ISBN: 3861897059 E-Book: Cortnis Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
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ISBN: 3861897059 E-Book: Cortnis Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt Vorwort Was man zu Cox sagt Zehn Jahre später
Ferien 1 Zwischen zwei Kulturen 1990, unmittelbar nach dem Fall der Mauer Ferien 2 Nach der Wende Biermann 1
Ferien 3 Biermann 2 Zehn Jahre nach der Mauer
2001 Gregor
Stasi
Theater Monis Geschichte Sieben zeven Fünf Jahre nach der Mauer Angelikas Geschichte Früher Märchen
1986. Bill Meyers. Das normale Leben in der DDR 2000. Das andere Leben in der DDR Nochmal das Jahr 2000 Geschichte des Mannes eins 1986. Bill Meyers zweites Interview Im Jahr 2000. Hohenschönhausen 2000. Das andere Leben in der DDR. Geschichte des Mannes zwei
1986. Bill Meyers drittes Interview Das normale Leben in der DDR 1986. Bill Meyers viertes Interview 2001. Das nicht-normale Leben 1986. Bill Meyers fünftes Interview 2000. Beginn der Wahlen
2001. Die Witwe Die Kapitalistin Der Schriftsteller Das Ehepaar Der Schauspieler Die Funktion 2001
März 2001 Ostdeutscher Lebenslauf von Cox Habbema Historisches Wer ist wer und was ist was?
Vorwort Vor vierzehn Jahren fiel die Mauer. Als dies geschah, vor jetzt so vielen Jahren, erfaßte uns eine Welle der Freude, die jedoch innerhalb eines Jahres verebbte. Das Vertrauen in ein zukünftiges Glück und in einen einfachen Übergang zu einem freien, reichen, glücklichen und vielversprechenden Leben, das ich Ostdeutschland nach all den mühseligen und entbehrungsreichen Jahren aus tiefstem Herzen gönnte, schwand. Dreizehn Jahre wartete ich nun schon auf das kleinste Zeichen des gegenseitigen Verständnisses, des Zusammenwachsens von Ost und West. Auf den Anfang des gelobten und erhofften Wohlstands innerhalb und außerhalb der großen Städte in den sogenannten neuen Bundesländern. Auf das erste gemeinsame Lachen über inzwischen gemeinsame Mühseligkeiten und Entbehrungen. Zehn dieser vierzehn Jahre verbrachte ich außerhalb Deutschlands. Dann kehrte ich zurück, immer öfter, und entdeckte, daß der Westen sich ein paar Hundert Meter nach Ostberlin hineingeschoben und dabei die Touristen mitgebracht hatte. Ich beobachtete, wie die zahlreichen Theater nach neuen Wegen suchten und diese – manchmal zu meinem Bedauern – auch fanden. Wie Dresden die Flut meisterte und zu neuer Schönheit erblühte. Wie die Landwirtschaft sich umorientierte, Rotkäppchen zu einer Luxusmarke wurde und Spreewald-Gurken wieder zu einer
Delikatesse. Wie Leipzig sich um die Olympiakandidatur bemühte, gleichzeitig aber immer noch Schlange stand, um seine »alten« Schauspieler zu sehen. Wie Berlins Stadtviertel Prenzlauer Berg und Mitte beinahe platzten vor Dynamik, Kunst und Leben. Wie Studenten und Künstler aus der ganzen Welt durch die Hackeschen Höfe schlenderten. Wie die Zwanziger Jahre und das Alte Jüdische Viertel wiedererwachten. Wie allenthalben Restaurants wie Pilze aus dem Boden schossen. Wie sich vor den Ausstellungen der DDR-Kunst lange Schlangen bildeten und sich in kleinen Galerien mit zeitgenössischer Kunst die Besucher und – manchmal – auch die Käufer drängten. Wie der Bau des Holocaust-Denkmals endlich begann und dann doch wieder über die deutsche Vergangenheit stolperte. Wie Gregor Gysi abtrat und mit Günter Gaus auf der Bühne des Deutschen Theaters einen Dialog führte. Wie die alten deutschen Freunde aus Ost und West mich – die schon seit Jahren Theaterintendantin in Amsterdam war – dort besuchten, während ich meine französischen und niederländischen Freunde auf der Leipziger Straße in Berlin traf. Und ab und zu verirrte sich auch ein Amerikaner auf der Suche nach der kleinen Gedenktafel für die Deportierten des jüdischen Kinder- und Altenheimes im alten Osten, um dort ein Steinchen niederzulegen. Voller Zufriedenheit spazierte ich durch meine alten Viertel, begleitet vom Hohngelächter meiner Freunde, die der Meinung waren, man solle nie in seine Vergangenheit zurückgehen. Aber ich ging gar nicht zurück. Ich ging vorwärts. Richtung Zukunft. Cox Habbema Im Dezember 2003
Was man zu Cox sagt Im Westen
Wir haben uns so für sie ins Zeug gelegt! Dieser Geruch! Und alles so grau. Nirgendwo ein Café. Die Männer tragen hier tatsächlich auberginefarbene Anzüge. Warum soll ich zurückstecken? Sie können sich doch selber mal was einfallen lassen! So richtig arbeiten wie wir wollen sie nicht, aber unseren Wohlstand wollen sie schon. Ein einziges Gejammer. Jeden Tag habe ich eine Kerze für sie angezündet. Und jetzt das! Einen Ossi erkenne ich auf Anhieb. Warum können sie nichts normal sagen. Wir haben dieses Land mit unseren eigenen Händen aufgebaut. Hat uns jemand dabei geholfen? Als ob sie alles wie früher haben wollen. Hast du eine Ahnung, wie viele Milliarden die da schon geschluckt haben? Abtreibung war drüben legal, aber gottlos waren die ja sowieso. Und dauernd dieses Preisevergleichen, damals war’s der Kaffee, heute sind’s die Mieten.
Und den Solidaritätszuschlag bezahlen wir immer noch. »Die« Und keinen Funken Humor.
Im Osten
Natürlich, so ein Auto ist Klasse. Echt Klasse, so ein Auto. Die Mauer war Scheiße, aber bei uns gab’s noch so was wie Solidarität. Wenn ich doch hier nur in Ruhe bleiben könnte. Nichts wie weg hier. Auf Ihre Fragen können wir verzichten. Wir mischen uns da nicht ein. Ich hatte doch nur zwei getrunken. Ich habe mein Land, meinen Job und meine Frau verloren, und das alles gleichzeitig. Das war früher nicht so. Es gibt keine Ordnung mehr. Was die Arbeit, die Kinder und die Frauen betrifft, war es früher besser. Und uns präsentieren sie die Rechnung. Ich habe doch niemanden drum gebeten. Damals hat man noch geglaubt … Ich werde in meiner Stasiakte nachschauen, wer mir meine Ehe versaut hat. Je länger man mit ihnen redet, desto schlimmer wird es. »Die« Und keinen Funken Humor.
Ich finde keine einzige der Untaten der letzten Zeit, deren Zeuge ich war, bei der ich nicht beide Seiten verstanden hätte. Nicht entschuldigt, das nicht, aber verstanden. Die Menschen in ihrer Verblendung. Medea. Stimmen. Christa Wolf.
Im letzten Jahr bei der Amsterdamer Theaterschule reiste unsere Klasse nach Ostberlin. Ich wußte, daß Ostberlin irgendwie an Westberlin grenzte, hatte aber, wie wohl die meisten von uns, keine Ahnung, daß man, um es zu erreichen, zuerst die ganze DDR durchqueren mußte. Wir wußten nur, daß alles furchtbar deutsch war. Und von der »Mauer« hatten wir natürlich auch gehört. Daß es »zehn Stunden mit dem Zug bis Berlin« seien, wußten wir vom holländischen Dichter Ed Hoornik. Voller Halbwissen, Urteile und Vorurteile traten wir unsere Reise an. Die
Grenzübergänge bestätigten sofort, was wir uns vorgestellt hatten: Die Deutschen, die Moffen, schrieen ständig herum, hatten einen groben Umgangston und trugen Uniformen, als stammten sie aus dem Zweiten Weltkrieg – aber für meine Generation sahen alle Uniformen aus wie Zweite-Weltkriegs-Uniformen, die von Castro, Che und Ho ausgenommen. Nach vielen Grenzkontrollen und noch mehr DDR fuhren wir in Westberlin ein, um es gleich wieder zu verlassen. Wir fuhren in einen Bahnhof rein und das Licht verschwand. Grauer Bahnhof, graue Deutsche, graues Wetter: Deutschlands Grenzübergang zum Osten. Auf einer Eisenbrücke über uns Schatten bewaffneter Wachleute. Miese Kulisse für eine Richard-Strauß-Oper. Regie: Harry Kupfer. Aussteigen. Gänge, Verschläge. Kasperletheater, die untere Hälfte der Puppen war unsichtbar. Koffer öffnen. Sinnlose Kontrolle. Was hatten sie schon von uns zu befürchten: einem armseliger Haufen, der außer der Hoffnung auf zukünftigen Ruhm nichts besaß und mehr wußte über Weltliteratur als über Weltpolitik. »Ha!« dachten wir, ohne eine Ahnung zu haben, was in diesem Land alles zur Politik gehört, »die Kontrabande, die mit mir reist, die hab ich im Kopfe stecken«, denn wir alle kannten unseren Heine. Wenn wir Fehler machten, dann weil wir keine Ahnung hatten, was die hier für richtig hielten. Draußen war Ostberlin. Die Sonne schien. Ein kleiner Bus fuhr uns zu einem außerhalb der Stadt gelegenen Gebäudekomplex. Eine Art Ferienanlage am Wasser. Wir schworen uns, mit den Moffen kein Wort zu wechseln, wir würden nur in der Sonne sitzen und zuhören. Und uns die Vorstellungen anschauen. Am selben Abend saßen wir in der Kneipe in der Nähe und diskutierten heftig mit unerwarteterweise freien und uniformlosen Ostlern. Ich glaube, es ging um die Frage, was Freiheit sei. Ich war überzeugt, daß sie Unrecht hatten. Ich ahnte, daß sie mich einseiften, nur wie sie es taten, wußte ich nicht, mir fehlten Antworten, die mir gefielen. (Also beschloß ich, ein Buch zu lesen.) Ein paar Jahre später hatte ich jede Menge Antworten, trotzdem war ich mir über vieles nie mehr so sicher wie damals. In der Nacht, als die Mauer fiel, war ich im Amsterdamer Stadttheater. Mein ganzes Leben lang war ich nie dort, wo die wirklich wichtigen Dinge passierten, und fast immer war ich im Theater. Es wird wohl meine Absicht gewesen sein, denn das Theaterleben verzerrt die Sicht auf die Realität, und deshalb bin ich, wie die meisten meiner Schauspielerkollegen, darin nicht besonders gut. Einmal sah ich mir in meinem Theater die Vorstellung eines Shakespeare-Stückes an, in dem es Dutzende von Toten gab. Aus der Vorstellung herausgerufen, dauerte es eine ganze Weile, bis ich darauf kam, daß ich für den Mann, der da stark blutend im Foyer lag, einen Krankenwagen rufen mußte. Als ich in jener Nacht im November 1989 den Anrufbeantworter abhörte, forderten mich viele Stimmen in vielen Sprachen auf, den Fernseher einzuschalten. Das tat ich. Die niederländischen Nachrichten brachten nichts. Andere, das heißt ausländische Sender, hatte ich nicht. Ich sehe nie fern. Wann auch? Ich rief in Berlin an. Keiner nahm ab. Nirgendwo. Es war ja auch spät. Allerdings wurde ich mitten in der Nacht selbst angerufen, und zwar von jemandem, der ebenfalls aus dem Theater kam: »Sie laufen drüber. Sie laufen auf der Mauer. Mein Nachbar hat’s mir gesagt. Der ist gerade hin, im Schlafanzug.« Ich verstand überhaupt nichts. Aber ich pflege Probleme, die mir unauflösbar erscheinen, erst mal aufzuschieben, und so ging ich zu Bett. Am nächsten Morgen schlug ich die Zeitung auf.
Ich saß in meinem Auto und heulte. Ganz allein. Sie haben es ganz allein geschafft, ging es mir durch den Kopf. Wie oft habe ich danach Schabowski* vor mir gesehen, wie er auf seinen Zettel sah und stotterte: »Nach meiner Kenntnis ist das sofort. Unverzüglich.« Unzählige Male habe ich mir den Deutschen in Uniform vorgestellt, diesen Mof, diesen »Vopo«* im Grenzdienst, der unter dem Druck der Menschenmassen ratlos guckt, kurz nachdenkt und schließlich den Schlagbaum hebt, und jedesmal dachte ich dabei: »Allein. Sie haben es ganz allein geschafft. Vielleicht aus reiner Dummheit, vielleicht aus Angst, wie ich später die Allwissenden immer wieder sagen hörte, aber immerhin: Allein. Gewehr weg, Schlagbaum hoch. Vielleicht heulte ich auch, weil ich nicht dabei war. Weil ich zu früh aufgegeben hatte und gegangen bin. Und weil keiner mehr da war, der schießen wollte. Keiner mehr, der den Befehl dazu erteilte und keiner, der darauf gehört hätte.
Zehn Jahre später Ich rief den Mann an, mit dem ich in der DDR jahrelang zusammengelebt und gearbeitet hatte. Auf meinen Vorschlag, die alten Zeiten doch etwas Revue passieren zu lassen und auf das, was in den neuen geschah, einen heiteren Blick zu werfen, reagierte er in einer für mich vollkommen unerwarteten Weise. Er sagte: »Was weißt du schon über die DDR!« Immerhin hatte ich fast 20 Jahre, wenn auch mit Unterbrechungen, dort gearbeitet, Theater gespielt, Regie geführt und eine Reihe von Filmen gedreht. Das Theater war damals eine politisch höchst relevante Institution. Es ging dabei immer um die Gesellschaft. Ich lege auf. Um tief durchzuatmen. Ist das wirklich nur eine rein persönliche Angelegenheit? Gehört das Land jetzt nur noch ihm? Ich rufe zurück. »Du kannst nicht einfach herkommen und Fragen stellen«, sagt er. »Hier will keiner drüber reden, keiner will damit etwas zu tun haben. Niemand ist scharf auf deine Fragen. Bleib nur weg damit. Wir haben genug davon. Die anderen werden dir dasselbe sagen.« In der Zeit las ich Hans Joachim Schädlichs* Tallhover. Die Geschichte eines Jungen, der von einer Karriere bei der Stasi träumt. Tallhover findet kein gutes Ende, und das lange vor der Wende. »Warum kommt niemand? Warum hilft mir keiner? Genossen. Kommt! Helft mir! Tötet mich!« So lauten Tallhovers letzte Worte, von allen verlassen nach einem Leben für die »Firma«. »Die Sache ist immer dieselbe Sache«, sagt Tallhover. »Dafür bin ich da […]. Wenn ich etwas tue, tue ich es für die Sache.« Er hatte ein Ziel, er gehörte irgendwo dazu: zur Firma. Sonst wäre da eine einzige Leere. Herrschte möglicherweise in der alten DDR ebenfalls eine Leere, gab es gar keinen Neuanfang? Mit dem Abwerfen der Ketten allein ist es offenbar nicht getan. Die Angst ist geblieben. Ich kannte diese Angst nicht und lernte sie auch nie kennen. Ich habe sie aber gesehen, als ich dort lebte, und ich habe sie verstanden: Die Angst, den Job zu verlieren, das Geld, den Studienplatz oder den Besitz, die Angst vor Veränderungen und Bedrohungen. Aber man konnte sich anpassen, grau werden, nicht auffallen, stillhalten und glücklich sein. Oder kämpfen, kämpfen, kämpfen. Aller Angst zum Trotz.
Die Ankunft des Westens in der DDR hat ihnen die Ängste nicht genommen. Früher gab es einen klaren Feind: Die da oben. Das Publikum im Theatersaal war die eine Seite; die da oben, die aber oft auch im Saal saßen, war die andere. Gegen die spielten wir an, über die lachten wir. Man wußte genau, wofür man war und wogegen. Das heißt, ich wußte, wofür und wogegen ich war. Aber ich kam aus einer anderen Welt, hatte andere Eltern, andere Lehrer gehabt. Hatte ’68 erlebt, mit anderen Zielen und anderen Visionen. Inzwischen teilt eine Linie aus diffusen, unbenennbaren, chaotischen, beklemmenden und brutalen Ängsten die neue Republik, sie zieht sich durch alle Gruppierungen, ja sogar durch einzelne Individuen. Die aberhundert Regeln von Tallhover, die der Regierung, Stasi und Gesellschaft gelten noch immer, keiner hat sie aufgehoben, aber auch keiner kontrolliert sie mehr. Niemandem vertrauen, nichts glauben, keine Hingabe empfinden, kein Goethisches Verweiledoch-du-bist-so-schön. Nichts festlegen, nie sichtbar sein. Besser keine Fragen stellen und keine Fotos machen. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, pflegte die Partei* zu sagen. Dieser große Zusammenhang in allem ist grauenhafter Natur. Nichts steht nur für sich selbst. Zwei Weltkriege, Hunger und Armut, andauernde Besatzung, andauernder Verlust, andauernde Angst. Auf einen Schlag sehe ich die Grundlage dieser Ängste vor mir. Es ist keine Frage von Schwimmen oder Ersaufen, sondern von Dazugehören oder Ersaufen. Entweder man hat Macht oder ist ein Niemand, entweder man ist König oder Wurm, reich oder, nein nicht arm, sondern nichts. Angst regiert auch das neue Deutschland, nicht mehr die Angst vor etwas, sondern die Angst vor der Angst vor der Angst. »Kameraden! Kommt! Helft mir!« Die Ordnung des Staates. Ordnung. Regeln. Dinge, an denen man sich festhalten kann. Treten oder getreten werden. So gehört es sich. Nichts bleibt unbeobachtet. Immer wird alles registriert. Sich der Haut wehren. Lieber schlagen als geschlagen werden. Nie die andere Wange hinhalten ... Mitte Oktober 1989, unmittelbar vor dem Fall der Mauer. Ich war schon seit einigen Jahren Intendantin des Stadsschouwburg. Meine deutsche Ehe bestand aus Freundschaft und endlosen Telefongesprächen, ich gab eine Geburtstagsparty für meinen Partner. Im Kofferraum meines Autos brachte ich die notwendigen Festutensilien nach Berlin: Essen und Getränke. Alle unsere Freunde waren gekommen, Ärzte, Schriftsteller, Grafiker, Manager, Direktoren von internationalen, aber auch von größeren und kleineren DDR-Institutionen, außerdem einige Regisseure, nur wenig Ausländer so mitten im Arbeitsjahr, nur wenig Schauspieler, ein einsamer Computerexperte. Ost und West gemischt in alter Zusammengehörigkeit. Die Unruhe im Land war zu spüren. Es gab so vieles, worüber geredet werden mußte. Wer glaubte schon, daß sich etwas verändern ließ? Wer hatte selber (im Betrieb) damit angefangen? Worüber sprach man? Wo könnte man loslegen? Wie stand es mit der »Versorgung«? Was gab es und was gab es nicht zu kaufen? Wie viele hatten die DDR verlassen, wie viele waren verhaftet worden, eingesperrt? Wie war die Lage in Ungarn, jetzt, wo die Grenze nach Österreich offen war? Und wie in Österreich und Polen? Gorbatschow* prägte den Satz: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Wie waren die Feierlichkeiten zum 40. Gründungstag der DDR am 7. Oktober verlaufen? Wie sehr waren die Wahlen diesmal manipuliert gewesen? Wie war das mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig? »Wir sind das Volk.« Was tat Krenz, der seit dem 17. Oktober Generalsekretär der SED war? Wo war ›Honni‹?* In den letzten Jahren der DDR war spürbar einiges in Bewegung geraten, und jedes Jahr gab es an diesem Geburtstag dieselben Gespräche. Und in diesem Jahr waren sie, wie ich meinte, nicht viel anders als in den früheren Jahren, obwohl inzwischen deutlich noch viel mehr in Bewegung geraten war. Wir sahen es bewegen, wir sahen, was passierte, aber wir sahen nicht, worauf es
hinauslief. Am 4. November fand die große Demonstration statt, an deren Organisation sich auch »mein« Theater, das Deutsche, von dem ich immer noch ein Teil war, beteiligt hatte. Am 8. November trat das Politbüro ab, am 9. November wurde die Mauer in Richtung Westberlin geöffnet. »Wir sind ein Volk.« Die DDR zerfiel, die Abrechnung begann, die SED entschuldigte sich beim Volk und wurde zur PDS, das Volk wurde nahezu vollständig zu IMs* erklärt, fast jeder in einer etwas höheren Funktion, wurde entlassen, Honecker verschwand Richtung Chile, Schalck-Golodkowski*, der große Mann der Ost-West-Handelsorganisation »Koko«*, und Wolfgang Vogel*, der berühmte Spion- und Flüchtlingsanwalt flüchteten nach Bayern, Markus Wolf*, jahrelang Stellvertreter des Chefs der Stasi, kehrte nach Rußland zurück, wo er während des Krieges einen Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Alles aus der nicht ganz unbegreiflichen Angst, am Galgen zu enden. An Orten, die möglichst weit von Deutschland entfernt lagen, warteten sie mögliche Gerichtsurteile ab. Der Ostdeutsche Modrow* und der Westdeutsche Kohl gingen Hand in Hand durch das Brandenburger Tor. Die Bevölkerung der DDR bekam etwas Westgeld und Bananen, bis sie ihnen aus den Ohren kamen. Im März 1990 fanden die ersten freien Volkskammer-Wahlen statt. Anfang Oktober 1990 vereinigten sich die DDR und die Bundesrepublik, und Deutschland konnte wieder Deutschland sein. Ende Oktober 1990 reiste ich, wie immer, nach Berlin. Diesmal flog ich. Das Auto brauchte ich nicht mehr, die Einkäufe für das Fest konnte ich jetzt vor Ort erledigen. Die alten Freunde kamen. Der Ort war derselbe wie immer. Doch keiner außer den Theatermitgliedern hatte noch denselben Job wie früher. Alles war anders geworden, keiner fühlte sich wirklich wohl, jeder war in irgendwelchen Schwierigkeiten. Fast alle hatten ihre Wohnungen oder ihre Jobs verloren oder doch wenigstens einige ihrer wenn nicht gerade geliebten, so doch vertrauten Gewohnheiten ablegen müssen. Aber keiner beklagte sich. Die Veränderungen waren kein Gesprächsthema mehr. Wenn es jeden Tag stürmt, wer will sich dann noch über den Wind unterhalten? Nur unsere Westberliner Freunde meckerten heftig: Die schönen Westberliner Steuervorteile gingen flöten. Doch ein Jahr später meckerten auch die Ostfreunde. Es war nicht so geworden, wie sie sich erhofft hatten: nämlich einen anderen, einen besseren, einen gerechteren Staat. Wenn sie sich überhaupt etwas erhofft hatten. Die Sticheleien begannen, dieses verstohlene, undefinierbare Gestichel West gegen Ost, Ost gegen West. Neue Freunde gewann man nicht, aber man verlor dafür eine Menge. Gruppen zerbrachen, alte Freunde sahen sich entweder gar nicht mehr oder im Gegenteil sehr oft, viel zu oft. Die Feste wurden seltener, man feierte sie außerhalb der Stadt. Geld gab es wenig. Und Lust noch weniger. Diejenigen, die von einer Gruppe übrigblieben, »igelten sich ein«, stellten die Stacheln auf. Sie gingen nicht mehr »in den Westen«, um einzukaufen, in einen Westen, der plötzlich nur noch fünf Minuten von ihrer Wohnung entfernt lag, sie kauften wieder in den alten Ostläden, die jetzt allerdings Westnamen trugen. Die teuer geworden waren und mittelmäßig. Doch wer will eigentlich so viel haben? So furchtbar viel und so furchtbar anderes. Wir sitzen in einem Straßencafé in der Sonne, weit weg von Deutschland. Sie arbeitet beim Fernsehen, ist ungefähr so alt wie ich und ziemlich korpulent in ihrer Sommerkleidung. Er ist Chemiker und bisher jedesmal mit gesenktem Blick und herabgezogenen Mundwinkeln schweigend an mir vorbeigegangen. Sie lädt mich ein, mich zu ihnen zu setzen. Warum eine Niederländerin ein Buch über Berlin schreiben wolle, fragt sie mich. Ich erzähle ihr, daß ich dort gewohnt und Theater gespielt habe. Theater, wirft sie ein, daß sei doch damals nur was für ein paar Eingeweihte gewesen, und was für Stücke auf dem Programm gestanden hätten, es wäre dort doch kaum was erlaubt gewesen. Ich nenne ihr die Titel einiger unserer Stücke, ein
paar Autoren, ein paar internationale Auszeichnungen. Nun ja, antwortet sie darauf, stimmt ja, ein paar hätte man ja spielen dürfen: Shakespeare, Peter Hacks*, dessen Namen ich genannt hatte und der in ihrem Kopf irgend ein Glöckchen hatte läuten lassen, die Russen. Plötzlich nehmen beide regen Anteil am Gespräch, Politik ist angesagt, das Thema Theater wird in den Hintergrund gedrängt. Ich versuche, mich zurückzuhalten. Nach ein paar Sätzen nennt sie mich schon eine wilde Linke. Das kannte ich schon: Es war schon immer verfänglicher, etwas zu verteidigen, als es nur zu behaupten. Freundlich sagt sie: Es wird sich schon was tun. Worauf sie von zwei linken jungen Mädchen berichtet, die einst auf dem Markt selbstgeschneiderte Hemden verkauften und jetzt bei Esprit, einer Dresdner Frauenzeitschrift, arbeiteten. »Sehen Sie, so was geht heute.« Was an den Mädchen links war, außer der Tatsache, daß sie aus der DDR waren, erklärt sie mir nicht. Sie sei nie in der DDR gewesen, habe keine Familie dort und also auch nie einen Grund gehabt, hinzufahren. In der DDR hätten sowieso alle für die Stasi gearbeitet. Jetzt wollen es ja angeblich nur noch mickrige zehn Prozent gewesen sein, aber sie wisse genau, daß es alle taten. Dessen ist sie sich so sicher, daß sie es zweimal wiederholt. Er erzählt von einem Freund aus der DDR, Wirtschaftsmanager in Mecklenburg. Vorstand, guter Job. Immer noch. Aber nicht zufrieden. 14 000 Mark im Monat verdient dieser Mann jetzt und ist trotzdem unglücklich. Fühlt sich »angeschissen«, wie er sagt, und »ums Leben betrogen«. Der Mann wiederholt die Worte seines Freundes mehrmals: »Wir sind doch die Verlierer, die Angeschissenen.« Er läßt dabei die Mundwinkel noch tiefer hängen: Der andere als Spiegel. Er schaut sich selber ins Gesicht. »Wen interessiert so ein Buch jetzt noch?« fragt der Hamburger. »Ist doch schon alles gesagt. Viel zu oft sogar. Alles breitgetreten. Es sei denn, man beschreibt das Ganze aus einer vollkommen neuen Perspektive.« »Und die wäre?« frage ich. »Tja, wenn ich das wüßte, würde ich das Buch selber schreiben. Nein, wir sollten das Thema ganz lassen«, sagt er. »Wir haben doch alles miterlebt, und wir bereuen es gründlich. Am liebsten hätten die doch ihre Mauer wieder. Und manche bauen schon wieder eine neue. Durch ihre andauernde Meckerei. Die wollen einfach nicht, daß es ihnen gut geht. Das machen die doch mit Absicht, wollen uns einfach nur ärgern.« Auch das ist eine Form des Verschweigens. Alles, was passiert, was sichtbar ist, in Mißkredit zu bringen – das Normale reicht ihnen nicht. Sie wollen etwas Besonderes. Ist das typisch Deutsch? So wie man manche Gedanken nur auf Deutsch denken kann. Oder auf Griechisch vielleicht. Was denken die Deutschen über die Deutschen? Ekel vor »den Deutschen«. Selbstverachtung. Im Widerwillen gegen den anderen erkenne ich mich selbst. Das ist es, was zwischen West- und Ostdeutschen jetzt passiert. »Ach«, sage ich, »wenigstens hat man sich für Kultur interessiert. Und man konnte sich mit der Regierung anlegen, endlos diskutieren, reden und reden, auch mit der Stasi, ob ein Stück gespielt werden darf oder nicht.« Ich zitiere Brecht nach dem »Lucullus«-Verbot: »Wo findet man noch eine Regierung, die sich zwei Stunden Zeit nimmt, um ein Theaterstück zu verbieten.« Ich ernte Schweigen. »Vielleicht habe ich zu viele jüdische Freunde, aber das mit der Stasi und so, das hätte ich nicht ausgehalten«, sagt mein nicht mehr ganz junger Deutscher. Eines Tages muß ich damit aufhören, die Jahre zu zählen. Aber die Gnade der späten Geburt scheint mir sicher. »Es war ein totalitäres Regime. Sie unterdrückten die Menschen aufgrund fadenscheiniger Gründe. Und meine besten Freunde sind Juden.« Die Vermengung verschiedenartiger Argumente erschwert mir, wie immer in solchen Fällen, die Antwort: Das ist mit den Juden waren andere. Ich sage: »Gysi* ist auch Jude.« Sie hatte Gysi zuvor als »ein gewieftes Kerlchen« bezeichnet und ahmte seinen »Um-die-
Ecke-Blick« nach, den sie nicht als Ausdruck von Leichtigkeit und Ironie auffaßte, sondern als Falschheit interpretierte. Ich halte ihnen entgegen, daß sich in den Vorständen der Fabriken und in den Bürgermeisterämtern jetzt fast ausschließlich Wessis befinden, während Ossis Metzger und Bäcker geblieben seien. Er sagt: »Unterschätze die PDS nicht«, und damit hat er recht. Wir reden noch lange, mit viel Gefühl und wenig Häme. Am Ende läuft es immer auf die Feststellung hinaus: Die Deutschen sind so, die Deutschen sind so. Geerbtes Wissen. Etwas ist so, weil es immer so war: Man hat es schon immer gewußt. Sie hegen zahlreiche Theorien über die Deutschen und deren Gewohnheiten, und die genauen Gründe davon. Über die NPD*. Ob man die nun verbieten müsse oder nicht. Und warum alles bei den Ostdeutschen so ist, wie es ist. Und warum die Presse und die Regierung erst jetzt ... »Ach, ist doch nur so aktuell, weil die Zeitungen gerade Saure-Gurken-Zeit haben«, sagt sie. »Ich bin mir sicher, daß dein Buch etwas Besonderes, etwas ganz Bemerkenswertes werden wird«, sagt er. Wie freundlich, sie wollen mich nicht mutlos zurücklassen. Ich frage mich, ob es etwas Bemerkenswerteres, aber auch Irrsinnigeres gibt als die Realität? Ob ich die botanische Ausstellung in der Stadt schon gesehen habe? »Gärten und Aquarien, das ist alles, was sie wollen«, pflegte mein DDR-Buchhändler seine Klientel zu charakterisieren. »Auf einem Campingplatz kann man die Ossis nicht mehr von den Wessis unterscheiden«, sagen meine Wessis. »Trainingsanzüge überall, auf der Straße, im Supermarkt. Entsetzliches Kleidungsstück. Billige Massenware. Leicht zu waschen.« Sie hätten sie damals in ganz Berlin gesehen, an jeder Ecke. Auch in dem komischen Musical, das sie besucht hatten. Nein, nicht in der Distel* waren sie, irgendwo anders. Sie haben die Schnauze voll. Sie wollen nicht mehr drüber reden: Es sei alles schon mal gesagt worden. »Viel Spaß mit deinem Buch.« Am nächsten Morgen gehen sie zum Strand. In ihren Bademänteln. Eine Frau aus einer mittelgroßen westdeutschen Stadt liegt im Swimmingpool, als ich ins Hotel zurückkehre. Ich frage sie, ob sie sich mit mir über die DDR unterhalten möchte. Sie kenne die DDR gut, lautet die Antwort, sie hatte Verwandte dort. Früher hätten sie dort auch Grundbesitz gehabt. Den forderten sie nach der Wende zurück. Deshalb sei sie in letzter Zeit ein paar Mal hingefahren. Zurückbekommen habe sie allerdings nichts, das heißt, nicht so viel, daß sich die Mühe gelohnt hätte. »Nein, sagt sie«, während sie im Wasser planscht. »Nein, ich will nicht mehr drüber reden, mir reicht’s. Fragen Sie meinen Mann. Der ist ganz voll davon, weil er es so ungerecht findet. Mir geht die ganze Angelegenheit auf die Nerven. Es hat alles nur Unruhe gebracht. Es gibt bei uns nur noch ein einziges Thema. Mit »bei uns« meint sie: Ich und die meinigen in unserer mittelgroßen westdeutschen Stadt. Die Wendung »Es gibt bei uns nur noch ein einziges Thema« kenne ich von meinen ostdeutschen Gesprächspartnern zur Genüge. Wir haben hier nur noch ein Thema, sagten auch sie. Das Thema war Geld. Die Ostdeutschen verstehen darunter: Wie halte ich mich über Wasser, wie kann ich überleben, wie kann ich möglichst viele meiner altgedienten Gewohnheiten beibehalten, wie kann ich bewahren, was ich mit eigenen Händen aufgebaut habe? Die Westdeutschen verstehen darunter: Wie kann ich möglichst viel von dem wiederkriegen, was sie uns vor fast 50 Jahren weggenommen haben, auch wenn ich damals vielleicht noch gar nicht geboren war. Und: Die anderen haben es ja auch zurückgekriegt, warum ich also nicht? Man ist ja blöd, wenn man es nicht probiert. Zwei Weltkriege, zwei Möglichkeiten, um auf der falschen Seite zu stehen, zwei Möglichkeiten zu raffen, egal, ob es sich dabei um Recht und Besitz anderer handelt. Zwei Möglichkeiten, alles zu verlieren, was einem vertraut ist und einem gehört. Oder den Eltern. Das wiederholt sich. Neues Unrecht gesellt sich zu altem, und es gibt neue Verlierer. »Deutschland einig Vaterland.«
Ein paar Jahre nach der Wende kündige ich mich telefonisch bei einer Freundin an. »Weshalb kommst du?« fragt sie. »Um zu schauen«, antworte ich, »zu schauen, wie alles ist und wie es euch geht.« »Uns geht es gut«, sagt sie. »Sehr gut sogar. Du wirst allerdings das Hinschauen erst wieder lernen müssen. Du bist jetzt nicht mehr die Berlin-Expertin, das mußt du dir erst wieder erarbeiten.« In ihrem Ton klingt Verteidigung mit. Doch nicht mir gegenüber, denke ich mir. Es ist dieser DDR-Verteidigungston von früher. »Außenstehende«, höre ich. Der Kreis schließt sich wieder, und ich stehe erneut draußen. Man muß dazugehören. Man muß Bescheid wissen, eine Meinung haben und diese auch vertreten. Die anderen müssen wissen, wer man ist und zu wem man gehört. Einfach nur schauen reicht nicht. Wer nicht Mitglied des Kreises ist, wird nie genug wissen, um schauen zu können. Auf diese Weise erfahre ich, daß ich früher also durchaus ein wenig dazugehört habe, es aber jetzt nicht mehr tue. Meine Freundin verteidigt ein neues Berlin, eines, das offensichtlich öfter angegriffen wird. Von Leuten, die nicht genau hinschauen oder sich falsch an Berlin erinnern, oder an das Berlin von früher. »Du mußt das alte Berlin vergessen«, sagt meine Freundin und meint das Berlin von gestern oder vorgestern. Ohne Vergessen geht’s wohl nicht. Ein Neuanfang ist unerläßlich. Vielleicht indem man Berlin jederzeit nett findet oder nur das Berlin der 20er Jahre. Nur schauen, das reicht nicht, das darf man nicht. »Ich finde den neuen Potsdamer Platz* ziemlich häßlich«, sage ich. »Der Potsdamer Platz, der ist doch nur was für Touristen. Die echten Berliner interessiert der überhaupt nicht. Da muß man dahinter schauen, schauen was auf der politischen Ebene passiert.« Ich schweige. Sie fährt fort: »Stell dir einen von den Politikern vor, der aus Bonn nach Berlin gekommen ist. So einer richtig von Rang und Namen, den man nur vom Fernsehen her kennt. Der sagt zu einem echten Berliner: ›Ich bin Herr Soundso aus Bonn‹, worauf der antwortet: ›Na und?‹« Es sind die Leute, die in diesem neuen Berlin alles furchtbar finden und – aus welchen Gründen auch immer – dem alten Berlin nachweinen, die meine Freundin in diese Verteidigungshaltung treiben. Für den »echten Berliner« gibt es keine abgrundtiefe Häßlichkeit. Sie glaubt, alles wunderschön finden zu müssen. Vor allem alles Jetzige. Wir haben ein neues Leben, Nuancen sind nicht gefragt. »Dieses ganze Aufpolieren der Fassaden, was da alles passiert.« Die Außenseite steht schon. Eine Geschichte macht die Runde. Eine wahre Geschichte, in der die Leute einander in Prototypen und Schablonen einteilen. In Klebebilder. Die Meinung des anderen macht jeder zur Vorbedingung seiner eigenen. Bei Dissidenten und Opfern war das immer schon am markantesten: Ist er einer von uns? Dieses »uns« brauchte nicht definiert zu werden. Oder, später, noch entschiedener: Hat er gesessen? Im Kreis der Eingeweihten kann die Geschichte nicht korrigiert werden. Das ist einfach unmöglich. Das war es damals unter den Betroffenen schon, und ist es heute zwischen Ost und West. Ich fahre diesmal nicht nach Berlin. Es stimmt, ich erkenne das neue Berlin kaum wieder. Die meisten Berliner haben ihren Blick übrigens sowieso nach rückwärts gerichtet. Bis zum Überdruß habe ich früher in den Niederlanden von den Leuten hören müssen, daß Ostberlin so grau sei. Ich gebe zu, das ostentative Westberlin, umschlossen von der schützenden Mauer, war greller, lebendiger. Das lag an der ganzen Reklame, die wir Westler nun mal für das Hauptcharakteristikum einer großen
Stadt halten. Ach, wie fröhlich und leuchtend erschien uns, die wir auf der anderen, der dunklen Seite des Verwandtenschutzwalls saßen, dieses Westberlin. Um so eine Schwarz-WeißFilmkulisse zu sehen, wie wir sie gewohnt waren, mitsamt der dazugehörenden Nebel- und Rauchschwaden, mußte man in Westberlin schon in eine abgelegene Seitenstraße einbiegen. Und die Ruine der Westberliner Gedächtniskirche, sogar in ihrem vollkommen kaputtrestaurierten Zustand, erinnerte weniger an den Krieg als so manche Straße im Prenzlauer Berg, wo in den letzten Kriegswochen der Häuserkampf gewütet hatte. Oder das düstere Elendsviertel hinter dem alten Ostberliner Alexanderplatz, wo die 20er Jahre noch lebendig waren. Und jetzt? Das frühere jüdische Viertel ist, weißgekalkt wie es jetzt ist, nicht unbedingt schöner, aber es ist doch angenehm, daß es jetzt wieder jüdisch aussieht mit all den kleinen Restaurants und den jüdischen Namen, wenn es auch zugegebenermaßen nicht gerade koscher ist. Doch wäre es noch angenehmer, ständen nicht überall Polizeiautos herum. Kann ›ein echter Berliner‹ den Potsdamer Platz allen Ernstes schön nennen? Nur wenn er sich gern flach mit dem Rücken auf die Fahrbahn legt, um gen Himmel zu starren. Waren die Linden ohne die permanenten Staus schöner? Jedenfalls konnte man leichter ein Taxi bekommen und Heinrich Heines »Fataler Zugwind zwischen Ost und West« zitieren, ohne dabei am Krach und Gestank zu ersticken. Vor allem befürchte ich, daß diese Stadt, »die nie fertig wird und immer nur wird«*, eines Tages fertig sein wird. Dann werden Rammpfähle und Kräne in die ostdeutsche Provinz verfrachtet, es gibt keine Kommissionen, Gremien, Ausschreibungen und andere quasi-demokratische Ablenkungsmanöver mehr. Fertig. Abgeschlossen. Alles zugebaut. Mit Büros, Läden, Restaurants. Jede Baugrube wird zum Hotel für die heranrückenden Touristen. Alle Kugellöcher sind zugekleistert oder hübsch restauriert und nachts beleuchtet. Ganze Karawanen von Bussen vor dem letzten Mauerstück aufgereiht. Alles Geschichte. Alles Vergangenheit. Alles hübsch geweißelt. Hitler, noch nie davon gehört. Ulbricht*, wer war das? Was für eine Mauer? Ach, Kind, verhalten wir uns doch wie Deutsche untereinander. Und Berlin, endlich wieder Hauptstadt, Deutschland endlich wieder stolz auf sich selbst, voll innerdeutschem Frieden. Die DDR kommt in die Märchenbücher, Biermann* singt irische Volkslieder, und die Jungs von der Stasi verdienen an unserem Reichtum, indem sie Alarmanlagen verkaufen. Das Ampelmännchen* auf den Ostampeln überlebte als einziges. In Kürze gibt es eine Generalamnesie. Schwamm drüber. Reden wir nicht mehr davon. Es wäre nicht das erste Mal, daß das funktioniert. In meinen ersten Berliner Jahren ärgerte ich mich furchtbar über die Texte auf den Transparenten, die überall an den Häuserwänden hingen. Freunde und Kollegen, denen gegenüber ich meine Wut äußerte, schauten mich nur verwundert an. Was soll da drauf stehen? Ich zerrte sie vor die Transparente. Ach so! Na ja, die Partei* schreibt uns so manches vor, was wir denken sollen, aber sowas muß man doch nicht auch noch lesen. Auf Kosten der niederländischen Regierung machte ich ein Regie-Praktikum in Ostberlin und versuchte, am Alltag in Ostberlin teilzunehmen. Ich stellte mich in die Schlangen vor den Geschäften, die ihre Ursachen im ewigen Mangel an allem hatten. Lebensnotwendige Dinge wie Brot, Milch und was weiß ich fehlten allerdings nie, nur das Besondere war selten. Man hat in der DDR durchaus auch Spargel gegessen, aber der war dann sicher auf DDR-Boden gewachsen. Saisongemüse und -obst war immer zu bekommen, es war billig und frisch und – damals noch ungespritzt. Die DDR verfügte nicht über die modernen Techniken, die Erntezeiten über eine längere Periode hinauszuzögern oder die Ware künstlich frisch zu erhalten. Und außerdem gab es Kohl satt. Der Staat war der Meinung, Vitamine seien gesund, und deshalb gab es zu jedem Gericht Kohlsalat, egal zu welchem. Da wir tagsüber oft Proben hatten, aßen wir im Theater, und das hatte ebenfalls ein großes Interesse daran, daß wir gesund blieben. Eine Mahlzeit – mit
obligatorischem Kohlsalat – kostete 2,50 Ostmark. Kohl wuchs in der DDR zu allen Jahreszeiten, und es bedeutete mir nichts, daß man in den Niederlanden auch im Januar Erdbeeren essen konnte. Ich fand es viel schöner, sich über die ersten Erdbeeren im Frühjahr freuen zu können. Sonst war alles zu kriegen, was die Bruderstaaten uns lieferten. Der DDR-Handel mit Kuba bescherte uns wunderbare Rumsorten wie den weißen Rum und Zigarren, die in den Niederlanden damals noch ein exklusives Vergnügen waren: die von Castros Gnaden. Rußland lieferte die abwegigsten Wodkavariationen in Hülle und Fülle und dazu schöpflöffelweise Kaviar. Der lagerte in Holztonnen, wie wir sie in den Niederlanden nur von den gepökelten Heringen oder dem Bier her kennen. Das allgegenwärtige und ewig notleidende russische Militär schaffte alles heran, was man haben wollte. Das heißt, falls man Gelegenheit fand, mit den Soldaten Kontakt aufzunehmen, denn Kontakte zu Zivilisten waren nur Offizieren gestattet. Und außerdem mußte man etwas Russisch können, aber da Russisch in den Schulen der DDR Pflichtfach war, war es für mich leicht, mir von meinen Freunden und Kollegen ein paar Brocken Russisch beibringen zu lassen. Leider wußte man von vornherein nie, ob die kleinen Jungs in den russischen Uniformen auch wirklich Russisch sprachen, die meisten waren keine Russen, sondern Ukrainer oder Georgier oder andere Pseudorussen. Gelegentlich freundlichere Beziehungen mit Israel brachten Apfelsinen und andere Südfrüchte ins Land, bei normal angespannten Verhältnissen kamen die Orangen aus Kuba. So etwas schafft ein politisches Bewußtsein. Lange Schlangen gab es dann, wenn unerwartet Ware geliefert wurde. Weil meine Probezeiten unregelmäßig waren und ich oft zu anderen Tageszeiten frei hatte als die anderen, stand ich oft in der Schlange, um zu erwerben, was gegen Feierabend bestimmt schon wieder ausverkauft war. Manche Gelegenheiten konnte man einfach nicht ungenutzt vorbeistreichen lassen: Bananen im November, vor allem für die Kinder. Man kriegte nie mehr als zehn Stück oder fünf, je nachdem, wie viele Kinder man angeblich hatte. Tomaten im Februar, gleich für alle Freunde mitgenommen, ab in den Beutel, den man aus genau diesem Grund immer bei sich hatte. »Salamander«-Schuhe, die die DDR in Lizenz für Österreich herstellte – für die Freundin mit den schwierigen oder großen Füßen. Die vietnamesischen »Freunde«, denn so wurden die Bewohner eines Landes genannt, das für uns ein »gutes« Land war, brachten ihre Lieder mit und unbekannte Lebensmittel und Kräuter, später auch eine neue Art Restaurant. Wir schenkten ihnen unsere Solidarität gegen die USA und lernten ihre Lieder, während wir bei ihnen aßen. Ich war ganz versessen aufs Schlangestehen. In der Schlange wurden Rezepte ausgetauscht, in der Schlange lernte ich Land und Leute kennen. Man reihte sich zuerst in die Schlange ein und fragte erst dann, was es eigentlich zu kaufen gab. Die zwei ausländischen Schauspieler an unserem Theater, die in ihren Heimatländern, zwei verschiedenen Heimatländern, zum Tode verurteilt worden waren, erklärten den anderen währenddessen, wie man bestimmte Kräuter benutzte oder Auberginen zubereitete, wie Kiwis schmeckten und daß sie sehr vitaminreich seien. Daß man Bananen auch braten konnte und welche Mittel es gab, die Potenz zu steigern. Viele junge, arbeitende Frauen baten ihre Mütter oder ihre Kinder, sich an ihren Platz in der Reihe zu stellen, damit sie währenddessen andere Einkäufe erledigen oder zur Apotheke gehen konnten. Es gab auch ältere Frauen, die sich dafür bezahlen ließen und aus dem Warten einen Beruf gemacht hatten. Zur Apotheke ging man übrigens dauernd. Bananen waren teuer, denn der Staat mußte sie mit Westgeld bezahlen. Die Apotheke dagegen war Staatseigentum und aus diesem Grund gratis. Schmerzmittel bekam man rezeptfrei, die Rentner belegten ihre Butterbrote damit. Es gab auch jede Menge Salben, die man als Schönheitsmittel benutzte. Außerdem literweise 100-prozentigen Alkohol, der meine Arztfreunde nur eine Ostmark pro Liter kostete. Der wurde dann mit reichlich Orangensaft eigener Produktion vermischt und war damit viel billiger als der DDR-eigene Nordhäuser Doppelkorn oder Wodka aus Rußland oder Polen.
Man kaufte auf diese Weise nicht nur, was man zufällig entdeckte, man kaufte auch, was man »bestellt« hatte, oder was unter der Ladentheke beziehungsweise im Hinterzimmer lagerte. Es kam oft vor, daß Leute Dinge kauften, von denen sie nicht mal wußten, was es war, sie erstanden es nur, weil es unter der Hand angeboten wurde. »Erst kaufen, dann fragen« hieß die Devise. Vager Besitz, eine Chance aufs Glück, auf ein kleines Glück nur, das man ja immer noch bei Freunden gegen etwas anderes eintauschen konnte. In Buchhandlungen gab es unter der Ladentheke Bücher für Schauspieler und andere Halbintellektuelle. Sie stammten aus dunklen Kanälen, von befreundeten Verlegern etwa oder waren aus dem Westen, verboten oder »wertvoll«. Jeder pflegte sein Verhältnis zu seinem Buchhändler. Auf diese Weise konnte man sogar an schwer erhältliche Bücher gelangen. Bücher waren für uns mehr wert als eine Dose Pfirsiche oder eine Levis-Jeans, die sowieso nie richtig paßte. Und viel billiger waren sie auch. Für hundert holländische Gulden Bücher konnte man kaum nach Hause tragen. Spanischsprachige Bücher waren schon übersetzt, kaum sie in ihren Ursprungsländern erschienen waren, weil viele Autoren davon zum »Freundeskreis« der DDR gehörten. Allerdings war Papier knapp, ein Grund, warum sogar DDR-Bücher für einen großen Liebhaberkreis Kostbarkeiten waren. Die Gesammelten Werke von Marx/Engels waren allerdings nie Mangelware. Westliteratur war meist nur schwer aufzutreiben, nicht etwa, weil sie verboten war, das waren eigentlich nur wenig Titel, sondern weil die Rechte mit teurem Westgeld erkauft werden mußten. Die DDR hielt sich im Gegensatz zur Sowjetunion brav an die internationalen Regeln. Sie lag natürlich auch viel näher und war leichter zu bestrafen. Das DDR-Geld war ein Kapitel für sich. Die »Mark der DDR« war eine Währung, die nur im eigenen Land einen Wert hatte und außerdem an den Rubel gekoppelt war. Der offizielle Wechselkurs zwischen Ost- und Westmark war 1 zu 1. Doch galt dieser Kurs nur direkt an der Grenze beim Zwangsumtausch. Durch diesen Zwangsumtausch verdiente die DDR etwas Westgeld, und der Besucher wurde nicht gleich dazu verleitet, auf dem Schwarzmarkt zu wechseln. Der »offizielle« Schwarzmarktkurs lautete 1 zu 4. Den zahlte auch jede Westbank, vorausgesetzt, man konnte DDR-Geld in den Westen schmuggeln und die Wirtschaftslage der DDR war nicht zu desolat bzw. die Zahl der Ausreisenden zu hoch. Kurz vor dem Fall der Mauer war dieser Kurs zunächst auf 1 zu 10 gestiegen und erkletterte danach astronomische Höhen, wodurch jeder Wechselversuch einer Verzweiflungs- oder Irrsinnstat gleichkam außer unter Handelspartnern. Der größte westliche Handelspartner der DDR nach der BRD waren die Niederlande. Die DDR galt als ein zuverlässiger Handelspartner, und so stand sie bis zur Wende auf Platz zehn der internationalen ökonomischen Rangliste. In der DDR waren die verschiedensten Währungen im Umlauf, manche mehr, manche weniger, manche nicht unbedingt legal, andere weniger gern gesehen. Die DM war am begehrtesten: Mit ihr konnte man in den Westen reisen, das heißt, falls man an ein Ausreisevisum kam. Man konnte damit aber auch in Urlaub fahren, nach Ungarn beispielsweise, nach Budapest, das für den Ostdeutschen fast so etwas wie Pariser Verlockungen bot, oder in eines der anderen Ostblockländer, von denen Polen, Bulgarien oder die Sowjetunion mehr oder weniger anständige Wechselkurse hatten. Und man konnte damit in den Intershops einkaufen, wo es Zauberdinge bis hin zu Autos zu erstehen gab. Reichtum und Ansehen hingen davon ab, wie viel Westgeld jemand besaß, egal was er in Ostmark verdiente. Leider brauchte man dazu Verwandte, ohne die bekam man keine Westmark, zumindest nicht legal. Die ersten Wissenschaftler, die aus dem Ostblock zu Symposien in die Niederlande reisten, wurden von den westlichen Kollegen für Sonderlinge gehalten. Sie gingen nach den Veranstaltungen nie mit in ein Restaurant oder eine Kneipe und ließen sich nicht mal einladen.
Denn das ist peinlich, wenn man sich nicht revanchieren kann. Außerdem wußte ein DDRMensch nie, wer ihm alles auf die Finger sah und wollte schließlich noch ein paar Mark beiseite legen, um der Frau und den Kindern etwas mitzubringen. Für die Spezialisten gab es dann noch die VE, die Verrechnungseinheit des Tauschhandels, dazu den Rubel, den transferablen Rubel, eine Art VE, aber dann russisch, Devisen, das heißt Westgeld in welcher Form auch immer, Valuta, die in jedem Fall transferabel waren, also Gulden, Dollar, Pfund und so weiter, allerlei Arten Tauschgeld, das als Zahlungsmittel diente, »Einreisegeld« für westdeutsche Bürger, das sie von ihrem eigenen Staat wieder zurückbekamen, und Flüchtlingsgeld, womit DDR-Bürger freigekauft oder eingetauscht wurden. Für alle diese Geldsorten war ich eine Expertin, denn ich hatte bei meiner Arbeit und meinen Reisen mit allen zu tun, je nach Situation. Es war schon schwierig, eine dieser Währungen in ein Land mitzunehmen, aber sie aus dem Land wieder herauszubekommen oder gar irgendwo zu tauschen, war noch schwieriger. Deshalb verwalteten Freunde in der ganzen Welt kleinere Geldbeträge in ihrer jeweiligen Landeswährung für mich, die ich bei ihnen hinterlegte, wenn ich bei Filmproduktionen oder zu Besuchen dort war. Dagegen liegen in den Schubläden irgendeines Hauses, das ich schon seit Jahren nicht mehr bewohne, noch Gelder, die Freunde bei mir hinterlassen haben und die schon längst nichts mehr wert waren. Ich bewegte mich in einer merkwürdigen Schattenwelt, in der alle versuchten, mir meinen Aufenthalt zu ermöglichen, wobei auf Mittel zurückgegriffen wurde, die so unüblich waren, daß ich sie überall, wohin ich reiste, sei es Ost oder West, daneben oder dazwischen, immer wieder erläutern mußte: Ich hatte noch meinen holländischen Paß, mit dem ich in die DDR ein- und aus ihr ausreiste. Kein Wunder, daß mich so etwas wie ein Mangel an Erdbeeren nicht schrecken konnte: In weniger als zehn Minuten konnte ich in Westberlin sein, wo ich sie mir leicht hätte kaufen können, was ich aber nicht tat, da es meine ostdeutschen Freunde nicht konnten. Mit meinem holländischen Paß konnte ich auch in die Ostblockländer reisen. Nur brauchte ich dann ein Visum, fiel unter die Zwangsumtauschpflicht für Westbürger und mußte Westgeld bezahlen, das ich nirgendwo verdiente. Außer ich war vom jeweiligen Land eingeladen worden und erhielt meine Gage in der Landeswährung, was den Vorteil hatte, daß ich das Geld einigermaßen legal, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, aus dem Land ausführen oder in DDR-Währung umtauschen konnte. Mein Auto hatte ein holländisches Kennzeichen, womit ich zwar überall herumfahren, aber nicht in der Landeswährung tanken konnte. Für solche unauflösbaren Probleme erhielt ich einen speziell für mich ausgefertigten DDR-Paß. Er hatte eine andere Farbe als der echte, nämlich knallrot, trotzdem konnte ich damit beweisen, daß ich irgendwie dazugehörte. Die Welt von seiner Gültigkeit zu überzeugen, war ganz meiner Eloquenz überlassen, denn schließlich hatte keiner so einen Paß vorher je zu Gesicht bekommen. Meine Rettung war, daß ich damals nur wenig Westgeld besaß und die Leute einsahen, wie wenig es bei einem blonden, nackten Huhn wie mir zu rupfen gab. Ich verteidigte mich also mit dem Mut der Verzweifelten und lernte dabei zahlreiche ausländische Botschaften in Berlin von innen kennen: Mit der Zeit gewann ich dort überall mitleidige Freunde. Alle drei Monate verbrachte ich einen vollen Tag bei der Berliner Fremdenpolizei, um mir alle nötigen Aufenthaltsgenehmigungen und Ein- und Ausreisevisa zu besorgen. Nachdem ich beim ersten Mal alles falsch gemacht hatte, was man nur falsch machen konnte, und meine InterflugMaschine eine halbe Stunde am Boden festgehalten wurde, damit ich meine Vorstellung noch erreichen konnte, wußte ich, wie es ging, und hatte danach nur noch selten Schwierigkeiten. Man kannte sich ja auch nach einer Weile.
Auch die Fremdenpolizei in den Niederlanden lernte ich gründlich kennen, weil DDR-Freunde von mir sich dort Visa für die Niederlanden besorgen mußten. Eine Sorte Polizei übrigens, die mir wenig behagte, denn so »kalt« war der Krieg damals nun auch wieder nicht.
Ferien 1 Die Ferien in der DDR waren immer ein Problem. Sehr viele Leute besaßen etwas draußen eine Datscha, einen Schrebergarten, ein Landhäuschen oder irgend etwas in der Art. Wir hatten nichts. Mein Anhang war geschieden, und die Datscha hatten sie. Ich besaß zu der Zeit ein kleines bißchen Westgeld: das Stipendium des Kultusministeriums, womit ich meine Praktika an verschiedenen Theatern im Ausland absolvieren und meine Regieausbildung beenden konnte. An der Amsterdamer Theaterschule gab es damals noch kein Regiefach: Man mußte sich also auf den Weg machen. Der Weg, den ich dabei zurücklegte, war am Ende sehr lang, beabsichtigt hatte ich das nicht. Ich wollte etwas lernen, um die Niederlande damit zu beglücken, wie andere in die Welt ziehen, um das Fürchten zu lernen. Außerdem verfügte ich als frischgebackene Regieassistentin am Ostberliner Deutschen Theater über ein Minigehalt – in DDR-Geld ausbezahlt natürlich. Ich konnte mir davon Lebensmittel kaufen und ein Zimmerchen mieten. Ein Zimmer zu finden, zeigte sich als außerordentlich schwierig, weil es kaum Ausländer gab, außer den paar vereinzelten, die wie ich eine befristete Aufenthaltsgenehmigung hatten. Nach langem Suchen konnte ich für viel Geld ein schönes kleines Apartment »leihen«. Ein Zimmer, Unter den Linden. Im Zentrum von Berlin und fünf Minuten von allen Theatern entfernt, an denen ich lernen wollte. Links blickte ich auf das vermauerte Brandenburger Tor und geradeaus auf die Friedrichstraße mit dem Bahnhof, wo mein Zug aus den Niederlanden ankam, also auch meine eventuelle Fluchtroute. Ein paar 100 Meter hinter mir befand sich Checkpoint Charlie, der Grenzübergang nach Westberlin. Im September fing meine Arbeit am Deutschen Theater an, bei Benno Besson, Brechtschüler, Regisseur und zu meinem Glück ein Frankoschweizer, denn mein Deutsch hielt nur ich für richtiges Deutsch, meine Kollegen hielten es für etwas ganz anderes. Kurz bevor ich nach Deutschland ging, hatte ich in den Niederlanden mit einem deutschen Regisseur gearbeitet, der kein Wort Niederländisch sprach. Leen Jongewaard, der die männliche Hauptrolle spielte, pflegte die Probe mit einer Bemerkung über das Wetter zu betreten. Als der Regisseur nach Leens Worten »Es ist kauss baussen« mit dem Kopf nickte, wußte ich, daß ich mich überall würde durchschlagen können, und kurze Zeit später fand ich mich in einem Deutschland wieder, das DDR hieß, mit einem kleinen Wörterbuch, das nur so groß war wie meine Hand, sprach so gut wie kein Deutsch und wollte in die Ferien fahren mit jemanden, der viele Jahre später mein Ex sein würde. Die Ferien im ersten Jahr verbrachte ich irgendwo an der Ostsee in einem Fremdenzimmer, wofür sich mein Reisebegleiter zutiefst schämte. Ich verstand sein Problem nicht: Zwar hatte ich gerade eine Einladung nach Hollywood ausgeschlagen, um am Deutschen Theater arbeiten zu können, war aber dabei doch sicherlich ganz bescheiden geblieben. Das Zimmer hatte eine Art Gitterbett und als Waschgelegenheit einen Krug mit Porzellanschüssel. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und ich fand es richtig romantisch. Auf dem Innenhof war ein Plumpsklo mit einem Eimer und das Bett war voller Beulen und wackelte. Mein Vater hatte immer eine ausgesprochene Abneigung gegen Hotels gehabt, also verbrachten wir als Kinder unsere Ferien meist in einem Zelt irgendwo in der Wildnis, wo es überhaupt keine Toilette gab, oder auf einem
Campingplatz, wo irgendwie alles Klo war. Jeder DDR-Bürger wäre überzeugt gewesen, daß solche Zustände im Westen nur in der Steinzeit herrschten. Das Haus war ziemlich voll, jeder Winkel war vermietet, also verbrachten wir die Nächte in den Dünen und die Tage am Meer. Abgesehen von den Suchscheinwerfern, die plötzlich links und rechts auftauchten und kontrollierten, ob wir nicht gerade nach Skandinavien schwimmen wollten, interessierte sich niemand für das, was wir da in den Dünen anstellten, und das war zwei Wochen lang durchaus erträglich. Nun macht aber fast jedes Theater sechs Wochen Ferien. Unsereins arbeitet jedes Wochenende und unter der Woche beinahe jeden Abend. Für den Rest des Sommers schlenderte ich also durch Berlin. Die einstmals von den Niederländern entwässerte Stadt liegt tief auf schlammigen Grund, und schon von weitem sah man die dunklen Wolken aus Braunkohle und Trabiabgasen über der Stadt. Berlin stank. Meine ersten Wochen in Berlin verbrachte ich im Apartment eines berühmten bulgarischen Drehbuchautors, der für eine Weile in sein Heimatland gefahren war. Die Wohnung war groß und voller Bücher, also eine Wohnung, in der ich es sehr gut glaubte aushalten zu können. Blickte ich jedoch aus dem Fenster, öffnete sich dort eine riesige, kahle, nur mit einem paar grauen Grasbüscheln bewachsene Sandfläche, die gerade von einer alten Frau überquert wurde. Sie zog einen Karren mit Hausrat hinter sich her. Panik erfaßte mich bei dem Gedanken, daß ich hier eine längere Zeit würde verbringen müssen, eine Zeit voll grauer Ödnis, Wind und alter Frauen mit Zweiter-Weltkrieg-Bollerwagen. Eine Zeit, in der keiner der Menschen, die ich auf den Straßen sah, auf dem Weg zu mir war. Da klingelte es an der Haustür. Ein kleiner Junge stand vor der Tür und teilte mir mit, daß er Hunger habe. »Ist deine Mama nicht zu Hause?« fragte ich. »Mama ist betrunken«, sagte der Junge. »Und dein Papa?« fragte ich weiter. »Papa kotzt«, sagte der Junge. Ich ging hinunter. Es war, wie der Junge gesagt hatte. Ich gab ihm zu essen. Der Mann im Badezimmer hieß Dieter und war einer der besten Schauspieler der DDR. Er wurde mein Freund, und ich habe noch viele Jahre mit ihm auf der Bühne gestanden.
Zwischen zwei Kulturen Am gleichen Tag, als ich meine Stelle als Intendantin des Amsterdamer Stadttheaters antrat, überreichte Dieter Mann, Intendant in Berlin, mir eine Urkunde für 15 Jahre Mitgliedschaft am Deutschen Theater. Auch nachdem ich nach Holland zurückgekehrt war, bestritt ich in Berlin die Vorstellungen, in denen ich noch eine Rolle hatte. Bisweilen pendelte ich in einem aberwitzigen Tempo zwischen den Niederlanden und Berlin hin und her, was zu einer übergebührlichen Inanspruchnahme der Souffleuse führte. Es konnte passieren, daß ich die deutsche Bühne mit einem Kopf voller Holländisch betrat. In den Niederlanden sagt man zur Souffleuse, wenn man auf die Bühne tritt, spaßeshalber: »Keine Details, welches Stück?« In Deutschland neckten mich die Kollegen: »Keine Details, welche Sprache?« Wir verlegten die Berliner Vorstellungen auf jene Wochenenden, die ich in den Niederlanden arbeitsfrei hatte. Im Gegensatz zu den Niederlanden spielte das Deutsche Theater nicht »en suite«, das heißt jeden Tag dieselbe Vorstellung, sondern »Repertoire«. Beim Repertoire hat der Schauspieler eine Reihe von Stücken in petto, die man abwechselnd spielt. Jeden Abend ein anderes Stück, manchmal eine beachtliche Anzahl von Rollen durcheinander. Lagen zwischen den Vorstellungen eines Stückes mehr als sechs Wochen, hatte man Anrecht auf eine Probe. Die
Proben für ein neues Stück fanden vormittags statt. Nach einer warmen Mittagsmahlzeit in der Theaterkantine rannte man nach Hause, um den Text für die Abendvorstellung noch einmal durchzunehmen. Jede Vorstellung war so etwas wie eine Premiere. Bei Antritt meiner Stellung am Amsterdamer Stadttheater stellte ich mich in der Foyerrotunde einer Reihe mir noch unbekannter Personen vor, während ich zwischendurch die Theaterbeleuchtung für das Gastspiel meines alten Deutschen Theaters regelte. Es hatte ein Stück mitgebracht, dass ich acht Jahre zuvor in Berlin inszeniert hatte und das am selben Abend in Amsterdam gespielt werden sollte. Für meine Tätigkeit in Amsterdam wurde mein Vertrag mit Berlin für fünf Jahre »ausgesetzt«. Beim Deutschen Theater hatte man eine Lebensanstellung wie beim Wiener Burgtheater oder der französischen Comédie Française. Es war ein großes Staatstheater mit einem 80-köpfigen Ensemble und drei Theatersälen. Der größte Saal besaß die Intimität des Amsterdamer Theaters und das, obwohl er um einiges größer war. Als ich den Saal der Schouwburg, den man in den Niederlanden beharrlich »riesig« nannte, nach langer Zeit zum ersten Mal wiedersah, sagte ich: »Ach, wie süß, aber so klein.« An diesem Abend sah ich mir von meinem neuen Amsterdamer Logenplatz aus das mir so vertraute Stück mit meinen vertrauten Kollegen an und fühlte mich einsam. 1990, unmittelbar nach dem Fall der Mauer Direkt nach der Wende wurden die Ostberliner Verträge auf Lebenszeit gekündigt. Die erste, die stehenden Fußes entlassen wurde, war ich. Ich war eine Ausländerin und außerdem kaum anwesend. Hinzu kam, daß ich noch eine andere Anstellung hatte. In den Niederlanden. Die zukünftigen Machthaber schätzten die Gefahr, daß ich gegen meine Entlassung Einspruch erheben würde, auf ungefähr null Prozent. Natürlich mußten in Zukunft auch für das »neue« Berlin Regeln für die Entlassungen geschaffen werden, doch während der Interimsperiode geschah das alles hastig und fast ohne Protest von seiten der Betroffenen. Es wurde entlassen, ausgetauscht und wegsaniert, was das Zeug hielt. Ostberlin war wie gelähmt, keuchte atemlos angesichts all der Ereignisse, angesichts der neuen und der verlorenen alten Möglichkeiten. Und so protestierte ich als einzige und zog vor Gericht. In der DDR hatte ich bereits früher einmal einen Prozeß geführt, und deshalb wunderte mich, daß das, was früher so schwierig war, nämlich einen Rechtsanwalt zu bekommen, plötzlich so einfach war. Die Rechtsanwältin war eine Ostdeutsche. Ich bat sie, gegen meine Entlassung vorzugehen, wobei sie sich vor allem am westdeutschen Arbeitsrecht orientieren sollte. Am Prozeßtag glänzte sie durch Abwesenheit. Ich saß also ganz allein in dem kleinen alten Ostberliner Gerichtssaal, gerade eben mit dem Flugzeug gelandet und hielt meine Reisetasche auf dem Schoß. Mir gegenüber saß ein feuerspeiender Staatsanwalt (West), der meinen Fall, wie ich übrigens selbst auch, als einen Präzedenzfall betrachtete. Ich hielt mein Plädoyer also selbst. Außer dem Richter (West) und zwei Beisitzern (Ost) war ein relativ großes Publikum anwesend. Leidenschaftlich verteidigte ich meine, wenn auch auf niederländische Verhältnisse zugeschnittenen Rechte, und es wurde viel gelacht. Der Staatsanwalt tobte vor Wut. Ich wurde natürlich doch entlassen, bekam aber immerhin eine Abfindung. Von diesem Geld kaufte ich mir in Amsterdam ein kleines Auto und freute mich wie ein Kind, als hätte ich im Alleingang den ersten Krieg einer neuen Zeitrechnung gewonnen. Liebend gern hätte ich bei dem Ost-West-Gespräch hinter den Kulissen, sprich im Beratungszimmer, gelauscht. Mein Gehalt am Deutschen Theater hatte 1000 Mark betragen, kein schlechtes Gehalt in der DDR, davon konnte ich gut leben. Die Miete für mein Vier-Zimmer-Apartment an der Spree
betrug 175 Mark und meine Krankenversicherung kostete mich nicht mehr als 10 Mark pro Monat. Außerdem muß gesagt werden, daß Theaterschauspieler sich in der DDR mit Synchronisation und anderen Tätigkeiten bei Film und Rundfunk ordentlich etwas dazuverdienen konnten. Meine französischen und englischen Akzente, die ich im rasenden Tempo einsprach, waren zu Anfang meiner Zeit in der DDR Gold wert. Meine Filmgage betrug 350 Mark pro Tag. Ich filmte damals sehr viel, das heißt, solange ich es noch durfte.
Ferien 2 Im nächsten Sommer ergatterten wir für teures Geld zwei Plätze auf einem Kreuzfahrtschiff. Kreuzfahrten waren für DDR-Bürger erlaubt, denn die Schiffe hatten ja eine große Mauer aus Wasser um sich und legten nur an Orten an, von denen eine Flucht nicht so leicht möglich war. Ich hatte inzwischen eine größere Rolle beim Film gehabt und stapelte meine Gage in Ostmark in einer kleinen Schublade in der Kabine. Das Geld auszugeben war schwieriger als ich dachte, wirklich teure Dinge gab es wenig zu kaufen. Wir steuerten Estland, Lettland, Litauen und Leningrad an. In jedem Hafen, in dem wir von Bord gingen, stand ein Bus für die DDR-Bürger bereit und ein Taxi für mich. Ich hatte, außer meinem niederländischen Paß, auch noch meinen berühmten DDR-Paß bei mir. Aber der funktionierte in Estland und Lettland nicht, und so führte ich in jedem Hafen dieselben Diskussionen: Ich sollte das Taxi in Dollar bezahlen, die ich nicht hatte. Auf diese Weise wurde ich in jedem dieser Häfen von einer auf dem Schiff hochgeachteten Westbürgerin zur Bürgerin dritter Klasse degradiert. Mit dem Bus durfte ich auch nicht fahren und manchmal durfte ich nicht mal an Land. Ich entwickelte eine große Abneigung gegen OstWest-Diskussionen, etwas, das mir später in meinen Erklärungsversuchen in den Niederlanden noch so manchen Streich spielen sollte und in der innerdeutschen Kommunikation während und nach der Wende nicht immer geschätzt wurde. Und so blieb ich in Lettland, unserem zweiten Anlegeort, auf meinem mühsam genehmigten Platz im Bus sitzen und hörte dem Gespräch zwischen dem Dolmetscher aus der DDR und dem lettischen Busfahrer zu, die sich über ihre gemeinsamen Kriegserlebnisse in der gemeinsamen deutschen Armee unterhielten. In einer Armee also, in der angeblich niemals ein einziger DDR-Bürger gewesen war, denn die waren ja ausnahmslos Antifaschisten gewesen und aus diesem Grund für kein einziges Wehrmachtsverbrechen mitverantwortlich. Die beiden Männer amüsierten sich prächtig, und ich wurde hinten im Bus immer mehr zur Niederländerin. Auf dieser Reise lernte ich viel. Und noch mehr über Dinge, die ich eigentlich schon wußte. In den Restaurants gab es kahle Holztische für die Ostdeutschen und ein separates, mit einem weißen Tischtuch gedecktes Tischchen für mich. Das war widerlich. Wenn ich in meinen langen Wanderjahren eines gelernt habe, dann: Nichts zu akzeptieren, womit man nicht einverstanden war. Auch sonst war es eine nervenaufreibende Reise. Wir, bekannte Schauspieler, saßen am ersten Abend am Kapitänstisch, am zweiten bei den Offizieren, am dritten bei den Unteroffizieren, danach beim Schiffsarzt und nacheinander bei allen übrigen Mannschaftsklassen, denn in der DDR waren schließlich alle gleich. Solidarisch gesinnt, umgeben von neuen Freunden und mit einem großen blauen Fleck, den mir eine alte Dame in der U-Bahn von Sankt Petersburg – damals noch Leningrad – verpaßt hatte, weil ich einen Minirock trug, kehrte ich nach Berlin
zurück – mir schärfer denn je der großen Unterschiede und Hierarchien in der klassenlosen Gesellschaft bewußt, in der ich mich bewegte. Und außerdem war ich urlaubsreif.
Nach der Wende Nach dem Sturz des alten Politbüros und dem Fall der Mauer, stürzte sich das Volk sofort auf Wandlitz, wo sich die Regierung, wie Biermann in seinem Lied singt, selbst eingemauert hatte. Über Wandlitz kursierten viele Gerüchte und Traumvorstellungen; täglich sah man die dunklen Limousinen in Richtung Wandlitz fahren, nachdem zehn Minuten vorher alle Ampeln der Stadt auf rot gesprungen waren. Vor allem dieser Umstand war es, der die Bevölkerung veranlaßte zu glauben, die Machthaber wohnten in römischen Palästen. Weil eine Schauspielerin unseres Ensembles mit einem Herrn des ZK* verheiratet war, kannten wir am Theater ungefähr die Realität, aber das Volk, das nur wußte, daß die Herren dort oben über ein eigenes Versorgungssystem verfügten, stellte sich wunder was vor und wollte das alles nun mit eigenen Augen sehen. So zeigte das Fernsehen, wie das Volk Wandlitz stürmte wie früher die roten Soldaten das Winterpalais des Zaren in Sankt Petersburg. Doch sie blieben frech verlegen in den Haustüren stehen, weil sie Angst hatten, mit ihren Stiefeln Schmutz hineinzutragen. Und es zeigte ein lächerliches, überdachtes Schwimmbad, wie es jeder neureiche Dorfschulze im Westen in seinem Garten hatte, die winzigen Badezimmer, das kleine Spießige, enorm Kleinbürgerliche von allem. Nicht mal richtige Tyrannen waren es gewesen, keine 5000 Paar Schuhe im Schrank oder goldne Wasserhähne. Nicht mal Wandlitz hatte Format. Die hübschen Anekdoten in Schalck-Golodkowskis Memoiren, der mit seiner »Koko«Organisation die Regierungsmitglieder mit allem versorgte, was es in der DDR nicht gab, berichten von Softpornos wie Emmanuelle für Honecker oder von Kaschmirpullis mit passender Handtasche für seine Frau, die ihre Kleider ansonsten brav in der DDR kaufte. Günther Mittag*, der an Zucker litt, ließ sich Medikamente kommen. Erst als die Kinder und die Enkelkinder der großen Machthaber mitreden konnten und Forderungen stellten, bekam Koko etwas mehr zu tun. Schalck notiert in seinen Deutsch-Deutschen Erinnerungen: »Eine Bestellung, dringend und sofort. Ein warmer Wintermantel. Grün. Erledigt ... Wir kamen an den Tribünen vorbei und sahen den Generalsekretär in diesem grünen Bogner-Mantel aus dem Westen. Das große ›B‹, das wir in der Eile zu entfernen vergessen hatten, war für jeden deutlich sichtbar.« Zehn Jahre später sah ich, als ich zur Stadt hinausfuhr, bei jeder Abfahrt ein Straßenschild, auf dem Wandlitz stand: Links ging es nach Wandlitz, rechts ging es nach Wandlitz, als gäbe es Dutzende von Wandlitzen, in jeder Himmelsrichtung mindestens eins. Oktopus Wandlitz.
Biermann Wir waren beim niederländischen Botschafter zum Essen eingeladen. Ich hatte inzwischen einige Botschaftsangehörige kommen und gehen sehen. Ganz am Anfang brach im Vorfeld eine Crew aus jungen Männern ein, die alles vorbereiten sollten und schließlich mit den bei uns eingeholten Adressen für Handwerker, Autoreparaturwerkstätten, Antiquitätenläden und sonstige Spezialläden loszogen, um die Lage zu erkunden. Sie brachten eine Menge Leben ins Land. Für die Niederländer, die nach dem Krieg, aus welch traurigem
Grund auch immer, in der DDR hängengeblieben waren und dadurch ihre niederländische Staatsangehörigkeit verloren hatten, war die Botschaft ein Ort, wo sie nach vielen schwierigen Jahren zum ersten Mal wieder mit Dingen aus den Niederlanden zusammentrafen. Dort sangen wir »Merck toch hoe sterck« für sie und »Waar de blanke top der duinen«, mit tränennassen Augen stimmten sie zum ersten Mal seit langem wieder den »Wilhelmus« an. Seither sind mir die Witze über die niederländische Nationalhymne vergangen. Dieser bestimmte Botschafter war ein äußerst liebenswerter Mann. Sein ganzes Leben hatte er im Ausland verbracht, die Niederlande selbst kannte er kaum. Wir alle fanden ihn sehr nett und waren tief in unseren Herzen überzeugt, daß er nicht von dieser Welt war. Er pflegte auch hübsche Hobbys. Bei Botschaftern kann man sich gründlich irren. Man ist geneigt, sie aufgrund des ganzen Brimboriums um sie herum zu unterschätzen. Wir waren also eingeladen und baten ihn noch während des Essens, den Fernseher einschalten zu dürfen: Ein Konzert von Biermann sollte live aus Köln übertragen werden. Nachdem unser Freund Wolf schon seit vielen Jahren in der DDR Auftrittsverbot hatte, war ihm die Ausreise für ein Konzert in Köln erlaubt worden, und das wollten wir uns nicht entgehen lassen. Dabei hatten wir zu Hause den Videorecorder programmiert, den ich unter ein paar Koffern versteckt nach Berlin geschmuggelt hatte. Zwar war es nicht verboten, solche Apparate einzuführen, aber man ersparte sich so eine Menge Diskussionen und Wartezeiten: Die Wachtposten an keiner Grenze der Welt sind auf Überraschungen scharf, und bei jeder Komplikation müssen sie immer erst ihre Vorgesetzten fragen. Und ein nach amerikanisch-westlichem statt nach dem in der DDR üblichen französischen Farbsystem funktionierender Videorecorder wäre in ihren Augen gewiß eine solche Komplikation gewesen. Wir hätten uns das Konzert also genau so gut zu Hause ansehen und danach viele Leute anrufen können, aber wir waren neugierig, wie Biermann sich schlagen würde: der erste offizielle Auftritt nach vielen Jahren. Angezogen vom Gebrüll der Kölner Konzertbesucher kamen noch mehr Gäste des Botschafters ins Fernsehzimmer, gingen aber bald wieder. Natürlich war es furchtbar unhöflich, von einem Abendessen aufzustehen, vor allem, da die anderen Gäste und die Niederländer, die Aufregung, die uns erfaßte, kaum nachvollziehen konnten. Doch sie sollten es noch bedauern, der Sache nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, denn ihre Telefone würden später am Abend ebenfalls nicht stillstehen. Wir hörten Wolf viele verbotene Lieder singen und bewunderten, wie gut er seine Sache machte. Wir sahen uns an. »Jetzt weiß ich auch, warum er bei uns zu Hause und im Theaterfoyer immer so laut gesungen hat«, sagte ich, »er hat für Köln geübt.« »Ganz schöner Erfolg«, sagte mein E. langsam. Doch eigentlich dachten wir etwas ganz anderes. Uns irritierte etwas, nur was? Wir freuten uns für ihn, waren aber gleichzeitig sehr besorgt. Schweigend kehrten wir ins Eßzimmer des Botschafters zurück. Über Biermanns Lieder war die Regierung noch nie froh gewesen. Und die hatte er jetzt alle in Köln gesungen. Er hatte zwar die Erlaubnis bekommen, im Westen aufzutreten, aber galt das auch für diese Lieder, die er in der DDR außer in Foyers und Küchen nie öffentlich singen durfte? Später zu Hause sahen wir uns ein Stück des Videos an, bevor wir zu den Nachrichten umschalteten. Westnachrichten. Das Westfernsehen war das Auge des Ostens in die Welt hinaus, am Westfernsehen überprüften wir unser Ostleben und das Maß der Lügen unserer Regierung. Und im Westfernsehen hörten wir, daß Biermann nicht mehr in die DDR einreisen durfte. Das Wort »Ausbürgerung« hielt erneut Einzug in den deutschen Sprachgebrauch und wurde Teil unseres Lebens. Wieder sahen wir uns schweigend an. »Morgen«, sagte ich, und wir gingen zu Bett. Ein Problem, das für die Nacht zu schwer ist, sollte man auf den nächsten Tag verschieben.
Ferien 3 Im dritten Sommer erhielten wir von der Urlaubsstelle einen Gutschein für einen Campingaufenthalt an der Ostsee. Der Campingplatz befand sich an einem Strand, es war ein FKK-Strand, Nacktcamping und Nacktstrand also. FKK, dieses aus den 20er Jahren übriggebliebene Relikt, war in der angeblich so prüden DDR ungeheuer populär, auch weil es der Forderung nach allgemeiner Gleichheit entsprach. Schönheit mag dann zwar ein gesellschaftliches Kriterium sein, aber sie kümmert sich nicht um Rang und Namen. Es gibt, will ich mal sagen, auch furchtbar häßliche Fabrikdirektoren und sehr schöne Schornsteinfeger. Im übrigen habe ich von Prüderie in der DDR nie etwas bemerkt. Ich lieh mir in den Niederlanden einen alten Wohnwagen, vor den wir ein Pferd spannten, so fuhren wir auf den Strand. In der ersten Nacht schlief ich keine Sekunde, ich lauschte auf das Meer unter unseren Rädern. Ein Meer ohne Ebbe und Flut konnte ich mir nicht vorstellen und wartete buchstäblich darauf, daß wir vom Wasser verschlungen würden. Am nächsten Tag ging ich ins Dorf einkaufen, drei Kilometer Dünenwandern entfernt. Im Supermarkt gab es wenig zu kaufen, nicht mal Milch, die ich den Kindern doch versprochen hatte. Kein Obst. Keinen Joghurt. Das Dorf selber hatte nur ein paar hundert Einwohner, doch während der Sommermonate stieg die Zahl der Bewohner auf einige Tausend an. Solchen Sprüngen in der Bevölkerungsstruktur war die Planwirtschaft nicht gewachsen, jedenfalls nicht die der DDR. Wir lernten schnell, an Milch und Lebensmittel zu kommen: Um fünf Uhr früh aufstehen, sich den Ladenbesitzern freundlich nähern, mit ihnen reden, flirten, ein bißchen Aufmerksamkeit schenken. Manchmal benutzten wir Geld, manchmal dramatische Szenen, für eine Schauspielertruppe kein großes Problem. Auf diese Weise erwirtschafteten wir so viele Güter, daß wir damit auch andere versorgen konnten. Die Gutscheine für das Camping galten nur für zwei Wochen, aber daran hielt sich kaum einer. Manchmal kam ein Kontrolleur vorbei, meistens sehr früh am Morgen. Wie ein Windstoß verbreitete sich die Nachricht von seiner Ankunft, alles floh in die Dünen, und der Kontrolleur fand nur leere Zelte und einen leeren Wohnwagen vor. Daß keiner sich gern mit Künstlern anlegte, wurde mir damals klar, denn unsereins machte ungleich viel mehr Lärm als jeder andere und das taten wir dann auch ausgiebig und blieben volle sechs strahlende Wochen am Strand. Um uns bei jenen Campern zu bedanken, die uns nicht verpfiffen, bauten wir ein riesiges Puppentheater auf und schickten einen Haufen nackter Kinder mit Töpfen und Holzlöffeln den Strand entlang, um die Vorstellung anzukündigen. Daß auch manche dieser Vorstellungen um ein Haar verboten wurden, lag daran, daß man auch nackte Stasibeamte nicht gut erkennen konnte. So war es beispielsweise keine gute Idee gewesen, eine Hexe auftreten zu lassen, die sämtliche Orangen weggestohlen hatte, woraufhin sie von Käthchen – wir betrieben die Emanzipation gleich mit – ziemlich gräßlich erwürgt wurde, denn die Kinder im Publikum erzählten danach froh ihren Eltern, daß es vom nächsten Morgen an wieder Vitamine zu kaufen gebe. Kurzum, wir fühlten uns unendlich frei hinter unseren aus Strandgut und alten Lumpen gefertigten Puppen, und wenn wir abends ins Dorf gingen, um zu tanzen, und dann aus der Kneipe flogen, weil wir barfuß waren, wunderten wir uns darüber, denn schließlich trugen wir an solchen Abenden einiges mehr als tagsüber. Irgendeiner muß dieses Barfußverbot früher einmal ausgesprochen haben, die Gründe dafür waren aber mit der Zeit verloren gegangen: Kleine Leute aber heben niemals ein bestehendes Verbot ohne offizielle Genehmigung auf. Ganz Deutschland ist voll mit strikt eingehaltenen Verboten, deren Sinn keiner mehr versteht.
Auch in der Stadt verbrachte die Strandgruppe die langen freien Abende zusammen – angezogen diesmal. Wir diskutierten über Gott und die Welt. Ob wir einander mißtrauten, uns fragten, wer mithörte? Keiner ließ sich durch solche Gedanken den Abend verderben. Abende mit viel Rotwein. Jeder brachte irgendeine Flasche mit, meist von mäßiger Qualität, junger Rotwein aus Ungarn und Bulgarien oder was es sonst noch zu kaufen gab. Arbeiter tranken Bier und Schnaps, Wein war zu der Zeit noch den Künstlern und Studenten vorbeihalten. Natürlich gab es Wodka und Kuba-Rum zu kaufen, aber solche Trinker waren wir dann doch nicht. Das heißt jedenfalls nicht in Gegenwart der anderen. Den ganzen untrinkbaren Wein schütteten wir der Einfachheit halber in einen großen Kübel, würzten ihn und verlängerten ihn mit Wasser, auch damit er mehr wurde. In den Ferien in Arenshoop oder auf der Insel Usedom machten wir abends am Strand ein Feuer und stellten einen Topf Wein drauf. Warm war er sogar genießbar. Danach gingen wir mit einer kleinen Schelle von Zelt zu Zelt und riefen: »Es ist noch Suppe da!« So bildeten sich die wahren revolutionären Zirkel: Um einen Kübel Wein herum. Politische Diskussionsabende, nächtelang: Was war nicht in Ordnung? Wer hatte was erlebt? Was war Unrecht? Was mußte sich ändern und wie? Was können wir nicht länger akzeptieren? Angst hatten wir keine, wir hatten keine Zeit zu überlegen, ob wir belauscht würden. Dabei wurden wir es mit Sicherheit. Trotzdem waren es für uns friedliche Jahre in der Diktatur der DDR. Wir sammelten sogar Geld für die Studentendemonstrationen gegen den Schah in Westberlin und ihr Opfer Benno Ohnesorg. In jenem Küstendörfchen wohnte ein alter Freund von uns. Ein ehrfurchtheischender alter Herr, grauhaarig und kerzengerade. Den Nazi-Rassegesetzen nach war er Halbjude, er hatte den Krieg dort überlebt, wo er jetzt noch wohnte. Beschützt von seiner Mutter und einem anständigen reichen Fabrikbesitzer, mit dessen Frau er jahrelang ein Verhältnis hatte. Im Krieg schlug er sich als Fabrikarbeiter durch. Er kannte jeden einzelnen Dorfbewohner und erinnerte sich stets und überall, wer sich was hatte zuschulden kommen lassen. In seinem großen Haus bewohnte er nur ein einziges Zimmer, in dem ein Schlafsofa und Hunderte von Büchern standen. Es gab noch ein anderes bewohntes Zimmer im Haus, das Zimmer seiner Mutter. Aber seine Mutter war tot. Die letzten Jahre ihres Lebens hatte er sie ganz allein gepflegt, ihr Umschlagstuch lag ausgebreitet auf ihrem Bett, die Medikamente standen noch auf dem Nachttischchen. Dieses Zimmer wurde nie gereinigt, nie gelüftet. Die Zeit und die Luft standen in diesem Zimmer, reglos. Nur wirklich gute Freunde des alten Mannes durften das Zimmer ab und zu betreten. Auch bei ihm verbrachten wir viele Sommerabende. Im Winter vermißte jeder des anderen Gesellschaft. Er kam nur ein einziges Mal nach Berlin. Er zog seinen guten Anzug an und bestieg den Zug in die Stadt. Am Bahnhof holten wir ihn ab und sahen einen alten Juden in einem schlecht geschnittenen schwarzen Anzug und Schuppen auf den Schultern. Er fühlte sich nicht sicher in Berlin, und unsere Liebe konnte ihm nicht helfen. Im Sommer saßen wir in seinem dunklen Zimmer zwischen den Büchern und rauchten. Manchmal kam ein alter Freund aus dem Dorf und setzte sich zu uns. An den Strand kam er nie. In einer Winternacht sprang er aus dem Bett, legte sich flach auf den Holzfußboden und fing an zu schreien: »Sie kommen! Sie kommen!« Er hörte nicht mehr auf damit. Man brachte ihn nach Berlin in eine Klinik. Die Krankenschwestern erlagen ihm sofort, waren voller Ehrfurcht. So ein schöner Mann, so belesen, so weise. Er wolle nach Hause, in sein Zimmer, sagte er, zu seiner Mutter und zu seinen Hunden. »Werden Sie auch keine Dummheiten machen?« fragte ihn der Arzt. »Wirst du auch keine Dummheiten machen?« fragten wir ihn. Er lächelte. Wofür wir ihn denn hielten!
Also durfte er nach Hause. Er suchte sich eine Pflegerin für seine kleinen Hunde und schluckte sämtliche Pillen auf dem Nachttischchen seiner Mutter.
Biermann 2 »Geh doch mal rasch bei ihr zu Hause vorbei«, sagte ich am Morgen, denn wenn es Schwierigkeiten gab, dann vermied man in der DDR den Griff zum Telefon. »Warum?« fragte E. »Was weiß ich«, antwortete ich, »schauen, ob es ihr gutgeht. Ob sie Geld hat.« Biermann wohnte bei uns um die Ecke, mit einer neuen Frau und einem kleinen Kind. Vor der Haustür drehte E. sich um und sagte. »Aber ich werde nichts unterschreiben.« »Ist gut«, antwortete ich. Zehn Minuten später rief er an. »Hier liegt ein Brief, den werde ich jetzt unterschreiben.« »Unterschreibe für mich gleich mit«, antwortete ich ihm. Lange Pause. »Weißt du auch, auf was du dich da einläßt?« fragte E. »Ja«, sagte ich. Aber das wußte ich dann doch nicht. Hatte nicht die geringste Ahnung, was folgen würde. Bis zu dieser Zeit war die DDR eine recht »bequeme« Diktatur gewesen. Etwas anderes als kleine, recht harmlose Konfrontationen hatte ich nie erlebt. Und die waren vor allem verbaler Natur gewesen. Ab und zu ein Verbot, aber immer erst nach langen Diskussionen. E. wußte schon eher, was er tat, für ihn war es nicht das erste Mal. Unser Brief war an die Regierung der DDR gerichtet und bat darum, Biermanns Ausweisung noch einmal zu überdenken. Am nächsten Morgen kam es zur Explosion. Der Brief war mit dem Namen aller Unterzeichner in sämtlichen westdeutschen Zeitungen gedruckt worden und wurde auch im Westfernsehen gezeigt. Die Reaktion der DDR-Regierung war hart. Kommentare und Zeitungsartikel jagten einander, Leserbriefe erschienen zuhauf, manche im Auftrag verfaßt, Reaktionen aus der ganzen Welt. Jemand hatte in der Nacht in den Schnee auf dem Dach meines Autos den Namen »Biermann« geschrieben. Ein Brandzeichen. Peter Roos stellte aus Briefen, Zeitungsartikeln, Protestverlautbarungen, Solidaritätsbekundungen und Kommentaren einen Dokumentationsband mit dem Titel Exil zusammen. Günter Wallraff schrieb das Vorwort dazu. Roos zeichnet auf diese Weise ein deutliches Bild der Folgen für die Unterzeichner. Der Fall Biermann wurde so nicht nur zu einer inneren Angelegenheit der DDR, sondern nahm innerdeutsche und sogar internationale Dimensionen an. »Der unmittelbar nach dem Bekanntwerden der ruchlosen Entscheidung der Behörden erlassene Appell einer Handvoll Künstler, vor allem Schriftsteller, die zu den bekanntesten der DDR gehören, fand ein ungeheures Echo.« Die Le Monde zitierte Heinrich Böll*: »Die Bewegung, die der Fall Biermann ausgelöst hat, ist ein neuer Impuls, der anknüpft an 1945, der nicht nur auf den 17. Juni* hin-, sondern über ihn
hinausweist. Seine Perspektive und seine gesellschaftliche Kraft bezieht er aus der gemeinsamen Hoffnung auf ›eine sozialistische Einheit Deutschlands.‹« (13. Januar 1977) Das Buch endet mit dem verzweifelten Brief Emmis, Biermanns Mutter, an die Regierung der DDR. Ihr wurde zu Weihnachten die Einreise verwehrt und sie blieb mit ihren Weihnachtsgeschenken vor der Mauer stehen. Sie erinnert die Verantwortlichen der DDR an ihre Vergangenheit in den Widerstands- und Parteikreisen und fordert die Aufhebung des Einreiseverbots, damit sie die paar Jahre, die sie noch zu leben habe, ihre Enkel, Kameraden und Freunde in der DDR besuchen könne. Ebenfalls fordert sie, den Brief in den Zeitungen zu veröffentlichen und empfiehlt sich mit sozialistischem Gruß. Veröffentlicht wurde der Brief selbstverständlich nicht. Werner Lamberz, der Chef der Agitation, wurde von der DDR-Regierung mit der Klärung der Angelegenheit beauftragt. Er wollte von den Unterzeichnern des Briefes wissen, warum sie den Brief, der ja ohnehin an das Politbüro adressiert war, nicht der Regierung direkt übergeben haben, sondern an die Westpresse weiterleiteten. Unsere Antwort lautete, daß die Regierung sich geweigert habe, den Brief anzunehmen. Es könnte aber sein, daß es sich dabei um den Portier gehandelt hatte, denn es war mitten in der Nacht gewesen. In jenen Tagen drehte ich gerade einen Film »Die unverbesserliche Barbara«, bei dem ich jede Minute im Bild war. Die DDR-Zeitschrift Der Filmspiegel wollte dem Film bei Erscheinen ursprünglich eine Titelgeschichte widmen, die aus einem Interview mit mir bestand. Die Journalistin, die mich interviewt hatte, rief mich weinend an und teilte mit, daß das Interview nicht veröffentlicht werden konnte, weil mein Name auf einer Schwarzen Liste stand. Ich bedankte mich herzlich für ihren Mut, mich anzurufen, denn sie muß gewußt haben, daß mein Telefon nicht »frei« war – das war es nämlich nie gewesen. Es gab also eine Schwarze Liste, was immer das heißen mochte. Danach erfolgte eine zweite Runde des Protests, diesen zweiten Brief unterzeichneten zahlreiche Ensemblemitglieder des Deutschen Theaters. Die Schwarze Liste würde hier wenig Schaden anrichten können: Die Leitung konnte ja nicht alle diese Schauspieler boykottieren, dann könnte das Theater ja gleich schließen. Aber auch die Techniker, die Kulissenbauer und -schieber wollten unterzeichnen. Wir machten uns da Sorgen: Sie waren im Gegensatz zu uns Schauspielern ersetzbar. Der Film kam in die Kinos, ohne daß auf den Filmpostern oder im Abspann mein Name genannt wurde. Ich rief beim Westberliner Sender RIAS an, denn ich kannte da einen und sagte: »Wissen Sie, was ich gehört habe?« Vertreter des RIAS kündigten daraufhin einen Filmbesuch an. Mein Name kehrte auf den Abspann zurück. Esche und mir wurde mitgeteilt, daß unser nächstes Filmprojekt leider nicht verwirklicht werden könne: aus technischen Gründen. Zwei Tage später rief uns ein befreundeter Schauspieler im Supermarkt hinterher: »He, wo wart ihr denn? Wir haben gestern mit dem Drehen angefangen.« Der Märchenfilm wurde ganz offensichtlich ohne uns gedreht, obwohl wir einen Vertrag dafür hatten. Wir beschlossen, das Fernsehen der DDR wegen Vertragsbruchs anzuklagen. Nun war das Fernsehen aber ein Staatsorgan, und Freunde und Kollegen gaben uns zu bedenken, daß man gegen einen Staat wie den unseren nicht so vorgehen könne und daß wir mit Sicherheit keinen Rechtsanwalt finden würden, der den Auftrag übernähme. Ich kannte jedoch einen, dem ich zutraute, ihn mit Vergnügen zu übernehmen: Gregor Gysi, Rechtsanwalt und Sohn von Klaus Gysi, der in früheren DDR-Zeiten einmal Kulturminister gewesen war und damals Staatssekretär für Kirchenangelegenheiten, eine heikle Stellung, wenn man die protektionistische Position der
Kirchen gegenüber den Dissidenten berücksichtigte. Gregor warnte uns, weigerte sich, grinste und sagte zu. Er verklagte in unserem Namen das Staatsfernsehen der DDR. Es war der merkwürdigste Prozeß, den man sich vorstellen konnte: Ich wollte ja nicht die Regierung stürzen, ich wollte nur das offizielle Eingeständnis, daß diese Schwarze Liste existierte. Das aber wollte die Gegenpartei tunlichst vermeiden. Der Prozeß verlief bizarr, es wurde andauernd über Dinge gesprochen, die nicht gesagt wurden. Inzwischen hatte Werner Lamberz in seinen Gesprächen herausgefunden, daß von der ersten Runde der Unterzeichner, der Gruppe der 13 Schriftsteller, politisch keine Gefahr ausging. Ihr Protest sei lediglich Ausdruck individueller Betroffenheit, keineswegs formte sich hier sichtbar ein neues politisches Forum. Die Forderungen der meisten beschränkte sich auf ein »Biermann muß zurück«. Die Freischaffenden unter den Unterzeichnern kämpften bereits mit der Angst, boykottiert zu werden und möglicherweise einer mehrjährigen Angst- und Hungerperiode entgegenzusehen. Und tatsächlich klingelte bei einer Reihe bis dahin sehr erfolgreicher Künstler von einem Tag auf den anderen das Telefon nicht mehr. Sie entschieden sich dafür, das Angebot der Regierung, in den Westen auszureisen, anzunehmen. Einer von ihnen zog mit einem Riesenumzugswagen, seinen Oldtimern, seinen Antiquitäten, seinem Mercedes, seiner Frau, seinen Kindern und seiner Haushälterin davon. Im Westen verkündeten sie dann der Welt lauthals und unter Einsatz aller Medien, daß die Situation im Osten unmenschlich und unerträglich geworden sei und folglich jeder, der nicht in den Westen floh, wohl für die Stasi arbeitete. Das machte unsere Situation mit den schweigenden Telefonen und der sich zugegebenermaßen in Grenzen haltenden Arbeitslosigkeit – denn die Theatervorstellungen gingen tatsächlich einfach weiter – nicht angenehmer. Das DDR-Fernsehen hatte fast täglich irgendeinen unserer alten Filme aufs Programm gesetzt, um der Welt zu zeigen, wie sehr es uns liebte. Es gab damit den Gerüchten der anderen Seite kräftig Nahrung. Einen der so Ausgereisten traf ich zwei Tage später auf der Friedrichsstraße im Osten wieder. Er sei nur zu Besuch. Auf diese Weise erfuhren wir, daß die anderen nicht nur ein Ausreise-, sondern auch ein Wiedereinreisevisum erhalten hatten. Noch niemals zuvor hatte ein Dissident oder Republikflüchtling, der das Land verlassen mußte oder durfte, die DDR danach wieder betreten können. In dieser Zeit sahen wir Verrat an allen Ecken. Wir zerfielen in zwei Gruppen: Die, die gingen und aufgaben, und die, die blieben und glaubten, weiterkämpfen zu müssen. Für die Gruppe, die ging, waren wir die Verräter, wenn nicht sogar IMs. Wir dagegen fühlten uns wie traurige Helden und hatten den bitteren Geschmack von Bestechung und Schacherei auf der Zunge. Wir führten unseren Prozeß. Noch während der Prozeß lief, wurden wir von Lamberz eingeladen. Eigentlich war es ein nettes Gespräch, wir kreuzten die Klingen, elegant und spielerisch. Erwachsene Menschen in einem schaurigen Spiel. Ich hatte große Hochachtung vor dem Mann, mochte ihn gerne und wies sein Angebot zurück. E. tat dasselbe. Die Unterhaltung mit Lamberz dauerte länger als erwartet. Vor der Tür wartete der kleine Adameck, Intendant der DDR-Fernsehanstalt. Er schäumte vor Wut, stampfte mit den Füßen auf und schrie: »Alles hättet ihr von mir kriegen können, alles. Ihr beißt die Hand, die euch füttert.« Wir hatten ihn enttäuscht, das war deutlich. Kurz danach starb Lamberz. Er stürzte mit einer Regierungsmaschine ab. Nach seinem Tod versiegte der Dialog, keiner versuchte mehr, zwischen den Parteien zu vermitteln. Das Leben in der DDR wurde schwieriger. Die Leserbriefe in den Zeitungen nahmen an Schärfe zu, forderten Maßnahmen. Provinzpotentaten stürzten sich, von niemandem mehr im Zaum gehalten, auf ihre örtlichen Dissidenten. Zahllose Prozesse und Gefängnisstrafen waren die
Folge. Für manche Angeklagten sollte dieser Kampf bis weit in die neue Zeit hinein andauern, für einige dauert er bis heute. Manche starben währenddessen. Für uns bedeutete das, daß wir von Staatsinstitutionen in absehbarer Zeit keine Aufträge mehr zu erwarten hatten. Mehr passierte uns nicht, außer: Die Telefone funktionierten nicht. Und dann wieder doch. Die Post kam gar nicht oder man konnte sie irgendwo abholen: geöffnet. Die Haustür, die man ganz gewiß hinter sich abgeschlossen hatte, stand spätabends, wenn man nach Haus kam, offen. Mitten in der Nacht klingelte das Telefon. Rätselhafte Warnungen. Sie operierten nicht als verdeckte Ermittler, sondern verfolgten uns sichtbar. Das war neu, eine neue Art der Bedrohung. Eines nachts ging ich nach der Vorstellung zu Fuß nach Hause und mußte dabei eine schmale Fußgängerbrücke überqueren. Plötzlich standen drei Männer vor mir, sie zischten: »Das nächste Mal bist du dran« und »Deine Zeit ist noch nicht gekommen«. Na ja, dachte ich, Berlin ist eine Weltstadt, das kann einem überall passieren, nicht wahr? Bis einer von uns auf offener Straße zusammengeschlagen wurde. Angeblich von Rowdys, von Vandalen. Autoreifen wurden durchstochen, Autounfälle folgten. Wo war da die sonst allgegenwärtige Volkspolizei? Wir gewannen unseren Prozeß. Das heißt, wir bekamen die Hälfte unserer Gage ausbezahlt. So regelte es das Gesetz bei unverschuldetem »Arbeitsausfall«. Und sie gaben zu, daß eine Schwarze Liste existierte. Allerdings nur mündlich. Sie waren der Ansicht, wir seien selbst schuld, daß wir auf der Liste gelandet waren, wir hätten es einfach zu bunt getrieben. Fanden wir nicht. Unser altes Ost-West-Gespräch setzten wir trotz alledem mit Freund und Feind fort. Es macht auch heute noch fast jede innerdeutsche Unterhaltung beinahe unmöglich: Wer ist gut, wer ist schlecht? Wer steht auf welcher Seite? Je mehr man miteinander spricht, desto weniger versteht man sich. Jeder von uns verlor in jener Zeit Freunde und Gesinnungsgenossen. Nach zehn Jahren und langer Abwesenheit traf ich einen, der damals ausgereist war, in unserem Freundeskreis wieder, einen zweiten hatte E. zu seiner Fernsehsendung eingeladen, einen dritten zum Geburtstag. Sie haben sich wieder aneinander gewöhnt, sie leben wieder miteinander, das Freundschaftsband ist wieder geknüpft. Nur ich habe noch einen bitteren Nachgeschmack im Mund. Bin ich die einzige?
Zehn Jahre nach der Mauer Meine Freunde sind jetzt alle Westler geworden. Sie unterhalten sich. Über Geld. Das Essen ist gut und reichlich. Ich höre zu, wie früher. Doch damals unterhielten wir uns über ganz andere Dinge. Was das Leben lebenswert machte zum Beispiel. Was nicht mehr zu ertragen war. Über Recht und Unrecht. Ob jemand Hilfe brauchte. Das waren unsere Themen damals. Ich verstand, worüber sie sich unterhielten. Alle sind sie jetzt Westler, doch sie scheinen das kaum zu bemerken. Nur wenn das Thema Geld erschöpft ist, brechen die alten Wunden wieder auf. Die Aggressionen zwischen Ost und West melden sich zurück, schaukeln sich hoch. Ich versuche zu vermitteln, zu versöhnen, abzuschwächen. Harmoniesucht – eine typische niederländische Angewohnheit. Ich kann den Haß zwischen den beiden Welten, die sich doch so ähnlich sind, nicht verstehen. Ich bekam tüchtig was ab: Weshalb ich mich einmische, ich sei doch nicht die Gesprächsleiterin. Das war eine Stimme aus dem Westen. Eine aus dem Osten flüsterte mir von hinten ein: »Cox, laß den Gefühlen freien Lauf«, womit die Stimme jedoch
sicher nicht meine Gefühle gemeint haben dürfte. Für meine Gefühle war hier, dachte ich, kein Platz. Früher übrigens auch schon nicht. Sie hatten sich jetzt neue Spielregeln ausgedacht, neue Methoden, die Dinge zu verarbeiten. In dieser neuen Ordnung waren Gefühlsausbrüche und Geschrei offensichtlich normal. Später umarmen sie mich, Ost wie West. Du bist uns hier immer willkommen, sagen sie. Nicht gemeinsam sagen sie das, sondern einer nach dem anderen. Wer ist »uns«, denke ich mir, und wo ist »hier«? Später werde ich gefragt, ob ich an diesem bewußten Abend schlecht gelaunt gewesen sei. Das wird wohl an den Gefühlen gelegen haben, antworte ich. 2001 Woran man mich am ehesten als Nicht-DDR-Bürgerin erkennen konnte, war die Tatsache, daß ich mein Auto verlieh. Ich besaß einen sehr alten, gebrauchten Ford in beträchtlicher Größe und mit noch beträchtlicherem Benzinverbrauch, und wenn jemand ein Auto brauchte, sagte ich meist schnell: Nimm meins. Stille … Zögern … Dein Auto …? Erst nach einer Weile fiel mir auf, daß in der DDR niemand sein Auto verlieh, nicht mal für kurze Strecken. Das Auto war der kostbarste Besitz eines DDRBürgers – wenn man denn eines hatte! Wer zu Lebzeiten ein Auto wollte, meldete seinen Bedarf am besten gleich bei der Geburt an und fing gleichzeitig an zu sparen. Für den Lada, den Fiat, den Wartburg, den Skoda, den Trabant, blubberndes Plastik. Alle Namen sind mit der DDR untergegangen, nur der Name Trabant nicht. Das Auto selbst ist heute sehr beliebt, um rosa gespritzt im Vorgarten zu stehen, als Blumenrabatte. Er verrottet nicht und das Benzin, das man dafür brauchte, war zu seinen Lebzeiten schon in Resteuropa verboten gewesen. Jeder Arbeiter hatte seine Datscha oder seinen Schrebergarten auf dem Land, und so war der Besitz eines solchen Transportmittels das Symbol der Freiheit. Eine Mittel- oder höhere Bürgerschicht existierte in der DDR nicht. Man war entweder Arbeiter oder gleich ein Intellektueller. Es hatte große Vorteile, in diesem Arbeiter- und Bauernstaat ein Leben lang Arbeiter zu bleiben. Aus diesem Grund behaupteten dann auch alle Politiker, Handwerker zu sein – mit Vorliebe Zimmermänner oder Dachdecker. Die Arbeiterfamilie – das heißt Kinder, Eltern und die Eltern der Eltern – hielt sich am Wochenende in der Datscha auf. Man trank Pils und Limonade. Damals, als eine Familie noch eine Familie war. Damals, als wir noch nicht so einsam waren. Damals, als es noch so gemütlich war und keiner am Wochenende arbeiten mußte. Damals, als die Angst noch nicht so groß war und das Geld noch nicht so wichtig. Damals, als wir uns über dasselbe aufregten und über dasselbe lachten. Den älteren Leuten schießen beim Anblick eines Fotos aus den Tagen auf der Familiendatscha die Tränen in die Augen. Man kann die Menschen, die vom Leben in der DDR besonders geprägt wurden, in verschiedene Kategorien einteilen. Die erste Kategorie bildeten die Funktionäre, die am Aufbau beteiligt waren und den Betrieb der DDR am Laufen hielten. Die Sozialisten. Und ihre Mitläufer. Die Schweiger. Die Stillhalter. Die nächste Kategorie setzte sich aus den Personen zusammen, die mit großer Überzeugung versuchten, aus der real existierenden DDR eine neue zu machen. Die, die immer den Mund aufmachten, die positiv denkenden Dissidenten. Und deren Mitläufer, die Mitschwätzer. Die, die behaupteten: Ich war der und der, war das und das, wäre – während des Umbruchs in der neuen DDR – um ein Haar Ministerpräsident geworden. Und zuletzt natürlich die echten Dissidenten. Diejenigen, die glaubten, gegen die Regierung gekämpft zu haben, und überzeugt waren, dafür in der neuen Zeit von den neuen Machthabern
belohnt zu werden. Diejenigen, die sagen: Er ist einer von uns. Diejenigen, die sagen: Ich habe gesessen, also bin ich. Hast du auch gesessen? Unmittelbar nach der Wende, während der Zeit der großen Abrechnung mit allem Früheren, wurde jeder danach beurteilt, was er vorher gewesen war. Die neuen Machthaber belohnten die früheren Dissidenten genau so wenig wie die Nachkriegsniederlande die Widerstandskämpfer. Die runden Tische, an denen angeblich ein neues Deutschland geschaffen werden sollte, waren reine Augenwischerei. Die Beamten aus dem Westen hatten zu dem Zeitpunkt den Osten bereits unter sich aufgeteilt. Die echten Dissidenten, also diejenigen, die im Gefängnis gesessen hatten, durften als erste die Stasi-Akten einsehen, die eigenen und die der anderen, wobei sie, vom Gedanken der Abrechnung getrieben, nur immer eine Frage stellten: Warst du im Gefängnis? Das hatte zur Folge, daß die Vergangenheiten der einzelnen verzweifelt und ohne Unterlaß gegeneinander aufgewogen wurden, ohne daß man hinterher wußte, wem man nun glauben oder vertrauen konnte. Die selbsternannten Dissidenten von kurz vor und während der Wende gehörten ursprünglich der ersten Kategorie an, sie waren die Agenten der Wirklichkeit: Mischa Wolf, der, obwohl er sich rechtzeitig ins andere Lager gerettet hatte, bei seinem Versuch, auf der Demonstration vom 4. November eine Rede zu halten, gnadenlos ausgepfiffen wurde, Schabowski, der mit seinem Spickzettel die Mauer zu Fall brachte, Krenz*, der auf niemanden schießen ließ, Mielke*, der Vielgehaßte, der bei seinem Abschied rief: »Aber ich liebe euch doch alle!« Sie alle wurden, wie Gorbatschow es prophezeit hatte, vom Leben eingeholt, bestraft und verurteilt. Die DDR blieb als leere Hülse zurück und mußte mit neuen Begriffen von Gewinn und Verlust neu gefüllt werden. Die Trauerzeit, die ein neues Leben einläutete, war viel schmerzvoller als erwartet. Die große Erneuerung fühlte sich hohl an – mehr Artikel, weniger Geschmack. Der Finanzgewinn des Westens mußte teuer bezahlt werden, von Ost und West gleichermaßen. Trotz Kohls Versprechen, es werde hinterher niemandem schlechter gehen, hatte der Osten das Gefühl, ungemein viel verloren zu haben. Es gab keine Klarheit mehr, keiner wußte, was ihm noch gehörte: die Zukunft, die Vergangenheit? Eine eigene Meinung, eine eigene Entscheidung über den neuen Staat war den Ostdeutschen nicht gegönnt. Der Westen hatte es eilig. Die Urteile waren längst gefällt, Einsprüchen wurde nicht stattgegeben. Viele wußten aufgrund der neuen Gesetze nicht mehr, ob ihr Haus tatsächlich morgen noch ihr Haus war, und keiner konnte sicher sein, übermorgen noch Arbeit zu haben. Und keiner wußte, wie diese Gesetze funktionierten, wie viele Steuern er bezahlen müsse, wie hoch seine Miete sein würde, ob die Freunde im Land blieben und ob sie überhaupt noch Freunde waren. Keiner hatte je eine Unterrichtsstunde in Demokratie gehabt, keiner wußte, wie das ging. Man hatte erwartet, ja fast verordnet, daß sich ein neues und gemeinsames Deutschland bildete. Aber es kam nicht. Nichts wuchs zusammen, was zusammen gehörte. Es gab keinen Halt mehr, kein gemeinsames Wissen, keinen gemeinsamen Traum. Und so trafen Ost und West einander mitten auf dem Weg zu einer neuen Gemeinschaft, mit einem breiten Lächeln und dem Willen, sich alle Mühe zu geben. Der Ossi hatte sich zu diesem Anlaß in einen bunten Glitzeranzug geworfen, und der Wessi in einen Trainingsanzug, weil er den Ossi nicht in Verlegenheit bringen wollte. Alle waren zu lieben und netten Taten bereit. Nur, zu welchen? Der Wessi kochte Spezialitäten, und der Ossi mußte sagen, daß er so etwas noch nie gegessen hatte, das wurde von ihm erwartet, auch wenn es gar nicht stimmte. Weil die meisten Wessis nicht den geringsten Schimmer hatten, wie das Leben im Osten ausgesehen hatte, erwarteten sie
von den Ossis die merkwürdigsten Dinge. Aus Höflichkeit verschwieg der Ossi, daß er einfach nur Lust auf Sauerkraut mit Wurst hatte, und erklärte, um den wohlmeinenden Wessi nicht zu verletzen, er wisse nicht, was er mit den Delikatessen anfangen solle, wodurch er den Wessi wenigstens in dessen Überzeugung vom beschränkten Ossi bestärkte. Das ging solange, bis die Ossis keine Bananen mehr sehen konnten, geschweige denn länger bereit waren zu behaupten, sie hätten noch nie in ihrem Leben »Würzfleisch« gegessen, das aus unerfindlichen Gründen in der DDR »Ragoût fin« hieß. So glaubte sich der Wessi dem Ossi in Wissen und Ahnung überlegen. Und auf diese Weise schämte sich der Ossi ständig und fühlte sich nicht nur gedemütigt, sondern war es auch. Bis der Ossi sich wehrte, die Schnauze voll hatte von der Besserwisserei, dem ihm ungefragt entgegengeworfenen »Ihr-habt-es-doch-gewollt«, von der Einmischerei, der ewigen Verbesserei und Änderei. Die Ossis wurden trotzig, fingen an, die Wessis zu ärgern und nahmen ihre alten, bedrohten Gewohnheiten wieder auf. Sie wollten es wie früher gemütlich haben, schlüpften wieder in ihre Pantoffeln und zogen sich nostalgisch in ihre innere Emigration zurück, hegten bewußt das Früher-war-es-besser-Gefühl und kauften wieder ihre eigenen Produkte. Überall gab es jetzt Läden mit Ostprodukten, die das Heimweh nach dem früheren Gemeinschaftsgefühl stillen sollten, die Sehnsucht nach dem Wernesgrüner Bier, dem Rotkäppchensekt – ach, laßt uns doch in Ruhe mir eurem Gratin, gebt uns unsere Klopse wieder. Es gibt noch eine weitere Kategorie Menschen, die von der DDR schwer infiziert ist, die der Hassenden. Haß ist genau so bestimmend wie Liebe. Haben nicht die meisten DDR-Bürger das Politbüro gehaßt? Haßten nicht viele Dissidenten die, die nicht in den Gefängnissen saßen? Hassen viele Ossis nicht ihr neues Leben? Der Haß beschränkt sich nicht nur auf die Älteren, auch die Jungen sind davon befallen. Scham und Erniedrigung. Wir sind nichts, wir können nichts. Wir tragen die falsche Kleidung. Keiner will uns. Eine Zukunft haben wir nicht, und keine Ausbildungsmöglichkeiten, keine Arbeit. Nichts zählte, was von uns stammte. Nichts, was trotz allem gut war, und nichts, weil es einfach da war. Alles, was wir gelernt hatten, war plötzlich zu einer Lüge geworden. Wer auf dem Schulhof gehänselt wurde, weil er nicht die richtigen Markenschuhe trug, sann auf Rache. Kahlscheren gegen Nikes. Eine Uniformmütze macht immer Eindruck. Die Welt meint, der Osten sei jetzt viel besser dran als früher, also soll er sich nicht beklagen. Empfindungen von Verlust, Trauer über verlorene und liebe Gewohnheiten, über vertraute Gemeinsamkeiten sind nicht erwünscht. Alles nur Gewinn? Die Dissidenten sind doppelt gestraft. Sie können nicht mal dem Früheren nachtrauern, das sie ja nicht ganz verlieren, sondern nur ändern wollten. Ihre Tage und Nächte wurden davon bestimmt, mit allen Ängsten, die dazu gehörten. Voller Entsetzen erfuhr ich später, daß ein sehr vorsichtig protestierendes Intellektuellenpaar während der »Biermann-Zeit« die Nächte angekleidet neben dem Bett sitzend verbrachte, weil es damit rechnete, jeden Augenblick »abgeholt« zu werden. Für die »anderen«, diejenigen, die das System der DDR nahezu unbeschädigt ließ, waren die Veränderungen leichter zu ertragen: Diese brachten für sie neue Möglichkeiten, manchmal auch ein vollkommen neues Leben. Eine Freundin, die zuvor noch nie gearbeitet hatte – eine große Ausnahme in der DDR – ergriff plötzlich einen Beruf. Eine andere, die ihre Meinung stets nach der Meinung der anderen gerichtet hatte, vertrat plötzlich glasklare Ansichten. Viele versuchten, einen Blick auf die große Welt zu erhaschen. Plötzlich mußte alles ausgesprochen werden, alles mußte zur Diskussion gestellt werden. Zwar führte bei einigen der Fall der Mauer zu einem größeren Selbstvertrauen, doch bei vielen überwog die Angst. Nicht unbedingt diejenigen, von
denen man es am ehesten erwartet hatte, wagten den großen Sprung und landeten sanft. Etwa so wie manche Leute sich in einem großen Raum sicherer fühlen als in einem kleinen. Wie bei jeder Katastrophe gab es auch hier welche, die nicht handelten, sondern nur wie gelähmt zusahen. Und welche, die sich von diesem Gefühl der Gelähmtheit nie mehr befreien konnten. Die Ossis schauten sich um und versuchten, ihr früheres Selbst aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Dabei wurden sie von den aufdringlichen Wessi-Überzeugungen immer wieder abgelenkt. Wer sich dauernd verteidigen muß, kann nicht in aller Ruhe hinschauen. Die WessiPerspektive interessierte sie nicht, sie wollten mit eigenen Augen sehen, ob sie tatsächlich so lächerlich gewesen waren, so falsch eingestellt und schuldig. Durch all das Neue hindurch konnten sie sich erst allmählich ein Urteil bilden. Und als es so weit war, hatte sich schon wieder alles verändert und stand fest. Ihre Meinung zählte nicht mehr. Stasi-Spiele mit schauderhaften Vopos kamen auf den Markt. Und Wende-Musicals. Das Fernsehen sendete ununterbrochen Volksmusiksendungen und Produkte der DDR-Fernsehanstalt. Das Sandmännchen wurde bei Kindern wieder beliebt und bei deren Eltern. Die noch verbliebenen Ostsender haben heute eine hohe Einschaltquote, zum Unverständnis und zur Verachtung der Wessis. Die Presse spottete, und je mehr sie das tat, desto beharrlicher hielten die Ossis daran fest. Jeder Ossi von etwas Rang und Namen schrieb ein Buch, das sich gut verkaufte. Und jeder Wessi auch. Weil man etwas loswerden wollte, weil es doch endlich mal gesagt werden mußte, damit auch die anderen endlich alles begriffen. Die Trauerarbeit mußte geleistet werden. Jeder wollte recht behalten, wollte seine Unschuld beweisen. Nur die schärfsten Abrechnungen fanden Leser in Ost und West, ansonsten hatte jede Seite ihre eigene Literatur. Gysi wurde zum Held der Ossis.
Gregor Mit bassem Erstaunen hörte ich – lange vor der Wende –, daß Gregor, den ich gut kannte, mit dem ich das teilte, was sein Privatleben war, den ich gern hatte und der mein Freund und mein Verteidiger in meinen bizarren Prozessen war, daß dieser Gregor Gysi eine Ausreiseerlaubnis für einen Israel-Besuch erhalten hatte. An einem furchtbar kalten Tag unterbrach er seine Reise in Amsterdam, wo ich auf dem Flughafen Schiphol auf ihn wartete: »He, Gregor, wie ist das, plötzlich ein Jude zu sein?« Zitternd vor Kälte, blieb er mir die Antwort schuldig, etwas, was schon damals sehr selten vorkam. Mit meinen Handschuhen reiste er nach Israel weiter. Irgendwann danach fiel die Mauer, ich sah ihn für eine lange Zeit nicht mehr. Die Handschuhe bekam ich zurück. Es gab nichts Schöneres, als Gregor und seinem Vater, dem Kulturminister, in unserer Küche beim eloquent-klugen Schlagabtausch zuzuhören, bei dem beide unbedingt gewinnen wollten. Ich
habe nie gehört, daß sie sich dabei über solche Themen wie Judentum oder Kommunismus gestritten hätten. Über die DDR schon, denn in der lebten wir. Auch über die Ordnungsmaßnahmen, den Antifaschismus, die Partei und die Stasi, denn mit denen mußten wir leben. Da ich seit dem Mauerfall regelmäßig fernsehe, geschah es, daß ich zu Hause in den Niederlanden den Sender CNN einschaltete und hörte, daß dieser mein Gregor, den Vorsitz dessen übernahm, was früher »die Partei« geheißen hatte. Und ich konnte es mir nicht erklären. Vielleicht, so ging es mir durch den Kopf, glaubte er, das tun zu müssen. Aber warum? Drängte ihn sein Anstand dazu, sein Gefühl für Recht und Unrecht, Mitleid für das, was im Moment vermeintlicherweise das Schwache war, oder seine Eitelkeit? Eines Tages, so sagte ich mir, werde ich ihn danach fragen. So weit kam es nie. Dabei hätte ich Jahre später, als wir beide zusammen in einem Amsterdamer Café saßen, durchaus Gelegenheit dazu gehabt. Aber ich ließ es sein. Inzwischen war er mit seinem Amt auch gar nicht mehr so glücklich, wenn er es überhaupt je gewesen war. Er dachte über einen Rücktritt nach und wußte nicht, wie er das tun konnte, ohne jenen zu schaden, die an ihn glaubten und die ihn jetzt noch mehr brauchten denn je. Und das war wiederum lange, bevor er sich dann wirklich aus der Politik zurückzog. Kurz nach seinem Antritt 1990 sah ich ihn vor dem Deutschen Museum eine Rede halten. Hier neben der Brücke mit den schönsten Statuen von Berlin, unter dem Dom, an der Stelle, wo Ernst Thälmann* einst stand und wo sich im Zweiten Weltkrieg die Leichenberge türmten. Unter den Linden, kurz , mitten im ältesten Teil Berlins. Dort, wo früher Ostberlin war. Ich war aufgeregt und viel zu spät, ich rannte. Als ich ankam, betrat die kleine Gestalt gerade das Rednerpult. Ich sah ihn dort im Licht stehen und wußte, daß er gern dort stand, in diesem Licht, mit diesen vielen Menschen zu seinen Füßen. Ich hörte, wie er zu den Berlinern sprach, zu den ehemaligen DDRBürgern. Über ihre Ängste. Ich hörte, wie er sie in ihren Ängsten bestärkte. Wie er diese schürte. Ich traute meinen Ohren nicht: Er machte sich diese Angst tatsächlich zunutze, spielte damit, erkaufte sich Erfolg und Applaus. Von meiner Warte in den Niederlanden aus war mir bisher nicht bewußt gewesen, daß eine solche Angst in diesem Maße vorhanden war. Aber war sie es denn? War sie so real? Tosender Applaus. Verwirrt verschwand ich im Dunkel, weg aus dem Licht und weg von dieser Stimme. Sehr viel später, als ich ihn wiedertraf, nach großem und andauerndem Erfolg, bei dem er punktete, wie er früher in meiner Küche gegen seinen Vater punkten wollte, sehr viel später, da war er unglücklich. Und dann fragt man nicht nach vergangenem Glück. Ich wenigstens nicht. Einige Journalisten baten mich damals um seine Adresse und darum, ihm vorgestellt zu werden. Ich aber hütete seine Adresse wie ein Staatsgeheimnis, ohne sie selber je wieder zu benutzen. Als müßte ich ihn beschützen gegen etwas, wogegen er in jener Zeit nicht im mindesten beschützt werden wollte. Ich sah ihn Jahre später zurücktreten und die Partei voller Entsetzen zurücklassen, und ich wußte warum. »Das ist keine Kunst, der kriegt sofort wieder anderswo eine Stelle«, sagte Modrow. Als ob Weggehen keine Kunst sei. Aber warum er überhaupt angetreten ist, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Und weil mich immer noch ein Lächeln überkommt, wenn ich an ihn denke, hoffe ich, daß er sehr glücklich werden wird. In Kürze oder so. Von den IM-Geschichten über ihn glaube ich kein Wort, und ich weiß auch nicht, warum wir, die wir immer der Ansicht waren, daß die Stasi log und vollkommen unfähig war, warum wir jetzt anfangen sollten, den Aussagen der Stasi zu glauben und auf Basis ihrer widerwärtigen Berichte Menschen zu verurteilen, die jedes Gericht bisher freisprach.
Stasi Direkt nach dem Mauerfall wurde um die Stasi keineswegs viel Aufhebens gemacht. Dann begann es. Die DDR mag zwar ein unfähiger totalitärer Staat gewesen sein, aber deutsche Beamte lügen nicht. Und so wurden die kilometerlangen Regale voller Stasi-Akten zu zuverlässigen Quellen erklärt. Für das Material, das der Vernichtung entgangen war – was trotz der deutschgründlichen Arbeit der Stasi eine ganze Menge war –, wurde eine neue Institution gegründet, die das Material sichten sollte: die Gauck-Behörde. Sie war nach dem ostdeutschen Geistlichen Joachim Gauck benannt, der in den Tagen während und nach den großen Umwälzungen am Ende der DDR eine große Rolle gespielt hatte. Die Stasi-Archive wurden geöffnet und die Einsicht in die Dossiers gesetzlich geregelt. Jeder, der wollte, konnte einen Antrag stellen, um seine Akte einzusehen. Opfer und Dissidenten zuerst. Es gab einen regelrechten Ansturm. Jeder wollte seine Akte sehen, keiner wollte sich das entgehen lassen. Manche schämten sich, daß sie, obwohl sie vorher den Mund so weit aufgerissen hatten, am Ende gar keine Akte hatten. Je dicker die Akte, desto größer das Ansehen. Biermanns Akte war 40 000 Seiten dick. Viele wurden im Laufe der folgenden Jahre »gegauckt«. Viele lasen ihre Akte voll Frustration und noch mehr Kummer. Aufgrund dieser »Gesammelten Werke« zerbrach so manche Freundschaft, Paare trennten sich, Kollegen grüßten sich nicht mehr, Kinder brachen mit ihren Eltern, und das alles auf Basis von Gerüchten, Halbwahrheiten, zusammengekleisterten Gesprächsfetzen, bloßem Tratsch. Wahrheit? Was war schon Wahrheit? Die Gauck-Behörde verurteilte nicht. Dennoch wurden Hunderte von Personen, die namentlich als mögliche IMs der Stasi aufgeführt worden waren, fristlos entlassen, ohne Prüfung der Sachlage. Auf diese Weise übte die Stasi noch immer ihre Macht aus. Der Inhalt der Akten gelangte unkontrolliert in Form von Gerüchten, Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten in die Zeitungen, ohne daß der Betroffene widersprechen konnte oder die Angelegenheit von offizieller Seite bestätigt wurde. Verbreitet von gegenwärtigen oder zukünftigen Konkurrenten, Leuten, denen es Vorteile brachte. Die Opfer, für ihre Tapferkeit ansonsten kaum belohnt, traten nur zu gern mit den Akten in den Händen vor die Mikrophone der Presse und legten Zeugnis über ihr Leiden ab. Ein so Beschuldigter hatte Beweise für seine Unschuld zu erbringen; gelang ihm das nicht, blieb er in den Augen aller schuldig. In anderen Zeiten, unter einer anderen Regierung, in Hohenschönhausen und in Bautzen, in den russischen Nachkriegsgefängnissen und in denen der DDR verurteilte man die Gefangenen auf dieselbe Weise, darüber brach die Welt den Stab. In den Zeitungen des neuen Deutschland gab es jetzt nur noch dieses eine Thema. Die Ostdeutschen sahen voller Entsetzen, wie sich allmählich das Bild eines Staates abzeichnete, der von vorn bis hinten, von links bis nach rechts von Stasianhängern, von Spionen und Denunzianten durchsetzt war. In so einem Staat hatten sie gelebt? Und das so nicht gemerkt, nicht gewußt? »Dann können Sie ihn auch gleich aufhängen«, antwortet ein deutscher Freund mutlos auf die Frage des englischen Journalisten Timothy Garton Ash, ob er einen bestimmten Verdacht nicht ruchbar machen müsse. Tim hält sich zurück, prüft die Sachlage nochmals und ist hinterher froh darüber. Viele Jahre später wird Helmut Kohl einen Prozeß gewinnen, mit dem er die öffentliche Einsichtnahme seiner Stasi-Akten verhindert. Und der Gedanke, daß in erster Linie die Ostdeutschen durch die Veröffentlichungen bestraft werden sollen, verbessert das innerdeutsche Verhältnis nicht gerade. Sogar der inzwischen zurückgetretene Gauck, selbst ein vehementer
Vertreter der Publikmachung der Akten, gab zu, daß die Möglichkeiten der Einsichtnahme doch wohl etwas weit gingen, was er sich als Reaktion auf die übergroße Geheimhaltung persönlicher Daten bei der Aufarbeitung der Naziherrschaft erklärte. Wer es eilig hat, kann nun mal keine Rücksicht nehmen. Wir Westbürger hatten meist kaum etwas gegen westliche Geheimdienste einzuwenden, schließlich erwarteten wir von ihnen, daß sie uns beschützten. Östliche dagegen waren immer schon automatisch Schurken, die uns ausspionierten. Erst allmählich wurden wir aufgeklärt über die menschenverachtenden Vorgehensweisen von Geheimdiensten wie der CIA oder des Mossad, worauf wir an der angeblichen Gutheit der eigenen Welthälfte langsam zu zweifeln begannen. Es machte mir kaum was aus, wenn ich den BVD (den inländischen Sicherheitsdienst) in meinem Auto entdeckte, und sei es auch nachts um halb vier, schließlich hatte ich nichts zu verbergen. Und vor der Stasi hatte ich auch nichts zu verbergen. Als also der Mann vom Telefondienst aus dem Keller stieg, wo er meine Telefonleitung repariert hatte, und grinsend fragte, ob er »das Ding rausnehmen« soll, habe ich ihm gesagt, er solle es drinlassen. Auf diese Weise konnte man sich wenigstens gleich an höchster Stelle beklagen, daß der Klempner wieder mal sehr lange auf sich warten ließ. Die Botschaftsgebäude waren gespickt mit Wanzen. Manchmal wechselten wir die Zimmerecke, um uns unterhalten zu können. Jeder wußte, wo die Mikrophone versteckt waren, und es reichte ein Blick oder eine Geste, und der andere tat einen Schritt zur Seite. Eines Abends zog mich der alte Stefan Heym* während eines Empfangs beim Botschafter beiseite. Sein Roman Collin war im Westen gerade erschienen und ein großer Erfolg, was in der DDR nicht gerade geschätzt wurde. Für die Verfilmung waren Curt Jürgens und ich in den Hauptrollen vorgesehen. Heym riet mir jedoch davon ab, die Rolle anzunehmen. Er nannte mich dabei »Kind«, und ich versprach, seinem Ratschlag zu folgen. Erst auf dem Heimweg wurde mir klar, daß er mich direkt zu einer Wanze gezogen hatte. Ob er das wußte? Ich nahm die Filmrolle nicht an. Seinetwegen. Er hatte mir abgeraten. Meinetwegen. Das glaube ich wenigstens. Wenn ich nachts heimkam, und die Haustür offen fand, brüllte ich: »Ihr Arschlöcher, macht wenigstens die Haustür zu!« Was ich nicht wußte war, daß die Stasi-Leute mit dem Abhören der Bänder stets drei Monate im Verzug waren. Wie ernst nahmen wir Ausländer es, als die ganze Welt internationale Verträge abschloß, in Helsinki. In Ostberlin wurde eine ständige westdeutsche Vertretung eröffnet, die ersten Westbotschaften kamen ins Land, eine davon war die niederländische. Allmählich stellte sich die Frage, ob die DDR als Staat anerkannt werden solle oder nicht. Waren das alles Riesenüberraschungen? Nein, eigentlich nicht. Der Kalte Krieg war im Laufe der Jahre gewissermaßen zu einer Art Spiel geworden. Auf dem Weg zu unserer Datscha entdeckte ich einen Amerikaner, der auf dem Dach seines Jeeps stehend gerade die russische Raketenbasis neben unserem Grundstück fotografierte. Auf meinen Pfiff hin kletterte er herunter und erklärte, eine Panne zu haben. Er fragte, ob er kurz bei mir telefonieren dürfe. Ich nahm ihn mit ins Haus und bot ihm mein Telefon und eine Tasse Tee an. Er halte sich von jeglicher Art Drogen fern, lautete die Antwort. Zehn Minuten später kam ein russischer Offizier in seinem Jeep auf unser Grundstück gefahren. Ich bot ihm ebenfalls eine Tasse Tee an. Ein doppelter Wodka sei ihm lieber, wenn es mir nichts ausmache. Ich bat beide, mich zu meinem Nachbarn zu begleiten, weil der beide Sprachen fließend beherrschte. Dort tranken wir weiter, rissen Witze und redeten über die Weltlage. Nach einer Stunde fuhr ein großer amerikanischer Wagen vor, um den Amerikaner und den Jeep abzuholen. Der Russe umarmte uns zum Abschied und nahm die Einladung, doch am Abend bei
uns zu essen, dankbar an. Die Männer beider Großmächte gaben sich lächelnd und höflich die Hand und zogen ab. Der russische Offizier besuchte uns tatsächlich am Abend mit ein paar seiner Männer. Sie hatten zwei Fäßchen bei sich, eines mit Wodka und eines mit Heringen. Die halbe Nacht verbrachten sie mit Schießübungen, zum übermäßigen Glück unserer Söhne. Tränenreich nahmen wir Abschied voneinander. Nach ihrem Abzug war sämtliches Holz, das verstreut über dem Gelände gelegen hatte, verschwunden. Über die Fotos sprach keiner mehr. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung würden alle Straftaten aus der DDR-Zeit verjährt sein. Der Spiegel berichtete von einem hohen Stasioffizier, der viele Jahre untergetaucht war. Er war nicht der einzige: Gefängnisdirektoren, Richter, Staatsanwälte, Stasimitarbeiter hatten sich bis zum Stichtag des 2. Oktober 2000 in Luft aufgelöst. Nur für Mord und Totschlag galt diese Verjährungsfrist nicht. 62 000 in der DDR begangene Straftaten wurden verfolgt, 1 000 Personen angeklagt und 400 verurteilt. Die Prozesse verliefen nicht gerade in aller Stille. Die Spiegel-Geschichte skizzierte ein gespenstisches Bild der Arbeitsweise der Stasi. Ein Westspion »gesteht«, 1963 einen Tunnel von Westdeutschland nach Thüringen gegraben zu haben. Der Stasioffizier hatte praktische Gründe genug, der Geschichte Glauben zu schenken. Die Stasi besorgte sich Fotos, der Spion deutete auf dieses oder jenes und gelegentlich auch auf ein paar Personen. Danach wurden zwölf Menschen verhaftet und verhört. Eines der Opfer las ein von den Wärtern geliehenes Buch, während der Untersuchungsbeamte gerade sein Geständnis verfaßte. Ungelesen unterzeichnete das Opfer dieses Geständnis und fuhr mit der Lektüre seines Buches fort; er wurde zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er kam noch gut weg, andere bekamen fünfzehn. Wolfgang Vogel, der Rechtsanwalt einer der »Spione«, warnte Mielke: »Wenn Honecker das erfährt …« Die Gefangenen wurden freigelassen und das nicht einmal zu den schlechtesten Bedingungen. Der Offizier promovierte später über diese Angelegenheit. Welchen Anteil er an der ganzen Sache wirklich hatte, schreibt Der Spiegel nicht. Die Stasiakten wurden zu einem Mittel der Inquisition, wie es die Stasi selbst auch war. Nach ihrer Lektüre fällt man Urteile und verurteilt, ohne daß man den Beschuldigten einen ordentlichen Prozeß zugesteht. Die Medien entlarven und kommentieren, es melden sich Stimmen und Gegenstimmen, Gerüchte machen die Runde. Diejenigen, die betroffen sind, werden oft entlassen, entscheidet sich der Arbeitgeber dagegen, bleibt in jedem Fall ein Verdacht hängen. Wer gegen das Gerücht vorgeht und frei gesprochen wird, kann dadurch weder seinen Namen reinwaschen noch seine Stellung wiedererlangen. Kleine Nachrichten interessieren niemanden, schon gar nicht die Presse. Auch Gregor Gysi geriet in den Verdacht, als »IM Notar« der Stasi zugearbeitet zu haben, doch trotz jahrelanger intensiver Bemühungen gelang es nicht, Gregor etwas nachzuweisen. Er gewann sämtliche Prozesse, doch immer wieder flackern die Gerüchte auf. Der Ostdeutsche sah in ihm den kleinen Ost-David, der gegen den großen Goliath kämpft. Als Gysi sich um den Posten des Berliner Bürgermeisters bewarb, schrieb die Süddeutsche Zeitung, sie gehe davon aus, daß Gysi Mitarbeiter der Stasi gewesen sei, hüte sich aber davor, das direkt auszusprechen. Ätsch, doch mal wieder gesagt! Eine Sonderkommission verkündete schließlich, Beweise für Gysis IM-Tätigkeit gefunden zu haben. Doch diese Kommission besaß keine rechtliche Befugnis, sie bestand aus Kollegen Gysis. Alles, was diese Bemühungen bewirkten war, daß die Ostdeutschen sich traurigerweise stärker mit Gysi identifizierten als mit ihrem eigenen neuen Rechtsstaat.
Zuerst wurden die Grenzsoldaten verurteilt, die die Schießbefehle ausgeführt hatten. Es ist äußerst schwierig, jemanden dafür zu verurteilen, daß er Befehlen gehorcht, die dem staatlichen Recht entsprechen. Wie viele dieser jungen Provinzsoldaten wohl überhaupt zu einem eigenständigen Entschluß fähig waren, ist fraglich. Es waren in Deutschland übrigens nicht die ersten Prozesse, die ein Urteil über dieses Dilemma zu fällen hatten: Als die DDR noch lebte, stellten wir mit ein paar Schauspielern ein Programm aus deutschen Balladen zusammen. Diese Balladen hatten – wie ein Großteil der deutschen Kultur – das Problem von Macht, Freiheit und Gehorsam zum Thema. Wir tourten damit durch die Niederlande. Weil wir ahnten, daß man in Holland nicht allzu viel über die DDR wußte, stellten wir uns nach den Vorstellungen den Fragen des Publikums. Zur Not übersetzte ich. Mißverständnisse gab es genug. An einem dieser Abende fiel uns ein junger Mann auf, der unter großem Gefühlseinsatz eine ganze Reihe von Fragen stellte. Sie zeugten von guter Kenntnis der Verhältnisse. Ja, er komme aus der DDR, erzählte er uns, und habe seinen Wehrdienst an der Grenze abgeleistet – mit Schießbefehl, das war damals so. Man patrouillierte immer zu zweit. Er kannte seinen Kollegen kaum, das war Strategie, ständig wurde man ausgetauscht, damit es nicht zu unkontrollierbaren Vertrautheiten kam. Plötzlich rennt der andere in Richtung Westen davon. Als er das sieht, schleudert er das Gewehr weg und rennt ebenfalls los. Zehn Minuten später ist er im Westen und blickt zurück, dorthin, wo seine Eltern und seine Freundin zurückgeblieben sind. Für ihn gibt es keinen Weg dorthin zurück, er hat alles verloren. Warum hast du denn nicht einfach danebengeschossen, fragen wir ihn. Er sei der beste Schütze der Einheit gewesen, er hätte treffen müssen. Zuerst wurden die Kleinen verurteilt, die Großen kamen erst viel später dran: Egon Krenz und Günther Schabowski, die behaupteten, die Mauer ohne einen Schuß geöffnet zu haben. Honecker, krank und seit geraumer Zeit geistig und körperlich am Ende. Markus Wolf, der große geheime elegante Stasichef, ein Meister seines Fachs, dessen Spezialität es war, Romeos ins Feld zu schicken, die wichtige West-Sekretärinnen zu verführen hatten. Der kleine große Mielke, der am Ende seines Lebens ein armselig sabberndes Etwas war. Nach langen Prozessen wurden sie verurteilt: Krenz wegen der Verantwortung für Schießbefehle, die er von der vorigen Generation nur geerbt hatte, Mielke aufgrund einer Anklage aus dem Jahr 1931, für eine Tat, die in den Tagen der Weimarer Republik stattfand. Sah so die Genugtuung für die Familien der Mauertoten aus? Für Tausende von Gefangenen und Flüchtlingen und für deren Qualen und Albträume? Inzwischen ist auch hier und da wieder ein Stück der alten Mauer zu sehen. Über Sein und Werden der Mauer wurde viel diskutiert. Vollkommen verschwinden lassen, damit man sie nie mehr zu sehen und nie mehr an sie zu denken brauchte? Als Mahnmahl erhalten? Einpacken und nach Amerika verfrachten, war der Vorschlag aus Amerika. Damit Amerika der Welt zeigen konnte, daß es gewonnen hatte, schenkte man dem Land ein ordentliches Mauerstück. Deutsche Qualitätsarbeit war sie nicht gerade, diese Mauer. Kaum war sie offen, war sie schon vollkommen verschwunden, dem Erdboden gleichgemacht, so daß man nicht mal mehr über sie stolpern konnte. Ein paar Tage später stand man auf einem vollkommen flachen Ost-WestFußboden und überlegte: Wo war sie doch noch gewesen …? »Das organisierte Vergessen.« Weiß übertünchen wie den Hitlerbunker, den man mit Beton ausgoß und im Niemandsland zwischen Ost und West für unauffindbar erklärte. So wurde keine Gedenkstätte draus, für niemanden, nicht für die einen und nicht für die anderen. An ihrer Stelle hat man jetzt ein wunderbares jüdisches Museum errichtet. Ohne Inhalt. Und über ein Mahnmal wird noch immer gestritten.
Checkpoint Charlie erging es nicht anders als der Mauer. Kurz nach seinem Fall bin ich mindestens zehnmal rübergefahren, hin und her, im Slalom zwischen den Fahrsperren hindurch. Das half sehr. Und dann war er verschwunden. Vergeblich suchte ich zwischen den neuen Gebäuden, zwischen den neuen Straßen nach ihm. Hier, nein hier muß er gestanden haben. Als ob das wichtig wäre. Die heutige Mauer hat keinen Stacheldraht mehr und keine Hunde. Checkpoint Charlie hat man wiederaufgebaut, jetzt für die Ewigkeit. Steht er genau da, wo er stand? Steht das Adlon, das Hotel der Reichen und Berühmten, in dem Hitler seine Gäste empfing, wo es einst stand? Die Mauer, auch Antifaschistischer Schutzwall oder vom Volksmund Verwandtenschutzwall getauft, war das Symbol der Teilung, der Gewalt, des katastrophalen Kriegs, des Sieges des Bösen über das Gute, der Demütigung, des Verlusts und der kalten Kriegsromantik, sie war das Böse selbst. Ein Stück steht jetzt wieder. Als Touristenattraktion. Und als neues Symbol. Wir wissen nur noch nicht genau wofür. Unerwartet sehen wir uns auf einer Party wieder. Voller Freude begrüße ich sie sofort. Der gutaussehende Mann neben ihr schweigt und blickt mich kaum an, schaut weg. Ich setze mich zu ihr und versuche, während ich mich mit ihr unterhalte, seinen Blick aufzufangen. Er schweigt. »Und, was machen Sie?« frage ich ihn schließlich. »Ich bin in der Baubranche tätig«, antwortet er und fügt hinzu: »Das ist mein zweites Leben.« Sie nimmt seine Hand, er wendet den Blick ab. Sie und ich setzen unser Gespräch fort. »Und was haben Sie in ihrem ersten Leben gemacht?« wende ich mich schließlich wieder an ihn. »Ich sitze ganz einfach hier«, lautet die Antwort. »Niemand sieht mich. Niemand will mich sehen. Auch Sie wollen mich nicht sehen.« »Und warum will ich Sie nicht sehen?« frage ich zurück. Schweigen. »Er will nicht darüber reden«, sagt sie. »Ich war Stasioffizier«, kommt dann doch die Antwort. Und er redet und redet, und sie redet und redet. Von früher, sie aus dem Westen, er ein hohes Tier im Osten, in jenem Fach, in dem man mit niemandem von außen in Kontakt treten durfte, und sie erzählen, wie schwierig das gewesen sei, und wie sie sich doch gefunden hätten, und wie sie gekämpft hätten, und daß er jetzt nichts mehr sei, ja weniger als nichts, und sie ganz oben stehe. Und wie gedemütigt er sei, verachtet von allen und daß er nichts mehr habe, was ihm etwas Selbstwertgefühl verleihe. Und daß er es nicht mehr aushalte, und sie auf die Dauer natürlich auch nicht. Was sie mit ernster und ruhiger Stimme bestreitet. Sie erzählt weiter, wie sie versuchte, ihre Ehe, ihr 30jähriges Zusammenleben zu retten. Er wollte ein neues Leben anfangen, mit aller Kraft, aber jeder habe durch ihn hindurchgeblickt, niemand wollte ihn sehen, keiner sich mit ihm unterhalten. »Inzwischen redet er wenigstens«, sagt sie, »rede mit ihm, rede wenigstens du mit ihm.« Und er erzählt und hört gar nicht mehr auf zu erzählen. Aber, wie es war, was er getan und welche Funktion er hatte, sagt er nicht. Ich frage ihn auch nicht danach. Ich kann es mir denken. Er berichtet von seinen Zweifeln, die er hatte, als er noch Teil der Maschinerie war, und daß es unmöglich war, dieser zu entkommen, wenn man sich einmal mit ihr eingelassen hatte, und er berichtet von der Angst, es überhaupt zu versuchen. Er beklagt sich nicht, er erzählt ganz einfach. Dann schildert er, wie er aufgehört habe zu existieren. Wie er doch glaubte, daß manche Dinge einfach notwendig und deshalb gut waren, wie sinnlos im Nachhinein alles geworden sei und wie plötzlich es nicht mehr existierte. Aller Stolz, alle Selbstachtung für immer weg. Und auch jetzt klagt er nicht, nörgelt er nicht, er sei frei von Selbstmitleid. Macht- und hoffnungslos, ja, das sei er.
Seine Frau hat recht, dachte ich, wenn er nur anfinge zu reden, dann könnten sie es vielleicht schaffen. Was er jetzt in der Baubranche macht, habe ich ihn lieber nicht mehr gefragt. Ein Freund von mir kaufte direkt nach der Wende, als alle ihre Uniformen, Mützen, Orden, Troddeln und Medaillen auf den Markt vor dem Brandenburger Tor warfen – eine Stasiuniform mit Troddeln. »Die verraten die Partei und sich selbst«, sagte ein alter Kommunist. Daß es überhaupt Stasiuniformen gab, wußte ich nicht, ich kannte nur die weißen Anzüge von Minister Mielke und Mischa Wolf. Die Uniform meines Freundes war einfach graugrün und hing im Schrank. Als er sie mir zeigte, brach er in ein hohes, glucksendes Gelächter aus, das gar nicht mehr aufhören wollte. War das Gefühl der Befreiung für ihn so groß? Hatte er eine so riesige Angst gehabt? Hatte er so viel Druck aushalten müssen? Es stellt sich die Frage, ob man überhaupt wußte, daß man für die Stasi arbeitete, wenn man für sie arbeitete? Ohne Uniform natürlich. Halfen sie einem dabei, das zu verdrängen? Es heißt, daß man sich nicht dafür anmeldete, sondern darum gebeten wurde. Wie ging das vor sich? Wem verschrieb man sich, falls man tatsächlich irgendwo unterschrieb. Dem »Uns«? Dem »Sozialismus«? Dem »Frieden«? Dafür war doch jeder. Die IMs leugneten nach der Wende alles. Sie schoben und schieben noch heute alles auf eine Art Ahnungs- und Gedankenlosigkeit, jedenfalls haben sie nicht das Gefühl, jemanden ausspioniert oder verraten zu haben. »Man unterhielt sich gelegentlich mit Leuten, Freunden, Nachbarn oder Freunden von Freunden, das war alles. Ich habe nie etwas Nachteiliges über jemanden gesagt, sondern nur bestätigt, was sie sowieso schon wußten.« Aus solchen Anspielungen wurde man leicht klug. Und wie war das in meinem eigenen Leben: Was war mit den Fotos von Feiern, die nie aus dem Entwicklungslabor zurückkamen, und wie war das mit den Weihnachtsfeiern, den Wochenenden, den endlosen Gesprächen – alles nur der Gemütlichkeit wegen? Wie war das mit dem Parteisekretär, der angeblich wegen seiner Eheprobleme Abend für Abend zu uns zu Besuch kam? Mit den Freunden, die in den Westen reisten, sich in meiner holländischen Wohnung einnisteten, bei mir schliefen? Es ist doch naiv zu glauben, sie seien die einzigen gewesen, die nach ihrer Rückkehr in die DDR keinen Bericht hätten schreiben müssen. Das taten sie mit Sicherheit schon, weil sie sich die Chancen für weitere Reisen nicht verderben wollten. Im Grunde wußte man Bescheid. Man sah ja die offenen Türen, die verschobenen Papiere, die kleinen, aber zahlreichen Spuren, und irgendwie war es einem sogar egal. Doch wer aus dem eigenen unmittelbaren Umfeld gehörte dazu? Bei manchen war man sich sicher, bei anderen hatte man so eine Ahnung. Tat man denen Unrecht? Gerüchte, Tratsch und schmählicher Verrat ließen so manche alte Freundschaft zerbrechen. War es notwendig, wirklich alles zu wissen und den anderen die eigene Schwäche und die Angst zu zeigen? Laßt die Toten die Toten begraben; ich jedenfalls will mich an dem Entlarven, dem Urteilen und Verurteilen nicht beteiligen. Die Stasi log immer und hätte mit dem Lügen freiwillig nie aufgehört. Die Leute müssen sich vor ihrem Gewissen selbst verantworten. Laßt die Freundschaften, was sie waren – und die Liebe vielleicht sogar auch. Wenn der aufrichtige Glaube, daß der Sozialismus die Welt verbessern könne, am Ende nur zu falschen Freunden und falscher Liebe geführt hat, dann ist es ein erbärmlicher Glaube gewesen. Amen.
Theater Wir gegen den Rest der Welt, das war das Deutsche Theater. Es hatte 80 Schauspieler, eigene Werkstätten, Maskenbildner, mehrere hundert Mann Bühnenarbeiter, eine Presseabteilung, eine Finanzabteilung, Schuhmacher, Garderobieren, Souffleusen, Inspizienten, drei Säle, ein Café plus ein Restaurant und Alkohol satt. Dort waren wir zu Hause, jeder hatte seine eigene Garderobe und bei jeder Vorstellung dieselben Leute, die ihn betreuten. Wenn wir schon reisen mußten, dann ins Ausland, auf große Tourneen. Unsere Entourage umfaßte dann mindestens 100 Personen. Im Deutschen Theater probten wir, dort aßen und spielten wir. Dort betranken wir uns nach den Vorstellungen und empfingen Gäste, Fans und Bewunderer. Wer uns suchte, wurde dort fündig. Das Theater lag unmittelbar hinter der Mauer, die Touristenbusse mußten unweigerlich an uns vorbei. Wir machten uns einen Spaß daraus, mit eingezogenen Bäuchen und ausgestreckten Armen hinter so einem Bus voller Amerikaner und Westdeutschen herzurennen und leichblaß »Hunger!« zu schreien. Im Theater hatten wir unsere Freunde, wir wohnten und arbeiteten dort. Die Intendanten lösten einander ab, jeder hatte so seine Schwierigkeiten mit mir am Theater wie die niederländischen Intendanten während meiner Jahre an der Schouwburg auch. Dieter Mann, ein recht junger Schauspieler-Intendant war der letzte, den ich miterlebte. Er trat seine Stellung zur gleichen Zeit an wie ich meinen Posten in den Niederlanden, und wir sprachen uns ab, es nicht länger als zehn Jahre aushalten zu wollen. Wir haben uns beide dran gehalten. Mein damaliger Ehemann spielte viele Hauptrollen. Auch Nebenrollen, denn das gehörte sich so und kam der Qualität der Vorstellungen sehr zugute. Daß wir im gleichen Bereich tätig waren, haben wir in den Jahren, in denen wir verboten waren, schmerzlich zu spüren bekommen. Für jeden Schritt war der andere offiziell mitverantwortlich. Eine Art Sippenhaft. Den anderen Dieter, den Franke, den alten Freund, der an Zukker litt und aussah wie ein kugelrunder Skinhead, hielten die Westdeutschen auf unseren Reisen nie für einen DDR-Bürger, sie waren tatsächlich der Ansicht, daß wir dort Hunger litten. Klaus Piontek, mein liebster undeutscher Deutscher, war Pole von Geburt, weshalb er von uns »Polak« und von mir »Undeutscher« genannt wurde. Während bei den Westdeutschen ein guter Ossi automatisch für eine Art Wessi gehalten wurde, waren gute Deutsche für einen Niederländer immer gleich »undeutsch«. Klausi war mit Mutter und Großmutter, die das Leben des Kindes mit Händen und Füßen und Regenschirmen verteidigten, im Nachkriegschaos aus Polen geflohen. Er hegte sein ganzes Leben lang eine verzweifelte Ehrfurcht vor Frauen. »Solange ich auf der Bühne stehe und meinen Text loswerden kann, bin ich ein guter Schauspieler«, sagte Klaus immer. Klaus Piontek. Er war ein brillanter zweiter Mann und tatsächlich weniger gut, wenn er eine Rolle wirklich spielen sollte. Rolli, Rolf Ludwig, der geniale Quartalstrinker, der aussah wie Gerard Philippe, der alte Bienert, Gerhard, der schon 1920 eine Berühmtheit war, Herwart Grosse, der sich noch mit siebzig bei jeder Premiere hinter der Bühne übergeben mußte und mir die Illusion nahm, daß das Lampenfieber irgendwann mal nachläßt. Kollegen, Freunde. Alle tot. Im Ostblock war Schauspieler ein angesehener Beruf. Schauspieler in den Niederlanden sind generell ziemlich laut, das hatten die DDR-Schauspieler gar nicht nötig. Als hochgeachtete
Persönlichkeiten verhielten sie sich dementsprechend. Ein Schauspieler im Regenmantel und mit Aktentasche für die Texte, an der Hand ein Kind, war im Alltag nicht von einem Büroangestellten zu unterscheiden. Bis er die Bühne betrat. In den Niederlanden und in Westdeutschland dagegen erkannte man einen Schauspieler schon von weitem. Vielleicht weil ein Schauspieler früher kein Stadtrecht besaß, nicht innerhalb der Stadtmauern begraben werden und nicht vor Gericht als Zeuge aussagen durfte, glaubt er bis heute, sich beweisen zu müssen. Er spielt den Narren am Königstisch und deshalb langweilt man sich in seiner Gesellschaft auch höchst selten.
Monis Geschichte »Lobenswertes Verhalten« wurde in der DDR mit Geschenken belohnt. Zum Beispiel mit einer Schiffsreise nach Kuba: Die Arcona war eines der besseren Schiffe. So eine Reise bekam sie angeboten. Ein paar Jahre vorher war ihr Mann in Westberlin gestorben, sie hatte nicht zur Beerdigung ausreisen dürfen. Haß, Haß und Verzweiflung. Sie hat damals gehaßt und tat es heute noch immer. Aber inzwischen hatte sie gearbeitet und war ausgezeichnet in ihrem Fach. Sie leitete die Theaterkantine und das Foyer. Sie hatte eine Tochter. Das Leben ging weiter. Sie arbeitete mit Leuten, die sie mochte, und war stolz auf ihre Arbeit. Eines Tages flog sie also nach Kuba, um von dort die Heimreise mit dem Schiff anzutreten. Wieviel Urlaub hatte sie in ihrem Leben gehabt? Sie mußte irgendwo zwischenlanden, eine Nichte erwartete sie mit Geld und Paß, sie hätte nur das Flughafengebäude zu verlassen brauchen. Aber ihre Tochter war noch in Ostberlin. Und so flog sie nach Kuba weiter, nahm das Schiff zurück und genoß den Urlaub. Kurz danach erkrankte ihre westdeutsche Tante, die sie großgezogen hatte, schwer. Wieder durfte sie nicht ausreisen. Die Tante überlebte und wurde 75. Diesen Geburtstag durfte sie mit ihr feiern. Die Tochter steht neben dem gepackten Koffer und sagt zu ihr: »Mama, nutze die Gelegenheit.« Danach verbringt sie ein halbes Jahr bei Verwandten in Toronto. Sie hat solches Heimweh nach ihrer Tochter in Ost-Berlin, sie denkt an nichts anderes. Sie will zurück. In einem großen und teuren Hotel im Westen findet sie eine Stellung. Schließlich war sie sehr gut in ihrem Fach. Langsam arbeitet sie sich wieder hoch, kann am Ende ein kleines Häuschen und ein Auto ihr eigen nennen. Die Tochter versucht, nach Ungarn zu gelangen, von wo aus man angeblich leichter flüchten kann. Die Zeit ist gekommen. Sie will es über Wien versuchen. Und von da nach Westberlin. Aber sie bekommt kein Visum für Ungarn, macht sich ohne auf den Weg und geht illegal über die Grenze. Sie wird erwischt und zurückgeschickt. Sie versucht es ein zweites Mal. Voller Todesangst wartet Moni in Westberlin auf ihre Tochter. Tagelang hört sie nichts. Nach drei Tagen meldet sich die Tochter von einem Bahnhof im Westen, und kurz danach liegen sie sich in den Armen. 1993 bekommt Moni ihren alten Job in der Ostberliner Theaterkantine wieder angeboten. Sie greift zu. Sie arbeitet jetzt mit ihrer Tochter zusammen. Das Häuschen haben sie noch, ganz in der Nähe der früheren Grenze, auf der anderen Seite.
Sie will den alten Betrieb auf Vordermann bringen, anwenden, was sie im Westen alles gelernt hat. Zur Modernisierung des Theaters setzte man ein Komitee ein, eine hochkarätige Mannschaft, alles Leute mit Rang und Namen und viel Arroganz, Wessis natürlich, die den »Laden« in die Hand nehmen wollen. Als der Vorsitzende des Komitees, eine westdeutsche Berühmtheit, Geburtstag feiern wollte, erkundigte er sich bei ihr, ob sie in der Lage sei, eine größere Feier auszurichten. Wortwörtlich fragte er: »Können Sie das?« Als sie ihm antwortete, sie habe ihm Westen gearbeitet, und ihm auch noch sagte, wo und in welcher Funktion, da war sie für ihn gleich zwei Meter fünfzig groß. Ein halbes Jahr hat sie nur Sachen geschleppt. Es war ein riesiges Durcheinander. Die im Boden verankerten Tische mußten losgeschraubt werden, sie wollte, anders als zu DDR-Zeiten, frei bewegliche Tische. Sie schraubte sie los, rüttelte daran und sackte durch den Fußboden. Jetzt wurde eine große Baustelle draus, mitsamt den dazugehörigen Problemen und Kosten. Durch das Loch im Boden trat die gesamte Vergangenheit des Ortes zutage. Die Bar wurde an anderer Stelle neu errichtet, die alte Kantine verschwand mehr und mehr, die zerschlissenen Lederstühle mußten weichen. Der gesamte DDR-Mief sollte raus, der Staub auch, die Langeweile. Am Ende hatte das Ganze Niveau. Es gab ein Fest mit dem Bundespräsidenten, sie bekam wieder einen Preis, jetzt aber von den Neuen. Inzwischen ist sie hier wieder zu Hause, aber die meisten Leute von früher sind tot oder weg oder planen wegzugehen. Sie vermißt sie, sie vermißt die Weggegangenen und die Toten. Deren Fotos hängen jetzt an der Wand: Dieter, Klaus, Herwart Grosse und der verrückte Rolf Ludwig. Unter den Fotos stehen immer frische Blumen. Ihre neuen Kunden mochten kein Cordon bleu, es heißt jetzt wieder gefülltes Schnitzel wie früher. »Tafelspitz«, sagen die Kunden, »ist das vom Hund?« Salat mit chinesischer Sauce – eine Chance. Die Ossis verstehen darunter das eine, die Wessis das andere – beide mögen das Gericht nicht. Die russische »Soljanka« ließ sie auf der Menükarte stehen. West will immer wissen, was es ist, und Ost will nicht darauf verzichten. Bei jeder Feier, die sie ausrichtet, fragt sie im voraus: »Sind Sie aus dem Westen oder Osten?« Fragen die: »Warum wollen Sie das wissen?« Antwortet sie: »Darum.« Das Essen ist eigentlich nicht anders geworden, höchstens ein bißchen abwechslungsreicher, und die Gerichte tragen jetzt andere Namen. »Manchmal kommt es zu Ost-West-Mißverständnissen, da liegen wir dann vor Lachen unter den Tischen.« »Komm«, sagt sie. Wir verlassen den Osten und überqueren die abwesende Mauer, auf der anderen Seite zeigt sie mir in einem neuen Viertel einen großen, offenen hellen Saal. »Sie werden gleich kommen«, sagt sie, »die Jungs aus dem Westen.« Ihre Frauen sind mit den Kindern hübsch in Bonn oder so geblieben, und sie müssen ja irgendwo essen. »Das hier wird mein persönliches Regierungsviertel«, sagt sie. Dann umarmt sie mich mit ihren großen Armen. Ich schaue in ihr strahlendes Gesicht und denke: Wie stark ein Mensch sein kann, stark genug für zwei Länder gleichzeitig. Während meiner Zeit in der DDR habe ich viele Filme und Fernsehspiele gedreht, denn das war – vor allem in den ersten Jahren – aufgrund der Sprachprobleme einfacher als Theaterspielen. Im ersten Film, den ich drehte, sprach ich meinen Text so langsam, daß ich bei der Nachsynchronisation ein halbes Jahr später immense Schwierigkeiten hatte, meine Atempausen waren merkwürdig lang. Die Filmproduktion der DDR pro Jahr war groß, manche der Filme waren von sehr guter Qualität. Hier gab es die ersten Frauenfilme, in anderen Ländern noch ein nahezu unbekanntes Phänomen. Es gab Filme, die den Alltag und die Träume der Studenten zeigten, oder die Probleme von Ehepaaren, die arbeiteten und gleichzeitig Kinder aufzogen, Filme über ziemlich
normale Menschen. Es gab aber auch die großen Geschichten, die der Helden des Antifaschismus und des Sozialismus. Und es gab natürlich auch die schnelle Gebrauchsware. Das Fernsehen war oft von geringerem Niveau als die Spielfilme, auch in politischer Hinsicht. Fernsehen ist billiger. Und schneller. Weniger nackte Haut, kaum Sex, kein Porno. In der DDR galt die Würde der Frau noch etwas, und nachdem ich auch in den Niederlanden einige Filme gedreht hatte, wußte ich, daß ich in der DDR keine Zugeständnisse an die Qualität machte, im Gegenteil. Meine erste Filmrolle war hier die eines schlauen, aufrechten Bauernmädchens gewesen, in den Niederlanden hätte ich so eine Rolle schwerlich bekommen. Dort besetzte man mich lieber in Rollen wie »Blond mit Busen« oder »Unterkühlte Intellektuelle mit Brille«. Für jemanden, der die Bedingungen der öffentlichen Sender in den Niederlanden mit ihrer technischen Perfektion gewohnt war, waren die Umstände, unter denen in der DDR gearbeitet wurde, die einer folkloristischen Vergangenheit. Lampen wurden noch per Hand bedient, in den Studios war es entweder brütend heiß oder bitter kalt, die Kameras waren nur mit Mühe scharf zu stellen. Alte Damen, die in den Pausen strickten, gingen bei Fahrten hinter der Kamera her, um die Kabel umzulegen, und die Kamera selbst wurde noch per Steingewicht in die Höhe gehievt. Schminke brachte man stets in dicken Lagen auf die Gesichter auf. Für die Mittagspause mit einer warmen Mahlzeit wurde man wieder abgeschminkt, nur um danach erneut geschminkt zu werden. Weder Schminke noch Haut hielten es länger als einen Tag miteinander aus. Allerdings sind Drehtage auch in modernen Ländern eine Zumutung, vor allem, wenn man eine Perücke tragen oder um fünf Uhr morgens beginnen muß. Es war üblich, daß sich die Schauspieler zusammen mit dem Regisseur und dem Produzenten die Aufnahmen des vorigen Tages ansahen. Beide Seiten gaben dann ihren Kommentar ab. Auf diese Weise sah der Schauspieler, was er tat, und er hörte auch, was die anderen davon hielten. Wenn man als Schauspieler mit einer Szene aus irgendeinem Grund nicht einverstanden war, wurde sie, auch wenn es viel Geld kostete, durchaus wiederholt. Ein Schauspieler war eine vollwertige Person und nicht nur ein Kostenfaktor im Produktionsplan. Fast zehn Jahre nach der Wende sah ich im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Babelsberg, wo die Filmstudios der alten weltberühmten Ufa und später der ostdeutschen DEFA lagen. Vor dem Mauerbau hatten die Studios mitten in Berlin gelegen, danach mußte man um Westberlin und die weitläufigen russischen Kasernen in Potsdam herumfahren, um hingelangen zu können. Dazu brauchte man ungefähr eine Stunde auf – gelinde gesagt – mittelmäßigen Straßen, auf denen sich ab und zu ein Schauspieler an einem liegengebliebenen, unbeleuchteten LKW den Schädel einfuhr. Meistens handelte es sich bei diesen LKWs um russische Fahrzeuge, und eigentlich ließen sich die Schauspieler den Schädel einfahren, weil Schauspieler nämlich meistens mit einem Chauffeur unterwegs waren. Schließlich waren sie während des Drehens hochgeachtete Persönlichkeiten, und längst nicht alle besaßen ein eigenes Auto. Asta Nielsen, Marlene Dietrich, Zarah Leander, Heinz Rühmann, Gustav Gründgens, alle haben sie in Babelsberg gedreht. Das taten wir aus der DDR also auch und manchmal war es sogar ein Film, der auch ein wenig für die Ewigkeit gemacht war. Jetzt dreht man dort Serien wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Die Schauspieler sind jung, undiszipliniert und sehr von sich eingenommen. »Ach nee, früher hat man hier auch schon gedreht?« wundern sie sich. Namen kennen sie keine, die Welt entstand erst, als sie auf der Bildfläche erschienen. Der oben erwähnte Dokumentarfilm zeigte Ausschnitte aus zahlreichen Vorkriegsfilmen – Kriegsfilme wurden keine gezeigt, das würde die Leute nur auf falsche Gedanken bringen –, außerdem zeigte er auch einige Ausschnitte aus DDR-Filmen.
Dabei entstand der Eindruck, als bestand die gesamte DDR-Filmwelt nur aus Schauspielern, die die DDR nach der Biermann-Affäre 1976 verlassen hatten: Domröse, Krug, Müller-Stahl. Auch wurden aus dem Osten stammende Schauspieler gezeigt, die noch vor dem Mauerbau im Westen eine neue Karriere gestartet hatten. Von denen, die in der DDR geblieben waren, kam nur vereinzelt ein Regisseur oder ein Schauspieler ins Bild, und dann auch nur, weil man ihn nicht herausschneiden konnte. Wie man hört, läuft es gar nicht so schlecht in Babelsberg. Volker Schlöndorff, aus dem Westen, blieb nicht und Hollywood, aus Amerika, kam nicht, trotzdem fliegen dort wieder Autos durch die Luft und dreht man große deutsche Produktionen. Im Osten kann man noch billig Filme machen. Das teure Produkt Film muß schließlich bezahlbar bleiben. Überall in den neuerrichteten Studios arbeitet man hart, in den Tonstudios wurde wieder gemischt, mit einer Technik, die erste Klasse ist, nichts ist mehr so wie früher. Mitten auf dem großen offenen Filmgelände, wo früher Western-Dörfer, Burgen und Konzentrationslager aus Pappe und Stacheldraht standen, steht jetzt »die Mauer«. Man kann mit dem Bus drumherumfahren oder auch mitten durch sie hindurch, wenn es denn sein muß, dreimal hintereinander. Nach der Wende hat man jeden, der hier eine Festanstellung hatte – und die hatten alle – entlassen. Man fing von vorn an, vielfach mit anderen Personen und nach vielen internen Diskussionen, einem Direktor nach dem anderen und einer wachsenden Unsicherheit für die Angestellten. Ein paar der alten Garde sind inzwischen jedoch zurückgekehrt. »Ostalgie« ist in. Man hat Sehnsucht nach früher, auch im Film. Die Vergangenheit wird wieder eröffnet. Touristengruppen besuchen die »neue Mauer«, die aus Pappe. Busse fahren durch die Vergangenheit. Was früher die Werkstätten waren, nennt sich jetzt »Art-Department«. Die Dienstregelungen ähneln denen von früher in schmerzlicher Weise: endlose Formulare und Stempel. Und überall Uniformen. Einen Uniformspezialisten gibt es auch wieder. Für die Kostüme, versteht sich. Filmschaffende aller Art überqueren das Gelände. Der Interviewer des Dokumentarfilms erkundigt sich nach ihren Erinnerungen. Die Antworten lauten alle ähnlich: »Ich bin hier aufgewachsen. Das war mein Zuhause. Viele der alten Gebäude stehen noch. Vor der Endabnahme haben wir alle gezittert! Schauspieler und Techniker und Maskenbildner, alle, durch die Bank. Wir waren eine Familie, jeder kannte jeden. Morgens begrüßte man alle: »Grüß dich, grüß dich!« Und wehe, die hohen Herren hatten sich angesagt. Manche Filme lagen an der Grenze, das wußte man schon von Anfang an. Das kannten wir schon. Einer sagt: »Wir haben die Filme gemeinsam gemacht, wir vom Catering, der Maske, dem Licht und die Schauspieler.« Im Jahr des XI. Plenums, das Jahr, als die DDR-Regierung eine Art »Laßt-alle-Blumen-blühen«Politik versprach, schaffte es die Hälfte der DEFA-Jahresproduktion nicht in die Kinos. Im genannten Dokumentarfilm sah ich Fragmente der Filme, die sich trotzdem erhalten hatten, wahrscheinlich unter dem Bett irgendeines Beteiligten. Der Regisseur Frank Beyer erklärt mit leichtem Schulterzucken: »Die Zensur verlief in Wogen. Es konnte passieren, daß man seinen Film während einer toleranten Periode zu drehen anfing und bei der Fertigstellung in stürmerischen Zeiten lebte.« Der Regisseur Rainer Simon, mit dem ich meinen ersten Film drehte: »Die Filme gaben eigentlich das Leben und die Situation im Land sehr gut wieder, in positiver wie in negativer Hinsicht. Sie zeigen, wie es in Wirklichkeit war, und wie wir es gerne gehabt hätten.« 1993, also lange nach der Wende, drehte er einen Film, der sieben Jahre lang, wie es heute heißt, »unter Verschluß« gehalten wurde. Früher sagte man einfach »verboten« dazu. Jetzt soll er endlich
gezeigt werden. »Die Zensur«, sagt Simon, »war früher berechenbar. Man kannte ja das Land, man kannte die Grenzen. Aber heute ist alles unberechenbar geworden.« Das Bild zeigt die Sprengung eines Wohnblocks, Ausschnitte aus Krankenhausserien flitzen vorbei. »Die Pausen«, fährt jemand fort. »Die Autos. Die Ankunft. Die herzliche Begrüßung von allen Seiten. Man kannte sich. Essen. Gemeinsamkeit.« Von hier aus einen Schnitt zu Gute Zeiten, schlechte Zeiten. »Ja«, erklärt deren Chef, »die Zeiten haben sich geändert. Die jungen Leute von heute wollen sich auf dem Bildschirm wiedererkennen. Markt und Marketing, darum dreht sich alles.« Kreischende Kids unterwegs zu den Autogrammstunden. Ein paar Neue Männer in Neuen Anzügen reden über »Flexibilität, das Echte, das Wahre«. Man müsse ständig rechnen. »Die Konkurrenz ist groß«, sagen die Neuen Männer, »Die Welt ist groß.« »Es war die schönste Zeit meines Lebens«, sagt eine Stimme im Off des Abspanns. Wenig später besuche ich mit einer Gruppe Niederländer Babelsberg. Das niederländische Viertel in Potsdam ist hübsch herausgeputzt. Die Russen sind abgezogen. Ich erkenne überhaupt nichts mehr. Auch, weil der Eingang verlegt wurde. Hier hätte eigentlich ein Ossi sitzen müssen, sagt der neue Chef – ein Wessi. Ich schaue mich um, grüße hier und dort. Ein junger Mann ruft mir etwas zu, rennt hinter mir her, ich krame verzweifelt in meinem Gedächtnis. Afrika, vor drei, vier Jahren. Wir waren in Kenia, drehten einen Fernsehfilm zwischen den Affen, ein Westregisseur, die Synchronisation fand ebenfalls in Westberlin statt. »Was tust du denn hier?« frage ich ihn. »Ganz einfach, ich komme von hier«, antwortet er. Ganz einfach. Fünf Jahre nach der Mauer Meine Freunde frühstücken mit mir im Hotel. Das tun sie, wenn irgend möglich, meistens am ersten Morgen nach meiner Ankunft, wenn sie es mit der Arbeit oder den Kindern vereinbaren können. Einer inzwischen doch sehr alten Tradition zufolge komme ich am Freitagabend an und habe, wenn ich am Montag wieder in den Niederlanden lande, eine Eingewöhnungsnacht, ein ganzes Wochenende und einen bezahlbaren Flug hinter mir. Im Hotel zu frühstücken ist gar keine so schlechte Lösung, denn wer unter der Woche wie ein Besessener arbeitet, hat keine Lust, am Wochenende seine Wohnung umständlich für einen Besuch herzurichten. Alle haben in den letzten Jahren viel erlebt, ihr Leben hat sich total verändert. Die eine Hälfte meiner Freunde kommt aus dem Westen, die andere aus dem Osten. Sie haben zusammen studiert, sie sind immer noch im gleichen Fach tätig. Darüber unterhält man sich dann auch. Man geht vorsichtig miteinander um, aber das taten wir auch vor dem Mauerfall schon. Ich höre zu, freue mich, daß ich bei ihnen sein darf. Den Rest des Vormittags verbringe ich meist in einer Buchhandlung. Ich kann zwar auch in den Niederlanden deutsche Bücher bestellen, aber ich möchte erst wissen, was ich haben will. Weil ich bei Büchern recht habgierig bin, schleppe ich dann doch meist eine große Tüte voll mit nach Holland zurück. Irgendwann werde ich hier wieder eine Wohnung haben. Noch ist das bargeldlose Bezahlen ein Problem. Es geht nur mit EC-Karten. Ein mächtiger Fortschritt, verglichen mit früher, mit letztem Jahr zum Beispiel – die Zeit verstreicht schnell, aber wir haben keine. Eine EC-Karte ist wohl was Deutsches, etwas, das in ausländischen Händen nichts zu suchen hat. Wir sind nicht die einzigen Ausländer mit Zahlungsschwierigkeiten. Ich wage nicht zu fragen, wie lange es dauern wird, bis dieses Problem
behoben ist, denn alle Prognosen in dieser Hinsicht haben sich als falsch erwiesen. Die sprachen von 2019 oder 2035. Ich fühle mich schuldig gegenüber den hinter uns herstolpernden Niederländern: Ich war hier doch zu Hause! Wer, wenn nicht ich, soll sich hier auskennen! Mit Hilfe einer Kreditkarte erwerben wir dagegen bei einer Theaterkasse Opernkarten. Ich bin ganz närrisch vor Glück – erstens wegen des unerhörten Fortschritts und zweitens, weil es sich um Karten für eine Vorstellung am selben Abend handelt, für eine Oper, die ich schon immer mal sehen wollte. So einfach bekam man in Berlin nie Karten, ich weiß nur nicht, ob das für die Oper selbst so ein Fortschritt ist. Früher konnten Opernliebhaber diesseits der Mauer nur aus zwei Opernhäuser wählen, jetzt sind es drei plus eine Operette und ein paar Musicals. Auch die Theaterkasse, bei der man wie in London und New York seine Eintrittskarten kaufen kann, ist neu. Vor der Wende mußte man sich an der Kasse des Theaters in eine Schlange stellen, voller Hoffnung auf die Wirkung seiner blauen Augen, und tat man das einen Monat vor der Vorstellung, hatte man eine reelle Chance auf Erfolg. Theaterkarten waren damals eine seltsame Kostbarkeit. Unweit der Theaterkasse gibt es jetzt eine Einkaufsstraße. Früher war hier nichts; Anfang des Grenzgebietes mit Namen »Stadtmitte«, aber noch ist hier weder eine Stadt noch eine Mitte zu entdecken. Es gibt hier jetzt immerhin das Kaufhaus »Lafayette«, es heißt, bei der Eröffnung sei Polizeischutz nötig gewesen, und in einer nahegelegenen Buchhandlung wird mir mein Handy gestohlen. Wenn das kein Fortschritt ist, fast erfüllt es mich mit Stolz. Diebstahl war hier früher so gut wie unbekannt. Nun seht, was für eine Großemenschenstadt es geworden ist! In einem Straßencafé hinter dem Maxim-Gorki-Theater, Aussicht auf die heruntergekommene Museumsinsel, noch ist hier von Fortschritt nicht viel zu sehen. Über unseren Köpfen schwebt die S-Bahn-Brücke, sie sieht nicht mehr so aus, als könnte sie jeden Augenblick einstürzen. Oder hat sich mein Blick geändert? Wie mag hier wohl alles vor zwei Monaten, vor einem Jahr ausgesehen haben, kann ich mich noch daran erinnern? Oktobersonne. Ich trage nur eine Bluse, Landklima. In Berlin ist es solange warm, bis man an der Kälte stirbt – das weiß ich noch. Aber bei 20 Grad unter Null stirbt man nicht – weiß ich auch noch. Wir sahen eine Vorstellung von Webers »Freischütz«. Ich saß oben zwischen den Wessis, unten saßen die Ossis. Das Stück ist sehr politisch, auch wenn es einfach nur eine Oper mit wunderschöner Musik von Weber ist. Die Zuschauer unten wie oben begriffen deutlich, wovon das Stück eigentlich handelte. Mir wurde klar, daß es Stücke gab, die beide Parteien begreifen und für gut und komisch halten können. Der Regisseur war ein Engländer. Ich traf einen Sänger, der mich umarmte. Was ist inzwischen passiert, daß es einen derart überrascht, Menschen zu begegnen, die man kennt, und daß man sie umarmen muß, als kämen sie gerade aus dem Krieg zurück? Als ich die Kantine des Deutschen Theaters besuche, kommt langsam ein Mann auf mich zu, schräg hinter ihm ein zweiter. Der zweite blickt an mir vorbei, erst als ich etwas sage, richtet er seine Augen auf mich. »Hallo Cox«, begrüßt er mich, und erst jetzt sehe ich, daß er blind ist. Der erste erklärt mir aufgeregt, daß der andere mich ohne seine Einflüsterung erkannt habe: »Diese Stimme erkennt man unter Tausenden wieder.« »Und den Akzent«, antworte ich fröhlich, während ich ihm einen Kuß gebe und mein Herz sich vor Mitleid zusammenkrampft. Ein dritter hetzt atemlos in Richtung Garderobe vorbei. »Verdammt, ich werde ganz schön nervös sein, wenn du im Saal sitzt«, ruft er. Ungezählte Vorstellungen haben wir zusammen auf der Bühne gestanden. »Ich sehe, du stehst noch auf der
Besetzungsliste«, sage ich zu meinem blinden Kollegen. »Ich spiele ja auch noch«, antwortet er und verschwindet mit seinem Kollegen in Richtung Garderobe. Die Dramaturgin des Stücks begleitet mich bis zur Saaltür. »Viel Spaß mit dem neuen Outfit«, sagte sie. In dem schönen klassizistischen Kleinen Saal hat man eine hohe Sitztribüne errichtet. Die Atmosphäre des Saals hat sich dadurch vollkommen verändert. Ich fürchte, daß man das hier für modern hält. Die Inszenierung selbst erschreckt mich nicht minder. Wo sind Form, Stil und Leichtigkeit geblieben, alles, was das Deutsche Theater früher so ausgezeichnet hat? Mit dem Gefühl der Ohnmacht sitze ich im Saal und sehe, wie sich meine alten Kollegen auf der Bühne schlagen. In der zweiten Hälfte wird die Inszenierung geistreicher, schärfer und politischer. Der blinde Schauspieler tritt auf. Er läßt sich ein paar Mal rücklings auf einen Stuhl fallen, schleudert seinen Hut zielsicher auf einen Haken und findet unter einem hübschen kleinen Monolog anstandslos den Ausgang wieder. Das Publikum johlt, offensichtlich weiß es Bescheid. Aber was ist es für ein Publikum? Ist es unser altes Publikum von früher? Oder das Publikum der Mode und der Einschaltquoten, die Unfreiheiten der heutigen so viel freieren Gesellschaft? Der letzte Intendant zu DDR-Zeiten und gleichzeitig der erste der neuen Zeit, Thomas Langhoff, erklärt in einem Interview in der Berliner Zeitung vom 26. Mai 2000: »Das Ensemble ist im Laufe der Zeit gewachsen. Es hat sich auch in DDR-Zeiten gegen eine bestimmte Kulturpolitik zu wehren gewußt und hat zwei Intendanten, die es vor die Nase gesetzt bekam, zum Teufel gejagt und hat die Wende im Gegensatz zu vielen anderen Häusern im Kern unbeschadet überstanden.« Außerdem, so fährt Langhoff fort, »haben sich die allgemeinen gesellschaftlichen Ideale geändert, die künstlerischen Erwartungen eines vollkommen neuen Publikums waren ganz andere. Was wir unter diesen Umständen, bewußt oder unbewußt, freiwillig oder nicht ganz freiwillig, auch trotz unserer eigenen Fehler, tun konnten, war, ein sehr hohes Niveau des Theatermachens beizubehalten [...].« »Dem kann ich nur noch hinzufügen«, heißt es in der Berliner Zeitung weiter, »daß ich oft genug gehört habe, es muß mit dem ›Ostähnlichen‹ des Deutschen Theaters endlich vorbei sein.«
Angelikas Geschichte »In der ersten Vorstellung nach der Wende saßen 93 Leute. Du weißt ja selber, daß in der DDR alle Vorstellungen unseres Theaters ausverkauft waren. Jeder, der konnte und sich traute, war an dem Abend rüber gegangen. Danach hat sich sehr viel geändert. In der ersten Zeit schrumpften die Besucherzahlen, wir kannten unser Publikum nicht mehr, hatten keine Ahnung, ob sich diese Leute noch in unseren Stücken wiederfinden konnten. Alles ging so furchtbar schnell. Der teuerste Sitzplatz kostet inzwischen 60 Mark, früher haben die Leute zwischen 12 und 16 Mark bezahlt. In den letzten fünf Jahren sind die Preise überall gestiegen, auch in den Theatern. Manche finden eine Karte jetzt sehr teuer, andere dagegen halten sie für billig. Die Schere öffnet sich immer weiter. Es gibt jetzt weniger Mittelstand. Um das aufzufangen, haben wir viele Rabatte eingeführt. Rabatte für Senioren, Schüler, Militärangehörige und so weiter. Sie können es sich jetzt aussuchen. Wer kein Geld hat, für den lassen wir uns etwas einfallen. Studenten dagegen blättern oft, ohne mit der Wimper zu zucken, 60 Mark hin. Die teuersten Plätze bleiben
immer übrig, die müssen am schnellsten weg sein. Manchmal sagen sie an der Kasse zu mir: »Ihr verkauft euch ja lächerlich billig.« So was mußte ich mir von den arroganten Wessis anhören! Als wären wir der letzte Dreck, so reden die mit uns. Es kommt aber vor, daß eine Vorstellung ausverkauft ist. Dann sagen sie zu mir: »Ach, da läßt sich doch sicher noch was machen. Ihr wart doch alle bei der Stasi. Ihr müßt lernen, etwas flexibler zu sein.« Wenn man sich länger mit denen unterhält, kommt da nur Luft raus. Sie haben zwar ein sichereres Auftreten als wir, aber sie haben von nichts eine Ahnung. Eine Meinung haben sie über alles, aber keine Argumente. Aber da ist ja noch unser Stammpublikum, das es zu schätzen weiß, wenn es persönlich angesprochen wird. Die Leute sind hier zu Hause. Wir schicken ihnen die Theaterkarten mit einem persönlichen Briefchen zu. Was noch immer ausverkauft ist? Deine Inszenierungen von Goethes Reinecke Fuchs und Heines Wintermärchen mit Eberhard Esche in der Hauptrolle. Esche hat ja nach der Wende ein Buch geschrieben. Zuerst kamen sie zu seinen Lesungen und dann zu seinen Vorstellungen. Manches, was wir jetzt machen, ist nur schwer an den Mann zu bringen. Noch läuft aber alles über die alten Namen, die alte Spitze, mit den alten Schauspielern. Natürlich ging jeder anfangs sehr vorsichtig mit dem Geld um. Plötzlich war es sehr wertvoll. Man hat sich ein Auto gekauft, ist auf Reisen gegangen. Dann stiegen die Mieten und die Lebenshaltungskosten. Fröhlich haben viele gesagt: »Mensch, dann habe ich halt Schulden!« Hat uns doch der Westen vorgemacht, ist überhaupt kein Problem. Sie haben Kredite aufgenommen. Und dann plötzlich verliert einer die Arbeitsstelle. Oder wird krank. Entlassungen, Sanierungen, Insolvenzen am laufenden Band. Die Ehefrau verliert ihre Arbeit. Und das ist nur das Finanzielle. Die Jugend ist zu einem Problem geworden. Die Lehrer klagen, daß sich die Kinder für nichts mehr interessieren. Ins Theater kriegt man sie sowieso nicht. Und richtig ausdrücken können sie sich auch nicht, surfen nur noch im Internet, schauen nur oberflächlich hin, werfen einen Blick drauf, mehr nicht. Sie hassen die Ausländer. Und haben selber Angst. Außerdem tragen sie Waffen bei sich, Messer, obwohl sich das in letzter Zeit etwas gebessert hat. Sie marschieren durch das Brandenburger Tor als seien sie Handtuchständer, das heißt mit ausgestrecktem Arm. Die Eltern haben oft ganz andere Sorgen, haben selbst riesige Probleme. Manchmal betragen sich die Kinder im Theater schlecht: Haben Getränke bei sich, machen Dreck, schreien herum. Das DDR-Publikum hat nur dagesessen und die Ohren gespitzt. Jetzt fläzt sich das Publikum auf den Theaterstühlen: »He, zeigt mal, was ihr zu bieten habt.« So richtig fröhlich bin ich nicht mehr. Viele sind krank geworden, leiden unter diesem und jenem. Der eine hat’s am Herz, der andere am Magen, wieder ein anderer hat Depressionen, aber vor allem sind viele weggegangen, und das tut weh. Unsere Gemeinschaft fällt auseinander. Und nächstes Jahr werden wieder viele gehen, denn dann bekommt das Theater einen neuen Intendanten. Über den durften die Schauspieler jetzt nicht mehr mitentscheiden, und sie wollen ihn auch nicht haben. Sogar zu DDR-Zeiten konnte man mitbestimmen. Das erleben zu müssen, schmerzt schon. Die, die dableiben müssen, sind tieftraurig. Der Chefmaskenbildner ist noch zu jung, um zu gehen. Den nimmt das alles sehr mit. Er will den neuen Intendanten noch abwarten, vielleicht geht es einigermaßen. Weißt du, ich arbeite jetzt seit 25 Jahren hier. Wir haben zusammen gekämpft, gelacht, geheult; die Freundschaften, das Schöne, daran klammere ich mich. Das laß ich mir nicht nehmen. Ich habe hier so etwas wie Würde gelernt, man hat mich beachtet und geachtet. Ach, lassen wir das, die werden das nie begreifen, aber ich habe es mitgemacht. Und eines kann ich sagen, es tut verdammt weh.«
Ich verlasse das Theatercafé, das im Untergeschoß liegt, und gehe hinauf zur Straße. Ich verlasse das Café, nach dessen Vorbild ich zehn Jahre vorher das CaféCox in der Schouwburg einrichten ließ. Durch den Schauspielereingang betrete ich das Theater. Der Portier begrüßt mich, Bühnentechniker kommen auf mich zugerannt, Schauspieler, Dramaturgen, mein »alter« Beleuchter und der Musiker, der mich in vielen Vorstellungen begleitet hat. Sie hatten gehört, daß ich im Haus sei und haben auf mich gewartet. Als ich viel später das Theater hinter mir lasse, erhebt es sich im Dämmerlicht, das sanftfarbene Gebäude mit den zwei geliebten Sälen: Das Deutsche Theater und Die Kammerspiele, einst waren sie groß gewesen, jetzt sind sie auf dem Weg, ganz normale Theater zu werden.
Früher Der Durchschnitts-DDR-Bürger hieß im Volksmund »der gelernte DDR-Bürger«. Und das stimmte auch. Ein richtiger DDR-Bürger kannte alle Regeln – also alles, was erlaubt und was verboten war. Jeder, der nach dem Krieg in diesem Land aufgewachsen und zur Schule gegangen war, besaß ein versiertes politisches Bewußtsein mit der dazugehörigen Kenntnis aller Risikofaktoren. Man hatte als Kind früher in der DDR genau so viel Angst vor Lehrern, die möglicherweise noch Nazis gewesen waren, wie davor, unbewußt etwas Falsches zu sagen oder etwas zu verraten. Die Angst wiederholte sich bei den Lektionen der Russen, die vor allem in der Nachkriegszeit den Deutschen kaum Sympathie entgegenbrachten und ihr Regime mit harter Hand führten, und man fürchtete sich später vor den nahezu humorfreien »Erbauern der neuen Zeit«. Den Humor, den sie ansonsten schmerzlich vermißten, fanden die Leute in den Theatern und Kabaretts. Er basierte auf der Kenntnis der politischen Verhältnisse. Wer die, wie ich am Anfang, nicht kannte, wußte nicht, was an dem folgenden Witz des Kabarettisten Ensikat so lustig sein sollte: »Die Höhe der Unterstützung, die man als Student vom Staat erhält, wird nicht vom elterlichen Einkommen bestimmt, sondern von dem, was wir ›Herkunft« nennen. Arbeiterkinder bekamen 190, die anderen 140 Mark. Ich gehörte zu den anderen, weil meine Mutter als Verkäuferin eine Angestellte war und mein Vater in seinen letzten Monaten Personalchef. Er war also kein toter Arbeitervater, sondern ein toter Angestelltenvater.« Das Kabarett und das Theater lebten von der Kunst, über die eigene Misere lachen zu können, über die eigene Wut und über alles, was trotz der gegenteiligen Beteuerungen des Staates und der Zeitungen, die Realität war. Daß wir die Leute dazu brachten, über ihr eigenes vorsichtiges Leben zu lachen, über ihre verkrampfte Haltung der »Obrigkeit« gegenüber, zu »Denen-da-oben«, die wir manchmal bloß mit einem Verdrehen der Augen andeuteten, nahmen uns unsere linken Freunde aus dem Westen ebenso übel wie, daß wir unser Publikum zum Lachen brachten über das Politbüro, die Partei, die Polizei und die Stasi. Sie waren mehr für die Konfrontation und die Verelendungspolitik. Wir aber hielten es mit dem Lachen. Das Leben in der DDR war wirklich schon deprimierend genug. Die Bewohner des »Arbeiterparadieses« schämten sich vor dem Rest der Welt, vor allem vor dem westlichen, und genossen das bißchen Freiheit, im Theater über ihre Situation kichern zu können. Die zahlreichen Theaterbesucher aus Westdeutschland lachten mit – obwohl sie nur teilweise begriffen, warum der Saal vor Lachen brüllte – , und diskutierten nach Ende der Vorstellungen heftig mit den Ostlern. Es wurde gelacht wie in den Theatern in Kriegszeiten. Lachen war eine ernste Angelegenheit, aber für die Kabarettisten und Schauspieler außerdem eine dankbare Tätigkeit:
Jede Zeile, vor allem eine, die wirklich komisch war, konnte verboten werden. Im Notfall griff man auf Goethe, Heine, Shakespeare und die alten Griechen zurück. Nahm das Gelächter im Saal überhand, schalteten wir das Saallicht an. Niemandem war mit einem Verbot gedient, und vor allem an den Heine-Abenden trat E. öfter zur Bühnenrampe vor, hielt sein Buch oder Manuskript hoch, das er extra zu diesem Zweck bei sich hatte, und sagte zum Publikum gewandt: »Ich spreche hier Heinrich Heine.« In meinem ersten DDR-Jahr nahm ich als Regieassistentin an den Proben eines Stücks teil, das »Der Lorbass« hieß, was so viel wie »Flegel« bedeutet. Es war ein Stück über das Landleben in der DDR und das erste von einem Arbeiter verfaßte Drama, das ein großes Theater in seinen Spielplan aufnahm. Ich glaubte trotz meiner noch mangelhaften Deutschkenntnisse, die vor den zahlreichen Dialekten hin und wieder versagten, das Stück ganz gut verstanden zu haben, doch erst die Reaktionen des Publikums bei den Probevorstellungen und bei der Premiere zeigten mir, daß mir die zweite, darunterliegende Schicht vollkommen entgangen war. Einige Jahre später drohte das Stück »Der Ritter mit der flammenden Mörserkeule« aus dem 17. Jahrhundert – es stammte von Beaumont und Fletcher, ich hatte es übersetzt, und E. und ich führten gemeinsam Regie – verboten zu werden. Ich verstand die Gründe nicht, denn mit dem ersten Satz des Dramas »Rund um die Mauern dieser Stadt« war doch eindeutig London gemeint. Eine unserer Schauspielerinnen war die Tochter eines Ministers, der versprach, zur Vorstellung zu kommen. Die Premiere war ein großer Erfolg, und das Stück wurde schließlich verboten, aus feuertechnischen und sanitären Gründen. Ja, die Politik kennt viele Wege. »Mein« erster Spielfilm »Wie heiratet man einen König?«, in dem Esche und ich uns kennenlernten - er spielte den König und ich das Bauernmädchen - bekam Schwierigkeiten, weil das Volk der Statisten zu ausgiebig dem Hochzeitsmahl zusprach. Ich wunderte mich über das Verbot, denn es hatte alles genau so im Drehbuch gestanden, und das war im Vorfeld bereits geprüft worden. Ich erkundigte mich bei den anderen, wie so ein Verbot vor sich ging. Der Regisseur, so erklärten sie mir, werde zu einem Gespräch vorgeladen, bei dem ihm ungefähr fünf Männer erklären, sein Film tauge nichts und er müsse ihn zurückziehen. Das tut er natürlich auch, wodurch der Film automatisch verboten ist. Dann müssen wir halt dafür sorgen, daß wir zu sechst aufkreuzen, beschlossen wir. Worauf uns die anderen entgegneten, daß wir die nie fänden. Doch schon der erste, den wir fragten, sagte zu. Unterstützt von meiner holländischen Gewißheit, Dinge könnten verändert werden, wenn man nur wolle, schien mir plötzlich alles eine Sache der Auslegung zu sein, und der Film wurde nicht verboten. Er wurde aber zur Strafe ins Kinderprogramm verbannt, wodurch ich jedoch ungeplant eine ganz neue Generation Fans dazubekam. Benno Bessons berühmte Inszenierung von »Der Drache«, ein Stück des russischen Schriftstellers Jewgenij Schwarz, drohte jahrelang verboten zu werden, und zwar nur weil ein verliebter Lancelot, der ins Dorf gekommen war, um eine Jungfrau zu retten, den dreiköpfigen Drachen, das heißt den Dorfdiktator, besiegte. Das Stück blieb in der Gefahrenzone, bis Ulbricht selbst es sich ansah und die Vorstellung ohne Kommentar wieder verließ. Bis zum Ende der DDR war in den Zeitungen des Landes keine einzige Kritik erschienen, und doch war das Stück jeden Abend ausverkauft. Daß wir mit unserem Heine-Programm immer haarscharf am Verbot vorbeischrammten, lag an Heine und an seinen Ansichten über Deutschland. Und an uns.
Die DDR-Bürger kannten den wahren Zustand ihres Landes genau, kannten die Mißstände, kannten die Lügen. All die Jahre, die ich in diesem Land verbrachte, beobachtete ich immer wieder, wie Westdeutsche glaubten, den Ostdeutschen die Augen öffnen zu müssen. Als sähen diese die Wirklichkeit nicht, nur weil sie darüber lachten. Dieses West-Verhalten hielt bis weit nach der Wende an, ständig wollten die Westler den Ostlern erklären, wie der Osten wirklich war.
Märchen Man hat drei Wünsche frei. Als erstes wünscht man sich voller Gier eine große Wurst. Dann ärgert man sich über jemandem und wünscht dem genau diese Wurst an die Nase. Den dritten Wunsch muß man dann dafür opfern, die Wurst wieder wegzuwünschen. Weil es ja nicht so gemeint war. Das ist das neue Märchen von der alten DDR. Einerseits haben sie bekommen, was sie wollten, Reisefreiheit, bessere Autos, Mitgliedschaft beim Heiligen Aldi, und das Versprechen, frei zu sein und Geld zu haben. Andererseits stehen sie vor einer riesigen Menge von Möglichkeiten, ohne zu wissen, wie man aus so vielem überhaupt eine Auswahl trifft. Kurz nach der Maueröffnung kauften sie gleich drei Pullover für zehn Mark pro Stück. Inzwischen haben sie gelernt, daß das falsch war und daß es besser ist, einen einzigen Pullover für dreißig Mark zu kaufen. Sie nahmen von jedem Bananen an, weil sie dachten, daß man das von ihnen erwartete, und weil sie bisher immer getan hatten, was von ihnen erwartet worden war, aber auch, weil sie die Diskussionen auf die wirklich wichtigen Dinge begrenzen wollten – sonst kämen sie ja aus dem Diskutieren gar nicht mehr heraus. Und wenn sie etwas im Westen wählen sollten, entschieden sie sich für Bananen, weil man das von ihnen erwartete, schließlich wollten sie, daß man sie nett und höflich fand. Vollgestopft mit Bananen liehen sie sich Geld – für ihre Begriffe viel Geld –, um einen neuen Gebrauchtwagen zu kaufen. Und dann kauften sie noch das, was sie schon immer haben wollten: eine echte Markenjeans, bei denen der Schritt nicht fast in der Kniekehle hing, oder etwas für jemanden, den sie gerne hatten und der das schon immer haben wollte. Und dann hatten sie alles, was sie brauchten. Es gab aber so viel, und trotzdem fiel ihnen nicht ein, was sie sonst noch brauchen könnten. Ach ja, Kaffee in einer Westverpackung vielleicht. Aber jetzt hatten sie wirklich alles. Früher half einem bei den Entscheidungen das Angebot. Besitz und Möglichkeiten bestimmten das soziale Verhalten. Das Gefühl der Geborgenheit entsprang auch aus diesem Mangel an Optionen, und die Sehnsucht danach ist nur zu verständlich. Es mag ja nicht viel gegeben haben, aber gemütlich, ja das war’s gewesen. »Jetzt steh ich vor dem großen Blechnapf«, sagt Heinrich Heine, »und jetzt fehlt mir der Löffel.« Was sollen wir uns jetzt noch wünschen? Daß die Ostdeutschen so wenig Wünsche hatten, war die erste große Wunde im innerdeutschen Verhältnis: Die Westdeutschen sahen darin eine Kritik an ihren eigenen unstillbaren Bedürfnissen, und die Ostdeutschen verstanden das Problem nicht. Daß die Fernsehsender andauernd die Bilder der Ossis wiederholten, die über die 100 Westmark »Begrüßungsgeld« in Jubel ausbrachen, war eine erste große Demütigung. Und der Grund für die erste tiefe Scham. Die Bananen war der nächste.
Im Nachtzug Hoek van Holland-Moskau und zurück, auch »Trinkerexpress« genannt. Diesen Namen trug der Zug zurecht. Seit meinem ersten Praktikum in Berlin benutzte ich diesen Zug mit den roten Plüschbezügen, der selten funktionierenden Heizung und den betrunkenen Matrosen. Er fuhr über Rotterdam, Polen und Moskau tief ins Innere der Sowjetunion, für den, der da hinwollte. Ich wollte da nicht hin, ich stieg in Berlin aus und fuhr nach einer Weile dieselbe Strecke zurück. Es war ein Traumzug, ohne Bezug zur Realität. In ihm war es still, romantisch, dunkel und kalt. Er schien über allem zu schweben, und es herrschten Gesetze in ihm, die man sich einprägen mußte, wollte man die Nacht überleben. Ein Zug mit routinierten Reisenden, die gierig zurückstrebten in ein bereits seit Jahrhunderten verschwundenes Zuhause. Und alle erzählten sich Märchen. Die Reisenden bewegten sich in einem düsteren Niemandsland, in einer dunklen Ecke wie beim Versteckspiel, einer Freistätte zwischen Ost und West, wo vertraute Regeln nicht mehr galten. Von allen möglichen Verkehrsmitteln von und nach Berlin war der Zug nicht das Übelste. Fliegen war auf die Dauer zu teuer und kostete viel Zeit. Einsteigen, Umsteigen, Flughäfen, die geschlossen oder überfüllt waren, unsichere Ankunftszeiten, Umsteigen, Wartezeiten, Nebel im Frühling und im Herbst, Grenzen, wieder Grenzen und noch mehr Grenzen. Und immer Probleme mit der einen oder der anderen Seite. Also nahm ich meistens den Zug. Es war ein russischer Zug, nach guter nachrevolutionärer Sitte vollkommen mit fettigem Plüsch ausgelegt und mit Marmorwaschbecken auf den Zugtoiletten. Man lag bequem, wenn man Platz genug fand, sich auszustrecken. Es gab zwar auch einen Schlafwagen, aber den zu benutzen lohnte sich nicht, weil man um vier Uhr nachts die Grenze überquerte. Und dort wurde nicht nur nach Herzenslust gebrüllt, sondern man mußte auch aufstehen. So lag vor einem und den Mitreisenden eine lange Nacht im Halbdunkel. Weil die Heizung selten funktionierte, und es aus irgendeinem Grund ständig schneite, fand man sich möglicherweise nachts vor dem Zug wieder, links eine Flasche Rum und rechts einen Besen in der Hand, um die Weichen vom Schnee zu befreien. Keiner kontrollierte jedoch, ob man den Rum nicht zweckentfremdete. Um sich zu wärmen, konnte man auf den eisernen Waggonübergängen wunderbar ein Feuer machen, unter Beteiligung des Zugpersonals. Den Rest Rum schüttete man dann in den Tee, den man nach gut russischer Sitte aus der Untertasse trank. Der endlos scheinende Grenzstreifen, durch den man im Dunkeln fuhr, erregte ein merkwürdiges Gefühl, das zusammen mit dem Alkohol die Zungen löste und die Reisenden zusammenschweißte. Ich habe in diesen Nächten Hunderte von Menschen kennengelernt. Ships that pass in the night. Auch mit ihnen führte ich die ewigen Ost-West-Gespräche, aber meist wurden Lebensgeschichten ausgetauscht, in immer wieder anderen Sprachen, mächtig aufgebauscht natürlich, in der Hoffnung, den anderen nie wieder zu sehen. Das Gefühl der Freiheit, das jeden in solchen Nächten überkam, entschädigte vollkommen für die Schlaflosigkeit. Ich machte mir Freunde für die Ewigkeit in diesem Zug, ohne diese je wieder zu sehen. Niemals habe ich in einer besseren Kneipe gesessen. Meine ganzen Berliner Jahre hindurch sah ich von meinem Schlafzimmerfenster aus den Zug vorbeifahren. Freude ergriff mich, wenn ich sah, wie mein Zug in Richtung des endlosen Raums verschwand. Ich pendelte zwischen Berlin und Amsterdam hin und her, um Theater zu spielen, Drehtage zu absolvieren, für Film und Fernsehen zu arbeiten, Feste, Freunde und Premieren zu besuchen. Mir wurde immer öfter übel vom Diesel- und Benzingestank, und irgendwann hatte ich genug davon. Für den, der regelmäßige Schlafzeiten und sein eigenes Bett liebt, war das gewiß keine ruhige Existenz, dafür aber war es ein intensives Leben. Nahm ich den Nachtzug nach Berlin, gewann ich in den Niederlanden einen vollen Arbeitstag. Ich stieg um 20 Uhr in Amersfoort ein und hielt
am nächsten Morgen fast direkt vor dem Theater. Der Zug setzte seine Fahrt in den dunklen Osten fort, und für mich begann ein Arbeitstag in Berlin: Duschen im Theater, Beginn der Probe exakt um zehn Uhr. Es sei denn ein Chauffeur stand mit laufendem Motor vor dem Bahnhof, um mich zu den Film- oder Fernsehstudios in Babelsberg oder Adlershof zu bringen. Seit 1983 hatte ich wieder eine feste Anstellung beim Fernsehen in den Niederlanden, gab jedoch am Wochenende weiter meine Vorstellungen in Berlin. Nach der Sonntagabendvorstellung fuhr ich mit dem Mitternachtszug in Richtung Westen. Ankunft in den Niederlanden um sechs Uhr morgens. Aussteigen in Amersfoort. Dort wartete mein Auto auf mich, das ich am Freitagabend dort stehen gelassen hatte. Um neun Uhr saß ich geschniegelt und gebügelt, für die Arbeitswoche gewappnet in meinem Büro beim Fernsehsender NOS in Hilversum. Später während meiner Intendantenjahre befand sich mein Arbeitsplatz in Amsterdam. Dort mußte ich erst beim Friseur mein Haar waschen lassen, es stank nach Dieselöl, Alkohol und Zug, bevor ich um neun Uhr in einem sauberen Kostüm hinter dem Schreibtisch in der Schouwburg saß. Die Fluggesellschaften der Alliierten, die sich Berlin geteilt hatten, hielten die Start- und Landerechte des Westteils fest in den Händen. Ausschließlich amerikanische, französische und englische Gesellschaften durften von Westberlin-Tempelhof starten. Und der Passagier mußte dann selber zusehen, wie er von der ersten Stadt, die sie anflogen, dahin gelangte, wo er eigentlich hinwollte. Auf dem Flughafen Schönefeld im Ostteil der Stadt landeten die russischen Aeroflot-Maschinen und die polnische LOT-Gesellschaft. Das Firmenkürzel, so behauptete der Volksmund, stünde für »lots of trouble«. Von Schönefeld flog auch die ostdeutsche Interflug, die sogar ein paar Mal in der Woche Amsterdam direkt ansteuerte. Praktischerweise hatte die KLM sehr früh ein Büro in Ostberlin eröffnet, anfangs nur für den Frachtverkehr. Die Niederlande und die DDR waren gute Handelspartner, und die Interflugmaschinen waren stets ausgebucht. Nach der Vorstellung im Deutschen Theater rannte ich verschwitzt und noch halb geschminkt durch den »Tränenpalast« am Bahnhof Friedrichsstraße, um den Nachtzug noch zu erreichen. Die Grenze verlief mitten durch den Bahnhof, man betrat ihn im Osten und verließ ihn im Westen. »Na, geht’s wieder nach Hause?« rief der Zollbeamte hinter mir her. Hinter dem gelben Strich bleiben, wenn der Zug einfuhr, warten, bis die Hunde die Unterseite des Zuges abgesucht hatten, mich für die Nacht in einem leeren Abteil auf einen Sitz fallen lassen, am liebsten mit hochgelegten Füßen. Der große Andrang von Reisenden erfolgte erst am Bahnhof Zoo, im Westteil der Stadt. Welcher Idiot steigt auch in Ostberlin ein? Ich machte mich so breit wie möglich. Die Polen und die Russen, die ebenfalls im Zug saßen, hielten sich zurück, solange wir auf deutschem Gebiet waren. Die Soldaten und Matrosen, die zu ihren Schiffen unterwegs waren, wurden von Offizieren begleitet, und die waren nicht scharf auf Probleme im Westen. Meist kam erst am frühen Morgen Bewegung in die Männer. Wenn sie in Richtung Westen fuhren, waren sie stiller als Richtung Osten, nach Hause, oft nach vielen Monaten zum ersten Mal wieder. Wenn sie überhaupt den Unterschied zwischen Ost und West noch wahrnahmen, überhaupt noch irgend etwas bemerkten. Viel Alkohol, heftige Wortwechsel, ein bißchen Streit manchmal, aus Zeitungspapier gedrehte Zigaretten und viele Lieder. Ach, diese Lieder. Aber im Grunde waren es friedliche Zeitgenossen, abgesehen von einigen kritischen Bemerkungen über die Regierung, Stänkereien und Rempeleien, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Einer pinkelte einmal großspurig neben meinem Kopf auf die Heizung – danach fielen wir alle zufrieden noch für eine Stunde in Schlaf.
Man konnte die Grenze auch mit dem Auto passieren. In Marienborn, ein paar Stunden Autofahrt von Berlin entfernt. Endlose Autokolonnen mitten in der Nacht. Aussteigen, Kofferraum öffnen, Spiegel unter die Autos, Koffer öffnen. Man war der Willkür eines kleinen uniformierten Beamten ausgeliefert. Mit dem Auto fuhr ich nur, wenn es nicht anders ging: wenn etwas geschmuggelt oder etwas transportiert werden mußte. Trotzdem gab ich, sogar wenn ich nichts bei mir hatte, immer wieder die falsche Antwort und mußte ungefähr jedes zweite Mal eine Stunde länger stehen. Auch jetzt fahre ich noch so schnell wie möglich an der ehemaligen Grenze vorbei. Man kann noch sehen, wo sie verlief, und die Wachtürme stehen auch noch. Nur die Straße führt nicht mehr daran entlang. Den Wunsch, mir den Ort noch einmal näher zu betrachten, hatte ich nie. Es gibt jetzt ein kleines Museum dort. Nach der Wende ging es mit der DDR schnell bergab. Angeblich, weil sie so gut wie bankrott war. Ich glaube aber eher, weil die Netzwerke und die Infrastruktur zerfielen. Anfangs rief die Bevölkerung noch »Wir sind das Volk«, bevor sie forderte: »Wir sind ein Volk« und »Kommt die D-Mark nicht nach hier, gehen wir zu ihr«. Letzteres war wohl das ausschlaggebende Argument. Das Land hörte auf zu arbeiten und leerte sich. Kohl kam mit seinem ZehnpunktePlan an, der an einem einzigen Wochenende zusammengeflickt worden war, und alles stürzte sich auf die Ausführung. Die DDR bekam die D-Mark, hatte aber keine Waren, die jemand haben wollte. Außerdem waren die Valuta anderer Ostblockländer inzwischen ebenfalls »konvertierbar« geworden, genauer, sie wurden konvertiert. Mit der D-Mark konnte man fast alles kaufen. Die DDR-Bürger selbst tranken jetzt lieber Heineken-Bier als ihr einst so geliebtes Radeberger, das übrigens während der DDR-Zeit Mangelware war, da fast die gesamte Produktion exportiert wurde. Alles mußte jetzt bezahlbar und aus dem Westen sein. Die bunte Verpackung war zu grell, blendete sie für die wenigen eigenen Qualitätsprodukte wie Obst und Gemüse. Die neuen Supermärkte waren ausnahmslos Westunternehmen und nahmen keine DDR-Produkte in ihr Sortiment auf. Die Verbindung zwischen »eigenen Waren« und Arbeitsplätzen war den DDR-Bürgern nicht bekannt. Jetzt waren sie auf dem Weg zu Freiheit und Wohlstand. Die DDR wurde aufgelöst, es kamen die Gespräche an den Runden Tischen und die ersten freien Wahlen. Kohls CDU gewann die Wahlen haushoch. Nachdem die Blockparteien, Unterabteilungen der CDU und FDP, die es in der DDR gegeben hatte, wieder in ihren großen Schwestern aufgegangen waren und die Ost-SPD sich mit der großen Westschwester vereinigt hatte, tat sich ein Rest der alten SED mit der westdeutschen Kommunistischen Partei zusammen und bildete die PDS, die jedoch von den anderen Parteien nur als schwarzes Schaf betrachtet wurde. Es wurden in rasendem Tempo Fabriken und Geschäfte an Wessis verkauft oder von der Treuhand übernommen, eine noch unter der Modrow*-Regierung eingerichtete und danach weitergeführte Sanierungsorganisation. Man nannte das »abwickeln«. Arbeitnehmer wurden entlassen, weil die Betriebe schlossen, bankrott machten oder aus irgendwelchen politischen Gründen nicht weiter existieren durften. Sie wurden auch entlassen, weil sie nicht die richtigen Diplome hatten, Parteimitglieder gewesen waren oder unter dem Verdacht standen, mit der Stasi zusammengearbeitet zu haben. Ackerland wurde für ein paar Pfennige an Bauspekulanten verschachert. Als die LPGs sich auflösten, waren die Maschinen zu groß, um die kleineren Parzellen beackern zu können, die Felder lagen brach, dem Vieh fehlte das sogenannte »Zwischenfutter«. Verzweifelt erschlugen die Bauern die neugeborenen Kälber, Ferkel und Lämmer an den Stallwänden. Die von den Bauspekulanten versprochenen Fabriken und Golfplätze wurden selten gebaut. Stets mehr Fabriken wurden stillgelegt, saniert, die Schulden umgeschichtet. Selbst imaginäre
»Schulden«, die ein Betrieb in der letzten Phase der DDR bei der Regierung zu machen gezwungen war, wenn er Investitionen oder Rationalisierungsmaßnahmen durchführen wollte, wurden nun als reale Schulden gelistet, obwohl von einer Rückzahlungspflicht bei Abschluß des Vertrages nie die Rede gewesen war. Die Kosten für die von der neuen Regierung geforderten Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, die Entgiftung großer Gebiete mußten die Betriebe selbst tragen. Die wenigen Westorganisationen, die sich zuversichtlich und voll Elan in das Chaos ständig wechselnder Regeln und Vorschriften stürzten, hielten nur kurz durch. Die Tatsache, daß vor 50 Jahren enteignete Westdeutsche, darunter viele Juden und Nazis, deren Erben zuerst in Amerika oder in anderen fernen Ländern aufgespürt werden mußten, ihren ehemaligen Besitz im Osten zurückfordern konnten, vergrößerte für die Ostdeutschen das Gefühl der Unsicherheit und das Warten auf Sicherheiten enorm. In den Gerichten stapelten sich die Prozeßakten, Eigentumsrechte mußten oft genug zwischen Erben ausgefochten werden, die in verschiedenen Ländern wohnten. Vielfach waren notwendige Unterlagen, Besitzurkunden, Geburtsurkunden auf der Flucht, im Lager und im Krieg verloren gegangen. Die Treuhand, die angetreten war, armen DDR-Bürgern zu ihrem Recht zu verhelfen, sanierte und verkaufte in rasendem Tempo alles, was die armen DDR-Bürger besessen hatten. Diese Organisation verfügte über keinerlei Zukunftsvision, sie stellte keine Forderungen wie zum Beispiel nach dem unbedingten Erhalt des Betriebs oder der Arbeitsplätze. So wurde beispielsweise eine rentable und sehr beliebte kleine Bierbrauerei im Zentrum Berlins verkauft, ein Jahr später war sie geschlossen, die Arbeiter entlassen. Grund und Boden im expandierenden Berlin waren mehr wert als eine kleine Fabrik. Die Brauerei war »abgewickelt« worden, wie etwas, das weggeräumt werden mußte. Auch gelangten Firmen und also auch Grundstücke in den Verkauf, womit keiner etwas anzufangen wußte. Einige wechselten viele Male den Eigentümer, jeder Besitzer hatte ein neues Konzept. Wenig vertrauenerweckende Westbürger plünderten Firmen und verschwanden mit dem Geld, oft hatten sie sogar noch auf Kosten der Firma, also mit dem Betrieb als Sicherheit, hohe Kredite aufgenommen. Der erste Direktor der Treuhand wurde ermordet. Der neue Anfang, dem man so hoffnungsvoll entgegengeblickt hatte, verkümmerte erbärmlich. Der Westen übernahm. Die Angst der Ostdeutschen vor den unbegreiflichen Umwälzungen, dem sich immer wieder ändernden Regelwerk, vor der riesigen, noch immer wachsenden statt – wie man gehofft hatte – abnehmenden Bürokratie, vor dem Wegfall des sozialen Netzes und der vollkommen unbekannten und als sehr demütigend empfundenen Arbeitslosigkeit machte das Gebiet der ehemaligen DDR zu einem unendlichen Markt für Versicherungsvertreter. Es wurden vollkommen sinnlose Versicherungen abgeschlossen, manche doppelt und dreifach, aus lauter Angst vor der unbekannten Zukunft. Kredite – denn jetzt sollte es doch aufwärts gehen – schloß man für Knebelverträge ab. Daß es allen bald besser gehen würde, hatte Kohl ihnen versprochen, der große, schnelle Reichtum war zum Greifen nah. Auch den hatte Kohl ihnen versprochen, und das hatten sie geglaubt. Die Rückzahlung der Kredite war kein Problem, der gesamte Westen lebte ja auf Pump. Videotheken und Pornoläden wurden eröffnet, auf den Dörfern Speiselokale, Partyzentren und Straßencafés. Autohändler, die auf Gebrauchtwagen spezialisiert waren, schossen wie Pilze aus dem Boden, wodurch auch in den Niederlanden die Ausfuhr von Autos dritter Hand sprunghaft anstieg. Diese Autos waren auf den ausgehungerten Ostmärkten eine Menge Geld wert. Und es stimmte, was der Westen vorausgesagt hatte: Der Osten war die hohen Geschwindigkeiten nicht gewohnt, denn dort durfte man nie schneller als 100 km/h fahren. Die Straßen waren schlecht und noch nie so voll gewesen. Und die Autos waren, wie gesagt, aus dritter Hand.
Zum Glück verstopften sich die Straßen so schnell, daß es mit dem Rasen bald vorbei war. Ein Jahr nach dem Mauerfall fuhr ich im Schrittempo nach Berlin. Zu diesem Zeitpunkt bekamen die Ostberliner zum ersten Mal die im Westen üblichen Steuerbescheide ausgehändigt, und die erstickten das letzte bißchen Euphorie im Keim.
1986. Bill Meyers. Das normale Leben in der DDR 1986 reist der Amerikaner Bill Meyers mit einer kleinen Handkamera durch die DDR. Er wollte hinter die Kulissen der Republik schauen und die Wahrheit finden, um sie den Kindern, die er in den USA unterrichtete, zu erzählen. Meyers war ein alter, großer, freundlicher Mann voller amerikanischer Vorurteile, mit denen er keineswegs hinter dem Berg hielt. Danach lauschte er aufmerksam den Antworten seiner Gesprächspartner. Die Qualität des Tons ist so schlecht, daß man das Ganze nicht für eine Sendung verwenden konnte, doch bergen die Bänder Schätze an kleinen Informationen, Bildern aus dem Alltagsleben der DDR, kurz bevor es aufhörte, Alltag zu sein. Wie gern hätte ich zehn Jahre später einigen seiner Gesprächspartner von einst dieselben Fragen noch einmal gestellt. Doch Bill Meyers antwortete nicht mehr. Er war schon 1986 ein Mann von mindestens siebzig gewesen, also hoffe ich, daß sein Schweigen bedeutet, er hat eine schönere Wohnung gefunden. Oder eine nette Frau. Die Kamera beobachtet Bill beim Grenzübertritt nach Ostberlin in der Friedrichstraße, erfaßt die dunklen Flure, die kleinen Zimmer, die aussahen wie das Innere der dunklen Schränke, von denen man als Kind nachts träumte, die Vopo-Schnösel, die wir vielleicht nur wegen ihrer gräßlichen Mützen und ihrem lauten Gebrüll für Schnösel hielten. Bill läßt sich nicht einschüchtern. Die Kamera filmt ein Volksfest, Kindervergnügen, autofreie Straßen, gesperrt wegen des Fests. Fröhlichkeit, Freude, Spaß. Ohne Kommentar. Graue Stadt, graue Häuser. Aber die Einwohner spielen draußen. Erstes Interview Eine Familie in Dresden-Radebeul. Offensichtlich ausgewählt als Prototyp einer ostdeutschen Familie. Hier im »Tal der Ahnungslosen«, wo man kein Westfernsehen empfangen konnte. Sie ist Lehrerin, sagt »sie ist tätig«, ein wunderbares Beispiel höflichen DDR-Sprachgebrauchs, ein wenig schick und damit verschleiernd. Sie sächselt sehr, ihr Dialekt wurde nie von Lauten der Außenwelt abgeschliffen. Sie leben »gut«, sagt sie. Sie seien hier geboren und wollen hier nicht weg. Hier haben sie doch alles: Wald, Wasser und Kultur. Das Zwingermuseum und die Gemäldegalerie, die, im Zweiten Weltkrieg zerstört, inzwischen wieder vollständig aufgebaut seien. Sie arbeite 40 Stunden pro Woche, und die ganze Familie helfe zu Hause mit. Freizeit habe sie genügend, der Alltag mache ihr keine Mühe, außerdem arbeite sie gern, und nötig sei es auch. Um halb fünf Uhr abends sind die Eltern zu Hause. Die Kinder werden nachmittags in der Schule betreut. »In der DDR wird viel gemacht für die Familie und die Kinder«, sagt sie. Alles sei »sinnvoll ausgelastet«. Sport werde viel getrieben, Schule und Kinderbetreuung seien außerdem kostenlos. Auch das Kulturprogramm für Kinder sei so gut wie gratis: Der Ferienpaß für die Jungen Pioniere (eine Art DDR-Pfadfinderei) koste nur eine Mark. Der Zoo, die Ferienbetreuung, Wettkämpfe, Sommerspiele, das alles kostet nichts. Das zweiwöchige Ferienlager: kaum ein »Trinkgeld«. Sie wohnen in einer »Dreiraumwohnung«, Badezimmer, Toilette in der Wohnung (statt auf halber Treppe wie bei vielen anderen), Zentralheizung (statt der üblichen Ofenheizung). Sie bezahlen 120 Mark Miete.
Die Mauer ist jetzt 25 Jahre alt, sie finden sie »gut«, das heißt, sie sei halt notwendig. Zu unserem Schutz! Ohne sie wäre es natürlich schöner, aber sie sei nun mal da. »Wir akzeptieren das.« Seit die Mauer stehe, gehe es ihnen besser. »Wir sehen sie nicht mehr, die Mauer. Es muß so sein.« Westkontakte oder Westfamilie haben sie nicht. Der Sohn sitzt auf dem Boden und bastelt an einem Globus, außerdem sammelt er Postkarten. Probleme gebe es »eigentlich keine«. Sie seien »fast vollkommen glücklich«, schließlich hätten sie viel erreicht, und die Kinder seien gesund. In der DDR gebe es viele interessante Gegenden, wo man Ferien machen könne. »Wir wollen unseren Sozialismus weiter aufbauen, wir waren nach dem Krieg ganz unten.« Häuser, Gesundheitswesen, Straßenbau, alles mußte neu aufgebaut werden. »Und sicher gestellt.« Ferien mache man mit Hilfe des FDGB-Feriendienstes. 14 Tage im Harz, der Staat bezahlt mit. Immer wieder wendet sie sich an ihren Mann, damit er ihre Ausführungen ergänzt. Dann schweigt sie. Er ist Arbeiter. Sie reisen in die sozialistischen Länder, manchmal. Sie würden schon mal gern nach Florida reisen, oder nach New York. Sie kennen Amerika bereits. Aus Filmen und aus der Literatur. Sie sind glücklich und wollen Frieden. »Wir sind für die Menschen und nicht gegen sie.« So wollen sie das Leben haben. »Die Amerikaner müssen halt zu uns kommen.« Während des Gesprächs wird viel und fröhlich gelacht.
2000. Das andere Leben in der DDR Wir fahren mit einem kleinen Bus von Lichtenberg aus die Strecke entlang, wo früher die Mauer verlief. Links liegt Westberlin. Kreuzberg. Früher ein zutiefst türkisch geprägtes Viertel mit den dazugehörigen Gemüseläden. Wenn ich in dem kleinen Theater dort spielte, kaufte ich gern in der Gegend ein. Die Westdeutschen trauten sich kaum in das Viertel, von den Künstlern mal abgesehen. Seit dem Fall der Mauer, der Kreuzberg beinahe buchstäblich zu Füßen lag, ist das Viertel schick geworden, und die Künstler und ein Teil der Türken flohen vor den steigenden Preisen. Wir fahren jetzt nach Ostberlin, Jannowitzbrücke, Kreuzberg direkt gegenüber. Dort tranken wir nach unseren Vorstellungen noch etwas bei Jessen, dem Wirt einer Kneipe, wo man außer trinken nichts anderes tun konnte, denn alles, was in den großen dunklen Kneipen in den Niederlanden die Gemütlichkeit ausmachte, fehlte hier. Mal abgesehen von Jessen selbst natürlich. Und dem Major. Der Major war Major von irgend etwas. »Wovon« fragte man besser nicht, aber er gesellte sich oft zu uns und paßte auch auf uns auf. Als einer von uns im Suff versuchte, über die Mauer nach Westberlin zu pinkeln, sorgte der Major dafür, daß ihm weiter nichts passierte und brachte ihn sogar nach Hause. Und wenn Franke so viel Wodka getrunken hatte wie Piontek Tassen Kaffee und nicht mehr sicher auf den Beinen stand, was er aufgrund seiner Diabetes sowieso nicht tat, dann war immer plötzlich ein Auto da, das ihn nach Hause brachte. Denn der Major mochte Dieter. Wir auch. Den Major habe ich nach der Wende nie wiedergesehen. Kurz vor seinem Tod durfte es Dieter noch erleben, daß sein geliebtes Chemnitz, wo er als Bühnentechniker seine Theaterkarriere begonnen hatte, von Karl-Marx-Stadt wieder in Chemnitz umgetauft wurde. Klaus sah seine Mutter, die er nun seinerseits beschützen mußte wie sie auf der Flucht aus Polen einst ihn, zu beider Glück vor ihm sterben. Er folgte ihr bald nach. Die meisten meiner Schauspielerfreunde und -kollegen kamen aus der Provinz, aus Meiningen, Leipzig, Dresden. Sie, eine ganz neue Generation, stopften die Löcher, die der Mauerbau und die darauffolgende Fluchtwelle im Ostberliner Theaterleben hinterließen.
Wir fuhren mit dem Bus an einem Straßenschild vorbei, auf dem »Stadtmitte« stand. Viele Jahre lang bin ich an diesem Schild vorbeigekommen. An der gleichnamigen S-Bahn-Haltestelle hielt schon längst kein Zug mehr, und die Mitte des Stücks Stadt, in dem ich wohnte, war hier mit Sicherheit auch nicht. In Hohenschönhausen steige ich aus dem Bus, mir verschlägt es den Atem. Alle hatten wir davon gehört. Keiner war je hier gewesen. Wie fern Hohenschönhausen für den durchschnittlichen DDR-Bürger tatsächlich lag, läßt sich daran ablesen, daß das Hauptquartier der Stasi in der Nonnenstraße während der Wende sofort vom Volk gestürmt wurde, während keiner sich in Richtung Hohenschönhausen aufmachte, zu diesem unbekannten Ort, dem weißen Fleck auf der Karte. In Hohenschönhausen saßen die Gefangenen. Dort und in Bautzen. Dort hatten sie gesessen. Das wußte man. Aber wo lag es? Eigentlich nur um die Ecke. Und jetzt stand ich davor, und mit mir ein Bus voll Journalisten, Wissenschaftler, Interessierte und Politiker. Ein gelbliches, quadratisches Gebäude. Von den Nazis als Volksküche errichtet, die bis zu 10 000 Portionen pro Tag ausgab. 1945 war Schluß mit dem Kochen. Die Sowjets brachten dort ihr »Speziallager Nr. 3« unter. Von nun saß dort zu Zwecken der Entnazifizierung »der Feind« gefangen. Konnte ein Nazi sein, ein hoher oder ein kleiner, aber auch aus deutschen Kriegsgefangenenlagern heimgekehrte Russen, die Stalin als Landesverräter betrachtete, wurden hier eingesperrt, und kommunistische Widerstandskämpfer, die nicht mit dem neuen Regime zusammenarbeiten wollten. Oft gab es nicht einmal eine Anklage, die Bevölkerung war im Denunzieren meisterhaft. Die Zustände waren chaotisch: Vier Besatzungsmächte hatten das Sagen, und jede Besatzungsmacht hatte, über ganz Deutschland verstreut, ihre Lager. Der Einfachheit halber griffen sie auf bereits existierende zurück: So behielten Namen wie Sachsenhausen und Buchenwald ihre Schrecken. Die Deutschen, die dabei der eigenen Propaganda auf den Leim gingen, fürchteten die Sowjets wie den Teufel. Flüchtlinge, nach Hause drängende Menschenmassen, auf dem Hin- und auf dem Rückweg. Hunger, Plünderungen, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Ungezählte Menschen starben noch einen sinnlosen Tod, als das Naziregime bereits am Boden lag, aber bis zum letzten Ende kämpfte. Die Sowjets kämpften um jeden Meter, um jedes Haus. Und gleichzeitig versuchte jeder Deutsche, der noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte, ihnen zu entkommen. Hohenschönhausen wurde zum Durchgangslager. Von dort aus wurden die Gefangenen auf andere Lager verteilt, oder für viele Jahre, wenn nicht gar für ewig, in die Sowjetunion geschickt. 77 Verdächtige wurden bei den »Waldheim«-Prozessen in erster Instanz freigesprochen, 32 zum Tode verurteilt und 2745 zu Freiheitsstrafen zwischen zehn und fünfzehn Jahren verurteilt. 1952 gab es eine Revision der Urteile, wobei 1000 Gefangene freigelassen und einige begnadigt wurden. 1959 saßen noch etwas mehr als 30 Nazigrößen in den Gefängnissen. Insgesamt waren in den Nachkriegsjahren 20 000 Menschen im Lager Hohenschönhausen gefangen gewesen, steht im Prospekt. Die Anzahl der Toten wurde auf 900 bis 3 000 geschätzt. Ende 1946 verwandelte man das Lager in ein Untersuchungsgefängnis. Nochmal das Jahr 2000 Bei unserem Besuch im ehemaligen Lager wurden wir von zwei Männern empfangen. Beide waren hier einst Gefangene gewesen. Jeder zu einer anderen Zeit.
Geschichte des Mannes eins
Zu Sowjetzeiten seien auch Kinder in diesem Gefängnis gewesen. Die Werwölfe, Jungs, das letzte Aufgebot der Hitlerarmee, wurden zu hohen Strafen oder sogar zum Tode verurteilt, auch wenn sie bei Kriegsende noch nicht mal achtzehn waren. Die Zustände im Lager waren katastrophal. Keine Hygiene, viel zu wenig zu essen. Bei den Konferenzen von Potsdam und Jalta waren Minimalportionen bestimmt worden. Oft gab es nicht mal die Hälfte davon, weil nichts mehr da war. Viele waren krank, gearbeitet wurde nicht. Es gab sogar Schweigelager, in denen Reden verboten war. Depressionen, Vergewaltigungen, schwangere Frauen waren an der Tagesordnung. Auch Mütter waren im Lager eingesperrt. Ihre Kinder saßen die Strafe außerhalb des Lagers ab, in Waisenhäusern, die dort lagen, was später die DDR werden sollte. Er war selbst so ein Kind gewesen, dieser Mann. Mütter und Kinder sahen einander oft erst nach vielen Jahren wieder. Wenn sie überlebten. Wer nicht überlebte, wurde über die Lagermauer geworfen. Im »U-Boot« standen die Gefangenen bis zu den Knien im Wasser. Andere wurden in viel zu kleinen oder niedrigen Räumen untergebracht. Gefoltert wurde auch, denn es gab »ein Soll« zu erfüllen, ein Soll an Geständnissen. Keiner, der nicht gestand. Der Mann spricht ruhig und konzentriert, ohne sichtbare Gemütsbewegung. Er berichtet uns von Greueltaten aus einer Vergangenheit, die er hinter sich gelassen hat. Die Emotionen sind auf unserer Seite: bei uns Zuhörern. Mit Bedacht sagt er stets »Sowjets«, nie »Russen«. Ein »Gelernter« bemüht sich stets, die Ordnung im drohenden Chaos aufrechtzuerhalten: Es gab Nazis und Deutsche, zunächst aufgeteilt in West- und Ostbewohner, dann in die BRD und die DDR. Ehemalige Gefängnisinsassen könnten sogar um Entschädigung nachsuchen, sagt der Mann. Und meistens bekommen sie diese auch. Mit einem Lächeln läßt er den Blick durch den Raum wandern, in dem wir sitzen: »Hier waren 250 Mann untergebracht.« Wir schauen einander an. Der Raum ist ziemlich voll. Wir sind zwanzig.
1986. Bill Meyers zweites Interview Ein Schuhmacher, sein Handwerk tritt überall sichtbar hervor, er fährt während des Interviews mit seiner Arbeit fort, man sieht auch deutlich, woran er arbeitet: Schuhe. Mehr Frauen- als Männerschuhe. »Frauen laufen mehr«, erklärt der Schuhmacher. Er ist seit 30 Jahren selbständig, Privatunternehmer. Er wundert sich, daß sich der Amerikaner wundert: Selbständig im Kommunismus? Ja, war das denn erlaubt? Es gibt so viele Selbständige, erklärt der Schuhmacher, im Handel, in allen Bereichen. Nein, Probleme gebe es da nicht. Er ist zufrieden mit der sozialen Absicherung: Die Kinder sind gut versorgt, Sport, medizinische Versorgung, alles gratis. Auch für die Selbständigen. Die Geschäfte gehen gut. Dienstags und donnerstags hat er geschlossen, an den anderen Tagen von 10–13 und von 15–18 Uhr geöffnet, er kann sich die Arbeit selbst einteilen. Die Kinder wollen das Geschäft nicht übernehmen. Die Existenz als Ostberliner und die Mauer, beides sei gut und weniger gut. Drüben hätten die Leute große Probleme. Er hat sich damals sehr über den Mauerbau aufgeregt. Er besaß in Potsdam ein Grundstück, das von einem Tag auf den anderen durch dieses Ding dazwischen in endlose Ferne rückte. Ferien macht er eigentlich nie: Wohin soll er auch fahren? Die Kinder fahren ins Ferienlager, drei bis vier Wochen dauert das. »Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit am besten?« fragt Bill. Eine lange Pause. »Eigentlich keine Antwort«, antwortet der Schuhmacher. »Außer vielleicht, daß ich Geld
damit verdienen kann. Es gibt hier keine Rang- und Standesunterschiede, keinen Dünkel, auch nicht bei der Frau Doktor aus der Christburgerstraße«, erklärt er. »Und am Wochenende haben wir frei, dann fahren wir zum Schwimmen nach Grünau, machen eine Dampferfahrt oder gehen in den Tierpark. Vier Kinder, da muß man ein bißchen rechnen, aber uns geht’s nicht schlecht.« Die Schuhmacherei habe kaum noch Zukunft. Im Grunde müsse er sich Maschinen zulegen, das Handwerk geht zugrunde. Er repariert nur noch Schuhe, neue stellt er keine mehr her. Das sei früher anders gewesen, da mußte man das gelernt haben, um die Meisterprüfung zu bestehen. Jetzt könne das kaum noch einer. 120 Mark Steuern, mehr habe er für sein Unternehmen noch nie bezahlen müssen. Die Steuer wird prozentual errechnet. Er habe eine »mitarbeitende« Ehefrau, das sei wichtig für die Rente. Ein Leben mit vier Kindern, das ist manchmal gar nicht so einfach, sagt seine Frau. Doch hält sie dieses Leben für ganz normal, für prima. Besser als im Westen, wo sie noch nie gewesen sei. Die Mauer finde sie nicht gut, weil sie Familien auseinandergerissen habe. »Ich weiß nicht, wozu diese Mauer da steht. Sie behaupten, es sei zu unserer Sicherheit.« Manche Kunden wissen immer alles besser. »Und wie steht es mit den Ärzten?« erkundigt sich Bill. »Oh, die sind sehr gut, auch für die Kinder, und außerdem umsonst. Die Krankenhäuser auch«, antwortet sie. Aber das meint Bill nicht, es dauert eine Weile, bis sie versteht, was er meint. »Nein, nein, die Ärzte sind auch als Kunden in Ordnung«, sagt sie dann. Und ebenso als Ärzte. Keine sozialen Unterschiede, aber nein.« Das jüngste Kind, ein Junge, sitzt auf dem Fußboden. Er besitze Spiele und Autos, erklärt er, und manchmal spiele er auch Fußball. Matchbox-Autos haben sie auch, wirft der Älteste von ihnen ein. Aber der dumme Amerikaner weiß nicht mal, was ein MatchboxAuto ist. Der Älteste will Bauarbeiter werden, nein, er wisse nicht warum. Geschwister seien lästig, sie kneifen ihn ständig und nehmen ihm das Spielzeug weg. Seine Schwester verschenke sein Spielzeug sogar an andere Kinder in der Schule. Die Jungs drehen sich schließlich gelangweilt um und lassen den komischen Ausländer einfach stehen. Der Älteste schiebt sich die Brille hoch und vertieft sich wieder in sein Buch. Der Schuhmacher fängt plötzlich zu reden an. Sein Freund sei in den Westen gegangen. Der habe sich dort all diese Maschinen angeschafft und kurz danach einen Arm verloren. So viel habe sich der Freund vorgestellt, so viel erträumt. Aber nichts ist geworden. Versichert sei er nicht gewesen, und jetzt hat er nur noch ein dummes winziges Fenster in einer Seitengasse.
Im Jahr 2000. Hohenschönhausen 1953, nach dem Aufstand vom 17. Juni gegen die Ulbrichtregierung, wurde die Stasi erweitert. Ursprünglich hatte sie schätzungsweise aus 4 000 Personen bestanden, jetzt fing sie an zu wachsen und übernahm sie das Lager. 1957 wurde Mielke Minister und sollte es bis zur Wende bleiben. Das Ministerium für Staatssicherheit war ein rechtsfreier Raum, außer Reichweite der Justiz. Das Gebäude wurde wieder zum Untersuchungsgefängnis. Zuerst unterstand es dem Innenministerium, dann fiel es der Stasi zu. Und so blieb es bis zum November 1989, bis zum Mauerfall. Stundenlange Verhöre. Zwar nahm die körperliche Gewalt ab, doch dafür nahm die psychische zu. Kontakt mit der Außenwelt war nicht erlaubt. Die Gefangenen wurden wegen staatsfeindlicher Propaganda, Republikflucht, Opposition zum oder Widerstand gegen das Regime eingesperrt. Den Wärtern wurde erzählt, sie seien Sexualstraftäter, Kinderschänder, in Männergesellschaften das Allerverächtlichste, was es gibt.
Harich* hat hier eingesessen, nachdem er mit Janka* den Entwurf »Für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« verfaßt hatte, das war 1956 gewesen, noch vor dem Aufstand in Ungarn. Eine Reihe von Unterzeichnern der Biermann-Petition von 1976 saß hier ebenfalls gefangen, unter ihnen Fuchs* und Pannach*. Und Bahro*, der ein Buch geschrieben hatte, das er im Westen hatte herausgeben lassen. Die beiden letzten sind tot. Es gibt Gerüchte, sie seien gefährlichen Strahlen ausgesetzt worden, als man Gefängnisfotos von ihnen machte. Das neue Deutschland war den Vorwürfen nachgegangen, konnte aber die Gerüchte nicht bestätigen. Die Unruhe ist geblieben.
2000. Das andere Leben in der DDR. Geschichte des Mannes zwei Hier wurde er Ende der 70er Jahre eingesperrt. Hier hat er gewohnt und gearbeitet. Auch in Bautzen hat er gesessen. Länger als drei Monate in einem Untersuchungsgefängnis zu verbringen, war gesetzlich nicht erlaubt. Er war fast zwei Jahre hier. Manchmal fuhr ein Auto mit verdunkelten Fenstern vor, man stieg ein, man fuhr eine Runde und man wurde irgendwo hingebracht. Erst im Nachhinein erfuhr man, daß dieses Irgendwo die Normannenstraße war, wo die Rechtsanwälte ihre Mandanten trafen. Man durfte wählen: In den Westen oder ins Gefängnis. Man ging, im Tausch für Geld oder für einen anderen. Er erzählt, daß er noch nach 15 Jahren Albträume davon habe. Man brauchte sich wahrlich nicht viel zuschulden kommen zu lassen, um hier zu landen, sagte er. Es reichte, ein Tonband von Biermann weiterzugeben, das war schon eine kriminelle Handlung. Deine Unschuld mußte bewiesen werden, nicht deine Schuld. Er hatte mit seinem Rucksack eine längere Wanderung unternommen und wurde wegen versuchter Republikflucht aufgegriffen. Und dann saß man in der Falle. Gedemütigt von einer Art Gefängniskleidung, erniedrigt durch die Charakteristik, die sie von einem erstellten: Wer man war, was man war. Nicht Schriftsteller, der man doch sein wollte, sondern das, was man gelernt hatte, Steineklopfer oder so etwas, Elektriker. Erniedrigt von der eigenen Angst. Für Frauen war es noch schlimmer: Stets war man den Blicken der Wachmänner ausgesetzt. Ein Wärter durfte sich mit den Gefangenen nicht unterhalten, auf eine Frage erhielt man keine Antwort. Es gab keinen Gefangenen, der sich am Ende nicht mit dem »Schwätzer«, der einem in die Zelle gesetzt wurde, unterhielt, und dann Dinge sagte, die … Der Mann verstummt plötzlich, schaut in den Saal und fragt: »Bist du die Holländerin?« Ich nicke und begleite ihn, nachdem er seine Geschichte beendet hatte, in das Gefängnisgebäude. Zellen, endlose Flure entlang. Isolierzellen auch, dicke Türen, gepolstert, keine Klos. 21 Tage maximal waren »erlaubt«, länger durfte man nicht festgehalten werden in so einer Zelle, im Dunkeln, strauchelnd, auf den eigenen Exkrementen ausrutschend. Überall mit einer Art Gummi ausgeschlagen. Selbstmordversuche endeten in der Zwangsjacke. Fotos der Kinder wurden mißbraucht, um Geständnisse zu erzwingen. Hinten am Flurende stand die Sauna der Wächter, dort soffen sie und brüllten vor Lachen. Man konnte sie bis in die Zellen hören. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Alles ist gelb oder braun, was es nur noch schlimmer macht, denn in meiner Erinnerung war in der DDR alles gelb oder braun gewesen. Wir dringen tiefer ins Gebäude ein. Die Flure sind schier endlos. Im zentralen Meldezimmer, der Schaltzentrale, dem Kontrollzimmer oder wie immer das heißen mag, jedenfalls dort, wo alles zentral erledigt werden mußte, hängen vier Bildschirme. Aus ihnen drang Musik. War die damals auch zu hören? War man ständig ihrer Musik ausgesetzt? In jeder Zelle steht ein kleiner
Schreibtisch, ein Sitzschemel und ein Holzbett. Unbeleuchtete Flure mit vielen, vielen Türen. Alle hatten ein Guckloch, durch das der Wärter auf seiner Runde hindurchschaute. Die Abdeckklappe gibt ein Klicken von sich, klappert noch eine Weile nach, ich hebe ihn hoch, er wackelt: Klapp, klapp, klapp. Man wußte rein gar nichts, wenn man hier drin war, sagte der Mann. Unschuldig war man und fühlte sich auch so. Man bekam niemanden zu Gesicht. Man hatte offiziell ein Recht auf Information, aber bei wem sollte man es einklagen? Einmal in der Woche durfte man sich duschen. Einmal in der Woche gab es ein Buch, immer ein russisches. Manchmal wurde man geschlagen. Man hatte das Recht, dagegen Protest einzulegen, aber erst nach ein paar Wochen, wenn die Wunden und blauen Flecken verschwunden waren. Man hörte dauernd Geräusche, Fotos wurden gemacht, die Verhöre auf Band aufgenommen. Ausgang hatte man in einer Art Käfig, Maschendraht überall, über einem Stacheldraht und Galerien, auf denen Wachmänner patrouillierten. Eine Heizung gab es nicht, kein Toilettenpapier, keine Binden für die Frauen. Dafür reichlich Ungeziefer. »Warum starben Bahro und Pannach an Leukämie?« Er redet und redet in rasendem Tempo. Ich weiß nicht, was davon zu seiner eigenen Geschichte gehört und was von anderen Personen stammt, aber das ist nicht wichtig. Ich sehe die Angst und die Gefühle, und das reicht mir. Überall der Geruch von Lysol. Wir gehen die Flure hinunter, vorbei an Türen, Türen und nochmals Türen. »Mielke war hier auch eingesperrt«, sagt der Mann. »Er wohnt jetzt hier um die Ecke, ist frei, geht einkaufen, schlägt mit dem Schirm auf jeden ein, der ihn anspricht. Er ist alt, senil.« Ich stelle mir vor, daß man nicht weiß, wohin mit seinem Haß, wenn derjenige, der einem das alles angetan hat, nur noch ein elendes Häufchen Mensch ist. »Ich liebe euch doch alle«, hatte Mielke gerufen, als die Mauer fiel. Ein kleiner lächelnder Idiot im weißen Anzug. Im Gefängnis soll er sich noch ernsthaft beschwert haben, daß die Wächter auf den Galerien beim Ausgang über seinem Kopf patrouillierten. Ein böser, dummer alter Mann, schon zu Wendezeiten, trotzdem Leiter einer Organisation mit 99 000 Angestellten und 180 000 IM. Die hetzte er massenhaft auf ein paar Individuen, die mit ihren Rucksäcken loszogen, um ein Leben mit besseren Jeans und CDs zu suchen. Wohl kaum einer von denen hatte eine Revolution im Sinn. Wie dieser junge Mann hier. Zwei Wochen später besucht er die Niederlande, mit Frau und Kind. Leider bin ich nicht zu Hause: Aber ich hoffe, daß er glücklich ist und keine Albträume hat. Später werde ich ihn in Berlin wiedersehen.
1986. Bill Meyers drittes Interview Die Jungen im Tierpark nehmen an einem zweiwöchigen Ferienlager teil. Es wird mit einem Sportfest abgeschlossen werden. Na klar, haben sie alle eine Freundin, natürlich, alle. Nö, sie wissen eigentlich nicht, was sie mit denen anfangen sollen. Frühsport sei nichts, da müsse man schon um halb sieben aufstehen. Kissenschlachten dagegen lieben sie alle, man müsse nur aufpassen, daß man nicht erwischt wird. Das Essen ist prima, außer es gibt Lunge, die finden sie eklig. Sie drängeln sich um den Amerikaner, schreien durcheinander. Einige glauben, für die Ferien müsse man vielleicht 100 Mark zahlen, andere halten das für sehr viel, aber doch mindestens 20 Mark. Als Bill sagt, es wären 12 Mark, nicken sie weise. Auch gut. Sie bekommen Taschengeld, eine Limonade kostet 30 Pfennige. Oft grillen sie, Bratwürste. Rock ’n’ Roll mögen sie nicht, was sei das überhaupt, Rock ’n’ Roll? Alles brüllt durcheinander. Die Jungen sind zwischen
9 und 11 Jahre alt. Sie schlafen in Vierbettzimmern. Getrennte Betten. Das Wort »Spint« kennen sie nicht, das ist ein Wort aus der Armee- und Pfadfindersprache des Westens. Das Wort »Schrank« kennen sie natürlich, den hat ja jeder zu Hause. Sie dürfen alles hier, na ja, fast alles, aber lieber nicht erwischen lassen, vorsichtig sein. Die meisten waren auch schon mal richtig in Ferien. »Die Tschechei ist billig, Ungarn aber furchtbar teuer.« Aber an der Ostsee sei es auch ganz schön, sagen zwei größere Brüder, schon damals auf politische Korrektheit bedacht. Und an der Saale und auf Usedom und in Dresden, bei Oma, auch. Obwohl die Saale furchtbar dreckig sei. Und mein Papa hat einen Wohnwagen, damit sei man ein Selbstversorger. In Halle gebe es ein Schwimmbad, der Trabi sei eine »Pappkiste«, und jetzt kommen noch die Herbstferien und dann Weihnachten und dann gebe es schon wieder die Frühlingsferien. Alle wollen sie einen Beruf mit Tieren oder Professor werden. Oder Lokomotivführer. Oder etwas in der Autowerkstatt. Den Amerikanern gehe es »saudreckig«, sagen die Kinder, »es sind arme Menschen«. Nein, da wollen sie nicht hin, ganz sicher nicht. In Amerika leben viele Schwarze, die müssen betteln, daß sie etwas zu essen haben, wenn sie dann aber Geld haben, ein paar Dollar oder so, dann kaufen sie dafür Schnaps. Aber dann wollen sie doch mal gern nach Amerika. »Warum nicht?« Bill schaut den Kindern beim Toben und Rennen zu. »Wir dachten«, sagt Meyers in die Kamera«, »daß so etwas wie Weihnachten hier nicht gefeiert wird.« Und fährt fort: »Unser Feindbild zeigt uns nie fröhliche Kinder, nur Leute, die dümmlich den Machthabern zujubeln.«
Das normale Leben in der DDR Die Kinder der DDR hatten ihre eigene Helden. Kommunisten wie Ernst Thälmann*, mitsamt den dazugehören Büchern, die nicht nur für Kinder gedacht waren. Rosa (Luxemburg) und Karl (Liebknecht)*, die Helden des frühen Antifaschismus, ermordet und in die Gosse geworfen. Die »Rote Kapelle«, die berühmte Widerstandsgruppe, in Abenteuergeschichten und -filmen verewigt, als seien es Märchenfiguren gewesen, und gerade deshalb … Lenin, wie er auf Bahnhöfen Reden hält. Und was er sagt. Die Spanienkämpfer, die sich dem aufkommenden Faschismus in den Weg stellten, deren Lieder erst nach dem Krieg wirklich bekannt wurden, gepfiffen von den kriegsheimkehrenden Männern und gesungen von Ernst Busch – jeder kennt sie. Picassos weiße Friedenstaube, John Heartfields Fotocollagen, Käthe Kollwitz Plastiken, Brechts Texte: all das waren die großen Vorbilder der DDR-Jugend. Indianergeschichten von Menschen, die sich für eine große Sache einsetzten, egal, ob es sich dabei um den Sozialismus oder den Kommunismus handelte, die gegen den Faschismus kämpften, in Lager eingesperrt waren und am Ende trotzdem den Sieg davontrugen. Unterstützt von kleinen unbekannten Helden, wie in dem populären Kinderlied vom »kleinen Trompeter«. Es handelt von einem Arbeiterjungen, der während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach aufwuchs. Freiheit und Heldentum bedeutete für viele DDR-Kinder: Niemals einen Namen verraten, egal wie sehr man gefoltert wird, was in den Büchern übrigens oft ziemlich drastisch geschildert wurde. Ein Held war, wer mit offenen Augen in den Lauf eines Gewehrs blickte. Dabei zählten Folter und Hinrichtungen nicht unbedingt zu den Dingen, denen man in der DDR täglich auf den Straßen begegnete. Die Kinder waren bereits kleine Kämpfer für den »guten Zweck«, für den Wiederaufbau, für eine sozialistische Zukunft. Und später, wenn sie ein bißchen größer waren, traten sie in die Kampfgruppe der Arbeiterklasse ein. Für den Frieden.
Und sie hatten einen großen Filmhelden, Goyko Mitic. Jugoslawe, aber im Film ein hausgemachter großer Indianer, und er wurde sehr verehrt. Er konnte so wunderbar vom Pferd fallen. Beliebt waren auch die Märchenfilme mit Hexen und ab und zu einer guten Fee. Eine Polizeiserie mit DDR-Ermittlern gab es auch, die wie die echten Polizeibeamten richtig gute Menschen und außerdem furchtbar schlau waren. Noch heute werden diese und andere Serien laufend im Fernsehen wiederholt. Jedenfalls bekomme ich von den Fernsehanstalten noch regelmäßig Beträge überwiesen. In der DDR waren alle so gleich wie möglich, und man begehrte nicht des Nachbarn Gut, kurz, man stahl nicht, was dem Nachbarn gehörte, und wachte über den Besitz des anderen. Banken und Museen besaßen keine Alarmanlagen, niemand schloß seine Haustür ab. Man war da, um sich gegenseitig zu helfen, und achtete darauf, nicht zu sehr aufzufallen. Ich aber konnte mich anstrengen, wie ich wollte, ich fiel immer auf wie ein Pudel mit Zebrastreifen und bekam deshalb auch ständig was auf den Deckel. Dies und jenes gehörte sich so nicht, das tue man hier nicht, wo käme man denn da hin? Benutzte ich einen Fahrradweg, weit und breit kein Fahrrad zu entdecken, wurde ich angeschnauzt: »Das ist kein Fußweg, meine Dame!« Oder: »Auf einer Parkbank liegt man nicht!« Diesen Zeigefingerton werde ich für den Rest meines Lebens im Ohr haben. Und dabei habe ich noch nicht mal erzählt, was man auszustehen hatte, wurde man von einem Polizisten beim Mißachten einer roten Ampel erwischt. Ich meine nicht den Strafzettel, sondern die Standpauke: »Was haben wir denn da gerade gemacht? Dürfen wir denn das? Wie ist es denn richtig?« Fragen wie aus dem Katechismus, oder aus dem Krankenhaus: »Wie haben wir denn heute nacht geschlafen? Wie fühlen wir uns heute?« Fragen der Vertreter der absoluten Macht an die absolut Abhängigen. Ein richtiger Kindergarten. Ich überfuhr einmal eine Fahrbahnmarkierung, wurde sofort angehalten. Der Polizeibeamte warf sich in die Brust und sagte aus lichter Höhe: »Ihr Fahrstil gefällt mir nicht.« In meinen DDR-Jahren habe ich nur mit großer Mühe wieder gelernt »Entschuldigung, Herr Polizist« zu sagen. So etwas war mir in den Niederlanden total abhanden gekommen. Witze über die Dummheit der Polizisten gab es viele in der DDR, was ja nicht gerade von übergroßer Ehrfurcht oder Angst vor diesen Vertretern der DDR-Diktatur zeugt. Fast jeder trieb seine Späße mit den Herren in Uniform. Ein Freund wird in Ost-Berlin von einer Motorradstreife eingeholt, die etwas ins Mikrofon schreit. Der Freund versteht nicht, kurbelt das Autofenster herunter und schreit: »Ich habe Sie nicht verstanden!« Brüllt der Beamte zurück: »Leck mich am Arsch!« Mein Freund meldet sich daraufhin bei der nächsten Polizeidienststelle und sagt, daß er gekommen sei, um der Aufforderung des Beamten mit der Nummer so und so Folge zu leisten. Wir kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Der Freund hat die Geschichte unbeschadet überstanden. Obwohl es mir Spaß machte, das alles zu beobachten, ärgerten mich doch die Kommentare über mein persönliches Verhalten, mit dem ich doch niemandem schadete. Für mich war das typisch deutsch, egal ob Ost oder West. Herumbrüllende Deutsche haben mich schon immer empfindlich gestört, wie jeden Niederländer. Natürlich wußte man schon, daß die wirklich gefährliche Polizei nicht gerade den Verkehr regelte. Der Drang zur Gleichheit hatte auch seine schönen Seiten. So herrschte beispielsweise am Theater die Gewohnheit, die Angestellten des Technischen Dienstes gleichauf mit den Schauspielern zu behandeln. Wurde eine Inszenierung belobigt oder eine Einladung ausgesprochen, dann galt die genauso für die Techniker und die Beleuchter. Weil eine Inszenierung nur gelingt durch den Einsatz aller Beteiligten, und nicht nur derjenigen, die auf der Bühne sichtbar sind. Ränge und Stände spielten kaum eine ernstzunehmende Rolle. Vereinzelt versuchte eine vorsintflutliche »Frau Doktor« schon mal, sich in einer Reihe vorzudrängeln, doch dann erntete sie nur verächtliche Blicke oder Hohngelächter. Bei einer Versammlung im Theater
erhob sich einmal eine berühmte Schauspielerin und sagte voller Gefühl: »Wenn wir alle in einem Boot sitzen, und ein einziger will per se den Mast hinaufklettern, was glauben Sie, was dann passiert?« Sagt der Techniker neben mir lakonisch: »Der sieht als erster Land.«
1986. Bill Meyers viertes Interview Im Supermarkt. Das Kind im Einkaufswagen, eine Szene wie in jedem Supermarkt der Welt. »Das Warenangebot«, sagt die Frau in die Kamera, »ist ziemlich positiv.« Es gebe frische Waren »für Feinschmecker«. Joghurt für die schlanke Linie. Steht auch überall dran, für den, der es nicht wissen sollte. Die Kamera registriert an der Kasse: 1,60 – 1,25 – 1,05 – 2,85 – 4,05 – 7,00. Das letzte war vermutlich Kaffee, eines der wenigen Dinge, die in den Supermärkten der DDR wirklich teuer sind. Ein mit Dingen des täglichen Gebrauchs gefüllter Einkaufswagen kostet ungefähr 20 DDR-Mark. Für eine Familie, für ein Wochenende. Der Staat subventioniert viele Waren des täglichen Bedarfs. »Es ist erschwinglich«, sagt eine andere Frau zurückhaltend. Ein Brot koste 82 Pfennige, eine Flasche Mineralwasser 12. »Man muß den Dingen manchmal etwas hinterherrennen«, sagt die Frau, als ob die Dinge weglaufen könnten. »Das kostet manchmal etwas Zeit, aber Zeit habe ich genug.« Eine dritte Frau will das Wochenende auf ihrer Datscha verbringen. »Dort kann man vollkommen abschalten.« Deshalb kauft sie H-Milch und Bienenhonig ein, weil der so gesund ist. Auch sie findet, daß alles erschwinglich sei. Sie trägt eine große Sonnenbrille. Ihr kleiner Sohn sitzt im Wagen und hat einen Lutscher im Mund. Zurückhaltende Ferienstimmung herrscht. Die Leute sind eine so direkt auf sie gerichtete Kamera nicht gewohnt und sind bemüht höflich. Die Damen tragen alle glänzendes Nylon, sehr gut waschbar, fürs Wochenende. Man befindet sich in der »Markthalle«, es gibt einzelne Käsestände und Gemüseabteilungen. »Wir kommen hierher«, erklärt ein Ehepaar, das aus der Provinz kommt und mit einem überfüllten Einkaufswagen auf den Ausgang zusteuert. »Im Sommer ist es hier ziemlich voll, dann haben auch mehr Kassen geöffnet. Es geht aber schnell, trotz der vielen Touristen.« Die Touristen hier kommen mit Sicherheit nicht aus dem Westen, viele Polen unter ihnen, auch sie mit vollen Einkaufswagen. Sie kaufen ordentlich ein – um es weiterzuverkaufen. Manchmal haben sie 20 Paar Schuhe im Wagen oder stapelweise – von der Regierung subventionierte – Kinderkleidung. Unter der Woche kommt auch das Botschafts- und Armeepersonal der Westberliner Besatzungsmächte zahlreich über die Grenze. Ist ja nicht weit. Sie können ohne Kontrolle einfach durchfahren. Beim Angebot scheint keine große Variationsbreite zu herrschen, die Masse macht’s. Große Kartons voll gleicher Ware. Kaltes Neonlicht. »Keine Erbsensuppe in Dosen heute«, sagt ein gutaussehender älterer Herr. »Fahre ich extra deswegen her, und dann das.« Er kommt aus Westberlin, arbeitet aber viel »drüben«. Mit »drüben« meinen die Westler den Osten und die Ostler den Westen. Er ist Radiojournalist und wollte sich gerade sein Mittagessen kaufen. Es sollte etwas Warmes sein, dann braucht er sich am Abend nichts mehr zu kochen. Die Pflaumen kosten 1 Mark pro Kilo, »drüben« (womit wieder der Westen gemeint ist) dagegen 2 Mark 50. »Hier gelten überall dieselben Preise, und sie sind stabil. Na ja, dafür gibt’s jetzt keine Erbsensuppe.« »Und alles kann man sich ja eh’ nicht leisten«, sagt eine ältere Dame: Offensichtlich muß sie von einer kleinen Pension leben. Das Personal ist mit der Arbeit unzufrieden. »Die Touristen kaufen alles auf. Dann bleibt für die anderen nichts mehr, und die ärgern sich darüber.« Das Personal will lieber in die Ferien. Ein Ehepaar aus Thüringen sieht sehr zufrieden aus. »Das Angebot hier in Berlin ist überwältigend.«
Sie wollen rasch ihre Einkäufe hinter sich bringen und dann wieder nach Hause fahren. Die Preise sind stabil und man weiß, was man bekommt. Und das ist hier eine ganze Menge. Alles, was sie sagen, klingt, als käme es direkt aus einem DDR-Propagandafilm oder wäre das Resultat perfekter Indoktrination. Sie benutzen dieselben Worte und Wendungen. Doch wenn man sich etwas eingehört hat, weiß man, was sie wirklich meinen: Bei uns gibt es nichts zu kaufen. Oder: Ich bin so arm, daß ich mir nicht mal hier kaufen kann, was ich gerne hätte. Oder: Diese verdammten Polen kaufen uns alles weg. Beim Ausgang fragt Bill einen älteren Herrn, offenbar schon Rentner: »Was passiert hier in der DDR?« – »Nichts!« lautet die Antwort.
2001. Das nicht-normale Leben In vollem Galopp renne ich die Linden hinunter. Ich habe mich mit dem Mann aus Hohenschönhausen verabredet, in aller Eile, am Telefon. Natürlich bin ich wieder zu spät dran. Zu viele Eindrücke, zu viele Gefühle für die wenigen Tage, die ich hier bin. Der Mann steht unter der großen Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz, ein fester Treffpunkt für Verliebte, Dorfbewohner und Dissidenten, das einzige bißchen große weite Welt, das die DDR hatte. Wir mußten beide lachen, als wir uns dort verabredeten. Wie früher. Unter den Linden ist doch länger, als ich denke. Auch das wie früher. Aber er wartet noch auf mich, älter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Keinerlei Verlegenheit. Wir wollen ein Eis essen gehen. Er sei am Abend vorher auf einem Fest gewesen und brauche etwas Abkühlung. Nach zwei Jahren habe man ihn aus dem Gefängniss entlassen, das sei 1983 gewesen. Seine Auflage war, sich innerhalb einer Woche eine Arbeitsstelle zu besorgen, sonst würde er wegen asozialen Verhaltens wieder eingesperrt werden. Er wandte sich sicherheitshalber gleich an die Kirche und erkundigte sich dort nach Arbeit. Zum ersten Mal stand er vor der Entscheidung, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen. Er entschied sich für die Wahrheit. Er ging leer aus. Schließlich fand er vor Ablauf der Frist einen Küchenjob. 200 DDR-Mark pro Monat, aber immerhin eine Arbeit. Er suchte seine alten Freunde wieder auf. Aber er hatte sich verändert, und seine Freunde auch. Er war zwei Jahre lang weggewesen, hatte den Anschluß verpaßt, fand keinen Weg mehr zurück in sein altes Leben. Er brach zusammen. Sein neuer Chef konnte keinen gebrauchen, der am Ende war. »Da kann ich mir gleich ein rotes Kreuz vor den Laden hängen.« Er bekam einen Termin bei der Anwaltskanzlei Vogel. Eine Ausreise im Moment war nicht möglich, und ein Antrag habe in absehbarer Zeit keinen Sinn. Jetzt blieb ihm nur noch die Flucht nach vorn. Zum Glück hatte er seine Musik, damit gewann er sich neue Freunde. Über Vogel fand er nur herzliche Worte: »Der war nicht so, wie die Leute sagen.« Damit sprach er mir aus dem Herzen: Ich hatte Vogel in meinen DDR-Jahren viel Gutes tun sehen, er half zahlreichen Menschen in Not, und ich war entsetzt, als diese Menschen, die er doch aus dem Land gebracht oder auf andere Weise unterstützt hatte – natürlich unter den strengen Bedingungen der Regierung – ihn nach der Wende derart angriffen. Als die Schüsse auf dem Platz des Himmlischen Friedens fielen, erfaßte den Mann eine Heidenangst. Ich verstand den Zusammenhang nicht, aber Angst ist Angst und keiner Logik zugänglich, auch meiner nicht. Inzwischen hat er geheiratet, und die Zeiten hatten sich geändert. Mit seiner Frau zusammen beantragte er die Ausreise ein zweites Mal. Und diesmal hatte er Erfolg. Alle aus seinem Freundeskreis waren schon weg, hatten sich den Menschenmassen
angeschlossen, die nach Ungarn gefahren und von dort ausgereist waren. Ihr offizielles Ausreisedatum war auf den 17. November festgelegt worden, mit Brief und Siegel. Ein paar Tage vorher fiel die Mauer. Sie hielten sich an der ihnen vom Staat verordneten Prozedur fest. Sie meldeten sich am festgesetzten Termin auf dem Polizeirevier. Das war total leer. Im Westen fand er im Chaos jener Tage einen Job bei der Bahn. Er mußte in einer Kabine stehend zu gegebenen Zeiten »Zurückbleiben« in ein Mikrofon schreien. Sonst wurde ihm in dieser Hälfte Deutschland nichts geschenkt. In den freien Minuten las er den Spiegel, während seine Kollegen die Regenbogenpresse vorzogen. Freunde machte er sich auf diese Weise nicht. Nach vier Jahren führte die Bahn mal wieder Rationalisierungsmaßnahmen durch, mit einem goldenen Händedruck wurde er entlassen. Na ja, viel Geld war es nicht, aber doch mehr, als er je auf einem Haufen gesehen hatte. Es war die Bedingung daran geknüpft, daß er sich zum Altenpfleger umschulen lassen mußte. Doch nachdem er die Zustände in den Pflegeheimen gesehen hatte, beschloß er die Ausbildung abzubrechen, und die Familie fuhr zum ersten Mal in Urlaub. Er war frei. Jetzt war er 30 Jahre alt, hatte zwei Kinder und war arbeitslos. Nur diesmal in einem Land, wo das möglich war, ohne daß er gleich wegen »Beeinträchtigung der Arbeit der Staatlichen Organe« eingesperrt werden konnte. Nach zwei Jahren fand er einen neuen Job beim Film. Aber auch dort hielt er es nicht lange aus, er hatte mit der Hierarchie zu kämpfen, ihn störte das Verlogene an der Branche. Ein alter Bekannter, zufällig ebenfalls der Sohn eines hohen Parteifunktionärs (das hörte ich zum ersten Mal, dieses ebenfalls) ekelte ihn weg. Das hörte ich nicht zum ersten Mal. Viele, die in der DDR zu den Dissidenten gezählt wurden, gerieten in ähnliche Schwierigkeiten. Sie können nicht aufhören zu kämpfen. Sie sehen sich immerzu von Feinden umgeben, sind mißtrauisch und übervorsichtig. Niemals sind sie richtig entspannt, wollen keine Ratschläge annehmen. Ich kenne das, viele meiner Freunde teilen dieses Schicksal. Alle sind sie wunderbare, aber schwierige Menschen, sie protestieren, wenn etwas nicht ihren Vorstellungen entspricht, sie teilen die Welt in Gut und Böse und glauben mit kindlicher Einfalt, daß das Leben gerecht sein müsse. Jetzt ist er selbständig, in Hohenschönhausen erzählt er täglich seine Geschichte, wie ich sie vor ein paar Monaten auch von ihm gehört habe. Es hilft ihm, die Sache zu verarbeiten. Seit einem Jahr sind die Depressionen schwächer geworden, seine Kinder werden langsam erwachsen. Allmählich denken sie an sich selbst, er und seine Frau. Er war mit seiner Geschichte sogar im holländischen Fernsehen aufgetreten. Jetzt macht er Führungen durch Berlin. Ab und zu fragen ihn die Leute, ob er Wissenschaftler sei und wo er studiert habe. »Manchmal wird auch mein Name genannt«, sagt er. Allmählich merkt er, daß er lebt. Er spricht noch immer wahnsinnig schnell, noch immer glaubt er, es eilig haben zu müssen. Aber er weiß es.
Zehn Jahre nach dem Mauerfall machten sich die Grünen zum ersten Mal auf zu einer Expedition in die frühere DDR. Die alte DDR war inzwischen in »die neuen Bundesländer« umbenannt geworden. Die Politiker verließen den Vorposten der Zivilisation, wie die Süddeutsche Zeitung es nannte, und reisten nach Bitterfeld. Bitterfeld kannte ich noch vom Ausdruck »Bitterfelder Weg« her: Das war ein Plan der damaligen DDR-Regierung gewesen, den Arbeitern mehr Anteil an der Kultur des Landes zu verschaffen, »der Stolz der Arbeiterklasse« sollte aktiven Zugang und die Beteiligung in allen Kunstbereichen ermöglicht werden. Wir, die Kulturschaffenden jener
Zeit, hatten damit unsere Probleme. Zahlreiche Filme und Inszenierungen scheiterten an diesem Plan und verschwanden. Im heutigen Bitterfeld, wo die Arbeitslosigkeit einen traurigen Rekord erreicht hat und ein Drittel der Bevölkerung es vorzog, die Stadt zu verlassen, um sich anderswo Arbeit zu suchen, ist vom Stolz der Arbeiterklasse, ehrlich gesagt, kaum noch etwas zu entdecken. Die Grünen besuchten auch Ausländer in Dessau, jene Stadt, wo kurz vor ihrem Besuch ein Mosambikaner namens Adriani von Rechtsradikalen zu Tode geprügelt worden war. Früher lebte Bitterfeld von »der Fabrik« und von der Braunkohle. Damals war alles gelb und braun und mit einer Staubschicht überzogen. 10 000 von 33 000 Arbeitern der alten Filmfabrik zogen weg. Wer jetzt noch hier ist, hat keine Alternative, einer von zweien ist arbeitslos. Bitterfeld ist sauberer geworden, man hat einen kleinen See angelegt. Hoffnung, Vertrauen und Ehre heißt das Motto. Viele sahen sich mit den Fabrikschließungen und der Arbeitslosigkeit in ihrer Ehre gekränkt. Jetzt hilft der Pastor beim Hoffen, auch wenn diese Hoffnung weniger auf die Verbesserung der momentanen Situation gerichtet ist. Zunächst stehen Selbstvertrauen und Eigeninitiative an. Die Grünen widmen sich zum ersten Mal diesem unbekannten Stück Deutschland, einem Ort, wo sie keiner kennt. Erzvater Kohl gibt es nicht mehr, Wählerstimmen liegen brach. Deswegen. Erst nachdem ich 1969 selbst die Niederlande verlassen hatte, verstand ich, was nationale Gefühle eigentlich bedeuten. Heimat bedeutet seither für mich: der Geschmack und der Geruch von Dingen, die einem vertraut sind, an denen man hängt und die es anderswo nicht gibt. Plötzlich wußte ich, warum die Freundin meiner Mutter, die in Amerika wohnte, zu Weihnachten ihre Spekulatiuskekse haben wollte, oder meine Tante in Kanada dann unbedingt Lakritze brauchte, die sie meiner Meinung nach nie aufaß, sondern nur daran roch, weil der Geruch sie so sehr an Holland erinnerte. Bei mir war es die Zahnpasta. Deutsche (egal ob Ost oder West), französische mit Körnern oder grellbunte amerikanische – keine dieser Zahnpasten reichte an meine niederländische Marke heran, von der ich heute nicht mal mehr den Namen weiß. Vermutlich kaufte ich sogar jedesmal eine andere Marke, trotzdem schleppte ich, egal wohin ich fuhr oder flog, immer heimlich ein paar Zahnpastatuben mit, in der Hoffnung, der Vorrat reiche bis zum Ende der Reise. Im Grunde war es vollkommen idiotisch, denn es hätte mir wohl gar nichts ausgemacht, wäre mir die Zahnpasta tatsächlich ausgegangen. Aber ich schleppte sie zwangsneurotisch mit mir herum, wie ein Kind, das ohne seinen Teddy nicht einschlafen kann. Immer wenn ich irgendwo ankam, packte ich zufrieden meine Tuben aus und nannte sie Holland. Etwas mehr Verständnis für diesen elementaren Nationalismus hätte die Westdeutschen vielleicht davon abgehalten, alle, aber auch alle Geschmacksrichtungen, Gerüche, Gewohnheiten und Produkte aus Ostdeutschland derart lächerlich zu machen, sie zu verleugnen und verschwinden zu lassen. Zu meiner großen Genugtuung sah ich Schröder, übrigens zehn Jahre zu spät, auf einer Rundreise durch den östlichen Urwald ein paar Mal tapfer einen Schluck Rotkäppchen-Sekt trinken, ohne das Gesicht zu verziehen. Rotkäppchen ist eine süßliche, von Westdeutschen verachtete Sektsorte, die im Osten einst zu den höheren Genüssen gehörte. Gut so, Schröder, dachte ich. Das ist politisches Bewußtsein. Das ist die wahre Anerkennung der DDR! Falls die Demütigung ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt der westdeutschen Übernahme war, dann hat der Kanzler das hiermit anerkannt. »Es lebe die Demokratie«, denn das wird ihm wohl ein paar sehr notwendige SPD-Wähler einbringen. Tagein und tagaus lese ich, mit dem mir in den Niederlanden inzwischen wieder angeeigneten Abstand, die deutschen Zeitungen. Immer mehr IM werden entlarvt, die politischen Spielchen zwischen Ost und West nehmen kein Ende. Hohn und Verachtung auf beiden Seiten. Düstere Vergleiche zwischen Naziregime und DDR-Regime. Angeblich war der Antifaschismus nur von der DDR-Regierung diktiert und gar nicht echt. Die Insolvenzen, die Enteignungen, die
Arbeitslosigkeit. Der verwirrte Ossi, der immer wieder gefragt wird: »Ist es bei euch nicht so, daß …?« Die Fragen der Wessis werden meist nur in den Zeitungen gestellt, denn den Normalwessi interessierte die DDR früher nicht und interessiert sie heute erst recht nicht. Jede Diskussion führte zu noch mehr Demütigungen und zu einer Vergrößerung der Kluft. Ich frage einige von denen, die aus dem Osten weggezogen sind: »Kommt es euch so vor, als ob ihr entkommen seid? Seid ihr voller Hoffnung, voller Vertrauen und voller Ehre aus dem Schlamm hervorgekrochen?« Wieder und wieder lese ich Artikel über Gysi – und über Stolpe* und den Rechtsanwalt Vogel. Und immer sind es Anschuldigungen, gegen immer noch mehr Leute. Günter Gaus, der ExBotschafter für den Westen im Osten, äußerte anläßlich von Honeckers Tod den Satz: »Und jetzt: Laßt die Hunde los.« Kommt doch öfter, sagen die Ossis und die von den Neonazis verfolgten Ausländer zu den Westpolitikern, die dann auch tatsächlich kommen. Kommt doch ab und zu mal vorbei. Kommt doch alle drei Monate. Die Zeitungen berichten, wie viele Fotos Schröder verteilte und wie viele Autogramme er gab. Der Spiegel bringt ein Interview mit einem Mann (West), der sich ganz allein und aus eigenem Antrieb in den Osten aufmachte, um sich dort umzusehen. Einfach so aus Interesse. Er berichtet: »In einem kleinen Dorf habe ich vier neue Tankstellen und fünf Autohändler gezählt. Autos, Versicherungen und Reinigungsmaschinen, damit erschlägt man die Leute dort fast. Und währenddessen wird das SED-Vermögen ins Ausland geschafft, von Schalck-Golodkowski, dem großen Geldhändler. Niemand hat sich die Mühe gemacht, nachzuprüfen, was so ein Dorf tatsächlich braucht. Das Ganze war nur ein einziges großes Konjunkturprogramm für den Westen. Und ab und zu hat das ja auch geholfen. Vor allem uns. Eine feindliche Übernahme war das, nichts anderes. Die Treuhand sanierte nur die, die ohnehin Geld hatten. Es gab ja auch ein paar gute Sachen dort im Osten. Und sie hätten sich doch ordentlich einigen können, hinterher. Neue Bürokratien, neue Führung. Kohl wollte mit seinen ›blühenden Landschaften‹ doch nur für sich selbst ein Denkmal schaffen. Unser früherer Bürgermeister hat zum gleichen Zweck in unserer Stadt ein Schwimmbad und ein Rathaus bauen lassen. So machen die das. Dabei wollen die Leute das gar nicht. Jetzt sehen die Leute hier im Westen die neuen Straßen drüben und sind neidisch. Aber sonst ist alles eigentlich ganz gut so. Es passiert doch nicht alle Tage, daß ein Volk sich wiedervereinigt. Wenn nur der Soli auch im Osten landen würde, wäre ja alles in Ordnung, aber der geht doch einfach an den Staat. Eine Art Sektsteuer, so wie im Mittelalter. Und der Osten bezahlt selber noch mit. Daß die Regierung nach Berlin gezogen ist, ist gut, nur hätte das Ganze nicht so teuer zu sein brauchen. Und gleich den Bundestag halbieren. Brauchen wir denn mehr Abgeordnete als die USA? Drüben sitzen noch viel zu viele vom alten Schlag. Wie bei uns nach dem Krieg die Nazis. Was bei uns 40 Jahre gedauert hat, kann dort doch nicht in zehn Jahren erledigt werden. Und schon gar nicht mit Geld allein.« Wenn die DDR-Bürger irgend etwas gut konnten, dann war das schummeln, deichseln, unlösbare Probleme lösen. Sie hatten ja keine andere Wahl. Tauschhandel, die eine Hand wäscht die andere, tust du was für mich, tue ich was für dich. »Vitamin B«, Beziehungen, das hielt die Wirtschaft am Laufen und das ganze Land instand. Fast jeder besaß etwas, oder er hatte Zugang zu etwas oder jemanden, mit dem er etwas tauschen konnte. Wir zum Beispiel verfügten über Theaterkarten. Ein Freund von uns importierte aus Sibirien, egal was er von dort mitbrachte, in den Kühltransportern lagen unten jedesmal Pelze oder Kaviar versteckt. Dieser Freund besaß am Ende eine entzückende Porzellansammlung und eine Menge Freunde. Warum ließen sich die Ehemaligen, wie die früheren DDR-Bürger bald hießen, nach der Wende so gut wie nichts mehr einfallen? Oder waren sie noch immer einfallsreich, hatten aber keine Chance mehr, das unter Beweis zu stellen?
Sie erstickten an den Veränderungen, den Unsicherheiten, an der mangelnden Kenntnis über die Möglichkeiten dieser neuen Welt, die sie einfach überfiel. Marketing war nicht gerade das Fach, in dem sie eine lange Übung hatten. Anschluß an die neue Gesellschaft hatten sie kaum, sie waren gutgläubig und wurden betrogen und belogen. Es gab zu viele schlechte Ratgeber. Vom Leben im Westen wußten sie anfangs nur wenig und ihr Selbstvertrauen wurde nicht gerade gestärkt. Sie verdienten zwar jetzt viel mehr als früher, wußten aber nicht, daß man nur so wenig davon übrig behält. Vielleicht hätten sie nur Freiheit und mehr Möglichkeiten nötig gehabt als gleich eine ganz neue Schutzmacht.
1986. Bill Meyers fünftes Interview »Eines Tages kamen echte Indianer nach Deutschland, hier nach Dresden, wo Karl May gewohnt und geschrieben hat«, sagt das Oberhaupt. »Die ersten kamen so um 1912, sie sind hier begraben. Sie erzählten viel über die Kultur der Indianer, bauten die ersten Wigwams, gaben Vorstellungen. Das Dorf ist ungefähr 1928 oder 1929 entstanden. Der Faschismus und der Krieg machten dem Ganzen ein Ende. Nach dem Krieg hat man das Dorf wiedereröffnet und auch die Vorstellungen wieder aufgenommen. Jetzt reisen wir damit durch die ganze Republik. Es ist harte Arbeit, denn unsere Indianer sind ja keine echten Indianer, und sie müssen das Indianisch erst lernen.« Das Indianisch, das zu hören ist, hat eine eindeutig sächsische Färbung. Die Beteiligten üben mit entsetzlich nackten Beinen Indianertänze. Viel Geschrei und Armgeflatter, wegen der Federn. Sie haben die verschiedensten Berufe, der Parteisekretär und der Chef der Staatsicherheit schießen mit Pfeil und Bogen aufeinander. »Die Indianer in Amerika, die nicht in den Reservaten wohnen wollten, mußten sich an ihre früheren Unterdrücker verkaufen. Wir zeigen hier, wie sie in Freiheit lebten. Die Kostüme sind vollkommen authentisch, darauf sind wir stolz, denn die Materialien sind nicht einfach zu bekommen.« In der ganzen DDR gibt es jetzt »anerkannte« Indianergruppen. Manchmal kommt die Enkelin eines der in Dresden begrabenen Indianer vorbei. Man zeigt Schieß- und Kampfkünste, in rasendem Tempo. Dabei werden Gegenstände in die Luft geworfen, »keine Münzen, lieber Blumen«. Ein stilechter Cowboy demonstriert das Lassowerfen, dabei erklingt Musik von Ennio Morricone im Hintergrund. Manchmal schießen sie aufeinander, wobei sie hinter einem Vorhang stehen, dann herrscht im Publikum atemlose Stille. Die Kinder schauen mit offenen Mündern zu, versuchen, die Indianer zu berühren, streicheln die Federn und Tomahawks, sind stolz, wenn sie ein paar Worte »echtes Indianisch« verstehen. Zufrieden rufen die Eltern die Kinder zu sich, und die erschöpften Schauspieler sammeln ihre Sachen ein. Dresden hat sich freigespielt. Das Publikum läßt keinerlei Abfall liegen, weder eine Plastiktüte noch einen Becher. Zehn Jahre nach dem Mauerfall findet man die Indianerdörfer im ganzen Land verstreut. Sie haben die Wende überlebt. Wenn es schon so wenig Brot gibt, dann soll es wenigstens nicht an Spielen mangeln. Der große alte »Indianer« Goyko Mitic glänzt in allen Hauptrollen. Vorwärts in die Vergangenheit. Wer die Realität nicht mehr erträgt, schafft sich eine andere. »Im Luftreich des Traums« (Heine), da sind wir zu Hause. Graf Dracula besitzt seit kurzem ein Schloß unweit von meinem kleinen Landhäuschen. Er behauptet, dort geboren zu sein. Eine amerikanische Dame starb an einem Herzinfarkt, als er sich aus seinem Grab erhob. Typisch Amerika, sie wissen nicht, was echt ist und was nicht.
2000. Beginn der Wahlen In den neuen Bundesländern kursiert ein Witz: »Donnerstag um zehn nach zwei, ist die Zone Wessi-frei.« Dann sind die Ostdeutschen wieder unter sich, die Wessis sind in ihre Heimatbundesländer zurückgekehrt. Eine Freundin besitzt in der Nähe des Regierungsviertels die einzige Kneipe der westlichen Hemisphäre, die in der Woche proppenvoll und am Wochenende gähnend leer ist. Sie hat die Kneipe sofort gekauft, als sie hörte, die Hauptstadt ziehe nach Berlin. Lange, bevor der Bundestag fertig war, bereitete sie sich und das Lokal auf die Ankunft der Abgeordneten vor. Es dauerte lange, bis die Beamten tatsächlich kamen, murrend, weil ihre Familien nicht da waren. Jeder aus dem Westen, der in Berlin arbeiten muß, bekommt eine Art Härtezuschlag, als liege Berlin in den Tropen. Straßen und Flugzeuge in Richtung Westen sind schon am Donnerstagabend voll. Die neuen Bürgermeister in den Neuen Bundesländern betonen in ihren Gesprächen mit hereintrudelnden Politikern (West) stets, daß sie voller Hoffnung seien. Wirklich voller Hoffnung. Die Ausländer im Land, darunter Vietnamesen, Türken und Schwarzafrikaner sehen keine Verbesserung, sie finden sogar, daß alles schlimmer geworden sei. Kommt doch mal alle drei Monate vorbei, halten sie den Politikern entgegen. Die alten Tagebaugruben sind mit Wasser gefüllt, der gelbe Staub ist verschwunden und die Flüsse sind sauberer, aber die Bauern melden 40 Prozent Ernteeinbußen aufgrund der Trockenheit, die Ärzte wollen nicht mehr arbeiten, weil zu sie wenig verdienen, obwohl sie immer noch mehr verdienen als die anderen. Jugendliche ritzen sich Hakenkreuze in die Körper. In Mühlhausen stehen vier junge Männer vor Gericht, weil sie Ausländer durch die Stadt gehetzt hatten. In einigen Städten gibt es »Freie Zonen«, wo Skinheads die Macht übernommen haben. Auf den Hausmauern von Bitterfeld prangt groß die Zahl 88, ein Nazisymbol (H ist der achte Buchstabe im Alphabet). Die Zeitungen sind täglich voll mit solchen Meldungen. Es gibt Verletzte, Tote. Manche Ausländer trauen sich kaum noch aus dem Haus. Die Bundesregierung will 75 Millionen Mark zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Ausländerfeindlichkeit aufwenden. Man hofft auf Bürgerinitiativen und denkt über ein NPD-Verbot nach. Zahlreiche Geschichten machen die Runde. Im Grunde ist es aber eine einzige Geschichte, die immer nur wieder erzählt wird: Wie die Wende vor sich ging. Wer dabei ein Held war, wer log und betrog und wer am meisten darunter gelitten hat. Einzelschicksale bestätigen die Standardgeschichte nur. So wie die von Louise Endlich, einer Westdeutschen, die ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben hat, nachdem sie sich entschlossen hatte, in den Osten zu ziehen. Sie kam »aus Liebe«, weil es hier so schön ist und weil ihr Mann sich aus Überzeugung hier eine Arbeit gesucht hat. Sie kam, um den Brüdern und Schwestern zu helfen, den Schwachen, die dringend Hilfe brauchten. Und deshalb waren sie und ihr Mann bereit, auch für ein geringeres Gehalt hier zu arbeiten. Wodurch die Menschen im Osten einmal mehr darauf gestoßen wurden, wieviel weniger sie im Vergleich zu den Westdeutschen verdienen. Außerdem weiß jeder im Osten, daß der Bau von Endlichs neuem Haus zu einem Großteil von der Steuer abgeschrieben werden konnte. Ihre Behauptungen haben somit – für jeden erkennbar – schlicht unwahre Seiten. Ihre neue Umgebung würde das nie laut sagen, dafür aber um so lauter denken. So scheitern eventuell wirklich ernstgemeinte Absichten gleich an Halbwahrheiten und Unausgesprochenem. Hinzu kommt dann noch die insgeheime Verärgerung von Leuten wie den Endlichs über die ständigen Jeremiaden der Ossis. Denn alle
außer den Ossis selbst wissen doch, »daß es ihnen heute viel besser geht als früher«. Dabei jammert die Endlich selber andauernd darüber, was sie alles aufgegeben hat, um hier wohnen zu können: ihr früheres Leben, den Luxus und ihren Friseur. Das Buch trieft nur so vom Abscheu gegenüber dem anderen. Schließlich gibt sie auf und kehrt nach Westdeutschland zurück. Sie behauptet, die anderen hätten sie weggeekelt, obwohl sie doch ihr Bestes gegeben habe. Das Buch wurde ein Westseller. Aber Abscheu ist noch kein Haß. Ostgeschichten wie die der Endlichs kennen wir inzwischen zur Genüge. Aber was für Geschichten über den Osten könnte man noch erzählen? Und wer sollte das tun? Gibt es eine Geschichte, die etwas bewegen, vielleicht sogar etwas verändern könnte? Alles, was heute erzählt wird, im Osten wie im Westen, ist wie aus Beton gegossen, Stahlbeton. Eine Frau aus Hoyerswerda bekommt eine Lektion in Klassenunterschieden. Der Lehrer fragt: »Zu welcher Schicht würden sie sich zählen?« »Na, zu den ganz unten«, sagt sie, »den sozial Verachteten«. »Nein«, sagt sie dann, vielleicht doch nicht, das sind ja eher die Ausländer.« Nach der Wende blies man in Hoyerswerda zu einer regelrechten Jagd auf die Ausländer. Zu DDR-Zeiten habe ich dort einmal einen Film gedreht. Damals bestand die Stadt aus großen Plattenbauten und zwei Fabriken. Die Ausländer, die dort wohnten und arbeiteten – und das waren überraschend viele – lebten quasi in Ghettos. Die Aufenthaltsbedingungen, die die DDR ihnen auferlegte, waren alles andere als angenehm, aber sie brauchten nicht zu hungern, sie verdienten Geld und sie lebten in Frieden mit der Bevölkerung, aber auch untereinander. Für viele war dieses Leben, verglichen mit dem vorigen, ein großer Fortschritt. Die meisten stammten aus Vietnam, viele auch aus Polen. Man erwartete von ihnen, daß sie nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Ich filmte damals in einer großen Fabrik, in der ausschließlich Frauen arbeiteten. Auch die Führungsriege bestand aus Frauen. Die Temperatur in den Arbeitsräumen war sehr hoch: 20, manchmal 30 Grad, andauernde Feuchtigkeit, der Lärm der Maschinen war ohrenbetäubend. Schauspieler und Crew arbeiteten mit Walkie-talkies, um sich untereinander verständigen zu können. Ich spielte eine ehemalige Profischwimmerin, die, nach ihrer erfolgreichen Karriere, Fabrikarbeiterin geworden war. Im Film war ich kinderlos, was Rückschlüsse darauf zuließ, wie man in der DDR mit Berufssportlern umging. Die Fabrikarbeiterinnen um mich herum waren stämmig und stolz auf ihre Kinder, ihr Land und den Fortschritt, den sie miterwirtschaftet hatten: »Mit nichts haben wir angefangen, und jetzt schau uns mal an.« Ich unterhielt mich oft mit ihnen. Durch unser Drehen mußten sie ihre Arbeit unterbrechen, was ihnen vom Gehalt abgezogen wurde. Sie kicherten über die Polen, bemitleideten die Vietnamesen, aber sonst kein ungebührliches Wort. Ich fuhr jeden Abend mit zwei Chauffeuren nach Berlin zurück, denn ich hatte Vorstellung. Die Arbeiterinnen fanden das alles furchtbar spannend, hatten aber auch etwas Mitleid mit mir, was für ein Scheißleben hatte ich doch! Sie selber arbeiteten abwechselnd in Tag- und Nachtschichten. Sie schimpften zwar ordentlich, aber sie beklagten sich nicht. Das ist erst der Anfang, sagen diejenigen, die es wissen müssen: In der ehemaligen DDR bildet sich eine Jugend heran, die rassistisch ist, mit einfachsten Symbolen aus frühen Zeiten. Diese Jugendlichen glauben tun zu müssen, was die Eltern tun würden, täten sie endlich was. Unter der Voraussetzung, die Eltern seien noch immer »staatsgläubig«. Hat nicht Innenminister Schily selbst gesagt: »Das Boot ist voll!« Die Jungen wollen da gern das Ihre dazu beitragen. Und die Eltern haben nicht mal so viel dagegen, nur sind sie mit der Art und Weise, wie das geschieht, nicht einverstanden. »So was gab’s bei uns nicht.« Einige meiner Westfreundinnen haben Töchter, die mit Schwarzen befreundet sind. Die Mütter klagen über die Freunde der Töchter: »Sie sind illegal, hängen nur rum, haben keine Zukunft, sind schmutzig und chaotisch. Es sind einfach Schmarotzer.« Ob das stimmt oder nicht, weiß ich nicht, aber darum geht es auch nicht. In den Familien herrschen riesige Konflikte, die Töchter
wollen von ihren Freunden nicht lassen und wohnen mit ihnen in Wohnungen, deren Miete die Eltern bezahlen. Die Freunde haben auch keine andere Wahl. Keine Chance auf Arbeit. Wenig Chancen auf Legalität. Meine Ostfreundinnen haben keine Töchter, die mit schwarzen Männern befreundet sind. Im Osten gibt es zu wenig davon. Früher waren es viele. Nach der Wende besuchten zahlreiche, im Westen verachtete türkische Jungs ihre Ostfreundinnen, sie hatten kleine Westgeschenke bei sich und viele lebenslustige Geschichten über ihre exotische Heimat und den Westen, wo sie lebten. Eine der Westtöchter ist inzwischen mit ihrem Schwarzen verheiratet und hat mit ihm ein schwarzes Kind. »Man muß doch Angst haben, daß das Kind eines Tages Schwierigkeiten bekommt«, sagen die Großeltern. Und ich fürchte, ihre Angst ist berechtigt. Viele dieser Jungen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße. Ein Psychiater mit Namen Maaz, von dem vor der Wende noch nie jemand gehört hatte, erkundete jede Gehirnwindung und -höhlung der Ehemaligen und behauptet, der »DDR-Bürger« sei geschädigt und unreif. Ich hatte eine einzige Freundin (Ost), die eine Zeitlang glaubte, zum Psychiater gehen zu müssen, weil sie ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater hatte. Das lag aber weniger an der DDR als am Krieg, aus dem ihr Vater nicht mehr wiederkam. In den Niederlanden habe ich massenhaft Freunde, die zu Psychiatern gehen. Leidet der typische DDR-Bürger an Unselbständigkeit, weil er im Kindergarten immer mit den anderen Kindern zusammen aufs Töpfchen mußte? Heute werden dicke Bücher darüber geschrieben, auch vom Psychiater Maaz. Die Zeitungen sind voll davon. ›Der DDR-Bürger‹ saß Abend für Abend in unserem ausverkauften Theater und lachte über das, was wir ihm als angebliche Wirklichkeit präsentierten, und über das, was er als seine eigene Wirklichkeit erkannte. Es wurde keine Gelegenheit ausgelassen, sich über »die da oben« lustig zu machen. Ich hatte nie den Eindruck, daß die DDR-Bürger unmündig seien, nur sah ich, daß sie in ihrem Alltagsleben kaum etwas ändern konnten, was für viele andere Länder übrigens auch gilt. Wir Westbewohner, in unserem individualistischen Staat, waren so lange stolz auf unsere Individualität. Das Alleinsein bestimmt unsere Kultur. Wir behaupten, daß das genau das sei, was wir wollen, und sind stolz darauf, daß wir es können. Man muß sich nur erst daran gewöhnen. Kälte und Armut können die Folge davon sein. »Ich möchte endlich auch einmal zur Familie gehören«, sagt Peachum in unserer Dreigroschenoper. Und wir lachten jeden Abend hinter den Kulissen darüber.
2001. Die Witwe In der DDR war er eine berühmte Persönlichkeit gewesen, und auch im Westen kannte man ihn. Als die Mauer fiel, wurde sein Büro sofort geschlossen. Die Presse fiel über ihn her, er sei böse, schlecht und systemtreu gewesen und wurde damit auch noch berühmt. Sein Fehler war, daß er auf der Seite der Verlierer stand. Wer verliert, kann kein Sieger sein, egal ob mit Überzeugung oder ohne. Sie konnten ihr Haus in der Stadt nicht halten und zogen aufs Land. Er versuchte zu schreiben, doch keiner wollte es lesen. Er starb, und die Witwe erhielt eine kleine Pension. Kurz vor seinem Tod flatterte eine enorm hohe Rechnung ins Haus. Die Kanalisation ihres Hauses sollte auf Westniveau gebracht werden. Darum hatten sie nicht gebeten, und außerdem besaßen sie nicht das Geld dafür. Er wandte sich mit seinem Problem direkt an den Chef der Stadtwerke. Eine Freundin (West, davor Ost) sagt der Frau daraufhin mitten ins Gesicht: »Na klar, einer wie der kann sich das ja erlauben!« Die Witwe schweigt einen Augenblick und antwortet dann leise. »Es waren die Stadtwerke West.« Nach seinem Tod ging sie selber hin. So etwas hatte sie noch nie vorher getan. Und danach wiederholte sie ihren Besuch auch noch. Sie hatte Glück, wie sie selber
findet: Die Rechnung wurde auf die Hälfte gekürzt. Nicht daß sie diese Summe nun problemlos aufbringen konnte, aber die Zahl auf der Rechnung sah doch beträchtlich kleiner aus. Ihren früheren Humor hat sie behalten, sie lacht darüber. Sie vermißt ihn sehr. Wenn sie nur in ihrem Haus wohnen bleiben kann. Sie hat bereits einige Bekanntschaften geschlossen. Die Nachbarn grüßen sie morgens.
Die Kapitalistin Die Eltern waren Kleinkapitalisten gewesen, führten an einer belebten Stelle der Stadt ein Geschäft. Nach dem Krieg wurden sie enteignet und bekamen eine kleine Entschädigung. Der Vater starb, die Mutter und eine Schwester flüchteten in den Westen. Sie selbst heiratete im Osten. Wenn doch jetzt sowieso alles an alle zurückgegeben wird, warum dann nicht auch etwas an uns, dachte sie sich. Die Mutter lebte noch. Der Wert des Objekts war zur Zeit der Enteignung auf 250 000 Reichsmark taxiert gewesen, die DDR hatte sie bei der Beschlagnahmung mit 19 000 DDRMark entschädigt. Sie verfaßt einen Antrag, der abgelehnt wird: Aufgrund besonderer Umstände. Wir sitzen irgendwo im Osten im Freien an einem Tisch. Ein alter, etwas verfallener Bauernhof, das Dach muß dringend repariert werden, manchmal steht alles unter Wasser. Sie zeigt mir den Brief und grinst, zuckt mit den Schultern. Sie hat eine ABM-Stelle, kriegt 1 600 Mark dafür, ihr Mann ist schwerstbehindert, wenn sie zur Arbeit ist, braucht sie jemanden für ihn und das Haus. Sie ist müde, und sie lacht. Sie bringt sich, ihren Mann und das Kind gerade so durch.
Der Schriftsteller »Schreibst du noch?« frage ich ihn. Er sieht gut aus, jung, voller Leben, wie früher. »Ununterbrochen«, antwortet er. »Worüber?« erkundige ich mich, »wußtest du bisher immer, worüber du schreibst?« Er bejaht, er arbeite jetzt an einem Filmskript. Kein Theater mehr? Nein, kein Theater. Wird sowieso nicht aufgeführt. Es gehe ihm gut, sagt er, wie immer. Das stimmt, ihm ging es auch früher schon immer gut. Dabei sagte er stets seine Meinung, nicht zu oft und nicht zu laut. Jetzt fängt er an, über Bismarck zu erzählen, wendet sich auch an die anderen, unterhält plötzlich den ganzen Tisch. Er redet über Politik, über Deutschland. Spielerisch und leicht. Redet über das Deutschland von vor allen Kriegen. Nun ja, Bismarck, geht ja noch. Das konnte er schon immer. Zu unserer Zeit waren ihm große Schwierigkeiten erspart geblieben, obwohl er Schriftsteller war, öffentlich diskutierte, verboten und nicht gedruckt wurde. Er blieb dabei immer freundlich. Er ist mit einer Ausländerin verheiratet, und dabei soll es bleiben. Eine Strafe wäre kaum zu ertragen gewesen, und man muß das Leben leben, wie es kommt.
Das Ehepaar Sie nehmen mich mit nach Berlin zurück, das dicke blonde Kind-Mädchen und ihr Mann. Sie fährt. Er paßt hinten auf das Kind auf. Sie erzählen, wie schwierig es im neuen Land ist, Arbeit
und Kind unter einen Hut zu bringen. Daß man viele Zugeständnisse machen muß. Ja, früher … Sie sind sehr jung. Was wissen sie von früher?
Der Schauspieler Ich höre ihn im Halbdunkel des Gartens lachen. Im Osten war er ein großer Schauspieler gewesen. Politisch äußerst zurückhaltend. Er unterschrieb den Biermann-Brief und zog in den Westen. Die Regierung ließ ihn gehen. Zwei Tage später war er wieder da. Er brachte seine schmutzige Wäsche in die Reinigung, die war im Osten billiger. Das hatte er ziemlich schnell herausgefunden. Ich mußte lachen, wir lachten beide darüber, aber lustig fand ich es nicht. Danach habe ich ihn lange nicht gesehen. Nur einmal noch in Bochum, wo ich mit einem niederländischen Fernsehteam einen deutschen Regisseur interviewte. Er stand auf einem großen leeren Platz, in der Hand ein Köfferchen. Als hätte er sich verlaufen. Er war nach Bochum gekommen, um dort Theater zu spielen. Bochum ist weit von Berlin entfernt. Ich sah ihn an, den Mann mit dem Köfferchen. Handelsreisender in Sachen Theater. Auch ich hatte mit ihm auf der Bühne gestanden, ich dachte an die großen Vorstellungen, die er gab. An seine Frau, von der ich hörte, daß sie sich im Westen schwer tat. Ich hoffte, daß er für seinen Auftritt in Bochum ein ordentliches Honorar erhielt, schon wegen der Wäschereikosten im Westen. Nach der Vorstellung aßen wir noch zusammen. Danach fuhr er nach Berlin zurück. »Hallo«, sage ich jetzt im dunklen Garten. »Du hast eine Stimme wie ein Mann bekommen«, sagt er. »Aber nein«, antworte ich, »die war schon immer so. Du hast mich nur vergessen.« Ich lächelte ihn an und hoffte, daß er es trotz der Dunkelheit sehen konnte. Ich dachte an ein Bühnenfoto, das uns beide zeigt; es hing über dem Fußende meines Bettes in den Niederlanden an der Wand. Jedesmal, wenn ich es ansah, hörte ich seine Stimme singen. Jahrelang. Ich drehte mich um. Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen, nein, es fiel mir beim besten Willen nichts ein, worüber ich mich mit ihm hätte unterhalten können. Die Funktion Unser westdeutscher Freund hat jetzt im Osten eine Funktion. Er glaubt, gebraucht zu werden. Seine Ostfreundin ist eine Dissidentin, und er hat mit ein paar Westfreunden ein Haus gekauft, im Prenzlauer Berg, der Wiege alles Dissidententums. Die eine Seite der Straße sieht entzückend aus, die andere ist noch ganz östlich, Kugellöcher, nicht besonders sicher aussehende Balkone, alles grau. Das Haus, in dem die Freunde wohnen, ist hell und weiß gestrichen, ein Hinterhaus ist einem Kinderspielplatz gewichen, hier und da deutlich sichtbare Restaurierungen, aber noch nicht abgeschlossen. »Das Ganze wird hier wohl noch ungefähr dreißig Jahre dauern. Keiner hat erwartet, daß es so langsam gehen würde«, sagt unser Freund. »Schon das mit den Parkzonen für die Anwohner, so was kostet Unmengen Zeit. Na ja, in ein paar Jahren ist es vorbei.« In ein paar Jahren? Oder in dreißig? Er ist nicht sehr fröhlich. Obwohl es ihm in Berlin gut gefällt. Sein Beruf kostet ihn keine Mühe mehr. Er will hier unbedingt wohnen bleiben. Seine Freundin wird bei ihm einziehen, später, jetzt noch nicht. Dafür gibt es viele Gründe. Später höre ich, daß sie noch oft mit ihrem Ex auftritt, noch immer Dissidentin ist. Wer aufhört, ein Dissident zu sein, hört auf, jemand zu sein. Das alte tapfere Dissidententum ist zu einer egoistischen Sucht geworden, ein Selbstläufer. Der Freund ist ziemlich ver-ossiet. Angesteckt mit
einer Krankheit, die nur die Deutschen befällt. Wieder einmal stelle ich fest, daß das Dissidententum, neben vielem, auch ein Zuhause war. Als ich am Abend ins Hotel zurückgehe, herrscht in meinem Kopf ein richtiges Durcheinander. Zwar habe ich alles wiedererkannt, aber nichts steht dort, wo ich es in Erinnerung hatte. Das passierte mir sogar in Gegenden, die ich gut kannte. Ich gehe an Kirchen, am französischen Dom, am Restaurant Lutter und Wegener und an meiner Lieblingsbuchhandlung vorbei. Nachts durch Berlin spazieren. Wie dunkel es hier ist, noch immer. Früher hatte ich keine Angst, wenn ich durch die Finsternis ging. Heute auch nicht. Aber ist das inzwischen nicht leichtsinnig? Checkpoint Charlie, der Grenzübergang für die Ausländer, wird wieder aufgebaut und steht noch hinter einem Gerüst verborgen. Die Zwischenmäuerchen, um die herum man früher Slalom und deshalb ganz langsam fahren mußte, sind verschwunden. Mitten auf dem jetzt offenen Platz hat man eine Mauer gezeichnet. »Hier stand sie«, hat jemand drangeschrieben. Nur, an dieser Stelle stand die Mauer nun gerade nicht. Denn ausgerechnet hier war die Mauer ja durchlässig gewesen, konnte man durch sie hindurchgehen, sogar mit dem Auto durchfahren. Die Kneipe an der Ecke, den Fernsehzuschauern vor allem aus dem Film Der Spion, der aus der Kälte kam bekannt, steht wieder, auf Hochglanz poliert. Die Kneipe ist eigentlich mehr ein Museum und der gesamte Ort eine Persiflage, ein Abziehbild des ursprünglichen Checkpoint. Zwar steht alles wieder, aber alles ist falsch. Keine Spur mehr von all dem Blut und den Tränen. Von einem riesigen Foto strahlt uns ein unbekannter Held entgegen, meterhoch. Vermutlich ein Amerikaner, die Brust voller Farben. Die Luft ist kühl. Die Stadt riecht nicht mehr nach den Zweitaktern und der Braunkohle, sondern stark nach Kanalisation. Für jemanden wie meinen Westfreund, der versucht, sich in dieser Stadt sein Zuhause einzurichten, vielleicht eine Verbesserung. »Früher war alles eine einzige Nivellierung, alles mußte gleich sein«, sagt er. Ich glaube nicht, nein, daß er recht hat. »Hier gab’s keine Kultur«, fährt er fort. Und diesmal weiß ich sicher, daß es nicht stimmt. Ich gehe langsam. Totenstille auf den Straßen, auch jetzt fahren hier kaum Autos. Viel Zeit also, sich umzuschauen, sich zu erinnern. In der Nacht starre ich noch lange aus meinem Hotelfenster. Berlin ist leise und still und ein bißchen neblig. Vor der Eingangstür des Hotels unter mir stehen ein paar Männer und unterhalten sich, einer trägt einen Smoking. Er streckt sich, die anderen beugen sich. Von einer Nivellierung ist heute nichts mehr zu spüren. Armer Westfreund. Der Osten ist ein Problemgebiet. Wir schicken zweitrangige und ausrangierte Manager hin, um den ganzen Krempel wieder in Ordnung zu bringen. Für die ist der Osten die letzte Hoffnung wie früher die Kolonien für die Niederländer. »Qualität setzt sich durch« steht auf der Straßenbahn. Es ist halb fünf Uhr morgens und Vollmond. Das alte Berlin, eine neue Stadt.
2001 Die Kraft einer freien Gesellschaft liegt in ihrer Vielfalt. Der Westen hat dem Osten seine Lebensart aufgezwungen. Und seine Freiheit. Aber kann man gezwungen frei sein? Dabei wollte der Osten doch alles so gern mit eigener Kraft erreichen. Ein Grund, warum es in Polen so viel lustiger zugeht. Nur eine kleine Freiheit, und die erstmal richtig üben, das wäre vielleicht besser gewesen.
Es gibt jetzt zwar ein größeres Warenangebot, aus dem man wählen kann. Aber auch konsumieren will gelernt sein, und dazu hat der Osten keine Gelegenheit gehabt. Das alte Vereinsleben in den ostdeutschen Dörfern mußte den literarischen Salons der Wessidamen weichen. Vielleicht eine Möglichkeit, es zu lernen. Die Sportclubs kommen wieder, hier und da wird aus einem früheren Jugendtreff jetzt ein Jugendzentrum. Auch genießen muß man erst wieder lernen. Das heutige Berlin, mit den Augen junger Schriftsteller gesehen, ist eine Stadt zum Fürchten: Alkohol, Drogen, hemmungsloser Sex, Gestank, Verluderung. Alte Frauen sterben und stinken. Viele Hunde. Die gab es früher kaum. Alte Frauen haben Katzen. Vereinzelt noch ein Kohleofen. Es schneit und regnet hier unterbrochen. Die Frauen sterben im Treppenhaus. Überhaupt passiert das meiste in diesen Büchern in den Treppenhäusern oder in den S- und U-Bahnhöfen. An allen Ecken wird geraucht. Es ist schmutzig. Überall wird gebaut, für den Fortschritt. Obdachlose und Wachdienste, Unordnung gegen Ordnung. Leere Flaschen, Graffiti. Es riecht nach Männerpisse. Die Haustüren zur Straße sind nicht mehr ständig geschlossen wie früher. Bei Neubauten befinden sich Türklingeln neben den Namensschildern, obwohl heute jeder Telefon hat. Man telefoniert heute dauernd und verflucht den Apparat gleichzeitig. In der DDR mußte man sich anmelden. Oder pfiff, anders kam man nicht ins Gebäude. Das hatte Vorteile, denn heute stehen die Helden in den Büchern immer gleich vor der Tür, und das auch noch tagsüber. Das stört zwar nicht weiter, weil sowieso keiner einer geregelten Arbeit nachzugehen scheint. Der jungen Autoren wollen dazugehören, jeder sucht nach dem richtigen Ton, nach dem echten Berlin-Ton. Nach dem, was früher »schnoddrig« hieß und was heute gleichzeitig auch noch cool sein muß. Alles Versteckte und Verbotene bricht jetzt hervor. Oma und Opa untergehakt, wir gehen jetzt Freiheit einkaufen, hoppla, rüber über die Grenze, die 100 Westmark eingesackt. Die Stasi als Superbestseller. »Gib dem Affen eine Banane und laß ihn tanzen.« Das jüdische Viertel wird geweißelt. »Tünche muß her«, damit wir das Schwarze nicht mehr sehen, nicht mehr an früher denken müssen. Ost und West wird kartographiert und kategorisiert. Man treibt es am liebsten mit Ossis, die nehmen sich mehr Zeit, sind aufmerksamer dabei, machen sich weniger wichtig und lügen weniger. Und haben seltener Aids, vorläufig wenigstens. Auch sind die Helden dieser Bücher oft bewaffnet, es wird viel geschossen. Eine alte deutsche Angewohnheit. Ein Welt, die es immer eilig hat. Alkohol, Drogen. Kurze, verhetzte Sätze, das hält man für Berlinerisch. Und dann wird wieder telefoniert. Der blaue Engel, das neue Hochhaus auf dem Potsdamer Platz. Höhepunkt unterkühlter Erotik. Junger Mann, weeste dette. Na, denn mach’s ma jut un 1 000 Küsse. Viele Berliner schimpfen dauernd vor sich hin. Das ist nichts Neues. Das vertraute distanzierte höfliche »Sie« wird immer mehr von dem platten »Du« verdrängt. Die Menschen schlafen wie Steine. Oder gar nicht, und dann irren sie zuhauf durch die Straßen. Gehetzt und gierig. Voller Angst, etwas zu verpassen. So eine Stadt ist Berlin also. Aus diesen Büchern lesen sie vor. Und es kommen tatsächlich Leute, die das hören wollen. Früher zogen sich die DDR-Bürger nach ihrer Arbeitswoche in ihre Nischen zurück, in ihre Datschen und Lauben. Sie ließen den Staat Staat sein und nahmen sich ein freies Wochenende, nahmen sich frei vom Regime, es sei denn man verfiel im Bierdunst in Streit. Sie schauten Westfernsehen und lebten in einer freien Welt. Privat ließ der Staat seine Bürger in den 70er und 80er Jahren doch ziemlich in Ruhe, die meisten jedenfalls. Kein Wunder, daß wie wahnsinnig Informationen gesammelt werden mußten, kein Wunder, daß der Staat trotzdem keine Ahnung hatte, was ihre Bürger dachten und fühlten. »Ich lebte im Westen, hatte Westjeans, Westplatten, ich dachte westlich«, sagte ein Ostmädchen, das erst anfing, in der DDR zu leben, als es die DDR nicht mehr gab. Ähnlich formuliert es
Gabriele Gysi, Gregors Schwester, die lange im Westen lebte, der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juli 2001 gegenüber: »Nach der Wiedervereinigung habe ich mich in eine DDR-Bürgerin zurückverwandelt.« Die Alternativen einer Demokratie: auswandern, frei sein, sich lösen waren für die meisten DDR-Bürger begreiflicherweise nicht so einfach. Im Agrargebiet Brandenburg leben auch heute noch viele Menschen vom Boden, auf dem sie wohnen, kleine Sozialhilfe dazu und ein bißchen Extraverdienst durch den Verkauf von Gemüse, Obst und Tiere. Großartig ist das nicht, aber es ist zumindest etwas, das sie kennen. Noch immer weiß man innerhalb von wenigen Minuten, ob jemand aus dem Osten oder Westen kommt. Nur, wenn einer beispielsweise aus dem Osten ist, aber bei einer Westfirma arbeitet oder umgekehrt, führt das zu Verwirrungen. »Ich konnte nicht begreifen, warum alle so freundlich zu mir waren und dauernd versuchten, mir etwas zu erklären«, sagte eine Journalistin, die aus dem Westen stammte, aber bei einer ostdeutschen Zeitung arbeitete, und einen bemerkenswerten Artikel über die Demütigung durch die westliche Höflichkeit verfaßte. Inzwischen tragen alle dieselbe Kleidung, sprechen eine gemeinsame Sprache, haben denselben Hintergrund und sind trotzdem grundverschieden im Sprachgebrauch und im Auftreten. Eine andere Fassade, ein anderer Stil, eine andere Art des »Sichverkaufens«. Die Wessis halten die Ossis in diesen Dingen für ziemlich kindlich und naiv. Und die Ossis haben vorläufig nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Fragen nehmen sie immer ernst und neigen auch dazu, darauf eine möglichst ehrliche Antwort zu geben. Die ersten Fernsehinterviews von Ossis, die Günter Gaus* für das Westfernsehen machte, waren für alle eine Überraschung: Da gab es keine Spielchen, keine Wichtigtuerei, keine Tricks. Sie nehmen sich selber ernst und versuchen nicht, sich besser darzustellen, als sie in Wirklichkeit sind. Der Ostteil des Landes hat in den letzten Jahren durchaus einiges erreicht. Die riesigen Ost-WestInvestitionen wurden in die Infrastruktur gesteckt, in Straßen, Leitungen, Kanalisation, Umweltschutzmaßnahmen. Und in die Sozialleistungen. Weil die Wessis der Ansicht waren, es sei vergebliche Mühe, die Ost-Betriebe (Fabriken, Telefon, Post, Kohle, Energie) zu modernisieren, wurden sie alle geschlossen, und die Maschinen verschwanden. »Nur noch Schrott!« Man fing von vorn an. Das war für den Arbeitsmarkt katastrophal, doch um so besser für die Modernisierung des Landes. Zu einer Zeit, in der die Informations- und Kommunikationsstruktur der ganzen Welt sich vollkommen wandelte, wurde der bis dahin zurückgebliebene Osten Deutschlands linea recta in das Zeitalter der Globalisierung katapultiert. Die modernen Einrichtungen – bezahlt mit Westgeld – schürten im Westen die Eifersucht und bedrohten in Zeiten der Rezession den eigenen Markt. Eine neue Erfahrung für den Westen, der seinerseits jahrelang vom Stillstand und Niedergang des ostdeutschen Marktes profitiert hatte. Wenn bald »Europa« die noch billigeren polnischen Arbeiter ins Land holen wird, werden Arbeitslosigkeit und Wut nur noch zunehmen. Ostdeutschland hat noch einen langen Weg vor sich. Einen teuren Weg. Der Handel mit Gebrauchtwagen geht zurück, inzwischen kennt auch Ostdeutschland das Phänomen des Staus. Auch wenn die letzten Trümmer des Zweiten Weltkriegs in Europa bald verschwunden sind, werden weder die Wunden von Versailles vollkommen verheilt noch der Kalte Krieg in Denken und Handeln ausgekämpft sein. Der Traum von Ostdeutschland, das sich als einziges der befreiten Ostgebiete nicht für einen eigenen Weg und für die Selbständigkeit entscheiden konnte, wartet noch immer auf seine Erfüllung. Nur die in der ganzen Welt verhaßte Nationalhymne, in der so viel vom »einig Vaterland« die Rede ist, haben sie jetzt wieder. Man darf jetzt auch die Worte wieder öffentlich singen. Das innerdeutsche Mißtrauen, die Verbissenheit und die Wut im Tun der Deutschen führten dazu, daß Ausländer und Außenstehende sich noch mehr wie Fremde fühlten. Die Einheit schuf keine neuen Ausländergesetze, diejenigen, die schon seit Jahren im Westen beziehungsweise im Osten
wohnten und arbeiteten, hatten nichts davon. Sie erhielten keine deutsche Nationalität, kein Wahlrecht. Im Osten verfielen die staatlichen Zusicherungen: Gastarbeiter verloren ihre Rechte, die sich aus ihrem manchmal jahrelangen Aufenthalt im Land ergaben, und sie mußten wieder beim Jahr Null anfangen. Darunter hatten vor allem die vietnamesischen Paare zu leiden. Daß sich durch die Einheit das Nationalgefühl der Deutschen stärkte, macht das Ganze nicht einfacher. Ausländer wurden anfangs weniger gehaßt, man fand nur, daß es zu viele davon gab. Sie waren im Weg. Man hätte ja denken können, daß sich die Ausländer beider Deutschland unter dieser Bedrohung zusammenschließen würden. Aber das geschah nicht. Die Ostausländer wohnten in Ghettos, hatten wenig oder gar keine Kinder, waren nicht oder kaum integriert. Es war eine ganz andere Sorte Gastarbeiter als im Westen, auch stammten sie meist aus Ländern, die für Besuche zu weit entfernt lagen. Diese Gastarbeiter blieben für eine Weile im Land und verließen es dann wieder. Ihre Familien holten sie in den seltensten Fällen nach. Ein Westausländer dagegen lebt mit seiner ganzen Familie hier, seine in Deutschland geborenen Kinder können ohne Probleme Deutsche werden. Nur mit der doppelten Staatsbürgerschaft hapert es noch. Das Hauptargument der ausländerskeptischen Ossis – »sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg« – besteht bis zu einem gewissen Grad zurecht. Denn zu diesem Zweck hatte Ostdeutschland die Ausländer ja einst ins Land geholt, damals herrschte ein krasser Mangel an Arbeitskräften. »Keine Leute, keine Leute«, lautete die ewige Ausrede im Osten für Engpässe aller Art. Vom Ossi wird verlangt, daß er sich zum Wessi wandelt. Dafür muß er viel lernen. Am Ende kommt dann, wenn der Ossi noch recht jung ist, ein hinsichtlich Arbeit, Anschlußfähigkeit und Überlebenskunst flexibler Deutscher heraus. Flexibler auch im Entdecken dessen, worauf er die ganze Zeit verzichten mußte: die Außenwelt. Wo Gleichheit der Maßstab war, wird das Anderssein zu einer Bedrohung. Und keiner will verbissener »gleich« sein als der Deutsche zweiten Ranges, der junge Ostdeutsche, der nicht weiß, wie er sich richtig anziehen soll, um Eindruck auf die Mädchen zu machen, nicht weiß, welche Musik er hören und welche Tänze er tanzen muß. Der seine Lehrer verloren hat und mit ihnen alles, was er früher gelernt hat. Der seine Zukunft ohne Vorbilder suchen muß. Der in seinen Eltern keine Autoritäten mehr erkennen kann, weil er sie scheitern sah. Der Spielregeln, Gesetze und Übereinkünfte ungültig werden sieht und der bemerkt, daß die Leute ihn nur beachten, wenn er sich sehr abweichend oder sehr deutsch verhält und jeder sich empört von ihm abwendet. Wie die anderen zu sein, bedeutet jetzt, so deutsch wie möglich zu sein. Sogar wenn er sich einer »Selbstmordgruppe« anschließt, nimmt man ihn nicht ernst. Wieder zu einer Gruppe zu gehören, ist jetzt für ihn jedoch das Wichtigste. Angst einjagen. Die einzige Macht für kleine Leute, denen man die Würde genommen hat. ABM-Maßnahmen und Umschulungen. Die Arbeitslosen des Osten werden damit abgespeist. Obwohl man einen neuen Beruf erlernt hat, ist man wieder arbeitslos. Manche haben neun Ausbildungen, neun Berufe und neun Betriebsschließungen hinter sich. Es gibt Transferfirmen, in die frische Arbeitslose abgeschoben werden. Sie müssen stets zur Verfügung stehen, jeden Tag und überall einsatzbereit sein, sind verpflichtet ein Mobilitätstraining zu absolvieren, werden wieder umgeschult und arbeiten sogar hin und wieder. Das Arbeitslosengeld fällt weg und wer sich, egal aus welchen Gründen, weigert, eine Stelle anzunehmen, bekommt kein Geld mehr. Um zu zeigen, wie schön Arbeitslose es haben können, druckt eine Zeitung ein Foto von vier Kleindarstellern mit Pickelhaube in einer Vorstellung des »Hauptmanns von Köpenick«. So schön kann es sein. Die meisten Ostdeutschen sind der Meinung, daß sich ihr Leben im Vergleich zu früher verbessert habe, 16 Prozent jedoch sind der gegenteiligen Ansicht, sagen die Zeitungen. Die Frauen vermissen die Hilfe beim Problem, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Ihnen fehlt die frühere Unterstützung, auch die finanzielle, bei Schwangerschaft und Krankheit,
die freie Abtreibungspolitik, die vom Staat bezahlten Kinderkrippen und die selbstverständliche Solidarität der Frauen untereinander. Die Frauen hat die Arbeitslosigkeit der Wiedervereinigung am härtesten getroffen. Die Männer stellen jetzt, wo die Frauen den ganzen Tag gezwungen zu Hause sind, ganz andere Forderungen an sie. Die Frauen sind darüber nicht gerade glücklich. Und die Ehen auch nicht. Immer mehr Ossis fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Weil die Löhne im Osten noch immer unter Westniveau liegen, und sie außerdem anderthalb Stunden pro Woche mehr arbeiten müssen. Weil die Mieten ständig steigen, die sozialen Einrichtungen abnehmen, und die elementaren Lebenshaltungskosten, wie Essen und Kinderkleidung teurer werden. Die Nervenkliniken sind noch immer voll mit Verwirrten, es sind sogar zahlreiche neue Patienten dazugekommen. In der niederländischen Wochenzeitung Vrij Nederland vom 17. Februar 2001 erklärt der Psychiater Munch: »Bei großen und weltumspannenden Umwälzungen wird kaum auf die soziopsychologischen Konsequenzen für das Volk Rücksicht genommen. Aber in diesem Fall haben die Starken im Wende-Prozeß, die Wessis, doch sehr hartherzig gehandelt und die Konsequenzen dieses Prozesses sehr unterschätzt.« Er glaubt, daß mehr als 90 Prozent der Ossis momentan eine ernsthafte psychische Krise durchmacht. Seine Praxis ist voll mit Ostdeutschen, die während des Umbruchs ungefähr 40 Jahre alt waren und nicht in den Vorruhestand geschickt werden konnten. Munch: »Man kann sich nicht vorstellen, wieviel Unrecht bei der Vereinigung der beiden Länder geschehen ist. Ökonomisch betrachtet ähnelte das Ganze mehr einer feindlichen Übernahme. Ossis, die versuchten eine Firma zu gründen, hatten keine Chance.« Die Lehrerin J. befindet sich in der Klinik: »Ich konnte einfach das ganze Elend um mich herum nicht ertragen. Die Eltern der Kinder waren entweder arbeitslos oder schufteten sich halb zu Tode. Seit die staatliche Kinderbetreuung nach der Schule weggefallen ist, treiben sich die Kinder auf der Straße herum. Warum sollen die Kinder überhaupt noch zur Schule? Sie werden später ja sowieso arbeitslos sein.« Sie erzählt, wie ihr Sohn und ihre Tochter eine Firma gründeten, die mit Krankenwagen handelte, mit wunderschönen, immens billigen Krankenwagen. Aber dann kam ein riesiger Konzern aus dem Westen. Ende der Geschichte. Die Ossis mußten sich in den Medien dafür rechtfertigen, daß –> sie sich zu wenig gewehrt haben, –> sie sich zu spät gewehrt haben, –> sie jemals an den Sozialismus geglaubt haben, –> sie noch eine ganze Weile hofften, das System sei verbesserungswürdig, –> sie glaubten, ab und zu doch recht glücklich gewesen zu sein, –> sie alle Spione waren oder Mitläufer, –> viele Täter vorgaben, Opfer gewesen zu sein, –> die DDR eine Diktatur gewesen sei, ähnlich der der Nazis, –> mit denjenigen, die in so einem System glücklich gewesen waren, und sei es auch nur ab und zu, etwas nicht stimmen konnte, –> sie nicht arbeiten wollten, –> sie faul waren, während doch der Westen 40 Jahre lang alles mit eigenen Händen aufgebaut hat, –> sie jetzt davon ganz hübsch profitierten, –> sie keinen Gott hatten, keine Moral und keine Kultur, –> sie falsche Anzüge trugen und keine Lasagne mochten, –> sie jammerten und jammerten und jammerten, –> sie undankbar seien, nach allem, was man für sie getan hat, man denke an das ganze Geld, die Päckchen, die große Aufmerksamkeit, die Ansichtskarten, die Urlaubsdias, für die Onkel
Hans noch extra einen Diaprojektor kaufen mußte. Und daß der Westen sie unter Aufbietung aller Kräfte befreit hat. Und die ganzen Jobs, wie steht es damit? Und ob sie wüßten, was das alles gekostet hat? Und daß ihr ganzes idiotisches, antifaschistisches Getue nur neonazistische Ausländerhasser hervorgebracht hat, so daß der Typus des gräßlichen Deutschen, den wir von früher kennen, jetzt aus dem Osten wieder nach Deutschland einsickert. Auf diese Weise werden die westdeutschen Kriegsverlierer im nachhinein noch zu Siegern erklärt, wird die Diskussion um Gut und Böse einseitig geführt, weil dem Osten die Rolle des Bösen und dem Westen die des Guten zugeteilt wird, und werden die ostdeutschen Kriegsverlierer, die die Hälfte ihres halben Lebens den Russen geopfert haben, zu Verlierern erklärt. Und als solche fühlen sie sich auch. Die politische Diskussion, auch im Osten, wird von Ungenauigkeiten, Chaos, Kalkül und Enttäuschung bestimmt. Manchmal werden dabei 40 Jahre alte Argumente wieder hervorgeholt. Der Wessi glaubt, alles über den Osten zu wissen, dabei waren 80 Prozent der Westbewohner noch nie in der DDR gewesen. Nach der Wende waren es immer noch 40 Prozent. Der ältere Ossi mit Ehefrau sitzt zwischen allen Stühlen, hat keine Arbeit und keinen Anschluß mehr, verteidigt sich nicht mal mehr und zieht sich schon wieder in seine Nische zurück, in die »innere Emigration«: in seine entweder etwas luxuriöser oder noch armseliger gewordene kleine Welt, in sein abgeschlossenes System, in dem er die vielen Jahre der Diktatur überlebt hat. Die Kinder sind schon längst weg. Auch heute noch beobachte ich, wie Ossis vor den 700 Marmeladensorten und den 50 verschiedenen Waschmittelmarken im Kaufhaus des Westens Grimassen ziehen. In der DDR gab es nur drei, weil nach Ansicht der Regierung ein Mensch doch ein bißchen Auswahl haben müsse. Aber gleich 50? Oder gar 700? Wie alt muß man werden, um alle durchprobieren zu können? Regelmäßig werde ich gefragt, wozu diese Masse gut sein soll, denn noch immer herrscht der Glaube, daß im Westen alles seinen tieferen Sinn habe. Inzwischen geht das Gesetz »Rückgabe geht vor Entschädigung«, das den Ossis de facto die legal gekauften und bezahlten Häuser wegnimmt, weiter. Das frühere Unrecht der Enteignung wird mit dem heutigen Unrecht gleicher Art vergolten. Wenn Machiavellis Satz »Menschen vergessen den Mord an ihrem Vater leichter als den Verlust von Besitz« zutrifft, dann müssen wir uns auf einiges gefaßt machen. März 2001 Bei meiner alten Wohnung liegt der Schlüssel nicht an der verabredeten Stelle, also klingle ich bei den Nachbarn. Der Nachbar schaut vorsichtig durch einen Spalt in der Tür, auf der »Warnung vor dem Hund« steht. In der Küche warten wir, mit Hund, auf seine Frau, die, wie wir vermuten, den Schlüssel sicherheitshalber mit zum Einkaufen genommen hat, was in Deutschland Ost übrigens »Einholen« heißt – eine treffsichere Bezeichnung für das Besorgen von Dingen in einer Mangel-Gesellschaft. In der Küche hat sich nichts verändert. Der Kühlschrank ist derselbe, an der Decke löst sich noch immer der Putz. Am Haus wurde nichts getan, weil die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind. Das ist auch der Grund, warum der Nachbar noch in der Wohnung wohnt, die Miete ist nur wenig gestiegen. Außerdem ist der erwachsene Sohn zurückgekehrt, der einen Job hat und die Hälfte der Miete bezahlt. Er ist Kammerjäger, Ungeziefer gibt es schließlich im Osten wie im Westen, also hat er seinen Job behalten. Die elektrischen Leitungen schlagen Funken und Steine bröckeln aus der 100 Jahre alten Wand. Bald wird das Haus renoviert werden, und dann wird die Miete steigen. Dann werden sie wohl ausziehen müssen. Seine Frau wurde in dem Haus geboren.
Im Park vor dem Haus laufen ungezählte Hunde herum. Früher gab es kaum Hunde. Von heute an dürfen Hunde ohne Maulkorb nur noch in die Straßenbahn, wenn sie nicht größer als eine Katze sind. Maulkörbe baumeln locker vor breiten Hundebrustkörben. Viele Berliner halten sich heutzutage Kampfhunde. Die Firma des Nachbarn wurde nach der Wende von einem Wessi übernommen. Sie boten ihm, dem früheren Geschäftsführer, an, im neuen Betrieb als eine Art »Mädchen für alles« weiterzuarbeiten. Da war er 54. Er blieb. Ein paar Jahre später erlitt er einen Schlaganfall. Seither sitzt er zu Hause. Ab und zu machen sie eine Reise, innerhalb Deutschlands, mit dem Bus. Oder eine Seniorenreise, auch mit dem Bus. Ein Auto hatten sie nie, er fühlte sich auf den Straßen nie sicher genug, und im Ausland schon gar nicht. Jetzt ist er 66. Seine Freunde sind alle tot. Ging plötzlich alles so schnell. Seine Frau leitete früher den Kindergarten im Park. Gleich nach der Wende wurde er geschlossen, und sie wurde arbeitslos. Jetzt waren beide zu Hause eingesperrt, sie und der Nachbar, waren sich ausgeliefert, machten sich gegenseitig verrückt. Vor allem sie, gesund und rüstig, hatte unter ihm zu leiden. Um sich aus dem Weg zu gehen, beschloß man, die Einkäufe getrennt voneinander zu erledigen. Erst sie, dann er. Auf diese Weise bringen sie den halben Tag hinter sich. Im Sommer ist es leichter, dann kann er hinaus in den Park. Oder er geht zum Angeln an die Spree. Das Haus liegt so wunderbar zentral. Bald: Lag so wunderbar zentral. Im Haus gegenüber befindet sich jetzt eine Diskothek. Um halb fünf Uhr morgens schließt sie mit knallenden Türen und rücksichtslosen Besuchern. Viel Alkohol und Pillen und so, und natürlich steigen sie in die Autos ein. Wer keins hat, durchquert grölend den Park. So haben sie den Krach von beiden Seiten zu ertragen. Der Park bleibt, das Kinderschwimmbad darin soll renoviert werden. Dann wird dort vermutlich auch laut Popmusik gespielt werden. Die Künstlerateliers und Arbeitsplätze für Bildhauer sind verschwunden, der Kinderspielplatz auch. Es geht meinem früheren Nachbarn nicht schlecht. »Es hat sich nicht viel verändert.« Die Zimmerdecke zu renovieren lohnt sich nicht. Geld haben sie keines, und sie müssen ja sowieso bald weg. Die Frau gibt mir meine Schlüssel, und ich gehe in meine Wohnung. Dies war früher die ruhigste Gegend von Berlin, eine merkwürdige Ostspitze in der Mitte der Stadt, an allen Seiten die Mauer und mittendrin sämtliche Theater. Auf den einstigen Brachflächen, wo die Mauer stand und der Todesstreifen verlief, wurden inzwischen zahlreiche Häuserblöcke errichtet. Sie sind nicht hübsch oder nett, es sind nur viele. Büros, Wohnungen, Restaurants, Kinos und Läden. Ein Stückchen Amerika zwischen dem alten Osten und dem alten Westen. Das Viertel, wo ich wohnte, ist eines der ältesten von Berlin, in ihm liegt die wunderbare Museumsinsel in der Spree, das alte jüdische Viertel, Scheunenviertel genannt, und die Synagoge. Der kleine Park Monbijou, dessen kleines Schloß den letzten Krieg nicht überlebt hat, wie im Grunde vom gesamten Viertel nicht viel übrig war. Aussicht auf den Dom, die Marienkirche und das Rote Rathaus in der Ferne. Das Viertel selbst liegt direkt hinter den Hackeschen Höfen, zwischen den zurückgekehrten jüdischen Restaurants und den vielen neuen Kunstgalerien, die zwar nicht viel verkaufen, aber dafür um so mehr Besucher anlocken. Abends drängeln sich hier die Touristen von Restaurant zu Restaurant. Ich verlasse mein altes Haus und biege in die Ackerstraße ein, den Schauplatz von Fassbinders und Döblins Berlin Alexanderplatz. Man spürt hier noch die Armut der beiden Weltkriege, den Währungsverfall der Weimarer Republik, das Berlin der 20er Jahre spiegelt sich in den Gesichtern. Ich mag dieses Berlin, dieses alte Berlin, das jetzt die »Neue Mitte« heißt und
eigentlich die Alte Mitte ist. Inzwischen ist ein jüdisches Disneyland draus geworden, worüber man sich endlos ärgern könnte, aber es ist der einzige Teil Berlins, wo ich wirklich zu Hause war und wohin ich noch immer gern zurückkehre. Nach einem stundenlangen Spaziergang durch die Straßen von früher und noch viel früher, durch Staub und an Schutthalden des Wiederaufbaus vorbei, durch Orte der Renovierung und des Neubaus, mit dem gerade erst so richtig angefangen wurde. Hier ist noch alles unvollendet, ich stoße auf ein Stück Brache, wo ich plötzlich einen Gips-Vopo über mir und einen Gips-Vopo vor mir zwischen ein paar echten Schafen entdecke. Sie starren gemeinsam auf ein unerwartet sich erhebendes, vergessenes Stück Mauer. Wo ist jetzt nur der Westen und wo der Osten? Ich habe mein Orientierungsgefühl verloren. Ich bin nicht die einzige, viele fragen mich nach dem Weg, mich, die ich die Gegend doch eigentlich gut kennen müßte. Schließlich wende ich mich nach Osten und komme an dem bewachten jüdischen Friedhof an der Oranienburgerstraße vorbei, und sofort zeigt sich der Verfall wieder in angenehmer Weise, die Kugellöcher werden wieder sichtbar. Eine Mutter streitet sich laut mit ihrem Sohn, sie sind sich uneinig über den Preis einer Jacke, nein, sie streiten sich nicht, wie es früher üblich war, über den Sozialismus oder über das, was der Lehrer gesagt hatte. Ab und zu sieht man Schilder, auf denen »Denkmal« steht. Zum Glück läßt die moderne Zeit die Finger davon, mit ihrer Eile und ihrer »Als-ob-nichts-passiertist-Farbe«. Den alten Uhrmachermeister gibt es noch. Er hat jetzt eine Alarmanlage. Vor der Tür steht ein Trabant und ein Mercedes. Ich schaue in den Laden und meine, den Sohn hinter der Theke zu sehen. Wo früher der Metzger war, ist jetzt eine Pizzeria, und im Gemüsegeschäft ein Café. »Ach«, sagt eine ältere Dame, der ich gerade den Weg gewiesen habe, »die Buchhandlung ist ja auch weg.« »Ja«, antworte ich, »es war eine christliche Buchhandlung, und die braucht das Land nicht mehr.« Sie lächelt. »Buchhandlungen im allgemeinen wohl nicht«, sagt sie und geht Richtung Synagoge davon. Aus dem Nichts ist ein kleines Hotel erstanden, die Filmförderungsgesellschaft befindet sich jetzt im alten DEFA-Gebäude. Vor Kälte zitternd lande ich schließlich bei ›Oren‹, dem jüdischen Restaurant, wo ich beinahe jeden Abend esse. Hier herrschen Wärme und Frieden. Kein Kunststück bei sechs Grad unter Null draußen und einem Panzer voller Polizeibeamter vor der Tür. Jüdische Lieder dringen aus den Lautsprechern, fröhliche. Ich versinke in die deutsche Vergangenheit des Viertels und genieße meinen Cappuccino. Dann mache ich mich wieder auf den Weg. Im Hilton auf dem Gendarmenmarkt trinke ich mein Frühstück, um mich herum Stapel gerade erworbener Bücher. In der Buchhandlung und an der Theaterkasse wird meine Kreditkarte inzwischen problemlos akzeptiert, was mich dazu verleitet, mir wieder eine der teuersten Opernkarten zu kaufen. Ganze 60 Mark muß ich bezahlen. Ein kleiner Junge schenkt mir die Berliner Zeitung. Die alten Stars der Ostberliner Theater, so lese ich darin, sind heutzutage bei den kommerziellen Theatern engagiert und erklären, daß das »phantastisch« sei. Freiwillig sind sie dort bestimmt nicht gelandet. Sie wurden von ihren alten Staats- und Stadttheatern entlassen, weil es für ein Westtheater viel zu teuer war, die alten Stars weiter zu behalten. Aber das sagen die Stars der alten Garde nicht laut. Sie haben die neue Art der Selbstpropaganda einfach in ihr Repertoire aufgenommen: Es geht mir gut, gut, gut! Wer sich beklagt, ist ein Versager, und Unglück gibt es nicht, außer man hat Krebs, den man übrigens überwindet und danach schreibt man ein Buch drüber. Die Klagemauer in den Köpfen muß eingerissen werden, fordern die Grünen. Bundestagspräsident Thierse (aus dem Osten) warnt in der Zeitung davor, daß der Aufbau Ost ins Wanken gerät. Solche Äußerungen seien übertrieben und »wenig konstruktiv«, sagen andere. Darf also auch nicht mehr gesagt werden. »Die PDS bestärkt das negatives Selbstbild«. Also muß es zerschlagen werden. »Das Privateigentum wird das Land retten, nicht der Staat«, behauptet meine Gratis-BZ.
»Der Westen hat ihnen schon so viel bezahlt, jetzt müssen sie mal selber die Initiative ergreifen.« Daß die Subventionen aus dem Westen in den Sozialleistungen versickern, also dem Untergang und nicht dem Aufbau zukommen, dürfen nur die Kabarettisten laut sagen. Und wer hört schon auf die, nachdem ihm das Lachen vergangen ist? In der Lounge des Hiltons sehe ich nur weiße Gesichter. Die höfliche Konversation vermischt sich mit dem Plätschern des Springbrunnens, mit Kaffeeduft und dem Klirren von Eiswürfeln. Ein Wodka kostet elf Mark. In der Hotelhalle beobachte ich zwei Ehepaare. Keine Hotelgäste. »Diese Preise!« stöhnen sie und starren auf die Karte. »Mein Gott, diese Preise!« Sie bestellen nichts, sitzen nur still in den luxuriösen Sesseln. In ihren Mänteln. Sitzen ganz vorn auf dem Sesselrand, in Startposition. DDR im Wessiland. In der Ackerhalle, den »kleinen Hallen von Berlin«, ehemals ein offener Marktplatz, der jetzt überdacht ist und somit zum Treffpunkt für Obdachlose und Illegale geworden ist, kann man sich prima die Zeit vertreiben. Hier ist es warm, und die Gesichter der Männer zeugen wie überall an solchen Orten von ausgiebigem Alkoholkonsum und überschüssiger Kraft. Wodka trinkt man hier flaschenweise. Um die Ecke liegt eine irische Kneipe, wo ich mich aufwärme. An der Bar eine Gruppe Männer. Es ist noch nicht Mittag, und die Atmosphäre ist gemütlich. Die Männer machen einen auf Ossi-Wessi, aber auf eine freundliche Art. Es sind Arbeitskollegen, die gerade Pause machen. Sie schreien sich an; unterhalten sich herrenmäßig über Politik. Sie halten mich, ohne mich fest zu halten. Einer küßt mir mit weißstaubigen Lippen die Hand. Würde ich hier wohnen, wäre das hier sicher meine Stammkneipe. In ihrem lauten Umgangston, den ich früher für typisch deutsch hielt, erkenne ich inzwischen auch das Geschrei aus den Amsterdamer Marktvierteln. Ich bin wieder zu Hause. Am Abend sind wir in der Oper, die Frau hinter uns sagt: »Nächste Woche wird das Stück wieder gespielt, dann gehe ich nochmal hin.« Ich denke über den Satz nach. Drückt er nun ein tiefes kulturelles Bedürfnis aus oder große Begeisterungsfähigkeit? Oder will sie zeigen, bei den teuren Karten hier, wo die Plätze für viele andere Leute unbezahlbar geworden sind, daß sie es sich leisten kann. Aus den Gesichtern um sie herum lese ich letzteres. Wessi-Ossi? Ich möchte in einem schicken Restaurant einen Tisch haben. »Keine Chance«, sagt der Ober laut und klappt das Reservierungsbuch vor meiner Nase zu. Das würde ein Niederländer nie tun, der würde sagen: »Es tut mir furchtbar leid, meine Hübsche, aber für heute abend sind wir leider voll. Kann ich Ihnen für morgen etwas reservieren?« Und ein Westdeutscher? Denn ich halte den unfreundlichen Herrn sofort für einen Ostdeutschen, was würde ein Westdeutscher sagen? Wundersamerweise höre ich, wie ich meiner Begleitung erkläre, daß es für den Mann lästig sein müsse, den Leuten ständig nein sagen zu müssen, und das seit 40 Jahren und da müsse man ja so werden. Ich selber bin also auch nicht gefeit vor den hier kursierenden, ansteckenden Unsitten. So wird es natürlich nie was mit dem Aufschwung Ost. Warum gibt es für ostdeutsche Restaurantbedienstete keine westlichen Ausbildungskurse? Vor meinem geistigen Auge ersteht sofort ein Institut, mir eröffnet sich in Berlin eine neue Berufskarriere. So was habe ich öfter, vor allem wenn ich eine Oper und zwei Drinks intus habe. Kurze Zeit später sitzen wir in »Die zwölf Apostel«, ein großes italienisches Restaurant unter der ehemaligen S-Bahn-Trasse zwischen Ost- und Westberlin. Mein alter Holland-Express donnert wie ein Gewitter über uns hinweg. In vier großen Sälen sitzen viele junge Leute und essen und lachen. Sie lachen viel und fröhlich. Man kann sich hier kaum ein Ost-West-Gespräch der alten Art vorstellen. Hier findet sich nur eine Art Mensch, hört man nur eine Art Gelächter. Wo kommen all die jungen Leute nur her, wo wohnen sie? Nicht in der Gegend, denn es gibt hier nur
wenige Wohnhäuser. Außer meiner früheren Wohnung. Keine Fahrräder. Keine Parkplätze. Nur den Zug. Hier sitze ich, vollkommen zufrieden! Mein erster wirklich glaubwürdiger Eindruck von Einheit in knapp zehn Jahren. Die Stadt draußen ist still und leer. Schön dunkel, die Autos weit weg. Eine merkwürdige Stadt, sagen meine Freunde. Stimmt, antworte ich.
Im Mai 2001 stolperte die große Koalition, die Berlin 15 Jahre lang regiert hatte, über einen Banken- und Betrugsskandal. Die SPD, obwohl Teil der Koalition, hatte ihre Finger im Spiel. Die PDS schaute wohlwollend zu. Der Sozialdemokrat Klaus Wowereit wurde designierter Bürgermeister von Berlin, neue Wahlen waren angesagt. Seine Antrittsrede wurde höflich beklatscht. Doch als er sie mit den Worten »Ich bin schwul. Und das ist gut so« beendete, erhob sich tosender Applaus. Von diesem Moment an herrschte Wahlkampf. Die CDU stellte einen gewissen Frank Steffel als Nachfolger Eberhard Diepgens auf, der jahrelang regierender Bürgermeister von Berlin gewesen war und dabei wohl in so manchen Interessenkonflikt geriet. Der Spiegel nannte Steffel einen Teppichgebrauchtwarenhändler. Dieser Steffel hatte in jungen Jahren Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder einer Behinderung schon mal »Bimbos« oder »Mongos« genannt, und als Angela Merkel und Edmund Stoiber sich mit wahrem Heldenmut zum ersten Mal in zwölf Jahren nach Ostberlin wagten und auf dem Alexanderplatz mit Eiern beworfen wurden (einem Dutzend), da duckte sich Steffel hinter dem aufrecht bleibenden Stoiber, was das schönste Pressefoto des Jahres ergab. Und dann sagte er auch noch öffentlich, daß er München für die schönste Stadt Europas halte, was die Berliner naturgemäß nicht besonders gern hörten. Drei Monate später wurde Klaus Wowereit regierender Bürgermeister von Berlin. »Wowi« arbeitete sich zum Knuddelbär Berlins hoch. Er tanzte die Nächte durch, trank Champagner aus Stilettos, wurde Präsident des Bundesrats, also zum zweiten Mann im Staat, und trat mit seiner lauten Losung »Berlin bewegen!« in aller Ruhe die Wahlen an. Gregor Gysi von der PDS verkündete, ebenfalls gern Bürgermeister von Berlin werden zu wollen und schlich sich damit unter allgemeinem Hohngelächter durch die Hintertür wieder in die Politik hinein, die er doch nicht lange vorher mit lauten Getöse verlassen hatte. Am 21. Oktober 2001 kam ich also anläßlich der Wahl nach Berlin. Nach den Anschlägen in New York war die Stimmung in der Stadt angespannt. Verrückt vor Angst leitete die Berliner Obrigkeit das Wahlvolk wie Raubtiere zwischen Metallgittern durch die Stadt. Die Panzer im alten jüdischen Viertel waren ein harmloser Anblick dagegen. Rasch besuchte ich noch eine reizende Aufführung von »Carmen« unter der Regie von Harry Kupfer, denn wählen gehe ich selten zum Vergnügen. Auf der Bühne sah ich, wie Carmen an einem Feuerwehrhydranten vorbei auf die Bühne stürzte, sah einen Matador, der wie eine Puppe angezogen war, und den Liebhaber, den ewigen Feigling, wie er mit seiner Carmen irr vor Verlangen über die Bühne rollte, daß es ihnen vor Lust fast den Atem verschlug. Gönnte mir noch einen Drink, für diesmal 21 Mark, und ging zum Festzelt der Grünen, die den Mut hatten, Unter den Linden zu feiern. Nur gab es nicht viel zu feiern. Still saßen sie in freundlicher Niedergeschlagenheit herum.
Ich durchquerte das Partyzelt der PDS vor dem Roten Rathaus, wo man sich nicht mal anmelden mußte. Vor dem Zelt brannte ein Feuer, es gab Buden, die Che-Guevara-T-Shirts verkauften und Kugelschreiber mit Gysis Konterfei und dem Text »Den Kopf hoch, nicht die Hände.« Die Stimmung war glänzend, das Bier floß reichlich und in echten Gläsern. Die Anwesenden waren jeden Alters, vor mir auf einem Tisch stand ein Punk mit Irokesenschnitt, alte Kommunisten mit Gehstöcken drängelten sich durchs Jungvolk, jeder machte dem anderen fröhlich und höflich Platz. Die Spannung stieg: Die Wahlergebnisse wurden vorgelesen. Die PDSler waren nicht nur froh mit ihrer Steigerung auf 22,6 Prozent, sondern bei jedem weiteren Prozent Stimmenverlust der CDU, die die letzten Wahlen noch haushoch gewonnen hatte, erhob sich ein wahres Jubelgeschrei. Das geschah auch bei jedem Wahlbezirk der Stadt, in dem die Rechtsextremen verloren. Die großen Gewinne der PDS im Osten der Stadt, die manchmal über 50 Prozent lagen, waren zwar ein Grund zur Freude, doch das Gebrüll galt vor allem den Verlusten der CDU im Osten und den Zugewinnen der PDS im Westen. Fast überall überschritten sie die Grenze von fünf Prozent, manchmal erreichten sie sogar 10 oder 20 Prozent. Luftsprünge, Jubel, Umarmungen, jung und alt gemischt. Ich verließ langsam das Zelt und kaufte mir einen Gysi-Kugelschreiber. Plötzlich erhob sich hinter mir Gebrüll. Ich rannte zurück. Gysi war gekommen. Seine Rede hielt er müde, aber mit großer Überzeugungskraft. Die Menschen jubelten ihm zu, und er dankte ihnen allen. Denn vor allem, so sagte er, haben wir bewiesen, daß wir stark sind, und daß wir dazugehören. Jetzt können sie uns nicht mehr übersehen, wir haben gezeigt, daß wir die Kraft haben, uns an der Regierung zu beteiligen. Ich dachte: Sollte sich das bewahrheiten, dann ist der Kalte Krieg endgültig vorbei. Und verschwand im Gewühl der Stadt. Am nächsten Tag beschloß die SPD, die mit 36 Prozent die Wahlen gewonnen hatte, auf dringendes Anraten Schröders, Koalitionsgespräche mit der FDP und den Grünen für eine sogenannte »Ampelkoalition« aufzunehmen. Die PDS war tief enttäuscht: Wir sind wieder nichts wert, sagten sie. Auf uns hört keiner. Die PDS war für viele noch identisch mit der alten kommunistischen Partei. Aber bei den Jungwählern war sie die beliebteste Partei gewesen. Im Dezember scheiterten die Koalitionsgespräche für die Ampelkoalition, und die rot-roten Verhandlungen begannen. Am 7. Januar konnten sich die Parteien auf ein Regierungsprogramm einigen. Am 8. Januar 2002 stand in den Zeitungen zu lesen: »Zwölf Jahre nach der deutschen Einheit bilden SPD und PDS in Berlin eine Koalition, obwohl man weiß, daß jede Politik für Berlin Rücksicht auf die zahllosen Schicksale aus den Zeiten nehmen muß, als die Stadt noch geteilt war.« Es folgte eine heftige Abrechnung mit der Mauer und der menschenverachtenden Politik. Der Artikel endet mit: »SPD und PDS wissen die große Rolle der Menschen aus dem ehemaligen Osten der Stadt zu würdigen, die diese bei der Wiedervereinigung gespielt haben. Jetzt müssen die Bedingungen für den endgültigen Vollzug der Einheit geschaffen werden, die in der Chancengleichheit für Ost und West und im größeren Respekt für die sozialen und kulturellen Leistungen der Bewohner der DDR liegen.« So könnte eine neue Geschichte beginnen.
Ostdeutscher Lebenslauf von Cox Habbema 1967
Beendigung der Schauspielschule Amsterdam, Studienreise mit der Abschlußklasse zum Berliner Ensemble in Ostberlin.
1968/69 Einige Zeit bei der Theatergruppe Centrum tätig; Regieausbildung, währenddessen Praktika bei Peter Brooks in London, Giorgio Strehler in Mailand, Planchon in Lyon und Paris. Es folgt ein Praktikum bei Benno Besson in Ostberlin. Während des mehrmonatigen Aufenthalts in Berlin Nebenverdienst als Model und als Schauspielerin in Rainer Simons DEFA-Film Wie heiratet man einen König? Der Film wird um ein Haar verboten. 1969/70 Vertrag mit der niederländischen Theatergruppe Toneelgroep Centrum. Heirat mit einem ostdeutschen Schauspieler.
1971 Rückkehr nach Berlin, erste Rolle beim Deutschen Theater in My very own and golden city (Goldene Städte) von Arnold Wesker. Verschiedene Rollen in Filmen und Fernsehspielen, Tätigkeit als Regisseurin fürs Theater und Fernsehen, Arbeit mit Studenten der Theaterschule, übernimmt die Rolle der Elsa im Drachen in der Inszenierung von Benno Besson. Mitglied des Deutschen Theaters, dort 1980 erste Regiearbeit. Engagements bei der Deutschen Staatsoper und der Komischen Oper. Pendelt zwischen den Niederlanden, Deutschland, Berlin (Ost und West), Frankreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, Bulgarien und der Sowjetunion hin und her. 1976 Arbeitsverbot nach Biermanns Ausbürgerung, die Engagements bleiben aus. Das Deutsche Theater entläßt sie jedoch nicht. Arbeit bei einer Westberliner Frauentruppe, Übersetzungen, Gesangsunterricht, Aufstellung eines eigenen Programms für die DDR. Auftritte in den großen deutschen Kabaretts von Dresden und Leipzig, Ankauf eines Campingbusses in den Niederlanden, Gründung einer kleinen Theatergesellschaft. Nach mehreren Rollen in Theaterstücken von Peter Hacks und einigen Inszenierungen von dessen Stücken schenkt der Autor ihr das Stück Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Das Stück ist für drei Schauspieler, die sich dreißig Rollen teilen. Riesenerfolg am Deutschen Theater. Auf Einladung mehrerer Theaterdirektoren Reise der Schauspieltruppe kreuz und quer durchs Land, Reklame und Programmhefte sind aufgrund eines Verbots unmöglich. Angebot einer Anstellung am Ostberliner Theater Im Palast, das von der Schauspielerin Vera Oelschlägel geleitet wird. An diesem Theater in Zusammenarbeit mit dem Ehemann Eberhard Esche zahlreiche weitere Inszenierungen, mit großem Erfolg. Regieaufträge auch in den Niederlanden, Rollen bei Film und Fernsehen.
1983 Während der letzten Regiearbeit eines sehr politischen Stückes, Frischs Biedermann und die Brandstifter, Tod zweier guter Freunde. Schmerzliche Umbesetzungen, faßt während des Premierenapplauses den Entschluß, das Angebot des niederländischen Fernsehsenders NOS als Direktorin der Abteilung Drama zu arbeiten, anzunehmen. Neben der Arbeit bei der NOS, Leitung des Kulturprogramms Nederland C, Rolle in Marleen Gorris Film De stilte van Christine
M (Das Schweigen der Christine M.) und Übernahme der Leitung der Theatergruppe Poesie Hardop. Drei Jahre später Intendantin des Amsterdamer Stadttheaters, der Stadsschouwburg. Der Vertrag mit dem Deutschen Theater bleibt bis zum Fall der Mauer bestehen. Enge Verbundenheit mit diesem Theater bis zum heutigen Tag. Historisches Nach dem Zweiten Weltkrieg Ost- und Westberlin werden geteilt. Der Ostteil befindet sich in den Händen der Sowjet-Union. Das Land rund um Berlin auch. Westberlin wird von den Franzosen, Engländern und Amerikanern regiert. Die zwischen beiden Teilen verlaufende Grenze ist anfangs leicht zu überwinden: Ostberliner gehen abends nach Westberlin ins Kino. Der westliche Teil wird mit Hilfe des Marshallplans wiederaufgebaut, der Osten wird von den Russen geplündert, um dem eigenen von den Deutschen verwüsteten Land wieder auf die Beine zu helfen. Kriegsgefangene, die technisch oder handwerklich versiert waren, wurden jahrelang in der Sowjetunion festgehalten. Der Ostteil Deutschlands verfügt kaum über Ressourcen. Es findet ein enormer »Braindrain« statt. Millionen Ostdeutsche verlassen ihre Heimat.
Juni 1953 Aufstand in Ostberlin. Es gibt Tote. Die Unterstützung aus dem Westen erschöpft sich in Worten. Juni 1961 Walter Ulbricht versichert der Welt, daß keiner die Absicht habe, eine Mauer zu bauen. 13. August 1961 Beginn des Mauerbaus. 24. August 1961 Ein Mann wird bei einem Fluchtversuch erschossen. Er ist der erste Mauertote. 27. Oktober 1961 Konfrontation zwischen Russen und Amerikanern. Am Grenzübergang Checkpoint Charlie stehen sich die Panzer gegenüber. Juni 1962 Der »Todesstreifen« mit Hunden und Selbstschußanlagen zwischen der ersten und der inzwischen dahinter erbauten zweiten Mauer wird eingerichtet. 26. Juni 1962 John F. Kennedy ruft in Berlin aus: »Ich bin ein Berliner.« Dezember 1963 Westberliner erhalten die Erlaubnis, in Ostberlin Familienangehörige und Freunde zu besuchen. Es kommt zu einer Passierscheinregelung.
1968 Die Mauer wird betoniert und »perfektioniert«. 27. Juni 1968 Die 2000 Worte der Charta 77 in der Tschechoslowakei werden veröffentlicht. 21. August 1968 Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts beenden den »Prager Frühling«. 1971 Es kommt zu einer Besuchsregelung zwischen Ost und West. Direkter Telefonverkehr ist wieder möglich. Ulbricht wird abgesetzt. Honecker tritt die Nachfolge an. 1973 Helsinki und die Menschenrechtserklärung. November 1976 Ausbürgerung Wolf Biermanns. Oktober 1977 Demonstration auf dem Ostberliner Alexanderplatz. Es gibt drei Todesopfer. 1985 M. S. Gorbatschow kommt an die Macht. Glasnost und Perestrojka beenden die sogenannte Breschnew-Doktrin. Februar 1989 An der Mauer stirbt das letzte Fluchtopfer. 7. Oktober 1989 Das 40jährige Jubiläum der Gründung der DDR wird feierlich begangen. 9. Oktober 1989 Im Aschluß an ein Friedensgebet in der Nikolaikirche demonstrieren 70 000 Menschen in Leipzig und fordern unter der Parole »Wir sind das Volk« Demokratie und freie Wahlen. 18. Oktober 1989 Aus der Regierung Honecker wird die Regierung Krenz. 4. November 1989 Große Demonstration auf dem Alexanderplatz. Diejenigen, die an eine neue Zukunft der DDR glauben, ergreifen das Wort. Die Ewiggestrigen auch. 9. November 1989 Die Mauer fällt, nachdem im Fernsehen ein Zettel über die zukünftigen Reiseregelungen vorgelesen wird.
3. Oktober 1990 Wiedervereinigung Deutschlands.
Wer ist wer und was ist was?
Schabowski, Günter: *1929. SED-Funktionär, Mitglied des Politbüros, Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin. Er las im Fernsehen den Bericht über die neuen Reisemöglichkeiten vor und öffnete auf diese Weise die Mauer. Vopo: Volkspolizei. Schädlich, Hans Joachim: *1935. Ostdeutscher Schriftsteller. Seine Bücher waren in der DDR verboten. 1977 Ausreise in die BRD. 1986 Tallhover, Roman über den »ewigen Spitzel«. IM: Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die Partei: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), Staatspartei der DDR. Gorbatschow, Michail Sergejewitsch (Gorbi): *1931. 1985–1991 Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets. Honecker, Erich (Honni): 1912–1994. Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Schalck-Golodkowski, Alexander: *1932. Leiter des Bereichs »Kommerzielle Koordinierung« (»Koko«). Vogel, Wolfgang: *1925. Rechtsanwalt. Sorgte für die Ausreise von mehr als 250 000 DDR-Bürgern nach Westdeutschland, er kaufte 33 775 Gefangene frei, sorgte für den Austausch von 150 Spionen und Agenten, wie zum Beispiel der Tausch des Amerikaners Powells gegen Rudolf Abel und Günter Guillaume. Wurde von seinen eigenen Mandanten verklagt, mit Hilfe der katholischen Kirche wieder freigelassen, um danach erneut verurteilt und erneut freigesprochen zu werden. Wolf, Markus (Mischa):
*1923. Stellvertretender Minister der Staatssicherheit bis 1985, Bruder von Konrad Wolf, dem Filmregisseur und Präsidenten der Akademie der Künste. Während des Zweiten Weltkriegs nach Moskau emigriert. Die Brüder Wolf zogen 1945 mit der russischen Armee in Deutschland ein. Konny war achtzehn und dolmetschte für die russische Armee, Mischa, zwanzig, war Sprecher am »Deutschen Volkssender« in Moskau. Sie eroberten, mit den Russen, Meter für Meter Deutschland und die Lager. Konny drehte über die Erfahrungen jener Zeit viel später den Film »Ich war neunzehn«. Mischa war Journalist bei den Nürnberger Prozessen. Er wurde 1993 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, wurde 1995 freigelassen. Wurde erneut verurteilt. Konny starb 1982. Modrow, Hans: *1928. Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED, Dresden. 1989 bis März 1990 Vorsitzender des Ministerrats. Angeklagt wegen Wahlfälschung und für schuldig befunden. Erhielt eine Verwarnung und eine Geldstrafe. 1990 Ehrenvorsitzender der PDS. 1999 Europäisches Parlament. Hacks, Peter: 1928–2003. Deutscher Dichter. In der DDR viele Jahre verboten. Danach jahrelang der am häufigsten gespielte Theaterautor in Ost und West. Gysi, Gregor: *1948. Rechtsanwalt. Verteidigte Robert Havemann, Rudolf Bahro und andere Dissidenten. Vertrat 1989/1990 die SED-PDS am Zentralen Runden Tisch. Wird Vorsitzender der SED-PDS und später der PDS. Angeklagt und wieder angeklagt. Nicht verurteilt. Tritt ab und während der Wahlen in Berlin wieder an. Wirtschaftssenator in Berlin und erneuter Rücktritt wegen »Flugmeilenaffäre«. NPD: Nationaldemokratische Partei Deutschlands. Rechtsradikale Partei. Distel: Berühmtes Berliner Kabarett. Erstes Profikabarett der DDR. Wende: Die Umwälzungen nach dem Mauerfall. Potsdamer Platz: Großer und berühmter Platz im Zentrum Berlins. Quer über ihn verlief die Mauer. Inzwischen, nach dem Abbruch der Mauer, sehr modern wiedererrichtet und erneut zum Zentrum Berlins erklärt. »Das nie fertig war und nie fertig werden …«: Ewiger Ausspruch über Berlin, von dem jeder, der ihn kennt, behauptet, er stamme aus einer anderen Quelle. Ulbricht, Walter:
1893–1973. Erster Sekretär des ZK der SED, Vorsitzender des Staatsrates vor Honecker (bis 1971) und von diesem zum Rücktritt gezwungen. Biermann, Wolf: *1936. 1953 Übersiedelung in die DDR. Lange verbotener Sänger/ Dichter in der DDR. 1976 Ausbürgerung während einer Tournee durch Westdeutschland. Ampelmännchen: Bezeichnung für die Sinnbilder der Fußgängerampeln in der DDR. Die roten Ampelmännchen streckten die Arme seitlich aus und signalisierten somit die Aufforderung »Halt«, die grünen Ampelmännchen waren von der Seite aus zu sehen und gingen. Das war die Aufforderung zum Überqueren der Straße. ZK: Zentralkomitee, höchstes gewähltes Gremium der SED, wählte Politbüro und Generalsekretär, die die höchste Macht innehatten. KoKo: Kommerzielle Koordinierung. Seit 1966 Bereich im Ministerium für Außenhandel der DDR, dessen Aufgabe die Beschaffung von Devisen war. Mit den Geschäften der KoKo hoffte die DDR-Führung der ständig wachsenden Auslandsverschuldung zu begegnen. Mittag, Günter: 1926–1994. Mitglied des Politbüros. Vor allem für Wirtschaftsfragen zuständig. 1991 angeklagt. Wegen Krankheit (Diabetes u. a.) verhandlungsunfähig. Böll, Heinrich: 1917–1985. Westdeutscher Schriftsteller. 17. Juni 1953: DDR: Aufstand der Bevölkerung gegen das Regime. Krenz, Egon: *1937. 1989 Nachfolger Honeckers als Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR. 1990 aus der SED-PDS ausgeschlossen. 1997 wegen Totschlags und Mitverantwortung angeklagt. Zu sechseinhalb Jahren verurteilt. Im September 2003 entlassen.
Mielke, Erich: 1907–2000. Mitglied des Politbüros des ZK der SED. Minister für Staatssicherheit. Aufgrund eines Mordes im Jahr 1931 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Haftverschonung aus Krankheitsgründen. 2000 in einem Altersheim in Berlin gestorben. Thälmann, Ernst: 1886–1944. Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Von den Nazis 1944 im KZ Buchenwald ermordet. 1958 in der DDR Gründung der »Pionierorganisation Ernst Thälmann« als Massenorganisation für Kinder.
Karl Liebknecht: 1871–1919. Zunächst Reichstagsabgeordneter der SPD, stimmt zu Beginn des Ersten Weltkriegs als einziger gegen die Bewilligung der Kriegskredite. Mitbegründer der KPD, zusammen mit Rosa Luxemburg, deren Leiche in den Landwehrkanal geworfen wurde, 1919 ermordet. Heym, Stefan (Helmut Flieg): 1913–2001. Deutscher Schriftsteller (Kreuzfahrer von heute, König David Bericht, Collin u. v. a.). Nach dem Krieg in die DDR zurückgekehrt. Scharfer Kritiker der SED-Politik. 1994 auf der Liste der PDS, ohne Mitglied zu sein, Abgeordneter des Bundestags und dessen Alterspräsident. 1995 Amt aus Protest niedergelegt. Ehrenpräsident des PEN. Harich, Wolfgang: 1923–1995. Philosoph und Publizist. 1956 nach den Schauprozessen zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. 1964 Amnestie. 1990 vollständige Rehabilitierung. Janka, Walter: 1914–1994. KPD–SED–PDS. Leiter des Aufbau-Verlags. 1957 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wegen Bildung einer »konterrevolutionären Gruppe«. Saß bis 1960 in der Haftanstalt Bautzen ein, wurde nach internationalen Protesten freigelassen. Im Oktober 1989 lasen Schauspieler des Deutschen Theaters in Berlin seine Memoiren vor, die zu großen deutschen und internationalen Protesten gegen die SED führten. 1990 Rehabilitation. Fuchs, Jürgen: 1950–1999. Bürgerrechtler, Schriftsteller. Nach seinem »Biermann-Protest« zu neun Monaten Haft in Hohenschönhausen verurteilt. Pannach, Gerulf: 1948–1998. Liedermacher. 1976 Biermann-Protest, Arrest. 1977 nach Westdeutschland abgeschoben. Bahro, Rudolf: 1935–1997. Verfasste 1973–1976 das Manuskript »Die Alternative«. Nachdem Auszüge daraus im Spiegel veröffentlicht wurden, wurde er 1977 wegen Spionage zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. 1979 nach internationalen Protesten freigelassen und nach Westdeutschland ausgewiesen. Stolpe, Manfred: *1936. Kirchenrechtler. Konsistorium Berlin-Brandenburg, 1990 Ministerpräsident von Brandenburg, Bundesminister, 1992–1994 Ermittlungen, ob er Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit unterhielt. Nicht verurteilt. Gaus, Günter: *1929. Journalist. Chefredakteur des Spiegel, von 1972 bis 1981 erster Vertreter der Bundesrepublik in der DDR. Staatssekretär, Schriftsteller, Fernsehinterviewer.