men in den Flammen um.« Tränen glitzerten wie Regentropfen in Lukas Au gen, und der alte Mann wischte sie zärtlich mit sei nem Ärmel ab. »Atami floh mit Zuma in die Wälder. Sie wanderten und wanderten, bis die Nacht deiner Geburt kam. Dein Leben begann auf einem Felsvor sprung.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Auf diesem Felsvorsprung endete auch das Leben deiner Mut ter.« »Warum? Wie ist sie gestorben?« »Sie flog wie ein Adler von dem Fels auf und wurde so auf ewig frei.« Luka wurde von einem unbezwingbaren Schluch zen geschüttelt. Doch im Geist sah er einen wunder schönen Adler seine eleganten Schwingen entfalten und in die Tiefen eines grünen Tals hinabgleiten. »Seit ihrem Hinscheiden bist du der Letzte in der langen Ahnenreihe der Lu-Dynastie. Atami nannte dich nach deinem Großvater, Lulan, und weihte sein Leben deinem Schutz und deiner Erziehung. In allen seinen Briefen an mich gab er seiner Liebe zu dir Ausdruck und schilderte mir bis in die kleinste Ein zelheit, wie du aussiehst: deine schwertgleichen Brauen, die von Stärke künden; die hohe, gerade Na se – Autorität; der weite Mund – Großzügigkeit; das scharf konturierte Kinn – Widerstandskraft; große Ohren – Macht, die in alle vier Richtungen aus 115
strahlt; und dann die Muttermale, diese kostbaren himmlischen Zeichen, die dich als einzigartigen und größten aller Kaiser ausweisen.« »Aber was hat das alles mit Euch und Eurem Ge fängnisaufenthalt zu tun?« Der Alte kicherte. »Nach dem Sturz Kaiser Lulans forderte Ghengi Atamis Kapitulation und deine Rückkehr. Unter dem Schutz des Xi-ling-Tempels konnte Atami fliehen und schwor, dich, diese kleine Flamme der Hoffnung, am Leben zu erhalten, damit du eines Tages China zu neuer Größe führen könn test. Daraufhin rückten die Mogo-Truppen an und drohten uns mit völliger Vernichtung, wenn wir dich und Atami nicht herausgäben.« »Und was habt Ihr getan?« »Was hättest du denn getan, Luka?« »Gekämpft.« »Tausend gegen hunderttausend?« »Ich dachte, ein Xi-ling-Kämpfer kann es mit hundert Gegnern aufnehmen.« »Das stimmt. Doch die Vernichtung begann mit unseren Frauen und Kindern und reichte bis ins neunte Glied unserer Blutsverwandten.« »Wie habt Ihr Euch verhalten, Großmeister?« »Ich lernte die Lektion des Wassers: Sei weich, aber unzerstörbar. Als ihr Führer lieferte ich mich selbst aus, unter der Bedingung, daß man allen mei nen Kämpfern und ihren Familien Freiheit zusicher te.« Luka kniete nieder und ehrte den alten Mann in 116
stiller Umarmung, während ihm der Großmeister lie bevoll übers Haar strich. »Ich konnte doch nicht eine dreihundertjährige Tradition aussterben lassen. Ich hatte allerdings auch eigennützige Motive.« »Welche denn?« »Die Vervollkommnung des yin-gong.« »Die Silberne Kunst?« fragte Luka. »Ja, es ist die höchste Form des Xi-ling. Darin hat sich die Essenz vieler verschiedener Kung-Fu-Stile kristallisiert – die Stärke der Südlichen Fäuste, die Kraft der Nördlichen Kicks, die Geschmeidigkeit der Östlichen Schwinger und die Durchschlagkraft der Westlichen Winde. Die Silberne Kunst empfängt ihre Kraft vom Mond, der uns von irdischen Sterblichen in Wesen des Tierkreises verwandelt, während das goldene Licht des jin-gong seine Stärke von der Son ne empfängt und uns zu Feuerbällen macht, die ewig leuchten. Wenn yin-gong und jin-gong sich vereinen, dann kann man überallhin gelangen und alles Ge wünschte bewältigen. Sonne und Mond sind unsere einzigen Grenzen.« »Über jin-gong habe ich schon gehört.« »Von Atami natürlich. Er ist mit der Aufgabe be traut, es zu vervollkommnen. Wenn wir uns wieder treffen, wird der alte Ruhm des Xi-ling zu ungeahn ten neuen Höhen geführt werden.« Luka ließ traurig den Kopf hängen. »Was ist mit dir, mein Junge?« Da erzählte Luka Gulan von der Himmelsbestat 117
tung. »Sie haben ihn fortgeschafft und gewiß getötet.« Er konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Auch die Augen des Alten füllten sich mit Tränen, doch er lächelte dabei, was Luka sehr verwirrte. »Warum lächelt Ihr, Großmeister?« Luka rieb sich die Augen. »Er kann nicht tot sein.« »Wie könnt Ihr so sicher sein, daß er noch lebt?« »Ich habe jede Falte in Atamis Gesicht studiert und kenne sein Schicksal wie meinen eigenen Hand rücken.« »Könnt Ihr jemandes Zukunft aus seinem Gesicht lesen?« Gulan nickte. »Atami, der zähe Kämpe, wird hun dert Jahre alt werden. Er hat das längste Kinn, das ich jemals bei Mensch oder Tier gesehen habe.« »Welch glückliche Weissagung, aber ich kann nur schwer daran glauben«, murmelte Luka bedrückt. »Hab Zuversicht, mein Junge! Bald werden wir ihn finden, und mein Silber wird sich mit seinem Gold vermählen. Ich bin sicher, daß er diese Kunst mittlerweile zur Vollkommenheit gebracht hat. Mein armer Junge, ich weiß nicht, wie ich Buddha für deine Ankunft danken soll und dafür, daß du diesen Hoff nungsschimmer mit mir teilst. Von nun an stehst du unter meiner Obhut. Ich werde für dich sorgen, wie Atami es täte.« Luka wurde von einem völlig vergessenen Gefühl der Geborgenheit überwältigt. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich wieder wie ein Kind. 118
Draußen vor der Zelle verging die Nacht, und der Tag brach an. Ein schmaler, rosiger Lichtstreifen drang vom östlichen Horizont durch den Fensterschlitz und vertrieb die Dunkelheit. »In den zwei Monaten bis zu deiner Hinrichtung haben wir viel zu tun«, erklärte Gulan. »Wir?« »Ja, ich werde die Kunst des yin-gong an dich wei tergeben.« »Die Kunst des yin-gong? Aber ist sie nicht Atami und Euch vorbehalten?« »Einen geeigneten Erben für unser Wissen und unsere Tradition zu finden, gehört zu unseren heili gen Pflichten. Außerdem vermute ich, daß hinter Ghengis Begnadigung eine düstere Absicht steckt.« »Ich bin Euch zutiefst dankbar, Großmeister.« Luka verbeugte sich mit vor der Brust gekreuzten Armen. »Morgen nacht bei Mondaufgang beginnen wir in meiner Zelle mit den Übungsstunden.«
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Am folgenden Tag hatte Luka ein Lied im Herzen und konnte den Sonnenuntergang kaum erwarten. Die Welt um ihn herum schien plötzlich wie in Farben getaucht tiefe, kristallklare Tönungen, die seinem Auge so lange verborgen geblieben waren. Die Vögel sangen wie der, und die Grillen bezauberten ihn von neuem. Im Fluß plauderte geräuschvoll eine Welle mit der ande ren. Sogar seine Mitgefangenen schienen wieder zum Leben erwacht. In dieser Nacht erhellte ein Mondstrahl Gulans Zelle. Luka saß dem alten Mann auf dem Boden in stiller Meditation gegenüber. Gulan begann mit seiner Lektion. »Tin, Silber, ist die Farbe des Mondlichts. Deshalb üben wir jetzt, während das Silberlicht auf unseren Schultern liegt.« Luka nickte. »Viele Kämpfer haben die Essenz des Kung Fu mißverstanden. Es hat nichts mit außen zu tun. Alles 120
muß von innen kommen. Und jetzt schlag mich, da mit du siehst, was ich meine!« »Wie bitte?« »Das ist ein Befehl. Steh auf!« Luka sprang in die Pferde-Position, brachte die Fäuste in Stellung, zö gerte dann aber. »Diese Unentschlossenheit! Kannst du keinen Be fehl ausführen? Schlag hier auf meinen dan-tien.« Gulan deutete auf einen Punkt fünf Zentimeter unter seinem Nabel. Befehl war Befehl, aber der Mann glich einem wandelnden Skelett. Wie konnte Luka ihm da einen Schlag in den Bauch versetzen? Er würde gewiß in der Mitte durchbrechen. »Du denkst, ich würde mitten durchbrechen, stimmts?« »Ja, das befürchte ich.« »Dann tu es trotzdem.« »Ich kann nicht.« »Du verschwendest kostbares Mondlicht.« »Also gut.« »Schlag mit aller Kraft zu.« Luka biß die Zähne zusammen. Es war schwieri ger, als er gedacht hatte. Er zog die rechte Faust so weit wie möglich zurück und landete seinen kraft vollsten Schlag, doch etwas höchst Sonderbares ge schah. Gulans dan-tien, weich wie Schlamm, sog seine Faust in die runzlige Haut hinein, die daraufhin seinen Arm umschlang wie der Arm eines Oktopus. Luka 121
versuchte vergeblich, seine Faust zu befreien. Sie wurde nur immer tiefer und fester umwickelt, bis ein scharfer Schmerz durch seinen Arm bis in die Schul ter führ. Der Kopf dröhnte ihm. Als er hilflos zu schlottern begann, drückte Gulan seinen dan-tien mit solcher Kraft wieder nach außen, daß Luka gegen die Wand geschleudert wurde und dort gut fünf Sekunden hängen blieb. Erst nachdem Gulan seinen dan-tien wieder völlig entspannt hatte, glitt Luka zu Boden. »Au!« »Ich hätte dir leicht den Arm auskugeln können.« Luka rieb sich den Rücken, dann die Faust. »Wo her nehmt Ihr diese Kraft?« »Von meiner yin-gong-KRAFT, meinem qi.« Wieder diese innere Energie. »Wie habt Ihr sie erworben?« »Gute Frage. Laß mich überlegen. Ich habe vier tausendzweihundertsechsundzwanzig Nächte in tiefer Konzentration und Einsamkeit, fern vom roten Staub der nichtigen Welt verbracht.« »Das sind ja fast zwölf Jahre!« rief Luka aus. »Werde ich auch so lange brauchen?« »Nein. Bei deiner Bereitschaft und deinem Fleiß können wir etwa fünfzig Tage rechnen.« »Aber wie kann ich in fünfzig Tagen lernen, was Ihr Euch in zwölf Jahren angeeignet habt?« »Das kannst du natürlich nicht, aber ich kann es an dich weitergeben.« »An mich weitergeben?« »Ja, unter einer Bedingung.« 122
»Welche ist das, Großmeister?« »Du mußt in den kommenden fünfzig Tagen dei nen Körper leeren und deine Seele reinigen, damit ich es dir einflößen kann.« »Wie soll ich das erreichen?« »Mittels der Praktiken der wu-Philosophie, der Lehre vom Nichts.« »Wieso Nichts?« »Stell dir vor, du seist eine Bambusflöte, die innen hohl ist. Wenn der Flötenspieler in sein Instrument bläst, wird es lebendig und produziert die herrlichste Musik. Ich bin der Flötenspieler mit dem Atem des yin-gong, und du bist die Flöte, leer und aufnahme bereit.« »Fangen wir an.« »Wir beginnen mit einer reinigenden Meditation. Setz dich mit dem Gesicht zum Mond dort an die Wand. Breite die Arme aus und öffne dich der Mondgöttin. Denk an nichts als Silber.« Gulan legte ein zerlesenes Buch vor sich auf den Boden. Auf je der Seite waren Illustrationen zu sehen, die einen Mönch in unterschiedlichen Positionen und Verren kungen zeigten. »Eines muß ich dir noch sagen. Wenn die Übertra gung einmal begonnen hat, kann sie nicht mehr unter brochen werden«, sagte Gulan. »Ein Abbruch hätte den Verlust der gesamten Kampfkunst zur Folge.« »Ich verspreche, nicht eine Sekunde lang zu zögern, wenn ich diesen Weg erst einmal beschritten habe.« »Sei gewarnt. Jede mit Rezitation und Meditation 123
verbrachte Nacht bringt große Schmerzen und drasti sche Veränderungen; es kann Momente geben, in denen dein Leben bedroht ist. Bist du ganz sicher, daß du bereit bist?« »Ich bin es, Großmeister«, sagte Luka mit fester Stimme. »Danke, Buddha. Die Xi-ling-Tradition hat wieder Hoffnung.« Luka schloß die Augen zu Gulans wisperndem Ge sang und merkte, wie sein Geist sich dem Mondlicht zuwandte und öffnete wie nie zuvor. Die Gesänge schienen der Schlüssel zu dem rostigen Schloß in seinem Kopf zu sein. Er fühlte sich hochgehoben und wie befreit von seinem Körper; er meinte, durch das Fenster in eine mondbeschienene Welt zu schweben, wo er durch gewaltige Schluchten flog. Einige Male war es ihm, als kehre er zwischendurch in seinen Körper zurück, und doch war er sich bewußt, daß dieser sich die ganze Zeit nicht im geringsten beweg te, sondern still am Boden saß. In solchen Momenten wurde Gulans Gesang noch eindringlicher, und Luka nahm seinen träumerischen Flug wieder auf. Als er durch einen Stoß von Gulans Ellenbogen geweckt wurde, war es bereits heller Tag. »Du mußt gehen. Ich höre die Aufseher mit dem Frühstückseimer kommen.« Luka neigte lauschend den Kopf. »Ich höre nichts.« »Das kommt noch.« 124
»Hat das auch mit yin-gong zu tun?« »Man könnte sagen, es hat meine Sinne ge schärft.« Während der Arbeit mußte Luka ständig gähnen und war vom Schlafmangel völlig erschöpft. Daß die Sonne ihm auf den Rücken brannte, machte die Sa che nicht besser, ganz zu schweigen von den Peit schenhieben, die der Aufseher ihm verpaßte, als er vor lauter Dösen beinahe in den Graben gefallen wäre. Das verwunderte die anderen, denn sonst war Luka ihnen in allem voraus. Luka war jedoch viel zu schläfrig, als daß ihn ihre Bemerkungen und Gedan ken gekümmert hätten. Warum konnte die Sonne nicht ein bißchen schneller untergehen, damit er in seine Zelle kriechen und ein bißchen schlafen konn te, bevor die nächste Mondscheinlektion begann? In der zweiten Nacht mußte Gulan ihn an der Wand festbinden, damit er während seiner Rezitatio nen wach blieb. Wie sehr Luka sich auch bemühte, die Augen offenzuhalten, immer wieder rollten sie weg wie tote Austern. Um Mitternacht mußte Gulan ihn schlagen, um ihm ein paar Minuten Wachheit abzuringen, bevor er endgültig einschlief wie ein Wasserbüffel, wobei ihm der Speichel aus den Mundwinkeln troff. »So kommen wir nicht weiter«, sagte Gulan. »Tut, was Ihr tun müßt, und macht, daß es gelingt, bitttttttt…«, murmelte Luka und nickte mitten im Satz wieder ein. 125
Da zog Gulan unter seinem Bett einen langen Lei nenstreifen hervor. Das eine Ende befestigte er an Lukas Ohrläppchen. Dann erhob er sich mit flattern der Kutte in die Luft wie ein fliegender Mönch und befestigte das andere Ende an einem Balken der ho hen Decke. »Ihr könnt fliegen, Gulan?« fragte Luka verblüfft. »Wie sonst sollte ich da hinaufkommen?« Er lan dete wie ein Moskito. »Das nennt man Schwerelo sigkeit, mein Junge. Sie stellt sich ein, wenn man lange genug yin-gong praktiziert.« Jedesmal wenn Luka einzuschlafen drohte, diente der straff gespannte Stoffstreifen als schmerzvolle Erinnerung, und mit jedem Ruck wurde der Ton von Gulans Rezitation höher. Aber all dies nahm Luka nur bruchstückhaft und wie im Nebel wahr. »Halt durch, Luka!« mahnte Gulan. Bald jedoch verfehlte auch der Trick mit dem Ohr läppchen seine Wirkung. Luka behalf sich mit Bissen in die eigenen Lippen, erst in die Oberlippe, dann in die Unterlippe; schließlich bluteten beide. »Diese Nacht mußt du durchstehen, oder du wirst nie rein genug sein, um auch nur an die Pforte des yin-gong zu gelangen.« Luka biß sich noch stärker auf die Lippe und versuchte sich zu konzentrieren. Zu seiner Überra schung fühlte er die bleierne Müdigkeit schwinden wie eine leichte weiße Wolke, die der Wind weg bläst. Aus Gulans Fingern, deren Spitzen an die seinen gepreßt waren, ging ein Energiestrom auf 126
ihn über und wärmte allmählich seinen ganzen Körper. »Danke, daß Ihr mir Eure Wärme gebt«, sagte Luka, als sie sich bei Tagesanbruch trennten. Gulan nickte nur wortlos. Ein ganzer Mondzyklus verstrich. Die Zeit ver ging so schnell, daß Luka nur Sonnenuntergänge, Mondaufgänge und Gulans fortschreitende Schwä che wahrnahm. Sein Lehrer sprach kaum und wurde von Tag zu Tag dünner. Am Ende jeder Nacht fiel Gulan erschöpft auf seine Pritsche, verschrumpelt wie ein leerer Sack, aus dem die Luft entwichen ist. Er atmete nur noch flach, und sein Abschiedsgruß für Luka bestand lediglich aus einem Wink mit der Fingerspitze. Eines Nachts sagte Luka: »Großmeister, wir müs sen aufhören. Ihr sterbt sonst noch, und das will ich nicht. Ich möchte dieses yin-gong nicht mehr.« »Mein heiliger Knabe, du hast jetzt keine Wahl mehr, genausowenig wie ich. Yin-gong muß weiter bestehen, und wenn wir den Vorgang unterbrechen, ist alles verloren.« Mit dem neu einsetzenden Mondzyklus nahm Luka feine Veränderungen an sich wahr. Die Sonne war stechender denn je, doch Luka spürte die Hitze kaum noch, und die rotglühende Erde verbrannte seine Füße nicht, wie sie es früher getan hatte. Obwohl der Auf seher ihn die doppelte Last zur Landaufschüttung bringen ließ, bewältigte Luka auch diese Aufgabe in kürzester Zeit. Vor dem Essen schaffte er hundert 127
Schubkarren, und der verwunderte Aufseher gewährte ihm sogar eine zusätzliche Pause, eine bislang unge kannte Vergünstigung. Luka schlummerte unter einem Baum, doch die laute Sirene eines ankommenden Schiffes weckte ihn. »Hast du das gehört?« fragte er 787, den Gefange nen, der Gulans Platz eingenommen hatte. »Was gehört?« »Das Schiff, das in den Hafen einläuft.« »Du bist wirklich komisch in letzter Zeit.« 787 warf Luka einen abschätzigen Blick zu und schob seine Karre an ihm vorbei. »Du hast also nichts gehört?« 787 spuckte vor ihm aus und war verschwunden. Als er sich am Nachmittag wieder den anderen Gefangenen anschloß, hob er witternd die Nase in den Wind und fragte den Aufseher: »Riechst du das?« »Was gibt’s da zu riechen?« brummte der Aufseher. »Irgendwo brennt es.« »Deine Ohren werden gleich brennen, wenn du weiter dumme Fragen stellst.« Der Aufseher schwang die Peitsche in Lukas Richtung. »Zurück an die Arbeit!« Fünf Minuten später schoß knatternd eine Säule aus Flammen und Rauch in die Luft und verdunkelte den Himmel. Die Hütte, in der die Uniformfabrik untergebracht war, brannte lichterloh. Luka krümmte sich vor Angst. Was war mit Hau und den anderen Mädchen? Waren sie in dem bren 128
nenden Gebäude eingeschlossen, oder war ihnen die Flucht geglückt? Sofort ließen die Gefangenen alles liegen und ste hen und starrten zu dem Feuer hinüber, doch der Aufseher schwang die Peitsche über ihre Köpfe und Rücken, bis sie die Arbeit wieder aufnahmen. Luka wünschte nichts sehnlicher, als den Mädchen zu helfen, doch der Aufseher durchbohrte ihn mit Blicken. Luka blieb nichts anderes übrig, als sich von der brennenden Hütte abzuwenden. Er vernahm nur angsterfülltes Kreischen und die Rufe der MogoWächter. Am Abend auf dem Rückweg sah Luka zu seinem Entsetzen, daß von der Kleiderfabrik ein Haufen dunkler Holzkohle übriggeblieben war. Eine einsame Mauer stand noch zur Hälfte und qualmte hartnäckig; die Luft war erfüllt vom Gestank ver brannter Textilien. Diesmal lag keine Blume an der Kreuzung. Gulan war nicht überrascht, als Luka ihm am Abend erzählte, daß er den Rauch aus einer Entfer nung von einem halben li gerochen hatte, noch bevor die Flammen den Himmel verdunkelten. »Du bist jetzt leerer als früher, deshalb hörst du besser und siehst weiter. Und du wirst künftig bei Hitze nicht mehr schwitzen und bei Kälte nicht mehr frieren.« »Kein Wunder, daß die Sonne sich auf meiner Haut so sanft anfühlt.« »Wenn du einst dein Peking wiedersiehst, wird dir diese Anpassungsfähigkeit noch nützlich sein. Soviel ich gehört habe, sind die Winter dort recht hart.« 129
»Ihr meint, ich fröre selbst ohne Hemd nicht mehr?« »Dich durchdringt ein inneres Feuer.« »Ich danke Euch vielmals, Großmeister. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch, den zusätzliche Energie durchströmt. Und das, obwohl ich seit Tagen nicht geschlafen habe.« »Dann bist du bald bereit für die Übertragung.« Gulan hustete; die Anstrengung sprengte schier sei nen geschwächten Körper. »Ist alles in Ordnung mit Euch?« fragte Luka. Gulan nickte. »Laß uns weitermachen!« Am Abend vor der fünfzigsten Nacht schlug Gu lan die letzte Seite auf und las die letzte Zeile der letzten Strophe: »Und so ist yin-gong vom Himmel gefallen und hat die Brücke zwischen Leben und Tod überschritten …« Als er geendet hatte, rann ihm ein Blutstropfen aus dem Mund. Er preßte die Hände gegen Lukas Hände, Fingerspitzen an Fingerspitzen, Handfläche an Hand fläche. Die Wellen von warmem qi überwältigten Luka fast, und er erschauerte, so stark und vibrierend war der Energiefluß. »Dringt es in die Seele ein, so reißt es die Brücke hinter sich ab …«, keuchte Gulan. Als Luka die Augen wieder öffnete, sah er, daß die Falten im lächelnden Gesicht seines Lehrers sich verdoppelt hatten; Gulan welkte rasch dahin. Luka wollte sich befreien, um Gulans raschen Alte rungsprozeß aufzuhalten, doch vergeblich. Gulan hielt Lukas Hände in todesergebener Umklamme 130
rung fest und schickte auch weiterhin seine yin-gongKRAFT in dessen Leitbahnen. Unterdessen wurde Lukas Köper immer leichter und leichter, sein Herz pumpte heftig und mit neuer Kraft. »Jetzt sind wir eins«, erklärte Gulan. »Weder Wind noch Regen kann uns trennen.« Luka spürte ein letztes intensives Strömen, dann ließ Gulan seine Hände los und fiel vornüber. Luka flog auf wie ein Drachen ohne Schnur, höher und immer höher in wirbelnden Kreisen. Jetzt fliege ich! Ich fliege! dachte Luka und stieß mit dem Kopf gegen die Decke. »Au!« »Vorsicht, junger Mann! Wenn du nicht weißt, wie es gemacht wird, dann laß es lieber«, flüsterte Gulan und setzte sich auf. »Komm herunter.« »Wie denn?« »Yin-gong gehorcht der Willenskraft. Du bist der Meister, yin-gong ist dein Diener.« Mit verzerrtem Gesicht zwang Luka sich nach un ten, nur um im nächsten Moment kopfüber auf dem Lehmboden aufzuschlagen. »Ein wenig Übung, und du beherrschst es«, mur melte Gulan. »Hier sind die Verse. Ich übergebe sie dir. Hüte sie mit deinem Leben, bis du dich ent schließt, sie an einen Vertrauenswürdigen weiter zugeben.« Luka nahm das Buch mit einer Verbeugung entge gen. »Zusammen mit dem Wissen über yin-gong emp 131
fängst du auch den yin-gong-Dolch als deine künftige Waffe.« Gulan zog einen winzigen Dolch aus dem Ärmel. »Sieht aus wie Atamis Dolch«, sagte Luka. »Sie sind ein Paar. Der von Atami ist aus Gold ge fertigt und männlich, meiner aus Silber und weib lich.« »Besitzt er die gleichen Eigenschaften wie Atamis Dolch?« »Ja. Er ist eine Verlängerung deiner yin-gongKRAFT. Dein Wunsch ist ihr Befehl.« Luka entging Gulans Gebrauch des weiblichen Fürworts nicht. »Du mußt sie einmal in jedem Mondzyklus mit ei nem Vers segnen. Andernfalls wird sie stumpf und taub deinen Anweisungen gegenüber. Und alle drei zehn Jahre sollte sie ihrem goldenen Gegenstück be gegnen, so wie eine Frau ihrem Ehemann. Es ist jetzt fast dreizehn Jahre her, daß ich mich von Atami ge trennt habe.« Die Art und Weise, wie Gulan von dem kleinen Dolch wie von einem lebendigen Wesen sprach, kam Luka sonderbar vor. Luka empfing den Dolch mit beiden Händen und betrachtete ihn aufmerksam. Es war eine schöne, aber winzig kleine Waffe, deren Heft mit einem trä nenförmigen roten Edelstein verziert war. »Vielen Dank, Großmeister. Wie werdet Ihr Euch verteidi gen, wenn Ihr mir diese Waffe übergebt?« »Sehe ich aus wie einer, der sich verteidigen muß?« Wieder schüttelte ihn der Husten. »Denk aber 132
daran, daß dieser Dolch wirkungslos ist, wenn sein Meister ihm kein qi einhaucht.« Luka nickte. Er wußte noch gut, wie Atami seinen Dolch vor jedem Gebrauch geküßt hatte. »Paß gut auf sie auf. Sie ist ein shen-dao, ein von unserem Gründer beseelter Dolch. Solche Dolche gibt es nicht mehr.« »Ich werde ihn – ich meine sie – unter Einsatz meines Lebens hüten.« »Das mußt du tun, denn sie tut dasselbe für dich.« Gulan nickte seufzend. »Wie gern brächte ich dir alle zweiundsiebzig Dolchstöße bei, aber die Zeit reicht nicht. Eben ist aus Peking der Befehl eingetroffen, der meine Entlassung für morgen veranlaßt. Wir ha ben es gerade noch geschafft.« »Oh, Gulan, was werde ich nur ohne Euch anfan gen?« »Ich nehme dich mit mir.« »Was? Wie soll das geschehen?« Doch Gulan lächelte nur. Am folgenden Morgen wurde Gulan von zwei Wär tern abgeholt. Einer von ihnen sagte: »Bitte vergebt uns, was wir Euch angetan haben, wu-xia-Meister. Wir sind gezwungen, alle Gefangenen grausam zu behandeln. Anderenfalls werden wir schwer bestraft.« »Vergangen ist vergangen«, sagte Gulan. »Was soll das denn heißen?« fragte der eine. »Vergangen und vergessen«, erläuterte der andere. »Gefangen und gegangen«, warf Gulan ein. 133
»Nein, vergeben und vergessen muß es heißen«, korrigierte der andere. »Könntest du vielleicht diese Kiste für mich tra gen?« fragte Gulan. »Ich fühle mich so schwach.« »Aber natürlich.« Der Jüngere wollte die Kiste hochheben, stellte sie aber sofort wieder ab; er hatte ihr Gewicht unterschätzt. »Oha! Was ist denn da so schwer?« »Ich nehme einen Gefangenen mit«, erklärte Gulan. »Du machst vielleicht Scherze.« Der ältere Wärter schüttelte den Kopf. »Gefangen und gegangen. Na, Ihr seid mir ein Scherzbold. Einen Gefangenen mit nehmen, so was hab ich in zwanzig Jahren Dienstzeit noch nicht gehört.« Die beiden Wärter, die sich jetzt als Kumpel des großen wu-xia-Meisters betrachteten, trugen die Holzkiste auf ihren Schultern und verstauten sie in der Kutsche, die am Gefängnistor wartete. Gulan hatte nur dieses eine Gepäckstück bei sich. Erst als er das Holpern der Kutsche auf dem Feld weg spürte, entließ Luka einen tiefen Seufzer durch das kleine Luftloch, das Gulan ihm zum Atmen in die Kiste gebohrt hatte. Es war eine sehr enge Kiste, doch der Weg in die Freiheit war nicht mehr weit. Zusammengekrümmt wie eine Krabbe war er den noch hochzufrieden und dankbar, wenn er daran dachte, welches Glück ihm beschieden war. Aber seine Gedanken wanderten auch zu Hali, dem Mäd chen mit den Blumen. War sie noch am Leben? Würde er sie je wiedersehen? 134
Die Gefängniskutsche brachte sie zu den belebten Docks am Hafen von Jiu-shan. Erst als das Quietschen der Räder im fernen Staub verklungen war, schloß Gulan die Kiste endlich auf. Luka blinzelte in das gleißende Sonnenlicht, das über der feuchten Hafenstadt lag. Er war überrascht, Gulan mit einem grauen Hemd mit Seidenschärpe und einer weiten Hose bekleidet zu sehen, die an den Knöcheln enger wurde. Er trug sogar ein neues Paar Stiefel. Abgesehen von seinen fröhlichen Augen wirkte er so verändert, daß Luka ihn kaum wiederer kannte. Der traurige Alte mit der Nummer 788 war auf immer verschwunden. »Ihr seht …« »Blendend aus? Das macht die Freiheit.« Luka umarmte ihn spontan, wohl wissend, daß das zwischen Meister und Schüler eigentlich nicht üblich ist. Doch der Meister erwiderte seine Umarmung ebenso herzlich, und mit dieser stillen Geste feierten sie ihre Rückkehr in die Welt. 135
»Zieh deine Gefängniskluft aus!« befahl Gulan. »Aber was soll ich tragen?« »Alles, bloß das nicht.« Gulan fischte ein kleines Bündel alter Kleider aus der Kiste und gab es Luka. Der zog sie rasch an und stopfte seine Gefängnisuni form in eine Tasche. »Tut mir leid, daß du in meinen alten Sachen he rumlaufen mußt«, sagte Gulan, »aber besser als das Zeug aus dem Gefängnis sind sie allemal.« »Das macht überhaupt nichts, Großmeister. Ich fühle mich prächtig.« Luka war jetzt angetan mit einer zerschlissenen Kutte und entsprechender Kopfbedeckung. Beides war ihm zu klein, und als er den Arm hob, um sich am Kopf zu kratzen, vernahm er das Reißen von Stoff. Seine Muskeln hatten die brüchigen Nähte ge sprengt. In dem geschäftigen Hafen fielen die beiden nicht weiter auf. Scharen von Fischern, nach langer Fahrt begierig auf einen Landgang, strömten in den schmutzigen, übelriechenden Basar, wo Hunderte schreiender Händler um ihre Aufmerksamkeit buhl ten. Luka und Gulan hätten in ganz China keinen turbulenteren Ort finden können. »Sieh dich ein bißchen um, während ich meine Füße ausruhe«, sagte Gulan und setzte sich auf einen Stein unter einem kleinen Baum. Luka zögerte, ihn allein zurückzulassen. »Nun geh schon! Es ist alles in Ordnung.« Achselzuckend verschwand Luka in der Menge. 136
Die farbenprächtige Welt dieses Marktes faszinierte ihn. Aber seine Freude an der Freiheit dauerte nur so lange, bis sein Magen – ein großes leeres Gefäß, das gefüllt werden wollte – zu knurren begann. Während der letzten Monate hatte die fade, gehaltlose Gefäng niskost seine leicht erregbaren Magenschleimhäute ruhig gehalten. Jetzt, da sie den Lockungen vielfälti ger Aromen ausgesetzt waren, kehrte ihre natürliche Reizbarkeit zurück, und sie reagierten heftig auf die Gerüche seiner Umgebung. Die hungrigen Innenwände krümmten sich vergeblich, und sein Magen vollführte inmitten seines Leibes einen heftigen, wü tenden Tanz, schubste das Herz, zerrte an der Milz und bedrängte die Nieren. Wäre es diesem rebelli schen Organ möglich gewesen, nach oben zu steigen, so hätte es Luka aus lauter Zorn über den Nahrungs mangel womöglich erstickt. Das war ein Hinterhalt, eine Revolte … nein, schlimmer noch, ein Staats streich. Sein Körper befand sich im Ausnahmezustand. Sein Mund speichelte, sein Magen brüllte die Speise röhre hinauf, und die Knochen seiner Beine schmol zen dahin wie das Fett eines armen Tiers im Koch topf. Die Schuld daran gab Luka seinen gierigen Au gen, die alles einsogen. Doch auch die Nase trug ih ren Teil dazu bei. Selbst die Ohren übermittelten ihm all das Schlürfen, Rülpsen, Schmatzen, Zubeißen und Kauen und die gesättigten Seufzer der fröhlichen Es ser. Alles um ihn herum schien sich verschworen zu haben, seinen unbändigen Hunger zu steigern. Der 137
Geist, der einzig vernünftige Teil seines Körpers, zog sich vor diesem geballten Ansturm des Hungers re signiert zurück. Luka würde noch verrückt werden, ach nein, er war es bereits. Bevor er noch etwas Unbedachtes tun konnte – beispielsweise sich mit einem fetten, blutigen Fleischstück davonmachen –, biß ihn etwas in den Knöchel. Er bückte sich und entdeckte einen unan sehnlichen Straßenköter, der auf seinem Schwanz hockte, sich die Flanken leckte und gelangweilt und unschuldig dreinschaute. »He, warum hast du das getan?« Der Hund blinzelte ein paarmal und wandte sich ab. Luka tätschelte dem kleinen Kerl dankbar den Kopf, denn schließlich hatte er ihn vor der Versu chung gerettet. »Was willst du von mir?« Der Hund blickte aus ehrlichen großen Augen zu ihm auf. Dann packte er den Saum von Lukas Kutte mit den Zähnen und zog ihn mit sich fort. »Warte! Wo willst du denn hin?« Luka war erstaunt über den kleinen Kerl, der sich nicht abschütteln ließ. Er stand auf und sah ein krakelig geschriebenes Schild, das er in seinem Hunger bisher nicht bemerkt hatte. BERGHUNDGULASCH. NOCH SCHMACKHAF TER ALS SCHLANGENRAGOUT! Lukas Herz schrak vor dieser Ankündigung zu rück. Wie abstoßend! Hätte er etwas aus diesem Topf gegessen, so hätte er es auf der Stelle wieder ausge spuckt. Hunde waren die Gefährten der Jäger, die Brüder der Hirten, sie waren die Feinde unserer 138
Feinde und die Freunde unserer Freunde. Luka folgte dem Straßenhund, der ihn an einer verfallenen Mauer entlang geschäftig durch das Gewimmel der Leute führte, um schließlich vor einer Hütte in einer stillen Ecke des Marktplatzes stehenzubleiben. Die Hütte wurde von Stroh zusammengehalten und barg einen Haufen Wassermelonen, reif, duftend und voller Samenkerne. Der Gedanke an das Innere dieser samenschwan geren Melonenmütter machte Luka ganz zappelig. Schon stellte er sich vor, wie er einer solch üppigen Frucht zu Leibe rücken würde. Er würde sie an sei nem eigenen harten Kopf aufschlagen, den Saft mit seiner schlüpfrigen Zunge schlürfen, das schmelzen de Fruchtfleisch in den Vulkan seines Rachens sau gen und erst dann innehalten, wenn ein gewaltiger Rülpser das Ganze wieder hinauszubefördern drohte. Anschließend würde er sich das Gesicht mit dem Saft waschen, der sich in der leeren Schale gesammelt hatte. Das Bellen des Hundes riß ihn aus seinem Tag traum. Dieser stand, das Hemd eines Mannes in der Schnauze, vor ihm. Das mußte ein Kleidungsstück seines Herrn und Meisters sein. Was wollte das Tier ihm damit sagen? Daß er diese Hütte bewachte, wäh rend sein Herrchen weggegangen war? Luka erforschte die Umgebung. Die Hütte stand etwas abseits vom Getümmel des Marktplatzes, doch der Lärm übertönte das Klatschen, mit dem er eine Melone an seinem Kopf aufschlug. Er schlürfte sie 139
mit einem so lauten, abstoßenden Geräusch aus, daß der Hund, der still zu seinen Füßen gesessen hatte, ihm auf die Füße trat, als wolle er ihn ermahnen, leise zu sein. Der Hund wirkte zufrieden und gähnte gelang weilt, als Luka mit einem Rülpser kundtat, daß er jegliches Beweismaterial für seinen Diebstahl ver tilgt hatte. Er wischte sich den Mund am Ärmel ab und beugte sich zu dem Hund hinab, um ihn zu küs sen, doch der wich ihm aus, so als wüßte er, daß Luka sich nur selten die Zähne putzte. Der Hund schien auch zu wissen, daß Luka noch einen Meister zu ver sorgen hatte. Er schubste mit den Vorderpfoten eine weitere Melone zu dem Jungen hin und leckte sie sauber. »Willst du, daß ich die meinem Meister bringe?« Der Hund blinzelte dreimal, was Luka als Zu stimmung deutete. Mit der Melone auf der Schulter verbeugte sich Luka zum Abschied vor seinem pelzigen Freund und kehrte pfeifend über den Marktplatz zurück zu Gu lan. Eine große Menschenmenge hatte sich vor einem der Straßenstände versammelt und sah einer Darbie tung zu, doch Luka schenkte ihr keine Aufmerksam keit. Sicher so ein falscher Kung-Fu-Meister, der ir gendein ebenso unechtes Wurmpulver anpries. Solche sind jetzt im ganzen Land unterwegs, dachte Luka. Er drängte sich durch die Menge und entdeckte zu seiner Bestürzung, daß der Stein, auf dem Gulan ge sessen hatte, leer war. Von Gulan keine Spur. 140
Gulans Holzkiste stand noch da und wartete auf die Rückkehr des Meisters. Auch Luka entschloß sich zu warten, ließ sich auf dem Fels nieder und legte die reife Melone neben die Kiste. Da bemerkte er, daß etwas nicht stimmte. Ein belaubter Ast, gerade erst von dem schattenspendenden jungen Baum ge rissen, lag am Boden, unmittelbar daneben der Pfeil, der ihn ganz offensichtlich abgerissen hatte. Als Luka ihn aufhob, setzte sein Herz für einen Schlag aus. In das Holz war ein schwarzes Pferd geschnitzt – dem Emblem des Kaisers. Darunter hatte jemand hastig ein Schriftzeichen gekritzelt: Flieh! Es war Gulans Schrift. Fliehen? Wohin? Er konnte doch seinen alten Meister nicht im Stich lassen. Schwach, wie er war, konnte er jederzeit sterben. Wo bist du, Gulan? war Lukas einziger Gedanke. Doch er zwang sich zur Ruhe und schärfte seine Sinne. Die von innen kommende Heiterkeit, die ihn daraufhin überkam, verwunderte ihn. Er war wie trockenes Heu, das Feuer fängt. Er stand plötzlich in Flammen und konnte nur staunen über das neue Le ben, das sich in ihm regte. Und in dieser inneren Stille vernahm er Gulans Herzschlag. Ich habe ihn gefun den, sang er bei sich. Der Großmeister befand sich ganz in der Nähe, denn das Klopfen war laut, fast ohrenbetäubend, und sein Rhythmus ganz gleichmä ßig. Mit der Zeit konnte Luka auch andere Geräusche unterscheiden: das Hufgeklapper eines schweren Pferdes, Schreie aus hundert Kehlen. 141
Luka blieb keine Zeit zum Überlegen, noch weni ger zur Vorbereitung. Er rannte wie ein Tiger; mit großen Sätzen und lautlosem Tritt schoß er durch die dichte Menge, die seine Bewegungen behinderte. Augenblicke später stand er im äußeren Ring der Schaulustigen und spähte durch eine hohe Mauer aus Zöpfen und sonnenverbrannten Schultern. Er er haschte einen Blick auf fünf protzige Garnisonssol daten, die auf stolzen Hengsten im Kreis herumritten. Die Männer ließen ihre Peitschen auf einen Men schen in der Mitte des Kreises niedersausen. Armer Gulan, er war doch so schwach, nachdem er sein yin-gong an Luka abgegeben hatte! Diese fünf Bestien würden ihn zu Hackfleisch zermalmen. Wie Luka befürchtet hatte, war das Opfer kein an derer als Gulan. Doch der Großmeister wirkte kei neswegs hilflos. Er wirbelte herum wie ein Tornado. Er hatte seine Seidenschärpe abgenommen und setzte sie als Waffe ein, mit der er um sich drosch, als wäre sie biegsamer Stahl. Die immer dichter werdende Menge war fasziniert, wie lebendig diese Schärpe plötzlich wurde. Sie schoß hervor wie die Zunge einer riesigen Schlange, traf die Stirn des ersten Reiters und warf ihn mit einer Wucht vom Pferd, die man einem harmlosen Stück Seide nie zugetraut hätte. Im Körper des Meisters war also immer noch yingong-KRAFT vorhanden. Luka war überglücklich und drängte sich weiter durch die Schaulustigen, be reit, sich in den Kampf zu stürzen, als ein alter Bauer ihn am Kragen packte. »He, paß auf, Kleiner! Du 142
willst doch nicht zwischen den alten Mann und Ghengis Offiziere geraten.« »Von denen habe ich noch nie gehört«, sagte Luka. Der Bauer spuckte in Richtung des nächststehen den Reiters. »Abin, der älteste mit dem langen Bart, ist ihr Befehlshaber und ein berühmter Bogenschütze. Er hat mit einem Pfeil den Kampfmönch Atami ge fangen.« »Ach, der ist das?« »Ja, außerdem ist er verdammt gut mit dem dop pelschneidigen Schwert. Der Häßliche mit dem zweiköpfigen qiang heißt Babu. Sein Spitzname ist Q. Du wirst selbst sehen, was das bedeutet. Candra ist der auf dem Rappen. Er hat eine schnelle Hand mit der Geißel. Dogo, der vierte, handhabt seine beiden Langschwerter, als wären es Eß-Stäbchen. Und Egol, den der Mönch gerade vom Pferd geholt hat, ist ge schickt mit allen diesen Waffen, aber seine Speziali tät ist sein verborgener Morgenstern.« »Warum mißhandeln sie den alten Mönch?« »Sie haben ihn eingekesselt und ihn nach dem Aufenthaltsort irgendeines heiligen Knaben gefragt. Aber mach dir keine Sorgen. Der Alte ist kein ge wöhnlicher Mönch. Jeder hier weiß, daß er Abt des Xi-ling-Tempels war, der Bruderschaft der Kampf mönche, die Kaiser Ghengi aufgelöst hat.« »Vielen Dank, Bauer«, sagte Luka. »Sei ruhig und schau lieber zu.« Inmitten des Rings ließ Abin sein Schwert her umwirbeln und schwang es mit voller Wucht, um 143
Gulans linke Schulter zu filetieren. Mit einem hefti gen Ausatmen glättete Gulan seine Schärpe zu einer langen Stange. Als er die Schwertklinge damit ab wehrte, war ein deutliches Klirren zu hören, und der Aufprall des Stahls auf der bestickten Seide schickte einen scharfen Schmerz durch Abins rechten Arm. Voller Entsetzen entdeckte er eine zwei Zentimeter große Scharte in seiner Klinge und zog die Waffe rasch zurück. Wieder einmal wußte er genau, warum er zusammen mit dem Kaiserhof gegen den Xi-lingTempel vorgegangen war. Abin klammerte sich mit den Schenkeln an den Leib seines Pferdes und zog einen verborgenen Pfeil aus seiner Satteltasche. Gulan hörte ihn, noch bevor er ihn sah. Er mochte schwach sein, doch er hatte sich seine Flinkheit be wahrt. Zwölf Jahre hinter Gefängnismauern hatten ihm Geist und Sinne geschärft und ihn im yin-gong so vervollkommnet, daß seine Reaktionen durch mü helos arbeitende Instinkte gesteuert wurden. Gulan formte aus Zeige- und Mittelfinger ein V und fing damit den heranfliegenden Pfeil ab. »Wieder so ein Stück kaiserlicher Schund«, sagte Gulan mit einem verächtlichen Blick auf den darin eingeschnitzten kaiserlichen Rappen. Er warf den Pfeil zu Boden, trat darauf und brach ihn in drei Teile. Luka beobachtete alles aus sicherer Entfernung, und das Herz klopfte ihm bis zum Hals vor Zorn. Gulans Feinde sind auch meine Feinde, dachte er. Ich kann ihn doch nicht allein gegen alle fünf kämpfen lassen. 144
Luka sah den Augenblick des Handelns gekom men, als Babu seinem Pferd die Zügel hochriß. Wäh rend der Hengst auf der Hinterhand stieg, holte der Soldat mit seinem Speer aus und wollte Gulans Rü cken durchbohren. Ohne zu überlegen, setzte Luka seine yin-gong-KRÄFTE frei und sprang unbeholfen zehn Meter hoch in die Luft. Staunend starrte die Menge dem kleinen Jungen nach, der da über ihre Köpfe hinwegflog. Sie konnten nicht ahnen, daß Luka selbst am meis ten staunte. Die Leichtigkeit seines Körpers verlieh ihm auch eine ungekannte Leichtigkeit des Herzens. Welch ein unbeschreibliches Gefühl das war! Es machte ihn vollkommen frei. Doch dort unten gab es Dringendes zu tun. Luka beendete seinen Flug und landete unter dem Kreischen der Zuschauer unge schickt inmitten des Rings. »Der Junge ist verrückt!« »Das Pferd wird ihn zu Tode trampeln!« Luka beachtete sie alle nicht und warf sich zwi schen Babus Pferd und Gulans Rücken. Obgleich er dem Pferd nicht einmal bis zum Rist reichte, trat er mutig zwischen die ausgreifenden Hufe. Der heran sausende qiang war nur noch wenige Zentimeter von Gulans Kopf entfernt, als Luka nach dessen Spitze griff und die Waffe zu Boden riß, wobei ihr Besitzer gleich hinterherstürzte. »Dieser Junge ist auch ein wu-xia-Kämpfer!« schrie ein Mann aus der Menge. »Woher kommt er?« rief ein anderer. 145
»So einen tollen Kerl habe ich lange nicht mehr gesehen!« brüllte ein dritter. Nicht ich bin toll, dachte Luka bei sich, sondern das yin-gong wirkt in mir. Luka trat Babu mit Füßen und stieß dessen Kopf in den Staub. Doch er genoß seinen Triumph nur ei nen kurzen Moment lang, bevor er sich Abin zu wandte, dem Schwertkämpfer mit der schartigen Klinge. »Geflohener Gefangener! Entlaufener Häftling!« rief Abin, berüchtigt für seinen absolut tödlichen Drei-Schritte-Schwertstoß: links, rechts, Mitte. Der Gegner konnte vielleicht den ersten, allenfalls den zweiten Schritt abwehren, aber nie alle drei. Abin zielte von links auf den Kopf des Jungen. Luka verbeugte sich rechtzeitig, und die schartige Klinge sauste über seinen Kopf hinweg. Der Kleine hat einiges gelernt, dachte sich Abin, aber weiter wird er nicht kommen. Kichernd führte er sein Schwert auf die andere Seite und holte aus, um diesmal mit der anderen, der unversehrten Klinge Lukas Hals zu durchtrennen. Sein Pferd, ein Wüs tenhengst aus der Gobi, tänzelte nach den Anweisun gen des Reiters. Doch die Klinge berührte den Jun gen nicht. Luka schwang sich in die Luft und hätte Abin beinahe die Waffe aus der Hand getreten. »Grrrrr!« wütete Abin. Dieser Knirps war reif für den dritten Schritt. Abin zielte auf Lukas Gesicht und drückte einen verborgenen Knopf am verzierten Heft seines Schwertes. Ein nahezu unsichtbarer Haken an 146
einer Schnur schoß geradewegs auf Lukas Augen zu. Hätte er seinen Kurs gehalten, so hätte er sich in Lu kas rechtes Auge gebohrt und wäre durch das linke wieder ausgetreten. Auf diese Weise war Abin zu seinem Spitznamen als erfolgreicher Augapfelsamm ler gekommen. Wirbelnder Staub und blendende Sonne machten es noch schwerer, den tückischen Haken auszuma chen, doch Luka hörte das metallene Surren in der Luft, das dem eines Moskitos glich. Dann erst sah er ihn, wie er nahe und immer näher kam. »Nicht fangen!« schrie Gulan. »Schick ihn mit deinem Willen zurück!« Willen? dachte Luka. Wo ist mein Wille? Gulan schien seine Gedanke lesen zu können und rief: »Benutz dein inneres Auge!« Luka schloß die Augen, und sofort leuchtete seine innere Sehkraft auf, die ihm den Haken mitten im Flug vergrößerte. Luka lenkte ihn willentlich zu dem Hengst zurück. Gehorsam vollführte der Haken eine Wende in die Gegenrichtung, schoß auf das Pferd zu und umkreiste es mehrmals an den Vorderbeinen, bevor es sich in eines seiner Knie bohrte. Luka hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, daß er den Pfeil gegen das arme, unschuldige Tier gerich tet hatte, als er es samt seinem schreienden Reiter jämmerlich zu Boden gehen sah. Dann setzte Luka seine Willenskraft gegen Babu ein, der gerade mit Gulan kämpfte. Ein intensives Starren genügte, um den Haken, der sich von dem 147
Pferd gelöst hatte, auf den neuen Gegner zu lenken. Er umkreiste einige Male Babus Hals, bevor er sich in die Schulter seines Opfers senkte. Wie gut, daß ich ihn nicht angerührt habe, dachte Luka. Der Haken hätte mich umzingelt wie eine Schlingpflanze. »Wer hat gesagt, daß du dich einmischen sollst?« schrie Gulan Luka an. »Verschwinde!« »Euer Kampf ist auch der meine. Wir sind eins!« brüllte Luka zurück. »Mit dreien am Boden kannst du getrost ver schwinden. Schnapp dir den weißen Hengst und reite nach Westen!« befahl Gulan. Bevor Luka antworten konnte, schlang Gulan eine große Schlaufe in jedes Ende seiner Schärpe, dann warf er sie in die Luft. Er dirigierte sie so mit den Fingern, daß sie den beiden verbliebenen Gegnern auf ihren Pferden folgte. Die Schärpe machte ihren letzten Fang, indem sie sich wie ein Lasso um die beiden Bösewichte schlang und sie zusammen spannte. Sie landeten auf dem Boden wie zwei nach Luft schnappende Katzenfische. Die Menge jubelte Gulan begeistert zu, als endlich alle fünf Mogo sich am Boden wälzten. »Tötet die Mogo!« »Lang lebe Xi-ling! Willkommen daheim, Groß meister Gulan!« »Kaiser Ghengi muß sich in acht nehmen!« »Gulan wird das Volk retten!« Gulan ordnete seine Kleidung, klopfte sich den 148
Staub ab und verbeugte sich vor jenen, die ihn er kannt hatten. Dann schwang er sich wie schwerelos auf einen weißen Hengst, den die Gegenwart des Mönchs zu beruhigen schien, und rief Luka zu: »Los Junge, steig du auf den Rappen und folge mir!« Luka rannte zu dem schwarzen Hengst. Der war durch die Abwesenheit seines Herrn und Meisters so verwirrt, daß er in engen Kreisen herumgaloppierte. Luka setzte ihm nach und packte ihn am Zügel, aber das Pferd gab so leicht nicht auf. Es schnaubte Luka böse an und stieg auf die Hinterbeine. Luka hatte seit Ewigkeiten auf keinem Pferd mehr gesessen, und das Tier schien dies zu spüren. Doch obwohl Luka ihm gegenüber wie ein Zwerg wirkte, hatte er keine Angst. »Laß uns aufbrechen, Junge!« drängte Gulan, und Luka wußte, daß sie sich beeilen mußten. Zwar lagen die Mogo-Offiziere besiegt am Boden, aber tot waren sie nicht. Das Pferd wollte jedoch nicht gehorchen. Da kam Gulan angeritten, packte Luka und setzte ihn aufs Pferd. »Jetzt nimm die Zügel und halt dich fest!« rief er Luka im Fluge zu. Sie ritten nach Westen davon. »Ihr wart großartig!« rief Luka zu Gulan hinüber, nachdem er den Meister am Stadtrand eingeholt hat te. »Du warst auch nicht schlecht.« »Ich bin ganz begeistert von meinen neuen yin gong-Kräften. Vielen, vielen Dank, Großmeister.« 149
»Und ich war begeistert, wie du sie eingesetzt hast.« Der alte Meister wirkte plötzlich um Jahre jünger. »Aber jetzt kennen sie dich und wissen, daß du auf freiem Fuß bist. Wir müssen die Stadt verlas sen, bevor man die Tore schließt.« »Warum sagtet Ihr, ich solle fliehen?« »Ich wollte dich nicht noch einmal verlieren.« »Aber dann hätte ich Euch verloren.« »Ich kann dich überall finden, vergiß das nicht.« Gulan warf ihm ein Lächeln zu und trieb sein Pferd an. Luka nahm die Zügel auf und preschte hinter ihm her.
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Dritter Teil
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Den ganzen Tag ritten Gulan und Luka durch immer dichter werdenden Wald. Einen Weg gab es schon lange nicht mehr, und das Gras reichte den Pferden bis zum Bauch. Die Bäume wurden höher und höher; und ihr Laub war so undurchdringlich, daß die Sonne aus dieser geheimnisvollen Welt fast völlig ausgeschlossen blieb. In den Nächten heulte ein schauriger Wind zwischen den einsamen Baum stämmen hindurch. Manchmal glaubte man, mensch liches Lachen zu vernehmen, ein andermal schien jemand zu weinen. Selbst die Pferde lauschten die sem Heulen mit gespitzten Ohren. Dann stieg das Gelände an, der Wald wurde lichter. Der Weg wurde von einem riesigen Felsblock versperrt. »Der Witwenfelsen«, erklärte Gulan und blickte zu der Felswand auf. »Um yin-gong und jin-gong vereinen zu können, müssen wir das heilige Hand buch holen. Ich habe es dort oben in einer Höhle ver steckt.« 154
»Wirklich?« Luka legte den Kopf in den Nacken und versuchte den Felsen mit Blicken zu messen; schon der Anblick machte ihn ganz schwindelig. Der Fels schien in den Himmel aufzuragen, sein Gipfel blieb dem Auge entzogen. »Außerdem brauchen wir ein paar Goldbarren für die weite Reise, die vor uns liegt.« »Ihr habt auch Gold dort versteckt?« fragte Luka. »Kurz bevor unsere Tempelgemeinschaft aufgelöst wurde, sind die Brüder übereingekommen, hundert Goldbarren für Notfälle da oben zu verstecken. Wer einen wegnimmt, muß zwei zurückbringen. Auf diese Weise wird der Schatz mit der Zeit wachsen. Aber das ist nicht alles. Es ist auch der einzig sichere Ort, an dem man eine Nachricht für die im ganzen Land verstreuten Brüder hinterlassen kann.« »Und was geschieht solange mit unseren Pferden?« wollte Luka wissen. »Sie haben uns gute Dienste geleistet. Wir schen ken ihnen die Freiheit.« Er nahm den Tieren die Sättel ab, und sie sprengten davon. »Was wird aus ihnen?« »Jenseits der Wälder leben die besten Hirten dieser Gegend. Dort wird man sie hoch schätzen.« »Alles Gute, Pferde!« Luka winkte den Hengsten nach, die im Wald verschwanden. »Die Höhle liegt auf halber Höhe des Felsens, hundert Meter steil nach oben.«, sagte Gulan voller Stolz. »Niemand außer uns Xi-ling-Kämpfern hat sie je betreten.« 155
»Wie habt Ihr sie gefunden?« »Sie wurde von Affen bewohnt, und ich hoffe, sie sind noch dort. Die Tee-Affen sind darauf abgerichtet, die erlesensten Teeblätter zu pflücken, die nur an den steilsten, für Menschen unzugänglichen Felsen wachsen. Sie sammeln auch den kostbaren yan-gao.« »Den Speichel der Schwalben, der an den Felsen klebt?« »Ja, das war die Leibspeise des früheren Kaisers.« »Aber wie sollen wir da hinaufkommen?« »Das wirst du gleich sehen.« Gulan packte eine der langen, haarigen Lianen, die von oben herabhin gen, zerrte kräftig daran und stieß einige Pfiffe aus. Daraufhin setzte sich etwas an der Flanke des Fel sens kreiselnd und schwankend in Bewegung. Als es näher kam, erkannte Luka einen großen Bambuskorb, der, an einer knotigen Liane befestigt, aus dem Innern der Höhle heruntergelassen wurde. Der Korb war am Boden bequem mit Heu und Laub ausgepolstert. »Damit gelangen wir in die Höhle«, sagte Gulan. »Aber wer zieht uns hinauf?« »Die Affen.« »Wieso tun sie das für uns?« »Vor vielen Jahren retteten wir ihre Vorfahren, in dem wir sie in dieser Höhle vor ihren Feinden ver steckten. Die weißen Tiger hatten sie schon nahezu ausgerottet. Von der sicheren Höhle aus besiedelten die Affen dann die ganze Felsflanke; die Tiger konn ten nur mit tropfenden Lefzen zusehen. Du gehst als erster«, sagte Gulan. 156
Luka tat wie ihm geheißen, doch der Korb schwankte gefährlich und drohte umzustürzen. »Was ist los?« »Ach ja, ich hatte vergessen, daß die Affen etwas gegen Fremdlinge haben.« Gulan stieß einen weite ren scharfen Pfiff aus. Daraufhin hörte der Korb sofort zu schaukeln auf, und Gulan kletterte zu Luka hinein. Dann begann der Korb seinen ruckartigen Aufstieg. »Da hat jemand schlechte Laune.« Gulan runzelte die Stirn. »Vielleicht wollen sie uns etwas mitteilen.« »Schon möglich.« Während sie höher und höher hinaufschaukelten, kam plötzlich Wind auf und fuhr durch die Lianen, die sich über die Felswand spannten. Unten am Bo den schien alles zu schrumpfen: Die riesigen Bäume wurden zu jungen Schößlingen, die großen Felsbro cken zu rollenden Kieseln. Luka fühlte sich winzig wie ein junger Vogel, der sich krampfhaft an den Rand seines Nests klammert. Der Korb schwankte im Wind und schwang bei jedem kräftigen Zug weit aus. »Fackeln! Ich sehe Fackeln durch den Wald kom men!« schrie Luka plötzlich mitten in der Felswand. Er hatte einen Feuerschein entdeckt, der sich dort unten in Viererreihen auf sie zubewegte. »Sei still und wackle nicht mit dem Korb. Wir sind gleich da.« Kurz darauf versperrte ihnen ein über hängender Fels den Weg und brachte das Gefährt 157
zum Stillstand. »Hier ist die Höhle«, sagte Gulan und schlang die Liane um den Felsvorsprung. Der Eingang der Höhle war hinter einem dicken Vorhang aus belaubten Ranken verborgen und wurde von einem ehrwürdigen Teebaum mit langen Flech tenbärten bewacht. »Merkwürdig«, bemerkte Gulan. »Ich frage mich, wo die Affen sind.« Er streifte die Ranken beiseite und trat vorsichtig ein; Luka folgte ihm. In der Höhle war es selbst jetzt, da draußen schwüle Hitze herrschte, zugig und kalt. Luka fühlte, wie sich Schweiß in seinen Handflächen sammelte, während er und Gulan sich die grob behauenen Wände entlangtasteten. Der Boden war mit glatten, runden Kieseln, trockenem Laub und weichen Moospolstern bedeckt. »Was ist das für ein Geruch?« flüsterte Luka. Eigentlich mehr ein Gestank, dachte sich Gulan, doch er sagte nur tonlos: »Es riecht nach altem Tod.« Plötzlich schrak Luka zusammen. »Was ist los?« »Mein Arm. Mein Arm … etwas ist in meinen Är mel gekrochen.« Er schüttelte heftig den Arm, doch der Eindringling hatte bereits die Achselhöhle erreicht. »Bleib ruhig und beweg dich nicht!« befahl Gulan, fuhr mit der Hand unter Lukas Hemd und zog das Lebewesen unter dessen Achselhöhle hervor. »Au!« kreischte Luka. Die zahlreichen Beine des Wesens hatten sich in seiner Haut verkrallt wie Dor nengestrüpp. 158
»Da ist er.« Gulan schleuderte das Tier zu Boden und zertrat es. »Was war das?« »Ein Tausendfüßler, groß wie eine junge Schlange. Dein Arm wird ein wenig anschwellen, aber das ver geht bald.« Schon der Gedanke an dieses Tier auf seiner Haut jagte Luka Schauder über den Rücken. »Und jetzt kein Geschrei und Gekreisch mehr, sonst weckst du die Riesenschlangen auf.« »Wo sind die?« flüsterte Luka. »Überall. Halt dich dicht hinter mir. Unser Gold lagert gleich um die Ecke.« Luka hielt sich hinter dem Großmeister, der den Weg auch im Stockfinstern genau zu kennen schien. Als sie an eine Biegung gelangten, hieß Gulan ihn stehenbleiben, während er mit den Füßen die Entfer nung am Boden maß. Zehn Fußlängen mußten es sein, erinnerte sich Gulan. Von der rechten Schulter einer kleinen Buddhastatue nahm er zwei Kalksteine, schlug sie gegeneinander und entzündete mit dem Funken eine Kerze. Sieben Kerzen waren bereits angezündet worden, zählte Gulan. Das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, daß sieben Xi-ling-Kämpfer hier gewesen waren, um Gold für den Wiederaufbau ihrer Gemein schaft zu holen. Doch wo waren die Affen? »Komm, Luka, ich zeige dir den Schatz des Xi ling.« Die Flamme von der Größe einer Sojabohne er leuchtete das Geheimnis der Höhle. Es war ein Gang, 159
der sich zwischen zwei großen Felsblöcken hin durchzwängte. Kaltes Kondenswasser tropfte aus den Rissen in den Felswänden über ihnen. Zwischen den Kieseln am Boden wuselten Tausendfüßler, und wil des, dorniges Unkraut stach in alle Richtungen. »Hier entlang«, sagte Gulan. Er hielt die Kerze in der Rechten und wies Luka mit der Linken den Weg. Sie waren noch keine zwei Schritte gegangen, als ein Windstoß die Kerze ausblies. Zwei gespenstische Augen funkelten ihnen aus der Dunkelheit entgegen. Dann verschwanden sie so schnell, wie sie gekom men waren, nur das scharrende Geräusch flüchtender Schritte war über ihnen zu hören. Gulan entzündete noch einmal die Kerze; die Flamme erleuchtete eine hölzerne Kiste voll glänzender Goldbarren. Jeder von ihnen lag in einer passenden Vertiefung, die in den Einsatz geschnitzt war. Lukas bekam große Augen. »Acht Stück fehlen, aber nur sieben Kerzen wur den angezündet«, murmelte Gulan. »Hier fehlt et was.« »Was könnte das sein?« »Wenn ich das wüßte …« Gulan rollte die Ärmel auf. Als er nach einem der Barren greifen wollte, sprang ihn von oben ein riesiger Affe an und stieß Gulans Hand von dem Goldbarren weg. »Ich wußte, daß du es bist«, sagte Gulan in aller Ruhe, ohne Widerstand zu leisten. Der Affe schlug den Deckel der Kiste zu und setz te sich darauf. 160
Luka machte sich zum Kampf bereit, doch Gulan zog ihn zurück. »Halt. Das ist ein alter Freund von uns.« Der Affe streckte Luka seine feuchte Zunge heraus und schüttelte den Kopf. »Schau dir das an.« Gulan berührte die haarlose lan ge Narbe unterhalb des Knies des Affen. Diese Lieb kosung schien das Tier zu besänftigen, und es leckte Gulans Hand. In diesen einfachen Gesten spürte Lu ka die wortlose Liebe zwischen Mensch und Tier. »Sie stammt von einem brennenden Pfeil der Mogo. Seither nennen wir ihn ›Narbe‹.« Der Affe nickte mit dem struppigen Kopf. »Läßt du mich jetzt an mein Gold?« Narbe schüttelte wieder energisch den Kopf. »Nein?« Erneutes Kopfschütteln. »Warum denn nicht?« Der Affe sprang von der Kiste und führte sie zu einer weiteren verborgenen Nische. Dort lag ein sorgsam aufgeschichteter Knochenberg, der Gulan bis zur Schulter reichte. »Deine ganze Sippe ist tot?« Der Affe nickte. »Das tut mir leid.« Gulan untersuchte die Kno chen, während er Narbe den Kopf tätschelte. Wie konnte es geschehen, daß alle Jungen starben und nur der Älteste noch am Leben war? Dann be merkte Gulan, daß die Knochen an manchen Stellen gesplittert waren. »Jemand hat sie alle getötet.« 161
Narbe ließ traurig den Kopf hängen. An seinem Hals wurden wunde Flecken sichtbar, und an den Flanken fehlte stellenweise das Fell. Die Augen des Tieres funkelten nicht länger vor unbändiger Neu gierde. Den jugendlichen, lebhaften Narbe, den Gu lan einst gekannt hatte, gab es nicht mehr. Noch be unruhigender aber waren die Zeichen, die alle auf Gefahr hindeuteten. Diese Höhle war kein sicherer Ort mehr. Sie mußten sich beeilen und verschwin den, bevor das Übel erneut zuschlug. »Narbe, wir haben es eilig. Bitte laß uns an das Gold, damit wir uns auf den Weg machen können.« Doch das Tier wollte nicht weichen, es warf sich statt dessen auf Gulan und zwang ihn zu Boden, was Gulan ohne Gegenwehr geschehen ließ. Nach all den Jahren allein in einer dunklen Zelle wußte er, was Einsamkeit für Mensch wie für Tier bedeutet. Also rang Gulan einige Minuten lang spielerisch mit dem Affen. Narbe leckte, stieß und kitzelte ihn, bis Gulan kicherte. Doch sobald er sich aus der haari gen Umarmung lösen wollte, wurde Narbe plötzlich wieder ernst und drückte ihn zu Boden. »Luka, nimm zwei Goldbarren. Wir müssen uns auf den Weg machen.« »Ja, Großmeister.« Der Affe ließ Gulan los und stürzte sich auf den Jungen. Da sah sich Gulan gezwungen, eine Ladung seines qi auf Narbes bai-hui loszulassen, einen Punkt am Schädel des Tieres. Der Affe erstarrte augenblick 162
lich, wobei er mit überrascht erhobenen Augenbrau en eine Wand anglotzte. Mit zitternden Fingern öffnete Gulan die Kiste und murmelte vor sich hin: »Vergebt mir, ihr Helden des Xi-ling, daß ich meine Hand nach unserem Schatz ausstrecke.« Er schob einen der Barren aus seiner hölzernen Vertiefung und erblickte zu seiner Überra schung einen winzigen Skorpion, der bewegungslos darunter lag, so als sei er vom Gewicht des Goldes erdrückt worden. Warum zog sich ein Insekt ausgerechnet hierher zum Sterben zurück? fragte er sich. Auch als Gulan den zweiten Barren herausnahm, fand er darunter einen toten Skorpion. Eine Falle, schoß es ihm durch den Kopf, während er die Goldstücke in seine Tasche gleiten ließ. Und er sollte recht behalten. Die frische Luft belebte die schlafenden Insekten, und ihre Beine begannen wie wild zu tanzen. Sie krochen aus ihren Vertiefungen, und bevor Gulan sich noch rühren konnte, hatten sie sich bereits in seine Stiefel fallen lassen und krochen unter der Hose an seinen Beinen hinauf. Er mußte sie fangen. Als Gulan gerade sein qi sammelte, um sie zu töten, fühlte er einen leichten Schmerz. »Was ist mit Euch, Großmeister?« »Die Skorpione der Mogo haben mich gestochen.« »Wo sind sie? Ich werde sie töten.« »Vermutlich sind sie bereits tot.« Gulan schüttelte seine Hose aus, doch es fiel nichts heraus. Er krem pelte sich die Hosenbeine hoch, um seine Beine zu 163
inspizieren, fand aber keine neuen Kratzer oder Blut spuren. »Oh, verdammt«, murmelte er. »Wo sind sie?« »Hier.« Er folgte mit der Fingerspitze einer lang samen Bewegung unmittelbar unter seiner Haut. Eine Beule kroch an seinem linken Bein herauf, eine ande re am rechten. »Wie sind sie da hineingekommen?« »Sie haben sich in meine alten Wunden gebohrt.« »Und was werdet Ihr jetzt tun?« Der Großmeister wirkte gelassen. »Mach dir keine Sorgen. Denk daran, was ich dir beigebracht habe. Ich werde sie mit meinen yin-gong-KRÄFTEN ver treiben. Sie werden dort wieder herauskommen, wo sie hineingekrochen sind, nur daß sie dann tot sind. Und wenn das nichts hilft, dann finden wir bestimmt ein Rezept in dem Buch ›ÜBEL GEGEN ÜBEL‹.« »Was für ein Buch ist das?« »Man findet darin Mittel gegen alle Arten von Flüchen, gegen unheilbare Krankheiten, Gifte und Verwünschungen.« »Warum entfernt Ihr sie nicht jetzt gleich?« »Keine Zeit. Wir müssen weg von hier. Ich höre schon die Pferde.« Gulan kniete neben Narbe nieder und drückte den Punkt unterhalb des Nabels des Af fen, doch Narbe blieb reglos sitzen. Er war untröst lich und schlug sich mit den Pranken gegen die Brust. Gulan versuchte, das Tier von dieser Selbst verletzung abzuhalten, doch daraufhin begann es, sich selbst zu ohrfeigen. 164
»Warum bist du so ungehalten mit dir?« Narbe fuhr fort, sich zu schlagen. »Schluß damit!« Endlich ließ der Affe von sich ab. Auf den Hinter beinen gehend, führte er Gulan und Luka durch einen dunklen Tunnel, der tief ins Innere der Höhle führte. Er deutete auf die Mauer, wo jemand eine Botschaft eingeritzt hatte. Im flackernden Licht der Kerze ent zifferte Gulan die Schriftzeichen: Einmal täglich lege ich Skorpione ohne Erbarmen. Zweimal nächtlich nähren sie sich an ihres Opfers Gedärmen. Hilfe bei solcher Bedrängnis weiß nur der Engel der Finsternis. »Engel der Finsternis!« Gulan preßte den verab scheuungswürdigen Namen zwischen den Zähnen hervor. Narbe weinte noch immer. »Wer ist dieser Engel?« fragte Luka. »Ghengi. Diesen Spitznamen hat er sich selbst einmal gegeben. Jemand aus unserer Gruppe muß ihn hierhergeführt haben. Das erklärt auch die getöteten Affen.« Narbe warf den Kopf zurück und grunzte zustim mend. »Xi-ling steht wieder einmal in deiner Schuld, Narbe.« Gulan kniete nieder und streichelte den Affen. 165
»Jetzt bring mir bitte das Handbuch und die Bot schaften meiner Mitbrüder.« Narbe verschwand und kam mit einer Bildrolle und einem zerknitterten Zettel voller großer Schrift zeichen zurück. Er enthielt die Zeichnung eines Fel sens mit einem Fluß darunter, daneben stand: Den Felsen hinauf den Fluß hinunter. Im Nebel folge dem Affen. Gulan schien erfreut. »Das ist die Handschrift von Lin Kun, meinem ergebenen Schüler und einem her ausragenden Kämpfer.« »Im Nebel folge dem Affen?« las Luka noch ein mal laut. »Was bedeutet das?« »Nebel steht hier für Unklarheit in deinem Kopf. Wenn du unsicher bist, dann folge dem Affen .« »Damit haben wir zumindest die Richtung, in die wir gehen müssen.« Gulan nickte. Als sie den Eingang der Höhle erreichten, sahen sie am Fuß des Felsens die Fackeln der Reiter. Rufe hallten durch den Nebel zu ihnen herauf. »Flammen versengen deine Augenbrauen«, sagte Gulan. Damit meinte er, daß sie in ernsten Schwie rigkeiten steckten. Fünf Fackelkolonnen umzingelten nämlich den Fuß des Felsens. Ein leises Ploppen hallte durch die Nacht, und unmittelbar darauf sirrte ein Vorhang aus Pfeilen 166
durch die Luft. Einige schlugen unweit des Höhlen eingangs ein und schrammten mit ihren giftigen Spitzen gegen das uralte Gestein. Sie saßen in der Falle. »Wir könnten nach oben klettern, hinauf zum Gip fel«, schlug Luka vor. Doch als er den alten Mann stöhnen hörte, wurde ihm klar, daß dies kein Ausweg war. Gulan hatte sich noch nie derart vor Schmerzen gekrümmt, nicht einmal bei der Übertragung seines qi. Die Skorpione mußten höllisch weh tun. »Was sollen wir tun?« fragte Luka, während er Gulan stützte. »Wenn wir unsicher sind, folgen wir …?« »… dem Affen.« Schon stand Narbe neben ihnen und tappte mit seiner Pranke auf Lin Kuns Botschaft. »Sollen wir das wirklich tun, Großmeister?« »Auf jeden Fall. So etwas nennt man Glauben. Warum sollten wir ihm auch mißtrauen? Narbe hat hier in der dunklen Höhle, umgeben von den Kno chen und Geistern seiner ganzen Sippe, auf uns ge wartet. Bedenke, welches Maß an Glauben es ihm abverlangt hat, auf unsere Ankunft zu warten. Narbe, zeig uns den Weg!« Luka verneigte sich, um dem Affen zu danken. Mit einem freundlichen Grunzen führte Narbe sie zurück in die Höhle. Als sie ins Innere der Höhle vordrangen, verklan gen die Rufe der Mogo-Soldaten zu einem fernen Summen. Die Höhle wurde enger und der Bewuchs 167
immer dichter. Die dünner werdende Luft zwang Gu lan zu flacher Atmung, die Temperaturen sanken und jagten ihnen Kälteschauer über die verschwitzten Rücken. Schließlich verengte sich die Höhle zu einer schmalen Spalte. Nur mit Hilfe des schlüpfrigen Mooses, das die Wände bedeckte, gelang es ihnen, sich langsam vorwärtszutasten. Als sie nicht mehr weiterkonnten und jegliche Atemluft aus dem winzi gen Raum gewichen zu sein schien, schob Narbe ei nen Steinbrocken zur Seite. Mondlicht fiel durch das Loch. »Wir sind draußen!« rief Luka, während er Gulan beim Hinausklettern half. »Das ist die Rückseite des Felsens«, erklärte Gulan mit schwacher Begeisterung, dann holte er erst einmal tief Luft. »Aber wißt ihr auch, wem das Land gehört, auf dem wir hier stehen?« Luka und Narbe schüttelten den Kopf. »Den Washandra-Kriegern.« »Die Verbündeten Ghengis!« stieß Luka hervor. »Die Mogo haben sie offenbar bereits alarmiert.« Gulan sog prüfend die Luft ein. »Die Washandra sind nahe.« »Könnt Ihr sie riechen?« »Die Washandra-Söldner sind dunkel wie Geister, klein wie Zwerge und tödlich wie Dolche. Aber sie haben eine Unsitte, durch die sie sich schon oft ver raten haben. Washandra-Männer kommen nur drei mal in ihrem Leben mit Waschwasser in Berührung: 168
nach der Geburt, an ihrem Hochzeitstag und vor ihrer Beisetzung. Man riecht sie mehrere li weit.« Luka schnüffelte. Tatsächlich lag ein fauliger Ge ruch in der Luft. »Es scheint mehr als eine Kolonne zu sein, die auf uns zukommt.« Gulans haarige Nasenlöcher weiteten sich. Luka schloß die Augen, seine Nase zuckte. »Sie sind sechs oder sieben li entfernt.« »Falsch. Der Wind bläst in ihre Richtung. Deshalb scheinen sie weiter entfernt zu sein, als sie wirklich sind. Deine yin-gong-Wahrnehmung muß immer auch das Umfeld berücksichtigen. So ist beispielsweise die Luft in den Bergen dünner als in der Ebene«, erklärte Gulan. »Sie sind also nicht mehr als zwei oder drei li von uns entfernt. Narbe, erkunde uns ei nen sicheren Weg durch den Wald. Wir können ih nen trotzdem noch entkommen.« »Aber Großmeister, Ihr müßt unbedingt zuerst die se Skorpione loswerden. Das habt Ihr selbst gesagt.« »Dazu haben wir jetzt keine Zeit. Siehst du die dicken Wolken dort in der Ferne? Sobald sie vor den Mond ziehen, wird es stockdunkel, und wir würden uns im Wald verirren.« »Aber …« »Ich werde jeden mir verbleibenden Moment nut zen, um dich so nahe wie möglich zum Xi-lingTempel zu bringen.« Die Entschlossenheit in Gulans Stimme erinnerte Luka an Atami und dessen Un beugsamkeit. »Narbe, sei unser Pfadfinder!« 169
Der Affe spähte kurz in den dichten Wald, bevor er sich auf den nächsten Baum schwang. Er setzte sich rittlings in eine Astgabel und ließ seine glühen den Blicke umherschweifen. »Wenn du unsicher bist, folge Narbe.« Luka nickte, und sie betraten den dunklen Pfad. Zunächst waren die Bäume niedrig, und das Blattwerk war licht. Bald aber ragten die Bäume hö her hinauf, schienen fast den Himmel zu berühren, und ihre Äste umschlangen sich zu grotesken For men. Manche Schatten sahen aus wie hängende Menschen, andere wie herabbaumelnde Tiere, wieder andere glichen drohenden Monstern oder reißenden Bestien. Kalte Windstöße heulten wie klagende Geis ter. Der Mond entfernte sich immer weiter von ihnen, während der Wald düsterer, dichter und undurch dringlicher wurde. Luka fühlte sich plötzlich klein und sehr, sehr unsicher. Bald herrschte fast völlige Dunkelheit in dem Laubgewirr, das sie verschlang wie das Maul eines riesigen Wals. Gulan war unmittelbar vor ihm; er ging so rasch, daß Luka kaum Schritt halten konnte. Narbe schwang sich elegant von Ast zu Ast und erkundete dabei den Weg durch das Dickicht. Nur einmal hin derte er sie an ihrem Fortkommen, indem er vor ih nen auf den Boden sprang und den Weg versperrte. Augenblicklich zerrte Gulan Luka hinter einen Felsbrocken. Was Luka dann sah, sollte ihm eine Lektion sein, die er so schnell nicht vergessen würde. Inner halb kürzester Zeit tauchte ein halbes Dutzend wei 170
ßer Tiger auf, die sich schnuppernd hierhin und dort hin wandten. Luka hielt vor Schreck die Luft an, als die tödlichen Raubkatzen ganz in ihrer Nähe witternd verharrten. Doch auf einmal mußten sie niesen, dreh ten sich um und verschwanden in östlicher Richtung. »Das war knapp«, flüsterte Luka. »Habt Ihr sie zur Umkehr veranlaßt?« »Nein, das hat Narbe getan. Riechst du nichts?« Luka schnüffelte. »Jemand hat einen Furz gelassen.« Narbe zog eine Grimasse, dann führte er sie weiter auf ihrem Weg. Während der nächsten zehn li registrierte Gulan neue Bewegung unter seiner Haut; dort schwärmte und wimmelte es. Mit Entsetzten stellte er fest, daß die Skorpione sich vermehrten. Sein Atem ging keuchend, die Beine wurden schwer, doch er schleppte sich weiter, da das Getrap pel der Washandra immer näher kam. Jeder Schritt, den er sich vorwärtskämpfte, konnte über Leben und Tod seines Schützlings entscheiden. Nach einem weiteren raschen Fußmarsch von ei nem li ließ Gulan sich erschöpft an einem Baum stamm niedersinken. »Großmeister!« Luka eilte ihm zu Hilfe. Kalter Schweiß rann Gulan über die eingefallenen Wangen. Seine Lippen bebten, die Zähne schlugen aufeinander. Luka schlang den Arm um Gulans Schulter. »Es wird alles gut. Ich werde Euch helfen, die Skorpione loszuwerden.« 171
»Gut«, hauchte Gulan. »Weg mit diesen … boh renden Dämonen.« Der Mond lugte durch die Baumwipfel und schien auf Gulan. Wie er so mit verschränkten Bei nen auf einem flachen Stein saß, wirkte er wie eine Statue aus Silber. Die Augen hatte er geschlossen, die Hände zum Himmel gereckt; die trockenen Lippen rezitierten mit schwachem Flüstern yin-gongVerse. »Mein Körper ist ein Tempel des yin … Alle Übel verharren auf seiner Schwelle … Dämonen zittern in seiner Gegenwart …« Seine Arme tanzten in komplizierten Bewegungen wie zwei Weidenzweige im Wind. Während er sein qi aktivierte, schwankte sein Körper hin und her. Zhou xin hu yue, dachte Luka. Die Einladung an Mond und Sterne, der erste Schritt des yin-gong. Gu lan erhob sich und umfing, dem heiligen Ruf fol gend, den Silberglanz des Mondes. Auf einem Bein stehend, die Arme wie Adlerschwingen entfaltet, wandte er sich nacheinander gen Osten, Süden, Wes ten und Norden. Tu zhou zhun huang, sich mit dem Universum drehen. Das war eine der schwierigsten Schrittfolgen, die die irdische Energie aller vier Himmelsrichtungen einholte. Luka jubelte im stillen, als Gulan in die Phase des Aufsteigens gelangte. Nun verloren die Skorpione ihre Macht. Die Reinheit des qi würde seinen Meister wie der blaueste Fluß durchdringen und seinen Körper und seine Seele reinigen. Doch anstatt aufzufahren 172
und das Silberlicht willkommen zu heißen, stürzte Gulan plötzlich auf den Stein nieder. »Großmeister, was ist mit Euch?« »Die Skorpione blockieren den qi-Fluß. Sie haben mich innerlich zerbrochen«, antwortete Gulan. Qi fließt immer im Kreis, das wußte Luka. Jede Unterbrechung machte das yin-gong kraftlos. Die üblen Eindringlinge waren noch am Leben, mästeten und vermehrten sich. Bald würden sie Gulan von in nen aufzehren und nur seine gefolterte Seele zurück lassen. »Kann ich Euch von meinem qi einflößen?« fragte Luka. »Tu das nicht. Eine Übertragung zum jetzigen Zeitpunkt gäbe den Skorpionen die Möglichkeit, auf deinen Körper überzugreifen. Das würde alle unsere Träume zunichte machen.« Gulan wand sich wie ein Fisch auf dem Land. Luka hielt den hinfälligen Kör per in den Armen, doch der alte Mann entspannte sich nur kurzzeitig, bevor der nächste Krampf ihn erfaßte. »Du mußt sie fangen und zerquetschen«, keuchte Gulan. »Wie?« »Schau her!« Im schwachen Mondlicht sah er vier sich fortbe wegende Beulen. Sie huschten wie Ratten in wis pernden Weizenfeldern an seinen Schenkeln entlang, zwei in jedem Bein. Sie schienen es nicht eilig zu haben und naschten hier und da. Voran die größeren 173
Muttertiere, gefolgt von zwei kleinere Beulen – dem Nachwuchs. Gulan versuchte, sie mit der Hand zu fangen, doch die Skorpione waren schneller als seine zitternden Finger. Sie ruckten und zuckten über seine knochi gen Knie, sausten in den Unterleib hinauf und wieder hinab. Beinahe hätte er einen erwischt, der in Rich tung Zehe unterwegs war, doch als er ihn gerade zwischen den Fingern zerquetschen wollte, entwisch te das Insekt, indem es sich schmerzhaft in den Wa denmuskel bohrte. Die drei anderen schienen eine Warnung erhalten zu haben, sich tiefer in Gulans Fleisch zu vergraben, und so entzogen sie sich den Fingern. »Widerliche Kreaturen!« fluchte Gulan. »Luka, bereite dich auf ein kämpferisches yin-gong vor. Zermalme sie mit deiner Energie!« Einen Vers murmelnd, schickte Luka aus seinen Fingerspitzen vier Energieströme gegen die Dämo nen los. Die Zweiergespanne jagten nach oben wie Ameisen in einem heißen Wok. »Gut so, Junge!« ermutigte ihn Gulan. »Keiner vermag es mit dir aufzunehmen. Sie können nicht mehr lange durchhalten, wenn du so weitermachst.« Luka entließ einen weiteren Energieschub, und die Viererbande sammelte sich unter der losen Haut auf Gulans linker Brust. »Sind sie tot?« fragte Luka. Gulan ließ seine Hand niedersausen, um ihnen den Todesstoß zu versetzen, als die Dämonen plötzlich 174
erneut zum Leben erwachten und in alle Richtungen davonstoben. »Jetzt bleibt nur noch eins«, sagte Gulan. »Treibe sie mit der ganzen Kraft deines Willens in meine linke Hand und halte sie dort.« Die vier Skorpione ließen sich von Luka in Gulans Schulter zusammentreiben. Mit allerletzter Kraft jag te er jedes einzelne Insekt hinunter in Gulans Finger, bis ihre häßlichen Umrisse in den Vertiefungen unter Gulans Nägeln sichtbar wurden. »Halte dein qi weiterhin auf meinen Ellenbogen gerichtet.« Während Luka sich konzentrierte, packte Gulan seinen linken Arm mit der rechten Hand. Mit einer einzigen kraftvollen Drehbewegung trennte er den linken Arm am Ellenbogengelenk ab. Blut schoß aus dem ordentlich amputierten Stumpf. »Warum habt Ihr das getan?« Luka verlor fast den Verstand, als er den abgetrennten Unterarm zucken sah. »Um sie ein für allemal loszuwerden. Siehst du, mit einem Messer hätte der Schnitt nicht sauberer sein können«, kicherte Gulan und bestaunte seine eigene Arbeit. Lukas Entsetzen belustigte ihn. Der Unterarm war tatsächlich sauber abgetrennt, keine baumelnden Sehnen, kein rohes Fleisch. Auch die Blutung ließ nach dem ersten Schwall nach. »Leg deine Handfläche auf meinen Ellenbogen, während ich die Bösewichter bestrafe!« befahl Gulan. Luka tat wie ihm geheißen und pumpte einen 175
warmen Energiestrom ihn Gulans Stumpf, um die Blutung zu stillen. »Fühlt sich gut an«, sagte Gulan. »Schau dir diese erbärmlichen Kreaturen an!« Die Skorpione krochen aus dem abgetrennten Arm hervor wie kapitulierende Soldaten. Sie rollten in den Staub und bissen einander blindlings die Köpfe ab. »Wollt Ihr sie denn nicht vernichten?« fragte Luka. »Das erledigen sie schon selbst.« Und das taten sie auch … Die Mütter zerhackten zunächst ihre Jungen und schlangen sie gierig hinunter. Danach krochen sie traurig umher, umklammerten einander schließlich in tödlicher Umarmung und bissen sich gegenseitig die Köpfe ab. Luka betrachtete die Szene mit stillem Abscheu. »Das sind vielleicht Biester, was?« bemerkte Gulan. »Fast wie Menschen mit Gefühlen.« »Das Mogo-Reich ist voll solcher sonderbarer Wesen«, erklärte Gulan. »Zum Glück müssen wir sie nicht alle kennenlernen. Und nun nehme ich eine kurze Reparatur vor.« Der amputierte Unterarm hatte sich dunkel ver färbt und wirkte völlig leblos, doch das schien Gulan nicht zu stören. »Er ist noch warm«, sagte der Groß meister und fügte die beiden getrennten Körperteile aneinander. Dann drückte er sie fest und schwang den Unterarm so lange herum, bis ein leises Knacken zu hören war. »Das wär’s«, stellte er lächelnd fest und beendete 176
die Operation, indem er ein weißes Pulver auf die Wunde streute. Das austretende Blut trocknete dar aufhin sofort. Gulan schwenkte den neu befestigen Arm und krümmte die Finger der Hand. Er schien zufrieden. »Das alte Mittel wirkt noch immer. Yun nan bai yao, ein Pulver, das alle Hautverletzungen heilt! Und yin-gong fügt dann die Knochen zusammen.« »Das war stark, Großmeister.« Luka war beein druckt. »Sieht aus wie neu.« »Nicht ganz. Bis zum Morgengrauen kann ich da mit nicht kämpfen.« Aber wie es schien, war der Nahkampf jetzt ihre geringste Sorge. Während des folgenden Marsches reduzierte sich Gulans Atmung auf ein schwaches Keuchen. Seine Glieder zitterten, und kleine Beulen bewegten sich unter der Haut seiner mageren Brust. Ein Paar schwarzer Skorpione lugte mutig aus dem vernarbten Krater einer Beinwunde, zog sich unter Lukas bösen Blicken aber sofort wieder zurück. »Ich dachte, wir wären sie los!« rief Luka. »Die Skorpione sind wir losgeworden, aber offen bar nicht ihre Eier«, stöhnte Gulan. »Zum Glück … gleich der Fluß … hörst du … murmeln?« »Wir gehen zusammen zum Fluß. Bitte stützt Euch auf meine Schulter.« Luka hob Gulan hoch und packte ihn sich auf den Rücken. Der alte Mann war leicht wie eine Feder. Luka folgte dem Affen mit Riesenschritten. Zum Fluß war es nicht weit, und bald verstärkte sich das Murmeln zu einem Rau schen. 177
»Was jetzt, Narbe?« fragte Luka, während er Gulan am Ufer ablegte. Doch Narbe war im Wald verschwunden. Wenige Augenblicke später tauchte ihr haariger Begleiter wieder auf und zerrte ein kleines Floß aus einer ver borgenen Bucht. Luka hüpfte vor Freude umher. Der Fluß war ein Versprechen in der Dunkelheit, das Floß ein Geschenk des Mondes. Luka brachte Gulan an Bord, und das Floß glitt ins Wasser. »Komm schon, Narbe!« drängte Luka den Affen. Narbe schüttelte traurig den Kopf und rieb sich die Augen. »Warum kommst du denn nicht?« fragte Luka. Narbe stieß das Floß ohne Stange oder Ruder vom Ufer ab, und es begann Fahrt aufzunehmen. »Narbe!« »Aufgabe erledigt … Zeit zum Abschied …«, keuchte Gulan, der kraftlos auf den rauhen Holz planken lag. Bald darauf war sein leises Schnarchen zu vernehmen. Das Land wich zurück, sie trieben mitten im Fluß. Lukas Spur würde sich im Wasser verlieren, und seine Verfolger wären ratlos. Hoffnung keimte in seinem Herzen, doch die Erschöpfung dämpfte die Begeiste rung. Er legte sich neben Gulan und starrte zu den verblassenden Sternen hinauf. Die Strömung trieb sein Floß an, der Wind war sein Steuermann, und bald wiegte ihn der Fluß in den Schlaf. Sein ruhiger Atem wurde zu einem lauten Schnarchen. 178
Das kleine Floß gewann schnell an Fahrt und wur de in der reißenden Strömung hin- und hergeschleu dert. Doch kein noch so wildes Schaukeln hätte Luka wecken können, wäre da nicht dieses laute Donnern gewesen. Er sprang auf, blickte sich um, und was er sah, beunruhigte ihn zutiefst. Dichter Nebel ballte sich zu einer undurchdringlichen Wolke, und das Donnern schien nicht vom Himmel, sondern von tief unten zu kommen. In dem Augenblick, als sie fielen, sah er auf einmal alles ganz deutlich. Warum hat mir niemand gesagt, daß wir einen Wasserfall vor uns haben? dachte er noch. Doch es war zu spät, um den Kurs des Floßes zu ändern. Alles lief nur in eine Richtung, nämlich abwärts. Lukas Herz klopfte wie wild, doch sein Verstand blieb klar. Er weckte Gulan und holte tief Luft. Atamis Worte kamen ihm in den Sinn: Geh mit der Strömung und nutze ihre Kräfte zu deinem Vorteil. Als das Floß über den Rand des Wasserfalls schoß, krümmte Luka sich wie eine Krabbe zusammen und preßte Gulan an sich. Doch die Macht des Wassers riß sie auseinander, während das kleine Floß durch die Luft wirbelte und Luka hinabstürzte. Die Wucht der Was sermassen zermalmte ihn wie eine Schneelawine und drückte ihn immer tiefer nach unten. In einem Mo ment absoluter Stille war er völlig abgeschnitten von der Welt. Als er endlich wieder an die Oberfläche kam, überwältigte ihn rasender Schmerz, dann wurde es dunkel. Geh mit der Strömung … Sein letzter Gedan 179
ke galt nicht dem eigenen Tod, sondern dem trauri gen, schluchzenden Atami, der ihm von ferne winkte.
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Wie ein totes Tier trieb Luka bewußtlos in dem reißenden Fluß; die Arme hingen über die Wrackteile des zerschellten Floßes. So wäre er, zusammen mit dem übrigen Unrat, bis hinaus aufs Meer getragen worden, hätte nicht ein großer Berg an der Mündung des Flusses das Wasser zu ei nem letzten Umweg gezwungen, bevor es sich ins Meer ergießen konnte. Luka wurde an einen moos bewachsenen Felsen inmitten der Strömung gespült und verfing sich in einem Schilfdickicht. Ein harter Aufprall traf ihn am Kopf, und der Schmerz weckte ihn. Er empfand eine traurige Leere, die er sich nicht erklären konnte. Während er auf dem Wasser schau kelte, versuchte er herauszufinden, wie er dorthin gekommen war. Kein Anhaltspunkt in der stillen Umgebung gab ihm Antwort auf seine Frage. Er blinzelte verwirrt und suchte sich zu erinnern, doch sein Gedächtnis blieb leer. Was ist mit mir geschehen? fragte er sich, wäh rend er aus dem Schilfdickicht kroch. Doch diese 181
Kraftanstrengung nahm ihm bereits den Atem, und so überließ er sich wieder dem Rhythmus der Wellen und glitt zurück in die Finsternis. Als er erneut zu sich kam, war Luka tief beein druckt von der Größe des Berges, der da vor ihm auf ragte. Er legte den Kopf in den Nacken, so weit es ihm möglich war, konnte aber noch immer die Spitze nicht erkennen. Die himmelhohen Gipfel waren durch dünne Nebelschwaden verborgen, während sein Fuß sich in alle Richtungen ausdehnte. Nur an seiner westlichen Flanke ließ der Fluß einen kleinen Ausweg. In seinem Dämmerzustand hielt Luka ihn für einen der nördlichen Berge seiner Kindheit. Doch im Gegensatz zu jenen Bergen war dieses gewaltige Massiv von großen alten Bäumen bewachsen und mit eindrucksvollen Felsklippen verziert. Wo bin ich? Noch immer trieb er orientierungslos zwischen Ranken und Schilf. Als eine der Nebel wände sich hob, erkannte er das geschwungene Dach eines Tempels, das winzig und einsam im Antlitz des Berges schwebte. Er hielt es für eine Erscheinung und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Doch als er wieder hinschaute, war der Tempel immer noch da. Jetzt sah er, daß er nicht in der Luft schwebte, son dern mit der Erde durch einen schmalen, mäandern den Weg verbunden war, der wie eine dahingleitende Schlange zum Fluß hinabführte. Da ist tatsächlich ein Tempel! dachte Luka. Er konnte sich nicht erinnern, jemals solche Begeiste rung und Freunde empfunden zu haben. Er ruderte 182
wie wild mit den Armen und wollte sich langsam zum Ostufer vorarbeiten, doch die hartnäckigen Ranken ließen nicht locker. Er versuchte, mit einer Hand zu rudern und sich mit der anderen an der Planke festzuhalten, die ihn vor dem Ertrinken be wahrt hatte, kam aber in der hereinbrechenden Dun kelheit nur mühsam vorwärts. Ein entwurzelter Baum rammte ihn und schob ihn weiter nach Osten. Hilflos trieb er dahin. Es bedurfte eines weiteren Stoßes, diesmal von einem leeren Faß, um ihn sicher in eine verborgene, hufeisenförmige Bucht am Fuß des Ber ges zu befördern. Luka beglückwünschte sich mit matten Schreien zu seinem Glück und küßte vor Dankbarkeit das stei nige Ufer. Dann sah er sich in dem kleinen Paradies um, das von einer Gruppe alter Bäume beschattet wurde. Das Wasser hier sprudelte munter, und seine Klarheit bil dete einen seltsamen Kontrast zu dem schlammigen, strudelnden Fluß, der nicht weit davon entfernt vor beifloß. Er trank Wasser aus der hohlen Hand. Es schmeckte samtig und süß in seinem ausgedörrten Mund. Das mußte eine heilige Quelle sein. Kein Wunder, daß die Steinstufen an ihrem Rand endeten. Der Tempel in den Wolken war nur tausend Stufen entfernt. Lukas Herz schlug in wilder Hoffnung. Er plantschte herum und befreite sich von den schlüpfrigen Ranken, als er von oben Schritte näher kommen hörte. »Sünde! Sünde! Du entweihst unsere heilige 183
Quelle!« Ein mönchisch gekleideter Junge von etwa zehn Jahren kam die Stufen heruntergerannt. Er trug eine Tragstange mit zwei riesigen Wassereimern über der Schulter. Als Luka aufblickte, sah er, wie der Junge die Bambusstange wie einen Speer nach ihm warf. Er fing sie ganz knapp vor seinem Gesicht ab, wobei ihn deren Wucht rücklings ins Wasser warf. Welch ungestümer kleiner Affe! »Verschwinde aus meiner Quelle, du Eindring ling!« schrie der Junge und sprang über zehn Stufen hinweg auf Lukas Schulter. Der Junge wog kaum etwas, doch seine Beine waren wie eine eiserne Schere, die Luka den Hals zudrückte. »Verschwinde! Verschwinde!« Der Junge trommelte mit den Fäusten auf Lukas Kopf herum. Dann tauchte er plötzlich ab und griff Luka unter Wasser in den Schritt, hob ihn hoch und warf ihn ans Ufer. Ein bohrender Schmerz durchfuhr Luka, doch er beachtete ihn nicht, so sehr fazinierte ihn die magische Kraft des Jungen. »Gib auf und gesteh!« brüllte das Bürschlein. »Warum entweihst du unsere heilige Quelle?« »Friede und Wohlwollen«, bat Luka. »Woher bist du so plötzlich gekommen?« »Woher?« Luka konnte sich an nichts erinnern. »Ich weiß, wer du bist.« Der Junge nahm die Bambusflöte, die von seinem Gürtel hing, und ent lockte ihr einen schrillen Pfiff. »Du bist der entlaufene Häftling. Stimmt’s? Sie haben gesagt, du kommst vom Oberlauf des Flusses.« Er sprang Luka an, setzte 184
sich ihm auf die Brust und ließ Schläge auf Kopf und Schultern seines Gefangenen niedersausen. Wider strebend sammelte Luka seine Kräfte und schüttelte den Jungen ab. Bald waren die beiden in einen heftigen Zwei kampf verwickelt, wobei sich der Kleine als ebenbür tiger Gegner erwies. Seine Tritte waren ausgreifend und tödlich und seine Schläge nicht nur kraftvoll, sondern auch gut gezielt. Doch es war die Beinarbeit, die Luka am meisten beindruckte. Kein chaotisches Gehopse, sondern eine gezielte Choreographie, jede Bewegung entwickelte sich aus der vorigen. Wer diesem Tempel vorstand, mußte ein anerkannter Meister sein. Als Lukas Kräfte nachließen und jeder Muskel schmerzte, wollte der Junge ihn zurück in den Fluß stoßen. Luka stieß ein wildes Gelächter aus. »Was gibt’s da zu lachen?« »Weil du mich, einen flüchtigen Gefangenen, in die Freiheit entläßt. Ist das nicht auch Sünde?« »Wir wollen nichts mit dir zu tun haben.« Der Junge stieß Luka eine weitere Stufe hinunter. Wenn Luka ihn nicht ablenkte, würde er dem nächst wieder im Fluß landen. »Du mußt ja einen ziemlich unfähigen Lehrer haben.« »Jetzt reicht’s. Niemand beleidigt unseren Lehrer!« Der Junge schlug dreimal zu; einmal auf Lukas Stirn, die beiden anderen Male in seinen Bauch. Nur mit Mühe konnte Luka sein qi sammeln, um die Hiebe abzufangen. »Ha, du schlägst zu wie ein Mädchen!« 185
Der Junge holte erneut aus. Diesmal war Luka schlecht vorbereitet, gewann aber sein Gleichgewicht schnell zurück. »Deine Tritte sind wie die eines Fro sches. Hüpft dein Meister auch wie ein Frosch?« »Mein Meister ist ein Held. Wie kannst du es wa gen, ihn einen Frosch zu nennen?« Der Junge warf sich auf Luka und würgte ihn. Lukas Kopf füllte sich eben mit goldenen Funken, als er hinter sich Schritte vernahm. Drei weitere Jungen eilten dem mit der Tragstange zu Hilfe und preßten Luka auf den Boden. »Wer ist dieser Eindringling?« »Sieht irgendwie bekannt aus«, befand ein anderer. »Er ist der entlaufene Häftling auf dem Steckbrief, den sie aus dem Dorf gebracht haben«, erklärte der Kleine. Die vier traten einen Schritt zurück. »Tatsächlich? Ich habe noch nie einen Häftling gesehen«, meinte einer. »Was sollen wir mit ihm anstellen?« fragte ein an derer. »Wir werfen ihn wieder in den Fluß und erwähnen nicht, daß er hier war, sonst haben wir wieder Ghengis Soldaten auf dem Hals«, sagte der Größte von ihnen und musterte Luka mit einem kühlen Blick. Luka sah, wie sich vier glänzend rasierte Köpfe über ihm zusammenschlossen, ein Gesicht runder als das andere. Die Debatte wurde immer hitziger, und Luka hätte sich gern eingemischt, wenn ihm nicht eine Hand den Mund zugehalten hätte. »Aber das darf nicht sein«, gab der Junge mit den Eimern zu bedenken. 186
»Warum nicht?« »Er hat mich beleidigt.« »Was hat er denn gesagt?« fragte der Ältere. »Er hat mich einen Frosch genannt.« »Ein Frosch ist ein häßliches, aber gutmütiges und harmloses Tier, das Buddha liebt. Und du siehst tat sächlich wie ein Frosch aus. Was ist denn so schlimm daran?« sagte der Anführer. »Ich meine, wir sollten ihn in den Fluß werfen.« Luka grummelte etwas. »Wartet!« sagte der mit den Eimern. »Er hat auch unseren Lehrer beleidigt. Auch ihn hat er als lausigen Frosch beschimpft.« Die Stille explodierte wie eine Bombe. Alle starr ten sie Luka mit bohrenden Blicken an. »Stimmt das?« fragte der Anführer. Luka nickte. Mehrere Hände streckten sich nach ihm aus, doch der Anführer hieß sie innehalten. »Beleidige niemals unseren Meister«, sagte er. »Damit beleidigst du nämlich unsere Tradition, unsere Überzeugungen und den Ruhm des wiederbelebten Xi-ling. Und komm mit, damit wir dir deine verdiente Strafe verab reichen können.« Luka stieß einen erstickten Schrei aus und schüt telte die schwitzende Hand ab, die seinen Mund be deckte. »Hast du Xi-ling gesagt?« »Ja, das wiederbelebte Xi-ling«, wiederholte der Anführer. »Wir werden dir den nötigen Respekt schon noch beibringen, Häftling.« Zwei der Jungen 187
fesselten Lukas Hände und knebelten ihn mit einem Lappen. Dann luden sie ihn sich auf die Schultern und begannen den Aufstieg der gewundenen Treppe. Während des ganzen Wegs konnte Luka sich ein Grinsen nicht verkneifen.
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Am Ende der Treppe stand eine abweisende Mauer und wahrte das Geheimnis des Tempels. Die jungen Mönche trugen Luka durch eine knarrende Seitentür in einen großen Hof. Das wiederum erregte die Empörung des wach habenden jungen Mönchs. Er rannte ihnen nach und schrie: »Keine Fremden! Keine Fremden!« Aber es war schon zu spät. Sie hängten Luka kopfunter an den Ast eines al ten Baumes, der neben einer Scheune stand. Nach dem die Mönche gegangen waren, kamen ein fre cher Hahn und eine gluckende Henne daherstol ziert. Sie mußten die baumelnde Gestalt eine Zeit lang betrachten, bevor sie merkten, was hier nicht stimmte. Langsam drehten auch sie die Köpfe ver kehrt herum und fanden daraufhin, was sie suchten. Der Hahn gackerte zufrieden, und die Henne nickte beifällig. Sie traten näher heran und begannen da mit, auf den Kopf des Jungen einzuhacken. Luka warf den Kopf wild hin und her, doch das schien die Vögel nur zu ermuntern. Also schloß er ergeben 189
die Augen und betete für ein baldiges Ende seiner Folter. Nach einer Zeit, die ihm wie die Ewigkeit vorkam, wurde er von einer tröstlichen Stimme geweckt, die den Wohlklang einer alten Glocke hatte. »Beim leib haftigen Buddha, laßt ihn sofort frei!« Als Luka die Augen aufschlug, erblickte er als erstes viele Stiefelpaare, dann weite Hosenbeine, gefolgt von gelben Kutten und gekrönt von sieben nickenden Köpfen. Die kopfstehenden Gestalten waren hochgewach sen und hatten lange Hälse und hängende Arme. Der Sprecher, ein alter Mönch, war sichtlich erregt, und die übrigen beeilten sich, Lukas Fesseln zu lösen. Er fiel zu Boden und schaffte gerade noch ein flüchtiges Lächeln, bevor er das Bewußtsein verlor. »Wie könnt ihr es wagen, einen unschuldigen Jun gen auf diese Weise zu foltern?« polterte der alte Mönch und gab jedem eine Kopfnuß auf den runden Melonenschädel. »Aber er hat Euch beleidigt.« »Geht in den Tempel und erwartet dort eure Strafe«, befahl der Mönch. Dann kniete er nieder und entfernte die Stoffstreifen, mit denen Luka geknebelt und an den Armen gefesselt war. »Ist er tot?« fragte der Junge mit den Wasserei mern, der sich weigerte zu gehen. »Das werden wir gleich sehen, Huhu.« Während die anderen jungen Mönche sich um sie versammelten, zog der Meister eine Bambusdose 190
voller Nadeln aus seiner Kutte. Die langen Nadeln wirkten elastisch, und die kurzen blinkten vor Fes tigkeit. Er wählte die längste aus und setzte sie an der Spitze von Lukas rechtem Mittelfinger an. Alle Um stehenden wußten, was das bedeutete. Es war die erste Lektion in Akupunktur. Ein kleiner Piekser, und der Tote würde singen. Das war die empfindlichste Stelle an allen zehn Fingern, und sie war unmittelbar mit dem Herzen verbunden. Alle schauderten zurück, als der Meister die Nadel in den Mittelpunkt von Lukas Fingerkuppe senkte. Jeder andere hätte aufgejault, doch Luka rührte sich nicht. Der Mönch preßte Lu kas Nagelbett und war erleichtert, als er die Röte in die Haut zurückkehren sah. »So etwas Sonderbares ist mir noch nie vorge kommen«, murmelte er. »Seine Farbe sagt mir, daß er mehrere Stunden unter Wasser war, und dennoch kehrt die Röte zurück, wenn ich sein Nagelbett drü cke. Das kann nur eines bedeuten.« Er drehte Luka um und stieß ihm das Knie in den Bauch. Luka spie einen Schwall Wasser aus, bevor er wieder in sich zusammensank. »Ist er tot?« fragte Huhu noch einmal. Der Mönch schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Es ist gut, wenn er so schlaff wird. Steifheit wäre in einem solchen Fall viel schlimmer.« »Bitte rettet ihn!« bettelte Huhu. »Er hat sich tap fer geschlagen, obwohl er so geschwächt war. Aus ihm könnte ein guter Kämpfer werden.« »Er ist ein Häftling«, platzte ein anderer heraus. 191
»Kämpfer oder Häftling, das hat uns gleichgültig zu sein. Auch das Leben eines Sünders muß gerettet werden. Das solltet ihr mittlerweile alle wissen«, sagte der alte Mönch. »Bitte beeilt Euch, Meister!« bat Huhu. Ein roter Blutstropfen bildete sich rund um die Nadel und veranlaßte den alten Mann, die Nadel immer tiefer in die Fingerkuppe hineinzudrehen. Er zielte auf das Herz. Er zielte auf die Seele. Er hoffte, den Lebensfunken wieder anfachen zu können, der dort unten schlief. Mit geschlossenen Augen zwirbelte der alte Mönch die Nadel wie ein erfahrener Fischer, der eine schlaue Krabbe aus ihrem schlammigen Versteck zieht. Seine Finger wußten den Weg. Sein Geist kannte sich aus in der Finsternis. Dennoch war es eine komplizierte Grabung. Alles, was er fühlte, war der Schlamm, der ihm den Weg verdunkelte. Er wollte die Nadel eben wieder zurückziehen, als Luka ein schwaches Stöhnen von sich gab, gefolgt von spitzen Schreien. Dann ließ er sich in die Arme des Abtes gleiten und atmete dabei so gleichmäßig wie ein schlafendes Kind. »Er lebt! Er lebt!« rief Huhu erleichtert. »Pst. Laßt ihn in Frieden erwachen«, mahnte der Alte und wies einen Mönch an, starken Ginseng-Tee zu kochen. Luka erwachte mit mörderischen Kopfschmerzen. »Wo bin ich?« fragte er völlig orientierungslos. 192
»In Buddhas Hand«, antwortete die tröstliche Stimme. »Dann bin ich also im Himmel?« »Auf halbem Weg dorthin warst du schon«, erwi derte der Mönch lächelnd. »Dies ist mein bescheide ner Tempel.« »Mein Schüler Huhu hat dich unten am Fluß auf gelesen.« Huhus sorgenvolles Gesicht schob sich in Lukas Blickfeld. »Was hattest du dort unten zu su chen?« erkundigte sich der alte Mönch. »Ich weiß nur noch, daß ich irgendwo tief hinun tergestürzt bin.« »Hinuntergestürzt?« »Ja, etwas hat mich nach unten gezogen …« Luka blinzelte. »Naß war es und sehr, sehr laut …«, fuhr er versonnen fort. Der alte Mönch legte die Stirn in Falten und nickte. »Jetzt weiß ich, wo du hinuntergestürzt bist.« »Wo?« »Die Schwalben-Fälle«, erklärte er Luka. »Aber nie zuvor hat jemand einen solchen Sturz überlebt.« Er klopfte Luka am ganzen Körper nach inneren Ver letzungen ab, doch alles schien in Ordnung. Dann nahm er Lukas Fuß in die Hand und kitzelte bedäch tig dessen Fußsohle mit seinen langen Nägeln. Lukas Zehen krümmten sich vorschriftsmäßig. Dann besah sich der Mönch die Sohle genauer, und seine Augen brauen schossen in die Höhe. Der Junge hatte Mut termale auf der Fußsohle! Der Mönch inspizierte den anderen Fuß, und da 193
waren sie ebenfalls, fünf auf jeder Sohle, angeordnet im symmetrischen Muster des Himmlischen Phönix netzes. »Beim heiligen Buddha!« Der alte Meister holte tief Luft, sein ganzes Gesicht legte sich in Falten. »Ist alles in Ordnung mit mir?« fragte Luka ängst lich. Der Mönch ergriff Lukas Gesicht mit beiden Hän den, als wäre es eine kostbare Goldschale. Seine Au gen verengten sich zu einem eindringlichen, for schenden Blick. »Augenbrauen wie zwei Schwerter, große gerade Nase, darüber die langen Ohren, das energische Kinn, die vollen Lippen. Ein Gesicht mit himmlischen Zü gen«, stammelte er. »Du mußt jener Knabe sein.« »Welcher Knabe?« »Der Heilige Knabe«, sagte der Mönch. Unter den anderen Mönchen erhob sich ein erstauntes Murmeln. »Wie könnt Ihr wissen, wer ich bin?« fragte Luka. »Ich bin Lin Kun, der Abt dieses Tempels. Und du bist sicher erfreut zu hören, daß ich einst jenen Mann unterwies, der für dich gesorgt hat. Komm mit und sieh selbst.« Der alte Meister half Luka auf die Beine und dieser humpelte, von Huhu gestützt, zu einem Felsen in einer Ecke des Hofes, in dessen oberen Teil die Zeichen ›Heldenfelsen‹ gemeißelt waren. Darun ter fanden sich Hunderte von Namen. Kun fuhr mit dem Finger eine Kolonne in der Mitte entlang und sagte: »Hier steht sein Name.« »Gao Shan Yu Sheng.« Der verrückte Weise vom 194
hohen Berg. »Ist das Atamis offizieller Name?« frag te Luka. »Das ist sein Tempelname.« Liebevoll berührte Luka die eingemeißelten Schriftzeichen mit dem Finger. Im Aufblicken be merkte er noch einen anderen Namen: Gulan. Er be rührte auch diese Zeichen, und plötzlich kam die Er innerung zurück. »Du kennst Gulan?« erkundigte sich der Mönch. »Ja, ja, ich kenne ihn.« Die erregte Antwort schmerzte Lukas Kopf, aber das kümmerte ihn nicht. »Jetzt weiß ich es wieder. Wir sind gemeinsam den Wasserfall hinuntergestürzt.« Luka erklärte alles, so gut er konnte. Er berichtete über das Todesurteil, sei ne Begegnung mit Gulan und ihre gemeinsamen Abenteuer. »Wie hast du zu uns gefunden?« wollte Lin Kun wissen. »Durch Eure Botschaft in der Höhle und indem ich dem Fluß folgte. Ich wurde vom Großmeister ge trennt, als wir die Schwalbenfälle hinabstürzten. Dort habe ich ihn zuletzt gesehen. Bitte, bitte helft mir, ihn wiederzufinden.« »Selbstverständlich. Wir werden sofort mit der Su che beginnen. Nach allem, was du uns erzählt hast, hat der Großmeister bestimmt alles heil überstanden.« »Aber versteht Ihr nicht? Er hat sich in der Höhle mit Mogo-Skorpionen infiziert. Er war bereits halb tot, als er sprang«, jammerte Luka. »Bote!« befahl Lin Kun. 195
Es raschelte im Geäst, und ein schmallippiger Junge ließ sich von einem Baum herab, kniete vor seinem Meister nieder und erwartete dessen Befehl. »Höchste Alarmbereitschaft für den gesamten Tempel. Versammle sofort alle auf dem Kampf platz.« Der Bote schwang sich wieder in den Baum, kau erte in dessen höchstem Wipfel und zog einen kleine Bambusflöte heraus, auf der er eine durchdringende Melodie spielte. Sie erschütterte die Stille der Berge, und augenblicklich waren aus allen Richtungen eilige Schritte zu vernehmen. Meister Kun führte Luka durch ein Labyrinth dunkler Gänge. An den Wänden hingen Waffen, wie Luka sie zuvor nie gesehen hatte. Schüler rannten an ihnen vorbei und durch eine Tür hinaus in den grel len Schein der untergehenden Sonne. »Ui.« Luka konnte sich einen bewundernden Seufzer nicht verkneifen. Seinen Augen bot sich die faszinierendste Szene, die er je zu Gesicht bekom men hatte. Kein Wunder, daß der Kampfplatz, auf dem die Schüler sich täglich zum Training versam melten, als das Herz des Tempels galt. Er erstreckte sich sechshundert Meter in die Länge und dreihundert in die Breite und bestand aus drei rechteckigen trep penförmig angelegten Plattformen. Das Steinpflaster war über die Jahrhunderte von zahllosen stampfenden Füßen geglättet worden. Jetzt waren alle drei Ebenen von gerade ausgerichteten Reihen junger Kämpfer bevölkert, die auf ihren Meister warteten. 196
Meister Kun führte Luka nach vorn auf ein Podi um. »Hier sitzen während der Wettkämpfe die ehr würdigen Schiedsrichter«, erklärte er, während er Luka zu seiner Rechten Platz nehmen ließ. »Aber heute gebührt dir der Ehrenplatz.« Damit wandte sich Lin Kun den jungen Kämpfern zu. »Meine Schüler. Neben mir steht der legendäre Heilige Knabe, Luka aus Peking. Die Schriften sagen seit langem voraus, daß düstere Wolken sein Kom men überschatten, dann aber der Sieg nicht mehr weit ist. Ich hätte nie geglaubt, daß er uns die gute Nachricht von Gulans, unseres Großmeisters, Entlas sung bringen würde.« Die Schüler jubelten. Lin Kun brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Aber unser Großmeister wird vermißt, und die üblen Geschöpfe unserer Feinde haben ihn sehr geschwächt. Ich muß ihn zusammen mit den shui-gong-Kämpfern so bald als möglich finden, und ich möchte, daß ihr währenddessen in höchster Alarmbereitschaft bleibt. Wenn Gulan und Luka hier sind, so ist auch unser Erzfeind Ghengi mit seinen Truppen nicht weit. Und jetzt geht!« Die Schüler drängten vom Kampfplatz, und inner halb weniger Minuten waren alle verschwunden. Luka folgte Lin Kun ins Innere des Tempels. Der alte Meister führte ihn durch einen langen Tunnel zu einer Tür, die sich auf die Berührung seiner Finger hin selbständig öffnete. »Hier geht es zu dem Gewölbe, in dem Scholar 197
sich aufhält. Er kennt alle Schätze des Xi-ling. Er wird uns bei der Suche nach Gulan helfen.« In der dunklen Kammer war es so eng, daß Luka Schulter an Schulter mit Lin Kun stand. Doch kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, als der Boden nachgab. Luka packte Meister Kun erschrocken am Arm. »Ich hätte dich warnen sollen«, erklärte Lin Kun. »Das Gewölbe liegt dreizehn Stockwerke tief im Herzen des Berges. Dort ist es selbst bei einem An griff vor Eindringlingen sicher. Du bist der erste Nicht-Meister, der es betritt.« Die Landung war weniger hart, als Luka befürch tet hatte. Die Tür öffnete sich in einen weitläufigen Raum mit Dutzenden brennender Kerzen. Ein hünenhafter Kämpfer versperrte ihnen den Weg. »Heiliger Knabe, es ist mir eine große Ehre.« Die Stimme des Riesen war erstaunlich sanft. Als er ge nauer hinsah, blickte Luka in ein Paar freundlich lä chelnde Augen und entdeckte zwei Grübchen zu Sei ten einer lückenhaften Zahnreihe. »Das ist Scholar«, erklärte Kun. »Ehrwürdiger Scholar.« Luka verbarg geschickt seine Überraschung, indem er sich tief verneigte. Er hatte sich Scholar als ein schmächtiges altes Männ lein mit blinzelnden, vom vielen Lesen kurzsichtigen Augen vorgestellt. Wer hätte gedacht, daß ein Gelehrter stark und ju gendlich sein konnte? 198
»Auserwählt und doch so höflich«, sagte Scholar. »Was hast du gefunden?« wollte Lin Kun wissen. Scholar nahm ein Paar leuchtender Metallsterne zur Hand, die etwa die Größe von Lukas Handfläche hatten. »Die beiden hier werden uns bei unserer Su che helfen.« »Xingxing und Xongxong«, murmelte Lin Kun. »›Ob in der Luft fliegend oder im Wasser schwimmend, die Zwillinge sind unzertrennlich. Sie machen sich in jede Ferne auf‹«, zitierte Scho lar. »Wie werden sie wirksam?« fragte Luka. »Mit Zauberkraft, Heiliger Knabe. Ich zeige es dir.« Der Riese stieß eine Geheimtür auf, die hinter einem Tigerfell verborgen war, und führte sie hinaus auf einen Felsvorsprung über dem Fluß. Er schleu derte einen Stern in die Luft. »Das ist Xingxing. Er wird ausschwärmen und sein Ziel suchen. Dann kommt er wieder, um dem zurückbleibenden Xong xong Bericht zu erstatten.« Xingxing flog in weitem Bogen über die Bucht. Er leuchtete in einem Licht, wie Luka noch keines ge sehen hatte. In Abständen gab er Pieptöne von sich, als wäre er ein Vogel, der sein Nest sucht. Dann sau ste er wie eine Sternschnuppe in die Nacht hinaus. »Aber wie weiß er, daß er nach Gulan suchen soll?« fragte Luka. »Das ist alles in den Schriften niedergelegt, mein Junge. Der vorigen Generation von Meistern, Gulan inbegriffen, wurde Xingxings Zeichen in die Haut 199
eintätowiert. Selbst ohne konkrete Anweisung wird er nach diesem Zeichen suchen.« Scholar verbeugte sich und übergab Xongxong an Meister Kun. »Danke, Scholar. Wieder einmal hat sich deine verborgene Existenz hier im Gewölbe als hilfreich erwiesen. Wir werden unsere Boote bereitmachen und zur Schildkrötenbucht aufbrechen.« »Schildkrötenbucht?« wiederholte Luka. »Ein Seitenarm, der unterhalb der Schwalbenfälle in den Fluß mündet.« Lin Kun runzelte sorgenvoll die Stirn. »Wir müssen rasch handeln.« »Auf Wiedersehen, Heiliger Knabe«, sagte Scholar. »Komm bald einmal wieder. Ich habe dir noch viel zu zeigen.« Luka verneigte sich und folgte Meister Kun. Rasch begaben sie sich zur Bucht, wo bereits Dutzende von Jugendlichen Aufstellung genommen hatten. »In die Boote!« befahl Lin Kun. Luka kletterte in eines der schmalen Boote, die mit dicken Tauen an der verborgenen Lände vertäut wa ren. Der alte Mönch stieg nach ihm ein und gab den Befehl zum Ablegen. Ein Junge schoß einen brennenden Pfeil ab, der alle Taue gleichzeitig durchtrennte und die Boote frei setzte. Luka mußte sich festhalten, denn bei jedem Schub der breiten Ruder wurde das kleine Boot nach vorn gerissen. Eine Formation dunkler Gestalten sprang von der Klippe und tauchte ins Wasser. Sie schwammen ne ben den sechs Booten her. 200
»Ich bin sehr froh, daß Ihr einen so großen Such trupp für Gulan losschickt«, sagte Luka. »Für die Schildkrötenbucht könnte er dennoch zu klein sein«, erwiderte Lin Kun. »Was heißt das?« »Alle Seeschildkröten, manche so groß wie Ti sche, schwimmen in die Bucht und legen ihre Eier an den sandigen Strand. Die ansässigen Dorfbewohner haben sie seit alters her gejagt und als Delikatesse verzehrt. Seitdem haben sich die sonst so sanften Tiere gegen die Übergriffe der Menschen verschwo ren. Sie greifen jeden an, der in ihr Gebiet eindringt.« Lin Kun hielt Xongxong hoch, als prüfe er die Windrichtung. Der Stern zeigte bebend nach Westen. »Geschwindigkeit erhöhen!« brüllte Kun. Die Schwimmer hoben die Boote auf ihre Schul tern, so daß diese auf den Kämmen der wispernden Wogen dahinschossen. »Die sind aber stark«, bemerkte Luka. »Das ist meine shui-gong-Truppe, die Wasser kämpfer. Sie sind am Meer geboren und in ständiger Berührung mit dem Wasser aufgewachsen.« Kurz darauf gelangten sie an eine Gabelung des Flusses. In der Ferne hörte man die Wasserfälle rau schen. »Weiter im Norden sind die Schwalbenfälle. Und linker Hand liegt die Schildkrötenbucht.« Da war auch Xingxing wieder, der zurückgekom men war, um sie zur Schildkrötenbucht zu führen. »Ich frage mich, wie Gulan flußaufwärts gelangen 201
konnte, anstatt wie ich flußabwärts zu treiben«, sagte Luka. »Die Schildkröten müssen ihn für einen Fischer gehalten und Rache an ihm geübt haben.« Während sie sich langsam über die glitzernde Wasserfläche bewegten, sammelten sich dumpfe, rundliche Schatten um die Boote. »Was ist das?« »Die Schildkrötenpatrouille.« »Die sind ja riesig.« »Es werden noch viel größere kommen. Alle Mann in die Boote!« Die Schwimmer sprangen an Bord. »Die Schildkröten haben eine Mauer gebildet, um uns aufzuhalten«, erklärte Lin Kun. Vor ihnen hatten sich die glänzenden Körper einer über den anderen geschichtet. »Sie müssen Gulan in ihrer Gewalt haben«, mut maßte Lin Kun. »Kommen wir da durch?« »Nicht, wenn wir Gulan lebend finden wollen.« Während Luka die Mauer betrachtete, sauste Xingxing plötzlich über die Schildkröten hinweg und umkreiste einen Felsen, der aus der Flußmitte heraus ragte. Ungewöhnlich friedfertig, ohne ein einziges Schnappen oder Fauchen verfolgten auch die Schild kröten den Lufttanz des blauen Sterns. Er zog seine Kreise immer enger und begann bald darauf zu pie pen. Xongxong antwortete freudig, indem er wie wild in Lin Kuns Hand herumhüpfte. »Sie haben ihn gefunden!« jubelte Lin Kun. 202
Der Stern senkte sich immer tiefer herab, als füge er sich einer unsichtbaren Macht, und landete schließlich mit einem sprühenden blauen Funkenre gen auf dem Felsen. Wie mit Leuchtstift malte er die Umrisse eines menschlichen Körpers in die Luft, der reglos auf einem Felsen lag. »Das ist Gulan!« rief Luka. »Offenbar bewachen sie ihn«, wunderte sich Lin Kun. Luka erhob sich. »Bitte gebt meinen Großmeister heraus! Wir kommen in Frieden.« Zur allgemeinen Verwunderung löste sich die Wand aus Schildkröten auf. Die Tiere schwammen in eine Reihe und bildeten einen Weg, der von Lukas Boot bis zu Gulans Felsen reichte. Lin Kun blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. »Unglaublich! Ich dachte, das sei bloß eine Fabel.« »Was denn?« »Das mit dem Schildkrötenweg; ein Weg des Glaubens, der nur von den Tugendhaftesten beschritten werden kann. Sie wollen, daß wir auf ihren Rücken zu Gulan hinüberschreiten.« Xongxong sprang aus Lin Kuns Hand und führte Luka und Lin Kun über die Panzer der hilfsbereiten Schildkröten hinweg. Nur hier und da gab es ein lei ses Schwanken, bis sie den Felsen erreicht hatten. »Gulan!« schrie Luka. Er drückte den armen alten Mann an sich und suchte verzweifelt nach einem Le benszeichen. Gulan war kein bißchen naß und öffnete langsam die Augen. 203
»Großmeister, seid Ihr wohlauf?« »Das bin ich. Die Schildkröten haben mich geret tet.« »Wie haben sie Euch gefunden?« »Ich muß einen Schrei der Verzweiflung ausge stoßen haben. Als nächstes erinnere ich mich daran, daß der gute Graukamm mich auf seinem Rücken trug.« Gulan tätschelte den Felsen, auf dem er lag. »Graukamm?« Erst jetzt wurde Luka klar, daß der Fels der Panzer einer Riesenschildkröte war. »Der muß ja unglaublich alt sein«, staunte Luka. »Alt und weise. Er war schon alt, als mein Groß vater noch ein kleiner Junge war. Mein Urgroßvater hat einmal einen Pfeil aus seinem Fleisch entfernt.« »Und er erinnert sich noch an Euch?« »Diese Tiere tun ja nichts anderes. Sie schwimmen herum und merken sich Dinge.« »Woher wißt Ihr, daß dies Graukamm ist?« »Sieh dir die Eingravierung auf dem Panzer an.« Er deutete auf zwei Schriftzeichen: GU LO. »So hieß mein Urgroßvater.« »Donnerwetter!« »Und jetzt nimm deinen Dolch und ritz meinen Namen daneben ein«, verlangte Gulan. Luka führte die Spitze des Dolches über den hübsch gemusterten Schildpattpanzer. Gulan lächelte. »Schreib deinen Namen auch mit dazu!« »Warum?« »Damit Graukamm länger lebt. Sein Leben währt so lange wie seine Hilfsbereitschaft für andere Le 204
bewesen. Indem du deinen Namen einritzt, tust du der Welt kund, daß er dir geholfen hat.« »Es ist mir ein Vergnügen.« Und so ritzte er in ungelenker Kinderschrift LUKA neben Gulans Na men. »Jetzt wird Graukamm weitere zweihundert Jahre leben«, erklärte Gulan. Luka küßte die Schildkröte zärtlich auf den Panzer. Da tauchte der Kopf, groß wie ein Wok, aus dem Wasser auf. Faltige Haut hing um den Hals, und zwei Augen rollten in wäßrigen Höhlen. »Jetzt hat Graukamm dich gesehen und wird sich sein Leben lang an dich erinnern.« Lin Kun verbeugte sich, dann nahm er Gulan in die Arme. »Willkommen, Großmeister«, sagte er. »Es ist gut, wieder hier zu sein, Lin Kun.« Die Männer umarmten sich herzlich, und Luka spürte die tiefe Zuneigung und Liebe, die zwischen den beiden bestand. Zuneigung und Liebe zeigten sich auch in der Behutsamkeit, mit der Lin Kun Gulan zu dem Boot trug. Bevor sie abfuhren, winkte Gulan der Schildkröte zu. »Auf Wiedersehen, Graukamm.« Hunderte von Schildkröten begleiteten die drei noch bis zur Gabelung des Flusses. Als sie von der letzten Schildkröte Abschied genommen hatten, wollte Luka wissen: »Großmeister, warum bin ich eigentlich nicht ertrunken?« »Ich hatte dich lahmgelegt, so daß deine Körper funktionen an der Oberfläche völlig eingestellt wa 205
ren. Nur ganz tief innen war noch ein Funken Leben. Hat dir Meister Kun das nicht erklärt?« »Nein.« »Nur seine Nadeln konnten mein Tun rückgängig machen.« Lin Kun und Gulan tauschten ein Lächeln. »Wie kann ich Euch jemals danken, Großmeister?« »Nicht der Rede wert, mein Junge. Ich mußte dich ja retten, damit du zurückkommen und wiederum mich retten konntest.« Bei Sonnenaufgang erreichten die Boote den verbor genen Landeplatz am Fuß des Berges. Sofort spran gen drei Jungen hinter den Bäumen hervor und be äugten mißtrauisch die Ankömmlinge. Zu seinem Schrecken mußte Luka feststellen, daß es eben jene waren, die ihn geknebelt und kopfunter an den Baum gehängt hatten. »Du bist diesen dreien ja schon einmal begegnet«, sagte Meister Kun. »Das sind meine Neffen. Der Größe nach heißen sie Yi-shen, Er-shen und San shen.« Die Neffen des Meisters, dachte Luka. Sein Mund war noch immer wund von dem Knebel, und seine Knöchel waren aufgeschürft, wo sie ihn festgebun den hatten. Dennoch sprang er aus dem Boot und verbeugte sich in ihre Richtung. »Es ist mir eine Ehre, euch wiederzusehen, meine shi-xiong.« Wörtlich be deutete das ›Ältere Brüder-Meister‹, eine bewußt gewählte Anrede, die auf eine enge Verbindung schließen ließ. 206
»Wer bist du, daß du uns shi-xiong nennst?« schnaubte Yi-shen, der größte von ihnen, der eine krumme Nase hatte. »Sei still, Yi-shen«, mahnte Meister Kun, »der Großmeister braucht Ruhe.« Die drei warfen verächtliche Blicke auf Gulan, den die Schwimmer an Land trugen. »Es tut mir leid, wenn ich euch beleidigt habe«, erklärte Luka. Er wußte, daß jede Kung-FuBruderschaft eine festgefügte Clique war, die jedem von außen Kommenden mit Mißtrauen und Feind schaft begegnete. »Ihr müßt euch vertragen, denn Luka wird von nun an euer shi-di sein, euer Mitschüler und jüngerer Bruder«, sagte Meister Kun streng. »Macht mir keine Schande. Und jetzt erwidert seine Verbeugung!« Der Älteste übernahm die Führung, indem er nach lässig in Lukas Richtung nickte; die anderen taten es ihm nach. »Danke, meine shi-xiong, ich werde mich eures Vertrauens würdig erweisen«, sagte Luka. »Dafür werden wir schon sorgen«, murmelte Er shen. »Torheit der Jugend.« Meister Kun schüttelte den Kopf. »Bitte vergib ihnen ihre Unwissenheit. Sie ha ben noch nicht soviel von der Welt gesehen wie du und müssen noch manches lernen.« Er versetzte San shen, dem Jüngsten, einen Tritt gegen die Fersen, was alle drei dazu veranlaßte, die Treppe vor allen anderen zu erklimmen. 207
Oben wurde die Tür geöffnet, und ein kleiner Mönch hieß sie willkommen. Seine großen Augen wirkten angstvoll und einsam. »Willkommen, ihr heiligen Gäste«, sagte er und beugte das Haupt. »Ich heiße Dodo und bin der Pförtner.« Bevor Luka etwas erwidern konnte, stieß Yi-shen den Jungen beiseite. Warum benahmen sich diese Kerle so schlecht? Warum waren sie so bösartig? Luka seufzte, während er Lin Kun in den Tempel folgte. »Das ist die Halle des Respekts, wo die Zöglinge die Ehrfurcht vor den Helden früherer Generationen lernen.« Die Atmosphäre war tatsächlich ehrfurchtgebie tend. Holzstatuen ehemaliger Kämpfer starrten auf die Besucher herab. Sie hatten Tintenfischarme, Spinnenbeine, Löwenköpfe und Drachenkörper. Luka nahm sich vor, die Halle des Respekts nie allein zu besuchen. »Warum haben die Helden Tierkörper?« fragte Luka. »Die alten Xi-ling-Kämpfer stammten von Tieren ab, die sich aus der Wildnis hierher verirrt haben. Einige der Besten verbinden die Eigenschaften von Tier und Mensch. Ich sehe, daß ich dir noch viel bei bringen muß, Heiliger Knabe.« »Aber jetzt, Meister Kun, bitte ich Euch, erst ein mal für die Heilung unseres Großmeisters zu sor gen. Seine Genesung ist wichtiger als mein Unter richt.« »Du bist jung und dennoch weise. Ich werde mein 208
Bestes tun, um ihn zu heilen, aber es wird nicht ein fach sein.« »Ich werde Tag und Nacht bei ihm wachen. Auch könnt Ihr mir die schwersten Aufgaben übertragen, damit ich unseren Lebensunterhalt hier verdienen kann. Ich werde Gulans Arbeitspensum mit über nehmen.« »Du mußt nicht mehr und nicht weniger tun, als jeder von uns. Der Tempel ist jetzt dein Zuhause«, erklärte Meister Kun. Sie betraten einen Gang. Die Fenster hier waren lang und schmal und gingen auf einen dichten Wald hinaus, in dem Vögel sangen. »Siehst du das?« Meister Konn deutete an die Decke. Lukas Blick folgte dem Finger und sah, daß es dort von Lebewesen wimmelte. Fledermäuse! Rie sige baumelnde Fledermäuse, die leicht im Luftzug schaukelten, bedeckten die gesamte Decke. Beim Klang von Kuns Stimme flatterten einige auf sie zu. Luka schrie auf. »Sie tun nichts, meine Freunde der Nacht«, sagte Meister Kun. Die Fledermäuse kehrten zu ihren dunklen Schlafplätzen an der Decke zurück. Meister Kun führte sie in eine kleine Kammer, die von dem Gang mit den rattenhaften Geschöpfen ab ging. »Gulan wird in diesem sicheren Raum unweit der Fledermäuse bleiben. Es gibt hier einen Geheim gang, der dich im Notfall dreihundert Meter tief zum Flußufer befördert und von dort zur Lanlan-Insel mitten im Fluß führt.« Er gab den Wasserkämpfern 209
ein Zeichen, Gulan auf das Bett unter dem Fenster zu legen. Dann flüsterte er ihnen etwas ins Ohr, bevor er sie entließ. »Heute abend sollen alle Sorgen ruhen. Wir haben etwas zu feiern«, sagte Meister Run. »Eine Feier? Aber wieso?« fragte Luka. »Deine Ankunft und Gulans Rückkehr. Seit den Tagen seines früheren Ruhms hat Xi-ling keinen solch freudigen Anlaß mehr gehabt.« »Aber der Großmeister ist noch so schwach.« »Ich habe nach Scholar geschickt. Der wird sich etwas einfallen lassen, um ihn soweit herzustellen, daß er mitfeiern kann.« Schon waren im Korridor schwere Schritte zu ver nehmen. Scholar schleppte sperrige Gerätschaften mit sich, die kaum durch die schmale Tür paßten. Nachdem er sich endlich hindurchgezwängt hatte, ging er, die anderen Anwesenden keines Blickes würdigend, geradewegs auf Gulan zu und hätte dabei fast ein Tischchen umgerissen. Er hatte nur eines im Sinn: das Leben zu retten, das langsam dahinzu schwinden drohte.
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Scholar bewirkte ein kleines Wunder an Gulan. Bei Sonnenuntergang erwachte der Meister erfrischt, und seine Haut war wieder glatt. Falls sich noch Skorpioneier in seinem Körper befanden, so war ihm das, zumindest derzeit, nicht anzusehen. »Dem Begrüßungsmahl beiwohnen? Warum nicht?« sagte Gulan zu Meister Kun. »Was immer ihr mir verabreicht habt, hat die Skorpione ruhigge stellt.« »Es war Ginseng«, erwiderte Scholar. »Zusammen mit dang-gui, einer Prise Hirn von einem dreibeini gen Huhn, fünfeinhalb Unzen eines gemahlenes Stein namens lao-xi, zwei Schuß von dem starken Schnaps, den wir selber brauen – reichlich bemessen –, und dann noch …« »Das genügt«, schnitt ihm Meister Kun das Wort ab. »Das muß der arme Großmeister nicht alles wis sen. Du ermüdest ihn nur unnötig.« »Verzeiht, Großmeister«, sagte Scholar. »Bitte gebt mir ein wenig mehr Zeit, damit ich die tausend Seiten von ›ÜBEL GEGEN ÜBEL‹ studieren kann. 211
Ich bin sicher, daß die Skorpione im strahlenden Licht der Xi-ling-Weisheit keinen Schlupfwinkel mehr finden werden.« »Laß dir ruhig Zeit mit den neun Bänden. Haupt sache, ich muß sie nicht lesen«, kicherte Gulan. »Und was ist jetzt mit dem Abendessen, daß ihr mir versprochen habt?« Gulan erhob sich von seinem Lager und stand ohne Hilfe auf. Luka und Meister Kun eilten an seine Seite, doch Gulan schob sie weg. »Ich bin bereit, der nächsten Generation von Xi-lingSchülern ins Auge zu blicken«, erklärte er. »Wahrlich, das seid Ihr.« Meister Kun kannte sei nen Lehrer gut genug, um ihm nicht zu widerspre chen. Er stand hinter dem Großmeister und gab Luka einen Wink, der soviel besagte wie: Lassen wir ihm seine Tapferkeit, aber behalten wir ihn im Auge. »In der Halle der Verehrung ist angerichtet, Großmeister«, sagte Meister Kun. »Ah, mein Lieblingsplatz.« Gulan ging ihnen pfei fend durch die Gänge voraus. Als sie den Eingang zur Halle der Verehrung erreichten, hielt Gulan inne und verharrte lange in kniender Haltung, den Kopf gesenkt und die Hände in stillem Gebet gefaltet. Als er fertig war, stand er auf. »Nichts hat sich verändert. Alles erscheint mir nur noch wunderbarer«, sagte er. Sie nahmen an der Ehrentafel am Fuß einer riesi gen Buddhastatue Platz, und Luka bewunderte die Schönheit dieses uralten Heiligtums. Die gewölbte Decke war reich mit mythischen Abbildungen ver ziert; sie zeigten fliegende Menschen und Tiere in 212
lebhaften Farben. Die kreisförmigen Wände bedeckte reiches Schnitzwerk, das monströse Geschöpfe aus See und Gebirge darstellte. Zwei kämpfende Drachen senkten die Häupter über den Eingang herab, als würden sie ihn bewachen. Unter ihnen hielt ein Dut zend geschnitzter Löwen Wache. »Die Schnitzereien und Wandgemälde zeigen Be gebenheiten aus den Anfängen unserer Bruder schaft«, erklärte Gulan stolz. »Diese Drachen sind so lebensecht«, sagte Luka. »Das kommt, weil sie lebendig sind«, erwiderte Gulan. »Aber sie sind noch keine richtigen Drachen. Noch nicht ganz. Bislang sind sie bloß Riesenschlangen.« Eines der Geschöpfe wandte sich nach Luka um und starrte ihn träge an. »Fressen die auch Men schen?« »Nein. Sie verbüßen hier ihr Urteil auf dem Weg zur Erlösung.« »Und? Bessern sie sich?« Gulan nickte. »Früher waren sie bösartige Schlan gen, doch inzwischen sind sie Vegetarier geworden. Sie vergreifen sich an niemandem, der das Xi-lingZeichen trägt.« Gut zu wissen, dachte Luka bei sich und hatte auf der Zunge zu fragen, wann er sein Xi-ling-Zeichen bekommen werde, was auch immer das bedeutete. Doch er verkniff sich die Frage. »Was ist das?« Gulan deutete auf zwei Schriftta feln, die an der Stirnwand hingen. Auf einem stand 213
XI-LING WOHLTÄTIGES WAISENHAUS, auf dem anderen GEMEINDEAUFSEHER DER XI-LING BUCHT. Spuren an der Wand deuteten daraufhin, daß hier noch eine weitere Tafel gehangen hatte, aber nun war nur noch der Nagel vorhanden, die Tafel selbst war verschwunden. »Nominell bin ich Prinzipal des Waisenhauses, Gemeindeaufseher und heimlicher Abt des Tempels, Großmeister«, erklärte Lin Kun. »Warum heimlicher Abt?« »Wie Ihr wißt, ist die Verehrung Buddhas seit der Besetzung unseres Landes durch die Mogo verbo ten.« Gulan fuhr mit dem Finger über die Statue hinter sich. »Kein Wunder, daß die Buddhastatue so sauber und völlig staubfrei ist.« »Ja, Großmeister. Die meiste Zeit mußte ich sie mit Tüchern verhängen, eine Sünde, für die ich Buddha jeden Tag um Vergebung bitte.« »Und wer hat euch angewiesen, diese profanen Hüte zu tragen?« »Der derzeitige Herrscher«, erwiderte Meister Kun mit gesenktem Kopf. »Du meinst Kaiser Ghengi?« sagte Gulan. »Großmeister, bitte richtet mich nicht danach, was zu tun ich gezwungen war, sondern danach, was ich erreicht habe.« »Und was hast du erreicht?« »Die Mißwirtschaft Ghengis hat diesen Teil des Landes in Armut gestürzt, und die Hungersnot hat 214
viele Leben gekostet. Überall gibt es Waisenkinder, die verhungern oder zu Tode geprügelt werden. Ich habe den hiesigen Magistrat gebeten, ein Waisenhaus einrichten zu dürfen, um die Kinder und zugleich den Tempel retten zu können. Die Beamten durchschau ten meine Motive, doch nachdem es mehrmals Auf stände hungernder Waisen gegeben hatte, war ihnen klar, daß etwas geschehen mußte. Im Frühling von Ghengis zweitem Regierungsjahr erhielt ich schließ lich die Genehmigung zur Eröffnung dieses Waisen hauses, und seither habe ich auf den Straßen sterbende Jungen aufgesammelt. Ich kümmere mich um ihre Nahrung, und Buddha sorgt für ihre Heilung. Die Waisen können kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, doch sie sind ausnahmslos geblieben. Wenn Ihr also meint, Großmeister, daß ich gegen die Regeln des Xi-ling verstoßen habe, so erwarte ich meine Bestrafung.« Der Großmeister seufzte. »Im Gegenteil, mein lie ber Lin Kun. Du machst mich stolz.« »Dann seid Ihr mir also nicht böse?« »Mein Stolz als Xi-ling-Kämpfer mag verletzt sein, doch die Leben, die du gerettet hast, machen dies vielfach wieder wett. Wie könnte ich dir Vor würfe machen? Du bist derjenige, der gute Taten vollbracht und den Geist des Xiling weitergeführt hat, während ich mich selbstsüchtig habe wegsperren lassen, um mein yin-gong zu vervollkommnen.« »Aber Großmeister«, gab Lin Run zu bedenken, »Ihr habt Euch doch ins Gefängnis werfen lassen, um 215
uns alle zu retten. Nicht nur mit Eurer Tapferkeit, sondern auch mit Eurem Wissen seid Ihr mir Vorbild gewesen. Eure Sanftmut und Eure Biegsamkeit sind unserer Stärke bei weitem überlegen. Auf diese Weise habt Ihr uns die Gelegenheit zu Wachstum und Re generation gegeben. Nur dadurch konnte Xi-ling überleben.« »Ach, Lin Run.« Gulan drückte Meister Runs Schulter. »Und jetzt sag uns, was es mit der dritten, der fehlenden Tafel auf sich hat.« »Das werdet Ihr gleich sehen«, sagte Meister Run und wandte sich an Scholar. »Bitte zeig Luka die Schriftrolle.« Scholar hielt ein kleines Bündel vergilbtes Papier in seinen riesigen Händen, das uralt und schon etwas angeschimmelt aussah. Mit gebeugtem Knie breitete er es vor Luka aus. »Was ist das?« »Diese Schrift hat eure Ankunft vorhergesagt, deine und die von Gulan«, erklärte der Riese. »Unsere Ankunft?« Luka streckte beide Hände nach dem Papier aus, doch Meister Run schlug ihm auf die Finger. »Nicht anfassen. Es könnte zerfallen.« »Diese Schrift ist Hunderte von Jahren alt«, erklärte Gulan. »Sieh dir die Kalligraphie an. Das ist in li-shu, der älteste und ehrwürdigste Schreibstil, der sich durch besondere Bogen und Schwünge auszeichnet. Es gleicht einem Gemälde. Und die Unterschrift hat ein Großmeister daruntergesetzt, wie ich einer bin; nur daß das ewig lange her ist.« 216
Luka war tief beeindruckt. Seine Ankunft war al so schon vor vielen hundert Jahren geweissagt wor den. »Alles war vorherbestimmt. Sogar unser Festmahl heute Abend«, sagte Meister Kun. Dabei deutete er auf den großen Felsklotz, der der Verehrungshalle als Rückwand diente und von dem Wasser in einen klei nen Teich herabtröpfelte. »Das Wasser kommt vom Gipfel des Berges und sucht sich seinen eigenen Weg. Jede Sekunde fällt ein Tropfen, gleichgültig, ob bei Trockenheit oder Taifun. Schau her, der Wasser spiegel nähert sich dem Pegel des Mondaufgangs. Gleich ist es soweit.« Ein Tropfen, zwei Tropfen. Beim dritten schossen Feuerbälle aus den Augen der beiden Riesenschlangen. »Alle Achtung!« Über Gulans Gesicht huschte ein kindliches Grinsen. »Einen so reinen Feuerball haben sie noch nie hervorgebracht.« »Die Reinheit des Feuers entspricht der Reinheit ihres Herzens«, erläuterte Meister Kun. »Und wofür ist dieses Feuer gut?« fragte Luka. »Qu xie«, sagte Gulan, »die Austreibung des Bö sen.« »Außerdem reinigt es abgestandene Luft«, fügte Meister Kun hinzu. »Bitte, Scholar, fahr mit der Ze remonie fort.« »Einzug der Schüler«, verkündete Scholar. Die Türflügel wurden aufgestoßen, und hundert Jungen stürmten herein, um sich vor Gulan zu ver neigen. 217
Einer nach dem anderen wurde von ihm mit lie bevollem Lächeln in Augenschein genommen, als wären sie alle seine leiblichen Kinder. Außerdem bedachte er jeden mit einem besonderen Nicken, Augenzwinkern oder mit einem Winken der Finger. »Wie du gesagt hast, Lin Kun, alles prächtige Bur schen.« Lin Kun erhob sich, nachdem alle an den Ti schen Platz genommen hatten. »Heute Abend kön nen wir, wie uns die Schrift geweissagt hat, unsere Tradition wiederaufnehmen.« Die Schüler applau dierten. »Aus Anlaß der Rückkehr unseres Großmeisters«, fuhr Meister Kun fort, »trete ich von meiner Stellung als Abt unseres Tempels zurück und setze Gulan als Großmeister ein, der nur seiner Heiligkeit, dem Buddha selbst, untersteht.« »Großmeister! Großmeister!« jubelten die Jungen. »Darf ich Euch als Teil unseres großen Erbes die neue Ehrentafel überreichen?« Bei diesen Worten gab Lin Kun ein Zeichen, und zwei kleine Jungen schleppten eine nagelneue Holztafel mit acht leucht endroten Schriftzeichen herbei: GU LAN DA SHI; CHI MAO ZHI ZHU – GROSSMEISTER GULAN; ABT DIESES TEMPELS. Auf Zehenspitzen hängten sie die Tafel an den freien Nagel in der Stirnwand. »Von nun an«, sagte Meister Kun, »gilt uns sein Wort als Wahrheit, der alle zu folgen haben. Er wird alle Bereiche unseres Lebens überwachen. Vor allem 218
aber wird er unter euch jenen auswählen, an den die höchste Form des yin-gong weitergegeben werden soll.« Hier unterbrach Gulan Lin Kun mit einer raschen Handbewegung. »Stimmt etwas nicht?« Lin Kun beugte sich flüs ternd zu ihm hinüber. »Das kann man wohl sagen«, antwortete Gulan. »Ich habe diese Kunst bereits an unseren Heiligen Knaben weitergegeben.« »Das habt Ihr getan? Aber wieso diese Eile?« »Was heißt Eile? Mein Leben lang habe ich darauf gewartet, daß mir dieser Knabe begegnet.« »Macht Ihr Euch denn keine Sorgen um die Rein heit unseres Erbes?« »Die Reinheit unseres Blutes, willst du sagen.« »Ja, schließlich ist er ein halber Mogo.« Gulan zog hörbar die Luft ein. »Das stimmt, aber er ist in unserer Tradition erzogen. Atami hat sich für ihn geopfert, und er ist die Zukunft Chinas.« »Vergebt mir meine Zweifel, Großmeister.« Meister Kun verneigte sich vor Gulan, dann schob er Luka neben den Großmeister und verkündete: »Ich dachte, wir seien mit zweifachem Segen bedacht worden. In Wirklichkeit aber ist der Segen sogar dreifach. Unser Heiliger Knabe wurde bereits als Empfänger des yin-gong ausersehen. Daher kann ich euch nun, gemäß unserer Tradition, auch gleich den neuen Jungmeister vorstellen.« In der völligen Stille, die auf diese Ankündigung 219
folgte, stand Yi-shen plötzlich auf. »Was ist mit mir? Ich dachte, ich sei der Jungmeister.« »Du wirst von heute an unser Stellvertretender Jungmeister sein«, verkündete Meister Kun. »Das kannst du vergessen«, herrschte Yi-shen Luka an. »Ich war hier Jungmeister, bevor du aufgetaucht bist, und ich werde Jungmeister sein, sobald du wieder verschwunden bist.« Luka war völlig verdattert. Er wußte nicht, was er erwidern oder wie er fühlen sollte. »Ehrlich gesagt liegt mir gar nichts daran, Jungmeister zu sein, Meis ter Kun. Er kann seinen Titel ruhig behalten.« »Tradition ist Tradition. Unsere Regeln legen ganz klar fest, daß derjenige, der das yin-gong empfangen hat, auch Jungmeister ist und später zum Meister aufsteigt. Mit Buddhas Segen kann er sogar Groß meisters werden. Das ist eine Ehre, die man nicht zurückweisen kann.« Dann wandte er sich an Yi shen. »Setz dich wieder hin, Yi-shen, und sei still. Das Festmahl möge beginnen.« Eine Gruppe junger Köche, jeder mit einem Tab lett in der Hand, servierte Früchte und Gemüse in einer Vielfalt und Fülle, wie Luka sie noch nie gese hen hatte. Die gelbfleischigen Wassermelonen hatten den Durchmesser eines Unterarms; die zarten Erd beeren waren groß wie Handteller; kernlose Lychees troffen vor honigsüßem Saft; Bienen umschwirrten die herben und zugleich süßen Kumquats. Manches davon hatte Luka noch nie gesehen. Der Mund stand ihm wohl merklich offen, denn 220
Meister Kun fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?« »Ganz im Gegenteil, alles sieht so großartig aus.« »Wir bauen diese Früchte mit Buddhas Segen sel ber an.« »Kein Wunder, daß sie so außergewöhnlich sind.« »Das kann man sagen. Außerdem verleihen sie ein langes Leben. Schau mich an. Ich bin schon Ewig keiten nicht mehr krank gewesen. Das kommt nur von den guten Früchten aus unserer gesegneten Er de.« Luka aß langsam. Er versuchte, sich bei seinem er sten Essen im Kreis der Mitbrüder einigermaßen sitt sam zu benehmen, doch zu seiner Erleichterung schlangen die anderen Schüler die Speisen hinunter, als wären sie am Verhungern. Die einzigen, die nicht aßen, waren Yi-shen und seine Brüder, die an einem Tisch in der entferntesten Ecke zusammenhockten und ihre starken Getränke nur so in sich hineinschüt teten. Meister Kun hielt einen Bambusbecher mit Süß kartoffelschnaps hoch und rief: »Stoßen wir auf un seren heiligen Freund an!« Alle standen auf und erhoben feierlich ihre Be cher. Luka leerte als erster seinen Schnaps, und die an deren taten es ihm unter fröhlichem Geschrei nach. Luka beugte sich zur Seite. »Gulan, ich wußte gar nicht, daß mir das von Euch Erhaltene soviel Ehre einbringt.« »Diese Ehre gebührt dir. Ich hoffe nur, daß sie 221
nicht mit Unannehmlichkeiten verbunden ist«, sagte Gulan mit einem Seitenblick auf Yi-shen. »Aber wie schon ein altes Sprichwort sagt: Ein guter Schluck erwärmt die Herzen. Warum stößt du nicht mit Yi shen an?« Luka füllt seinen Becher, erhob sich und näherte sich Yi-shen. »Ich möchte mit dir anstoßen, Yi-shen. Möge unsere Freundschaft wachsen wie der Bambus, der jeden Tag ein Stück größer wird.« »Neffe, hier trinkt jemand auf dein Wohl. Das kannst du nicht zurückweisen«, sagte Meister Kun. »Ich erwidere jedes Zuprosten«, antwortete Yi shen, »außer von dem da.« Mit diesen Worten stol zierten er und seine Brüder aus dem Saal. »Dann trinke ich eben auf deine Gesundheit, Yi shen«, sagte Luka und leerte seinen Becher mit Genuß. Meister Kun nahm dem Trinkspruch anstelle sei nes Neffen entgegen und prostete Luka zu. »Und ich trinke auf deine Gesundheit, Heiliger Knabe.« Gulan beobachtete die Szene schweigend. Als sich das Festmahl dem Ende näherte, sagte Meister Kun zu Luka: »Als neuer Jungmeister wirst du zusammen mit den anderen Schülern schlafen.« »Aber ich muß bei Gulan bleiben, um immer auf ihn aufzupassen.« »Für diesen Zweck habe ich bereits zwei Wachen abgestellt. Außerdem gebietet dies das uralte Gesetz der Gleichheit. Als ihr Führer mußt du ihnen ein gu tes Vorbild sein und alle Regeln und Befehle streng befolgen.« 222
»Luka, tu, was Meister Kun dir sagt«, mischte Gu lan sich ein. »Ich bin in guten Händen.« »Außerdem benötigst du deine ganze Energie für die Übungen«, fügte Meister Kun hinzu. »Ein wenig Kumpanei mit Yi-shen wird euch miteinander ver söhnen.« Luka umarmte Gulan zum Abschied. »Xi-lings Zukunft ist voller Unwägbarkeiten«, flüsterte Gulan. »Vergiß das bitte nie.« Bald darauf nahm Luka seine Habseligkeiten und folgte Meister Kun zu der Scheune, in der die Schü ler schliefen. Unterwegs erklärte ihm der Meister, daß er von nun an mit den anderen schlafen, essen, üben und arbeiten werde, und das alles im Dienste der Einheit und des Fortbestehens der Xi-lingTradition. Jetzt, da er Träger des Titels war, mußte er sich den Respekt seiner Mitschüler verdienen. Er mußte stark, geschickt und großzügig sein, ein Vor bild für die anderen. Er mußte weit sehen und gut hören können. Und er mußte mit dem Üben ganz von vorn beginnen. Doch Lukas Gedanken wanderten immer wieder zu Gulan, und er erinnerte sich an dessen Worte über Xi-lings ungewisse Zukunft. Während er Meister Kun den Kiesweg entlang folgte, hörte er plötzlich ein Ploppen hinter sich. Es war Dodo, der Türsteher, der aus seinem Versteck in den Baumwipfeln gesprungen war. »Was tust du denn hier?« flüsterte Luka. »Ich habe Nachtwache«, flüsterte Dodo zurück. 223
»Sieh dich vor!« Er schien Luka noch mehr sagen zu wollen, doch Meister Kun drehte sich um und fragte: »Wer ist das?« »Ich bin’s, Dodo.« »Ist alles in Ordnung?« »Alles friedlich, Meister.« »Und wie sieht es flußaufwärts und an der Küste aus?« »Ruhig.« »Gut. Du kannst gehen. Und behalte heute nacht die Scheune im Auge. Ich möchte über jegliches Treiben dort unterrichtet werden.« »Jawohl, Meister Kun.« Damit verschwand er, leise wie ein Äffchen, in den Bäumen. Kurz darauf erreichten sie die Scheune. Die Luft war geschwängert von Kuhdung und Pferdepisse. Im Osten gewahrte Luka die Schatten sich bewegender Kuhhörner; Zähne malmten rhythmisch das Heu, lange Schwänze baumelten hin und her. Nach Wes ten zu standen Dutzende von schlafenden Xi-lingPferden, die beim Dösen ihren Gedanken nachhin gen. Die heitere Stille der Scheune wurde nur vom gelegentlichen Blöken neugeborener Lämmer unter brochen, deren zarte Hufe das lockere Heu niedertra ten. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Es war Er-shen mit einer Kerze in der Hand. »Was kann ich für dich tun, Onkel Kun?« »Hast du wie besprochen das Bett für Luka herge richtet?« 224
»Ja, habe ich getan«, erwiderte Er-shen. Er führte sie an einer Reihe von Pritschen mit schnarchenden Jungen vorbei zu einem leeren Bett unter dem Fens ter. Im schwachen Kerzenschein konnte Luka nicht viel sehen, aber das war auch nicht nötig. Ein Bett war alles, was er jetzt brauchte. Selbst auf ein Kopf kissen hätte er verzichten können. Er wollte nur noch alleingelassen werden und schlafen, bis die Sonne ihm auf den Hintern schien. Er wünschte Meister Kun eine gute Nacht, doch der war noch nicht fertig. Er überschüttete Er-shen mit weiteren Ermahnungen, die immer mit ›von nun an‹ begannen. Der Junge hörte aufmerksam zu, doch Luka wußte genau, daß er sich dennoch auf einiges gefaßt machen mußte. Kaum war Meister Kun gegangen, da erwachte die Scheune zum Leben. Jeder der Jungen zündete die Laterne neben seiner Pritsche an, drängelte sich um Lukas Bett und bestürmte ihn mit Rufen und Fragen. »Der Heilige Knabe ist da!« »Wie findest du es, daß du jetzt Jungmeister bist?« »Ruhe!« schrie jemand. »Ich will schlafen.« »Sprich zu uns!« rief Huhu. Sofort griffen die an deren den Ruf auf. Luka hob die Arme, und der Lärm legte sich. »Ihr alle seid meine Brüder. Laßt uns wie eine Familie zusammenleben. Aber jetzt ist es höchste Zeit zum Schlafen. Das ist ein Befehl.« Enttäuschtes Stöhnen erhob sich, und alle krochen in ihre Betten zurück, bis auf Huhu und einen fetten 225
Jungen, der seine Pritsche an die von Luka heran rückte. »Das ist Coco, der Küchenjunge«, stellte Hu hu flüsternd vor. »Hallo, Coco! Das Essen heute Abend war le cker«, sagte Luka. »Aber jetzt rückt eure Betten bes ser wieder weg, wir müssen schlafen.« »Nein, wir wollen dich beschützen«, entgegnete Huhu. »Warum beschützen? Mir geht’s doch großartig.« »Großartig? Das ist eine Frage von tot oder leben dig, kapiert?« Der fette Koch zog ein Tranchiermes ser unter dem Kopfkissen hervor und schwenkte es wirkungsvoll. »Die werden dich fertigmachen.« Er warf einen verächtlichen Blick in die entfernteste Ecke, wo Yi-shens Bett stand. Luka horchte auf. »Wirklich?« »Todsicher«, bestätigte Coco. »Das Problem ist«, erklärte Huhu, »daß Meister Kun seine Neffen wie die eigenen Söhne liebt. Ihr Vater starb wegen Meister Runs Verbindung zum Xi-ling, und deswegen fühlt er sich schuldig. Er gibt sich die Schuld am Unglück dieser Kinder, und mit seinem weichen Herzen schafft er es nicht, sie im Zaum zu halten. Mit etwas größeren Essensrationen, geringeren Strafen und dergleichen fing es an. Ihr Onkel gab ihnen den kleinen Finger, und sie nahmen die ganze Hand. Eines Tages mußte der Onkel fest stellen, daß sie auf weitere Belehrungen nur mit noch übleren Streichen reagierten. Das einzige, was diese Monster können, ist kämpfen, und sie haben alles 226
und jeden hier unter ihrer Fuchtel. Was sie sagen, wird gemacht. Dies ist ihr Tempel, ihr Zuhause, über alles können sie verfügen. Und du, mein neuer Jungmeister, bist ihnen gewaltig auf die Füße getre ten. Und jetzt sag mir, ob es da nichts zu fürchten gibt.« Luka schwieg. »Aber wir stehen hinter dir«, versicherte ihm Coco. »Und wir hoffen, daß jetzt, da du unser Jungmeister bist, ein anderer Wind wehen wird.« »Ein anderer Wind? Wie zum Beispiel?« erkun digte sich Luka vorsichtig. »Kleinigkeiten. Bisher müssen wir unsere Essens rationen als Tribut an die Neffen des Meisters abge ben. Wir müssen ihnen kleine Gefälligkeiten erwei sen, zum Beispiel ihre Nachttöpfe leeren.« »Ich weiß nicht, ob es zu meinen Pflichten gehört, da einzugreifen.« »Natürlich gehört das zu deinen Pflichten. Morgen im Eßsaal wirst du schon sehen, wovon ich spreche.« »Morgen ist auch noch ein Tag. Und jetzt beim Einschlafen konzentriert euch auf ein einziges Wort: Einigkeit.« »Einigkeit?« wiederholte Coco ungläubig. Luka nickte. »Ja, Einigkeit unter den Xi-lingBrüdern. Gute Nacht.« »Einigkeit«, murmelte Huhu. »Der spinnt wohl.« Am folgenden Morgen wurde Luka von etwas Schleimigem auf seinem Gesicht geweckt. Zunächst 227
dachte er, es sei Teil seines Traums, in dem er gerade dabei war, einen sich ringelnden Aal zu fangen. Als es ihn an den Nasenlöchern kitzelte, schlug er sich mit der Hand aufs Gesicht, und der Traum endete jäh. Aus dem Aal wurde ein Dutzend sechsbeiniger grüner Schlangen mit schnappenden Hummerzangen, die über sein Bett und über den Fußboden krochen. Von einem rechteckigen Sockel unterhalb der Stirn starrten sie ihn aus drei Augen an. Die ganze Nacht über hatte er dieses Ungetier im Bett gehabt! Luka hüpfte davon wie ein tanzendes Mädchen, bis er endlich ein sicheres Plätzchen fand. Aus der anderen Ecke des Raums vernahm er spötti sches Gekicher. »Ich dachte, es macht dir Freude, meine Kuschel tiere, die Klobster, kennenzulernen«, höhnte Yi-shen. »Du wolltest mich umbringen!« »Nicht ich, höchstens die Klobster«, kicherte Yi shen. Die übrigen Jungen schliefen noch und schnarch ten wie zerschlissene Blasebälge. Luka griff nach einem Korb, der am Kopfende seines Bettes stand, und versuchte die mutierten Schlangen einzufangen, aber das war nicht so einfach. Der Schatten, den er über sie warf, erschreckte sie so, daß sie kopflos hinund herrannten und zu den Fenstern flüchteten. »Erschreck sie doch nicht so! Das sind doch noch Junge«, höhnte Yi-shen. »Nächstes Mal bringe ich die größeren. Und weißt du, warum ich mir solche Mühe gebe, dich mit seltenen Geschöpfen aus dem 228
Gewölbe willkommen zu heißen? Damit du genau soviel Spaß an unserem Zusammensein hast wie ich.« Er lachte. »Bis später auf dem Übungsgelände! Ich freue mich schon darauf, dich in jeder Phase der Grundausbildung kräftig zu vermöbeln. Ich werde viel lernen bei dieser Wiederholung.« Damit marschierte er hinter seinen Brüdern hin aus, schleuderte zuvor aber noch einen weiteren Korb voller Jung-Klobster auf Huhus und Cocos Bett. Luka sprang hoch und fing den Korb in der Luft auf, bevor der Deckel sich löste. »Warum bist du schon so früh auf?« fragte Huhu und rieb sich die Augen. »Nichts weiter. Ich sammle nur ein paar entlaufene Schlangen ein.« »Iiiiii!« schrie Huhu und raffte die Bettdecke um sich zusammen. »Das sind keine Schlangen, das sind Klobster!« »Was sind Klobster?« fragte Luka, während er die kleinen Geschöpfe vorsichtig in den anderen Korb scheuchte. »Die Legende erzählt, daß ein böser Mann giftige Schlangen mit Hummern kreuzte. Aber was suchen die hier?« »Ihr Frühstück vermutlich«, gab Luka zurück. »Sag mir, wohin ich sie bringen soll.« »Die gehören ins Gewölbe. Es gibt nur einen Jungen, der sie von dort geholt haben kann«, sagte Huhu. 229
Luka setzte den letzten Klobster in den Korb und schloß den Deckel. »Der Name dieses Jungen bleibt unter uns. Denk an die Einigkeit.« »Du willst Meister Kun nichts davon erzählen?« Luka schüttelte den Kopf. »Das ist deine Sache, Jungmeister. Aber wenn du dich nicht irgendwann wehrst, lassen sie dich nie in Ruhe.« »Mach dir keine Sorgen, mein Freund. Wärst du so nett, sie zurückzubringen, nachdem du doch weißt, wohin sie gehören? Ich bin sicher, daß Scholar Ver wendung für sie hat.« »Ist das ein Befehl?« »Nein, die Bitte um einen Gefallen.« Huhu zog eine Grimasse und hob den Korb mit gestreckten Armen auf. Sobald er gegangen war, dehnte Luka sich erst einmal und holte tief Luft. Er hatte auf frische Seeund Gebirgsluft gehofft, doch nun roch er nichts als den Mist des Viehs, das in unmittelbarer Nachbar schaft der Scheune lebte. Luka winkte hinunter, doch keines der Tiere rührte sich auf seinen Gruß. Sie waren ganz und gar mit Rülpsen, Muhen, Blöken und dem Schreien nach Futter beschäftigt. Andere hoben die kräftigen Schwänze, um sich zu entleeren. Welch eine Viecherei! Als Luka sich eben vom Fenster abwenden woll te, drangen süße Flötentöne durch die Morgenluft an sein Ohr. Er streckte den Kopf noch einmal hin 230
aus und sah einen jungen Mönch in der Gabelung einer hohen Kiefer sitzen und mit den Beinen bau meln. »Zeit zum Aufstehen!« rief der Mönch. Alle Jun gen sprangen aus den Betten, packten die darüber aufgehängten Waffen und rannten hinaus. »Ich heiße Didi!« rief der Botenjunge Luka zu. Erst als der Junge mit seiner Flöte zu ihm herauf winkte, begriff Luka: di wie Flöte. »Guten Morgen!« rief er dem Jungen im Baum zu. Didi schwang sich wie ein Affe auf den nächsten Baum. »Guten Morgen, Luka«, sagte Meister Kun plötz lich hinter ihm. Luka drehte sich um und verneigte sich. »Guten Morgen, Meister.« »Du siehst ausgeschlafen aus. Hattest du eine an genehme Nacht?« »Danke, ja«, erwiderte Luka ein wenig zögernd. »Dann haben dir Yi-shen und seine Brüder keinen Ärger gemacht?« »Äh – eigentlich nicht. Wie geht es Gulan?« »Stündlich besser. Du brauchst dir keine Sorgen um ihn zu machen. Widme dich ganz deinen neuen Aufgaben.« »Ja, Meister Kun. Ich will es versuchen.« »Sei hart wie ein Krieger. Laß deine Sorgen hinter dir. Hier im Tempel beginnt jeder Tag mit einem Gebet«, erklärte Meister Run, während er Luka in die Halle der Verehrung führte. 231
Die Strahlen der Morgensonne brachen durch den bläulichen Qualm der Räucherstäbchen. Unter den Schwaden knieten, die Stirn am Boden, folgsam hundert kleine Mönche. Frömmigkeit lag in der Luft und erfüllte Luka mit sehnsüchtiger Erinnerung, denn das Wispern der Re zitationen war sein Schlaflied und das Glimmen der Räucherstäbchen sein Nachtlicht gewesen. Ihm war, als vernähme er Atamis Echo in diesem Heiligtum unter dem Kuppeldach. Wo war er jetzt? Würde er je in den Tempel zurückkehren, dem er angehörte? Als könne er Gedanken lesen, reichte Meister Kun ihm ein brennendes Räucherstäbchen und fragte: »Vermißt du Atami?« »Ja.« »Auf diesem Tempel liegt ein Gelübde. Aber es ist ein gutes Gelübde. Wer einmal seinen Fuß über die Schwelle gesetzt hat, wird wiederkommen, gleich gültig, wie weit er sich von hier entfernt.« »Glaubst du das wirklich?« »Ich weiß es«, erwiderte Meister Kun. »Und jetzt umkreise dein Gesicht mit dem Räucherstäbchen. Umgebe dich mit einem Ring aus Rauch, bis das Stäbchen heruntergebrannt ist und die Asche zu Bo den fällt.« »Was bedeutet diese Geste?« »Das Umkreisen bedeutet eine Reduzierung deines Selbst, und das Herabfallen der Asche symbolisiert unser Fallen in Buddhas Arme. Von nun an bist du im Einklang mit den Elementen der Erde.« 232
Als Luka versuchte, einen Blick auf die beiden Riesenschlangen an der Decke zu erhaschen, waren sie zu seiner Überraschung nicht mehr an ihrem Platz. Seine Blicke suchten die Decke ab. Die Lö wenstatuen standen noch da, aber die Schlangen wa ren verschwunden. Er zupfte Meister Kun am Ärmel. »Was ist mit den Schlangen geschehen?« »Sie können sich frei bewegen, wie die Geister der Berge. Nur zu besonderen Anlässen kommen sie hierher. Die meiste Zeit liegen sie am Fuß des Ber ges, wo sie über ihre Sünden nachdenken und auf ihre Erlösung warten.« »Und was ist, wenn sie ihre Sünden abgebüßt ha ben?« fragte Luka. »Dann werfen sie ihre Haut ab und verwandeln sich in himmlische Drachen.« »Stark!« »Xi-ling ist ein Festmahl des Wissens, durch das man sich langsam hindurchessen muß. Selbst ich ler ne jeden Tag etwas Neues«, erklärte Meister Kun. »Siehst du diese Glocke dort? Sie ist zweitausend Jahre alt, und je älter sie wird, desto weiter ist sie zu hören.« In der Ferne kroch ein kleiner Junge wie eine Ratte einen Baum hinauf und klammerte sich an das Seil der Bronzeglocke. Dong, dong, dong, schlug sie an, während er am Seil auf- und abschwang. Mit dem Glockenschlag verließen die Schüler die Halle der Verehrung. Einige verneigten sich vor Meister Kun 233
und Luka, doch die Jüngeren murmelten nur etwas in ihre Richtung und rannten hinaus. »Neuankömmlinge, die haben es immer besonders eilig«, kommentierte Meister Kun. »Wohin gehen sie?« erkundigte sich Luka. »Zu den Morgenübungen«, erklärte Meister Kun. Er führte Luka auf eine Terrasse, von der aus man den Kampfplatz überblickte. Dort schwangen sich die Schüler unter lautem Ge schrei von Baum zu Baum, doch nicht alle be herrschten die Flugkunst. Ein kleiner Junge prallte, von einem vorbeifliegenden Vogel abgelenkt, gegen einen Baumstamm und stürzte ab. Sogleich machte die ganze Klasse kehrt, um ihm zu helfen. Eine andere Gruppe war auf dem Weg zu den Wiesen und schleppte verschiedene Tiere auf dem Rücken oder den Schultern mit sich. Ein fetter Junge trug ein win ziges Ferkel, während ein schmächtiger kleiner Bur sche sich mit einem ungelenken Kalb abmühte, dem diese Beförderungsart zu den Weidegründen jenseits des Baches zu gefallen schien. Aus der Küche zog die Eimertruppe, angeführt von Huhu, zum Fluß hinunter, um das tägliche Was ser zu holen. Übermütig singend rannten die Jungen die tausend Stufen hinunter. Luka wünschte ihnen viel Glück, denn das Überwinden einer steilen Stein treppe entsprach nicht seiner Vorstellung von Spaß. Aufgereiht auf einem Mäuerchen, übten andere Jun gen shatou, den Sandkopf. Mit geschlossenen Augen balancierten sie im Kopfstand, tief in Meditation 234
versunken. Nichts auf dieser Welt schien sie zu stö ren, nicht einmal die synkopischen EisenfaustSchläge, die eine andere Klasse einer Ziegelmauer versetzte. Doch am meisten faszinierte Luka das Nahkampf training, das zwei Gruppen von Jungen durchführten. Ihre Waffen blitzten, und ihre Rufe schallten durch das einsame Tal. Sie kickten, stießen, schlugen und wirbelten so heftig, daß ihre Schatten im auffliegen den Staub einem Geisterballett glichen. »Ich kann es kaum erwarten, mitmachen zu dür fen«, wandte sich Luka an Meister Kun. »Da mußt du dich noch ein wenig gedulden. Gulan hat angeordnet, daß deine Ausbildung ganz von vorn beginnen soll. Der Weg zur Vollendung ist lang und dornenreich.« »Dann wirst du mir also den Umgang mit allen Xi ling-Waffen beibringen, bis Gulan wieder gesund ist?« »Nein, zumindest jetzt noch nicht. Du wirst so an fangen wie alle meine Zöglinge.« »Und womit?« »Ganz einfach: Wasser, Metall, Holz, Feuer und Erde.« »Die fünf Elemente«, stellte Luka fest. »Atami hat dich gut unterrichtet. Sie stehen gleichzeitig für die elementaren Praktiken des Xi ling.« »Aber ich muß so schnell wie möglich anfangen, damit ich losziehen und Atami retten kann. Außer 235
dem kann ich viel mehr bewältigen, da ich über die Macht des yin-gong verfüge.« »Großmeister Gulan hat dir sicher erzählt, daß yin gong nur eine Kraftquelle ist. Weitere Fertigkeiten müssen erlernt werden, um es zur Vollkommenheit zu bringen.« Meister Kun deutete auf eine alte Pago de, die am Rand des Tempelbezirks aufragte. »Man sieht nur die großartige Spitze dieser Pagode, nicht aber ihr solides Fundament. Dennoch ist es das Fun dament, das sie über Hunderte von Jahren aufrecht erhalten hat. Wir müssen deine Ausbildung auf ein gutes Fundament stellen, damit du dich darauf erhe ben kannst wie diese Pagode. Wir beginnen heute mit dem Element Erde. Da das Training sehr hart ist, zumal wenn man es allein bewältigen muß, habe ich Yi-shen gebeten, dein Begleiter zu sein. Während du lernst, kann er seine Grundlagen wiederholen, so daß ihr beide Vorteil daraus zieht. Ich möchte, daß ihr künftig meine rechte und linke Hand seid. In der Harmonie zwischen euch wird der Geist des Xi-ling neu erblühen. Und jetzt auf zum Übungsgelände!« Die Worte lernen und wiederholen, klangen Luka in den Ohren. Allmählich haßte er diese Ausdrücke. Doch neugierig folgte er Meister Kun und fragte sich, wie das Übungsgelände wohl aussehen mochte. Nicht lange, und er wußte es. »Dies ist euer Übungsgelände.« Lin Kun machte eine ausladende Handbewegung. »Das hier?« »Findest du es nicht angemessen?« 236
»O doch, bemerkenswert«, murmelte Luka und gab sich Mühe, Begeisterung in seine Stimme zu legen. Das Übungsgelände bestand aus den tausend Steinstufen, die sich vom Flußufer bis zum Gipfel des Berges zogen. Sein Alptraum bewahrheitete sich. Schlimmer noch: Yi-shen und seine Brüder warteten bereits, aufgereiht wie die Orgelpfeifen. Yi-shen hatte wie üblich ein scheinheiliges Lächeln aufgesetzt und kaute auf einem grünen Zweig. »Einerlei, was du tust, ich werde dir überlegen sein«, sagte Yi-shen. »Und einerlei, was du tust, ich werde dich …« Luka verstummte unter Meister Runs strengem Blick. »Wortgefechte sind müßig.« Meister Kun gab Yi shen eine Kopfnuß. »Was ich von euch erwarte, ist ein ehrliches Kräftemessen. Also hört mit dem Ge zänk auf und spart euren Atem für das Training. Wir beginnen mit der Erde.« »Los, Jungmeister, zwing deinen Stellvertreter in die Knie!« schrie Huhu, während er seine großen Wassereimer treppauf schleppte. Er-shen und die an deren Brüder wollten ihn packen, doch Huhu floh aus ihrer Reichweite und spritzte sie dabei von oben bis unten naß. »Schluß jetzt!« befahl Lin Kun »Seid ihr zwei be reit?« »Ja, Meister«, antworteten Luka und Yi-shen wie aus einem Mund – zum ersten Mal waren sie sich einig. 237
»›Die Erde nährt die Menschen. Die Menschen durchstreifen die Erde‹«, rezitierte Meister Kun. »Auf alle viere!« Luka stützte die Handflächen auf den Boden und nahm die Tigerhaltung ein. Yi-shen warf ihm einen giftigen Blick zu und folgte seinem Beispiel. »Rennt hundertmal die Stufen hinunter und wieder herauf«, befahl Meister Kun. »Die Heilkraft der Erde wird euch stark machen wie Tiger und geschmeidig wie Katzen. Sie wird eure Arme und Schenkel kräf tigen und diese Kraft so gleichmäßig in euren Kör pern verteilen wie bei einem Vierbeiner. Wollt ihr stark werden wie Tiere?« »Ja!« brüllten beide. »Wer als erster fertig ist, bekommt unseren köstli chen stinkenden Tofu zum Frühstück. Der zweite muß sich mit eingelegter Paprika begnügen.« Sowohl Luka als auch Yi-shen mußten bei dieser Ankündigung kräftig schlucken. Ein Mann konnte durchaus ohne Fleisch auskommen, nicht aber ohne stinkenden Tofu – eine fermentierte, halb vergorene Köstlichkeit, die von Maden wimmelte. Obwohl das ziemlich eklig wirkte, brachte der stechende Ge schmack doch jedes Herz zum Schmelzen und jede Zunge zum Singen. »Und jetzt los!« kommandierte Meister Kun. Und Luka sauste los, ja, er stürzte beinahe die Stu fen hinunter. Auf Katzenart zu laufen, war schwieriger, als er gedacht hatte, noch dazu bei einem Gefälle von fünfundvierzig Grad. Yi-shen zog an ihm vorbei und 238
nahm gleich drei Stufen auf einmal. Bevor er sich’s versah, war Luka zwanzig Stufen zurückgefallen. Yi shen hielt inne und bellte ihm spöttisch zu wie ein kleiner Hund, doch Luka gab noch längst nicht auf. Aus zusammengekniffenen Augen studierte er Yi shens geschmeidige Bewegungen und hatte den Trick bald heraus. Es kam auf die Koordination von Armen und Beinen an. Ta, ta-ta, ta. Ta, ta-ta, ta. Er machte den Fehler, daß er mit allen Extremitäten gleichzeitig sprang wie ein Frosch. Statt dessen mußte er trotten wie ein Pferd. Mit der ersten Methode stol perte er kopfüber zu Tal, mit der zweiten glitt er ele gant bergab. Als Luka aufgeholt hatte, eilte Yi-shen, vier Stu fen auf einmal nehmend, bergab und hockte bald darauf wartend am Fuß der Treppe. Schließlich kam auch Luka angehinkt, und Yi-shen begrüßte ihn mit den Worten: »Ich bin König in allen Disziplinen.« »Jetzt haben wir nur noch neunundneunzig Runden vor uns«, erwiderte Luka mit einem Seitenblick auf seinen Rivalen. »Sieh zu, daß du nicht plötzlich zur Prinzessin wirst.« Bei der neunundneunzigsten und letzten Runde kroch selbst Yi-shen nur noch wie ein Regenwurm dahin. Aus dem Springen und Hüpfen war ein müh sames Voreinandersetzen der Pfoten geworden. Auch Luka mit seiner ganzen Entschlossenheit erging es nicht besser. Die Hände bluteten, die Gelenke knack ten, und in seinem Kopf schienen sich unaufhörlich Windmühlenflügel zu drehen. Als er schließlich, 239
zwei Stufen hinter Yi-shen, die letzte Stufe der letzten Runde erklommen hatte, lag er erst einmal zwanzig Minuten lang wie tot am Boden. Yi-shen seinerseits war so schwach und erledigt, daß ihm keine Kraft zu größerer Beleidigung blieb, bloß zu matter Spucke, und die blies ihm der Seewind ins eigene Gesicht zurück. »Auf die Beine!« kommandierte Meister Kun lä chelnd. »Macht euch sauber und geht zum Unter richt. Heute nachmittag werden wir den stufenfreien Gipfel des namenlosen Berges im Westen erklim men. Und vergeßt nicht, die Gewichte für die Füße mitzubringen.« »Ja, Meister Kun.« Luka gelang lediglich ein ver schwitztes kleines Lächeln, bevor er in die Scheune zurücktaumelte, um sich für den morgendlichen Un terricht in Kriegskunst vorzubereiten. Diese Stunde hielt kein anderer als Scholar, der an diesem Morgen nicht gerade glücklich aussah. Er sog beständig an einer blubbernden Wasserpfeife und hielt den Blick gesenkt. Dennoch zitterten seine Hände vor Ehrerbie tung, als er aus Sunzis Klassiker der Kriegskunst vorlas. Dieser Text war Pflichtlektüre für alle Xi ling-Adepten. Dem Unterricht wohnten daher nicht weniger als fünfzig Schüler bei. Viele hatten sich an eine Mauer oder in die Nähe eines Fensters zurückgezogen, um ungestört schnarchen zu können, während sich die langweilige Stunde dahinschleppte. Huhu, Didi und Coco schwangen sich aus einem nahen Baum ins Klas 240
senzimmer und quetschten sich in Lukas Bank, die ei gentlich nur für zwei vorgesehen war; Didi und Coco kauerten auf je einer Hinterbacke an den Rändern. »Stimmt es, daß er dich besiegt hat?« flüsterte Huhu. »Aber nur um zwei Stufen«, mischte sich Coco ein. »Du bist und bleibst mein Held«, murmelte Didi. »Woher wißt ihr das alles?« flüsterte Luka zurück. »Neuigkeiten verbreiten sich hier rasend schnell. Außerdem lauern verborgene Augen und Ohren in allen Ecken des Tempels«, informierte ihn Didi un gerührt. »Früher galt eine neue Eidechse auf Scholars Kopf als brandheiße Neuigkeit, aber die Zeiten sind vorbei. Du und Yi-shen, ihr seid jetzt Thema Num mer eins, und eure Rivalität macht die Sache noch viel spannender.« »Aber warum nehmt ihr alle soviel Anteil an uns? Habt ihr nichts anderes zu tun?« »Willst du mich verarschen? Man brummt uns hier unzählige Pflichten auf, und mit ein bißchen Klatsch gehen sie einem leichter von der Hand. Außerdem harren wir des Tages, an dem du ihn vermöbelst, bis dieser vorlaute Gockel kein Federchen Anmaßung mehr am Leib hat«, sagte Huhu. »Ich bin hier, um zu lernen, nicht um zu konkur rieren oder andere zu schlagen«, entgegnete Luka. »Wir auch«, bestätigten die drei einträchtig. Plopp, plopp, plopp. Drei Riesenmurmeln wurden in ihre drei Münder geschossen und brachten Huhu, Didi und Coco augenblicklich zum Schweigen. 241
Scholar hielt für Störenfriede immer eine Schale mit Murmeln auf seinem Pult bereit. »Benehmt euch, meine Schüler«, mahnte er. »Andernfalls bleiben sie bis morgen in euren Mündern.« Die drei nickten stumm. »Wie ihr sicher bemerkt habt, bin ich heute ein wenig betrübt«, erklärte Scholar. »Und wißt ihr wa rum? Zwei meiner Jung-Klobster sind mir abhanden gekommen. Sie sind schon seit der letzten Nacht weg, und ich frage mich, was den beiden Kleinen widerfahren sein mag. Sie werden sterben, wenn ich sie nicht bald finde.« In der Klasse erhob sich ein aufgeregtes Geflüster. Luka war versucht, Scholar über seine morgendliche Begegnung mit den Klobstern zu berichten, doch dann hätte er Yi-shen verraten, und das konnte er sich nicht leisten. Damit hätte er nicht nur Rache he raufbeschworen, sondern auch den Frieden gebro chen, dessen Erhalt ihm Gulan so sehr ans Herz ge legt hatte. Also verhielt Luka sich still. »Jeder, der etwas weiß, möge mich bitte verstän digen. Es hat mich Jahre gekostet, sie aufzuziehen, und ich möchte sie unbedingt lebend zurück. Von Strafen werde ich absehen.« Scholar blickte so streng in Lukas Richtung, daß dieser unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte. In diesem Moment bekam die Tür von außen einen Tritt, und Yi-shen und seine Brüder marschierten herein. »Ich weiß, wer die beiden fehlenden Klobster hat«, verkündete er. 242
Doch Scholar hatte genug. »Hinaus mit euch! Ihr habt diesen Kurs schon zehnmal belegt und seid jedesmal durchgefallen.« »Willst du denn nicht wissen, wo deine geliebten Klobster sind?« Yi-shen schob sein freches Gesicht so dicht an das von Scholar heran, daß diesem kaum Raum zum Atmen blieb. »Wo sind sie?« »In seinen Taschen.« Yi-shen deutete auf Luka. Die Augen aller richteten sich auf Luka, und Coco fiel vor Schreck die Murmel aus dem Mund. Er hob sie auf und schob sie zurück an ihren Platz. Luka stand auf, klopfte sich auf die Taschen und beteuerte: »Ich habe sie nicht.« »Du lügst, Heiliger Knabe!« höhnte Yi-shen. »Warum schaust du nicht in deiner Brusttasche nach?« Luka fuhr mit zwei Fingern in seine Brustasche und kreischte auf, als ihn etwas zwickte. Als er die Finger wieder herauszog, baumelten zwei kleine Klobster an seinen Fingerspitzen. Luka hüpfte umher und schüttelte die Hand, doch die Biester wollten nicht loslassen. Die Klasse wieherte vor Vergnügen, besonders natürlich Yi-shen. Mit zwei Schritten war Scholar neben Luka und flüsterte den kleinen Geschöpfen etwas zu. Daraufhin ließen sie sich in Scholars wartende Hand fallen. Wieder wisperte er beruhigend auf sie ein, bis die beiden Klobster sich schniefend in seiner Handfläche zusammenrollten. 243
»Ich habe sie nicht genommen, Scholar!« rief Luka. »Ich weiß nicht, wie sie in meine Brusttasche geraten sind.« Scholar starrte Yi-shen an und sagte: »Du weißt es nicht, aber ich weiß es.« »Was schaust du mich so an?« schrie Yi-shen ihm ins Gesicht. »Er war es, und dafür muß er bestraft werden.« »Ich sagte, es gibt keine Strafen. Für mich zählt al lein ihre unversehrte Rückkehr. Und ihr verschwin det jetzt, damit wir mit dem Unterricht fortfahren können.« Scholar schob die Klobster in seine Brust tasche und bedachte Luka mit einem kleinen Lä cheln. Yi-shen und seine Begleiter rannten hinaus und schlugen die Tür hinter sich zu. In Scholars Miene war die Heiterkeit zurückgekehrt; jetzt war er bereit zum Unterricht und bereit für seine Schüler. Die erste Lektion behandelte das Strategem der Leeren Festung, so benannt nach Zhuge Liang, einem berühmten Strategen aus der Zeit der Drei Reiche. Zhuge Liangs Feinde hatten damals mit achttausend Soldaten seine Stadt eingeschlossen und drohten, die Stadtmauer zu erstürmen, während Zhuge Liangs eigenes Heer an einem weit entfernten anderen Kriegsschauplatz im Einsatz war. Die Lage schien hoffnungslos, denn es gab nur zwanzig Wächter, um zehntausend schwache Frauen und Kinder zu be schützen. Doch anstatt Widerstand zu leisten und durch ein Rauchsignal Verstärkung anzufordern, ließ 244
Zhuge Liang das Stadttor weit öffnen. Er machte es sich allein in einem Lehnstuhl neben dem Stadttor bequem und zupfte auf seiner geliebten pipa, so als drücke ihn nicht die geringste Sorge. Der Feind war höchst verwundert und mißtrauisch gegenüber diesem als listenreich bekannten Mann. Seine gelassene Heiterkeit war im höchsten Maße beunruhigend. Sie lugten durch das Tor in die men schenleere Stadt, wagten sich aber aus Furcht vor einem Hinterhalt nicht hinein. Warum sonst riskierte der weise Mann seinen Kopf und sang bei einladend offenem Tor harmlose Lieder? Während das Singen immer lauter wurde, wuchs auch die Furcht der Feinde, bis sie sich schließlich eilends davonmach ten. Ohne einen einzigen Pfeil abgeschossen zu haben, hatte der weise Mann wieder einmal den Sieg davon getragen. Luka fand diese alte Legende höchst anregend. Am Ende des Unterrichts erklärte er Scholar, daß dies sein Lieblingsfach sei, und Scholar versicherte ihm, daß er sein Lieblingsschüler sei. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Luka war der einzige, der während der Stunde die Augen offengehalten hatte. In seiner Begeisterung schenkte er Luka eine kleinere Ausgabe von Sunzis Kriegskunst. »Das Buch wird mir wert und teuer sein«, sagte Luka. »Aber warum hast du die anderen Schüler nicht aufgeweckt, damit sie dem Unterricht folgen?« »Manchmal findet der Mensch das Wissen, und manchmal findet das Wissen den Menschen. Ich frage 245
mich oft, ob ich die falschen Schüler unterrichte oder ob sie die falsche Unterrichtsstunde besuchen.« Scholar hielt mit gerunzelter Stirn inne. »Beides könnte richtig sein, aber könnte beides nicht auch falsch sein?« Er verlor sich für einige Augenblicke in dem Versuch, eine Antwort auf die eigene Frage zu finden. Luka sah nun, welche Gefahren es barg, wenn man zuviel Zeit allein unten im Gewölbe ver brachte. Scholar riß sich aus seiner Träumerei. »Auch wenn die Klasse wie eine leere Festung wirkt, so trö stet mich die Gewißheit, daß ein kleiner Zhuge Liang unter ihnen ist, der eifrig zuhört und lernt.« Luka wurde ganz warm vor soviel Lob. »Der Unterricht ist beendet«, verkündete Scholar. Genausogut hätte er sagen können: ›Alle Mann auf gewacht!‹ Die Jungen erwachten zum Leben und drängelten sich aus Fenstern und Türen. Zwei der Jungen, offen bar Fluganfänger, blieben in der Dachluke stecken. Lukas drei Begleiter baten Scholar mit Grunzen und Gestikulieren, die Murmeln aus ihren Mündern zu entfernen. Erst nachdem Scholar sein Buch weg gepackt und die zufriedenen kleinen Klobster getät schelt hatte, krümmte er drei Finger. Daraufhin flo gen die Murmeln in ihre Schale zurück. »Da… wa… ei… gu… Nick…«, stammelte Huhu, dessen Mund noch ganz wund war. Didi zupfte an seiner Unterlippe, um ihre Spannkraft zu prüfen. Coco bewegte grimassierend den Mund und murmelte: 246
»Kann mir nicht leisten, meinen feinen Geschmacks sinn zu verlieren, sonst ist meine Kochkunst im Ei mer.« »Damit ist es ohnehin nicht weit her«, bemerkte Didi. »Ein Grund mehr, daß ich nicht noch schlechter werde, wie, Bohnenstange?« gab Coco zurück. Und da mußte man ihm recht geben. Die vier flitzten gerade aus dem Klassenzimmer, als Didis Ruf erscholl: »Die Sonne steht im Zenit. Zeit zum Mittagessen. Beinahe hätte ich das Signal vergessen.« Der Botenjunge kletterte auf Huhus Schultern, schwang sich von dort in die Astgabel ei ner Kiefer und blies durchdringend auf seiner Flöte. »Zum Essen muß keiner gerufen werden«, grinste Huhu, und tatsächlich rannten alle in dieselbe Rich tung. Der Speisesaal war ein einziges Durcheinander. Die Schüler standen nicht in Schlangen für ihr Essen an, sondern drängelten sich dicht an dicht, und die Gerichte wurden nicht auf Tischen aufgetragen, son dern hingen in riesigen Körben und Holzbottichen außer Reichweite hoch über den Köpfen der Schüler. »Sonderbare Einrichtung«, fand Luka, der beinahe über die Fersen eines größeren Jungen gestolpert wäre. »Das ist auch einer von Yi-shens bösartigen Ein fällen. Die Größe deiner Ration hängt nämlich von deinen Fähigkeiten ab«, erklärte Huhu. »Wieso hat er darüber zu entscheiden?« erkundig te sich Luka. 247
»Der Jungmeister hat den Speisesaal unter sich«, sagte Coco. »Zum Glück haben wir ja schon fliegen gelernt. Aber die armen Neulinge, die es noch nicht können, kriegen nur wäßrigen Reisbrei. Deshalb nennt man sie auch Frühstücker. Wir dagegen sind die Mittagler.« »Es ist aber ungerecht, daß die Kleinen weniger bekommen«, wandte Luka ein und betrachtete einen erbärmlichen Haufen kleiner Jungen, die über einen Bottich heißen Reisbrei herfielen. »Da muß etwas geschehen.« »Ungerecht? Dann schau dir einmal an, was da drüben los ist«, sagte Huhu und deutete in die West ecke des Saals. Die drei Brüder taten wieder einmal, was sie am besten konnten: andere quälen und bedrängen. Dies mal schnappten sie sich goldgelbe Äpfel aus den Händen eines jungen Mittaglers. Und der arme Kerl protestierte noch nicht einmal. »Was tun die da?« wollte Luka wissen. »Na, was glaubst du?« fragte Huhu. »Sie besorgen sich Leckerbissen und tauschen sie dann gegen … ähem.« Huhu schlug sich die Hand vor den Mund. »Das sollte ich wohl besser nicht verraten.« »Ich bin jetzt Jungmeister, und das hier ist mein Bereich. Sag es mir!« verlangte Luka energisch. »Also gut. Sie benutzen die Leckereien, um sich Zutritt zum Gewölbe zu verschaffen. Dort sind viele geheime und magische Waffen verborgen.« »Äpfel als Passierscheine?« 248
»Es klappt mit jeder Art von Nahrung. Scholar braucht sie, um die seltenen Tiere und sonderbaren Kreaturen zu füttern, von denen Lin Kun nichts weiß. Das Essen ist schon jetzt viel zu knapp wegen der vielen Neuzugänge, die wir ständig bekommen.« »Diese armen Kinder hier müssen hungern, bloß weil sich die Shen-Brüder Zugang zum Gewölbe verschaffen wollen?« Luka war empört. Er erinnerte sich noch gut an seine eigene hungrige Kinderzeit, als Atami und er betteln mußten und nie genug be kamen. Das war schlimm gewesen, aber schlimmer war es, mit ansehen zu müssen, wie diese Kinder von jenen bestohlen wurden, die eigentlich zu ihrem Schutz und ihrer Betreuung abgestellt waren. Sein Blut kochte. »Was hast du vor?« fragte Coco. »Ich bin hier der neuen Jungmeister, stimmt’s?« »Stimmt«, bestätigte Huhu. »Es ist meine Pflicht, die Dinge hier in Ordnung zu bringen, nicht wahr?« »Genau. Und hier ist vieles nicht in Ordnung«, sagte Huhu. »Gut.« Luka griff sich Huhus Eßstäbchen und schoß sie, zusammen mit seinen eigenen, wie Pfeile durch die Luft: Psss, psss, psss, psss! Jeder im Saal hörte die Stäbchen vorbeizischen, doch alle sahen nur vorbeihuschende Schatten. Die vier Stäbchen trafen ihr Ziel und bohrten sich ins Herz der Äpfel, die die Brüder in ihren gierigen Händen hielten. 249
»Grrrr!« knurrte Er-shen und ließ prompt den Apfel fallen. San-shen hielt den seinen noch fest, doch seine Hand bebte im Rhythmus des eingedrungenen Stäb chens. Keiner begriff, warum die Eßstäbchen die Äpfel durchbohrt hatten, außer Yi-shen, der auch sofort zum Gegenangriff überging. Er schleuderte die Früchte mit der gleichen Wucht gegen Luka, mit der dieser die Stäbchen geschleudert hatte, nur flogen sie viel langsamer. Jeder konnte sie nicht nur hören, sondern auch sehen. Das war ein echter Ausrutscher in der Welt der Kampfkünste, von denen die besten unsichtbar und vorzugsweise auch noch unhörbar waren. Doch keiner der beiden hatte solche Meisterschaft bislang erreicht, auch Luka mit seinem yin-gong nicht. Luka hob die Hand und sandte von seiner rechten Handfläche vier kleine qi-Strahlen aus. Die Äpfel verharrten im Flug. »Fang sie auf!« rief Luka Coco zu, und der spannte die Schürze rasch vor seinem üppigen Bauch aus. Die Äpfel fielen rund und unversehrt in das behelfs mäßige Fangnetz des Kochs. Coco rieb einen Apfel mit seiner Schürze ab und wollte gerade die Zähne hineinschlagen, als Luka ihn unterbrach. »Nicht du, Dickwanst! Gib sie den kleinen Jungen zurück.« Mit einem Schulterzucken gab Coco die Äpfel an die Kleinen weiter, aber keiner wagte es, sie anzunehmen. Yi-shen schäumte vor Wut. »Dafür wirst du mir bezahlen, Heiliger Knabe. Der gesamte Tempel wird dich hassen und dich wieder loshaben wollen.« 250
»Und wie willst du das anstellen?« »Das wirst du gleich sehen.« Yi-shen sprang auf einen Tisch. »Alle herhören! Nachdem ihr einen her gelaufenen Fremdling, diesen sogenannten Heiligen Knaben, offenbar so toll findet, sollt ihr von nun an den Preis für eure Zuneigung zahlen – jeden Tag ein bißchen. Ratet mal, was sie euch heute kostet!« »Was denn? Sag’s uns, großer Bruder!« assistierte ihm Er-shen. »Ihr alle wißt es.« Yi-shen lachte wie ein Tier. Diesmal war San-shen an der Reihe. »Nein, wir wissen es nicht. Sag es uns!« Sie schienen sich bei diesem Jojo-Spiel aus Fragen und Antworten ganz köstlich zu amüsieren. »Bitte nicht!« schrie ein Mittagler. »Bitte nimm uns nicht unser ganzes Essen weg!« »Du hast es erraten. Ich werde euch euer Mittag essen wegnehmen«, höhnte Yi-shen mit hämischem Grinsen. »Der Hunger wird euch allen eine Lehre sein.« »Nein, bitte nicht!« bettelten die Jungen. Einige knieten sogar vor Yi-shen nieder, andere falteten die Hände, als beteten sie. »Nein? Ich dachte, ihr wolltet es so«, sagte Yi shen. »Lassen wir die Körbe herunter, dann werden wir ja sehen, wie es um eure Nächstenliebe bestellt ist.« Yi-shen schwang sich hinauf und zückte sein Mes ser. »Was wird er jetzt tun?« fragte Luka. 251
»Er wird die Seile durchschneiden, an denen die Körbe hängen, und das ganze Essen auf den Boden klatschen lassen«, erklärte Coco, der das oft genug miterlebt hatte. Luka sprang in die Luft und landete mit beiden Füßen auf Yi-shens Schultern. Er hob den Jungen hoch und schleuderte ihn mit dem Rücken voran ge gen die Ostmauer, wo Yi-shen mit dem Hintern in einem Fensterrahmen hängenblieb. »Du Dreckskerl!« schrie Yi-shen. »Los, Brüder, holt mich hier heraus.« Kaum hatte Luka den Boden berührt, da sprang er schon wieder hoch. »Klasse, Luka! Du bist jede Menge heilig. Kann ich helfen?« fragte Huhu. »Wenn du möchtest.« Luka löste das Seil von den Griffen eines Korbs und stellte den dampfenden Reis vorsichtig am Boden ab. Dann trug er ihn zu den verblüfften Frühstückern, die sich sofort ihre Schalen füllten. Das Kreischen des noch immer ärschlings in den Sprossen des Fensterrahmens festsitzenden Yi shen beachteten sie überhaupt nicht. »Bist du verrückt?« fragte einer der älteren Jungen. »Wenn Meister Kun das erfährt, bestraft er uns alle.« »Als neuer Jungmeister nehme ich das auf meine Kappe«, entgegnete Luka, während er den zweiten Korb losband. Kaum hatte er das dampfende Gemüse am Boden abgestellt, als die armen Schüler ihn um ringten und sich mit bloßen Händen darüber her machten. Drohende Strafen waren vergessen; Nah 252
rung war ihnen zu allen Zeiten und in jeder Lebens lage willkommen. Innerhalb kürzester Zeit war alles vertilgt, doch es weckte nur das Verlangen nach mehr und Besserem. Aller Augen waren nun auf einen Bottich gerich tet, der vom höchsten Deckenbalken herabhing. Er enthielt angebratene, glasierte Yamswurzeln, die mit aromatischem Erdnußöl zu Brei zerstampft worden waren. Diese Spezialität war bislang den besten Flugkünstlern vorbehalten gewesen, ein Gericht, von dem die Anfänger bestenfalls den Duft kosteten, wenn der Wind in ihre Richtung blies. Nun trommel ten alle mit den Stäbchen auf die Ränder ihrer leeren Schüsseln, und sangen: »Yams, Yams, Yams, ich mag auch von dem Pams!« Luka warf ihnen einen wissenden Blick zu. »Ihr wollt Yams?« »Ja, wir wollen Yams!« brüllen sie zurück. »Dann werdet ihr Yams bekommen!« Luka rannte die Wand bis unter die Decke hinauf und balancierte auf dem schmalen Dachbalken. Mit zwei Sätzen war er bei dem Seil, an dem der Bottich mit dem verlo ckenden Yamsbrei baumelte. Er roch daran. Wirklich lecker. »Paß auf!« schrie Didi. Gut, daß der Botenjunge ihn warnte, doch Luka hatte es selbst längst gespürt. Einer der hartschaligen Kürbisse, die überall im Tal angebaut wurden, kam von hinten auf seinen Kopf zugeflogen. Luka neigte sich zur Seite, und der Kür bis klatschte gegen das Dach. Aus der aufgeplatzten 253
Schale troff matschiges Fruchtfleisch, aber er konnte diese Frucht doch nicht verkommen lassen, zumin dest nicht völlig. Also fing er die herabfallenden har ten Schalenstücke mit der Linken auf und schleuderte sie dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Lei der verfehlten sie Yi-shen um wenige Handbreit. Sein Bruder Er-shen hatte weniger Glück. Sein Ge sicht sah nach dem Aufprall ziemlich verunstaltet aus. »Zeit für die Flippige Fruchtschlacht!« rief der mittlerweile befreite Yi-shen seinen Brüdern zu. Gemeinsam zerrten sie drei Fruchtkörbe zu sich her und bombardierten, Luka mit vereinten Kräften. In den Händen eines Kung-Fu-Kämpfers sind Früchte nicht einfach Obst. Sie können zu tödlichen Waffen werden, nicht weniger hart als Stahl und nicht stumpfer als die scharfe Klinge eines Dolchs. Das wußte Luka, aber er blieb gelassen. »Fangt sie, wenn ihr könnt«, wies er die anderen an, »und gebt sie unseren hungrigen Freunden.« Was dann folgte, bot einen erstaunlichen Anblick. Drei Paar Hände hatten sich gegen einen schmächti gen Knaben verschworen. Äpfel, Birnen, Lychees, Mangos und Papayas flogen wild durch den Speise saal. Bei dem Versuch, die Früchte mit Kopf, Hän den, Schultern, Ellbogen, Fersen und Zehen abzu fangen, wirbelte, hüpfte, sprang und jagte Luka in alle Richtungen gleichzeitig. Er wich mit der Flink heit eines Affen und der Geschmeidigkeit eines Ti gers aus. Trotz seiner Geschicklichkeit wurde er von 254
zwei Äpfeln hart am Hintern getroffen. Doch bald durchschaute er das System des Angriffs. Die Brüder feuerten ihre Geschosse aus der Position der Fünf Meere. Das Muster orientierte sich offenkundig am Lauf der fünf Strömungen. Ein Xi-ling-Bruder na mens Haihi hatte dieses Strategem entwickelt, nach dem er für mehrere Jahre lang den Ozean studiert hatte. Bei erfolgreicher Anwendung, so hatte Luka irgendwo gelesen, führte diese Taktik dazu, daß die Wurfobjekte eine Art Netz um den Verfolgten bilde ten und ihn aus allen Richtungen gleichzeitig trafen. Er erinnerte sich auch daran, daß eine solche Attacke nur mit dem Siebenstern-Kreisel abzuwehren war, den Atami ihm einst beigebracht hatte. Der Siebenstern-Kreisel erforderte ständiges Springen nach dem Muster der Tierkreis-Positionen – Ost, Nord, Süd und dann noch einmal Ost, bevor man nach Westen sprang, und das immer in die un sichtbaren Lücken und winzigen Intervalle, die die Fünf-Meere-Attacke einem ließ. Luka glitt auf Ze henspitzen dahin, hüpfte wie ein Frosch, torkelte wie ein Affe und sauste den unsichtbaren Linien entlang, die nur vom Sternenschein seines Geistes ausge leuchtet wurden. Ein ungeübtes Auge hätte ihn für einen verrückt spielenden Jungen inmitten eines Feu erballs gehalten. Yi-shen erkannte das selten angewandte TierkreisStrategem und rief: »Die Fünf Meere überfluten dei ne Seele. Niemand kann sich vor unseren tödlichen Schlägen retten!« 255
»Sieben Sterne erhellen die Erde«, gab Luka zu rück. »Tausend Helden jagen die teuflische Geißel!« Das gegenseitige Zurufen von Versen war Teil der wu-xia-Kampftechnik. Wer seine Zunge als Waffe einzusetzen wußte, konnte den Gegner ablenken und verwirren. Jedes wohlgesetzte Wort unterstrich die eigene Gefährlichkeit und steigerte die Wirksamkeit der Taktik. »Flüsse ersterben im Meer allemal.« Yi-shen lie ferte ihm ein Schnellfeuer mit fünf Riesenpapayas. »Sterne leuchten über dem Tal«, entgegnete Luka. »Dein Schicksal war düster wie die Nacht«, kam es von Yi-shen. »Dein Schicksal floh vor heller Pracht.« »Wie kannst du es wagen, mich einen Floh zu nennen?« kreischte Yi-shen. Da er keine Früchte mehr zur Hand hatte, griff er nach einem leeren Bot tich und schleuderte ihn Luka entgegen. »Was solltest du sonst sein?« Luka kickte, mit ei nem Bein auf dem schmalen Dachbalken balancie rend, den Bottich mit dem anderen Bein zurück und stülpte ihn Yi-shen über den Kopf. Während alle seinem Sieg zujubelten, näherten sich eilige Schritte auf dem gepflasterten Weg. »Macht den Boden sauber und versteckt euch!« rief Luka vom Dachbalken hinunter. Als Lin Kun die Tür erreichte, waren alle Jungen bereits durch die Fenster entfleucht. Mißtrauisch be äugte er erst Luka auf dem Dachbalken, dann Yi shen unter dem Bottich. 256
»Warum ist der Speisesaal so leer« – Lin Kun ließ den Blick umherschweifen – »und so sauber? Was tust du da oben an der Decke, Luka? Und was hast du unter diesem Bottich zu suchen, Yi-shen?« Yi-shen kämpfte sich unter dem Bottich hervor und schleuderte ihn in eine Ecke des Saals. »Er hat alle Behälter heruntergeholt und das Essen an die Erstkläßler verteilt.« »Stimmt das, Luka?« fragte Lin Kun streng. »Wa rum hast du das getan?« Luka sprang herunter und kniete vor Meister Kun nieder. »Die Xi-ling-Bruderschaft ist geprägt von Gleichheit, Respekt und Loyalität. Dieses System der Essensverteilung ist ungerecht.« »Ungerecht wem gegenüber?« fragte Meister Kun. »Gegenüber den Kleinen, Schwachen und Hungri gen.« »Wir müssen die Nahrungsmittel streng rationie ren, damit im Winter kein Versorgungsengpaß ent steht«, erwiderte Lin Kun. »Könntest du begreifen, wie schwierig es ist, immer mehr Münder zu füt tern …« Lin Kuns Stimme klang beinahe entschul digend. »Außerdem hat Yi-shen mir erklärt, daß seine Methode die Schüler zu schnellerem Lernen anhält.« »Da muß es eine bessere geben«, sagte Luka. »Ich dachte, diese Methode habe sich bewährt«, meinte Meister Kun. »Hat sie ja, und sie bewährt sich auch jetzt!« rief Yi-shen wütend. 257
Der Meister wandte sich seufzend an Luka. »Nachdem du der neue Jungmeister bist, kannst du die Regelung verändern, wie du es für richtig hältst.« »Du bist ein herzloser Onkel!« rief Yi-shen. »Ich habe soviel Essen für dich eingespart, und niemand hat sich je beschwert.« »Weil keiner es gewagt hat«, warf Luka ein. »Da siehst du’s. Jetzt wird er auch noch unver schämt. Onkel, ich bin doch dein Lieblingsneffe, schließlich ist mein Vater für dich gestorben. Du gibst ihm meinen Titel, und die anderen decken ihn.« »Was meinst du damit?« »Er hat Scholar die jungen Klobster aus dem Ge wölbe gestohlen.« »Hab ich nicht!« wehrte sich Luka. »Wer hat das getan?« fragte Meister Kun. Luka und Yi-shen zeigten mit dem Finger auf den jeweils anderen. »Er war es!« kam es wie aus einem Mund. »Jetzt reicht’s!« brüllte Meister Kun. »Ich be strafe euch beide, indem ich euer Übungssoll ver dopple. Dann habt ihr garantiert keine Energie mehr übrig, um Ärger zu machen. Und jetzt ver neigt euch voreinander und schließt Frieden«, be fahl Meister Kun. Die beiden Jungen verbeugten sich, wobei sie ein ander böse anfunkelten.
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Ruhm ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite brachte Luka der Vorfall im Speisesaal allseits noch größere Bewunderung ein, andererseits schürte er Yi-shens Rachgelüste. Untertags, wenn Meister Kun in der Nähe war, beschränkte sich Yi-shen dar auf, Luka giftige Blicke zuzuwerfen; das eigentliche Kräftemessen fand in der Nacht statt. Verläßlich wie der Mond, hielt einer der Brüder allnächtlich eine neue Überraschung für Luka bereit, nichts wirklich Schlimmes, aber gemein genug. Ein mal war es ein Regenwurm, der Luka ins Ohr kroch, ein andermal hüpfte eine Gottesanbeterin in sein Na senloch. Dann banden sie ihm eine Ratte an den Fin ger, und als er sich an der Nase kratzen wollte, die sie mit einer Kornähre kitzelten, schleuderte er sich die Ratte geradewegs in den Mund. Luka hätte sich zur Wehr gesetzt, aber nach den täglichen Übungen war so erschöpft, daß er nur noch ins Bett kriechen und eine paar Stunden süßen Schlaf ergattern wollte, bevor die Sonne ihn für einen neuen Tag weckte. Außerdem waren ihm durch Gulans Er mahnung, die dieser täglich vom Krankenbett aus erneuerte, die Hände gebunden: Übe Toleranz, wenn du unter dem Dach eines anderen lebst, und wenn du sie nicht aufbringst, dann verlaß das Boot. Dies hier war nun einmal Yi-shens Dach, und so blieb ihm nur Toleranz. Luka betrachtete die Notwendigkeit, die Quälereien der Brüder zu erdulden, als Prüfung sei ner Willenskraft. Einen guten Kämpfer würde sie stärken, einen schwachen zum Scheitern verurteilen. 259
Aber gute Vorsätze waren das eine, die alltägliche Wirklichkeit das andere. Immer wieder fragte ihn Huhu: »Wann schlägst du endlich zurück?« »Warum sollte ich? Ich bin im Einklang mit mir selbst.« Das zu behaupten war schön und gut, aber jeden Abend vor dem Einschlafen nagte es an Luka. Ein leiser Strom schwelender Wut hatte sich gebildet und nährte in ihm das Verlangen, sich diese Halun ken am anderen Ende des Schlafsaals vorzuknöpfen und sie anzubrüllen, bis sie taub waren. Doch er beherrschte sich, indem er sich sagte, der Tempel sei ein wesentlich besserer Aufenthaltsort als das Gefängnis. Er vertraute dem Schicksal, und das hatte ihn hierhergeführt, ob nun zum Guten oder Schlechten. Dann seufzte er jedesmal tief auf und ließ seine Gedanken zu dem geliebten Atami schweifen. Wo befand er sich? War er noch am Le ben? In der Dunkelheit der Nacht fühlte er sich va terlos, und die Fröhlichkeit des Tempels verstärkte nur seinen Wunsch, eines Tages diesen Berg zu überwinden und sich in die Arme dessen zu werfen, der ihm seine Liebe, ja sein ganzes Selbst geopfert hatte. Aber statt dessen nahm ihn der Schlaf in die Arme. Während die Gedanken an seine fernen Lieben ihm das Herz erweichten, machten ihm die Men schen um ihn herum das eigentlich wunderbare Le ben zur Hölle. Yi-shens Gemeinheiten ließen nicht 260
nach, und Luka sann, wenn schon nicht auf Rache, so doch auf wirksame Verteidigung. Konnte man nicht lernen, mit einem offenen Auge zu schlafen? überlegte er sich. Der allseits gebildete Scholar wußte Rat. »Man nennt es Baumelschlaf.« »Baumelschlaf?« »Ja, eine nahezu vergessene Xi-ling-Praxis, die von unserem Zehnten Großmeister im Jahre …« Scholar kratzte sich am Kopf und blinzelte in die helle Sonne. »Mein Gedächtnis läßt nach.« Er schlug sich gegen die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr.« »Nicht doch«, protestierte Luka. »Du hast das er staunlichste Gedächtnis unter der Sonne. Wenn du dir weiter auf den Kopf schlägst, schwappt es irgend wann einmal über, und dann könnte etwas verloren gehen.« »Ich möchte ja Platz schaffen, damit ich mir die wirklich wichtigen Dinge merken kann. Wo war ich gerade stehengeblieben?« »Beim Baumelschlaf.« »Richtig. Es ist ganz einfach, doch nur wenige ha ben diese Fertigkeit erlernt. Für einen Kämpfer wie dich könnte sie von großem Nutzen sein, falls du niemanden hast, der deinen Schlaf bewacht. Schlaf nämlich ist die Phase unserer größten Verletzlichkeit. Zum Beispiel hat Xi-ling in der berühmten Schlacht des Großen Schlafs gleich zwei Meister an die Washandra-Barbaren verloren. Aber wir kommen schon wieder vom Thema ab, nicht wahr?« 261
»Das klingt alles bemerkenswert, aber wie erlernt man diesen Baumelschlaf? »Man baumelt einfach«, erwiderte Scholar, als sei dies völlig selbstverständlich. »Aber wie?« »Du hängst die Beine über einen Ast, und dann fällst du in den sogenannten Teilschlaf – so wie es die Fledermäuse an der Decke machen oder ein Pferd, das im Stehen schläft. Der Witz ist, daß immer nur Teile deines Körpers schlafen, während andere wach sind und feindliche Übergriffe rechtzeitig wahrnehmen, damit du dich in Sicherheit bringen kannst.« »Gibt es einfache oder komplizierte Regeln, wie man das erlernen kann?« »Nein. Deshalb habe ich es vorhin als nahzu ver gessene Praxis bezeichnet.« »Wie schade.« »Allerdings …« Scholar hielt inne. »Was?« »Soviel ich weiß, beherrscht nur noch ein Mann diese Kunst.« »Wer?« »Gulan. Aber der ist zu schwach, als daß wir ihn fragen können. Warum wartest du nicht, bis er seine Behandlung bekommen hat? Du solltest es besser nicht allein ausprobieren«, sagte Scholar. Wie schwer kann das schon sein? dachte sich Lu ka, als er ging. Noch am selben Abend suchte er sich einen ruhigen Platz, klappte die Beine über ei nen Ast und versuchte, ein Nickerchen zu machen. 262
Kaum war er mit den Vorbereitungen fertig, da tauchten Huhu und Coco auf und starrten ihn ver kehrtherum an. »Was in aller Welt treibst du da?« »Baumelschlaf.« »Brich dir bloß nicht die Knochen, Freundchen. Das ist doch nichts als eine Legende, die keiner be zeugen kann.« »Na und? Ich lerne das jetzt, wenn ihr nichts da gegen habt«, sagte Luka. »He, sei doch nicht gleich eingeschnappt«, ent gegnete Coco. »Wir haben natürlich nichts dagegen. Stört es dich, wenn wir zuschauen, wie du dir deinen Dickschädel brichst?« »Nachdem ihr schon da seid, habt ihr sicher nichts dagegen, mich aufzufangen, wenn ich falle.« »Doch, ich schon«, sagte Coco. »Dies ist meine wohlverdiente Küchenpause. Dank deiner neuen Ge rechtigkeitspolitik haben wir dort nämlich jede Men ge zu tun.« »Ich passe auf dich auf«, versprach Huhu. »Vor ausgesetzt, ich kann die Augen so lange offenhal ten.« Damit ließ er sich neben Coco nieder. »Danke, Kumpel«, murmelte Luka. Während Coco und Huhu zu schnarchen began nen, schliefen Luka die Beine ein. Sein Kopf wurde immer schwerer, und bald war auch er eingeschlafen. Er fiel Huhu auf die Füße, und sein Kopf wurde von Cocos dickem Bauch abgefedert, anschließend schnarchten alle drei ungerührt weiter. 263
»Luka, Luka!« brüllte Didi und ließ sich von ei nem Baum herunter. »Was denn?« Luka fuhr hoch und rieb sich die Augen. »Scholar führt an Großmeister Gulan etwas durch, das man Letzte Rettung nennt«, berichtete Didi atem los. »Was ist die Letzte Rettung?« fragte Luka. »Weiß ich nicht«, sagte Didi. »Meiner Meinung nach«, erklärte Huhu und streckte sich, »sollte man sich das mit der Letzten Rettung gut überlegen. Sie tötet öfter, als daß sie heilt.« »Wovon redest du?« fragte Luka. »Ich weiß, wovon er spricht«, mischte Coco sich ein. »Letztes Jahr um diese Zeit wurde Shoti, ein Zweitkläßler, von einer Schlange gebissen, und Scholar hat die Letzte Rettung an ihm durchgeführt. Der Kleine war anschließend völlig aufgedunsen und ist dann abgekratzt.« »Ich muß los.« Luka rannte den Hang hinunter und stürmte durch die verwinkelten Flure. Nicht einmal von den klebrigen Fledermäusen, die auf sei nen Schultern landeten, ließ er sich aufhalten. Er stieß die Tür zu Gulans Zimmer auf, und was er sah, ließ ihn erstarren. Meister Kun und Scholar standen über Gulans Bett gebeugt, während zwei Wächter daneben knieten und den schwachen Großmeister an Armen und Beinen festhielten. 264
»Was tut ihr da?« wollte Luka wissen. »Psssst! Wir fangen die Skorpione«, erklärte Meister Kun. Er beugte sich über Gulan, eine sichel förmige Stahlklinge in der einen und einen glühen den Eisenstab in der anderen Hand. Seine Blicke suchten Gulans Körper ab, während Scholar an der anderen Seite des Bettes kauerte und eine Kreatur gepackt hielt, die wie die Mutter aller Klobster aus sah. Sie hatte einen Schlangenkörper, einen Kroko dilskopf, die Zangen eines Hummers und eine grüne Zunge und erinnerte Luka an die Monster, die er im Buch der Hölle gesehen hatte. »Das ist aber ein riesiges Exemplar«, sagte Luka mit Schaudern. »Dann hast du die großen noch nicht gesehen«, entgegnete Scholar. »Was wollt ihr damit?« fragte Luka. »Dies ist die Letzte Rettung«, erklärte Meister Kun. »Die Skorpione haben ihm fast den Hals zuge drückt, und er drohte zu ersticken. Buddha sei Dank, daß Scholar noch rechtzeitig diese Heilmethode ent deckte.« »Der widerliche Klobster soll ihn heilen?« fragte Luka ungläubig. »Heiliger Knabe, dies ist keine der üblichen Übel heilt-Übel-Therapien«, erklärte Scholar. »Das ist ein großes Übel, das ein kleines heilt. Die Skorpione ha ben ihre Eier in Gulans Venen abgelegt, und nur das schwarze Blut des Klobsters kann sie dort ein für al lemal herausspülen.« 265
»Aber woher weißt du, daß es die richtige Thera pie ist?« fragte Luka. »Weil es das Gift aller Gifte ist.« »Und wenn es den Großmeister umbringt?« »Er ist dem Tod schon jetzt sehr nahe. Warum spricht man sonst von der Letzten Rettung?« meinte Scholar. »Deine letzte Letzte Rettung war aber nicht be sonders erfolgreich.« »Wer hat dir denn das erzählt?« Scholar verzog das Gesicht. »Meinst du vielleicht, das ist einfach? Eine schwierige Aufgabe, und ich bin doch so un wissend …« »Nein, nein, nein, du bist der weiseste Mann, den ich je getroffen habe. Nur, bitte, du solltest dir ganz sicher sein«, flehte Luka. »Er darf nicht sterben!« »Hier im Buch steht es, in einer winzigen Fußnote. Es ist das einzige, was ich gegen Skorpione gefunden habe«, sagte Scholar. »Die Zeit ist kostbar«, drängte Meister Run. »Wir müssen anfangen.« Und tatsächlich wurde die Zeit knapp. Gulan lag, in kalten Schweiß gebadet, wie tot da. Bis auf ein Lendentuch war er nackt; Eiter rann aus seinen Beinwunden, und er sah aus wie ein kranker Hund kurz vorm Verenden. Das einzige Lebenszeichen kam von den Skorpionen, die man unter seiner Haut krabbeln sah, wenn sie sich vor der steigen den Wärme im Raum in Sicherheit zu bringen suchten. 266
Mit einer Hand hielt Scholar den Klobster, wäh rend er mit der anderen eine lange Nadel am Bauch des Monsters ansetzte. Bei dem heftigen Einstich fuhr der Klobster die Krallen aus und grub sein hal bes Dutzend Füße in Scholars Schulter. Kreischend schüttelte Scholar den Klobster ab. Er fiel zu Boden, von wo er sich zu einer Mauer flüchtete. Alle im Raum rannten durcheinander wie kopflose Ameisen; die einen versuchten ihn zu fangen, die anderen ihm auszuweichen. Selbst Meister Run verlor seine Ge lassenheit. Am Ende war es Gulan, der das Monster mit der Rechten am Hals packte. »Punktier es, Scholar! Was brauchst du so lange?« Luka mußte lachen. Selbst in Todesnähe war der Großmeister schneller und geschickter als alle ande ren. Scholar packte den Klobster am Bauch, doch das Geschöpf war gewitzt. Es bedeckte seinen verletzli chen Bereich mit einer Rüstung aus harten, glitschi gen Schuppen. Scholar stach ein paarmal mit der Nadel zu, doch sie rutschte immer wieder ab. »Schau im Buch nach, wo man einstechen muß«, murmelte Gulan mit geschlossenen Augen. »Gute Idee.« Einhändig blätterte Scholar die Sei ten durch, und plötzlich erhellte ein Lächeln sein Ge sicht. »Im Nacken. Daß ich nicht selbst daraufge kommen bin!« Ein Stich, und schwarzes Blut floß in Gulans Mund. Scholar tupfte die Wunde des Klobsters mit einem Tuch ab. »Zu wenig Blut, und man füttert die 267
Skorpione, zuviel davon, und der Patient kehrt in den Himmel zurück.« »Woher weißt du, wann es genug ist?« fragte Luka. »Ich weiß es nicht«, bekannte Scholar. »Das Buch sagt, man soll abwarten und sehen, was ge schieht.« Gulan wand sich unter Krämpfen, sein Körper bäumte sich auf, sein Mund schäumte mit schwarzem Blut und rotem Speichel. Dann drängten sich die Skorpione aus den Wunden an des Meisters Beinen. Meister Run schaufelte sie mit der Klinge ins Feuer. Dann versiegelte er jede Wunde mit dem glühenden Eisen; der beißende Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte den Raum. Gulan sank erschöpft zurück und atmete wieder regelmäßig. »Das wäre geschafft. Bald ist er wieder auf den Beinen«, seufzte Scholar glücklich. »Vielen Dank. Und was geschieht mit dem Klob ster?« erkundigte sich Luka. »Bei dem habe ich einiges wiedergutzumachen.« Damit schob er den Klobster in einen Sack und ging. »Bitte, darf ich bei ihm wachen? Nur heute nacht!« bat Luka Meister Kun. »Nein, Vorschrift ist Vorschrift«, widersprach der Meister. »Außerdem haben die beiden Wächter ihn bisher bestens betreut. Du kannst getrost gehen. Es ist Zeit zum Schlafen .« Luka stand an Gulans Bett, als wären seine Füße festgenagelt. Sein Herz bäumte sich auf, doch der 268
Befehl war klar. »Gute Nacht, Großmeister«, flüsterte Luka und schlich widerstrebend hinaus. In dieser Nacht kletterte Luka, als alle Jungen se lig schnarchten, aus seinem Bett und schwang sich durch eine Luke aufs Dach. Er sprang in die nächst stehende Kiefer, wo er den schlafenden Didi zusam mengerollt wie ein Kätzchen in einer Astgabel vor fand. Er ließ sich auf den Boden gleiten, lief, so schnell er konnte, und war bald beim Ostfenster an gelangt, durch das er Gulan friedlich schlafen sah. Doch zu seiner Überraschung hatte Gulan keine Wa chen bei sich, wie Meister Kun es versprochen hatte. »Wasser, Wasser«, flüsterte Gulan im Schlaf. Der Anblick des verletzlichen, schwachen Großmeisters stach Luka so ins Herz, daß er beinahe vom Fenster brett gefallen wäre. Dann entdeckte er etwas noch Beunruhigenderes. Ein Schatten ließ sich geschickt durch die Dachluke herab und landete lautlos neben Gulan. Der Eindringling hatte das Gesicht mit einem Stoffetzen verhüllt und trug ein blinkendes Schwert an der Seite. Zunächst hielt Luka ihn für einen der Wächter, doch der Schatten verbarg sich hinter dem Tisch, als Gulan sich aufzurichten versuchte. Da wußte Luka, daß hier etwas nicht stimmte. Luka ergriff einen Dachziegel und warf ihn durch das Fenster nach dem Schatten, aber erstaunlicher weise spürte der Eindringling das Geschoß kommen und wich ihm mit einem wenig kunstgerechten Schmetterlingstanz aus. Der Ziegel fiel krachend zu Boden und weckte Gulan. Daraufhin entschwand der 269
Schatten durch das Dachfenster, durch welches er gekommen war. Jemand will Gulan umbringen, war Lukas erster Gedanke. Er kletterte aufs Dach und lauerte neben der Dachluke. Als der Schatten wieder auftauchte, fuhr ihm Luka mit seinem Dolch an den Hals. Einen kurzen Moment lang standen sie Auge in Auge, nur eine Handbreit voneinander entfernt, doch das Ge sicht hinter der Maske blieb unsichtbar. »Wer bist du, und warum willst du meinem Meister ans Leben?« herrschte Luka ihn an. Es kam keine Antwort, nur ein pfeifender Atem, ein Keuchen, das Lauern des Todes. »Wasser.« Gulans Stimme drang bis aufs Dach herauf. Für den Bruchteil eines Augenblicks schweifte Lukas Aufmerksamkeit ab, und dies nutz te der Attentäter, um Lukas Dolch zu packen und gegen dessen Hals zu wenden. Doch Luka war schnell, und der Dolch war sein treuer Freund. Er brauchte nur den Finger zu krümmen, der Dolch drehte sich und zeigte nun auf den Punkt zwischen den Augen des Mörders. »Wer ist da?« fragte Gulan mit zitternder Stimme. Plötzlich kam eine Vase angeflogen und schlug Luka den Dolch aus der Hand. Der Schatten verschwand durchs Dachfenster. »Luka, bist du es?« fragte Gulan. »Ja, Großmeister.« »Was willst du hier?« »Ich sah einen Mann mit einem Schwert in dein 270
Zimmer kommen. Ich muß ihm folgen, bevor er ver schwindet.« »Aber nicht ohne deinen Dolch.« Gulan warf ihm die Waffe zu. Luka fing sie auf, ließ sich am Dach hinunter und hing wie ein Wassertropfen an der Dachtraufe. Als er sich nach links und rechts umsah, entdeckte er den Stiefel eines Erwachsenen, der in einer Astgabel steckte. Luka umkreiste ihn mißtrau isch und roch an seiner Innenseite. Seine Nase er schnüffelte einen starken Geruch, nicht den üblichen Fußschweiß, sondern das Tuschearoma frischer Kal ligraphie. Er tastete in die Schuhspitze und zog einen zerknüllten Ball aus Reispapier hervor. Im Mondlicht versuchte er, die Schriftzeichen zu entziffern. Alles, was er zunächst erkennen konnte, waren die schlecht gezeichneten Umrisse von zwei menschlichen Ge sichtern, eines klein wie das eines Jungen, das andere ausgemergelt wie das eines toten alten Mannes. Bei de kamen ihm irgendwie bekannt vor. Schnell las er weiter, und fast drehte sich ihm der Magen um. GESUCHT WERDEN: 1. LUKA Zwölf Jahre. Entkommen aus der Todeszelle BELOHNUNG: Kopf: 1.000 lian Silber Bei lebendiger Ergreifung 999 lian Ein Fuß: 200 lian (nur mit Muttermalen) Als passendes Paar: 299 lian
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2. GULAN Altersloser wilder Mönch, verurteilt wegen Anstif tung zum Aufruhr BELOHNUNG: Kopf: 500 lian Silber Bei lebendiger Ergreifung 499 lian Arme oder Beine werden nicht benötigt Alle anderen Körperteile auf Verhandlungsbasis Die Flüchtigen sind NICHT gefährlich! Luka bebte vor Zorn, und das Papier brannte in seiner Hand. Auch dieses Paradies war also von Ghengis Handlangern unterwandert. Jeder konnte ein Spion, jeder ein Verräter sein. Für tausend lian Silber würde selbst ein Geist ihn verraten. Er mußte den Eindring ling finden. Luka sprang auf eine nahegelegene Baumkrone, schwang sich von Ast zu Ast und landete auf dem bemoosten Dach des Südtors. Das wäre der ideale Fluchtweg; ein Sprung vom Felsen hinterließe keinerlei Spur. Luka öffnete seinen Geist und suchte die dunkle Wasserfläche ab, die tief unter ihm lag. Alles war ruhig; keine verdächtigen Wellen oder rätselhaften Luftblasen. Ich muß es an den anderen Toren versuchen, dachte er. Seinen yin-gong-Dolch in der Hand, stürmte er wie ein kleines Gespenst die dornige Mauer entlang, die den gesamten Tempel umgab. Die jungen Wäch ter an den Toren wachten nicht einmal auf, als er 272
vorbeikam. Schließlich erreichte er das Nordtor, den letzten Zugang, ohne etwas Auffälliges entdeckt zu haben. Vielleicht habe ich an den falschen Orten ge sucht, dachte er. Vielleicht kommt der Mörder ja von innen. Da hörte er Schritte auf sich zukommen und verbarg sich hinter einem dicken Baum. Zwei Gestal ten betraten den Hof: Meister Kun, der Yi-shen am Ohr hinter sich herzerrte. »Laß mich los!« »Erst wenn du mir sagst, was du bei der Bucht zu schaffen hattest«, sagte Meister Kun. »Bin schwimmen gewesen.« »Mit Kleidern und um Mitternacht?« »Ja, Onkel.« Yi-shen bibberte. Luka sprang hinter seinem Baum hervor und trat den beiden in den Weg. »Ich wußte, daß du es warst«, er deutete mit dem Finger auf Yi-shen. »Du hast versucht, Gulan umzubringen.« »Gulan umbringen? Hattest du das vor?« Meister Kun zerrte erneut an Yi-shens Ohr. Der Junge kreischte wie ein abgestochenes Schwein. »Aua! Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.« Yi-shen spuckte Luka an, der ihm den Steckbrief unter die Nase hielt. »Woher hast du das?« Meister Kun überflog den Text. »Das steckte in diesem Stiefel hier.« Lin Kun untersuchte den Schuh. »Erklär mir, was vorgefallen ist.« »Ich habe vorhin einen Eindringling gefaßt, der den 273
Großmeister zu ermorden versuchte«, berichtete Luka. »Er ist in Richtung Bucht entkommen und hat unter wegs seinen Stiefel verloren. Und nun steht Ihr hier mit Yi-shen, der pitschnaß ist und dem ein Stiefel fehlt. Ich halte ihn für den geflüchteten Eindringling.« »Der Stiefel ist doch viel zu groß für Yi-shen.« »Nicht, wenn man ein Papierknäul in die Spitze steckt. Der Schuh eines Erwachsenen sollte den Ver dacht von ihm ablenken.« »Er lügt!« schrie Yi-shen. »Ich war bloß schwim men.« »Morgen werde ich der Sache nachgehen. Fest steht, daß ihr beide bestraft werdet.« »Aber ich habe doch nichts Böses getan«, protes tierte Luka. »Ihr habt beide gegen die nächtliche Ausgangs sperre verstoßen.« Lin Kun durchbohrte Yi-shen fast mit dem Finger. »Du wegen Schwimmens während der Schlafenszeit« – und an Luka gewandt – »und du wegen Herumschleichens und Verbreitens von Hor rorgeschichten über Eindringlinge und Mörder.« Luka verbeugte sich, zupfte aber an Lin Runs Ärmel. »Meister Kun, ich habe die Wahrheit gesagt. Ich habe tatsächlich einen Eindringling in Gulans Kammer gesehen. Bitte nehmt den Vorfall ernst.« »Das werde ich tun, da mach dir keine Sorgen. Ich kann dir versichern, daß Gulan nichts fehlt. Auf dem Weg hierher habe ich nach ihm geschaut und werde es jetzt noch einmal tun, wenn du darauf bestehst.« »Und was ist mit dem Steckbrief?« 274
»Solche Anschläge hängen zu Hunderten in allen Städten und Dörfern. Die Leute putzen sich den Hin tern damit«, entgegnete Meister Kun. »Wirklich?« »An deiner Stelle würde ich mir darüber kein Kopfzerbrechen machen, mein kleiner Kaiser. Inner halb der Mauern des Xi-ling-Tempels bist du sicher. Jetzt ab ins Bett mit euch! Und daß ihr mir die Scheune erst verlaßt, wenn es euch ausdrücklich be fohlen wird.« Damit ging er. Luka folgte Yi-shen zur Scheune. Den Rest der Nacht hockte er auf seinem Bett und schmollte. Durch die Dachluke starrte er zu den Sternen hinauf. Wie kann der Abt eines Tempels nur so blind sein? dachte er. Der Mörder ist unter uns, und sein spurlo ses Verschwinden zeigt nur, wie schlau und gefähr lich er ist. Dieser Ort ist alles andere als sicher. Doch als Gast unter fremdem Dach konnte und durfte er nichts unternehmen. Lin Kuns Worte waren in die sem Tempel Gesetz, dem jeder gehorchen mußte. Die Strafe am nächsten Morgen war sanft, aber dennoch unerträglich. Luka und Yi-shen mußten sich gegenübersitzen und einander in die Augen schauen. »Wie lange?« fragte Luka. »Bis du einen Freund erblickst«, sagte Meister Kun und ging. Und wenn das nie geschieht? dachte Luka bei sich. Meister Kun kannte alle Feinheiten der Folter. Für Luka gab es keine schlimmere Strafe, als in Yi-shens haßerfülltes Gesicht blicken zu müssen. Dessen große 275
Nase war gekrümmt wie der Finger eines alten Man nes, die hängenden Mundwinkel verliehen ihm das Aussehen eines traurigen Spaßmachers. Wegen des kalten Bads am gestrigen Abend – ob nun vorge täuscht oder nicht – mußte er ständig die Nase hoch ziehen, was ihn nur noch abstoßender machte. Am schlimmsten aber war, daß Luka diese Tortur stumm erdulden mußte, andernfalls würde die Strafe von vorn beginnen. Die Vormittagsstunden flossen unendlich langsam dahin. Mit Dolchen im Blick starrte Luka sein Ge genüber an, Yi-shens Augen sprühten Pfeile. Bald beteiligten sich auch die Ohren an dem Kampf. Die von Yi-shen wedelten hin und her wie Fächer; Luka ließ die seinen auf- und abwandern, eine Fähigkeit, für die Atami ihm zweifelhaften Ruhm prophezeit hatte. Als die Ohren erschöpft waren, kamen die Na sen ins Spiel. Luka hielt die seine wie eine Kanone auf Yi-shen gerichtet, männlich, gerade und spöttisch gekraust; Yi-shen stieß sie nach vorne wie ein schnüffelnder Hund. Nachdem auch der Kampf der Nasen an Reiz verloren hatte, traten die Münder ge geneinander an. Yi-shens Zähne standen schief und krumm, als wollten sie sich aus seinem Mund da vonmachen. Auch hatte er den Atem eines Schweins, denn er putzte sich nur selten die Zähne. Er wußte um die Macht seiner Puste und umnebelte Luka mit erstickendem Gestank. Doch Luka war noch nicht bereit, den Kampf auf zugeben. Sein auf Langlebigkeit und Ausdauer ver 276
weisendes energisches Kinn war dem schwach aus geprägten Kinn Yi-shens um Längen voraus. Das von Luka glich einer kraftvolle Schaufel, das von Yi shen einer resignierten Eule. Doch bald waren auch diese Muskelpartien erschöpft; als die Sonne sank, waren ihre Kiefer erschlafft, und die Jungen dösten ein. Aus dem gegenseitigen Anstarren wurde ein Wettbewerb im Schnarchen. »Nun seht ihr, ich wußte, daß ihr bei Sonnenunter gang Freunde geworden wärt«, sagte Lin Run, als er die beiden weckte. »Das sind wir nicht«, erklärte Yi-shen. »Doch seid ihr es. Feinde würden nie in der Ge genwart des anderen schlafen, so etwas tun nur Freunde.« »Wir werden ja sehen.« Mit diesen Worten stürmte Yi-shen davon. Lin Kun schüttelte seufzend den Kopf. »Er ist die Schuld, die ich meiner toten Schwester abzuzahlen habe.« »Danke, Meister«, sagte Luka. »Dafür, daß ich dich bestraft habe?« »Dafür, daß Ihr gerecht seid.« »Er ist kein schlechter Junge«, sagte Lin Kun. »Ich frage mich bloß, wann ihr endlich Frieden schließt.« Vermutlich nie, dachte Luka bekümmert und eilte ebenfalls davon. »Ich habe dich gehört!« rief Lin Kun ihm nach. Erstaunt fuhr Luka herum. »Sag niemals nie.« Meister Kun lachte in den Wind. 277
Kopfschüttelnd eilte Luka zum Speisesaal. Alles kicherte und tuschelte, als er eintrat, selbst seine Freunde. Als er fragte, was es gebe, schmun zelten sie einander vielsagend zu und schwiegen. Luka war viel zu hungrig, um sich weiter darum zu kümmern; er hatte den ganzen Tag nichts gegessen und schlang sein Abendessen hinunter, als gäbe es kein morgen. Aus dem Augenwinkel sah er Yi-shen dasselbe tun. Diesmal war er nicht von seinen Brü dern, sondern von einer Gruppe neuer Anhänger um geben. Sie unterhielten sich, kicherten, blickten zu Luka herüber und redeten dann weiter. Luka beendete seine Mahlzeit und verließ rasch den Saal; sein Kopf war mit wichtigeren Dingen be schäftigt. Was ging hier vor? Vergangene Nacht war jemand in den Tempelbezirk eingedrungen und hatte den Frieden der Xi-ling-Bruderschaft gestört, aber niemand schien das zu kümmern. Selbst Meister Kun hatte nur mühsam ein Kichern unterdrückt, als er den Steckbrief sah. Der hatte leicht lachen, schließlich war es ja nicht sein Kopf, auf den eine Belohnung ausgesetzt war. Der Steckbrief hatte Luka den gan zen Tag über beschäftigt und würde ihn auch die Nacht nicht schlafen lassen. Dennoch begab er sich zur Schlafenszeit mit den anderen zu Bett, zog die Decke über den Kopf und gab vor zu schnarchen. Innerhalb weniger Minuten verstummte das Geplap per, und Träume buken in den Öfen des Schlafs. Das reichliche Abendessen hatte Luka schläfrig gemacht, aber er war entschlossen, kein Auge mehr 278
zu schließen, bis der Schurke gefangen war. Mit die sem Vorsatz gab er auf unabsehbare Zeit seinen Nachtschlaf auf. Luka schlüpfte aus dem Bett, sprang durch die Dachluke und schlich sich zu Gulans Zimmer. Als er sich gerade in die Kammer hinunterlassen wollte, hörte er im Westen, auf der anderen Seite des großen Hofes, das Rascheln von Schritten im trockenen Laub. Er wandte den Blick dorthin, sah aber nieman den. Dann erklang ein leiser Pfiff aus dem Bambusgarten am Ostende des Tempelbezirks. Luka schwang sich hoch in die Luft, hörte aber nichts – dann vernahm er es wieder. In dem Wäldchen im Süden rief jemand und erhielt Antwort aus dem Nor den. Einen Augenblick lang vermutete er si mian mai fu, einen Hinterhalt aus allen vier Himmelsrichtungen, den sie in Scholars Strategie-Klasse durchgenommen hatten. Dann hörte Luka das Piepen von Xingxing und Xongxong, die damals bei der Suche nach Gulan eingesetzt worden waren. Das Piepen wurde lauter, ein bläuliches Licht blinkte in der Dunkelheit, dann kam Xingxing in Sicht und umkreiste ihn. Wer hat diese kostbaren Geräte aus dem Gewölbe geholt? fragte sich Luka. Und warum verfolgen sie mich? Xingxing surrte unmittelbar vor seinem Gesicht wie ein lästiges Insekt. Er schlug danach, doch es wich geschickt aus. Das ist bloß ein Ablenkungsma növer, schwante es Luka plötzlich. Und ihm fiel ein, 279
daß Scholar ihnen beigebracht hatte, der einzige Ausweg aus dem Vier-Ecken-Hinterhalt sei ein Sprung aus dessen tödlicher Mitte. Er schloß die Augen, stellte sich vor, ein Adler zu sein, und glitt von der Pagode zu Gulans Fenster hin ab. Mitten im Flug fühlte er, wie sein Gesicht gegen die Maschen eines Fischernetzes gepreßt wurde. Er riß die Augen auf, und schon brachte ihn das Netz unsanft zu Fall. Vier dunkle Gestalten warfen einen Sack über ihn, und es wurde dunkel. Lukas Schreie wurden von dem Sack erstickt. Je mand warf ihn sich über die knochige Schulter und rannte davon. Er wurde kräftig durchgeschüttelt, wäh rend sein Entführer viele Stufen mit ihm hinabstieg. Wer waren diese Leute? Waren es jene, die den Mord an Gulan planten? Luka versuchte, sich schwerelos zu machen, doch sie hatten ihn in einem Netz gefangen und ihm mit einem Sack die Atemluft genommen. Seine schwin denden Kräfte brachten es nicht fertig, sich durch die Stoffschichten zu arbeiten. Als ihn seine Entführer endlich auf felsigen Grund plumpsen ließen und den Sack aufbanden, kroch Lu ka, die Augen reibend, aus seinem Gefängnis. Er be fand sich am Ufer der Xi-ling-Bucht zu Füßen des großen Felsens. »Überraschung!« Etwa die Hälfte der Tempeljugend war versam melt und jubelte, wenngleich nur mit gedämpften Stimmen. 280
»Warum habt ihr mich in den Sack gesteckt und hierhergebracht?« wollte Luka wissen. Yi-shen löste sich aus der Menge und grinste ver schlagen. »Willkommen beim Snagon-Rennen. Auf diese Weise wird der Herausforderer nach der ge heimen Abstimmung traditionsgemäß zum Rennen gebracht.« Obgleich ganz benommen, wollte Luka sich auf Yi-shen stürzen, doch eine Mauer aus Jungen schirmte ihn geschickt ab. Das verwirrte Luka, denn sonst waren sie auf seiner Seite. »Ihr hättet mich beinahe umgebracht.« »Das kommt später«, höhnte Yi-shen hinter seiner Schutzmauer hervor. »Sobald das Rennen begonnen hat.« »Snagon-Rennen! Snagon-Rennen!« skandierten die Jungen. »Ja, ja. Aber was hat es mit diesem Rennen auf sich?« fragte Luka. »Du weißt nicht, was ein Snagon-Rennen ist? Habt ihr das gehört, Leute?« spottete Yi-shen. »Und so was nennt sich die Zukunft des Xi-ling!« Luka hätte diese krumme Nase liebend gern noch krummer geschlagen, aber die Menge hinderte ihn daran. »Wo sind die Schiedsrichter?« bellte Yi-shen. »Komme schon!« Das war Huhu, der sich seinen Weg durch die größeren Jungen bahnte. »Ich bin einer der Schiedsrichter!« Ein muskulöser Knabe packte Huhu am Kragen und stieß ihn in Yi-shens 281
Arme, der wiederum schubste das schmächtige Kerl chen zu Luka hinüber. »Seid mal ruhig! Ich werde es ihm erklären«, sagte Huhu und rückte seinen Kragen zurecht. »Das Sna gon-Rennen ist eine alljährliche Xi-ling-Tradition, bei der ein Draufgänger einen anderen herausfordert. Der Sieger wird zum Snagon-König ernannt. Und da Yi-shen unser letztjähriger Snagon-König ist …« »Und es auch in diesem und in allen kommenden Jahren sein wird«, unterbrach Yi-shen. »Na ja, letztes Jahr hattest du keinen ebenbürtigen Herausforderer«, warf Huhu ein. »Halt’s Maul!« »Wie kann ich erklären, wenn ich das Maul halte, du Narr«, gab Huhu zurück, dann duckte er sich hin ter Luka, um Yi-shens machtvoller Pranke zu entge hen. »Also weiter«, sagte Yi-shen. »Gut, gut. Wie schon gesagt, wir dachten, ich meine, alle Jungen im Tempel dachten … also wirk lich … wir dachten, es wäre eine großartige Sache, wenn du für uns antreten könntest«, sagte Huhu an Luka gewandt. »Ich?« fragte Luka ungläubig. »Genau!« Huhu nickte. »Warum ich?« »Habt ihr das gehört? Unser großartiger Heiliger Knabe fragt, warum wir ihn ausgesucht haben. Sagt es ihm!« »Weil du der Größte bist!« schrien die Jungen. 282
»Nein!« schrie Yi-shen. »Ich bin der Größte!« »Schon gut. Du bist der Zweitgrößte.« Damit wandte Huhu sich wieder Luka zu. »Die Nominierung erfolgte ohne Gegenstimme. Du wirst den Sieg davon tragen, davon bin ich überzeugt. Es ist eine große Eh re, denn wenn du gewinnst, wird dein Name in den Rücken eines Snagons eingeritzt und damit verewigt. Womöglich nehmen sie ihn sogar ins Jenseits mit.« »Aber ich weiß ja nicht einmal, was ein Snagon ist«, sagte Luka. »Du bist echt blöd«, kicherte Yi-shen. Luka warf ihm einen drohenden Blick zu. »Klar weißt du das«, sagte Huhu. »Die beiden Riesenschlangen, die an der Decke unseres Tempels hängen. Puffpuff … die mit dem feurigen Atem.« »Du meinst diese feuerspeienden Schlangen mit Beinen?« »Genau die. Halb Schlange, halb Drache, kapiert? Sie sind nicht so bedrohlich, wie sie aussehen. Es sind sanftmütige Seelen, die auf ihre Erlösung warten. In ihren vorigen Leben haben sie üble Dinge getan, deshalb werden sie die meiste Zeit in einer Grotte gehalten. Nur zu besonderen Anlässen wie deiner Ankunft dürfen sie heraus. Das Rennen ist eine der Aufgaben, durch die sie auf ihre Erlösung hinarbeiten. Unschuldige Kinder reiten auf ihnen, und sie dürfen ihnen kein Leid zufügen. Das ist uralte Tradition, aber vor allem macht es riesigen Spaß.« »Aber ich habe nie auf so einem Vieh gesessen«, gab Luka zu bedenken. 283
»Gleich wirst du«, sagte Huhu. »Komm schon. Wir haben dich ausgesucht, weil du nicht bloß kühn, begabt und schlau bist, sondern auch ein gutes Herz hast. Gescheite und gutherzige Jungen haben Erfolg. Bloß Tölpel wie er da« – Huhu deutete auf Yi-shen – »werden verletzt.« »Verletzt?« fragte Luka erschrocken. Huhu nickte. »Ja, letztes Jahr war’s ziemlich schlimm. Und weißt du auch warum?« »Nein.« »Erzähl’s ihm nicht«, sagte Yi-shen. »Ich muß es dem Heiligen Knaben sagen. Schließ lich ist es in die Annalen des Tempels eingegangen. Er wurde verletzt, weil er einem der Snagons weh getan hat, als er ihn während des Rennens antrieb. Es war also Notwehr. Und der da ist schuld« – wieder deutete er auf Yi-shen –, »daß die arme Mumu jetzt womöglich ein Jahrzehnt länger auf Erden ausharren muß, bevor er erlöst werden kann.« Alle Jungen blickten wütend zu Yi-shen hinüber. »Nun mach schon, laß uns mit dem Rennen begin nen!« forderte Yi-shen. »Warum drängelst du so?« fragte Huhu. »Hast du heute wieder krumme Sachen vor?« »Gar nichts hat er vor«, beteuerte Er-shen. »Und was war dann letzte Nacht?« fragte Huhu. »Nichts. Ich habe nichts getan. Los jetzt, fangen wir an!« Yi-shen zog geräuschvoll die Nase hoch. »Mir kommt es so vor, als ob du lügst«, sagte Huhu. »So? Und mir kommt es so vor, daß ich dich ver 284
dreschen muß, damit du endlich Ruhe gibst.« Yi-shen hielt Huhu drohend die Faust unter die Nase, aber Luka schob sie entschlossen beiseite. »He, laß den Schiedsrichter seines Amtes walten.« »Rennen! Rennen!« johlte die Menge. »Danke, Heiliger Knabe, es scheint, du hast ange bissen. Bist du bereit?« fragte Huhu. »Ich bin …« Luka hatte seinen Satz noch nicht heraus, da packte Huhu seinen Arm und riß ihn hoch. »Das Rennen wird stattfinden! Möge also der Fä higste gewinnen!« »Luka! Luka!« Lukas Gestammel ging im Johlen der Menge unter. »Nieder mit Yi-shen! Nieder mit Yi-shen!« Was immer er hatte sagen wollen, jetzt war es be langlos, und was ihm auf der Seele lag, schob er bei seite. Die Versuchung, seinem Peiniger eins auszu wischen, war zu groß. Und wenn es tatsächlich Yi shen war, der Gulan töten wollte, was wäre dann besser, als ihn diese Nacht hier festzuhalten? »Und nun zu den Grundregeln«, verkündete Huhu. »Ah, nicht Grundregeln, ich meine natürlich Wasserregeln. Demnächst werden die zwei Snagons freige lasssen. Ziel des Wettkampfs ist es, auf ihnen die In sel zu umrunden.« Huhu deutete auf eine dunkle Landmasse inmitten der Bucht. »Wer als erster ans Ufer zurückkommt, hat gewonnen. In den histori schen Urkunden, die ich heute nachmittag nach mei ner Wahl zum Schiedsrichter studiert habe, berichten einige Jungen von gefährlichen Stellen unmittelbar 285
nördlich der Insel. Dort wo die Bucht ins offene Meer übergeht, soll es auch tückische Scherwinde geben. Sie verursachen Unterströmungen, die die Snagons hinabziehen können. Ihr müßt sie mit stren ger, aber nicht zu harter Hand leiten.« »Was bedeutet streng, aber nicht zu hart?« erkun digte sich Luka. »Keine Ahnung. Diesen Ausdruck habe ich in ei ner Fußnote gefunden.« Huhu senkte die Stimme. »Vor hundert Jahren hat ein Junge berichtet, daß er nur deshalb gewinnen konnte, weil er eine Abkür zung entdeckt hat.« »Eine Abkürzung?« »Ja. Anstatt die Insel zu umrunden, ritt er mit sei nem Snagon durch einen Unterwassertunnel an der Nordspitze der Insel und erzielte dadurch das beste Ergebnis in der Geschichte des Tempels. Aber jetzt laß mich zum Eigentlichen kommen, dem Umgang mit diesen Monstern. Man reitet auf ihrem Rücken und hält sich an der zehnten Schuppe fest.« »Woher weiß ich, welches die zehnte ist?« »Du fährst an ihrem Hals entlang, und die zehnte Schuppe wird sich aufrichten, damit du dich daran festhalten kannst. Kapiert?« Luka nickte. »Wie sagt man ihnen, daß sie schnel ler oder langsamer werden sollen?« »Sachte, sachte! Nicht du bist es, der das Tempo vorgibt, das bestimmen die Snagons. Es ist ihr Rennen, verstehst du? Deshalb heißt es ja auch Snagon-Rennen und nicht Yi-shen- und Luka-Rennen, du Holzkopf.« 286
Huhu blickte zu dem Felsen hinauf, auf dessen Spitze San-shen unweit der Grotte in einem Baum wipfel hing. »Er ist der andere Schiedsrichter.« So laut er konnte, brüllte Huhu zu ihm hinauf: »Laß die Snagons frei!« San-shen schwang sich zum Eingang der Grotte und zog an einer Planke. In einen Schwall bläuli cher Flammen gehüllt, schoß eine Riesenschlange von der Größe eines Schiffs in die Luft. Sie breitete ihre vielen Beine wie Schwingen aus, und die lan gen Barthaare blinkten wie Glühwürmchen. Ihr Schwanz schlug so kraftvoll hin und her, daß selbst Luka, der zehn Meter unterhalb stand, den Wind stoß spürte. »Das ist Paopao, der männliche Snagon. Der muß sich immer in Szene setzen«, erklärte Huhu. Paopao stieg wie eine aufsteigende Sternschnuppe in den Himmel. »Er kann es kaum erwarten, ins Jenseits zu kom men«, sagte Huhu. Paopao ließ sich wie ein zischender Pfeil im freien Fall in die Tiefe sausen. Die Jungen kreischten vor Begeisterung. Knapp über der Wasseroberfläche fing er sich in einem Wirbel aus gleißendem Licht, dann kehrte er in majestätischem Bogen zur Grotte zurück. »Was tut er denn jetzt?« fragte Luka. »Spielt sich als verliebter Kavalier auf. Er erwartet die Ankunft seiner Gefährtin Mumu«, erklärte Huhu. »Eine verliebte Schlange?« 287
»In der Grotte sind die ständig mit solchem ro mantischen Zeug beschäftigt. Mumu führt jedesmal, wenn sie herauskommt, einen verführerischen Tanz auf. Schüchtern ist sie nicht gerade.« Doch was Luka dann zu sehen bekam, war alles andere als verführerisch. Es wirkte ziemlich bedrü ckend. Mumu kroch, ebenfalls Feuer speiend, zum Ein gang der Grotte. Ihr Atem glich jedoch eher einem müden Husten, viel Qualm und wenig Funken. Der Kopf hing traurig herab. »Sie sieht ein bißchen mitgenommen aus«, be merkte Huhu. »Sie wirkt wie betäubt«, sagte Luka. »Heitern wir sie ein wenig auf. Vielleicht hat sie eines dieser Frauenprobleme«, sagte ein älterer Junge und rief ihren Namen. Die übrigen fielen ein: »Mumu! Mumu!« Die Rufe weckten das Tier. Es reckte den Hals und spie eine Rauchsalve in Richtung Paopao. Dann ließ es sich in die Bucht hinabgleiten, wobei der Schwanz nur knapp das Ufer verfehlte. »Du hast etwas mit Mumu angestellt!« warf Luka Yi-shen vor, der seine Fußspitzen betrachtete. »Das kannst du nicht beweisen«, erwiderte dieser gewohnt trotzig. »Gestern nacht warst du klatschnaß .« »Genug jetzt! Fangen wir endlich an!« rief Schiedsrichter San-shen dazwischen. »Aber sie ist viel zu schwach für einen Wett 288
kampf. Seht ihr das denn nicht?« fragte Luka die an deren. Mumu konnte den Kopf kaum über Wasser halten. »Wir müssen das Rennen absagen.« »Dazu ist es jetzt zu spät«, erklärte Huhu. »Ohne Rennen werden sie nicht in ihre Grotte zurückkehren. Sie dürfen doch so selten heraus. Und außerdem wol len wir, daß du Yi-shen besiegst.« »Rennen! Rennen!« brüllten die Jungen. »Ruhe!« befahl Huhu. »Es ist Zeit für den Vorjah ressieger, sein Reittier auszuwählen.« »Ich nehme Paopao!« Damit rannte Yi-shen zum Ufer. »Ich nehme Mumu«, sagte Luka. »Dann bist du diesem Halunken hoffnungslos un terlegen«, gab Huhu zu bedenken. »Du kannst die Wahl noch anfechten, wenn die Vorgaben so un gleich sind wie in diesem Fall.« »Trotzdem entscheide ich mich für Mumu«, be harrte Luka statt dessen. »Wenn du keinen Einspruch erhebst, werde ich es tun«, erklärte Huhu. »Das kannst du nicht«, erwiderte Luka. »Wer sagt das? Schließlich bin ich einer der Schiedsrichter und werde alles tun, damit dieser Wettkampf gerecht ausgetragen wird.« »Wenn du dich einmischst, mache ich nicht mehr mit«, drohte Luka. Huhu raufte sich die Haare, dann warf er resigniert die Arme hoch. »Also gut. Wie du willst.« Er rief Mumu und Paopao ans Ufer, und bald darauf scho 289
ben sich ihre Köpfe auf den Sand. Sie sahen einander verliebt in die Augen. Es war das erste Mal, daß Luka ihre Gesichter aus der Nähe sah. Sie hatten dreieckige flache Köpfe von der Größe eines Tischs. Die Stirn war mit har ten grünen Schuppen bedeckt, und die dicken roten Zungen schossen hin und her, als schmeckten sie damit die Luft. Aufgrund der langen Barthaare wirkten sie wie uralte Welse, doch die weit ausei nanderstehenden Augen blickten freundlich. Zur besseren Unterscheidung diente ein roter Fleck auf Mumus Stirn und ein goldenes Quadrat auf der von Paopao. Einen Moment lang hatte Luka den Eindruck, als lächle Mumu ihm zu, doch er war sich nicht sicher, bis er Paopaos listiges Grinsen sah. Unwillkürlich lächelte er zurück. Er mochte die beiden – vor allem als er bemerkte, daß sie Yi-shen ihre feurigen Zun gen herausstreckten. »Besteigt eure Snagons!« rief Huhu. Luka tätschelte sanft Mumus Hals, der breit wie ein Pferderücken war, und die zehnte Schuppe stellte sich auf. Yi-shen dagegen schlug Paopao mit seiner Eisenhand. Dem Snagon gefiel das überhaupt nicht, er konnte sich aber nicht wehren, denn um Erlösung zu erlangen, mußte er seine Launen zügeln. Also griff er zu einer List. Statt Yi-shen die zehnte Schup pe zu geben, stellte er die elfte auf, die wesentlich kleiner war und nicht die Einkerbung hatte, die für sicheren Halt sorgte. Yi-shen trat Paopao so heftig in 290
die Flanke, daß dieser gegen den unverschämten Burschen Feuer spie. »Noch etwas. Waffen sind nicht erlaubt.« Huhu tastete Yi-shen ab und konfiszierte dessen Schwert. »Du kennst die Regeln.« »Und was ist mit seinem Dolch?« schrie Yi-shen. »Das ist eine Ausnahme. Der muß immer bei ihm bleiben.« Huhu wandte sich an Luka. »Aber du weißt, daß du ihn nicht benutzen darfst. Und jetzt los!« Sofort machte Paopao sich bereit; er bog den Rü cken wie eine Brücke und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Die Bucht vor ihm hatte sich in seinen Spielplatz verwandelt, und er konnte das bevorste hende Rennen kaum erwarten. Die Nase knapp über dem Wasser, die Augen prüfend zugekniffen, paddel te er heftig mit seinen vielen Beinen und schoß nach vorn wie eine riesiger Aal. Yi-shen kreischte begeis tert auf und hielt sich mit nur einer Hand an der elf ten Schuppe seines Reittiers fest. Mit der anderen winkte er der johlenden Menge zu. Im Handumdre hen hatte er einen Vorsprung von gut fünfzig Metern und hinterließ eine tiefe Furche im Wasser, Luka folgte mit Mumu in seinem Kielwasser. Mumu dagegen benahm sich wie eine alte Mähre. Sie blinzelte erschöpft, ließ sich von Paopaos Bug welle bespritzen und startete kraftlos und mit einiger Verzögerung. Im Gegensatz zu Paopaos schlanker Männlichkeit hatte sie einen großen dicken Bauch. Heftig keuchend pflügte sie schwerfällig durchs Wasser, anstatt wie Paopao hindurchzugleiten. Luka 291
empfand tiefes Mitleid, als er ihre alten Knochen un ter der Anstrengung knacken hörte. Es ist einfach ungerecht, sie an einem schlechten Tag in ein solches Rennen zu schicken, dachte Luka. Am liebsten hätte er den Wettkampf abgebrochen. Obgleich die tapfere Mumu mit aller Kraft ruderte, war sie nur halb so schnell wie ihr Gefährte. Dennoch jubelte die Menge ihr zu, als sie endlich losschwamm. Mumu mochte sich nur mühen, um aufzuholen, Luka seinerseits tat nichts dergleichen. Er war froh, daß er und nicht Yi-shen auf ihr ritt. Der hätte sie sicher geschlagen und mit allen Mitteln angetrieben. Luka ging es nicht um den Sieg, er wollte Mumu schützen, und was immer sie tat, war ihm recht. »Nur langsam, Mumu! Wir haben die ganze Nacht vor uns«, murmelte er und streichelte ihren Hals. Er hatte eigentlich zu sich selbst gesprochen, doch Mu mu hörte ihn und stellte daraufhin das Paddeln ein. »Ich meinte damit, du sollst dich nicht überan strengen, aber wenn du lieber ganz aufhörst, ist mir das auch recht. Ich könnte die ganze Nacht auf dei nem Rücken sitzen und den Mond bewundern.« Mumu wandte den Kopf zu Luka um und grinste ihm mit dem lippenlosen Lächeln der Schlangen zu. Dann schoß sie plötzlich in die Luft und schlug, ohne das Wasser zu berühren, mit allen ihren Beinen, als wären es Flügel. Der Fahrtwind fuhr Luka ins Ge sicht und betäubte es auf so angenehme Weise, daß er vor Freude aufschrie. 292
»Ja, Mumu! So ist es gut!« feuerte er sie an und wünschte, nie wieder festen Boden zu berühren. Seine Rufe stachelten sie noch weiter an. Sie glitt durch die Luft, als wäre es fester Boden. Eine Se kunde lang hatte Luka den Eindruck, sie hätte sich in einen Drachen verwandelt. Und dieser Gedanke traf durchaus zu, denn Mumu näherte sich langsam dem Ende ihrer Verdammung. Hinter ihnen an der Küste nahm das Schreien und Johlen kein Ende. Luka dachte, die Anfeuerungen gälten Mumu, denn er sah nicht die hünenhafte Ges talt, die vom Tempel herabgeeilt kam. Er hörte nicht, wie Scholar rief: »Kehrt um! Mumu steht unter Dro gen! Es war das falsche Mittel, und sie wird dich tö ten!« Mumu pfeilte durchs Wasser, übersprang die grö ßeren Wellen und hüpfte durch die Luft, wobei sie vor Begeisterung zischte. Ihre Atemnot war wie weggeblasen, und mit ihr Lukas Sorgen. Vielleicht war das alles nur eine Finte der schlauen Snagons gewesen, um Yi-shen irrezuführen. Die Küste sauste an ihnen vorbei, und Wellen peitschten Lukas Gesicht. Welch ein Ritt! Luka strei chelte liebevoll Mumus Schuppe, und sie schoß um so schneller vorwärts. Auf halbem Weg zu dem dunklen Eiland holte sie Paopao ein. Das brachte Yi shen schier zum Verzweifeln, und er zog einen lan gen Stock aus seinem Ärmel, den er zweimal durch die Luft schnellen ließ. Er schimmerte in rötlichem Glanz. 293
Die Glühende Peitsche! Luka erinnerte sich an Scholars Warnung vor dem Gebrauch dieser macht vollen Waffe. Ein Schlag, und ein totes Pferd galop piert auf den höchsten Berggipfel, hatte er gesagt. »Tu’s nicht!« brüllte Luka. »Das ist gegen die Re geln!« »Ha!« brüllte Yi-shen. »Pfeif doch auf die Regeln! Ich muß um jeden Preis gewinnen.« Er schlug immer wieder auf Paopao ein, und zwar auf dessen emp findlichste Stelle, seine Stirn. Der Anblick des brül lenden, blutenden Snagon erboste Luka, aber mehr noch seine Gefährtin Mumu. Sie schwamm vor ihm her, umkreiste ihn, und plötzlich war alle Freund lichkeit aus ihren Augen gewichen. Sie fletschte die Zähne und stieß ein wütendes Grollen aus. Sie wird ihn umbringen, dachte Luka. Das kann ich nicht zulassen. Yi-shens Tod würde ihre Erlösung ein für allemal vereiteln. Doch bevor er etwas unter nehmen konnte, schwang Yi-shen die Glühende Peit sche geradewegs in Mumus geöffnetes Maul und setzte einen vulkanischen Feuersturm frei. Hitzewel len schlugen zurück bis zur zehnten Schuppe, wo Luka saß. Schmerzgepeinigt tauchte Mumu ihr Maul ins kühlende Wasser. Als der Schmerz abgeklungen war, trieb sie schlaff und kraftlos auf der Wasser oberfläche. »Ich hab dir doch gesagt, daß ich gewinnen werde«, höhnte Yi-shen. »Deine Mumu ist außer Gefecht, und Paopao trägt mich dem Sieg entgegen.« Doch Paopao erging es nicht besser. Auch ihm 294
hatte die Glühende Peitsche jegliche Kraft geraubt. Während sein Blut das Wasser rot färbte, ging er langsam unter, und Yi-shen mit ihm. Der Junge ließ die elfte Schuppe los, doch er konnte sich nicht aus seinem Sitz befreien. Je mehr er zerrte und zog, desto fester saß er. »Ich stecke fest!« schrie Yi-shen. »Bitte hilf m…« Damit versank er und hinterließ nichts als eine Luft blasenkette. Er wird ertrinken, dachte Luka, und das hat er seiner eigenen grausamen Dummheit zuzu schreiben. Soll ich den Jungen und die Seele des Snagon retten, oder soll ich ihn seinem Schicksal überlassen? Die Welt würde einen wie ihn nicht vermissen. Aber dann würde Paopao zu Unrecht be schuldigt und trotzdem der ewigen Verdammnis an heimfallen. Erst als Yi-shens letzte Luftblase an die Oberflä che gestiegen war, warf Luka seinen Dolch nach dem sinkenden Snagon. Die Waffe schwamm durch das dunkle Wasser und trennte die elfte Schuppe vom Körper des Tiers. Dann tauchte Luka ins Wasser, packte den befreiten Yi-shen und schwamm mit dem leblosen Körper zur Insel. Als er an Land ging, sah er zu seiner Überraschung Scholar an den Fängen einer riesigen Fledermaus aus der Luft herabgleiten. Sie setzte Scholar ab und flog davon. »Bitte rette Yi-shen!« bat Luka und zerrte seinen Widersacher an den Strand. »Seine Lungen müssen mit Wasser gefüllt sein.« »Geschieht dem Burschen recht.« Luka war über 295
rascht, aus dem Mund des sonst so sanfmütigen Scholar diese harten Worte zu hören. »Erst hat er Mumu unter Drogen gesetzt, dann hat er die beiden Snagons mit der Glühenden Peitsche verletzt. Wirf ihn mir herüber.« Das tat Luka auch, und zwar aus beträchtlicher Entfernung. Scholar machte sich nicht die Mühe, ihn aufzufan gen, der Junge fiel mit dumpfem Aufschlag auf den felsigen Grund. Sein Sturz brachte ihn zum Husten, und ein Wasserschwall ergoß sich aus Nase und Mund. Scholar betrachtete voller Verachtung den stöhnenden Knaben. »Was hat er Mumu gegeben?« fragte Luka. »Eine Droge, die die Mordlust stimuliert. Aber er hat ihr zuviel gegeben. Deshalb hat sie geschlafen, bis die frische Luft sie weckte. Sie sollte dich umbringen.« »Und warum hat sie es nicht getan?« »Vielleicht ist sie inzwischen in der Lage, Gut und Böse zu unterscheiden. Das ist ein wichtiger Schritt, wenn man bedenkt, wozu sie fähig ist.« »Schnell«, drängte Luka, »wir müssen Paopao und Mumu finden!« »Ich habe sie bereits herbeigerufen.« Scholar führte Luka zu einer kleinen Höhle unweit der Küste, wo die Snagons ineinander verschlungen lagen wie zwei enorm dicke Taue. Scholar steckte sich etwas in den Mund, kaute darauf herum und spuckte dann eine dunkle Flüssigkeit in seine Handfläche. »Spucke, igittt!« 296
»Aber keine gewöhnliche Spucke, mein Heiliger Knabe. Das ist schwarze Medizin, hergestellt aus einer besonderen Holzkohle. Sobald ich merkte, daß die Glühende Peitsche verschwunden war, habe ich dieses Gegenmittel gemischt.« Er schmierte es über Mumus Maul und gab auch Luka davon, der Paopa os Stirn behandelte. Kaum hatte Luka ihn mit der Medizin eingerieben, da begannen Paopaos Wunden zu heilen. Nicht einmal eine Narbe blieb zurück. »Was wäre ohne diese Medizin mit ihnen gesche hen?« »Die Wunden wären unheilbar bis in ihre Knochen hinein gefault.« Die wiederhergestellten Snagons stießen sich zärt lich an. Ihre wallenden langen Barthaare schimmer ten in neuem Glanz. Sie streckten die Zungen heraus und leckten Luka die Hände. Nun war er sich fast sicher, daß sie ihn anlächelten. »Gehen wir«, sagte Scholar. Sie sprangen auf die Hälse der Snagons – Luka auf Mumu und Scholar auf Paopao – und ritten aus der Höhle in die Bucht. »Was wird aus Yi-shen?« fragte Luka. Der Junge lag noch immer auf dem kalten Strand. »Eigentlich wollte ich ihn erst morgen holen«, sagte Scholar. »Aber du hast recht. Wir haben genug Platz für ihn.« Er strich über Paopaos Hals, und eine neue elfte Schuppe stieg empor, so als wäre die ande re nie abgetrennt worden. Scholar packte Yi-shen am Kragen und setzte ihn auf seinen alten Platz, die tückische Elferschuppe. 297
»Halt dich gut fest, Yi-shen. Das Rennen ist noch nicht vorbei.« Das weckte den Jungen endgültig auf. »Wie? Was? Wir sind noch im Rennen. Hü!« Er trat Paopao in den Hals, doch die Snagons beachteten ihn nicht und schwammen Seite an Seite in die Zielgerade. »Was macht ihr denn hier?« Statt einer Antwort sagte Scholar: »Du kannst von Glück reden, daß Paopao sich nicht umdreht und dich tötet nach allem, was du ihm angetan hast.« Die Jungen buhten, als Paopao als erster das Ufer erreichte. »Ich bin Sieger! Ich bin Sieger!« brüllte Yi-shen. »Noch nicht!« rief Schiedsrichter Huhu. »Mein Snagon war aber als erster am Ziel«, be harrte Yi-shen. »Nein, nein, nein! Deine Füße müssen erst den Boden berühren. So steht es in den Richtlinien.« Yi-shen versuchte, von der elften Schuppe abzu steigen; sein Hintern ruckte und wand sich, doch er pappte fest. Der Sitz war klebriger denn je. Luka sprang von Mumu und landete neben Huhu, worauf dieser verkündete: »Unser Heiliger Knabe ist Sieger!« Die Jungen umringten Luka und hoben ihn jubelnd auf ihre Schultern. Doch als sie den wütenden Lin Kun auf sich zustürmen sahen, ließen sie ihn schnell wieder herunter und machten sich davon. »Ihr beide«, herrschte er Luka und Yi-shen an, »werdet diesmal hart bestraft für zweimaligen Ver 298
stoß gegen die nächtliche Ausgangssperre in Folge und für Ungehorsam gegenüber dem SnagonRennverbot.« Lukas Kopf senkte sich schamvoll, schnellte jedoch wieder hoch, als er etwas höchst Befremdliches ent deckte. »Was sucht ihr denn hier?« Luka stürmte auf die zwei Wächter zu, die eigentlich bei Gulan Dienst tun sollten. »Müßtet ihr nicht auf eurem Posten sein?« »Wir wollten uns unbedingt das Rennen anschau en. Er schläft doch ganz friedlich«, sagte der eine, während der andere sich die Nase rieb. »Ja, das hätten wir um keinen Preis versäumen mögen.« Luka bahnte sich mit beiden Händen einen Weg durch die Menge und jagte zum Tempel hinauf Er achtete nicht auf Meister Kun, der ihm nachrief: »Komm sofort zurück. Was erlaubst du dir?« Luka spürte, daß die Zeit ablief. Er stürmte die gewundenen Treppen hinauf und schwang sich über das Südtor. Da hörte er einsame Schritte auf dem Dach über Gulans Kammer. Er flog zum Dach hinauf und entdeckte denselben Schatten wie in der Nacht zuvor. Diesmal duckte er sich hinter den Kamin. Be vor Luka ihn packen konnte, stürzte sich der Ein dringling in den engen Schlund, und Luka setzte ihm nach. Er beugte sich, so weit er konnte, in den Ka min, doch alles, was er erhaschte, war ein Stiefel. Der passende Stiefel! Luka steckte ihn in den Gürtel und sprang kopf über hinterher, dem Schatten auf den Fersen. Einge 299
hüllt in Rußwolken, fielen sie in Gulans Kammer gemeinsam aus dem Kamin heraus und kämpften lautstark quer durch den ganzen Raum. Die Stärke und Gefährlichkeit seines Gegners überraschten Luka nicht so sehr wie dessen Bewegungen. Wenn Luka mit einem Hummerhaken angriff, parierte der ande re mit einem Krabbensprung. Setzte Luka den Dra chentritt ein, dann wich der Unbekannte mit einem Mantishüpfer aus. Es war die Abwehr von Lukas letzter Attacke, den Taifunstoß, die ihn am meisten verblüffte: Der Attentäter konterte geschickt mit einem Donnerschlag. Dies war eine persönliche Er findung Atamis. Niemand sonst auf der Welt wußte davon. Plötzlich war Luka von übermächtiger Wut erfüllt. Dieser Attentäter war nicht nur ein Mörder, sondern auch ein schamloser Dieb! Luka kämpfte nur noch verbissener, doch als sein Gegner jeden seiner An griffe prompt erwiderte, beschlich ihn das Gefühl, gegen sich selbst zu kämpfen. Jede der gegnerischen Strategien schien geradewegs aus dem Lehrbuch zu kommen. Wer war dieser Mann? Als Luka schließlich einen unerwarteten Schlag auf dessen Kinn landete, stieß der Eindringling einen Schmerzensschrei aus. Es war die Stimme eines Knaben! Der Schrei weckte Gulan. »Was ist hier los?« »Keine Sorge, Großmeister!« rief Luka ihm zu, während er seinen Gegner mit einem linken Haken traktierte. 300
»Luka, bist du’s?« »Ja, Großmeister.« Da erstarrte sein Gegenüber plötzlich. »Du bist Luka?« Die jungenhafte Stimme kam ihm bekannt vor. »Ja, der bin ich.« Luka streckte die Hand aus und wollte den Hals des Gegners in den Schwitzkasten nehmen. »Und wer bist du?« Dabei schüttelte er ihn kräftig. »Ich bin Ma…« Vor lauter Husten brachte er nichts heraus. »Was für ein Ma, du Mörder?« Luka schüttelte er neut. »Ich bin kein Mörder.« »Was dann?« herrschte Luka ihn an. »Ma… Ma… Mahong!« »Mahong?« Luka wollte seinen Ohren nicht trau en. »Ich dachte, du seist tot.« »Dasselbe dachte ich von dir.« Luka riß Mahong die Maske vom Kopf und strich über das schmale Gesicht. »Bist du es wirklich?« »Ja, ich bin’s, Eure Heiligkeit.« Gulan kam mit einer Kerze angehumpelt, und in ihrem flackernden Schein erkannte Luka das rußge schwärzte Gesicht des geliebten Freundes. »Ich kann’s nicht glauben!« rief Luka. »Was kannst du nicht glauben?« fragte Gulan. »Es ist tatsächlich Mahong!« »Und wer ist dieser Mahong?« Luka und sein Freund brachen in wildes Gelächter 301
aus, während sie miteinander rangen. Sie kannten keine bessere Methode, ihre Zuneigung zu bekunden. Zu Füßen eines völlig verständnislosen Gulan wälz ten sie sich voll Wonne übereinander. Da kam Lin Kun mit Scholar im Schlepptau zur Tür hereingestürzt. »Ist alles in Ordnung? Wir haben Kampfgeräusche gehört.« »Ich bin genauso verwirrt wie ihr«, sagte Gulan und deutete auf die beiden rangelnden Jungen. Lin Kun trennte die beiden. »Wer bist du?« »Ich bin nur ein Bote«, erklärte Mahong. »Und ein guter Freund aus Kindertagen«, strahlte Luka. »Freund aus Kindertagen?« fragte Gulan. »Und ein Bote von wem?« »Atami«, stieß Mahong hervor, während er ver suchte, wieder zu Atem zu kommen. »Atami?« rief Luka aus und schüttelte Mahong mit aller Kraft. »Lebt er noch? Geht es ihm gut?« »Beruhige dich, Luka. So behandelt man doch keinen Boten, noch dazu einen, der gute Nachricht bringt.« Lin Kun stellte sich zwischen die beiden. »So, mein Junge, und jetzt berichte uns von Atami.« »Die gute Nachricht lautet: Atami ist am Leben«, erklärte Mahong. Lukas Beine gaben unter ihm nach, und er kniete nieder. »Buddha sei Dank!« »Aber die schlechte Nachricht lautet, daß er von einem mit Klob-Gift präparierten Pfeil getroffen wurde und vermutlich daran sterben wird.« 302
»O Buddha, hilf!« stöhnte Scholar. »Was ist ein Klob?« fragte Luka und zerrte vor Ungeduld am Ärmel des Riesen. »Ein legendäres Seeungeheuer und zugleich drei zehnter Prinz des Königreichs Ozeana. Erinnerst du dich an die Klobster?« »Ja, natürlich.« »Klob ist der Vater aller Klobster, und er lebt in den Tiefen des Pazifischen Ozeans«, erklärte Scholar. »Er ist der größte seiner Art. Fatalerweise ist sein Gift bekannt dafür, daß es unsägliche Schmerzen verursacht. Alle, die damit in Berührung kommen, betteln darum, endlich sterben zu dürfen.« »Der Riese hat recht«, sagte Mahong. »Atami ist nur noch Haut und Knochen und wünscht Tag und Nacht seinen Tod herbei. Seine Schmerzensschreie hallen durch das Gefängnis. Aber Ghengi will das Geheimnis des Jin-gong.« Mahong spuckte aus. »Und wie ihr wißt, litte Atami lieber ewig, als den Schatz der Xi-ling-Bruderschaft an die Mogo zu ver raten. Er wird aber immer schwächer, vielleicht lebt er nur noch wenige Tage. Und so bin ich hier, um euch alle um Hilfe zu bitten.« In der Kammer wurde es totenstill. Nur Lin Kun schien Bedenken zu haben. »Ist dir jemand hierher gefolgt?« fragte er Mahong. »Ich glaube nicht, Abt. Ich habe nach Kräften ver sucht, keinen Verdacht zu erregen.« Lin Kun sah den Jungen mißtrauisch an, die Stirn in tiefe Falten gelegt. »Wie können wir helfen, Bote?« 303
»Ganz einfach. Ich brauche die Xi-ling-Helden, damit wir gemeinsam den Klob besiegen und an sein Blut gelangen. Atami muß dieses Blut trinken, denn wie ihr wißt, kann das Gift des Klob nur mit dessen eigenem Blut bekämpft werden. Und dazu ist jetzt der rechte Moment«, erklärte Mahong und schob die Ärmel seiner Kutte zurück, die ihm zwei Nummern zu groß war. »Die beste Zeit, um an sein Blut zu kommen, ist während der allmonatlichen Brautfütte rung, und die nächste findet in zwei Tagen statt.« »Was hat es denn damit auf sich?« fragt Lin Kun. »Bei der Brautfütterung verspeist der Klob ein hübsches junges Mädchen, das Ghengi für ihn ausge sucht hat. Dann leuchtet sein drittes Auge rot auf, ein Zeichen, daß sein einziger verletzlicher Punkt sich geöffnet hat. Wir werden dieses Auge durchbohren und auf diese Weise das Blut für Atami gewinnen.« »Woher weißt du das alles?« forschte Lin Kun. »Ein alter Gefängniswärter hat es mit erklärt, be vor er starb.« »Und du glaubst diesem alten Wächter?« fragte Lin Kun. »Selbstverständlich. Ich habe ihm Gefälligkeiten erwiesen und er mir. Außerdem war er nett zu mir und zu meinem Bruder. Er hat nie etwas dagegen ge habt, wenn Atami uns unterrichtet hat. Ihr wißt das vielleicht nicht, aber hinter Gefängnismauern erfährt man alles, was draußen vor sich geht. Sogar die Nachricht von Gulans und Lukas Flucht machte dort die Runde. Deshalb habe ich mich entschlossen, euch 304
zu finden, und der erste Ort, an dem ich suchte, war der Xi-ling-Tempel.« »Das war tapfer von dir.« Luka klopfte seinem Kameraden anerkennend auf die Schulter, und dieser nickte zustimmend. »Hört auf, euch selbst zu beweihräuchern. Beant worte lieber meine Fragen«, unterbrach sie Lin Kun ärgerlich. »Warst du es, der gestern nacht hier he rumschlich und eindrang?« »Ja, das war ich«, erwiderte Mahong. »Wenn du deiner Sache so sicher warst, warum dann diese Heimlichtuerei?« Mahong sah sich im Raum um. »Weil Atami mir eingeschärft hat, nur mit Gulan persönlich zu spre chen. Die günstigste Zeit war deshalb in der Nacht, wenn eure Wachen schlafen.« »Schlafen?« Lin Run runzelte die Stirn. »Ja, so konnte ich überhaupt hier eindringen. Atami wollte nicht, daß ich mit jemandem spreche.« Er rieb sich verlegen die Nase. »So wie ich aussehe und rede, traut mir nämlich keiner.« »Und warum traut man dir nicht?« erkundigte sich Lin Kun streng. »Keine Ahnung, vielleicht wegen meinen schlech ten Manieren. Die Leute sehen mich und halten mich für einen Dieb.« »Bist du denn ein Dieb?« »Nicht mehr, seit ich im Gefängnis Atami begeg net bin. Aber was soll die ganze Fragerei?« Mahong wurde allmählich ungehalten. 305
»Ja, wozu das alles, Meister Kun?« protestierte Luka. »Er ist mein Freund, ein verläßlicher Freund.« »Was das soll?« wiederholte Lin Kun. »Das hat mit den tausend lian Silber zu tun. Eine solche Summe ist doch eine große Versuchung für einen Dieb.« »Was wollt Ihr damit sagen?« Mahongs Hände ballten sich zu Fäusten. »Du bist wegen der Belohnung hier, stimmt’s?« »Nein!« schrie Mahong. »Ich bin wegen meines Meisters gekommen. Und wegen meines Freundes.« »Ihr könnt meinen Freund nicht einfach beschul digen«, brauste Luka auf, doch Lin Kun gebot ihm zu schweigen. »Aus welchem Gefängnis bist du geflüchtet?« fragte Lin Kun. »Wassergefängnis.« »Und wie willst du das geschafft haben?« Mahong schnüffelte an seinen Kleidern und zuckte die Schultern. »Unterirdisch.« »Du lügst!« »Das ist die Wahrheit!« »Das Wassergefängnis ist das bestbewachte Ge fängnis des ganzen Landes. Keiner konnte je über die Schrecken berichten, die seine Mauern bergen. Sie müssen dich geschickt haben, damit du die Kunde über Atami als Köder verbreitest.« »Das ist kein Köder. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen, um euch allen die Wahrheit zu berich ten«, sagte Mahong. 306
»Die Wahrheit? Das bezweifle ich«, gab Lin Kun zurück. »Scholar, kläre Luka über den Klob auf.« »Nun, wenn mein Gedächtnis nicht trügt«, begann Scholar, »so hat niemand das Monster seit dessen Geburt besiegt, nicht weil es so groß und mächtig wäre, sondern weil sein Körper mit undurchdringli chen Schuppen bedeckt ist wie mit einer vollkom menen, lückenlosen Rüstung. Soviel ich weiß, gibt es keinerlei Schwachstellen. Und glaubt mir, durch mei ne Experimente mit seinen Nachkommen konnte ich reichlich Erfahrung sammeln. Ich würde diese Sache mit dem dritten Auge gern überprüfen, bevor sich jemand in Gefahr begibt. Besonders jetzt, da der Bluthunger den Klob noch viel unberechenbarer macht.« Lin Kun packte Mahong bei den Schultern. »Deine Geschichte ist bestenfalls der Köder zu einer Falle. Fesselt ihn und bringt ihn weg!« Darauf kamen zwei Wächter mit Seilen und stürzten sich auf Mahong. Luka warf sich zwischen die Wächter und Ma hong. »Das dürft ihr nicht tun. Wenn ihr ihn fesselt, dann fesselt auch mich!« »Weg da, Heiliger Knabe!« Der grimmige Lin Kun zog Luka beiseite. »Es gibt eine Regel über die Freundschaft, die du kennen solltest. Sie lautet: Die schlimmsten Feinde sind die ehemals besten Freunde, denn sie kennen deine Schwächen .« »Freunde sind Freunde. Das ist meine Regel«, er widerte Luka trotzig. »Woher willst du wissen, ob dein Freund nicht 307
vom Silber verführt oder von Ghengis Folter be zwungen wurde?« »Das ist nicht wahr!« schrie Mahong. »Ich will eher sterben, als einen Freund verraten.« »Gut, dann hast du auch nichts dagegen, mit in die Kammer der Aufrichtigkeit zu kommen und dich der Unschuldsprüfung zu unterziehen.« Mahong richtete sich auf und warf sich in die Brust. »Nicht das geringste.« »Aber er ist unschuldig«, beharrte Luka. »Das werden wir ja sehen. Bringt ihn dorthin!« be fahl Lin Kun. »Ihr dürft ihn nicht wegbringen!« Hilflos stand Luka an der Tür, als die beiden Wächter seinen Freund unsanft durch den Korridor zerrten. Am liebsten hätte er laut geschrien. Zu Gulan gewandt flehte er: »Aber mein Freund ist unschuldig. Ich würde mit meinem Leben für ihn bürgen. Seht Ihr denn nicht, daß er seines aufs Spiel gesetzt hat, um Atami zu retten?« »Nichts überstürzen«, kam es schwach von Gulans Lager. »Bei Sonnenaufgang wirst du erfahren, was wir tun können. Unter diesem Tempeldach muß Ei nigkeit herrschen. Die Launen einzelner gefährden die Gemeinschaft. So lautet das oberste Gesetz. Und jetzt geh zu Bett und schlaf deine Wut aus.« Tief enttäuscht kehrte Luka in die Scheune zurück. Kaum hatte er den Schlafsaal betreten, als er sich umringt fand von Huhu, Didi und Coco. Seine Ge treuen konnten kein Auge zutun, bevor sie nicht die 308
neuesten Nachrichten erfahren hatten. Das SnagonRennen und sein Sieg waren längst vergessen. Jetzt wollten die Freunde wissen, wer der Eindringling war und was sein Auftauchen bedeutete. »Wer ist es?« flüsterte Coco. »Ein Freund von früher«, flüsterte Luka zurück. »Wir wußten gar nicht, daß du eine so aufregende Vergangenheit hast«, sagte Huhu. »Wirst du mit ihm bei der Brautfütterung gegen das Monster kämpfen?« wollte Didi wissen. »Wie habt ihr denn davon erfahren?« fragte Luka. »Ich habe an Gulans Dachluke gelauscht«, erklärte Didi. »Kannst du mir die Kammer der Aufrichtigkeit zeigen?« »Was hast du vor?« »Meinen Freund befreien und mit ihm fliehen. Wißt ihr einen sicheren Weg aus dem Tempel?« Die drei Freunde stutzten. Sorgenfalten bildeten sich auf ihren Gesichtern. »Na los!« drängte Luka. »Ich kann doch nicht zu sehen, wie mein Freund gefoltert wird. Außerdem muß ich meinen Meister Atami retten.« Die Gesichter wurden noch sorgenvoller. »Warum wartest du nicht, was der Großmeister bei Sonnenaufgang verkündet? Dann hilft dir vielleicht die ganze Bruderschaft bei seiner Rettung«, schlug Huhu vor. »Aber die Brautfütterung ist schon übermorgen, und bis Peking braucht man mindestens zwei Tage. 309
Ich komme zu spät, wenn ich bis zum Morgen warte. Ihr müßt mir helfen!« Die drei schüttelten die Köpfe. »Das täten wir ja gern, aber die Tempelordnung verbietet es.« »Ihr müßt euch entscheiden: Freundschaft oder Gehorsam!« drängte Luka. »Freundschaft«, murmelten alle drei. »Dann helft mir.« Coco blickte Luka unverwandt an. »Zur Hölle mit den Regeln! Helfen wir ihm.« Huhu und Didi nickten. »Einverstanden.« »Es gibt einen Ausgang durch die Küche«, flüsterte Coco kundig. »Sehr gut. Wohin führt er?« »Halt dich nicht mit Einzelheiten auf, sieh lieber zu, daß du deinen Freund befreist. Ich erwarte euch bei der Küche, alles weitere könnt ihr mir überlas sen.« »Soweit alles klar«, sagte Didi. »Coco, ab mit dir in die Küche, und du Huhu legst dich in Lukas Bett und ziehst dir die Decke über den Kopf. Ich bringe Luka zur Kammer der Aufrichtigkeit.« »Halt!« warf Huhu ein. »Warum legst du dich nicht in Lukas Bett? Ich weiß schließlich auch, wo die Kammer der Aufrichtigkeit liegt.« »Nein, das mit dem Bett mußt du machen. Dein Melonenschädel ist genauso groß wie seiner. Mein Kopf ist viel zu klein«, erwiderte Didi. »Na gut, Eierkopf«, brummte Huhu. Die vier verabschiedeten sich schweigend, indem 310
sie zum Zeichen ihrer immerwährenden Freundschaft die Daumen aneinanderpreßten. Dann schlüpfte Huhu in Lukas Bett, während Coco, Didi und Luka aus dem Fenster stiegen und ihrer jeweiligen Wege gin gen. Luka und Didi rannten über den Hof, sprangen aufs Dach und schlichen im Schutz der Dunkelheit davon. Nachdem sie ein Dutzend Dächer überwun den hatten, erreichten sie die Kammer der Aufrich tigkeit. Sie lag in einem Turm, der abgesondert am Rand des Tempelbezirks stand. Sein Dach war mit Eisendornen bewehrt, und die glitschigen, moosbe deckten Ziegel fielen steil ab. Die beiden Jungen gingen den Aufstieg beherzt an, doch Luka blieb mit seiner Kutte mehrmals an den Dornen hängen. »Da ist es«, flüsterte Didi. »Danke, mein Freund.« »Dank mir nicht zu früh. Vergiß nicht, dich links zu halten, wenn du die Kammer verläßt. Das ist der Weg zur Küche.« »Wird gemacht. Und jetzt kehr zurück auf deinen Posten, damit dich keiner erwischt.« »Paß auf dich auf, Heiliger Knabe. Versprich, daß du zurückkommst. Ohne dich sind wir hier aufge schmissen.« »Versprochen. Und keine Tränen. Geh jetzt.« »Nein, geh du. Ich stehe Schmiere.« Als er durch die Dachluke blickte, entdeckte Luka mit Entsetzen, daß sein Freund gefesselt von der De cke baumelte wie ein Blatt im Wind. Ein Wächter 311
war weit und breit nicht zu sehen, so daß Luka in die Kammer schlüpfen und das Seil um Mahongs Hüften und Arme losbinden konnte. Im Kerzenlicht wirkte Mahongs blasses Gesicht wie das einer Leiche, die Augen waren halb geschlossen. Luka bohrte seinen Daumen in Mahongs ren-zhong, den Nothelferpunkt in der Falte über der Oberlippe, und prompt regte sich der Freund. Was diesem Straßenjungen als ers tes über die Lippen kam, war keine Klage über seine Behandlung, sondern das, was ihm am meisten am Herzen lag. »Glaubst du mir, Luka?« »Ich hatte nie Zweifel. Laß uns von hier ver schwinden. Ich trage dich«, sagte Luka. »Ich kann selbst gehen.« Mahong rollte ein paar mal mit den Austernaugen und schüttelte sich von Kopf bis Fuß, um seine schlafenden Energien wie derzubeleben. »Diese Toter-Mann-Technik gibt wirklich was her«, sagte er und klopfte sich ab. »Ich bin so gut wie neu.« Luka fiel ein Stein vom Herzen. »Atami hat dir mehr beigebracht als mir.« »Aber du bist nach wie vor sein Liebling.« »Zeit zu gehen!« Grinsend schob Luka die quiet schende Kammertür auf. Der Korridor war dunkel und verzweigte sich wie ein Irrgarten. Didis Worte im Ohr, bog Luka an der ersten Gabelung nach links ab und folgte einem engen Gang voller Spinnweben und Schlinggewächsen. An dessen Ende öffnete sich knarrend eine Tür. Es war Coco, der mit einer Talg 312
lampe in der Hand auf sie wartete. »Folgt mir und kümmert euch nicht um die Tofu-Jungen, die heute Nachtschicht haben«, sagte er. Die sechs Jungen erstarrten, als sie der kleinen Gruppe ansichtig wurden. »Arbeitet nur weiter. Der Heilige Knabe will bloß unseren Backofen besichtigen!« rief Coco ihnen zu und riß die große eiserne Klappe des Herdes auf. »Steigt hier hinein und haltet euch geradewegs nach Osten.« Coco schob sie in die Ofenklappe und knallte die Tür hinter ihnen zu. Um Luka und Mahong wurde es stockdunkel. Luka tastete in dem rußigen Herd nach einem Ausgang, konnte jedoch keine Geheim tür oder Ausstiegsluke entdecken. Da wurde die Klappe noch einmal geöffnet. »Tschuldigung«, sagte Coco. »Hab ganz vergessen, euch das mit dem Draht zu sagen.« »Welcher Draht?« »Links über dir«, erwiderte Coco. »Oh, und noch etwas. Macht ja nicht den Fehler, nach Westen zu gehen.« »Und warum nicht?« »Keine Ahnung. Aber auf dem Plan steht, daß man es nicht tun darf.« Damit schloß sich die Ofenklappe wieder. Luka ertastete über sich den Draht. Als er anzog, öffnete sich das Dach des Ofens, und der Boden hob sich mit ihnen in einen weiten, leeren Raum. Dort schwang er wie ein Pendel zur Seite und beförderte sie in einen weiteren Tunnel, dann glitt er in seine 313
Ausgangsstellung zurück und entschwand ihren Bli cken. Ein wahrer Wunderofen, dachte Luka. Ihr Auftauchen versetzte alle möglichen Kleintiere in wilden Aufruhr. Vor ihnen lag eine Felswand, in die all die sonderbaren Wesen eingeritzt waren, die, wie Scholar ihnen erklärt hatte, unter dem Xi-lingBerg lebten. An einer Seite war das Schriftzeichen für ›Osten‹ eingraviert, daneben ein Pfeil, der nach links zeigte. Auf der anderen Seite war ein vermoder tes Skelett abgebildet. Das also mußte Westen sein, die Richtung, vor der Coco sie gewarnt hatte. »Folgen wir diesem Pfeil«, schlug Luka vor. Doch angesichts des Fackelscheins, der aus dieser Rich tung kam, schreckten sie zurück. Ein halbes Dutzend stämmiger, schwerbewaffneter, heftig keuchender Wächter starrte auf sie herunter. »Wir können gegen sie kämpfen«, sagte Mahong. »Aber nicht gegen ihn«, erwiderte Luka gelassen, als Meister Kun sich einen Weg durch die Männer bahnte. »Bleib stehen, Luka!« rief Lin Kun. »Mahong ist so lange unser Gefangener, bis seine Unschuld be wiesen ist. Du machst dich eines schweren Verstoßes gegen die Tempelregeln schuldig, wenn du ihm zur Flucht verhilfst.« »Er hat nichts Unrechtes getan. Ihr habt kein Recht, ihn einzusperren.« »Ich muß die Tradition des Xi-ling schützen. Des halb muß ich jetzt euch beide gefangennehmen.« 314
»Auf Wiedersehen, Meister!« rief Luka und zog Mahong mit sich in Richtung Westen. »Wir müssen gehen.« »An eurer Stelle würde ich diesen Weg nicht neh men«, hörte Luka Lin Kun gerade noch sagen, bevor der Boden unter seinen Füßen nachgab. Wieder eine Falle, schwante es Luka, während er und Mahong in einen tiefen, dunklen Brunnen stürz ten.
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Luka hatte die Fensterlose Grotte für eine bloße Fallgrube gehalten, doch da irrte er. Sie schien endlos, und je tiefer sie fielen, desto kälter wurde es. Er und sein Gefährte hatten den Eindruck, die ganze Höhe des Berges zu durchmessen, bevor sie schließlich landeten. Der feuchte Steinbo den war eiskalt. »Jetzt sind wir verloren«, sagte Luka und rappelte sich, durch sein yin-gong unversehrt, auf. »Sag das nicht. Sieh lieber zu, wie wir hier he rauskommen!« Mahong tastete im Dunklen umher. »Scholar hat diesen Ort im Unterricht erwähnt. Kannst du dir vorstellen, wie viele Jahre Lin Kun darauf verwandt hat und wieviel Arbeitskraft nötig war, um einen so tiefen Brunnenschacht in den Berg zu treiben?« »Schon, aber was soll’s?« Luka stampfte mit dem Fuß auf. »Im alten Jahr buch gab es eine Abbildung dieses Schachts. Die hat mich immer sehr beeindruckt, weil er als sicherstes Gefängnis im ganzen Land gilt. Nicht einmal die er 316
fahrensten Kämpfer entkommen von hier. Der Deckel wiegt schon eintausend jin.« »Da bleibt einem ja die Spucke weg.« Hoch über sich vernahmen sie einen dumpfen Schlag, vermutlich Lin Kun, der den Deckel über die Öffnung schob. »Für keinen Gefangenen«, fuhr Luka verdrießlich fort, »wie findig er auch sein mag, gibt es hier eine Hoffnung.« »Dann werden wir also verrecken.« »Scholar meinte, daß es in den Nächten eiskalt wird, aber tagsüber erwärmt die steigende Flut das Berginnere. Die Gefangenen haben angeblich jede Menge trinkbares Quellwasser, das durch die Fels wände sickert, vorausgesetzt, sie verstehen diese Quellen anzuzapfen. Aber wahrscheinlich kriegt man blutige Finger, bevor das gelingt.« »Was soll das heißen?« »Daß man danach graben muß«, erwiderte Luka. »Das Wasser befindet sich irgendwo in der Wand. Man muß es zuerst finden. Der Berg ist ein einziges Rätsel.« »Und was ist mit Nahrung? Wie beschaffen wir uns was zu essen?« »Ach das! Ich erinnere mich, daß Scholar sagte, wer geschickt genug sei, könne ausreichend Nahrung finden, solange er zu leben wünsche.« »Bloß wie?« »Auch das hängt von der Erfindungsgabe des ein zelnen ab. Man muß mit den Fingern Löcher graben, denn Löcher sind Nahrungsquellen.« 317
»Von welcher Art Nahrung redest du?« »Ratten und Schlangen. Für Vegetarier sieht es schlecht aus. Manchmal muß man sich auch mit Re genwürmern oder Skorpionen begnügen – sofern sie hier herunterkommen. Was man in solchen Tiefen sonst noch verzehren muß, will ich lieber gar nicht erwähnen.« »Wie lange werden sie uns hier festhalten?« »Keine Ahnung«, entgegnete Luka kleinlaut. »Also, ich verschwinde jetzt.« Mahong kroch auf die Wand zu und krallte die Finger hinein. »So gelingt das nicht.« Luka trat zu ihm und stütz te ihn von hinten. »Ich versuche es, und zwar so lange, bis ich uns ausgebuddelt habe.« »Keine Sorge, wir kommen hier schon wieder raus.« »Du hast gut reden.« Mahong grub weiter, doch es war aussichtslos. Schließlich hieb er mit der Faust gegen die Wand. »Ich will hier heraus! Ich will zu meinem Bruder! Mein armer kleiner Bruder!« »Du wirst deinen Bruder wiedersehen.« »Nein, werd ich nicht.« Wieder bearbeitete Ma hong den Fels mit seinen Fäusten. »Doch, das wirst du.« Lukas Stimme klang nun fest und bestimmt. »Meinst du wirklich?« »Was hat Atami dir als erstes beigebracht – noch vor allen Kampfkünsten?« fragte ihn Luka. »Was soll uns das schon nützen, wenn wir hier in der Falle sitzen?« 318
»Sag es mir, Bruder.« »›Bleib ruhig im Angesicht des Sturms‹«, zitierte Mahong leise, »›andernfalls wird er dich zerrei ßen …‹« »›… und du hörst auf zu existieren!‹« »Du kennst das auch?« fragte Mahong erstaunt. »Wir hatten schließlich denselben Lehrer. Und? Bist du jetzt ruhig?« »Das ist leichter gesagt als getan«, entgegnete Mahong. »Siehst du die Wände, die uns umgeben?« fragte Luka. »Nein.« »Na also. Warum solltest du dich eingesperrt füh len, wenn du nicht mal die Wände erkennen kannst?« »Meinst du, ich soll meine Umgebung vergessen und so tun, als wäre ich woanders?« »Nicht einfach woanders«, erklärte Luka. »In die sem Augenblick sitzt du, der König der Straße und eifriger Schüler Atamis, auf einem luftigen Berggip fel. Vom Meer her weht eine leichte Brise, und ein Vogel singt. Die Dunkelheit kommt bloß von einer Wolke, die dich mit sich forttragen und in einen Traum wiegen wird.« »Danke. Schon vom Zuhören wird mir leichter.« »Und jetzt fliegst du, weil die Brise dich erfaßt hat und dich zu einem … ah ja, zu einem Obstgarten voll duftender, reifer Früchte trägt …« »Süße Lychee«, ergänzte Mahong träumerisch, »triefend vor zuckrigem Saft.« 319
»Dann kommst du zu einem Reisfeld, das grün in der Sonne glänzt.« »Im Dunklen sehe ich Licht«, sagte Mahong. »Und bald vernimmst du auch die wispernde Me lodie einer Jadeflöte …« »Jadeflöten mag ich.« »… gespielt von einer schönen Maid …« »Schöne Maiden mag ich auch«, fiel Mahong ein, »besonders wenn sie sanft und füllig sind.« »Ziemlich füllig.« »Jetzt kann ich sie hören«, flüsterte Mahong. »Ich höre sie tatsächlich.« Luka spürte, wie sich der Rücken seines Freundes entspannte. »Mahong?« »Ja?« »Bist du jetzt ruhig?« »Die Ruhe selbst, denn mich erreicht kein Sturm …« Mahongs Stimme verebbte, während er schnarchend einschlief. Luka blieb allein in der quälenden Finsternis zu rück, bis auch er sich seiner Umgebung entzog. In der inneren Zuflucht seines Geistes sah er das wal lende Haar einer Frau, dann zeigte sie sich im Profil. Es war Zuma, seine Mutter. Er faßte sie bei der Hand, und ihre Haut war seidig wie die Nacht, duf tend wie eine Blüte. Bevor die Blüte sich voll entfal ten konnte, schlief Luka gegen die kalte Mauer ge lehnt ein. Seine Arme hielten Mahong wärmend und schützend umfangen.
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Luka erwachte nicht vom Licht, sondern von dem Geräusch tropfenden Wassers. Plopp, plopp, plopp. Die Tropfen fielen langsam, und jeder besiegelte sein Schicksal mit einem einsamen Echo. Doch Ge räusche bedeuteten Leben, und Bewegung läßt auch Hoffnung aufkeimen. »Wasser! Wasser!« schrie Luka und schüttelte Mahong. »Was für Wasser?« fragte dieser verschlafen. Dann sprang er auf wie ein Frosch und prallte gegen die Felswand. »Autsch!« »Die Quelle. Wasser so süß wie Honig und kost bar wie erlesener alter Wein.« Luka streckte einen Finger aus, fing ein paar Tropfen und leckte sie ab. »Woher kommt es?« fragte Mahong. Auch er streckte die Hand nach dem Wasser aus und führte einige Tropfen zum Mund. »Von oben.« Die Wände erzitterten unter dem Widerhall seiner Worte bis hinauf zum Rand des Schachtes: BEN … ben … ben … Als das Echo end lich verklungen war, folgte eine Reihe erstickter Lau te: Ooog, ooog, ooog. Was ist das?« flüsterte Mahong. »Pssst …« Ooog, ooog. »Ist das ein Frosch?« fragte Mahong. Luka packte ihn bei der Schulter. Plötzlich erschien über ihnen ein Ring aus Licht. »Licht! Licht!« rief Luka aufgeregt. 321
Der Ring senkte sich durch die Dunkelheit zu ih nen herab. Als er zum Landen ansetzte, preßten Luka und Mahong sich an die Wand und starrten auf den Ursprung des Lichts. Es war ein Frosch, groß wie eine Schildkröte, von dem das sonderbare Leuchten ausging. Befremdli cher noch als seine Größe war das dritte Auge, das von seinem Nacken blickte. Der goldene Frosch ließ erneut ein Quaken hören, und sein Kehlsack füllte sich mit Luft. »Ach, ich weiß«, flüsterte Luka. »Das könnte der Goldene sein.« »Der goldene was?« »Scholar hat uns in der Lektion über Gut und Bö se von ihm erzählt. Er gehört zu jenen Wesen, die hier unten ihre Strafe absitzen. Wegen seiner Unta ten hat Buddha ihn in die Finsternis verbannt, doch er hat ihm dieses goldene Leuchten mitgegeben, damit er sein eigenes Licht hat. Sag, bist du der Goldene?« Ooog, ooog. »Du bist es!« Der Frosch nickte und streckte ihnen die mit Spinnweben behangene Pratze hin. Seine beiden Vorderaugen funkelten. »Ach, du heiliger Buddha, er glotzt dich an!« stieß Mahong hervor. »Ich glaube, er will mir die Hand geben.« »Oder schon mal sein Mittagessen begutachten«, murmelte Mahong. 322
Luka beachtete ihn gar nicht, sondern ergriff be herzt die dargebotenen feuchtkalten Froschfinger. Doch als er seine Hand zurückziehen wollte, hielt der Frosch sie fest. »Möchtest du mir etwas sagen?« Der Frosch nickte und verzog das Maul zu einem kinnlosen Grinsen. Dann erst ließ er Lukas Hand los, hüpfte in die entfernteste Ecke, wo das Wasser sich gesammelt hatte, und tauchte in die Pfütze. Das gol dene Leuchten erhellte den Grund der Pfütze, und in dem funkelnden Glanz sah Luka eine Öffnung von der Größe eines Fasses. »Der Ausweg!« schrie Luka. Der Frosch verschwand in dem Loch, und die Grotte versank augenblicklich in tiefem Dunkel. Kurze Zeit später tauchte das Leuchten des Goldenen aber sechs Meter über ihnen wieder auf. Ooog, ooog, gurgelte er, um auf sich aufmerksam zu machen. Wieder ließ er sich herab und ver schwand in dem Loch. Schweigend beobachteten die beiden, wie er dies mehrere Male wiederholte. »Ich glaube, wir sollen ihm folgen«, meinte Luka. Er tauchte als erster in die Öffnung, gefolgt von Ma hong. Das Wasser schmeckte süß, und das Leuchten des goldenen Frosches beleuchtete die dunkle Öff nung wie eine Lampe. Sein drittes Auge war freund lich auf Luka gerichtet. Der Tunnel stieg steil an, doch die Wände wiesen Kerben auf, so daß die Freunde dem Frosch leicht folgen konnten. Nachdem sie eine Weile geklettert 323
waren, gelangten sie an die Stelle, wo sie das Tier zuerst entdeckt hatten. »Und was sollen wir jetzt tun?« fragte Mahong. Diesmal sprang der Frosch nicht von neuem in die Tiefe, sondern hüpfte über die Grotte hinweg zur ge genüberliegenden Wand, wo er sich mit einer Hand festklammerte und mit der anderen Gräser beiseite schob, unter denen eine weitere Öffnung zum Vor schein kam. »Laß uns ebenfalls springen. Vielleicht führt die Öffnung irgendwohin«, schlug Luka vor. Doch bevor er dies tun konnte, verlor der Frosch den Halt, und sein Licht erlosch. Die Grotte lag wieder in tiefer Finsternis. Jemand machte sich am oberen Rand des Schachts zu schaffen und schob den Deckel zur Seite. »Wo sind sie?« Es war Lin Kuns Stimme. An einem lan gen Seil ließ er eine Laterne hinunter bis auf den Grund. »Ich sehe niemanden dort unten«, sagte ein Wäch ter. »Aber das ist unmöglich«, widersprach ein anderer. »Ich schicke Yi-shen hinunter, damit er nach schaut. Yi-shen!« rief Lin Run. Keine Antwort. »Wo ist Yi-shen?« »Er ist schon die ganze Nacht verschwunden«, entgegnete jemand. »Dann muß ich eben selbst nachsehen«, erklärte Lin Run mit einer gewissen Sorge in der Stimme. 324
Luka blieb schier das Herz stehen, als er dies hörte. Sie drängten sich tiefer in ihre Nische und hielten die Luft an, während sich Meister Lin an einem um den Körper geschlungenen Seil zu ihnen herunterließ. Er spähte in jeden Winkel und jede Vertiefung der Wand, und es dauerte scheinbar ewig, bis er die Stelle passiert hatte, wo sich Luka und Mahong versteckt hielten. Der vor Angst schlotternde Mahong stieß aus Versehen gegen einen Stein, der geradewegs auf Lin Runs Kopf fiel. »Wer hat das getan?« rief Lin Kun. »Was getan?« echote der Wächter von oben. »Zieh mich sofort hinauf! Sie müssen irgendwo dort oben stecken. Das war dieser verdammte golde ne Frosch.« »Wo sind sie?« wollte der Wächter wissen und streckte den Kopf in den Schacht, um besser zu hö ren. Luka holte mit seinem Dolch aus und durchtrennte das Seil, worauf Lin Run schreiend in die Tiefe stürzte. Dann lenkte er den Dolch zum Rand des Schachts hoch über ihnen. Doch wer immer dort stand, schob schnell den Deckel darüber und ließ Lin Run in der Finsternis zurück. »Laß uns hinüberspringen in die Öffnung«, flüs terte Luka. Ohne Mühe landeten sie auf der anderen Seite und krochen in das Loch. Die Öffnung verengte sich Zusehens, und der Bo den wurde immer trockener, je weiter sie vor wärtsdrangen. Luka spürte etwas vor sich, wußte 325
aber nicht, was es war. Kurz darauf steckten sie in einer Sackgasse fest: Drei riesige Felsblöcke ver sperrten ihnen den Weg. »Jetzt sind wir wirklich am Ende«, jammerte Ma hong. »Nicht nur am Ende, sondern so gut wie tot.« Luka hieb mit der Faust gegen den Fels. »Ich kann nicht glauben, daß wir so weit gekommen sind, um an dieser Mauer zu scheitern. Warum hat der Goldene uns hierhergeführt?« »Damit wir ihm in Verbannung und Dunkelheit Gesellschaft leisten.« »Hör mit dem Selbstmitleid auf. Du und ich, wir haben schließlich das Gefängnis überlebt.« »Ja, das stimmt.« »Dann werden wir auch das hier überleben und ei nen Weg nach draußen finden.« »Und wie sollen wir das anstellen?« »Auf keinen Fall zurückkehren. Wir müssen durch den Fels.« Immer und immer wieder bearbeitete er das Gestein mit den Händen, während Mahong mit Kopf und Schultern dagegenstieß. Bald tat Luka je der Knöchel einzeln weh, Mahong brummte der Schädel. Da waren plötzlich drei laute Schläge von der an deren Seite der Felswand zu hören. »Was war das?« fragte Luka. »Ja, was mag das sein?« Da war es wieder: Bang, bäng bang! Der Fels stürzte in sich zusammen, dahinter leuchtete das 326
Licht einer Laterne, und Luka grinste jenes Gesicht entgegen, das er am wenigsten zu sehen wünschte, das des lachenden Yi-shen. »Was tust du denn hier, Yi-shen?« wollte Luka wissen und zog seinen Dolch. »Friede!« sagte Yi-shen etwas verschämt. »Scholar hat mir alles erzählt. Du hast mir das Leben gerettet, jetzt bin ich hier, um euch beide zu retten.« »Aber warum?« »Du kannst mir alles vorwerfen, aber nicht, daß ich undankbar bin.« Luka wollte seinen Ohren nicht trauen, doch sein Herz flog der unerwartet aufrichtigen Stimme seines Rivalen entgegen. »Wie hast du uns gefunden?« »Scholar hat mir den Ring des Lebens gezeigt, den der Goldene aussendet. Gehen wir.« Luka, noch immer mißtrauisch angesichts von Yi shens plötzlicher Freundlichkeit, hielt die Augen offen und die Hand am Dolch, bis sie den Eingang einer Höhle erreichten, die sich zur Bucht hin öffnete. »Das ist doch die Höhle, aus der letzte Nacht die Snagons gesprungen sind«, sagte Luka. »Und ihr müßt jetzt auch springen.« Yi-shen schob die Ranken beiseite und stieß einen leisen Pfiff aus. Etwa zehn Meter unter ihnen kam ein Boot in Sicht. »Das rote Boot ist für euch. Es wird euch nach Pe king bringen. Im Boot liegt ein Brief von Scholar.« Luka und Mahong wollten sich gerade zum Sprung bereitmachen, als Yi-shen sie noch einmal zurückhielt und sagte: »Ihr müßt noch etwas wissen. 327
Es geht um den Klob. Ihr müßt die Rote Perle holen, wenn sein mittleres Auge gerade nicht leuchtet.« »Welche Rote Perle?« »Die Rote Perle in seinem Hals ist dann sein ein ziger Schwachpunkt. Aber man kann sie nicht fin den, ohne in den Schlund des Klob zu steigen.« »Woher weißt du das?« »Es ist ein Geheimnis, für das ich bitter bezahlt habe. Jetzt sind wir quitt.« »Wir sind quitt, Yi-shen. Leb wohl.« Luka packte Mahongs Hand, und sie sprangen in die Tiefe auf das rote Boot zu, das sich ohne sichtbaren Antrieb gerade auf sie zubewegte. Während die beiden durch die neblige Bucht trie ben, erschienen am Rand der Klippe unzählige Jun gen, kletterten auf die Bäume und winkten zum Ab schied.
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Vierter Teil
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Luka konnte sich im dichten Nebel nicht orientieren, und daß sie von rätselhaften Kräften in eine unbekannte Richtung gezogen wurden, machte die Sache nicht besser. Also schärfte er seine Sinne, doch alles, was er wahrnahm, bestand aus noch mehr Nebel und ein paar verschwommenen Bergen im Hintergrund. Plötzlich ging ein Ruck durch das Boot, und Luka und Mahong landeten auf ihrem Al lerwertesten. »Autsch!« schrie Mahong. »Was ist los?« »Eine Schriftrolle hat sich in meinen Hintern ge bohrt.« »Das muß die Botschaft von Scholar sein. Lies sie mir vor.« »Warum liest du sie nicht selbst?« erwiderte Ma hong mißmutig. »Ich muß navigieren«, sagte Luka. »Wo … äh … Schildkröten sind, da ist auch ein Weg …«, entzifferte Mahong mühsam. »Kein Wunder, da wir doch von den guten alten Schildkröten gezogen werden.« 331
»… vertrau ihnen nur, hab keine Zweifel …« Ma hong hielt inne. »Weiter.« »Ich kann nicht. Das ist so schwer.« Mahong haßte alles, was mit Schriftzeichen zu tun hatte. Diese dor nigen Gebilde schienen ihm in die Augen zu stechen. »Na gut, gib her.« Luka nahm Mahong die Rolle aus der Hand und überflog Scholars Kalligraphie. Wo Schildkröten sind, da ist auch ein Weg. Vertrau ihnen nur, hab keine Zweifel. Sie werden Dich zum geheimen Kanal des Erdherzens fuhren, einem Tun nel, der seit Hunderten von Jahren von vielen Lebe wesen als Verbindung zwischen Meer und Land so wie Land und Meer benutzt wird. Er wird Dich nach Peking bringen, wo Atami noch immer im Wasser gefdngnis sitzt. Es wird eine schnelle Reise sein, da Du Dich vom Gebirge ins Flachland begibst; ob sie jedoch bequem sein wird, kann ich nicht verspre chen. Versuch jedenfalls, sie zu genießen, denn nur wenigen Menschen war sie bisher vergönnt. Ich habe die Nacht mit Lektüre zugebracht, und der Klob scheint, trotz seiner Größe, nach ozeani schen Dimensionen noch ein Kind zu sein. Er kam als gehätschelter Prinz auf die Welt, ein wenig ver zogen, aber immer freundlich und gutmütig. Er planschte im Ozean herum und half Fischern in See not, bis Ghengi ihn eines Tages mit dem ersten Trop fen Jungfrauenblut anlockte. Ghengi wollte sich ein Seeungeheuer Untertan machen, mit dessen Hilfe er 332
die Meere und Küstenprovinzen beherrschen konnte. Der Klob wurde sein Opfer. Er fütterte ihm Hunderte von Mädchen, die er auf Straßen und in Dörfern raubte. Daraufhin wurde der unschuldige Klob blut dürstig. Jetzt will er Tag und Nacht nichts anderes als Blut. Ihr habt es mit einem Süchtigen zu tun, dessen unvorstellbare Kräfte sich aus Wahnsinn und Bosheit speisen. Deshalb bitten wir Dich, nichts gegen ihn zu unternehmen, bevor wir wieder bei Dir sind. Ach ja, ich habe mich in dieser Nacht auch über die Theorie des mittleren Auges kundig gemacht. Sie stimmt tatsächlich! Dieses mittlere Auge erstrahlt in einem leuchtendroten Licht, sobald der Klob in Eks tase gerat. Das ist das einzige Fenster der Verletz lichkeit, wenn man ihn von außen angreifen will. Au ßerdem möchte ich Dich warnen, kein Rot zu tragen, denn diese Farbe stimuliert die Mordlust des Unge heuers. Ich schreibe Dir dies nicht, um Dich zu er mutigen, das Undenkbare zu tun, sondern nur, damit Du weißt, daß Du immer auf mich zählen kannst. Zuletzt sei erwähnt, daß laut meiner Lektüre die Vereinigung von yin-gong und jin-gong die einzige Macht ist, die den Klob dauerhaft besiegen kann. Doch diese kann erst stattfinden, wenn Gulan und Atami wieder kräftig genug sind, um die Vereinigung gemäß den Regeln des Xi-ling vorzunehmen. Möge yin-gong Dich begleiten. Und denk immer daran, daß Du, mein Heiliger Knabe, der Einzige und Auserwählte bist. P.S. Xi-ling steht immer hinter Dir. 333
Das Schreiben schloß mit der winzigen Unterschrift Scholars. »Danke, Scholar«, flüsterte Luka. »Gute Nachrichten?« fragte Mahong. »Könnten nicht besser sein.« Als sie die Insel inmitten der Bucht erreichten, verspürten sie eine plötzliche Anziehung. Eine wü tende Welle sog sie in den Rachen eines dunklen Tunnels. »Was ist das?« rief Mahong erschrocken. »Ich weiß auch nicht. Vertrau den Schildkröten!« »Aber die Schildkröten haben umgedreht. Sie schwimmen zurück.« Der Tunnel verengte sich auf die Breite des Boo tes, und ein Strom trug das wacklige Schifflein seiner Bestimmung entgegen. Während der nächsten Stun den sausten sie über das Wasser, kalte Luft peitschte ihre Gesichter und ließ ihre Ohren flattern. Angst und Dunkelheit griffen nach ihnen, doch sie konnten sich nur zusammenkauern und an der Bootsflanke festklammern. »Wohin führt uns jetzt diese aberwitzige Fahrt?« rief Mahong. »Nach Peking, vermute ich.« »Vermutest du. Du meinst also, das Ganze hat ein Ziel?« fragte Mahong erschrocken. Da machte der Tunnel eine jähe Kurve, und das Boot schlingerte hinaus in die Morgensonne. »Die Sonne steht rechts von uns, also fahren wir nach Norden!« rief Luka. 334
Das Tal machte eine weitere Biegung und spülte sie in den Schlund einer tiefer gelegenen Berghöhle. »Halt dich am Rand fest …«, brüllte Luka, doch das Ende seines Satzes ging in einem ohrenbetäu benden Donner unter. Völlige Dunkelheit nahm ih nen die Sicht, und das Boot wurde von einer Strom schnelle zur nächsten getrieben. Der Rest der Reise verlief in einem schmerzvollen Taumel. Nur die Kälte war deutlich wahrzunehmen. Das Boot flog geradezu von Berggipfel zu Berggipfel, so daß den beiden der Magen zum Hals hinaufrutschte. Lukas gesamter Körper war in Aufruhr. Heftige Wind böen schlugen ihm ins Gesicht, die seine Wangen wie Äpfel aufblähten. Sein Hinterteil knallte jedesmal auf den Boden des Schiffes, wenn dieses den Fuß eines Berges erreichte, nur um sich wieder zum nächsten zu erheben, was einen neuen Absturz versprach. Sie meinten schon, die Reise werde niemals en den, als sich das Tal in einen trüben Tümpel öffnete, in dem das Boot schließlich kenterte. Mahong, der als erster unter dem umgekippten Boot hervorkroch, stellte mit Erstaunen fest, daß ihm das Wasser nur bis zur Hüfte reichte. Luka folgte und rief: »Mahong, dreh das Boot um!« Mahong richtete den Kahn mit einem herzhaften Stoß wieder auf, und die beiden kletterten hinein. »Wo sind wir? Und woher kommt dieser ekelhafte Gestank?« fragte Luka. Mahong schnüffelte wie ein Hund und brach dann in schallendes Gelächter aus. 335
»Was ist denn so komisch?« »Wir sind in der Scheiße gelandet.« »Igitt! Heißt das, die Dinger, die hier herum schwimmen, sind …« »Genau. Du hast’s erfaßt. Das ist heilige Scheiße.« »Eine Kloake?« rief Luka entsetzt. »Ja, die vornehmste von allen. Wir befinden uns hier in der Kaiserlichen Abortgrube. Willkommen in Peking!« »Schon in Peking?« Luka mußte lächeln. »Ich hätte nie gedacht, daß wir in der Scheiße landen würden.« Mahong zuckte die Schultern. »Hätte schlimmer kommen können.« Er wandte sich um und deutete auf ein schwaches Licht in der Ferne. »Da geht’s zum Kanal.« »Du meinst den großen Kanal, der durch die Innen stadt führt?« wollte Luka wissen. »Genau der.« »Stark. Die Alten verstanden wirklich etwas«, sagte Luka. »Sie haben den geheimen Kanal durchs Herz der Erde gegraben und ihn durch diese stinkende Kloake mit dem Kanal verbunden. Aber wieso kennst du dich denn hier so gut aus?« »Eines der Abflußrohre des Gefängnisses mündet hier.« »War das dein Fluchtweg?« »Erinnere mich besser nicht daran. Ich mußte mich tagelang in Seifenlauge einweichen, um den Gestank loszuwerden.« »Du stinkst noch immer.« 336
»Und du jetzt auch.« »Die ganze Gegend stinkt.« Undefinierbare Dinge klebten an Lukas Kutte. »Hör auf, den reinlichen Mönch zu spielen. Stin ken kann auch von Vorteil sein.« Mahong fischte eine Holzlatte aus dem Wasser und stakte das Boot damit zum Ausfluß des Tümpels. »Wann zum Beispiel?« fragte Luka voller Ab scheu. »Auf diese Weise bin ich aus der Stadt herausge kommen, und genauso werden wir wieder hinein kommen.« Als sie sich dem Ausfluß näherten, strömte ein Wasserschwall in die Kloake, gegen den sie kaum noch anrudern konnten. »Schieb an!« brüllte Mahong über den Lärm des Rauschens hinweg. Luka sprang wieder ins Wasser, und gemeinsam schoben sie das Boot in den stark befahrenen Innen stadtkanal. Sie reihten sich in den Strom der kleinen Hausboote und Handelsschiffe ein, die dem Stadttor zustrebten, das sich über dem Kanal auftat. MogoPatrouillen kreuzten in dunkel gestrichenen Booten und hielten jeden auf, der passieren wollte. »Die Kontrollen sind heute besonders scharf«, sagte Mahong. »Ich frage mich nach dem Grund.« Luka duckte sich, als zwei am Ufer patrouillierende Mogo-Reiter in ihre Richtung blickten. Lukas Herz klopfte wie die Pfote eines fliehenden Kaninchens, als sie sich langsam dem Stadttor näherten, und die 337
Wiedersehensfreude, die er sich immer für die Rück kehr in seine Heimatstadt ausgemalt hatte, wich blei erner Angst und Traurigkeit. Am linken Ufer stieß ein bulliger Mogo-Soldat mit der Spitze seines qiang auf das weinende Kind eines Bettlers ein. Am gegenüberliegenden Ufer verfolgte ein weiterer Mogo vom Rücken seines Rappen aus einen Straßenhund mit einer langen Peitsche. Der Hund, eigentlich noch ein Welpe, hatte blutige Striemen am Rücken und kauerte sich winselnd zu sammen. Luka versuchte, sich abzuwenden und die Szene zu vergessen, aber es gelang ihm nicht. Er griff nach einem Zweig, der ins Boot gefallen war, und schickte ihn mittels seines qi zu dem Mogo. Der Zweig pfeilte durch die Luft und durchstach das Ohr des Berittenen. »Auuu!« schrie der Reiter und ließ die Peitsche fallen, während er sich ans Ohr faßte. Der kleine Hund ergriff die Flucht. Mahong wußte genau, dass es Luka gewesen war. »War das nötig?« »Ich konnte nicht anders.« »Sieh dir die Anschläge am Ufer an«, flüsterte Ma hong, »und dann sag mir, ob das wirklich nötig war.« Es waren die mittlerweile berühmten Steckbriefe für den Tausend-lian-Flüchtling. Sie klebten nicht nur an der Ufermauer, sondern auch an den Brücken, an dicken Baumstämmen und an den Wänden der Gebäude entlang des Kanals. Luka betrachtete sie mit einem Fang-mich-doch-Grinsen auf den Lippen. 338
»Hör mit dem Gegrinse auf«, warnte ihn Mahong. »Ein Mogo-Boot kommt in unsere Richtung. Tu was!« »Was denn?« »Halt den Atem an, solange du kannst, und tu so, als lägst du im Sterben.« Die Mogo stießen andere Boote beiseite und nahmen Kurs auf die beiden Jun gen. Luka pumpte sich währenddessen die Lungen voll und legte sich bewegungslos auf den Boden. Sein Anblick brachte Mahong auf einen kühnen Gedanken. »Durchlassen! Laßt mich durch!« brüllte er. »He, du kleiner Taugenichts, was glaubst du, wo du bist?« bellte ein Mogo-Soldat. Er trug einen lan gen dunklen Schnurrbart und hielt sein Schwert auf Mahong gerichtet. »Ein Notfall. Mein kleiner Bruder ist untergegan gen. Seht nur, er atmet schon nicht mehr!« Er fiel auf die Knie, kniff Luka in die Wange und blies Luft in dessen Mund und Nase. »Tot oder lebendig, wir wollen eure Papiere kon trollieren, bevor wir euch in die Stadt lassen.« Zwei Soldaten sprangen ins Boot und hätten es beinahe zum Kentern gebracht. Mahong beachtete sie über haupt nicht, sondern fuhr fort, Luka zu beatmen, wo bei er die Backen aufblies wie zwei Äpfelchen. Die Soldaten versuchten, Mahong am Kragen hochzuzie hen, doch dieser überraschte sie mit seiner devoten Bitte: »Ihr gutherzigen Mogo, bitte rettet meinen Bruder. Er ist doch erst zwölf. Bitte blast ihm Luft in 339
die Lungen.« Er schob das Gesicht des Soldaten dicht an das kotbeschmierte Gesicht Lukas heran. Der Soldat wich zurück. »Was ist das für ein Ge stank?« »Eine Tragödie! Er ist in die Abortgrube gefal len.« »Du meinst, er ist voller …« »Ja, königliche Scheiße.« »Ich bring dich um.« Der Soldat wischte sich has tig über Gesicht und Hals. »Bittet tötet mich nicht. Nicht bevor ich sein Le ben gerettet habe. Ich beknie Euch, laßt uns durch, damit ich einen Arzt finden kann. Bitte …« »Geht mir aus den Augen!« Der Soldat ließ seinen hölzernen Schlagstock auf Mahongs Kopf niedersau sen, worauf sich der Junge vor Schmerz jaulend im Boot wälzte. Der Mogo hielt sich die breite Nase zu und sprang zurück auf sein Boot. Dort wusch er sich das Gesicht mit Kanalwasser. Rasch stakte Mahong ihr Boot durch das enge Stadttor, wobei er die Schaluppe eines Zwiebelbau ern und das Fischerboot eines Aalhändlers rammte. »Kannst wieder atmen, Luka. Du hast ausgezeichnet gespielt.« Luka schnaufte tief durch. »Das sagt sich so leicht. Diese Sterbenummer hätte mich fast umgebracht.« »Glaubst du etwa, es war lustig, dich zu beatmen? Pfui Teufel! Dein Atem hätte mich beinahe das Leben gekostet.« Mahong spuckte ins Wasser und wackelte mit der herausgestreckten Zunge. »Hab ich nun recht 340
oder nicht? Ein gepflegter Gestank ist Trumpf. Wir sind in Peking!« »Und du bist der König der Straßen von Peking!« »Darauf kannst du wetten. Das Gefängnisleben hat mir nichts anhaben können.« Als Luka sich aufrichten wollte, versetzte Mahong ihm einen Stoß mit der Stange. »Hat jemand was von aufstehen gesagt? Bloß von atmen war die Rede. Laß die Rübe unten. In der Stadt ist es noch gefährlicher.« »Was ist das?« Luka deutete auf ein flammendro tes Plakat, das an einer Steinbrücke hing, unter der sie gerade hindurchfuhren. Zwei große Schriftzei chen in rabenschwarzer Tusche verkündeten: BRAUTFÜTTERUNG. »Fahr näher ran, damit ich es lesen kann.« »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Reiß es ab. Wir müssen uns dünne machen.« Luka riß den Anschlag herunter, der folgenderma ßen lautete: BRAUTFÜTTERUNG
Zartes Mädchen von seltener Schönheit begegnet
dem Prinzen der Meere.
Werden Sie Zeuge der allmonatlichen
Vermählung des Klob!
Morgen mittag am
Wassergefängnis
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Alle Untertanen sind gemäß dem Strafgesetzbuch der Mogo verpflichtet [durchgestrichen] eingeladen, daran teilzunehmen. Fernbleiben wird wegen Überfüllung der Gefäng nisse nicht empfohlen. Spontane Begeisterungsrufe sind laut dem Gebot zur Überschwenglichen Freude Pflicht. Gemäß den STATUTEN über Unangemessene Ge fühlsäußerungen ist das Vergießen von Tränen nicht gestattet. Es folgte eine ganze Liste von Verordnungen, doch Lukas Tat hatte die Aufmerksamkeit eines anderen Mogo erregt, der vom Ufer herüberschrie: »Halt, du Plakatschänder!« »Ist es verboten, ein Plakat abzureißen?« fragte Luka. »Scheint so.« Mahong zuckte mit den Schultern. »Was jetzt?« »Wir trennen uns und treffen uns später wieder.« Ma-hongs Blick überflog die nächsten drei Brücken. »Dort vorn!« »Am Marktplatz?« Ein Gewimmel aus Booten, Flößen und Sampans belagerte den Kai, wo Luka vor Jahren den genialen Ma-Brüdern begegnet war. »Lauf, so schnell du kannst!« Der schreiende Mogo rannte am Ufer entlang, während Luka von einem Boot auf das nächste sprang. Endlich erreichte er das gegenüberliegende Ufer, kletterte hinauf und grinste triumphierend zu 342
dem Mogo-Soldaten hinüber – bis er ihn zurücklä cheln sah. Das verhieß nichts Gutes. Als Luka sich umdrehte, sah er einen riesigen Reiter auf einem ge waltigen Rappen auf sich zukommen. Es war kein anderer als der Welpenschänder, der seine Peitschen hiebe nun an Luka austeilte, einen auf jede Schulter. Bei anderer Gelegenheit hätte Luka den Reiter mit einem Schlag vom Pferd geholt, doch heute hatte er Wichtigeres zu tun. Luka erwiderte die schmerzen den Hiebe mit einem kalten Lächeln und ging weiter. »Bleib stehen und gib sofort das Plakat zurück!« brüllte der Berittene. »Erst wenn ich es fertiggelesen habe. Leb wohl!« Damit schwang sich Luka auf das strohgedeckte Dach einer Hütte, sprang in eine von Bäumen ge säumte Seitengasse und verschwand. Als Luka auf dem Marktplatz eintraf, entdeckte er Ma-hong unter einem Strohhut. Sein Boot lag, ver borgen unter hundert anderen, am Kai vertäut, wo gerade der frühmorgendliche Fischfang entladen wurde. »Woher hast du denn den Hut?« fragte Luka und sprang ins Boot. »Von einem schlafenden Schiffer. Hast du sie wirklich abgeschüttelt?« »Mit ziemlicher Sicherheit.« »Da kann man nie sicher sein.« Mahong blickte sich suchend um. »Mir sieht das eher nach einer Treibjagd aus.« Und Mahong hatte recht. Bald war die Luft erfüllt 343
von wütenden Pfiffen, und ein bedrohlicher Zirkel aus schwarzgewandeten Mogo umstellte den Markt platz. Mahong seufzte. »Du mußtest ja unbedingt diesen Anschlag lesen. Was jetzt?« »Laß mich überlegen.« »Aber nicht zu lange.« Luka kratzte sich am Kinn, doch kein rettender Gedanke wollte sich einstellen. Die Tierkäfige waren zu klein, um sich darin zu verkriechen, in den Holz fässern brodelte es von Fischen, und die Händler hät ten die beiden Flüchtigen nur zu gern ausgeliefert. Aus dem Augenwinkel sah er, wie einer der MogoHäscher bereits auf ihn deutete und seinem Kollegen etwas zuflüsterte. Da erhob sich inmitten des allge meinen Durcheinander eine unverkennbare Stimme. Es war die zeitlose Stimme der Gier, ausgefranst vom Anpreisen der Ware: »Felle, Pelze, die Glanz stücke der Herden! Häute, Häute, die haltbarsten von ganz Qinghai!« Ein Lächeln huschte über Lukas Gesicht. »Denkst du, daß ich denke, was du denkst?« »Genau das.« »Tu’s lieber nicht.« »Doch.« Luka grinste. »Er wird dich anzeigen.« Daraufhin flüsterte Luka Mahong ins Ohr und klärte ihn eilig über den Inhalt des Briefes auf, den er vor langer Zeit erhalten hatte. Daraufhin hellten Ma hongs Züge sich auf. »Des einen Vergehen ist des 344
anderen Nutzen. Für einen Halunken ist er abergläu bischer, als ihm zuträglich ist. Die Rolle des Ster benden hast du hervorragend gespielt, jetzt spielst du einfach den Geist.« »Welchen Geist?« »Na, deinen eigenen. Und jetzt hau ab, bevor die Mogo dich erwischen. Ich nehme mir den Alten vor.« Der Mann, den Luka im Auge hatte, war kein an derer als Laoren, der berüchtigte Fellhändler. Der Alte hatte ein paar Falten mehr im Gesicht, und sein Rücken war gekrümmt wie der einer Schildkröte, was ihm beim Geldzählen nur zugute kam. Aber sei ne Händleraugen blitzten nach wie vor beim Anblick schlüpfriger Münzen, während er jeden, der nicht nach Geld roch, mit Verachtung strafte. Mahong trat neben Laoren und scheuchte dabei die Hähne vom Nachbarstand auf. Von dem Spekta kel aufgeschreckt, sah der Alte sich um und starrte verblüfft auf Mahong hinunter. »Heiliger Buddha! Bist du’s wirklich?« »Ich fürchte, ja.« Mahong blinzelte und stieß ge gen den Ständer mit Pelzen, der gefährlich ins Schwanken geriet. »Buddha sei mir gnädig.« Der Alte nahm einen langen Stock, mit dem er sonst seine Felle aufhängte, und schwang ihn gegen den Jungen. Mahong fing ihn mit der Hand ab. »Noch immer so garstig, Alter?« »Ich dachte, Ghengi hätte dich umgebracht.« 345
»Hat er nicht.« »Was willst du?« »Ich möchte dir etwas sagen.« »Willst du Geld?« »Nö.« »Was dann?« »Den Brief.« Wieder blinzelte Mahong heftig. »Welchen Brief? Und hör auf mit dem Grimassenschneiden, du Nichtsnutz!« »Den Brief, den du dem Heiligen Knaben ge schrieben hast.« »Welchem heiligen Knaben?« »Den du an Ghengis Häscher ausgeliefert hast.« »Das war ein Fehler. Aber dafür habe ich Tag und Nacht um Buddhas Vergebung gebetet. Aus dem Weihrauch, den ich für Seine Heiligkeit verbrannt habe, könnte man einen kleinen Hügel aufschütten. So fromm bin ich geworden.« »Fromm? Um Vergebung beten? Der Mensch handelt immer erst dann, wenn es zu spät ist.« »Wovon redest du?« »Der Heilige Knabe ist tot«, sagte Mahong. »Tot?« Der Alte schlug sich beide Hände vor den Mund. »Das kann nicht sein! Sein Steckbrief hängt doch überall. Warum sollten die Mogo denn nach einem Toten fahnden?« »Das ist einer ihrer miesen Tricks, damit sie einen Vorwand haben, unsere Wohnungen und Geschäfte zu durchsuchen und Leute zu verhaften. Die Unruhe ist ihnen doch nur willkommen.« 346
»Ich glaube dir aber nicht.« Laoren wurde allmäh lich wütend. »Komm nur mit hinein und sieh ihn dir mit eige nen Augen an.« »Hast du nicht gesagt, er sei tot?« »Pssst. Sag in seiner Gegenwart nie dieses Wort mit T, sonst ist er augenblicklich verschwunden.« Mahong schnippte mit den Fingern und versetzte dem aufgeregten Mann einen weiteren Schreck. »Willst du damit sagen, daß er jetzt ein Geist ist?« »Auch so ein G-Wort erwähnst du besser nicht. Jene, die jung sterben mußten, sind besonders emp findlich.« »Warum ist er hier?« »Deinetwegen.« »Wieso meinetwegen?« »Um dir eine Gelegenheit zur Reue zu geben. Vielleicht schaffst du es dann in den Himmel, wenn du einmal abtreten mußt. Und dieser Tag ist nicht mehr fern.« Als sie den Laden betraten, stellte Laoren verwun dert fest, daß alle Gardinen zugezogen und die Dach luken verhängt waren. »Warum ist es so dunkel hier drinnen?« »Licht verträgt er nicht. Zeig dich, Heiliger Knabe!« Luka kam aus dem Gebälk gesprungen und richtete sich vor dem alten Mann auf. »Beim allmächtigen Buddha, du bist es, Heiliger Knabe!« Laoren runzelte die Stirn und sog prüfend die Luft ein. »Aber was ist das für ein Geruch?« 347
»Verwesung«, antwortete Mahong. »Verwesung?« Laoren brach in heftiges Zittern aus. »Wie behandeln sie dich denn dort?« »Ach, eigentlich ganz gut. Warum lassen sie mich sonst herunterkommen?« »Ich bin noch nie einem … du weißt schon … begegnet«, stammelte Laoren. »Darf ich dich anfas sen?« »Na klar.« Laoren kniff Luka so fest in Wange und Nase, daß der Junge beinahe aufgeschrien hätte. »Tut das weh?« »Überhaupt nicht«, stieß Luka zwischen zusam mengebissenen Zähnen hervor. »Er spürt nichts mehr. Du kannst ihn schlagen, so viel du willst«, forderte Mahong den Alten auf. »Nein, das genügt. Aber sag mir: Warum gibst du einem sündenbeladenen alten Mann die Gelegenheit, dich noch einmal zu sehen, nachdem doch ich es war, der dich in diese fatale Lage brachte?« »Nur ein Wort: Versteck«, sagte Mahong. Laoren lugte nach draußen, wo das Trappeln der Mogo-Pferde immer lauter wurde. Der alte Kauf mann dachte scharf nach, und seine korrupten alten Hände zitterten. »Die Mogo sind hinter dir her, stimmt’s?« fragte er. »Mag sein«, entgegnete Mahong. »Ja, so ist es. Könntest du uns bitte helfen?« fragte Luka. »Und wenn ich es nicht tue?« flüsterte der Alte, wie zu sich selbst. 348
»Du hättest Aussicht auf ein Nachleben.« Luka streichelte eines der aufgehängten Felle. »Vielleicht sogar mehrere.« Mahong zwirbelte den langen Bart des Alten. »Von oben wird dir keine Gnade zuteil«, erklärte Luka. »Und das Leben in der Unterwelt ist qualvoll«, er gänzte Mahong. Die beiden bearbeiteten den Alten wie zwei Schriftgelehrte, doch ihre Worte schienen nicht zu fruchten. Erst als Laoren sich dem verborgenen Schrein zuwandte, wurden seine runzligen Züge ver söhnlich. »Also gut. Ich bin reich und habe lange ge nug gelebt. Folgt mir in meinen Geheimkeller.« »Buddha wird es dir vergelten.« Luka ergriff seine Hand. »Ja, ja, schon gut«, stieß Laoren ungeduldig her vor. Gerade als er eine Geheimtür hinter einem Ständer mit Pelzen öffnete, wurde gegen die Tür getrommelt. »Öffnen! Soldaten des Mogo-Heers!« dröhnte eine rauhe Stimme. »Komme schon!« antwortete Laoren, dann flüsterte er: »Steigt die Stiege hinab, da unten ist mein Keller.« Die Geheimtür war so schmal, daß Mahong sich gerade so eben hindurchzwängen konnte. Laoren ge riet an den Rand des Zusammenbruchs, als das Ge polter der Mogo immer lauter wurde. Schließlich tra ten sie die Tür ein. Luka konnte Mahong noch mit einem kräftigen Stoß in die Freiheit befördern, sich 349
selbst aber vermochte er nicht mehr zu retten. Leise schloß er die Kellertür und schlüpfte in einen der langen Pelzmäntel an dem Ständer, der die Geheim tür verdeckte. Laoren war zu Tode erschrocken. Der Pelzmantel war lang, aber nicht lang genug, um Lukas Füße zu bedecken. Der alte Kaufmann hustete in paarmal vielsagend, dann trat er Luka auf die Zehen. »Warum fliegst du nicht weg oder machst dich un sichtbar? Dein Füße schauen heraus«, flüsterte er. »Gleich, gleich«, wisperte Luka zurück, während er sich schwerelos machte und vom Boden abhob. Kopfschüttelnd schlurfte Laoren den MogoSoldaten entgegen. Durch ein Knopfloch konnte Luka beobachten, was sich in dem Laden ereignete. Zwei MogoSoldaten schlugen den Alten ins Gesicht, daß er wie ein Schaukelstuhl hin- und hertaumelte. »Warum hast du nicht gleich aufgemacht?« brüllte einer der Soldaten. »Hältst du hier etwa jemanden versteckt?« »Nein, nein, ehrwürdiger Garnisonsoffizier. Ich habe nichts zu verbergen. Nichts in meinem Laden entgeht Euren wachsamen Augen. Nicht einmal ein Geist«, beteuerte Laoren, während sie in den hinteren Teil des Raums gingen. Die Mogo, flachgesichtig und mit langem Kinn, traten in Lukas Knopfloch-Blickwinkel. Sie stocher ten hier und dort mit ihren Schwertern herum. »Vorsicht bitte! Das sind kostbare Pelze«, flehte Laoren. »Ich werde Euch in der Küche einen Tee zu 350
bereiten, wenn Ihr die Güte haben wollt, Platz zu nehmen.« Die Mogo kamen immer näher, bis nur noch ein dünner Mantel sie von Luka trennte und er ihren schweren Atem hören konnte. Wie wenn er etwas geahnt hätte, begann der Dickere von ihnen plötzlich zu schnuppern. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Dann betasteten seine Finger eben jenen Mantel, in dem Luka sich versteckte. Es war ein besonders schönes Stück und hatte den außer gewöhnlichen Glanz, den nur feinster Nerz aufweist. Der Mogo rieb ein Büschel Haare zwischen Daumen und Zeigefinger und schnupperte erneut. »Was ist das für ein Geruch?« fragte er. Luka erstarrte. »Ach, das ist bloß ein Kräuterpulver, mit dem ich die Pelze behandle«, erwiderte Laoren und stellte sich zwischen den Mogo und den Mantel. »Und wofür ist das gut?« erkundigte sich der Mogo. »Um die Motten fernzuhalten.« Lukas Hand glitt zu seinem Dolch. »Ja, ja, die Motten.« Der Mogo fuhr fort, den Mantel zu streicheln. »Bitte nicht anfassen«, bat Laoren und war selbst ganz erschrocken von seinem barschen Ton. »Ein Chinese will einem Mogo etwas befehlen? Schon gut, ich werde ihn nicht mehr anfassen, ich zerfetze ihn lieber mit meinem Schwert.« »Das würdet Ihr bereuen.« »Warum sollte ich das bereuen, alter Furz?« Der 351
Mogo richtete die Spitze seines Schwertes auf die weiß gewordene Nase des Kaufmanns. »Kaiser Ghengi wird Euch bestrafen.« »Warum sollte er das tun?« »Weil ich diesen Nerzmantel auf Bestellung des Kaisers angefertigt habe. Die Braut des Klob wird ihn morgen zu ihrer Hochzeit tragen.« Augenblicklich fiel der Mogo auf die Knie und be tete in der Mogo-Sprache. Dann stand er auf und schrie: »Nächstes Mal sagst du mir das gleich. Der Klob ist ein heiliges Wesen.« »Jawohl, Herr Offizier.« »Und wenn du einen Jungen siehst, dann melde das sofort.« Der Mogo zog den Steckbrief hervor. »Geht es um den Heiligen Knaben?« »Ja, wie auch immer er heißt. Angeblich wurde er hier vor kurzem gesichtet. An deiner Stelle hielte ich meine Ladentür geschlossen und würde früher Schluß machen.« »Das tue ich sofort.« Sobald die Mogo gegangen waren, sprang Luka aus dem Mantel und umarmte Laorens gewaltigen Bauch. »Vielen, vielen Dank! Jetzt wird Gnade über dich kommen wie üppiger Frühlingsregen. Meine Bewunderung übrigens für deine geschickte Lüge!« »Dein Leben habe ich gerettet, Heiliger Knabe, aber gelogen habe ich nicht. Es ist eine bedauerliche Tatsache, daß Ghengi mich gezwungen hat, diesen Mantel für die morgige Braut zu spenden.« Laorens Stimme bekam eine neue Schärfe. Sein zorniger 352
Blick fiel auf den Dolch in Lukas Hand. »Warum sagst du mir nicht die Wahrheit, Heiliger Knabe?« Er packte Luka am Kragen. »Worüber?« »Ein Geist – daß ich nicht lache. Schau dich doch an. Du stinkst wie ein Straßenköter, und deine Wan gen wurden rot, als ich dich kniff. Und dann der Dolch – ich kenne diese Waffe. Sie gehört dem Xi ling-Großmeister Gulan. Man erzählt sich, daß sie Geister und andere Übel abschreckt. Wenn du mir noch einmal weismachen willst, du seist ein Geist, dann bringe ich dich eigenhändig um.« »Entschuldigung! Laß bitte los!« ächzte Luka un ter Laorens festem Griff. »Du hast recht, ich bin kein Geist.« »Warum habt ihr mich angelogen?« »Weil wir Angst hatten, daß du uns ein zweites Mal verraten könntest.« Das schien dem alten Mann weh zu tun. Er hielt die beiden Jungen am Kragen gepackt und schleppte sie zu seinem Schrein, in dem das Abbild eines Kin dermönchs saß. »Das da bist du«, sagte er. »Jeden Tag bete ich zu dir in der Hoffnung auf Erlösung und damit nie wieder die Gier mein Herz verblendet. Al so lüg mich nicht an! Erzähl mir lieber, weshalb ihr wirklich hier seid.« »Um Atami zu retten«, sagte Luka. »Wie wollt ihr das anstellen?« »Wir werden gegen den Klob kämpfen, und sein Blut wird Atami heilen.« 353
Der alte Mann schüttelte ungläubig den Kopf. »Seid ihr beiden Grünschnäbel verrückt geworden? Wißt ihr überhaupt, wie viele Schiffe der Klob schon versenkt hat? Wie viele Kinder er gefressen hat? Er kommt und geht ohne Vorwarnung. Er ist unser ärgster Fluch. Niemand vermag etwas gegen ihn auszurichten.« Mahong und Luka tauschten Blicke. »Wir schon.« »Ja, wir haben keine andere Wahl«, bestätigte Ma hong. »Und wir wissen, wie wir es anstellen müssen.« Der alte Mann seufzte ergeben. »Das ist zwar sehr heldenhaft von euch, aber klug ist es nicht.« Prüfend betrachtete er Luka. »Heiliger Knabe, du bist zu ei nem jungen Mann herangewachsen und hast deinen eigenen Kopf. Eine Tages wirst du dieses Land re gieren. Wer bin ich, daß ich an deiner Weisheit zwei feln könnte?« »Du wirst uns also helfen?« »Ich werde euch nicht nur ein Nachtlager geben, sondern euch morgen in meinem Wagen zum Schau platz der Brautfütterung bringen. Ich muß ja den be fohlenen Mantel abliefern.« In dieser Nacht breitete Luka eine Decke über sei nen treuen Gefährten und legte sich dann Rücken an Rücken neben ihn. Doch schlafen konnte er beim besten Willen nicht. Ständig mußte er an Atami den ken. Welche Freude würde es sein, morgen dessen liebes Gesicht in Händen zu halten und ihm zu sagen, wie sehr er ihn liebte und wie grausam er ihn vermißt hatte. Die endlosen Jahre der Trennung wären end lich vorbei. 354
Gedanken brandeten wie Wellen in seinem Her zen, und die stille Nacht schien nicht enden zu wol len. Um sich zu beruhigen, kniete Luka nieder, wandte sich nach Osten und betete still. Er bat um den Beistand Buddhas, jene unbesiegbare Macht, die seinen Lebensinhalt darstellte. Er flehte um Weisheit und Stärke. Und er bat um Vergebung für mögliche irdische Sünden, die er morgen begehen würde. Mit geschlossenen Augen spürte er die sanfte Berührung der Buddhahand auf seinem Gesicht und die gren zenlose Liebe, die sich darin ausdrückte. Vor seinem geistigen Auge erschien ein wunderschönes ovales Gesicht mit feinster Haut. Es war jenes Gesicht, das er sich seit langem als das seiner Mutter vorstellte, die er nie gekannt hatte. Ihr Mund flüsterte: »Ich liebe dich, Luka. Ich liebe dich, mein Kind.« Und dann formten sich langsam die Worte: »Rette das Mäd chen. Rette das Mädchen.« Was meinte sie damit? Welches Mädchen sollte er retten? Luka rätselte noch, als er in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. Unter Laorens Dach begann der geheiligte Tag schon vor Sonnenaufgang. Laoren hatte all seine Koch künste für die beiden Jungen und ihren aussichtslosen Kampf aufgeboten. Gewöhnlich bereitete er you-tiao zu, fritierten süßen Teig, der in zwei Streifen zu einer Stange zusammengedreht wurde. Doch diesmal fügte er einen weiteren Streifen hinzu, des Glücks wegen. Früher einmal hatte er einen dreibeinigen Hund be 355
sessen. Dieser hatte sein Bein verloren, als er für sei nen Herrn einen Goldbarren stahl, der Laorens Reichtum begründet hatte. Seit dieser Zeit betrachtete er die Drei als seine Glückszahl. Luka meditierte seit Tagesanbruch im Keller; er zelebrierte das Ritual des wu, mit dem man sich in nerlich leer macht. Nur wenn nichts mehr ihn berührte, konnte er ein wahrhaft furchtloser Kämpfer sein. Lediglich die reine Flamme des yin-gong blieb in ihm zurück, die, je näher der Augenblick der Bewäh rung kam, um so heller loderte. Am Ende des Rituals hielt Luka seinen Dolch hoch und murmelte das Er weckungsgedicht: »Dolch, der du scheinst, sei mit mir vereint.
Leite meine Seele zu Atami und besieg das Unaus sprechliche.«
Den Namen Atami hatte er spontan in der Hoffnung hineingeschwindelt, daß yin-gong auch Atami stär ken werde, damit er den Tag überstehe. Wie erstaunt war er, als ihm der Dolch mit einem Leuchten ant wortete. Er fragte sich eben, ob er sich das Leuchten bloß eingebildet hatte, als Mahong hereinkam. »Was war denn das?« fragte Mahong. »Du hast es also auch gesehen?« »Hast du Atami gerufen?« »Ja, warum? Woher weißt du das?« »Ich sah, wie dein Dolch leuchtete. Tu das nicht wieder. Jedesmal wenn du ihn rufst, verbraucht er 356
weitere kostbare yin-gong-KRAFT und verringert seine Lebenserwartung um ein paar Minuten.« »Wie war dein Ausflug ins Wassergefängnis? Wie geht es Atami?« »Es war nicht einfach. Sie haben besondere Sicher heitsvorkehrungen getroffen. Um jeden Block patrouil lieren drei Wachmänner. Ich mußte wieder durch die Abwasserkanäle. Atami ist von dem Gift ganz schwarz bis hinauf zum Hals. Er bekommt kaum noch Luft, und der Schaum steht ihm vor dem Mund. Er hat nicht mehr lange zu leben, das steht fest«, be richtete Mahong. »Mein Bruder Mahing war froh, von dir und von unserem Plan zu hören. Er sagt, alles wird gut enden. Er wartet auf der Gefängnismauer. Sobald du das Blut hast, gibst du es an ihn weiter, damit er es Atami einflößen kann.« Es klopfte an die Tür, und Laoren kam mit einem Tablett. Sein Gesicht war ernst. »Eßt meine you-tiao, dann fahren wir los«, sagte er. Seine Hände zitterte so sehr, daß er fast das Frühstück fallen ließ. »Was ist los, Laoren?« fragte Luka. »Heute morgen ist ein Schiff drei Meilen vor der Küste gekentert, und drei Mädchen wurden von dem gierigen Klob verschlungen. Er konnte offenbar nicht bis zu seiner Brautfütterung warten. Das Monster zerstörte das halbe Schiff, und der Vater der Mäd chen verlor einen Arm.« Mit dieser Schreckensnach richt schlurfte Laoren hinaus. Das anschließende Frühstück verlief in tiefem Schweigen. Die Stimmung besserte sich auch nicht, als Ma 357
hong seine fettigen Finger an der Kutte abwischte und sagte: »Das könnte unser letztes Mahl gewesen sein.« »Dann soll es so sein«, erwiderte Luka. Mahong erhob sich feierlich. »Sei guten Mutes. Es ist Zeit für den Kampf.« Dann rülpste er herzhaft. »Bist du bereit, Heiliger Knabe?« »Ja, ich bin bereit.« »Bist du auch gerüstet?« Luka nickte. Er zog seinen Dolch heraus und küß te ihn, bevor er ihn in die Scheide zurückgleiten ließ. Dann klopfte er auf die leere Flasche, die er sich in den Gürtel gesteckt hatte. Gemeinsam mit Mahong verließ er den Keller. Laoren hielt mit seinem Karren vor der Tür und ließ die beiden unter die Plane der Ladefläche krie chen. »Haltet euch versteckt, bis wir angekommen sind!« warnte er durch das kleine Fenster vom Kutschbock aus, während die Zugtiere am Kanal ent langtrotteten. Bald lag die Stadt hinter ihnen, und der Kanal er weiterte sich zu einem Fluß. Durch das Fenster sah Luka Tausende von Menschen, die bedrückt und aufgeregt die staubige Straße entlanghasteten. Weiter vorn hatte sich bereits eine riesige Menge versam melt, so als hätte die Flußgöttin persönlich zu ihrem Begräbnis geladen. »Wo genau müßt ihr hin?« flüsterte Laoren. »So nahe wie möglich zur Bühne«, raunte Mahong zurück. 358
»Ich will sehen, was sich machen läßt. Da vorn kommt ein Kontrollposten.« Der Karren rollte langsamer, und ein Mogo brüllte: »Halt! Hier kannst du nicht weiter!« »Ich bin in kaiserlichen Angelegenheiten unter wegs!« schrie Laoren zurück und winkte mit seinem Passierschein. »Ich muß den Brautmantel zum Was sergefängnis bringen.« »Noch jemand hinten drin?« »Bloß ein paar Mäntel und zwei Laufburschen. Ich bin zu alt. Kann das Zeug nicht mehr allein tra gen.« »Passieren lassen! Passieren lassen! Kaiserliche Angelegenheiten!« rief der Mogo und teilte die Menge mit seinem Schwert. Laoren fuhr so nahe wie möglich an die Bühne heran, dann klopfte er an das Fensterchen. Die Jun gen stahlen sich davon wie zwei Diebe. Bevor er in der Menge verschwand, verbeugte sich Luka vor La oren, und der alte Mann nickte ihm zu. Er wollte noch etwas sagen, doch seine Mundwinkel zitterten, und er blieb stumm. Er tauschte einen letzten langen Blick mit den beiden, und ein seltener Schimmer vom Freundlichkeit und Mitgefühl lag darin. Dann fuhr er davon. Luka ergriff Mahongs Kutte und bahnte sich einen Weg durch die Menge bis zu einer grasbewachsenen Erhebung unweit des Ufers. Ein Kämpfer ist nur so gut wie der Platz, an dem er steht. Das hatte Atami ihm immer wieder eingeschärft. Auch hier mußte die 359
umgebende Landschaft mit in die Strategie einbezo gen werden. Der Fluß wurde an dieser Stelle etwa vierhundert Meter breit, und sein Wasser war von tiefstem Blau. Diese kräftige Farbe beruhte auf seiner unergründli chen Tiefe und auf der Nähe zum Meer. Das unbe zwingbare Wassergefängnis lag wie eine verwun schene Insel inmitten des Stroms. Es hatte keinerlei Verbindung zum Land und wurde von gewaltigen Felswänden umschlossen. Innerhalb seiner Mauern schwand gerade ein Leben dahin. Vor dem Gefängnis, unmittelbar unterhalb des Wachturms, hatte man die Bühne für die Brautfütte rung errichtet. Die wackligen Pfosten, auf denen sie ruhte, senkten sich tief in das Flußbett. Dort würde das verachtenswerte Schauspiel seinen Lauf nehmen, und Luka würde auf seinen bislang mächtigsten Gegner treffen, den dunklen Prinzen der Meere. Schon lange hatte er sich den Tag herbeigesehnt, an dem er seinen geliebten Atami würde retten können. Nun war dieser Tag gekommen, und er war bereit. Eine gespenstische Ruhe lag über der Szene. Doch mit dem Frieden war es vorbei, sobald die Zugbrücke des Wassergefängnisses auf die Bühne herabgelassen wurde. Ein Mogo-Beamter, dünn wie ein Äffchen, rannte herbei und schlug den Gong. »Alle chinesi schen Untertanen haben sich in Gegenwart unseres glorreichen Herrschers Ulan-baat Ghengi zu vernei gen!« verkündete er. »Los, runter!« Mahong drückte Lukas Kopf nach 360
unten, als die Menge sich verneigte. Doch Luka schaffte es, einen Seitenblick auf die Leibwache von acht Soldaten zu erhaschen, die über die Brücke mar schierte und eine schwarze Sänfte auf den Schultern trug. Ghengi. Lukas Herz pochte. »Ganz ruhig.« Wieder drückte ihm Mahong den Kopf nach unten. Der ruchlose Mogo stieg aus der Sänfte, beachtete aber den von seinem Adjutanten dargebotenen Thron mit keinem Blick. Ein unge wöhnlicher Glanz lag auf Ghengis Gesicht, und er wirkte größer und breitschultriger, als Luka ihn in Erinnerung hatte. Ein wallender schwarzer Umhang verbarg nicht nur den fehlenden rechten Arm, son dern verlieh ihm auch ein theatralisches Aussehen. Er ließ den Blick zur Spitze des Wachturms wan dern, wo ein leerer Korb hoch oben in der Luft schaukelte. Dann blickte er nach Osten und hielt nach dem Monster Ausschau, das an der Küste ent lang herbeikommen würde. Ghengi nahm alle Ein zelheiten seiner Umgebung genau in sich auf: die Menschen, den Fluß, das Tal und den blauen Himmel mit der gleißenden Mittagssonne. Er schnupperte zweimal, dann schoß sein Blick zu Luka und Mahong hinüber. Lukas Herz setzte einen Schlag lang aus. »Nicht bewegen«, flüsterte Mahong, »und wende den Blick nicht ab.« Luka erstarrte unter dem bösartigen Blick für we niger als zwei Sekunden, doch es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. 361
»Der Kerl ist von bösen Geistern besessen, die ihm sein Mogo-Gott gesandt hat. Er kann eine schnaufende Kuh auf ein li Entfernung riechen und einen Toten auf zehn li«, murmelte Mahong. »Glaubst du, er hat uns erkannt?« fragte Luka. »Nicht die Lippen bewegen!« Die beiden wurden von Ghengis starrem Blick beinahe versengt. Endlich wandten die Habichtaugen sich ab. Ghengi rief: »Zündet die Kanone zum Salut für das heilige We sen, den Klob!« Zehn Böllerschüsse wurden in den Himmel abge feuert. Die Detonationen brachten die Erde zum Be ben. »Gleich ist es soweit«, erklärte Mahong. »Denk daran, der Moment seiner Verletzlichkeit tritt erst ein, nachdem er das Mädchen verschlungen hat.« Luka nickte. »Nicht andersherum. Verstanden?« »Schon gut, Mahong.« »Werde bloß nicht leichtsinnig, Junge. Es geht hier um dein Leben. Ich hatte schon einmal Gelegen heit, den Klob beim Mahl zu beobachten. Dreißig Männer hat er als einen Happen verschluckt, da ist nichts übriggeblieben.« »Danke für die Ermutigung.« »Ich will dir doch nur sagen …« Mahongs Stimme ging in der Musik auf der Bühne unter, und eine mar kerschütternde Fanfare erklang. Luka preßte sich die Hände auf die Ohren, aber Mahong zog sie ihm weg. »Wenn sie das sehen, werfen sie dich ins Gefängnis.« 362
»Dieser Lärm tötet meine Ohren.« »Mag sein, aber siehst du hier jemanden, der sich die Ohren zuhält? Das Gesetz will es so.« »Was meinst du damit?« erkundigte sich Luka. »Man glaubt, daß die Böller und Fanfaren den Klob anlocken, aber dem ist das völlig schnuppe. Den reizt einzig und allein der Geruch von Blut.« Eine fette Kuh und drei Schweine wurden auf die Bühne getrieben. Auch sie waren in die schwarze Seide der Mogo-Tracht gehüllt und mit schwarzen Bändern geschmückt. »Die Tiere werden jetzt geopfert«, erklärte Mahong. Und tatsächlich zog Ghengi höchstpersönlich eine lange Peitsche heraus und drosch auf die Kuh ein, bis ihre Flanken blutig waren. Dann beförderte er sie mit einem Tritt in den Fluß. Das verwundete Opfertier hätte eigentlich noch einmal auftauchen sollen, aber die Kuh erfüllte diese Erwartung nicht. Wie ein Stein sank sie auf den Grund. Sogar das blutige Oberflä chenwasser wurde durch einen mächtigen Strudel mit in die Tiefe gezogen. Dann kamen die Schweine an die Reihe, die ver zweifelt um ihr Leben quiekten und schrien. Ghengi, der jeden Peitschenhieb mit einem Lachen begleitete, trieb die blutenden Tiere bis zum Rand der Plattform. Nach einem letzten grausamen Hieb sprangen sie schließlich von der Bühne und trieben mit angstvoll fragenden Augen auf dem Wasser. »Klob! Klob!« riefen die Mogo-Soldaten. »Hier kommt dein Futter!« 363
Das Rufen und die Musik wurden immer lauter, ein Kreischen, wie wenn tausend Sägen sich in rosti ges Metall fräßen. Dann wurden weitere Böller schüsse abgefeuert. Kurz darauf hob sich im Osten die Wasseroberfläche wie durch eine Flutwelle, und es sah aus, als rase ein Schiff unter dem Wasser auf die Bühne zu. In einem riesigen Schwall schoß der Klob daraus hervor und winkte mit seinen gewalti gen Hummerbeinen. Die Masse seines grünen Kör pers verdunkelte die Mittagssonne und warf einen Schatten über Tausende von Menschenköpfen. Der Klob wand sich wie ein Himmelsdrache, wobei seine sechs zappelnden Beine einen Windstoß auslösten, der in die umstehenden Bäume fuhr und selbst ferne Gewässer kräuselte. Dann stürzte er sich mit voller Wucht auf die Schweine. Der Fluß teilte sich vor dem Riesenmaul und nahm das Monster wieder in sich auf. Niemand war von der Größe des Klob so erschüttert wie Luka. Riesig war kaum das passende Wort. Der Klob war riesenriesig! Jetzt zweifelte er nicht mehr an Mahongs Geschichte von den dreißig Männern. »Du hast mir nicht gesagt, daß er so groß ist.« Luka klammerte sich an Mahong fest. »He, he! Du wirst dir doch jetzt nicht vor Angst in die Kutte machen! Du schaffst es! Konzentrier dich!« »Du hast leicht reden.« Luka beruhigte sich und nahm den Feind, der inzwischen wieder aufgetaucht war, genau ins Visier. Der flache Kopf des Ungeheu ers ähnelte dem einer tödlichen Schlange, und sein 364
feuriges Maul troff noch vom Blut der Kuh. Seine drei trüben Augen, groß wie Melonen, waren so blau wie das Meer, dem er entstiegen war. Große grüne Schuppen bedeckten den gesamten Körper, doch das Furchterregendste waren die beiden Riesenzangen vorn am Kopf. Der Klob sah genau aus wie einer von Scholars kleinen Klobstern, nur daß er tausendmal größer und millionenfach bösartiger war. Der Auftritt des Klob hatte die ganze Bühne be spritzt und in ihrer Verankerung erschüttert, doch Ghengi schien dies nicht zu stören. Er lachte laut und lange. »Ich blickte nach Osten, und ich blickte nach Westen, mein lieber Klob, und gefunden habe ich den Besten!« brüllte Ghengi. »Was hältst du davon, wenn du mich eine Runde auf dir reiten läßt, bevor ich dir deine Braut zeige?« Zur allgemeinen Überraschung schwamm der Klob brav zur Bühne, reckte seinen Schlangenkopf aus dem Wasser und ließ Ghengi auf seine Nase springen. »Es ist wahr. Ghengi hat ihn gezähmt«, murmelte Luka. »Der Klob tut alles, was Ghengi von ihm verlangt. Hauptsache, er bekommt seine jungen Mädchen.« Ghengi war kein schmächtiger Mann, doch wie er da auf dem flachen Kopf des Klob saß und sich an einem langen Fühler festhielt, sah er wie ein kleiner Junge aus. Der Klob schwamm ein paarmal im Fluß auf und ab und ließ große Wellen gegen die Ufer krachen. Schließlich legte das Ungeheuer sein Kinn 365
wieder auf die Bühne und züngelte mit der gespalte nen grünen Zunge. Seine drei Augen blickten zum Wachturm hinüber. Ungeduldig schien er auf die Ankunft seiner Braut zu warten. »Du kannst es kaum erwarten, wie?« Ghengi strei chelte dem Klob die Nase, und der brüllte vor Lust. »Schickt meinem heiligen Wesen seine Braut!« be fahl Ghengi. Langsam öffnete sich eine kleine Tür in dem Wachturm hoch über der Bühne. Heraus trat ein schlankes Mädchen, das man in Laorens Nerzmantel gehüllt hatte. Man führte es wie ein Tier an einem Seil, das um ihre Hüften geschlungen war. Das Mäd chen war starr vor Angst. Ein Soldat zerrte sie an dem Seil bis an den Rand eines Simses unmittelbar über der Bühne. Sie schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. Dieses gesichtslose Mädchen wirkte unendlich allein, traurig und verloren. Ob sie wohl eine Familie hat, die um sie weint? fragte sich Luka. Was denkt sie jetzt, da ihr Leben mit dem nächsten Schritt enden wird? Weiß sie, wa rum gerade sie auserwählt wurde? Alle diese Fragen schmerzten Luka so sehr, daß ihm die Tränen über die Wangen rannen. »He, du Weichling, du wirst doch jetzt nicht flen nen! Damit verstößt du gegen das Tränenvergießver bot.« Ma-hong fuhr seinem Freund mit dem Ärmel über die Augen. »Ich kann nicht anders.« 366
Dann stieß der Soldat das Mädchen in den Korb und ließ es langsam zu dem Klob hinunter. Je weiter sich der Korb hinabsenkte, desto wilder gebärdete sich das Seeungeheuer. Als es wieder einmal erregt hochsprang, hätten seine Klauen beinahe den Korb erwischt. »Beruhige dich und laß mich absteigen, damit ich den Leuten deine Braut vorführen kann, bevor sie auf immer die Deine wird!« rief Ghengi. Der Klob setzte den Mogo-Herrscher ab, als der Korb eben den Bo den der Bühne berührte. Ghengi zerrte das Mädchen aus dem Korb und riß es herum, bis es der Menge gegenüberstand. »Nimm die Hände vom Gesicht! Dies ist die letzte Gelegenheit. Wenn du dein Gesicht nicht zeigst, wird kein Mann um dich kämpfen.« Ghengi wandte sich an die Zuschauer. »Jeder, der um das Leben dieses Mädchens gegen den Klob kämpfen will, soll es, so fern er siegt, zur Frau erhalten. Wohlan, ihr heißblü tigen Jünglinge. Gibt es Herausforderer?« Niemand rührte sich. »Was? Keine Mutigen? Ich kann es euch nicht verübeln. Aber ihr habt ihr Ge sicht noch nicht gesehen. Ihr glaubt gar nicht, wie hübsch sie ist.« »Zeig dein Gesicht!« grölten die Soldaten. »Zeig dein Gesicht!« Unter lautem Schreien und Johlen teilten sich die Hände des Mädchens langsam und gaben ein ge schminktes, ovales Gesicht frei, das von einer Kas kade weichen Haars umrahmt wurde. Nicht älter als Luka, war sie tatsächlich von jener erlesenen Schön 367
heit, die das Plakat angekündigt hatte. Irgend etwas an der Art, wie sie in die Sonne blinzelte und sich auf die Unterlippe biß, kam Luka bekannt vor. Sein Herz setzte für einen Augenblick aus. »Das ist Hali.« »Wer?« »Hali, das Waisenmädchen, das ich im Gefängnis kennengelernt habe. Nein, das darf nicht sein!« Die Gelassenheit, für die Luka den ganzen Morgen lang meditiert hatte, war mit einem Schlag dahin. Sein Herz flog ihr zu, während sich die Erinnerungen an das Todeslager in seinem Kopf überschlugen. »Mach bloß keine Dummheiten!« flüsterte Ma hong flehentlich. »Wir haben einen Plan. Erinnere dich bitte.« »Dann muß der Plan eben geändert werden«, erwi derte Luka, der das Mädchen unverwandt anschaute. Mahong stöhnte vor Verzweiflung und schüttelte fassungslos den Kopf. »Mir nach!« raunte Luka. »Wo willst du hin?« »Ans Ufer!« Die beiden duckten sich und krochen wie zwei Mäuse zwischen den Beinen der staunenden Menge hindurch. Am Flußufer angelangt, wateten sie ins Wasser und verbargen sich im wogenden Schilf. Durch die sichelförmigen Blätter hindurch sah Luka, wie der Klob Hau entgegenzüngelte und sich die Lippen leckte. Sie kreischte vor Angst, aber niemand wagte es, ihr zu Hilfe zu kommen. 368
Doch der widerwärtige Ghengi wollte noch ein wenig Spaß haben. Langsam zog er Hau die Klei dung aus. Zuerst den Nerzmantel, dann den Schal. Als Ghengi ihr die Jacke wegriß und darunter die dünne rote Bluse sichtbar wurde, wand sich das Un tier in ungehemmter Vorfreude. »Komm, hol sie dir, schöner Bräutigam!« rief Ghengi. Dann zog er dem Mädchen die roten Schuhe aus und warf sie dem Klob zu. Das Monster fing sie mit der rechten Vorderzange auf und nagte daran. »So helft mir doch!« flehte das Mädchen die star rende Menge an. »Was, du hast Angst vor dem Sterben? Solltest froh sein, kleine Waise. Du wirst die Kaiserin der Meere sein, zumindest für den kommenden Monat«, höhnte Ghengi. Er versuchte, sie auf den Nacken zu küssen, doch Hau schlug ihm geradewegs in das häß liche Gesicht. »Du undankbares Geschöpf! Ich habe dich gut ge füttert und sorgfältig herausgeputzt.« Ghengi riß ihr die Bluse vom Leib, bis sie im ärmellosen Unter hemd mit nackten Armen dastand. Ein Stöhnen ging durch die Menge, denn nach örtlicher Sitte war es Mädchen verboten, ihre bloßen Arme zu zeigen. Selbst die Hände mußten stets von langen Ärmeln bedeckt sein. Hau kauerte sich auf der Bühne zusammen und versuchte, ihre Arme zu bedecken. »Bitte beschämt mich nicht noch weiter!« »Dich nicht beschämen?« Mit diesen Worten 369
streifte er ihr den Träger des Hemdchens von der rechten Schulter. »Du hast meine Uniformfabrik nie dergebrannt. Viele unserer Soldaten sind während des kalten Winters erfroren. Du sollst für deine Sün den büßen!« Luka stieß Mahong in die Seite. »Hast du das ge hört? Sie ist eine Patriotin!« »Ja, laut und deutlich. Aber dennoch muß dir klar sein: Ohne Mädchen kein Glimmen des dritten Au ges, und ohne Glimmen des dritten Auges kein Mo ment der Verletzlichkeit. Zuerst muß das Untier das Mädchen verschlingen. Wenn du das nicht zuläßt, bekommst du kein Blut für Atami.« Luka war wie vor den Kopf gestoßen. »Wie kannst du das sagen? Ich muß zuerst das Mädchen retten, kapierst du das nicht?« »Und Atami willst du sterben lassen?« »Nein!« »Aber wie kannst du beides gleichzeitig schaffen?« »Weißt du noch, was Yi-shen uns gesagt hat?« »Du meinst, wenn das rote Auge nicht leuchtet, sollen wir die Rote Perle aus seinem Maul holen? Yi shen ist nicht zu trauen. Das klingt eher nach einer geschickten Methode, dich loszuwerden.« »Ich habe keine andere Wahl.« »Du bist ja verrückt! Der Klob wird erst das Mäd chen töten, dann dich, und Atami wird wegen deiner Torheit sterben.« »Torheit nennst du das? Ich nenne es Glauben. Erinnerst du dich an das erste Gebot des Xi-ling? 370
Vertrau deinem Kampfgefährten wie einem Bru der.« »Aber du hast keinen Bruder. Du weißt nicht, wie das ist. Außerdem will Yi-shen dich schon von An fang an umbringen.« »Aber dann habe ich ihm das Leben gerettet, seit dem ist alles anders. Und jetzt muß ich Hali retten. An meiner Stelle tätest du dasselbe.« »Nein, täte ich nicht.« »Doch, du tätest es. Du hast es ja schon einmal ge tan. Wer hat denn den weiten Weg zum Xi-lingKloster auf sich genommen, um Atami zu retten?« Mahong wußte, daß weitere Einwände zwecklos waren. »Na schön, wie kann ich dir nützlich sein, nachdem du beschlossen hast, in dein Unglück zu rennen?« Luka flüsterte Mahong etwas ins Ohr und deutete auf ein Bündel roter Kleidungsstücke, die auf das Ufer zutrieben. Daraufhin verschwand Mahong in die nämliche Richtung. Auf der Bühne spielte Ghengi mit Halis verbliebe nem Träger. Seine Stimme schallte über die Menge hinweg: »Jetzt wirst du sehen, wie ich meine Feinde belohne. Mit einem häßlichen, beschämenden, bluti gen Tod!« »Nimm deine dreckigen Pfoten weg, du Tier!« schrie Hau. Ihr Speichel, den er sich vom Gesicht wischte, schien Ghengi nicht zu erzürnen, wohl aber das Wort ›Tier‹. Er schlug sie so hart ins Ge sicht, daß sie dem Klob beinahe ins Maul gefallen 371
wäre. Innere Gelassenheit. Innere Gelassenheit, predigte sich Luka immer wieder und versuchte sich zu sam meln. Die acht Mogo-Soldaten auf der Bühne eilten zum Gefängnis zurück und zogen die Zugbrücke hoch. Dann machte sich Ghengi wie ein Bergadler zum Abflug bereit und schwang sich zur Spitze des Wachturms hinauf. Sein Mantel flatterte hinter ihm her wie zwei breite Schwingen. Hau stand nun, ganz vom Wasser umgeben, dem Klob allein gegenüber. Das Untier glitt auf sie zu. Die Kuh und die drei Schweine hatten es offenbar nicht annähernd gesät tigt, denn in seinen irren Augen glomm der Blut rausch. Ohne Warnung schlug es mit der Zange gegen die Bühne und verfehlte Hau nur knapp. Das Mädchen taumelte rückwärts bis ans Ende der hölzernen Platt form. Beim Anblick ihrer Verletzlichkeit beruhigte sich das Monster ein wenig. Während es Hau mit seinen Zangen zu sich hertrieb, setzte es ein Lächeln auf, ein Zerrbild echter Freundlichkeit. Dann verschwand das Lächeln, und das mittlere Auge begann rosa zu leuchten. Jetzt ist es soweit. Gleich wird er sie ver schlingen, dachte Luka. »Hier!« Mahongs Stimme riß Luka aus seinen Ge danken. Er kam mit den triefnassen roten Kleidungs stücken durch das dichte Schilf gekrault. 372
»Gerade noch rechtzeitig.« Luka streifte sich eine Jacke über die Kutte; er war sich nicht sicher, wie Mädchen ihre Kleidung trugen. Mahong war genauso unerfahren und knotete ihm die Enden des Saums um die Mitte. Jetzt sah Luka aus wie ein zweigeschlecht liches Fabelwesen. »In diesem Aufzug lenkst du nicht mal die Auf merksamkeit einer Kuh auf dich«, kommentierte Mahong, der sich eine andere Jacke um die Hüften schlang. Luka beachtete ihn gar nicht, denn die rechte Zange des Klob näherte sich Hau von hinten. Er mußte han deln. »Los, gehen wir!« Luka verdichtete sein qi und schoß hinauf zur schwindelnden Höhe der Turmspitze. Bewegungsund schwerelos verharrte er in der Luft, bis der rich tige Augenblick gekommen war. Mahong folgte mit verrutschter Kutte wie ein fliegender Mönchsfisch. Sie kreuzten durch Ghengis Blickfeld wie Vögel durch Baumwipfel. Als der Klob ihnen den häßlichen Kopf entgegen hob, ließ Luka sich wie ein Taucher in die Tiefe glei ten, den Eisenarm vorgestreckt, die Stahlfinger zu Fäusten geballt. Mit der Wucht seines Körperge wichts und der Kraft des yin-gong sauste er dahin. Von weitem sah er aus wie ein metallener Anker, der schlingernd den Grund des Ozeans auslotet. Er zielte auf die flache Nase des Klob, genau dorthin, wo Ghengi gesessen hatte. Aber das war nicht einfach. 373
Der Klob versuchte, ihm auf der glitschigen Platt form auszuweichen, doch Luka war gewandt und beweglich. Er folgte jeder Bewegung des Klob mit seinem qi, bis das verwirrte Untier seinen Ausweg im Wasser suchte. Luka aber ließ ihn nicht davon schwimmen. Seine Arme öffneten und schlossen sich wie eine Schere vor der Nase des Monsters. Mahong hatte sich an dessen linkem Ohr festgeklammert und baumelte an dem schleimigen Ohrläppchen. Die Nase des Klob war nicht nur flach, sondern auch glitschig, und Luka versuchte, sie fest in seinen Scherengriff zu bekommen. Dann rutschte er über das Gesicht des Monsters bis hinunter zur Oberlippe, wobei seine Beine vor dem riesigen Maul baumelten. Das war weniger gut. Nur ein Stückchen noch, und er wäre die nächste Vorspeise für den Klob gewesen. Nur dessen unregelmäßig sprießende Barthaare rette ten ihn. Er packte das dünnste von allen und schwang daran im Kreis herum. Die Menge unten war starr vor Staunen, am allermeisten aber Ghengi, der von seinem Sitz auf der Turmspitze aufsprang und die beiden Jungen anstarrte. Seine Soldaten waren gerade dabei, die Zugbrücke herunterzulassen, um sie zu ergreifen, als Ghengi sie zurückrief. Er hatte andere Pläne. Luka und Mahong baumelten noch immer an dem Klob, der sie loszuwerden suchte. Während das Un tier heftig mit dem Kopf schüttelte, entdeckte Luka Hali, die sich an einer Holzplanke der Bühne fest krallte. Ihre Kleider waren naß, und mit großen Au 374
gen beobachtete sie den Fortgang des Dramas; ihre eigene Gefährdung schien vergessen. Der Klob, der die beiden winzigen Quälgeister nicht loswerden konnte, bearbeitete seinen Kopf mit den Hummerzangen. Aber Luka und Mahong wichen den Angriffen geschickt aus, und das Tier wurde immer wütender. Und genau das beabsichtigte Luka. Die Zeit war gekommen. Luka gab das Signal, und Mahong sprang vom Ohrläppchen des Monsters weg und auf Hau zu. Das untätige dritte Auge des Klob erstarrte beim Anblick des Jungen. Dann packte er das Mädchen mit seiner Zange, noch bevor Mahong es erreicht hatte. »Hilfe! Hilfe!« schrie Hau verzweifelt, als sich die Scheren in das zarte Fleisch ihrer Hüfte bohrten. Sie versuchte, die Zange mit den Händen zu öffnen, doch sie schnitt sich an den scharfen Kanten bloß die Fin ger blutig. Je heftiger sie sich wehrte, desto höher hob der Klob sie in die Luft wie eine Trophäe. Luka folgte Mahong und landete sicher auf der Bühne, unmittelbar vor dem Untier. Die beiden Jun gen reichten ihm gerade bis zu den Nasenlöchern. »Hali! Ich bin’s, Luka!« rief er und fuchtelte mit den Armen. Da erregte Lukas rote Mädchenkleidung die Auf merksamkeit des Klob. »Luka?« stammelte Hali ungläubig. »Der Junge aus der Todeszelle?« »Hali, ich bin hier, um dich zu retten!« brüllte Luka 375
Hali zu, die wie ein dünnes Zweiglein in der Zange des Monsters hing. Doch Luka ließ sich nicht ab schrecken vom gewaltigen Umfang des Tiers. Auch wer klein war, konnte kämpfen; klein wie ein Floh im Elefantenohr, klein wie eine Nadel auf dem Mee resgrund. »Bleib ruhig, Hali! Wir werden die Zange für dich gleich öffnen.« »Die Bestie wird euch töten!« »Nein, gemeinsam schaffen wir es.« Während Luka sich weit in die Luft schwang und so der Reichweite des Monsters entkam, kletterte Mahong auf dessen Kopf und wedelte ihm mit einem der roten Klei dungsstücke vor der Nase herum. »Fang mich doch, du ekliges Vieh. Versuch’s nur!« spottete Mahong. Doch der Klob schloß seine Zange nur noch fester um Halis Körper. »Der Plan ist mißlungen, Mahong. Versuchen wir, die Zange zu öffnen!« rief Luka seinem Freund zu und setzte den Fuß auf die untere Schere, während er mit den Armen an der oberen zog. Aber wieviel yingong-KRAFT er auch herbeschwor, die Zange be wegte sich nicht. Halis Schreie wurden immer schwächer. »Halt durch, Hali!« brüllte Luka. »Beeilt euch … bitte!« keuchte sie. »Achtung! Hinter dir!« hörte Luka Mahongs Stimme vom Kopf des Monsters herüber, doch es war zu spät. Der Klob hatte Luka mit der zweiten 376
Zange an der Hüfte gepackt und riß ihn von Hali weg. Luka konzentrierte sich darauf, sein qi im Bauch zu sammeln, dort wo die Scheren ihn in ihrer Umklammerung festhielten, doch er besaß kaum ge nug Kraft, ihrem enormen Druck standzuhalten. »Jetzt wird er uns beide fressen!« jammerte Hali. »Keine Sorge. Das soll er ruhig tun, dann kann ich ihn von innen bekämpfen.« »Aber wie …« Bevor sie ihren Satz beenden konnte, hob der Klob siegesgewiß beide Zangen mit seinen Opfern in die Luft. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Je lauter die Leute schrien, desto heftiger wedelte der Klob mit der Beute. Als das Durchschütteln endlich aufhörte, war Luka völlig wirr im Kopf, und Hali mußte sich übergeben. Doch damit war die Sache längst nicht ausgestanden. Der Klob tauchte Hali und ihn ins Wasser wie Fleischbällchen in Sojasoße – hinein und heraus, hin auf und hinunter. Hali hustete Wasser aus Nase und Mund, und ihr Körper zog sich vor Angst zusammen. Auf Luka jedoch wirkte das kalte Wasser belebend, es befreite ihn von seinem Schwindelgefühl. Die Rote Perle im Maul des Klob war Lukas letzte Hoffnung, und er konnte nur an diese Blutperle ge langen, wenn er sich von dem Monster verspeisen ließ. Wie das Sprichwort sagt: Wer dem Tiger einen Zahn stehlen will, muß in seinen geöffneten Rachen blicken. Unterdessen hatte Ghengi die Vorgänge mit dem Stolz eines Vaters verfolgt, doch nun reichte es ihm. 377
Mittag war bereits vorüber, und es wurde Zeit für das Finale. »Friß sie!« rief er von seinem Söller herab, und verlieh seinem Befehl Nachdruck, indem er ei nen scharfkantigen Stern auf den Kopf des Klob warf. Das Untier hielt mit dem Eintauchen inne und rollte die trüben Augen zu seinem Herrn hinauf. Als sein riesiges Maul sich langsam öffnete, konnte Luka einen Blick hineinwerfen. Er entdeckte eine grüne Grotte – grüne Zähne, grüne Zunge, grünes Zahn fleisch, alles grün. Eine rote Perle sah er nicht. Hat man mich in die Irre geführt? Hat Yi-shen mich angelogen, damit ich sterbe? In Lukas Kopf schwirrten die Gedanken umher, während die Zangen dem Maul immer näher kamen. Doch ihm blieb keine Zeit mehr für Zweifel. Was er jetzt brauchte, war Glaube, und nur der Glaube blieb ihm. Mit diesem Glauben senkte sich auch die nötige Gelassenheit in seine Seele. Wieder hörte er Yi-shens Abschiedsworte: »Du hast mir das Leben gerettet. Jetzt bin ich hier, um euch beide zu retten.« Er war nur noch eine Handbreit von der grünen Grotte entfernt, als der Griff der Zange sich lockerte. Nun komm schon, Klob! Öffne das Maul noch wei ter! flehte er im stillen. Und das Monster gehorchte. Es dehnte die Kiefer, so weit es möglich war, und ließ ein schreckliches Knurren hören. In dem Augen blick sah Luka die Rote Perle an der Zungenwurzel aufleuchten. Sie erfüllte die ganze Mundhöhle mit ihrem roten Schimmer. Luka schleuderte seinen Dolch, und der pfeilte mit 378
dem ihm eigenen blauen Licht geradewegs auf sein Ziel zu. Mit einem Plopp durchstieß er die Perle, und während der rote Schimmer verglühte, würgte der Klob, als hätte er sich an einer Gräte verschluckt. Der Dolch tat wie ihm geheißen und bohrte und kreiselte nach dem Blut, das sein Herr und Meister brauchte. Doch plötzlich verharrte er, und der Kiefer des Klob klappte zu wie eine Kerkertür. Hali und Luka saßen in einem Dunkel, das nur vom blauen Schein des rei nen yin-gong erleuchtet wurde. »Jetzt müssen wir sterben!« murmelte Hali, die sich zu Lukas Füßen zusammengekauert hatte. Doch der drohende Tod schreckte Luka nicht; er dachte vielmehr an das Blut, das er nun nicht bekäme. »Beruhige dich, Hali! Wir werden diesen Ort verlas sen, sobald ich meine Flasche mit Blut gefüllt habe.« »Wie kannst du so gelassen bleiben? Ich bekomme nicht einmal Luft.« »Halt dich an meiner Hand fest und bedenke, daß der Tod sich vor dem Leben fürchtet. Wir werden Sieger bleiben«, beteuerte Luka. Dann gab er seinem Dolch den Befehl weiterzubohren. Der drehte sich mit neuer Energie und drang tief ins Innere der Perle vor. Es herrschte tiefe Stille, schließlich war ein lei ses Gurgeln zu vernehmen. »Hörst du das?« schrie Luka. »Dieses Gurgeln?« »Ja, das Gurgeln!« wiederholte Luka in höchster Verzückung. Ein Schwall dickflüssigen Blutes strömte aus dem 379
Hals des Klob. Es brandete wie das Rote Meer heran und spülte Luka und Hali aus dem Maul hinaus auf die Bühne. Luka war völlig von dem Blut bedeckt; Zunge und Rachen hatten einen fischigen Ge schmack, der bis in den Magen hinunter brannte. Ich habe das Blut des Klob getrunken, dachte Luka, wäh rend er spuckte und hustete. Hauptsache, die Flasche in seiner Hand war voll, alles andere war ihm einerlei. Ich habe es geschafft, jubelte er innerlich. Jetzt kann Atami gerettet werden. »Luka, das war großartig!« rief Mahong von der Stirn des Klob herunter. Der Kopf des Untiers ruhte auf der Kante der Plattform, sein Schwanz hing schlapp im Wasser, alle drei Augen waren geschlossen und wirkten völ lig leblos. Das war mein Dolch, dachte Luka. Er hat es wie der einmal geschafft. »Wo ist Hali?« Luka wischte sich die ekligen Blutstropfen vom Gesicht und sah sich nach ihr um. In einer Ecke rappelte sie sich langsam hoch und kam auf ihn zu; sie war so gänzlich von dem roten Zeug bedeckt, daß Luka sie kaum erkannte. »Bist du unverletzt, Luka?« Sie packte ihn fest am Arm. »Ja, und du?« Hali nickte nur. »Wir haben, was wir brauchen. Laß uns ver schwinden«, sagte Mahong. »Mein Dolch!« Luka griff nach der leeren Scheide. 380
Es wunderte ihn, daß die Waffe auf seinen Ruf hin nicht zurückgekommen war. »Er muß im Maul des Klob eingeschlossen sein.« »Dann müssen wir es öffnen.« Mahong stapfte zu dem Untier hinüber und versuchte es zu wecken, während Luka an seinem Oberkiefer zerrte, doch der war jetzt, da der Klob kaum noch atmete, noch schwerer als zuvor. »Wir müssen weg von hier!« rief Mahong. »Nicht ohne meinen Dolch.« »Da kommt Ghengi.« »Es ist unmöglich!« »Ich helfe dir«, sagte Hali. Als sie zu Luka hin überkroch, fing das Auge des Klob das Blitzen von etwas Rotem auf. Das weckte ihn aus seiner Erstar rung. »Hast du gesehen? Er hat die Augen für mich ge öffnet«, sagte Hali. »Vielleicht öffnet er das Maul, wenn ich für ihn tanze.« »Nein!« Luka wollte sie zurückhalten, doch sie fuchtelte bereits heftig mit den Armen vor den ver schlafenen Augen des Untiers herum. »Klob, öffne dein Maul! Ich gehöre dir!« rief sie. Der Klob bewegte stöhnend den Oberkiefer, konnte das Maul jedoch nicht öffnen. Aber er gab nicht auf. Halis Anblick hatte ihn tief berührt. Nach einigen Mühen gelang es ihm, sein Maul einen Spaltbreit zu öffnen. Das war alles, was der Dolch brauchte. Er flog in Lukas Hand. »Ich habe ihn!« rief Luka Mahong zu. 381
»Und jetzt wirf die Flasche!« brüllte Mahong. Er schwamm davon, so schnell er konnte, Hali unter den rechten Arm gezwängt. Der Klob blieb mit verständ nislos blinzelnden Augen zurück. Während sein Freund in die Freiheit schwamm, blickte Luka zu dem Jungen hinüber, der rittlings auf der Gefängnismauer saß. Es war Mahing, und er war wie abgemacht auf seinem Posten. Luka warf die Flasche mit der gesammelten Kraft seines yin-gong in Richtung des Wassergefängnisses. Lukas Herz hüpfte vor Freude wie seit langem nicht mehr. Seine Mission war erfüllt. Atami würde gerettet werden, und Mahong und Hali waren in Si cherheit. Doch als er selbst gerade in die Wellen tau chen und hinter seinen Freunden herschwimmen wollte, sah er, wie Ghengis Fledermausschatten auf die Flasche zuflog. Bevor Luka das kostbare Behält nis zurückrufen konnte, hatte es der Bösewicht er griffen und kehrte mit flatterndem Umhang zur Erde zurück. Er landete unmittelbar vor Luka und stand erstmals Auge in Auge mit seinem Sohn. Luka wich nicht. »Gib mir die Flasche, oder ich trenne dir den linken Arm auf die gleiche Weise ab, wie es mein Lehrer mit dem rechten getan hat.« »Wohl kaum.« Ghengi stieß ein düsteres Lachen aus. »Umhang, entferne dich!« befahl er. Darauf rin gelten die Bänder des Umhangs sich wie Regenwür mer. Sie knoteten sich selbsttätig auf, lösten sich von seinem Hals, und der Umhang flog wie eine Fleder maus zum Turm hinauf. In diesem Moment wurde 382
eine grüne Hummerzange sichtbar – eine kleine Aus gabe der des Klob –, die aus dem Stumpf an Ghengis Schulter herauswuchs. »Das nennst du armlos?« Er fuchtelte mit der Zange in der Luft herum. »Du bist tatsächlich eine bösartige Bestie.« »Und ich bin glücklich dabei.« Ghengi lachte. »Ich hasse dich.« »Das wird nicht mehr lange der Fall sein. Du und Atami, ihr werdet noch heute sterben. Dann bin ich, Ulanbaat Ghengi, unbesiegbar!« Seine Zange schnappte nach Luka. »Dies alles war nur für dich inszeniert, Heiliger Knabe. Kann das Blut des Klob Atamis Wunden wirklich heilen? Ja, es kann ihn hei len. Aber wird er es je bekommen? Nein, er wird es nicht bekommen.« Damit schwenkte er die Flasche. »Du magst dich fragen, warum gerade du sterben mußt. Die Antwort ist einfach. Ich will deinen Tod, weil du ein Fluch für alle bist, mit denen du in Be rührung kommst. Deine Muttermale sind die Dolche deines Schicksals. Und ihr erstes Opfer war deine Mutter. Atami wird als nächster folgen …« »Und dann du? Trachtest du mir deshalb nach dem Leben? Ist das der Grund, warum du mich töten wolltest, kaum daß ich geboren war?« »Nein, nein, viel früher schon. Ich wollte dich tö ten, sobald Zumas Leib die erste Wölbung zeigte. Ich wollte dein Leben beenden, noch bevor es richtig begonnen hatte. Die Steppenhexe hat recht gehabt. Ich hätte dich längst aus der Welt schaffen sollen. Aber heute wird es endlich soweit sein, denn deine 383
Mutter hat dir die schwächste aller menschlichen Ei genschaften mitgegeben – die Güte des Herzens. Dieses Geschenk deiner Mutter wird dein Schlüssel zum Totenreich sein.« Luka trat zwei Schritte zurück und nahm die Tiger haltung ein, den Blick fest auf Ghengis Zange ge richtet. »Erinnerst du dich an den Dolch, der dir den Arm abtrennte?« Luka ließ den Dolch zum Ansatz der Zange sausen. Der prallte mit metallischem Klir ren von der Schulter ab und umkreiste sie dann wie eine Libelle, die keinen Landeplatz findet. Mehrmals versuchte er, sich in die Zange hineinzubohren, doch die glänzende Klinge glitt immer wieder ab. Ghengi brach in boshaftes Gelächter aus. »Meine ansatzlose Zange. Ich danke dir dafür, mein Klob. Das war dein Werk. Allein dein Werk!« brüllte er. »Du hast die Macht des Xi-ling gebrochen.« Das Leuchten des Dolchs verblaßte, ziellos surrte er durch die Luft. Diese Ermattung verunsicherte Luka, und er rief den Dolch in die Scheide zurück. »Dann kämpfe ich mit bloßen Händen gegen dich.« »Und ich kämpfe mit bloßer Zange. Komm nur und hol dir die Flasche, wenn du dich traust!« Lukas Blick konzentrierte sich ganz auf die Fla sche in Ghengis Hand. Das war eine Xi-lingTechnik, die sich ›Kleinmachen‹ nannte. Man konnte damit selbst den stärksten Gegner auf den Punkt sei ner Schwäche reduzieren. Ghengis häßliches Gesicht trat, wie auch die ge samte Umgebung, in den Hintergrund. Vor Lukas 384
innerem Auge leuchtete die rote Flasche. Und in der Kammer seines Herzens begehrte er nichts anderes, als nach ihr zu greifen und diese letzte Rettung für den sterbenden Meister in seinen Besitz zu bringen. Dann überflutete ihn jene kostbare Wärme, die sich wie ein Prickeln von den Zehen und Fersen über den ganzen Körper ausbreitete. Langsam verstärkte sich das Silberlicht des yin-gong-qi zu einer Flamme, die sich vom Bauch über die Brust bis in die Arme ausdehnte. Schließlich strömte das magische Licht bis in die Fingerspitzen, und der ganze Körper wurde leicht wie eine Feder. Luka schnellte in die Höhe und geradewegs auf sein Ziel zu: die Flasche in Ghengis Hand. Zu Lukas Überraschung öffnete Ghengi den Mund und blies ihm eine Wolke kalter Luft entgegen, die ihm die Sicht nahm. Die leuchtendrote Flasche ver schwand in der plötzlich hereinbrechenden Dunkel heit. Luka stieß mit den Fingerspitzen gegen diese unsichtbare Kraft, doch die Mauer wich nicht. Ich bin yin-gong, die Quelle alles Guten, und du, die Dunkelheit, bist der Ursprung allen Übels, sagte Luka vor sich hin. Sein Glaube an die höhere Macht des yin war unbeirrbar, besonders in diesem Mo ment. Er ließ innerlich los und richtete seine ganze Energie auf den Angriff gegen den Feind. Doch Ghengis Kraft stand wie ein Fels; sie nahm nichts auf, sondern lenkte alles zurück. Ich bin der Mond, der die Dunkelheit der Nacht er leuchtet, und du bist der Schatten, der meinen Atem 385
flieht, rezitierte er. Sein Glaube trieb ihn vorwärts, und er stieß gegen die Brust des Bösewichts. Doch weder stürzte Ghengi, wie Luka gehofft hatte, noch strauchelte er. Statt dessen riß er sich das Hemd vom Leib und entblößte eine Brust, die ganz mit den schimmernden harten Schuppen des Klob bedeckt war. Der Mann hatte sich in ein leibhaftiges Ungeheuer verwandelt! Luka hätte sich bei diesem Anblick fast übergeben. Aber irgendwo muß auch dieses Monster eine Schwachstelle haben, sagte er sich. Die Men schen panzern ihre Vorderseite, aber selten ihren Rü cken, dachte er, während er zwischen Ghengis Bei nen hindurchschlüpfte, um dessen ungeschützten Rü cken anzugreifen. Doch auch der Rücken war mit einer Rüstung aus grünen Schuppen bedeckt, an der Lukas Dolch abglitt. Warum scheitere ich im Angesicht des Übels? klagte Luka. Und wie schafft er es, mein yin-gong zu bezwingen? Dann aber sah er hinter Ghengis Schul tern eine noch größere Bedrohung auftauchen. Der Klob hatte sich erhoben und kam auf sie zu; seine Augen leuchteten vor neuem Tatendrang, und sein zorniger Blick war auf die Flasche in Ghengis erho bener Hand gerichtet. »War auch Zeit, daß du wach wurdest, mein heili ges Wesen. Du kannst ihn haben, jetzt, da er dir dei ne Braut genommen hat«, sagte Ghengi, der die Be wegung hinter sich spürte. Doch der Klob schenkte Luka keinerlei Aufmerk 386
samkeit. Alle drei Augen starrten auf die Flasche. »Was glotzt du dein eigenes Blut an?« rief Ghengi ihm zu. »Bist du nicht hungrig? Hast du keine Wut auf ihn?« Als Ghengi das Monster mit seiner Zange anstieß, flammte der Zorn in dessen Augen auf, und es öffnete sein Maul. Dann packte es den Mogo und schüttelte ihn. »Zum Spielen ist jetzt keine Zeit, Klob!« rief Ghengi, doch der Klob schüttelte ihn nur um so hef tiger. »Laß mich hinunter, sonst füttere ich dich nie wieder!« Aber das Untier achtete nicht auf seinen Herrn und Meister. Sein mittleres Auge färbte sich zum zweiten Mal rot, und sein Maul öffnete sich weit. Ghengi kreischte. »Was willst du von mir?« Doch es war, als brülle er eine Steinmauer an. »Hilfe! Hilfe!« Keiner der Soldaten wagte sich vor. Einige zogen sich sogar noch näher zum Turm zurück. Die Menge verließ flüchtend das Flußufer, als hätte sich ein Un glück auf sie herabgesenkt. Luka stand da und traute seinen Augen nicht. Aus der Menge rief man ihm zu, er solle flüchten, doch Luka dachte nur an Atami, der in seiner Zelle im Sterben lag. Ohne die Flasche würde er nicht von hier weichen. Luka richtete sich auf und schrie Ghengi ins Gesicht: »Sieht nicht so aus, als ob deine Leute dir noch zu Hilfe kämen.« »Hilfe! Hilfe!« brüllte Ghengi. Luka schüttelte nur den Kopf. »Gib mir die Fla sche, dann rette ich dich.« 387
»Wie willst du mich retten?« »Ich werde noch einmal in die Rote Perle ste chen.« »Du versuchst mich zu täuschen.« »Du hast die Wahl.« Inzwischen hatte der Klob das Maul aufgerissen, so weit es nur möglich war, und die Rote Perle leuchtete erneut. »Nun gut. Hier hast du sie.« Ghengi warf Luka in äußerster Verzweiflung die Flasche zu. »Jetzt schick deinen Dolch los!« Doch Luka beachtete ihn nicht und wandte sich zu Mahing um, der auf der höchsten Mauer des Wassergefängnisses saß. »Bist du bereit?« rief Luka ihm zu. »Ja«, antwortete Mahing. Luka wollte gerade die Hand zum Wurf erheben, als ein plötzliches Schwindelgefühl ihn packte. In seinem Kopf wirbelten Windmühlenflügel umher, und die Welt verdunkelte sich, als bräche die Nacht herein. Er vernahm Mahings Ruf: »Wirf die Flasche herüber!« Doch er fand nicht die Kraft, die Hand zu heben. Er sah, wie die gigantische Zange des Klob sich öffnete und Ghengi fallen ließ, doch er konnte nicht das nötige qi aufbringen, um seinen Körper zu bewegen. Was geschieht mit mir? fragte er sich. Sterbe ich? Hat das Blut des Klob mich vergiftet, oder hat mein Schicksal den Fluch entfesselt, der al les beendet? Mahing brüllte aus Leibeskräften: »Wirf die Fla sche! Atami stirbt!« 388
»Atami!« Kaum war der Name über seine ausge dörrten Lippen gekommen, da erinnerte er sich plötz lich wieder: das Blut. Atami, ja, Atami. Ich muß die Flasche werfen. Flach auf dem Rücken liegend, sammelte er seine letzten Kräfte und schleuderte die kleine Flasche nach Osten, wo er Mahing zuletzt gesehen hatte. Sein letzter Wunsch galt dem Mann, der ihm der liebste Mensch gewesen war. Alles weitere lag nun nicht mehr in seiner Hand. Sein Wunsch ging in Erfüllung, sein Herz war ruhig. Er hörte nicht das wütende Grollen des erbosten Klob, der das eigene Blut unter seiner Nase vorbeifliegen sah, bemerkte nicht, wie dieser seinen gigantischen Kiefer öffnete, um ihn endgültig zu verschlingen. Schließlich schloß sich das Maul um ihn, das Tageslicht verschwand, die Luft wurde knapp. Inmitten dieser Finsternis wußte Luka, daß sein Ende bevorstand. Bitte, yin-gong, bitte, mein teurer Dolch! flehte Luka in Gedanken, doch der blaue Schimmer war nirgends zu entdecken. Noch einmal rief er den Dolch zu sich; die Waffe war seine einzige Hoffnung in all der Hoffnungslosigkeit. Und diesmal durch schnitt blaues Licht die Finsternis wie ein Sonnen strahl. Das Herz hüpfte ihm vor Freude bei dem An blick, doch er bekam kaum noch Luft, und bald würde alles ein Ende haben. Der Dolch schwirrte erwar tungsvoll um ihn herum, aber wohin sollte er ihn lenken? Dann, in einer Nische seiner Seele, erinnerte sich 389
Luka, was Gulan einst im silbernen Mondlicht seiner Zelle zu ihm gesagt hatte: Dein Wunsch ist sein Be fehl. Gleichgültig, was es ist, du mußt es nur denken! Was könnte ich wünschen, was nie zuvor ge wünscht wurde? überlegte Luka. Was könnte der Dolch tun, außer, beschämt angesichts der eigenen Machtlosigkeit, seinen Herrn zu umkreisen? Und dann, im verzweiflungsvollsten aller Wünsche, murmelte Luka das Wort: »Wachse!« Ja, das war es! »Wachsen sollst du und diesen Kiefer öffnen, damit wir beide wieder Sonnenlicht sehen und unsere See len nicht auf immer hier gefangen sind.« Und der Dolch umkreiste ihn, er wuchs, unmittel bar unter Lukas Augen. Bald war er ein langer Speer, der heftig gegen den Kiefer des Untiers stieß. Der Klob brüllte vor Schmerz, versuchte aber, das Maul geschlossen zu halten. Der Dolch wuchs und wuchs und bog sich bis zum Bersten. Doch dann wurde er wieder gerade und brach durch den Schädel des Un tiers. Betäubt und kraftlos stürzte Luka aus dem auf springenden Maul ins trübe Wasser. Der Klob stieß ein wütendes Knurren aus, denn der beseelte Dolch hatte sich geradewegs durch sein drittes Auge gebohrt und ragte nun aus dessen Höhle wie ein Horn. Der Schmerz verstärkte die Rachlust des Ungeheuers und machte es nur noch angriffslus tiger. Es tauchte nach Luka und fischte dessen leblo sen Körper aus dem Wasser. Doch bevor es sich den Knaben wieder ins Maul stopfen konnte, zuckten zwei Lichtstreifen wie Blitze über den Himmel. Der 390
eine ging von den Händen eines einsamen Mönchs aus, der im Norden in einer Baumkrone saß, der an dere fuhr im Zickzack aus der tiefsten Zelle des Was sergefängnisses. Der Klob starrte die sonderbaren Lichter an, die um seinen Kopf herum ihren Paa rungstanz aufführten und etwas zu suchen schienen. Schließlich fanden sie es. Die Spitze des steckenge bliebenen Dolchs. Mit einem Donner, laut wie ein Sommergewitter, fuhren die Enden der beiden Licht streifen auf die Stirn des Klob nieder und vereinigten sich in einer Explosion aus Funken und einer Fanfare des Lichts. Die Bestie erzitterte vom Kopf bis zum Schwanz und stand in Flammen. Wie ein feuerspei ender Drache bäumte sie sich auf, bevor sie in sich zusammenfiel und Luka mit in die Tiefe riß.
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Als Luka Tage später erwachte, glaubte er zu träumen. Er befand sich in einem großen Bett, das in einem Pavillon auf einem Hügel über dem Xi-ling-Fluß stand. Ein Dutzend Räucherstäbchen glommen um sein Bett und erfüllte die Luft mit den Düften seiner Kindheit. Warum wurde er von diesem Zaun aus brennenden Räucherstäbchen bewacht? So etwas zelebrierte man doch nur für die Toten. Er stieg aus dem Bett und fühlte sich sonderbar leichtfüßig und voller Freude. Ich bin nicht tot! Ich lebe, dachte er. Und um sich das zu beweisen, hüpfte er auf dem Bett herum und schwang sich zum Ast eines nahen Baums. Der Wind war lau und die Luft frisch. Alles fühlte sich genau richtig an, so als wäre er eben aus tiefem, erholsamem Schlaf erwacht. Was ist mit mir geschehen? fragte er sich. Warum bin ich hier und nicht bei den anderen im Tempel? Grübelnd kratzte er sich am Kopf, als zwei Jungen aus den Baumwipfeln auf sein Bett sprangen. Es wa ren Mahong und Mahing in der Tracht der Xi-lingBruderschaft. Sie klopften ihn von Kopf bis Fuß ab. 392
»Der Heilige Knabe ist aufgewacht!« schrie Mahong. »Kommt alle ihn anschauen!« Damit verscheuchte er sämtliche Vögel im nahen Wäldchen, und Luka hielt sich vor Schreck die Ohren zu. »Was brüllst du so? Mir platzt gleich das Trom melfell«, sagte Luka. »Erinnerst du dich denn nicht?« fragte Mahing und rieb fürsorglich Lukas Schläfe. »Woran soll ich mich erinnern?« fragte Luka. »Denk lieber noch nicht so heftig nach. Warte hier«, befahl Mahong und stieß seinen Bruder an. »Wir müssen den Tempel in Kenntnis setzen. Los, komm!« Die beiden machten sich auf den Weg, aber Ma hong wandte sich noch einmal um. »Und laß dir nicht einfallen, wieder einzuschlafen, hörst du?« »Ich denke nicht daran«, erwiderte Luka und klet terte zurück auf seinen Ast. »Hast du gehört? Er denkt!« Dann gab er seinem Bruder einen Knuff, und sie rannten freudestrahlend den Hang hinunter, um Lukas Freunde zu holen. Kurz darauf kamen sie alle aus dem Tempel ange rannt. Voran Gulan, groß und dünn wie ein blattloser Baum, gefolgt von Meister Kun. Dann kamen die Shen-Brüder mit ihren Melonenköpfen, die wie im mer voller Schrammen waren. Huhu hatte seine Tragstange mit den Wassereimern dabei, Didi hielt die Flöte in der Hand, und an Cocos Gürtel klapper ten die Schöpfkellen. Jeder schien alles stehen- und liegengelassen zu haben. 393
»Hab ich euch nicht gesagt, daß er lebt?« Mahong deutete auf Luka. »Er sitzt da oben im Baum. Glaubt ihr mir jetzt endlich?« Luka sprang herab, und augenblicklich fiel die Menge auf die Knie. Das verunsicherte ihn, und er rief den Leuten zu: »Was ist los? Ich bin nicht tot. Mir geht’s großartig!« Um dies zu beweisen, trommelte er sich auf die Brust und holte tief Luft. »Kommt alle her, Huhu, Didi, Coco, worauf wartet ihr?« Die Jungen sprangen auf die Beine und rannten und hüpften auf Luka zu, als wäre ein Damm gebro chen. Ihre Schritte rauschten wie ein Bergbach. »Heiliger Knabe, Heiliger Knabe!« »Jungmeister!« Alle stürzten sich auf Luka. Huhu, Didi und Coco verwickelten ihn sofort in eine Rauferei und erstick ten ihn beinahe, aber er war viel zu glücklich, um sich zu beklagen. Schließlich schob Gulan die Jungen beiseite, wobei er aus Versehen ein Räuchergefäß umwarf. »Du hast dich wieder erholt, Heiliger Knabe«, sagte er voller Erstaunen. »Was ist eigentlich geschehen, Großmeister?« »Du warst für sechs Tage in tiefem Schlaf versun ken. Wir dachten, du würdest nie mehr erwachen.« »Wirklich?« »Der Klob hätte dich beinahe getötet.« Er hob Lu kas Kutte hoch und zeigte ihm rot geschwollene Kratzspuren. »Der Klob! Jetzt erinnere ich mich! Wer hat mich gerettet?« 394
Gulan deutete auf den unten vorbeifließenden Fluß. »Sie waren es.« Lukas Blick folgte Gulans Finger, und er sah die zwei Snagons aus dem Wasser aufsteigen und ihre Köpfe vor ihm beugen. »Mumu und Paopao?« Luka erwiderte den Gruß der Snagons. »Ja, sie haben mich durch den Erdherztunnel bis nach Peking gebracht, damit ich dir rechtzeitig zu Hilfe kommen konnte. Sie waren es auch, die dich aus dem Fluß gezogen haben. Dann konnten sich yin gong und jin-gong mit Hilfe deines kleinen Freundes mitten auf der Stirn des Klob vermählen.« »Mein Freund?« »Ja, dein Dolch, erinnerst du dich?« »Ach, mein Dolch. Wo ist er?« Luka klopfte sich an die Hüfte, fand aber nur die leere Scheide. »Er steckt noch immer im Schädel des Klob. Als du ihm zu wachsen befahlst, hat er gehorcht, aber damit seine Macht verloren. Als Dolch hätte er durch das dritte Auge des Klob entkommen können. Als Riesenspeer mußte er seine letzte Energie opfern, um yin-gong und jin-gong zusammenzubringen.« »Habt Ihr den Klob dann getötet?« »Nein, wir haben ihn gezähmt.« »Warum habt Ihr ihn nicht umgebracht?« »Weil selbst die übelste Kreatur eine Gelegenheit zur Reue bekommen muß.« Luka runzelte zweifelnd die Stirn. »Eines Tages wirst du das verstehen. Der Klob 395
wird so schnell nicht an die Küste zurückkehren. Leider ist er mit deinem Dolch im Schädel davonge schwommen.« »Wie kann ich dann je wieder meinen Dolch zu rückbekommen?« »Eines Tages werden wir den Klob finden.« »Oh, Meister Kun und Großmeister Gulan, es tut mir so leid, daß ich diesen Schatz des Xi-ling der Be stie überlassen habe.« »Es geschieht nicht zum ersten Mal, daß sich Xiling-Schätze für ihre Meister opferten. Nun ist es an uns, sich ihrer würdig zu erweisen und sie eines Ta ges heimzuholen«, sagte Lin Kun. »Darf ich die Scheide behalten?« fragte Luka. »Natürlich. Aber wozu?« »Eines Tages werde ich den Dolch wiederfinden«, schwor Luka feierlich und verneigte sich vor seinen Lehrern. »Werdet Ihr mich jetzt bestrafen?« »Warum sollten wir dich bestrafen?« fragte Lin Kun. »Weil ich gegen die Tempelordnung verstoßen habe.« »Ja, das hast du getan, aber wir werden dich nicht bestrafen, denn du bist dem Ruf deines Herzens ge folgt.« Lin Run ließ den Blick über die Köpfe der versammelten Zöglinge schweifen. »Das macht Luka zu einem Vorbild für euch alle – zu einem ehrenwer ten Kämpfer.« Dann schob er Yi-shen nach vorn. »Yi shen, es ist Zeit, daß du dich entschuldigst für das Unrecht, das du dem Heiligen Knaben angetan hast.« 396
»Nein, nein, er braucht sich nicht zu entschuldi gen«, wehrte Luka ab. »Im Gegenteil, ich muß mich bei ihm bedanken.« Luka streckte die Hand aus. »Und warum das?« wollte Lin Run wissen. Als Yi-shen Lukas Hand ergriff, blinzelte er ihm warnend zu, und Luka verstand sofort, daß das, was in der Grotte zwischen ihnen gesprochen worden war, ein Geheimnis bleiben mußte. Also lächelte er nur vielsagend und antwortete: »Das bleibt zwischen uns.« Lin runzelte die Stirn. »Wo ist Atami?« »Der kommt gleich. Er hat Tag und Nacht für dei ne Heilung gefastet und gebetet. Aber mach dir keine Sorgen, Scholar ist bei ihm.« »Ich muß sofort zu ihm.« »Aber du bist noch so schwach …« Doch da rannte Luka schon barfuß den Grashang zum Tempelgebäude hinunter. Kaum hatte er den Innenhof betreten, da entdeckte er seinen geliebten Atami. Gestützt von Hali und Scholar, trat er gerade über die Schwelle. Er war viel dünner, bloß noch Haut und Knochen. Doch sein Gesicht, wenngleich hager und abgehärmt, war ein Abbild des Frühlings. Seine freundlichen Augen strahlten, und die beiden Grübchen in seinen eingefallenen Wangen lebten wieder auf. Freude zeichnete sich in den tiefen Falten seiner gefurchten Stirn. Er stolperte Luka entgegen, nicht achtend, daß er dabei fast gestürzt wäre. Luka fiel auf die Knie und kroch wie ein demütiger Sohn 397
auf ihn zu. In der Mitte des Hofs fielen sie einander in die Arme und schienen in der Umarmung zu ver schmelzen. Eine langes Jahr der Wanderschaft ende te. Schließlich machte Atami sich los und nahm Lu kas Gesicht in seine zitternden Hände. »Oh, mein Heiliger Knabe. Das war ein Abschied für sehr, sehr lange.« »Oh, Atami, und mir blieb nicht einmal Zeit für einen Abschied. Ich habe dich ja so schrecklich ver mißt.« Wie ein Blinder betastete Atami jeden Gesichtszug und jedes Glied des Jungen, so als wollte er sicher gehen, daß nicht ein Zeh und nicht ein Muttermal fehlte. »Ich bedaure sehr, daß Ihr soviel habt durch machen müssen. Ihr habt Euer Leben aufs Spiel ge setzt, um mich zu retten, Heiliger Knabe.« »Das war doch meine Pflicht, Atami, denn du bist mir lieber als mein eigener Vater.« »Und Ihr seid mir so teuer wie der eigene Sohn.« Atamis Tränen tropften auf Lukas Schulter. »Ohne Scholars Hilfe wäre mir das nie gelungen.« Luka umarmte nun auch Scholar, wobei seine Arme nicht annähernd um die ausladende Mitte des Riesen reichten. »Mein kleiner Beitrag war doch nichts im Ver gleich zu deiner Tapferkeit«, murmelte der Riese und zog Luka an seine gewaltige Brust. »Xi-ling hat wie der Hoffnung. Xi-ling hat wieder Hoffnung.« »Jetzt aber Schluß mit den Tränen! Komm und 398
begrüß dieses Mädchen! Ich glaube, ihr seid euch schon einmal begegnet.« Damit schob er Luka zu Hau hinüber. Beide standen sich mit rotem Kopf gegenüber und fanden keine Worte. Das Herz klopf te ihnen, als sähen sie sich zum ersten Mal. Hali, die verlegen eine lange Locke zwirbelte und sich auf den Fersen drehte, sah noch schöner aus als zuvor und lächelte noch süßer, als Luka es in Erinnerung hatte. »Willkommen im Xi-ling-Tempel, Hali!« brachte Luka schließlich hervor und streckte die Hand aus, doch Atami schlug sie ihm weg. »Willkommen zurück im Leben«, erwiderte Hali. »Was hat dich so lange aufgehalten, Heiliger Knabe?« »Hali ist drei Tage vor dir erwacht«, erklärte Scholar. »Hast du auch so lange geschlafen?« Hali nickte. »Und seither fühle ich mich besonders gut. Und du?« »Mir geht es genauso.« Luka runzelte fragend die Stirn. »Halis Schlaf war der einzige Hinweis für uns«, sagte Scholar, der nur zu gern das Wort ergriff. »Ihr beide müßt aus Versehen etwas vom Blut des Klob geschluckt haben. Und wahrscheinlich hast du etwas mehr erwischt als sie, deshalb warst du länger ohne Bewußtsein.« »Und was wird mit uns, wenn das Blut noch im mer in uns ist?« fragte Luka erschrocken. »Alles und nichts.« Scholar seufzte. »Ich bin noch 399
immer mit der Erforschung der alten Schriftrollen beschäftigt. Und solange ich keine Antwort finde, müßt ihr beiden mir jede Veränderung in eurem Be finden sofort mitteilen. Kein Symptom ist zu unbe deutend, als daß es nicht notiert werden müßte. Aber solange es euch gutgeht, ist alles in Ordnung.« »Ich habe gar keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen«, sagte Luka. »Was haben wir jetzt vor, Atami?« »Wir werden die Xi-ling-Bruderschaft neu beleben. Als erstes müssen wir unsere achtzehn vermißten Kämpfer wiederfinden. Jeder von ihnen beherrscht eine der einzigartigen Xi-ling-Künste. Ohne sie und ihr gemeinsames Wissen wird die Xi-ling-Tradition auf immer verlorengehen.« »Achtzehn?« »Außerdem werden zwölf unserer Schätze ver mißt, deinen Dolch nicht eingerechnet. Jede Waffe ist mit besonderen magischen Fähigkeiten ausgestattet. Aber wir wissen, wer sie derzeit in Händen hat.« »Wir können zusammen durchs Land ziehen und sie suchen wie echte wandernde Kampfmönche«, schlug Luka begeistert vor. »Nein, nein, nein. Für Euch gibt es vorerst keine Wanderschaft, Heiliger Knabe«, widersprach Atami. »Aber warum denn nicht?« »Warum? Habt Ihr denn Eure Berufung verges sen? Eure eigentliche Aufgabe? Ihr seid der Heilige Knabe und habt zahlreiche Eurer Lektionen ver säumt. Ihr müßt besonders hart arbeiten, um alles 400
aufzuholen. Gleich morgen bei Sonnenaufgang be ginnen wir mit dem Unterricht der Klassiker.« Luka wollte protestieren, doch sein Widerstand verflog sofort wieder. ›Morgen bei Sonnenaufgang‹. Statt dessen bewegte er die Worte lächelnd in seinem Mund. Diese Worte, die seine Kindertage lang und öde gemacht hatten, hallten jetzt nach wie süßer Glocken klang und brachten seiner Seele Frieden. In der Tiefe seines Herzens erstand das alte, zärtliche Gefühl von neuem. Luka war wieder zu Hause.
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