Norbert Henze | Günter Last Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlich-technische Studiengänge
Norbert Henze | Günter Last
Mathematik für Wirtschaftsingenieure
und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge Band 2 Analysis im IRn, Lineare Algebra, Hilberträume, Fourieranalyse, Differentialgleichungen, Stochastik 2., überarbeitete Auflage
STUDIUM
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Prof. Dr. Norbert Henze
[email protected] Prof. Dr. Günter Last
[email protected] Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Institut für Stochastik Kaiserstr. 89-93 76131 Karlsruhe
1. Auflage 2004 2., überarbeitete Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Vieweg +Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Ulrike Schmickler-Hirzebruch Vieweg+Teubner Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.viewegteubner.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-8348-1441-8
Vorwort Dieses Buch ist der zweite Teil einer zweib¨andigen Einf¨ uhrung in die H¨ ohere Mathematik. Behandelt werden die mehrdimensionale Analysis, das Riemannsche Integral im Rn , Determinanten und Volumenberechnung, normierte R¨ aume und Hilbertr¨aume, Eigenwerte und ihre Anwendungen, das Lebesguesche und das allgemeine Integral, die Fourieranalyse, Differentialgleichungen und die Stochastik. Beide Teile zusammen decken eine viersemestrige mathematische Grundausbildung ab, wie sie etwa den Studierenden der Fachrichtung Wirtschaftsingenieurwesen am Karlsruher Institut f¨ ur Technologie (KIT) vermittelt wird. Das Buch ist aber gleichermaßen f¨ ur Studierende aller Studieng¨ ange geeignet, f¨ ur die eine fundierte, systematische und nachhaltige mathematische Ausbildung, sei es in Diplom- oder Bachelor-Studieng¨angen, integraler Bestandteil des Studiums ist. Dazu geh¨oren viele naturwissenschaftlich-technische Studieng¨ ange (Ingenieurwesen, Physik, Chemie), die Informatik sowie die Wirtschafts- und die Technomathematik. Selbst Studierende der Mathematik sollten das Buch mit Gewinn lesen. Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Mathematik eine Schl¨ usselrolle f¨ ur die Weiterentwicklung sowohl der Natur- als auch der Ingenieurwissenschaften und der Informatik einnimmt und damit ein entscheidender Motor des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts f¨ ur eine sich im globalen Wettbewerb befindliche Gesellschaft darstellt. Aus diesem Grund steht wie schon in Band 1 auch in diesem Buch nicht nur die Vermittlung reines Faktenwissens im Vordergrund. Derartige, oft nur rezeptartig aufgenommene Kenntnisse tragen nicht weit. Nur mit dem zunehmenden Verst¨andnis der zahlreichen innermathematischen Verbindungen sowie konkreter Anwendungen wird das erworbene mathematische Wissen gefestigt, lebendig und fruchtbar. Den Beweisen der mathematischen Resultate kommt somit eine besondere Bedeutung zu. Erst ein Begreifen“ der in den Beweisf¨ uhrungen zutage tretenden ” vielf¨altigen Probleml¨osungsstrategien erlaubt es, bekannte mathematische Verfahren sinnvoll anzuwenden oder, falls erforderlich, sogar selbst¨ andig kreativ modellbildend t¨atig zu werden. Diesem Credo verpflichtet haben wir keine voneinander getrennten Schubla” den“ wie Analysis“ und Lineare Algebra“ aufgemacht, sondern einen integrati” ” ven, strukturierten Aufbau mit zum Teil relativ kleinen Modulen gew¨ ahlt. Dem Leser sei w¨armstens empfohlen, aktiv mitzuarbeiten und ab und zu auch einmal Papier und Bleistift zur Hand zu nehmen, um einige Argumentationsketten noch ausf¨ uhrlicher nachzuvollziehen. Obwohl die Darstellung im Vergleich zu rein mathematischen Lehrb¨ uchern weniger spezialisiert und abstrakt ist, werden alle wesentlichen Beweise vollst¨ andig
vi gef¨ uhrt. Abschnitte, deren Darstellung vergleichsweise kompakt und anspruchsvoll ist, wurden wie in Band 1 mit einem * gekennzeichnet. Beim Zitieren von Formeln und S¨atzen aus Band 1 wird eine r¨omische I vorangestellt. Satz I.7.20 ist also Satz 7.20 aus Band I, und Formel (7.10) aus Band I wird zu Formel (I.7.10). Analog verfahren wir mit Kapiteln, Abschnitten und Unterabschnitten. Zur Unterst¨ utzung des Selbststudiums wurden zahlreiche Beispiele, Abbildun¨ gen und Lernzielkontrollen aufgenommen. F¨ ur begleitende Ubungsaufgaben sowie weitere Informationen und Hilfen steht unter der Webadresse http://www.math.kit.edu/stoch/∼henze/seite/wiwi2/de ein Online-Service zum Buch zur Verf¨ ugung. Der folgende Graph verdeutlicht die wesentlichen Abh¨ angigkeiten zwischen den einzelnen Kapiteln bzw. Abschnitten. Um etwa das Kapitel 2 lesen zu k¨ onnen, sind Vorkenntnisse aus den Abschnitten 1.1–1.7 erforderlich.
1.8 −O 1.9 1.1 − 1.3
4.1 − 4.2 o
4.3 − 4.5 8.8 o
/ 1.4 − 1.7 xx xx x x xx |xx / 5 o FF FF FF FF FF "
8.1 − 8.6
/
/ 6.1
2
3.1 − 3.2
3.3
/
6.2
/
/ 8.7 o
9 7O
o
/
Hinweise f¨ ur Dozentinnen und Dozenten: Auch dieser zweite Band enth¨alt mehr Stoff, als in zwei Semestern in jeweils vierst¨ undigen Vorlesungen behandelt werden kann. Da die Kapitel nicht streng linear aufgebaut sind, gibt es verschiedene M¨ oglichkeiten des K¨ urzens. Mit lediglich einer Ausnahme (Transformationssatz der mehrdimensionalen Integration) werden alle wichtigen Resultate bewiesen.
vii Kapitel 1 behandelt die mehrdimensionale Analysis. Im Mittelpunkt stehen die Taylorentwicklung und der Satz u ¨ber implizite Funktionen sowie Anwendungen auf Maximierungsaufgaben mit und ohne Nebenbedingungen. In Kapitel 2 wird das aus Band 1 vertraute Riemann-Integral in nat¨ urlicher Weise auf den mehrdimensionalen Fall u ¨ bertragen. Die Theorie des Jordanschen Inhalts wird ausf¨ uhrlich dargelegt und kann bei Bedarf gek¨ urzt werden. Ausgehend von (signierten) Volumina werden im dritten Kapitel Determinanten(formen) als multilineare Abbildungen eingef¨ uhrt. Die bekannten Rechenregeln ergeben sich damit zwangsl¨aufig. (Sie k¨ onnten bei Bedarf auch schon in den ersten beiden Semestern eingef¨ uhrt werden.) Die allgemeine Transformationsformel f¨ ur Integrale wird nur im Fall linearer Transformationen komplett bewiesen. Dieses Vorgehen liefert aber den Schl¨ ussel zum strengen Beweis des allgemeinen ¨ Resultats. Ublicherweise muss man sich in Vorlesungen auf das Vermitteln der (geometrischen) Heuristik und die wichtigen Anwendungen (wie z.B. Polar- und Zylinderkoordinaten) beschr¨anken. Kapitel 4 gibt eine Einf¨ uhrung in die Theorie der (normierten) Vektorr¨ aume. Dazu werden zun¨achst die komplexen Zahlen eingef¨ uhrt und der Fundamentalsatz der Algebra (analytisch) bewiesen. Zentrale Resultate sind der (im Buch mehrfach verwendete) Banachsche Fixpunktsatz sowie die allgemeinen Fourierreihen. In Kapitel 5 wird dann die lineare Algebra weiter ausgebaut. Im Zentrum stehen Theorie und Anwendungen der Eigenwerte linearer Selbstabbildungen eines (reellen oder komplexen) endlichdimensionalen Vektorraumes. In Kapitel 6 wird zun¨achst das Lebesguesche Integral in klassischer Weise (Unter- und Obersummen bzgl. unendlicher Partitionen) eingef¨ uhrt und seine wichtigsten Eigenschaften diskutiert. Einige S¨ atze werden erst im zweiten Abschnitt im Rahmen der allgemeinen Maß- und Integrationstheorie bewiesen. Gegenstand von Kapitel 7 sind die Fourierreihen periodischer Funktionen sowie die Fourier-Transformation integrierbarer Funktionen. Die Lebesguesche Integrationstheorie gestattet es, alle Resultate vollst¨ andig zu beweisen. Sollte nur der Riemannsche Integralbegriff zur Verf¨ ugung stehen, k¨ onnen die wichtigsten Ideen der Fourierreihen immer noch vermittelt werden. Die Behandlung der FourierTransformation geschieht ohne Verwendung funktionalanalytischer Methoden wie etwa Distributionen. Kapitel 8 gibt eine eher knapp gehaltene Einf¨ uhrung in Theorie, Anwendungen und Numerik gew¨ohnlicher Differentialgleichungen. Nach der Diskussion allgemeiner Differentialgleichungen sowie dem Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard–Lindel¨of werden vor allem lineare Differentialgleichungen behandelt. Im abschließenden Kapitel zur Stochastik stehen zun¨ achst der Begriff der stochastischen Unabh¨angigkeit sowie Zufallsvariablen und ihre Verteilungen im Vordergrund. Hierzu muss die in Abschnitt 6.2 entwickelte Maßtheorie zur Verf¨ ugung stehen. Das Gesetz der großen Zahlen wird in seiner schwachen Form hergeleitet.
viii Der Zentrale Grenzwertsatz wird ohne Verwendung charakteristischer Funktionen mit einer auf Lindeberg zur¨ uckgehenden Methode bewiesen. Das Kapitel schließt mit der Herleitung und Diskussion der Black–Scholes-Formel der Finanzmathematik. Danksagung: Wir m¨ochten uns bei allen bedanken, die zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Die Herren Dr. Martin Folkers und Priv.-Doz. Dr. Manfred Krtscha haben das Projekt von Anfang an mit wohlwollender Kritik und großem Sachverstand begleitet. Herr Dipl.-Math. oec. Volker Baumstark, Herr Dipl.-Math. Matthias Heveling, Frau Dipl.-Math. Gabriela Gr¨ uninger, Herr Dr. Bernhard Klar, Herr Dipl.-Math. Sebastian M¨ uller, Herr Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Stummer und Frau Michaela Taßler lasen Teile des Manuskriptes und machten unz¨ ahlige Verbesserungsvorschl¨age. Herr Philipp Koziol hat das vollst¨ andige Manuskript sehr aufmerksam und mit viel Geduld gelesen und aus studentischer Sicht manch wertvollen Hinweis gegeben. Unser Dank gilt auch Frau Schmickler-Hirzebruch und Frau Rußkamp vom Vieweg Verlag f¨ ur die bew¨ ahrte vertrauensvolle Zusammenarbeit. Schließlich m¨ochten wir uns bei unseren Familien bedanken, ohne deren Unterst¨ utzung dieses Buch nicht h¨atte entstehen k¨ onnen.
Karlsruhe, im Oktober 2004
Norbert Henze, G¨ unter Last
Vorwort zur zweiten Auflage In der zweiten Auflage haben wir diverse Druckfehler beseitigt, sowie verschiedene kleinere inhaltliche Verbesserungen und Aktualisierungen vorgenommen. Unser Dank gilt Frau Kathrin Labude vom Vieweg+Teubner Verlag f¨ ur die sehr gr¨ undliche Durchsicht des Manuskripts.
Karlsruhe, im Juli 2010
Norbert Henze, G¨ unter Last
Inhaltsverzeichnis 1 Differentialrechnung im Rn 1.1 Folgen im Rn , Konvergenz . . . . . . . . . 1.2 Topologische Grundbegriffe . . . . . . . . 1.3 Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen 1.4 Differentiation . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Taylorpolynome und der Satz von Taylor 1.6 Lokale Extrema . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Differentiation vektorwertiger Funktionen 1.8 Implizit definierte Funktionen . . . . . . . 1.9 Optimierung unter Nebenbedingungen . .
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1 2 7 13 21 45 50 53 60 71
2 Integralrechnung im Rn 2.1 Das Riemann-Integral u ¨ber Rechtecke 2.2 Bereichsintegrale . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Jordan-Inhalt . . . . . . . . . . . 2.4 Der Satz von Fubini . . . . . . . . . .
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83 83 87 91 109
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3 Determinanten 3.1 Determinantenformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Lineare Transformation von Integralen . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der allgemeine Transformationsatz . . . . . . . . . . . . . . . . .
131 . 131 . 148 . 160
4 Normierte R¨ aume und Hilbertr¨ aume 4.1 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . 4.2 Reelle und komplexe Vektorr¨aume . 4.3 Normierte Vektorr¨aume . . . . . . . 4.4 Metrische R¨aume . . . . . . . . . . . 4.5 Hilbertr¨aume . . . . . . . . . . . . .
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177 177 193 204 223 225
5 Eigenwerte und Eigenr¨ aume 237 5.1 Matrizen und lineare Abildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
x
Inhaltsverzeichnis 5.2 5.3
Eigenwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Symmetrische und unit¨are Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
6 Das allgemeine Integral 265 6.1 Das Lebesguesche Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7 Fourieranalyse 321 7.1 Fourierreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 7.2 Die Fourier-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 8 Differentialgleichungen 8.1 Einf¨ uhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Wachstums- und Zerfallsprozesse . . . . . . . . 8.3 Trennbare Differentialgleichungen . . . . . . . . 8.4 Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung 8.5 Existenz- und Eindeutigkeitss¨atze . . . . . . . . 8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung . 8.7 Die Laplace-Transformation . . . . . . . . . . . 8.8 Numerische Verfahren . . . . . . . . . . . . . .
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353 . 353 . 355 . 360 . 361 . 366 . 370 . 387 . 396
9 Stochastik 9.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Zufallsvariablen und ihre Verteilungen . 9.3 Stochastische Unabh¨angigkeit . . . . . . 9.4 Rechnen mit Dichten . . . . . . . . . . . 9.5 Kenngr¨ oßen f¨ ur Verteilungen . . . . . . 9.6 Die mehrdimensionale Normalverteilung 9.7 Grenzwerts¨atze . . . . . . . . . . . . . . 9.8 Die Black–Scholes-Formel* . . . . . . . .
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401 401 405 411 417 423 437 440 449
Literaturverzeichnis
457
Symbolverzeichnis
458
Index
459
Kapitel 1
Differentialrechnung im Rn Auch meinte ich in meiner Unschuld, dass es f¨ ur den Physiker gen¨ uge, die elementaren mathematischen Begriffe klar erfasst und f¨ ur die Anwendungen bereit zu haben, und dass der Rest in f¨ ur den Physiker unfruchtbaren Subtilit¨aten bestehe – ein Irrtum, den ich erst sp¨ater mit Bedauern einsah.
Albert Einstein
In diesem Kapitel betrachten wir Funktionen f : D → Rm ,
x → f (x),
(1.1)
deren Definitionsbereich D eine Teilmenge des Rn ist. In Analogie zu Funktionen, die auf Teilmengen von R definiert sind, nennt man die Komponenten des Argumentes x = (x1 , . . . , xn ) die Variablen oder die Ver¨anderlichen. Der K¨ urze halber schreibt man f (x1 , . . . , xn ) anstelle von f ((x1 , . . . , xn )). Funktionen der obigen Art sind sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Ingenieur- und in den Wirtschaftswissenschaften von großer Bedeutung. So wird etwa eine ¨ortlich und zeitlich ver¨anderliche Temperaturverteilung in einem Raumbereich durch eine reellwertige Funktion f von vier Variablen beschrieben; der Wert f (x1 , x2 , x3 , x4 ) ist die Temperatur, die zur Zeit x4 im Raumpunkt (x1 , x2 , x3 ) herrscht. In der Theorie wirtschaftlicher Produktion gibt die Produktionsfunktion f (x1 , . . . , xn ) den maximal m¨oglichen Output an, den ein Produktionsverfahren erzielt, das xj Einheiten des Faktors j verwendet (j = 1, . . . , n). Funktionen des Rn in den Rm von vergleichsweise einfacher Struktur sind die in Kapitel I.8 behandelten linearen Funktionen. Eine lineare Funktion ist von der Form f (x) = Ax, x ∈ Rn , mit einer m × n-Matrix A = (aij ). Wie schon in Band 1 interpretieren wir bei der Matrizenmultiplikation Ax den Vektor x ∈ Rn mit den Komponenten x1 , . . . , xn als Spaltenvektor (x1 , . . . , xn )T (vgl. I.8.7.3). N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_1, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
1 Differentialrechnung im Rn
2
Im Folgenden soll die Differentialrechnung f¨ ur Funktionen der Gestalt (1.1) entwickelt werden. Da die Analysis f¨ ur Funktionen einer Variablen auf dem Begriff der Konvergenz reeller Zahlenfolgen beruht, wird zun¨ achst dieser Konvergenzbegriff in nat¨ urlicher und naheliegender Weise verallgemeinert.
1.1 1.1.1
Folgen im Rn , Konvergenz Folgen im Rn
Eine Folge (ak )k≥1 (von Vektoren) im Rn ist eine Abbildung k → ak von der Menge N der nat¨ urlichen Zahlen in den Rn . Wie fr¨ uher schreiben wir kurz (ak ). Der Vektor ak ist das k-te Glied der Folge (ak ). Manchmal ist der Definitionsbereich der Abbildung k → ak die Menge {j ∈ Z : j ≥ m} f¨ ur ein m ∈ Z; in diesem Fall schreiben wir auch (ak )k≥m . Jedes Glied ak einer Folge (ak ) im Rn ist ein n-Tupel der Form (k)
ak = (a1 , . . . , an(k) ).
(1.2)
(k)
F¨ ur j ∈ {1, . . . , n} heißt die reelle Zahlenfolge (aj )k≥1 die j-te Koordinatenfolge von (ak ). Jede Folge von Vektoren im Rn ist durch die Angabe dieser n Ko(k) ordinatenfolgen festgelegt. Umgekehrt definieren n reelle Zahlenfolgen (aj )k≥1 (j = 1, . . . , n) u ¨ ber die Festsetzung (1.2) eine Folge im Rn .
1.1.2
Konvergenz, Grenzwert
Eine reelle Zahlenfolge (ak )k≥1 konvergiert genau dann gegen den Wert a, wenn ur jedes k ≥ k0 es zu jedem ε > 0 einen Index k0 mit der Eigenschaft |ak − a| ≤ ε f¨ gibt. Interpretiert man |x − y| als Abstand“ der Punkte x und y auf der reellen ” Zahlengeraden, so ist der Abstand zwischen jedem Folgenglied ak mit k ≥ k0 und dem Grenzwert a h¨ochstens gleich ε. Eine naheliegende M¨ oglichkeit, den Konvergenzbegriff auf Folgen (ak )k≥1 von Vektoren des Rn zu verallgemeinern, besteht darin, die in Abschnitt I.8.4 eingef¨ uhrte euklidische Norm n 2 x2 := xj j=1
eines Vektors x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn und den darauf beruhenden euklidischen Abstand n x − y 2 = (xj − yj )2 j=1
1.1 Folgen im Rn , Konvergenz
3
uher auftrezwischen x und y = (y1 , . . . , yn ) zu verwenden. Der im Vergleich zu fr¨ tende Index 2 soll dabei andeuten, dass grunds¨ atzlich auch andere M¨ oglichkeiten f¨ ur eine sinnvolle Abstandsmessung im Rn existieren. Wir kommen hierauf in 1.1.4 zur¨ uck. Ein Vektor a heißt Grenzwert einer Folge (ak ), falls es zu jedem ε > 0 ein k0 ∈ N gibt, so dass f¨ ur jedes k ≥ k0 die Ungleichung ak − a2 ≤ ε
(1.3)
erf¨ ullt ist. In diesem Fall sagt man, (ak ) konvergiert gegen a und schreibt lim ak = a
bzw.
k→∞
ak → a
f¨ ur k → ∞.
Diese Begriffsbildung ist f¨ ur den Fall n = 2 in Bild 1.1 veranschaulicht. Die Zahl ε kann dann als Radius eines Kreises mit Mittelpunkt a interpretiert werden. Bedingung (1.3) bedeutet hier, dass alle Folgenglieder ak0 ,ak0 +1 ,ak0 +2 , . . . innerhalb des Kreises liegen; nur endlich viele Folgenglieder fallen somit außerhalb des angt. Kreises. Bild 1.1 zeigt auch, dass der Index k0 vom Radius ε des Kreises abh¨ Je kleiner ε gew¨ahlt wird, desto mehr Folgenglieder fallen außerhalb des Kreises. Man beachte, dass das Bild den durch den Index der Folgenglieder beschriebenen dynamischen Aspekt nur teilweise zum Ausdruck bringen kann. W¨ urden wir hierzu eine dritte Koordinatenachse verwenden, w¨ urde sich in Verallgemeinerung von Bild I.5.2 (Bild 5.2 in Band 1) ein ε-Schlauch ergeben. Liegt Konvergenz vor, so m¨ ussen alle bis auf endlich viele Folgenglieder in diesem Schlauch liegen.
•
•
• •
•
ε2
• •
a
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ε1
Bild 1.1: Außerhalb jedes Kreises um den Grenzwert a fallen nur endlich viele Folgenglieder
Mit dem nachstehenden Resultat kann die Konvergenz von Folgen im Rn auf den Konvergenzbegriff f¨ ur reelle Folgen zur¨ uckgef¨ uhrt werden. 1.1 Satz. (Konvergenz der Koordinatenfolgen) Eine Folge (ak )k≥1 im Rn konvergiert genau dann gegen einen Vektor a, wenn jede Koordinatenfolge gegen die entsprechende Koordinate von a konvergiert.
1 Differentialrechnung im Rn
4
Beweis: Es seien a = (a1 , . . . , an ) und j ∈ {1, . . . , n}. Gilt ak → a, so folgt aus (k)
|aj
− aj | ≤ ak − a2
(k)
(1.4) (k)
ur k → ∞. Gilt umgekehrt |aj − aj | → 0 f¨ ur jedes j ∈ die Konvergenz aj → aj f¨ {1, . . . , n}, so ergibt sich aus den in Kapitel I.5 bewiesenen Konvergenzs¨ atzen n (k) ak − a2 = (aj − aj )2 → 0 j=1
f¨ ur k → ∞, was zu zeigen war.
Aus Satz 1.1 k¨onnen einige wichtige Folgerungen gezogen werden. 1.2 Folgerung. (Eindeutigkeit des Grenzwertes) Der Grenzwert einer konvergenten Folge im Rn ist eindeutig bestimmt. Beweis: Wir nehmen an, es g¨alte sowohl ak → a als auch ak → b. Nach Satz 1.1 und der Eindeutigkeit des Grenzwertes f¨ ur reelle Zahlenfolgen stimmt dann jede Komponente von a mit der entsprechenden Komponente von b u ¨ berein; es gilt also a = b.
Eine weitere Folgerung betrifft die Konvergenz von Cauchy-Folgen. Dabei heißt (in v¨olliger Analogie zum Fall n = 1) eine Folge (ak ) im Rn Cauchy-Folge , falls es zu jedem ε > 0 ein k0 ∈ N gibt, so dass gilt: ak − am 2 ≤ ε,
k, m ≥ k0 .
1.3 Folgerung. (Konvergenz von Cauchy-Folgen) Jede Cauchy-Folge im Rn ist konvergent. Beweis: Ist (ak ) eine Cauchy-Folge, so ist nach (1.4) f¨ ur jedes j = 1, . . . , n die Koordina(k) (k) tenfolge (aj ) eine Cauchy-Folge. Nach Satz I.5.23 gibt es ein aj ∈ R mit aj → aj f¨ ur k → ∞. Setzen wir a := (a1 , . . . , an ), so folgt nach Satz 1.1 die Konvergenz ak → a.
Das folgende Analogon von Satz I.5.10. ist ebenfalls eine Konsequenz von Satz 1.1. In diesem Zusammenhang sei an das in I.8.4 definierte Skalarprodukt
a, b =
n
a j bj
j=1
zweier Vektoren a = (a1 , . . . , an ), b = (b1 , . . . , bn ) im Rn erinnert.
1.1 Folgen im Rn , Konvergenz
5
1.4 Satz. (Linearit¨at des Grenzwertes im Rn ) Es seien (ak ) und (bk ) zwei gegen a bzw. b konvergierende Folgen im Rn sowie (λk ) eine gegen λ konvergierende reelle Folge. Dann gilt lim (λkak ) = λa,
k→∞
lim (ak + bk ) = a + b,
k→∞
lim ak , bk = a, b.
k→∞
1.1.3
Beschr¨ ankte Folgen, Satz von Bolzano-Weierstraß
Eine Folge (ak ) im Rn heißt beschr¨ankt , wenn es ein C > 0 mit ak 2 ≤ C,
k ∈ N,
(1.5)
gibt. Im Fall n = 2 liegen also alle Glieder einer beschr¨ ankten Folge innerhalb eines hinreichend großen Kreises um den Koordinatenursprung. Es ist leicht zu sehen, dass jede konvergente Folge beschr¨ ankt ist: zu festem ε > 0 sei k0 ∈ N so gew¨ahlt, dass (1.3) erf¨ ullt ist. F¨ ur jedes k ≥ k0 folgt dann aus der Dreiecksungleichung f¨ ur die euklidische Norm (Folgerung I.8.30) die Absch¨ atzung ak 2 = ak − a + a2 ≤ ak − a2 + a2 ≤ ε + a2 und somit (1.5), wenn C := max(a1 2 , . . . , ak0 −1 2 , ε + a2 ) gesetzt wird. Auch der Satz von Bolzano–Weierstraß kann verallgemeinert werden. 1.5 Satz. (Satz von Bolzano–Weierstraß im Rn ) Jede beschr¨ankte Folge (ak ) besitzt eine konvergente Teilfolge. Beweis: Jede Koordinatenfolge von (ak ) ist beschr¨ ankt. Nach Satz I.5.22 besitzt die ers(k) (k ) te Koordinatenfolge (a1 ) eine konvergente Teilfolge (a1 i )i≥1 . Die Glieder der zweiten (k) Koordinatenfolge (a2 ) zu den Indizes ki , i = 1, 2, . . . bilden ebenfalls eine beschr¨ ankte (k ) Folge, so dass sich erneut eine (der Einfachheit wieder mit (a2 i )i≥1 bezeichnete) konvergente Teilfolge ausw¨ahlen l¨asst. Wiederholt man dieses Verfahren so lange, bis aus (k) (k ) (an ) eine konvergente Teilfolge (an i )i≥1 ausgew¨ ahlt wurde, so konvergieren die Folgen (ki ) (aj )i≥1 f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , n} und somit auch die Folge (aki )i≥1 .
1.1.4
Der Rn als normierter Raum
Es wurde bereits erw¨ahnt, dass es neben dem euklidischen Abstand weitere M¨ oglichkeiten einer Abstandsmessung zwischen Punkten gibt. Ein ganz praktischer Grund f¨ ur solche Alternativen liegt darin, dass andere Abst¨ ande in manchen Situationen einfacher zu ermitteln sind. Ein mindestens genauso wichtiger Grund
1 Differentialrechnung im Rn
6
ist die mathematische Notwendigkeit, diejenigen Eigenschaften eines Abstands zu extrahieren, auf die es etwa bei den Begriffen Konvergenz“ oder Stetig” ” keit“ letztendlich ankommt. Tats¨achlich werden wir in Kapitel 4 Abstandsbegriffe in deutlich allgemeineren ( unendlichdimensionalen“) R¨ aumen kennenlernen. Sie ” sind ein unentbehrliches Hilfsmittel in der modernen Mathematik. Wir werden zun¨achst einen allgemeinen L¨ angenbegriff einf¨ uhren und darauf aufbauend den Abstand zwischen Punkten definieren. Eine Abbildung · : Rn → [0, ∞),
x → x,
ur alle x, y ∈ Rn und alle λ ∈ R die folgenden heißt Norm (auf Rn ), falls f¨ Bedingungen gelten: x = 0 ⇐⇒ x = 0, (Definitheit) (1.6) λ · x = |λ|·x, x + y ≤ x + y .
(Homogenit¨at)
(1.7)
(Dreiecksungleichung)
(1.8)
Die Zahl x heißt Norm (oder L¨ange) von x. In Abschnitt I.8.4 haben wir gesehen, dass die euklidische Norm · 2 diese drei Eigenschaften besitzt. Weitere Beispiele f¨ ur Normen sind die sogenannte Betragssummennorm n x1 := |xj | (1.9) j=1
und die Maximumsnorm x∞ := max{|xj | : j = 1, . . . , n}.
(1.10)
In beiden F¨allen ist die G¨ ultigkeit von (1.6)–(1.8) unmittelbar einzusehen. Bild 1.2 zeigt die Menge der Endpunkte aller Ortsvektoren x im R2 , deren Norm (L¨ange), gemessen mit Hilfe der Normen · 1 , · 2 und · ∞ , kleiner oder gleich 1 ist.
1.1.5
Norm und Abstand
Ist · eine Norm auf dem Rn , so bezeichnet man wie im Fall der euklidischen Norm die Zahl x − y als Abstand zwischen x und y. Aus (1.6) und (1.7) folgen die Eigenschaft der Definitheit x − y = 0 ⇐⇒ x = y
(1.11)
sowie die Symmetrieeigenschaft x − y = y − x.
(1.12)
Mit (1.8) ergibt sich schließlich die Dreiecksungleichung x − z ≤ x − y + y − z,
x, y , z ∈ Rn .
(1.13)
1.2 Topologische Grundbegriffe
7
x2
−0.5
0.5
x2
x1
−0.5
0.5
x2
x1
−0.5
0.5
x1
Bild 1.2: Die Menge {x ∈ R2 : x ≤ 1} f¨ ur · = · 1 (links), · = · 2 (Mitte) und · = · ∞ (rechts)
1.1.6
¨ Aquivalente Normen und Konvergenz
Zwei Normen · und · auf dem Rn heißen ¨aquivalent , falls es positive Zahlen c1 , c2 gibt, so dass c1 x ≤ x ≤ c2 x, x ∈ Rn . aquivalent. VerantDie Normen · 1 , · 2 und · ∞ sind untereinander alle ¨ wortlich daf¨ ur sind die leicht zu beweisenden Ungleichungen 1 x1 ≤ x∞ ≤ x1 , n √ x∞ ≤ x2 ≤ nx∞ .
(1.14) (1.15)
Wir werden sp¨ater (vgl. 4.3.4) sehen, dass zwei beliebige Normen auf dem Rn ¨aquivalent sind. Nach Definition ist die Konvergenz ak → a gleichbedeutend mit ak − a2 → 0 f¨ ur k → ∞. Wegen (1.14) und (1.15) ist letztere Bedingung sowohl zu ak −a1 → 0 als auch zu ak − a∞ → 0 ¨aquivalent. Weil allgemeiner jede Norm · auf dem Rn ¨aquivalent zur euklidischen Norm · 2 ist, h¨ angt der Konvergenzbegriff n im R nicht von der speziell gew¨ahlten Norm ab: f¨ ur jede Norm · gilt ak − a → 0 ⇐⇒ ak − a2 → 0.
1.2
Topologische Grundbegriffe
In diesem Abschnitt werden einige topologische (von gr. topos: Ort) Begriffe eingef¨ uhrt. Dabei handelt es sich um gewisse Eigenschaften von Teilmengen des Rn und um Lagebeziehungen zwischen Punkten und Mengen.
1 Differentialrechnung im Rn
8
1.2.1
Umgebungen
Die Menge aller Punkte x ∈ R2 mit x − a2 ≤ r ist eine Kreisscheibe mit Mittelpunkt a ∈ R2 und Radius r > 0. Allgemein definiert man f¨ ur a ∈ Rn und eine Zahl r > 0 die abgeschlossene Kugel mit Mittelpunkt a und Radius r durch B(a, r) := {x : x − a2 ≤ r}
(1.16)
und die offene Kugel mit Mittelpunkt a und Radius r durch B ◦ (a, r) := {x : x − a2 < r}.
(1.17)
Die Sprechweise Kugel“ ist dabei an den Spezialfall n = 3 angelehnt. Im Fall ” n = 1 ist B(a, r) das abgeschlossene Intervall [a − r,a + r] und B ◦ (a, r) das offene Intervall (a − r,a + r). Im Fall n = 2 nennt man B(a, r) und B ◦ (a, r) die abgeschlossene bzw. offene Kreisscheibe um a mit Radius r. Eine Menge U ⊂ Rn heißt Umgebung von a ∈ Rn , wenn es ein r > 0 gibt, so dass die Teilmengenbeziehung B(a, r) ⊂ U erf¨ ullt ist. In diesem Sinn ist also B(a, r) f¨ ur jedes r > 0 eine Umgebung von ◦ a, aber auch die Menge B (a, r), denn es gilt B(a, s) ⊂ B ◦ (a, r) f¨ ur jedes s mit 0 < s < r. Aus diesem Grund nennt man die Mengen B(a, r) und B ◦ (a, r) auch Kugelumgebungen von a. Eine Umgebung eines Punktes a ist also dadurch charakterisiert, dass sie eine (m¨oglicherweise sehr kleine) Kugelumgebung von a enth¨ alt (siehe Bild 1.3).
•
U
b
U
•
a
a ist innerer Punkt von U
b ist Randpunkt von U
Bild 1.3: U ist Umgebung von a, aber nicht von b Der Umgebungsbegriff kann zu einer geometrischen Beschreibung der Konvergenz einer Folge (ak ) verwendet werden. Man sagt, dass fast alle Glieder einer Folge eine gewisse Eigenschaft besitzen (zum Beispiel zu einer bestimmten Menge zu geh¨oren), wenn nur endlich vielen Gliedern diese Eigenschaft nicht zukommt.
1.2 Topologische Grundbegriffe
9
1.6 Satz. (Umgebungen und Konvergenz) Eine Folge (ak )k≥1 im Rn konvergiert genau dann gegen a ∈ Rn , wenn in jeder Umgebung von a fast alle Glieder der Folge (ak ) liegen. Beweis: Nach Definition einer Umgebung ist die behauptete Charakterisierung der Konvergenz gleichbedeutend damit, dass f¨ ur jedes ε > 0 die Kugel B(a, ε) fast alle Glieder der ¨ Folge enth¨ alt. Damit folgt die Behauptung aus der Aquivalenz der Aussagen ak −a2 ≤ ε und ak ∈ B(a, ε).
1.2.2
Innere Punkte, Randpunkte
Es sei M ⊂ Rn eine Menge. (i) Ein Punkt x ∈ M heißt innerer Punkt von M , falls es eine Umgebung U von x mit x ∈ U und U ⊂ M gibt. Die mit M ◦ bezeichnete Menge aller inneren Punkte von M heißt das Innere von M . (ii) Ein Punkt x ∈ Rn heißt Randpunkt von M , wenn jede Umgebung U von x mindestens einen Punkt aus M und mindestens einen Punkt aus Rn \ M enth¨alt, wenn also U ∩ M = ∅
und U ∩ (Rn \ M ) = ∅
gilt. Die mit ∂M bezeichnete Menge aller Randpunkte von M heißt der Rand von M . Diese Begriffsbildungen sind in Bild 1.3 veranschaulicht. Der Punkt a in Bild 1.3 links ist ein innerer Punkt der Menge U und der Punkt b in Bild 1.3 rechts ein Randpunkt von U . Die Menge U ist Umgebung von a, aber nicht von b. Man beachte, dass sich die Definitionen eines inneren Punktes und eines Randpunktes gegenseitig ausschließen; es gilt also M ◦ ∩ ∂M = ∅. Weiter gilt M ◦ ⊂ M , d.h. jeder innere Punkt von M geh¨ort zu M . Nach Definition gilt ferner ∂M = ∂(Rn \ M ). Wie die folgenden Beispiele zeigen, kann ein Randpunkt einer Menge M zu M geh¨oren oder auch nicht. 1.7 Beispiel. Die Menge M := {x = (x1 , x2 ) ∈ R2 : x2 = 0} beschreibt die x1 -Achse in einem kartesischen x1 x2 -Koordinatensystem. Da jede Umgebung U eines Punktes x aus M eine Kreisscheibe B(x, r) enth¨alt und U ∩ (R2 \ M ) = ∅ gilt (der Punkt (x1 , r) geh¨ort zu U , aber nicht zu M ), folgt M ◦ = ∅ und ∂M = M . Die Menge M enth¨alt also keine inneren Punkte (Bild 1.4 links).
1 Differentialrechnung im Rn
10
1.8 Beispiel. (Topologische Eigenschaften von Kugeln) F¨ ur die offene Kugel M := {x ∈ Rn : x2 < r} mit Mittepunkt 0 und Radius r gilt M ◦ = M und ∂M = {x ∈ Rn : x2 = r}. F¨ ur einen formalen Beweis dieser sehr anschaulichen Aussagen sei x ∈ M beliebig gew¨ ahlt. Wegen x2 < r ist d := r − x2 > 0. Wir behaupten die G¨ ultigkeit der Inklusion B(x, d/2) ⊂ M.
(1.18)
Hieraus w¨ urde M ⊂ M ◦ und damit M = M ◦ folgen. Zum Beweis von (1.18) sei y ∈ B(x, d/2) beliebig gew¨ahlt. Aus y − x2 ≤ d/2 ergibt sich dann mit Hilfe der Dreiecksungleichung die Absch¨atzung y 2 = y − x + x2 ≤ y − x2 + x2 ≤
d +r−d 0 mit B ◦ (x, ε) ⊂ M . Nach Beispiel 1.8 gibt es f¨ ur jedes y ∈ B ◦ (x, ε) ein ε > 0 mit B ◦ (y , ε ) ⊂ B ◦ (x, ε) ⊂ M . Also ist B ◦ (x, ε) ⊂ M 0 und M 0 damit offen. Damit ist auch (Rn \ M )◦ offen. Aus (1.19) sowie Satz 1.9 (i) ist dann ∂M als Komplement der offenen Menge M ◦ ∪ (Rn \ M )◦ abgeschlossen. Analog folgt, dass M als Komplement der offenen Menge (Rn \ M )◦ abgeschlossen ist.
1.2.4
Folgenkompaktheit
Analog zur Beschr¨anktheit einer Folge (vgl. 1.1.3) heißt eine Menge M ⊂ Rn beschr¨ankt ,wenn es ein C > 0 mit x2 ≤ C,
x ∈ M,
gibt. Jede beschr¨ankte Teilmenge des R2 ist also in einem gen¨ ugend großen Kreis um den Koordinatenursprung enthalten. 1.11 Satz. (Folgenkompaktheit) ankt und abgeschlossen, wenn jede Eine Menge M ⊂ Rn ist genau dann beschr¨ Folge mit Elementen aus M eine Teilfolge besitzt, welche gegen einen Grenzwert in M konvergiert. Beweis: Ist M beschr¨ankt und ist (ak ) eine Folge in M , so besitzt (ak ) wegen des Satzes von Bolzano–Weierstraß eine konvergente Teilfolge. Ist M außerdem abgeschlossen, so muss der Grenzwert dieser Teilfolge nach Satz 1.9 (ii) in M liegen. Wir setzen jetzt umgekehrt die G¨ ultigkeit des Teilfolgenkriteriums voraus. Dann ist klar, dass M beschr¨ankt ist, weil man anderenfalls eine Folge (xk ) in M mit der Eigenurde. Eine solche Folge besitzt keine konvergente Teilfolge. schaft xk 2 → ∞ finden w¨ Die Abgeschlossenheit von M ergibt sich direkt aus Satz 1.9 (ii).
Eine Menge M ⊂ Rn , welche dem Folgenkriterium von Satz 1.11 gen¨ ugt, heißt folgenkompakt (oder kompakt ) Wir beenden diesen Abschnitt mit einer weiteren grundlegenden Eigenschaft kompakter Mengen. Sie ist eine Konsequenz von Satz 1.11 Der interessierte Leser ist aufgefordert, den indirekten Beweis durch Intervallschachtelung zu f¨ uhren. Details finden sich etwa in (Heuser, 2002). 1.12 Satz. (Satz von Heine1 –Borel2 ) Gegeben seien eine folgenkompakte Menge M ⊂ Rn sowie offene Teilmengen Ui , i ∈ N, von Rn mit M ⊂ ∪i∈N Ui . Dann gibt es ein m ∈ N mit M ⊂ ∪m i=1 Ui . 1
Eduard Heine (1821–1881), Professor in Bonn (ab 1848) und in Halle (ab 1856). Hauptarbeitsgebiete: Reelle Analysis, trigonometrische Reihen. 2 Emile Borel (1871–1956), ab 1909 Professor an der Sorbonne in Paris. Borel war politisch aktiv (1924 als Mitglied der Abgeordnetenkammer, 1925 Marineminister, 1941 wegen seiner politischen Aktivit¨ aten Inhaftierung durch die faschistischen Besatzer). Hauptarbeitsgebiete: Funktionentheorie, Mengenlehre, Maßtheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Spieltheorie.
1.3 Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen
1.3
13
Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen
In diesem Abschnitt werden der Stetigkeitsbegriff sowie die Definition des Grenzwertes einer Funktion verallgemeinert. Die Ausf¨ uhrungen sind v¨ ollig analog zum Fall eines eindimensionalen Definitionsbereiches; lediglich der Begriff des linksseitigen (bzw. rechtsseitigen) Grenzwertes macht in allgemeinen Dimensionen keinen Sinn. Wir betrachten von Beginn an vektorwertige Funktionen, d.h. Funktionen f : D → Rm mit D ⊂ Rn und m ∈ N.
1.3.1
Stetigkeit
(i) Die Funktion f heißt stetig in (einem Punkt) x0 ∈ D, wenn f¨ ur jede Folge (xk ) mit Elementen in D aus der Konvergenz xk → x0 f¨ ur k → ∞ die Konvergenz f (xk ) → f (x0 ) f¨ ur k → ∞ folgt. (ii) Die Funktion f heißt stetig (auf D), wenn sie in jedem Punkt x0 ∈ D stetig ist. Eine vektorwertige Funktion f : D → Rm l¨ asst sich in der Form f (x) = (f1 (x), . . . , fm (x)),
x ∈ D,
schreiben. Dabei sind die Komponenten f1 , . . . , fm von f Funktionen von D in R. Wegen Satz 1.1 ist f genau dann stetig, wenn jede Komponente fj stetig ist. Sind f und g Funktionen von D ⊂ Rn in Rm , so werden durch die Festsetzungen (f + g)(x) := f (x) + g(x),
f, g(x) := f (x), g(x),
x ∈ D,
die Summe f + g : D → Rm und das Skalarprodukt f, g : D → R von f und g definiert. Ist ferner h : D → R eine reellwertige Funktion, so ist hf : D → R die durch (hf )(x) := h(x)f (x), x ∈ D, erkl¨arte Funktion. Wegen Satz 1.4 und obiger Bemerkung erhalten wir analog zu Satz I.6.1: 1.13 Satz. (Stetigkeit von Summe und Produkt stetiger Funktionen) Sind f, g : D ⊂ Rn → Rm im Punkt x0 ∈ D stetige Funktionen, so sind die Funktionen f + g und f, g ebenfalls stetig in x0 . Ist h : D → R stetig in x0 ∈ D, so auch das Produkt hf . 1.14 Beispiele. (i) Es sei · eine Norm auf Rn . Aus (1.8) folgt wie im Fall n = 1: |x − y | ≤ x − y,
x, y ∈ Rn .
Deshalb (und im Vorgriff auf Satz 4.57) ist die Funktion x → x stetig.
1 Differentialrechnung im Rn
14
(ii) Die Abbildung x = (x1 , . . . , xn ) → xj von Rn nach R ist f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , n} stetig. Sie heißt Projektion auf die j-te Koordinate. (iii) Es sei f : Rn → R eine lineare Funktion. Nach I.8.3.3 gibt es dann einen Vektor a := (a1 , . . . , an ) ∈ Rn mit f (x) =
n
aj xj = a, x,
x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn .
j=1
Nach (ii) und Satz 1.13 ist f stetig.
1.3.2
Quadratische Formen
Neben den linearen Funktionen x → nj=1 aj xj liefert die folgende Definition eine weitere wichtige Klasse stetiger Funktionen. Ist A = (ajk ) ∈ M (n, n) eine n × n-Matrix, so heißt die durch QA (x) :=
n
ajk xj xk ,
x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn ,
(1.20)
j,k=1
definierte Abbildung QA : Rn → R quadratische Form von A. Die in der Definition (1.20) verwendete Doppelsumme wird formal als n n
ajk xj xk
j=1 k=1
erkl¨art. Wegen des Kommutativgesetzes der Addition kann hier auch zuerst u ¨ ber k und dann u ¨ ber j summiert werden. In der Definition einer quadratischen Form QA kann ohne Beschr¨ ankung der Allgemeinheit vorausgesetzt werden, dass die Matrix A symmetrisch ist. Definiert ur j = k sowie man n¨amlich die Matrix B = (bjk ) durch bjk := (ajk + akj )/2 f¨ bjj = ajj f¨ ur j ∈ {1, . . . , n}, so ist B eine symmetrische Matrix, und es gilt QA (x) = QB (x), x ∈ Rn . Ist A bereits symmetrisch, so gilt nat¨ urlich B = A. Unter Benutzung der Matrizenmultiplikation bzw. des Skalarproduktes kann eine quadratische Form auch als QA (x) = x T · A · x = x, A · x geschrieben werden. Man beachte, dass x in einem Matrizenprodukt immer als Spaltenvektor interpretiert wird! (Spalten- und Zeilenvektor sind Begriffe der Matrizenrechnung. Der Definition eines Vektors x als n-Tupel folgend, notieren wir die Koordinaten eines Vektors zun¨achst immer in Zeilenform.)
1.3 Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen
15
Nach Beispiel 1.14 (ii) und Satz 1.13 ist jede quadratische Form stetig. Ferner sind quadratische Formen homogen vom Grad 2, d.h. es gilt QA (λx) = λ2 QA (x),
x ∈ Rn , λ ∈ R.
(1.21)
Wir werden sp¨ater sehen, dass quadratische Formen bei der lokalen Approximation einer differenzierbaren Funktion eine große Rolle spielen.
1.3.3
Definitheitseigenschaften von Matrizen
Die folgenden Begriffsbildungen sind im Zusammenhang mit quadratischen Formen und Matrizen von grundlegender Bedeutung. (i) Eine symmetrische Matrix A heißt positiv definit , falls gilt: QA (x) > 0,
x ∈ Rn , x = 0.
(ii) Eine symmetrische Matrix A heißt positiv semidefinit , falls gilt: QA (x) ≥ 0,
x ∈ Rn .
(iii) Eine symmetrische Matrix A heißt negativ definit , falls gilt: QA (x) < 0,
x ∈ Rn , x = 0.
(iv) Eine symmetrische Matrix A heißt negativ semidefinit , falls gilt: QA (x) ≤ 0,
x ∈ Rn .
(v) Eine symmetrische Matrix A heißt indefinit , wenn es Vektoren x, y ∈ Rn mit der Eigenschaft QA (x) > 0 und QA (y ) < 0 gibt. Diese Begriffsbildungen werden synonym auch f¨ ur die zugeh¨ orige quadratische Form QA verwendet. Offensichtlich ist eine symmetrische Matrix A genau dann positiv (semi)definit, wenn die Matrix −A negativ (semi)definit ist. Man beachte auch, dass eine symmetrische Matrix genau dann indefinit ist, wenn sie weder positiv semidefinit noch negativ semidefinit ist. Bild 1.5 zeigt (von links nach rechts) die Graphen der quadratischen Formen (x1 , x2 ) → x21 + x22 , (x1 , x2 ) → −x21 − x22 (diese werden auch als Rotationsparaboloide bezeichnet) und (x1 , x2 ) → −x21 +x22 , welche positiv definit bzw. negativ definit bzw. indefinit sind. In Bild 1.6 sind die Graphen der positiv semidefiniten quadratischen Form (x1 , x2 ) → x21 und der negativ semidefiniten quadratischen Form (x1 , x2 ) → −x21 veranschaulicht. Positiv definite Matrizen werden in diesem Kapitel noch eine wichtige Rolle spielen. Eine 1 × 1-Matrix A = (a) ist nat¨ urlich genau dann positiv definit, wenn a > 0 gilt.
1 Differentialrechnung im Rn
16 QA (x)
QA (x) x1
QA (x) x2 x2
x1 x1
x2
positiv definit
indefinit
negativ definit
Bild 1.5: Graphen definiter und indefiniter quadratischer Formen
1.3.4
Determinantenkriterien fu ¨ r Definitheit im R2
Wir betrachten eine symmetrische Matrix A der Form a c A= . c b
(1.22)
Die Zahl ab − c2 heißt Determinante von A. F¨ ur die Definitheitseigenschaften solcher Matrizen existieren die folgenden Kriterien. 1.15 Satz. (Determinantenkriterien f¨ ur Definitheit) Gegeben sei eine symmetrische 2 × 2-Matrix A der Gestalt (1.22). (i) Die Matrix A ist genau dann positiv definit, wenn gilt: a>0
und
ab − c2 > 0.
(1.23)
Dabei kann in (1.23) die Bedingung a > 0 durch b > 0 ersetzt werden. (ii) Die Matrix A ist genau dann positiv semidefinit, wenn die Ungleichungen ullt sind. a ≥ 0, b ≥ 0 und ab − c2 ≥ 0 erf¨ (iii) Die Matrix A ist genau dann negativ definit, wenn die Ungleichungen a < 0 (bzw. b < 0) und ab − c2 > 0 erf¨ ullt sind. (iv) Die Matrix A ist genau dann negativ semidefinit, wenn die Ungleichungen a ≤ 0, b ≤ 0 und ab − c2 ≥ 0 erf¨ ullt sind. (v) Die Matrix A ist genau dann indefinit, wenn ab − c2 < 0 gilt.
1.3 Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen
17 QA (x)
QA (x) x1
x1
x2
x2
positiv semidefinit
negativ semidefinit
Bild 1.6: Graphen semidefiniter quadratischer Formen
Beweis: (i): Es gilt QA (x) > 0 f¨ ur jedes x = 0 genau dann, wenn die Ungleichungen QA (z, 0) > 0,
z = 0,
(1.24)
z ∈ R, y = 0,
(1.25)
und QA (zy, y) > 0, 2
erf¨ ullt sind. Wegen QA (z, 0) = az ist (1.24) zu a > 0 ¨ aquivalent. Wir setzen jetzt a > 0 voraus und zeigen, dass dann (1.25) zu ab − c2 > 0 ¨ aquivalent ist. Damit w¨ are der Beweis beendet. F¨ ur festes y = 0 ist QA (zy, y) = az 2 y 2 + by 2 + 2czy 2 genau dann f¨ ur jedes z ∈ R positiv, falls √ √ az 2 + b + 2cz = ( az + c/ a)2 − c2 /a + b f¨ ur jedes z ∈ R positiv ist. Letzteres ist gleichbedeutend mit ab − c2 > 0. (ii): Die Behauptung ergibt sich aus einer einfachen Modifikation des Beweises von (i). (iii),(iv): Die Matrix A ist genau dann negativ (semi)definit, wenn −A positiv (semi)definit ist. Deshalb ergeben sich die Aussagen (iii) und (iv) aus (i) und (ii). (v): Die Matrix A ist genau dann indefinit, wenn sie nicht positiv semidefinit und nicht negativ semidefinit ist. Nach (i) und (iii) ist das ¨ aquivalent zur G¨ ultigkeit der Aussage
(ab − c2 < 0) ∨ (a < 0) ∨ (b < 0) ∧ (ab − c2 < 0) ∨ (a > 0) ∨ (b > 0) . Eine Fallunterscheidung nach den Vorzeichen von a und b zeigt, dass das zur G¨ ultigkeit der Ungleichung ab − c2 < 0 a¨quivalent ist.
In Kapitel 5 werden wir diesen Satz f¨ ur beliebige Dimensionen formulieren und beweisen.
1 Differentialrechnung im Rn
18 1.16 Beispiel. Die Matrizen A=
5 3 , 3 2
B=
2 4 , 4 8
5 4 C= 4 3
sind positiv definit bzw. positiv semidefinit bzw. indefinit.
1.3.5
Schnittfunktionen
Es seien D ⊂ Rn und f : D → R eine reellwertige Funktion. Will man etwa ¨ den Einfluss der Variablen x1 auf das Anderungsverhalten von f untersuchen, so liegt es nahe, die u brigen Variablen x , . . . , x festzuhalten und die Schnitt¨ 2 n ¨ funktion x1 → f (x1 , . . . , xn ) zu betrachten. In Ubereinstimmung mit der schon fr¨ uher verwendeten Punkt-Schreibweise bezeichnen wir diese Funktion auch mit f (·, x2 , . . . , xn ). Bei fixierten Variablen x2 , . . . , xn ist diese Schnittfunktion eine Funktion einer reellen Variablen, die auf der (von x2 , . . . , xn abh¨ angenden) Menge {x1 : (x1 , . . . , xn ) ∈ D} definiert ist. F¨ ur beliebiges j ∈ {1, . . . , n} definiert man die Schnittfunktion von xj bei Festhalten aller u ¨ brigen Variablen analog. Bild 1.7 motiviert die Bezeichnung Schnittfunktion. Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt des Graphen G := {(x1 , x2 , f (x1 , x2 )) : x1 , x2 ∈ R} einer auf der ganzen Ebene R2 definierten Funktion f als hellgraue Fl¨ ache im R3 . Wird der Variablen x2 der feste Wert a2 zugewiesen, so schneidet man diese Fl¨ ache mit der dunkelgrau gezeichneten Ebene H := {(x1 , x2 , x3 ) : x1 , x3 ∈ R, x2 = a2 }. Der Graph der Schnittfunktion x1 → f (x1 , a2 ) wird dann als Durchschnitt G ∩ H der Mengen G und H sichtbar. Die Stetigkeit von f impliziert die Stetigkeit aller Schnittfunktionen. Wie das folgende Beispiel zeigt, kann man aber von der Stetigkeit der Schnittfunktionen nicht auf die Stetigkeit der Funktion selbst schließen. 1.17 Beispiel. Die Funktion f : R2 → R sei durch f (x, y) :=
xy x2 +y2 ,
falls (x, y) = (0, 0),
0,
falls (x, y) = (0, 0),
definiert. Man erkennt leicht, dass f in jedem Punkt (x, y) = (0, 0) stetig ist. Wegen f (x, 0) = f (0, y) = 0 sind die Schnittfunktionen x → f (x, 0) und y → f (0, y) stetig. Andererseits gilt f (1/k, 1/k) = 1/2 = 0 f¨ ur jedes k ∈ N, was zeigt, dass f im Punkt (0, 0) nicht stetig ist.
1.3 Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen f (x1 , x2 )
19 Schnittebene“ ” {(x1 , x2 , x3 ) : x2 = a2 } Graph der Schnittfunktion x1 → f (x1 , a2 )
a2
x2
x1 Bild 1.7: Zur Definition der Schnittfunktion
1.3.6
Eigenschaften stetiger Funktionen
Die εδ-Charakterisierung der Stetigkeit einer Funktion in einem Punkt (Satz I.6.4) l¨asst sich fast w¨ ortlich auf den allgemeineren Fall einer Funktion f : D → Rm n mit D ⊂ R u ¨bertragen. Die Funktion f ist genau dann stetig in x0 ∈ D, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass gilt: f (x) − f (x0 )2 ≤ ε
f¨ ur jedes x ∈ D mit x − x0 2 ≤ δ.
ultig ist (vgl. Satz 1.5), Da der Satz von Bolzano–Weierstraß auch im Rn g¨ k¨onnen wir jetzt die f¨ ur den Fall m = n = 1 formulierten S¨ atze I.6.5 und I.6.6 auf die allgemeine Situation u bertragen. Dabei benutzen wir die folgende Definition. ¨ n Eine auf einer Teilmenge D ⊂ R definierte reellwertige Funktion f heißt beschr¨ankt , wenn das Bild f (D) eine beschr¨ ankte Menge ist, wenn es also ein C > 0 mit der Eigenschaft f (x)2 ≤ C f¨ ur jedes x ∈ D gibt. 1.18 Satz. (Eigenschaften stetiger Funktionen) Sind D ⊂ Rn eine beschr¨ankte, abgeschlossene Menge und f : D → R eine stetige Funktion, so gilt: (i) Die Funktion f ist beschr¨ankt. (ii) Die Funktion f nimmt auf D ihr Minimum und ihr Maximum an, d.h. es gibt x1 , x2 ∈ D mit f (x1 ) = min{f (x) : x ∈ D},
f (x2 ) = max{f (x) : x ∈ D}.
1 Differentialrechnung im Rn
20
Wie das folgende Beispiel zeigt, ist die Abgeschlossenheit des Definitionsbereichs D eine wesentliche Voraussetzung f¨ ur die G¨ ultigkeit der Behauptungen (i) und (ii). 1.19 Beispiel. Die auf der beschr¨ankten Menge D = {x ∈ Rn : x2 < 1} des Rn definierte Funktion f (x) = 1/(1 − x2 ) ist stetig, aber nicht beschr¨ ankt. Sie nimmt auf D zwar ihr Minimum (= 1), aber nicht ihr Maximum an. Man beachte, dass die Menge D nicht abgeschlossen ist. Auch der Beweis des n¨achsten Satzes ist ganz analog zu dem von Satz I.7.7. 1.20 Satz. (Gleichm¨aßige Stetigkeit) ankte Menge und Es seien m, n ∈ N, D ⊂ Rn eine abgeschlossene und beschr¨ g : D → Rm eine stetige Funktion. Dann gibt es zu jedem ε > 0 ein δ > 0, so dass g(x) − g(x0 )2 ≤ ε
f¨ ur alle x, x0 ∈ D mit x − x0 2 ≤ δ.
(1.26)
Schließlich notieren wir noch die folgende n¨ utzliche Charakterisierung der Stetigkeit. 1.21 Satz. (Charakterisierung der Stetigkeit) Es seien D ⊂ Rn eine offene Menge und f : D → Rm eine Funktion. Dann sind die folgenden Aussagen ¨aquivalent: (i) Die Funktion f ist stetig. (ii) Das Urbild f −1 (U ) jeder offenen Menge U ⊂ Rm ist offen. Beweis: (i)⇒(ii): Es sei U ⊂ Rm eine offene Menge. Wir w¨ ahlen ein x0 ∈ f −1 (U ) und −1 haben zu zeigen, dass x0 ein innerer Punkt von f (U ) ist. Es sei y0 := f (x0 ) ∈ U . Weil U offen ist, gibt es ein ε > 0 mit B(y0 , ε) ⊂ U , und nach der obigen εδ-Charakterisierung der Stetigkeit in x0 gibt es ein δ > 0 mit f (x) ∈ B(y0 , ε) ⊂ U
f¨ ur jedes x ∈ B(x0 , δ) ∩ D.
Weil D offen ist, kann man δ so klein w¨ahlen, dass B(x0 , δ) ⊂ D gilt. Folglich ist unscht. B(x0 , δ) ⊂ f −1 (U ), wie gew¨ (ii)⇒(i): Es seien x0 ∈ D und ε > 0. Nach Voraussetzung ist das Urbild G von B ◦ (f (x0 ), ε) (unter der Abbildung f ) offen. Also gibt es ein δ > 0 mit B(x0 , δ) ⊂ G. Das bedeutet aber f (x)− f (x0 )2 ≤ ε f¨ ur alle x ∈ B(x0 , δ). Damit ist der Satz bewiesen.
1.3.7
H¨ aufungspunkte, Grenzwerte von Funktionen
Ein Punkt a ∈ Rn heißt H¨ aufungspunkt einer Menge D ⊂ Rn , falls jede Umgebung von a unendlich viele (verschiedene) Punkte aus D enth¨ alt.
1.4 Differentiation
21
aufungspunkt von D, wenn es Offenbar ist ein Punkt a ∈ Rn genau dann ein H¨ eine gegen a konvergierende Folge (xk ) in D gibt, so dass jedes Folgenglied xk von a verschieden ist. Gleichbedeutend hiermit ist die Aussage, dass jede Umgebung von a mindestens einen Punkt aus D \ {a} enth¨ alt. Jeder innere Punkt von D ist auch H¨aufungspunkt von D. Wie das Beispiel D = {0} zeigt, muss ein Randpunkt einer Menge nicht notwendig H¨aufungspunkt der Menge sein. Ist D eine abgeschlossene Kugel, so ist jeder Punkt von D auch H¨ aufungspunkt von D. Gleiches gilt f¨ ur Quader der Form {x = (x1 , . . . , xn ) : bj ≤ xj ≤ cj f¨ ur j = 1, . . . , n}. Hierbei gelte bj < cj f¨ ur j = 1, . . . , n. Das Wort Quader“ ist dabei durch den Fall ” n = 3 motiviert. In den F¨allen n = 1 und n = 2 ist ein Quader ein abgeschlossenes Intervall bzw. ein abgeschlossenes Rechteck. Es seien D ⊂ Rn , a ∈ Rn ein H¨aufungspunkt von D und f : D → R eine ¯ Grenzwert von f an der Stelle a, wenn Folgendes Funktion. Dann heißt y ∈ R richtig ist: f¨ ur jede gegen a konvergierende Folge (xk ) in D mit der Eigenschaft xk = a f¨ ur jedes k ∈ N gilt limk→∞ f (xk ) = y. In diesem Fall schreibt man lim f (x) = y
x→a
oder f (x) → y f¨ ur x → a. 1.22 Beispiel. Wie in Beispiel 1.17 betrachten wir die auf D := R2 \ {(0, 0)} definierte Funktion f (x, y) :=
x2
xy . + y2
Der Punkt (0, 0) ist ein H¨aufungspunkt von D. F¨ ur jedes c ∈ R und jedes k ∈ N 2 gilt f (1/k, c/k) = c/(1 + c ). Damit besitzt f keinen Grenzwert an der Stelle (0, 0). Insbesondere kann man den Funktionswert f (0, 0) nicht so festlegen, dass die dann auf ganz R2 definierte Funktion f im Punkt (0, 0) stetig w¨ are.
1.4
Differentiation
In diesem Abschnitt fixieren wir eine Menge D ⊂ Rn , deren Inneres D ◦ nichtleer ist, sowie eine Funktion f : D → R. Wie im Fall einer Funktion einer Variablen (vgl. Kapitel I.6) soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die Werte f (x) ¨ bei Anderungen des Argumentes x verhalten. Im Gegensatz zu fr¨ uher besteht ein wesentlicher Unterschied im Fall n ≥ 2 darin, dass die Ann¨ aherung x → a an den Punkt a von ganz verschiedenen Richtungen aus“ erfolgen kann. Ist etwa n = 2 ” und somit x = (x1 , x2 ) sowie a = (a1 , a2 ), so k¨ onnten wir x2 := a2 setzen und
1 Differentialrechnung im Rn
22
x1 eine gegen a1 konvergierende Folge durchlaufen lassen. In diesem Fall w¨ urden wir uns dem Punkt a in einem kartesischen Koordinatensystem von Ost-West“, ” also auf einer zur Abszisse parallelen Achse durch den Punkt a, ann¨ ahern. In gleicher Weise k¨ onnten wir uns dem Punkt a aber auch in Nord–S¨ ud-Richtung“ ” n¨ahern, wenn wir x1 := a1 setzen und x2 eine gegen a2 konvergierende Folge durchlaufen lassen. Man beachte, dass es unz¨ ahlige weitere M¨ oglichkeiten der Wahl von Folgen mit dem Grenzwert a gibt. Die beiden Spezialf¨ alle, eine der beiden Variablen konstant zu lassen und nur das jeweils andere Argument zu ver¨andern, f¨ uhren uns auf vertrautes Terrain; nur der im Folgenden vorgestellte Begriff der partiellen Ableitung ist neu.
1.4.1
Partielle Ableitungen
¨ Um den Einfluss einer bestimmten Variablen xj auf das Anderungsverhalten einer Funktion f der n Variablen x1 , . . . , xn zu untersuchen, fixiert man die u ¨brigen Variablen x1 , . . . , xj−1 , xj+1 , . . . , xn und betrachtet die Schnittfunktion x → f (x1 , . . . , xj−1 , x, xj+1 , . . . , xn ) (vgl. 1.3.5). Ist diese Funktion an der Stelle xj differenzierbar, so nennt man die Ableitung die partielle Ableitung von f nach der Variablen xj im Punkt (oder an der Stelle) (x1 , . . . , xn ). Die ausf¨ uhrliche Definition ist wie folgt: Die Funktion f heißt in einem inneren Punkt a = (a1 , . . . , an ) von D partiell differenzierbar nach (der j-ten Variablen) xj , wenn der Grenzwert ∂f f (a1 , . . . , aj−1 , x, aj+1 , . . . , an ) − f (a) (a) := lim x→aj ∂xj x − aj f (a1 , . . . , aj−1 , aj + h, aj+1 , . . . , an ) − f (a) = lim h→0 h
(1.27)
existiert und endlich ist. Dieser auch mit ∂f (a) ∂f := (a), ∂xj ∂xj
fxj (a) :=
∂f (a) ∂xj
oder ∂j f (a) :=
∂f (a) ∂xj
bezeichnete Grenzwert heißt dann partielle Ableitung von f nach xj im Punkt (oder an der Stelle) a. Man erh¨alt also die partielle Ableitung von f nach xj , indem man alle anderen Variablen als Konstanten betrachtet und die dann nur noch von xj abh¨ angende Funktion in gewohnter Weise nach xj differenziert. Ist die Funktion f in jedem Punkt x ∈ D ◦ partiell differenzierbar nach xj , so heißt die Funktion x → fxj (x) von D ◦ in R partielle Ableitung von f nach xj . ∂f Andere u ur fxj sind ∂x oder ∂j f . ¨bliche Bezeichnungen f¨ j
1.4 Differentiation
23
F¨ ur n = 1 stimmt die partielle Ableitung nat¨ urlich mit der Ableitung u ¨ berein. In diesem Fall schreibt man auch df (a) := f (a) dx
bzw. (etwas ungenauer)
df (x) := f (x), dx
(1.28)
verwendet also ein gew¨ohnliches d“ im Gegensatz zur Notation ∂“, welche aus” ” schließlich der partiellen Ableitungsbildung vorbehalten ist. Bild 1.8 illustriert die geometrische Bedeutung der partiellen Ableitung. Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt des Graphen einer auf der ganzen Ebene R2 definierten Funktion f als hellgraue Fl¨ache im R3 . Der Schnitt dieser Fl¨ ache mit der dunkelgrau gezeichneten Ebene H := {(x1 , x2 , x3 ) ∈ R3 : x2 = a2 } liefert den Graphen der Schnittfunktion x1 → f (x1 , a2 ) als Schnittkurve“ im R3 . Die ” partielle Ableitung fx1 (a) ist die Steigung der durch die Ebene H verlaufenden Tangente an diese Schnittfunktion durch den Punkt (a, f (a)). f (x1 , x2 ) Tangente an die Schnittfunktion x1 → f (x1 , a2 ) im Punkt (a, f (a)), Anstieg = fx1 (a)
(a, f (a)) •
x2
•
(a, 0)
x1 Bild 1.8: Geometrische Bedeutung der partiellen Ableitung fx1 (a)
1.23 Beispiel. Die durch f (u, v) := u sin(v)+v 2 eu definierte Funktion ist in jedem Punkt (u, v) ∈ R2 nach jeder Variablen partiell differenzierbar, und es gilt ∂f (u, v) = sin(v) + v2 eu , ∂u
∂f (u, v) = u cos(v) + 2veu . ∂v
1 Differentialrechnung im Rn
24
1.24 Beispiel. (Quadratische Formen) Es sei A = (ajk ) eine symmetrische n × n-Matrix. Dann ist die quadratische Form n
QA (x) = x, Ax =
ajk xj xk
j,k=1
in jedem Punkt x ∈ Rn partiell differenzierbar nach xi , und es gilt ∂ ∂ ∂ aik xi xk + aji xj xi + aii x2i ∂xi ∂xi ∂xi k=i j=i = aik xk + ajixj + 2aii xi
∂i QA (x) =
k=i n
=2
j=i
aij xj .
j=1
1.25 Beispiel. Die Funktion f (x) := exp(QA (x)) mit A wie in Beispiel 1.24 ist in jedem Punkt x ∈ Rn partiell differenzierbar nach xi , und aus der Kettenregel (vgl. I.6.6.9) folgt ∂i f (x) = 2 exp(QA (x))
n
aij xj ,
x ∈ Rn .
j=1
1.4.2
Partielle Differenzierbarkeit und Gradient
Die Funktion f heißt in einem Punkt a ∈ D◦ partiell differenzierbar, wenn sie dort nach jeder der n Variablen partiell differenzierbar ist. In diesem Fall nennt man den Vektor f (a) := (∂1 f (a), . . . , ∂n f (a))
(1.29)
den Gradienten von f im Punkt a. In der Literatur findet man hierf¨ ur auch die Schreibweisen grad f (a) := f (a) oder ∇f (a) := f (a). Ist die Funktion in jedem Punkt a ∈ D◦ partiell differenzierbar, so heißt f partiell differenzierbar (auf D ◦ ). In diesem Fall bezeichnet f die Abbildung x → f (x) von D ◦ in Rn . Sind dar¨ uber hinaus alle partiellen Ableitungen stetig, so nennt man f stetig partiell differenzierbar oder auch eine C 1 -Funktion. Bei dieser Sprechweise wird stillschweigend angenommen, dass der Definitionsbereich D offen ist, also D ◦ = D gilt.
1.4 Differentiation
25
1.26 Beispiel. F¨ ur die Funktion f (u, v) := u sin(v) + v 2 eu aus Beispiel 1.23 gilt
f (u, v) = sin(v) + v 2 eu , u cos(v) + 2veu ,
u, v ∈ R.
Da die partiellen Ableitungen stetig sind, ist f eine C 1 -Funktion auf R2 . Das folgende Beispiel zeigt, dass eine partiell differenzierbare Funktion nicht stetig sein muss. 1.27 Beispiel. F¨ ur die durch
f (x, y) :=
xy (x2 +y2 )2 ,
falls (x, y) = (0, 0),
0,
falls (x, y) = (0, 0),
definierte Funktion f : R2 → R gilt f (x, 0) = f (0, y) = 0 (x, y ∈ R) und somit fx (0, 0) = fy (0, 0) = 0. F¨ ur (x, y) = (0, 0) ergibt sich y 4x2 y − , (x2 + y 2 )2 (x2 + y 2 )3 x 4xy 2 − . fy (x, y) = 2 (x + y 2 )2 (x2 + y 2 )3
fx (x, y) =
Die Funktion f ist also partiell differenzierbar. Andererseits gilt f (1/k, 1/k) = k2 /4 → ∞ f¨ ur k → ∞. Damit ist f nicht stetig im Punkt (0, 0). Im obigen Beispiel sind die partiellen Ableitungen in jeder Umgebung von (0, 0) nicht beschr¨ankt. Jedoch gilt: 1.28 Satz. (Partielle Differenzierbarkeit und Stetigkeit) Die Funktion f sei in jedem Punkt einer Umgebung U ⊂ D von a ∈ D partiell differenzierbar, und die partiellen Ableitungen seien dort beschr¨ ankt. Dann ist f stetig in a. Beweis: Wir f¨ uhren den Beweis f¨ ur den Fall n = 2; der allgemeine Beweis erfolgt analog. Wir setzen a =: (a1 , a2 ) und w¨ahlen δ > 0 so klein, dass die Menge Uδ := {(x, y) : |x − a1 | ≤ δ, |y − a2 | ≤ δ} Teilmenge von U ist. F¨ ur (x, y) ∈ Uδ liefert der erste Mittelwertsatz (vgl. Satz I.6.50) die Darstellung f (x, y) − f (a1 , a2 ) = f (x, y) − f (x, a2 ) + f (x, a2 ) − f (a1 , a2 ) = fy (x, ξ2 )(y − a2 ) + fx (ξ1 , a2 )(x − a1 )
1 Differentialrechnung im Rn
26
mit einem ξ1 zwischen a1 und x und einem ξ2 zwischen a2 und y. Weil die partiellen Ableitungen auf Uδ beschr¨ankt sind, gibt es ein C > 0 mit |f (x, y) − f (a1 , a2 )| ≤ C|y − a2 | + C|x − a1 |. F¨ ur (x, y) → a strebt dieser Ausdruck gegen 0. Die Funktion f ist also stetig in a.
Wegen Satz 1.18 sind die Voraussetzungen von Satz 1.28 erf¨ ullt, falls die partiellen Ableitungen in jedem Punkt einer Umgebung von a existieren und stetig sind.
1.4.3
H¨ ohere partielle Ableitungen
Die Funktion f sei partiell differenzierbar auf der offenen Menge D. Sind i, j ∈ {1, . . . , n} und ist ∂i f partiell differenzierbar nach xj , so heißt die Funktion ∂2f ∂f ∂ (kurz: ∂j ∂i f := ∂j (∂i f )) := ∂xj ∂xi ∂xj ∂xi partielle Ableitung zweiter Ordnung (nach xi und nach xj ) von f . Induktiv definiert man f¨ ur k ≥ 2 und i1 , . . . , ik ∈ {1, . . . , n} h¨ohere Ableitungen k-ter Ordnung durch ∂ k−1 f ∂ ∂k f . := ∂xik . . . ∂xi1 ∂xik ∂xik−1 . . . ∂xi1 Andere Schreibweisen hierf¨ ur sind fxi1 ,...,xik bzw. ∂ik . . . ∂i1 f . Die Funktion f heißt k-mal partiell differenzierbar , falls alle partiellen Ableitungen k-ter Ordnung existieren. Sind diese Ableitungen dar¨ uber hinaus stetig, so nennt man f k-mal stetig partiell differenzierbar oder auch eine C k -Funktion. Diese Bezeichnung wird zweckm¨aßigerweise noch um den Fall k = 0 erweitert: eine Funktion f : D → R heißt C 0 -Funktion, wenn sie auf D stetig ist. Man beachte, dass die Indizes i1 , . . . , ik in der obigen Definition nicht paarweise verschieden sein m¨ ussen. Beispielsweise sind im Fall n = 2 die Funktionen ∂1 ∂1 f , ∂1 ∂2 f , ∂2 ∂1 f und ∂2 ∂2 f die h¨oheren Ableitungen zweiter Ordnung. Alternative 2 2 ur Schreibweisen f¨ ur ∂1 ∂1 f bzw. ∂2 ∂2 f sind ∂∂xf2 bzw. ∂∂xf2 . Entsprechendes gilt f¨ 1 2 Funktionen von drei oder mehr Ver¨anderlichen. F¨ ur den Fall einer Ver¨ anderlichen schreibt man f¨ ur jedes k ∈ N (analog zu (1.28)) dk f (a) := f (k) (a) bzw. (etwas ungenauer) dxk
dk f (x) := f (k)(x). dxk
1.29 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 1.23) F¨ ur die durch f (u, v) := u sin(v) + v 2 eu definierte Funktion gilt ∂2f = v 2 eu , ∂u2
∂2f ∂2f = cos(v) + 2veu = , ∂u∂v ∂v∂u
∂2f = −u sin(v) + 2eu . ∂v2
1.4 Differentiation
27
Da diese partiellen Ableitungen stetig sind, ist f eine C 2 -Funktion auf R2 . 1.30 Beispiel. F¨ ur die durch f (x, y) :=
xy · 0,
x2 −y2 , x2 +y2
falls (x, y) = (0, 0), falls (x, y) = (0, 0),
definierte Funktion gilt ∂1 f (x, y) =
y(x2 − y 2 ) xy(2x) xy(x2 − y 2 )(2x) + − , x2 + y 2 x2 + y 2 (x2 + y 2 )2
ur jedes x ∈ R. falls (x, y) = (0, 0). Wegen f (x, 0) = 0 gilt ferner ∂1 f (x, 0) = 0 f¨ (Der Leser m¨oge sich u ¨ berlegen, dass ∂1 f eine stetige Funktion auf R2 ist.) Aus ∂1 f (0, y) = −y f¨ ur jedes y ∈ R folgt ∂2 ∂1 f (0, 0) = −1. Analog folgt ∂2 f (x, 0) = x f¨ ur jedes x ∈ R und damit ∂1 ∂2 f (0, 0) = 1. Im Gegensatz zu Beispiel 1.29 sind also die gemischten“ partiellen Ableitungen zweiter Ordnung verschieden! ” Man kann sich leicht davon u ¨ berzeugen, dass die partiellen Ableitungen im obigen Beispiel nicht stetig sind. Wie das folgende Resultat zeigt, ist unter Stetigkeitsvoraussetzungen (welche in Beispiel 1.29 vorliegen) die Reihenfolge der Variablen beim partiellen Differenzieren beliebig vertauschbar. 1.31 Satz. (Vertauschbarkeitssatz von H.A. Schwarz) Es seien D ⊂ Rn eine offene Menge, und die Funktion f : D → R sei zweimal stetig partiell differenzierbar. Dann gilt f¨ ur alle i, j ∈ {1, . . . , n} ∂j ∂i f = ∂i ∂j f. Beweis: Es gen¨ ugt, den Beweis f¨ ur den Fall n = 2 zu f¨ uhren. Wir k¨ onnen dann i = 1 und j = 2 annehmen. Ist (a, b) ein beliebiger Punkt aus D, so gibt es aufgrund der Offenheit von D ein ε > 0 mit Uε := {(x, y) : |x − a| ≤ ε, |y − b| ≤ ε} ⊂ D. F¨ ur (x, y) ∈ Uε mit x = a und y = b betrachten wir die Funktion h(x, y) := f (x, y) − f (a, y) − f (x, b) + f (a, b) und setzen kurz Z(y) := f (x, y) − f (a, y). Durch zweimalige Anwendung des Mittelwertsatzes ergibt sich h(x, y) = Z(y) − Z(b) = Z (ξ2 )(y − b) = (fy (x, ξ2 ) − fy (a, ξ2 ))(y − b) = fy,x (ξ1 , ξ2 )(x − a)(y − b)
1 Differentialrechnung im Rn
28
f¨ ur ein ξ2 zwischen b und y und ein ξ1 zwischen a und x. Analog erhalten wir h(x, y) = f (x, y) − f (x, b) − (f (a, y) − f (a, b)) = (fx (η1 , y) − fx (η1 , b))(x − a) = fx,y (η1 , η2 )(x − a)(y − b) f¨ ur ein η1 zwischen a und x und ein η2 zwischen b und y. Wegen x = a und y = b folgt fy,x (ξ1 , ξ2 ) = fx,y (η1 , η2 ). Beim Grenz¨ ubergang (x, y) → (a, b) gilt auch (ξ1 , ξ2 ) → (a, b) und (η1 , η2 ) → (a, b), so dass die Stetigkeit der obigen partiellen Ableitungen die Gleichung fy,x (a, b) = fx,y (a, b) liefert.
Ist f mehr als zweimal stetig partiell differenzierbar, so kann man Satz 1.31 mehrfach anwenden. Es folgt: 1.32 Folgerung. (Reihenfolge der Differentiationen) Ist k ≥ 2 und f eine C k -Funktion, so ist die Reihenfolge der Differentiationen zur Bildung der partiellen Ableitungen bis zur k-ten Ordnung beliebig vertauschbar.
1.4.4
¨ Das lokale Anderungsverhalten einer C 1 -Funktion
Es seien D ⊂ Rn eine offene Menge, f : D → R eine C 1 -Funktion und a ∈ D. In Verallgemeinerung der bisherigen Betrachtungen untersuchen wir jetzt das ¨ Anderungsverhalten von f , also die mit Δf (x) := f (x) − f (a),
x ∈ D,
bezeichnete Differenz bei beliebiger Ann¨aherung x → a. Es wird sich zeigen, dass Δf (x) beim Grenz¨ ubergang x → a in erster Approximation durch die Funktion ¨ ur das lokale Anderungsverhalten von f an x → f (a), x − a beschrieben wird; f¨ der Stelle a kommt also dem Gradienten f (a) von f im Punkt a eine ausgezeichnete Rolle zu. Aus rein schreibtechnischen Gr¨ unden beschr¨ anken wir uns auf den Fall n = 2 und setzen a =: (a1 , a2 ), x =: (x1 , x2 ) sowie h1 := x1 − a1 , h2 := x2 − a2 . Die Grundidee besteht darin, die Differenz Δf (x) in der Form Δf (x) = f (a1 + h1 , a2 + h2 ) − f (a1 , a2 + h2 ) + f (a1 , a2 + h2 ) − f (a1 , a2 )
(1.30) (1.31)
als Summe zweier Funktions¨anderungen bei Festhalten jeweils einer Variablen ¨ darzustellen. Dieser Zerlegung entspricht ein Ubergang von a zu x in zwei Schritten, n¨amlich zun¨achst in Nord-S¨ ud-Richtung“ von (a1 , a2 ) zu (a1 , a2 + h2 ) (die” ser Schritt liefert die in (1.31) stehende Differenz) und danach in West-Ost” ¨ des Argumentes Richtung“ von (a1 , a2 + h2 ) zu (a1 + h1 , a2 + h2 ) (diese Anderung bewirkt den in (1.30) auftretenden Beitrag zu Δf (x), vgl. Bild 1.9).
1.4 Differentiation
29
x •
a2 +h2
Bild 1.9: Zerlegung von Δf (x) ¨ durch Ubergang von a zu x in zwei Schritten
a •
a2
a1
a1 +h1
Es seien |h1 | und |h2 | so klein gew¨ahlt, dass das Rechteck [a1 − |h1 |, a1 + |h1 |] × [a2 − |h2 |, a2 + |h2 |] ganz in D enthalten ist. Eine Anwendung des ersten Mittelwertsatzes (Satz I.6.50) auf die Schnittfunktion f (·, a2 + h2 ) liefert dann f (a1 + h1 , a2 + h2 ) − f (a1 , a2 + h2 ) = fx1 (ξ1 , a2 + h2 ) · h1 = fx1 (a1 , a2 ) · h1 + R1 · h1 , wobei ξ1 zwischen a1 und a1 + h1 liegt und der K¨ urze halber R1 := fx1 (a1 , a2 + h2 ) − fx1 (a1 , a2 ) gesetzt wurde. In gleicher Weise ergibt sich f (a1 , a2 + h2 ) − f (a1 , a2 ) = fx2 (a1 , ξ2 ) · h2 = fx2 (a1 , a2 ) · h2 + R2 · h2 mit einem ξ2 zwischen a2 und a2 + h2 und der abk¨ urzenden Schreibweise R2 := fx2 (a1 , ξ2 ) − fx2 (a1 , a2 ). Man beachte, dass R1 = R1 (x,a) und R2 = R2 (x,a) Funktionen von x und a sind. Insgesamt folgt also Δf (x) = fx1 (a) · (x1 − a1 ) + fx2 (a) · (x2 − a2 ) + R(x,a)
(1.32)
f (x) = f (a) + f (a), x − a + R(x,a)
(1.33)
bzw.
mit einer durch R(x,a) := R1 (x,a) · (x1 − a1 ) + R2 (x,a) · (x2 − a2 )
1 Differentialrechnung im Rn
30
definierten Restfunktion“ R(x,a). Dabei gilt f¨ ur x = a ” |R(x,a)| |R(x,a)| ≤ |R1 (x,a)| + |R2 (x,a)|. = |x1 − a1 | + |x2 − a2 | x − a1 Nach Definition von R1 (x,a) und R2 (x,a) und der Stetigkeit der partiellen Abubergang x → a leitungen fx1 und fx2 strebt der letzte Ausdruck beim Grenz¨ gegen Null. Da die Betragssummennorm · 1 zur euklidischen Norm ¨ aquivalent ist (vgl. (1.14), (1.15)), folgt dann auch R(x,a) = 0. x→a x − a2 lim
(1.34)
Diese Betrachtungen motivieren die nachfolgende grundlegende Begriffsbildung.
1.4.5
Totale Differenzierbarkeit
Es seien D ⊂ Rn eine Menge mit D◦ = ∅ und f : D → R eine Funktion. Die Funktion f heißt ( total bzw. vollst¨andig ) differenzierbar im Punkt a ∈ D◦ , wenn gilt: (i) f ist partiell differenzierbar in a. (ii) Es gilt f (x) − f (a) − f (a), x − a = 0. x→a x − a2 lim
(1.35)
In diesem Fall heißt der Gradient f (a) = (∂1 f (a), . . . , ∂n f (a)) die Ableitung von f an der Stelle a. Die Funktion f heißt (total bzw. vollst¨andig) differenzierbar, falls sie in jedem Punkt von D◦ differenzierbar ist. Offenbar steht diese Definition im Spezialfall n = 1 ganz im Einklang mit dem aus I.6.6.1 bekannten Differenzierbarkeitsbegriff. Die Differenzierbarkeit einer Funktion f einer Variablen x im Punkt a ∈ D ◦ ist zu Bedingung (i) ¨ aquivalent. Besitzt f im Punkt a die Ableitung f (a), so gilt f (x) − f (a) − f (a) = 0 lim x→a x−a
und somit auch lim
x→a
f (x) − f (a) − f (a)(x − a) |x − a|
= 0,
also (ii). Zwischen den Begriffen partielle und totale Differenzierbarkeit besteht folgender Zusammenhang.
1.4 Differentiation
31
1.33 Satz. (Totale und partielle Differenzierbarkeit) (i) Die Funktion f ist genau dann im Punkt a ∈ D◦ differenzierbar, wenn es einen Vektor k ∈ Rn gibt, so dass gilt: f (x) − f (a) − k, x − a = 0. x→a x − a2 lim
(1.36)
In diesem Fall ist f partiell differenzierbar in a, und es gilt k = f (a). (ii) Jede C 1 -Funktion ist differenzierbar. Beweis: (i) Die Gleichung (1.35) impliziert (1.36) f¨ ur k = f (a). Es sei jetzt umgekehrt uge, d.h. es vorausgesetzt, dass der Vektor k = (k1 , . . . , kn ) der Bedingung (1.36) gen¨ gelte f (a + h) − f (a) − k, h = 0. h→0 h2 lim
(1.37)
ahlen wir in (1.37) speziell h = tej Es sei ej der j-te kanonische Einheitsvektor im Rn . W¨ (t = 0), so folgt f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , n} lim
f (a + tej ) − f (a) − tkj =0 |t|
lim
f (a + tej ) − f (a) − tkj =0 t
t→0
und somit t→0
bzw.
f (a + tej ) − f (a) = kj . t→0 t lim
Die Funktion f ist also partiell differenzierbar in a, und es gilt k = f (a). (ii) Diese Aussage folgt unmittelbar aus (1.33) und (1.34) .
Nach Satz 1.33 ist f genau dann eine C 1 -Funktion, also stetig partiell differenzierbar, wenn f differenzierbar ist und die Abbildung x → f (x) von D in Rn stetig ist. Aus diesem Grund nennt man eine C 1 -Funktion auch eine stetig differenzierbare Funktion. Wie im Fall n = 1 ist jede differenzierbare Funktion insbesondere auch stetig. Aus der Differenzierbarkeit von f in a folgt n¨ amlich mit (1.35) die Konvergenz lim (f (x) − f (a) − f (a), x − a) = 0
x→a
und somit f (x) → f (a) f¨ ur x → a. Zusammen mit Beispiel 1.27 zeigt diese ¨ Uberlegung, dass allein aus der partiellen Differenzierbarkeit im Allgemeinen nicht die Differenzierbarkeit gefolgert werden kann!
1 Differentialrechnung im Rn
32
1.4.6
Geometrische Interpretation der Differenzierbarkeit
Eine in einem Punkt a = (a1 , . . . , an ) differenzierbare Funktion f : D → R wird nach (1.35) in der N¨ahe des Punktes a durch die Funktion g(x) := f (a) + f (a), x − a,
x ∈ Rn ,
approximiert, denn es gilt lim
x→a
f (x) − g(x) = 0. x − a2
(1.38)
Wegen g(x) = f (a), x + f (a) − f (a),a ist g : Rn → R die Summe einer linearen Funktion und einer Konstanten; eine Funktion dieser Gestalt wird affin genannt. Der Graph von g ist die den Punkt (a1 , . . . , an , f (a)) enthaltende Menge Tf (a) aller Punkte (x1 , . . . , xn , y) ∈ Rn+1 , die der Gleichung y = f (a) +
n
∂j f (a) · (xj − aj )
(1.39)
j=1
gen¨ ugen. Da das (im Rn+1 gebildete) Skalarprodukt der beiden Vektoren n ∂j f (a) · (xj − aj ) , (∂1 f (a), . . . , ∂n f (a), −1) x1 , . . . , xn , f (a) + j=1
unabh¨angig von (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn den Wert n
∂j f (a) · aj − f (a)
j=1
annimmt, ist Tf (a) eine Hyperebene im Rn+1 (vgl. I.8.6.2), die sogenannte Tangentialebene (im Fall n = 1: Tangente) an (den Graphen von) f im Punkt (a, f (a)). Gleichung (1.38) bedeutet, dass sich diese Hyperebene in einer Umgebung von (a, f (a)) an den Graphen von f anschmiegt“. Bild 1.10 veranschaulicht ” den Fall n = 2. Bezeichnet ej den j-ten kanonischen Einheitsvektor im Rn , und setzt man in (1.39) λj := xj − aj , so ergibt sich, dass Tf (a) die Menge aller Vektoren der Gestalt (a, f (a)) +
n
λj (ej , fxj (a)),
λ1 , . . . , λn ∈ R,
(1.40)
j=1
ist. Die Tangentialhyperebene wird also von den in (a, f (a)) angetragenen (linear unabh¨angigen) Vektoren (ej , fxj (a)), j = 1, . . . , n, aufgespannt.
1.4 Differentiation
33
f (x1 , x2 ) Tf (a) (a, f (a)) Bild 1.10: Tangentialebene an f im Punkt (a, f (a))
•
•
x2
a (a, 0)
x1
Aus Darstellung (1.40) wird auch die geometrische Bedeutung der partiellen Ableitungen fxj (a) deutlich: Da fxj (a) den Tangens des Neigungswinkels der Tangente an die Schnittfunktion x → f (a1 , . . . , aj−1 , x, aj+1 , . . . , an ) an der Stelle aj angibt, bestimmt die partielle Ableitung fxj (a) den Neigungswinkel der Tangentialebene an f im Punkt (a, f (a)) mit der xj -Achse eines kartesischen Koordinatensystems im Rn . Bildet man das Skalarprodukt der Vektoren (ej , fxj (a)) und (f (a), −1), so ergibt sich
(ej , fxj (a)), (f (a), −1) = (ej , f (a) − fxj (a) = 0,
j = 1, . . . , n.
Somit ist (∂1 f (a), . . . , ∂n f (a), −1) ein Normalenvektor der Tangentialebene; dieser Vektor steht senkrecht auf dem Richtungsraum von Tf (a) (Bild 1.11). 1.34 Beispiel. Die durch f (x) := x21 + x22 , x = (x1 , x2 ) ∈ R2 , definierte Funktion f : R2 → R (vgl. Bild 1.5 links) ist auf ganz R2 differenzierbar, und es gilt f (x) = (2x1 , 2x2 ). Die Tangentialebene Tf (a) im Punkt (a, f (a)) = (1, 0, 1) ist durch die Gleichung y = f (a) + ∂1 f (a) · (x1 − a1 ) + ∂2 f (a) · (x2 − a2 ) = 1 + 2(x1 − 1) gegeben, d.h. es gilt Tf (1, 0) = {(x1 , x2 , y) ∈ R3 : x1 , x2 ∈ R, y = 1 + 2(x1 − 1)}. Die Ebene Tf (1, 0) wird von den im Punkt (1, 0, 1) angetragenen Vektoren (1, 0, 2) und (0, 1, 0) aufgespannt. Ein Normalenvektor von Tf (1, 0) ist (2, 0, −1).
1 Differentialrechnung im Rn
34 f (x1 , x2 )
in (a, f (a)) angetragener Normalenvektor
•
•
x2
x1 Bild 1.11: Der Normalenvektor steht senkrecht auf der Tangentialebene
1.4.7
Das vollst¨ andige Differential
Die Funktion f : D → R sei im Punkt a ∈ D differenzierbar; es gelte also (i) und (ii) aus 1.4.5. Schreiben wir abk¨ urzend h := x − a f¨ ur die Differenz zwischen x und a, so geht die Grenzwertaussage (1.35) in f (a + h) − f (a) − f (a), h =0 h→0 h2 lim
(1.41)
u anderung f (a + h) − f (a) bei ¨ber. Diese Gleichung bedeutet, dass die Funktions¨ kleinem h durch das Skalarprodukt
f (a), h =
n ∂f (a) · hj ∂xj j=1
(h = (h1 , . . . , hn )) approximiert wird. Es gilt also f (a + h) ≈ f (a) + f (a), h bei kleinem h. Nach (1.41) ist diese N¨aherungsformel so gut, dass der im Z¨ ahler von (1.41) stehende Approximationsfehler sogar bei Division durch h2 f¨ ur h → 0 gegen Null konvergiert. Die lineare Abbildung h → f (a), h von Rn in R, welche die Funktions¨anderung f (a + h) − f (a) f¨ ur kleines h approximiert, heißt vollst¨andiges Differential von f im Punkt a. Sie wird auch mit df (a) oder Df (a) bezeichnet.
1.4 Differentiation
35
Man beachte, dass df (a) : Rn → R eine Funktion ist, deren Wert an der Stelle h ∈ Rn in der Form df (a)(h) geschrieben werden muss. Dagegen ist a der Punkt, an dem das vollst¨andige Differential gebildet wird. Auch a → df (a) ist eine Abbildung, n¨amlich eine Abbildung von D in die Menge aller linearen Abbildungen von Rn in R. Bei ihr handelt es sich um die Abbildung a → f (a) in etwas anderer Verkleidung. Das folgende Beispiel soll die neue Begriffsbildung illustrieren. 1.35 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 1.23) F¨ ur die Funktion f (x, y) = x sin(y) + y 2 ex aus Beispiel 1.23 gilt f (a) = (sin a2 + a22 ea1 , a1 cos a2 + 2a2 ea1 ),
a = (a1 , a2 ) ∈ R2 .
Somit ist das vollst¨andige Differential df (a) : R2 → R von f an der Stelle a durch
h = (h1 , h2 ) ∈ R2 , df (a)(h) = sin a2 + a22 ea1 · h1 + (a1 cos a2 + 2a2 ea1 ) · h2 , gegeben.
1.4.8
Differentiationsregeln
Wir fahren jetzt mit einigen Differentiationsregeln fort. Zun¨ achst ergibt sich aus den Grenzwerts¨atzen 1.4 und der Definition: 1.36 Satz. (Linearit¨at des vollst¨andigen Differentials) Sind f, g : D → R im Punkt a ∈ D differenzierbar und sind λ, μ ∈ R, so ist auch die Funktion λf + μg in a differenzierbar, und es gilt (λf + μg) (a) = λ · f (a) + μ · g (a). Satz 1.36 besagt, dass die Ableitung einer Linearkombination von Funktionen gleich der Linearkombination der Ableitungen der einzelnen Funktionen ist. In Verallgemeinerung der Kettenregel (vgl. I.6.6.9) macht das n¨ achste Resultat eine Aussage u ¨ber die Ableitung einer Komposition von Abbildungen. 1.37 Satz. (Kettenregel) Es seien I ⊂ R und D ⊂ Rn offene Mengen, g eine Funktion von I in Rn mit Koordinatenfunktionen g1 , . . . , gn und der Eigenschaft g(I) ⊂ D sowie f : D → R. Sind die Funktionen g1 , . . . , gn differenzierbar in t0 ∈ I und die Funktion f differenzierbar in g(t0 ) ∈ D, so ist die Komposition (Hintereinanderausf¨ uhrung) f ◦ g : I → R,
t → f ◦ g(t) := f (g(t)),
differenzierbar im Punkt t0 , und es gilt (f ◦ g) (t0 ) = f (g(t0 )), g (t0 ) n ∂j f (g(t0 )) · gj (t0 ). = j=1
(1.42)
1 Differentialrechnung im Rn
36
Dabei wurde abk¨ urzend g (t0 ) := (g1 (t0 ), . . . , gn (t0 )) gesetzt. Beweis: Es sei t ∈ I mit t = t0 . Mit der abk¨ urzenden Schreibweise R(t, t0 ) :=
f ◦ g(t) − f ◦ g(t0 ) − f (g(t0 )), g(t) − g(t0 ) g(t) − g(t0 )2
f¨ ur g(t) = g(t0 ) und R(t, t0 ) := 0 f¨ ur g(t) = g(t0 ) gilt
f ◦ g(t) − f ◦ g(t0 ) g(t) − g(t0 )2 g(t) − g(t0 ) = R(t, t0 ) · + f (g(t0 )), . t − t0 t − t0 t − t0
(1.43)
ur t → t0 , und aus (1.41) (mit a := g(t0 ) und Weil g in t0 stetig ist, gilt g(t) → g(t0 ) f¨ h := g(t) − g(t0 )) folgt limt→t0 R(t, t0 ) = 0. Außerdem gilt lim
t→t0
g(t) − g(t0 )2 = g (t0 )2 . |t − t0 |
Damit folgt die Behauptung aus (1.43) f¨ ur t → t0 .
In der Form (1.42) l¨asst sich die Kettenregel am einfachsten merken: Sind f und g reellwertig, so gilt (f ◦ g) (t) = f (g(t)) · g (t) (vgl. I.6.6.9). Ist g vektorwertig, so sind f (g(t)) und g (t) vektorwertig, und man hat dann das Produkt durch das Skalarprodukt f (g(t)), g (t) zu ersetzen. In Anwendungen bezeichnet man die Funktionen gj in Satz 1.37 z.B. oft mit t → xj (t). Die Kettenregel nimmt dann die einpr¨ agsame Gestalt d dxi f (x1 (t0 ), . . . , xn (t0 )) = (t0 ) ∂i f (x1 (t0 ), . . . , xn (t0 )) dt dt n
i=1
an. Noch kompakter wird es mit der Abk¨ urzung x(t) := (x1 (t), . . . , xn (t)) und Weglassen des Argumentes t0 : dxi df (x) = . ∂i f (x) dt dt n
i=1
1.38 Beispiel. Es sei f eine differenzierbare Funktion von R2 in R. Dann ist die durch h(t) := f (sin t, cos t),
t ∈ R,
definierte Funktion h : R → R differenzierbar, und es gilt nach der Kettenregel (mit g(t) := (sin t, cos t)) h (t) = fx (sin t, cos t) · cos t − fy (sin t, cos t) · sin t. Im Spezialfall f (x, y) = x2 + y 2 ergibt sich somit h (t) = 2 sin t cos t − 2 cos t sin t = 0. Wegen sin2 t + cos2 t = 1 ist dieses Resultat nat¨ urlich nicht u ¨berraschend.
1.4 Differentiation
37
1.39 Beispiel. Die Funktion f (x, y, z) := exyz ist differenzierbar, und es gilt f (x, y, z) = (yzexyz , xzexyz , xyexyz ) . Aus der Kettenregel (1.42) folgt (mit g(t) := (t2 , sin t, cos t)), dass die Ableitung der Funktion h(t) := exp(t2 sin t cos t) durch h (t) = sin t cos t(h(t))2t + t2 cos t(h(t)) cos t − t2 sin t(h(t)) sin t gegeben ist. Dieses Ergebnis kann man nat¨ urlich auch aus den bereits fr¨ uher bekannten Differentiationsregeln herleiten.
1.4.9
Kurven im Rn
Sind I ⊂ R ein Intervall und g1 , . . . , gn stetige reellwertige Funktionen auf I, so nennt man die durch g(t) := (g1 (t), . . . , gn (t)),
t ∈ I,
definierte Abbildung g : I → Rn eine Kurve in Rn . Die Kurve g heißt (stetig) differenzierbar, falls die Abbildungen g1 , . . . , gn (stetig) differenzierbar sind. Die Bildmenge g(I) heißt Bild (oder Bahn) der Kurve. H¨ aufig wird auch g(I) als Kurve bezeichnet (und manchmal sogar mit g identifiziert). Man mache sich aber klar, dass etwa die durch g(t) := (t, t2 ) und h(t) := (1 − t, (1 − t)2 ) definierten Kurven g, h : [0, 1] → R2 verschieden sind, obwohl sie das gleiche Bild (Normalparabelbogen u ¨ ber [0,1]) besitzen. Die Kurven g und h durchlaufen ihre gemeinsame Bahn in entgegengesetzter Richtung! In Anwendungen bilden Kurven oft Modelle f¨ ur die Bewegung eines Teilchens im Raum Rn . In diesem Fall wird das Intervall I = [a, b] als Zeitintervall gedeutet, so dass g(t) die Position des Teilchens zum Zeitpunkt t angibt (Bild 1.12 links). 1.40 Beispiel. (Ellipse) Es seien I := [0, 2π] sowie g(t) := (2 cos t, sin t). Dann ist das Bild g(I) eine Ellipse mit Zentrum (0, 0) (Bild 1.12 rechts). Durchl¨ auft t das Intervall [0, 2π], so durchl¨auft ein Teilchen die Ellipse vom Punkt (2, 0) ausgehend einmal entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn. Eine allgemeine Ellipse mit Mittelpunkt (x0 , y0 ) und Halbachsen a, b > 0 erh¨alt man als Bild g(I) der Kurve g(t) := (x0 + a cos t, y0 + b sin t). Nach dieser Definition gen¨ ugen die Punkte (x, y) ∈ g(I) einer Ellipse der Gleichung (x − x0 )2 (y − y0 )2 + = 1. a2 b2
(1.44)
1 Differentialrechnung im Rn
38 x3
x2
g(b) •
1 •
g(a)
x1
x2
x1 Bild 1.12: Bahn einer Kurve im R3 (links) und Ellipse (rechts)
Aus den Eigenschaften von Sinus und Kosinus folgt leicht, dass die Funktion g auf [0, 2π) injektiv ist. Setzt man f¨ ur einen der Gleichung (1.44) gen¨ ugenden Punkt (x, y) arccos((x − x0 )/a), falls y ≥ y0 , t := 2π − arccos((x − x0 )/a), falls y < y0 , so folgt g(t) = (x, y). Die durch (1.44) definierte Ellipse ist also das (bijektive!) Bild des Intervall [0, 2π) unter der Abbildung g. F¨ ur a = b ergibt sich ein Kreis mit Mittelpunkt (x0 , y0 ) und Radius a. Beschreibt eine Kurve die zeitabh¨angige Bewegung eines Teilchens, so liegt die Frage nach der momentanen Geschwindigkeit (des Teilchens) zu einem festen Zeitpunkt t0 ∈ I nahe. Diese Momentangeschwindigkeit sollte anschaulich durch einen Vektor beschrieben werden k¨onnen, dessen Richtung die momentane Bewegungsrichtung und dessen L¨ange die Gr¨ oße der Momentangeschwindigkeit angeben. Bild 1.13 (links) zeigt f¨ ur ein t ∈ I mit t > t0 den in g(t0 ) angetragenen Vektor g(t) − g(t0 ). Er legt die Richtung der Sekante {g(t0 ) + s(g(t) − g(t0 )) : s ∈ R} der Kurve durch die Punkte g(t0 ) und g(t) fest. W¨ urde sich das Teilchen innerhalb der Zeitspanne [t, t0 ] geradlinig entlang der Sekante von g(t0 ) nach g(t) bewegen, so h¨atte es in der Zeit t − t0 den Weg g(t) − g(t0 )2 zur¨ uckgelegt; der Betrag seiner mittleren Geschwindigkeit im Zeitraum [t0 , t] w¨ are also nach der Formel Geschwindigkeit gleich Weg durch Zeit“ der Quotient ” g(t) − g(t0 )2 , (1.45) t − t0 und die Richtung der Bewegung w¨ urde durch den Vektor g(t) − g(t0 ) t − t0
(1.46)
1.4 Differentiation
39
angegeben. Tats¨achlich hat jedoch das Teilchen im Zeitintervall [t0 , t] entlang der Kurve einen l¨angeren Weg zur¨ uckgelegt und seine Bewegungsrichtung kontinuierlich ver¨andert. x3
x3 •
g(t)
• g(t0 )
• g(t0 )
x2 x1
x2 x1
Bild 1.13: Sekante durch g(t0 ) und g(t) (links) und Tangente als Grenzlage der Sekante (rechts)
Die momentane“ Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t0 ergibt sich beim Grenz” u ¨bergang t → t0 in (1.45) und (1.46). Ist die Kurve g differenzierbar an der Stelle t0 , so ist die Richtung der Momentangeschwindigkeit zur Zeit t0 durch den Grenzwert in (1.46) f¨ ur t → t0 , also den Vektor g (t0 ) = (g1 (t0 ), . . . , gn (t0 )) = lim
t→t0
g(t) − g(t0 ) t − t0
der Ableitungen g1 (t0 ), . . . , gn (t0 ), gegeben. Die Gr¨oße dieser momentanen Geschwindigkeit ist der Grenzwert n 1/2 g(t) − g(t0 )2 |gj (t0 )|2 = lim . g (t0 )2 = t→t0 t − t0 j=1
Differenzierbare Kurven mit der Eigenschaft g (t) = 0 f¨ ur jedes t ∈ I heißen regul¨ ar. Dem Grenz¨ ubergang t → t0 in (1.45) und (1.46) entspricht geometrisch der ¨ Ubergang von der Sekante zwischen g(t0 ) und g(t) zur Tangente an g im Punkt g(t0 ) (siehe Bild 1.13 rechts). (Jeder Punkt dieser Tangente ist von der Form g(t0 ) + λg (t0 ) f¨ ur ein λ ∈ R.) Man nennt g (t0 ) auch den Tangentialvektor oder Geschwindigkeitsvektor der Kurve an der Stelle t0 . Der Tangentialvektor gibt sowohl die Richtung der Momentangeschwindigkeit als auch (¨ uber seine L¨ ange) die Gr¨oße dieser Geschwindigkeit an. 1.41 Beispiel. Es seien [a, b] (a < b) ein Intervall und f : [a, b] → R eine differenzierbare Funktion. Dann ist die durch g(t) := (t, f (t)) definierte Abbildung g : [a, b] → R2 eine
1 Differentialrechnung im Rn
40
regul¨are Kurve, und es gilt g (t0 ) = (1, f (t0 )), a < t0 < b (Bild 1.14). Der in g(t0 ) angetragene Tangentialvektor g (t0 ) gibt die Richtung der Tangente an den Graphen von f im Punkt (t0 , f (t0 )) an; seine Steigung ist f (t0 )/1 = f (t0 ). f (t)
f (t0 ) •
f (t0 )
1 Bild 1.14: Kurve t → (t, f (t)) mit Tangentialvektor im Punkt (t0 , f (t0 ))
a
1.4.10
t0
t
b
Die L¨ ange einer Kurve
Welchen Weg hat ein Teilchen zur¨ uckgelegt, dessen Bewegung w¨ ahrend eines Zeitintervalls I = [a, b] durch eine Kurve g : I → Rn beschrieben wird? Anschaulich ist es naheliegend, wie folgt einen N¨ aherungswert f¨ ur diesen Weg, also die (bislang noch nicht definierte) L¨ange der Kurve g zu bestimmen: Ausgehend von einer Zerlegung Z : a = t0 < t1 < . . . < tk = b des Intervalls I = [a, b] bildet man die Summe L(g, Z) :=
k
g(tj ) − g(tj−1 )2
j=1
der Abst¨ande je zweier aufeinander folgender Kurvenpunkte g(tj−1 ) und g(tj ) (Bild 1.15).
g(t3 ) • g(t1 ) •
g(t4 )
•
•
g(t0 )
•
g(t5 ) •
Bild 1.15: L¨ ange des einbeschriebenen Polygonzugs als Approximation der Wegl¨ ange
g(t2 )
Geht man von Z zu einer feineren Zerlegung Z u ¨ ber, so folgt aufgrund der Dreiecksungleichung die Absch¨atzung L(Z, g) ≤ L(Z , g); die L¨ ange des einbeschrie-
1.4 Differentiation
41
benen Polygonzugs wird also prinzipiell gr¨oßer. Es liegt jetzt nahe, die L¨ange der Kurve g durch L(g) := sup{L(Z, g) : Z ist Zerlegung von [a, b]}
(1.47)
zu definieren. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass es pathologische“ Kurven ” g mit der Eigenschaft L(g) = ∞ geben kann. Eine Kurve heißt rektifizierbar , falls das Supremum in (1.47) endlich ist. In diesem Fall wird die Zahl L(g) die L¨ ange von g genannt. Man beachte auch, dass die so definierte L¨ ange von g nicht unbedingt mit der anschaulichen L¨ange des Bildes g(I) u ¨bereinstimmen muss! So durchl¨auft etwa die Kurve h(t) := (2 cos t, sin t), t ∈ J := [0, 4π], im Gegensatz zur Kurve g : I → R2 aus Beispiel 1.40 die in Bild 1.12 (rechts) dargestellte Ellipse zweimal. Es gilt g(I) = h(J), aber L(h) = 2L(g)! 1.42 Satz. (Berechnung der Kurvenl¨ange) Jede stetig differenzierbare Kurve g : [a, b] → Rn ist rektifizierbar, und es gilt
b
L(g) =
g (t)2 dt =
a
b n a
|gj (t)|2
1/2 dt.
(1.48)
j=1
Beweis: Wir betrachten ein Teilintervall [c, d] von [a, b]. In 2.3.13 (Satz 2.33) werden wir die folgende Dreiecksungleichung f¨ ur vektorwertige Integrale beweisen: d d g (t) dt ≤ g (t)2 dt. (1.49) 2
c
c
Dabei ist das links stehende Integral als Vektor der Integrale u ¨ ber die Komponenten von g zu verstehen. Aus (1.49) sowie aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung ergibt sich t2 t2 g(t2 ) − g(t1 )2 = g (t) dt ≤ g (t)2 dt, a ≤ t1 ≤ t2 ≤ b. t1
2
t1
Beachten wir hier die Additivit¨at des Integrals bez¨ uglich der Intervallgrenzen (Satz I.7.10), so erhalten wir, dass die Einschr¨ankung der Funktion g auf das Intervall [c, d] eine rektifizierbare Kurve ist. Ihre L¨ange L(c, d) gen¨ ugt der Ungleichung L(c, d) ≤
d
g (s)2 ds.
(1.50)
c
Wir zeigen jetzt, dass die Funktion t → L(a, t) auf [a, b] stetig differenzierbar mit der Ableitung g (t)2 ist. Daraus folgt dann insbesondere die zweite Behauptung (1.48). Wir w¨ ahlen ein t ∈ [a, b) und ein h > 0 mit t + h ≤ b. Nach Definition der L¨ ange gilt dann g(t + h) − g(t) ≤ L(t, t + h) = L(a, t + h) − L(a, t). Aus (1.50) erhalten wir g(t + h) − g(t) 1 t+h L(t, t + h) ≤ g (s)2 ds. ≤ h h h t 2
1 Differentialrechnung im Rn
42
F¨ ur h → 0 strebt die linke Seite gegen g (t)2 und die rechte Seite (nach dem Hauptsatz) ebenfalls. Also hat L(a, ·) die rechtsseitige Ableitung g 2 . Analog zeigt man, dass g 2 auch die linksseitige Ableitung ist. Damit ist der Satz bewiesen.
1.43 Beispiel. (Bogenl¨ange und Kreisumfang) Wir betrachten ein α ∈ [0, 2π] sowie die durch g(t) := (x0 + r cos t, y0 + r sin t), t ∈ [0, α] definierte Kurve. Nach Beispiel 1.40 ist das Bild von G ein Kreisbogen zwischen (x0 + ry0 ) und (x0 + r cos α, y0 + r sin α). Aus (1.48) erhalten wir α α 2 2 2 2 L(g) = r sin t + r cos t dt = r dt = αr. 0
0
Damit erhalten wir die geometrische Interpretation des Winkels α als Bogenl¨ ange. Insbesondere ergibt sich die bekannte elementargeometrische Formel 2πr f¨ ur den Umfang eines Kreises.
1.4.11
Geometrische Interpretation des Gradienten
Die Kettenregel liefert die folgende n¨ utzliche Interpretation des Gradienten einer differenzierbaren Funktion f : D → R. Wir fixieren einen Punkt a ∈ D 0 und betrachten die den Punkt a enthaltende H¨ ohenlinie Hf (c) = {x ∈ D : f (x) = c} mit c := f (a). Es seien I ⊂ R ein Intervall mit 0 ∈ I 0 und g : I → Rn eine differenzierbare Kurve in Rn mit g(0) = a. Wir nehmen jetzt an, dass das Bild g(I) der Kurve in der H¨ohenlinie Hf (c) enthalten ist, d.h. f (g(t)) = c,
t ∈ I.
Ist f differenzierbar in a, so k¨onnen wir diese Gleichung mit Hilfe der Kettenregel (Satz 1.37) nach t ∈ I differenzieren. F¨ ur t = 0 ergibt sich damit
f (a), g (0) = 0. Der Gradient f (a) steht also senkrecht auf dem Tangentialvektor g (0) der Kurve im Punkt 0. Man sagt dazu auch, dass der Gradient senkrecht auf der H¨ ohenlinie steht (Bild 1.16).
1.4.12
Richtungsableitungen
Die partielle Ableitung fxj (a) ist die Ableitung der Funktion t → f (a + tej ) an der Stelle t = 0. Ersetzt man hier den j-ten Einheitsvektor durch einen beliebigen Vektor der L¨ange 1, also einen Vektor der sogenannten Einheitssph¨are S n−1 := {x : x2 = 1}
1.4 Differentiation
43
f (x) c •
Bild 1.16: Der Gradient steht senkrecht auf der H¨ ohenlinie
x2 • (a, 0) Hf (c)
x1
in Rn , so ergibt sich in nat¨ urlicher Weise der Begriff der allgemeinen Richtungsableitung. Die partiellen Ableitungen sind dann die Richtungsableitungen f¨ ur die Richtungen e1 , . . . , en . f (x1 , x2 ) (a, f (a))
x2 v a
Bild 1.17: Richtungsableitung als Anstieg von f in Richtung v
x1 Es seien v ∈ S n−1 und a ein innerer Punkt von D. Existiert der (endliche) Grenzwert f (a + hv ) − f (a) ∂f (a) := lim , h→0 ∂v h
(1.51)
so nennt man ihn Richtungsableitung von f im Punkt a in Richtung v . Andere
1 Differentialrechnung im Rn
44
Schreibweisen f¨ ur (∂f /∂v )(a) sind fv (a) oder ∂v f (a). Die geometrische Bedeutung der Richtungsableitung als Anstieg von f in Rich” tung v“ ist in Bild 1.17 veranschaulicht. 1.44 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 1.34) F¨ ur die durch f (x) := x21 + x22 , x = (x1 , x2 ), definierte Funktion f : R2 → R gilt f (x) = 2x. Sind a = (a1 , a2 ) ∈ R2 und v = (v1 , v2 ) ∈ S 1 ein Einheitsvektor, so gilt f¨ ur jedes h = 0 f (a + hv ) − f (a) (a1 + hv1 )2 + (a2 + hv2 )2 − a21 − a22 = h h 2h(a1 v1 + a2 v2 ) + h2 (v12 + v22 ) = . h Somit existiert die Richtungsableitung von f im Punkt a in Richtung v , und es folgt 2h(a1 v1 + a2 v2 ) + h2 (v12 + v22 ) h→0 h = 2(a1 v1 + a2 v2 )
∂v f (a) = lim
= f (a), v . Das n¨achste Resultat besagt, dass die im obigen Beispiel hergeleitete Darstellung der Richtungsableitung als Skalarprodukt von f (a) und v kein Zufall war. Auch im allgemeinen Fall erh¨alt man die Richtungsableitung in Richtung v als gewichtete“ Summe der partiellen Ableitungen mit den Koordinaten von v als ” Koeffizienten. 1.45 Satz. (Differenzierbarkeit und Richtungsableitungen) Ist die Funktion f differenzierbar in a ∈ D, so existieren alle Richtungsableitungen von f im Punkt a, und es gilt ∂v f (a) = f (a), v ,
v ∈ S n−1 .
Beweis: Es sei v ∈ S n−1 . Die Richtungsableitung von f im Punkt a in Richtung v ist die Ableitung der Funktion t → f (a + tv ) an der Stelle t = 0. F¨ ur die Funktion t → g(t) = (g1 (t), . . . , gn(t)) := a + tv gilt (g1 (0), . . . , gn (0)) = v . Damit folgt die Behauptung direkt aus Satz 1.37.
Nach Satz 1.45 gilt ∂v f (a) = 0 genau dann, wenn f (a) ⊥ v erf¨ ullt ist, wenn auft. Diealso der Richtungsvektor v senkrecht zum Gradientenvektor f (a) verl¨ ses Resultat erg¨anzt die in 1.4.11 hergeleitete geometrische Interpretation des Gradienten.
1.5 Taylorpolynome und der Satz von Taylor
1.4.13
45
Der Gradient als Richtung des steilsten Anstiegs
Die Richtungsableitung ∂v f (a) ist der Anstieg von f in Richtung v ∈ S n−1 . Die Richtung des Gradienten maximiert diesen Anstieg: 1.46 Satz. (Gradient und Richtungsableitung) Die Funktion f sei differenzierbar in a ∈ D, und es gelte f (a) = 0. Bezeichnet v0 :=
f (a) ∈ S n−1 f (a)2
den normierten Gradientenvektor, so gilt: max{∂v f (a) : v ∈ S n−1 } = ∂v0 f (a) = f (a)2 , min{∂v f (a) : v ∈ S n−1 } = ∂−v0 f (a) = −f (a)2 . Beweis: F¨ ur v ∈ S n−1 folgt aus Satz 1.45 und der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung |∂v f (a)| ≤ f (a)2 v 2 , d.h.
−f (a)2 ≤ ∂v f (a) ≤ f (a)2 .
ur v = v0 die obere Schranke angenommen. F¨ ur v = −v0 wird die untere und f¨
Gilt f (a) = 0, so verschwinden alle Richtungsableitungen im Punkt a. Auch in diesem Fall gilt also die Maximierungsaussage von Satz 1.46. Gilt f (a) = 0, so zeigt der Gradient f (a) in die Richtung des steilsten Anstiegs von f (vgl. Bild 1.16). Der Beweis zeigt, dass diese Richtung eindeutig bestimmt ist (vgl. ur die maximale Satz I.8.29). Die L¨ange f (a)2 des Gradienten ist ein Maß f¨ Anstiegsrate“ im Punkt a. Diese Eigenschaften bilden den theoretischen Hinter” grund der sogenannten Gradientenverfahren zur Bestimmung von lokalen Minima (oder Maxima) der Funktion f . Diese Verfahren des steilsten Anstiegs sind von großer praktischer Bedeutung.
1.5
Taylorpolynome und der Satz von Taylor
¨ In Verallgemeinerung der in I.6.8 angestellten Uberlegungen seien D ⊂ Rn eine offene nichtleere Menge und f : D → R eine (k + 1)-mal stetig differenzierbare Funktion. Im Fall n = 1 l¨asst sich f in der N¨ ahe eines Punktes a ∈ D durch das Taylorpolynom x →
k f (m) (a) (x − a)m , m!
m=0
(1.52)
1 Differentialrechnung im Rn
46
approximieren (Satz I.6.59 von Taylor). Es stellt sich die Frage, ob ein analoges Resultat auch im Fall n ≥ 2 g¨ ultig ist. Ist f differenzierbar an der Stelle a ∈ D, so gilt nach (1.35) die Approximation f (x) ≈ f (a) + f (a), x − a,
(1.53)
wobei f¨ ur x → a die Differenz aus linker und rechter Seite selbst nach Division durch x − a2 gegen Null konvergiert. Die f in der N¨ahe des Punktes a := (a1 , . . . , an ) approximierende Funktion x → f (a) + f (a), x − a = f (a) +
n
∂j f (a) · (xj − aj )
(1.54)
j=1
ist ein Polynom in den Variablen x1 , . . . , xn . Dabei heißt allgemein eine Funktion p : Rn → R der Gestalt p(x1 , . . . , xn ) =
k k i1 =0 i2 =0
...
k
bi1 ,i2 ,...,in · xi11 · xi22 · . . . · xinn
(1.55)
in =0
Polynom in den Variablen x1 , . . . , xn . Hierbei sind die bi1 ,i2 ,...,in reelle Zahlen. Die hier auftretende Mehrfachsumme kann alternativ als Summe u ¨ ber alle n-Tupel (i1 , . . . , in ) ∈ {0, . . . , k}n definiert werden. Das Polynom in (1.54) ergibt sich als Spezialfall von (1.55) durch die Wahl k = 1, b0,0,...,0 = f (a) − nj=1 ∂j f (a) · aj , b1,0,...,0 = ∂1 f (a), b0,1,0,...,0 = ∂2 f (a), . . . , b0,0,...,1 = ∂n f (a), und bi1 ,i2 ,...,in := 0, sonst. Auch die in 1.3.2 betrachteten quadratischen Formen sind Polynome. Besitzt die Funktion f Ableitungen von h¨ oherer als erster Ordnung, so ist zu hoffen, dass die Approximation (1.53) durch Hinzunahme von Polynomen, welche diese h¨oheren Ableitungen beinhalten, besser wird.
1.5.1
Taylorpolynome
Bei der lokalen Approximation einer C k+1 -Funktion f : D → R an der Stelle a werden die Polynome Pm (x; f ;a) :=
n n 1 ... ∂i1 . . . ∂im f (a) · xi1 · . . . · xim m! i1 =1
im =1
(m = 1, 2, . . . , k) eine zentrale Rolle spielen. Im Fall n = 1 ist Pm (x − a; f ; a) =
f (m) (a) · (x − a)m m!
(1.56)
1.5 Taylorpolynome und der Satz von Taylor
47
ein Bestandteil des Taylorpolynoms (1.52). Im Fall n = 2 erhalten wir f¨ ur m = 1 und m = 2 die Ausdr¨ ucke P1 (x; f ;a) = ∂1 f (a) · x1 + ∂2 f (a) · x2 = f (a), x, 1 P2 (x; f ;a) = ∂1 ∂1 f (a) · x21 + ∂1 ∂2 f (a·)x1 x2 2
+∂2 ∂1 f (a) · x2 x1 + ∂2 ∂2 f (a) · x22
1 = ∂1 ∂1 f (a) · x21 + 2∂1 ∂2 f (a) · x1 x2 + ∂2 ∂2 f (a) · x22 . 2 Das letzte Gleichheitszeichen folgt dabei aus Satz 1.31. F¨ ur beliebiges n gilt P1 (x; f ;a) = f (a), x,
P2 (x; f ;a) =
⎛ ∂ 2 f (a)
⎜ 1 (x1 , . . . , xn ) ⎜ ⎝ 2
∂x21
.. .
∂ 2 f (a) ∂x1 ∂xn
··· .. .
∂ 2 f (a) ∂xn ∂x1
···
∂ 2 f (a) ∂x2n
.. .
⎞⎛
⎞ x1 ⎟⎜ . ⎟ ⎟⎝ . ⎠. ⎠ .
(1.57)
xn
Sind f : D → R eine C k -Funktion und a ∈ D, so heißt die Funktion x → Tk (x; f ;a) := f (a) +
k
Pm (x − a; f ;a)
m=1
Taylorpolynom k-ter Ordnung zum Entwicklungspunkt a. Die Funktion x → Rk (x; f ;a) := f (x) − Tk (x; f ;a) nennt man Restglied oder Restgliedfunktion k-ter Ordnung.
1.5.2
Der Satz von Taylor
Sind a, b ∈ Rn , so heißt die Menge [a, b] := {a + t(b − a) : 0 ≤ t ≤ 1} Verbindungsstrecke zwischen a und b. 1.47 Satz. (Satz von Taylor im Rn ) Es seien k ∈ N0 , f : D → R eine C k+1 -Funktion und a, x ∈ D mit der Eigenschaft [a, x] ⊂ D. Dann gibt es ein ϑ ∈ (0, 1) mit f (x) = Tk (x; f ;a) + Pk+1 (x − a; f ;a + ϑ(x − a)), d.h. Rk (x; f ;a) = Pk+1 (x − a; f ;a + ϑ(x − a)).
1 Differentialrechnung im Rn
48
Beweis: Weil D offen ist, gibt es ein δ > 0, so dass f¨ ur jedes t mit −δ ≤ t ≤ 1 + δ der Punkt a + t(x − a) zu D geh¨ort. Somit ist die Funktion t → ϕ(t) := f (a + t(x − a)) auf dem Intervall I := [−δ, 1 + δ] definiert. Nach Satz 1.37 ist ϕ differenzierbar. Eine Anwendung des Satzes I.6.59 von Taylor auf ϕ zum Entwicklungspunkt t = 0 liefert die Existenz eines ϑ ∈ (0, 1) mit ϕ(1) = ϕ(0) +
k 1 1 · ϕ(m) (0) + · ϕ(k+1) (ϑ). m! (k + 1)! m=1
(1.58)
Es gilt ϕ(1) = f (x), ϕ(0) = f (a), und wir untersuchen jetzt die anderen Summanden in (1.58). Aus der Kettenregel (Satz 1.37) ergibt sich ϕ (t) = f (a + t(x − a)), x − a und somit ϕ (0) = f (a), x − a = P1 (x − a; f ; a). Wiederum aus Satz 1.37 folgt ⎛ ⎞ n n (xi − ai ) ⎝ (xj − aj )∂j ∂i f (a + t(x − a))⎠ ϕ (t) = i=1
j=1
= P2 (x − a; f ; a + t(x − a)), also insbesondere ϕ (0) = P2 (x − a; f ; a). Analog erh¨ alt man f¨ ur jedes m mit 1 ≤ m ≤ k + 1 ϕ(m) (t) = Pm (x − a; f ; a + t(x − a)). Setzt man diese Darstellung in (1.58) ein, so folgt die Behauptung.
F¨ ur k = 0 liefert Satz 1.47 das folgende Resultat. Der obige Beweis zeigt, dass es dazu gen¨ ugt, die Differenzierbarkeit von f vorauszusetzen. 1.48 Folgerung. (Mittelwertsatz) Sind f : D → R eine differenzierbare Funktion und a, x ∈ D mit [a, x] ⊂ D, so gibt es ein ϑ ∈ (0, 1) mit f (x) = f (a) + f (a + ϑ(x − a)), x − a.
1.5.3
Die Hesse-Matrix
Im Hinblick auf Anwendungen des Satzes von Taylor besitzt die in (1.57) auftretende Matrix der gemischten zweiten Ableitungen von f besondere Bedeutung.
1.5 Taylorpolynome und der Satz von Taylor
49
Ist die Funktion f : D → R zweimal partiell differenzierbar an der Stelle a ∈ D, so heißt die n × n-Matrix ⎞ ⎛ fx1 x1 (a) . . . fx1 xn (a) ⎟ ⎜ .. .. .. Hf (a) := (∂i ∂j f (a))i,j=1,...,n = ⎝ ⎠ . . . fxnx1 (a) . . .
fxn xn (a)
Hesse3 -Matrix von f an der Stelle (oder im Punkt) a. Nach Satz 1.31 ist diese Matrix symmetrisch, wenn alle zweiten partiellen Ableitungen stetig sind, also f eine C 2 -Funktion ist. 1.49 Beispiel. Die Hesse-Matrix der Funktion f (x1 , x2 ) := x1 sin(x2 ) + x22 ex1 (vgl. Beispiel 1.29) an der Stelle x = (x1 , x2 ) ist durch cos(x2 ) + 2x2 ex1 x22 ex1 Hf (x) = cos(x2 ) + 2x2 ex1 2ex1 − x1 sin(x2 ) gegeben. 1.50 Beispiel. (Quadratische Formen) F¨ ur die Hesse-Matrix der in 1.3.2 und Beispiel 1.24 diskutierten quadratischen Form QA (x) = x, Ax gilt HQA (x) = (aij + aji )1≤i,j≤n . Wegen P2 (h; f ;a) = 12 h, Hf (a)h, h ∈ Rn , (vgl. (1.57)) ergibt sich aus Satz 1.47 f¨ ur den Spezialfall k = 1 das folgende Resultat: 1.51 Folgerung. (Taylorentwicklung erster Ordnung) Es seien f : D → R eine C 2 -Funktion und a, x ∈ D mit [a, x] ⊂ D. Dann gibt es ein ϑ ∈ (0, 1), so dass gilt: 1 f (x) = f (a) + f (a), x − a + x − a, Hf (a + ϑ(x − a))(x − a). 2 Das Restglied Rk (x; f ;a) = Pk+1 (a + ϑ(x − a); f ;a)) in Satz 1.47 besitzt die Gestalt 1 (k + 1)!
n i1 ,...,ik+1 =1
fxi1 ,...,xik+1 (a + ϑ(x − a))(xi1 − ai1 ) · . . . · (xik+1 − aik+1 ).
3 Ludwig Otto Hesse (1811–1874). Nach einer T¨ atigkeit als Lehrer f¨ ur Physik und Chemie an der Gewerbeschule in K¨ onigsberg (Kaliningrad) hatte Hesse Professuren in K¨ onigsberg, Halle, Heidelberg und M¨ unchen inne. Hauptarbeitsgebiete: Algebra, Analysis und analytische Geometrie.
1 Differentialrechnung im Rn
50
Ist C eine gemeinsame obere Schranke der Betr¨ age der oben auftretenden partiellen Ableitungen, so liefert die Ungleichung |xi1 − ai1 | · . . . · |xik+1 − aik+1 | ≤ x − ak+1 2 die Restgliedabsch¨atzung Rk (x;a, f )2 ≤ C
nk+1 · x − ak+1 2 . (k + 1)!
Diese Ungleichung beschreibt die G¨ ute der Approximation von f durch das Taylorpolynom Tk .
1.6
Lokale Extrema
Es seien D ⊂ Rn und f : D → R eine Funktion. Die Begriffe lokales Maximum, lokales Minimum, strenges lokales Maximum, globales Maximum usw. werden genauso definiert wie im Fall n = 1 (vgl. I.6.7.1). So besitzt f im Punkt a ∈ D ein lokales Maximum, wenn es eine Umgebung U von a gibt, so dass gilt: f (x) ≤ f (a) f¨ ur jedes x ∈ U ∩ D
(1.59)
(vgl. Bild 1.18). In diesem Fall heißt a lokale Maximalstelle von f . V¨ ollig analog sind die Begriffe lokale Minimalstelle, lokale Extremalstelle usw. zu verstehen. globales Maximum lokales Maximum
Bild 1.18: Striktes lokales und globales Maximum
Das folgende Resultat ist eine Verallgemeinerung von Satz I.6.48. 1.52 Satz. (Notwendiges Kriterium f¨ ur lokale Extrema) Die Funktion f : D → R besitze in einem inneren Punkt a ∈ D ein lokales Extremum und sei dort partiell differenzierbar. Dann gilt f (a) = 0. Beweis: Es gelte (1.59) f¨ ur eine Umgebung U von a, und es sei j ∈ {1, . . . , n}. Weil a innerer Punkt von D ist, gibt es ein δ > 0, so dass f¨ ur jedes t ∈ I := (−δ, δ) der Punkt ur jedes t ∈ I besitzt die Abbildung a + tej zu U ∩ D geh¨ort. Wegen f (a + tej ) ≤ f (a) f¨ t → ϕ(t) := f (a + tej )
1.6 Lokale Extrema
51
von I in R in t = 0 ein lokales Extremum. Nach Voraussetzung ist ϕ im Punkt 0 differenzierbar und hat dort die Ableitung fxj (a). Nach Satz I.6.48 gilt fxj (a) = 0. Da j ∈ {1, . . . , n} beliebig war, ist der Satz bewiesen.
Ist f : D → R eine in a ∈ D differenzierbare Funktion und gilt f (a) = 0, so heißt a station¨arer Punkt von f . Man beachte, dass Satz 1.52 die Kandidaten“ ” a f¨ ur m¨ogliche Extremstellen von f im Inneren des Definitionsbereiches von f herausfiltert. Eventuelle lokale oder globale Maxima oder Minima auf dem Rand ∂D des Definitionsbereiches werden hierdurch nicht erfasst. 1.53 Beispiel. Es sei D := {(x, y) ∈ R2 : x2 + y 2 ≤ 1} der abgeschlossene Einheitskreis um den Ursprung im R2 und f (x, y) := x2 + y 2 , (x, y) ∈ D, gesetzt. F¨ ur (x, y) ∈ D ◦ gilt fx (x, y) = 2x, fy (x, y) = 2y. Somit ist (0, 0) ein station¨ arer Punkt von f . Offensichtlich besitzt f an der Stelle (0, 0) ein globales Minimum. Der Maximalwert 1 von f wird in jedem Punkt (a1 , a2 ) des Randes ∂D von D, also in jedem Punkt (a1 , a2 ) mit a21 + a22 = 1, angenommen. 1.54 Beispiel. Es sei f (x, y) := 2x2 + y 2 − xy − 6x, (x, y) ∈ R2 . Wegen fx (x, y) = 4x − y − 6, fy (x, y) = 2y − x gen¨ ugen die Koordinaten x, y eines station¨ aren Punktes dem linearen Gleichungssystem 4x − y − 6 = 0,
2y − x = 0,
welches die eindeutige L¨osung x0 := 12/7, y0 := 6/7 besitzt. Wir werden sp¨ ater sehen, dass im Punkt (x0 , y0 ) ein lokales Minimum vorliegt. Auch Satz I.6.64 kann auf Funktionen von mehreren Variablen verallgemeinert werden. 1.55 Satz. (Hinreichende Kriterien f¨ ur lokale Extrema im Rn ) Es seien D ⊂ Rn eine offene Menge, f : D → R eine C 2 -Funktion und a ∈ D ein station¨arer Punkt von f . Dann gilt: (i) Ist die Hesse-Matrix Hf (a) von f an der Stelle a positiv definit, so besitzt f in a ein strenges lokales Minimum. (ii) Ist Hf (a) negativ definit, so hat f in a ein strenges lokales Maximum. (iii) Ist Hf (a) indefinit, so besitzt f in a kein lokales Extremum. Es sei betont, dass dieser Satz keine Aussage f¨ ur den Fall einer (positiv oder negativ) semidefiniten Hesse-Matrix macht. Ist a ∈ D ein station¨ arer Punkt einer 2 C -Funktion f : D → R und ist die Hesse-Matrix Hf (a) indefinit, liegt also Fall
1 Differentialrechnung im Rn
52
(iii) vor, so nennt man a einen Sattelpunkt von f . Diese Namensgebung r¨ uhrt vom Fall n = 2 her. So zeigt Bild 1.19 den Nullpunkt (0, 0) als Sattelpunkt der Funktion (x, y) → f (x, y) := x2 − y 2 . Die Graphen der Schnittfunktionen x → f (x, 0) = x2 und y → f (0, y) = −y 2 sind eine nach oben bzw. unten ge¨offnete Normalparabel.
Sattelpunkt
Bild 1.19: Sattelpunkt (0, 0) der Funktion (x, y) → x2 − y 2
Beweis von Satz 1.55: (i),(ii): Wir setzen voraus, dass Hf (a) positiv definit ist und nehmen indirekt an, dass f in a kein strenges lokales Minimum besitzt. Dann gibt es zu jedem hinreichend großen k ∈ N ein yk ∈ D mit yk −a2 ≤ 1/k, yk = a und f (yk ) ≤ f (a). Weil a station¨ arer Punkt von f ist, gibt es nach Folgerung 1.51 ein ϑk ∈ (0, 1) mit 1 f (yk ) = f (a) + yk − a, Hf (a + ϑk (yk − a))(yk − a). 2
(1.60)
Es gilt yk = a + εkvk mit vk := (yk −a)/yk −a2 ∈ S n−1 und 0 < εk := yk −a2 ≤ 1/k. Wegen f (yk ) − f (a) ≤ 0 erhalten wir aus (1.60) die Ungleichung 0 ≥ vk , Hf (a + εk ϑk vk )vk .
(1.61)
ankt ist, gibt es nach Satz 1.11 eine gegen Weil die Menge S n−1 abgeschlossen und beschr¨ einen Vektor v ∈ S n−1 konvergente Teilfolge von (vk ). Der Einfachheit halber bezeichnen wir diese Teilfolge wieder mit (vk ). Die zweiten partiellen Ableitungen von f sind stetig. Wir k¨ onnen also in (1.61) den Grenz¨ ubergang k → ∞ durchf¨ uhren und erhalten die im Widerspruch zur positiven Definitheit von Hf (a) stehende Ungleichung v , Hf (a)v ≤ 0. Damit folgt (i). Die Behauptung (ii) beweist man analog. (iii): Ist Hf (a) indefinit, so gibt es Vektoren v , w ∈ S n−1 mit Hf (a)w.
v , Hf (a)v < 0 < w, Wegen der Stetigkeit der zweiten partiellen Ableitungen gibt es ein ε0 > 0 mit Hf (x)w
v , Hf (x)v < 0 < w, f¨ ur jedes x mit x − a2 ≤ ε0 . Damit erhalten wir wiederum aus Folgerung 1.51 1 f (a + tv ) = f (a) + t2 v , Hf (a + tϑ1v )v < f (a), 2 1 2 f (a + tw) = f (a) + t w, Hf (a + tϑ2 w, w > f (a), 2
|t| ≤ ε0 , |t| ≤ ε0
1.7 Differentiation vektorwertiger Funktionen
53
f¨ ur gewisse ϑ1 , ϑ2 ∈ (0, 1). Die Funktion f besitzt demnach in a kein lokales Extremum.
Der Spezialfall n = 2 von Satz 1.55 verdient es, gesondert hervorgehoben zu werden. Man beachte dabei den Satz 1.15. 1.56 Folgerung. (Hinreichende Kriterien f¨ ur lokale Extrema im R2 ) 2 Es seien D ⊂ R eine offene Menge, f : D → R eine C 2 -Funktion und a ∈ D ein station¨arer Punkt von f . Ferner bezeichne d(a) := fx,x (a)fy,y (a) − (fx,y (a))2 die Determinante der Hesse-Matrix von f an der Stelle a. Dann bestehen die folgenden Implikationen: (i) Gilt fx,x (a) > 0 und d(a) > 0, so hat f in a ein strenges lokales Minimum. (ii) Gilt fx,x (a) < 0 und d(a) > 0, so hat f in a ein strenges lokales Maximum. (iii) Gilt d(a) < 0, so ist a ein Sattelpunkt von f . Insbesondere besitzt dann f in a kein lokales Extremum. 1.57 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 1.54) F¨ ur die in Beispiel 1.54 definierte Funktion f gilt fx,x (x, y) = 4, fx,y (x, y) = fy,x (x, y) = −1, fy,y (x, y) = 2 und somit d(x) = 7 > 0 f¨ ur jedes x = (x, y) ∈ 2 R . Da der Fall (i) von Folgerung 1.56 vorliegt, besitzt f im station¨ aren Punkt (12/7, 6/7) ein lokales Minimum.
1.7
Differentiation vektorwertiger Funktionen
In diesem Abschnitt behandeln wir die Differentialrechnung f¨ ur vektorwertige m Funktionen, d.h. f¨ ur Funktionen f : D → R mit m ∈ N. Dabei ist der Definitionsbereich D ⊂ Rn von f eine Menge, deren Inneres nicht leer ist. Vielfach wird die Menge D als offen vorausgesetzt sein. Eine Funktion f : D → Rm besitzt die Gestalt f (x) = (f1 (x), . . . , fm (x)),
x ∈ D,
wof¨ ur auch kurz f = (f1 , . . . , fm ) geschrieben wird. Dabei sind f1 , . . . , fm : D → R die Komponenten(-Funktionen) von f (vgl. S. 13).
1 Differentialrechnung im Rn
54
1.7.1
Die Jacobi-Matrix
Die Funktion f heißt partiell differenzierbar in einem inneren Punkt a von D, wenn jede Komponente fj in a partiell differenzierbar ist. Ist der Definitionsbereich D offen, und ist jede Komponente von f auf D k-mal (stetig) partiell differenzierbar, so heißt f k-mal (stetig) partiell differenzierbar. Ist die Funktion f = (f1 , . . . , fm ) : D → Rm partiell differenzierbar in a ∈ D, so heißt die m × n-Matrix ⎛ ∂f1 ⎞ ∂f1 a) . . . ∂x (a) ∂x1 ( n ∂fi ⎜ .. ⎟ .. (a) = ⎝ ... (1.62) Jf (a) := . . ⎠ ∂xj ∂fm ∂fm a) . . . ∂xn (a) ∂x1 ( Jacobi4 -Matrix (oder Funktionalmatrix) von f an der Stelle (oder im Punkt) a. 1.58 Beispiel. Die Jacobi-Matrix der durch f (x, y) := (y sin x, 2 cos x) definierten Funktion f : R2 → R2 an der Stelle (x, y) ist durch y cos x sin x Jf (x, y) = −2 sin x 0 gegeben. 1.59 Beispiel. (Polarkoordinaten im R2 ) Das kartesische Koordinatensystem beruht auf geradlinigen zueinander orthogonalen Koordinatenachsen. Es ist manchmal zweckm¨ aßig, einem Punkt (x, y) ∈ R2 andere Koordinaten zuzuordnen. Die Polarkoordinaten von (x, y) sind der Ab stand r := x2 + y 2 vom Ursprung (0, 0) des kartesischen Koordinatensystems sowie der Winkel ϕ zwischen (x, y) und der x-Achse. L¨ asst man den Winkel ϕ in einem halboffenen Intervall der L¨ange 2π variieren, so besitzt jeder Punkt x = 0 eindeutig bestimmte Polarkoordinaten (Bild 1.20). Mit der Vereinbarung 0 ≤ ϕ < 2π folgt im Fall r = 0 nach Definition des Winkels (vgl. I.8.4.3) arccos(x/r), falls y ≥ 0, ϕ= 2π − arccos(x/r), falls y < 0. 4
Carl Gustav Jacob Jacobi (1804–1851). Nach Promotion und Habilitation in Berlin (1825) forschte und lehrte Jacobi 16 Jahre lang an der Universit¨ at K¨ onigsberg (Kaliningrad). 1844 wurde er auf eigenen Wunsch nach Berlin versetzt, wo er 6 1/2 Jahre als Mitglied der Akademie ohne festes Verh¨ altnis zur Universit¨ at, jedoch mit der Erlaubnis, dort zu lesen, wirkte. Jacobis Werk umfasst 2 B¨ ucher und 170 Abhandlungen. Hauptarbeitsgebiete: Algebra, Zahlentheorie, Differentialgleichungen, mathematische Physik (analytische Mechanik, theoretische Astronomie).
1.7 Differentiation vektorwertiger Funktionen
55
y r
ϕ
· x
Bild 1.20: Polarkoordinaten (r, ϕ) des Punktes (x, y)
Die Umkehrabbildung g = (g1 , g2 ) : (0, ∞)×[0, 2π) → R2 \{0} von (x, y) → (r, ϕ) lautet (g1 (r, ϕ), g2 (r, ϕ)) = (r cos ϕ, r sin ϕ). Die Abbildung g ordnet den Polarkoordinaten r und ϕ die entsprechenden kartesischen Koordinaten x und y zu. Sie ist partiell differenzierbar auf der offenen Menge (0, ∞) × (0, 2π), und die Jacobi-Matrix ergibt sich zu cos ϕ −r sin ϕ Jg (r, ϕ) = . (1.63) sin ϕ r cos ϕ
1.7.2
Differenzierbarkeit
Da die i-te Zeile der Jacobi-Matrix (1.62) den Gradienten der Funktion fi darstellt, ist die folgende Definition eine direkte Verallgemeinerung der entsprechenden Begriffsbildung f¨ ur Funktionen einer Ver¨ anderlichen. Die Funktion f = (f1 , . . . , fm ) : D → Rm heißt in einem inneren Punkt a von D differenzierbar, wenn sie dort partiell differenzierbar ist und die Grenzwertaussage lim
x→a
f (x) − f (a) − Jf (a)(x − a)2 =0 x − a2
(1.64)
erf¨ ullt ist. In diesem Fall heißt f (a) := Jf (a) die Ableitung von f im Punkt a. Ist f in jedem Punkt einer Menge A ⊂ D differenzierbar, so heißt f differenzierbar auf A. Im Fall A = D nennt man f differenzierbar. ur die Ableitung einer Funktion f : Man beachte, dass die Bezeichung f (a) f¨ m n D → R mit D ⊂ R ganz im Einklang mit der bisherigen Nomenklatur steht. Allgemein ist f (a) eine m × n-Matrix (die Jacobi-Matrix); im Fall m = 1, n > 1 ist f (a) der Gradientenvektor (eine einzeilige Jacobi-Matrix) und im Fall m = n = 1 eine skalare Gr¨oße (eine 1 × 1-Matrix).
1 Differentialrechnung im Rn
56
Der obige Differenzierbarkeitsbegriff kann auf die Differenzierbarkeit reellwertiger Funktionen zur¨ uckgef¨ uhrt werden: 1.60 Satz. (Differenzierbarkeit und Differenzierbarkeit der Komponenten) Die Funktion f = (f1 , . . . , fm ) : D → Rm ist genau dann in einem inneren Punkt a von D differenzierbar, wenn jede Komponente fi diese Eigenschaft besitzt. Beweis: Der i-te Zeilenvektor von Jf (a) ist der Gradient fi (a) von fi an der Stelle a. Die Konvergenz (1.64) ist also zu |fi (x) − fi (a) − fi (a), x − a| = 0, x→ a x − a2 lim
i = 1, . . . , m
aquivalent. Daraus folgt die Behauptung. ¨
Satz 1.60 f¨ uhrt zu einer direkten Verallgemeinerung von Satz 1.33: 1.61 Satz. (Grenzwertcharakterisierung der Ableitung) Die Funktion f : D → Rm ist genau dann in einem inneren Punkt a von D differenzierbar, wenn es eine m × n-Matrix A gibt, so dass gilt: f (x) − f (a) − A(x − a)2 = 0. x − a2 x→a lim
(1.65)
In diesem Fall ist A die Ableitung (Jacobi-Matrix) von f an der Stelle a. Der Fall n = 1 dieses Satzes f¨ uhrt zur¨ uck auf den in 1.4.9 diskutierten Kurvenbegriff. In diesem Fall besitzt der Vektor f (a) eine geometrisch sehr anschauliche Interpretation als Tangentialvektor der Kurve.
1.7.3
Das vollst¨ andige Differential
Ist f differenzierbar im Punkt a, und setzt man wie im Fall m = 1 R(x;a) := f (x) − f (a) − Jf (a)(x − a), so ergibt sich f (x) = f (a) + A(x − a) + R(x;a)
(1.66)
mit A := Jf (a). Dabei gilt R(x;a)2 = 0. x − a2 x→a lim
(1.67)
Umgekehrt folgt aus der Existenz einer m × n-Matrix A und einer Abbildung R(·;a) : D → Rm mit den Eigenschaften (1.66) und (1.67) die Differenzierbarkeit von f im Punkt a sowie die Gleichung Jf (a) = A.
1.7 Differentiation vektorwertiger Funktionen
57
Die lineare Abbildung h → Jf (a)h von Rn in Rm heißt (wie im Fall m = 1) vollst¨andiges Differential von f im Punkt a; sie wird mit df (a) oder Df (a) bezeichnet. Wir weisen hier nochmals darauf hin, dass der Vektor h im Matrizenprodukt Jf (a)h als Spaltenvektor interpretiert werden muss. 1.62 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 1.58) Nach Beispiel 1.58 ist y cos x sin x −2 sin x 0 die Jacobi-Matrix im Punkt (x, y) der Funktion f (x, y) := (y sin x, 2 cos x). Das vollst¨andige Differential von f im Punkt (x, y) ist somit die lineare Abbildung (h1 , h2 ) → df (x, y)(h1 , h2 ) = (yh1 cos x + h2 sin x, −2h1 sin x).
1.7.4
Differentiationsregeln
Eine Abbildung f : D → Rm heißt stetig differenzierbar , falls f differenzierbar ist und die Abbildung f : D → Rm·n , x → f (x)(= Jf (x)) stetig ist. (Hier identifizieren wir die Menge aller m × n-Matrizen mit dem Rm·n .) Es sei daran erinnert, dass der Definitionsbereich D von f eine Teilmenge von Rn ist. Wegen der S¨atze 1.60 und 1.33 ist diese Eigenschaft a ¨quivalent zur stetigen partiellen Differenzierbarkeit von f . Auch die S¨atze 1.36 und 1.37 k¨onnen verallgemeinert werden. 1.63 Satz. (Linearit¨at der Ableitung) Sind f, g : D → Rm im Punkt a ∈ D ◦ differenzierbar und sind λ, μ ∈ R, so ist auch die Funktion λf + μg in a differenzierbar, und es gilt (λf + μg) (a) = λf (a) + μg (a). 1.64 Satz. (Allgemeine Kettenregel) Es seien I ⊂ Rk und g = (g1 , . . . , gn ) : I → D eine Funktion, welche in einem inneren Punkt x0 von I differenzierbar ist. Ferner sei g(x0 ) ein innerer Punkt von D, und f : D → Rm sei differenzierbar in g(x0 ). Dann ist die Komposition f ◦ g, x → f (g(x)), differenzierbar im Punkt x0 , und es gilt (f ◦ g) (x0 ) = f (g(x0 ))g (x0 ).
(1.68)
Beweis: Der Beweis erfolgt analog zum Beweis von Satz 1.60. Wir benutzen die Darstellungen (1.66) und (1.67) f¨ ur f und f¨ ur g (an der Stelle x0 mit Rg := R) und erhalten (1.69) f ◦ g(x) − f ◦ g(x0 ) = f (g(x0 ))(g(x) − g(x0 )) + Rf (g(x); g(x0 )) = f (g(x0 ))g (x0 )(x − x0 ) + f (g(x0 ))Rg (x; x0 ) + Rf (g(x); g(x0 )).
1 Differentialrechnung im Rn
58
Man beachte hierbei die Assoziativit¨at der Matrixmultiplikation. Wir wollen zun¨ achst g(x) = g(x0 ) f¨ ur alle x in einer Umgebung von x0 annehmen. Wegen der Stetigkeit von g im Punkt x0 sowie der Differenzierbarkeit von f (vgl. (1.67)) gilt dann lim
x→ x0
Rf (g(x); g(x0 )) = 0. g(x) − g(x0 )2
Andererseits zeigen das folgende Lemma 1.66 sowie die Dreiecksungleichung f¨ ur die euklidische Norm, dass der Quotient g(x) − g(x0 )2 g (x0 )(x − x0 ) + Rg (x; x0 )2 = x − x0 2 x − x0 2 in einer Umgebung von x0 beschr¨ankt bleibt. Es folgt lim
x→ x0
Rf (g(x); g(x0 )) Rf (g(x); g(x0 )) g(x) − g(x0 )2 = lim · = 0. x→ x0 g( x − x0 2 x) − g(x0 )2 x − x0 2
ur g(x) = g(x0 ) ist diese Grenzwertbeziehung allgemein Wegen Rf (g(x), g(x0 )) = 0 f¨ richtig. Damit zeigt (1.69) sowohl, dass f ◦ g im Punkt x0 differenzierbar ist, als auch die G¨ ultigkeit von (1.68).
Ausf¨ uhrlicher geschrieben bedeutet (1.68) ∂fi ∂gl ∂fi ◦ g (x0 ) = (g(x0 )) (x0 ), ∂xj ∂xl ∂xj n
i = 1, . . . , m, j = 1, . . . , k.
(1.70)
l=1
F¨ ur festes i und festes j ist diese Aussage nichts anderes als die Kettenregel aus Satz 1.37. 1.65 Beispiel. Die Funktion f : R2 → R sei differenzierbar. Dann ist die Funktion h(r, ϕ) := f (r cos ϕ, r sin ϕ) von (0, ∞) × (−π, π] in R differenzierbar auf (0, ∞) × (−π, π), und es gilt ∂f (r, ϕ) = fx (r cos ϕ, r sin ϕ) cos ϕ + fy (r cos ϕ, r sin ϕ) sin ϕ, ∂r ∂f (r, ϕ) = −fx (r cos ϕ, r sin ϕ)r sin ϕ + fy (r cos ϕ, r sin ϕ)r cos ϕ. ∂ϕ Diese Formeln ergeben sich aus (1.68) und der im Beispiel 1.59 angegebenen Jacobi-Matrix (1.63) der Abbildung (r, ϕ) → (r cos ϕ, r sin ϕ). Alternativ kann man nat¨ urlich auch die Kettenregel in Satz 1.37 anwenden.
1.7 Differentiation vektorwertiger Funktionen
1.7.5
59
Der Mittelwertsatz
Die (euklidische) Norm einer m × n-Matrix A = (aij ) ist die Zahl n m A2 := a2ij . i=1 j=1
In diesem Sinn besitzt also die 2 × 3-Matrix 1 0 3 −1 1 2 die Norm 4 (= (12 + 02 + 32 + (−1)2 + 12 + 22 )1/2 ). In 4.3.5 werden wir weitere Beispiele von Matrizennormen kennenlernen. 1.66 Lemma. Sind A eine m × n-Matrix und x ∈ Rn , so gilt Ax2 ≤ A2 ·x2 . Beweis: Sind a1 , . . . , am die Zeilenvektoren von A, so besitzt Ax die Komponenten
a1 , x, . . . , am , x. Also folgt aus der Cauchy–Schwarzschen Ungleichung Ax22 =
m j=1
aj , x2 ≤
m
aj 22 ·x22 = A22 ·x22 .
j=1
Im n¨achsten Abschnitt ben¨otigen wir die folgende Version des Mittelwertsatzes f¨ ur vektorwertige Funktionen. 1.67 Satz. (Mittelwertabsch¨atzung) Die Funktion f : D → Rm sei differenzierbar, und es seien a, x ∈ D mit der Eigenschaft [a, x] ⊂ D. Dann gibt es ein ϑ ∈ (0, 1) mit f (x) − f (a)2 ≤ x − a2 ·f (a + ϑ(x − a))2 . Beweis: F¨ ur v ∈ Rm betrachten wir die Hilfsfunktion g(x) := v , f (x). Nach der Kettenregel (Satz 1.64) ist g differenzierbar auf D, und es gilt g (x) = f (x)v . Anwendung des Mittelwertsatzes 1.48 auf g liefert die Existenz eines ϑ ∈ (0, 1) mit
v , f (x) − f (a) = x − a, f (a + ϑ(x − a))v . Wegen Lemma 1.66 und der Cauchy–Schwarzschen Ungleichung kann der Betrag der rechten Seite durch x − a2 ·f (a + ϑ(x − a)2 ·v2 nach oben abgesch¨ atzt werden. Jetzt w¨ahlen wir speziell v = f (x) − f (a) und erhalten f (x) − f (a)22 ≤ f (x) − f (a)2 ·x − a2 ·f (a + ϑ(x − a))2 , womit der Satz bewiesen ist.
1 Differentialrechnung im Rn
60
1.8 1.8.1
Implizit definierte Funktionen Motivation
In den Natur- und Wirtschaftswissenschaften ergibt sich h¨ aufig ein Problem, das in seiner einfachsten Form anhand eines Bildes verdeutlicht werden soll. Bild 1.21 zeigt einen Ausschnitt einer schematisch dargestellten topographischen Karte. Eingezeichnet sind die f¨ ur jede topographische Karte charakteristischen H¨ohen- oder Niveaulinien des betreffenden Gel¨ andes, die zu verschiedenen H¨ohen (in Metern u ¨ber dem Meeresspiegel gemessen) eingetragen sind. Auf diese Weise gewinnt man einen Eindruck vom H¨ohenverlauf des Gel¨ andes. Werden Wege l¨angs einer H¨ohenlinie angelegt, so muss keine Steigung u berwunden werden, ¨ was etwa f¨ ur ¨altere Menschen in Erholungsgebieten wichtig sein kann.
:100m Bild 1.21: H¨ohenlinien im Gel¨ande
• •
:125m :150m :175m
Mathematisch idealisiert entspricht ein Gel¨ andest¨ uck dem Graphen einer auf einer Menge D ⊂ R2 definierten Funktion g(x, y) und eine H¨ ohenlinie zum Niveau c der Punktmenge Hg (c) = {(x, y) ∈ D : g(x, y) = c} (siehe auch Abschnitt I.2.1.9). Hier liegt die Frage nahe, ob man die Gleichung g(x, y) = c f¨ ur vorgegebenes x in der Form y = f (x) nach y aufl¨ osen“, also die ” H¨ohenlinie Hg (c) (oder zumindest einen Teil davon) durch den Graphen einer reellen Funktion beschreiben kann. Ist (x0 , y0 ) ein Punkt auf Hg (c), so wird es im Allgemeinen zu jedem x in einer hinreichend kleinen Umgebung U = (x0 − ε, x0 + ε) von x0 genau ein y aus einer ebenfalls hinreichend kleinen Umgebung V = (y0 − η, y0 + η) von y0 geben, so dass auch der Punkt (x, y) zur H¨ohenlinie Hg (c) geh¨ ort (Bild 1.22). Ordnet man jedem x ∈ U dieses eindeutig bestimmte y ∈ V zu, so ergibt sich eine Funktion f : U → V mit der Eigenschaft g(x, f (x)) = c, x ∈ U . In der ohenlinie Hg (c) durch eine (¨ uber N¨ahe des Punktes (x0 , y0 ) l¨asst sich also die H¨ die Gleichung g(x, y) = c implizit gegebene) Funktion x → y = f (x) ausdr¨ ucken.
1.8 Implizit definierte Funktionen
61
y
Hg (c)
η
y0
• η
•
y1
•
ε
ε
x0
x1 x
Bild 1.22: In einer Umgebung des Punktes (x0 , y0 ) lassen sich die auf der H¨ohenlinie Hg (c) liegenden Punkte durch (x, f (x)) mit einer Funktion f beschreiben
Man beachte, dass sowohl U als auch V hinreichend klein sein m¨ ussen, um die eindeutige Zuordnung x → f (x) zu garantieren. Ist etwa η so groß, dass das Rechteck U × V in Bild 1.22 den Punkt (x0 , y1 ) enth¨ alt, so gilt y0 = y1 , aber g(x0 , y0 ) = g(x0 , y1 ) = c. In diesem Fall kann also von einer eindeutigen Zuordnung x → f (x) mit der Eigenschaft g(x, f (x)) = c in einer noch so kleinen Umgebung von x0 nicht mehr die Rede sein. Man beachte auch, dass in jeder noch so kleinen Umgebung U der x-Koordinate x1 des in Bild 1.22 am rechten Rand der H¨ohenlinie eingezeichneten Punktes keine eindeutige Zuordnung x → f (x) mit g(x, f (x)) = c, x ∈ U , definiert werden kann. Der anschauliche Grund hierf¨ ur ist, dass die H¨ ohenlinie Hg (c) in diesem Punkt eine senkrecht verlaufende Tangente besitzt“. ” In gleicher Weise kann man danach fragen, ob sich die auf jeder Wetterkarte eingezeichneten und f¨ ur die Wettervorhersage wichtigen Isobaren (Kurven gleichen Luftdrucks) oder die Isothermen (Kurven gleicher Temperatur) zumindest lokal als Graphen reeller Funktionen darstellen lassen.
1.8.2
Die allgemeine Problemstellung
In Verallgemeinerung der bisherigen Fragestellung betrachten wir eine vektorwertige Funktion g = (g1 , . . . , gm ) : D → Rm ,
D ⊂ Rn ,
1 Differentialrechnung im Rn
62
von n Variablen, wobei n > m vorausgesetzt sei. ¨ Im Hinblick auf weitere Uberlegungen seien diese Variablen mit x1 , . . . , xn−m , y1 , . . . , ym bezeichnet. Im Folgenden verwenden wir auch die abk¨ urzende Schreibweisen x := (x1 , . . . , xn−m ), y := (y1 , . . . , ym ) sowie g(x, y ) = (g1 (x, y ), . . . , gm (x, y )) := g(x1 , . . . , xn−m , y1 , . . . , ym ). Zwischen x1 , . . . , xn−m , y1 , . . . , ym m¨ogen gewisse Beziehungen bestehen, die man mathematisch in der Form gi (x, y ) = 0,
i = 1, . . . , m,
(1.71)
also kurz durch g(x, y ) = 0, ausdr¨ ucken kann. Dabei bedeutet die Zahl 0 auf der rechten Seite von (1.71) keine Einschr¨ankung der Allgemeinheit (eine nichttriviale rechte Seite k¨onnte von gi subtrahiert werden). Es stellt sich die Frage, ob man das Gleichungssystem (1.71) nach den Variablen y1 , . . . , ym aufl¨ osen kann. Gleichbedeutend hiermit ist die Frage nach der Existenz einer auf einer geeigneten Teilmenge U des Rn−m erkl¨ arten Funktion f mit Werten m in R , so dass f¨ ur jedes x ∈ U die Gleichungen gi (x, f (x)) = 0,
i = 1, . . . , m,
erf¨ ullt sind. In diesem Fall sagt man auch, dass die Funktion f durch das Gleichungssystem (1.71) implizit definiert ist. 1.68 Beispiel. (Affine Funktion) Es seien A eine m × (n − m)-Matrix, B eine regul¨are m × m-Matrix und b ∈ Rm sowie g(x, y ) := Ax + By + b, x ∈ Rn−m , y ∈ Rm (1.72) gesetzt. In diesem Fall ist die Gleichung Ax + By + b = 0 ur eine affine Funktion der Gestalt (1.72) ¨aquivalent zu y = −B −1 (Ax + b). F¨ ergibt sich also die gesuchte Funktion f zu x ∈ Rn−m . f (x) = −B −1(Ax + b),
1.8.3
Der Hauptsatz u ¨ ber implizite Funktionen
In der Situation von 1.8.2 seien D ⊂ Rn eine offene Menge sowie g : D → Rm eine stetig differenzierbare Funktion. Wir definieren f¨ ur jedes z ∈ D die m × (n − m)Matrix ⎛ ⎞ ∂g1 1 z ) . . . ∂x∂g ( z ) ∂x1 ( n−m ⎜ . ⎟ ∂gi ∂g .. ⎟ . (z ) = ⎜ (z ) := . . ⎝ ⎠ ∂x ∂xj ∂gm ∂gm ( z ) . . . ( z ) ∂x1 ∂xn−m
1.8 Implizit definierte Funktionen sowie die m × m-Matrix ∂g (z ) := ∂y
63
⎛ ∂g1 z) . . . ∂y1 ( ∂gi ⎜ .. (z) = ⎝ . ∂yj ∂gm z) . . . ∂y1 (
⎞ ∂g1 z) ∂ym (
⎟ ⎠. ∂gm z) ∂ym ( .. .
Schreibt man beide Matrizen nebeneinander, so ergibt sich die Jacobi-Matrix (Ableitung) von g an der Stelle z. 1.69 Satz. (Satz u ¨ ber implizite Funktionen) Es seien g : D → Rm eine stetig differenzierbare Funktion sowie (x0 , y0 ) ∈ D ∂g ein Punkt mit g(x0 , y0 ) = 0. Die Matrix ∂ x0 , y0 ) sei regul¨ar. Dann gibt es y ( offene Umgebungen U von x0 und V von y0 mit U × V ⊂ D sowie eine eindeutig bestimmte Funktion f : U → V mit den Eigenschaften f (x0 ) = y0 , g(x, f (x)) = 0,
(1.73) x ∈ U.
(1.74)
Die Funktion f ist stetig differenzierbar auf U , und f¨ ur ihre Ableitung f (x) gilt −1 ∂g ∂g (x, f (x)) (x, f (x)), x ∈ U. (1.75) f (x) = − ∂y ∂x Beweis: Die Idee besteht darin, die gesuchte Funktion f iterativ zu konstruieren. Dazu formen wir die Gleichung g(x, y) = 0 um und definieren die m × m-Matrix A :=
∂g (x0 , y0 ) ∂y
sowie den Vektor h(x, y ) := y − A−1 g(x, y ). ¨ Die Funktion h ist stetig differenzierbar auf D, und es gilt die Aquivalenz g(x, y ) = 0 ⇐⇒ h(x, y ) = y. Ferner ist h(x0 , y0 ) = y0 . Wir k¨onnen o.B.d.A. annehmen (eventuell muss hierzu der urspr¨ ungliche Definitionsbereich eingeschr¨ankt werden), dass D von der Form B1 × B2 ist, wobei B1 und B2 offene Kugeln mit den Mittelpunkten x0 bzw. y0 sind F¨ ur alle x ∈ B1 , y1 , y2 ∈ B2 gilt h(x, y1 ) − h(x, y2 ) = y1 − y2 − A−1 (g(x, y1 ) − g(x, y2 )) −1
= −A
(1.76)
(g(x, y1 ) − g(x, y2 ) − A(y1 − y2 )).
F¨ ur festes x wenden wir jetzt die Mittelwertabsch¨ atzung in Satz 1.67 auf die Funktion y → g(x, y ) − Ay von B2 in Rm an und erhalten die Existenz eines ϑ ∈ (0, 1) mit ∂g g(x, y1 ) − g(x, y2 ) − A(y1 − y2 )2 ≤ (x, y2 + ϑ(y1 − y2 )) − A ·y1 − y2 2 ∂y 2 ∂g ∂g = (x, y2 + ϑ(y1 − y2 )) − (x0 , y0 ) ·y1 − y2 2 . ∂y ∂y 2
1 Differentialrechnung im Rn
64
Da die partiellen Ableitungen von g stetig sind, strebt die erste Norm f¨ ur x → x0 und y1 , y2 → y0 gegen 0. Also folgt aus (1.76) und Lemma 1.66 die Existenz einer Zahl L mit 0 < L < 1 und von Zahlen ε1 , ε2 > 0 mit B(x0 , ε1 ) ⊂ B1 und B(y0 , ε2 ) ⊂ B2 , so dass gilt: h(x, y1 ) − h(x, y2 )2 ≤ L · y1 − y2 2 ,
x ∈ B(x0 , ε1 ), y1 , y2 ∈ B(y0 , ε2 ).
(1.77)
Wegen der Stetigkeit von g und g(x0 , y0 ) = 0 kann angenommen werden, dass ε1 so klein gew¨ ahlt ist, dass h(x, y0 ) − y0 2 = A−1 g(x, y0 )2 ≤ (1 − L)ε2
(1.78)
ur jedes y ∈ B(y0 , ε2 ) f¨ ur jedes x ∈ B(x0 , ε1 ) gilt. Damit folgt f¨ h(x, y) − y0 2 ≤h(x, y0 ) − y0 2 + h(x, y ) − h(x, y0 )2 ≤(1 − L)ε2 + L · y − y0 2 ≤(1 − L)ε2 + Lε2 = ε2 . Die Zuordnung y → h(x, y) kann also als Abbildung von B(y0 , ε2 ) in B(y0 , ε2 ) aufgefasst werden. Diese Abbildung gehorcht der Kontraktionsbedingung (1.77). F¨ ur x ∈ B(x0 , ε1 ) definieren wir f0 (x) := y0 und induktiv fk+1 (x) := h(x, fk (x)),
k ∈ N0 .
(1.79)
Vollst¨ andige Induktion zeigt, dass die fk stetige Funktionen von B(x0 , ε1 ) in B(y0 , ε2 ) sind. Mittels (1.77) kann man unschwer die Konvergenz lim fk (x) =: f (x)
k→∞
nachweisen. Dabei besitzt die Funktion f : B(x0 , ε1 ) → B(y0 , ε2 ) die Eigenschaft fk (x) − f (x)2 ≤
Lk · f1 (x) − y0 2 . 1−L
(Eine Verallgemeinerung dieser Aussage werden wir in 4.3.7 als Banachschen Fixpunktsatz kennen lernen.) Setzt man C := (1 − L)−1 (max{f (x1 )2 : x1 ∈ B(x0 , ε1 )} + y0 2 ) , atzt so kann die rechte Seite der letzten Ungleichung durch CLk nach oben abgesch¨ werden. Eine Verallgemeinerung von Satz I.6.33 (gleichm¨ aßige Konvergenz und Stetigkeit) zeigt, dass f eine stetige Funktion ist. Damit k¨ onnen wir in (1.79) zum Grenzwert u bergehen und erhalten die gew¨ u nschte, zu (1.74) a quivalente Gleichung ¨ ¨ f (x) = h(x, f (x)),
x ∈ B(x0 , ε1 ).
Ist f˜ : B(x0 , ε1 ) → B(y0 , ε2 ) eine weitere Funktion mit der Eigenschaft f˜(x) = h(x, f˜(x)),
x ∈ B(x0 , ε1 ),
1.8 Implizit definierte Funktionen
65
so ergibt sich aus (1.77) f (x) − f˜(x)2 ≤ L · f (x) − f˜(x)2 und damit wegen 0 < L < 1 die Gleichheit f (x) = f˜(x). Somit ist f auf B(x0 , ε1 ) eindeutig bestimmt. Wegen g(x0 , y0 ) = 0 folgt daraus insbesondere (1.73). Wir zeigen jetzt, dass f auf der offenen Kugel U := B ◦ (x0 , ε1 ) stetig differenzierbar ist, falls ε1 und ε2 zu Beginn des Beweises hinreichend klein gew¨ ahlt werden. Zun¨ achst k¨ onnen ∂g 0 0 ( x , y ) f¨ u r jedes ( x , y ) ∈ B ( x , ε )×B ( y , ε ) regul¨ ar wir voraussetzen, dass D(x, y ) := ∂ 0 1 0 2 x ist. Nehmen wir n¨amlich indirekt an, dass eine entsprechende Wahl von ε1 und ε2 nicht m¨ oglich sei, so gibt es zu jedem n ∈ N ein (xn , yn) ∈ B((x0 , y0 ), 1/n) und ein vn ∈ S n−1 mit D(xn , yn ) · vn = 0. Wie im Beweis von Satz 1.55 (i) folgt daraus die Existenz eines v ∈ S n−1 mit D(x0 , y0 ) ·v = 0, also ein Widerspruch zur vorausgesetzten Regularit¨ at der Matrix D(x0 , y0 ). Aus dem Gaußschen Algorithmus (vgl. I.8.7.7) und schrittweiser Verkleinerung von ε1 und ε2 folgt, dass alle Eintr¨age der Matrix (D(x, y ))−1 stetige Funktionen von (x, y) ∈ B 0 (x0 , ε1 ) × B 0 (y0 , ε2 ) sind. (Entscheidend ist jeweils der erste Schritt des Algorithmus!) Wegen Satz 1.18 k¨ onnen wir dann annehmen, dass diese Eintr¨ age beschr¨ ankt sind. Zum Nachweis der Differenzierbarkeit von f auf U := B ◦ (x0 , ε1 ) w¨ ahlen wir a, x ∈ U und betrachten die sich aus dem Mittelwertsatz (Folgerung 1.48) ergebende Gleichung 0 = g(x, f (x)) − g(a, f (a)) = g(x, f (x)) − g(a, f (x)) + g(a, f (x)) − g(a, f (a)) = A(a, x)(x − a) + B(a, x)(f (x) − f (a)).
(1.80)
Hierbei ist die i-te Zeile der m × (n − m)-Matrix A(a, x) von der Form ∂g ∂gi i (xi , f (x)), . . . , (xi , f (x)) ∂x1 ∂xn−m mit xi ∈ [a, x], i = 1, . . . , m, und die i-te Zeile der m × m-Matrix B(a, x) von der Form ∂g ∂gi i (a, yi ), . . . , (a, yi ) ∂y1 ∂ym mit yi ∈ [f (a), f (x)]. Aus (1.80) folgt nach Multiplikation mit der Inversen von B(a, x) f (x) − f (a) = −B(a, x)−1 A(a, x)(x − a).
(1.81)
Die oben erw¨ ahnte Beschr¨anktheit impliziert f (x) → a f¨ ur x → a. Damit gilt neben ur x → a. Also folgt aus der oben erw¨ ahnten Stetigkeit xi → a auch yi → f (a) f¨ −1 ∂g ∂g B(a, x)−1 A(a, x) → C(a) := ∂y (a, f (a)) (a, f (a)) komponentenweise f¨ ur x → a. ∂ x Daraus ergibt sich die Darstellung (1.66) mit A := −C(a) und einer geeignet definierten Funktion R. Damit erhalten wir sowohl die Differenzierbarkeit von f als auch die Formel (1.75). Weil die rechte Seite von (1.75) stetig ist, ist f sogar stetig differenzierbar.
Die Differentiationsregel (1.75) erh¨alt man auch durch partielle Differentiation der Gleichung g(x, f (x)) = 0 nach x1 , . . . , xn−m unter Benutzung der Kettenregel sowie anschließender Multiplikation mit der Inversen von ∂g x, f (x)). Dieses ∂ y ( Verfahren nennt man implizite Differentiation.
1 Differentialrechnung im Rn
66
1.8.4
Der Hauptsatz fu ¨ r reellwertige Funktionen
Der Spezialfall m = 1 des Satzes u ¨ ber implizite Funktionen verdient es, gesondert formuliert zu werden. In diesem Fall ist die Matrix ∂g x0 , y0 ) eine Zahl, n¨ amlich ∂ y ( ∂g die partielle Ableitung ∂y (x0 , y0 ). Dabei haben wir wie bei Zahlen (im Gegensatz zu Vektoren) u blich auf den Pfeil u ¨ ¨ber y0 verzichtet.
1.70 Satz. (Spezialfall des Satzes u ¨ ber implizite Funktionen) Es seien g : D → R eine stetig differenzierbare Funktion sowie (x0 , y0 ) ∈ D ein Punkt mit g(x0 , y0 ) = 0 und ∂g x0 , y0 ) = 0. Dann gibt es offene Umgebungen U ∂y ( von x0 und V von y0 mit U × V ⊂ D sowie eine eindeutig bestimmte Funktion f : U → V mit den Eigenschaften f (x0 ) = y0 , g(x, f (x)) = 0,
(1.82) x ∈ U.
(1.83)
Die Funktion f ist stetig differenzierbar auf U , und f¨ ur ihren Gradienten gilt −1 ∂g ∂g ∂g f (x) = − (x, f (x)), . . . , (x, f (x)) . (1.84) (x, f (x)) ∂y ∂x1 ∂xn−1 Es m¨ogen die Voraussetzungen von Satz 1.70 vorliegen. Wir w¨ ahlen ε1 , ε2 > 0 so, dass die Kontraktionsbedingung (1.77) und die Anfangswertbedingung (1.78) erf¨ ullt sind und fixieren einen Punkt x ∈ B(x0 , ε1 ). Der Funktionswert y := f (x) ist eine L¨osung der Gleichung g(x, y) = 0. Die Rekursion (1.79) aus dem Beweis von Satz 1.69 lautet −1 ∂g yk+1 = yk − g(x, yk ), k ∈ N0 . (x0 , y0 ) ∂y Weil x hier fest ist, erkennt man eine Analogie zu dem in I.6.8.6 vorgestellten Newton-Verfahren −1 ∂g yk+1 = yk − (x, yk ) g(x, yk ), k ∈ N0 . ∂y L¨asst sich die Gleichung g(x, y) = 0 nicht explizit l¨ osen, so ist das NewtonVerfahren gut geeignet, um die L¨osung numerisch zu bestimmen. 1.71 Beispiel. F¨ ur die durch
g(x, y) := esin(xy) + x2 − 2y − 1
∂g definierte Funktion g : R2 → R gilt g(0, 0) = 0 und ∂y (0, 0) = −2. Der Satz u ¨ ber implizite Funktionen garantiert also die Existenz einer offenen Umgebung U von 0 und einer differenzierbaren Funktion f : U → R mit der Eigenschaft
g(x, f (x)) = 0,
x ∈ U.
(1.85)
1.8 Implizit definierte Funktionen
67
Mit der Abk¨ urzung h(x) := exp(sin(xf (x)) erh¨ alt man durch (implizite) Differentiation der Gleichung h(x) + x2 − 2f (x) − 1 = 0 das Resultat h(x) cos(xf (x))(f (x) + xf (x)) + 2x − 2f (x) = 0,
x ∈ U,
und somit (vgl. (1.84)) f (x) = −
h(x) cos(xf (x))f (x) + 2x . xh(x) cos(xf (x)) − 2
Wegen f (0) = 0 folgt insbesondere f (0) = 0. H¨ ohere Ableitungen von f ergeben sich durch weiteres Differenzieren der obigen Gleichung f¨ ur f . Man beachte, dass sich die Gleichung g(x, y) = 0 f¨ ur x = 0 nicht explizit nach y aufl¨ osen l¨ asst. (Zumindest ist nicht klar, wie ein Formelausdruck“ f¨ ur f (x) aussehen k¨ onnte.) Zur ” Berechnung von y = f (x) m¨ ussen numerische Verfahren herangezogen werden. Es sei auch betont, dass der Satz u ¨ber implizite Funktionen keine Aussage u ¨ber die maximale Gr¨oße der Menge U macht, auf der f definiert werden kann. Diese muss mit anderen Methoden bestimmt werden. 1.72 Beispiel. Wir betrachten die durch g(x, y) := ey−x + x2 + 3y − 1 definierte Funktion g : R2 → R. Es gilt ∂g (x, y) = ey−x + 3 > 0. ∂y F¨ ur festes x ∈ R ist die Funktion y → g(x, y) von R in R streng monoton wachsend und surjektiv. Damit gibt es ein eindeutig bestimmtes y =: f (x) mit g(x, f (x)) = 0. Der Satz u ur jedes Paar (x0 , y0 ) mit ¨ ber implizite Funktionen ist f¨ y0 = f (x0 ) anwendbar. Deshalb ist die Funktion f stetig differenzierbar, und aus impliziter Differentiation folgt ef (x)−x (f (x) − 1) + 2x + 3f (x) = 0 und somit f (x) =
ef (x)−x − 2x . ef (x)−x + 3
(1.86)
Daraus folgt, dass f sogar eine C 2 -Funktion ist. Die partiellen Ableitungen zweiter Ordnung erh¨alt man nach Differentiation von (1.86). Induktiv ergibt sich, dass f partielle Ableitungen beliebig hoher Ordnung besitzt. Auch in diesem Beispiel kann die Gleichung g(x, y) = 0 nicht explizit nach y aufgel¨ ost werden.
1 Differentialrechnung im Rn
68
1.8.5
Tangentialraum und H¨ ohenlinie*
Wir greifen die Diskussion in 1.4.11 auf und betrachten die H¨ ohenlinie Hf (c) = {x ∈ Rn : f (x) = c} einer stetig differenzierbaren Funktion f : D → R mit D ⊂ Rn und n ≥ 2 zum Niveau c ∈ R. Wie gleich noch deutlicher werden wird, ist die H¨ ohenlinie im Fall n = 2 (zumindestens lokal) eine Kurve. Im Fall n = 3 ist das nicht mehr richtig. Wie die folgenden Ausf¨ uhrungen belegen werden, sollte in diesem Fall die H¨ohenlinie besser als H¨ohenfl¨ache bezeichnet werden. Tats¨ achlich k¨ onnen Fl¨achen uhrt werden. Die Theorie der Kurven und Fl¨ achen im R3 auf diese Weise eingef¨ n im R (und allgemeineren R¨aumen) ist Gegenstand der Differentialgeometrie. Der Tangentialraum W (f ;a) von Hf (c) im Punkt a ∈ Hf (c) ist definiert als Menge aller Tangentialvektoren g (0) von Kurven g : I → Rn mit den Eigenschaften g(0) = a und {g(t) : t ∈ I} ⊂ Hf (c). Hierbei ist I ein Intervall, welches 0 als inneren Punkt besitzt. 1.73 Satz. (Tangentialraum der H¨ohenlinie) Falls f (a) = 0, so gilt W (f ;a) = {v ∈ Rn : f (a), v = 0}.
(1.87)
Der Tangentialraum W (f ;a) ist also das orthogonale Komplement des vom Gradientenvektor f (a) aufgespannten Unterraums. Beweis: Die Inklusion ⊂“ in (1.87) folgt (auch ohne die Voraussetzung f (a) = 0) ” ¨ sofort aus den in 1.4.11 angestellten Uberlegungen. F¨ ur den Nachweis der umgekehrten Teilmengenbeziehung ⊃“ gelte o.B.d.A. ∂n f (a) = 0. Nach dem Satz u ¨ ber implizite ” Funktionen existieren offene Umgebungen U ⊂ Rn−1 , V ⊂ R von (a1 , . . . , an−1 ) bzw. an sowie eine eindeutig bestimmte differenzierbare Funktion h : U → V mit f (x1 , . . . , xn−1 , h(x1 , . . . , xn−1 )) = c,
(x1 , . . . , xn−1 ) ∈ U.
Die H¨ ohenlinie Hf (c) stimmt also auf der Menge U × V mit dem Graphen von h u ¨berein. n−1 F¨ ur festes λ := (λ1 , . . . , λn−1 ) ∈ R mit λ = 0 setzen wir g(t) := (a1 + λ1 t, . . . , an−1 + λn−1 t, h(a1 + λ1 t, . . . , an−1 + λn−1 t)). Auf diese Weise entsteht eine Funktion (Kurve) g, die f¨ ur gen¨ ugend kleines ε > 0 auf dem Intervall I := (−ε, ε) definiert ist und die Eigenschaften {g(t) : t ∈ I} ⊂ Hf (c) und g(0) = a besitzt. Mit h ist auch g differenzierbar, und wegen f (g(t)) = c, t ∈ I, folgt aus der Kettenregel sowie impliziter Differentiation (vgl. (1.84)) f (g(t)), g (t) = 0, t ∈ I, und somit speziell
f (g(0)), g (0) = 0.
(1.88)
1.8 Implizit definierte Funktionen
69
Es gilt n−1 n−1 λi · ∂i h(a1 , . . . , an−1 ) = λi · vi , g (0) = λ1 , . . . , λn−1 ,
i=1
i=1
wobei v1 := (1, 0, . . . , 0, ∂1 h(a1 , . . . , an−1 )), . . . , vn−1 := (0, 0, . . . , 1, ∂n−1 h(a1 , . . . , an−1 )) gesetzt ist. Die Vektoren v1 , . . . , vn−1 sind linear unabh¨ angig. Setzt man in (1.88) f¨ ur λ n−1 die kanonischen Einheitsvektoren des R ein, so folgt wegen g(0) = a, dass v1 , . . . , vn−1 u ¨ berdies orthogonal zu f (a) sind. Hieraus ergibt sich die Behauptung.
Als orthogonales Komplement von Span(f (a)) ist der Tangentialraum W (f ;a) ein (n − 1)-dimensionaler Unterraum von Rn . Der um den Vektor a verschobene Tangentialraum besteht aus allen Punkten x, die die Gleichung
x − a, f (a) = 0
(1.89)
erf¨ ullen. Diese Menge enth¨alt den Punkt a und wird auch als Gleichung der Tangentialebene an die H¨ohenlinie Hf (c) im Punkt a bezeichnet. Dieser Begriff darf nicht verwechselt werden mit der in 1.4.6 eingef¨ uhrten Tangentialebene Tf (a) von f (an (a, f (a)). Letztere ist eine Hyperebene in Rn+1 und nicht in Rn . Vielmehr ist die Tangentialebene an Hf (c) (im Punkt a) die Tangentialebene der durch f (x) = c implizit definierten Funktion (im Punkt a), etwa der oben diskutierten Funktion (x1 , . . . , xn−1 ) → h(x1 , . . . , xn−1 ). Ist n = 2, so ist die Sprechweise Tangente (anstelle von Tangentialebene) gebr¨auchlich. Nach (1.89) kann die Gleichung der Tangente an die H¨ ohenlinie Hf (c) = {(x, y) ∈ R2 : f (x, y) = c} im Punkt (x0 , y0 ) in der Form ∂f ∂f (x0 , y0 ) · (x − x0 ) + (x0 , y0 ) · (y − y0 ) = 0 ∂x ∂y
(1.90)
geschrieben werden. Hierbei wurde wieder f (x0 , y0 ) = 0 vorausgesetzt. Mindestens eine der beiden auftretenden partiellen Ableitungen muss also ungleich Null sein. Unsere Bezeichnungen stehen ganz im Einklang mit 1.4.9. Wie wir n¨amlich oben gesehen haben, ist die H¨ohenlinie Hf (c) lokal das Bild einer Kurve: es gibt ein offenes Intervall I mit 0 ∈ I sowie eine stetig differenzierbare Funktion g : I → R2 mit g(0) = (x0 , y0 ) und g(I) ⊂ Hf (c). Gleichung (1.90) beschreibt die in 1.4.9 diskutierte Gleichung der Tangente von g an den Punkt g(0) = (x0 , y0 ). Wie oben erw¨ahnt, wird im Fall n = 3 die H¨ ohenlinie Hf (c) = {(x, y, z) ∈ R3 : f (x, y, z) = c}
1 Differentialrechnung im Rn
70
auch als Fl¨ ache im R3 bezeichnet. Dabei wird vorausgesetzt, dass der Gradient von f auf dem Definitionsbereich von f nirgends verschwindet. Die Gleichung der Tangentialebene an Hf (c) im Punkt a = (x0 , y0 , z0 ) lautet ∂1 f (a) · (x − x0 ) + ∂2 f (a) · (y − y0 ) + ∂3 f (a) · (z − z0 ) = 0. Abschließend illustrieren wir die eingef¨ uhrten Konzepte mit einem einfachen Beispiel. 1.74 Beispiel. (Tangentialebenen einer Kugel) Wir betrachten die Funktion f (x) := x22 − 1, x ∈ Rn , sowie die Einheitssph¨ are S n−1 = {x : f (x) = 0}. Es gilt f (x) = 2x. Die Gleichung (1.89) der Tangentialebene an einen Punkt a ∈ S n−1 lautet x − a, 2a = 0, was wegen a,a = 1 gleichbedeutend mit
x,a = 1
(1.91)
ist. Wie aus geometrischen Gr¨ unden nicht anders zu erwarten, beschreibt die Menge aller x mit der Eigenschaft (1.91) eine Hyperebene mit Normaleneinheitsvektor a. Insbesondere lautet die Gleichung der Tangente an den Einheitskreis {(x, y) ∈ R2 : x2 + y 2 = 1} im Punkt (x0 , y0 ) ∈ S n−1 : x · x0 + y · y0 = 1.
1.8.6
Der Umkehrsatz
Wir beenden diesen Abschnitt mit weiteren wichtigen Konsequenzen des Satzes u ¨ber implizite Funktionen. 1.75 Satz. (Umkehrsatz) Es seien f : D → Rn eine stetig differenzierbare Funktion sowie x0 ∈ D ein Punkt, in welchem die Jacobi-Matrix Jf (x0 ) regul¨ ar ist. Dann gibt es offene Umgebungen U ⊂ D von x0 und V von y0 := f (x0 ), so dass f die Menge U bijektiv auf V abbildet. Die Umkehrfunktion f −1 : V → U ist stetig differenzierbar, und es gilt Jf −1 (f (x)) = (Jf (x))−1 , Beweis: Die durch
x ∈ U.
(1.92)
g(x, y ) := f (x) − y
definierte stetig differenzierbare Funktion g : D × Rn → Rn besitzt die Eigenschaft g(x0 , y0 ) = 0. Wegen ∂g (x0 ) = Jf (x0 ) ∂x
1.9 Optimierung unter Nebenbedingungen
71
und der Voraussetzung an f k¨onnen wir (unter Vertauschung der Rollen von x und y ) Satz 1.69 anwenden. Danach gibt es offene Umgebungen U von x0 und V von y0 sowie ur eine stetig differenzierbare Funktion f˜ : V → U mit f˜(y0 ) = x0 und g(f˜(y ), y ) = 0 f¨ jedes y ∈ V . Letzteres bedeutet f ◦ f˜(y ) = y,
y ∈ V.
Deswegen sind f˜ eine bijektive Abbildung von V in U := f˜(V ) sowie f eine bijektive Abbildung von U in V , und es gilt f˜ = f −1 auf V . Formel (1.92) folgt aus der Differentiation der Gleichung f −1 ◦ f = idU oder auch direkt aus (1.75). Wegen Satz 1.21 ist U = f˜(V ) = f −1 (V ) offen.
1.76 Satz. (Satz u ¨ ber offene Abbildungen) Es seien D ⊂ Rn offen und f : D → Rn stetig differenzierbar. Ist die JacobiMatrix Jf (x) f¨ ur jedes x ∈ D regul¨ ar, so ist f (D) eine offene Menge. Ist f −1 zus¨ atzlich injektiv, so ist f : f (D) → D stetig differenzierbar. Beweis: Es sei y0 = f (x0 ) ∈ f (D). Nach Satz 1.75 gibt es eine offene Umgebung V von y0 mit V ⊂ f (D). Also ist f (D) offen. Ist f injektiv, so folgt die stetige Differenzierbarkeit von f −1 ebenfalls aus Satz 1.75.
1.9
Optimierung unter Nebenbedingungen
Viele naturwissenschaftliche, technische oder ¨ okonomische Fragestellungen f¨ uhren auf das (gleiche) mathematische Problem, eine Funktion f (die sogenannte Zielfunktion) unter gewissen Nebenbedingungen zu maximieren oder zu minimieren. 1.77 Beispiel. Wie groß ist das maximale Volumen eines rechteckigen K¨ orpers im R3 unter der Nebenbedingung, dass die Summe seiner Seitenl¨ angen 12c betr¨ agt? Bezeichnen x, y und z die Seitenl¨angen des K¨ orpers, so suchen wir das Maximum der Zielfunktion f (x, y, z) := x·y·z unter der Nebenbedingung 4(x+y+z) = 12c, also das Maximum von f auf der Menge {(x, y, z) ∈ R3 : x > 0, y > 0, z > 0, x + y + z = 3c}. Bei diesem vergleichsweise einfachen Problem bietet es sich an, die Nebenbedingung zu eliminieren, indem man die Gleichung x + y + z = 3c etwa nach z aufl¨ ost und das Resultat z = 3c − x − y in die Zielfunktion einsetzt. Das Problem besitzt dann die vertrautere Form, die Funktion f˜(x, y) := x · y · (3c − x − y) auf der ˜ := {(x, y) ∈ R2 : x > 0, y > 0, x + y < 3c} zu maximieren (vgl. offenen Menge D Abschnitt 1.6). Wegen f˜x (x, y) = y · (3c − 2x − y),
f˜y (x, y) = x · (3c − x − 2y)
1 Differentialrechnung im Rn
72
und x > 0, y > 0 liefert die f¨ ur das Vorliegen einer Extremalstelle notwendige Bedingung f˜ (x, y) = 0 das lineare Gleichungssystem 3c − 2x − y = 0,
3c − x − 2y = 0,
welches die eindeutige L¨osung x = y = c besitzt. Somit ist der Punkt (c, c) der ˜ Da die Hesse-Matrix von f˜ im Punkt (c, c) einzige station¨are Punkt von f˜ in D. negativ definit ist (bitte nachpr¨ ufen!), liegt nach Folgerung 1.56 (ii) ein (globales) Maximum vor. Wegen z = 3c−c−c = c ist der gesuchte rechteckige K¨ orper somit ein W¨ urfel mit der Kantenl¨ange c. 1.78 Beispiel. In vielen o¨konomischen Modellen tritt die durch f (x, y) := A · xa · y b ,
x > 0, y > 0,
(1.93)
definierte Cobb–Douglas-Funktion auf. Hierbei sind A > 0 und a, b ∈ R Konstanten. Dieser Funktionstyp wird etwa verwendet, um die Output-Menge eines Produktionsprozesses bei gegebenen Werten x und y zweier Inputfaktoren zu beschreiben. Die Cobb–Douglas-Funktion findet aber auch Verwendung als Nutzenfunktion eines Verbrauchers, der den pers¨onlichen Nutzen f (x, y) daraus zieht, dass er die Menge x eines Gutes 1“ und die Menge y eines Gutes 2“ besitzt. ” ” Kostet eine Einheit des Gutes 1 bzw. 2 den Betrag von p bzw. q Euro und entscheidet der Verbraucher, insgesamt m Euro in die G¨ uter 1 und 2 zu investieren, so unterliegt er also der Budgetbeschr¨ankung p · x + q · y = m.
(1.94)
Sein Ziel kann dann darin bestehen, die Funktion (1.93) unter der Nebenbedingung (1.94) zu maximieren. L¨osen wir analog wie im vorigen Beispiel die Nebenbedingung (1.94) nach y auf und setzen das Ergebnis y = (m − px)/q in (1.93) ein, so ist die Funktion m − px b a ˜ f (x) := A · x · q bez¨ uglich x zu maximieren. Nullsetzen der ersten Ableitung von f˜ liefert a m x= · a+b p als notwendinge Bedingung f¨ ur ein Extremum. Bildung der zweiten Ableitung zeigt, dass es sich in der Tat um eine Maximalstelle handelt. Der Verbraucher sollte also zur Maximierung seines Nutzens den Anteil a/(a+b) des Budgets m f¨ ur das Gut 1 und den Anteil b/(a+b) des Budgets f¨ ur das Gut 2 ausgeben, um seinen durch die Cobb-Douglas-Funktion (1.93) definierten Nutzen zu maximieren.
1.9 Optimierung unter Nebenbedingungen
1.9.1
73
Extrema unter Nebenbedingungen
Wir betrachten eine Menge D ⊂ Rn sowie eine Funktion f : D → R, deren Maximal- oder Minimalstellen bestimmt werden sollen. In Abschnitt 1.6 haben wir die Maximierung (bzw. Minimierung) von f mit Methoden der Differentialrechnung untersucht. Wie wir oben gesehen haben, ist h¨aufig jedoch nur das (lokale oder globale) Maximum von f auf einer geeigneten Teilmenge des Definitionsbereichs D von Interesse. Diese Teilmenge ergibt sich aus zus¨atzlichen ¨okonomischen (oder physikalischen) Bedingungen (den sogenannten Nebenbedingungen) an die Variablen. Wir nehmen an, dass diese Nebenbedingungen in Form einer Gleichung g(x) = 0
(1.95)
gegeben sind. Hierbei ist g = (g1 , . . . , gm ) : D → Rm eine vektorwertige Funktion, und es ist m < n vorausgesetzt. Die Nebenbedingung (1.95) besagt also, dass zwischen den n Variablen m (im Allgemeinen nichtlineare) Beziehungen bestehen. Schreiben wir Dg := {x ∈ D : g(x) = 0} f¨ ur die Menge aller Punkte des Definitionsbereichs von f , welche die Nebenbedingung (1.95) erf¨ ullen, so sind bei Optimierungsaufgaben unter der Nebenbedingung (1.95) ausschließlich die Extremalstellen von f auf der Teilmenge Dg von D von Interesse. Die Funktion f besitzt im Punkt x0 ∈ Dg ein lokales Maximum unter der Nebenbedingung (1.95), wenn es eine Umgebung U von x0 gibt, so dass gilt: f (x) ≤ f (x0 )
f¨ ur jedes x ∈ U ∩ Dg .
In diesem Fall heißt x0 lokale Maximalstelle von f unter der Nebenbedingung (1.95). Analog definiert man die Begriffe strenges lokales Maximum, (strenges) lokales Minimum, (strenges) globales Maximum sowie (strenges) globales Minimum unter der Nebenbedingung (1.95). Formal liefert diese Definition nichts Neues. Ein lokales Maximum von f unter der Bedingung g(x) = 0 ist nichts anderes als ein lokales Maximum der auf die Menge Dg eingeschr¨ ankten Funktion f .
1.9.2
Die Multiplikatorenregel von Lagrange
Es liege das Problem vor, die Extremalstellen einer Zielfunktion f unter der Nebenbedingung (1.95) zu bestimmen. Wenn es wie in den Beispielen 1.77 und 1.78 gelingt, die Gleichung g(x) = 0 nach m der Variablen (etwa nach xn−m+1 , . . . , xn ) aufzul¨osen, wenn es also eine Funktion ϕ : Rn−m → Rm gibt, so dass die Bedingungen g(x1 , . . . , xn ) = 0 und (xn−m+1 , . . . , xn ) = ϕ(x1 , . . . , xn−m )
1 Differentialrechnung im Rn
74
¨aquivalent sind, so reduziert sich das Problem auf die Bestimmung eines (lokalen) Maximums oder Minimums der Funktion (x1 , . . . , xn−m ) → f (x1 , . . . , xn−m , ϕ(x1 , . . . , xn−m )) auf der Menge {(x1 , . . . , xn−m ) : (x1 , . . . , xn−m , ϕ(x1 , . . . , xn−m )) ∈ D}. In diesem (einfachen) Fall liegt also ein unrestringiertes Extremwertproblem, also ein Maximierungs- oder Minimierungsprobem ohne Nebenbedingungen, vor. H¨aufig ist jedoch die Gleichung g(x) = 0 nicht explizit und manchmal auch nicht eindeutig aufl¨osbar. In derartigen F¨allen liefert das folgende wichtige Resultat eine notwendige Bedingung f¨ ur das Vorliegen einer lokalen Extremalstelle von f unter der Nebenbedingung (1.95). 1.79 Satz. (Multiplikatorenregel von Lagrange5 ) Es seien D ⊂ Rn eine offene Menge sowie f : D → R und g = (g1 , . . . , gm ) : D → Rm stetig differenzierbare Funktionen. Der Punkt x0 ∈ D sei eine lokale Extremalstelle von f unter der Nebenbedingung g(x) = 0, und die Jacobi-Matrix g (x0 ) von g im Punkt x0 habe den (vollen) Rang m. Dann existieren eindeutig bestimmte Zahlen λ1 , . . . , λm ∈ R, so dass f (x0 ) +
m
λi gi (x0 ) = 0.
(1.96)
i=1
Beweis: Wir k¨ onnen o.B.d.A. annehmen, dass die letzten m Spalten von g (x0 ) linear unabh¨ angig sind. F¨ ur den Beweis ist es dann zweckm¨ aßig, die Variablen x1 , . . . , xn anders zu ¨ bezeichnen. Ahnlich wie in Abschnitt 1.8 schreiben wir einen Punkt aus Rn = Rn−m ×Rm in der Form (y , z ) := (y1 , . . . , yn−m , z1 , . . . , zm ) mit y := (y1 , . . . , yn−m ), z := (z1 , . . . , zm ) und setzen g(y, z ) := g(y1 , . . . , yn−m , z1 , . . . , zm ). Entsprechend gilt x0 = (y0 , z0 ) f¨ ur y0 ∈ Rn−m und z0 ∈ Rm . Die in Abschnitt 1.8 definierte Matrix ∂g (y0 , z0 ) ∂z wird durch die letzten m Spalten der Jacobi-Matrix g (x0 ) gebildet; sie ist also nach der eingangs gemachten Annahme regul¨ar. Außerdem gilt g(y0 , z0 ) = 0. Nach Satz 1.69 gibt 5
Joseph Louis Lagrange (1736–1813), Mathematiker, Physiker und Astronom. Lagrange hatte zun¨ achst eine Professur in Turin inne; 1866 nahm er ein Angebot Friedrichs II. an und wurde Direktor der mathematischen Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften. Nach dem Tod Friedrichs II. u ¨ bersiedelte L. nach Paris und wurde Mitglied der Pariser Akademie. Hauptarbeitsgebiete: Variationsrechnung, Differentialgleichungen, Algebra, Zahlentheorie, Himmelsmechanik. Als Hauptwerk gilt sein 1788 erschienenes Buch M´ecanique Analytique. Allein sein astronomisches Gesamtwerk umfasst 14 B¨ ande.
1.9 Optimierung unter Nebenbedingungen
75
es also offene Umgebungen U von y0 und V von z0 mit U × V ⊂ D sowie eine stetig differenzierbare Funktion ϕ : U → V mit ϕ(y0 ) = z0 und g(y , ϕ(y )) = 0, y ∈ U . Da f¨ ur y ∈ U und z ∈ V die Gleichungen g(y, z ) = 0 und z = ϕ(y ) ¨ aquivalent sind, besitzt h(y ) := f (y, ϕ(y )),
y ∈ U,
(1.97)
nach Voraussetzung in y0 ein lokales Extremum. Wegen Satz 1.52 ist h (y0 ) = 0. Andererseits erhalten wir aus der Kettenregel (Satz 1.64) 0 = h (y0 ) = ∂f (x0 ) + ∂f (x0 )ϕ (y0 ). ∂y ∂z Benutzen wir hier Formel (1.75) f¨ ur ϕ (y0 ), so ergibt sich 0 = ∂f (x0 ) − ∂f (x0 ) ∂y ∂z
−1 ∂g ∂g (x0 ) (x0 ). ∂z ∂y
Es liegt jetzt nahe, die Zahlen λ1 , . . . , λm durch λ = (λ1 , . . . , λm ) := − ∂f (x0 ) ∂z
−1 ∂g (x0 ) ∂z
(1.98)
zu definieren. Dann gilt einerseits ∂f ∂g (x0 ) + λ · (x0 ) = 0 ∂y ∂y und andererseits nach Definition von λ ∂f ∂g (x0 ) + λ · (x0 ) = 0. ∂z ∂z
(1.99)
Schreibt man die beiden letzten Gleichungen untereinander, so folgt die Behauptung (1.96). Da (1.99) ein lineares Gleichungssystem mit der eindeutigen L¨ osung (1.98) darstellt, sind λ1 , . . . , λm eindeutig bestimmt.
Die Zahlen λ1 , . . . , λm in Gleichung (1.96) heißen Lagrange-Multiplikatoren . Die Funktion F (x, λ1 , . . . , λm ) := f (x) +
m
λi · gi (x)
(1.100)
i=1
heißt Lagrange-Funktion . Ist x0 ∈ D eine lokale Extremalstelle von f unter der Nebenbedingung g(x) = 0, welche außerdem die Regularit¨ atsbedingung Rang g (x0 ) = m
(1.101)
1 Differentialrechnung im Rn
76
erf¨ ullt, so m¨ ussen unter den Voraussetzungen von Satz 1.79 f¨ ur gewisse λ1 , . . . , λm notwendigerweise die zu (1.96) ¨aquivalenten Gleichungen ∂F (x0 , λ1 , . . . , λm ) = 0, ∂xi
i = 1, . . . , n,
(1.102)
erf¨ ullt sein. Zusammen mit den Gleichungen gi (x0 ) = 0,
i = 1, . . . , m,
(1.103)
stehen also insgesamt n+m Gleichungen zur Bestimmung der m+n Unbekannten ugung. x0 und λ1 , . . . , λm zur Verf¨ Man beachte, dass gi (x0 ) die partielle Ableitung der Lagrange-Funktion F nach λi ist. Ein Punkt (x0 , (λ1 , . . . , λm )), welcher die Gleichungen (1.102) und (1.103) l¨ost, ist also station¨arer Punkt der Lagrange-Funktion. Die Methode der Lagrange-Multiplikatoren besteht darin, alle station¨ aren Punkte der LagrangeFunktion zu bestimmen und dann zu untersuchen, ob x0 ein lokales Extremum unter den Nebenbedingungen ist. Wir werden hierauf in 1.9.5 zur¨ uckkommen. Die Regularit¨atsbedingung (1.101) ist ¨aquivalent zur linearen Unabh¨ angigkeit der Gradienten gi (x0 ), i = 1, . . . , m.
1.9.3
Eine geometrische Interpretation
Die Voraussetzungen von Satz 1.79 seien erf¨ ullt. Gleichung (1.96) bedeutet, dass der Gradient f (x0 ) von f im Punkt x0 eine Linearkombination der Gradienten der Nebenbedingungen in diesem Punkt ist. Wir nehmen jetzt an, dass es nur eine Nebenbedingung g := g1 gibt. Dann gilt f (x0 ) = μg (x0 )
(1.104)
f¨ ur ein μ ∈ R. Die Regularit¨atsvoraussetzung (1.101) bedeutet g (x0 ) = 0, und wir setzen zus¨atzlich auch f (x0 ) = 0 voraus. Aus (1.104) und 1.4.11 ergibt sich, dass die Tangentialr¨aume (vgl. 1.8.5) von Hc (f ) (c := f (x0 )) und H0 (g) im Punkt x0 u ¨ bereinstimmen. Die H¨ohenlinien von f und g im Punkt x0 sind also parallel.
1.9.4
¨ Okonomische Interpretation der Lagrange-Multiplikatoren
Wir betrachten die Maximierungsaufgabe aus 1.9.1 f¨ ur den Fall m = 1, d.h. f¨ ur den Fall nur einer Nebenbedingung g := g1 . Wir nehmen an, dass die Nebenbedingung von der Form g(x) = g0 (x) − c f¨ ur eine stetig differenzierbare Funktion g0 : D → R und ein c ∈ R ist. Gesucht ist also das Maximum einer stetig differenzierbaren Funktion f : D → R auf der Menge {x : g0 (x) = c}. Unser Anliegen ist es, das Verhalten der Zielfunktion am optimalen Wert in Abh¨ angigkeit vom Parameter c zu studieren. In Anwendungen beschreibt die Funktion g0 sehr oft,
1.9 Optimierung unter Nebenbedingungen
77
in welchem Umfang eine bestimmte Ressource von den Variablen x1 , . . . , xn in Anspruch genommen wird. Wir nehmen jetzt an, dass das eben beschriebene Maximierungsproblem f¨ ur alle c aus einem offenen Intervall I eine eindeutige L¨ osung x = x(c) mit der Eigenschaft g0 (x0 ) = 0 hat. Wegen Satz 1.79 m¨ ussen dann die Gleichungen f (x(c)) + λ(c)g0 (x(c)) = 0,
(1.105)
g0 (x(c)) = c
(1.106)
f¨ ur ein (eindeutig bestimmtes!) ebenfalls von c abh¨ angendes λ = λ(c) erf¨ ullt sein. Schließlich definieren wir f ∗ (c) := f (x(c)) als den optimalen Wert der Zielfunktion in Abh¨angigkeit von der Ressource c ∈ I. Wir schreiben x(c) = h(c) f¨ ur eine Funktion h : I → Rn und nehmen an, dass h differenzierbar ist. Nach der Kettenregel (Satz 1.37) ergibt sich dann (f ∗ ) (c) = f (h(c)), h (c) = −λ(c) g0 (h(c)), h (c), wobei wir hier zuletzt (1.105) benutzt haben. Wiederum nach der Kettenregel ist das oben stehende Skalarprodukt die Ableitung von g0 ◦ h an der Stelle c. Wegen (1.106) ist diese Ableitung aber 1. Damit erhalten wir die interessante Formel (f ∗ ) (c) = −λ(c).
(1.107)
Der negative Lagrange-Multiplikator −λ(c) ist also die Rate, mit der sich der optimale Wert der Zielfunktion in Abh¨angigkeit von der Ressource c ¨ andert. Er wird deshalb als Schattenpreis der Ressource bezeichnet. Analog kann man auch im Fall mehrerer Nebenbedingungen die LagrangeMultiplikatoren als Schattenpreise der jeweiligen Ressourcen interpretieren.
1.9.5
Bestimmung globaler Extrema nach Lagrange
Die Methode von Lagrange zur Bestimmung globaler Extrema von Funktionen unter Nebenbedingungen kann schematisch wie folgt beschrieben werden: (i) Bestimme die Zielfunktion f und die Nebenbedingungen g1 , . . . , gm . (ii) Stelle die Lagrange-Funktion (1.100) sowie das Gleichungssystem (1.102) und (1.103) auf. (iii) L¨ose das Gleichungssystem (1.102) und (1.103). ¨ (iv) Uberpr¨ ufe alle kritischen Punkte x ∈ D, d.h. alle Punkte, die entweder (1.102) und (1.103) (zusammen mit den Lagrange-Multiplikatoren) l¨ osen ( ullen. oder aber die Ungleichung Rang g x) < m erf¨
1 Differentialrechnung im Rn
78
Bei den Gleichungen (1.102) und (1.103) handelt es sich nicht um ein lineares Gleichungssystem. Deshalb gibt es auch keine universelle L¨ osungsmethode und auch keine generelle Aussage u osungen. Oft k¨ onnen diese ¨ ber die Anzahl der L¨ L¨ osungen nur mittels numerischer Methoden approximativ ermittelt werden. Manchmal weiß man, dass die Funktion f auf der Menge {x ∈ D : g(x) = 0} (mindestens) ein globales Minimum und ein globales Maximum besitzt. Nach Satz 1.18 ist eine hinreichende Bedingung hierf¨ ur, dass diese Menge abgeschlossen und beschr¨ankt ist. Gibt es dann nur endlich viele kritische Punkte, so ist derjenige mit dem gr¨oßten (bzw. kleinsten) Wert der Zielfunktion ein globales Maximum (bzw. Minimum) unter den Nebenbedingungen. Manchmal ist es m¨oglich, die Zielfunktion in der Umgebung eines kritischen Punktes zu u ufen und dann zu entscheiden, ob ein lokales Maximum bzw. ¨berpr¨ lokales Minimum vorliegt. 1.80 Beispiel. Wir suchen die globalen Extrema der durch f (x, y) := x · y definierten Funktion f : R2 → R auf dem abgeschlossenen Einheitskreis B := B(0, 1) = {(x, y) : x2 + y 2 ≤ 1} und betrachten hierzu zun¨achst f auf dem Inneren B ◦ von B. Da die Gleichung f (x, y) = (y, x) = (0, 0) nur die L¨ osung (0, 0) besitzt, ist der Koordinatenursprung nach Satz 1.52 der einzige Punkt in B ◦ , welcher als lokale Extremalstelle von f in Frage kommt. Hier liegt jedoch ein Sattelpunkt vor, denn die Hesse-Matrix 0 1 Hf (0, 0) = 1 0 ist nach Satz 1.15 indefinit. Die gesuchten globalen Extremalstellen von f m¨ ussen folglich auf dem Rand {(x, y) : x2 + y 2 = 1} von B liegen. Setzt man g(x, y) := x2 + y 2 − 1, so sind also die globalen Extremalstellen von f unter der einen Nebenbedingung g(x, y) = 0 gesucht. Die Lagrange-Funktion besitzt die Gestalt F (x, y, λ) = x · y + λ(x2 + y 2 − 1), und die Gleichungen (1.102) und (1.103) lauten in diesem Fall y + 2λx = 0,
x + 2λy = 0,
x2 + y 2 = 1.
Daraus folgt entweder λ = 1/2 oder λ = −1/2. In jedem dieser beiden F¨ alle gibt es zwei L¨osungen f¨ ur (x, y): x = − 1/2, y = 1/2, λ = 1/2 : x = 1/2, y = − 1/2, λ = −1/2 : x = 1/2, y = 1/2, x = − 1/2, y = − 1/2.
1.9 Optimierung unter Nebenbedingungen
79
Die Jacobi-Matrix g (x, y) = (2x, 2y) hat auf dem Rand von B den Rang 1. Nach Satz 1.79 kommen somit nur die Vektoren x1 := ( 1/2, − 1/2), x3 := ( 1/2, 1/2),
x2 := (− 1/2, 1/2), x4 := (− 1/2, − 1/2)
(1.108) (1.109)
als globale Extremalstellen in Frage. Da f (x1 ) = f (x2 ) = −1/2 sowie f (x3 ) = f (x4 ) = 1/2 gelten und die Funktion f nach Satz 1.18 (ii) sowohl ein globales Minimum als auch ein globales Maximum besitzt, sind −1/2 bzw. 1/2 das globale Minimum bzw. Maximum auf B und x1 , x2 globale Minimalstellen sowie x3 , x4 globale Maximalstellen von f auf B. Die Punkte x1 und x2 minimieren F (x, 1/2), und die Punkte x3 und x4 maximieren F (x, −1/2). Nat¨ urlich l¨asst sich diese Aufgabe auch einfacher (z.B. mittels quadratischer Erg¨anzung) l¨osen.
1.9.6
Hinreichende Kriterien*
Wir formulieren jetzt ein hinreichendes Kriterium f¨ ur die Existenz eines lokalen Extremums unter Nebenbedingungen. Das n¨ achste Resultat stellt (mit der Festsetzung g(x) = 0, x ∈ D) eine Verallgemeinerung von Satz 1.55 (i),(ii) dar. 1.81 Satz. (Hinreichende Kriterien f¨ ur Extrema unter Nebenbedingungen) Es seien D ⊂ Rn eine offene Menge sowie f : D → R und g = (g1 , . . . , gm ) : D → Rm zweimal stetig partiell differenzierbare Funktionen. Die Gleichungen (1.102) und (1.103) m¨ ogen eine mL¨osung x0 ∈ D und λ1 , . . . , λm ∈ R besitzen. Ist dann die Matrix Hf (x0 ) + i=1 λi Hgi (x0 ) negativ definit auf der Menge W (g; x0 ) := {v ∈ Rn : gi (x0 ), v = 0 f¨ ur i = 1, . . . , m}, d.h. gilt m λi Hgi (x0 ) v < 0, v , Hf (x0 ) +
v ∈ (W (g; x0 ) \ {0}),
(1.110)
i=1
so hat f in x0 ein strenges lokales Maximum unter der Nebenbedingung g(x) = 0. Gilt dagegen m λi Hgi (x0 ) v > 0, v , Hf (x0 ) +
v ∈ (W (g; x0 ) \ {0}),
(1.111)
i=1
so hat f in x0 ein strenges lokales Minimum unter der Nebenbedingung g(x) = 0.
1 Differentialrechnung im Rn
80
Beweis: Der Beweis ist eine einfache Verallgemeinerung des entsprechenden Satzes ohne Nebenbedingung. Wir setzen (1.110) voraus und nehmen indirekt an, dass f in x0 kein strenges lokales Maximum unter der Nebenbedingung g = 0 besitzt. Dann gibt es zu jedem k ∈ N ein xk ∈ B(x0 , 1/k) ∩ D mit xk = x0 , g(xk ) = 0 sowie f (xk ) ≥ f (x0 ). Wir wenden jetzt Folgerung 1.51 auf die Lagrange-Funktion x → F (x, λ) an. Setzen wir HF (x) := Hf (x) +
m
λi Hgi (x)
i=1
ur jedes k ∈ N die und beachten Voraussetzung (1.96) sowie g(xk ) = g(x0 ) = 0, so folgt f¨ Existenz eines θk ∈ (0, 1) mit der Eigenschaft 1 f (xk ) = f (x0 ) + xk − x0 , HF (x0 + θk (xk − x0 ))(xk − x0 ). 2
(1.112)
Es gilt xk = x0 + εkvk mit vk ∈ S n−1 und εk > 0. Aus xk → x0 f¨ ur k → ∞, folgt εk → 0. Aus (1.112) erhalten wir 0 ≤ vk , HF (x0 + θk (xk − x0 ))vk .
(1.113)
Wegen Satz 1.11 k¨onnen wir o.B.d.A. die Konvergenz vk → v ∈ S n−1 voraussetzen. Damit folgt aus (1.113) die Ungleichung
v , HF (x0 )v ≥ 0.
(1.114)
Andererseits erhalten wir aus g(xk ) = g(x0 ) = 0, der Differenzierbarkeit von g sowie Satz 1.61 die Konvergenz g (x0 )(xk − x0 )2 = lim g (x0 )vk 2 = g (x0 )v 2 = 0, k→∞ k→∞ xk − x0 2 lim
also g (x0 )v = 0. Letzteres bedeutet aber gi (x0 ), v = 0 f¨ ur i = 1, . . . , m. Zusammen mit (1.114) liefert das einen Widerspruch zur Voraussetzung (1.110).
Die negative Definitheit der Matrix Hf (x0 ) + m x0 ) ist eine hinreii=1 λi Hgi ( chende Bedingung f¨ ur (1.110). In diesem Fall kann man Satz 1.55 anwenden, um zu schließen, dass x0 ein lokales Maximum von F (x, λ1 , . . . , λm ) ist. In der Regel liegt diese Eigenschaft aber nicht vor. Die Menge W (g; x0 ) nennt man auch Tangentialraum an die Nebenbedingung im Punkt x0 . Eine geometrische Interpretation ergibt sich aus 1.8.5.
1.9.7
Zwei Ver¨ anderliche und eine Nebenbedingung
Im Spezialfall n = 2 nehmen die Kriterien von Satz 1.81 die folgende einfache Form an.
1.9 Optimierung unter Nebenbedingungen
81
1.82 Folgerung. (Hinreichende Kriterien f¨ ur lokale Extrema im R2 ) 2 Es seien D ⊂ R eine offene Menge und f : D → R sowie g : D → R C 2 Funktionen. Die Gleichungen (1.102) und (1.103) m¨ ogen eine L¨ osung x0 ∈ D und λ ∈ R mit der Eigenschaft g (x0 ) = 0 besitzen. Schließlich sei
d(x0 , λ) := fxx (x0 ) + λgxx (x0 ) (gy (x0 ))2 − 2 fxy (x0 ) + λgxy (x0 ) gx (x0 )gy (x0 )
+ fyy (x0 ) + λgyy (x0 ) (gx (x0 ))2 (1.115) gesetzt. Dann bestehen die folgenden Implikationen: (i) Gilt d(x0 , λ) > 0, so besitzt f in x0 ein strenges lokales Minimum unter der Nebenbedingung g(x) = 0. (ii) Gilt d(x0 , λ) < 0, so besitzt f in x0 ein strenges lokales Maximum unter der Nebenbedingung g(x) = 0. Beweis: Wir benutzen Satz 1.81. Nach Definition gilt
d(x0 , λ) = (−gy (x0 ), gx (x0 )), Hf (x0 ) + λHg (x0 ) (−gy (x0 ), gx (x0 ))T .
(1.116)
Aus der Voraussetzung g (x0 ) = 0 und der Definition von W (g; x0 ) folgt W (g; x0 ) = Span(−gy (x0 ), gx (x0 )). Zusammen mit der Homogenit¨atseigenschaft (1.21) sind die Behauptungen jetzt eine direkte Konsequenz von Satz 1.81.
1.83 Beispiel. In Beispiel 1.80 waren die Extrema der Funktion f (x, y) = xy unter der Nebenbedingung g(x, y) = x2 + y 2 − 1 = 0 gesucht. Es gilt 2λ 1 Hf (x) + λHg (x) = Aλ := . 1 2λ Aus Satz 1.15 folgt, dass diese Matrix f¨ ur λ = 1/2 positiv semidefinit, aber nicht positiv definit und f¨ ur λ = −1/2 negativ semidefinit, aber nicht negativ definit ist. Wie nach Satz 1.81 ausgef¨ uhrt, kann Satz 1.55 zur Bestimmung der Extrema nicht herangezogen werden. Deswegen benutzen wir jetzt Folgerung 1.82 und die Darstellung (1.116), um die Extremaleigenschaften der in (1.108) und (1.109) definierten Vektoren zu untersuchen. ur λ = 1/2 gilt Wir erinnern zun¨achst an die Gleichung g (x, y) = (2x, 2y). F¨ √ √ √ √ d(x1 , λ) = ( 2, 2), Aλ ( 2, 2)T = 8 und analog auch d(x2 , λ) = 8. In den Punkten x1 und x2 liegt also ein lokales Minimum unter der Nebenbedingung g(x) = 0 vor. F¨ ur λ = −1/2 gilt √ √ T √ √ d(x3 , λ) = (− 2, 2), Aλ (− 2, 2) = −8
1 Differentialrechnung im Rn
82
und analog auch d(x4 , λ) = −8. In den Punkten x3 und x4 liegt also ein lokales Maximum unter der Nebenbedingung g(x) = 0 vor.
Lernziel-Kontrolle • Wann heißt eine Folge im Rn beschr¨ankt bzw. konvergent? • Warum l¨ asst sich die Konvergenz von Folgen im Rn auf den Konvergenzbegriff f¨ ur reelle Folgen zur¨ uckf¨ uhren? • Geben Sie eine Teilmenge M des R2 mit den Eigenschaften M ∩ ∂M = ∅ und (R2 \ M ) ∩ ∂M = ∅ an. • Wann heißt eine Teilmenge des Rn offen bzw. abgeschlossen? • Wie ist die Stetigkeit einer Funktion f : D → Rm , D ⊂ Rn , definiert? • Wann heißt eine symmetrische Matrix positiv (semi)definit bzw. indefinit? • K¨ onnen Sie ein Kriterium f¨ ur die positive Definitheit einer 2 × 2-Matrix angeben? • Nennen Sie mindestens zwei Eigenschaften, welche eine auf einer beschr¨ ankten und abgeschlossenen Menge definierte stetige Funktion besitzt! • Welche partiellen Ableitungen besitzt die Funktion f (x, y) := sin(x · cos y)? • Wie ist der Gradient einer Funktion definiert? • Wann heißt eine Funktion f : D → R, D ⊂ Rn , differenzierbar? • Was ist eine differenzierbare Kurve im Rn ? • Wie ist die Richtungsableitung einer Funktion definiert? • Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Gradienten und der Richtung des steilsten Anstiegs einer Funktion? • Welche Rolle spielt die Hesse-Matrix beim Auffinden lokaler Extremalstellen? • Wie ist die Jacobi-Matrix definiert? • K¨ onnen Sie die allgemeine Kettenregel formulieren? • Wird durch die Gleichung g(x, y) := x2 +y 2 −y 3 +y = 0 in einer gewissen Umgebung U von 0 eine stetig differenzierbare Funktion f : U → R mit g(x, f (x)) = 0 definiert? • Formulieren Sie ein Optimierungsproblem unter Nebenbedingungen. • K¨ onnen Sie die Lagrangesche Multiplikatorenmethode beschreiben?
Kapitel 2
Integralrechnung im Rn Jeder Kreiszylinder, dessen Radius gleich dem Kugelradius und dessen H¨ohe gleich dem Kugeldurchmesser ist, ist 3/2 mal so groß wie die Kugel.
Archimedes
In diesem Kapitel geht es um die Bestimmung des Volumens von Mengen, die vom Graphen einer reellwertigen Funktion f von n Ver¨ anderlichen und dem Definitionsbereich von f begrenzt werden. Ausgangspunkt ist das elementargeometrische Volumen eines Quaders. Wir behandeln zun¨ achst den Fall zweier Ver¨ anderlicher. ¨ Die Ubertragung auf beliebige Dimensionen ist unproblematisch.
2.1
Das Riemann-Integral u ¨ ber Rechtecke
Es sei Q = [a1 , b1 ] × [a2 , b2 ] ein (achsenparalleles) Rechteck, wobei a1 < b1 und a2 < b2 gelte. Der (Fl¨ achen-)Inhalt von Q ist die Zahl |Q| := (b1 − a1 )(b2 − a2 ),
(2.1)
also das Produkt der Seitenl¨angen“. Nimmt die Funktion f u ¨ber dem Rechteck ” Q einen konstanten positiven Wert h an, so ist der vom Graphen von f und Q begrenzte Bereich ein Quader mit dem elementargeometrischen Volumen h · |Q| (siehe Bild 2.1 links). Ist die Funktion f nicht konstant, so wird man versuchen, in Analogie zum Fall n = 1 das Rechteck Q in Teilrechtecke zu zerlegen und das Volumen der vom Graphen von f und den Teilrechtecken begrenzten Mengen durch die Volumina geeigneter Quader nach oben und unten abzusch¨ atzen (siehe Bild 2.1 rechts). Bei immer feinerer Zerlegung von Q in Teilrechtecke sollte sich das gesuchte Volumen als Grenzwert von Summen von Quadervolumina ergeben. N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_2, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
2 Integralrechnung im Rn
84 f (x, y)
f (x, y)
h
Q
y
y
x
x
Bild 2.1: Zur Definition von Ober- und Untersummen
2.1.1
Ober- und Untersummen
In I.7.1.1 haben wir Zerlegungen von Intervallen betrachtet. Diese Begriffsbildung soll jetzt auf den zweidimensionalen Fall u ¨ bertragen werden. Es seien hierzu Z1 = {x0 , . . . , xm } eine Zerlegung von [a1 , b1 ] und Z2 = {y0 , . . . , yn } eine Zerlegung von [a2 , b2 ]. Dann heißt die Menge der Punkte Z := Z1 × Z2 = {(xi , yj ) : i = 0, . . . , m, j = 0, . . . , n}
(2.2)
Zerlegung von Q. Synonym hierzu nennt man auch die Menge aller Rechtecke Qij := [xi−1 , xi ] × [yj−1, yj ],
i = 1, . . . , m, j = 1, . . . , n,
(2.3)
eine Zerlegung von Q. Die Zahl Z := max({|xi − xi−1 | : 1 ≤ i ≤ m} ∪ {|yj − yj−1| : 1 ≤ j ≤ n}), ange, heißt Feinheit also die gr¨oßte unter allen Rechtecken Qij auftretende Seitenl¨ der Zerlegung Z. Die Punkte (xi , yj ) einer Zerlegung bilden ein Gitter auf Q, wobei die Gitterpunkte die Eckpunkte der Rechtecke Qij sind (Bild 2.2 links). Offenbar gilt Q=
n m i=1 j=1
Qij ,
2.1 Das Riemann–Integral u ¨ ber Rechtecke
85
d.h. jeder Punkt von Q ist in einem der Rechtecke enthalten. Außerdem besitzen verschiedene Rechtecke keine gemeinsamen inneren Punkte, d.h. es gilt Q◦ij ∩ Q◦kl = ∅,
(i, j) = (k, l).
y
y
b2 y n
•
y2
•
•
•
•
•
•
•
Q1n Q2n Q3n Q12
y1 a2 y0
• •
Q22 •
Q11
x0
a1
• x1
Q32 •
Q21
•
x2
Qmn
b2 y n
•
•
•
•
•
•
y2
•
•
•
•
•
•
y y1
•
•
•
•
•
•
a2 y0
•
•
•
•
•
x0
x1
x2 x x3
Qm2 •
Q31
•
• x3
Qm1
xm x
a1
b1
xm x
b1
Bild 2.2: Zerlegung eines Rechtecks und Verfeinerung einer Zerlegung Man beachte, dass verschiedene Rechtecke durchaus gemeinsame Randpunkte besitzen k¨onnen. Das gilt etwa f¨ ur die Rechtecke Q12 und Q22 in Bild 2.2 links. Im Weiteren sei f : M → R eine beschr¨ankte Funktion, deren Definitionsbereich M das Rechteck Q enth¨alt. Wie in Band 1 werden wir auch im Folgenden die Einschr¨ankung von f auf Teilmengen von M (stillschweigend) ebenfalls mit f bezeichnen. F¨ ur eine Zerlegung Z von Q heißt U (f ; Z) :=
n m
inf f (Qij ) · |Qij |
i=1 j=1
die Untersumme von f bez¨ uglich Z und O(f ; Z) :=
n m
sup f (Qij ) · |Qij |
i=1 j=1
die Obersumme von f bez¨ uglich Z. Wegen der vorausgesetzten Beschr¨anktheit von f sind diese Unter- und Obersummen wohldefiniert. Ihre Eigenschaften sind analog zu denen in I.7.1.2. So besteht f¨ ur beliebige Zerlegungen Z und Z ∗ stets die Ungleichung U (f ; Z) ≤ O(f ; Z ∗ ).
(2.4)
2 Integralrechnung im Rn
86
Eine Zerlegung Z = Z1 × Z2 von Q heißt Verfeinerung einer Zerlegung Z = Z1 × Z2 , wenn Z1 eine Verfeinerung von Z1 und Z2 eine Verfeinerung von Z2 ist, wenn also Z1 ⊂ Z1 und Z2 ⊂ Z2 gilt. So liefern etwa die zus¨ atzlichen Teilungspunkte x ∈ [a1 , b1 ] und y ∈ [a2 , b2 ] (siehe Bild 2.2 rechts) eine Verfeinerung der in Bild 2.2 links dargestellten Zerlegung. Wir werden sp¨ ater die Tatsache verwenden, dass es zu zwei Zerlegungen Z und Z von Q immer eine weitere Zerlegung Z gibt, die sowohl feiner als Z als auch feiner als Z ist. 2.1 Satz. (Monotonie der Ober- und Untersummen) Ist Z eine Verfeinerung der Zerlegung Z, so gelten die Ungleichungen U (f ; Z ) ≥ U (f ; Z),
O(f ; Z ) ≤ O(f ; Z).
¨ Bei Ubergang zu einer feineren Zerlegung k¨ onnen somit Unter- und Obersummen prinzipiell nur gr¨oßer bzw. kleiner werden.
2.1.2
Definition des Riemann-Integrals
Es seien f : M → R eine beschr¨ankte Funktion und Q ⊂ M ein Rechteck. (i) Die Zahl J(f ; Q) := sup{U (f ; Z) : Z ist eine Zerlegung von Q} heißt unteres (Darboux- oder Riemann-) Integral von f u ¨ber dem Rechteck Q. Entsprechend nennt man die Zahl J(f ; Q) := inf{O(f ; Z) : Z ist eine Zerlegung von Q} oberes (Darboux- oder Riemann-) Integral von f u ¨ber dem Rechteck Q. (ii) Die Funktion heißt (eigentlich Riemann-) integrierbar u ¨ ber Q, wenn gilt: J (f ; Q) = J (f ; Q). In diesem Fall nennt man J(f ; Q) = J(f ; Q) das (Riemann-) Integral von f u ¨ber Q und schreibt f (x) dx := J(f ; Q) Q
bzw.
f (x, y) d(x, y) := J(f ; Q). Q
Die Funktion f und das Rechteck Q heißen Integrand bzw. Integrationsbereich des Integrals.
2.2 Bereichsintegrale
2.1.3
87
Erste Eigenschaften des Riemann-Integrals
Zun¨achst folgt aus (2.4) die Ungleichung J(f ; Q) ≤ J (f ; Q). Die Beweise der n¨achsten S¨atze verlaufen v¨ollig analog zu den entsprechenden Beweisen in I.7.1.4 bzw. I.7.1.7. 2.2 Satz. (Riemannsches Integrabilit¨atskriterium) Eine beschr¨ ankte Funktion f ist genau dann ¨ uber Q integrierbar, wenn es zu jedem ε > 0 eine Zerlegung Z von Q gibt, so dass gilt: O(f ; Z) − U (f ; Z) ≤ ε.
(2.5)
2.3 Satz. (Linearit¨at des Integrals) Sind die Funktionen f, g u ¨ber Q integrierbar und sind λ, μ ∈ R, so ist auch die Funktion λf + μg ¨ uber Q integrierbar, und es gilt (λf (x) + μg(x)) dx = λ f (x) dx + μ g(x) dx. Q
Q
Q
2.4 Satz. (Monotonie des Integrals) Sind die Funktionen f und g ¨ uber Q integrierbar und gilt f (x) ≤ g(x) f¨ ur jedes x ∈ Q, so folgt f (x) dx ≤ g(x) dx. Q
2.2
Q
Bereichsintegrale
Bisher haben wir nur Rechtecke als Integrationsbereich zugelassen. In diesem Abschnitt werden wir uns von diesem Spezialfall l¨ osen und allgemeinere Integrationsbereiche betrachten. Dabei wird die durch 1, falls x ∈ M , 1M (x) := 0, falls x ∈ / M, definierte Indikatorfunktion 1M : R2 → R einer Menge M ⊂ R2 (vgl. I.4.3.2) eine wichtige Rolle spielen.
2.2.1
Additivit¨ at des Riemann-Integrals
2.5 Satz. (Integral und Inhalt) Ist M ein Rechteck mit M ⊂ Q, so ist die Indikatorfunktion 1M integrierbar ¨ uber M , und es gilt 1M (x) dx = |M |. Q
2 Integralrechnung im Rn
88
Beweis: Es gelte M = [c1 , d1 ] × [c2 , d2 ], und es sei Z = Z1 × Z2 eine Zerlegung von Q wie in (2.2) mit c1 , d1 ∈ Z1 und c2 , d2 ∈ Z2 . F¨ ur jedes der in (2.3) definierten Teilrechtecke ur Q0ij ∩ M 0 = ∅ Qij mit der Eigenschaft Qij ⊂ M gilt inf{1M (x) : x ∈ Qij } = 1, und f¨ gilt inf{1M (x) : x ∈ Qij } = 0. Andere F¨alle treten nicht auf. Also ist U (1M ; Z) =
|Qij | = |M |.
i,j:Qij ⊂M
Analog folgt
O(1M ; Z) =
|Qij | = |M | +
|Qij |.
i,j:Qij ∩(R2 \M) =∅
i,j:Qij ∩M =∅
Bezeichnet ε := Z die Feinheit der Zerlegung Z, so folgt aus der Ungleichung |Qij | ≤ 2ε(d1 − c1 ) + 2ε(d2 − c2 ) + 4ε2
(2.6)
i,j:Qij ∩(R2 \M) =∅
(vgl. Bild 2.3, in diesem Bild ist die links stehende Summe der Fl¨ achen der an M angrenzenden Rechtecke grau dargestellt) die Absch¨ atzung |M | = U (1M ; Z) ≤ J(1M ; Q) ≤ J(1M ; Q) ≤ |M | + ε(2(d1 − c1 ) + 2(d2 − c2 ) + 4ε) und somit f¨ ur ε → 0 die Behauptung des Satzes.
y
d2 M
Bild 2.3: Zur Ungleichung (2.6)
c2 ε c1
x
d1
Wir betrachten wieder eine beschr¨ankte Funktion f : M → R. 2.6 Lemma. (Teilmengen von Geraden) Nimmt die Funktion f : M → R außerhalb von endlich vielen Geraden der Gestalt {(x1 , x2 ) : x1 = a} oder {(x1 , x2 ) : x2 = b} (a, b ∈ R) den Wert 0 an, so ist f integrierbar u ¨ber jedem Rechteck Q ⊂ M , und es gilt f (x) dx = 0. Q
2.2 Bereichsintegrale
89
Beweis: Die Idee des Beweises ist in Bild 2.4 illustriert. Gilt f (x) = 0 f¨ ur jedes x ∈ Q, das nicht zur Menge {(a, x2 ) : a2 ≤ x2 ≤ b2 } geh¨ ort, so l¨ asst sich mit der Festsetzung C := supx∈Q |f (x)| der Betrag jeder Ober- und Untersumme durch 2Z(b2 − a2 )C nach oben absch¨ atzen. Dabei r¨ uhrt der Faktor 2 daher, dass die Punkte (a, yj ) zur Zerlegung Z = {(xi , yj ) : i = 0, . . . , m, j = 0, . . . , n} geh¨oren k¨ onnen. Beim Grenz¨ ubergang Z → 0 folgt J(f ; Q) = J(f ; Q) = 0 und somit Q f (x) dx = 0.
x2
nur hier kann f (x) = 0 gelten!
b2 Q Bild 2.4: Zum Beweis von Lemma 2.6 a2 a1
a
b1
x1
Zwei Mengen A, B ⊂ R2 heißen fremd , wenn sie keine gemeinsamen inneren Punkte besitzen, wenn also A◦ ∩ B ◦ = ∅ gilt. Ist Z eine Zerlegung von Q wie in (2.2), so bezeichnen wir mit R(Z) := {[xi−1 , xi ] × [yj−1 , yj ] : i = 1, . . . , m, j = 1, . . . , n} = {Qij : i = 1, . . . , m, j = 1, . . . , n} die Menge aller Teilrechtecke, in die Q durch Z zerlegt wird (vgl. Bild 2.2 links). Je zwei verschiedene Mengen aus R(Z) sind fremd. 2.7 Satz. (Additivit¨at) Ist das Rechteck Q Vereinigung von paarweise fremden Rechtecken B1 , . . . , Bk , so gilt k k J(f ; Bj ), J(f ; Q) = J(f ; Bj ). J(f ; Q) = j=1
j=1
Insbesondere ist f genau dann u ¨ber Q integrierbar, wenn f u ¨ber jedem Bj integrierbar ist. In diesem Fall gilt f (x) dx = Q
m j=1
f (x) dx.
Bj
Beweis: Zur Verringerung des Schreibaufwandes behandeln wir nur den Fall k = 2. Es gibt ein a ∈ R mit B1 ∩ B2 ⊂ {(x1 , x2 ) : x1 = a} oder ein b ∈ R mit B1 ∩ B2 ⊂ {(x1 , x2 ) :
2 Integralrechnung im Rn
90
x2 = b} (man fertige eine Skizze an!). Zu jeder Zerlegung von Q existiert eine feinere Zerlegung Z, so dass sich B1 und B2 als Vereinigungen von Mengen aus R(Z) schreiben lassen. Damit definiert Z Zerlegungen Z1 und Z2 von B1 bzw. B2 mit der Eigenschaft R(Z) = R(Z1 ) ∪ R(Z2 ). Umgekehrt legen zwei gegebene Zerlegungen Z1 und Z2 von B1 bzw. B2 eine eindeutig bestimmte Zerlegung Z von Q mit R(Z) = R(Z1 ) ∪ R(Z2 ) fest. F¨ ur eine solche Zerlegung gilt U (f ; Z) = U (f ; Z1 ) + U (f ; Z2 ),
O(f ; Z) = O(f ; Z1 ) + O(f ; Z2 ),
so dass sich die ersten beiden Behauptungen aus den Eigenschaften des unteren und oberen Integrals ergeben. Weiter gilt J (f ; Q) = J(f ; B1 ) + J(f ; B2 ) ≤ J(f ; B1 ) + J(f ; B2 ) = J(f ; Q). Ist f sowohl u ur j = ¨ber B1 als auch u ¨ ber B2 integrierbar, so folgt J(f ; Bj ) = J(f ; Bj ) f¨ 1, 2 und somit J(f ; Q) = J(f ; Q), also die Integrierbarkeit von f u ¨ber Q. Gilt umgekehrt J(f ; Q) = J(f ; Q), so folgt aus J (f ; B1 ) ≤ J(f ; B1 ) und der analogen Ungleichung f¨ ur B2 die Integrierbarkeit von f u ber B und u ber B . ¨ ¨ 1 2
2.2.2
Definition des Bereichsintegrals
Es seien M ⊂ R2 eine beschr¨ankte Menge und f : M → R eine beschr¨ ankte Funktion. Es ist bequem, diese Funktion durch Nullsetzen außerhalb von M“, ” also durch die Definition f (x), falls x ∈ M , fM (x) := 0, falls x ∈ / M, zu einer auf ganz R2 erkl¨arten Funktion fM zu erweitern. 2.8 Lemma. (Konsistenz des Integralbegriffs) In der obigen Situation seien Q1 , Q2 Rechtecke mit der Eigenschaft M ⊂ Q1 ∩Q2 . Dann gilt J(fM ; Q1 ) = J(fM ; Q2 ),
J(fM ; Q1 ) = J(fM ; Q2 ).
uber Q2 inteInsbesondere ist fM genau dann ¨ uber Q1 integrierbar, wenn fM ¨ grierbar ist. In diesem Fall gilt fM (x) dx = fM (x) dx. Q1
Q2
Beweis: Die Menge Q3 := Q1 ∩ Q2 ist ein Rechteck. Ferner gibt es Rechtecke Q4 und Q5 , so dass Q3 , Q4 und Q5 paarweise fremd sind und Q1 = Q3 ∪ Q4 ∪ Q5 gilt, vgl. Bild 2.5 (die analog zu behandelnden Sonderf¨alle Q4 = ∅ und Q5 = ∅ schließen wir hier aus.) Aus Satz 2.7 folgt J(fM ; Q1 ) = J(fM ; Q3 ) + J(fM ; Q4 ) + J(fM ; Q5 ).
2.3 Der Jordan-Inhalt
91
Nach Lemma 2.6 verschwinden hier die letzten beiden Summanden. Analog ergibt sich J(fM ; Q2 ) = J(fM ; Q3 ) und damit die erste Behauptung des Satzes. Die entsprechende Gleichung f¨ ur die oberen Integrale beweist man analog.
Q2 Q4
Q3
Q5 Q1 M Bild 2.5: Zum Beweis von Lemma 2.8
Weil jede beschr¨ankte Menge in einem geeigneten Rechteck enthalten ist, erm¨oglicht das gerade bewiesene Lemma die folgenden Definitionen. Dazu sei Q ein beliebiges Rechteck mit M ⊂ Q. (i) Die Zahlen J(f ; M ) := J(fM ; Q) und J(f ; M ) := J(fM ; Q) heißen unteres bzw. oberes Integral der Funktion f u ¨ber der Menge M . (ii) Die Funktion f : M → R heißt (eigentlich Riemann-)integrierbar u ¨ ber M , wenn gilt: J(f ; M ) = J(f ; M ). In diesem Fall nennt man J(f ; M ) = J(f ; M ) das (Riemann-)Integral von f u ¨ber M und schreibt f (x) dx := J(f ; M ) M
bzw.
f (x, y) d(x, y) := J(f ; M ). M
Die Funktion f und die Menge M heißen Integrand bzw. Integrationsbereich des Integrals.
2.3
Der Jordan-Inhalt
Die Bestimmung der Fl¨ache ebener Bereiche und des Volumens dreidimensionaler K¨orper geh¨oren zu den ¨altesten und fruchtbarsten mathematischen Themen. Ge-
2 Integralrechnung im Rn
92
gen Ende des vorletzten Jahrhunderts war es vor allem C. Jordan1 , der die dem Riemannschen Integralbegriff zugrunde liegenden Ideen zu einer ersten exakten Theorie des Inhalts von Teilmengen des R2 und R3 ausbaute. Mit dem folgenden Spezialfall der Definition des (oberen bzw. unteren) Integrals einer Funktion u ¨ ber einer Menge M erhalten wir eine sinnvolle Verallgemeinerung des Fl¨ acheninhalts von Rechtecken.
2.3.1
Definition des Jordan-Inhalts
Es sei M ⊂ R2 eine beschr¨ankte nichtleere Menge. (i) Die Zahlen J(M ) := J(1M ; M )
und
J (M ) := J(1M ; M )
heißen unterer bzw. oberer (Jordan-)Inhalt der Menge M . (ii) Gilt J(M ) = J(M ), so heißt M Jordan-messbar . In diesem Fall nennt man |M | := J(M ) den (Jordan-)Inhalt von M . Der Vollst¨andigkeit halber erg¨anzt man diese Definitionen durch die Festlegungen J(∅) = J(∅) = |∅| := 0. Die leere Menge ist also nach Definition Jordan-messbar, und sie besitzt den Inhalt 0. Allgemeiner vereinbaren wir J(f ; ∅) = J(f ; ∅) = f (x) dx := 0 ∅
f¨ ur jede auf einer Teilmenge des Rn erkl¨arte Funktion.
2.3.2
Rechtecksummen
¨ Nach Satz 2.5 ist jedes Rechteck Q Jordan-messbar. In Ubereinstimmung mit der gew¨ahlten Bezeichnung ist sein Jordan-Inhalt der bereits fr¨ uher definierte geometrische Elementarinhalt |Q| ( L¨ange mal Breite“) von Q. Es ist sinnvoll, ” von jetzt ab auch die leere Menge als Rechteck (mit Jordan-Inhalt 0) aufzufassen. 1
Camille Marie Ennemond Jordan (1838–1922). Jordan war zun¨ achst Bergbauingenieur, wurde 1873 Repetitor und 1876 Professor an der Ecole Polytechnique; ab 1916 war er Pr¨ asident der Acad´emie des Sciences. Jordan leistete bedeutende Beitr¨ age u.a. zur Algebra, Theorie der reellen Funktionen, Topologie und Kristallographie. Nach ihm benannt sind u.a. die Begriffe Jordansche Normalform (einer Matrix) und Jordansche Zerlegung (einer Funktion von beschr¨ ankter Schwankung).
2.3 Der Jordan-Inhalt
93
Eine Menge M heißt Rechtecksumme , falls sie sich als endliche Vereinigung paarweise fremder Rechtecke darstellen l¨asst, falls also k
M=
Bj
j=1
f¨ ur ein k ∈ N und paarweise fremde Rechtecke B1 , . . . , Bk gilt (Bild 2.6 links). Q B2
B2 B1
B1
B4
B3
B4
B3
Bild 2.6: Rechtecksumme M = ∪4j=1 Bj (links) und Darstellung von Q \ (∪4j=1 Bj ) als Rechtecksumme (rechts) Sind M = ∪kj=1 Bj eine Rechtecksumme und Q ein Rechteck mit der Eigenschaft M ⊂ Q, so gibt es paarweise fremde Rechtecke Bk+1 , . . . , Bm mit Q\M =
m
Bj
j=k+1
(siehe Bild 2.6 rechts). Eine Anwendung von Satz 2.7 auf die Funktion f = 1M liefert die Gleichung J(M ) = J(1M ; Q) =
k
J (1M ; Bi ) +
i=1
m
J(1M ; Bj ).
j=k+1
Die hierin auftretenden Summanden der ersten Summe sind nach Definition (und Satz 2.5) die Inhalte der Rechtecke Bi . Da die zweite Summe nach Lemma 2.6 verschwindet und eine analoge Gleichung auch f¨ ur den ¨ außeren Inhalt von M g¨ ultig ist, ist die Menge M Jordan-messbar, und es gilt |M | =
k i=1
|Bi |.
2 Integralrechnung im Rn
94
Der Jordan-Inhalt einer Jordan-messbaren Menge pr¨ azisiert unsere anschauliche Vorstellung vom (Fl¨achen-)Inhalt einer Menge. Diese Sichtweise wird auch durch das folgende Resultat gest¨ utzt. 2.9 Satz. (Approximation durch Rechtecksummen) F¨ ur jede beschr¨ ankte Menge M ⊂ R2 gilt J(M ) = sup{|S| : S ⊂ M, S ist Rechtecksumme}, J(M ) = inf{|S| : M ⊂ S, S ist Rechtecksumme}. Beweis: Da f¨ ur eine beliebige Menge A = ∅ die Beziehungen 1, falls A ⊂ M , inf{1M (x) : x ∈ A} = 0, sonst, 1 falls A ∩ M = ∅, sup{1M (x) : x ∈ A} = 0 sonst
(2.7)
(2.8)
gelten, folgen die Behauptungen aus den Definitionen des unteren und oberen Integrals.
Satz 2.9 bedeutet anschaulich, dass die Menge M von innen“ und von außen“ ” ” durch Rechtecksummen eingeschachtelt wird“ (vgl. Bild 2.7). Die Zahl J(M ) ” ist die kleinste obere Schranke der Fl¨achen aller Rechteckssummen, die in M enthalten sind. In gleicher Weise ist J(M ) die gr¨ oßte untere Schranke der Fl¨ achen aller Rechteckssummen, die M enthalten.
M
M
Bild 2.7: Einschachtelung“ einer Menge M durch Rechtecksummen ”
2.3 Der Jordan-Inhalt
2.3.3
95
Invarianzeigenschaften des Jordan-Inhalts
F¨ ur eine Menge A ⊂ R2 bezeichnen A + x := {y + x : y ∈ A} die um x ∈ R2 verschobene Menge A, A∗ := {(x, y) : (y, x) ∈ A} die an der Diagonalen {(x, x) : x ∈ R} gespiegelte Menge A und λA := {λx : x ∈ A} die um den Faktor λ ∈ R gestreckte Menge A (Bild 2.8).
A∗
2A
A+ x A
A
A
x
Bild 2.8: Die Mengen A + x, A∗ und λA f¨ ur λ = 2 2.10 Satz. (Invarianzeigenschaften des Jordan-Inhalts) Es sei A ⊂ R2 eine beschr¨ankte Menge. (i) F¨ ur jedes x ∈ R2 haben A und A + x denselben inneren und ¨außeren Inhalt. Insbesondere ist A genau dann Jordan-messbar, wenn A + x diese Eigenschaft besitzt. In diesem Fall gilt |A| = |A + x|. (ii) Die Mengen A und A∗ besitzen denselben inneren und ¨außeren Inhalt. Insbesondere ist A genau dann Jordan-messbar, wenn A∗ diese Eigenschaft aufweist. In diesem Fall gilt |A| = |A∗ |. (iii) F¨ ur jedes λ ∈ R gilt J(λA) = λ2 J (A) und J(λA) = λ2 J(A). Insbesondere ist f¨ ur λ = 0 die Menge A genau dann Jordan-messbar, wenn λA diese Eigenschaft besitzt. In diesem Fall gilt |λA| = λ2 |A|.
2 Integralrechnung im Rn
96
Beweis: (i): Ist A ein Rechteck, so ist auch A + x ein Rechteck mit demselben Inhalt. Ferner folgt aus A ⊂ B auch A + x ⊂ B + x. Aus Satz 2.9 ergeben sich deshalb sehr leicht die behaupteten Gleichungen J(A) = J(A + x) und J(A) = J(A + x). Die anderen Behauptungen sind dann eine Konsequenz der Definition der Jordan-Messbarkeit. (ii): Mit A ist auch A∗ eine Rechtecksumme mit demselben Inhalt. Deshalb folgen die Behauptungen aus Satz 2.9. (iii): Wir k¨ onnen λ = 0 annehmen. Eine Menge A ⊂ R2 ist genau dann ein Rechteck, wenn λA ein Rechteck ist. In diesem Fall gilt |λA| = λ2 |A|. Da sich diese Eigenschaften auf Rechtecksummen u ¨ bertragen, liefert Satz 2.9 die Behauptung.
2.3.4
Weitere Eigenschaften des Jordan-Inhalts
Im Folgenden werden weitere Eigenschaften des inneren und a ¨ußeren Inhalts vorgestellt. Wir erinnern hier an Abschnitt 1.2.2, in welchem das Innere A◦ , der Rand ∂A und die abgeschlossene H¨ ulle A einer Menge A definiert wurden. Wie fr¨ uher (vgl. I.8.6.3) bezeichne d(x, A) = inf{x − y 2 : y ∈ A} den Euklidischen Abstand eines Punktes x zur Menge A. F¨ ur jede Menge A ⊂ R2 und jedes ε > 0 ist die Parallelmenge von A im Abstand ε durch A⊕ε := {x ∈ R2 : d(x, A) ≤ ε}
(2.9)
definiert. Bild 2.9 veranschaulicht diese Begriffsbildung f¨ ur den Fall, dass die Menge A eine Strecke bzw. ein Quadrat ist. 2.11 Satz. (Eigenschaften des unteren und oberen Jordan-Inhalts) (i) Aus A ⊂ B folgt J(A) ≤ J(B) und J(A) ≤ J(B). (ii) Es gilt J(A) = J (A◦ ) und J(A) = J(A). (iii) F¨ ur ε → 0 gilt J(A⊕ε ) → J(A). Beweis: (i): Diese Behauptung ist eine direkte Folgerung aus Satz 2.9. (ii): Weil f¨ ur jede abgeschlossene Menge S die Teilmengenbeziehungen A ⊂ S und A⊂S¨ aquivalent sind, ist der zweite Teil von (ii) eine Konsequenz von Satz 2.9. F¨ ur den Beweis des ersten Teils kann J(A) > 0 vorausgesetzt werden. Zu vorgegebenen ε > 0 gibt es zun¨ achst eine Rechtecksumme S ⊂ A mit |S| > 0 und J (A) − |S| ≤ ε/2. Verkleinert man die Seitenl¨ angen der an S beteiligten Rechtecke, so entsteht eine in A◦ enthaltene Rechtecksumme S ⊂ S mit |S| − |S | ≤ ε/2. Insgesamt folgt J(A) ≤ |S | + ε ≤ J(A◦ ) + ε ≤ J(A) + ε und damit (ii).
2.3 Der Jordan-Inhalt
97
(iii): Ist A = [a1 , b1 ] × [a2 , b2 ] ein Rechteck, so gilt A⊕ε ⊂ [a1 − ε, b1 + ε] × [a2 − ε, b2 + ε], was sofort die Behauptung (iii) impliziert. Damit folgt (iii) aber auch f¨ ur Rechtecksummen. Im allgemeinen Fall kann J(A) < ∞ vorausgesetzt werden. Dann approximiert man A zun¨ achst durch eine Rechtecksumme S ⊃ A und dann S durch die Parallelmenge S⊕ε . Wegen A⊕ε ⊂ S⊕ε folgt (iii).
A⊕ε
A⊕ε A
A
ε
ε
Bild 2.9: Parallelmenge einer Strecke (links) bzw. eines Quadrats (rechts)
2.12 Folgerung. Sind A eine Jordan-messbare Menge und B eine Menge mit A◦ ⊂ B ⊂ A, so ist auch B Jordan-messbar, und es gilt |A| = |B|. Beweis: Aus der Monotonie des inneren und ¨außeren Inhalts (Satz 2.11 (i)) und aus Satz 2.11 (ii) erhalten wir |A| = J (A◦ ) ≤ J(B) ≤ J(B) ≤ J(A) = J(A) = |A| und damit die Behauptung.
Das folgende (extreme) Beispiel zeigt, dass nicht jede Menge Jordan-messbar ist. 2.13 Beispiel. Es sei M := {(x, y) ∈ [0, 1] × [0, 1] : x, y ∈ Q} die Menge aller Punkte im Einheitsquadrat, deren Koordinaten rationale Zahlen sind. Da in jeder Umgebung eines Punktes aus M Punkte mit irrationalen (nicht rationalen) Koordinaten liegen, gilt M ◦ = ∅. Andererseits ist M = [0, 1] × [0, 1], denn jeder Punkt aus dem Einheitsquadrat ist Grenzwert einer geeigneten Folge aus M . Damit folgt aus Satz 2.11 (oder auch direkt) J(M ) = 0 und J(M ) = 1. Die Menge M ist also nicht Jordan-messbar.
2 Integralrechnung im Rn
98
2.3.5
Das Riemann-Integral als Grenzwert*
2.14 Satz. (Das Integral als Grenzwert) Es seien M ⊂ R2 eine beschr¨ankte Menge, Q ⊃ M ein M enthaltendes Rechteck und Zn , n ∈ N, Zerlegungen von Q mit der Eigenschaft Zn → 0 f¨ ur n → ∞. Ist f : M → R eine beschr¨ ankte Funktion, so gilt lim U (fM ; Zn ) = J(f ; M ),
lim O(fM ; Zn ) = J(f ; M ).
n→∞
n→∞
(2.10)
Beweis: Es seien Z und Z Zerlegungen von Q, δ := Z die Feinheit von Z und K eine obere Schranke der Menge {|f (x)| : x ∈ M }. Weiter sei ∂A R := A∈R(Z)
und R⊕δ die durch (2.9) definierte Parallelmenge von R im Abstand δ. Wir behaupten die G¨ ultigkeit der Ungleichungen O(fM ; Z ∪ Z ) ≥ O(fM ; Z ) − 2K|R⊕δ |,
U (fM ; Z ∪ Z ) ≤ U (fM ; Z ) + 2K|R⊕δ |.
(2.11) (2.12)
Ungleichung (2.12) ist ein Analogon von (I.7.4). Wegen Satz 2.11 (iii) gilt |R⊕δ | → |R| = 0 f¨ ur δ → 0. Sind (2.11) und (2.12) bewiesen, so kann die Beweisf¨ uhrung v¨ ollig analog zu derjenigen Satz von I.7.6 erfolgen. Wir beweisen jetzt (2.11). Mit der Vereinbarung ur jedes B ∈ R(Z ) g¨ ultigen Beziesup fM (∅) = sup ∅ = 0 folgt unter Verwendung der f¨ hung |A ∩ B| = |B| A∈R(Z)
die Darstellung O(fM ; Z ) − O(fM ; Z ∪ Z ) |B| · sup fM (B) − = B∈R(Z )
=
|A ∩ B| · sup fM (A ∩ B)
A∈R(Z) B∈R(Z )
|A ∩ B| · (sup fM (B) − sup fM (A ∩ B))
(2.13)
A∈R(Z) B∈R(Z ),B⊂R⊕δ
+
|A ∩ B| · (sup fM (B) − sup fM (A ∩ B)).
A∈R(Z) B∈R(Z ),B ⊂R⊕δ
Die in (2.13) stehende Summe ist wegen sup fM (B) − sup fM (A ∩ B) ≤ 2K und A∈R(Z) B∈R(Z ),B⊂R⊕δ
|A ∩ B| =
B∈R(Z ),B⊂R⊕δ
|B| ≤ |R⊕δ |
(2.14)
2.3 Der Jordan-Inhalt
99
durch 2K|R⊕δ | nach oben beschr¨ankt. Wir betrachten jetzt ein B ∈ R(Z ) mit B ⊂ R⊕δ . Wegen δ = Z gilt die Unglei√ chung sup{x − y 2 : x, y ∈ B} ≤ 2δ. Nach Definition von R⊕δ gibt es deswegen ein C ∈ R(Z) mit B ⊂ C. (Den Nachweis dieser plausiblen Hilfsaussage u ¨ berlassen wir als ¨ Ubungsaufgabe.) Folglich gilt f¨ ur jedes A ∈ R(Z) entweder A ∩ B = ∅ oder B ⊂ A. Im zweiten Fall ist B = A ∩ B. Insgesamt ergibt sich, dass die in (2.14) auftretende Summe verschwindet, womit Ungleichung (2.11) bewiesen ist.
2.3.6
Nullmengen
Eine beschr¨ankte Menge M mit J(M ) = 0 heißt (Jordansche) Nullmenge . Eine Nullmenge ist Jordan-messbar und besitzt den Inhalt 0. Der Begriff der Nullmenge f¨ uhrt zu einem einfachen Kriterium f¨ ur die Jordan-Messbarkeit: 2.15 Satz. (Kriterium f¨ ur Jordan-Messbarkeit) Eine beschr¨ ankte Menge A ist genau dann Jordan-messbar, wenn ihr Rand ∂A eine Nullmenge ist. Dieses Kriterium ergibt sich unmittelbar aus Teil (i) des folgenden Satzes. 2.16 Satz. (Weitere Eigenschaften des unteren und oberen Jordan-Inhalts) (i) F¨ ur jede beschr¨ ankte Mengen A ⊂ R2 gilt J(A) + J (∂A) = J(A). (ii) F¨ ur beliebige beschr¨ankte Mengen A, B ⊂ R2 gilt J(A ∪ B) ≤ J(A) + J (B). (iii) Sind A und B fremde beschr¨ankte Mengen, so folgt J(A∪B) ≥ J(A)+J (B). Beweis: (i): Es sei Z eine Zerlegung eines Rechtecks Q mit der Eigenschaft Q ⊃ A. Dann gilt O(1A ; Z) = |C|. C∈R(Z) C∩A =∅
urden beide F¨ ur C ∈ R(Z) mit C ∩ A = ∅ gilt entweder C ⊂ A◦ oder C ∩ ∂A = ∅. (W¨ Aussagen nicht gelten, so g¨abe es Punkte x, y ∈ C mit x ∈ A◦ und y∈ / A◦ . Die Strecke [x, y] w¨ are dann in C enthalten. Setzt man s := sup{t ≥ 0 : x + t(y − x) ∈ A}, so ist x + s(y − x) ein Randpunkt von A, was ein Widerspruch w¨ are.) Es folgt |C| + |C| = U (1A◦ ; Z) + O(1∂A ; Z) O(1A ; Z) = C∈R(Z) C⊂A◦
C∈R(Z) C∩∂A =∅
und somit f¨ ur Z → 0 die Behauptung. (ii),(iii): Es sei Z eine Zerlegung eines Rechtecks Q mit Q ⊃ A ∪ B. Wegen (2.8) ergibt sich O(1A∪B ; Z) ≤ O(1A ; Z) + O(1B ; Z). (Die Details u ¨ berlassen wir dem interessierten Leser). F¨ ur Z → 0 folgt die Behauptung (ii). Gilt A◦ ∩ B ◦ = ∅, so zeigt (2.7)
2 Integralrechnung im Rn
100
U (1A∪B ; Z) ≥ U (1A◦ , Z) + U (1B ◦ , Z), wobei wir die (recht einfachen) Details erneut unterschlagen. F¨ ur Z → 0 konvergiert U (1A◦ ; Z) + U (1B ◦ ; Z) gegen J (A◦ ) + J(B ◦ ). Letztere Summe ist nach Satz 2.11 (ii) gleich J (A) + J(B).
2.17 Satz. (Eigenschaften Jordan-messbarer Mengen) Sind A und B Jordan-messbare Mengen, so sind auch die Mengen A ∪ B, A ∩ B und A \ B Jordan-messbar. Beweis: Der Rand der Mengen A ∪ B, A ∩ B und A \ B ist jeweils in ∂A ∪ ∂B enthalten. Letztere Menge ist nach Satz 2.16 (ii) und Satz 2.15 eine Nullmenge. Damit folgen die Behauptungen aus Satz 2.15.
Aus den S¨atzen 2.11 und 2.16 erhalten wir die folgenden wichtigen (und anschaulich selbstverst¨andlichen) Eigenschaften des Inhalts: 2.18 Satz. (Grundlegende Eigenschaften des Jordan-Inhalts) Es seien A und B Jordan-messbare Mengen. Dann gilt: (i) Aus A ⊂ B folgt |A| ≤ |B|. (ii) Es gilt |A ∪ B| ≤ |A| + |B|. (iii) Aus A◦ ∩ B ◦ = ∅ folgt |A ∪ B| = |A| + |B|.
2.3.7
Partitionen
Im Weiteren seien nur noch Jordan-messbare Mengen als Integrationsbereiche zugelassen. Dazu formulieren wir zun¨achst die Definitionen des unteren und oberen Integrals etwas allgemeiner (und eleganter). Diese Vorgehensweise bringt nicht nur beweistechnische Vorteile mit sich, sondern f¨ uhrt auch zu einem vertieften Verst¨andnis des Riemannschen Integralbegriffs. F¨ ur jede beschr¨ankte Teilmenge B = ∅ des R2 bezeichne d(B) := sup{x − y 2 : x, y ∈ B}
(2.15)
den Durchmesser von B. Der Vollst¨andigkeit halber setzen wir d(∅) := 0. Ein Menge Z endlich vieler nichtleerer, paarweise fremder Jordan-messbaren Mengen heißt Partition einer Jordan-messbaren Menge M ⊂ R2 , falls gilt: B = M. B∈Z
Die Zahl Z := max{d(B) : B ∈ Z} heißt Feinheit der Partition.
2.3 Der Jordan-Inhalt
101
Eine Partition ist eine Menge, deren Elemente selbst Mengen sind. In solchen F¨allen sprechen wir auch von einem Mengensystem, vgl. 6.2.2. Bild 2.10 zeigt eine aus einem System von 7 Mengen bestehende Partition einer Menge M . Die Feinheit dieser Partition ist durch die L¨ange des Doppelpfeiles markiert.
M
Bild 2.10: Zu den Begriffsbildungen Partition und Feinheit
Z
Das leere System Z = ∅ ist Partition der leeren Menge ∅. Man beachte, dass der Durchschnitt von zwei verschiedenen Mengen B und C einer Partition Z eine Nullmenge ist. Wegen B 0 ∩ C 0 = ∅ gilt n¨amlich B ∩ C ⊂ ∂B ∪ ∂C, so dass Satz 2.11 (i) die Behauptung J(B ∩ C) = 0 liefert. Das folgende Beispiel zeigt, dass Partitionen eine nat¨ urliche Verallgemeinerung des Zerlegungsbegriffes darstellen. 2.19 Beispiel. (Zerlegungen und Partitionen) Es seien M eine Jordan-messbare Menge, Q ein Rechteck mit Q ⊃ M sowie Z eine Zerlegung von Q. Die Menge der durch Z gegebenen Teilrechtecke sei wie fr¨ uher mit R(Z) bezeichnet. Dann ist Z := {B ∩ M : B ∈ R(Z)} eine Partition von M . F¨ ur verschiedene B, C ∈ R(Z) gilt n¨ amlich (B ∩ M )◦ ∩ (C ∩ M )◦ = B ◦ ∩ C ◦ ∩ M ◦ = ∅. Im Folgenden seien M eine Jordan-messbare Menge und f eine Funktion, deren Definitionsbereich die Menge M enth¨alt. Ist Z eine Partition von M , so definieren wir Untersumme und Obersumme von f bez¨ uglich Z wie in 2.1.1 durch |B| · inf f (B), (2.16) U (f ; Z) := B∈Z
O(f ; Z) :=
B∈Z
|B| · sup f (B).
(2.17)
2 Integralrechnung im Rn
102
Im Fall M = ∅ gibt es nur die Partition Z = ∅. In diesem Fall ist (nach Definition einer leeren Summe) U (f ; Z) = O(f ; Z) = 0.
2.3.8
Eine alternative Definition des Riemann-Integrals
Es sei M ⊂ R2 eine Jordan-messbare Menge. Eine Partition Z von M heißt feiner als eine Partition Z von M , wenn sich jedes B ∈ Z als Vereinigung von Mengen aus Z ergibt. In diesem Fall gelten analog zu Satz 2.1 die Ungleichungen U (f ; Z ) ≥ U (f ; Z),
O(f ; Z ) ≤ O(f ; Z).
Der folgende Satz liefert die bereits angek¨ undigten alternativen Definitionen des unteren und oberen Integrals. 2.20 Satz. Sind M eine Jordan-messbare Menge und f : M → R eine beschr¨ankte Funktion, so gilt J(f ; M ) = sup{U (f ; Z) : Z ist eine Partition von M }, J(f ; M ) = inf{O(f ; Z) : Z ist eine Partition von M }. Beweis: Wir bezeichnen die obigen rechten Seiten mit J∗ (f ) bzw. J ∗ (f ). Es seien Zk , ur k → ∞. Dann gilt k ∈ N, Partitionen von M mit Zk → 0 f¨ J∗ (f ) = lim U (f ; Zk ), k→∞
J ∗ (f ) = lim O(f ; Zk ). k→∞
Der Beweis dieser Aussagen erfolgt analog zu denjenigen von Satz 2.14. Dazu betrachtet man anstelle der Zerlegungen Z und Z zwei Partitionen Z und Z von M und ersetzt Z ∪ Z durch {B ∩ C : B ∈ Z, C ∈ Z }. Diese Mengen bilden eine Partition von M , die feiner als Z und feiner als Z ist. Die Ungleichungen (2.11) und (2.12) gelten dann analog. Es seien jetzt Zk , k ∈ N, Zerlegungen eines Rechtecks Q ⊃ M . Dann sind Zk := {B ∩ M : B ∈ R(Zk )},
k ∈ N,
ur k → ∞. Ferner gilt Partitionen von M mit Zk → 0 f¨ |B| · inf fM (B) + |U (fM ; Zk ) − U (f ; Zk )| ≤ B∈R(Zk ) B∩∂M =∅
|B| · inf f (B),
B∈Zk B∩∂M =∅
ur k → ∞. Wegen und weil ∂M eine Nullmenge ist, folgt |U (fM ; Zk ) − U (f ; Zk )| → 0 f¨ U (fM ; Zk ) → J(f ; M ) (vgl. Satz 2.14) und dem ersten Beweisteil ergibt sich damit die erste Behauptung des Satzes. Die zweite beweist man analog.
Ein Ergebnis des obigen Beweises halten wir gesondert fest:
2.3 Der Jordan-Inhalt
103
2.21 Satz. (Das Integral als Grenzwert) Die Voraussetzungen von Satz 2.20 seien erf¨ ullt. Sind dann Zk , k ∈ N, Partitionen von M mit Zk → 0 f¨ ur k → ∞, so gilt J(f ; M ) = lim U (f ; Zk ), k→∞
J(f ; M ) = lim O(f ; Zk ). k→∞
2.22 Folgerung. (Integration u ¨ ber Nullmengen) Ist M eine Nullmenge, so ist f integrierbar ¨ uber M , und es gilt f (x) dx = 0. M
Beweis: F¨ ur jede Partition Z von M gilt U (f ; Z) = O(f ; Z) = 0.
2.3.9
Eigenschaften des Bereichsintegrals
Wir sind jetzt in der Lage, alle S¨atze, in denen der Integrationsbereich ein Rechteck war, auf den allgemeinen Fall zu u ¨ bertragen. 2.23 Satz. (Linearit¨at und Monotonie des Integrals) Die S¨atze 2.3 und 2.4 bleiben g¨ ultig, wenn man dort das Rechteck Q durch eine beliebige Jordan-messbare Menge M ersetzt. Die Additivit¨at aus Satz 2.7 kann wie folgt verallgemeinert werden. 2.24 Satz. (Additivit¨at des Integrals) Die Menge M sei die Vereinigung zweier fremder Jordan-messbarer Mengen M1 und M2 . Dann gilt J(f ; M ) = J(f ; M1 ) + J(f ; M2 ),
J(f ; M ) = J (f ; M1 ) + J(f ; M2 ).
Insbesondere ist f genau dann ¨ uber M integrierbar, wenn f sowohl ¨ uber M1 als integrierbar ist. In diesem Fall gilt auch u ber M ¨ 2 f (x) dx = f (x) dx + f (x) dx. M
M1
M2
Beweis: Wir k¨ onnen ohne Einschr¨ankung der Allgemeinheit M1 = ∅ und M2 = ∅ voraussetzen. Zu einer beliebig vorgegebenen Zahl ε > 0 existieren Partitionen Z1 und Z2 von M1 bzw. M2 mit U (f ; Z1 ) ≥ J(f ; M1 ) − ε/2 und U (f ; Z2 ) ≥ J(f ; M2 ) − ε/2. Wegen M1◦ ∩ M2◦ = ∅ ist Z := Z1 ∪ Z2 eine Partition von M , und es folgt U (f ; Z) = U (f ; Z1 ) + U (f ; Z2 ) ≥ J(f ; M1 ) + J(f ; M2 ) − ε und somit J(f ; M ) ≥ J (f ; M1 ) + J(f ; M2 ). Zum Beweis der umgekehrten Ungleichung w¨ ahlen wir wieder ein ε > 0 und finden eine Partition Z von M mit U (f ; Z) ≥ J(f ; M )− ε. Wir setzen Z1 := {A ∩ M1 : A ∈ Z}, Z2 := {A ∩ M2 : A ∈ Z}
2 Integralrechnung im Rn
104
und erhalten so Partitionen von M1 bzw. M2 . Die Partition Z := Z1 ∪ Z2 ist feiner als Z, und es folgt U (f ; Z1 ) + U (f ; Z2 ) = U (f ; Z ) ≥ U (f ; Z) ≥ J(f ; M ) − ε und somit J (f ; M1 ) + J (f ; M2 ) ≥ J (f ; M ). Die Behauptung u ¨ ber das obere Integral beweist man analog.
2.25 Folgerung. Es seien M eine Jordan-messbare Menge und f : M → R eine beschr¨ ankte Funktion. Dann gilt J(f ; M ◦ ) = J(f ; M ) = J(f ; M ),
J(f ; M ◦ ) = J(f ; M ) = J(f ; M ).
Insbesondere ist die Integrierbarkeit von f ¨ uber M zu der von f ¨ uber M und auch zu der von f ¨ uber M ◦ ¨aquivalent. Ist M ◦ = ∅, so ist f integrierbar ¨ uber M , und es gilt M f (x) dx = 0. Beweis: Die Behauptung ergibt sich aus Satz 2.24 und Folgerung 2.22, weil der Rand von M und damit insbesondere M \ M und M \ M ◦ Nullmengen sind.
2.26 Folgerung. Es seien A und B Jordan-messbare Mengen mit A ⊂ B sowie f : B → R eine beschr¨ ankte Funktion. Ist {x ∈ B \ A : f (x) = 0} eine Nullmenge, so gilt J(f ; A) = J (f ; B),
J(f ; A) = J(f ; B).
Ferner ist f genau dann u uber B integrierbar ist. In ¨ber A integrierbar, wenn f ¨ diesem Fall gilt f (x) dx = f (x) dx. A
B
Beweis: Wir setzen C := B \ A und N := {x ∈ B \ A : f (x) = 0}. Aus der Mengengleichheit C = (C \ N ) ∪ (C ∩ N ) und der Additivit¨ at des unteren Integrals folgt J (f ; B) = J(f ; A) + J(f ; C \ N ) + J(f ; C ∩ N ). (Die F¨ alle A = ∅, C \ N = ∅ oder C ∩ N = ∅ sind hier zugelassen.) Der letzte Summand verschwindet wegen Folgerung 2.22, weil C ∩ N eine Nullmenge ist. Ist Z eine Partition von C \ N , so folgt U (f ; Z) = O(f ; Z) = 0, denn es gilt f (x) = 0 f¨ ur jedes x ∈ C \ N . Damit gilt auch J(f ; C \ N ) = 0, was die erste Behauptung liefert. Die Gleichung f¨ ur die oberen Integrale beweist man analog.
Wir werden die obige Folgerung oft mit A = ∅ verwenden. Danach gilt die Gleichung J(f ; B) = J (f ; B) = 0, falls {x ∈ B : f (x) = 0} eine Nullmenge ist.
2.3 Der Jordan-Inhalt
2.3.10
105
Mittelwertsatz und Dreiecksungleichung
2.27 Satz. (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Ist die Funktion f ¨ uber M integrierbar und gilt c ≤ f (x) ≤ d f¨ ur jedes x ∈ M , so gibt es ein μ ∈ [c, d] mit der Eigenschaft 1 · f (x) dx = μ. |M | M Da das Integral der Funktion g ≡ c u ¨ ber M das Ergebnis c|M | liefert (vgl. Satz 2.29), kann der Beweis des Mittelwertsatzes wie im Fall d = 1 (Satz I.7.15) erfolgen. Seine Aussage ist f¨ ur eine nichtnegative Funktion u ¨ ber einem Rechteck in Bild 2.11 veranschaulicht. In diesem Fall ist das Integral M f (x) dx das Volumen der von dem Graphen von f und M begrenzten Menge, vgl. 2.4.2. Dieses Volumen ist gleich dem Volumen eines Quaders mit der Grundfl¨ ache M und einer geeigneten H¨ohe μ mit c ≤ μ ≤ d. f (x, y) d
Bild 2.11: Zum Mittelwertsatz der Integralrechnung
μ M
c
y
x Auch den n¨achsten Satz beweist man wie im eindimensionalen Fall. 2.28 Satz. (Dreiecksungleichung) Ist f integrierbar ¨ uber M , so ist auch |f | integrierbar ¨ uber M , und es gilt f (x) dx ≤ |f (x)| dx. M
2.3.11
M
Klassen integrierbarer Funktionen
Im Folgenden werden konkrete Klassen integrierbarer Funktionen vorgestellt. 2.29 Satz. (Integration von Treppenfunktionen) Mengen und c1 , . . . , cm Es seien A1 , . . . , Am paarweise fremde Jordan-messbare m reelle Zahlen. Dann ist die Funktion f := c 1 uber jeder i=1 i Ai integrierbar ¨ Jordan-messbaren Menge A, und es gilt m f (x) dx = ci · |A ∩ Ai |. A
i=1
2 Integralrechnung im Rn
106
Beweis: Wegen der Linearit¨at des Integrals gen¨ ugt es, den Fall m = 1 und c1 = 1 zu betrachten. Wir schreiben B := A1 und erhalten aus Satz 2.24 1B (x) dx = 1B (x) dx + 1B (x) dx. A
A\B
A∩B
Da nach Folgerung 2.26 der erste Summand verschwindet und f¨ ur jede Partition Z von A ∩ B die Gleichungen U (1B ; Z) = O(1B ; Z) = |A ∩ B| gelten, ist die Behauptung bewiesen.
Die in Satz 2.29 betrachtete Funktion f heißt (Jordan-messbare) Elementarfunktion bzw. Treppenfunktion. Die zweite Namensgebung r¨ uhrt daher, dass der Graph von f f¨ ur den Fall, dass die Mengen A1 , . . . , Am in Satz 2.29 aneinander angrenzende Rechtecke sind, die Gestalt einer Treppe“ annehmen kann (Bild ” 2.12). f (x, y) y
x
Bild 2.12: Graph einer Treppenfunktion
2.30 Satz. (Integrierbarkeit stetiger Funktionen) Es seien M = ∅ eine abgeschlossene Jordan-messbare Menge und f : M → R eine stetige Funktion. Dann ist f integrierbar u ¨ber M . Beweis: Da die Funktion f nach Satz 1.20 gleichm¨ aßig stetig ist, gibt es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 mit der Eigenschaft x − y2 ≤ δ =⇒ |f (x) − f (y)| ≤ ε. Ist Z eine Partition von M mit Z ≤ δ, so ergibt sich O(f ; Z) − U (f ; Z) = |B| · (sup f (B) − inf f (B)) ≤ ε · |M |. B∈Z
Damit erhalten wir eine Version des Riemannschen Kriterium (Satz 2.2) f¨ ur Partitionen, was die Behauptung impliziert.
2.3 Der Jordan-Inhalt
107
Ist f : M → R eine auf einer Jordan-messbaren Menge M definierte beschr¨ankte und gleichm¨aßig stetige Funktion, so zeigt der letzte Beweis, dass f u ¨ber M integrierbar ist. Bisher wissen wir, dass Summen von gleichm¨ aßig stetigen Funktionen und Treppenfunktionen integrierbar sind. Außerdem kann man sich leicht klar machen, dass eine integrierbare Funktion integrierbar bleibt (und sich der Wert des Integrals nicht ¨andert), wenn man sie an endlich vielen Stellen ab¨ andert. F¨ ur Anwendungen ist die daraus resultierende Klasse integrierbarer Funktionen reichhaltig genug. Der Vollst¨andigkeit halber formulieren wir (ohne Beweis) ein Resultat, welches eine notwendige und zugleich hinreichende Bedingung f¨ ur die Riemann-Integrierbarkeit einer Funktion angibt. 2.31 Satz. (Lebesguesches2 Integrabilit¨atskriterium) Es seien M eine Jordan-messbare Menge und f : M → R eine beschr¨ankte Funktion. Es bezeichne N die Menge aller Punkte aus M in denen f nicht stetig ist. Dann ist f genau dann integrierbar u M , wenn es zu jedem ε > 0 Rechtecke ¨ber ∞ Qk , k ∈ N, gibt, so dass N ⊂ ∪k=1Qk und ∞ k=1 |Qk | ≤ ε. Eine Menge N mit den obigen Eigenschaften heißt Lebesguesche Nullmenge . Jede Jordansche Nullmenge ist auch eine Lebesguesche Nullmenge. Die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht. 2.32 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 2.13) Nach Beispiel 2.13 ist die Menge M = {(x, y) ∈ [0, 1] × [0, 1] : x, y ∈ Q} nicht Jordan-messbar. Wir werden jetzt zeigen, dass M eine Lebesguesche Nullmenge ist. Hierzu verwenden wir, dass M bijektiv auf die Menge N der nat¨ urlichen Zahlen abgebildet werden kann, dass also M = {x1 , x2 , . . .} f¨ ur eine geeignete Folge (xj )j≥1 aus [0, 1] × [0, 1] gilt. Die Existenz einer solchen Bijektion kann mit den in I.5.2.11 verwendeten Methoden nachgewiesen werden. Zu beliebig vorgegebenem ε > 0 w¨ahlen wir zu jedem k ≥ 1 ein Quadrat Qk k ∞ mit ∞Mittelpunkt xk und Fl¨acheninhalt |Qk | = ε/2 . Dann gilt M ⊂ ∪k=1 Qk und k=1 |Qk | ≤ ε. Die Menge M ist also eine Lebesguesche Nullmenge.
2.3.12
Riemann-Integral und Jordan-Inhalt im Rn
Sowohl der Integralbegriff als auch der Jordan-Inhalt k¨ onnen ohne Schwierigkeiten auf Funktionen von n Variablen bzw. Teilmengen des Rn u ¨bertragen werden. 2
Henri L´eon Lebesgue (1875–1941), 1919 Professor an der Sorbonne, ab 1921 Professor am Coll`ege de France. Hauptarbeitsgebiete: Reelle Analysis, Maß- und Integrationstheorie, Topologie.
2 Integralrechnung im Rn
108 Ausgangspunkt ist das Volumen
|Q| := (b1 − a1 ) · . . . · (bn − an )
(2.18)
eines Quaders Q = [a1 , b1 ] × . . . × [an , bn ], wobei aj ≤ bj f¨ ur j = 1, . . . , n. Eine Vereinigung paarweise fremder Quader heißt Quadersumme. Anstelle des Jordan-Inhalts oder Inhalt einer Jordan-messbaren Menge spricht man auch vom Volumen dieser Menge. Das Integral einer u ¨ber einer Jordan-messbaren Menge M ⊂ Rn integrierbaren Funktion wird auch mit f (x1 , . . . , xn ) d(x1 , . . . , xn ) M
bezeichnet. Der Fall n = 1 ist zugelassen und liefert das bereits bekannte Riemannsche Integral von Funktionen einer Ver¨ anderlichen. Ist A ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge, so sind auch die Mengen A + x := {y + x : y ∈ A} (x ∈ Rn ) und λA := {λx : x ∈ A} (λ > 0) Jordan-messbar, und analog zu Satz 2.11 bestehen die Gleichungen |A| = |A + x|, x ∈ Rn , und |λA| = λn · |A|.
2.3.13
(2.19)
Vektorwertige Integrale
Es seien m, n nat¨ urliche Zahlen, M ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge sowie m f : M → R eine beschr¨ankte Funktion. Wie in 1.3.1 bezeichnen f1 , . . . , fm die Komponenten von f . Es gilt also f (x) = (f1 (x), . . . , fm (x)), x ∈ M . Die Funktion f : M → Rm heißt Riemann-integrierbar, wenn jede ihrer Komponentenfunktionen f1 , . . . , fm diese Eigenschaft besitzt. In diesem Fall heißt der Vektor f (x) dx := f1 (x) dx, . . . , fm (x) dx M
M
M
uber M ). das Riemann-Integral von f (¨ Im Beweis von Satz 1.42 haben wir das folgende Resultat benutzt. 2.33 Satz. (Dreiecksungleichung f¨ ur vektorwertige Integrale) n Es seien M ⊂ R eine Jordan-messbare Menge und f : M → Rm eine stetige Funktion. Dann gilt ≤ f ( x ) d x f (x)2 dx. M
2
M
Beweis: Wir f¨ uhren den Beweis im Fall n = 1 und M = [a, b] f¨ ur a < b. Die einfache Verallgemeinerung sei dem Leser u achst betrachten wir eine beschr¨ ankte ¨ berlassen. Zun¨ Funktion h : [a, b] → R und eine Zerlegung Z = {x0 , . . . , xk } von [a, b]. Definiert man I(h; Z) :=
k j=1
(xj − xj−1 ) · h(xj ),
2.4 Der Satz von Fubini
109
so gilt f¨ ur die Unter- und Obersummen von h bez¨ uglich Z (vgl. I.7.1.1) die Absch¨ atzung U (h; Z) ≤ I(h; Z) ≤ O(h; Z).
(2.20)
ur die Wir setzen jetzt I(f ; Z) := (I(f1 ; Z), . . . , I(fm ; Z)). Aus der Dreiecksungleichung f¨ euklidische Norm (Folgerung I.8.30) ergibt sich die Ungleichung I(f ; Z)2 ≤
k
(xj − xj−1 )·f (xj )2 = I(f ; Z).
(2.21)
j=1
ur l → ∞, so gilt Ist (Zl )l≥1 eine Folge von Zerlegungen von [a, b] mit Zl → 0 f¨ wegen der Riemann-Integrierbarkeit von f1 , . . . , fm (Satz I.7.8), der deshalb g¨ ultigen Grenzwertbeziehung (I.7.2) sowie den Ungleichungen (2.20)
b
lim I(f ; Zl ) =
l→∞
a
b
f1 (t) dt, . . . ,
fm (t) dt a
=
b
f (t) dt. a
Weil eine Norm nach Beispiel 1.14 (i) stetig ist, erhalten wir jetzt aus (2.21)
a
b
f (t) dt lim I(f ; Zl ). ≤ l→∞ 2
Da auch f eine stetige und damit Riemann-integrierbare Funktion ist, folgt die Behauptung.
2.4
Der Satz von Fubini
In diesem Abschnitt werden wir unter anderem sehen, wie die Berechnung mehrdimensionaler Integrale auf die iterative Berechnung eindimensionaler Integrale zur¨ uckgef¨ uhrt werden kann. Der Inhalt einer Jordan-messbaren Menge M ⊂ Rn wird mit |M |n bezeichnet. Allerdings lassen wir den Dimensions-Index n immer dann weg, wenn keine Missverst¨andnisse zu bef¨ urchten sind. Im Folgenden bezeichne der Begriff ndimensionaler Quader eine Menge A ⊂ Rn der Form A = [a1 , b1 ] × . . . × [an , bn ] mit aj , bj ∈ R und aj ≤ bj f¨ ur j = 1, . . . , n. In den Spezialf¨ allen n = 2 und n = 3 ist A ein achsenparalleles Rechteck bzw. ein achsenparallerer Quader.
2.4.1
Der Inhalt verallgemeinerter Quader
Es sei n eine nat¨ urliche Zahl mit n ≥ 2. Die Idee, welche der iterativen Berechnung mehrdimensionaler Integrale zugrunde liegt, kommt bereits im folgenden Resultat zum Ausdruck:
2 Integralrechnung im Rn
110
2.34 Satz. (Produktregel) Es seien p, q ∈ N mit p + q = n. Weiter seien A ⊂ Rp und B ⊂ Rq Jordanmessbare Mengen. Dann ist auch das kartesische Produkt A × B eine Jordanmessbare Teilmenge des Rn , und es gilt |A × B|n = |A|p · |B|q . Beweis: Wir setzen zun¨achst voraus, dass sowohl A = ∪ki=1 Ai als auch B = ∪m j=1 Bj Quadersummen, d.h. Vereinigungen von paarweise fremden Quadern, sind. Dann gilt A×B =
k m
Ai × Bj .
i=1 j=1
Da f¨ ur beliebige Mengen C ⊂ Rp und D ⊂ Rq die Gleichungen C × D = C × D,
(C × D)◦ = C ◦ × D◦
bestehen, sind die Mengen Ai ×Bj paarweise fremd, und somit ist A×B eine Vereinigung paarweiser fremder n-dimensionaler Quader. Aus Satz 2.18 (iii) folgt ⎞ k ⎛m k k m m |A × B|n = |Ai × Bj |n = |Ai |p · |Bj |q = |Ai | · ⎝ |Bj |⎠ i=1 j=1
i=1 j=1
i=1
j=1
= |A|p · |B|q . Damit ist die Behauptung f¨ ur Quadersummen A und B bewiesen. Im allgemeinen Fall benutzt man Satz 2.9 und zeigt (unter Benutzung obigen Resultats) die Ungleichungen J(A × B) ≥ J(A) · J(B),
J(A × B) ≤ J(A) · J(B),
die sogar f¨ ur beliebige beschr¨ankte Mengen A ⊂ Rp und B ⊂ Rq gelten. Daraus folgt die Behauptung des Satzes.
x3
B x1
x3
x2
B x1
x3
x2
B
x2
x1
Bild 2.13: Zylinder mit unterschiedlichen Grundfl¨ achen B Die Menge A×B in Satz 2.34 kann als verallgemeinerter Quader mit den Seiten A und B interpretiert werden. Damit verallgemeinert der Satz die elementargeometrische Definition des Quadervolumens.
2.4 Der Satz von Fubini
111
2.35 Beispiel. (Volumen eines Zylinders) Es seien B ⊂ Rn−1 eine Jordan-messbare Menge und a, b ∈ R mit a ≤ b. Dann ist das kartesische Produkt B × [a, b] ein Zylinder mit der Grundfl¨ ache B und der H¨ohe b−a (Bild 2.13). Sein Volumen berechnet sich nach der Formel |B|n−1 ·(b−a).
2.4.2
Ordinatenmengen
Es seien B ⊂ Rn−1 eine Menge und g : B → R eine Funktion mit g(x) ≥ 0 f¨ ur jedes x ∈ B. Dann heißt M (g) := {(x1 , . . . , xn−1 , t) ∈ Rn : (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ B, 0 ≤ t ≤ g(x1 , . . . , xn−1 )} Ordinatenmenge von g. Diese Begriffsbildung ist in Bild 2.14 anhand des Falls n = 2 und B = [0, 1] sowie g(t) = 2t(1 − t) veranschaulicht.
t = g(x)
t
Bild 2.14: Zum Begriff der Ordinatenmenge 0
x
1
Der folgende Satz best¨atigt die am Anfang des Kapitels gegebene Motivation des Integrals. Im Fall n = 2 erhalten wir die Interpretation des Integrals als Fl¨ache zwischen dem Graphen einer Funktion und der x-Achse“, vgl. Kapitel ” I.7. 2.36 Satz. (Inhalt der Ordinatenmenge) Es seien B ⊂ Rn−1 eine Jordan-messbare Menge und g : B → [0, ∞) eine ¨ uber B integrierbare Funktion. Dann ist die Ordinatenmenge M (g) Jordan-messbar, und es gilt |M (g)|n =
g(x) dx. B
Beweis: Es sei Z eine Partition von B. Setzen wir U := A × [0, inf g(A)], O := A × [0, sup g(A)], A∈Z
A∈Z
so gilt U ⊂ M (g) ⊂ O. Die Mengen U und O sind Vereinigungen paarweise fremder verallgemeinerter Quader, und aus Satz 2.34 folgt U (g; Z) = |U |n ≤ J(M (g)) ≤ J(M (g)) ≤ |O|n ≤ O(g; Z).
2 Integralrechnung im Rn
112
F¨ ur Z → 0 streben die linke und die rechte Seite der obigen Ungleichungskette gegen denselben Grenzwert B g(x) dx, was zu zeigen war.
2.37 Satz. (Inhalt des Graphen) Es seien B ⊂ Rn−1 eine Jordan-messbare Menge und g : B → [0, ∞) eine ¨ uber B integrierbare Funktion. Dann ist der Graph Graph(g) = {(x1 , . . . , xn−1 , g(x1 , . . . , xn−1 )) : (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ B} eine Nullmenge im Rn . Beweis: F¨ ur jede Partition Z von B gilt Graph(g) ⊂ A × [inf g(A), sup g(A)]. A∈Z
Die rechts stehende Vereinigung paarweise fremder verallgemeinerter Quader besitzt den Inhalt |A|n · (sup g(A) − inf g(A)) = O(f ; Z) − U (f ; Z). A∈Z
Weil g integrierbar ist, strebt die letzte Differenz f¨ ur Z → 0 gegen 0.
Sind B eine beschr¨ankte, abgeschlossene Teilmenge des Rn−1 und f : B → R eine stetige Funktion, so stellt Graph(f ) nach Satz 2.30 und Satz 2.37 eine Nullmenge dar. Ist also der Rand einer Menge M ⊂ Rn Teilmenge endlich vieler solcher Graphen, so ist M wegen des Kriteriums aus Satz 2.15 Jordan-messbar. Nach Satz 2.10 (ii) bleibt die Eigenschaft der Jordan-Messbarkeit erhalten, wenn man Graph(f ) durch die Menge {(x1 , . . . , xn ) : x2 = f (x1 , x3 , . . . , xn )} ersetzt. Dieser Sachverhalt beweist die Jordan-Messbarkeit vieler Mengen wie zum Beispiel die der Kugeln B(0, R), R > 0. Im R2 ist der Rand der Kugel B(0, 1) die Vereinigung der√Graphen der auf dem Intervall [−1, 1] definierten Funktionen √ 1 − x2 und − 1 − x2 (Bild 2.15). y y=
√
1 − x2
x
Bild 2.15: Der Kreisrand als Nullmenge
√ y = − 1 − x2
Das folgende Resultat ist eine Verallgemeinerung von Satz 2.36:
2.4 Der Satz von Fubini
113
2.38 Satz. (Inhalt der verallgemeinerten Ordinatenmenge) Es seien B ⊂ Rn−1 eine Jordan-messbare Menge und g, h : B → R ¨ uber B integrierbare Funktionen. F¨ ur jedes x ∈ B gelte g(x) ≤ h(x). Dann ist die durch M (g, h) := {(x1 , . . . , xn−1 , t) ∈ Rn : x = (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ B, g(x) ≤ t ≤ h(x)} definierte verallgemeinerte Ordinatenmenge (s. Bild 2.16) Jordan-messbar, und es gilt (h(x) − g(x)) dx. |M (g, h)|n = B
Beweis: F¨ ur jedes c ∈ R gilt M (g + c, h + c) = {(x1 , . . . , xn−1 , t) : (x1 , . . . , xn−1 , t − c) ∈ M (g, h)}. Diese Menge ist genau dann Jordan-messbar, wenn M (g, h) diese Eigenschaft besitzt, und die Inhalte sind dann gleich (vgl. Satz 2.10 (i)). Wir k¨ onnen also o.B.d.A. g(x) > 0 f¨ ur jedes x ∈ B annehmen. Dann gilt M (g) ⊂ M (h) und M (g, h) = (M (h) \ M (g)) ∪ Graph(g). Damit ist M (g, h) eine Jordan-messbare Menge (vgl. Satz 2.17). Aus der Additivit¨ at des Inhalts (Satz 2.18 (iii)) und den S¨atzen 2.36 und 2.37 folgt |M (g, h)|n = |M (h)|n − |M (g)|n = h(x) dx − g(x) dx B
B
und somit wegen der Linearit¨at des Integrals die behauptete Gleichung.
t = h(x) t Bild 2.16: Zum Begriff der verallgemeinerten Ordinatenmenge
t = g(x) B
2.4.3
x
Der Satz von Fubini
Sind B ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge und f : B → R eine beschr¨ ankte Funktion, so schreiben wir auch ∗ f (x) dx := J (f ; B), f (x) dx := J(f ; B) ∗B
B
2 Integralrechnung im Rn
114
f¨ ur das untere bzw. obere Integral von f u ¨ ber B. Im Fall n = 1 und B = [a, b] setzt man entsprechend b ∗b f (x) dx := J (f ; B), f (x) dx := J (f ; B). ∗a
a
Im Folgenden seien p, q ∈ N mit p+q = n. Besitzt ein Punkt z ∈ Rn die Koordinaten x1 , . . . , xp , y1 , . . . , yq , so schreiben wir z = (x, y ), mit x := (x1 , . . . , xp ) und y := (y1 , . . . , yq ). Ist f integrierbar u ¨ ber einer Jordan-messbaren Menge M ⊂ Rn , so wird das Integral von f u ¨ber M auch in der Form f (x, y ) d(x, y ) := f (z) dz M
M
geschrieben. Es seien jetzt I ⊂ Rp und J ⊂ Rq zwei Quader sowie f eine beschr¨ ankte Funktion f auf dem kartesischen Produkt Q := I × J. F¨ ur jedes x ∈ I ist die ¨ Schnittfunktion f (x, ·) : J → R beschr¨ankt. In Ubereinstimmung mit den oben eingef¨ uhrten Bezeichnungen sind dann ∗ f (x, y ) dy , f (x, y ) dy ∗J
J
das untere bzw. das obere Integral dieser Schnittfunktion. Die Funktionen ∗ x → f (x, y ) dy , x → f (x, y ) dy ∗J
J
sind beschr¨ankt, denn es gilt ∗ f (x, y ) dy , f (x, y ) dy ≤ |J| · sup{|f (x, y )| : x ∈ I, y ∈ J}. max ∗J
J
Es macht also Sinn, zuerst bez¨ uglich y und dann bez¨ uglich x zu integrieren und das iterierte Integral f (x, y ) dx dy ∗J
∗I
zu bilden. Nat¨ urlich ist hier auch die umgekehrte Reihenfolge, d.h. die iterierte Integration f (x, y ) dy dx, ∗I
∗J
m¨oglich. Weitere iterierte Integrale ergeben sich, wenn man das innere oder das ¨außere untere Integral durch ein oberes Integral ersetzt. Ist f integrierbar, so liefert jede dieser iterierten Integrationen dasselbe Ergebnis:
2.4 Der Satz von Fubini
115
2.39 Satz. (Satz von Fubini3 (1)) Ist f integrierbar ¨ uber Q = I × J, so gilt ∗ f (x, y ) d(x, y ) = f (x, y ) dx dy = f (x, y ) dy dx J Q ∗J ∗I ∗I ∗ ∗ ∗ f (x, y ) dx dy = f (x, y ) dy dx. = ∗I
J
I
J
Entsprechende Gleichungen gelten f¨ ur die umgekehrte Integrationsreihenfolge. Beweis: Es seien Z1 und Z2 Partitionen von I bzw. J. F¨ ur A ∈ Z1 und B ∈ Z2 setzen wir m(A, B) := inf f (A × B). Dann gilt m(A, B) ≤ f (x, y) f¨ ur jedes x ∈ A und jedes y ∈ B. Bildet man auf beiden Seiten dieser Ungleichung das untere Integral u ¨ber A, so folgt m(A, B) · |A|p ≤
y ∈ B.
f (x, y ) dx, ∗A
Die Additivit¨ at des unteren Integrals liefert m(A, B) · |A|p ≤
f (x, y) dx,
∗I
A∈Z
y ∈ B.
Beide Seiten dieser Ungleichung sind Funktionen von y ∈ B. Bilden wir das untere Integral u ¨ber B und summieren anschließend u ¨ ber B ∈ Z2 , so ergibt sich m(A, B) · |A|p · |B|q ≤ f (x, y) dx dy . ∗J
B∈Z2 A∈Z1
∗I
Wegen |A × B|n = |A|p |B|q (Satz 2.34) steht auf der linken Seite dieser Ungleichung die Untersumme U (f ; Z), wobei Z die durch Z := {A × B : A ∈ Z1 , B ∈ Z2 } definierte Partition von Q ist. Analog folgt die Ungleichung ∗ ∗ f (x, y ) dx dy ≤ O(f ; Z). J
Ferner gilt
I
f (x, y) dx
∗J
∗I
∗
dy ≤
∗
f (x, y) dx J
dy .
I
Mit Z1 → 0 und Z2 → 0 gilt auch Z → 0. (Diese Implikation folgt aus der leicht zu beweisenden Ungleichung Z2 ≤ Z1 2 + Z2 2 .) Weil Unter- und Obersumme ge gen denselben Grenzwert Q f (x, y)d(x, y) streben, folgen die erste und die letzte der behaupteten Gleichungen. Die anderen Gleichungen ergeben sich aus den Monotonieeigenschaften des unteren und des oberen Integrals. Die Gleichungen f¨ ur die umgekehrte Integrationsreihenfolge beweist man analog. 3
Guido Fubini (1879–1943), Professor in Turin (ab 1910) und Princeton (ab 1943). Hauptarbeitsgebiete: Projektive Differentialgeometrie, automorphe Funktionen, diskontinuierliche Gruppen.
2 Integralrechnung im Rn
116
Unter den Voraussetzungen von Satz 2.39 m¨ ussen die Schnittfunktionen f (·, y ) bzw. f (x, ·) nicht f¨ ur jedes y (bzw. x) integrierbar sein. Der Beweis zeigt aber, dass die Funktionen ∗ y → f (x, y ) dx und y → f (x, y ) dx ∗I
I
u ur die entsprechenden Integrale u ¨ber J integrierbar sind. Analoges gilt f¨ ¨ ber I. Zuk¨ unftig werden die Klammern um die inneren Integrale meist weggelassen. Als direkte Folgerung aus Satz 2.39 ergibt sich: 2.40 Satz. (Satz von Fubini (2)) Die Funktion f sei integrierbar ¨ uber Q = I × J. Ist die Schnittfunktion f (·, y ) f¨ ur jedes y ∈ J ¨ uber I integrierbar, so gilt f (z) dz = f (x, y ) dx dy . Q
J
I
Eine analoge Aussage gilt f¨ ur die umgekehrte Integrationsreihenfolge. f (x, y)
Fl¨ache =
y0
a2
b1 a1
f (x, y0 ) dx
Bild 2.17: Zum Satz von Fubini b2
a1
y
b1 x
2.4.4
Bemerkungen zum Satz von Fubini
(i) Im Fall p = q = 1 ist f eine Funktion der beiden Variablen x und y, und die Mengen I, J sind Intervalle der Form I = [a1 , b1 ] und J = [a2 , b2 ]. Ist f integrierbar u ¨ ber dem Rechteck Q = I × J, so gilt zum Beispiel b2 b1 f (x, y) d(x, y) = f (x, y) dx dy. (2.22) Q
a2
a1
Diese Situation ist in Bild 2.17 veranschaulicht. F¨ ur festes y0 kann das innere b1 ” Integral“ a1 f (x, y0 ) dx im Falle einer nichtnegativen Funktion f als Inhalt einer
2.4 Der Satz von Fubini
117
grau gezeichneten Fl¨ache (des Schnittes der Ebene {(x, y, z) ∈ R3 : y = y0 } mit der Menge {(x, y, z) ∈ R3 : (x, y) ∈ I × J, 0 ≤ z ≤ f (x, y)}) interpretiert werden. Das in (2.22) links stehende Integral ergibt sich dann durch Integration dieser von y0 abh¨angenden Fl¨acheninhalte u ¨ ber y0 ∈ [a2 , b2 ]. (ii) Ist eine Funktion f von 3 Variablen integrierbar u ¨ ber dem Quader Q = [a1 , b1 ] × [a2 , b2 ] × [a3 , b3 ], so liefert eine zweimalige Anwendung von Satz 2.39
b3
b2
b1
f (x, y, z) d(x, y, z) =
f (x, y, z) dx dy dz
Q
∗a2
a3
∗a1
oder auch
b2
∗b3
b1
f (x, y, z) d(x, y, z) = Q
f (x, y, z) dx dz dy. a2
a3
∗a1
Dabei k¨onnen die Integrationen in beliebiger Reihenfolge vorgenommen werden, was in konkreten F¨allen zu Rechenvorteilen f¨ uhren kann. Außerdem ist es unerheblich, ob das untere oder das obere Integral gew¨ ahlt wird. (Wie nach Satz 2.39 ausgef¨ uhrt ist das a¨ußerste Integral immer ein Riemann-Integral.) Entsprechende Formeln gelten f¨ ur Funktionen von n Ver¨anderlichen. (iii) Als Integrationsbereiche haben wir bisher nur Mengen der Form I × J zugelassen. Diese Vereinbarung bedeutet keine Einschr¨ ankung der Allgemeinheit. Sind n¨amlich M eine beliebige Jordan-messbare Menge und f : M → R eine u ¨ber M integrierbare Funktion, so kann man einen beliebigen Quader Q ⊃ M w¨ahlen und Satz 2.39 auf die u ¨ ber Q integrierbare Funktion fM anwenden (vgl. Folgerung 2.26).
2.4.5
Das Prinzip von Cavalieri
Das nach Cavalieri4 benannte Prinzip der Volumenbestimmung ist eine Umformung des Satzes von Fubini zur mehrfachen Integration. Um es zu formulieren, ur jedes t ∈ R betrachten wir zun¨achst eine beliebige Menge A ⊂ Rn und setzen f¨ At := {x = (x1 , . . . , xn−1 ) : (x, t) ∈ B}. Im Fall n = 3 ergibt sich At durch senkrechte Projektion des Durchschnitts von A mit einer zur x1 x2 -Ebene H parallelen Ebene Et = {(x1 , x2 , t) : x1 , x2 ∈ R}. Bild 2.18 veranschaulicht diese Begriffsbildung f¨ ur den Fall eines Tetraeders mit den Eckpunkten P1 , P2 , P3 und P4 . 4
Bonaventura Cavalieri (1598?–1647), Sch¨ uler von Galileo Galilei, ver¨ offentlichte 1635 sein außerordentlich einflussreiches Buch Geometria indivisibilus continuorum nova quadam ratione promota, in welchem er das nach ihm benannte Prinzip formulierte.
2 Integralrechnung im Rn
118 x3
P1
Et
x2 t
P4
At x1
P2
P3
Bild 2.18: Schnittmenge At f¨ ur ein Tetraeder mit den Eckpunkten P1 , P2 , P3 und P4
2.41 Satz. (Das Prinzip von Cavalieri) Es sei A ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge. F¨ ur jedes t ∈ R sei der Schnitt At eine Jordan-messbare Teilmenge von Rn−1 . Die Zahlen a, b mit a < b seien so gew¨ ahlt, dass At = ∅ f¨ ur t ∈ / [a, b]. Dann gilt
b
|A|n =
|At |n−1 dt.
a
Beweis: Es gibt einen Quader B ⊂ Rn−1 mit A ⊂ Q := B × [a, b]. Wir wenden Satz 2.40 mit p = n − 1, q = 1, I = B und J = [a, b] auf die Indikatorfunktion 1A an und erhalten unter Beachtung von Folgerung 2.26
|A|n =
b
1A (x, t) d(x, t) = Q
1A (x, t) dx dt. a
B
F¨ ur t ∈ [a, b] gilt 1A (x, t) = 1 genau dann, wenn x ∈ At . Wegen Folgerung 2.26 ist also x, t) dx = |At |n−1 . Damit ist der Satz bewiesen. B 1A (
Aus diesem Satz folgt insbesondere, dass zwei Mengen im R3 das gleiche Volumen besitzen, wenn sie von jeder zur Standebene parallelen Ebene in inhaltsgleichen Fl¨achen geschnitten werden (Prinzip von Cavalieri). 2.42 Beispiel. (Volumen eines verallgemeinerten Kegels) Es seien B ⊂ Rn−1 eine abgeschlossene Jordan-messbare Menge sowie h eine positive Zahl. Die Vereinigung A aller Strecken [(x, 0), (0, h)] mit x ∈ B ist ein
2.4 Der Satz von Fubini
119
(verallgemeinerter) Kegel mit Grund߬ache B und Spitze im Punkt (0, h). Im Fall n = 3 nennt man A einen (eigentlichen) Kegel, eine Pyramide oder ein Tetraeder je nachdem, ob die Grund߬ache B ein Kreis, ein Quadrat oder ein Dreieck ist (Bild 2.19). x3
x3
h
x3
h
h
x2 B x1
x2 B
x1
x1
x2 B
Bild 2.19: Kegel, Pyramide und Tetraeder Offenbar ist A das Bild der durch f (x, t) := (x, 0) + t(−x, h) = (1 − t) · (x, 0) + t · (0, h) definierten stetigen Abbildung f : B × [0, 1] → R3 . Diese Abbildung bildet die Menge B × [0, 1) bijektiv auf A := A \ {(0, h)} ab. Die entsprechende Umkehrabbildung ist ebenfalls stetig. Mit den Methoden des n¨ achsten Kapitels (vgl. Lemma 3.26 und den sich anschließenden Teil (2) des Beweises von Satz 3.21) kann die Jordan-Messbarkeit von A und A nachgewiesen werden. Aus der Definition der Schnittmengen ergibt sich As = {(1 − s/h) · x : x ∈ B} f¨ ur s ∈ [0, h] und As = ∅ sonst. Nach Gleichung (2.19) gilt |As | = (1 − s/h)n−1 |B|n−1 . Damit erhalten wir aus dem Prinzip von Cavalieri h h s n−1 h |A|n = 1− |As |n−1 ds = |B|n−1 · ds = · |B|n−1 . h n 0 0 Im Spezialfall n = 3 reduziert sich diese Aussage auf den elementargeometrischen Sachverhalt, dass der Rauminhalt eines Kegels gleich einem Drittel des Produktes aus Grundfl¨ache und H¨ohe ist. Im Spezialfall n = 2 ergibt sich die bekannte Formel f¨ ur den Fl¨acheninhalt eines Dreiecks.
2.4.6
Das Kugelvolumen
Wir bestimmen jetzt das Volumen vn := |B(0, 1)|n = |{x : x2 ≤ 1}|n
2 Integralrechnung im Rn
120
der n-dimensionalen Einheitskugel. Im Fall n = 1 gilt B(0, 1) = [−1, 1] und somit ¨ v1 = 2. F¨ ur die folgenden Uberlegungen kann deshalb n ≥ 2 angenommen werden. Mit der Abk¨ urzung B := B(0, 1) gilt Bt = {(x1 , . . . , xn−1 ) : x21 + . . . + x2n−1 ≤ 1 − t2 },
−1 ≤ t ≤ 1,
und Bt = ∅, sonst (Bild 2.20). x3
Bild 2.20: Schnittmenge Bt im Fall der Kugel im R3
x2
Bt t 1 x1 Wegen Bt =
1 − t2 · {(x1 , . . . , xn−1 ) : x21 + . . . + x2n−1 ≤ 1}
und |{(x1 , . . . , xn−1 ) : x21 + . . . + x2n−1 ≤ 1}|n−1 = vn−1 folgt aus Gleichung (2.19) |Bt |n−1 =
1 − t2
n−1
· vn−1 = vn−1 · (1 − t2 )
und das Prinzip von Cavalieri liefert 1 |Bt |n−1 dt = vn−1 · vn = vn−1 · −1
1
−1
Mit dem Substitutions-Trick“ t = cos ϕ ergibt sich ” π vn = vn−1 · sinn ϕ dϕ = 2vn−1 · 0
n−1 2
,
(1 − t2 )
π 2
−1 ≤ t ≤ 1,
n−1 2
dt.
sinn ϕ dϕ.
0
In Beispiel I.7.36 wurde gezeigt, wie dieses Integral rekursiv berechnet werden kann. Als Ergebnis erh¨alt man ⎧ π ⎨ π2 · (n−1)·(n−3)·...·3·1 n·(n−2)·...·4·2 , falls n gerade, n sin ϕ dϕ = (2.23) ⎩ (n−1)·(n−3)·...·4·2 , 0 falls n ungerade, n·(n−2)·...·3·1
2.4 Der Satz von Fubini
121
und somit v2k = v2k+1 =
πk , k!
k ∈ N,
π k · 22k+1 · k! , (2k + 1)!
(2.24) k ∈ N0 .
(2.25)
Insbesondere ergeben sich die bekannten elementargeometrischen Formeln v2 = π (Fl¨ache des Einheitskreises) und v3 = 43 π (Rauminhalt der Einheitskugel). Durch diese Betrachtungen haben wir die analytische Definition (I.6.21) von π und die geometrische Interpretation von π als Fl¨acheninhalt des Einheitskreises in der Ebene miteinander in Einklang gebracht.
2.4.7
Rotationsk¨ orper
Sind [a, b] ⊂ R ein Intervall und f : [a, b] → [0, ∞) eine Funktion, so heißt A := {(x, y, z) ∈ R3 : x2 + y 2 ≤ f (z)2 , a ≤ z ≤ b} Rotationsk¨ orper zur erzeugenden Funktion f . Bild 2.21 veranschaulicht, wie die Menge A durch Drehung des durch den in die yz-Ebene eingebetteten Graphen {(z, f (z)) : a ≤ z ≤ b} um die z-Achse entsteht. z b
t
f (t)
Bild 2.21: Rotationsk¨ orper
y
a x Wir betrachten jetzt einen Rotationsk¨orper mit stetiger erzeugender Funktion und behaupten, dass A Jordan-messbar ist. Zun¨ achst folgt aus Satz 2.36, dass A+ := A ∩ {(x, y, z) : x ≥ 0, y ≥ 0} diese Eigenschaft hat. Nach diesem Satz sind die Menge aller y, z ∈ R2 mit 0 ≤ y ≤ f (z) und a ≤ z ≤ b und damit auch A+ = {(x, y, z) ∈ R3 : 0 ≤ x ≤ f (z)2 − y 2 , 0 ≤ y ≤ f (z), a ≤ z ≤ b} Jordan-messbar. Analoge Betrachtungen f¨ ur die anderen F¨ alle (wie z.B. x ≥ 0 und y ≤ 0) zeigen zusammen mit Satz 2.17 die Messbarkeit von A. Damit k¨ onnen
2 Integralrechnung im Rn
122
wir das Prinzip von Cavalieri anwenden. F¨ ur a ≤ t ≤ b ist At eine Kreisscheibe mit Radius f (t). Nach 2.4.6 hat At den Inhalt πf (t)2 . Also ist
b
|A|3 = π
f (t)2 dt
(2.26)
a
das Volumen des Rotationsk¨orpers. 2.43 Beispiel. (Volumen eines Rotationsparaboloids) √ Wir betrachten die auf dem Intervall [0, h] (h > 0) definierte Funktion f (z) := z. Der zugeh¨orige Rotationsk¨orper A heißt Rotationsparaboloid (siehe Bild 1.5 links). Sein Volumen ergibt sich nach (2.26) zu |A|3 = π
2.4.8
h
t dt = 0
π 2 h . 2
Kreissektoren und Winkel
F¨ ur (x, y) ∈ R2 mit (x, y) = (0, 0) sei ϕ(x, y) := arccos
(x, y), (1, 0) (x, y)·(1, 0)
= arccos
x
x2 + y 2
(2.27)
der in I.8.4.3 erkl¨arte Winkel zwischen (x, y) und dem ersten Einheitsvektor (1, 0). Zur Vertiefung unseres geometrischen Verst¨ andnisses dieses Winkels betrachten wir f¨ ur ein α ∈ R mit 0 ≤ α ≤ π die Menge Sα := {(x, y) ∈ R2 : y ≥ 0, 0 < x2 + y 2 ≤ 1, ϕ(x, y) ≤ α} ∪ {(0, 0)}.
(2.28)
y
α
Bild 2.22: Kreissektor zum Winkel α
x
Wie wir gleich zeigen werden, handelt es sich hierbei um den in Bild 2.22 dargestellten Kreissektor. Ferner werden wir die elementargeometrische Gleichung |Sα | =
α 2
(2.29)
2.4 Der Satz von Fubini
123
analytisch herleiten. Der Winkel α ist also nicht nur die L¨ ange des im Bild 2.22 als Pfeil dargestellten Kreisbogens Sα (vgl. Beispiel 1.43) sondern auch das Doppelte ¨ des Fl¨acheninhalts von Sα . Insbesondere gilt |Sπ | = π2 in Ubereinstimmung mit 2.4.6. Zum Nachweis obiger Behauptungen setzen wir zun¨ achst α ∈ (0, π/2) voraus. F¨ ur (x, y) ∈ Sα ergibt sich dann aus (2.27) und α < π/2 die Ungleichung x ≥ 0. Ferner ist leicht einzusehen, dass das Innere von Sα aus allen Punkten (x, y) besteht, f¨ ur die die strikten Ungleichungen 0 < x2 + y 2 < 1,
y > 0,
ϕ(x, y) < α,
gelten. Damit erh¨alt man f¨ ur den Rand von Sα die Darstellung ∂Sα = D1 ∪ D2 ∪ D3 mit D1 := {(x, y) ∈ Sα : y = 0},
D2 := {(x, y) ∈ Sα : x2 + y 2 = 1},
D3 := {(x, y) ∈ Sα : ϕ(x, y) = α}. Wegen arccos 1 = 0 < α gilt zun¨achst D1 = {(x, 0) : 0 ≤ x ≤ 1}. Ferner ist klar, dass f¨ ur (x, y) mit x2 + y 2 = 1 die Ungleichung ϕ(x, y) ≤ α zu x ≥ cos α ¨aquivalent ist. Deshalb folgt D2 = {(x, y) ∈ R2 : y ≥ 0, x ≥ cos α, x2 + y 2 = 1}. Ferner ist f¨ ur (x, y) = (0, 0) die Gleichung ϕ(x, y) = α zu x2 /(x2 + y 2 ) = cos2 α und damit auch zu 1 x2 + y 2 −1= −1 x2 cos2 α bzw. y 2 /x2 = tan2 α ¨aquivalent. Somit ergibt sich D3 = {(x, y) ∈ R2 : 0 ≤ x ≤ cos α, y = x · tan α}. ¨ Aus diesen Uberlegungen folgt nicht nur die geometrische Interpretation von Sα , sondern auch, dass Sα die Ordinatenmenge der durch x · tan α, falls x ≤ cos α, g(x) := √ 1 − x2 , falls x ≥ cos α, definierten Funktion g : [0, 1] → R darstellt. Weil g stetig (und damit integrierbar) ist, erhalten wir aus Satz 2.36 cos α 1 x · tan α dx + 1 − x2 dx. |Sα | = 0
cos α
2 Integralrechnung im Rn
124
Das erste Integral liefert den Wert 12 sin α cos α. F¨ ur das zweite ergibt sich nach der Transformation x = sin ϕ unter Beachtung von Beispiel I.7.36 der Wert α 1 sin2 ϕ dϕ = (α − sin α cos α). 2 0 Damit folgt das gew¨ unschte Resultat (2.29), Die G¨ ultigkeit von (2.29) f¨ ur α = π/2 folgt aus cos(π/4) = sin(π/4) (Beweis mittels Additionstheorem!) und der sich aus Symmetrie¨ uberlegungen ergebenden Gleichung |Sπ/2 | = 2·|Sπ/4 |. Eine analoge Symmetriebeziehung liefert dann (2.29) f¨ ur jedes α ∈ [0, π].
2.4.9
Kugelober߬ ache
Wie groß ist die Oberfl¨ache einer Kugel im Raum? Die Beantwortung dieser Frage setzt ein klar definiertes Maß f¨ ur den Inhalt einer Fl¨ ache (vgl. 1.8.5) voraus, das jedoch hier nicht zur Verf¨ ugung steht. Wir behelfen uns mit einem weitreichenden Zugang von Minkowski5 , wonach die Oberfl¨ ache O(A) einer beschr¨ ankten Menge 3 A ⊂ R unter bestimmten Voraussetzungen durch den Grenzwert |A⊕ε |3 − |A|3 ε→0+ ε
O(A) := lim
(2.30)
definiert werden kann. Hierbei ist A⊕ε die in (2.9) eingef¨ uhrte Parallelmenge von A im Abstand ε. Diesem Ansatz liegt die geometrisch anschauliche Idee zugrunde, dass unter gewissen Voraussetzungen an A f¨ ur kleines ε > 0 die Approximation |A⊕ε |3 ≈ |A|3 + ε · O(A) richtig sein sollte. In der Tat kann gezeigt werden, dass der Grenzwert (2.30) f¨ ur eine große Klasse von Mengen gebildet werden kann. Insbesondere existiert der Oberfl¨acheninhalt O(A) im obigen Sinn dann, wenn die Menge A kompakt und konvex ist. Letztere Eigenschaft bedeutet, dass A mit je zwei Punkten auch stets deren Verbindungsstrecke enth¨alt. Wir benutzen jetzt (2.30), um den Oberfl¨ acheninhalt einer Kugel Kr := B(0, r) mit Mittelpunkt 0 und Radius r > 0 zu bestimmen. Nach 2.4.6 ist |K1 |3 = 43 π, und aus Gleichung (2.19) mit n = 3 folgt 4 |Kr |3 = |rK1 |3 = r 3 |K1 |3 = πr 3 . 3 5
Hermann Minkowski (1864–1909), Professor in Bonn (ab 1892), K¨ onigsberg (ab 1894), Z¨ urich (ab 1896), G¨ ottingen (ab 1902). Hauptarbeitsgebiete: Zahlentheorie (Geometrie der Zahlen), Konvexgeometrie, Mathematische Physik.
2.4 Der Satz von Fubini
125
Da die Kugel B(0, r+ε) die Parallelmenge von Kr zum Abstand ε ist, gilt (wieder mit Gleichung (2.19)) 4 |(Kr )⊕ε |3 = π(r + ε)3 . 3 Mit (2.30) folgt 1 4 3 4 3 (2.31) π(r + ε) − πr = 4πr2 . O(Kr ) = lim · ε→0+ ε 3 3 Also ergibt sich die Kugeloberfl¨ache als Ableitung des Kugelvolumens 43 πr3 nach dem Radius. Es sei noch angemerkt, dass man in Analogie zu Formel (2.30) f¨ ur gewisse beschr¨ankte Teilmengen A des R2 die Randl¨ange von A durch den Grenzwert l(A) := lim
ε→0+
|A⊕ε |2 − |A|2 ε
(2.32)
definieren kann. F¨ ur den mit Kr bezeichneten Kreis mit Mittelpunkt 0 ∈ R2 und Radius r > 0 gilt nach 2.4.6 und Satz 2.10 (iii) |Kr |2 = πr 2 . Da (Kr )⊕ε der Kreis um 0 mit Radius r + ε ist, folgt |(Kr )⊕ε |2 = π(r + ε)2 , und (2.32) liefert die schon in Beispiel 1.43 hergeleitete L¨ange π(r + ε)2 − πr 2 = 2πr ε→0+ ε
l(Kr ) = lim
des Kreisrandes. Die Kreisl¨ange ist also die Ableitung der Kreisfl¨ ache nach dem Radius.
2.4.10
Integration u ¨ ber Normalbereiche
Der folgende Satz ist f¨ ur die Berechnung von Bereichsintegralen von großer Bedeutung. 2.44 Satz. (Integration u ¨ ber Normalbereiche (1)) Es seien B ⊂ R2 eine Jordan-messbare Menge sowie g, h u ¨ber B integrierbare Funktionen mit g(x) ≤ h(x) f¨ ur jedes x ∈ B. Weiter sei f eine u ¨ber M (g, h) := {(x1 , . . . , xn−1 , t) ∈ Rn : x = (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ B, g(x) ≤ t ≤ h(x)} integrierbare Funktion, und die Schnittfunktion f (x, ·) sei f¨ ur jedes x ∈ B integrierbar ¨ uber dem Intervall [g(x), h(x)]. Dann gilt
h( x)
f (x, t) d(x, t) = M (g,h)
f (x, t) dt dx. B
g( x)
2 Integralrechnung im Rn
126
Beweis: Nach Satz 2.38 ist M (g, h) eine Jordan-messbare Teilmenge des Rn . Weil g und h beschr¨ ankt sind, gibt es Zahlen a < b mit M := M (g, h) ⊂ B × [a, b]. Wir wenden Satz 2.39 mit p = n − 1, q = 1, J = [a, b] auf die Funktion fM und einen die Menge B enthaltenden Quader I an und erhalten (vgl. Folgerung 2.26) b f (x, t) d(x, t) = fM (x, t) d(x, t) = fM (x, t) dt dx. M(g,h)
I×[a,b]
I
∗a
F¨ ur x ∈ I \ B verschwindet das innere Integral. Es sei x ∈ B. Nach Definition von fM gilt fM (x, t) = f (x, t) f¨ ur g(x) ≤ t ≤ h(x) und fM (x, t) = 0 sonst. Aus der Additivit¨ at des unteren Integrals folgt damit h(x) b fM (x, t) dt = f (x, t) dt. ∗a
∗g( x)
Nach Voraussetzung ist das rechte untere Integral das Integral von f (x, ·) u ¨ber dem Intervall [g(x), h(x)]. Damit ist der Satz bewiesen.
Einige Spezialf¨alle des obigen Satzes verdienen es, gesondert hervorgehoben zu uglich der werden. Eine beschr¨ankte Menge M ⊂ R2 heißt Normalbereich bez¨ x-Achse, wenn es Zahlen a < b und stetige Funktionen g, h : [a, b] → R mit g(x) ≤ h(x), x ∈ [a, b], gibt, so dass gilt: M = M (g, h) := {(x, y) : a ≤ x ≤ b, g(x) ≤ y ≤ h(x)}. Eine Menge M der Form M = M ∗ (g, h) := {(x, y) : a ≤ y ≤ b, g(y) ≤ x ≤ h(y)} wird Normalbereich bez¨ uglich der y-Achse genannt. In beiden F¨ allen spricht man auch kurz von einem Normalbereich (siehe Bild 2.23). y y h b g
M
M
h
a g a
b
x
x
Bild 2.23: Normalbereiche bzgl. der x-Achse (links) und y-Achse (rechts) Weil stetige Funktionen u ¨ber beschr¨ankten und abgeschlossenen Mengen integrierbar sind, folgt aus Satz 2.38, dass ein Normalbereich in der ersten Koordinate
2.4 Der Satz von Fubini
127
Jordan-messbar ist. Wegen der Spiegelungsinvarianz des Inhalts (Satz 2.10 (ii)) gilt diese Aussage dann auch f¨ ur einen Normalbereich in der zweiten Koordinate. 2.45 Satz. (Integration u ¨ ber Normalbereiche (2)) 2 Es seien M ⊂ R ein Normalbereich und f : M → R eine stetige Funktion. Dann ist f integrierbar ¨ uber M , und es gilt b h(x) f (x, y) d(x, y) = f (x, y) dy dx, M
a
g(x)
falls M ein Normalbereich in der ersten Koordinate ist und b h(y) f (x, y) d(x, y) = f (x, y) dx dy, M
a
g(y)
falls M ein Normalbereich in der zweiten Koordinate ist. Hierbei sind die Funktionen g und h entsprechend der Definition des Normalbereiches gew¨ahlt. Beweis: Weil g und h stetige Funktionen sind, ergibt sich leicht die Abgeschlossenheit der Menge M . Wegen Satz 2.30 ist f integrierbar u ¨ber M . Wir beweisen die erste Formel. Die zweite folgt entweder analog (aus Satz 2.39) oder durch Anwenden der ersten Formel auf die Funktion f ∗ (x, y) := f (y, x). Sei also M = M (g, h). F¨ ur jedes x ∈ [a, b] ist f (x, ·) eine stetige Funktion auf [g(x), h(x)] und damit auch integrierbar u ¨ ber diesem Intervall. Weil g und h u unschte Gleichung. ¨ber [a, b] integrierbar sind, liefert Satz 2.44 die gew¨
Es seien B ⊂ R2 eine abgeschlossene Jordan-messbare Menge sowie g, h : B → R stetige Funktionen mit g(x, y) ≤ h(x, y), (x, y) ∈ B. Dann heißt die Menge M = M (g, h) := {(x, y, z) : (x, y) ∈ B, g(x, y, z) ≤ z ≤ h(x, y, z)} Normalbereich in den ersten beiden Koordinaten . Normalbereiche in der ersten und dritten bzw. in der zweiten und dritten Koordinate definiert man entsprechend. Analog zu den obigen Resultaten gilt: 2.46 Satz. (Integration u ¨ ber Normalbereiche (3)) 3 Es sei M ⊂ R ein Normalbereich in den ersten beiden Koordinaten. Dann ist M Jordan-messbar. Jede stetige Funktion f : M → R ist integrierbar ¨ uber M , und es gilt h(x,y) f (x, y, z) d(x, y, z) = f (x, y, z) dz d(x, y). (2.33) M
B
g(x,y)
Hierbei sind die Funktionen g und h entsprechend der Definition eines Normalbereiches gew¨ahlt.
2 Integralrechnung im Rn
128
Entsprechende Ergebnisse gelten f¨ ur Normalbereiche in der ersten und dritten bzw. in der zweiten und dritten Koordinate. Ist die Menge B in (2.33) selbst ein Normalbereich, so kann Satz 2.45 zur Berechnung des ¨ außeren Integrals herangezogen werden.
2.4.11
Der Schwerpunkt
Es seien A ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge und ρ : A → R eine nichtnegative Riemann-integrierbare Funktion. Wir interpretieren A als starren K¨ orper und und ρ(x) als (infinitesimale) Massendichte im Punkt x ∈ A. Anschaulich ist ρ(x) · |Q| die Gesamtmasse in einer kleinen, den Punkt x enthaltenden Umgebung Q. Unter dem Schwerpunkt von A versteht man den Vektor ρ(x) · x dx . (2.34) sA := A x) dx A ρ( Dabei liefert das (als positiv vorausgesetzte) Integral im Nenner die Masse von A. Im Z¨ahler steht ein in 2.3.13 eingef¨ uhrtes vektorwertiges Integral mit den Komponenten A ρ(x) · xj dx, j = 1, . . . , n. In einem physikalischen Kontext ist der Schwerpunkt derjenige Punkt, in dem man den K¨ orper A unterst¨ utzen muss, damit er im Schwerefeld im Gleichgewicht ist. 2.47 Beispiel. Wir betrachten den in Bild 2.24 dargestellten dreiecksf¨ ormigen K¨ orper A := 2 {(x1 , x2 ) ∈ R : 0 ≤ x1 ≤ 1, 0 ≤ x2 ≤ x1 } mit der konstanten Massendichte ρ(x) = 1, x ∈ A. Hier gilt 1 x1 1 1 ρ(x) · x1 dx = 1 dx2 x1 dx1 = x21 dx1 = 3 0 0 A 0 und analog
1 1 ρ(x) · x2 dx = , ρ(x) dx = . 6 2 A A Nach Formel (2.34) ergibt sich der Schwerpunkt von A zu s = (2/3, 1/3). 2.48 Beispiel. Die Menge A := {(x1 , x2 ) ∈ R2 : −1 ≤ x1 ≤ 1, 0 ≤ x2 ≤ 1 − x21 } beschreibt eine halbkreisf¨ormige Scheibe mit Radius 1 (Bild 2.25). Welche Gesamtmasse und welchen Schwerpunkt besitzt diese Scheibe, wenn die Massendichte proportional zum Abstand von der geraden Kante {(x1 , 0) : −1 ≤ x1 ≤ 1}, also von der Gestalt ρ(x) = k · x2 mit einer Proportionalit¨atskonstanten k > 0 ist? Die Gesamtmasse der Scheibe ergibt sich zu 1 √1−x2 1 k 1 2k . ρ(x) dx = k x2 dx2 dx1 = (1 − x21 ) dx1 = 2 3 −1 −1 A 0
2.4 Der Satz von Fubini
129
x2 1 A 1 3
Bild 2.24: Dreieck mit Schwerpunkt
s • 2 3
Aus Symmetriegr¨ unden folgt √
1
x1
x) · A ρ(
x1 dx = 0. Weiter gilt
2k 1 ρ(x) · x2 dx = k dx2 dx1 = (1 − x21 )3/2 dx1 3 0 −1 0 A 1 kπ 2k 1 3x1 = · x1 (1 − x21 )3/2 + (1 − x21 )1/2 + arcsin x1 = , 3 4 2 8 0 1−x21
1
· x22
atigt wobei die obige Stammfunktion von 4(1 − x2 )3/2 durch Differentiation best¨ werden kann. Insgesamt folgt, dass der Schwerpunkt s der Scheibe (unabh¨ angig von der Proportionalit¨atskonstanten k) durch s = (0, 3π 16 ) gegeben ist (Bild 2.25). x2
•
Bild 2.25: Halbkreis mit inhomogener Massenverteilung ρ(x) = kx2 und Schwerpunkt
s
1 x1
−1
2.49 Beispiel. (Schwerpunkt eines verallgemeinerten Kegels) Wie in Beispiel 2.42 betrachten wir einen verallgemeinerten Kegel A ⊂ Rn mit Grundfl¨ache B ⊂ Rn−1 und fragen nach dem Schwerpunkt sA = (s1 , . . . , sn ) von A bei konstanter Massendichte ρ ≡ 1. Der Einfachheit halber setzen wir voraus, dass B (bez¨ uglich einer konstanten Massendichte) den Schwerpunkt 0 ∈ Rn−1 besitzt, dass also xj d(x1 , . . . , xn−1 ) = 0, j = 1, . . . , n − 1, B
gilt. Wegen der Linearit¨at des Integrals l¨asst sich diese Annahme durch eine geeignete Verschiebung von B (und damit auch von A) immer erreichen. Der
2 Integralrechnung im Rn
130
Satz von Fubini und die Substitutionsregel (Satz I.7.37) liefern f¨ ur jedes λ > 0 xj d(x1 , . . . , xn−1 ) = 0, j = 1, . . . , n − 1. (2.35) λB
Mit den Bezeichnungen aus Beispiel 2.42 erhalten wir f¨ ur jedes j ∈ {1. . . . , n − 1} h xj d(x1 , . . . , xn ) = xj d(x1 , . . . , xn−1 ) dt. |A|n · sj = 0
A
At
Analog zum Beweis des Prinzips von Cavalieri folgt das aus dem Satz von Fubini. Wegen (2.35) ist damit s1 = . . . = sn−1 = 0. Ferner erhalten wir aus dem Satz von Fubini, der Definition der Schnittmengen At sowie Gleichung (2.19) h h t n−1 |A|n · sn = t d(x1 , . . . , xn−1 ) dt = |B|n−1 · t· 1− dt. h At 0 0 Mit der Substitution u := (h − t)/h ergibt sich 1 2 |A|n · sn = |B|n−1 h · (1 − u) · un−1 du = |B|n−1 · 0
h2 . n(n + 1)
Unter Beachtung von |A|n = · |B|n−1 folgt schließlich sA = (0, . . . , 0, h/(n + 1)). Im Fall n = 3 besitzt also der Schwerpunkt von A den Abstand h/4 von der Grundfl¨ache. h n
Lernziel-Kontrolle • Warum ist eine Riemann-integrierbare Funktion notwendigerweise beschr¨ ankt? • Warum ist der Konvergenzbegriff f¨ ur die Definition des Riemann-Integrals wesentlich? • Wann ist eine Menge Jordan-messbar? • Welche Invarianzeigenschaften besitzt der Jordan-Inhalt? • Wie l¨ asst sich die Eigenschaft der Jordan-Messbarkeit mit Hilfe des Begriffs der Nullmenge beschreiben? • K¨ onnen Sie das Riemann-Integral mit Hilfe von Partitionen formulieren? • Geben Sie Klassen integrierbarer Funktionen an! • Wie lautet das Lebesguesche Integrabilit¨ atskriterium? • Was ist eine (verallgemeinerte) Ordinatenmenge, und wie kann man deren Inhalt bestimmen? • Was besagen der Satz von Fubini und das Prinzip von Cavalieri? • Mit welchem allgemeinen Ansatz wurde der Umfang eines Kreises ermittelt? • Wie integriert man u ¨ ber Normalbereiche? • Wie ist der Schwerpunkt einer mit der Massendichte ρ belegten Menge A definiert?
Kapitel 3
Determinanten Herr Vektor hatte ’ne Tante, die jeder in Detern gut kannte, ihr Wille geschah, wo immer sie war, sie hieß nur die Determinante“. ”
Anonymus
Wie ver¨andert sich der Inhalt einer Jordan-messbaren Menge M ⊂ Rn unter einer linearen Abbildung ( Transformation“) T : Rn → Rn ? Es wird sich zeigen, dass ” man den Inhalt von T (M ) aus dem Inhalt von M durch die Multiplikation mit einer nur von T (aber nicht von M !) abh¨angigen Konstanten, der sogenannten Determinante von T , erh¨alt. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen das Studium der Eigenschaften von Determinanten sowie die Herleitung und Verallgemeinerung der oben angesprochenen Multiplikationsregel.
3.1 3.1.1
Determinantenformen Parallelepiped und Parallelogramm
Sind a1 , . . . ,ak Vektoren des Rn , so heißt die Menge aller Linearkombinationen λ1a1 + . . . + λkak mit 0 ≤ λj ≤ 1 f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , k} das von den Vektoren a1 , . . . ,ak aufgespannte Parallelepiped . Offenbar ist das von einem Vektor a ∈ Rn aufgespannte Parallelepiped die Strecke [0,a] zwischen 0 und a. Im Fall n ≥ 2 ist das von zwei Vektoren a und b N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_3, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
132
3 Determinanten
aufgespannte Parallelepiped ein Parallelogramm mit den Seitenvektoren a und b (Bild 3.1 links). Das von drei Vektoren a, b, c aufgespannte Parallelepiped heißt (im Fall n ≥ 3) auch Parallelotop mit den Kantenvektoren a, b und c (Bild 3.1 rechts).
b c b
a a
0
0 Bild 3.1: Parallelogramm (links) und Parallelotop (rechts)
3.1 Satz. (Fl¨ache eines Parallelogramms) Es seien a = (a1 , a2 ), b = (b1 , b2 ) ∈ R2 und P das von a, b aufgespannte Parallelogramm. Dann ist P Jordan-messbar, und es gilt |P | = |D| mit D := a1 b2 − a2 b1 . Beweis: Zur Vermeidung von Fallunterscheidungen betrachten wir nur den in Bild 3.2 dargestellten Fall 0 < a1 < b1 und 0 < b2 < a2 .
y a2 +b2 a2
Bild 3.2: Zum Beweis von Satz 3.1
b2 a1
b1 a1 +b1
x
Mit den Abk¨ urzungen r := b2 − a2 b1 /a1 = D/a1 und s := a2 − b2 a1 /b1 = −D/b1 definieren wir die beiden stetigen Funktionen g, h : [0, a1 + b1 ] → R durch die Festsetzungen ⎧ ⎧ ⎨ b2 x, ⎨ a2 x, falls 0 ≤ x ≤ b1 , falls 0 ≤ x ≤ a1 , b1 a1 g(x) := h(x) := ⎩ a2 x + r, falls b ≤ x ≤ a + b , ⎩ b2 x + s, falls a ≤ x ≤ a + b . 1 1 1 1 1 1 a1 b1 Dann gilt (vgl. Bild 3.2) P = {(x, y) : 0 ≤ x ≤ a1 + b1 , g(x) ≤ y ≤ h(x)},
3.1 Determinantenformen
133
und Satz 2.45 f¨ ur f (x, y) = 1, (x, y) ∈ P , (oder auch direkt Satz 2.38) liefert a1 +b1 (h(x) − g(x)) dx |P | = 0
b1 a1 +b1 a2 b2 b2 a2 x dx + x + s − r dx − s dx + − a1 b1 b1 a1 0 a1 b1 a1 a1 a2 b2 b2 a2 = x dx + (b1 − a1 )s + (z + b1 ) dz + (s − r)a1 − − a b b a1 1 1 1 0 0 = (b1 − a1 )s + (a1 b2 − a2 b1 ) + (s − r)a1
a1
=
= D + b1 s − a1 r = −D = |D|.
In der Elementargeometrie ergibt sich der Fl¨ acheninhalt eines Parallelogramms als Produkt der L¨angen der Grundlinie und der zugeh¨ origen H¨ ohe. Bezeichnet Lb (a) das Lot von a auf den von b aufgespannten Unterraum U := Span(b), also asst sich die Aussage die orthogonale Projektion von a auf U ⊥ (vgl. I.8.6.7), so l¨ von Satz 3.1 in der Form |P | = b2 ·Lb (a)2
(3.1)
schreiben (Bild 3.3).
U⊥
U
a b
Lb (a)
Bild 3.3: Zu Formel (3.1)
0 Nach I.8.6.8 gilt
a, b2 , Lb (a)22 = a22 − b−2 2
also b22 ·Lb (a)22 = a22 ·b22 − a, b2 = (a21 + a22 )(b21 + b22 ) − (a1 b1 + a2 b2 )2 = (a1 b2 − a2 b1 )2 . Damit best¨atigt sich (3.1).
134
3 Determinanten
3.1.2
Definition von Determinantenformen
Wir betrachten jetzt die in Satz 3.1 auftretende Gr¨ oße D in Abh¨ angigkeit der Vektoren a = (a1 , a2 ) und b = (b1 , b2 ), setzen also D(a, b) := a1 b2 − a2 b1 .
(3.2)
Die in dieser Weise definierte Funktion D : R2 × R2 → R ist linear in jedem Argument, d.h. f¨ ur jede Wahl von a und b sind die Schnittfunktionen D(·, b) und D(a, ·) linear. F¨ ur festes b ∈ R2 gilt also etwa D(c1 x1 + c2 x2 , b) = c1 ·D(x1 , b) + c2 ·D(x2 , b) f¨ ur alle x1 , x2 ∈ R2 und alle c1 , c2 ∈ R. Sind die Vektoren a und b linear abh¨angig, gilt also etwa b = c·a und somit b1 = ca1 , b2 = ca2 f¨ ur ein c ∈ R, so folgt D(a, b) = 0. Schließlich ist D(e1 , e2 ) = 1, wobei {e1 , e2 } die kanonische Einheitsbasis von R2 bezeichnet. ¨ In Ubereinstimmung mit Satz 3.1 interpretiert man D(a, b) = a1 b2 − a2 b1 auch als vorzeichenbehafteten Fl¨acheninhalt des von a und b aufgespannten Parallelogramms. Gilt D(a, b) > 0 (bzw. D(a, b) < 0) so heißen a und b positiv (bzw. negativ) orientiert. Anschaulich sind a und b positiv (bzw. negativ) orientiert, wenn a nach Drehung um einen Winkel ϕ mit 0 < ϕ < π entgegen (bzw. mit) dem Uhrzeigersinn in Richtung des Vektors b zeigt. In diesem Sinn sind also die Vektoren a, b in Bild 3.2 und 3.3 negativ und in Bild 3.1 links positiv orientiert. Die obigen Eigenschaften der in (3.2) erkl¨ arten Funktion D : R2 × R2 → R motivieren die nachfolgende Begriffsbildung. Eine Funktion D : (Rn )n → R heißt Determinantenform (auf Rn ), wenn sie die folgenden Eigenschaften besitzt: (E1) Die Funktion D ist multilinear, d.h. linear in jedem Argument. So gilt etwa f¨ ur jede feste Wahl von a2 , . . . ,an ∈ Rn : D(c1 x1 + c2 x2 ,a2 , . . . ,an ) = c1 ·D(x1 ,a2 , . . . ,an ) + c2 ·D(x2 ,a2 , . . . ,an ) f¨ ur alle x1 , x2 ∈ Rn und alle c1 , c2 ∈ R. (E2) Es gilt D(a1 , . . . ,an ) = 0, falls a1 , . . . ,an linear abh¨ angig sind. (E3) Es gibt Vektoren a1 , . . . ,an ∈ Rn mit D(a1 , . . . ,an ) = 0.
3.1 Determinantenformen
135
Wir werden sehen, dass es bis auf multiplikative Faktoren nur eine Determinantenform geben kann. Sind also D1 und D2 zwei Abbildungen mit obigen Eigenschaften, so existiert eine Konstante c = 0 mit D2 (a1 , . . . ,an ) = c·D1 (a1 , . . . ,an ) f¨ ur alle a1 , . . . ,an ∈ Rn . Insbesondere folgt, dass eine Determinantenform durch Angabe des Funktionswertes D(e1 , . . . , en ) f¨ ur die kanonische Orthonormalbasis des Rn eindeutig bestimmt ist. Im Spezialfall D(e1 , . . . , en ) = 1 wird sich (als Verallgemeinerung von Satz 3.1) ergeben, dass |D(a1 , . . . ,an )| der Jordan-Inhalt des von a1 , . . . ,an aufgespannten Parallelepipeds ist.
3.1.3
Erste Eigenschaften von Determinantenformen
3.2 Lemma. (Determinantenformen sind alternierend) Eine Determinantenform ist alternierend, d.h. sie ¨ andert ihr Vorzeichen, wenn man zwei Argumente vertauscht. Es gilt also D(a1 , . . . ,an ) = −D(a1 , . . . ,ai−1 ,aj ,ai+1 , . . . ,aj−1 ,ai ,aj+1 , . . . ,an ) f¨ ur alle a1 , . . . ,an ∈ Rn und alle i, j mit 1 ≤ i < j ≤ n. Beweis: Aus (E1) folgt f¨ ur alle a1 , . . . , an ∈ Rn , alle 1 ≤ i < j ≤ n und alle λ ∈ R: D(a1 , . . . , ai−1 ,ai + λaj , ai+1 , . . . , an ) = D(a1 , . . . , ai−1 , ai , ai+1 , . . . , an ) + λD(a1 , . . . , ai−1 , aj , ai+1 , . . . , an ). Aus (E2) ergibt sich aber insbesondere D(b1 , . . . , bn) = 0, falls zwei der Argumente gleich sind. Der zweite Summand auf der rechten Seite f¨ allt also weg, und wir erhalten D(a1 , . . . , an ) = D(a1 , . . . , ai−1 , ai + λaj , ai+1 , . . . , an ).
(3.3)
Ganz analog gilt dieses Ergebnis auch f¨ ur i > j. Mehrfaches Anwenden dieser Gleichung f¨ uhrt auf D(a1 , . . . , an ) = D(a1 , . . . , ai + aj , . . . , aj , . . . , an ) = D(a1 , . . . , ai + aj , . . . , aj − (ai + aj ), . . . , an ) = D(a1 , . . . , ai + aj , . . . , −ai , . . . , an ) = −D(a1 , . . . , aj , . . . , ai , . . . , an ), womit das Lemma bewiesen ist.
Wir u ¨ berlegen uns jetzt, dass eine Determinantenform D bereits durch ihren Wert auf einer Basis des Rn festgelegt ist. Hierzu betrachten wir zun¨ achst n beliebige Vektoren b1 , . . . , bn und reelle Zahlen βij mit i, j ∈ {1, . . . , n} und setzen aj :=
n i=1
βij · bi ,
j = 1, . . . , n.
(3.4)
136
3 Determinanten
Weil D eine multilineare Abbildung ist, gilt D(a1 , . . . ,an ) =
n
...
i1 =1
n
βi1 1 · . . . · βin n ·D(bi1 , . . . , bin ).
(3.5)
in =1
Da D auch die Eigenschaft (E2) besitzt, fallen alle Summanden weg, bei denen mindestens zwei der Indizes i1 , . . . , in gleich sind. Die Summe in (3.5) erstreckt sich somit nur u amtliche Komponen¨ber alle Index-Tupel (i1 , . . . , in ), bei denen s¨ ten verschieden sind. Jedes solche Tupel bildet u ¨ber die Festsetzung π(j) := ij , j = 1, . . . , n, eine Permutation π von {1, . . . , n}. Schreiben wir Πn f¨ ur die Menge aller n! Permutationen von {1, . . . , n}, so ergibt sich βπ(1)1 · . . . · βπ(n)n ·D(bπ(1) , . . . , bπ(n) ). (3.6) D(a1 , . . . ,an ) = π∈Πn
Im n¨achsten Unterabschnitt fragen wir, wie sich die Zahl D(bπ(1) , . . . , bπ(n) ) durch ucken l¨asst. D(b1 , . . . , bn ) ausdr¨
3.1.4
Transpositionen und Permutationen
Eine Transposition der Menge {1, . . . , n} ist eine Permutation von {1, . . . , n}, die genau zwei Elemente vertauscht und die u andert l¨ asst. Nat¨ urlich ¨brigen unver¨ ist hierbei n ≥ 2 vorausgesetzt. Im Fall n = 3 gibt es die drei Transpositionen 1 2 3 1 2 3 1 2 3 , , , (3.7) 1 3 2 3 2 1 2 1 3 welche die Elemente 2 und 3 bzw. 1 und 3 bzw. 1 und 2 vertauschen. Vertauscht die Transposition π ∈ Πn die beiden verschiedenen Elemente i und j, gilt also π(i) = j, π(j) = i und π(k) = k f¨ ur jedes k ∈ {1, . . . .n} \ {i, j}, so schreiben wir hierf¨ ur auch π =: [i, j]. In diesem Sinne k¨onnen die drei Transpositionen in (3.7) in der Form [2, 3], [1, 3] und [1, 2] geschrieben werden. Wegen π◦π = id ist jede Transposition zu sich selbst invers, d.h. es gilt π −1 = π. 3.3 Satz. (Eigenschaften von Transpositionen) uhrung (Komposition) von Jede Permutation π ∈ Πn kann als Hintereinanderausf¨ endlich vielen Transpositionen dargestellt werden. Ist π Komposition einer geraden (bzw. ungeraden) Anzahl von Transpositionen, so ist auch in jeder anderen Darstellung von π als Komposition von Transpositionen die Anzahl der beteiligten Transpositionen gerade (bzw. ungerade). Beweis: Die erste Behauptung kann durch R¨ uckw¨ artsinduktion“ u ¨ber die Anzahl m ” der von π festgehaltenen Zahlen bewiesen werden. L¨ asst n¨ amlich π genau m − 1 Zahlen fest und gilt π(i) = i f¨ ur ein i ∈ {1, . . . , n}, so l¨ asst τ := [i, π(i)] ◦ π genau m Zahlen
3.1 Determinantenformen
137
fest, und es gilt π = [i, π(i)] ◦ τ . Zum Beweis der zweiten Behauptung betrachten wir das Polynom # (xi − xj ), x1 , . . . , xn ∈ R. f (x1 , . . . , xn ) := 1≤i<j≤n
F¨ ur jedes π ∈ Πn gilt f (x1 , . . . , xn ) = cπ ·f (xπ(1) , . . . , xπ(n) ) mit cπ ∈ {−1, 1}. F¨ ur eine Transposition τ ist cτ = −1. Ist π = τm ◦ . . . ◦ τ1 Komposition von m Transpositionen, so folgt die Gleichung cπ = (−1)m induktiv. Diese Zahl ist genau dann gleich 1, wenn m gerade ist. Damit ist der Satz bewiesen.
Aufgrund des soeben bewiesenen Satzes ist die folgende Definition sinnvoll: Ist π ∈ Πn Komposition von m Transpositionen, so heißt die Zahl sgn(π) := (−1)m das Signum (oder Vorzeichen ) von π. Gilt sgn(π) = 1, so nennt man π eine gerade Permutation, anderenfalls eine ungerade Permutation. 3.4 Beispiel. Die durch π(1) := 2, π(2) := 5, π(3) := 1, π(4) := 4 und π(5) := 3 definierte Permutation π ∈ Π5 ist ungerade, denn es gilt 1 2 3 4 5 = [1, 3] ◦ [1, 2] ◦ [2, 5]. 2 5 1 4 3 3.5 Satz. (Eigenschaften der Signumfunktion) F¨ ur alle Permutationen π, σ ∈ Πn gilt sgn(π ◦ σ) = sgn(π) · sgn(σ). Insbesondere folgt sgn(π −1 ) = sgn(π). Beweis: Jede Transposition ist ungerade. Deshalb ist die Gleichung sgn(π ◦ σ) = sgn(π) · sgn(σ) richtig, falls π oder σ Transpositionen sind. Der allgemeine Fall ergibt sich dann induktiv aus Satz 3.3. Die zweite Behauptung folgt wegen 1 = sgn(id) = sgn(π ◦ π−1 ) = sgn(π)·sgn(π −1 ) aus der ersten.
3.1.5
Existenz und Eindeutigkeit von Determinantenformen
Aus Gleichung (3.6), Lemma 3.2 und den Ergebnissen aus 3.1.4 folgt jetzt f¨ ur die durch (3.4) verbundenen Vektoren a1 , . . . ,an und b1 , . . . , bn D(a1 , . . . ,an ) = D(b1 , . . . , bn )· sgn(π)·βπ(1)1 · . . . · βπ(n)n . (3.8) π∈Πn
138
3 Determinanten
Da sich beliebige Vektoren a1 , . . . ,an stets in der Form (3.4) darstellen lassen, wenn b1 , . . . , bn eine Basis des Rn bilden, ergibt sich insbesondere, dass eine Determinantenform durch ihre Werte auf einer Basis bereits eindeutig bestimmt ist. Nach Eigenschaft (E2) gilt D(b1 , . . . , bn ) = 0, wenn die Vektoren b1 , . . . , bn linear abh¨angig sind. Das folgende Resultat zeigt, dass auch die Umkehrung dieser Implikation richtig ist. 3.6 Satz. (Charakterisierung der linearen Unabh¨ angigkeit) Es seien D eine Determinantenform und b1 , . . . , bn ∈ Rn Vektoren. Dann gilt: b1 , . . . , bn linear abh¨ angig ⇐⇒ D(b1 , . . . , bn ) = 0. Beweis: Wegen Eigenschaft (E2) ist nur die Richtung ⇐“ zu zeigen. W¨ aren b1 , . . . , bn ” n linear unabh¨ angig und damit eine Basis des R , so k¨ onnten wir beliebige Vektoren n a1 , . . . , an ∈ R in der Form (3.4) darstellen. Wegen D(b1 , . . . , bn ) = 0 und (3.8) w¨ urde dann D(a1 , . . . , an ) = 0 gelten, was jedoch im Widerspruch zu Eigenschaft (E3) steht.
Bisher haben wir noch nicht bewiesen, dass Determinantenformen u ¨berhaupt existieren. Gleichung (3.8) zeigt, wie man hierzu vorgehen muss. 3.7 Satz. (Existenz von Determinantenformen) Es sei {b1 , . . . , bn } eine Basis des Rn . Sind die Vektoren a1 , . . . ,an durch (3.4) gegeben, so sei sgn(π)·βπ(1)1 · . . . · βπ(n)n (3.9) D(a1 , . . . ,an ) := π∈Πn
gesetzt. Dann ist D eine Determinantenform. Beweis: Die Multilinearit¨at von D ergibt sich direkt aus der Definition. Setzt man in (3.9) speziell ai := bi f¨ ur i = 1, . . . , n, so ist (βij ) die Einheitsmatrix En . Auf der rechten Seite von (3.9) bleibt somit nur der zur Identit¨at π = id geh¨ orende Summand u ¨brig, und man erh¨ alt D(a1 , . . . , an ) = 1. Damit ist auch Eigenschaft (E3) erf¨ ullt. Zum Nachweis der noch verbleibenden Eigenschaft (E2) k¨onnen wir n ≥ 2 voraussetzen. Wir nehmen an, die Vektoren a1 , . . . , an seien linear abh¨angig, wobei o.B.d.A. a1 Linearkombination von a2 , . . . , an sei, d.h. es gilt a1 = λ2 · a2 + . . . + λn · an f¨ ur gewisse λ2 , . . . , λn ∈ R. Dann ist D(a1 , a2 , . . . , an ) = λ2 · D(a2 , a2 , . . . , an ) + . . . + λn · D(an , a2 , . . . , an ). ur jedes k ∈ {2, . . . , n}. Hierzu Es gen¨ ugt also der Nachweis von D(ak , . . . , ak , . . .) = 0 f¨ bezeichne σ := [1, k] diejenige Transposition, welche die Zahlen 1 und k vertauscht. F¨ ur jedes π ∈ Πn gilt dann sgn(π) = − sgn(π ◦ σ). Durchl¨ auft π alle geraden Permutationen,
3.1 Determinantenformen
139
so durchl¨ auft π ◦ σ alle ungeraden Permutationen. Wegen βi1 = βik (i = 1, . . . , n) ¨ andert sich aber andererseits am Produkt βπ(1)1 ·. . .·βπ(n)n nichts, wenn man π durch π◦σ ersetzt. Damit heben sich in (3.9) jeweils zwei Summanden mit entgegengesetztem Vorzeichen auf, und es folgt D(ak , . . . , ak , . . .) = 0.
Der folgende Satz zeigt, dass sich Determinantenformen nur um ein Vielfaches unterscheiden. 3.8 Satz. (Eindeutigkeit von Determinantenformen) Es seien D1 und D2 Determinantenformen. Dann gibt es eine Zahl c = 0 mit D2 (a1 , . . . ,an ) = c · D1 (a1 , . . . ,an ),
a1 , . . . ,an ∈ Rn .
(3.10)
Beweis: Es sei {b1 , . . . , bn} eine Basis des Rn . Wir setzen c :=
D2 (b1 , . . . , bn ) . D1 (b1 , . . . , bn )
Wegen Satz 3.6 ist diese Definition sinnvoll. Mit den Bezeichnungen aus (3.8) folgt D2 (a1 , . . . , an ) = D2 (b1 , . . . , bn ) ·
sgn(π)·βπ(1)1 · . . . · βπ(n)n
π∈Πn
= c·D1 (b1 , . . . , bn ) ·
sgn(π) · βπ(1)1 · . . . · βπ(n)n
π∈Πn
= c·D1 (a1 , . . . , an ).
Aus den S¨atzen 3.7 und 3.8 folgt, dass es nur eine Determinantenform D mit der Eigenschaft D(e1 , . . . , en ) = 1 gibt. Diese Determinantenform wird in der Folge mit det(·) bezeichnet. Nach (3.9) gilt det(a1 , . . . ,an ) :=
sgn(π)·βπ(1)1 · . . . · βπ(n)n .
(3.11)
π∈Πn
Dabei sind a1 , . . . ,an durch (3.4) gegeben. Man beachte, dass (3.11) im Fall n = 2 die in (3.2) definierte Abbildung darstellt.
3.1.6
Die Determinante linearer Abbildungen
Der folgende Satz erm¨oglicht die Definition der Determinante als einer wichtigen Kennzahl einer linearer Abbildung T . Ist M eine Jordan-messbare Menge des Inhalts 1, so ist (wie wir sp¨ater zeigen werden) der Betrag der Determinante von T der Inhalt von T (M ).
140
3 Determinanten
3.9 Satz. (Lineare Bijektionen und Determinanten) Die Abbildung T : Rn → Rn sei linear und bijektiv. Dann gibt es eine reelle Zahl γ, so dass D(T (b1 ), . . . , T (bn )) =γ D(b1 , . . . , bn )
(3.12)
f¨ ur jede Determinantenform D und jede Basis {b1 , . . . , bn } des Rn . Beweis: Es sei D eine Determinantenform. Wir definieren D1 (a1 , . . . , an ) := D(T (a1 ), . . . , T (an )),
a1 , . . . , an ∈ Rn ,
achst ist klar, dass D1 und behaupten, dass auch D1 eine Determinantenform ist. Zun¨ multilinear ist. Da mit a1 , . . . , an auch die Vektoren T (a1 ), . . . , T (an ) linear abh¨ angig sind, ergibt sich Eigenschaft (E2). Ist {b1 , . . . , bn } eine Basis von Rn , so stellt auch {T (b1 ), . . . , T (bn )} eine Basis des Rn dar (vgl. z.B. Satz I.8.24). Nach Satz 3.6 gilt ullt. Ist {b1 , . . . , bn } eine Basis des D(T (b1 ), . . . , T (bn)) = 0, so dass D1 auch (E3) erf¨ n R , so setzen wir D(T (b1 ), . . . , T (bn)) γ := . D(b1 , . . . , bn ) Wegen Satz 3.8 h¨angt der Wert von γ nicht von der speziellen Wahl der Basis ab. Ist D2 eine weitere Determinantenform, so gibt es nach Satz 3.8 eine Zahl c = 0 mit D(a1 , . . . , an ) = c · D2 (a1 , . . . , an ),
a1 , . . . , an ∈ Rn ,
und damit auch D(T (a1 ), . . . , T (an )) = c · D2 (T (a1 ), . . . , T (an )). Daraus folgt D(T (a1 ), . . . , T (an )) D2 (T (a1 ), . . . , T (an)) = , D(a1 , . . . , an ) D2 (a1 , . . . , an ) und der Satz ist bewiesen. γ=
Es sei T : Rn → Rn eine lineare Abbildung. Sind D eine Determinantenform und {b1 , . . . , bn } eine Basis des Rn , so heißt der Quotient det(T ) :=
D(T (b1 ), . . . , T (bn )) D(b1 , . . . , bn )
(3.13)
Determinante von T . Nach Satz 3.9 ist diese Definition unabh¨ angig von der speziellen Wahl der Determinantenform und der Basis, wenn T bijektiv ist. Aber auch dann, wenn T keine Bijektion ist, h¨angt der Wert von det(T ) nicht von D und b1 , . . . , bn ab. In diesem Fall sind n¨amlich T (b1 ), . . . , T (bn ) f¨ ur jede Wahl einer Basis {b1 , . . . , bn } linear abh¨angig. F¨ ur jede Determinantenform D gilt somit det(T ) = 0.
3.1 Determinantenformen
141
3.10 Satz. (Regularit¨atskriterium) F¨ ur eine lineare Abbildung T : Rn → Rn gilt: T ist bijektiv ⇐⇒ det(T ) = 0. Beweis: Es seien {b1 , . . . , bn } eine Basis des Rn und D eine beliebige Determinantenform. Es gilt det(T ) = 0 genau dann, wenn der Z¨ ahler in (3.13) von Null verschieden ist. Letzteres ist nach Satz 3.6 ¨aquivalent zur linearen Unabh¨ angigkeit der Vektoren T (b1 ), . . . , T (bn ) und somit zur Bijektivit¨at von T .
3.1.7
Der Multiplikationssatz
Das folgende wichtige Resultat besagt, dass sich Determinanten bei der Hintereinanderausf¨ uhrung (Komposition) von Abbildungen multiplikativ verhalten. 3.11 Satz. (Multiplikationssatz) (i) F¨ ur beliebige lineare Abbildungen S, T : Rn → Rn gilt det(S ◦ T ) = det(S) · det(T ). (ii) Es gilt det(idRn ) = 1. (iii) Ist T eine lineare Bijektion, so gilt det(T −1 ) =
1 . det(T )
Beweis: (i): Zun¨ achst sei T eine lineare Bijektion. Wir w¨ ahlen eine Basis {b1 , . . . , bn } n des R . Dann ist auch T (b1 ), . . . , T (bn ) eine Basis. Weil die Definition der Determinante unabh¨ angig von der Wahl der Basis ist, folgt det(S ◦ T ) =
D(S ◦ T (b1 ), . . . , S ◦ T (bn )) D(b1 , . . . , bn )
D(S ◦ T (b1 ), . . . , S ◦ T (bn )) D(T (b1 ), . . . , T (bn )) · D(T (b1 ), . . . , T (bn )) D(b1 , . . . , bn ) = det(S) · det(T ). =
Ist T nicht bijektiv, so ist auch S ◦ T nicht bijektiv, und die erste Behauptung reduziert sich auf die triviale Gleichung 0 = 0. (ii): Die Gleichung det(idRn ) = 1 ist eine direkte Konsequenz der Definition. (iii): Ist T bijektiv, so folgt nach (ii) und (i) 1 = det(T ◦ T −1 ) = det(T ) · det(T −1 ).
142
3.1.8
3 Determinanten
Die Determinante einer Matrix
Es sei {b1 , . . . , bn } eine Basis des Rn . Ist dann T : Rn → Rn eine lineare Abbildung, so gibt es Zahlen aij (i, j = 1, . . . , n) mit T (bj ) =
n
aij ·bi ,
j = 1, . . . n.
(3.14)
i=1
uhrte BasisdarDie hierdurch definierte Matrix A = (aij ) ist die in I.8.3.3 eingef¨ stellung von T bez¨ uglich {b1 , . . . , bn }. Im Fall der kanonischen Basis {e1 , . . . , en } ergibt sich die kanonische Matrix von T . Aus (3.8) und (3.14) folgt D(T (b1 ), . . . , T (bn )) = D(b1 , . . . , bn )·
sgn(π)·aπ(1)1 · . . . · aπ(n)n
π∈Πn
und somit det(T ) =
sgn(π)·aπ(1)1 · . . . · aπ(n)n .
π∈Πn
Es sei A = (aij ) eine n × n-Matrix. Dann heißt det(A) :=
sgn(π) · aπ(1)1 · . . . · aπ(n)n
(3.15)
π∈Πn
Determinante von A. Man nennt det(A) auch die Determinante der Spaltenvektoren a1 , . . . ,an von A und schreibt det(a1 , . . . ,an ) := det(A). Die oben hergeleitete Vorschrift zur Berechnung von Determinanten linearer Abbildungen wollen wir nochmals festhalten: 3.12 Satz. (Berechnung von Determinanten) Die Determinante einer linearen Abbildung T ergibt sich als Determinante der Basisdarstellung A von T bez¨ uglich einer beliebigen Basis {b1 , . . . , bn } des Rn . Eine n × n-Matrix A ist kanonische Matrix der linearen Abbildung x → Ax (vgl. I.8.3.3 und I.8.7.3 (iv)). Nach Satz 3.12 ist also die Determinante der Matrix A auch die Determinante der linearen Abbildung A. Und so sollte es ja auch sein!
3.1.9
Eigenschaften der Determinante
Der folgende Satz fasst die wichtigsten Eigenschaften der Determinanten von Matrizen zusammen.
3.1 Determinantenformen
143
3.13 Satz. (Eigenschaften von Determinanten) Es seien A und B n × n-Matrizen. Dann gilt: (i) det(A) = det(AT ). (ii) Vertauscht man in A zwei Spalten (bzw. Zeilen), so ¨ andert die Determinante ihr Vorzeichen. (iii) Addiert man zu einer Spalte (bzw. Zeile) eine Linearkombination der anderen Spalten (bzw. Zeilen), so bleibt die Determinante unver¨ andert. (iv) Die Determinante ist linear in jeder Spalte (bzw. Zeile). (v) det(A) = 0 ⇐⇒ die Spalten (bzw. Zeilen) von A sind linear abh¨ angig. (vi) det(A·B) = det(A)·det(B). (vii) Ist A regul¨ar, so gilt det(A−1 ) =
1 . det(A)
Beweis: Wir beweisen zun¨achst (i). Es sei A = (aij ). Ist π ∈ Πn , so gilt aπ(1)1 · . . . · aπ(n)n = a1π−1 (1) · . . . · anπ−1 (n) , da jeder Faktor auf beiden Seiten genau einmal auftritt und die Multiplikation kommutativ ist. Nach Satz 3.5 gilt sgn(π) = sgn(π −1 ), und wir erhalten det(A) = sgn(π−1 )·a1π−1 (1) · . . . · anπ−1 (n) . π∈Πn
Weil aber mit π auch π−1 die Menge Πn durchl¨auft (die Zuordnung π → π −1 ist eine Bijektion der Menge Πn aller Permutationen), steht auf der rechten Seite die Determinante von AT . Damit ist (i) bewiesen. Mit Hilfe dieser Beziehung entspricht jeder Aussage u ¨ ber Spalten eine solche u ¨ ber Zeilen. Die anderen Behauptungen folgen jetzt aus den bereits bekannten Eigenschaften der Determinante und der Tatsache, dass die Determinante einer Matrix als Determinante einer linearen Abbildung interpretiert werden kann. Beispielsweise ergibt sich die wichtige Gleichung (vi) aus dem Multiplikationssatz 3.11 (i) und dem Sachverhalt, dass die Matrizenmultiplikation der Hintereinanderausf¨ uhrung linearer Abbildungen entspricht (Satz I.8.63).
3.1.10
Unterdeterminanten
Manchmal ist eine Verallgemeinerung von Satz 3.13 (v) hilfreich. Wir betrachten hierzu eine (im Allgemeinen nicht quadratische) Matrix A mit m Zeilen und n Spalten. Ist 1 ≤ k ≤ min{m, n} und w¨ahlt man k Spalten und k Zeilen von A,
144
3 Determinanten
so bilden die in diesen ausgew¨ahlten Spalten und Zeilen stehenden Elemente von A eine k × k-Matrix, die auch k-reihige Untermatrix von A genannt wird. Die Determinante dieser Matrix heißt auch k-reihige Unterdeterminante von A. 3.14 Beispiel. Die 2 × 3-Matrix
A=
4 1 8 2 0 5
besitzt die 2-reihigen Unterdeterminanten 4 1 4 8 det = 4 · 0 − 2 · 1 = −2, det = 4·5−2·8 = 4 2 0 2 5
und
1 8 det 0 5
= 1 · 5 − 0 · 8 = 5.
3.15 Satz. (Rangbestimmung mittels Determinanten) Der Rang einer von der Nullmatrix verschiedenen Matrix A ist die gr¨ oßte Zahl r ∈ N, f¨ ur die es eine von 0 verschiedene r-reihige Unterdeterminante von A gibt. Beweis: Die m × n-Matrix A besitze den Rang s > 0. Dann gibt es s linear unabh¨ angige Spaltenvektoren von A, die eine m × s-Matrix B mit dem Rang s bilden. Wegen Rang(B) = Rang(B T ) existieren in B s linear unabh¨ angige Zeilen(vektoren). Diese bestimmen eine quadratische Untermatrix C von B, die ebenfalls den Rang s besitzt. Aus Satz 3.13 (v) folgt det(C) = 0 und damit die Ungleichung r ≥ s. Zum Beweis der umgekehrten Ungleichung w¨ahlen wir eine r-reihige Unterdeterminante von A, die nicht gleich 0 ist. Es bezeichne D die zugeh¨orige r × r-Matrix. Wiederum wegen Satz 3.13 (v) sind die Spaltenvektoren von D linear unabh¨ angig. Damit besitzt aber auch A mindestens r linear unabh¨angige Spaltenvektoren. Es folgt r ≤ s, und der Satz ist bewiesen.
3.1.11
Berechnung der Determinante einer 3 × 3-Matrix
F¨ ur eine 3 × 3-Matrix ⎛ a11 a12 det ⎝a21 a22 a31 a32
A = (aij ) gilt definitionsgem¨ aß ⎞ a13 a23 ⎠ = a11 a22 a33 + a12 a23 a31 + a13 a21 a32 a33
(3.16)
− a13 a22 a31 − a11 a23 a32 − a12 a21 a33 . Diese auf den ersten Blick un¨ ubersichtliche Formel kann man sich leicht nach dem sog. Schema von Sarrus1 merken. Hierbei werden rechts neben die Matrix A noch 1
Pierre Fr´ed´eric Sarrus (1798–1861), Professor in Straßburg. Seine wichtigste Arbeit tr¨ agt den Titel M´ethode pour trouver des conditions d’integralit´e d’une ´equation differentielle (1847).
3.1 Determinantenformen
145
einmal deren erste und zweite Spalte gesetzt. In der entstehenden 3 × 5-Matrix ergibt sich die Determinante von A als Summe der Produkte der Eintr¨ age in den von links oben nach rechts unten verlaufenden Schr¨ aglinien, vermindert um die Summe der Produkte der Elemente in den von rechts oben nach links unten verlaufenden Diagonalen (Bild 3.4). Es sei jedoch ausdr¨ ucklich darauf hingewiesen, dass eine analoge Regel f¨ ur n × n-Matrizen mit n ≥ 4 nicht gilt!
a11 + a21
a12 + a22
a13 + a23
a31
a32
a33
a11
a12
a21
a22
a31
a32
3.16 Beispiel. Die Matrix
Bild 3.4: Schema von Sarrus zur Berechnung der Determinante einer 3× 3-Matrix
⎛
⎞ 3 2 5 A = ⎝1 0 6⎠ 2 4 7
besitzt die Determinante det(A) = 3·0·7 + 2·6·2 + 5·1·4 − 5·0·2 − 3·6·4 − 2·1·7 = −42.
3.1.12
Dreiecksmatrizen
Eine n × n-Matrix A = (aij ) heißt obere Dreiecksmatrix , wenn alle Elemente unterhalb der Hauptdiagonalen a11 , a22 , . . . , ann verschwinden, wenn also aij = 0 f¨ ur j < i gilt. Eine obere Dreiecksmatrix heißt normiert, wenn jedes ihrer Diagonalelemente gleich 1 ist. Die Matrix A heißt (normierte) untere Dreiecksmatrix, wenn AT eine (normierte) obere Dreiecksmatrix ist. 3.17 Beispiel. Die Matrizen ⎛ 2 ⎜0 A=⎜ ⎝0 0
⎞ 0 −4 5 3 1 0⎟ ⎟, 0 0 7⎠ 0 0 2
⎛ 1 ⎜3 B=⎜ ⎝0 8
0 1 5 0
0 0 1 2
⎞ 0 0⎟ ⎟ 0⎠ 1
(3.17)
146
3 Determinanten
sind eine (nicht normierte) obere Dreiecksmatrix bzw. eine normierte untere Dreiecksmatrix. Ist A = (aij )1≤i,j≤n eine obere (bzw. untere) Dreiecksmatrix, so liefert nur die Identit¨at π = id einen Beitrag zur Summe (3.15), und es folgt det(A) = a11 · . . . · ann . Die Matrizen A und B in (3.17) besitzen somit die Determinanten det(A) = 0 bzw. det(B) = 1. Mit Hilfe des Gaußschen Algorithmus’ kann jede Matrix in eine obere (bzw. untere) Dreiecksmatrix u uhrt werden. Die Normierung zur Erzeugung einer ¨berf¨ f¨ uhrenden 1“ kann dabei unterbleiben. Wird keine Zeilenvertauschung vorge” nommen, so bleibt die Determinante nach Satz 3.13 in jedem Schritt unver¨ andert. Vertauscht man zwei Zeilen, so ¨andert sich das Vorzeichen. Insgesamt erh¨ alt man damit ein sehr effizientes Verfahren zur Berechnung von Determinanten. 3.18 Beispiel. Unter Verwendung des Gaußschen Algorithmus’ ergibt sich die Determinante der Matrix ⎞ ⎛ 0 3 6 3 ⎜ 2 1 −2 2⎟ ⎟ A=⎜ ⎝ 1 2 1 4⎠ −2 1 2 1 zu ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 2 1 −2 2 2 1 −2 2 ⎜ 0 3 6 3⎟ ⎜ 6 3⎟ ⎟ = − det ⎜0 3 ⎟ det(A) = − det ⎜ ⎝ 1 2 1 4⎠ ⎝0 3/2 2 3⎠ −2 1 2 1 0 2 0 3 ⎞ ⎛ ⎛ ⎞ 2 1 −2 2 2 1 −2 2 ⎜0 3 6 ⎜0 3 6 3 ⎟ 3 ⎟ ⎟ ⎜ ⎟ = − det ⎜ ⎝0 0 −1 3/2⎠ = − det ⎝0 0 −1 3/2⎠ 0 0 0 −5 0 0 −4 1 = −(2·3·(−1)·(−5)) = −30. Hierbei wurden folgende Schritte des Gaußschen Algorithmus’ durchgef¨ uhrt: 1. Vertauschung der ersten beiden Zeilen 2. Multiplikation der ersten Zeile mit −1/2 und Addition zur dritten Zeile sowie Addition der ersten zur vierten Zeile 3. Multiplikation der zweiten Zeile mit −1/2 und Addtion zur dritten Zeile sowie Multiplikation der zweiten Zeile mit −2/3 und Addition zu Zeile 4 4. Multiplikation der dritten Zeile mit −4 und Addition zur vierten Zeile
3.1 Determinantenformen
3.1.13
147
Der Entwicklungssatz von Laplace
Im Folgenden wird ein rekursives Verfahren vorgestellt, welches die Berechnung der Determinante einer n × n-Matrix A auf die Berechnung der Determinanten von gewissen (n − 1) × (n − 1)-Matrizen zur¨ uckf¨ uhrt. Diese Matrizen entstehen aus A durch Streichen von Zeilen und Spalten. Genauer bezeichne Aij diejenige (n − 1) × (n − 1)-Matrix, die aus A durch Streichen der i-ten Zeile und der j-ten Spalte hervorgeht. F¨ ur die Matrix ⎛ ⎞ 5 3 0 4 ⎜−2 9 1 5⎟ ⎟ A=⎜ ⎝ 3 6 6 −1⎠ 4 0 −2 −6 gilt also etwa ⎛
A12
⎞ −2 1 5 =⎝ 3 6 −1⎠ , 4 −2 −6
⎛
A33
⎞ 5 3 4 = ⎝−2 9 5 ⎠ . 4 0 −6
Um die Anzahl der Zeilen der beteiligten Matrizen zu verdeutlichen, werden wir die Determinante einer n × n-Matrix A gelegentlich auch mit detn (A) bezeichnen. 3.19 Satz. (Entwicklungssatz von Laplace) ur jedes i ∈ {1, . . . , n}: Es sei A = (aij ) eine (n × n)-Matrix. Dann gilt f¨ n (−1)i+j ·aij ·detn−1 (Aij ), detn (A) =
(3.18)
j=1
(Entwicklung von det(A) nach der i-ten Zeile). Beweis: Wir beweisen die Behauptung nur f¨ ur i = 1; der allgemeine Fall erfordert nur gr¨ oßeren Schreibaufwand. Zerlegt man die Menge Πn aller Permutationen π = (π(1), . . . , π(n)) nach dem Wert π(1) ∈ {1, . . . , n}, so folgt det(A) = sgn(π)·a1π(1) · . . . · anπ(n) =
π∈Πn n
a1j ·sgn((j, π(2), . . . , π(n)))·a2π(2) · . . . · anπ(n) .
j=1 π∈Πn π(1)=j
Ist π(1) = j, so kann (π(2), . . . , π(n)) als Element der mit Πn,j bezeichneten Menge aller Bijektionen von {2, . . . , n} auf {1, . . . , n} \ {j} aufgefasst werden. Das Signum einer solchen Bijektion wird analog zum Signum einer Permutation aus Πn−1 definiert, indem man π(2), . . . , π(n) durch m Vertauschungen der Gr¨ oße nach ordnet und das Signum
148
3 Determinanten
als (−1)m definiert. Es sind j − 1 Transpositionen erforderlich, um die Permutation (j, π(2), . . . , π(n)) in die Permutation σ := (π(2), . . . , j, . . . , π(n)) mit der Eigenschaft σ(j) = j zu u uhren. Offenbar gilt sgn(σ) = sgn((π(2), . . . , π(n))), und es folgt ¨berf¨ det(A) =
n j=1
a1j
(−1)1+j sgn(π)·a2π(2) · . . . · anπ(n) ,
π∈Πn,j
so dass sich (3.18) f¨ ur i = 1 aus der Definition der Matrizen A1j ergibt.
Es empfiehlt sich, Formel (3.18) f¨ ur schwach besetzte Zeilen anzuwenden, d.h. f¨ ur Zeilen, die m¨oglichst viele Nullen enthalten. Derartige Zeilen k¨ onnen grunds¨atzlich durch vorhergehende geeignete elementare Zeilenoperationen erzeugt werden. Man beachte auch, dass die Determinante von A prinzipiell durch mehrfaches rekursives Anwenden der Entwicklungsformel ermittelt werden kann. In jedem Rekursionsschritt wird dabei die Zeilenzahl der beteiligten Matrizen verringert. Nat¨ urlich kann det(A) auch gem¨aß der Formel detn (A) =
n (−1)i+j ·aji ·detn−1 (Aji )
(3.19)
j=1
nach der i-ten Spalte entwickelt werden. Diese Darstellung folgt unmittelbar aus (3.18) und der Gleichung det(A) = det(AT ). 3.20 Beispiel. Zur Bestimmung der Determinante der ⎛ 2 ⎜4 A=⎜ ⎝5 6
Matrix 8 3 0 3
0 1 2 2
⎞ 1 3⎟ ⎟ 0⎠ 1
empfiehlt sich eine Entwicklung nach der dritten Zeile, da diese 2 Nullen enth¨ alt. Nach (3.18) f¨ ur i = 3 gilt ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 8 0 1 2 8 1 det(A) = 5·(−1)3+1 det ⎝3 1 3⎠ + 2·(−1)3+3 det ⎝4 3 3⎠ 3 2 1 6 3 1 = 5 · (−37) + 2 · 94 = 3. Dabei k¨onnen die Determinanten der beiden 3×3-Matrizen z.B. nach dem Schema von Sarrus (vgl. Bild 3.4) berechnet werden.
3.2
Lineare Transformation von Integralen
Die Bedeutung der Determinanten f¨ ur die Integration (und die gesamte Analysis) resultiert aus dem folgenden Satz und dessen Verallgemeinerungen.
3.2 Lineare Transformation von Integralen
3.2.1
149
Der Transformationssatz
3.21 Satz. (Lineare Transformation mehrdimensionaler Integrale) Es seien M ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge sowie T : Rn → Rn eine lineare Abbildung. Dann ist die Menge T (M ) Jordan-messbar. Eine beschr¨ankte Funktion f : T (M ) → R ist genau dann u ¨ber T (M ) integrierbar, wenn die Funktion | det(T )| · (f ◦ T ) ¨ uber M integrierbar ist. In diesem Fall gilt f (y) dy = f (T (x)) · | det(T )| dx. (3.20) T (M )
M
F¨ ur f (y) = 1, y ∈ T (M ), ergibt sich der folgende wichtige Spezialfall. 3.22 Satz. (Lineare Transformation des Inhalts) Sind M ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge und T : Rn → Rn eine lineare Abbildung, so ist T (M ) Jordan-messbar, und es gilt |T (M )| = | det(T )| · |M |.
(3.21)
Es sei T : Rn → Rn eine lineare Abbildung, und es sei ai := T (ei ), i = 1, . . . , n, das Bild des i-ten Einheitsvektors. Dann besitzt die kanonische Matrix von T urfel [0, 1] × . . . × [0, 1], so die Spaltenvektoren a1 , . . . ,an . Ist M der Einheitsw¨ ist T (M ) das von a1 , . . . ,an aufgespannte Parallelepiped. Damit liefern Satz 3.22 und Satz 3.12 die angestrebte Verallgemeinerung von Folgerung 3.1: 3.23 Folgerung. (Volumen eines Parallelepipeds) Das von n Vektoren a1 , . . . ,an ∈ Rn aufgespannte Parallelepiped P ist Jordanmessbar, und es gilt |P | = | det(a1 , . . . ,an )|.
3.2.2
Beweis von Satz 3.21 Teil (1): Der Fall det(T ) = 0*
Wir gliedern den Beweis von Satz 3.21 in mehrere Teile und behandeln zun¨ achst den Fall, dass T nicht bijektiv ist. Nach Satz 3.10 ist dann det(T ) = 0, und wir zeigen jetzt, dass T (M ) eine Nullmenge ist. Wegen Rang(T ) ≤ n − 1 gibt es einen Vektor a = (a1 , . . . , an ) = 0 aus dem orthogonalen Komplement von Bild(T ). Somit ist Bild(T ) Teilmenge der Hyperebene {y : y , a = 0}. Aufgrund der Stetigkeit von T ist T (M ) eine beschr¨ ankte Menge, also in einem gewissen Quader Q enthalten. Gilt ai = 0 (mindestens eine Komponente von a muss diese Eigenschaft besitzen), so folgt mit der Abk¨ urzung bj := aj /ai die Teilmengenbeziehung % $ T (M ) ⊂ B := (y1 , . . . , yn ) ∈ Q : yi = bj y j . j =i
Ist i = n, so folgt aus Satz 2.37 und der Integrierbarkeit der Funktion (y1 , . . . , yn−1 ) → n−1 j=1 bj yj (Satz 2.30), dass B (und damit auch T (M )) eine Nullmenge ist. Ist i = n (und damit n ≥ 2), so betrachten wir die Transposition π := [i, n] und die Menge Bπ := {(y1 , . . . , yn ) : (yπ(1) , . . . , yπ(n) ) ∈ B}.
150
3 Determinanten
Nach Satz 2.10 (ii) ist Bπ Jordan-messbar, und es gilt |Bπ | = |B|. Da wir gerade gesehen haben, dass Bπ eine Nullmenge ist, sind somit auch B und T (M ) Nullmengen. Nach Folgerung 2.22 ist f u ¨ber T (M ) integrierbar, wobei das Integral wegen |T (M )| = 0 verschwindet. Formel (3.20) gilt also im Fall det(T ) = 0.
3.2.3
Lipschitzstetigkeit von Funktionen
Die folgende Begriffsbildung ergibt sich in nat¨ urlicher Weise im Zusammenhang mit dem Beweis des Transformationssatzes; sie spielt jedoch auch in anderen Bereichen der Analysis eine große Rolle. Es seien M ⊂ Rn und k ∈ N. Eine Funktion f : M → Rk heißt Lipschitzstetig2 , wenn es eine Zahl L ≥ 0 mit f (x) − f (y)2 ≤ L·x − y2 ,
x, y ∈ M,
(3.22)
gibt. Die Zahl L heißt dann Lipschitzkonstante von f . Bei einer Lipschitzstetigen Funktion kann somit der Abstand zweier Funktionswerte f (x) und f (y ) stets durch ein bestimmtes Vielfaches des Abstandes von x und y nach oben abgesch¨atzt werden. Eine Funktion ist Lipschitzstetig, wenn jede ihrer Komponenten diese Eigenschaft besitzt. Man beachte, dass jede Lipschitzstetige Funktion gleichm¨ aßig stetig ist. Nach Lemma 1.66 ist jede lineare Funktion Lipschitzstetig. 3.24 Satz. (Lipschitzstetigkeit differenzierbarer Funktionen) Es seien U ⊂ Rn offen und f : U → R differenzierbar. Dann gilt: (i) Ist U konvex (d.h. U enth¨alt mit je zwei Punkten auch stets deren Verbindungsstrecke) und sind die partiellen Ableitungen von f beschr¨ ankt, so ist f Lipschitzstetig. (ii) Sind die partiellen Ableitungen von f stetig auf einer beschr¨ ankten, abgeschlossenen Menge W ⊂ U , so ist f Lipschitzstetig auf W . Beweis: Die Aussage (i) folgt direkt aus dem Mittelwertsatz (Folgerung 1.48). Unter den Voraussetzungen von (ii) folgt aus Satz 1.18 (i) die Beschr¨ anktheit der partiellen Ableitungen auf W . Die Behauptung kann jetzt mittels (i) hergeleitet werden. Auf die Details k¨ onnen wir hier verzichten.
3.25 Lemma. (Lipschitzstetige Bilder von Nullmengen) Sind M ⊂ Rn eine beschr¨ankte Menge und f : M → Rn eine Lipschitzstetige Funktion, so gibt es eine Zahl c > 0 mit J(f (M )) ≤ c · J(M ). Insbesondere gilt: Ist M eine Nullmenge, so ist auch f (M ) eine Nullmenge. 2
Rudolf Otto Sigismund Lipschitz (1832–1903), Gymnasiallehrer in K¨ onigsberg (ab 1853), Prof. in Breslau (ab 1862) und Bonn (ab 1864). Hauptarbeitsgebiete: Zahlentheorie, Differentialgleichungen, Riemannsche Mannigfaltigkeiten.
3.2 Lineare Transformation von Integralen
151
Beweis: Es sei Q ⊃ M ein W¨ urfel, also ein Quader mit gleichen Seitenl¨ angen, und es sei Z eine nur aus W¨ urfeln mit den Seitenl¨angen a > 0 bestehende Partition von Q. Ist A ∈ Z mit A ∩ M = ∅, so folgt aus der Lipschitzstetigkeit (3.22), dass √ f (A ∩ M ) Teilmenge eines W¨ urfels A∗ mit der (von A unabh¨ angigen) Seitenl¨ ange L n · a ist. Sind y2 = f (x2 ), und n¨ amlich y1 , y2 ∈ f (A ∩ M ), so existieren x1 , x2 ∈ A ∩ M mit y1 = f (x1 ), es folgt √ y1 − y2 2 = f (x1 ) − f (x2 )2 ≤ L·x1 − x2 2 ≤ L · a · n. Nach Satz 2.16 (ii) ergibt sich somit J(f (A ∩ M )) ≤
A∈Z A∩M =∅
√ |A∗ | ≤ (L n)n · |A|. A∈Z A∩M =∅
Da nach Satz 2.14 die letzte Summe f¨ ur a → 0 gegen J(M ) konvergiert, ist das Lemma bewiesen.
3.26 Lemma. Es seien V ⊂ Rn und W ⊂ Rm offene Mengen sowie f : V → W eine stetige und bijektive Abbildung. Ist dann A ⊂ V , so gilt f (A)◦ ⊂ f (A◦ ). Beweis: Es sei y ∈ f (A)◦ . Dann gibt es ein ε > 0 mit B ◦ (y , ε) ⊂ f (A). Daraus folgt f −1 (B ◦ (y , ε)) ⊂ A. Nach Satz 1.21 ist f −1 (B ◦ (y , ε)) eine offene Menge. Diese Menge enth¨ alt den Punkt x := f −1 (y ). Es gibt also ein ε1 > 0 mit B(x, ε1 ) ⊂ f −1 (B ◦ (y , ε)) ⊂ A. Damit ist x ∈ A◦ und y = f (x) ∈ f (A◦ ). Daraus folgt die Behauptung des Lemmas.
3.2.4
Beweis von Satz 3.21 Teil (2): T (M ) ist Jordan-messbar*
Wir beweisen jetzt mit Hilfe des Kriteriums aus Satz 2.15, dass die Menge T (M ) unter den Voraussetzungen von Satz 3.21 Jordan-messbar ist. Nach dem ersten Beweisteil kann dabei die Bijektivit¨at von T vorausgesetzt werden. Aufgrund der Stetigkeit von T −1 ist die Menge T (M ) nach Satz 1.21 abgeschlossen. Weil M beschr¨ ankt ist, ist T (M ) außerdem beschr¨ ankt. Aus T (M ) ⊂ T (M ) und der Abgeschlossenheit von T (M ) folgt (zum Beispiel mit Satz 1.9 (ii)) die Inklusion T (M ) ⊂ T (M ). Ferner ist T (M ◦ ) nach Satz 1.21 offen, was T (M )◦ ⊃ T (M ◦ )◦ = T (M ◦ ) nach sich zieht. Damit ergibt sich ∂(T (M )) = T (M ) \ T (M )◦ ⊂ T (M ) \ T (M ◦ ) = T (M \ M ◦ ) = T (∂M ), wobei wir beim vorletzten Gleichheitszeichen die Bijektivit¨ at von T benutzt haben. Nach Voraussetzung und dem bereits erw¨ahnten Kriterium ist ∂M = M \ M eine Nullmenge. Lemma 3.25 besagt, dass dann auch T (∂M ) eine Nullmenge ist. Also ist ∂(T (M )) eine Nullmenge, was zu zeigen war.
152
3.2.5
3 Determinanten
Beweis von Satz 3.21 Teil (3): Ru ¨ ckfu ¨ hrung auf (3.21)*
Im n¨ achsten Beweisschritt werden wir Behauptung (3.20) auf den in Satz 3.22 beschriebenen Spezialfall zur¨ uckf¨ uhren und betrachten hierzu eine Partition Z von M . Wir zeigen zun¨ achst, dass dann ZT := {T (A) : A ∈ Z} eine Partition von T (M ) ist. Hierbei werde vorausgesetzt, dass T : Rn → Rn eine lineare und bijektive Abbildung ist. Zun¨achst ergibt die Vereinigung aller Mengen aus ZT die Menge T (M ). Aus Teil (2) des Beweises folgt ferner, dass nicht nur T (M ), sondern auch jede Menge aus ZT Jordan-messbar ist. Sind schließlich A und B zwei verschiedene Mengen aus Z, so folgt aus Lemma 3.26 und der Injektivit¨ at von T , dass T (A)◦ ∩ T (B)◦ ⊂ T (A◦ ) ∩ T (B ◦ ) = ∅. W¨ are Satz 3.22 bereits bewiesen, so w¨ urde sich |A|·| det(T )| · inf f (T (A)) U (| det(T )|f ◦ T, Z) = A∈Z
=
|B| · inf f (B) = U (f, ZT )
B∈ZT
und eine analoge Beziehung f¨ ur die entsprechende Obersumme ergeben. Ist L eine Lipschitzkonstante von T , so gilt offenbar ZT ≤ L · Z. Mit Z → 0 gilt dann also auch ZT → 0, und wir erhielten die allgemeine Behauptung des Satzes 3.21.
3.2.6
Beweis von Satz 3.21 Teil (4): (3.21) fu ¨ r Bijektionen*
Mit Blick auf die bereits bewiesenen Aussagen gen¨ ugt es jetzt, Gleichung (3.21) f¨ ur den Fall einer linearen und bijektiven Abbildung T : Rn → Rn zu beweisen. Dazu nehmen wir zun¨ achst an, diese Gleichung w¨are bereits f¨ ur den Fall eines Quaders bewiesen. Wie in Teil (3) ergibt sich dann, dass (3.21) auch f¨ ur Quadersummen richtig ist. Ist jetzt M eine beliebige Jordan-messbare Menge, so gibt es nach Satz 2.9 Quadersummen Ak , k ∈ N, mit den Eigenschaften M ⊂ Ak und |Ak \ M | = |Ak | − |M | → 0
f¨ ur k → ∞.
Hierbei wurde die Additivit¨at des Inhalts benutzt. Mit Hilfe von Lemma 3.25 folgt jetzt |T (Ak )| − |T (M )| = |T (Ak ) \ T (M )| = |T (Ak \ M )| ≤ c · |Ak \ M | → 0 und somit |T (Ak )| → |T (M )|. Damit erg¨abe sich (3.21) auch im allgemeinen Fall.
3.2.7
Beweis von Satz 3.21 Teil (5): (3.21) gilt fu ¨r Quader*
Im entscheidenden Beweisteil zeigen wir jetzt die G¨ ultigkeit von (3.21) im Fall eines Quaders M = [a1 , b1 ] × . . . × [an , bn ] und einer linearen und bijektiven Abbildung T : Rn → Rn . Da der Fall n = 1 unmittelbar klar ist, k¨ onnen wir n ≥ 2 voraussetzen. Wir
3.2 Lineare Transformation von Integralen
153
benutzen die in 2.4.3 eingef¨ uhrte Schreibweise mit p = n − 1 und q = 1 und nehmen zun¨achst an, dass T die spezielle Form T (x, t) = (x, g(x) + at),
x = (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ Rn−1 , t ∈ R,
besitzt. Hierbei ist a ∈ R mit a = 0, und g : Rn−1 → R ist eine lineare Abbildung, also von der Form g(x) = c1 x1 +. . .+cn−1 xn−1 mit gewissen c1 , . . . , cn−1 ∈ R. Die kanonische Matrix A von T besitzt folglich die Gestalt ⎛ ⎞ 1 0 ··· 0 0 ⎜0 1 0 ··· 0⎟ ⎜ ⎟ ⎜ .. . .. ⎟ . . . .. .. .. A=⎜. .⎟ ⎜ ⎟ ⎝0 0 ··· 1 0⎠ c1 c2 · · · cn−1 a Aus Satz 3.12 folgt also det(A) = a. Wir setzen I := [a1 , b1 ] × . . . × [an−1 , bn−1 ] und nehmen z.B. a < 0 an (der Fall a > 0 verl¨auft analog). Dann ist T (M ) = {(x, s) : x ∈ I, g(x) + abn ≤ s ≤ g(x) + aan }, und aus dem Satz von Fubini folgt g(x)+aan |T (M )| = ds dx = a(an − bn ) · |I| = −a|M | = | det(T )|·|M |. I
g( x)+abn
Die allgemeine Behauptung beweisen wir jetzt durch Induktion u ¨ ber n. Dabei besagt die Induktionsannahme, dass die Gleichung |g(M )| = | det(g)|·|M | f¨ ur jede Jordan-messbare Menge M ⊂ Rn−1 und jede bijektive lineare Abbildung g : Rn−1 → Rn−1 richtig ist. Es sei nun T : Rn → Rn eine (allgemeine) lineare und bijektive Abbildung mit kanonischer Matrix A = (aij ). Dann muss wenigstens eine der vor Satz 3.19 definierten ar sein (anderenfalls w¨ are nach diesem (n − 1) × (n − 1)-Matrizen Ani , i = 1, . . . , n, regul¨ Satz det(A) = det(T ) = 0). Der Einfachheit halber werde angenommen, dass Ann regul¨ ar ist. (Der weitere Verlauf des Beweises zeigt, dass diese Annahme keine Einschr¨ ankung der Allgemeinheit darstellt.) Wir schreiben T = (T1 , . . . , Tn ) und setzen h(x, t) := (T1 (x, t), . . . , Tn−1(x, t), t),
x = (x1 , . . . , xn−1 ) ∈ Rn−1 , t ∈ R.
Dann ist h : Rn → Rn eine lineare Abbildung, deren erste n − 1 Komponenten mit denen von T u ur jedes t ∈ [an , bn ] definieren wir eine Abbildung ht : Rn−1 → ¨ bereinstimmen. F¨ n−1 verm¨ oge R ht (x) := (T1 (x, t), . . . , Tn−1 (x, t)), x ∈ Rn−1 . Aus dieser Definition ergibt sich ht (x) = h0 (x) + ta mit a := (a1n , . . . , an−1,n ). Die Abbildung h0 ist linear, und es gilt detn (h) = detn−1 (h0 ) = detn−1 (Ann ) = 0. Die erste Gleichung ergibt sich hier, weil die ⎛ a11 ··· ⎜ .. .. ⎜ . . ⎜ ⎝an−1,1 · · · 0 ···
kanonische Matrix ⎞ ··· a1n .. .. ⎟ . . ⎟ ⎟ · · · an−1,n ⎠ 0 1
(3.23)
154
3 Determinanten
von h in einfacher Weise aus der kanonischen Matrix Ann von h0 hervorgeht. Nach Satz 3.10 existiert die Umkehrabbildung von h, und wir setzen G(x, t) := (x, Tn (h−1 (x, t))). Nach Definition von h(x, t) gilt dann G(h(x, t)) = T (x, t),
(3.24)
also G ◦ h = T , so dass aus dem Multiplikationssatz 3.11 f¨ ur Determinanten det(T ) = det(G) · det(h)
(3.25)
folgt. Insbesondere ist det(G) = 0. Da die lineare Abbildung G die ersten n−1 Argumente unver¨ andert l¨ asst und somit von der zu Beginn des Beweisteiles angenommenen speziellen Gestalt ist, folgt wie oben festgestellt |T (M )| = |G(h(M ))| = | det(G)|·|h(M )|.
(3.26)
Nun ist h(M ) = {(T1 (x, t), . . . , Tn−1 (x, t), t) : x ∈ I, t ∈ [an , bn]} = {(y , t) : y ∈ ht (I), t ∈ [an , bn ]}, so dass der Satz von Fubini und die Induktionsvoraussetzung die Gleichungskette bn bn bn dy dt = |ht (I)|n−1 dt = | detn−1 (h0 )|·|I|n−1 dt |h(M )| = an
ht (I)
= | detn (h)|
bn
an
an
|I|n−1 dt = | det(h)|·|M |
an
liefern. Dabei wurde beim vorletzten Gleichheitszeichen Beziehung (3.23) benutzt. Setzen wir dieses Ergebnis in (3.26) ein, so folgt unter Beachtung von (3.25) |T (M )| = | det(T )|·|M |. Damit ist der Induktionsbeweis abgeschlossen und Satz 3.21 vollst¨ andig bewiesen.
3.2.8
Diagonalmatrizen
Eine n × n-Matrix A = (aij ) mit der Eigenschaft aij = 0 f¨ ur alle i, j ∈ {1, . . . , n} mit i = j heißt Diagonalmatrix . Man schreibt dann diag(a11 , . . . , ann ) := A. In diesem Sinn ist also ⎛ ⎞ −1 0 0 diag(−1, 5, 8) = ⎝ 0 5 0⎠ . 0 0 8 Jede Diagonalmatrix ist zugleich eine obere und eine untere Dreiecksmatrix. Insbesondere ist die Determinante einer Diagonalmatrix diag(a11 , . . . , ann ) das Produkt der Diagonalelemente a11 , . . . , ann . Aus den S¨ atzen 3.22 und 3.12 folgt:
3.2 Lineare Transformation von Integralen
155
3.27 Folgerung. Es seien {b1 , . . . , bn } eine Basis des Rn und λ1 , . . . , λn reelle Zahlen. Die lineare Abbildung T : Rn → Rn sei durch T (bi ) = λi · bi , i = 1, . . . , n, festgelegt. Dann gilt f¨ ur jede Jordan-messbare Menge M ⊂ Rn : |T (M )| = |λ1 | · . . . · |λn |·|M |. 3.28 Beispiel. (Volumen eines Ellipsoids) Ein Ellipsoid mit den Halbachsenl¨ angen a1 , . . . , an > 0 und Mittelpunkt 0 ist definiert als die Menge % $ E := y = (y1 , . . . , yn ) : y12 /a21 + . . . + yn2 /a2n ≤ 1 . Bild 3.5 illustriert den Spezialfall n = 2. Der Rand dieser Menge ist die in Beispiel 1.40 diskutierte Ellipse. Bezeichnen A die Diagonalmatrix diag(a1 , . . . , an ) und B := B(0, 1) die Einheitskugel im Rn , so gilt A(B) = {Ax : x ∈ B} = {y : A−1y ∈ B} = E. ur das Volumen von B, so Schreiben wir wie fr¨ uher (vgl. 2.4.6) vn = |B(0, 1)| f¨ ergibt sich aus Folgerung 3.27 (mit M = B und T = A) |E| = a1 · . . . · an · vn als Volumen von E. Wegen v3 = 4π/3 (vgl. (2.25)) gilt dann etwa f¨ ur n = 3 4 |E| = π · a1 a2 a3 . 3 y2 a2 a1
y1
Bild 3.5: Ellipse mit den Halbachsenl¨ angen a1 und a2
156
3.2.9
3 Determinanten
Orthogonale Abbildungen
Jede lineare Abbildung T mit der Eigenschaft det(T ) ∈ {−1, 1} ist in dem Sinn volumentreu, dass f¨ ur jede Jordan-messbare Menge die Identit¨ at |T (M )| = |M | besteht; die Abbildung T l¨asst also den Inhalt invariant. Wir befassen uns jetzt mit einem wichtigen Spezialfall volumentreuer Abbildungen. (i) Eine lineare Abbildung T : Rn → Rn heißt orthogonal , wenn
T (x), T (y ) = x, y ,
x, y ∈ Rn ,
(3.27)
(ii) Eine lineare Abbildung T : Rn → Rn heißt isometrisch , wenn T (x)2 = x2 ,
x ∈ Rn .
(3.28)
Setzt man in (3.27) speziell y = x, so folgt (3.28). Jede orthogonale Abbildung ist also insbesondere isometrisch. Der folgende Satz besagt, dass auch die Umkehrung gilt. Weil eine orthogonale Abbildung somit sowohl die L¨ ange von Vektoren als auch die Winkel zwischen Vektoren unver¨ andert l¨ asst, nennt man sie auch eine Kongruenzabbildung . 3.29 Satz. (Charakterisierung orthogonaler Abbildungen) Eine lineare Abbildung ist genau dann orthogonal, wenn sie isometrisch ist. Beweis: Der Beweis beruht auf der Gleichung 4 x, y = x + y22 − x − y 22 ,
x, y ∈ Rn ,
(3.29)
die man unter Beachtung von x ± y 22 = x22 ± 2 x, y + y 22 durch direkte Rechnung best¨ atigt. Ist T eine isometrische Abbildung, gilt also (3.28), so folgt 4 T (x), T (y) = T (x) + T (y)22 − T (x) − T (y)22 = T (x + y)22 − T (x − y)22 = x + y22 − x − y22 = 4 x, y , was zeigt, dass T auch orthogonal ist.
3.2.10
Orthogonale Matrizen
Ist A eine n × n-Matrix mit den Spaltenvektoren a1 , . . . ,an , so ist die Gleichung AT A = En nach Definition der Matrizenmultiplikation zu
ai ,aj = δij ,
i, j ∈ {1, . . . , n},
ur das in ¨aquivalent. Dabei steht δij := 1, falls i = j, und δij = 0, sonst, f¨ I.8.4.4 eingef¨ uhrte Kroneckersymbol. Die Spaltenvektoren von A bilden also ein
3.2 Lineare Transformation von Integralen
157
Orthonormalsystem im Rn . Analog folgt, dass die Gleichung AAT = En genau dann gilt, wenn die Zeilenvektoren von A ein Orthonormalsystem im Rn sind. Das folgende Resultat ergibt sich recht leicht aus den S¨ atzen I.8.66, I.8.68 und I.6.72. 3.30 Satz. (Charakterisierung von Orthogonalit¨ at) F¨ ur jede n × n-Matrix sind die folgenden Aussagen ¨aquivalent: (i) Es gilt AT A = En . (ii) Es gilt AAT = En . (iii) Die Matrix A ist regul¨ar, und es gilt A−1 = AT . Eine n × n-Matrix A heißt orthogonal , wenn eine der (¨ aquivalenten) Aussagen (i)–(iii) von Satz 3.30 erf¨ ullt ist.
3.2.11
Orthogonale Abbildungen und Matrizen
Der folgende Satz erhellt den Zusammenhang zwischen orthogonalen Abbildungen und Matrizen. 3.31 Satz. (Orthogonale Abbildungen und orthogonale Matrizen) Es sei A die Basisdarstellung einer linearen Abbildung T : Rn → Rn bez¨ uglich n einer Orthonormalbasis {b1 , . . . , bn } im R . Dann ist T genau dann orthogonal, wenn A eine orthogonale Matrix ist. Beweis: Als Basisdarstellung von T ist die Matrix A = (aij ) durch die Gleichungen T (bj ) =
n
aij · bi ,
j = 1, . . . n,
i=1
definiert. Wir w¨ ahlen beliebige λ1 , . . . , λn , μ1 , . . . , μn ∈ R und betrachten die Vektoren x :=
n
λj · bj ,
y :=
j=1
n
μj · bj .
(3.30)
j=1
Wegen bi , bj = δij und der Linearit¨at von T folgt
T (x), T (y) =
n
λj · T (bj ),
j=1
=
=
n
λl · T (bl )
l=1
n
λj · μl · aij · akl · bi , bk
i,j,k,l=1 n
n
i,j,l=1
j,l=1
λj · μl · aij · ail =
λj · μl · cjl
(3.31)
158
3 Determinanten
mit cjl :=
n
aij ail .
(3.32)
i=1
Analog folgt
x, y =
n n
λi · μj · bi , bj =
i=1 j=1
n
λj μ j .
j=1
Nach Definition gilt AT A = (cjl ). Ist A orthogonal, so gilt AT A = En , und es folgt
T (x), T (y ) = x, y. Damit ist T orthogonal. Setzen wir umgekehrt die Orthogonalit¨ at von T voraus, so k¨onnen wir f¨ ur fest gew¨ahlte j, l ∈ {1, . . . , n} in (3.30) speziell x = bj und y = bl w¨ ahlen. Es ergibt sich δjl = bj , bl = T (bj ), T (bl ) = cjl mit cjl wie in (3.32), d.h. AT A = En . Nach Satz 3.30 (iii) ist die Matrix A orthogonal.
Ist A eine orthogonale Matrix, so liefert der Multiplikationssatz 3.11 1 = det(En ) = det(AT A) = det(AT ) det(A) = det(A)2 , d.h. | det(A)| = 1. Damit folgt aus Satz 3.22 (und den S¨ atzen 3.31 und 3.12): 3.32 Satz. (Volumentreue orthogonaler Abbildungen) Orthogonale Abbildungen sind volumentreu.
3.2.12
Drehungen und Bewegungen
Die folgende Definition verallgemeinert Begriffe aus der Elementargeometrie. (i) Eine orthogonale Abbildung T mit det(T ) = 1 heißt Drehung (oder eigentlich orthogonale Abbildung). (ii) Eine orthogonale Abbildung T mit det(T ) = −1 heißt Umlegung (oder uneigentlich orthogonale Abbildung). (iii) Eine Abbildung f : Rn → Rn heißt Bewegung , wenn sie die Komposition einer orthogonalen Abbildung und einer Translation ist, d.h. wenn es eine orthogonale Abbildung T : Rn → Rn und einen Vektor a ∈ Rn gibt, so dass f (x) = T (x) + a,
x ∈ Rn .
Aus der Volumentreue orthogonaler Abbildungen und der bereits bekannten Volumentreue von Translationen (Satz 2.10 (i)) erhalten wir unmittelbar:
3.2 Lineare Transformation von Integralen
159
3.33 Satz. (Volumentreue von Bewegungen) Bewegungen sind volumentreu. 3.34 Beispiel. (Orthogonale Abbildungen in R2 ) Es sei T : R2 → R2 eine orthogonale Abbildung. Bezeichnet a11 a12 A := a21 a22 ¨ die kanonische Matrix von T , so sind nach den vor Satz 3.30 angestellten Uberle2 gungen die Spaltenvektoren von A ein Orthonormalsystem des R ; es gelten also die Gleichungen a211 + a221 = 1,
a212 + a222 = 1,
a11 a12 + a21 a22 = 0.
(3.33)
Die erste Gleichung bedeutet, dass der Punkt (a11 , a21 ) auf dem Rand des Einheitskreises liegt und somit in der Form (a11 , a21 ) = (cos ϕ, sin ϕ) mit einem eindeutig bestimmten Winkel ϕ ∈ [0, 2π) darstellbar ist. Die u ¨ brigen Gleichungen in (3.33) besagen, dass der ebenfalls auf dem Einheitskreisrand liegende Punkt (a12 , a22 ) aus (a11 , a21 ) durch eine Viertelkreisdrehung, und zwar entweder gegen oder mit dem Uhrzeigersinn, hervorgeht. Im ersten Fall gilt (a12 , a22 ) = ur die (− sin ϕ, cos ϕ), im zweiten (a12 , a22 ) = (sin ϕ, − cos ϕ). Somit gibt es f¨ Gestalt von A nur die beiden M¨oglichkeiten cos ϕ − sin ϕ cos ϕ sin ϕ A = A1 := , A = A2 := , sin ϕ cos ϕ sin ϕ − cos ϕ mit ϕ ∈ [0, 2π). Es gilt det(A1 ) = cos2 ϕ + sin2 ϕ = 1 und analog det(A2 ) = −1. Die Matrix A1 repr¨asentiert eine Drehung mit dem Drehwinkel ϕ entgegen dem Uhrzeigersinn (Bild 3.6 links). Um die durch A2 definierte Abbildung geometrisch zu deuten, kann man die Additionstheoreme (vgl. I.6.29) ϕ ϕ ϕ ϕ cos ϕ = cos + = cos2 − sin2 , 2ϕ ϕ2 ϕ2 ϕ2 + = 2 · sin · cos sin ϕ = sin 2 2 2 2 benutzen. Hiermit folgt nach direkter Rechnung A2 · (cos(ϕ/2), sin(ϕ/2))T = (cos(ϕ/2), sin(ϕ/2))T ,
(3.34)
A2 · (sin(ϕ/2), − cos(ϕ/2)) = (− sin(ϕ/2), cos(ϕ/2)) . T
T
(3.35)
Die Abbildung A2 l¨asst also den Punkt (u0 , v0 ) := (cos(ϕ/2), sin(ϕ/2)) und folglich (wegen der Linearit¨at) jeden Punkt auf der durch (u0 , v0 ) und (0, 0) gehenden
160
3 Determinanten x2
x2 A2 x
A1 x
(u0 , v0 )
ϕ/2
x
x1
ϕ x1
x
Bild 3.6: Drehung um den Winkel ϕ (links) und Spiegelung an der Geraden x1 sin(ϕ/2) − x2 cos(ϕ/2) = 0 (rechts) Geraden invariant. Zusammen mit Gleichung (3.35) und der Linearit¨ at von A2 besagt (3.34), dass A2 eine Spiegelung an der den Koordinatenursprung enthaltenden Hyperebene mit Normale (sin(ϕ/2), − cos(ϕ/2)), d.h. eine Spiegelung an der Geraden x1 sin(ϕ/2) − x2 cos(ϕ/2) = 0 bewirkt (Bild 3.6 rechts).
3.3
Der allgemeine Transformationsatz
3.3.1
Formulierung des Transformationssatzes
Aus dem vorigen Abschnitt wissen wir, wie der Integrand eines Riemann-Integrals modifiziert werden muss, wenn man von der Integrationsvariablen x zu einer linearen Funktion von x u ¨bergeht. H¨aufig liegt jedoch eine nicht-lineare (differenzierbare) Transformation T : M → Rn vor. Formal ergibt sich die allgemeine Substitutionsformel aus (3.20), indem man die dort auftretende Determinante von T durch die Determinante der Jacobi-Matrix T (x), die sog. Jacobi-Determinante ¨ von T , ersetzt. Bis auf diese Anderungen kann der Satz jedoch fast w¨ ortlich u ¨bertragen werden. 3.35 Satz. (Transformationssatz) Es seien M ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge sowie T : M → Rn eine Lipschitzstetige Abbildung. Die Einschr¨ankung von T auf M ◦ sei stetig differenzierbar und injektiv. Dann ist T (M ) Jordan-messbar. Eine beschr¨ ankte Funktion f : T (M ) → R ist genau dann ¨ uber T (M ) integrierbar, wenn die Funktion f ◦ T · | det(T )| u ¨ber M integrierbar ist. In diesem Fall gilt f (y) dy = f (T (x)) · | det(T (x))| dx. (3.36) T (M )
Hierbei setzt man M \ M ◦.
det(T (x))
M
:= 0, falls T (x) nicht definiert ist, d.h. falls x ∈
3.3 Der allgemeine Transformationssatz
161
Dieser Satz ist eine Verallgemeinerung der Substitutionsregel (I.7.20) f¨ ur eindimensionale Riemann-Integrale. Aus der Lipschitzstetigkeit von T folgt direkt die Beschr¨anktheit aller partiellen Ableitungen von T . Der Integrand der rechten Seite von (3.36) ist also beschr¨ankt auf M . Ist x ∈ M ◦ , so interpretiert man die Komponenten von x als (neue) Koordinaten des Punktes T (x). Jedem Punkt aus T (M ◦ ) sind auf diese Weise eindeutig bestimmte Koordinaten zugeordnet. Ein wichtiges Beispiel, auf das wir sp¨ ater zur¨ uckkommen werden, sind die in 1.59 eingef¨ uhrten Polarkoordinaten. F¨ ur den Spezialfall, dass T die Identit¨at auf M ist, ergeben sich die kartesischen Koordinaten (Komponenten) von x. Variiert man in T (y ) eine Koordinate unter Festhalten aller u ¨brigen Koordinaten, so entsteht eine Kurve im Rn , die sogenannte Koordinatenlinie. Im Allgemeinen sind diese Koordinatenlinien keine Geraden, weshalb man auch von krummlinigen Koordinaten spricht (siehe Bild 3.7). Bei Integration bez¨ uglich allgemeinen Koordinaten wirkt die Jacobi-Determinante als Korrekturfaktor. y2 x2
x → y = T (x)
x2
=
b
b
a
x1
x1 = a
y1
Bild 3.7: Krummlinige Koordinaten am Beispiel von Polarkoordinaten (y1 = x1 cos x2 , y2 = x1 sin x2 ) In der Situation des Satzes 3.35 bezeichnet man die Abbildung T auch mit x → y(x) und die Jacobi-Matrix dieser Abbildung mit ∂(y1 , . . . , yn ) := T (x). ∂(x1 , . . . , xn ) Die Transformationsformel lautet dann f (y1, . . . , yn ) d(y1 , . . . , yn ) T (M )
= M
, . . . , y ) ∂(y 1 n d(x1 , . . . , xn ). f (T (x1 , . . . , xn )) det ∂(x1 , . . . , xn )
In dieser Form l¨asst sich die Regel leichter merken, weil man im rechten Integral urzen“ kann. den Ausdruck d(x1 , . . . , xn ) rein formal gegen ∂(x1 , . . . , xn ) k¨ ”
162
3.3.2
3 Determinanten
Zum Beweis des Transformationssatzes
Da wir bereits wissen, wie sich der Inhalt einer Menge unter linearen Abbildungen verh¨alt, l¨asst sich die Transformationsformel (3.36) leicht heuristisch begr¨ unden. Es sei dazu Z eine Partition von M . Dann bilden die Mengen T (A), A ∈ Z, eine Partition von T (M ) (Bild 3.8). x2
T (M )
y2
M
T (A)
A
y1
x1 Bild 3.8: Partition von M und zugeh¨ orige Partition von T (M )
yA := T (xA ) der zugeh¨ orige F¨ ur jedes A ∈ Z sei xA ein Punkt aus A und Punkt aus T (A). Ist die Funktion f stetig und ist die Feinheit Z klein, so kann das Integral der Funktion h := f ◦ T · | det T | u ¨ber eine Menge A ∈ Z durch das Produkt h(xA ) · |A| angen¨ahert werden. Wir erhalten somit die Approximation f (T (x)) · | det(T (x))| dx ≈ f (T (xA )) · | det(T (xA ))|·|A|. M
A∈Z
F¨ ur x ∈ A ∈ Z kann aber T (x) durch T (xA ) + T (xA )(x − xA ) approximiert werden, d.h. es gilt T (A) ≈ {T (xA ) + T (xA )(x − xA ) : x ∈ A}. Aus der Translationsinvarianz des Inhalts und Folgerung 3.22 ergibt sich damit |T (A)| ≈ |T (xA )(A)| = | det(T (xA ))|·|A| und deshalb f (T (x)) · | det(T (x))| dx ≈ f (yA )·|T (A)| ≈ M
A∈Z
(3.37)
f (y ) dy .
T (M )
Bild 3.9 veranschaulicht die Approximation (3.37) f¨ ur den Fall n = 2 anhand eines Rechtecks A mit den Eckpunkten xA = (x1 , x2 ), (x1 + h1 , x2 ), (x1 , x2 + h2 )
3.3 Der allgemeine Transformationssatz
163
T (x1 , x2 +h2 )
T (x1 +h1 , x2 +h2 ) •
•
T (A)
x2 +h2
A x2
•
• T (xA )
xA
x1
• T (x1 +h1 , x2 )
x1 +h1
Bild 3.9: Approximation (3.37) im Fall n = 2
und (x1 + h1 , x2 + h2 ); es gilt also |A| = h1 h2 . Die in Bild 3.9 rechts dargestellte Menge T (A) ist n¨aherungsweise ein Parallelogramm. Formel (3.37) bedeutet, dass die Fl¨ache |T (A)| von T (A) durch die Fl¨ ache des in Bild 3.9 schraffiert dargestellten Parallelogramms angen¨ ahert wird. Bezeichnet n¨amlich Txi den Vektor der partiellen Ableitungen der Komponenten von T nach der i-ten Variablen, so besitzt dieses Parallelogramm die im Punkt T (xA ) angetragenen Seitenvektoren Tx1 (x1 , x2 ) · h1 ,
Tx2 (x1 , x2 ) · h2 .
Die Matrix mit den Spaltenvektoren Tx1 und Tx2 stellt die Jacobi-Matrix von T dar. Aus Folgerung 3.23 und der Bewegungsinvarianz des Inhalts ergibt sich die Fl¨ache dieses Parallelogramms zu | det(Tx1 (x1 , x2 )h1 , Tx2 (x1 , x2 )h2 )| = h1 h2 · | det T (xA )| = |A| · | det T (xA )|, also zur rechten Seite von (3.37). Der exakte Nachweis des Transformationssatzes kann hier nur angedeutet werden. Ein m¨ogliches Vorgehen besteht darin, den Beweis von Theorem 3.21 zu verallgemeinern. Sieht man von technischen Feinheiten ab, so findet man die wesentliche Idee im Teil (5) dieses Beweises. Das dortige Vorgehen kann wie folgt verallgemeinert werden. L¨asst die Funktion T die ersten n − 1 Argumente unver¨andert, so folgt (3.36) relativ schnell aus dem Satz von Fubini und der eindimensionalen Substitutionsformel f¨ ur Riemann-Integrale. Im allgemeinen Fall kann man wieder vollst¨andige Induktion sowie die Darstellung T = G ◦ h von T als Komposition von zwei (einfacheren) Funktionen benutzen (vgl. (3.24)). Dabei l¨asst G die ersten n−1 Argumente und h das letzte Argument unver¨ andert. Neben der Multiplikationsformel f¨ ur Determinanten verwendet man dann die Kettenregel T (y ) = G (h(y ))h (y ) der Differentialrechnung. Das Zusammenspiel dieser
164
3 Determinanten
beiden Formeln ist der Schl¨ ussel zum Beweis des Satzes. Die ausf¨ uhrlichen Details finden sich etwa in Heuser (2008) und Walter (2002).
3.3.3
Andere Formulierungen des Transformationssatzes
In Anwendungen von Satz 3.35 ist man gut beraten, wenn man zun¨ achst die wesentlichen Bestandteile von (3.36) identifiziert (n¨ amlich M , T , T (M ) und f ), ohne sich zun¨achst um die technischen Details zu viele Gedanken zu machen. Gleichwohl wollen wir hier auf eine alternative Formulierung des Satzes eingehen. 3.36 Satz. (Transformationssatz) Es seien V ⊂ Rn eine offene Menge sowie T : V → Rn eine injektive und stetig differenzierbare Abbildung. F¨ ur die Jacobi-Determinante von T gelte det(T (y )) = 0 f¨ ur jedes y ∈ V . Dann gilt Gleichung (3.36) f¨ ur jede Jordan-messbare, beschr¨ankte und abgeschlossene Teilmenge M von V und jede ¨ uber T (M ) integrierbare Funktion f : T (M ) → R. Unter den Voraussetzungen von Satz 3.36 besagt Satz 1.76, dass T (V ) eine offene Menge ist und dass auch die Umkehrabbildung T −1 : T (V ) → V stetig differenzierbar ist. (In diesem Fall nennt man T einen Diffeomorphismus zwischen V und T (V ).) Diese Voraussetzungen sind f¨ ur manche Anwendungen zu stark. Stattdessen haben wir nur die schw¨achere Eigenschaft der Lipschitzstetigkeit von T vorausgesetzt. Satz 3.36 ergibt sich als Folgerung aus Satz 3.35. Unter den Voraussetzungen des Satzes ist die Funktion T wegen Satz 3.24 n¨ amlich Lipschitzstetig auf M .
3.3.4
Lineare Abbildungen
Wir m¨ochten abschließend noch einmal den Spezialfall einer linearen bijektiven Abbildung T : Rn → Rn hervorheben. Setzen wir ai := T (ei ), i = 1, . . . , n, so ist x ∈ Rn der Koordinatenvektor von T (x) bez¨ uglich der Basis a1 , . . . ,an . Die Abbildung T ist differenzierbar, und ihre Jacobi-Matrix besitzt die Spalten ur jede Jordan-messbare a1 , . . . ,an , h¨angt also nicht vom Punkt x ∈ Rn ab. F¨ Menge M ⊂ Rn und jede integrierbare Funktion f : T (M ) → R gilt die Formel f (y) dy = | det(a1 , . . . ,an )| · f (T (x)) dx. T (M )
3.3.5
M
Ebene Polarkoordinaten
Nach Beispiel 1.59 werden ebene Polarkoordinaten durch x = r cos ϕ, y = r sin ϕ, also durch die Abbildung T : [0, ∞) × [0, 2π] → R2 ,
T (r, ϕ) := (r cos ϕ, r sin ϕ),
(3.38)
3.3 Der allgemeine Transformationssatz
165
definiert. Die Einschr¨ankung von T auf (0, ∞)×[0, 2π) ist eine bijektive Abbildung auf R2 \ {0}. Eingeschr¨ankt auf die offene Menge (0, ∞) × (0, 2π) ist T stetig differenzierbar, und wegen sin2 ϕ + cos2 ϕ = 1 gilt f¨ ur die Jacobi-Determinante (1.63) det(T (r, ϕ)) = r,
0 < r, 0 < ϕ < 2π.
(3.39)
Nach Satz 3.24 ist T auf jeder beschr¨ankten Teilmenge von [0, ∞) × [0, 2π] Lipschitzstetig. Sind M ⊂ [0, ∞) × [0, 2π] eine abgeschlossene Jordan-messbare Menge und f : T (M ) → R eine stetige beschr¨ ankte Funktion, so liefert der Transformationssatz die Gleichung f (x, y) d(x, y) = r · f (r cos ϕ, r sin ϕ) d(r, ϕ). (3.40) T (M )
M
Die Anwendung dieser Formel bietet sich immer dann an, wenn man T (M ) und f ◦ T in einfacher Weise durch Polarkoordinaten ausdr¨ ucken kann. Ist etwa T (M ) := {(r cos ϕ, r sin ϕ) : r0 ≤ r ≤ r1 , ϕ0 ≤ ϕ ≤ ϕ1 }
(3.41)
(0 ≤ r0 < r1 < ∞, 0 ≤ ϕ0 < ϕ1 ≤ 2π) die mengentheoretische Differenz zweier zum Ursprung konzentrischer und durch die Winkel ϕ0 und ϕ1 beschriebenen Kreissegmente, die zu den Radien r1 bzw. r0 geh¨ oren (Bild 3.10 rechts), so stellt sich M als Rechteck [r0 , r1 ] × [ϕ0 , ϕ1 ] dar (Bild 3.10 links). In diesem Fall gilt r1 ϕ1 f (x, y) d(x, y) = r · f (r cos ϕ, r sin ϕ) drdϕ. (3.42) T (M )
r0
ϕ0
y
ϕ
T (M )
ϕ1 M
r0
ϕ0 r0
r1
r
ϕ1
ϕ0 r1
Bild 3.10: Transformation eines Rechtecks mit Hilfe von Polarkoordinaten: (r, ϕ) → (x, y) = (r cos ϕ, r sin ϕ)
x
166
3 Determinanten
3.37 Beispiel. (Fl¨acheninhalt der Kreisscheibe) Setzt man in (3.41) r0 := 0, r1 := R, ϕ0 := 0 und ϕ1 := 2π, so gilt T (M ) = B(0, R). Im Spezialfall f (x, y) = 1, (x, y) ∈ B(0, R), folgt dann aus (3.42) die bereits in 2.4.6 hergeleitete Formel
|B(0, R)| =
R
2π
1 d(x, y) = 0
B(0,R)
0
r · 1 dr dϕ = πR2
f¨ ur die Fl¨ache eines Kreises mit dem Radius R. 3.38 Beispiel. (Polares Fl¨achenmoment einer Ellipsenfl¨ ache) Wir betrachten die von einer Ellipse eingeschlossene Menge M := {(x, y) : x2 /a2 + y 2 /b2 ≤ 1} mit den Halbachsenl¨angen a > 0 und b > 0 (vgl. Beispiele 1.40 und 3.28). Die Zahl (x2 + y 2 ) d(x, y) Ip (M ) := M
heißt polares Fl¨ achenmoment von M . Mit der Transformation T (x, y) := (ax, by) erhalten wir aus dem Transformationssatz 3.35 die Gleichung Ip (M ) = ab (a2 x2 + b2 y 2 ) d(x, y) B
mit der Einheitskreisscheibe B := {(x, y) : x2 + y 2 ≤ 1}. Damit liefert (3.42) die Formel 1 2π 2π ab 2 3 2 2 2 2 2 Ip (M ) = ab r · (a cos ϕ + b sin ϕ) dr dϕ = (a + b ) sin2 ϕ dϕ. 4 0 0 0 Hierbei haben wir benutzt, dass die Integrale von sin2 und cos2 u ¨ber dem Intervall [0, 2π] u ¨ bereinstimmen. (Der Leser mache sich das klar!) Mit Hilfe der nach Beispiel I.7.36 bekannten Stammfunktion von sin2 erhalten wir schließlich Ip (M ) =
abπ 2 (a + b2 ). 4
F¨ ur den Fall eines Kreises mit Radius R > 0 ergibt sich Ip (M ) = π2 R4 . 3.39 Beispiel. Zu berechnen sei das Integral x2 + y 2 d(x, y), C
3.3 Der allgemeine Transformationssatz wobei
167
C := {(x, y) : x ≤ 0, x2 + y 2 ≤ 9}.
Offenbar gilt C = T (M ) mit M = {(r, ϕ) : 0 ≤ r ≤ 3, π/2 ≤ ϕ ≤ (3π)/2}. Es liegt also der in Bild 3.10 illustrierte allgemeine Fall mit r0 = 0, r1 = 3, ϕ0 = π/2 und ϕ1 = 3π/2 vor. Nach (3.42) ist das gesuchte Integral gleich 3 (3π)/2 3 & 2 2 2 2 2 r · r sin ϕ + r cos ϕ d(r, ϕ) = r dϕ dr = πr2 dr = 9π. 0
M
0
π/2
3.40 Beispiel. (Leibnizsche Sektorformel) Es seien α, β ∈ [0, 2π] mit α < β, h : [α, β] → [0, ∞) eine stetige Funktion sowie M := {(r, ϕ) : α ≤ ϕ ≤ β, 0 ≤ r ≤ h(ϕ)} (Bild 3.11 links). ϕ
(3.43)
y r = h(ϕ)
β M
T (M )
α β
α
r
x
Bild 3.11: Die Mengen M und T (M ) mit M wie in (3.43) Dann ist die Menge T (M ) ein durch die Strahlen ϕ = α, ϕ = β und die Kurve r = h(ϕ) begrenzter Sektor im R2 (Bild 3.11 rechts). Aus (3.40) folgt (mit f (x, y) = 1 f¨ ur jedes (x, y) ∈ T (M )) β h(ϕ) 1 β r dr dϕ = h(ϕ)2 dϕ. |T (M )| = 2 α α 0 3.41 Beispiel. (Archimedische Spirale) Der Diagonalen“ {(ϕ, ϕ) : 0 ≤ ϕ ≤ 2π} im System der Polarkoordinaten (r, ϕ) ” entspricht im (x, y)-Koordinatensystem die Menge {(ϕ cos ϕ, ϕ sin ϕ) : 0 ≤ ϕ ≤ 2π}. Diese Archimedische Spirale ist in Bild 3.12 links veranschaulicht. Unter Verwendung der Leibnizschen Sektorformel mit h(ϕ) = ϕ ergibt sich der Inhalt der von der Archimedischen Spirale und den Strahlen ϕ = α, ϕ = β begrenzten Fl¨ache (Bild 3.12 Mitte) zu 1 3 (β − α3 ). 6
168
3 Determinanten
W¨ahlen wir speziell α = 0 und β = 2π, so liegt diese mit F bezeichnete Fl¨ ache innerhalb der Kreisscheibe K mit dem Radius 2π und ber¨ uhrt den Rand von K im Punkt (2π, 0) (Bild 3.12 rechts). Aus obiger Formel ergibt sich der Anteil der Fl¨ache F an der gesamten Kreisfl¨ache K zu |F | 8π 3 1 1 = · = . |K| 6 π(2π)2 3 y
y
y K
2π
x
x
F
α ϕ=
x
ϕ= β
Bild 3.12: Archimedische Spirale (links) mit Fl¨ achenausschnitt (Mitte). Der Anteil der grau gezeichneten Fl¨ache an der gesamten Kreisfl¨ ache (rechts) ist 1/3.
3.42 Beispiel. (Normalverteilung) In der Stochastik spielt das uneigentliche Integral r ∞ 2 −x2 /2 e dx = lim e−x /2 dx r→∞ −r
−∞
eine große Rolle. Zur Bestimmung dieses Grenzwertes setzen wir Ir :=
r
−x2 /2
e
2 dx
,
r > 0.
−r
Mit der Abk¨ urzung Wr := [−r, r] × [−r, r] liefert der Satz von Fubini Ir =
r
−x2 /2
e −r
dx ·
r
−r
e
−y2 /2
dy
2 +y 2 )/2
e−(x
=
d(x, y),
Wr
√ und wegen der Teilmengenbeziehungen B(0, r) ⊂ Wr ⊂ B(0, 2r) erhalten wir somit aus der Monotonie (bzw. Additivit¨at) des Integrals die Ungleichungskette 2 2 −(x2 +y2 )/2 e d(x, y) ≤ Ir ≤ e−(x +y )/2 d(x, y). √ B(0,r)
B(0, 2r)
3.3 Der allgemeine Transformationssatz
169
Nach Einf¨ uhrung von Polarkoordinaten folgt f¨ ur jedes s > 0 aus der Transformationsformel (3.42) s 2π 2 −(x2 +y 2 )/2 e d(x, y) = re−r /2 dϕ dr 0 0 B(0,s) s 2 2 re−r /2 dr = 2π(1 − e−s /2 ). = 2π 0
F¨ ur s → ∞ strebt der letzte Term gegen 2π, und die obigen Ungleichungen liefern ur r → ∞ und somit dann auch Ir → 2π f¨ ∞ √ 2 e−x /2 dx = lim Ir = 2π. (3.44) r→∞
−∞
Insbesondere folgt, dass die in Beispiel I.7.43 eingef¨ uhrte Verteilungsfunktion t 1 2 Φ(t) := √ e−x /2 dx, t ∈ R, (3.45) 2π −∞ der Gaußschen Normalverteilung die Eigenschaft limt→∞ Φ(t) = 1 besitzt. 3.43 Beispiel. (Gammafunktion und Kugelvolumen) In Beispiel I.7.31 wurde die Gammafunktion ∞ Γ(α) := tα−1 e−t dt, α > 0, 0
definiert. Substituiert man in ∞ e
−x2
∞
dx = 2
−∞
2
e−x dx
0
x2 = t, so folgt aus (3.44) Γ(1/2) =
√ π.
Unter Verwendung der Rekursion Γ(α + 1) = α · Γ(α) (vgl. (I.7.17)) ergibt sich 2k + 1 (2k + 1)! √ (2k + 1) · . . . · 3 · 1 √ Γ π= π, k ∈ N0 . +1 = k+1 2 2 k! · 22k+1 Zusammen mit der Gleichung Γ(n + 1) = n! (n ∈ N) liefert diese Formel eine M¨oglichkeit, das in 2.4.6 berechnete Kugelvolumen vn = |B(0, 1)|n (vgl. (2.24) und (2.25)) mit Hilfe von Γ und π auszudr¨ ucken. Es gilt vn =
π n/2 n
, Γ 2 +1
n ∈ N.
(3.46)
170
3 Determinanten x3 •
x
θ
r
Bild 3.13: Kugelkoordinaten r, ϕ, θ eines Punktes x x2
x1
3.3.6
ϕ
Kugelkoordinaten
Kugelkoordinaten sind r¨ aumliche Polarkoordinaten, durch die jedem Punkt x = 3 (x, y, z) aus R der Abstand r := x2 von x vom Koordinatenursprung 0 und zwei Winkel ϕ ∈ [0, 2π) und θ ∈ [0, π] zugeordnet sind (Bild 3.13). Hierbei ist θ der Winkel zwischen den Vektoren (0, 0, 1) und x. Interpretiert man den Punkt (0, 0, 1) als Nordpol“ einer Kugel, so kann die Differenz π/2 − θ ” als (im Bogenmaß gemessener) Breitengrad von x angesehen werden. F¨ ur jeden ¨ Punkt mit der Eigenschaft z = 0 (dieser liegt in der Aquatorebene“) ist dieser ” Winkel gleich π/2. Der Winkel ϕ ist der L¨angengrad von x; er wird durch die ebenen Polarkoordinaten ( x2 + y 2 , ϕ) von (x, y, 0) festgelegt. Man beachte die Gleichung x2 + y 2 = sin θ · x2 + y 2 + z 2 = r sin θ. Die zu den Kugelkoordinaten geh¨orende Transformation T besitzt den Definitionsbereich D := [0, ∞) × [0, 2π] × [0, π] und lautet T (r, ϕ, θ) := (r cos ϕ sin θ, r sin ϕ sin θ, r cos θ).
(3.47)
Diese Abbildung bildet D surjektiv auf R3 ab und ist auf D ◦ injektiv sowie stetig differenzierbar. Ihre Jacobi-Matrix ist ⎛ ⎞ cos ϕ sin θ −r sin ϕ sin θ r cos ϕ cos θ T (r, ϕ, θ) = ⎝ sin ϕ sin θ r cos ϕ sin θ r sin ϕ cos θ ⎠ , (3.48) cos θ 0 −r sin θ und eine einfache Rechnung ergibt det(T (r, ϕ, θ)) = −r 2 sin θ.
(3.49)
3.3 Der allgemeine Transformationssatz
171
Die Transformationsformel liefert jetzt f¨ ur jede Jordan-messbare Menge M ⊂ D und jede integrierbare Funktion f : T (M ) → R: f (x, y, z) d(x, y, z) T (M ) f (r cos ϕ sin θ, r sin ϕ sin θ, r cos θ)r 2 sin θ d(r, ϕ, θ). (3.50) = M
3.44 Beispiel. Zu berechnen sei das Integral
(x2 + y 2 ) d(x, y, z), C
wobei
C := {(x, y, z) : y ≤ 0, 1 ≤ x2 + y 2 + z 2 ≤ 4}
gesetzt ist. Die Menge C beschreibt diejenige H¨ alfte der durch die Radien 1 und 2 begrenzten Kugelschale mit Mittelpunkt 0, die in dem Halbraum {x, y, z) ∈ R3 : y ≤ 0} liegt. Es gilt C = T (M ) mit M = {(r, ϕ, θ) : 1 ≤ r ≤ 2, π ≤ ϕ ≤ 2π, 0 ≤ θ ≤ π}. Nach Formel (3.50) ist das gesuchte Integral somit gleich (r 2 cos2 ϕ sin2 θ + r 2 sin2 ϕ sin2 θ)r 2 sin θ d(r, ϕ, θ) M π 2 π 2 2π 4 3 r sin θdϕ dr dθ = π r 4 sin3 θ dr dθ = 0 1 π 0 1 π 31 124 = π sin3 θ dθ = π. 5 15 0 Dabei wurde beim letzten Gleichheitszeichen das unbestimmte Integral sin3 θ dθ = (cos3 θ)/3 − cos θ benutzt (Nachpr¨ ufen durch Differentiation!). 3.45 Beispiel. (Kugelschalen) Es seien R > 0 und g eine stetige, beschr¨ankte Funktion auf [0, R]. Wir wenden (3.50) mit f (x) := g(x) und M := {(r, ϕ, θ) : 0 ≤ r ≤ R} an. Auf der rechten Seite von (3.50) k¨onnen die Integrationen u uhrt werden, und ¨ber ϕ und θ ausgef¨ wegen T (M ) = B(0, R) folgt R g(x) dx = 4π g(r)r 2 dr. (3.51) B(0,R)
0
172
3 Determinanten
Mit der speziellen Wahl g(t) := 1, 0 ≤ t ≤ R, erhalten wir insbesondere das aus Beispiel 2.4.6 bekannte Kugelvolumen 4 |B(0, R)| = πR3 . 3 Da die Ableitung 4πr2 des Kugelvolumens 43 πr3 als Oberfl¨ acheninhalt der Kugel B(0, r) interpretiert werden kann, besitzt die rechte Seite von (3.51) eine sehr anschauliche Deutung: Die auf dem Rand dieser Kugel konstante Funktion f wird entlang infinitesimal d¨ unner“ Kugelschalen integriert. ”
3.3.7
Zylinderkoordinaten
Die Zylinderkoordinaten eines Punktes x = (x, y, z) aus R3 sind die Polarkoordinaten von (x, y) sowie die dritte Koordinate z (Bild 3.14).
x3 •
x Bild 3.14: Zylinderkoordinaten r, ϕ, z von x
z
r x1
x2
ϕ
Die zugeh¨orige Transformation T besitzt den Definitionsbereich D := [0, ∞) × [0, 2π] × R und lautet T (r, ϕ, z) := (r cos ϕ, r sin ϕ, z).
(3.52)
Diese Abbildung bildet D surjektiv auf R3 ab und ist auf D ◦ injektiv sowie stetig differenzierbar. Die Jacobi-Matrix von T ist ⎛ ⎞ cos ϕ −r sin ϕ 0 T (r, ϕ, z) = ⎝ sin ϕ r cos ϕ 0⎠ , (3.53) 0 0 1 und die Jacobi-Determinante ergibt sich (z.B. durch Entwickeln nach der dritten Zeile) zu det(T (r, ϕ, z)) = r.
(3.54)
3.3 Der allgemeine Transformationssatz
173
Nach der Transformationsformel (3.36) gilt f¨ ur jede Jordan-messbare Menge M ⊂ D und jede integrierbare Funktion f : T (M ) → R die Gleichung
r · f (r cos ϕ, r sin ϕ, z) d(r, ϕ, z).
f (x, y, z) d(x, y, z) = T (M )
(3.55)
M
Die in Zylinderkoordinaten am einfachsten zu beschreibenden K¨ orper sind zylindrische Keile. Ein derartiger (in Bild 3.15 abgebildeter) Keil ist in Zylinderkoordinaten ein Quader der Gestalt [r1 , r2 ] × [ϕ1 , ϕ2 ] × [z1 , z2 ] = {(r, ϕ, z) : r1 ≤ r ≤ r2 , ϕ1 ≤ ϕ ≤ ϕ2 , z1 ≤ z ≤ z2 }. x3 z = z2
z = z1
x2 r = r1
ϕ2
ϕ = ϕ1
x1
r = r2
ϕ=
Bild 3.15: Zylindrischer Keil
3.46 Beispiel. Wir stellen uns die Aufgabe, die Masse eines (Kreis-)Zylinders mit Radius R und H¨ohe h zu bestimmen, dessen Massendichte ρ proportional zum Abstand von einer der beiden Grundfl¨achen ist (vgl. auch 2.4.11). In diesem Fall ist es mathematisch bequem, den Zylinder in der Form C := {(x, y, z) : x2 + y 2 ≤ R2 , 0 ≤ z ≤ h} zu beschreiben. Die Massendichte ist dann als Funktion der Gestalt ρ(x, y, z) = k · z mit einer gewissen positiven Konstanten k darstellbar. Formel (3.55) mit
174
3 Determinanten
M := [0, R] × [0, 2π] × [0, h] liefert f¨ ur die gesuchte Gesamtmasse k · z d(x, y, z) = r · k · z d(r, ϕ, z) C M 2π h R z r dr 1 dϕ dz =k· 0
0
0
1 1 kπ 2 2 = k · h2 · R2 · 2π = ·h R . 2 2 2
3.3.8
Das Tr¨ agheitsmoment
Es seien A ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge und L ⊂ Rn eine Gerade. Ferner sei ρ : A → R eine Massendichte wie in 2.4.11. Unter dem Tr¨agheitsmoment von A bez¨ uglich der (Tr¨agheits-)Achse L versteht man die Zahl θA,L := ρ(x) (d(x, L))2 dx. (3.56) A
Hierbei ist d(x, L) der in I.8.6.3 definierte Abstand zwischen x und L. In physikalisch-technischen Anwendungen ist die Menge A meist ein starrer K¨ orper im R3 , der sich mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ω (= u ¨berstrichener 1 2 Drehwinkel pro Zeit) um die Achse L dreht. Die Gr¨ oße 2 ω θA,L beschreibt dann die gesamte Rotationsenergie des K¨orpers. 3.47 Beispiel. (Tr¨agheitsmoment eines Zylinders) Es sei A := B × [−a, a], a > 0, ein zur xy-Ebene symmetrischer Zylinder mit der kreisf¨ormigen Grundfl¨ache B := {(x, y) : x2 + y 2 ≤ R2 }, R > 0. Welches Tr¨agheitsmoment bez¨ uglich der x-Achse besitzt der K¨ orper A bei konstanter Massendichte ρ(x) ≡ 1? Wir verwenden Formel (3.56) mit L := {(t, 0, 0) : t ∈ R}. Da ein Punkt (x, y, z) ∈ R3 den Abstand y 2 + z 2 zur Geraden L besitzt, gilt a (y 2 + z 2 ) dz d(x, y) θA,L = B −a 2a3 = 2a y 2 d(x, y) + d(x, y) 3 B B R 2π 2a3 πR2 . r3 sin2 ϕ dr dϕ + = 2a 3 0 0 Dabei wurden beim zweiten Gleichheitszeichen der Satz von Fubini und beim letzten Gleichheitszeichen Polarkoordinaten (vgl. (3.40)) sowie die Formel |B|2 = πR2 verwendet. Die Auswertung des ersten Integrals liefert schließlich θA,L =
hR4 h3 πR2 πhR2 π+ = (3R2 + h2 ). 4 12 12
3.3 Der allgemeine Transformationssatz
175
Dabei ist h := 2a die H¨ohe des Zylinders. 3.48 Beispiel. (Tr¨agheitsmoment eines Zylinders bez¨ uglich der Zentralachse) Es sei A = B × [0, h] ein Zylinder im R3 mit der H¨ ohe h > 0 und einer zun¨ achst 2 beliebigen Jordan-messbaren Grundfl¨ache B ⊂ R (vgl. Beispiel 2.35). Diesmal fragen wir nach dem Tr¨agheitsmoment von A bez¨ uglich der z-Achse L bei erneut konstanter Massendichte ρ(x) ≡ 1. Nach Definition und dem Satz von Fubini gilt h θA,L = (x2 + y 2 ) dz d(x, y) = h · Ip (B) B
0
mit dem polaren Fl¨ achenmoment
(x2 + y 2 ) d(x, y)
Ip (B) := B
von B. Gilt etwa B = {(x, y) : x2 /a2 + y 2 /b2 ≤ 1} mit a > 0 und b > 0, so folgt aus Beispiel 3.38 abhπ 2 θA,L = (a + b2 ). 4 In den obigen Beispielen verlief die Bezugsachse L durch den Schwerpunkt des K¨orpers. Es zeigt sich, dass der allgemeine Fall durch eine einfache Formel auf diesen Spezialfall zur¨ uckgef¨ uhrt werden kann. 3.49 Satz. (Satz von Steiner3 ) Gegeben sei ein K¨orper A ⊂ Rn mit konstanter Massendichte ρ(x) ≡ ρ0 > 0. Ferner seien L ⊂ Rn eine Gerade und L0 eine zu L parallele Gerade durch den Schwerpunkt sA von A. Dann gilt θA,L = θA,L0 + ρ0 |A|n (d(L, L0 ))2 .
(3.57)
Dabei ist d(L, L0 ) der Abstand zwischen L und L0 . Beweis: Es sei z ∈ Rn . Anwendung von Satz 3.35 auf T (x) := x + z liefert d(y , L + z)2 dy = ρ0 d(x + z, L + z)2 dx θA+z,L+z = ρ0 A+ z A d(x, L)2 dx = θA,L . = ρ0 A
Weil der Schwerpunkt von A − sA (bei konstanter Massendichte) gleich 0 ist (Linearit¨ at ¨ des Integrals!) und weil sich deshalb die Behauptung (3.57) bei Ubergang von A, L, L0 3 Jakob Steiner (1796–1863). Der Sohn eines Kleinbauern aus dem Berner Oberland war nach einem Studienaufenthalt in Heidelberg ab 1829 Oberlehrer an der Berliner Gewerbeschule. 1832 Dr.h.c. (Universit¨ at K¨ onigsberg), 1833 Professor, 1834 Mitglied der Berliner Akademie und a.o. Professor an der Berliner Universit¨ at. Hauptarbeitsgebiet: Geometrie.
176
3 Determinanten
zu A − sA , L − sA , L0 − sA nicht ¨andert, k¨onnen wir jetzt o.B.d.A. sA = 0 annehmen. Es gelte L0 = Span(u) sowie L = x0 + L0 mit u2 = 1 und u ⊥ x0 (vgl. I.8.6.4). Dann ist d(L, L0 ) = x0 . Ferner erhalten wir aus den Formeln d(x, L)2 = x − x0 , x − x0 − x − x0 , u2 ,
d(x, L0 )2 = x, x − x, u2 ,
(vgl. I.8.6.8) sowie x0 , u = 0 die Gleichung d(x, L)2 = d(x, L0 )2 − 2 x, x0 + x0 , x0 ,
x ∈ Rn .
Wir multiplizieren diese Gleichung mit ρ0 und integrieren u ¨ber A. Wegen sA = 0 verschwindet das Integral u ¨ ber 2ρ0 x, x0 . Damit ergibt sich die Behauptung.
Lernziel-Kontrolle • Was ist ein Parallelepiped? • Durch welche Eigenschaften ist eine Determinantenform festgelegt? • Was ist eine Transposition? • Wie ist das Vorzeichen einer Permutation definiert? • Warum ist eine Determinantenform durch ihren Wert auf einer Basis eindeutig bestimmt? • Was ist die Determinante einer linearen Abbildung bzw. einer Matrix? • K¨ onnen Sie einige Eigenschaften von Determinanten angeben? • Warum ist der Gaußsche Algorithmus n¨ utzlich, um die Determinante einer Matrix zu bestimmen? • Was besagt der Entwicklungssatz von Laplace? • Wie ver¨ andert sich der Inhalt einer Menge unter einer linearen Abbildung? • Welches Volumen besitzt das von 3 Vektoren im R3 aufgespannte Parallelepiped? • Warum ist eine vektorwertige Funktion Lipschitzstetig, wenn jede ihrer Komponenten diese Eigenschaft besitzt? • Warum sind die Eigenschaften, orthogonal bzw. isometrisch zu sein, f¨ ur eine lineare Abbildung ¨aquivalent? • K¨ onnen Sie ¨aquivalente Bedingungen f¨ ur die Orthogonalit¨ at einer Matrix angeben? • Welche orthogonalen Abbildungen gibt es im R2 ? • K¨ onnen Sie den allgemeinen Transformationssatz formulieren? • Was sind Polar-, Kugel- und Zylinderkoordinaten, und warum f¨ uhrt man sie ein? • K¨ onnen Sie das Volumen des zylindrischen Keils in Bild 3.15 mit Hilfe von r1 , r2 , ϕ1 , ϕ2 , z1 und z2 ausdr¨ ucken?
Kapitel 4
Normierte R¨ aume und Hilbertr¨ aume Ach der? Der ist Poet geworden. F¨ ur die Mathematik hatte er zuwenig Phantasie.
David Hilbert
Dieses Kapitel gibt eine Einf¨ uhrung in die komplexen Zahlen sowie in Theorie und Anwendungen normierter reeller und komplexer Vektorr¨ aume und Hilbertr¨ aume sowie linearer Operatoren auf solchen R¨aumen.
4.1
Die komplexen Zahlen
Da Quadrate reeller Zahlen stets gr¨oßer oder gleich 0 sind, kann es keine reelle Zahl x geben, die der Gleichung x2 = −1 gen¨ ugt. Dieser Mangel wird durch die Erweiterung des Zahlbereiches R zum K¨orper C der komplexen Zahlen behoben. Der Umgang mit komplexen Zahlen ist heute unentbehrliches Handwerkszeug in den Ingenieurwissenschaften. So werden etwa in der Nachrichtentechnik Signale im Allgemeinen als komplexwertige Funktionen betrachtet.
4.1.1
Vorbetrachtungen
Wir n¨ahern uns der (zu definierenden) Menge C der komplexen Zahlen, indem wir zun¨achst einige w¨ unschenswerte Eigenschaften von C auflisten. Sicherlich sollte mit komplexen Zahlen gem¨aß den K¨orperaxiomen aus I.3.3.5 gerechnet werden k¨onnen, und die reellen Zahlen sollten innerhalb der Menge C einen nat¨ urlichen ” Platz einnehmen“. Ferner sollte im Zahlbereich C die Gleichung x · x = −1 l¨ osbar sein. Genauer sollen die folgenden Eigenschaften gelten: N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_4, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
178
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
(C1) Es gibt zwei Verkn¨ upfungen (d.h. Abbildungen) + : C × C → C (Addition) und · : C × C → C (Multiplikation), so dass (C, +, ·) die K¨ orperaxiome (K1)–(K3) aus I.3.3.5 erf¨ ullt. (C2) Die Menge R kann mit einer geeigneten Teilmenge von C identifiziert werden, und auf dieser Teilmenge stimmen die Verkn¨ upfungen + und · mit der Addition bzw. der Multiplikation reeller Zahlen u ¨ berein. (C3) Es gibt ein Element i ∈ C mit i2 := i·i = −1. Wenn u ¨berhaupt eine Menge C mit diesen Eigenschaften existiert, so muss diese Menge jede Zahl“ der Gestalt ” z = x + i·y, x, y ∈ R, (4.1) enthalten. Sind z1 = x1 + i · y1 und z2 = x2 + i · y2 zwei Elemente von C der Gestalt (4.1), so gilt z1 = z2 genau dann, wenn x1 − x2 = i · (y2 − y1 ). Hierbei haben wir sowohl die in jedem K¨orper g¨ ultigen Kommutativgesetze als auch das Distributivgesetz ausgenutzt (vgl. I.3.3.5). Aus z1 = z2 folgt somit (x1 − x2 )2 = i2 · (y2 − y1 )2 = −(y1 − y2 )2 und damit x1 = x2 und y1 = y2 . Wir k¨onnen also jedes z der Form (4.1) mit dem geordneten Paar (x, y) ∈ R2 identifizieren! Aus den Kommutativgesetzen, dem Distributivgesetz sowie der Gleichung i2 = −1 erh¨alt man ferner (x1 + i · y1 ) + (x2 + i · y2 ) = x1 + x2 + i · (y1 + y2 ), (x1 + i · y1 ) · (x2 + i · y2 ) = x1 x2 − y1 y2 + i · (x1 y2 + x2 y1 ).
4.1.2
(4.2) (4.3)
Existenz der komplexen Zahlen
¨ Die bisherigen Uberlegungen legen es nahe, C := R2 zu setzen und durch (x1 , y1 ) + (x2 , y2 ) := (x1 + x2 , y1 + y2 ), (x1 , y1 ) · (x2 , y2 ) := (x1 x2 − y1 y2 , x1 y2 + x2 y1 ),
(4.4) (4.5)
eine Addition und eine Multiplikation auf C zu definieren. Mit Hilfe einer einfachen Rechnung ergibt sich dann das folgende Resultat. 4.1 Satz. (Existenz der komplexen Zahlen) Das Tripel (C, +, ·) ist ein K¨orper mit dem Nullelement (0, 0) und dem Einselement (1, 0). Dabei ist (−x, −y) das inverse Element von (x, y) bez¨ uglich der Addition und −y x −1 , (x, y) = x2 + y 2 x2 + y 2 das inverse Element von (x, y) = (0, 0) bez¨ uglich der Multiplikation.
4.1 Die komplexen Zahlen
179
Die mit der Addition (4.4) und der Multiplikation (4.5) versehene Menge C heißt K¨orper der komplexen Zahlen. Obwohl C als Menge nichts anderes ist als der R2 , wird die Schreibweise C immer dann verwendet, wenn betont werden soll, dass der R2 durch die Verkn¨ upfungen (4.4) und (4.5) die Struktur eines Zahlk¨ orpers erh¨alt. Wegen (x1 , 0) + (x2 , 0) = (x1 + x2 , 0),
(x1 , 0) · (x2 , 0) = (x1 · x2 , 0)
entspricht in C das Rechnen mit komplexen Zahlen der Form (a, 0) genau dem Rechnen im K¨orper (R, +, ·). Aus diesem Grund identifiziert man die komplexe Zahl (a, 0) ∈ C mit der reellen Zahl a ∈ R, setzt also kurz a := (a, 0) f¨ ur komplexe Zahlen der Form (a, 0). Insbesondere bezeichnen 0 := (0, 0),
1 := (1, 0)
die neutralen Elemente der Addition bzw. der Multiplikation. ur z = (x, y) ∈ C Die komplexe Zahl i := (0, 1) heißt imagin¨are Einheit. F¨ heißen Re(z) := x der Realteil und Im(z) := y der Imagin¨arteil von z. Nach Definition gilt also z = Re(z) + i · Im(z), z ∈ C.
Im z = x+iy
y = Im(z)
Bild 4.1: Gaußsche Zahlenebene
i
1
x = Re(z)
Re
Diese Begriffsbildungen sind in Bild 4.1 veranschaulicht. Jede komplexe Zahl z = x + iy kann als Vektor der sog. Gaußschen Zahlenebene interpretiert werden. Der Real- bzw. Imagin¨arteil von z entsteht durch Orthogonalprojektion von z auf die waagerechte (reelle) Achse bzw. auf die senkrechte, sog. imagin¨are, Achse. Da die Addition (4.2) komplexer Zahlen der vektoriellen Addition (4.4) in R2 entspricht und die Multiplikation einer komplexen Zahl z = x+iy mit einer reellen Zahl a gleichbedeutend mit der Multiplikation a · (x, y) = (ax, ay) ist, besitzen die komplexen Zahlen mit der Addition (4.2) und der durch a·(x+iy) → ax+iay definierten Multiplikation · : R × C → C die gleiche Vektorraumstruktur wie der R2 .
180
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Weil die komplexen Zahlen einen K¨orper bilden, gilt 0 · z = z · 0 = 0 f¨ ur jedes z ∈ C. Ferner ist (−1)·z das Inverse −z von z bez¨ uglich der Addition. Das Produkt z1 · z2 zweier komplexer Zahlen ist genau dann Null, wenn z1 = 0 oder z2 = 0. Ist n¨amlich z1 = 0, so folgt aus z1 · z2 = 0 die Gleichung 0 = ((z1 )−1 · z1 ) · z2 = z2 . Ist z2 = 0, so schreiben wir statt z1 · z2−1 auch zz12 bzw. z1 /z2 . Nach Definition gilt i · i = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −(1, 0) = −1. Somit besitzen die komplexen Zahlen in der Tat die gew¨ unschten Eigenschaften (C1)–(C3). In einer naheliegenden Weise, die wir hier aber nicht pr¨ azisieren wollen, sind sie der kleinste K¨orper mit diesen Eigenschaften. Abschließend sei bemerkt, dass man f¨ ur z ∈ C und n ∈ N0 die n-te Potenz z n wie f¨ ur reelle Zahlen durch z 0 := 1,
z 1 := z,
z n+1 := z · z n ,
n ∈ N,
definiert. Ferner setzt man f¨ ur z = 0 z −n :=
1 , zn
n ∈ N.
4.2 Beispiel. (Umformung auf Standardform) Es gilt (3 − 2i) + (4 + i) = 7 − i, (3 − 2i) · (4 + i) = 3 · 4 − 4 · 2i + 3i − 2i2 = 14 − 5i, 1 1 1 1 1+i 1+i = + · i, = · = 2 1−i 1−i 1+i 1−i 2 2 (2 + i)3 = (2 + i) · (2 + i)2 = (2 + i) · (3 + 4i) = 2 + 11i. 4.3 Beispiel. (Quadratische Gleichungen mit reellen Koeffizienten) Sind c, d ∈ R mit der Eigenschaft d − c2 /4 > 0, so besitzt die quadratische Gleichung x2 +cx+d = 0 keine reelle L¨osung x. L¨ asst man jedoch auch komplexwertige L¨ osungen zu, fragt man also nach L¨osungen z ∈ C der Gleichung z 2 + cz + d = 0, so lassen sich diese durch quadratische Erg¨ anzung finden. Wegen z 2 + cz + d = 0 ⇐⇒ (z + c/2)2 + d − c2 /4 = 0 ⇐⇒ (z + c/2)2 = (d − c2 /4) · (−1)
(4.6)
4.1 Die komplexen Zahlen
181
erkennt man, dass z1 := −c/2 + i ·
d − c2 /4,
z2 := −c/2 − i ·
d − c2 /4
L¨osungen von (4.6) sind. Eine elementare Rechnung liefert (z − z1 ) · (z − z2 ) = z 2 + cz + d. Weil das Produkt zweier komplexer Zahlen genau dann verschwindet, wenn mindestens eine dieser Zahlen gleich Null ist, folgt, dass z1 und z2 die einzigen komplexen L¨osungen von (4.6) sind.
4.1.3
Konjugiert komplexe Zahl, Betrag
Man nennt z¯ := x − iy die zu z = x + iy konjugiert komplexe Zahl und die reelle Zahl |z| :=
x2 + y 2
den Betrag von z. Geometrisch entsteht z¯ durch Spiegelung des Punktes z der Gaußschen Zahlenebene an der reellen Achse. Der Betrag von z = x+iy ist die euklidische Norm des Vektors (x, y) ∈ R2 ; |z| stellt also den Abstand von z zum Koordinatenursprung der Gaußschen Zahlenebene dar (Bild 4.2). Im
i
|z | 1
z = x+iy
Re z¯ = x−iy
Bild 4.2: ¨ Ubergang von z zur konjugiert komplexen Zahl z¯ und |z| als L¨ ange des Pfeiles vom Ursprung zu z
Konjugation und Betrag haben die folgenden Eigenschaften. Dabei sind die auftretenden komplexen Zahlen z, z1 und z2 beliebig w¨ ahlbar. (i) z = z¯ ⇐⇒ Im(z) = 0 ⇐⇒ z ∈ R. (ii) |z| = |¯ z |. (iii) z · z¯ = |z|2 .
182
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
(iv) z1 + z2 = z¯1 + z¯2 . (v) z1 · z2 = z¯1 · z¯2 . (vi) |z1 · z2 | = |z1 | · |z2 |. (vii) |z1 + z2 | ≤ |z1 | + |z2 |.
(Dreiecksungleichung)
Die Eigenschaften (i)–(vi) k¨onnen direkt nachgepr¨ uft werden. Eigenschaft (vii) ist ein Spezialfall der Dreiecksungleichung in Folgerung I.8.30. Aus (iii) folgt f¨ ur z = 0 die bereits aus Satz 4.1 bekannte Formel 1 z¯ = 2. z |z|
4.1.4
(4.7)
Konvergenz von Folgen in C
Eine komplexe Zahl z heißt Grenzwert einer Folge (zn )n≥1 aus C, wenn es zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N gibt, so dass f¨ ur jedes n ≥ n0 die Ungleichung |zn − z| ≤ ε ur erf¨ ullt ist. In diesem Fall sagt man, (zn ) konvergiert gegen z und schreibt hierf¨ limn→∞ zn = z oder zn → z f¨ ur n → ∞. Offenbar ist die Konvergenz komplexer Zahlenfolgen ein Spezialfall der in Abschnitt 1.1 behandelten Konvergenz im Rn . Nach Satz 1.1 liegt n¨ amlich Konvergenz von (zn ) gegen z genau dann vor, wenn die (reellen) Folgen der Real- und Imagin¨arteile von zn gegen den Real- bzw. Imagin¨ arteil von z konvergieren. Soweit nur die Addition in C und die Multiplikation komplexer mit reellen Zahlen betroffen ist, u ¨ bertragen sich auch alle anderen Definitionen und Ergebnisse aus Abschnitt 1.1. Insbesondere ist die Stetigkeit einer auf einer Teilmenge D ⊂ C definierten Funktion f : D → Rk (k ∈ N) im Punkt z0 ∈ D analog zu fr¨ uher durch die Bedingung f¨ ur jede Folge (zn ) aus D mit zn → z0 gilt f (zn ) → f (z0 ) definiert. 4.4 Beispiel. Die ersten Glieder der durch zn := in /n, n ∈ N, definierten Folge (zn ) sind i 1 1 z1 = i, z2 = − , z3 = − , z4 = , . . . . 2 3 4 Es gilt |zn | = |zn − 0| = 1/n → 0 f¨ ur n → ∞ und somit limn→∞ zn = 0.
4.1 Die komplexen Zahlen
183
4.5 Beispiel. (Geometrische Folge) F¨ ur fixiertes q ∈ C betrachten wir die Folge zn = q n . Ist |q| < 1, so gilt (wegen 4.1.3 (vi)) |zn | = |q|n → 0 f¨ ur n → ∞, also limn→∞ zn = 0. Im Fall |q| > 1 ist n die Folge (q ) nicht konvergent. W¨ urde n¨amlich q n → z0 f¨ ur ein z0 ∈ C gelten, so m¨ usste wegen der Stetigkeit der Betragsabbildung z → |z| auch |q n | = |q|n → |z0 | gelten. Nach Beispiel I.5.5 (i) ist aber die reelle Folge (|q|n ) im Fall |q| > 1 divergent.
4.1.5
Unendliche Reihen
Ist (zn )n≥1 eine Folge in C, so versteht man unter der komplexen Reihe ∞
zk = z1 + z2 + z3 + . . .
k=1
v¨ollig analog zum reellen Fall (vgl. I.5.2) die Folge (sn ) der n-ten Partialsummen sn :=
n
zk = z1 + z2 + . . . + zn ,
n ∈ N.
k=1
Die Reihe ∞ k=1 zk heißt konvergent mit der Summe z, wenn die ∞Folge (sn ) gegen z konvergiert. In diesem Fall setzt man analog zu fr¨ uher z =: k=1 zk . Eine nicht konvergente Reihe heißt divergent. ∞ Die Reihe ∞ k=1 zk heißt absolut konvergent, wenn die reelle Reihe k=1 |zk | konvergent ist. Wie fr¨ uher ist bei komplexen Reihen die untere Grenze des Summationsindex k h¨aufig gleich 0 oder (seltener) gleich einer anderen ganzen Zahl. 4.6 Beispiel. (Geometrische Reihe) ∞ k ur die Wir fixieren q ∈ C und untersuchen die geometrische Reihe k=0 q . F¨ n Partialsumme sn = 1 + q + . . . + q ergibt sich wie in I.5.2.2 im Fall q = 1 die Darstellung 1 − q n+1 . sn = 1−q Aus Beispiel 4.5 folgt also ∞ k=0
qk =
1 , 1−q
|q| < 1.
F¨ ur |q| ≥ 1 ist |sn+1 − sn | = |q n+1 | = |q|n+1 ≥ 1,
n ≥ 1,
so dass die Reihe nach dem Konvergenzkriterium von Cauchy nicht konvergent sein kann.
184
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Analog zu Satz I.5.32 gilt auch f¨ ur komplexe Reihen: 4.7 Satz. (Absolute Konvergenz von Reihen) Eine absolut konvergente komplexe Reihe ∞ k=1 zk ist konvergent, und es gilt ∞ ∞ zk ≤ |zk |. k=1
k=1
Mit Hilfe dieses Satzes kann das Studium der Konvergenzeigenschaften komplexer Reihen auf den Fall reeller Reihen zur¨ uckgef¨ uhrt werden. (Man beachte aber, dass das Leibniz-Kriterium nicht auf C u ¨bertragen werden kann.) Zum Beispiel gilt das folgende Analogon von Satz I.5.38: 4.8 Satz. (Umordnungssatz) Eine absolut konvergente Reihe darf beliebig umgeordnet werden, ohne dass sich ihr Wert ¨andert.
4.1.6
Potenzreihen
Sind (an ) eine Folge in C und z0 ∈ C, so heißt die Reihe ∞
an (z − z0 )n
(4.8)
n=0
(komplexe) Potenzreihe mit (komplexen) Koeffizienten a0 , a1 , . . . und Entwicklungspunkt z0 ∈ C. Setzt man (mit den Konventionen 1/0 := ∞ und 1/∞ := 0) r :=
1 lim supn→∞
n
|an |
,
(4.9)
so kann v¨ollig analog zu Satz I.6.21 gezeigt werden, dass die Potenzreihe (4.8) im Fall r = 0 nur f¨ ur z = z0 konvergiert. Gilt r = ∞, so liegt f¨ ur jedes z ∈ C absolute Konvergenz vor. Im verbleibenden Fall 0 < r < ∞ konvergiert die Reihe (4.8) f¨ ur jedes z in der offenen Kreisscheibe {z : |z − z0 | < r} absolut. F¨ ur jedes z mit |z − z0 | > r liegt Divergenz vor. F¨ ur jedes z auf dem Kreisrand {z : |z − z0 | = r} ist jeweils Konvergenz oder Divergenz m¨ oglich. Die Zahl r in (4.9) heißt Konvergenzradius der Potenzreihe (4.8). Die Funktion ∞ f (z) := an (z − z0 )n n=0
ist f¨ ur jedes z ∈ C definiert, f¨ ur welches die Reihe konvergiert. Sie heißt wie fr¨ uher Summenfunktion der Potenzreihe (4.8).
4.1 Die komplexen Zahlen
185
4.9 Beispiel. (Exponentialfunktion) Wegen lim supn→∞ n 1/n! = 0 ist die Reihe exp(z) :=
∞ zn n=0
(4.10)
n!
ur jedes z ∈ C absolut konvergent. Die durch (4.10) definierte Funktion exp : f¨ C → C heißt (komplexe) Exponentialfunktion . Sie stimmt f¨ ur reelle z mit der in (I.5.28) definierten Exponentialfunktion u ¨ berein. Auch im Komplexen benutzt man die Schreibweise z ∈ C. ez := exp(z), ¨ Die (fast) w¨ortliche Ubertragung der entsprechenden Beweise in I.5.3 liefert die folgenden Eigenschaften der Exponentialfunktion: 4.10 Satz. (Eigenschaften der Exponentialfunktion) Die Exponentialfunktion ist stetig und gen¨ ugt der Funktionalgleichung exp(z1 + z2 ) = exp(z1 ) · exp(z2 ),
z1 , z2 ∈ C.
(4.11)
Aus diesem Satz folgt exp(z) · exp(−z) = 1, z ∈ C, und damit exp(z) = 0. Ferner ergibt sich exp(z)n = exp(nz),
n ∈ Z.
(4.12)
4.11 Beispiel. (Sinus und Kosinus) Ebenso wie die Exponentialfunktion k¨onnen auch die Funktionen sin ( Sinus ) und cos ( Kosinus ) u ¨ber die Festsetzungen cos(z) := sin(z) :=
∞ n=0 ∞
(−1)n
z 2n , (2n)!
(−1)n
z 2n+1 , (2n + 1)!
n=0
z ∈ C, z ∈ C,
zu Funktionen von C in C erweitert werden. Wie fr¨ uher lassen wir dabei im Folgenden h¨aufig die Klammern weg, schreiben also kurz sin z und cos z. 4.12 Satz. (Eigenschaften von Sinus und Kosinus) F¨ ur jedes z ∈ C gilt exp(iz) = cos z + i · sin z, exp(−iz) = cos z − i · sin z. Beweis: Wegen i2k = (−1)k und (−i)2k+1 = i(−1)k f¨ ur jedes k ∈ N0 folgt exp(iz) =
∞ ∞ ∞ (iz)n (iz)2k (iz)2k+1 = + = cos z + i · sin z. n! (2k)! (2k + 1)! n=0 k=0
Die zweite Gleichung beweist man analog.
k=0
186
4.1.7
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Die Eulersche Formel
Aus Satz 4.12 erhalten wir (cos z + i · sin z) · (cos z − i · sin z) = exp(iz) · exp(−iz) = 1, also cos2 z + sin2 z = 1,
z ∈ C.
Setzt man in Satz 4.12 speziell z = x f¨ ur x ∈ R, so folgt die Eulersche Formel exp(ix) = cos x + i · sin x,
x ∈ R,
(4.13)
d.h. Re(exp(ix)) = cos x,
Im(exp(ix)) = sin x,
x ∈ R.
Insbesondere gilt | exp(ix)| =
cos2 x + sin2 x = 1,
x ∈ R,
was bedeutet, dass die Zahlen exp(ix), x ∈ R, auf dem Rand {z ∈ C : |z|2 = 1} des Einheitskreises liegen. Da die Funktionen cos x und sin x, x ∈ R, periodisch sind, liefert (4.13) die Periodizit¨atseigenschaft exp(ix) = exp(ix + i · 2πk),
k ∈ Z,
(4.14)
der komplexen Exponentialfunktion auf der imagin¨ aren Achse {ix : x ∈ R} sowie ei·2kπ = 1,
k ∈ Z.
(4.15)
Aus der Funktionalgleichung (4.11) und der Eulerschen Formel folgt ferner f¨ ur alle x, y ∈ R cos(x + y)+ i · sin(x + y) = exp(i · (x + y)) = exp(ix) · exp(iy) = (cos x + i · sin x) · (cos y + i · sin y) = cos x cos y − sin x sin y + i · (sin x cos y + cos x sin y) und damit ein eleganter Beweis der Additionstheoreme cos(x + y) = cos x cos y − sin x sin y, sin(x + y) = sin x cos y + cos x sin y.
4.1 Die komplexen Zahlen
187
Setzt man in (4.12) z = i·x, x ∈ R, und benutzt auf beiden Seiten die Eulersche Formel, so ergibt sich die Formel von de Moivre1 (cos x + i · sin x)n = cos(nx) + i · sin(nx),
4.1.8
n ∈ Z.
(4.16)
Polarkoordinaten
Jede komplexe Zahl z ∈ C mit z = 0 besitzt eine eindeutige Darstellung der Form z = r exp(iϕ)
(4.17)
mit 0 < r < ∞ und 0 ≤ ϕ < 2π. Dabei ist r = |z|. Man nennt ϕ auch Argument (oder Phase) von z (Bild 4.3). Die Zahlen r und ϕ sind nichts anderes als die in 3.3.5 diskutierten Polarkoordinaten von z = (Re(z), Im(z)). In diesem Sinn gilt also z.B. √ √ 1 + i = 2 · eiπ/4 , −1 + i = 2 · ei3π/4 . Im z
y r
ϕ
Bild 4.3: Darstellung von z = x + iy in Polarkoordinaten: z = reiϕ
· x
Re
Liegen zwei komplexe Zahlen in den Polarkoordinaten z1 = r1 exp(iϕ1 ) bzw. z2 = r2 exp(iϕ2 ) vor, so gilt z1 · z2 = r1 · r2 exp(i · (ϕ1 + ϕ2 )). Die komplexe Multiplikation kann also geometrisch als Multiplikation der Betr¨ age und gleichzeitige Addition der Winkel und somit als Drehstreckung gedeutet werden (siehe Bild 4.4). Hierbei ist die Periodizit¨ atseigenschaft (4.14) zu beachten. Multiplikation von z mit 1 + i bedeutet somit geometrisch eine Drehstreckung von z mit dem Winkel π/4 √ (45 Grad) gegen den Uhrzeigersinn bei gleichzeitiger Streckung mit dem Faktor 2. 1 Abraham de Moivre (1667–1754). Moivre musste nach dem Studium in Paris als Protestant Frankreich verlassen. Er emigrierte 1688 nach London, wo er sich bis ins hohe Alter seinen Lebensunterhalt durch Privatunterricht in Mathematik verdiente. 1697 Aufnahme in die Royal Society und 1735 in die Berliner Akademie. De Moivre gilt als bedeutendster Wahrscheinlichkeitstheoretiker vor P.S. Laplace.
188
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume Im z1 · z2
z2 i
Bild 4.4: Multiplikation zweier komplexer Zahlen als Drehstreckung
z1 ϕ1 +ϕ2 ϕ2 ϕ1
1
4.1.9
Re
Die komplexen Einheitswurzeln
4.13 Satz. (Komplexe Einheitswurzeln) F¨ ur jedes n ∈ N besitzt die Gleichung z n = 1 genau n verschiedene L¨osungen z0 , . . . , zn−1 , n¨amlich 2πk , k = 0, . . . , n − 1. (4.18) zk = exp i · n Beweis: Die Gleichung (zk )n = 1 ergibt sich sofort aus (4.12) und (4.15). Ist umgekehrt z ∈ C mit z n = 1, so folgt |z|n = 1 und somit |z| = 1. Es gibt also ein eindeutig bestimmtes ϕ ∈ [0, 2π) mit z = ei·ϕ . Wegen 1 = z n = ei·nϕ = cos(nϕ) + i · sin(nϕ) (Formel von de Moivre) erh¨alt man ϕ = 2πk/n f¨ ur ein k ∈ {0, . . . , n − 1}.
Die komplexen Zahlen z0 , . . . , zn−1 in (4.18) heißen die n-ten Einheitswurzeln . Sie bilden die Ecken eines regelm¨aßigen n-Ecks auf dem Rand des Einheitskreises (siehe Bild 4.5 im Fall n = 5). F¨ ur eine beliebige komplexe Zahl c kann die Gleichung z n = c mit Hilfe der Polarkoordinatendarstellung c = rei·ϕ gel¨ost werden. Ist r = 0, so gibt es nur die L¨osung z = 0. Ist r > 0, so erh¨alt man die n verschiedenen L¨ osungen √ ϕ + 2πk zk = n r exp i · , k = 0, . . . , n − 1. (4.19) n 4.14 Beispiele. osungen z0 = 1 und z1 = −1. (i) Die Gleichung z 2 = 1 besitzt die beiden L¨ 2π (ii) Die Gleichung z 3 = 1 hat die drei L¨osungen z0 = 1, z1 = cos 2π 3 + i sin 3 4π 4π und z2 = cos 3 + i sin 3 .
4.1 Die komplexen Zahlen
189 e• i2π/5
ei4π/5• Bild 4.5: Die 5-ten Einheitswurzeln ei2πk/5 , k = 0, . . . , 4
•1
•
ei6π/5
•
ei8π/5
(iii) Die Gleichung z 4 = 1 hat die vier L¨osungen z0 = 1, z1 = cos π2 + i sin π2 = i, z2 = −1 und z3 = −i. 4.15 Beispiel. Die Gleichung z 4 = 2i, d.h. π π z 4 = 2 cos + i sin , 2 2 besitzt die L¨osungen √ π π 4 , z0 = 2 cos + i sin 8 8 √ 9π 9π 4 z2 = 2 cos + i sin , 8 8
√ 5π 5π 4 z1 = 2 cos + i sin , 8 8 √ 13π 13π 4 z3 = 2 cos + i sin . 8 8
Man beachte die Gleichungen z2 = −z0 und z3 = −z1 . 4.16 Beispiel. (Quadratische Gleichungen mit komplexen Koeffizienten) Die L¨osungen einer quadratischen Gleichung z 2 + az + b = 0 mit a, b ∈ C lassen sich in gewohnter Weise durch quadratische Erg¨ anzung bestimmen. Als Beispiel betrachten wir die Gleichung z 2 − (4 + 2i) · z + 3 + 3i = 0. Wegen z2 − 2(2 + i) · z + 3 + 3i = (z − (2 + i))2 − (2 + i)2 + 3 + 3i = (z − 2 − i)2 − i ist obige Gleichung ¨aquivalent zu (z − 2 − i)2 = i.
190
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Die beiden L¨osungen der Gleichung w2 = i sind √ √ w2 = exp(i5π/4) = −(1/ 2)(1 + i). w1 = exp(iπ/4) = (1/ 2)(1 + i), Als L¨osungen der Ausgangsgleichung erhalten wir somit √ √ √ √ z1 = 2 + (1/ 2) + (1 + (1/ 2))i, z2 = 2 − (1/ 2) + (1 − (1/ 2))i.
4.1.10
Polynome, Fundamentalsatz der Algebra
Sind n ∈ N0 und a0 , a1 , . . . , an ∈ C, so heißt die durch P (z) := a0 + a1 z + a2 z 2 + . . . + an z n ,
z ∈ C,
definierte Abbildung P : C → C (komplexes) Polynom. Polynome sind offenbar spezielle Potenzreihen, n¨amlich solche, f¨ ur die alle Koeffizienten bis auf endlich viele gleich Null sind. Gilt an = 0, so heißt die Zahl n Grad des Polynoms (vgl. auch Beispiel I.6.3 (ii)). Dem Nullpolynom P ≡ 0 wird kein Grad zugewiesen. F¨ ur komplexe Polynome gilt die folgende grundlegende Aussage. 4.17 Satz. (Fundamentalsatz der Algebra) Jedes nichtkonstante komplexe Polynom P (z) = a0 + a1 z + a2 z 2 + . . . + an z n ,
z ∈ C,
(4.20)
(d.h. n ≥ 1 und an = 0) besitzt eine Darstellung der Form P (z) = an · (z − z1 ) · (z − z2 ) · . . . · (z − zn ).
(4.21)
Dabei sind z1 , . . . , zn ∈ C die L¨osungen der Gleichung P (z) = 0, also die Nullstellen von P . Jedes komplexe Polynom n-ten Grades besitzt also mindestens eine und h¨ ochstens n Nullstellen. Tritt z1 in der Darstellung (4.21) k-mal auf, so nennt man z1 eine k-fache Nullstelle von P , und die Zahl k die Vielfachheit (Multiplizit¨at) von z1 . Z¨ahlt man die Nullstellen entsprechend ihrer jeweiligen Vielfachheit, so gibt es genau n Nullstellen. 4.18 Beispiel. Das Polynom P (z) = z 3 + (1 − 2i)z 2 − (1 + 2i)z − 1 ist vom Grad 3 und besitzt die Darstellung P (z) = (z − i)2 · (z + 1), woraus man die Nullstellen i (Vielfachheit 2) und −1 (Vielfachheit 1) abliest.
4.1 Die komplexen Zahlen
191
4.19 Folgerung. (Identit¨atssatz f¨ ur Polynome) Stimmen zwei Polynome P (z) = a0 + a1 z + . . . + an z n und Q(z) = b0 + b1 z + . . . + bn z n an mindestens n + 1 verschiedenen Stellen z ¨ uberein, so folgt ak = bk f¨ ur k = 0, . . . , n und damit P = Q. Beweis: Wir nehmen indirekt an, dass es ein m ∈ {0, . . . , n} mit am = bm und ak = bk f¨ ur k ∈ {m + 1, . . . , n} gibt. Dann ist P − Q ein Polynom m-ten Grades mit mindestens n + 1 verschiedenen Nullstellen. F¨ ur m = 0 ist das nicht m¨ oglich. Ist aber m ≥ 1, so erhalten wir wegen m < n + 1 einen Widerspruch zum Fundamentalsatz.
In der obigen Folgerung kann an = 0 oder bn = 0 gelten. Zwei Polynome h¨ochstens n-ten Grades, die f¨ ur n + 1 verschiedene Werte u ¨bereinstimmen, besitzen also denselben Grad und dieselben Koeffizienten. Wir stellen dem Beweis des Fundamentalsatzes eine Hilfsaussage voran: 4.20 Lemma. (Division durch Linearfaktoren) Es sei P (z) = a0 + a1 z + . . . + an z n ein komplexes Polynom vom Grad n ≥ 1. Ist z1 eine Nullstelle von P , so gibt es ein Polynom Q vom Grade n − 1, so dass P (z) = (z − z1 ) · Q(z),
z ∈ C.
Hat P nur reelle Koeffizienten, und ist z1 ebenfalls reell, so besitzt auch Q nur reelle Koeffizienten. Beweis: Wegen P (z1 ) = 0 gilt P (z) = P (z) − P (z1 ) = a1 (z − z1 ) + . . . + an (z n − z1n ),
z ∈ C.
F¨ ur k ≥ 2 benutzen wir jetzt die leicht einzusehende Gleichung z k − z1k = (z − z1 ) · qk (z), wobei qk (z) := z k−1 + z k−2 z1 + . . . + zz1k−2 + z1k−1 . Damit folgt P (z) = (z − z1 )(a1 + a2 q2 (z) + . . . + an qn (z)) =: (z − z1 ) · Q(z). Wegen an = 0 besitzt das Polynom Q den Grad n − 1. Die zweite Behauptung ergibt sich aus der Konstruktion von Q.
Beweis des Fundamentalsatzes: Nach Lemma 4.20 ist nur noch zu zeigen, dass P mindestens eine Nullstelle besitzt. Wir setzen hierzu μ := inf{|P (z)| : z ∈ C}
(4.22)
192
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
und u ¨berlegen uns zun¨achst, dass es eine Zahl r1 > 0 gibt, so dass das Infimum in (4.22) innerhalb der abgeschlossenen Kreisscheibe B := {z ∈ C : |z| ≤ r1 } angenommen wird. Wegen an = 0 k¨onnen wir in (4.20) den Faktor an z n ausklammern und erhalten nach Bildung der Betr¨age die Darstellung |P (z)| = |an | · |z|n · |1 + Rn (z)|,
z = 0,
(4.23)
wobei abk¨ urzend Rn (z) :=
an−1 1 an−2 1 a1 1 a0 1 · + · 2 + ...+ · + · an z an z an z n−1 an z n
gesetzt wurde. Schreiben wir kurz K := max{|aj /an−1 | : j = 0, . . . , n}, so gilt f¨ ur jedes r ∈ R mit r ≥ 1 und jedes z ∈ C mit |z| ≥ r n·K 1 1 |Rn (z)| ≤ K · + ...+ n ≤ . |z| |z| r Mit (4.23) ergibt sich dann lim sup{|P (z)| : z ∈ C, |z| ≥ r} = 0.
r→∞
ur jedes z ∈ C mit |z| > r1 , Somit gibt es in der Tat ein geeignetes r1 > 0 mit |P (z)| > μ f¨ und es folgt μ = inf{|P (z)| : z ∈ B}. Weil die Menge B abgeschlossen und beschr¨ankt ist, nimmt die stetige Funktion z → |P (z)| auf B ihr Minimum an (vgl. Satz 1.18). Es gibt also ein z1 ∈ B mit |P (z1 )| = μ. Wir beweisen jetzt, dass μ = 0 gilt, also z1 eine Nullstelle von P ist und nehmen hierzu indirekt an, dass P (z1 ) = 0 gilt. Dann ist Q(z) := P (z + z1 )/P (z1 ) ein Polynom n-ten Grades mit Q(0) = 1 und |Q(z)| ≥ 1 f u ¨r jedes z ∈ C.
(4.24)
Das Polynom Q besitzt die Gestalt Q(z) = 1 + bm z m + . . . + bnz n mit m ∈ {1, . . . , n}, bm , . . . , bn ∈ C und bm = 0. Die Zahl −|bm |(bm )−1 hat den Betrag 1. Ist ϕ ∈ [0, 2π) ihr Argument, so gilt mit ψ := ϕ/m: −|bm |(bm )−1 = eiϕ = eimψ . ur r > 0 und erhalten Wir betrachten jetzt komplexe Zahlen z = reiψ f¨ Q(reiψ ) = 1 + bm rm eimψ + . . . + bn rn einψ = 1 − |bm |rm + bm+1 rm+1 ei(m+1)ψ + . . . + bn rn einψ . ur solche r erhalten wir aus der DreiecksF¨ ur gen¨ ugend kleines r ist 1 − |bm |rm > 0. F¨ ungleichung und |eikψ | = 1, k ∈ N, die Absch¨atzung |Q(reiψ )| ≤ 1 − |bm |rm + |bm+1 |rm+1 + . . . + |bn |rn = 1 − rm (|bm | − |bm+1 |r + . . . − |bn |rn−m ). F¨ ur hinreichend kleines r ist der Klammerausdruck positiv und somit |Q(reiψ )| < 1. Dieser Widerspruch zu (4.24) beweist die Behauptung.
4.2 Reelle und komplexe Vektorr¨aume
4.2
193
Reelle und komplexe Vektorr¨ aume
In I.8.2 haben wir die Vektorraumstruktur des Rn kennengelernt. Charakteristisch f¨ ur diese Struktur ist, dass Elemente des Rn addiert und mit reellen Zahlen multipliziert werden k¨onnen, wobei diese Verkn¨ upfungen gewissen Grundregeln (Axiomen) gehorchen. Der allgemeine Begriff des Vektorraums ist eine Abstraktion, die von der speziellen Natur des Rn (und anderer Beispiele) absieht. Im Folgenden sei K = R oder K = C.
4.2.1
Definition des Vektorraums
Es sei V eine Menge, die mit einer Verkn¨ upfung (Abbildung) + : V × V → V (sog. Addition) und einer Verkn¨ upfung (λ, x) → λx von K × V in V (sog. skalare Multiplikation) versehen sei. Dann heißt V Vektorraum u ¨ber K , wenn die folgenden Eigenschaften erf¨ ullt sind: (i) Die Addition gen¨ ugt dem Kommutativgesetz x, y ∈ V,
x + y = y + x, und dem Assoziativgesetz
x, y, z ∈ V.
x + (y + z) = (x + y) + z,
(ii) Es existiert ein Element 0 ∈ V (sog. Nullvektor) mit x + 0 = 0 + x = x,
x ∈ V.
Ferner gibt es zu jedem x ∈ V genau ein y ∈ V mit y + x = x + y = 0. Man schreibt −x := y und nennt y das Inverse zu x. (iii) Die skalare Multiplikation gen¨ ugt dem Assoziativgesetz λ(μx) = (λμ)x,
λ, μ ∈ K, x ∈ V.
(iv) Es gelten die Distributivgesetze λ(x + y) = λx + λy,
λ ∈ K, x, y ∈ V,
(λ + μ)x = λx + μx,
λ, μ ∈ K, x ∈ V.
(v) Es gilt 1x = x,
x ∈ V.
Ein Vektorraum u ¨ ber R bzw. C heißt reeller bzw. komplexer Vektorraum. Sind V eine Menge und + : V × V → V eine Verkn¨ upfung, so dass die Eigenschaften (i) und (ii) erf¨ ullt sind, so nennt man das Paar (V, +) eine Abelsche Gruppe mit neutralem Element 0 ∈ V .
194
4.2.2
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Diskussion und Beispiele
Ist V ein Vektorraum u ¨ber dem K¨orper K, so werden in Anlehnung an die Bezeichnungen im Rn die Elemente von V als Vektoren und diejenigen von K als Skalare bezeichnet. Zur Verdeutlichung der Multiplikation eines Vektors x ∈ V mit einem Skalar λ ∈ K schreiben wir manchmal λ · x f¨ ur λx. Aus (4.2) (iv) folgt f¨ ur jedes x ∈ V 0 · x + 0 · x = (0 + 0) · x = 0 · x und damit 0 · x = 0. Man beachte, dass hier die Null des K¨ orpers und der Nullvektor aus (4.2) (i) mit demselben Symbol bezeichnet werden. Aus dem Zusammenhang wird immer hervorgehen, was gemeint ist. Analog folgt f¨ ur jedes λ ∈ K λ · 0 = λ · (0 + 0) = λ · 0, d.h. λ · 0 = 0. (Hier bezeichnet 0 den Nullvektor.) Schließlich zeigt man leicht, dass (−1) · x das Inverse −x von x bez¨ uglich der Addition in V ist. Die folgenden Beispiele deuten an, dass ein Vektorraum eine h¨ aufig auftretende und sehr allgemeine Struktur ist. 4.21 Beispiel. (Der Rn als Vektorraum) Die Menge Rn = {(x1 , . . . , xn ) : x1 , . . . , xn ∈ R} ist mit den Verkn¨ upfungen (x1 , . . . , xn ) + (y1 , . . . , yn ) := (x1 + y1 , . . . , xn + yn ), λ(x1 , . . . , xn ) := (λx1 , . . . , λxn ) ((x1 , . . . , xn ), (y1 , . . . , yn ) ∈ Rn , λ ∈ R) ein reeller Vektorraum (vgl. I.8.2). 4.22 Beispiel. (Cn und Kn ) Die Menge Cn := {(z1 , . . . , zn ) : z1 , . . . , zn ∈ C} aller n-Tupel mit komplexen Komponenten wird zu einem komplexen Vektorraum, wenn man die Addition und die skalare Multiplikation wie im Rn (siehe Beispiel 4.21) komponentenweise definiert. Ist K ein beliebiger K¨orper, so wird in gleicher Weise die Menge Kn aller n-Tupel mit Komponenten aus K ein Vektorraum u ¨ber K. 4.23 Beispiel. (Zahlenfolgen) Die Menge F := {(an )n≥1 : an ∈ R f¨ ur n ∈ N} aller reellen Zahlenfolgen wird zu einem Vektorraum u ¨ ber R, wenn man die Addition zweier Folgen (an )n≥1 und (bn )n≥1 durch (an )n≥1 + (bn )n≥1 := (an + bn )n≥1
4.2 Reelle und komplexe Vektorr¨aume
195
und die Multiplikation einer Folge (an )n≥1 mit einem Skalar λ ∈ R durch λ(an )n≥1 := (λan )n≥1 definiert. Der Nullvektor ist hier diejenige Folge, deren Glieder identisch gleich 0 sind. In gleicher Weise wird die Menge aller komplexen Zahlenfolgen zu einem Vektorraum u ¨ber C. Die n¨achsten Beispiele zeigen, dass gewisse Mengen von Funktionen eine Vektorraumstruktur besitzen. Da wir Funktionen u ¨ blicherweise mit den Symbolen f , g oder h und nicht mit x, y oder z bezeichnen, sollte man sich fr¨ uhzeitig daran gew¨ohnen, dass ein Vektor“ in vielerlei Gestalt auftreten kann, was auch eine ” Flexibilit¨at hinsichtlich der Schreibweise erfordert. Insbesondere wird damit auch deutlich, warum wir die Vektoren eines allgemeinen Vektorraumes nicht mit einem Pfeil versehen (oder anderswie hervorheben). Es w¨ urde wenig Sinn machen (und eher zu Missverst¨andnissen Anlass geben), wenn eine Funktion f pl¨ otzlich mit f bezeichnet w¨ urde. Die Pfeilschreibweise bleibt auschließlich den Vektorr¨ aumen Rn und Cn vorbehalten. 4.24 Beispiel. (Allgemeiner Funktionenraum) Es sei M eine beliebige nichtleere Menge und V (M ) := {f : f ist Funktion von M in R} die Menge aller reellen Funktionen auf M . Definiert man die Addition f + g von Funktionen f und g aus V (M ) sowie die Multiplikation einer Funktion f ∈ V (M ) mit einem Skalar λ ∈ R wie u ¨ blich argumentweise, also durch (f + g)(x) := f (x) + g(x),
(λf )(x) := λf (x),
x ∈ M,
so wird die Menge V (M ) zu einem reellen Vektorraum. Der Nullvektor ist hier die Nullfunktion f ≡ 0, also diejenige Funktion, die jedem Element x ∈ M den Wert 0 zuordnet. Man beachte, dass dieses Beispiel so allgemein ist, dass es sowohl die Situation des Folgenraums (setze M := N in Beispiel 4.23) als auch den Rn (setze M := {1, 2, . . . , n} in Beispiel 4.21) als Spezialf¨alle enth¨ alt. 4.25 Beispiel. (Stetige Funktionen auf einem Intervall) Es seien I ⊂ R ein Intervall und C(I) die Menge aller stetigen Funktionen f : I → R. Da die Summe zweier Funktionen aus C(I) wieder stetig ist, also zu C(I) geh¨ort, und mit λ ∈ R und f ∈ C(I) auch das Produkt λf eine stetige Funktion ist, bildet die Menge C(I) einen reellen Vektorraum. In gleicher Weise ist die Menge aller stetigen Funktionen f : I → C ein komplexer Vektorraum.
196
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
4.2.3
Lineare Unterr¨ aume
Es sei V ein Vektorraum u ¨ber K. Eine nichtleere Teilmenge U von V heißt (linearer) Unterraum von V , falls Folgendes gilt: (i) Sind x, y ∈ U , so folgt x + y ∈ U . (ii) Sind x ∈ U und λ ∈ K, so folgt λx ∈ U . Man beachte, dass diese Definition v¨ollig analog zum Fall V = Rn ist (vgl. I.8.3.2). Jeder Unterraum U von V enth¨alt den Nullvektor 0 und ist selbst wieder ein Vektorraum u oßte ¨ber K. Die Menge {0} ist der kleinste und die Menge V der gr¨ Unterraum von V . 4.26 Beispiel. (Beschr¨ankte Zahlenfolgen, Nullfolgen) In Fortsetzung von Beispiel 4.23 betrachten wir die Mengen ur jedes n ∈ N} , Fb := {(an )n≥1 ∈ F : es gibt ein C > 0 mit |an | ≤ C f¨ ' ( F0 := (an )n≥1 ∈ F : lim an = 0 , n→∞
aller beschr¨ankten Zahlenfolgen bzw. aller Nullfolgen. Da sowohl die Summe zweier beschr¨ankter Folgen als auch das skalare Vielfache einer beschr¨ankten Folge wieder eine beschr¨ ankte Folge ergeben, ist die Menge Fb ein Unterraum des Folgenraums F aus Beispiel 4.23. In gleicher Weise bildet die Menge F0 aller Nullfolgen einen Unterraum von F . Wegen F0 ⊂ Fb ist F0 auch ein Unterraum von Fb . 4.27 Beispiel. (Beschr¨ankte und stetige Funktionen) Es sei [a, b] (a < b) ein beschr¨anktes Intervall. Nach Beispiel 4.24 ist die Menge V [a, b] := V ([a, b]) aller Funktionen f : [a, b] → R ein reeller Vektorraum. Die Menge ) B[a, b] :=
f ∈ V [a, b] : sup |f (x)| < ∞
(4.25)
a≤x≤b
aller beschr¨ankten Funktionen auf [a, b] ist ein Unterraum von V ([a, b]). Nach den Rechenregeln f¨ ur stetige Funktionen (vgl. I.6.1) ist auch die Menge C[a, b] := {f ∈ V ([a, b]) : f stetig} aller stetigen Funktionen auf [a, b] ein Unterraum von V [a, b]. Da jede auf einem beschr¨ankten, abgeschlossenen Intervall stetige Funktion beschr¨ ankt ist (vgl. I.6.6), ist C[a, b] auch ein Unterraum von B[a, b]. Analoge Aussagen gelten auch f¨ ur komplexwertige Funktionen auf [a, b].
4.2 Reelle und komplexe Vektorr¨aume
197
4.28 Beispiel. (Vektorraumstruktur von Polynomen) Die Menge Pol(K) aller Polynome mit Koeffizienten aus K, also aller Funktionen f : K → K der Gestalt f (x) =
k
aj xj ,
x ∈ K,
j=0
mit k ∈ N0 und a0 , . . . , ak ∈ K, ist ein Vektorraum u ¨ber K. Bezeichnet Poln (K) die Menge aller Polynome in Pol(K), deren Grad kleiner oder gleich n ∈ N0 ist (einschließlich des Nullpolynoms), so ist f¨ ur jedes n ≥ 0 die Menge Poln (K) ein Unterraum von Poln+1 (K). Insbesondere ist Poln (K) ein Unterraum von Pol(K). Die Menge Pol(K) wiederum ist ein Unterraum des Vektorraums aller stetigen Funktionen f : K → K. Ist M ⊂ V , so bildet die Menge U aller Linearkombinationen λ1 x1 + . . . + λk xk mit k ∈ N, λ1 , . . . , λk ∈ K und x1 , . . . , xk ∈ M einen Unterraum von V . Man bezeichnet ihn mit Span(M ) := U und sagt, dass M den Unterraum U aufspannt, bzw. dass M ein Erzeugendensystem von U ist. Ist M = {x1 , . . . , xm } eine endliche Menge, so schreiben wir auch Span(x1 , . . . , xm ) := Span(M ). 4.29 Beispiel. In der Situation von Beispiel 4.28 sei f0 (x) := 1, x ∈ K, sowie f¨ ur k = 1, . . . , n fk (x) := xk , x ∈ K, gesetzt. Dann gilt Span(f0 , f1 , . . . , fn ) = Poln (K).
4.2.4
Lineare Unabh¨ angigkeit und Dimension
Es sei V ein Vektorraum u ¨ ber K. Endlich viele Vektoren x1 , . . . , xk ∈ V heißen linear unabh¨angig , wenn sie keine nichttriviale Linearkombination des Nullvektors erm¨oglichen, wenn also f¨ ur alle λ1 , . . . , λk ∈ K gilt: λ1 x1 + . . . + λk xk = 0 =⇒ λ1 = . . . = λk = 0. Anderenfalls heißen x1 , . . . , xk linear abh¨angig. Eine Menge M ⊂ V heißt linear unabh¨angig, wenn jede endliche und nichtleere Teilmenge von M aus linear unabh¨angigen Vektoren besteht. Anderenfalls heißt M linear abh¨angig.
198
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Ein Vektorraum V = {0} heißt endlichdimensional, wenn es eine nat¨ urliche Zahl n gibt, so dass jede Menge linear unabh¨ angiger Vektoren h¨ ochstens n Elemente enth¨alt. In diesem Fall heißt die Maximalzahl m linear unabh¨ angiger Vektoren die Dimension von V , und man schreibt dim V := m (≤ n). Gibt es zu jedem n ∈ N eine n-elementige Menge linear unabh¨ angiger Vektoren, so nennt man V unendlichdimensional und schreibt dim V := ∞. Besteht V nur aus dem Nullvektor, so setzt man dim V := 0.
4.2.5
Basis eines Vektorraumes
Es sei V = {0} ein Vektorraum u orper K. Eine Menge B ⊂ V heißt ¨ ber dem K¨ Basis von V , wenn sie die beiden folgenden Eigenschaften besitzt: (i) Span(B) = V . (ii) Die Menge B ist linear unabh¨angig. Im Fall V = {0} ist vereinbarungsgem¨aß ∅ die Basis von V . Die folgenden Aussagen sind ganz analog zu Satz I.8.12 und Folgerung I.8.13. 4.30 Satz. (Charakterisierung einer Basis) Es sei B = {x1 , . . . , xm } eine m-elementige Teilmenge von V . Dann sind die folgenden Aussagen ¨aquivalent: (i) B ist eine Basis von V . (ii) B ist linear unabh¨angig, und es gilt dim V = m. (iii) Span(B) = V , und es gilt dim V = m. (iv) Jeder Vektor x ∈ V ist Linearkombination λ1 x1 + . . . + λm xm mit eindeutig bestimmten Koeffizienten λ1 , . . . , λm ∈ K. ¨ Beweis: Wir beginnen mit einigen Vorbemerkungen. Ausgangspunkt aller Uberlegungen im Rn waren lineare Gleichungssysteme und deren L¨ osung mit Hilfe des Gaußschen Algorithmus. Zun¨ achst ist klar, wie Gleichungssysteme mit Koeffizienten und L¨ osungen aus K formuliert werden. Ferner ist unmittelbar einzusehen, dass der Gaußsche Algorithmus unver¨ andert richtig bleibt. Damit l¨asst sich aber auch das Fundamentallemma u ¨bertragen, wonach beliebige n+1 Vektoren aus Kn linear abh¨ angig sind. Der Beweis ergibt sich jetzt ¨ wie folgt durch eine einfache Ubertragung der entsprechenden Argumente aus I.8.2.4: (i)⇒(ii): Nach den Definitionen einer Basis und der Dimension gilt zun¨ achst m ≤ dim V . Andererseits impliziert das Fundamentallemma wie im Beweis von Satz I.8.12 (ii), dass beliebige m + 1 Vektoren aus Span(B) = V linear abh¨ angig sind. Also gilt auch dim V ≤ m und somit insgesamt dim V = m. (ii)⇒(iv): Man vergleiche den Beweis von Satz I.8.12 (i). (iv)⇒(i): Wir m¨ ussen zeigen, dass B linear unabh¨ angig ist und nehmen indirekt das Gegenteil an. Dann ist (zum Beispiel) xm Linearkombination von x1 , . . . , xm−1 . Wegen
4.2 Reelle und komplexe Vektorr¨aume
199
xm = 1 · xm gibt es dann zwei verschiedene Darstellungen von xm als Linearkombination von x1 , . . . , xm . Dieser Widerspruch zur vorausgesetzten Aussage (iv) beweist (i). (iii)⇔(i): Bisher haben wir bewiesen, dass die Aussagen (i),(ii) und (iv) gleichwertig ¨ sind. Aus der Aquivalenz von (i) und (ii) folgt jetzt die G¨ ultigkeit des Basisauswahlsatzes I.8.15 und damit auch die Aussage von Folgerung I.8.16. Damit ist auch die letzte ¨ Aquivalenz bewiesen.
Wir halten insbesondere fest, dass jeder endlichdimensionale Vektorraum V eine endliche Basis {x1 , . . . , xm } besitzt. Es ist dann oft bequemer, von der Basis x1 , . . . , xm zu sprechen, d.h. auf die Mengenschreibweise zu verzichten. Die Koeffizienten λ1 , . . . , λm in (iv) nennt man die Koordinaten von x ∈ V bez¨ uglich der Basis x1 , . . . , xm von V . Der Vektor (λ1 , . . . , λm ) ∈ Km ist der entsprechende Koordinatenvektor. Ganz analog zu I.8.2.5 kann man also auch hier eine Basis als Koordinatensystem in V bezeichnen. Wie sp¨ ater noch klarer werden wird, sind Koordinatensysteme ein gutes Hilfsmittel f¨ ur die Analyse der Eigenschaften von Abbildungen zwischen Vektorr¨aumen. Eine weitere Folgerung aus dem obigen Satz ist: 4.31 Folgerung. Ein unendlichdimensionaler Vektorraum besitzt keine endliche Basis. Beweis: H¨ atte V eine endliche Basis mit m ≥ 1 Elementen, so w¨ urde aus dem obigen Satz dim V = m < ∞ folgen.
Auch der Basiserg¨anzungssatz I.8.17 kann verallgemeinert werden: 4.32 Satz. (Erg¨anzung einer linear unabh¨angigen Menge zu einer Basis) Es sei U ⊂ V eine linear unabh¨angige Menge. Dann gibt es eine Basis B von V mit U ⊂ B. Im Fall dim V < ∞ wird dieser Satz wie Satz I.8.15 bewiesen. F¨ ur den Fall dim V = ∞ ben¨otigt man h¨ohere Methoden der Mengenlehre (sogenannte transfinite Induktion). Da wir diesen Teil des Satzes (welcher insbesondere die Existenz einer Basis sichert) sp¨ater nicht ben¨otigen, beweisen wir diese Aussage nicht. 4.33 Beispiel. (Kanonische Basis von Cn ) Der komplexe Vektorraum Cn besitzt die Dimension n. Eine Basis (die kanonische Basis) ist B = {e1 , . . . , en } mit ej = (0, . . . , 1, . . . , 0), j = 1, . . . , n. Hier steht die 1 der komplexen Zahlen an j-ter Stelle. Man beachte jedoch, dass Cn auch ein Vektorraum u ¨ber R ist, wenn man als skalare Faktoren ausschließlich reelle Zahlen zul¨ asst. In diesem Fall ist die Dimension von Cn gleich 2n. Dieser Sachverhalt wird sofort anhand des Falls n = 1 klar; eine Basis von C als Vektorraum u ¨ ber R ist B := {1, i}.
200
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
4.34 Beispiel. (Polynome) Wir betrachten den komplexen Vektorraum Poln (C) aller komplexwertigen Polynome mit maximalem Grad n ∈ N und die Polynome fk (z) := z k , z ∈ C, f¨ ur k = 0, . . . , n. Nat¨ urlich gilt Span(f0 , . . . , fn ) = Poln (C). Andererseits sind aber f0 , . . . , fn linear unabh¨angig. Sind n¨amlich λ0 , . . . , λn ∈ C mit λ0 f0 +. . .+λn fn = 0, so bedeutet diese Gleichung λ0 + λ1 z + . . . + λn z n = 0,
z ∈ C.
(4.26)
ur jedes Aus dem Identit¨ atssatz f¨ ur Polynome (Folgerung 4.19) ergibt sich λj = 0 f¨ j ∈ {0, . . . , n}. Damit besitzt Poln (C) die Dimension n + 1. Außerdem folgt, dass {fn : n ∈ N0 } eine Basis des komplexen Vektorraums Pol(C) aller Polynome ist. Dieser Vektorraum ist also unendlichdimensional. ¨ Man beachte, dass diese Uberlegungen in gleicher Weise f¨ ur reelle Polynome u ¨ber dem K¨orper R gelten. Dabei kann man aus dem Bestehen der Gleichung (4.26) f¨ ur λ0 , . . . , λn ∈ R und jedes z ∈ R durch Betrachten des Falls z → ∞ auf λn = . . . = λ0 = 0 schließen. W¨are n¨amlich λn = 0, so kann (4.26) f¨ ur jedes z = 0 in der ¨aquivalenten Form λn−1 1 λ0 1 λ1 1 n =0 λn z · 1 + + + ... + λn z λn z n−1 λn z n geschrieben werden. Da der Klammerausdruck f¨ ur z → ∞ gegen 1 konvergiert und somit f¨ ur hinreichend großes z von Null verschieden ist, muss λn = 0 gelten. Induktiv schließt man dann auf λn−1 = . . . = λ1 = λ0 = 0. Vor schnellen Verallgemeinerungen sei jedoch gewarnt! Der Vektorraum Pol(K) aller Polynome u orper K = {0, 1} = GF (2) (vgl. ¨ber dem kleinstm¨oglichen K¨ I.3.3.6) ist nicht unendlichdimensional, sondern zweidimensional! Dies liegt daran, dass wegen 0 = 0k und 1 = 1k die Funktionen x → fk (x) := xk , k = 1, 2, . . . u ¨bereinstimmen, also Span(f1 ) = Span({fk : k ∈ N}) gilt. Setzt man andererseits in die Gleichung λ0 f0 (x) + λ1 f1 (x) = 0, x ∈ K, zun¨achst x = 0 und danach x = 1 ein, so folgt λ0 = 0 und λ1 = 0. Dies zeigt, dass die Funktionen f0 und f1 linear unabh¨ angig sind und somit eine Basis von Pol(GF (2)) bilden. Im Folgenden betrachten wir h¨aufig Abbildungen zwischen Vektorr¨ aumen. F¨ ur derartige Abbildungen sind die Bezeichnungen Transformation oder Operator u aume meist Funktionen sind, ¨blich. Da die Elemente der auftretenden Vektorr¨ die mit den u ur ¨ blichen Symbolen f oder g bezeichnet werden, verwenden wir f¨ Abbildungen zwischen Vektorr¨aumen den Buchstaben T , welcher an das Wort Transformation“ erinnern soll. ”
4.2 Reelle und komplexe Vektorr¨aume
4.2.6
201
Lineare Abbildungen
In diesem und dem n¨achsten Unterabschnitt seien V und W Vektorr¨ aume u ¨ber dem gleichen K¨orper K. Eine Abbildung T : V → W heißt linear , falls sie additiv und homogen ist, d.h. falls T (λx + μy) = λT (x) + μT (y), x, y ∈ V, λ, μ ∈ K. Ist V endlichdimensional, so gibt es analog zu I.8.3.2 das folgende allgemeine Prinzip zur Konstruktion linearer Abbildungen. 4.35 Satz. (Lineare Fortsetzung) Es seien x1 , . . . , xn eine Basis von V und y1 , . . . , yn Vektoren aus W (die nicht notwendig verschieden sein m¨ ussen). Dann gibt es genau eine lineare Abbildung T : V → W mit T (xj ) = yj ,
j = 1, . . . , n.
(4.27)
Das folgende Beispiel zeigt, dass lineare Abbildungen zwischen endlichdimensionalen Vektorr¨aumen in kanonischer Weise durch Matrizen vermittelt werden (vgl. I.8.3.3 im Fall V = Rn , W = Rm ). 4.36 Beispiel. (Matrizen und lineare Abbildungen) Es seien V und W Vektorr¨aume u ¨ ber K mit dim V = n und dim W = m, wobei m, n ∈ N. Weiter seien x1 , . . . , xn eine Basis von V sowie y1 , . . . , ym eine Basis von W . Ist dann A = (ajk ) eine m × n-Matrix mit Eintr¨ agen aus K, so gibt es genau eine lineare Abbildung T : V → W mit T (xk ) =
m
ajk · yj ,
k = 1, . . . , n.
(4.28)
j=1
Die Matrix A heißt Darstellung von T bez¨ uglich der Basen {x1 , . . . , xn } und {y1 , . . . , ym }. 4.37 Beispiel. (Differentiation als linearer Operator) Es seien I ⊂ R ein offenes Intervall und k eine nat¨ urliche Zahl. Die mit C k (I) bezeichnete Menge aller k-mal stetig differenzierbaren Funktionen auf I ist ein reeller Vektorraum. Dieser unendlichdimensionale Vektorraum (er enth¨ alt u.a. alle Polynomfunktionen) ist ein Unterraum des Raumes C(I) =: C 0(I) aller stetigen Funktionen auf I. Der Operator f → T (f ) := f ,
f ∈ C k (I),
der jeder Funktion aus C k (I) deren Ableitung zuordnet, ist wegen (λf + μg) = λf + μg (λ, μ ∈ R, f, g ∈ C k (I)) eine lineare Abbildung von C k (I) (k ≥ 1) in C k−1 (I).
202
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
4.38 Beispiel. (Simpson-Quadraturoperator) Auf dem Vektorraum C[a, b] der stetigen Funktionen f : [a, b] → R wird durch b−a a+b T (f ) := f (a) + 4f + f (b) 6 2 ein linearer Operator T : C[a, b] → R definiert. Der Wert T (f ) ist die Approxib mation des Integrals a f (x) dx nach der Simpson-Regel (vgl. I.7.5.2).
4.2.7
Kern und Bild linearer Abbildungen
Ist T : V → W eine lineare Abbildung, so sind der Kern Kern(T ) := {x ∈ V : T (x) = 0} von T und das Bild Bild(T ) := T (V ) = {T (x) : x ∈ V } von T Unterr¨aume von V bzw. W . Die lineare Abbildung T ist genau dann injektiv, wenn Kern(T ) = {0}. Ferner gilt analog zu Satz I.8.25: 4.39 Satz. (Dimensionsformel) Ist T : V → W eine lineare Abbildung, so gilt dim Kern(T ) + dim Bild(T ) = dim V.
(4.29)
Beweis: Sind Kern(T ) und Bild(T ) beide endlichdimensional, so kann Formel (4.29) so wie Satz I.8.25 bewiesen werden. Ist dim Kern(T ) = ∞, so folgt auch dim V = ∞ und damit ebenfalls (4.29). Ist schließlich dim Bild(T ) = ∞, so muss auch dim V = ∞ sein. Anderenfalls k¨ onnten wir n¨amlich eine aus endlich vielen Vektoren x1 , . . . , xn bestehende Basis von V w¨ ahlen. Nach Satz 4.35 w¨are dann Bild(T ) = Span(T (x1 ), . . . , T (xn )). Aus dem Basisauswahlsatz w¨ urde sich dann der Widerspruch dim Bild(T ) ≤ n < ∞ ergeben.
4.40 Beispiel. Es sei V = W := Poln (R) der Vektorraum aller reellen Polynome vom H¨ ochstgrad n ≥ 1 (einschließlich des Nullpolynoms). Dieser Vektorraum hat die Dimension n + 1. Die durch f → T (f ) := f
(Ableitungsbildung)
4.2 Reelle und komplexe Vektorr¨aume
203
definierte lineare Abbildung besitzt wegen (d/dx)xk = kxk−1 (k = 1, . . . , n) die Eigenschaften Kern(T ) = {f ∈ Poln (R) : es gibt ein a ∈ R mit f ≡ a}, Bild(T ) = Poln−1 (R). In diesem Fall gilt dim Bild(T ) = n und dim Kern(T ) = 1. Als Folgerung aus Satz 4.39 erhalten wir das nachstehende Resultat (vgl. Folgerung I.8.26): ¨ 4.41 Satz. (Aquivalenz von Injektivit¨at und Surjektivit¨ at) Es gelte dim V = dim W < ∞, und es sei T : V → W eine lineare Abbildung. Dann gilt: T injektiv ⇐⇒ T surjektiv. Eine lineare und bijektive Abbildung T : V → W heißt Isomorphismus zwischen V und W . Gibt es einen solchen Isomorphismus, so nennt man V und W isomorph. Nach Satz 4.41 ist jede injektive oder surjektive lineare Abbildung bereits ein Isomorphismus. Ist T : V → W ein Isomorphismus, so auch die Umkehrabbildung T −1 : W → V . Soweit lediglich die Vektorraumeigenschaften von V bzw. W betroffen sind, muss zwischen isomorphen Vektorr¨aumen nicht mehr unterschieden werden. Ein Isomorphismus wirkt als bloße Umbenennung“ der Vektoren aus V . ” 4.42 Satz. (Isomorphien zwischen endlichdimensionalen Vektorr¨ aumen) Zwei endlichdimensionale Vektorr¨ aume ¨ uber demselben K¨orper sind genau dann isomorph, wenn sie die gleiche Dimension besitzen. Beweis: Ist T ein Isomorphismus zwischen V und W , so ist Kern(T ) = {0}, und aus der Dimensionsformel (4.29) folgt dim W = dim V . Wir setzen jetzt umgekehrt n := dim V = dim W voraus. Im Fall n = 0 ist nichts zu beweisen. Im Fall n ≥ 1 garantiert Satz 4.35 mit einer Basis {y1 , . . . , yn } von W die Existenz einer surjektiven (und damit auch injektiven) linearen Abbildung T : V → W .
4.43 Satz. (Kn als Prototyp eines n-dimensionalen Vektorraums) Jeder n-dimensionale Vektorraum u ¨ber dem K¨orper K ist zu Kn isomorph. Beweis: Es sei {x1 , . . . , xn } eine Basis des n-dimensionalen Vektorraums V , und es sei {e1 , . . . , en } die kanonische Basis von Kn . Dann ist die durch T (xj ) := ej , j = 1, . . . , n, eindeutig festgelegte lineare Abbildung T ein Isomorphismus zwischen V und Kn .
Man beachte, dass mit den obigen Bezeichnungen T (x) den Koordinatenvektor angigkeit von m von x bez¨ uglich der Basis {x1 , . . . , xn } liefert. Die lineare Unabh¨ Vektoren y1 , . . . , ym ∈ V ist wegen der Injektivit¨ at von T ¨ aquivalent zur linearen Unabh¨angigkeit der Koordinatenvektoren T (y1 ), . . . , T (ym ) ∈ Kn .
204
4.3
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Normierte Vektorr¨ aume
Es sei V ein Vektorraum u aufig besitzt V eine ¨ ber dem K¨orper K ∈ {R, C}. H¨ zus¨atzliche Struktur, die es gestattet, die vom Rn her bekannten Begriffe Abstand, Konvergenz, Stetigkeit usw. zu verallgemeinern. Eine Norm auf V ist eine Abbildung x → x von V in [0, ∞), so dass f¨ ur alle x, y ∈ V und alle λ ∈ K die folgenden Eigenschaften erf¨ ullt sind (vgl. 1.1.4): x = 0 ⇐⇒ x = 0,
(Definitheit),
(4.30)
(Homogenit¨ at),
(4.31)
(Dreiecksungleichung).
(4.32)
λx = |λ| · x, x + y ≤ x + y,
Ist · eine Norm auf V , so nennt man das Paar (V, · ) (oder auch kurz uher interpretieren wir x als L¨ ange von x V ) einen normierten Raum . Wie fr¨ und x − y als Abstand zwischen x und y. Sind V und W normierte R¨ aume, so schreiben wir zur besseren Unterscheidung der Normen auf V und W auch · V und · W . 4.44 Beispiel. (Der Raum Kn ) Die Menge Kn ist ein normierter Vektorraum. Eine Standardnorm ist die euklidische Norm n |xj |2 , x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Kn . x2 = j=1
Sofern nichts anderes gesagt wird, werden wir im Kn diese Norm zugrunde legen. ater als Folgerung aus einem Im Fall Cn wird sich die Dreiecksungleichung sp¨ allgemeineren Resultat ergeben. 4.45 Beispiel. (Die R¨aume B[a, b] und C[a, b], Supremumsnorm) Auf dem reellen Vektorraum B[a, b] aller beschr¨ ankten Funktionen f : [a, b] → R (vgl. Beispiel 4.25) definiert die Festsetzung f ∞ := sup{|f (x)| : x ∈ [a, b]},
f ∈ B([a, b]),
(4.33)
eine Norm, die sogenannte Supremumsnorm von f . Dabei sind die Eigenschaften der Definitheit und der Homogenit¨ at unmittelbar klar. Die Dreiecksungleichung ergibt sich aus der Absch¨ atzung |(f + g)(x)| = |f (x) + g(x)| ≤ |f (x)| + |g(x)| ≤ f ∞ + g∞ und anschließender Supremumsbildung auf der linken Seite. Ein wichtiger Unterraum von B[a, b] ist die Menge C[a, b] aller stetigen Funktionen f : [a, b] → R.
4.3 Normierte Vektorr¨aume
205
f (x)
f (x)
f ∞
f 1
a
x
b
a
b
x
Bild 4.6: Supremumsnorm (links) und L1 -Integralnorm als Fl¨ ache (rechts)
4.46 Beispiel. (Raum C[a, b], L1 -Integralnorm) Auf dem reellen Vektorraum C[a, b] definiert das Integral b |f (x)| dx f 1 :=
(4.34)
a
eine Norm, die sogenannte L1 -Integralnorm . Hier ergibt sich die Dreiecksungleichung f + g1 ≤ f 1 + g1 aus der Monotonie des Integrals, und die Homogenit¨atseigenschaft (4.31) ist offensichtlich. Zum Nachweis der Definitheitseigenschaft ist zu beachten, dass das neutrale Element b 0 der Addition in C[a, b] die Nullfunktion f ≡ 0 ist. Es gelte a |f (x)| dx = 0. Wir nehmen indirekt an, dass es ein x0 ∈ [a, b] mit f (x) = 0 gibt und setzen δ := |f (x0 )|. Wegen der Stetigkeit von f existiert ein Intervall I ⊂ [a, b] positiver L¨ange mit |f (x)| ≥ δ/2 f¨ ur jedes x ∈ I. Also folgt b δ |f (x)| dx ≥ |f (x)| dx ≥ |I| · > 0, 2 I a was ein Widerspruch ist. Jede der Normen f ∞ und f 1 beschreibt in eigener Weise, wie groß der Abstand“ der Funktion f zur Nullfunktion ist. W¨ ahrend es bei der Supremums” norm nur auf den betragsm¨aßig gr¨oßten Funktionswert ankommt (Bild 4.6 links), ist es bei der L1 -Integralnorm der Inhalt der in Bild 4.6 rechts grau darstellten Fl¨ache zwischen dem Graphen von f und der x-Achse. Bild 4.7 verdeutlicht noch einmal diese unterschiedlichen Sichtweisen von der oße“ einer Funktion. Die Sudurch die Normen f ∞ und f 1 gemessenen Gr¨ ” premumsnorm der dort dargestellten Dreiecksfunktion kann durch geeignete Wahl von K beliebig groß gemacht werden. Ist K fest gew¨ ahlt, so kann die L¨ ange ε der Basis des Dreiecks so klein gew¨ahlt werden, dass die Integralnorm f 1 = Kε/2 beliebig klein wird, also diese Funktion im Sinne der Integralnorm die Nullfunktion beliebig genau approximiert!
206
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume f (x)
K
Bild 4.7: Eine Funktion f mit f ∞ = K und f 1 = K ·ε/2
a
4.3.1
ε
b
x
Konvergenz und topologische Grundbegriffe
Eine Folge (xn ) = (xn )n∈N in einem Vektorraum V (synonym: mit Werten in V ) ist eine Abbildung n → xn von N in V . (Analog definiert man eine Folge (xn )n≥m f¨ ur m ∈ N.) Sind die Folgenglieder xn einer Folge (xn ) in V alle in einer Menge D ⊂ V , so spricht man von einer Folge aus D. Ist (V, · ) ein normierter Raum, so wird die Konvergenz einer Folge (xn ) mit Werten in V gegen einen Grenzwert x ∈ V wie in 1.1.6 durch lim xn = x :⇐⇒ lim xn − x = 0
n→∞
n→∞
ur n → ∞). definiert. Wie fr¨ uher schreiben wir hierf¨ ur auch xn → x (f¨ Der Grenzwert einer konvergenten Folge in (V, · ) ist eindeutig bestimmt. Aus xn → x und xn → y folgt n¨amlich wegen x − y ≤ x − xn + y − xn und Grenz¨ ubergang n → ∞ die Gleichheit x − y = 0 und somit x = y. Die vertrauten Rechenregeln xn → x =⇒ λxn → λx,
λ ∈ K,
xn → x, yn → y =⇒ xn + yn → x + y bleiben auch in allgemeinen normierten R¨aumen g¨ ultig. Die Mengen B(x, r) := {y ∈ V : y − x ≤ r} und B ◦ (x, r) := {y ∈ V : y − x < r} nennt man abgeschlossene bzw. offene Kugel mit Mittelpunkt x und Radius r. Die Begriffe Umgebung, innerer Punkt, offene Menge, abgeschlossene Menge, abatze 1.6 geschlossene H¨ ulle werden so definiert wie im Rn . Die entsprechenden S¨ und 1.9 bleiben unver¨andert g¨ ultig. 4.47 Beispiel. (Konvergenz und Kugeln im Raum (C[a, b], · ∞ )) Im Raum C[a, b] der stetigen reellwertigen Funktionen f : [a, b] → R bedeutet fn − f ∞ → 0 die gleichm¨aßige Konvergenz der Folge (fn ) gegen f (vgl. I.6.5.1).
4.3 Normierte Vektorr¨aume
207
Bild 4.8 veranschaulicht die abgeschlossene Kugel“ ” B(f, r) = {g ∈ C[a, b] : g − f ∞ ≤ r} um f mit Radius r. Legt man um den Graphen von f ein in Bild 4.8 grau gezeichnetes Band der vertikalen Breite 2r mit Mittenlinie“ Graph(f ), so besteht ” B(f, r) aus allen stetigen Funktionen g, deren Graph ganz innerhalb dieses Bandes verl¨auft. Dabei darf Graph(g) den gestrichelt gezeichneten Rand des Bandes ber¨ uhren. Letzteres ist jedoch f¨ ur Funktionen in der offenen Kugel B ◦ (f, r) nicht erlaubt.
2r
f (x)
a
b
x
Bild 4.8: Kugel B(f, r) um f mit Radius r in der Supremumsnorm
Der n¨achste Satz zeigt, dass jede stetige Funktion auf beschr¨ ankten und abgeschlossenen Intervallen gleichm¨aßig durch Polynome approximiert werden kann. 4.48 Satz. (Weierstraßscher Approximationssatz) Es seien [a, b] ein abgeschlossenes und beschr¨anktes Intervall und f : [a, b] → R eine stetige Funktion. Dann gibt es zu jedem ε > 0 ein Polynom P mit f − P ∞ = max{|f (x) − P (x)| : a ≤ x ≤ b} ≤ ε. ¨ Beweis: Durch Ubergang zu den Funktionen t → f (a + t(b − a)), t → P (a + t(b − a)), 0 ≤ t ≤ 1, kann o.B.d.A. a = 0 und b = 1 angenommen werden. F¨ ur n ∈ N definieren wir das sog. n-te Bernˇstein2 -Polynom zu f durch n n k k f Bn (x) := x (1 − x)n−k . f n k k=0
2
Sergej Natanowitsch Bernˇstein (1880–1968), wirkte ab 1933 in St. Petersburg und nach 1945 in Moskau (jeweils an der Akademie der Wissenschaften). Hauptarbeitsgebiete: Wahrscheinlichkeitsrechnung, Differentialgleichungen, konstruktive Funktionentheorie.
208
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Da f nach Satz I.7.7 gleichm¨aßig stetig ist, existiert zu beliebigem ε > 0 ein δ > 0 mit |f (x) − f (y)| ≤ ε
f¨ ur alle x, y ∈ [a, b] mit |x − y| ≤ δ.
(4.35)
Nach Satz I.6.5 ist f beschr¨ankt; es gibt also ein M ≥ 0 mit sup{|f (x)| : a ≤ x ≤ b} ≤ M.
(4.36)
mit der Binomialverteilung Bin(1, x), so Sind X1 , . . . , Xn unabh¨angige Zufallsvariablen ¯ n := n−1 n Xj nach I.4.4.2., (I.4.30) und (I.4.75) gilt f¨ ur das arithmetische Mittel X j=1 ¯ n ) = x, E(X
¯n) = V(X
x(1 − x) . n
¯ n ) folgt dann aus der Dreiecksungleichung sowie (4.35), (4.36) und Wegen Bnf (x) = E f (X der Tschebyschow-Ungleichung (Satz I.4.9) f¨ ur jedes x ∈ [0, 1] ¯ n ) − f (x)| ≤ E |f (X ¯ n ) − f (x)| |Bnf (x) − f (x)| = | E f (X ¯ n − x| ≤ δ} + E |f (X ¯ n − f (x)| 1{|X ¯ n − x| > δ} ¯ n ) − f (x)| 1{|X = E |f (X ¯ n − x| > δ) ≤ ε + 2M P(|X ≤ε+
M 2M x(1 − x) ≤ε+ nδ 2 2nδ 2
und somit Bnf − f ∞ ≤ 2ε f¨ ur gen¨ ugend großes n.
4.3.2
Kompaktheit
Eine Teilmenge M eines normierten Raumes V heißt beschr¨ankt , wenn es ein C > 0 mit x ≤ C f¨ ur jedes x ∈ M gibt, wenn also M in einer geeigneten Kugel um 0 enthalten ist. Die Menge M ⊂ V heißt kompakt (genauer: folgenkompakt), wenn jede Folge mit Elementen aus M eine Teilfolge besitzt, welche gegen einen Grenzwert in M konvergiert. 4.49 Satz. (Kompakte Mengen sind abgeschlossen und beschr¨ ankt) Es seien (V, · ) ein normierter Raum und M ⊂ V . Dann gilt: M kompakt =⇒ M abgeschlossen und beschr¨ankt. Beweis: Ist x ∈ M , so gibt es nach Satz 1.9 (ii) und der Bemerkung vor Beispiel 4.47 eine Folge (xn ) aus M mit xn → x. Wegen der Kompaktheit von M besitzt (xn ) eine Teilfolge, die gegen ein gewisses y ∈ M konvergiert. Da diese Teilfolge auch gegen x konvergiert, liefert die Eindeutigkeit des Grenzwertes x = y und somit x ∈ M , also die Abgeschlossenheit von M . W¨are M nicht beschr¨ ankt, g¨ abe es eine Folge (xn ) aus M mit xn ≥ n, n ∈ N. Diese Folge kann jedoch keine konvergente Teilfolge besitzen, was der Kompaktheit von M widerspricht.
4.3 Normierte Vektorr¨aume
209
Wie wir sp¨ater (s. Satz 4.62) sehen werden, ist die Umkehrung des obigen Satzes in endlichdimensionalen normierten R¨ aumen richtig. Im Allgemeinen ist sie jedoch falsch: 4.50 Beispiel. (Kompaktheit und unendlichdimensionale R¨ aume) Im Raum C[0, 1] mit der in Beispiel 4.45 definierten Supremumsnorm · ∞ ist die Menge M := {f ∈ C[0, 1] : f ∞ ≤ 1} als Kugel um 0 mit Radius 1 beschr¨ankt (im Sinne der Norm · ∞ ). Sie ist auch abgeschlossen im Sinne von Satz 1.9 (ii), denn aus fk ∈ M und fk − f ∞ → 0 f¨ ur k → ∞ folgt f ∈ M . Die Menge M ist aber nicht kompakt! Ist n¨ amlich ur jedes j ∈ N mit fk ∈ C[0, 1] so beschaffen, dass fk (1/k) = 1 und fk (1/j) = 0 f¨ j = k gelten (siehe Bild 4.9 f¨ ur eine m¨ogliche Wahl von fk ), so gilt fk − fj ∞ = 1,
k = j.
Aus diesem Grund besitzt die Folge (fk )k≥1 keine konvergente Teilfolge. f1 (x)
f2 (x)
f3 (x)
1
1
1 2
0
1 x
0
1
1 3
1 2
1 x
0
1 1 4 3
1 2
1 x
Bild 4.9: Funktionen f1 , f2 und f3 mit fj − fk ∞ = 1 (1 ≤ j = k ≤ 3)
4.3.3
Stetigkeit
Es seien (V, ·V ) und (W, ·W ) normierte R¨aume. Ist D ⊂ V und ist T : D → W eine Abbildung, so wird die Stetigkeit von T in einem Punkt x0 ∈ D analog zu fr¨ uher durch die Bedingung f¨ ur jede Folge (xn ) aus D mit xn → x0 gilt T (xn ) → T (x0 ) definiert.
210
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Man kann wieder zeigen, dass T genau dann stetig in x0 ∈ D ist, wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass gilt: ur jedes x ∈ D mit x − x0 V ≤ δ. T (x) − T (x0 )W ≤ ε f¨
(4.37)
Eine Abbildung T : D → W heißt stetig auf D, wenn sie in jedem Punkt x0 von D stetig ist. Jede Linearkombination λS + μT , λ, μ ∈ K, zweier stetiger Abbildungen S, T : D → W ist stetig. Dabei ist (λS + μT )(x) := λS(x) + μT (x),
x ∈ V.
Auch die Komposition stetiger Abbildungen ist wieder stetig. 4.51 Beispiel. (Stetigkeit der Norm-Bildung) Ist V (, · ) ein normierter Raum, so ist die Norm-Bildung, also die Abbildung x → x von V in R, stetig. Diese Tatsache folgt aus der Absch¨ atzung |x − y| ≤ x − y,
x, y ∈ V,
die ihrerseits eine Konsequenz der Dreiecksungleichungen x = x − y + y ≤ x − y + y,
y = y − x + x ≤ y − x + x
ist. 4.52 Beispiel. (Die Ableitungsbildung ist nicht stetig!) Es seien V := C 1 [0, 1] die Menge der auf [0, 1] stetig differenzierbaren Funktionen und W := C[0, 1], jeweils versehen mit der Supremumsnorm · ∞ . Wir behaupten, dass die Ableitungsbildung, also der durch T (f )(x) := f (x),
x ∈ [0, 1],
definierte Operator T : C 1 [0, 1] → C[0, 1], nicht stetig ist. Hierzu betrachten wir die durch fn (x) := n−1 sin(nx), 0 ≤ x ≤ 1, definierte Funktionenfolge (fn )n≥1 in ur n → ∞, was zeigt, dass (fn ) im Sinne der Norm V . Es gilt fn ∞ = n−1 → 0 f¨ · ∞ gegen die Nullfunktion konvergiert. W¨ are die Ableitungsbildung stetig, so m¨ usste auch T (fn )∞ → 0 gelten, was aber wegen T (fn )(x) = cos(nx) und T (fn )∞ ≥ |T (fn )(1/n)| = cos(1) > 0 nicht erf¨ ullt ist. 4.53 Beispiel. Gegeben seien n Vektoren x1 , . . . , xn in einem normierten Raum V . Dann ist die Abbildung (λ1 , . . . , λn ) → λ1 x1 + . . . + λn xn von Kn in V stetig.
4.3 Normierte Vektorr¨aume
211
Den folgenden Satz beweist man so wie Satz 1.21. 4.54 Satz. (Charakterisierung der Stetigkeit) Es seien V und W normierte R¨ aume, T : V → W eine Funktion und D ⊂ V eine offene Menge. Dann ist T genau dann stetig auf D, wenn das Urbild T −1 (U ) jeder offenen Menge U ⊂ W eine offene Teilmenge von V ist. 4.55 Satz. (Das stetige Bild einer kompakten Menge ist kompakt) Es seien V und W normierte R¨ aume, D ⊂ V eine kompakte Teilmenge von V und T : D → W eine stetige Abbildung. Dann ist T (D) eine kompakte Teilmenge von W . Beweis: Es sei (yk ) eine beliebige Folge in T (D). Zu jedem k ∈ N w¨ ahlen wir ein xk ∈ D mit T (xk ) = yk . Weil D kompakt ist, besitzt die Folge (xk ) eine gegen ein gewisses x ∈ D konvergierende Teilfolge (xk ). Aus der Stetigkeit von T ergibt sich die Konvergenz T (xk ) → T (x) ∈ T (D) f¨ ur k → ∞. Damit besitzt (yk ) eine konvergente Teilfolge mit Grenzwert in T (D), was zu zeigen war.
Aus dem letzten Satz erhalten wir jetzt ohne Schwierigkeiten die Min-MaxEigenschaft stetiger reellwertiger Funktionen mit kompaktem Definitionsbereich. 4.56 Satz. (Min-Max-Eigenschaft stetiger Funktionen auf kompakten Mengen) Es sei V ein normierter Raum. Ist f : D → R eine stetige Funktion mit kompaktem Definitionsbereich D ⊂ V , so nimmt f auf D ihr Minimum und Maximum an, d.h. es gibt x0 , x1 ∈ D mit der Eigenschaft f (x0 ) = min{f (x) : x ∈ D},
f (x1 ) = max{f (x) : x ∈ D}.
Beweis: Wir zeigen, dass f auf D ein Minimum annimmt und setzen hierzu s := inf{f (x) : x ∈ D}. Nach Definition des Infimums gibt es eine Folge (xn ) aus D mit f (xn ) → s f¨ ur n → ∞. Wegen der Kompaktheit von D existiert eine Teilfolge (xn ) von (xn ) mit xn → x0 f¨ ur ein x0 ∈ D. Da f stetig ist, gilt f (xn ) → f (x0 ). Weil f (xn ) als Teilfolge einer gegen s konvergenten Folge ebenfalls gegen s konvergiert, gilt f (x0 ) = s, was zu zeigen war.
4.3.4
¨ Aquivalente Normen
Zwei Normen · und · auf einem Vektorraum V heißen ¨aquivalent , wenn es positive Zahlen c1 , c2 gibt, so dass c1 · x ≤ x ≤ c2 · x,
x ∈ V.
¨ Aquivalente Normen erzeugen denselben Konvergenz- und denselben Stetigkeitsbegriff. Es gilt:
212
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
¨ 4.57 Satz. (Aquivalenz von Normen im endlichdimensionalen Fall) Es sei V ein endlichdimensionaler Vektorraum. Dann sind je zwei Normen auf V ¨aquivalent. Beweis: Im Fall n := dim V = 0 ist nichts zu beweisen. Wir setzen also n ≥ 1 voraus und w¨ ahlen eine Basis x1 , . . . , xn von V . Jedes x ∈ V besitzt eine Darstellung x = λ1 x1 + . . . + λn xn mit eindeutig bestimmten Koeffizienten λ1 , . . . , λn , und wir definieren x1 := |λ1 | + . . . + |λn |. Man kann leicht u ufen, dass ·1 eine Norm auf V ist. Wir w¨ ahlen jetzt eine beliebige ¨berpr¨ aquivalent sind. Als Komposition stetiger Norm · auf V und zeigen, dass · 1 und · ¨ Abbildungen ist (λ1 , . . . , λn ) → f (λ1 , . . . , λn ) := λ1 x1 + . . . + λn xn eine stetige Abbildung von Kn in R. Die Menge B1 := {(λ1 , . . . , λn ) ∈ Kn : |λ1 | + . . . + |λn | = 1} ist abgeschlossen und beschr¨ankt. Weil f auf B1 nirgends verschwindet, folgt aus Satz 1.18 (im Fall K = C muss man diesen Satz auf R2n anwenden) δ := inf{λ1 x1 + . . . + λn xn : |λ1 | + . . . + |λn | = 1} > 0.
(4.38)
Setzt man in (4.38) λj := μj /(|μ1 | + . . . + |μn |), μ1 , . . . , μn ∈ K, (μ1 , . . . , μn ) = (0, . . . , 0), so folgt |μ1 | + . . . + |μn | ≤ δ −1 μ1 x1 + . . . + μn xn ,
μ1 , . . . , μn ∈ K.
(4.39)
urzung (Diese Ungleichung gilt offenbar auch im Fall μ1 = . . . = μn = 0). Mit der Abk¨ c := max{xj : j = 1, . . . , n} liefert die Dreiecksungleichung μ1 x1 + . . . + μn xn ≤ |μ1 |·x1 + . . . + |μn |·xn ≤ c · (|μ1 | + . . . + |μn |). Kombiniert man dieses Resultat mit (4.39), so folgt x1 ≤ δ −1 x ≤ c · x1 ,
x ∈ V,
¨ also die behauptete Aquivalenz von · 1 und · .
Nach diesem Satz ist es f¨ ur Konvergenzbetrachtungen in endlichdimensionalen normierten R¨aumen egal, welche Norm zugrunde gelegt wird. Wie das folgende Beispiel zeigt, gilt dies jedoch nicht im unendlichdimensionalen Fall. 4.58 Beispiel. (Die Normen · ∞ und · 1 sind nicht a ¨quivalent) Die Menge C[a, b] der stetigen reellwertigen Funktionen auf einem Intervall [a, b] wird sowohl unter der Supremumsnorm · ∞ (Beispiel 4.45) als auch unter der L1 -Integralnorm · 1 (Beispiel 4.46) zu einem normierten Raum. Wegen b b f 1 = |f (x)| dx ≤ sup{|f (x)| : a ≤ x ≤ b} · 1 dx = (b − a) · f ∞ a
a
4.3 Normierte Vektorr¨aume
213
ist die Integralnorm insofern schw¨acher“ als die Supremumsnorm, als die Kon” vergenz fn − f ∞ → 0 die Konvergenz fn − f 1 → 0 zur Folge hat. Bild 4.7 zeigt, dass es jedoch keine Konstante C > 0 mit f ∞ ≤ C · f 1 f¨ ur jedes f ∈ C[a, b] geben kann. Definieren wir n¨amlich fn als Dreiecksfunktion wie in √ √ Bild 4.7 veranschaulicht mit K := n und ε := 2/n, so folgt fn ∞ = n → ∞ √ und fn 1 = 1/ n → 0 f¨ ur n → ∞. Die Normen · 1 und · ∞ sind also nicht ¨aquivalent. Die Stetigkeit linearer Operatoren (Abbildungen) kann wie folgt charakterisiert werden: 4.59 Satz. (Charakterisierung der Stetigkeit linearer Abbildungen) aume und T : V → W ein linearer Es seien (V, · V ) und (W, · W ) normierte R¨ Operator. Dann sind die folgenden Aussagen ¨aquivalent: (i) T ist stetig. (ii) T ist stetig in 0 ∈ V . (iii) Es gibt ein C > 0 mit T (x)W ≤ C · xV , x ∈ V . Beweis: Zu beweisen sind nur zwei Implikationen. (ii)⇒(iii): Ist T stetig in 0, so gibt es ein δ > 0 mit T (x) − T (0)W = T (x)W ≤ 1 ur y ∈ V mit y = 0 k¨ onnen wir diese Ungleichung f¨ ur f¨ ur jedes x ∈ V mit xV ≤ δ. F¨ −1 −1 x := y−1 δy verwenden und erhalten y δT (y) ≤ 1 und damit (iii) mit C = δ . W V V (iii)⇒(i): F¨ ur alle x, y ∈ V gilt T (x) − T (y)W = T (x − y)W ≤ C · x − yV . Die Funktion T ist also sogar gleichm¨aßig stetig (vgl. Satz 1.20).
4.60 Satz. (Lineare Abbildungen auf endlichdimensionalen R¨ aumen sind stetig) Ist in der Situation von Satz 4.59 der normierte Raum V endlichdimensional, so ist jeder lineare Operator T : V → W stetig. Beweis: Weil im Fall dim V = 0 nichts zu beweisen ist, kann n := dim V > 0 vorausgesetzt werden. Wegen Satz 4.57 k¨onnen wir auf V mit der Beweis des Satzes im n definierten Norm x1 = |λ1 | + . . .+ |λn | arbeiten. Dabei ist x = j=1 λj xj die eindeutig bestimmte Koordinatendarstellung von x ∈ V bez¨ uglich der Basis x1 , . . . , xn . Mit C := max{T (xj )W : j = 1, . . . , n} folgt T (x)W = T (λ1 x1 + . . . + λn xn )W ≤ |λ1 |·T (x1 )W + . . . + |λn |·T (xn )W ≤ C · (|λ1 | + . . . + |λn |) = C · x1 , so dass die Stetigkeit von T aus Satz 4.59 folgt.
Eine Kombination der S¨atze 4.42 und 4.60 liefert:
214
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
4.61 Folgerung. Gilt dim V = dim W < ∞, so gibt es einen stetigen Isomorphismus T : V → W , dessen Umkehrabbildung T −1 ebenfalls stetig ist. 4.62 Satz. (Kompaktheit in endlichdimensionalen R¨ aumen) Es seien (V, · ) ein endlichdimensionaler normierter Raum und M eine beschr¨ ankte und abgeschlossene Teilmenge von V . Dann ist M kompakt. Beweis: Es sei n := dim(V ) > 0. Wir setzen W := Rn und w¨ ahlen T entsprechend Folgerung 4.61. Satz 4.54 (oder ein direktes Argument) zeigt, dass T (M ) abgeschlossen ist. Weil x → T (x)2 als Komposition zweier stetiger Abbildungen stetig ist (Beweis analog zu I.6.2!), folgt aus Satz 4.59, dass T (M ) beschr¨ ankt ist. Damit k¨ onnen wir den Satz 1.5 von Bolzano–Weierstraß anwenden. Ist also (xk ) eine Folge in M , so besitzt die Folge (f (xk )) eine gegen ein y ∈ T (M ) konvergierende Teilfolge. Damit besitzt (xk ) eine gegen f −1 (y ) ∈ M konvergierende Teilfolge.
4.3.5
Die Norm stetiger linearer Operatoren
Sind (V, · V ) und (W, · W ) normierte R¨ aume und T : V → W ein stetiger linearer Operator, so nennt man die (nach Satz 4.59 (iii) wohldefinierte) Zahl ur jedes x ∈ V } T := inf{C > 0 : T (x)W ≤ C · xV f¨ die Norm (oder Operatornorm ) von T . Man beachte, dass die Norm eines linearen Operators T nicht nur von T , sondern auch von den Normen auf V und W abh¨ angt. Aus der Definition folgt die wichtige Ungleichung T (x)W ≤ T ·xV ,
x ∈ V.
Es gibt alternative Beschreibungen f¨ ur die Norm von T : 4.63 Satz. (Charakterisierung der Operatornorm) Ist T : V → W ein stetiger linearer Operator, so gilt T = sup{T (x)W : xV = 1} = sup{T (x)W : xV ≤ 1}. Beweis: Aus (4.40) folgt sup{T (x)W : xV = 1} ≤ sup{T (x)W : xV ≤ 1} ≤ T . Umgekehrt erhalten wir wegen der Linearit¨at von T f¨ ur jedes y ∈ V mit y = 0 y y T (y)W = T yV · = yV · T yV yV W W y = yV · T ≤ yV · sup{T (x)W : xV = 1} yV W und damit T ≤ sup{T (x)W : xV = 1}.
(4.40)
4.3 Normierte Vektorr¨aume
215
4.64 Beispiel. (Integrationsoperator) Auf dem Raum (C[a, b], · ∞ ) ist der Integrationsoperator T : C[a, b] → C[a, b] durch x T (f )(x) := f (y) dy, a ≤ x ≤ b, a
definiert. Dieser Operator ist linear. Wegen ' x ( ' x ( f (y) dy : a ≤ x ≤ b ≤ sup |f (y)| dy : a ≤ x ≤ b T (f )∞ = sup a a ' x ( ≤ sup f ∞ dy : a ≤ x ≤ b = (b − a) · f ∞ a
gilt T ≤ (b − a). Da f¨ ur die Funktion f0 (x) := 1, a ≤ x ≤ b, in dieser Ungleichungskette stets das Gleichheitszeichen gilt, folgt T = b − a. 4.65 Beispiel. (Simpson-Quadraturoperator) ankten Funktionen auf Auf dem normierten Raum (B([a, b]), · ∞ ) der beschr¨ [a, b] ist der (lineare) Simpsonsche Quadraturoperator T : B[a, b] → R durch a+b b−a · f (a) + 4 · f + f (b) T (f ) := 6 2 definiert. Unter Zugrundelegung der Betragsfunktion als Norm auf R gilt f¨ ur jedes f ∈ B[a, b] a + b b−a |T (f )| ≤ · |f (a)| + 4 · f + |f (b)| 6 2 b−a ≤ · 6 · f ∞ = (b − a) · f ∞ 6 und somit T ≤ b − a. Da f¨ ur die schon in Beispiel 4.65 verwendete Funktion f0 ≡ 1 das Gleichheitszeichen angenommen wird, folgt T = b − a. 4.66 Beispiel. (Multiplikationsoperator) Es seien a, b ∈ R mit 0 ≤ a < b. Auf dem normierten Raum (C[a, b], · ∞ ) ist der Multiplikationsoperator T : C[a, b] → C[a, b] durch T (f )(x) := x · f (x),
a ≤ x ≤ b,
definiert. Offenbar ist T ein linearer Operator. Wegen T (f )∞ = sup{|x · f (x)| : a ≤ x ≤ b} = sup{|x| · |f (x)| : a ≤ x ≤ b} ≤ b · f ∞ , gilt T ≤ b. F¨ ur die Funktion f0 ≡ 1 gilt T (f0 )∞ = sup |x| = b = b · f0 ∞ . a≤x≤b
Somit folgt T = b. F¨ ur beliebige a, b ∈ R mit a < b ergibt sich T = max(|a|, |b|).
216
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
4.67 Beispiel. (Zeilensummennorm einer Matrix) Wir betrachten eine m×n-Matrix A = (ajk ) und identifizieren A mit der linearen Abbildung x → A · x von Rn in Rm . Zun¨achst versehen wir sowohl den Rn als auch den Rm mit der in 1.1.4 eingef¨ uhrten Maximumsnorm · ∞ . F¨ ur jedes x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn mit x∞ ≤ 1 ergibt sich (mit einer selbsterkl¨ arenden“ ” Notation f¨ ur das Maximum) n n n ajk xk ≤ max |ajk | · |xk | ≤ max |ajk |. (4.41) A · x∞ = max 1≤j≤m
k=1
1≤j≤m
1≤j≤m
k=1
k=1
Also gilt A ≤ max
1≤j≤m
n
|ajk |,
(4.42)
k=1
und durch geeignete Wahl von xk ∈ {−1, 1} in (4.41) erkennt man, dass hier sogar das Gleichheitszeichen gilt. Auf der rechten Seite von (4.42) steht die sog. Zeilensummennorm von A. Beispielsweise besitzt die Matrix 2 −6 −5 A := 10 0 1 die Zeilensummennorm max(2 + 6 + 5, 10 + 0 + 1) = 13. 4.68 Beispiel. (Spaltensummennorm einer Matrix) In der Situation von Beispiel 4.67 versehen wir jetzt den Rn und den Rm mit der in 1.1.4 eingef¨ uhrten Betragssummennorm · 1 . F¨ ur jedes x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Rn mit x1 ≤ 1 gilt A · x1 =
m n n m m ajk xk ≤ |ajk |·|xk | ≤ max |ajk | j=1 k=1
1≤k≤n
k=1 j=1
(4.43)
j=1
und somit A ≤ max
1≤k≤n
m
|ajk |.
(4.44)
j=1
Wiederum erkennt man durch geeignete Wahl von xk ∈ {0, 1} in (4.43), dass hier das Gleichheitszeichen gilt. Auf der rechten Seite von (4.44) steht die sog. Spaltensummennorm von A. Die Matrix A aus dem vorangehenden Beispiel besitzt die Spaltensummennorm max(2 + 10, 6 + 0, 5 + 1) = 12.
4.3 Normierte Vektorr¨aume
217
4.69 Beispiel. (Euklidische Norm einer Matrix) Wir betrachten die in 1.7.5 eingef¨ uhrte euklidische Norm n m A2 = a2jk j=1 k=1
einer m × n-Matrix A. Es sei B eine n × p-Matrix. Besitzt A die Zeilenvektoren a1 , . . . ,am und hat B die Spaltenvektoren b1 , . . . , bp , so weist das Matrizenprodukt (cjk ) := A · B die Eintr¨age cjk = aj , bk auf. Nach der Cauchy–Schwarzschen Ungleichung gilt somit |cjk | ≤ aj 2 ·bk 2 , und es folgt A · B22 =
p m j=1 k=1
c2jk ≤
p m
aj 22 · bk 22 = A22 · B22 .
j=1 k=1
Insbesondere gilt A · x2 ≤ A2 · x2 ,
x ∈ Rn ,
und damit A ≤ A2 , wenn die Operatornorm bzgl. der euklidischen Norm auf Rn und Rm gebildet wird. Die euklidische Norm ist keine Operatornorm. F¨ ur m = n und eine beliebige Norm auf Rn besitzt n¨amlich die Einheitsmatrix En immer die Norm 1. Ande√ rerseits ist aber En 2 = n.
4.3.6
Vollst¨ andigkeit, Banachr¨ aume
Es sei V ein normierter Raum. V¨ollig analog zu fr¨ uher heißt eine Folge (xn ) in V Cauchy-Folge , falls gilt: Zu jedem ε > 0 gibt es ein n0 ∈ N mit der Eigenschaft xn − xm ≤ ε,
falls n, m ≥ n0 .
Aufgrund der Dreiecksungleichung xn − xm ≤ xn − x + x − xm ist jede konvergente Folge eine Cauchy-Folge. Von besonderer Bedeutung sind normierte R¨aume, in denen auch stets die Umkehrung gilt. Ein normierter Raum V heißt vollst¨andig , wenn jede Cauchy-Folge in V konvergiert, also einen Grenzwert in V besitzt. Ein vollst¨ andiger normierter Raum heißt Banachraum 3 . 4.70 Beispiel. (Vollst¨andigkeit endlichdimensionaler normierter R¨ aume) Es seien (V, · ) ein k-dimensionaler Vektorraum u orper K ∈ {R, C} ¨ber dem K¨ 3
Stefan Banach (1892–1945), polnischer Mathematiker. Ab 1939 Pr¨ asident der polnischen mathematischen Gesellschaft. Mit seiner Dissertation (1922) begr¨ undete Banach die moderne Funktionalanalysis.
218
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
und {y1 , . . . , yk } eine beliebige Basis von V . Da nach Satz 4.57 die Norm · zur Summenbetragsnorm x1 :=
k
|λj |,
x=
j=1
k
λj · yj ,
j=1
andigkeit von V mit der Norm ¨aquivalent ist, k¨onnen wir zum Nachweis der Vollst¨ · 1 arbeiten. Es sei (xn )n≥1 eine beliebige Folge in V . Da {y1 , . . . , yk } eine Basis von V ist, gibt es eindeutig bestimmte Skalare λn,j ∈ K (n ≥ 1, j = 1, . . . , k), so dass xn die Darstellung xn = λn,1 · y1 + . . . + λn,k · yk besitzt. Wegen xn − xm 1 =
k
|λn,j − λm,j |
j=1
ur jedes j = 1, . . . , k die Folge ist (xn ) genau dann eine Cauchy-Folge, wenn f¨ (λn,j )n≥1 eine Cauchy-Folge in K ist. Aufgrund der Vollst¨ andigkeit von K existie ren die Grenzwerte λj := limn→∞ λn,j , j = 1, . . . , k. Setzen wir x := kj=1 λj · yj , so gilt x ∈ V und xn − x1 =
k
|λn,j − λj | → 0,
n → ∞.
j=1
Die Cauchy-Folge (xn ) besitzt also einen Grenzwert in V , was zeigt, dass V ein Banachraum ist. Insbesondere sind also der Rn und der Cn Banachr¨ aume. 4.71 Beispiel. (C[a, b], · ∞ ) ist ein Banachraum) Der reelle Vektorraum C[a, b] aller stetigen Funktionen f : [a, b] → R, versehen mit der in Beispiel 4.45 definierten Supremums-Norm · ∞ , ist ein Banachraum. Ist n¨amlich (fn ) eine Cauchy-Folge, so ist wegen |fn (x) − fm (x)| ≤ fn − fm ∞ ,
x ∈ [a, b],
anf¨ ur jedes x ∈ [a, b] die Folge (fn (x)) eine Cauchy-Folge in R. Wegen der Vollst¨ digkeit von R existiert der mit f (x) bezeichnete Grenzwert von (fn (x)). Hierdurch wird eine Funktion f : [a, b] → R definiert. Zu beliebig vorgegebenem ε > 0 finden wir ein n0 ∈ N, so dass gilt: n, m ≥ n0 =⇒ sup{|fn (x) − fm (x)| : a ≤ x ≤ b} ≤ ε. Beim Grenz¨ ubergang m → ∞ folgt hieraus n ≥ n0 =⇒ sup{|fn (x) − f (x) : a ≤ x ≤ b} ≤ ε
4.3 Normierte Vektorr¨aume
219
ur n → ∞. Als Grenzwert einer gleichm¨ aßig konverund somit fn − f ∞ → 0 f¨ genten Folge stetiger Funktionen ist f stetig (Satz I.6.33). 4.72 Beispiel. (C[a, b], · 1 ) ist kein Banachraum) Versieht man die Menge C[a, b] nicht mit der im vorigen Beispiel betrachteten Supremumsnorm, sondern mit der Integralnorm · 1 , so zeigen die folgenden ¨ Uberlegungen, dass dieser normierte Raum nicht vollst¨ andig und somit kein Banachraum ist. Wir setzen o.B.d.A. a := −1 und b := 1 und betrachten die durch ⎧ ⎪ falls −1 ≤ x ≤ −1/n, ⎨0, fn (x) := (nx + 1)/2, falls −1/n < x < 1/n, ⎪ ⎩ 1, falls 1/n ≤ x ≤ 1, definierte Funktionenfolge (fn )n≥1 aus C[−1, 1] (Bild 4.10). fn (x) 1 Bild 4.10: Die Funktion fn −1
− n1
0
1 n
1
x
Diese Folge ist eine Cauchy-Folge, denn zu gegebenem ε > 0 unterscheiden sich ur hinreichend große Werte von n und m nur auf dem die Funktionen fn und fm f¨ Intervall [−ε/2, ε/2]. Wegen |fn (x) − fm (x)| ≤ 1 ergibt sich hieraus 1 ε/2 fn − fm 1 = |fn (x) − fm (x)| dx = |fn (x) − fm (x)| dx ≤ ε. −1
−ε/2
Es kann jedoch kein f ∈ C[−1, 1] mit fn − f 1 → 0 geben. Wir nehmen an, f w¨are eine derartige Funktion, und leiten einen Widerspruch her. Ist ε ∈ (0, 1) beliebig gew¨ahlt, so verschwindet die Funktion fn f¨ ur hinreichend großes n auf dem Intervall [−1, −ε], und f¨ ur solche n gilt dann −ε −ε |fn (x) − f (x)| dx = |f (x)| dx. −1
−1
Da nach Voraussetzung fn − f 1 → 0 gilt, folgt wegen −ε |fn (x) − f (x)| dx ≤ fn − f 1 −1
220
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
und der angenommenen Stetigkeit von f die Aussage f (x) = 0, −1 ≤ x ≤ −ε. In gleicher Weise ergibt sich f (x) = 1, ε ≤ x ≤ 1. Da ε beliebig klein gew¨ ahlt werden kann, muss (wiederum wegen der angenommenen Stetigkeit von f ) sowohl f (0) = 0 (= limn→∞ f (−1/n)) als auch f (0) = 1 (= limn→∞ f (1/n)) gelten, was unm¨oglich ist. Aus diesem Grund ist die Funktion f an der Stelle x = 0 unstetig und liegt somit nicht in der Menge C[−1, 1].
4.3.7
Der Banachsche Fixpunktsatz
Es seien (V, · ) ein Banachraum, D eine Teilmenge von V und T : D → D eine Abbildung. Wir fragen, ob T mindestens einen Fixpunkt , also (mindestens) ein x ∈ D mit der Eigenschaft T (x) = x besitzt. Wenn T linear ist und D = V gilt, k¨ onnen wir einen Fixpunkt angeben, n¨amlich den Nullvektor. Wie das Beispiel V = R und T (x) := x + 1, x ∈ R, zeigt, muss es (ohne weitere Voraussetzungen) nicht unbedingt einen Fixpunkt geben. Die Abbildung T heißt Kontraktion oder kontrahierende Abbildung , wenn eine Zahl q mit 0 ≤ q < 1 (sog. Kontraktionskonstante ) existiert, so dass gilt: T (x) − T (y) ≤ q · x − y,
x, y ∈ V.
(4.45)
In diesem Fall nennt man T auch eine q-Kontraktion. Ungleichung (4.45) besagt, dass der Abstand zwischen zwei beliebigen Punkten durch die Abbildung T um mindestens den Faktor q verkleinert wird. Eine kontrahierende Abbildung ist insbesondere (gleichm¨ aßig) stetig. 4.73 Satz. (Banachscher Fixpunktsatz) Es seien (V, · ) ein Banachraum, D ⊂ V eine abgeschlossene Teilmenge von V , q ∈ [0, 1) und T : D → D eine q-Kontraktion. Dann besitzt T genau einen Fixpunkt x ∈ D. Ist x0 ∈ D ein beliebiger Startwert und die Folge (xk ) in V rekursiv durch die Vorschrift xk+1 := T (xk ),
k ∈ N0 ,
(4.46)
definiert, so gilt x − xk ≤
1 qk · xk+1 − xk ≤ · x1 − x0 , 1−q 1−q
k ∈ N0 .
ur k → ∞. Insbesondere folgt xk → x f¨ Beweis: F¨ ur alle y, z ∈ D ergibt sich aus der Dreiecksungleichung und (4.45) y − z ≤ y − T (y) + T (y) − T (z) + T (z) − z ≤ y − T (y) + q · y − z + T (z) − z,
(4.47)
4.3 Normierte Vektorr¨aume
221
d.h. y − z ≤
1 · (T (y) − y + T (z) − z). 1−q
(4.48)
Insbesondere kann T h¨ochstens einen Fixpunkt besitzen. Ferner folgt f¨ ur jedes k ∈ N0 : xk+1 − xk = T (xk ) − T (xk−1 ) ≤ q · xk − xk−1 ≤ . . . ≤ q k · x1 − x0 .
(4.49)
F¨ ur k, m ∈ N setzen wir in (4.48) y = xk+m und z = xk und erhalten aus (4.49) 1 · (xk+m+1 − xk+m + xk+1 − xk ) 1−q 2q k 1 · (q k+m + qk ) · x1 − x0 ≤ · x1 − x0 . ≤ 1−q 1−q
xk+m − xk ≤
Also ist (xk ) eine Cauchy-Folge aus D. Weil V vollst¨ andig und D abgeschlossen ist, konvergiert diese Folge gegen einen Grenzwert x aus D. Vollzieht man in der Rekursion ubergang k → ∞ und benutzt die Stetigkeit von T , so folgt xk+1 = T (xk ) den Grenz¨ x = T (x). Setzen wir in (4.48) y = x und z = xk , so ergibt sich die erste der behaupteten Ungleichungen. Die zweite folgt mit (4.49).
Der Banachsche Fixpunktsatz liefert nicht nur die Existenz eines Fixpunktes x, sondern auch ein konstruktives Verfahren zur Ermittlung von x sowie eine konkrete Fehlerabsch¨atzung (4.47). Der Satz hat bereits im Beweis des Satzes u ¨ber implizite Funktionen (Satz 1.69) eine entscheidende Rolle gespielt. In Kapitel 8 werden wir eine weitere wichtige Anwendung kennenlernen. y
y=x y=
1
x ˜ 2
√
x+1
Bild 4.11: Fixpunkt x ˜ der Funktion √ 1+x
x
4.74 Beispiel. √ Die auf dem Intervall [−1, ∞) definierte stetige Funktion f (x)√:= 1 + x ist √ streng monoton wachsend. Wegen f (1) = 2 > 1 und f (2) = 3 < 2 gibt es nach dem Zwischenwertsatz I.6.2.3 mindestens ein x ˜ im Intervall [1, 2], welches die Fixpunktgleichung f (˜ x) = x ˜ erf¨ ullt (Bild 4.11). Wir werden mit Hilfe des Banachschen Fixpunktsatzes zeigen, dass es genau ein derartiges x˜ gibt, und werden dieses x ˜ numerisch approximieren.
222
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Um Satz 4.73 anwenden zu k¨onnen, ben¨otigen wir zun¨ achst einen Banachraum (V, · ) und eine abgeschlossene Teilmenge D von V . Da eine reellwertige Funktion vorliegt, setzen wir V := R und w¨ahlen als Norm die Betragsfunktion | · |. Wir wissen auch schon, dass eine L¨osung x der Gleichung f (x) = x im Intervall [1, 2] existiert. Als abgeschlossene Teilmenge D von R bietet sich somit die Wahl D := [1, 2] an. Bezeichnet T die Einschr¨ankung der Funktion f auf √ D, √ so gilt wegen der strengen Monotonie von T auf D die Inklusion T (D) = [ 2, 3] ⊂ D. Die Funktion T kann also auf D beliebig iteriert werden. Der Nachweis, dass T auf D eine Kontraktion ist, geschieht entweder mit dem Mittelwertsatz oder (hier einfacher) mit dem Erweiterungstrick“ ” √ √ ( 1 + x − 1 + y) · ( 1 + x + 1 + y) = x − y, aus dem die Absch¨atzung 1 1 · |x − y| ≤ · |x − y|, |T (x) − T (y)| = √ √ 2 1+x+ 1+y
x, y ∈ D
folgt. Somit ist T eine Kontraktion mit der Kontraktionskonstanten q = 1/2. W¨ahlt man x0 := 1.5 als Startwert der Iteration (4.46), so liefert die Rekursionsformel xj+1 := 1 + xj , j ∈ N0 , die in Tabelle 4.1 angegebenen Werte: j 0 1 2 3 4 5 6 7 8
xj 1.5 1.581138830 1.606592304 1.614494442 1.616939839 1.617695842 1.617929492 1.618001697 1.618024010
Tabelle 4.1: Werte x j der Iteration xj+1 = 1 + xj
Die erste Ungleichung in (4.47) ergibt die Fehlerabsch¨ atzung |˜ x − 1.618001697| ≤ 2 · |x8 − x7 | = 0.000044626. Der gesuchte Fixpunkt ist also (auf vier Nachkommastellen genau) x ˜ = 1.6180. 4.75 Beispiel. (Newton-Verfahren) In I.6.67 wurde die Konvergenz des Newton-Verfahrens xj+1 := xj −
f (xj ) , f (xj )
j ∈ N0 ,
4.4 Metrische R¨aume
223
zur Bestimmung der Nullstelle x ˜ einer zweimal differenzierbaren Funktion f bewiesen. Die nachfolgenden Betrachtungen zeigen, dass das Newton-Verfahren als Spezialfall des Banachschen Fixpunktsatzes angesehen werden kann. Gilt f (˜ x) = 0 und f (˜ x) = 0, so folgt f (˜ x) = 0 ⇐⇒ x ˜ = T (˜ x), wobei
f (x) f (x) gesetzt ist. Nach dem ersten Mittelwertsatz I.6.50 ist die Abbildung T auf einem geeigneten, die Nullstelle x ˜ als inneren Punkt enthaltenden, abgeschlossenen Intervall D eine Kontraktion, wenn f¨ ur ein q ∈ [0, 1) die Ungleichung |T (x)| ≤ q, x ∈ D, erf¨ ullt ist. Nun gilt T (x) := x −
T (x) = 1 −
(f (x))2 − f (x) · f (x) f (x) · f (x) = , (f (x))2 (f (x))2
was zeigt, dass das Newton-Verfahren mit Startwert x0 ∈ D konvergiert, wenn f (x) · f (x) sup (4.50) ≤q 0 ein n0 ∈ N mit der Eigenschaft d(xn , xm ) ≤ ε,
m, n ≥ n0 ,
gibt. Jede konvergente Folge ist eine Cauchy-Folge. Hat umgekehrt jede CauchyFolge einen Grenzwert in X, so nennt man (X, d) vollst¨ andig . Insbesondere ist also ein Banachraum ein vollst¨andiger metrischer Raum. Sind (X, d) ein vollst¨andiger metrischer Raum und T : X → X eine Abbildung mit d(T (x), T (y)) ≤ q · d(x, y), x, y, ∈ X, f¨ ur ein q ∈ [0, 1), so besitzt T genau einen Fixpunkt x ∈ X (Banachscher Fix¨ punktsatz in metrischen R¨aumen). Der Beweis ergibt sich durch Ubertragung des Beweises von Satz 4.73, wenn dort stets x − y durch d(x, y) ersetzt wird.
4.5
Hilbertr¨ aume
4.5.1
Skalarprodukt
Im Folgenden sei V ein Vektorraum u orper K mit K = R oder K = C. ¨ber dem K¨ Unter einem Skalarprodukt (oder inneren Produkt) auf V versteht man eine Funktion ·, · : V × V → K mit folgenden Eigenschaften:
αx + βy, z = α x, z + β y, z,
y, x = x, y,
x, x > 0,
x = 0.
(Linearit¨ at)
(4.54)
(Symmetrie)
(4.55)
(Definitheit)
(4.56)
Dabei sind x, y, z ∈ V sowie α, β ∈ K. In (4.55) steht rechts die zu x, y konjugiert komplexe Zahl. (F¨ ur jedes w ∈ C ist w ¯ := Re(w) − i Im(w).) Da w ∈ C genau dann reell ist, wenn w ¯ = w gilt, folgt aus (4.55) insbesondere x, x ∈ R, x ∈ V . Aus (4.54) und (4.55) ergeben sich die Gleichungen ¯ z,
x, αy + βz = α ¯ x, y + β x,
(4.57)
x, 0 = 0, x = 0,
(4.58)
x ∈ V.
Mit (4.56) wird zus¨atzlich verlangt, dass x, x = 0 nur f¨ ur den Nullvektor x = 0 gilt.
226
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
4.78 Beispiele. (Kanonisches Skalarprodukt) In Analogie zum kanonischen Skalarprodukt
x, y = x1 y1 + . . . + xn yn ,
x, y ∈ Rn ,
im Rn (vgl. I.8.4) definiert
x, y := x1 y¯1 + . . . + xn y¯n ,
x, y ∈ Cn ,
(4.59)
Cn .
ein Skalarprodukt auf Der Leser sollte die Eigenschaften (4.54)–(4.56) selbstst¨andig u ufen und sich dabei insbesondere klar machen, warum auf der ¨berpr¨ rechten Seite von (4.59) die konjugiert komplexen Komponenten von y benutzt werden m¨ ussen. Es sei allgemeiner V ein Vektorraum u ¨ber K mit der endlichen Dimension n := dim V . Wir fixieren eine Basis {b1 , . . . , bn } von V . Sind x1 , . . . , xn ∈ K bzw. y1 , . . . , yn ∈ K die Koordinaten zweier Vektoren x, y ∈ V bez¨ uglich {b1 , . . . , bn }, so definiert
x, y := x1 y¯1 + . . . + xn y¯n ein Skalarprodukt auf V . 4.79 Beispiel. Auf dem reellen Vektorraum C[a, b] der auf dem Intervall [a, b] definierten stetigen reellen Funktionen ist b
f, g := f (x)g(x) dx, f, g ∈ C[a, b], a
ein Skalarprodukt. 4.80 Beispiel. (Der reelle Folgenraum l2 ) Es bezeichne l2 :=
x = (xk )k≥1 : xk ∈ R f¨ ur jedes k ≥ 1 und
∞
) x2k < ∞
k=1
die Menge aller quadratisch summierbaren reellen Zahlenfolgen. Offenbar ist jede √ Folge aus l2 eine Nullfolge. Wie das Beispiel xk := 1/ k, k ≥ 1, zeigt, gilt die Umkehrung jedoch nicht. Mit der u ¨ blichen Addition x + y := (xk + yk ) zweier Folgen x = (xk ) und y = (yk ) aus l2 und der skalaren Multiplikation αx := (αxk ) (x ∈ l2 , α ∈ R) bildet die Menge l2 einen reellen Vektorraum. Dass mit x und y auch die Summenfolge x + y quadratisch summierbar ist, folgt dabei unmittelbar aus den Ungleichungen (xk + yk )2 ≤ 2(x2k + yk2 ), k ∈ N. Definieren wir ∞
x, y := xj yj , x, y ∈ l2 , (4.60) j=1
4.5 Hilbertr¨aume
227
so ergibt sich aus der Cauchy–Schwarzschen Ungleichung im Rn (Satz I.8.29) n
|xj yj | ≤
j=1
n
1/2 x2j
j=1
·
n
1/2 yj2
,
n ∈ N,
j=1
die absolute Konvergenz der auf der rechten Seite von (4.60) stehenden Reihe. ater Man rechnet direkt nach, dass ·, · ein Skalarprodukt auf l 2 definiert. Wie sp¨ deutlich werden wird, handelt es sich hier um ein typisches Beispiel f¨ ur ein Skalarprodukt auf unendlichdimensionalen Vektorr¨ aumen.
4.5.2
Die Cauchy–Schwarzsche Ungleichung
Ist V ein Vektorraum (¨ uber K = R oder K = C) mit Skalarprodukt ·, ·, so definieren wir x := x, x, x ∈ V. (4.61) Aus den Eigenschaften des Skalarproduktes folgt, dass die Abbildung · : V → R definit (vgl. (4.30)) und homogen (vgl. (4.31)) ist. Die n¨ achste wichtige Ungleichung verallgemeinert den f¨ ur das kanonische Skalarprodukt auf dem Rn geltenden Satz I.8.29. Im Beweis und auch sp¨ ater verwenden wir die Gleichungen x + y2 = x, x + x, y + y, x + y, y = x2 + x, y + x, y + y2 , (4.62) die sich aus x + y2 = x + y, x + y und den Eigenschaften des Skalarproduktes ergeben. 4.81 Satz. (Cauchy–Schwarzsche Ungleichung) F¨ ur alle x, y ∈ V gilt | x, y| ≤ x·y.
(4.63)
Das Gleichheitszeichen gilt genau dann, wenn x und y linear abh¨ angig sind. Beweis: Sind x und y linear abh¨angig, so gilt y = 0 oder x = αy f¨ ur ein α ∈ K. In jedem dieser F¨ alle tritt in (4.63) das Gleichheitszeichen ein. Sind x und y linear unabh¨ angig, so gilt x − αy = 0, α ∈ K, und somit unter Benutzung von (4.62) und der Identit¨ at αα ¯ = |α|2 0 < x − αy2 = x2 − α ¯ x, y − α x, y + |α|2 y2 ,
α ∈ K.
Mit der Wahl α := x, y/y2 erhalten wir 0 < x2 −
| x, y|2
x, y· x, y x, y· x, y | x, y|2 2 − + = x − y2 y2 y2 y2
228
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
und folglich | x, y| < x·y.
Die folgende Ungleichung zeigt, dass · eine Norm auf V ist. Der Beweis ist eine direkte Verallgemeinerung des entsprechenden Resultates f¨ ur das kanonische Skalarprodukt auf dem Rn . 4.82 Folgerung. (Dreiecksungleichung) F¨ ur alle x, y ∈ V gilt x + y ≤ x + y.
(4.64)
Gleichheit besteht genau dann, wenn y = 0 oder x = αy f¨ ur ein α ∈ R mit α ≥ 0. Beweis: F¨ ur alle x, y ∈ V erhalten wir aus (4.62) x + y2 = x2 + 2 Re( x, y) + y2 . Wegen Re( x, y) ≤ | x, y| liefert die Cauchy–Schwarzsche Ungleichung x + y2 ≤ x2 + 2x·y + y2 = (x + y)2 und damit (4.64). Gilt y = 0 oder x = αy f¨ ur ein α ≥ 0, so tritt in (4.64) das Gleichheitszeichen ein. Gilt umgekehrt Gleichheit in (4.64), so folgt nach Quadrieren die Identit¨ at Re( x, y) = x · y und somit unter Beachtung von (4.63) und Re( x, y) ≤ | x, y| die Gleichheit Re( x, y) = | x, y|, also | x, y| = x·y. Nach Satz 4.81 sind x und y linear abh¨ angig. Setzen wir y = 0 voraus, so gilt x = αy f¨ ur ein α ∈ K, und wir erhalten Re(α)y2 = Re( αy, y) = Re( x, y) = | x, y| = |α|·y2 . Damit ist Re(α) = |α|. Daraus folgt einerseits Im(α) = 0, d.h. α ∈ R, und andererseits α = |α|, d.h. α ≥ 0.
4.83 Folgerung. (Stetigkeit des Skalarproduktes) Sind (xk ) und (yk ) zwei gegen x bzw. y konvergente Folgen in V , so folgt lim xk , yk = x, y.
k→∞
Beweis: Da die Norm eine stetige Abbildung ist, konvergiert mit (xk ) auch die Folge ur jedes k ∈ N, und es folgt (xk ). Somit gibt es ein C > 0 mit xk ≤ C f¨ | x, y − xk , yk | = | x − xk , y + xk , y − xk , yk | = | x − xk , y + xk , y − yk | ≤ | x − xk , y| + | xk , y − yk | ≤ x − xk ·y + xk ·y − yk → 0 f¨ ur k → ∞.
4.5 Hilbertr¨aume
4.5.3
229
Orthogonalit¨ at
Es seien V ein Vektorraum u ¨ ber K und ·, · : V × V → K ein Skalarprodukt auf V . Im Folgenden u ¨bertragen wir einige der Definitionen und Resultate aus I.8.4 auf den vorliegenden allgemeinen Fall. (i) Zwei Vektoren x, y ∈ V heißen orthogonal , wenn x, y = 0. In diesem Fall schreibt man x ⊥ y. Sind x und y orthogonal, so folgt aus (4.62) der Satz von Pythagoras: x + y2 = x2 + y2 . (ii) Zwei Teilmengen U, W ⊂ V heißen orthogonal , wenn x, y = 0 f¨ ur jede Wahl von x ∈ U und y ∈ W gilt. In diesem Fall schreibt man U ⊥ W . (iii) Ist U eine Teilmenge von V , so heißt ur jedes y ∈ U} U ⊥ := {x ∈ V : x, y = 0 f¨ das orthogonale Komplement von U . F¨ ur jede Teilmenge U von V ist U ⊥ ein Unterraum von V . Ferner ergibt sich aus Folgerung 4.83, dass U ⊥ abgeschlossen ist.
4.5.4
Die orthogonale Projektion
In Anwendungen steht man oft vor dem Problem, f¨ ur einen Vektor x ∈ V einen Vektor y aus einem gegebenen Unterraum U von V so zu bestimmen, dass der Abstand x − y m¨oglichst klein wird. Es zeigt sich, dass die entsprechenden onnen. Zun¨ achst definieren wir: Ergebnisse aus dem Rn verallgemeinert werden k¨ Es seien V ein Vektorraum mit Skalarprodukt, U ein Unterraum von V sowie x ∈ V . Ein Vektor y ∈ U heißt orthogonale Projektion von x auf U , wenn x − y ∈ U ⊥ gilt. Ist y ∈ U orthogonale Projektion von x, so gilt x=y+z mit z ∈ U ⊥ . Ohne weitere Voraussetzungen an U und V muss die orthogonale Projektion y nicht existieren. Wenn sie aber existiert, ist sie auch eindeutig bestimmt. Ist n¨amlich x = y + z eine weitere Darstellung von x mit y ∈ U und z ∈ U ⊥ , so folgt y − y = z − z ∈ U ∩ U ⊥ , also y − y , y − y = y − y 2 = 0. Damit ist y = y und z = z . 4.84 Satz. (Approximationssatz) Es seien U ein Unterraum von V und x ∈ V . Dann ist y ∈ U genau dann orthogonale Projektion von x auf U , wenn f¨ ur jedes z ∈ U mit z = y gilt: x − y < x − z.
(4.65)
230
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Beweis: Es sei y ∈ U die orthogonale Projektion von x auf U . F¨ ur jedes z ∈ U gilt x − y ⊥ y − z. Also folgt aus dem Satz von Pythagoras x − z2 = x − y2 + y − z2 ≥ x − y2 , wobei das Gleichheitszeichen nur f¨ ur y = z eintreten kann. Wir setzen jetzt umgekehrt voraus, dass y ∈ U die Ungleichung (4.65) f¨ ur jedes z ∈ U mit z = y erf¨ ullt. Wird indirekt angenommen, dass x − y ∈ U ⊥ nicht richtig ist, so gibt es einen Vektor z ∈ U mit α := x − y, z = 0. Ohne die Allgemeinheit einzuschr¨ anken, k¨ onnen wir dabei z = 1 voraussetzen. Der Vektor y + αz ist ein Element von U , und es gilt x − (y + αz)2 = x − y2 + |α|2 − 2 Re( x − y, αz) = x − y2 + |α|2 − 2|α|2 < x − y2 , was im Widerspruch zur Voraussetzung an y steht. Damit ist der Satz bewiesen.
Die orthogonale Projektion von x auf U wird (im Falle ihrer Existenz) mit PU (x) bezeichnet. Wenn PU (x) f¨ ur jedes x ∈ V existiert, so ist PU eine lineare Abbildung von V in U . In diesem Fall existiert auch f¨ ur jedes x ∈ V die orthogonale Projektion PU ⊥ (x) von x auf U ⊥ , und es gilt PU + PU ⊥ = idV .
4.5.5
Orthonormalsysteme
Zur konkreten Berechnung der orthogonalen Projektion ist die folgende Begriffsbildung hilfreich. / A und falls die (i) Eine Menge A ⊂ V heißt Orthogonalsystem , falls 0 ∈ Vektoren aus A paarweise orthogonal sind, also
x, y = 0,
x, y ∈ A,
x = y,
gilt. Gilt dar¨ uber hinaus x = 1 f¨ ur jedes x ∈ A, so heißt A Orthonormalsystem . (ii) Es seien U ein Unterraum von V und A ⊂ U ein Orthonormalsystem. Ist A eine Basis von U , so nennt man A eine Orthonormalbasis von U . Es seien A ein Orthonormalsystem und {a1 , . . . , am } eine endliche Teilmenge von A. Sind α1 , . . . , αm ∈ K mit α1 a1 + . . . + αm am = 0, so folgt durch skalare Multiplikation dieser Gleichung mit aj :
αj aj , aj = αj ·aj 2 = αj = 0,
j = 1, . . . , m.
4.5 Hilbertr¨aume
231
Die Vektoren eines Orthogonalsystems sind also linear unabh¨ angig. Es sei {a1 , . . . , am } eine Orthonormalbasis des Unterraums U ⊂ V , und es seien x := α1 a1 + . . . + αm am ,
y := β1 a1 + . . . + βm am
mit α1 , . . . , αm ∈ K und β1 , . . . , βm ∈ K. Dann gilt
x, y =
m m m m m
αj aj , βk ak = αj β¯k aj , ak = αj β¯j . j=1 k=1
j=1 k=1
j=1
In dieser Gleichungskette steht rechts das Skalarprodukt der Koordinatenvektoren von x und y in Cn . Insbesondere gilt x2 =
m
|αj |2 .
j=1
4.5.6
Ein Orthonormalisierungsverfahren
Den folgenden Satz beweist man wie den Spezialfall in Satz I.8.32. 4.85 Satz. (Orthonormalisierungsverfahren von E. Schmidt) Es seien U und W endlichdimensionale Unterr¨aume von V mit U ⊂ W . Es gelte m := dim U < dim V =: k. Ist {a1 , . . . , am } eine Orthonormalbasis von U , so gibt es Vektoren am+1 , . . . , ak ∈ W , so dass {a1 , . . . , ak } eine Orthonormalbasis von W ist. Benutzt man Satz 4.85 mit U = {0} so ergibt sich: 4.86 Folgerung. (Existenz einer Orthonormalbasis) Jeder endlichdimensionale Unterraum von V besitzt eine Orthonormalbasis. Im Falle eines endlichdimensionalen Unterraums U kann die orthogonale Projektion auf U wie folgt berechnet werden: 4.87 Satz. (Projektionsformel) Ist U ein endlichdimensionaler Unterraum von V , so besitzt jedes x ∈ V eine orthogonale Projektion PU (x) von x auf U . Bezeichnet {a1 , . . . , am } eine Orthonormalbasis von U , so gilt PU (x) = x, a1 a1 + . . . + x, am am .
(4.66)
Beweis: Wir k¨ onnen U = {0} voraussetzen. Nach Folgerung 4.86 gibt es eine Orthour x ∈ V definieren wir f (x) durch die rechte Seite normalbasis {a1 , . . . , am } von U . F¨ von (4.66). Dann ist f (x) ∈ U , und mit der Abk¨ urzung αj := x, aj gilt f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , m}:
x − f (x), aj = x, aj − α1 a1 , aj − . . . − αm am , aj = x, aj − αj aj , aj = 0. Daraus folgt x − f (x) ∈ U ⊥ . Also ist f (x) die orthogonale Projektion von x auf U .
232
4.5.7
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Definition eines Hilbertraumes
Es stellt sich jetzt die grundlegende Frage, ob sich jeder Vektor aus V durch orthogonale Projektionen auf endlichdimensionale Unterr¨ aume beliebig genau approximieren l¨asst. Um diese Frage positiv beantworten zu k¨ onnen, ben¨ otigen wir eine Voraussetzung an V : 5 , falls jede CauchyEin Vektorraum V mit Skalarprodukt heißt Hilbertraum Folge in V konvergent ist, d.h. falls V mit der Norm x = x, x ein Banachraum und somit vollst¨andig ist. 4.88 Beispiel. (Der komplexe Folgenraum l2 ) 2 Es bezeichne l2 die Menge aller komplexen Folgen x = (xk ) mit ∞ j=1 |xj | < ∞. 2 Wie in Beispiel 4.80 ergibt sich, dass l ein komplexer Vektorraum ist und dass
x, y :=
∞
xj y¯j
j=1
ein Skalarprodukt definiert. Wir zeigen jetzt, dass l2 ein Hilbertraum ist und w¨ahlen hierzu eine Cauchy-Folge (xn ) in l2 . Dabei benutzen wir die Schreibweise xn = (xnk )k≥1 , bezeichnen also das k-te Glied der n-ten Folge mit xnk . Zu jedem ε > 0 gibt es ein n0 ∈ N mit xm − xl =
∞
l 2 |xm j − xj | ≤ ε,
m, l ≥ n0 .
(4.67)
j=1
Folglich ist f¨ ur jedes k ≥ 1 die Folge (xnk )n≥1 eine Cauchy-Folge in C, die wegen der Vollst¨andigkeit von C gegen einen mit xk bezeichneten Grenzwert konvergiert. Wir behaupten, dass die Folge x := (xk ) ein Element von l2 ist und xn − x → 0 f¨ ur n → ∞, also xn → x ∈ l2 gilt. Zum Beweis dieser Behauptungen w¨ ahlen wir erneut ein ε > 0 und finden ein n0 ∈ N, so dass (wegen (4.67)) f¨ ur jedes m ≥ m0 und jedes p ∈ N die Ungleichungen p
l 2 |xm j − xj | ≤ ε,
m, l ≥ n0 ,
j=1
2 erf¨ ullt sind. F¨ ur l → ∞ folgt daraus pj=1 |xm ur jedes m ≥ n0 und j − xj | ≤ ε f¨ m 2 jedes p ∈ N. Beim Grenz¨ ubergang p → ∞ ergibt sich nun ∞ j=1 |xj − xj | ≤ ε f¨ ur m ≥ n0 , was sowohl xm − x ∈ l2 und somit x = (x − xm ) + xm ∈ l2 als auch xm → x f¨ ur m → ∞ nach sich zieht. 5
David Hilbert (1862–1943), Professor in K¨ onigsberg (ab 1892) und G¨ ottingen (1895–1930). Hilbert besaß breit gestreute mathematische Interessen, die von der Invariantentheorie u ¨ ber die algebraische Zahlentheorie, Grundlagen der Geometrie, Analysis bis hin zur Relativit¨ atstheorie reichten. Auf dem Internationalen Mathematikerkongress 1900 in Paris stellte Hilbert seine ber¨ uhmte Liste von 23 Problemen vor, denen sich seiner Meinung nach die Mathematiker verst¨ arkt zuwenden sollten. Einige dieser Probleme sind noch immer ungel¨ ost.
4.5 Hilbertr¨aume
4.5.8
233
Unendliche Reihen
Mit Blick auf Gleichung (4.66) f¨ uhrt das in 4.5.7 formulierte Approximationspro blem in nat¨ urlicher Weise auf den Begriff einer (unendlichen) Reihe ∞ n=1 zn mit Summanden zn ∈ V . Der Wert einer solchen Reihe ist definiert als Grenzwert der Folge der Partialsummen z1 + . . . + zn ,
n ∈ N.
Existiert dieser Grenzwert, so heißt die Reihe konvergent. Man nennt die Reihe ∞ z absolut konvergent, wenn die reelle Reihe ∞ n n=1 n=1 zn konvergent ist. In Hilbertr¨aumen sind absolut konvergente Reihen konvergent. Dieser Sach ur alle verhalt folgt unter Verwendung der Abk¨ urzung sk := kj=1 zj aus der f¨ k, m ∈ N mit k > m g¨ ultigen Absch¨atzung k k ∞ sk − sm = zj ≤ zj ≤ zj . j=m+1
j=m+1
j=m+1
Da die rechte Seite dieser Ungleichungskette f¨ ur gen¨ ugend großes m beliebig klein andigkeit gemacht werden kann, ist (sk ) eine Cauchy-Folge, die wegen der Vollst¨ von V gegen ein z ∈ V konvergiert.
4.5.9
Allgemeine Fourierreihen
Es sei V ein Hilbertraum mit Skalarprodukt ·, ·. (i) Eine Folge (an ) in V heißt Orthonormalfolge , falls f¨ ur jedes n ≥ 1 die Menge {a1 , . . . , an } ein Orthonormalsystem ist. Eine Orthonormalfolge ist also durch die Gleichungen aj , ak = δjk , j, k ∈ N, charakterisiert. ur jedes x ∈ V gilt: (ii) Eine Orthonormalfolge (an ) heißt vollst¨andig , falls f¨ Aus x, an = 0 f¨ ur jedes n ∈ N folgt x = 0. Wir geben ein wichtiges Beispiel eines Hilbertraums mit einer vollst¨ andigen Orthonormalfolge: 4.89 Beispiel. (Vollst¨andige Orthonormalfolge in l2 ) Wir betrachten den in Beispiel 4.88 diskutierten Hilbertraum l2 . F¨ ur jedes n ≥ 1 2 sei an = (an,k )k≥1 , an,k := δnk , diejenige Folge aus l , deren n-tes Glied gleich 1 ist und deren andere Glieder s¨amtlich gleich 0 sind, also a1 = 1, 0, 0, 0, 0, . . . a2 = 0, 1, 0, 0, 0, . . . a3 = 0, 0, 1, 0, 0, . . .
usw.
234
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Offenbar ist (an ) eine Orthonormalfolge (von Folgen!) in l2 . Diese Folge ist vollst¨andig. Ist n¨amlich x ∈ l2 , so bedeutet x, an = 0, dass das n-te Folgenglied von x verschwindet. Wir formulieren jetzt den angek¨ undigten grundlegenden Approximationssatz. 4.90 Satz. (Allgemeine Fourierreihe, Parsevalsche6 Gleichung) Es seien V ein Hilbertraum und (an ) eine vollst¨andige Orthonormalfolge in V . Ist x ∈ V , so gelten die Gleichungen ∞
x, aj aj , x=
x2 =
j=1 ∞
| x, aj |2 .
(4.68)
(Parsevalsche Gleichung)
(4.69)
j=1
Beweis: Es sei Un := Span(a1 , . . . , an ), n ∈ N. Dann ist {a1 , . . . , an } eine Orthonormalbasis von Un , und mit der Abk¨ urzung αj := x, aj ergibt sich die orthogonale Projektion von x ∈ V auf Un nach (4.66) zu PUn (x) = α1 a1 + . . . + αn an . Aus dem Satz von Pythagoras folgt n |αj |2 , x2 = PUn (x)2 + PUn⊥ (x)2 ≥ PUn (x)2 = j=1
∞ ur n ≥ m gilt somit was zeigt, dass die Reihe j=1 |αj |2 konvergiert. F¨ PU (x) − PU (x) = αm am + . . . + αn an 2 n m ∞ = |αm |2 + . . . + |αn |2 ≤ |αj |2 → 0 j=m
f¨ ur m → ∞. Also ist (PUn (x)) eine Cauchy-Folge, die wegen der vorausgesetzten Voll∞ st¨ andigkeit von V gegen den Vektor x∗ := j=1 αj aj ∈ V konvergiert. Aus der Stetigkeit des Skalarprodukts (Folgerung 4.83) erhalten wir f¨ ur jedes j ∈ N die Aussage
x∗ , aj = lim α1 a1 + . . . + αn an , aj = αj n→∞
und damit x − x∗ , aj = αj − αj = 0. Weil (an ) vollst¨ andig ist, folgt x − x∗ = 0 und somit (4.68). Die Parsevalsche Gleichung ergibt sich aus der Stetigkeit der Norm: x∗ 2 = lim α1 a1 + . . . + αn an 2 = lim (|α1 |2 + . . . + |αn |2 ). n→∞
n→∞
Die Koeffizienten αj = x, aj heißen Fourierkoeffizienten von x ∈ V . Die uglich der gew¨ ahlten OrthonorReihe ∞ j=1 αj aj ist die Fourierreihe von x (bez¨ malfolge). Die Fourierkoeffizienten sind durch x eindeutig festgelegt. 6
Marc-Antoine Parseval des Chenes (1755–1836). Landedelmann, 1792 als Royalist inhaftiert. Seine f¨ unf mathematischen Publikationen befassen sich mit Differentialgleichungen und Reihendarstellungen.
4.5 Hilbertr¨aume
4.5.10
235
Isomorphe Hilbertr¨ aume
Unter den Voraussetzungen von Satz 4.90 ist Sinn isomorph zum V in folgendem 2 < ∞: Die Abbildung Raum l2 aller K-wertigen Folgen (αn ) mit ∞ |α | n n=1 x → T (x) := ( x, an )n≥1 von V in l2 , welche jedem x ∈ V die Folge der Fourierkoeffizienten bez¨ uglich einer fest gew¨ahlten vollst¨andigen Orthonormalfolge zuordnet, ist linear, bijektiv und besitzt dar¨ uber hinaus die Eigenschaft
x, y = T (x), T (y),
x, y ∈ V.
Wegen der Stetigkeit des Skalarproduktes (vgl. Folgerung 4.83) ist das zu
x, y =
∞
x, aj · y, aj ,
(Verallgemeinerte Parsevalsche Gleichung)
j=1
Folge (αn ) ∈ ¨aquivalent. Die Surjektivit¨ at von T ergibt sich, weil das Urbildeiner k l2 unter T die Summe ∞ α a ∈ V ist. Bezeichnet s := α k n=1 n n n=1 n an die k-te Partialsumme dieser Reihe, so ergibt sich die Konvergenz aus der f¨ ur alle m und k mit k > m g¨ ultigen Gleichungskette k k 2 αj aj = |αj |2 sk − sm 2 = j=m+1
j=m+1
wie im Beweis von Satz 4.90.
4.5.11
Die Besselsche Ungleichung
Es seien (an ) eine (nicht notwendig vollst¨andige) Orthonormalfolge im Hilbertraum V und x ∈ V . Im Beweis von Satz 4.90 haben wir gezeigt, dass die Reihe x∗ :=
∞
x, aj · aj j=1
konvergiert und dass die folgende Ungleichung gilt: x∗ 2 =
∞
| x, aj |2 ≤ x2 .
(Besselsche 7 Ungleichung)
j=1 7 Friedrich Bessel (1784–1846), Astronom, Mathematiker und Geod¨ at. Als Kaufmannslehrling besch¨ aftige sich Bessel autodidaktisch mit Nautik, Astronomie und Mathematik. B. wurde 1809 Leiter der Sternwarte in K¨ onigsberg und 1813 dortselbst Professor. Bessels Leistungen in der Astronomie umfassten u.a. die Erstellung eines Fundamentalkatalogs f¨ ur Fixsterne, die Bestimmung der Parallaxe von 61 Cygni, die Entwicklung einer Kometentheorie, Arbeiten u ¨ ber die Bahn von Sternschnuppen und seine Voraussage u ¨ ber die Existenz von Sirius B und Procyon B. Bessels Hauptbeitrag zur Mathematik waren die f¨ ur die Behandlung von Schwingungsvorg¨ angen grundlegenden, nach ihm benannten Funktionen.
236
4 Normierte R¨aume und Hilbertr¨aume
Lernziel-Kontrolle 8
• Was ist (1 + i) ? • Was ist exp(πi)? • K¨ onnen Sie die Gleichung exp(iz) = cos z + i sin z herleiten? • Welche Polarkoordinatendarstellung besitzt die Zahl −1 + i? • Welche komplexen L¨osungen besitzt die Gleichung z 8 = 1? • Was ist ein Vektorraum? • K¨ onnen Sie Beispiele f¨ ur Vektorr¨aume angeben? • K¨ onnen Sie Unterr¨aume des Vektorraums C[a, b] angeben? • Was ist eine Basis eines Vektorraums? • Warum ist der Vektorraum C[a, b] unendlichdimensional? • K¨ onnen Sie einen dreidimensionalen Unterraum von C[a, b] angeben? • Was ist eine lineare Abbildung zwischen Vektorr¨ aumen? • Warum ist der Begriff einer linearen Abbildung nur bei Vektorr¨ aumen u ¨ ber dem gleichen K¨orper sinnvoll? • Warum ist jeder n-dimensionale reelle Vektorraum zum Rn isomorph? • Wodurch ist ein normierter Raum definiert? • Warum sind die Normen · ∞ und · 1 auf C[a, b] nicht ¨ aquivalent? • Wie ist der Konvergenzbegriff in normierten R¨ aumen definiert? • Wann heißt eine Teilmenge eines normierten Raumes kompakt? • Warum sind kompakte Mengen beschr¨ankt und abgeschlossen? • Wie ist die Norm eines stetigen linearen Operators definiert? • Was ist ein Banachraum? • Was besagt der Banachsche Fixpunktsatz? • Was ist ein metrischer Raum? • Was ist ein Skalarprodukt? • K¨ onnen Sie Beispiele f¨ ur Skalarprodukte angeben? • Auf welche Weise definiert ein Skalarprodukt eine Norm? • Warum gilt f¨ ur orthogonale Vektoren der Satz von Pythagoras? • Was versteht man unter einem orthogonalen Komplement? • Was sind ein Orthogonalsystem und eine Orthonormalbasis? • Was ist ein Hilbertraum? • Wie ist die (absolute) Konvergenz von Reihen im Hilbertraum definiert? • Was ist eine (vollst¨andige) Orthonormalfolge in einem Hilbertraum? • Was besagt die Besselsche Ungleichung?
Kapitel 5
Eigenwerte und Eigenr¨ aume In deinen Augen gl¨anzt der Eigenwert, In jedem Seufzer schwingt ein Tensor mit, Du weißt nicht, wie mein Operator litt, Hast du ihm doch Funktionen stets verwehrt.
Stanislaw Lem
In diesem Kapitel bauen wir die in Kapitel I.8 begonnene Theorie der endlichdimensionalen Vektorr¨aume weiter aus. Im Mittelpunkt steht die f¨ ur viele Anwendungen grundlegende Eigenwertheorie linearer Abbildungen. Zu den wichtigen Ergebnissen dieses Kapitels geh¨ort die Diagonalisierbarkeit selbstadjungierter Abbildungen und symmetrischer Matrizen. Daraus ergeben sich Definitheitskriterien f¨ ur symmetrische Matrizen sowie die Hauptachsentransformation f¨ ur quadratische Formen.
5.1 5.1.1
Matrizen und lineare Abildungen Matrizen
Ganz analog zu I.8.1.4 ist eine komplexe m × n-Matrix A = (ajk ) ein rechteckiges Schema von m Zeilen und n Spalten mit jeweils komplexwertigen Eintr¨ agen. Dabei steht die komplexe Zahl ajk in der j-ten Zeile und k-ten Spalte von A. Die Menge aller komplexen (bzw. reellen) m × n-Matrizen sei mit MC (m, n) (bzw. MR (m, n)) bezeichnet. So wie reelle Matrizen k¨ onnen auch komplexe Matrizen addiert und mit komplexen Zahlen multipliziert werden: F¨ ur A = (ajk ), B = (bjk ) ∈ MC (m, n) sowie c ∈ C setzt man A + B := (ajk + bjk ), c·A := (c · ajk ). Mit diesen Verkn¨ upfungen wird die Menge MC (m, n) ein komplexer Vektorraum. N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_5, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
238
5.1.2
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
Darstellung linearer Abbildungen
Im Folgenden sei K = R oder K = C, und es seien V und W endlichdimensionale Vektorr¨ aume u ¨ ber K mit dim V = n und dim W = m. Wie schon in Abschnitt 4.2 werden wir auch hier bei der Bezeichnung der Vektoren auf die (etwas umst¨andliche) Pfeil-Schreibweise verzichten. Eine Ausnahme bildet nur der Fall V = Kn (bzw. W = Km ). Sind a1 , . . . , an eine Basis von V sowie b1 , . . . , bm eine Basis von W , und ist f : V → W eine lineare Abbildung, so ist f bereits durch die Werte f (a1 ), . . . , f (an ) festgelegt. Da f (ak ) nur auf eine Weise durch eine Linearkombination der Basisvektoren b1 , . . . , bm dargestellt werden kann, gibt es eindeutig bestimmte Zahlen ajk ∈ K mit f (ak ) =
m
ajk bj ,
k = 1, . . . , n.
(5.1)
j=1
Die m × n-Matrix A = (ajk ) aus (5.1) heißt Darstellung(smatrix) von f bez¨ uglich der Basen a1 , . . . , an und b1 , . . . , bm . Im Fall V = W und aj = bj , j = 1, . . . , n, nennt man A auch die Darstellung(smatrix) von f bez¨ uglich der Basis a1 , . . . , an . Ist f : Kn → Km eine lineare Abbildung und A die Darstellung von f bzgl. der kanonischen Basen von Kn und Km , so heißt A die kanonische Matrix von f . Jede Matrix A ∈ MK (m, n) definiert eine lineare Abbildung ϕA : Kn → Km , die wie in I.8.3.3 durch n n a1j xj , . . . , amj xj , (5.2) ϕA (x) := x = (x1 , . . . , xn ) ∈ Kn , j=1
j=1
gegeben ist. Wie schon durch die Bezeichnungen suggeriert wird, ist A die kanonische Matrix dieser Abbildung.
5.1.3
Der Rang
Der Rang (bzw. Spaltenrang) einer Matrix A ∈ MK (m, n) ist die maximale Anzahl linear unabh¨angiger Spaltenvektoren von A. Er stimmt mit dem Zeilenrang von A u ¨ berein (vgl. Satz I.8.46). Es sei A die Darstellung einer linearen Abbildung f : V → W bez¨ uglich der Basen a1 , . . . , an von V und b1 , . . . , bm von W . Besitzt der Vektor v ∈ V den uglich der Basis a1 , . . . , an , so gilt Koordinatenvektor x ∈ Kn bez¨ f (v) = f (x1 a1 + . . . + xn an ) n m n n m xj f (aj ) = xj akj bk = akj xj bk . = j=1
j=1 k=1
k=1 j=1
5.1 Matrizen und lineare Abildungen
239
uglich der Basis b1 , . . . , bm . Also ist ϕA (x) der Koordinatenvektor von f (v) bez¨ Die j-te Spalte der Matrix A ist der Koordinatenvektor von f (aj ) bez¨ uglich der Basis b1 , . . . , bm . Nach Definition ist der Rang von f die maximale Anzahl linear unabh¨angiger Vektoren in der Menge {f (a1 ), . . . , f (an )}. Wie wir in 4.2.7 gesehen haben, k¨onnen wir bei der Bestimmung dieser Anzahl auch zu den entsprechenden Koordinatenvektoren (bez¨ uglich der Basis b1 , . . . , bm ) also zu den Spaltenvektoren der Matrix A u ¨ bergehen. 5.1 Satz. (Rang der Darstellungsmatrix) Ist die Matrix A die Darstellung einer linearen Abbildung f : V → W , so gilt Rang(f ) = Rang(A).
5.1.4
Matrizenmultiplikation
Sind A = (ajk ) ∈ MK (m, n) eine m × n-Matrix und B = (bkl ) ∈ MK (n, p) eine n × p-Matrix, so kann man wie in I.8.7.2 das durch C = (cjl ) := AB,
cjl =
n
ajk bkl ,
j = 1, . . . , m, l = 1, . . . , p,
k=1
definierte Matrixprodukt AB ∈ MC (m, p) von A und B bilden. Im Spezialfall p = 1 ist B ein n-dimensionaler Spaltenvektor und AB ein mdimensionaler Spaltenvektor. Identifizieren wir Vektoren aus dem Kn (bzw. Km ) mit Spaltenvektoren, so stimmt die Abbildung B → AB mit (5.2) u ¨berein, d.h. es gilt Ax = ϕA (x). Nach Definition des Matrixproduktes muss in Ausdr¨ ucken der Form Ax der Vektor x immer als n-dimensionaler Spaltenvektor interpretiert werden (vgl. auch I.8.7.3 (iv)). Wie schon in Abschnitt I.8.7 werden wir auch hier gelegentlich von A als linearer Abbildung sprechen. Gemeint ist nat¨ urlich immer die Abbildung ϕA . V¨ollig analog zu Satz I.8.63 besteht der folgende grundlegende Zusammenhang zwischen dem Matrixprodukt und der Komposition linearer Abbildungen: 5.2 Satz. (Matrizenmultiplikation und Komposition linearer Abbildungen) Es seien V, W und U Vektorr¨aume ¨ uber K mit den Dimensionen n, m und p. Ferner sei A ∈ MK (m, n) die Darstellung einer linearen Abbildung f : V → W bez¨ uglich der Basen a1 , . . . , an von V und b1 , . . . , bm von W und B ∈ MK (p, m) die Darstellung einer linearen Abbildung g : W → U bez¨ uglich der Basen b1 , . . . , bm und c1 , . . . , cp von W bzw. U . Dann ist BA ∈ MK (p, n) die Darstellung von g ◦ f : V → U bez¨ uglich der Basen a1 , . . . , an und c1 , . . . , cp . Man beachte, dass die Reihenfolge der Faktoren im Produkt BA zur Kompo” sitions-Reihenfolge“ korrespondiert. Es wird zuerst f und danach g ausgef¨ uhrt.
240
5.1.5
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
Einheitsmatrix, inverse Matrix
Wie fr¨ uher bezeichnet En die Einheitsmatrix , deren Diagonalelemente gleich 1 und deren andere Elemente alle gleich 0 sind. Die Einheitsmatrix ist das neutrale Element der Matrizenmultiplikation, d.h. es gilt AEn = En A = A f¨ ur jedes A ∈ MK (n, n). Ist V ein n-dimensionaler Vektorraum u at idV : V → V (es gilt ¨ ber K, so ist En die Darstellung der Identit¨ idV (v) = v f¨ ur jedes v ∈ V ) auf einem K-Vektorraum V bez¨ uglich einer beliebigen Basis von V . Weil die Identit¨at als neutrales Element bzgl. der Komposition linearer Abbildungen wirkt, steht dieser Sachverhalt im Einklang mit Satz 5.2. ar , wenn sie den maximal Eine quadratische Matrix A ∈ MK (n, n) heißt regul¨ m¨oglichen Rang n besitzt. Analog zu Satz I.8.68 sieht man, dass die Matrix A genau dann regul¨ ar ist, wenn die inverse Matrix A−1 ∈ MK (n, n) von A existiert. Die Matrix A−1 ist durch jede der beiden Gleichungen A−1 A = En ,
AA−1 = En
eindeutig bestimmt.
5.1.6
Basiswechsel
Es sei V ein n-dimensionaler Vektorraum u ¨ber K mit Basis a1 , . . . , an . Manchmal ist es zweckm¨aßig, das Koordinatensystem zu wechseln, d.h. von der Basis ˜1 , . . . , a ˜n von V u a1 , . . . , an zu einer anderen Basis a ¨berzugehen. Es bezeichne T die durch die Forderung T (˜ aj ) = aj ,
j = 1, . . . , n
eindeutig bestimmte bijektive lineare Abbildung (Isomorphismus) zwischen V und V , und es sei C = (cjk ) die Darstellung von T bez¨ uglich der Basis a ˜1 , . . . , a ˜n . Damit gilt (vgl. (5.1)) T (˜ ak ) = ak =
n
cjk a ˜j ,
k = 1, . . . , n.
(5.3)
j=1
Die Matrix C heißt Transformationsmatrix des Basiswechsels von a1 , . . . , an zu a ˜1 , . . . , a ˜n . Sie ist nach Satz 5.1 regul¨ar. Die Namensgebung Transformationsmatrix“ ist leicht zu erkl¨ aren. Ist n¨ amlich ” x = (x1 , . . . , xn ) der Koordinatenvektor eines Vektors v ∈ V bez¨ uglich der Basis a1 , . . . , an , so gilt n n n n n xk ak = cjk xk a ˜j = cjk xk a ˜j . v= k=1
k=1 j=1
j=1
k=1
5.1 Matrizen und lineare Abildungen
241
˜n . Die Damit ist Cx der Koordinatenvektor von x bez¨ uglich der Basis a ˜1 , . . . , a Transformationsmatrix ist auch die Darstellung der Identit¨ at idV bez¨ uglich der Basen a1 , . . . , an und a ˜1 , . . . , a ˜n . ˜ Bezeichnet C die Transformationsmatrix des Basiswechsels von a ˜1 , . . . , a ˜n zu ˜ nach Satz 5.2 die Darstellung der Idena1 , . . . , an , so ist das Matrixprodukt CC ˜ = En , und wir erhalten: tit¨at bez¨ uglich der Basis a1 , . . . , an . Somit ist CC 5.3 Satz. (Inverse Transformationsmatrix) Ist C die Transformationsmatrix eines Basiswechsels von a1 , . . . , an zu a ˜1 , . . . , a ˜n , so ist die inverse Matrix C −1 die Transformationsmatrix des inversen“ Basis” ˜n zu a1 , . . . , an . wechsels von a ˜1 , . . . , a Jede regul¨are Matrix C = (cjk ) ∈ MK (n, n) ist Transformationsmatrix eines ˜n von V und defigeeigneten Basiswechsels. Dazu w¨ahlt man eine Basis a ˜1 , . . . , a niert a1 , . . . , an durch (5.3). Die lineare Unabh¨ angigkeit dieser Vektoren ist eine direkte Folgerung aus der Gleichung Kern(C) = {0}.
5.1.7
Das Verhalten von Darstellungen unter Basiswechseln
Es sei A die Darstellung einer linearen Abbildung f : V → W bez¨ uglich der Basen andert sich diese Darstellung, wenn a1 , . . . , an und b1 , . . . , bm von V bzw. W . Wie ¨ man in V und W zu anderen Basen a ˜1 , . . . , a ˜n bzw. ˜b1 , . . . , ˜bm u ¨ bergeht? Die Antwort ist sehr einfach: 5.4 Satz. (Basiswechsel) Es seien C und D die Transformationsmatrizen der Basiswechsel von a1 , . . . , an zu a ˜1 , . . . , a ˜n in V bzw. von b1 , . . . , bm zu ˜b1 , . . . , ˜bm in W . Ist dann A die Darstellung der linearen Abbildung f : V → W bez¨ uglich a1 , . . . , an und b1 , . . . , bm , −1 so ist DAC die Darstellung von f bez¨ uglich a ˜1 , . . . , a ˜n und ˜b1 , . . . , ˜bm . Beweis: Es seien C = (cjk ), D = (djk ), und es bezeichne B = (bjk ) die Darstellung ˜n und ˜b1 , . . . , ˜bm . Aus den Definitionen von A = (ajk ) und der von f bzgl. a ˜1 , . . . , a Transformationsmatrix D erhalten wir f¨ ur jedes k ∈ {1, . . . , n} die Gleichung f (ak ) =
m
ajk bj =
j=1
m m
ajk dlj ˜bl =
j=1 l=1
m m
dlj ajk ˜bl .
l=1 j=1
Andererseits liefern die Definitionen von C und B f¨ ur jedes k die Gleichungskette f (ak ) = f (c1k a ˜1 + . . . + cnk a ˜n ) =
n j=1
cjk f (˜ aj ) =
m n
blj cjk ˜bl .
l=1 j=1
Der Vergleich der obigen rechten Seiten liefert m j=1
dlj ajk =
n j=1
blj cjk ,
k = 1, . . . , n, l = 1, . . . , m,
242
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
und somit DA = BC. Multipliziert man diese Gleichung von rechts mit C −1 , so folgt die Behauptung.
Die Aussage von Satz 5.4 ist in Bild 5.1 veranschaulicht. Dabei wurden die unterschiedlichen Basen in V und W durch eine Indexnotation gekennzeichnet. So bedeutet etwa Wb1 ,...,bm der Vektorraum W mit der Basis b1 , . . . , bm .
Va1 ,...,an O
f A
C −1
Va˜1 ,...,˜an
/ Wb1 ,...,bm D
f DAC −1
/ W˜b ,...,˜b m 1
Bild 5.1: Zur Illustration der Aussage von Satz 5.4 Von besonderem Interesse ist der Spezialfall V = W : 5.5 Folgerung. (Basiswechsel) ˜1, . . . , a ˜n Ist C die Transformationsmatrix des Basiswechsels von a1 , . . . , an zu a in V und ist A die Darstellung einer linearen Abbildung f : V → V bez¨ uglich a1 , . . . , an , so ist CAC −1 die Darstellung von f bez¨ uglich a ˜1 , . . . , a ˜n . 5.6 Folgerung. (Basiswechsel in Kn ) Es sei A die Darstellung einer linearen Abbildung f : Kn → Kn bez¨ uglich ein ner Basis a1 , . . . ,an von K . Bezeichnet S die Matrix mit den Spaltenvektoren a1 , . . . ,an , so ist SAS −1 die Darstellung von f bez¨ uglich der kanonischen Basis e1 , . . . , en von Kn . Beweis: Die Transformationsmatrix des Basiswechsels von a1 , . . . , an zu e1 , . . . , en hat die Spaltenvektoren a1 , . . . , an . Deshalb ergibt sich die Behauptung aus der vorangehenden Folgerung.
5.1.8
Determinanten
Die Determinante det(f ) einer linearen Abbildung f : V → V wird wie in 3.1.6 definiert. Dabei ist zu beachten, dass Multilinearformen und insbesondere Deterart werden m¨ ussen. Auch die minantenformen als Abbildungen von V n in K erkl¨ Determinante det(A) einer komplexen n × n-Matrix A wird wie im reellen Fall eingef¨ uhrt (vgl. (3.15)). So ist etwa 1+i 1−i det = (1 + i)i − 2(1 − i) = 3(i − 1). 2 i
5.2 Eigenwerte
243
Alle in Kapitel 3 bewiesenen Eigenschaften von Determinanten bleiben f¨ ur komplexe Vektorr¨aume und komplexe Matrizen g¨ ultig.
5.1.9
¨ Ahnliche Matrizen
Zwei quadratische Matrizen A, B ∈ MK (n, n) heißen ¨ahnlich , wenn es eine regul¨are Matrix C ∈ MK (n, n) gibt, so dass B = CAC −1 . ¨ ¨ Wie man direkt nachrechnet, ist die Ahnlichkeitsrelation eine Aquivalenzrelation auf der Menge MK (n, n). Ferner gilt: 5.7 Satz. (Solidarit¨atseigenschaften ¨ahnlicher Matrizen) ¨ Ahnliche Matrizen besitzen denselben Rang und dieselbe Determinante. Beweis: Die erste Behauptung kann man leicht direkt nachweisen. Die zweite ist eine Konsequenz des Multiplikationssatzes f¨ ur Determinanten. Alternativ kann man auch Folgerung 5.5 benutzen. Danach repr¨asentieren ¨ahnliche Matrizen dieselbe lineare Abbiluglich verschiedener Basen. Somit folgt die erste Behauptung aus dung von Kn in Kn bez¨ Satz 5.1 und die zweite aus Satz 3.12.
5.2
Eigenwerte
In diesem Abschnitt fixieren wir einen n-dimensionalen Vektorraum V u ¨ber dem K¨orper K. Dabei ist K = R oder K = C. Aus dem Kontext wird aber klar, dass viele Ergebnisse auch f¨ ur beliebige andere K¨ orper wie z.B. K = Q richtig sind.
5.2.1
Invariante Unterr¨ aume
Es seien λ ∈ K und f die durch f (v) := λv definierte lineare Abbildung. Ist λ = 0, so wird jeder Unterraum U von V durch f als Ganzes auf sich selbst abgebildet, d.h. es gilt f (U ) = U. Ist λ = 0, so gilt immer noch f (U ) = {0} ⊂ U . Sind nun f : V → V eine allgemeine lineare Abbildung und U ⊂ V ein Unterraum, so heißt U invariant unter f , falls f (U ) ⊂ U gilt, falls also das Bild von U Teilmenge von U ist. Derartige Invarianzbeziehungen sind wichtige Eigenschaften linearer Abbildungen. Ist U ein eindimensionaler Unterraum von V mit U = Span(v) (im Rn beschreibt U eine durch den Ursprung und den Punkt v gehende Gerade), so gilt f (U ) ⊂ U genau dann, wenn f (μv) = μf (v) ∈ U f¨ ur jedes μ ∈ K, d.h. genau dann, wenn f (v) ∈ U . In diesem Fall gibt es also ein λ ∈ K mit f (v) = λv.
244
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
5.2.2
Definition von Eigenwert und Eigenvektor
(i) Ist f : V → V eine lineare Abbildung, so heißt λ ∈ K Eigenwert von f , falls es einen Vektor v = 0 gibt, so dass gilt: f (v) = λv In diesem Fall heißt v (zum Eigenwert λ geh¨ orender) Eigenvektor von f . (ii) Ist A ∈ MK (n, n) eine Matrix, so heißt λ ∈ K ein Eigenwert von A zum Eigenvektor x = 0, falls Ax = λx gilt, d.h. falls λ Eigenwert der durch (5.2) definierten linearen Abbildung ϕA : Kn → Kn ist und x der zugeh¨ orige Eigenvektor ist. Bevor wir Methoden kennenlernen, mit denen man Eigenwerte und Eigenvektoren systematisch ermitteln kann, geben wir zwei Beispiele. 5.8 Beispiel. Wie man leicht nachrechnet, besitzt die reelle Matrix 1 1 A := 0 3 die Eigenvektoren x1 := (1, 0) und x2 := (1, 2) zu den Eigenwerten λ1 := 1 bzw. λ2 := 3. Aus der linearen Unabh¨angigkeit von x1 und x2 folgt, dass es keine weiteren Eigenwerte gibt. W¨are n¨amlich λ ein weiterer von λ1 und λ2 verschiedener Eigenwert zum Eigenvektor x = 0, so w¨are x (da {x1 , x2 } eine Basis des R2 ist) in der Form x = α1 x1 + α2 x2 mit (α1 , α2 ) = (0, 0) darstellbar. Aus Ax = α1 Ax1 + α2 Ax2 = α1 λ1 x1 + α2 λ2x2 = λ(α1 x1 + α2x2 ) folgt dann α1 (λ1 − λ)x1 + α2 (λ2 − λ)x2 = 0 und somit wegen der linearen Unabh¨angigkeit von x1 und x2 der Widerspruch λ = λ1 oder λ = λ2 . Damit sind Span(x1 ) und Span(x2 ) die einzigen invarianten eindimensionalen Unterr¨ aume. Im Fall K = R muss es keine Eigenwerte geben: 5.9 Beispiel. Nach Beispiel 3.34 repr¨asentiert die reelle Matrix cos ϕ − sin ϕ A := sin ϕ cos ϕ eine Drehung f : R2 → R2 um den Ursprung mit dem Drehwinkel ϕ ∈ [0, 2π). Im Fall ϕ ∈ / {0, π} existiert folglich keine invariante Gerade, und somit besitzen f und A keinen (reellen) Eigenwert. Im Fall ϕ = 0 ist f die Identit¨ at und jeder von Null verschiedene Vektor Eigenvektor von f zum Eigenwert λ = 1. F¨ ur ϕ = π ist f eine Punktspiegelung am Nullpunkt. In diesem Fall ist jedes v = 0 Eigenvektor zum Eigenwert λ = −1.
5.2 Eigenwerte
245
5.10 Beispiel. Wir betrachten nochmals die Matrix cos ϕ − sin ϕ A := , sin ϕ cos ϕ interpretieren sie aber jetzt als Element von MC (2, 2). Man rechnet leicht nach, dass λ1 := cos ϕ + i sin ϕ = eiϕ und λ2 := cos ϕ − i sin ϕ = e−iϕ Eigenwerte mit zugeh¨origen Eigenvektoren x1 := (1, −i) bzw. x2 := (1, i) sind.
5.2.3
Eigenr¨ aume
Ist λ ∈ K ein Eigenwert der linearen Abbildung f : V → V , so nennt man Eig(f ; λ) := {v ∈ V : f (v) = λv} den zugeh¨origen Eigenraum von f . Offenbar ist Eig(f ; λ) ein Unterraum von V , der alle zum Eigenwert λ geh¨orenden Eigenvektoren von f sowie den Nullvektor enth¨alt. 5.11 Satz. (Charakterisierung der Eigenwerte) Es seien f : V → V eine lineare Abbildung und λ ∈ K ein Skalar. Dann ist λ genau dann Eigenwert von f , wenn det(f − λ idV ) = 0. In diesem Fall gilt Eig(f ; λ) = Kern(f − λ idV ). Beweis: F¨ ur jedes v ∈ V gilt f (v) = λv genau dann, wenn f (v) − λv = 0, d.h. genau dann, wenn v ∈ Kern(f − λ idV ). Weil V endlichdimensional ist, gilt Kern(f − λ idV ) = {0} genau dann, wenn f nicht bijektiv ist. Nach dem Regularit¨atskriterium von Satz 3.10 ist letzteres ¨ aquivalent zu det(f − λ idV ) = 0. Damit ist alles bewiesen.
5.12 Satz. (Charakteristisches Polynom) Ist f : V → V eine lineare Abbildung, so gibt es Skalare q0 , . . . , qn ∈ K mit det(f − λ idV ) = qn λn + qn−1λn−1 + . . . + q1 λ + q0 ,
λ ∈ K.
Insbesondere gilt q0 = det(f ) und qn = (−1)n . Beweis: Es seien a1 , . . . , an eine Basis von V und D eine Determinantenform auf V . Wegen der Multilinearit¨at von D gilt f¨ ur jedes λ ∈ K: D(f (a1 ) − λa1 , . . . , f (an ) − λan ) = D(f (a1 ), . . . , f (an )) + (−λ)D(a1 , f (a2 ), . . . , f (an )) + . . . + (−λ)D(f (a1 ), . . . , f (an−1 ), an ) + . . . + (−λ)n D(a1 , . . . , an ). Division dieser Gleichung durch D(a1 , . . . , an ) liefert die Behauptungen.
246
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
5.2.4
Das charakteristische Polynom
Das in den S¨atzen 5.11 und 5.12 auftretende Polynom erh¨ alt einen eigenen Namen: (i) Ist f : V → V eine lineare Abbildung, so heißt die Funktion λ → Pf (λ) := det(f − λ idV ) von K in K charakteristisches Polynom von f . (ii) Ist A ∈ MK (n, n), so heißt die Funktion λ → PA (λ) := det(A − λEn ) von K in K charakteristisches Polynom von A. Das charakteristische Polynom einer Matrix ist also das charakteristische Polynom der zugeh¨origen linearen Abbildung. Auch im allgemeinen Fall wird das charakteristische Polynom durch die Berechnung der Determinante einer Matrix ermittelt: 5.13 Satz. (Berechnung des charakteristischen Polynoms) uglich Ist A ∈ MK (n, n) die Darstellung der linearen Abbildung f : V → V bez¨ einer Basis a1 , . . . , an von V , so gilt det(f − λ idV ) = det(A − λEn ),
λ ∈ K.
Beweis: Offenbar ist A − λEn die Darstellung der Abbildung f − λ idV bez¨ uglich der Basis a1 , . . . , an , so dass sich die Behauptung aus Satz 3.12 ergibt.
Nach Folgerung 5.5 stellen ¨ahnliche Matrizen dieselbe lineare Abbildung dar. Damit erhalten wir: 5.14 Satz. (Solidarit¨atseigenschaft ¨ahnlicher Matrizen) ¨ Ahnliche Matrizen besitzen dasselbe charakteristische Polynom. Sind A, B ∈ MK (n, n) ¨ahnliche Matrizen, so ergibt sich aus dem letzten Satz: det(A − λEn ) = det(B − λEn ),
λ ∈ K.
Nach dem Identit¨atssatz f¨ ur Polynome (Folgerung 4.19) m¨ ussen die Koeffizienten der charakteristischen Polynome u ¨bereinstimmen; es muss also det(A − λEn ) = det(B − λEn ) = qn λn + qn−1 λn−1 + . . . + q1 λ + q0 ,
λ ∈ K,
gelten. Insbesondere folgt die bereits aus Satz 5.12 bekannte Gleichung q0 = det(A) = det(B). Der Beweis von Satz 5.12 liefert ferner (−1)n−1 qn−1 = det(Ae1 , e2 , . . . , en ) + . . . + det(e1 , . . . , en−1 , Aen ) = a11 + . . . + ann . Diese Zahl, also die Summe der Diagonalelemente einer quadratischen Matrix A, ¨ heißt Spur von A. Ahnliche Matrizen besitzen also dieselbe Spur.
5.2 Eigenwerte
5.2.5
247
Algebraische Vielfachheiten
Nach Satz 5.11 sind die Eigenwerte einer linearen Abbildung f : V → V die Nullstellen des charakteristischen Polynoms von f . Aufgrund des Fundamentalsatzes der Algebra gibt es im Fall K = C eine nat¨ urliche Zahl m, (paarweise) verschiedene komplexe Zahlen λ1 , . . . , λm und nat¨ urliche Zahlen n1 , . . . , nm mit n1 + . . . + nm = n und der Eigenschaft det(f − λ idV ) = (−1)n (λ − λ1 )n1 · . . . · (λ − λm )nm ,
λ ∈ C.
(5.4)
Die Zahlen λ1 , . . . , λm sind die voneinander verschiedenen Eigenwerte von f . Die Zahl nj ist die sogenannte algebraische Vielfachheit von λj . Wie wir in Beispiel 5.9 gesehen haben, muss es im Fall K = R keine (reellen) Eigenwerte geben. Ist λ1 ein Eigenwert, so gibt es nach Lemma 4.20 eine nat¨ urliche Zahl k mit det(f − λ idV ) = (λ − λ1 )k p(λ),
λ ∈ R.
Dabei ist p : R → R ein Polynom mit p(λ1 ) = 0. Auch in diesem Fall heißt k algebraische Vielfachheit von λ1 . Analoge Spechweisen verwendet man f¨ ur die Eigenwerte von Matrizen.
5.2.6
Komplexe und reelle Eigenwerte
Es sei A ∈ MK (n, n) die Darstellung einer linearen Abbildung von f : V → V bez¨ uglich irgendeiner Basis von V . Gem¨aß (5.4) und Satz 5.13 gilt dann PA (λ) = det(A − λEn ) = qn λn + qn−1 λn−1 + . . . + q1 λ + q0 ,
λ ∈ K. (5.5)
Im Fall K = C steht die alternative Darstellung (5.4) zur Verf¨ ugung. Setzt man dort λ = 0, so ergibt sich die Determinante von A als Produkt der Eigenwerte von A. Dabei m¨ ussen die Eigenwerte entsprechend ihrer Vielfachheit verwendet werden. Es gelte jetzt K = R. Interpretiert man A als komplexe Matrix, so folgt aus der Definition (3.15) der Determinante einer Matrix sofort, dass das charakteristische Polynom von A auch in diesem Fall wieder durch (5.5) gegeben ist. Lediglich λ darf jetzt in ganz C variieren. Man beachte aber, dass die Koeffizienten q0 , . . . , qn reell sind! Wiederum erhalten wir eine Darstellung der Form (5.4). Eine echt komplexe Nullstelle von PA heißt auch echt komplexer Eigenwert von A. Ist λ ¨ ein solch komplexer Eigenwert, so folgt durch Ubergang zu konjugiert komplexen Zahlen: ¯ + q0 = PA (λ). ¯ n + qn−1 (λ) ¯ n−1 + . . . + q1 λ ¯ 0 = ¯0 = PA (λ) = (−1)n (λ)
248
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
¯ ein komplexer Eigenwert von A. Man u Damit ist auch λ ¨ berlegt sich leicht (z.B. mit Hilfe von Lemma 4.20), dass beide Nullstellen dieselbe Vielfachheit haben. Wir fassen zusammen: 5.15 Satz. (Determinante und Eigenwerte reeller Matrizen) Die Determinante einer reellen Matrix A ist das Produkt der mit ihren Vielfachheiten gez¨ ahlten (komplexen und reellen) Eigenwerte. Ein echt komplexer Eigenwert λ ∈ C \ R von A tritt immer zusammen mit seinem konjugiert komplexen ¯ auf. Pendant λ 5.16 Beispiel. Es sei ϕ ∈ [0, 2π) mit ϕ = 0 und ϕ = π. Die Matrix ⎞ ⎛ 1 0 0 A = ⎝0 cos ϕ − sin ϕ⎠ 0 sin ϕ cos ϕ besitzt das charakteristische Polynom PA (λ) = (1 − λ) (cos ϕ − λ)2 + sin2 ϕ und somit den reellen Eigenwert λ1 = 1 sowie die konjugiert komplexen Eigen¯ 2 = cos ϕ − i sin ϕ. werte λ2 = cos ϕ + i sin ϕ, λ3 = λ
5.2.7
Geometrische Vielfachheiten
Es seien f : V → V eine lineare Abbildung und λ ein Eigenwert von f . Die Dimension des zugeh¨origen Eigenraums heißt geometrische Vielfachheit von λ. Wie der nachstehende Satz zeigt, ist die geometrische Vielfachheit eines Eigenwertes h¨ochstens so groß wie seine algebraische Vielfachheit. 5.17 Satz. (Geometrische und algebraische Vielfachheit) Es seien f : V → V eine lineare Abbildung und λ1 ∈ K ein Eigenwert von f mit der algebraischen Vielfachheit k. Dann gilt dim Eig(f ; λ1 ) ≤ k. Beweis: Nach Satz 5.11 gilt m := dim Eig(f ; λ1 ) ≥ 1. Wir w¨ ahlen eine Basis a1 , . . . , am von Eig(f ; λ1 ) und erg¨anzen diese zu einer Basis a1 , . . . , an von V . Ist A die Darstellungsmatrix von f bez¨ uglich dieser Basis, so ist f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , m} der j-te Spaltenvektor von A gleich λ1ej . Damit ist (λ1 − λ)ej der j-te Spaltenvektor von A − λEn , und man erh¨ alt (z.B. durch sukzessives Anwenden des Entwicklungssatzes von Laplace auf die ersten m Spalten der Matrix A − λEn ) det(A − λEn ) = (λ1 − λ)m Q(λ), wobei Q ein Polynom (n−m)-ten Grades ist. Somit besitzt λ1 mindestens die algebraische Vielfachheit m.
5.2 Eigenwerte
5.2.8
249
Lineare Unabh¨ angigkeit von Eigenvektoren
5.18 Satz. (Lineare Unabh¨angigkeit von Eigenvektoren) Es seien λ1 , . . . , λm (paarweise) verschiedene Eigenwerte einer linearen Abbildung f : V → V . F¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , m} sei vj ein zu λj geh¨orender Eigenvektor von f . Dann sind v1 , . . . , vm linear unabh¨ angig. Beweis: Wir zeigen durch vollst¨andige Induktion u ¨ ber j ∈ {1, . . . , m}, dass v1 , . . . , vj linear unabh¨ angig sind. F¨ ur den Fall j = 1 ist diese Behauptung offensichtlich richtig. Wir w¨ ahlen jetzt ein beliebiges j ∈ {1, . . . , m − 1} und vollziehen den Induktionsschritt von j nach j + 1. Hierzu seien μ1 , . . . , μj+1 ∈ K mit μ1 v1 + . . . + μj+1 vj+1 = 0. Wenden wir auf beiden Seiten dieser Gleichung die Abbildung f − λj+1 idV an, so ergibt sich μ1 (λ1 − λj+1 )v1 + . . . + μj (λj − λj+1 )vj = 0. Aus der Verschiedenheit aller Eigenwerte sowie der Induktionsvoraussetzung folgt μ1 = . . . = μj = 0 und damit μj+1 vj+1 = 0. Somit ist auch μj+1 = 0. Der Satz ist bewiesen.
5.2.9
Diagonalisierbarkeit linearer Abbildungen
Eine lineare Abbildung f : V → V besitzt eine besonders u ¨bersichtliche Darstellung, wenn eine aus Eigenvektoren von f bestehende Basis v1 , . . . , vn von V existiert. In diesem Fall ist n¨amlich die Darstellung von f bez¨ uglich dieser Basis die Diagonalmatrix (vgl. 3.2.8) diag(λ1 , . . . , λn ). Hierbei bezeichnet λj den zu vj geh¨orenden Eigenwert von f . Ist umgekehrt diag(λ1 , . . . , λn ) eine Darstellung von f bez¨ uglich einer Basis v1 , . . . , vn , so ist λj Eigenwert zum Eigenvektor vj . Nach Satz 5.18 gibt es eine solche Darstellung, falls f genau n verschiedene Eigenwerte besitzt. Allgemein gilt: 5.19 Satz. (Diagonalisierbarkeit (1)) Es seien V ein komplexer Vektorraum und f : V → V eine lineare Abbildung. Genau dann existiert eine aus Eigenvektoren von f bestehende Basis von V , wenn die algebraische und die geometrische Vielfachheit jedes Eigenwertes von f ubereinstimmen. ¨ Beweis: (⇒): Es sei v1 , . . . , vn eine aus Eigenvektoren von f bestehende Basis von V , und es seien λ1 , . . . , λn die zugeh¨origen Eigenwerte von f . Weiter seien μ1 , . . . , μm die verschiedenen Eigenwerte von f , und es sei nj die Vielfachheit, mit der μj unter λ1 , . . . , λn auftritt. Da f durch die Diagonalmatrix D := diag(λ1 , . . . , λn ) dargestellt wird, liefert Satz 5.13 det(f − λ idV ) = (μ1 − λ1 )n1 · . . . · (μm − λm )nm . Folglich besitzt μj die algebraische Vielfachheit nj . Weil die Diagonalmatrix D − μj En an genau nj Stellen der Hauptdiagonalen eine Null enth¨ alt, gilt Rang(f − μj idV ) = Rang(D − μj En ) = n − nj .
250
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
Somit besitzt der Kern von f − μj idV die Dimension nj , was zeigt, dass nj auch die geometrische Vielfachheit von μj ist. (⇐): Es seien μ1 , . . . , μm die verschiedenen Eigenwerte von f und n1 , . . . , nm die zugeh¨ origen algebraischen Vielfachheiten. Insbesondere gilt dann n1 + . . . + nm = n. Wir ur jedes j ∈ {1, . . . , m} auch die geometrische Vielfachheit von setzen voraus, dass nj f¨ λj ist. Es sei vj1 , . . . , vjnj eine Basis von Eig(f ; λj ), j = 1, . . . , m. Mit Satz 5.18 folgt leicht, dass die Menge B aller n Vektoren vj1 , . . . , vjnj , j = 1, . . . , m, linear unabh¨ angig und somit eine Basis von V ist.
Der obige Beweis impliziert die folgende Aussage f¨ ur reelle Vektorr¨ aume: 5.20 Satz. (Diagonalisierbarkeit (2)) Es seien V ein reeller Vektorraum und f : V → V eine lineare Abbildung. Genau dann existiert eine aus Eigenvektoren von f bestehende Basis von V , wenn f nur reelle Eigenwerte besitzt und die algebraische und die geometrische Vielfachheit jedes Eigenwertes von f ¨ ubereinstimmen.
5.2.10
Diagonalisierbarkeit reeller Matrizen
Eine reelle Matrix A ∈ MR (n, n) heißt diagonalisierbar , wenn es eine regul¨ are Matrix B ∈ MR (n, n) gibt, so dass BAB −1 eine Diagonalmatrix ist. Nach Definition ist eine Matrix A ∈ MR (n, n) somit genau dann diagonalisierbar, wenn sie einer Diagonalmatrix ¨ahnlich ist. Ferner erhalten wir aus Satz 5.20: 5.21 Satz. (Diagonalisierbarkeit reeller Matrizen) Eine reelle Matrix A ∈ MR (n, n) ist genau dann diagonalisierbar, wenn sie nur reelle Eigenwerte besitzt und die algebraische und die geometrische Vielfachheit jedes Eigenwertes von A ¨ ubereinstimmen. Die Matrix A ∈ MR (n, n) erf¨ ulle die Voraussetzungen des obigen Satzes. Es seien λ1 , . . . , λn die entsprechend ihren Vielfachheiten gez¨ ahlten (reellen) Eigenwerte von A, v1 , . . . , vn die zugeh¨origen Eigenvektoren sowie S die Matrix mit den Spaltenvektoren v1 , . . . , vn . Dann gilt die Gleichung diag(λ1 , . . . , λn ) = S −1 AS, wie man sofort durch Multiplikation (von links) beider Seiten mit S best¨ atigen kann (vgl. auch Folgerung 5.6). 5.22 Beispiel. Die Matrix
⎛
⎞ 1 1 0 A := ⎝0 2 1⎠ 0 0 3
5.2 Eigenwerte
251
besitzt das charakteristische Polynom PA (λ) = (1 − λ)(2 − λ)(3 − λ) und damit die Eigenwerte λ1 = 1, λ2 = 2 und λ3 = 3. Der zu λ1 geh¨ orende Eigenraum Eig(A; 1) ist der Kern der Matrix A − E3 , d.h. die L¨ osungsmenge des homogenen Gleichungssystems ⎛ ⎞⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 0 0 1 0 x1 ⎝0 1 1⎠ ⎝x2 ⎠ = ⎝0⎠ . x3 0 0 0 2 Es ergibt sich Eig(A; 1) = Span((1, 0, 0)). Analog findet man (1, 1, 0) und (1, 2, 2) als die zu λ2 bzw. λ3 geh¨orenden Eigenvektoren. Mit ⎛ ⎞ 1 1 1 S := ⎝0 1 2⎠ 0 0 2 gilt dann S −1 AS = diag(1, 2, 3); die Matrix A ist also diagonalisierbar. 5.23 Beispiel. Die Matrix
⎛
⎞ 1 1 0 A := ⎝0 2 0⎠ 0 0 2
hat die Eigenwerte λ1 = 1 und λ2 = 2, wobei λ2 die algebraische Vielfachheit 2 besitzt. Der zu λ2 geh¨orende Eigenraum Eig(A; 2) ist L¨ osungsmenge des homogenen linearen Gleichungssystems ⎛ ⎞⎛ ⎞ ⎛ ⎞ 0 −1 1 0 x1 ⎝ 0 0 0⎠ ⎝x2 ⎠ = ⎝0⎠ . 0 0 0 0 x3 Es ergibt sich Eig(A; 2) = Span((1, 1, 0), (0, 0, 1)), was zeigt, dass λ2 auch die geometrische Vielfachheit 2 besitzt. Die Matrix A ist somit diagonalisierbar. 5.24 Beispiel. Die Matrix
A :=
3 1 0 3
besitzt den (einzigen) Eigenwert 3, und dieser hat die algebraische Vielfachheit 2. Der zugeh¨orige Eigenraum Eig(A; 3) ist L¨osungsmenge des homogenen linearen Gleichungssystems 0 0 1 x1 = . 0 0 0 x2 Wegen Eig(A; 3) = Span((1, 0)) besitzt der Eigenwert die geometrische Vielfachheit 1. Nach Satz 5.21 ist die Matrix A nicht diagonalisierbar.
252
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
Das letzte Beispiel kann man verallgemeinern: 5.25 Beispiel. (Jordan-K¨astchen) Eine komplexe n × n-Matrix der Gestalt ⎛ ⎞ μ 1 0 ... 0 0 ⎜0 μ 1 . . . 0 0⎟ ⎜ ⎟ ⎟ . . . . . . . . . . . . . . . . . J := ⎜ ⎜ ⎟ ⎝0 0 0 . . . μ 1⎠ 0 0 0 ... 0 μ mit μ ∈ C heißt Jordan-K¨ astchen. Diese Matrix besitzt den einzigen Eigenwert μ. Da der zugeh¨orige Eigenraum durch Eig(J; μ) = Span(e1 ) gegeben ist, ist die Matrix J nicht diagonalisierbar.
5.3
Symmetrische und unit¨ are Matrizen
In diesem Abschnitt werden wir u.a. zeigen, dass sich jede (reelle) symmetrische Matrix diagonalisieren l¨asst. Wir werden die Theorie weitgehend f¨ ur komplexe Vektorr¨aume entwickeln. Diese Vorgehensweise ist nicht nur effizienter, sondern liefert auch zus¨ atzliche inhaltliche Einsichten.
5.3.1
Hermitesche Matrizen
Es sei A ∈ MC (n, n) eine komplexe n×n-Matrix. Ersetzt man jeden Eintrag von A durch die entsprechende konjugiert komplexe Zahl, so entsteht die zu A konjugiert ¯ Die Transponierte dieser Matrix wird u komplexe Matrix A. ¨ blicherweise mit ¯T A∗ := (A) bezeichnet. In diesem Sinn ist z.B. i 3+i −i 3 − i −i 1 ∗ ¯ A := =⇒ A = =⇒ A = . 1 4−i 1 4+i 3−i 4+i Allgemein gilt (A∗ )∗ = A sowie (AB)∗ = B ∗ A∗ , falls B eine weitere Matrix aus MC (n, n) ist. Ferner besteht die Beziehung det(A∗ ) = det(A). Die Matrix A heißt hermitesch 1 , falls A = A∗ . 1 Charles Hermite (1822–1901), franz¨ osischer Mathematiker. Ab 1848 wirkte Hermite an der Ecole Polytechnique, 1869-1876 als Prof. 1862–1869 war er auch Prof. an der Ecole Normale und 1869–1897 an der Sorbonne. Hermite war einer der bedeutendsten Vertreter der Analysis seiner Zeit. Hauptarbeitsgebiete: Zahlentheorie, Algebra, Funktionentheorie, Approximationsund Interpolationstheorie.
5.3 Symmetrische und unit¨are Matrizen
253
Eine reelle Matrix ist genau dann hermitesch, wenn sie symmetrisch ist. Ferner u ¨berlegt man sich leicht, dass A genau dann hermitesch ist, wenn gilt:
Ax, y = x, Ay ,
x, y ∈ Cn .
Dabei bezeichnet ·, · das kanonische Skalarprodukt auf Cn (vgl. Beispiel 4.78).
5.3.2
Selbstadjungierte Abbildungen
Es sei V ein n-dimensionaler Vektorraum u orper K ∈ {R, C} und ¨ber dem K¨
·, · ein Skalarprodukt u ¨ ber V (vgl. 4.5.1). Im Fall K = R nennt man V einen euklidischen und im Fall K = C einen unit¨aren Vektorraum. Eine lineare Abbildung f : V → V heißt selbstadjungiert , wenn gilt:
f (v), w = v, f (w),
v, w ∈ V.
Das folgende Resultat stellt den Zusammenhang zwischen selbstadjungierten Abbildungen und hermiteschen bzw. symmetrischen Matrizen her: 5.26 Satz. (Selbstadjungierte Abbildungen und hermitesche Matrizen) Es sei A die Darstellung einer linearen Abbildung f : V → V bez¨ uglich einer Orthonormalbasis b1 , . . . , bn von V . Dann gilt: f selbstadjungiert ⇐⇒ A hermitesch bzw. symmetrisch. Beweis: Es gen¨ ugt, den Beweis f¨ ur den unit¨aren Fall K = C zu f¨ uhren. Wir betrachten hierzu die Koordinatenvektoren von Vektoren aus V bez¨ uglich der Basis b1 , . . . , bn . Weil letztere eine Orthonormalbasis ist, ergibt sich das Skalarprodukt zweier Vektoren aus V als das Skalarprodukt der entsprechenden Koordinatenvektoren in Cn . Besitzen v und w die Koordinatenvektoren x und y , so haben f (v) und f (w) die Koordinatenvektoren Ax und Ay . Damit ist f (v), w = v, f (w) ¨aquivalent zu Ax, y = x, Ay .
5.3.3
Eigenwerte selbstadjungierter Abbildungen
5.27 Satz. (Eigenwerte selbstadjungierter Abbildungen) Alle Eigenwerte einer selbstadjungierten Abbildung sind reell. Beweis: Es sei λ ∈ K Eigenwert einer selbstadjungierten Abbildung f : V → V . Wir w¨ ahlen einen zugeh¨origen Eigenvektor v = 0 und erhalten (vgl. 4.5.1) ¯ v. λ v, v = λv, v = f (v), v = v, f (v) = v, λv = λ v, ¯ = λ und somit λ ∈ R. Damit folgt λ
Der obige Satz hat wichtige Konsequenzen:
254
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
5.28 Satz. (Charakteristisches Polynom einer hermiteschen Matrix) Das charakteristische Polynom einer hermiteschen Matrix A ∈ MC (n, n) ist von der Form det(A − λEn ) = (λ1 − λ) · . . . · (λn − λ),
λ ∈ C,
(5.6)
mit λ1 , . . . , λn ∈ R. Insbesondere besitzt A nur die reellen Eigenwerte λ1 , . . . , λn , und es gilt det(A) = λ1 · . . . · λn . Beweis: Wegen Satz 5.26 vermittelt A eine selbstadjungierte Abbildung von Cn in Cn , die nach Satz 5.27 nur reelle Eigenwerte besitzt. Andererseits gibt es nach dem Fundamentalsatz der Algebra (Satz 4.17) komplexe Zahlen λ1 , . . . , λn , so dass (5.6) gilt. (Man beachte die Form des Koeffizienten qn in Satz 5.12.) Nach Satz 5.11 muss aber jedes λj Eigenwert von A sein. Damit ist alles bewiesen.
In Anwendungen treten meist reellwertige Matrizen auf. Dann gilt: 5.29 Satz. (Charakteristisches Polynom einer symmetrischen Matrix) Ist A ∈ MR (n, n) eine reellwertige symmetrische Matrix, so gibt es reelle Zahlen λ1 , . . . , λn mit det(A − λEn ) = (λ1 − λ) · . . . · (λn − λ),
λ ∈ R.
(5.7)
Insbesondere hat A die (nicht notwendig verschiedenen) Eigenwerte λ1 , . . . , λn . Beweis: Wir k¨ onnen A als hermitesche komplexe Matrix interpretieren. Damit gilt die Behauptung von Satz 5.28 und insbesondere (5.6). Daraus folgt (5.7), und Satz 5.11 liefert wieder, dass jedes λj Eigenwert von A ist.
5.3.4
Diagonalisierbarkeit selbstadjungierter Abbildungen
Wir k¨onnen jetzt das zentrale Ergebnis dieses Abschnitts beweisen. 5.30 Satz. (Diagonalisierbarkeit selbstadjungierter Abbildungen) Ist f : V → V eine selbstadjungierte lineare Abbildung, so gibt es eine aus Eigenvektoren von f bestehende Orthonormalbasis von V . Beweis: Wir beweisen die Behauptung durch Induktion u ¨ ber die Dimension n von V . Ist n = 1, so ist nichts zu zeigen, da jeder Vektor mit der L¨ ange 1 Eigenvektor ist und eine Orthonormalbasis von V bildet. F¨ ur n ≥ 2 f¨ uhren wir jetzt den Induktionsschritt von n − 1 auf n durch. Dazu betrachten wir zun¨achst eine Darstellung A von f bzgl. einer Orthonormalbasis von V . Die Matrix A hat dieselben Eigenwerte wie f . Andererseits ist A nach Satz 5.26 hermitesch (bzw. symmetrisch) und besitzt damit wegen Satz 5.28 (bzw. Satz 5.29) mindestens einen reellen Eigenwert λ. Es sei v ein Eigenvektor von f zum Eigenwert λ mit v = 1. Wir definieren den (n − 1)-dimensionalen Unterraum W := {w ∈ V : v, w = 0} = Span(v)⊥
5.3 Symmetrische und unit¨are Matrizen
255
der zu v orthogonalen Vektoren und zeigen die Invarianz von W unter f , d.h. die Inklusion f (W ) ⊂ W . F¨ ur jedes w ∈ W gilt n¨amlich
v, f (w) = f (v), w = λv, w = λ v, w = 0 und damit f (w) ∈ W . Somit ist die mit g bezeichnete Einschr¨ ankung von f auf W eine lineare Abbildung von W in W . Ferner ist g selbstadjungiert, wobei das Skalarprodukt auf W die Einschr¨ ankung von ·, · auf W ×W ist. Jeder Eigenwert und jeder Eigenvektor von g ist auch Eigenwert bzw. Eigenvektor von f . Nach Induktionsvoraussetzung gibt es eine aus Eigenvektoren von f bestehende Orthonormalbasis B von W . Dann ist B ∪ {v} eine aus Eigenvektoren von f bestehende Orthonormalbasis von V .
5.31 Folgerung. (Orthogonalit¨at der Eigenr¨ aume) Die Eigenr¨aume paarweise verschiedener Eigenwerte einer selbstadjungierten Abbildung sind orthogonal. Wir behandeln jetzt einige interessante Anwendungen des bewiesenen Satzes. Vorher ben¨otigen wir noch einen neuen Begriff. ar , falls BB ∗ = En , oder ¨ aquivalent dazu Eine Matrix B ∈ MC (n, n) heißt unit¨ ∗ B B = En gilt. Eine unit¨are Matrix B ist regul¨ar, und es gilt B −1 = B ∗ . Die Matrix B ist genau dann unit¨ar, wenn die Spaltenvektoren (bzw. die Zeilenvektoren) ein Orthonormalsystem in Cn sind. F¨ ur eine unit¨are Matrix gilt weiter 1 = det(BB ∗ ) = det(B) det(B ∗ ) = det(B)det(B) = | det(B)|2 , also | det(B)| = 1. 5.32 Satz. (Diagonalisierbarkeit hermitescher Matrizen) Zu jeder hermiteschen Matrix A gibt es eine unit¨are Matrix B und reelle Zahlen λ1 , . . . , λn mit B ∗ AB = diag(λ1 , . . . , λn ). Dabei sind λ1 , . . . , λn die Eigenwerte von A. Beweis: Es sei b1 , . . . , bn eine aus Eigenvektoren von A bestehende Orthonormalbasis von Cn (vgl. Satz 5.30), und es seien λ1 , . . . , λn die zugeh¨ origen reellen Eigenwerte von A. Wir definieren B als die Matrix mit den Spaltenvektoren b1 , . . . , bn . Dann ist AB die Matrix mit den Spaltenvektoren λ1b1 , . . . , λnbn . Folglich ist der j-te Spaltenvektor von B ∗ (AB) gleich λj B ∗bj = λj ej . Damit ist der Satz bewiesen.
Analog beweist man die folgende Darstellung symmetrischer Matrizen.
256
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
5.33 Satz. (Diagonalisierbarkeit symmetrischer Matrizen) Zu jeder symmetrischen Matrix A existieren eine orthogonale Matrix B und reelle Zahlen λ1 , . . . , λn mit B T AB = diag(λ1 , . . . , λn ). Dabei sind λ1 , . . . , λn die Eigenwerte von A.
5.3.5
Unit¨ are und orthogonale Abbildungen
Eine lineare Abbildung f : V → V heißt unit¨ar im Fall K = C bzw. orthogonal im Fall K = R, wenn gilt:
f (x), f (y) = x, y,
x, y ∈ V.
Unter Verwendung der Gleichung u, v = (u + v2 − u − v2 )/4 (u, v ∈ V ) beweist man wie im Fall V = Rn , dass obige Eigenschaft genau dann vorliegt, wenn f isometrisch ist, d.h. wenn f (x) = x,
x ∈ V.
Hierbei ist · die durch ·, · induzierte Norm auf V . Eine unit¨ are (bzw. orthogonale) Abbildung ist injektiv, also ein Isomorphismus. Ihre Umkehrabbildung ist ebenfalls unit¨ar (bzw. orthogonal). Auch die Komposition zweier unit¨ arer (bzw. orthogonaler) Abbildungen ist erneut unit¨ar (bzw. orthogonal). Der folgende Satz liefert den Zusammenhang zwischen unit¨ aren (bzw. euklidischen) Abbildungen und den entsprechenden Matrizen. Der Beweis erfolgt wie im Spezialfall V = Rn (vgl. Satz 3.31). 5.34 Satz. (Orthogonale Abbildungen und orthogonale Matrizen) Es sei A die Darstellung einer linearen Abbildung f : V → V bez¨ uglich einer Orthonormalbasis b1 , . . . , bn von V . Dann ist f genau dann unit¨ar (bzw. orthogonal), wenn A eine unit¨are (bzw. orthogonale) Matrix ist. 5.35 Satz. (Eigenwerte orthogonaler Abbildungen) Ist f : V → V eine unit¨are (bzw. orthogonale) Abbildung, so haben alle Eigenwerte von f den Betrag 1, und es gilt | det(f )| = 1. Beweis: Es seien λ ein Eigenwert von f und v ein zugeh¨ orige Eigenvektor. Dann gilt v = f (v) = λv = |λ|·v. Wegen v = 0 folgt daraus |λ| = 1. Zum Beweis der zweiten Behauptung betrachtet man die Darstellung A von f bez¨ uglich einer Orthonormalbasis von V . Weil A nach Satz 5.34 unit¨ ar (bzw. orthogonal) ist, gilt | det(A)| = 1. Andererseits ist aber det(f ) = det(A). Damit ist der Satz bewiesen.
5.3 Symmetrische und unit¨are Matrizen
5.3.6
257
Struktur orthogonaler Abbildungen
Es sei V ein euklidischer Vektorraum der Dimension n ∈ N. Die folgende Definition verallgemeinert die Begriffsbildungen in 3.2.12. Eine orthogonale Abbildung f : V → V heißt eigentlich orthogonal bzw. Drehung, wenn det(f ) = 1. Anderenfalls heißt sie uneigentlich orthogonal. 5.36 Beispiel. (Spiegelung) Es sei e ∈ V mit e = 1, und es sei U der (n − 1)-dimensionale Unterraum U := {v ∈ V : v, e = 0} = Span(v)⊥ , also die Hyperebene der zu e orthogonalen Vektoren. Mit der orthogonalen Projektion PU ⊥ (v) = v, e · e von v ∈ V auf U ⊥ gilt v = PU (v) + v, e · e, und wir definieren eine lineare Abbildung f : V → V durch f (v) := PU (v) − v, e · e. Offensichtlich beschreibt f eine Spiegelung an U (Bild 5.2). Ist b1 , . . . , bn−1 eine Orthonormalbasis von U , so ist b1 , . . . , bn−1 , e eine Orthonormalbasis von V . Die Darstellung A bzgl. dieser Basis ist die Matrix diag(1, . . . , 1, −1). Insbesondere gilt det(f ) = det(A) = −1. Also ist f eine uneigentliche orthogonale Abbildung. U v PU (v) f (v)
U⊥ e
PU ⊥ (v)
Bild 5.2: Spiegelung als uneigentliche orthogonale Abbildung
5.37 Satz. (Eigentliche und uneigentliche orthogonale Abbildungen) Es sei f : V → V eine uneigentlich orthogonale Abbildung. Ferner sei h die Spiegelung an einem (n − 1)-dimensionalen Unterraum U ⊂ V . Dann gibt es eine eindeutig bestimmte Drehung g : V → V mit f = h ◦ g. Beweis: Wegen der Bijektivit¨at von h sind die Gleichungen f = h ◦ g und g = h−1 ◦ f aquivalent. Es ist also nur noch zu zeigen, dass h−1 ◦ f eine Drehung ist. Nun gilt ¨ det(h−1 ◦ f ) = det(h−1 ) det(f ) = (det(h))−1 det(f ) = (−1)(−1) = 1, und der Satz ist bewiesen.
258
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
5.38 Beispiel. (Drehungen im R3 ) Es sei f : R3 → R3 eine Drehung, und es sei A die Darstellung von f bez¨ uglich einer Orthonormalbasis im R3 . Nach Satz 5.34 ist dann AAT = En , und aus den Eigenschaften der Determinante folgt det(A − E3 ) = det(A − AAT ) = det(A(E3 − AT )) = det(A) det(E3 − AT ) = det(E3 − A) = − det(A − E3 ). origer Also ist det(A − E3 ) = 0, und 1 ist ein Eigenwert von f . Es sei b1 ein zugeh¨ Eigenvektor mit b1 = 1. Wir erg¨anzen b1 zu einer Orthonormalbasis b1 , b2 , b3 von R3 und betrachten die Darstellung B von f bez¨ uglich dieser Basis. Wegen f (b1 ) = b1 besitzt die orthogonale Matrix B die Gestalt ⎛ ⎞ 1 0 0 B = ⎝0 a b ⎠ . 0 c d Die 2 × 2-Matrix C mit den Eintr¨agen a, b, c, d muss ebenfalls orthogonal sein. Ferner folgt aus det(A) = 1 auch det(C) = 1. Wie in Beispiel 3.34 ergibt sich ⎞ ⎛ 1 0 0 B = ⎝0 cos ϕ − sin ϕ⎠ 0 sin ϕ cos ϕ mit ϕ ∈ [0, 2π). Damit ist f eine Drehung um die Drehachse b1 mit dem Drehwinkel ϕ.
5.3.7
Die Hauptachsentransformation
Es seien A = (ajk ) eine reelle symmetrische n × n-Matrix und QA : Rn → R die durch QA (x) = x T Ax definierte quadratische Form (vgl. 1.3.2). 5.39 Satz. (Hauptachsentransformation) Es sei A eine symmetrische reelle Matrix, und es sei b1 , . . . , bn eine aus Eigenvektoren von A bestehende Orthonormalbasis von Rn . Ferner seien λ1 , . . . , λn die zugeh¨ origen Eigenwerte von A. Hat x den Koordinatenvektor y bez¨ uglich b1 , . . . , bn , so gilt
x, Ax = λ1 y12 + . . . + λn yn2 . Beweis: Wie im Beweis von Satz 5.32 sei B die orthogonale Matrix mit den Spaltenvektoren b1 , . . . , bn . Nach Folgerung 5.6 ist dann B −1 = B T die Transformationsmatrix des Basiswechsels von e1 , . . . , en zu b1 , . . . , bn . Andererseits gilt aber B T AB = D mit D := diag(λ1 , . . . , λn ), eine Gleichung, die ¨aquivalent zu A = BDB T ist. Ist x ∈ Rn , so uglich b1 , . . . , bn , und es folgt ist y := B T x der Koordinatenvektor von x bez¨
x, Ax = x, BDB T x = B T x, DB T x = y , D y = λ1 y12 + . . . + λn yn2 .
5.3 Symmetrische und unit¨are Matrizen
259
Ist eine quadratische Form von der Gestalt Q(x) = λ1 x21 + . . . + λn x2n
y2
f¨ ur gewisse λ1 , . . . , λn ∈ R, so sagt man, dass Q Normalform besitzt. Das obige Resultat besagt also, dass jede quadratische Form durch eine orthogonale Koordinatentransformation auf Normalform gebracht werden kann. Dabei ist die Normalform bis auf die Reihenfolge der λj eindeutig bestimmt. x2 Hauptachsen
y1 b2
b1 x1
1
Bild 5.3: Hauptachsentransformation und elliptischer Bereich {(x1 , x2 ) : f (x1 , x2 ) ≤ 4}
5.40 Beispiel. F¨ ur die quadratische Form √ 3 5 2 7 x1 x2 + x22 f (x1 , x2 ) := x1 − 4 2 4 gilt f = QA mit
√ 5/4 − 3/4 √ . 7/4 − 3/4
A :=
Das charakteristische Polynom von A ist PA (λ) = (5/4 − λ) (7/4 − λ) − 3/16 = λ2 − 3λ + 2. Damit ergeben sich die Eigenwerte λ1 = 1 und λ2 = 2. Wir bestimmen jetzt eine aus Eigenvektoren von A bestehende Orthonormalbasis b1 , b2 von R2 . Der zu λ1 geh¨orende Eigenraum von A ist der Kern von A − E2 , also die L¨ osungsmenge des √ linearen Gleichungssystems x1 /4 −√ 3x2 /4 = 0. Zusammen mit der Forderung x21 + x22 = 1 folgt hieraus b1 = 12 ( 3, 1). Wegen Folgerung 5.31 ist jeder zu b1 √ orthogonale Vektor b = 0 Eigenvektor von A. Damit ergibt sich b2 = 12 (−1, 3) √ (oder alternativ b2 = 12 (1, − 3)). Wegen Satz 5.39 gilt f (x1 , x2 ) = y12 + 2y22 ,
260
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
wobei y1 , y2 die Koordinaten von (x1 , x2 ) ∈ R2 bzgl. der Basis b1 , b2 sind. Bezeichnet B die Matrix mit den Spaltenvektoren b1 , b2 , so gilt (y1 , y2 )T = B T (x1 , x2 )T . Die durch den Ursprung sowie die Punkte b1 und b2 gehenden Geraden heißen Hauptachsen (Bild 5.3). Die Bereiche Ac := {(x1 , x2 ) ∈ R2 : f (x1 , x2 ) ≤ c},√c > 0 sind Ellipsoide mit Zentrum (0, 0), deren Halbachsenl¨ angen das Verh¨ altnis 2 zu 1 aufweisen. Bild 5.3 zeigt die Menge Ac f¨ ur den Fall c = 4.
5.3.8
Definitheitseigenschaften symmetrischer Matrizen
Mit Satz 5.39 k¨ onnen leicht Definitheitskriterien f¨ ur symmetrische Matrizen bewiesen werden. Wir erinnern hier an die Definition 1.3.3. 5.41 Satz. (Eigenwertkriterien f¨ ur die Definitheit symmetrischer Matrizen) Ist A eine symmetrische n × n-Matrix mit den Eigenwerten λ1 , . . . , λn , so gilt: (i) A ist genau dann positiv definit, wenn λj > 0 f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , n}. ur jedes j ∈ {1, . . . , n}. (ii) A ist genau dann negativ definit, wenn λj < 0 f¨ (iii) A ist genau dann positiv (bzw. negativ) semidefinit wenn die Ungleichung λj ≥ 0 (bzw. λj ≤ 0) f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , n} erf¨ ullt ist. (iv) A ist genau dann indefinit, wenn es j, k ∈ {1, . . . , n} mit λj < 0 < λk gibt. ¨ Beweis: Weil der Ubergang von einem Koordinatensystem in ein anderes ein Isomorphismus ist, kann nach Satz 5.39 vorausgesetzt werden, dass die quadratische Form QA Normalform hat. In diesem Fall sind die Behauptungen offensichtlich.
5.3.9
Determinantenkriterien fu ¨ r Definitheit
Die in 5.3.8 bewiesenen Definitheitskriterien f¨ ur eine symmetrische Matrix verlangen die Kenntnis der Eigenwerte oder zumindest hinreichend genaue Absch¨ atzungen. Der folgende Satz liefert ein alternatives und zumindest f¨ ur nicht zu große Matrizen einfach anzuwendendes Verfahren. 5.42 Satz. (Determinantenkriterium f¨ ur positive Definitheit) Es sei A eine symmetrische reellwertige n×n-Matrix. F¨ ur j ∈ {1, . . . , n} entstehe die Matrix Aj ∈ MR (j, j) durch Streichen der letzten n−j Zeilen und n−j Spalten von A. Dann ist A genau dann positiv definit, wenn det(Aj ) > 0,
j = 1, . . . , n.
Beweis: (⇒): Ist A positiv definit, so ergibt sich unmittelbar aus der Definition dieser Eigenschaft, dass auch jede der Matrizen Aj positiv definit ist. Als Produkt der Eigenwerte von Aj ist die Determinante von Aj nach Satz 5.41 positiv.
5.3 Symmetrische und unit¨are Matrizen
261
(⇐): Da f¨ ur n = 1 nichts zu beweisen ist, sei im Folgenden n ≥ 2 vorausgesetzt. Es gelte det(Aj ) > 0, j = 1, . . . , n. Mittels des Gaußschen Algorithmus konstruieren wir jetzt eine normierte untere Dreiecksmatrix B, eine normierte obere Dreiecksmatrix C und eine Diagonalmatrix D mit der Eigenschaft A = BDC.
(5.8)
Dabei benutzen wir nur den entscheidenden Schritt des Algorithmus, n¨ amlich die Addition des Vielfachen einer Zeile zu einer anderen Zeile. Es sei A = (ajk ). Dann ist a11 = det(A1 ) > 0, und wir definieren eine normierte untere Dreiecksmatrix durch ⎛ ⎞ 1 0 0 ... 0 ⎜ −a21 /a11 1 0 . . . 0⎟ ⎟ B1 := ⎜ ⎝. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .⎠ . −an1 /a11 0 0 . . . 1 Offenbar stimmen die erste Zeile der Matrix A und die erste Zeile des Matrizenproduktes B1 A u ur j ≥ 2 ergibt sich die j-te Zeile von B1 A durch Addition der j-ten Zeile ¨ berein. F¨ von A und der mit −aj1 /a11 multiplizierten ersten Zeile von A. Die Matrix B1 A ist also von der Form ⎛ ⎞ a11 a12 a13 . . . a1n ⎜ 0 b22 b23 . . . b2n ⎟ ⎟ B1 A = (bjk ) = ⎜ ⎝. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .⎠ . 0 bn2 bn3 . . . bnn Wendet man Satz 3.13 (iii) auf die Matrix A2 an, so folgt a11 b22 = det(A2 ) > 0. Wegen a11 > 0, ist also b22 > 0. F¨ ur n ≥ 3 definieren wir die normierte untere Dreiecksmatrix ⎛ ⎞ 1 0 0 ... 0 ⎜0 1 0 . . . 0⎟ ⎜ ⎟ ⎜ B2 := ⎜0 −b32 /b22 1 . . . 0⎟ ⎟. ⎝. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .⎠ 0 −bn2 /b22 0 . . . 1 Die Matrix (cjk ) := B2 B1 A besitzt die Gestalt ⎞ ⎛ a11 a12 a13 . . . a1n ⎜ 0 b22 b23 . . . b2n ⎟ ⎟ ⎜ 0 c33 . . . c3n ⎟ (cjk ) = ⎜ ⎟. ⎜ 0 ⎝. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .⎠ 0 0 cn3 . . . cnn Dabei ist a11 b22 c33 = det(A3 ) > 0. Wegen a11 > 0 und b22 > 0 folgt somit c33 > 0. Induktiv erhalten wir jetzt normierte untere Dreiecksmatrizen B1 , . . . , Bn−1 , so dass R := Bn−1 . . . B1 A eine obere Dreiecksmatrix ist. Dabei sind die Diagonalelemente d1 , . . . , dn von R alle positiv. Setzen wir −1 B := B1−1 . . . Bn−1 ,
D := diag(d1 , . . . , dn ),
C := D−1 R,
262
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
so ergibt sich wegen R = B −1 A A = BR = BDD−1 R = BDC, d.h. die Darstellung (5.8). Verwendet man wie in I.8.7.7 den Gaußschen Algorithmus zur Bestimmung der Inversen, so wird deutlich, dass die Inverse einer unteren normierten Dreiecksmatrix wiederum eine normierte Dreiecksmatrix ist. Damit besitzt auch B diese Eigenschaft. Die Matrix C ist eine normierte obere Dreiecksmatrix. Wir zeigen jetzt, dass die Darstellung (5.8) eindeutig bestimmt ist und nehmen dazu ˜D ˜ C˜ mit den oben angegebenen Eigenschaften an, dass eine weitere Darstellung A = B ˜D ˜ C˜ = BDC von links mit B −1 , vorliegt. Multipliziert man beide Seiten der Gleichung B −1 −1 ˜ , so ergibt sich von rechts mit C˜ und schließlich von links mit D ˜=D ˜ −1 DC C˜ −1 . B −1 B Links steht hier eine normierte untere Dreiecksmatrix und rechts eine obere Dreiecksma˜ = En und somit B = B. ˜ Analog folgt C = C˜ und somit schließlich trix. Damit ist B −1 B ˜ auch D = D. Bisher haben wir die Symmetrie von A noch nicht benutzt. Aus ihr folgt BDC = A = AT = C T DB T . Die obige Eindeutigkeitssaussage impliziert C = B T und damit A = BDB T . Ist x ∈ Rn = 0, so ist auch y := B T x = 0, und wie im Beweis von Satz 5.39 ergibt sich
x, Ax = d1 y12 + . . . + dn yn2 > 0. Folglich ist A positiv definit, und der Satz ist bewiesen.
Aus dem obigen Beweis erhalten wir noch das folgende n¨ utzliche Resultat: 5.43 Satz. (Cholesky-Zerlegung) Es sei A ∈ MR (n, n). Die in Satz 5.42 definierten Matrizen A1 , . . . , An seien regul¨ar. Dann gibt es eindeutig bestimmte regul¨ are Matrizen B, C, D ∈ MR (n, n) mit den folgenden Eigenschaften: B ist eine normierte untere Dreiecksmatrix, C ist eine normierte obere Dreiecksmatrix, D ist eine Diagonalmatrix, und es gilt A = BDC. Ist A symmetrisch, so gilt C = B T , d.h. A = BDB T . Die Struktur der Matrizen B, D und C ist nachstehend anhand des Falles n = 4 veranschaulicht. Damit die Matrix D regul¨ar ist, m¨ ussen alle Diagonalelemente von Null verschieden sein. ⎛
1 0 ⎜b21 1 A=⎜ ⎝b31 b32 b41 b42 + ,B
0 0 1 b43
⎞ ⎛ ⎞ ⎞ ⎛ 0 d11 0 1 c12 c13 c14 0 0 ⎟ ⎜ ⎜ 0⎟ 0 ⎟ ⎟ · ⎜ 0 d22 0 ⎟ · ⎜0 1 c23 c24 ⎟ ⎠ ⎠ ⎝ ⎝ 0 0 0 1 c34 ⎠ 0 0 d33 0 1 0 0 0 1 0 0 0 d44 . + ,. + ,. D
C
5.3 Symmetrische und unit¨are Matrizen
263
Es gilt auch eine gewisse Umkehrung von Satz 5.43. Ist n¨ amlich die Matrix A das Produkt BC einer regul¨aren unteren Dreiecksmatrix B ∈ MR (n, n) und einer regul¨aren oberen Dreiecksmatrix C ∈ MR (n, n), so sind die Matrizen A1 , . . . , An regul¨ar. Zum Beweis bildet man die Matrizen Bj und Cj durch Streichen der letzten n − j Zeilen und Spalten von B bzw. C. Dann sind Bj und Cj regul¨ are untere (bzw. obere) Dreiecksmatrizen, und es gilt Aj = Bj Cj , j = 1, . . . , n − 1. 5.44 Folgerung. (Determinantenkriterium f¨ ur negative Definitheit) Eine symmetrische Matrix A ∈ MR (n, n) ist genau dann negativ definit, wenn f¨ ur die im Satz 5.42 definierten Matrizen Aj gilt: (−1)j det(Aj ) > 0,
j = 1, . . . , n.
Beweis: Die Matrix A ist genau dann negativ definit, wenn −A positiv definit ist. Ferner gilt det(−Aj ) = (−1)j det(Aj ), j = 1, . . . , n. Also folgt die Behauptung aus Satz 5.42.
Der Beweis des Satzes 5.42 zeigt, wie man praktisch vorgehen kann, um die Definitheit einer symmetrischen Matrix A zu u ufen. Die Matrix A ist genau ¨berpr¨ dann positiv (bzw. negativ) definit, wenn man A mit dem Gaußschen Algorithmus (ohne Normierung und Zeilenvertauschung) durch sukzessives zeilenweises Vorgehen auf obere Dreiecksgestalt bringen kann und alle Diagonalelemente der so erhaltenen oberen Dreiecksmatrix positiv (bzw. negativ) sind. Erh¨ alt man dagegen eine Dreieckmatrix, deren Diagonalelemente mindestens ein negatives und mindestens ein positives Element enthalten, so ist A indefinit. 5.45 Beispiel. ¨ Drei Schritte des Gaußschen Algorithmus liefern die Aquivalenz ⎛
2 ⎜1 A=⎜ ⎝0 0
1 2 1 0
0 1 2 1
⎞ ⎛ ⎞ 0 2 1 0 0 ⎜ 0⎟ 0 ⎟ ⎟ ∼ ⎜0 3/2 1 ⎟. 1⎠ ⎝0 0 4/3 1 ⎠ 2 0 0 0 5/4
Weil die Diagonalelemente der rechten Matrix positiv sind, ist A positiv definit.
5.3.10
Skalarprodukte und positiv definite Matrizen
Zwischen positiv definiten Matrizen und Skalarprodukten auf dem Rn gibt es einen engen Zusammenhang.
264
5 Eigenwerte und Eigenr¨aume
5.46 Satz. (Struktur der Skalarprodukte) Jedes Skalarprodukt ·, · auf Rn ist von der Form
x, y =
n
ajk xj yk ,
x = (x1 , . . . , xn ), y = (y1 , . . . , yn ) ∈ Rn ,
(5.9)
j,k=1
wobei A := (ajk ) eine positiv definite n × n-Matrix ist. Beweis: Ist ·, · ein Skalarprodukt auf Rn , so setzen wir ajk := ej , ek und erhalten (5.9) aus der Linearit¨ at des Skalarproduktes in beiden Argumenten. Die Symmetrie der Matrix A folgt aus ej , ek = ek , ej und die positive Definitheit von A aus der entsprechenden Eigenschaft des Skalarproduktes. Umgekehrt ist klar, dass jede positiv definite Matrix A verm¨ oge (5.9) ein Skalarprodukt auf Rn definiert.
Analog kann man auch die Skalarprodukte auf Cn sowie allgemeinen endlichdimensionalen Vektorr¨aumen beschreiben.
Lernziel-Kontrolle • Was ist die Darstellungsmatrix einer linearen Abbildung? • Was ist die Transformationsmatrix eines Basiswechsels? • Wie verhalten sich Darstellungsmatrizen unter Basiswechseln? • Wann heißen zwei Matrizen ¨ahnlich? • Was sind ein Eigenwert und ein Eigenvektor einer linearen Abbildung? • Welcher Vektor ist als Eigenvektor ausgeschlossen? • Was bedeuten die Begriffe Eigenraum sowie geometrische und algebraische Vielfachheit? • Was ist das charakteristische Polynom einer Matrix? • Warum besitzen ¨ahnliche Matrizen das gleiche charakteristische Polynom? • Wann ist eine reelle Matrix diagonalisierbar? • Warum ist ein Jordan-K¨astchen nicht diagonalisierbar? • Was ist eine hermitesche Matrix? • Welcher Zusammenhang besteht zwischen Selbstadjungiertheit und Hermitesch? • Was besagt die Diagonalisierbarkeit einer selbstadjungierten Abbildung? • Was ist eine unit¨are bzw. orthogonale lineare Abbildung? • K¨ onnen Sie eine eigentlich bzw. uneigentlich orthogonale Abbildung angeben? • Was bewerkstelligt die Hauptachsentransformation“? ” • Kennen Sie Kriterien f¨ ur die Definitheit symmetrischer Matrizen?
Kapitel 6
Das allgemeine Integral On a r´eussi, en particulier, a ` charact´eriser les fonctions d’ensemble qui sont des int´egrales ind´efinies par deux propri´et´es: l’additivit´e compl`ete et l’absolue continuit´e. Quand une fonction d’ensemble ψ(E) jouit de ces deux propri´et´es, elle est l’int´egrale ind´efinie d’une fonction f qui d´epend de 1, 2, 3, . . . variables suivant que les ensembles E sont form´es a ` l’aide des points d’une droite, d’un plan, de l’espace ordinaire, etc. Pour avoir un langage et une notation uniformes, disons que f est une fonction de point, f (P ), et ´ecrivons: ΨE = f (P ) dm(P ). E
Henri Lebesgue In diesem Kapitel geben wir einen Abriss der Lebesgueschen Integrationstheorie. Das Lebesgue-Integral vermeidet verschiedene Nachteile des Riemann-Integrals (s. unten) und liefert grundlegende Beispiele f¨ ur Banach- und Hilbertr¨ aume. F¨ ur die in sp¨ateren Kapiteln zu behandelnde Fourier-Analyse und Stochastik ist dieser Integralbegriff unverzichtbar. Im zweiten Abschnitt werden wir einen allgemeinen Integralbegriff entwickeln und gleichzeitig einige der im ersten Abschnitt offen gebliebenen Resultate beweisen. Der ungeduldige Leser sollte bei Bedarf sofort nachschlagen.
6.1
Das Lebesguesche Integral
Zur Einstimmung betrachten wir einen Quader Q ⊂ Rn und bezeichnen mit R(Q) die Menge aller u ¨ ber Q Riemann-integrierbaren Funktionen f : Q → R. Nach Satz 2.3 ist R(Q) ein reeller Vektorraum. Wie in Beispiel 4.46 k¨ onnte man versuchen, die Norm einer Funktion f ∈ R(Q) durch f 1 := |f (x)| dx Q
N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_6, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
266
6 Das allgemeine Integral
ahle zu definieren. Weil aus f 1 = 0 im Allgemeinen nicht f ≡ 0 folgt (man w¨ etwa f als Indikatorfunktion einer nichtleeren Jordanschen Nullmenge), ist · 1 keine Norm. Ein gr¨oßerer Mangel des Riemann-Integrals ist aber, dass (R(Q), ·) auch nicht vollst¨ andig ist. Ist n¨amlich (fk ) eine wie in 4.3.6 definierte CauchyFolge in R(Q), so muss es kein f ∈ R(Q) mit limk→∞ fk − f 1 = 0 geben. (Den Nachweis dieser Aussage werden wir in Beispiel 6.32 f¨ uhren.) Mit Blick auf den Banachschen Fixpunktsatz oder den Approximationssatz 4.90 w¨ are die Existenz einer derartigen Funktion f aber eine h¨ochst w¨ unschenswerte Eigenschaft! Die tiefere Ursache dieses Mangels ist die Existenz konvergenter und monoton wachsender Folgen nichtnegativer und durch 1 beschr¨ ankter Riemann-integrierbarer Funktionen, deren Grenzwert nicht Riemann-integrierbar ist: 6.1 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 2.13) Es sei A := {(x1 , . . . , xn ) ∈ Q : x1 , . . . , xn ∈ Q} die Menge aller Punkte aus Q mit rationalen Koordinaten. Mit den Methoden aus I.5.2.11 kann man zeigen, dass A eine abz¨ahlbar-unendliche Menge ist. Damit gibt es eine Bijektion j → xj von N auf A. F¨ ur jedes k ∈ N definieren wir jetzt fk als Indikatorfunktion von Ak := {x1 , . . . , xk }. Weil Ak eine Jordansche Nullmenge ist, gilt Q fk (x) dx = 0. Ferner konvergiert die Folge (fk ) auf ganz Q gegen die Indikatorfunktion 1A von A. Nach Beispiel 2.13 ist aber die Funktion 1A nicht Riemann-integrierbar.
6.1.1
Das ¨ außere Lebesgue-Maß
In der Definition des Jordan-Inhalts wurden abgeschlossene Quader verwendet. Ein damit verbundener Nachteil ist, dass ein Quader nicht in disjunkte, sondern nur in fremde Quader (vgl. 2.2.1) zerlegt werden kann. Im Hinblick auf eine sinnvolle Erweiterung des Jordan-Inhalts verstehen wir im Folgenden unter einem Quader jede Menge der Form (a, b), (a, b], [a, b), [a, b] (6.1) mit a = (a1 , . . . , an ) ∈ Rn und b = (b1 , . . . , bn ) ∈ Rn . Hierbei ist (a, b) := {(x1 , . . . , xn ) ∈ Rn : aj < xj < bj f¨ ur j = 1, . . . , n}. ur j = 1, . . . , n} sowie Die Mengen (a, b] = {(x1 , . . . , xn ) ∈ Rn : aj < xj ≤ bj f¨ [a, b) und [a, b] definiert man analog (vgl. Bild 6.1 im Fall n = 2). Man beachte, dass in obigem Sinn auch die leere Menge ∅ = (a,a) (a ∈ Rn ) als Quader angesehen wird. Offenbar ist [a, b] = [a1 , b1 ] × . . . × [an , bn ] der aus Kapitel 2 vertraute abgeschlossene Quader, w¨ahrend die offene Menge (a, b) auch als offener Quader bezeichnet wird. Aufgrund der Jordan-Messbarkeit eines abgeschlossenen Quaders ist nach Folgerung 2.12 jeder der u ¨ brigen in (6.1) auftretenden Quader Q Jordan-messbar, und alle Quader in (6.1) besitzen den gleichen Jordan-Inhalt |Q| = (b1 − a1 ) · . . . · (bn − an ).
6.1 Das Lebesguesche Integral b2
267
b2
b2
(a, b)
(a, b]
a2
[a, b)
a2 a1
b2
b1
[a, b]
a2 a1
a2 a1
b1
b1
a1
b1
Bild 6.1: Die in (6.1) auftretenden Quader im Fall n = 2
Eine endliche oder abz¨ahlbar-unendliche Menge Z von Quadern heißt Quader¨ Uberdeckung einer Menge M ⊂ Rn , falls Q. M⊂ Q∈Z
Die folgende grundlegende Definition lehnt sich eng an die Aussage des Satzes 2.9 u außeren Jordan-Inhalt an. Die entscheidende Neuerung besteht ¨ ber den ¨ darin, dass jetzt eine Menge durch die Vereinigung von m¨ oglicherweise abz¨ ahlbarunendlich vielen Mengen approximiert wird. F¨ ur eine Menge M ⊂ Rn heißt ' ( ¨ λn (M ) := inf |Q| : Z ist Quader-Uberdeckung von M (6.2) Q∈Z
das ¨außere Lebesgue-Maß von M . Hier und im Folgenden erweitern wir die Definition des Infimums und Supre¯ := [−∞, ∞]. Mit der mums auf Teilmengen A der erweiterten reellen Zahlen R in I.5.1.18 eingef¨ uhrten Ordnungsrelation ≤ ist sup A die kleinste obere Schranke von A und inf A die gr¨oßte untere Schranke von A. Speziell ist sup A = ∞, falls ∞ ∈ A und inf A = −∞, falls −∞ ∈ A. Zu beachten sind noch die Sonderf¨ alle sup{−∞} = −∞ und inf{∞} := ∞. Letzterer Fall kann in (6.2) eintreten. 6.2 Beispiel. (Fortsetzung von Beispiel 6.1) Die abz¨ahlbar-unendliche Menge M := Qn ∩ [0, 1]n der Punkte mit rationalen Koordinaten im Einheitsquader des Rn besitzt das ¨ außere Lebesgue-Maß Null. Ist n¨amlich M = {x1 , x2 , . . .}, und ist zu vorgegebenem ε > 0 die Menge Qj ein Quader mit den Eigenschaften xj ∈ Qj und |Qj | = ε/2j (j ≥ 1), so gilt M⊂
∞ j=1
Qj
und
∞
|Qj | = ε.
j=1
Somit ist λn (M ) ≤ ε und folglich λn (M ) = 0, da ε beliebig war.
268
6.1.2
6 Das allgemeine Integral
Rechnen mit ∞ und −∞
Wir werden in der Folge h¨aufig Summen betrachten, bei denen Summanden gleich ∞ oder −∞ sein k¨onnen. In diesem Zusammenhang sei an die in I.5.1.18 gegebenen Definitionen x + ∞ = ∞ + x := ∞,
x − ∞ = −∞ + x := −∞,
x ∈ R,
erinnert. Weiter vereinbart man ∞ + ∞ := ∞ und −∞ − ∞ := −∞. Nicht definiert sind die Ausdr¨ ucke ∞ − ∞ und −∞ + ∞. Ist (an )n≥1 eine Folge mit 0 ≤ an ≤ ∞, n ≥ 1, so setzt man ∞
an := ∞,
falls an = ∞ f u ¨r mindestens ein n ∈ N.
(6.3)
n=1
Im Fall 0 ≤ an < ∞ f¨ ur jedes n ≥ 1 steht auf der linken Seite von (6.3) eine Reihe im Sinne von I.5.2, die konvergieren oder gegen ∞ divergieren kann. F¨ ur Produkte, in denen ∞ und −∞ als Faktoren auftreten, definieren wir ∞ · ∞ := (−∞) · (−∞) := ∞,
∞ · (−∞) := (−∞) · ∞ := −∞.
Ist x ∈ R, so setzt man ∞ · x := x · ∞ := ∞, ∞ · x := x · ∞ := −∞,
(x > 0),
(−∞) · x := x · (−∞) := −∞ (x > 0),
(x < 0),
(−∞) · x := x · (−∞) := ∞
(x < 0).
Schließlich definiert man | − ∞| := |∞| := ∞ sowie als wichtige Sonderregel ∞ · 0 := 0 · ∞ := 0.
6.1.3
(6.4)
Eigenschaften des ¨ außeren Lebesgue-Maßes
Das ¨außere Lebesgue-Maß λn ist auf der Potenzmenge P(Rn ) des Rn definiert. Seine Eigenschaften sind denen des oberen Jordanschen Inhalts (s. 2.3.1) analog. 6.3 Satz. (Eigenschaften des ¨außeren Lebesgue-Maßes) Das ¨ außere Lebesgue-Maß λn : P(Rn ) → [0, ∞] besitzt folgende Eigenschaften: (i) λn (∅) = 0. (ii) Aus A ⊂ B folgt λn (A) ≤ λn (B).
(Monotonie von λn )
(iii) Mit der Konvention (6.3) gilt f¨ ur beliebige Teilmengen Aj , j ∈ N, von Teilmengen des Rn ⎛ ⎞ ∞ ∞ λn ⎝ Aj ⎠ ≤ λn (Aj ). (σ-Subadditivit¨ at von λn ) j=1
j=1
6.1 Das Lebesguesche Integral
269
Beweis: (i): F¨ ur Z := {∅} gilt Q∈Z |Q| = 0. ¨ ¨ (ii): Gilt A ⊂ B, so ist jede Quader-Uberdeckung von B auch eine Quader-Uberdeckung von A. Damit folgt die behauptete Ungleichung aus den Eigenschaften des Infimums. (iii): Wir k¨ onnen o.B.d.A. annehmen, dass die auf der rechten Seite der behaupteten Ungleichung stehende Reihe konvergiert. Wegen λn (Aj ) < ∞ gibt es dann nach Definition des Infimums zu jedem ε > 0 und zu jedem j ≥ 1 eine Folge (Qj,k )k≥1 von Quadern mit Aj ⊂
∞
Qj,k
und
k=1
∞
|Qj,k | ≤ λn (Aj ) +
k=1
ε . 2j
¨ Dann ist Z := {Qj,k : j, k ∈ N} eine Quader-Uberdeckung der Menge ∪∞ j=1 Aj . Ferner erhalten wir unter Beachtung des Umordnungssatzes I.5.38 ∞ ∞ ∞ ∞ ε n |Q| = |Qj,k | ≤ λ (Aj ) + ε. λn (Aj ) + j ≤ 2 j=1 j=1 j=1 Q∈Z
k=1
Weil ε beliebig klein gew¨ahlt werden kann, folgt die Behauptung.
Setzt man in (iii) Aj := ∅ f¨ ur j > m ∈ N, so ergibt sich die Subadditivit¨at von λn , d.h. die Ungleichung ⎛ ⎞ m m n⎝ ⎠ λ Aj ≤ λn (Aj ), A1 , . . . , Am ∈ P(Rn ). (6.5) j=1
j=1
Der folgende Satz zeigt insbesondere, dass der Jordan-Inhalt |A| einer Jordanmessbaren Menge A mit dem ¨außeren Lebesgue-Maß λn (A) u ¨ bereinstimmt. ¨ 6.4 Satz. (Außeres Lebesgue-Maß und Jordanscher Inhalt) F¨ ur jede beschr¨ankte Menge M ⊂ Rn gilt J(M ) ≤ λn (M ) ≤ J (M ). ¨ Beweis: Da in (6.2) auch endliche Quader-Uberdeckungen zugelassen sind, ergibt sich die Ungleichung λn (M ) ≤ J(M ) aus Satz 2.9 und den Eigenschaften des Infimums. Zum Beweis der ersten Ungleichung w¨ahlen wir zun¨achst eine beliebige Quadersumme A (vgl. ¨ 2.3.12) und ein ε > 0. Nach Definition von λn (A) gibt es eine Quader-Uberdeckung ∞ urlichen Zahl j existiert Z = {Qj : j ≥ 1} von A mit j=1 |Qj | ≤ λn (A) + ε. Zu jeder nat¨ ein offener Quader Qj mit Qj ⊂ Qj und |Qj | ≤ |Qj | + 2−j ε. Weil die Menge A in der ¨ Vereinigung aller Qj enthalten ist, gibt es nach dem Uberdeckungssatz 1.12 ein m ∈ N mit A ⊂ Q1 ∪ . . . ∪ Qm . Es folgt |A| ≤ |Q1 | + . . . + |Qm | ≤
∞ j=1
ε = |Qj | + ε ≤ λn (A) + 2ε 2j j=1 ∞
|Qj | +
und somit |A| ≤ λ (A), da ε > 0 beliebig war. Gilt A ⊂ M , so erhalten wir damit aus Satz 6.3 (ii) |A| ≤ λn (M ). n
¨ Der Ubergang zum Supremum liefert zusammen mit Satz 2.9 die behauptete Ungleichung n J(M ) ≤ λ (M ).
270
6.1.4
6 Das allgemeine Integral
Das Lebesgue-Maß
Eine Menge M ⊂ Rn heißt Lebesgue-messbar oder kurz messbar, falls gilt: λn (E) = λn (E ∩ M ) + λn (E ∩ (Rn \ M ))
f¨ ur jedes E ⊂ Rn .
(6.6)
Wegen der Subadditivit¨at von λn ist die Messbarkeit von M zu λn (E) ≥ λn (E ∩ M ) + λn (E ∩ (Rn \ M ))
f¨ ur jedes E ⊂ Rn
(6.7)
uckgehende Definition ist dadurch ¨aquivalent. Diese auf C. Carath´eodory1 zur¨ motiviert, dass jede Menge E ⊂ Rn als Vereinigung der disjunkten Mengen E ∩ M und E ∩ (Rn \ M ) geschrieben werden kann. Wenn sich die Menge M in ” vern¨ unftiger Weise“ messen l¨asst, sollte ihr Maß f¨ ur jedes E ⊂ Rn gleich der Summe der Maße der Mengen E ∩ M und E ∩ (Rn \ M ) sein. Man beachte, dass jeder der beiden Summanden auf der rechten Seite von (6.6) gleich ∞ sein darf; nach den Konventionen u ¨ ber das Rechnen mit ∞ ist dann auch die linke Seite von (6.6) gleich ∞. Wir werden sehen, dass jede Jordan-messbare Menge auch Lebesgue-messbar ist. Dar¨ uber hinaus wird sich zeigen, dass das System (d.h. die Menge) aller Lebesgue-messbaren Mengen Eigenschaften besitzt, die eine Realisierung der zu Beginn dieses Abschnitts formulierten Ziele gestatten. 6.5 Satz. (Eigenschaften Lebesgue-messbarer Mengen) (i) Jede Jordan-messbare Menge ist auch Lebesgue-messbar. (ii) Ist die Menge M Lebesgue-messbar, so auch ihr Komplement Rn \ M . (iii) Sind Aj , j ∈ N, Lebesgue-messbare Mengen, so sind auch die Mengen ∞ ∪∞ j=1 Aj und ∩j=1 Aj Lebesgue-messbar. Beweis: Die Aussagen (ii) und (iii) sind Spezialf¨ alle von Satz 6.60. Zum Beweis von (i) onnen betrachten wir eine Jordan-messbare Menge M ⊂ Rn . Zum Nachweis von (6.7) k¨ n wir o.B.d.A. λn (E) < ∞ voraussetzen. Es sei ε > 0. Nach Definition von λ (E) gibt es ¨ ur eine Quader-Uberdeckung Z von E mit Q∈Z |Q| ≤ λn (E) + ε. Aus Satz 2.17 folgt f¨ jedes Q ∈ Z, dass die disjunkten Mengen Q ∩ M und Q ∩ (Rn \ M ) Jordan-messbar sind. Ferner gilt E ∩ M ⊂ ∪Q∈Z Q ∩ M und E ∩ (Rn \ M ) ⊂ ∪Q∈Z Q ∩ (Rn \ M ). Damit erhalten at des Jordan-Inhalts wir aus der Subadditivit¨at von λn , Satz 6.4 sowie aus der Additivit¨ 1 Constantin Carath´eodory (1873–1950), Mathematiker und Physiker. 1898–1900 als Ingenieur in englischen Diensten bei Staudammprojekten am Nil besch¨ aftigt, Professor in Hannover (ab 1909), Breslau (ab 1910), G¨ ottingen (ab 1913), Berlin (ab 1918), Izmir (ab 1920) und M¨ unchen (ab 1924). Hauptarbeitsgebiete: Variationsrechnung, partielle Differentialgleichungen, Maß- und Integrationstheorie.
6.1 Das Lebesguesche Integral
271
(Satz 2.18) λn (E ∩ M ) + λn (E ∩ (Rn \ M )) ≤
λn (Q ∩ M ) +
Q∈Z
=
λn (Q ∩ (Rn \ M ))
Q∈Z
(|Q ∩ M | + |Q ∩ (Rn \ M )|)
Q∈Z
=
|Q| ≤ λn (E) + ε.
Q∈Z
Weil ε > 0 beliebig gew¨ahlt wurde, ergibt sich (6.7).
6.6 Satz. (Messbarkeit offener und abgeschlossener Mengen) Jede offene bzw. abgeschlossene Menge ist Lebesgue-messbar. Beweis: Es sei Z das System aller abgeschlossenen Quader [a, b] mit der Eigenschaft, dass a und b rationale Koordinaten besitzen. Die Menge Z ist abz¨ ahlbar-unendlich (vgl. auch Beispiel 6.1). Es sei U ⊂ Rn eine offene Menge. Ist x ∈ U , so gibt es ein ε > 0 mit B(x, ε) ⊂ U . Also existiert auch ein Quader Qx ∈ Z mit x ∈ Qx und Qx ⊂ U . Daraus erhalten wir U = ∪x∈U Qx . Da jeder Quader Lebesgue-messbar ist, impliziert Satz 6.5 (iii) die Lebesgue-Messbarkeit von U . Nach Satz 6.5 (ii) ist dann auch jede abgeschlossene Menge Lebesgue-messbar.
Das System aller Lebesgue-messbaren Mengen wird mit Ln bezeichnet. Nach ¨ den bisherigen Uberlegungen enth¨alt Ln insbesondere jede Jordan-messbare Menge, jede offene Menge und jede abgeschlossene Menge. Es l¨ asst sich jedoch zeigen (Walter, 2002, S.350), dass nicht jede Teilmenge des Rn Lebesgue-messbar ist. Die Einschr¨ankung des auf der Potenzmenge P(Rn ) definierten ¨ außeren Maßes λn (·) auf das System Ln der Lebesgue-messbaren Mengen heißt Lebesgue-Maß (auf Rn ). Es wird ebenfalls mit λn (·) bezeichnet. F¨ ur A ∈ Ln heißt λn (A) ∈ [0, ∞] das Lebesgue-Maß von A. 6.7 Satz. (Eigenschaften des Lebesgue-Maßes) (i) Es gilt λn (∅) = 0. (ii) Sind A1 , A2 , . . . paarweise disjunkte Lebesgue-messbare Mengen, so gilt ⎛ ⎞ ∞ ∞ Aj ⎠ = λn (Aj ). (σ-Additivit¨ at) λn ⎝ j=1
j=1
(iii) Ist A ⊂ Rn Jordan-messbar, so gilt λn (A) = |A|. Beweis: Die dritte Behauptung ist eine Folgerung aus Satz 6.4 (i). Die ersten beiden Behauptungen sind ein Spezialfall von Satz 6.60.
272
6.1.5
6 Das allgemeine Integral
Lebesguesche Unter- und Obersummen
Es sei M eine nichtleere messbare Teilmenge des Rn . Eine aus messbaren und paarweise disjunkten Mengen bestehende Menge (Mengensystem) Z ⊂ P(Rn ) heißt Lebesgue-Partition von M , falls Z endlich oder abz¨ ahlbar-unendlich ist (vgl. I.5.2.10) und falls M die Vereinigung aller A ∈ Z ist, also M = ∪A∈Z A gilt. Sind Z und Z ∗ Lebesgue-Partitionen von M , so heißt Z feiner als Z ∗ , falls jede Menge aus Z Teilmenge einer Menge aus Z ∗ ist. In diesem Fall schreiben wir Z Z ∗ . Sind Z1 und Z2 beliebige Lebesgue-Partitionen von M , so ist die sogenannte gemeinsame Verfeinerung Z1 ·Z2 := {A ∩ B : A ∈ Z1 , B ∈ Z2 }
(6.8)
uhrt daher, von Z1 und Z2 eine Lebesgue-Partition von M . Diese Namensgebung r¨ dass Z1 ·Z2 sowohl feiner als Z1 als auch feiner als Z2 ist. Sind f : M → [0, ∞] eine Funktion und Z eine Lebesgue-Partition von M , so heißt inf f (A) · λn (A) (6.9) U (f ; Z) := A∈Z
die Untersumme von f bez¨ uglich Z und sup f (A) · λn (A) O(f ; Z) :=
(6.10)
A∈Z
uglich Z. die Obersumme von f bez¨ In der obigen Definition ist der Fall U (f ; Z) = ∞ zun¨ achst zugelassen. Um auch ¯ Funktionen f : M → R behandeln zu k¨onnen, machen wir eine Voraussetzung, die f¨ ur alle weiteren Betrachtungen wesentlich ist. Wir fordern n¨ amlich die Existenz einer Lebesgue-Partition Z ∗ von M mit der Eigenschaft O(|f |; Z ∗ ) = sup{|f (x)| : x ∈ A} · λn (A) < ∞. (6.11) A∈Z ∗
Man beachte auch, dass hier Mengen A ∈ Z ∗ mit sup{|f (x)| : x ∈ A} = ∞ auftreten k¨onnen. Nach den Rechenregeln (6.4) muss dann aber notwendigerweise λn (A) = 0 gelten (andernfalls h¨atte die Reihe (6.11) den Wert ∞). Sind Z und Z ∗ Lebesgue-Partitionen von M mit den Eigenschaften (6.11) und Z Z ∗ , so definiert man die Unter- bzw. Obersumme von f bez¨ uglich Z erneut durch (6.9) bzw. (6.10). ahrleisten, dass die in (6.9) bzw. Die Voraussetzungen (6.11) und Z Z ∗ gew¨ (6.10) auftretenden Reihen absolut konvergieren. In der Tat gelten f¨ ur jedes A ⊂ M die Ungleichungen | sup f (A)| ≤ sup |f |(A),
| inf f (A)| ≤ sup |f |(A).
6.1 Das Lebesguesche Integral
273
Damit folgt | inf f (A)| · λn (A) ≤ sup |f |(A) · λn (A) B∈Z ∗ A∈Z A⊂B
A∈Z
≤
B∈Z ∗
sup |f |(B) ·
λn (A) = O(|f |; Z ∗ ),
A∈Z A⊂B
wobei zuletzt die σ-Additivit¨at von λn (Satz 6.7) benutzt wurde. Analog ergibt ¨ sich die absolute Konvergenz der Reihe (6.10). Diese Uberlegungen zeigen auch, ¨ dass Ober- und Untersummen wie beim Riemann-Integral beim Ubergang zu feineren Zerlegungen prinzipiell kleiner bzw. gr¨ oßer werden.
6.1.6
Definition des Lebesgue-Integrals
¯ Es seien M ⊂ Rn eine nichtleere Lebesgue-messbare Menge und f : M → R ∗ eine Funktion. Gibt es eine Lebesgue-Partition Z von M mit den Eigenschaften (6.11) und sup{U (f ; Z) : Z Z ∗ } = inf{O(f ; Z) : Z Z ∗ },
(6.12)
so heißt f Lebesgue-integrierbar (¨ uber M ), und man schreibt
f (x) dx := sup{U (f ; Z) : Z Z ∗ }.
f= M
M
Die Funktion f und die Menge M heißen Integrand bzw. Integrationsbereich n des Integrals. Im Fall M = R schreibt man auch kurz f := Rn f , f (x) dx := x) dx. Rn f ( In (6.12) werden Infimum und Supremum u ¨ ber alle Lebesgue-Partitionen Z von M gebildet, die feiner als irgendeine Partition Z ∗ mit der Eigenschaft (6.11) sind. Die erhaltenen Werte in (6.12) sind jedoch unabh¨ angig von der speziellen Wahl ∗ von Z . Ist n¨amlich Z eine weitere Lebesgue-Partition von M mit O(|f |; Z ) < ∞, so gilt inf{O(f ; Z) : Z Z ∗ } = inf{O(f ; Z) : Z Z ∗ ·Z }. Hierbei folgt die Ungleichung ≤“ aus der f¨ ur jede Lebesgue-Partition g¨ ultigen ” Implikation Z Z ∗ ·Z ⇒ Z Z ∗ und der Definition des Infimums, w¨ ahrend die umgekehrte Ungleichung eine Konsequenz der Monotonieeigenschaften der Obersummen ist. Eine analoge Beziehung gilt f¨ ur die Untersummen. Der folgende Satz zeigt, dass der Lebesguesche Integralbegriff eine Erweiterung des Riemann-Integrals darstellt.
274
6 Das allgemeine Integral
6.8 Satz. (Riemannsches und Lebesguesches Integral) Es seien M ⊂ Rn eine Jordan-messbare Menge und f : M → R eine Funktion. Ist f u uber M Lebesgue-integrierbar, ¨ber M Riemann-integrierbar, so ist f auch ¨ und beide Integrale stimmen u ¨berein. Beweis: Wegen Folgerung 2.22 kann man sich in der Behauptung von Satz 2.20 auf Partitionen beschr¨anken, die aus paarweise disjunkten Teilmengen von M bestehen. Weil jede Jordan-messbare Menge auch Lebesgue-messbar ist, erh¨ alt man damit J (f ; M ) ≤ sup{U (f ; Z) : Z ist Lebesgue-Partition von M } ≤ inf{O(f ; Z) : Z ist Lebesgue-Partition von M } ≤ J(f ; M ) und somit die Behauptung.
Die Beispiele 2.13 und 6.2 zeigen, dass es auf einem Quader definierte Funktionen gibt, die zwar Lebesgue- aber nicht Riemann-integrierbar sind. Zuk¨ unftig soll unter einer integrierbaren Funktion stets eine Lebesgue-integrierbare Funktion verstanden werden. Auch beim Integral werden wir meist auf den Zusatz Lebesgue-“ verzichten. ”
6.1.7
Lebesguesche Nullmengen
Analog zu 2.3.6 nennen wir eine Menge M ⊂ Rn Lebesguesche Nullmenge , falls λn (M ) = 0 gilt. Wegen Satz 6.3 (ii) ist jede Teilmenge einer Lebesgueschen Nullmenge ebenfalls eine Lebesguesche Nullmenge. Nach Satz 6.3 (iii) ist eine endliche oder abz¨ ahlbarunendliche Vereinigung von Lebesgueschen Nullmengen ebenfalls eine Lebesguesche Nullmenge. Ferner gilt: 6.9 Satz. (Messbarkeit von Nullmengen) Eine Lebesguesche Nullmenge ist messbar. Beweis: Es sei M ⊂ Rn mit λn (M ) = 0. Zu beweisen sind die Ungleichungen (6.7). Wegen λn (E ∩ M ) = 0 sind diese eine Konsequenz der Monotonie von λn .
6.10 Satz. (Jordansche und Lebesguesche Nullmengen) Es sei M ⊂ Rn eine beschr¨ankte Menge. Ist M eine Jordansche Nullmenge, so ist M auch eine Lebesguesche Nullmenge. Die Umkehrung gilt, falls M abgeschlossen ist. Beweis: Die erste Behauptung folgt aus Satz 6.4. Ist M eine abgeschlossene Lebesguesche ¨ Nullmenge, so gibt es nach Definition zu jedem ε > 0 eine Quader-Uberdeckung Z von M mit |Q| ≤ ε. (6.13) Q∈Z
6.1 Das Lebesguesche Integral
275
Dabei k¨ onnen wir o.B.d.A. annehmen, dass alle Quader offen sind (andernfalls z¨ ahle man die Quader aus Z in der Form Q1 , Q2 , . . . auf und w¨ ahle offene Quader Q1 , Q2 . . . mit Qj ⊂ Qj und |Qj | ≤ |Qj | + ε/2j , j ≥ 1). Wegen Satz 1.12 existiert eine endliche Teilmenge Z von Z mit M ⊂ ∪Q∈Z Q. Insbesondere gilt (6.13), wenn man dort Z durch Z ersetzt. Weil ε > 0 beliebig w¨ahlbar ist, folgt die behauptete Gleichung J(M ) = 0.
6.11 Satz. (Integrierbarkeit und Endlichkeit) ¯ integrierbar, so ist die Menge Sind M ⊂ Rn messbar und f : M → R {x ∈ M : f (x) ∈ {−∞, ∞}} der ±∞-Stellen von f“ eine Lebesguesche Nullmenge. ” Beweis: Es sei Z ∗ eine Lebesgue-Partition von M mit O(|f |; Z ∗ ) < ∞. Besitzt eine Menge A ∈ Z ∗ die Eigenschaft sup{|f (x)| : x ∈ A} = ∞, so muss nach den in 6.1.2 vereinbarten Rechenregeln λ(A) = 0 sein. Somit ist {x ∈ M : f (x) ∈ {−∞, ∞}} Teilmenge der Vereinigung aller (abz¨ahlbar-unendlich vielen) A ∈ Z ∗ mit λ(A) = 0. Nach Satz 6.3 (iii) ist diese Vereinigung eine Lebesguesche Nullmenge.
Das folgende Resultat besagt, dass das Lebesgue-Integral unempfindlich gegen¨ uber Ab¨anderungen des Integranden auf Nullmengen ist. 6.12 Satz. (Das Lebesgue-Integral wird durch Nullmengen nicht beeinflusst) ¯ Funktionen; f sei integrierbar. Ist Es seien M ⊂ Rn messbar und f, g : M → R {x ∈ M : f (x) = g(x)} eine Lebesguesche Nullmenge, so ist auch g integrierbar, und es gilt f (x) dx = M
g(x) dx. M
Beweis: Wir setzen B := {x ∈ M : f (x) = g(x)} und betrachten die Lebesgue-Partition Z := {B, M \ B}. Ferner sei Z ∗ eine Lebesgue-Partition von M mit O(|f |; Z ∗ ) < ∞. Ist Z Z · Z ∗ und ist A ∈ Z, so gilt entweder A ⊂ B oder λ(A) = 0, und wir erhalten O(f ; Z) = O(g; Z). Analog ergibt sich U (f ; Z) = U (g; Z) und damit die Behauptung.
¯ die Eigenschaft, dass {x ∈ M : f (x) < 0} eine Lebesguesche Hat f : M → R Nullmenge ist, so gilt U (f ; Z) ur jede Lebesgue-Partition von M . = O(f ; Z) ≥ 0 f¨ Ist f integrierbar, so folgt M f ≥ 0. Ist {x ∈ M : f (x) = 0} eine Lebesguesche Nullmenge, so folgt M f = 0. Der folgende Spezialfall von Satz 6.69 zeigt, dass auch die Umkehrung dieser Aussage richtig ist. 6.13 Satz. (Positivit¨at des Integrals) Es seien M ⊂ Rn messbar und f : M → [0, ∞] eine nichtnegative integrierbare Funktion. Dann gilt: f (x) dx = 0 ⇐⇒ λn ({x ∈ M : f (x) > 0}) = 0. M
276
6.1.8
6 Das allgemeine Integral
Strukturelle Eigenschaften des Lebesgue-Integrals
Die folgenden Resultate entsprechen den S¨ atzen 2.3 und 2.4. Die Beweise geben wir im n¨achsten Abschnitt. Wir fixieren eine messbare Menge M ⊂ Rn . 6.14 Satz. (Linearit¨at des Lebesgue-Integrals) ¯ integrierbar und sind α, β ∈ R, so ist auch die Sind die Funktionen f, g : M → R Funktion αf + βg integrierbar, und es gilt (αf (x) + βg(x)) dx = α f (x) dx + β g(x) dx. M
M
M
Man beachte, dass der Funktionswert von αf + βg m¨ oglicherweise nicht f¨ ur jedes x ∈ M definiert ist (die Summe αf (x) + βg(x) kann von der Form −∞ + ∞ oder ∞ + (−∞) sein). F¨ ur jedes solche x setzen wir (αf + βg)(x) := 0. Nach Satz 6.11 ist im Falle der Integrierbarkeit von f und g die Menge aller x mit f (x) ∈ {−∞, ∞} oder g(x) ∈ {−∞, ∞} eine Lebesguesche Nullmenge. 6.15 Satz. (Monotonie des Lebesgue-Integrals) ¯ integrierbar und ist {x ∈ M : f (x) > g(x)} Sind die Funktionen f, g : M → R eine Lebesguesche Nullmenge, so folgt f (x) dx ≤ g(x) dx. (6.14) M
M
F¨ ur die Monotonie (6.14) reicht es also aus, dass die Ungleichung f (x) ≤ g(x) f¨ ur jedes x ∈ M außerhalb einer Lebesgue-Nullmenge gilt.
6.1.9
Der Satz u ¨ber die majorisierte Konvergenz
Der große Vorteil des Lebesgue-Integrals gegen¨ uber dem Riemann-Integral liegt in der M¨oglichkeit, unter sehr allgemeinen Voraussetzungen Integral- und Grenzwertbildung vertauschen zu k¨onnen. Ein wichtiges Beispiel ist der folgende Spezialfall von Satz 6.74. 6.16 Satz. (Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz) n messbar und f : M → R, ¯ k ∈ N, integrierbare Funktionen. Es seien M ⊂ R k ¯ Weiter seien f : M → R eine Funktion mit lim fk (x) = f (x)
k→∞
fu ¨r jedes x ∈ M
(6.15)
¯ eine integrierbare Funktion (sog. Majorante) mit und g : M → R |fk (x)| ≤ g(x)
f¨ ur jedes k ≥ 1 und jedes x ∈ M .
Dann ist f integrierbar, und es gilt f (x) dx = lim M
k→∞ M
fk (x) dx.
(6.16)
(6.17)
6.1 Das Lebesguesche Integral
277
Im n¨achsten Abschnitt werden wir sehen, dass sich jede integrierbare Funktion durch Funktionen sehr einfacher Bauart geeignet approximieren l¨ asst. In diesem Zusammenhang erw¨ahnen wir die folgende Lebesgue-Version von Satz 2.29. 6.17 Satz. (Integration Lebesgue-messbarer Elementarfunktionen) Es seien A1 , . . . , Am Lebesgue-messbare Mengen mit endlichem Lebesgue-Maß m und c1 , . . . , cm ∈ R. Dann ist die Funktion f := uber j=1 cj 1Aj integrierbar ¨ jeder Lebesgue-messbaren Menge M , und es gilt m f (x) dx = cj · λn (M ∩ Aj ). M
6.1.10
j=1
Messbare Funktionen
Es sei M ⊂ Rn eine Lebesgue-messbare Menge. ¯ heißt messbar , falls Eine Funktion f : M → R {x ∈ M : f (x) < c} ∈ Ln
f¨ ur jedes c ∈ R.
(6.18)
Die Gleichungen ∞ ' / 1( , {x ∈ M : f (x) ≤ c} = x ∈ M : f (x) < c + k
{x ∈ M : f (x) < c} =
k=1 ∞ '
x ∈ M : f (x) ≤ c −
k=1
1( k
sowie Satz 6.5 (iii) zeigen, dass die Bedingung (6.18) zu {x ∈ M : f (x) ≤ c} ∈ Ln ,
c∈R
(6.19)
¨aquivalent ist. 6.18 Satz. (Messbarkeit und Stetigkeit) Jede stetige Funktion f : M → R ist messbar. Beweis: Es seien c ∈ R und A := {x ∈ M : f (x) < c}. Wegen der εδ-Charakterisierung der Stetigkeit gibt es zu jedem x ∈ A ein εx > 0 mit B 0 (x, εx ) ∩ M ⊂ A. Damit ist auch U ∩ M ⊂ A, wobei U := B 0 (x, εx ). x∈A
Wegen A ⊂ U ∩ M gilt also A = U ∩ M . Als offene Menge ist U nach Satz 6.6 Lebesguemessbar. Damit erhalten wir die Behauptung aus Satz 6.5 (iii).
6.19 Satz. (Messbarkeit und Monotonie) Jede monoton wachsende oder fallende Funktion f : M → R ist messbar.
278
6 Das allgemeine Integral
Beweis: Es sei c ∈ R. Ist f monoton wachsend, so gibt es ein a ∈ R, so dass f¨ ur die Menge A := {x ∈ M : f (x) ≤ c} nur einer der drei F¨ alle A = ∅, A = M ∩ (−∞, a) oder A = M ∩ (−∞, a] eintreten kann. Nach Satz 6.6 und Satz 6.5 (iii) gilt in jedem dieser F¨ alle A ∈ Ln . Ist f monoton fallend, so gilt entweder A = ∅ oder A = M ∩ [a, ∞) bzw. A = M ∩ (a, ∞) f¨ ur ein geeignetes a ∈ R, und es folgt ebenfalls A ∈ Ln .
6.20 Satz. (Operationen mit messbaren Funktionen) ¯ messbare Funktionen und α ∈ R. Dann sind auch die Es seien f, g : M → R Funktionen |f |, α · f , f + g (falls auf ganz Ω definiert) und f · g messbar. Gilt g(x) = 0 f¨ ur jedes x ∈ M , so ist auch f /g messbar. Schließlich erw¨ahnen wir noch ein Analogon von Satz 6.12: 6.21 Satz. (Messbarkeit wird durch Nullmengen nicht beeinflusst) ¯ zwei Funktionen. Ist f eine messbare Funktion und ist Es seien f, g : M → R {x ∈ M : f (x) = g(x)} eine Lebesguesche Nullmenge, so ist auch g messbar. Beweis: Es sei c ∈ R. Nach Satz 6.9 ist N := {x ∈ M : f (x) = g(x)} eine messbare Menge. In der Zerlegung {x ∈ M : g(x) < c} = {x ∈ M : f (x) < c} ∩ (Rn \ N ) ∪ {x ∈ M : g(x) < c} ∩ N steht auf der rechten Seite die Vereinigung zweier messbarer Mengen (s. S¨ atze 6.9 und 6.5). Also ist auch die links stehende Menge messbar.
6.1.11
Integrierbarkeit messbarer Funktionen
Der folgende grundlegende Satz verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen Messbarkeit und Integrierbarkeit. Wir beweisen ihn in 6.2.25. 6.22 Satz. (Integrierbarkeit und Messbarkeit) ¯ ist genau dann integrierbar, wenn f messbar ist und Eine Funktion f : M → R sup{U (|f |; Z) : Z ist Lebesgue-Partition von M } < ∞ gilt. Eine messbare Funktion f ist also genau dann integrierbar, wenn ihr Betrag |f | integrierbar ist. Das Riemann-Integral besitzt diese Eigenschaft nicht (vgl. 6.1.17 und 6.1.20). 6.23 Folgerung. (Integrierbarkeit majorisierter messbarer Funktionen) ¯ sei messbar. Ferner sei g : M → R ¯ integrierbar, und es Die Funktion f : M → R gelte |f | ≤ g. Dann ist f integrierbar. ¯ eine messbare Funktion und ist N ⊂ M messbar, so ist auch Ist f : M → R 1N ·f messbar. Wegen Folgerung 6.23 impliziert die Integrierbarkeit von f diejenige von 1N ·f . Dabei gilt 1N ·f = M
f, N
6.1 Das Lebesguesche Integral
279
wobei rechts das Integral der auf N eingeschr¨ ankten Funktion f steht. Diese Formel folgt sofort aus der Linearit¨atsaussage von Satz 6.14. Das n¨achste Resultat zeigt, wann aus der Integrierbarkeit einer Funktion f u ¨ber beschr¨ankten Teilmengen ihres Definitionsbereiches auf die Integrierbarkeit der Funktion geschlossen werden kann. 6.24 Satz. (Kriterium f¨ ur Integrierbarkeit) ¯ Die Funktion f : M → R sei messbar. Ferner sei f f¨ ur jedes c > 0 integrierbar uber M ∩ [−c, c]n . Dann ist f genau dann integrierbar (¨ uber M ), wenn ¨ |f (x)| dx < ∞. (6.20) lim c→∞ M ∩[−c,c]n
Beweis: Ist f integrierbar, so folgt (6.20) aus dem Satz 6.16 u ¨ber die majorisierte Konvergenz, angewendet auf die Funktionenfolge fk := 1[−k,k]n ·|f | und g := |f |. Die umgekehrte Implikation ergibt sich aus Satz 6.66.
6.1.12
Integration komplexwertiger Funktionen
In vielen technischen Anwendungen werden Integrale u ¨ber eine komplexwertige Funktion f : M → C gebildet. Hierbei ist M ⊂ Rn Lebesgue-messbar. Jede solche Funktion ist von der Form f (x) = u(x) + i · v(x),
x ∈ M,
¨ mit Funktionen u, v : M → R und der imagin¨ aren Einheit i ∈ C. In Ubereinstimmung mit dem Sprachgebrauch f¨ ur komplexe Zahlen nennen wir Re(f ) := u den Realteil und Im(f ) := v den Imagin¨arteil von f . Eine Funktion f : M → C heißt messbar (bzw. integrierbar), wenn sowohl der Real- als auch der Imagin¨arteil von f messbar (bzw. Lebesgue-integrierbar) sind. Ist f integrierbar, so nennt man f = f (x) dx := u(x) dx + i · v(x) dx M
M
M
das Lebesgue-Integral bzw. Integral von f (¨ uber M ). Analog definiert man die Riemann-Integrierbarkeit und das Riemann-Integral von f . Das Integral komplexwertiger Funktionen ist wieder linear (vgl. Satz 6.14). Ferner gilt: 6.25 Satz. (Dreiecksungleichung) Ist die Funktion f : M → C integrierbar, so auch |f |, und es gilt f (x) dx ≤ |f (x)| dx. M
M
280
6 Das allgemeine Integral
Beweis: Die Integrierbarkeit von |f | ergibt sich aus Folgerung 6.23 sowie den Ungleichungen Re(f )≤ |f | und Im(f ) ≤ |f |. Wir benutzen jetzt eine Polarkoordinatendarstellung reiϕ von M f (x) dx mit r ≥ 0 und ϕ ∈ [0, 2π). Dann gilt = r = e−iϕ f ( x ) d x f ( x ) d x = e−iϕ f (x) dx. M
M
M
−iϕ
Als reelle Zahl muss das letzte Integral gleich M Re(e f (x)) dx sein. Wegen der Ungleichung Re(e−iϕ f (x)) ≤ |e−iϕ f (x)| = |f (x)| erhalten wir die Behauptung aus Satz 6.15.
6.1.13
Transformation von Lebesgue-Integralen
Der Transformationssatz 3.35 kann auf Lebesgue-integrierbare Funktionen ausgedehnt werden. Wir notieren hier nur eine Verallgemeinerung von Satz 3.21: 6.26 Satz. (Lineare Transformation von Lebesgue-Integralen) Es seien M ⊂ Rn eine Lebesgue-messbare Menge, T : Rn → Rn eine lineare Abbildung und x0 ∈ Rn . Dann ist die Menge T (M ) + x0 Lebesgue-messbar. Eine messbare Funktion f : T (M ) + x0 → R ist genau dann integrierbar, wenn die Funktion x → | det(T )|·f (T (x) + x0 ) ¨ uber M integrierbar ist. In diesem Fall gilt f (y ) dy = | det(T )| · f (T (x) + x0 ) dx. T (M )+ x0
6.1.14
M
Lp-R¨ aume
Im Folgenden sei M eine Lebesgue-messbare Teilmenge des Rn . F¨ ur K ∈ {R, C} bezeichnen wir mit L0 (M ; K) die Menge aller messbaren Funktionen f : M → K. Ferner bezeichnen wir f¨ ur jedes p > 0 mit ' ( p 0 |f (x)|p dx < ∞ L (M ; K) := f ∈ L (M ; K) : M
die Menge der p-fach integrierbaren“ komplex- bzw. reellwertigen messbaren ” Funktionen. F¨ ur f ∈ Lp (M ; K) nennt man die nichtnegative reelle Zahl 1/p p f p := |f (x)| dx M
die Lp -Norm von f . Dabei wird der Sinn der Sprechweise Norm“ in K¨ urze klar ” werden. Zun¨achst ist offensichtlich, dass die Lp -Norm der Nullfunktion f ≡ 0 auf M gleich Null ist, und dass (vgl. (4.31)) λf p = |λ|·f p
f ∈ Lp (M ; K), λ ∈ K,
gilt. Das folgende Resultat gibt u ¨ ber strukturelle Eigenschaften der gerade defip nierten sogenannten L -R¨aume Auskunft. Dabei ist K = C oder K = R.
6.1 Das Lebesguesche Integral
281
6.27 Satz. (Vektorraumstruktur der Lp -R¨aume) (i) Die Menge Lp (M ; K) ist ein Vektorraum ¨ uber K. (ii) Eine Funktion f geh¨ort genau dann zu Lp (M ; C), wenn Real- und Imagin¨arteil von f zu Lp (M ; R) geh¨oren. (iii) Ist M Jordan-messbar, so bildet die Menge aller Riemann-integrierbaren Funktionen f : M → K einen linearen Unterraum von Lp (M ; K). Beweis: (i): Sind f, g : M → C messbar, so ist die Summe f + g nach Satz 6.20 messbar. Ist h : M → C messbar, so folgt die Messbarkeit von Re(h)2 und Im(h)2 direkt aus der Definition (6.18). Damit zeigt Satz 6.20, dass auch |h|2 messbar ist. Daraus folgt schließlich die Messbarkeit von |h| und |h|α f¨ ur jedes α > 0. Folgerung 6.23 und die Ungleichung |f (x) + g(x)|p ≤ (|f (x)| + |g(x)|)p ≤ 2p (|f (x)|p + |g(x)|p ),
x ∈ M,
zeigen, dass Lp (M ; C) ein Vektorraum u ¨ ber C ist. (ii): F¨ ur jede messbare Funktion f : M → C gilt die Ungleichung max(| Re(f )|, | Im(f )|) ≤ |f | ≤ 2(| Re(f )| + | Im(f )|). Nach Folgerung 6.23 ist damit die Integrierbarkeit von |f |p zu der von | Re(f )|p und aquivalent. | Im(f )|p ¨ (iii): Ist M Jordan-messbar und ist f : M → C Riemann-integrierbar, so ist f wegen der S¨ atze 6.8 und 6.22 messbar. Als Riemann-integrierbare Funktion ist f aber auch beschr¨ ankt. Deshalb wird |f |p durch eine auf (der beschr¨ ankten Menge) M integrierbare konstante Funktion majorisiert. Folgerung 6.23 impliziert die Integrierbarkeit von |f |p . Die verbleibenden Aussagen beweist man analog.
6.1.15
Die Ungleichungen von H¨ older und Minkowski
6.28 Satz. (H¨oldersche2 Ungleichung) Es seien p, q > 1 reelle Zahlen mit der Eigenschaft 1/p + 1/q = 1. Ferner seien f ∈ Lp (M ; K) und g ∈ Lq (M ; K). Dann ist f · g integrierbar, und es gilt
1/p
|f · g| ≤ M
|f |p M
1/q |g|q
,
M
d.h. f · g1 ≤ f p · gq . 2
Ludwig Otto H¨ older (1859–1937), 1896 Professor in K¨ onigsberg als Nachfolger von H. Minkowski, ab 1899 Professor an der Universit¨ at Leipzig. Hauptarbeitsgebiete: Algebra, Funktionentheorie, Grundlagen der Mechanik.
282
6 Das allgemeine Integral
Beweis: Wir beweisen den Satz im reellen Fall Im(f ) = Im(g) ≡ 0. Den allgemeinen Fall kann man etwa mittels Polarkoordinaten darauf zur¨ uckf¨ uhren. Der Schl¨ ussel zum Beweis liegt in der Ungleichung xp yq xy ≤ + , x, y ≥ 0. (6.21) p q Aus der Voraussetzung folgt n¨amlich (p − 1)(q − 1) = 1. Bild 6.2 macht deutlich, wie (6.21) durch Integration gewonnen werden kann. Wie wir oben gesehen haben, ist das Produkt f · g messbar. Damit folgt die Integrierbarkeit von f · g aus (6.21) und Folgerung 6.23. Zum Beweis der behaupteten Ungleichung setzen wir zun¨ achst f p = gq = 1 voraus. Integration der Ungleichung (6.21) liefert unter Beachtung der Monotonie des Integrals 1 1 1 1 (6.22) |f (x)| · |g(x)| dx ≤ |f (x)|p dx + |g(x)|q dx = + = 1. p q p q M M M Um diese Ungleichung zu verallgemeinern, nehmen wir jetzt an, dass f p > 0 als auch gq > 0 gelten. Dann k¨onnen wir (6.22) auf die Funktionen f˜ := f /f p und g˜ := g/gq ˜ p = ˜ anwenden. Wegen f gq = 1 folgt dann die Behauptung. Wir nehmen schließlich an, dass etwa f p = 0 ist. Dann ist {x ∈ M : f (x) = 0} nach Satz 6.13 eine Lebesguesche Nullmenge. Damit ist aber auch {x ∈ M : f (x) · g(x) = 0} eine Lebesguesche Nullmenge, und es folgt M |f g| = 0, also die Behauptung.
t s = tq−1
t = sp−1
y Fl¨ache =
yq q Fl¨ ache =
xp p x
s
Bild 6.2: Zur H¨olderschen Ungleichung Von besonderem Interesse ist der Fall p = q = 2. Dann erhalten wir die bereits in Satz 4.81 in einem allgemeineren Rahmen bewiesene Cauchy–Schwarzsche Ungleichung. Der n¨achste wichtige Satz zeigt, dass die Zuordnung f → f p die Dreiecksungleichung (4.32) erf¨ ullt. 6.29 Satz. (Minkowski-Ungleichung) Es seien p ≥ 1 sowie f, g ∈ Lp (M ; K), K ∈ {C, R}. Dann gilt f + gp ≤ f p + gp .
6.1 Das Lebesguesche Integral
283
Beweis: Mit Blick auf die bereits bekannte Dreiecksungleichung k¨ onnen wir uns auf den Fall p > 1 beschr¨ anken. Ferner k¨onnen wir o.B.d.A. f + gp > 0 voraussetzen. Aus der Dreiecksungleichung (Satz 6.25) folgt |f + g| · |f + g|p−1 ≤ |f | · |f + g|p−1 + |g| · |f + g|p−1 . f + gpp = M
M
M
Mit q := p/(p − 1) ergibt sich deshalb aus Satz 6.28 f +
gpp
≤ f p ·
(p−1)q
|f + g|
1/q + gp ·
M
|f + g|
(p−1)q
1/q .
M
, so folgt wegen (p − 1)q = p die Dividiert man diese Ungleichung durch f + gp−1 p Behauptung.
Im Fall λn (M ) < ∞ gilt f¨ ur jede Wahl von p und q mit 0 < q ≤ p Lq (M ; C) ⊂ Lp (M ; C).
(6.23)
Diese Inklusion ergibt sich aus Folgerung 6.23. Ist n¨ amlich f ∈ Lq (M ; C), so ist 1, falls |f (x)| ≤ 1, g(x) := p |f (x)| , falls |f (x)| > 1, eine integrierbare Majorante von |f |q . Dabei folgt die Integrierbarkeit von g aus Satz 6.14.
6.1.16
Vollst¨ andigkeit von Lp
Es seien M ⊂ Rn eine Lebesgue-messbare Menge, p ≥ 1 eine reelle Zahl und K = R oder K = C. Aufgrund der Minkowski-Ungleichung besitzt der mit der Abbildung f → f p versehene Raum Lp (M ; K) die Eigenschaften (4.31) und (4.32) eines normierten Raumes; nur die Forderung aus f p = 0 folgt stets ” f ≡ 0“ der Definitheit (vgl. (4.30)) ist nicht erf¨ ullt. Nach Satz 6.13 impliziert f p = 0, dass {x ∈ M : f (x) = 0} eine Lebesguesche Nullmenge ist. Aus diesem Grund sind wir im Folgenden großz¨ ugig“ und sehen zwei Funktionen ” p aus L (M ; K) als gleich an, wenn {x ∈ M : f (x) = g(x)} eine Lebesguesche Nullmenge ist. Mit dieser Vereinbarung wird (Lp (M ; K), · p ) ein normierter Raum. Der folgende Spezialfall von Satz 6.79 zeigt, dass dieser Raum vollst¨ andig und somit ein Banachraum ist. 6.30 Satz. (Vollst¨andigkeit von Lp ) Der Raum (Lp (M ; K), · p ) ist vollst¨andig, d.h. zu jeder Cauchy-Folge (fk ) in Lp (M ; K) gibt es ein f ∈ Lp (M ; K) mit limk→∞ fk − f p = 0.
284
6 Das allgemeine Integral
6.31 Folgerung. (Der Hilbertraum L2 (M ; K)) Es sei M ⊂ Rn eine Lebesgue-messbare Menge. Dann sind der mit dem Skalarprodukt
f, g :=
f (x) · g(x) dx M
versehene Funktionenraum L2 (M ; C) und der mit dem Skalarprodukt f (x) · g(x) dx
f, g := M
versehene Funktionenraum L2 (M ; R) Hilbertr¨ aume. Wir l¨osen jetzt ein nach Beispiel 6.1 gegebenes Versprechen ein. 6.32 Beispiel. (Unvollst¨andigkeit der Riemann-integrierbaren Funktionen) Wir betrachten einen Quader Q ⊂ Rn , den wir der Einfachheit halber als offen voraussetzen. Es seien R(Q) und L1 (Q) die Mengen der Riemann- bzw. Lebesgueintegrierbaren Funktionen auf Q. Wir werden zeigen, dass R(Q) im Gegensatz zu L1 (Q) nicht vollst¨andig und somit kein Banachraum ist. Hierzu sei A := {x1 , x2 , . . .} wie in Beispiel 6.1 die Menge aller Punkte aus Q mit rationalen Koordinaten. Wir fixieren ein ε > 0 und w¨ ahlen offene Quader Qk ⊂ Q mit xk ∈ Qk und λn (Qk ) ≤ ε2−k , k ≥ 1. Wegen der Subadditivit¨ at von λn gilt f¨ ur die Vereinigung B := ∪k≥1 Qk aller Quader Qk die Ungleichung λn (B) ≤ ε.
(6.24)
F¨ ur jedes k ∈ N sei fk die Indikatorfunktion der Menge Bk := Q1 ∪ . . . ∪ Qk . Wegen Satz 2.17 und Satz 2.29 gilt fk ∈ R(Q). Unter Benutzung von Satz 6.8 und der Subadditivit¨at von λn gilt ferner f¨ ur alle k, l ∈ N mit k > l
|fk (x) − fl (x)| dx ≤
Q
Q
k
1Ql+1 ∪...∪Qk (x) dx ≤
j=l+1
λn (Qj ) ≤
ε . 2l
uglich der Integralnorm · 1 . Wir Also ist (fk ) eine Cauchy-Folge in R(M ) bez¨ nehmen indirekt an, es w¨ urde ein f ∈ R(M ) mit limk→∞ fk − f 1 = 0 geben. Aus Satz 6.16 folgt zun¨achst limk→∞ fk − 1B 1 = 0. Weil aber f auch in L1 (Q) ist, muss dann wegen der Eindeutigkeit des Grenzwertes in L1 (Q) die Menge N := {x ∈ Q : f (x) = 1B (x)} eine Lebesguesche Nullmenge sein. Es sei jetzt Z eine aus endlich vielen Quadern bestehende Partition von Q, wobei jede Menge aus Z positives Volumen besitzen soll. Dann folgt aus der Konstruktion von B, dass f¨ ur jedes C ∈ Z die Ungleichung
6.1 Das Lebesguesche Integral
285
ullt sein muss. Wegen der Additivit¨ at von λ (Satz 6.7) ist dann λn (C ∩ B) > 0 erf¨ aber auch λn (C ∩ B ∩ (Q \ N )) > 0. Insbesondere gibt es zu jedem C ∈ Z ein xC ∈ C ∩ B mit f (xC ) = 1. Somit erhalten wir f¨ ur die Riemannsche Obersumme von 1B bez¨ uglich Z die Absch¨atzung O(f ; Z) ≥ C∈Z λn (C) = λ(Q) = 1 und folglich Q f (x) dx ≥ 1. Andererseits ist aber nach Satz 6.12 λn (B) = 1B (x) dx = f (x) dx ≥ 1. Q
Q
W¨ahlen wir ε < 1, so ergibt sich hier ein Widerspruch zu (6.24).
6.1.17
Das uneigentliche Riemann-Integral
Es seien I ⊂ R ein Intervall und f : I → R eine messbare Funktion. Im Fall der Beschr¨anktheit von I besagt Satz 6.8, dass die Riemann-Integrierbarkeit von f die Lebesgue-Integrierbarkeit nach sich zieht und dann beide Integrale u ur das ¨bereinstimmen. Wie wir in 6.1.20 sehen werden, ist diese Implikation f¨ in I.7.3.1 eingef¨ uhrte uneigentliche Riemann-Integral u ¨ ber einem unbeschr¨ankten Intervall nicht mehr richtig. Jedoch gilt: 6.33 Satz. (Uneigentliche Integrale) Es seien a ∈ R und f : I → R eine auf I = [a, ∞) (bzw. I = (−∞, a]) definierte Funktion. Ist f Lebesgue-integrierbar, so ist f auch uneigentlich Riemannintegrierbar, und die Integrale stimmen ¨ uberein. Die umgekehrte Aussage gilt, falls f messbar und nichtnegativ ist. Beweis: Es gen¨ ugt, den Fall I = [a, ∞) zu betrachten. Ist f Lebesgue-integrierbar, so folgt nach Anwendung von Satz 6.16 auf die Funktionenfolge fk := 1[a,a+k] ·f , k ∈ N, die Konvergenz f (x) dx = w (6.25) lim c→∞
[a,c]
mit w := [a,∞) f (x) dx. Nach Satz 6.8 besitzt f also das uneigentliche Riemann-Integral w. Ist f messbar und nichtnegativ, so folgt aus der Endlichkeit des Grenzwertes (6.25) und Satz 6.66, dass f Lebesgue-integrierbar ist.
¯ mit a ≤ b, so werden wir im Folgenden unter Sind a, b ∈ R b f (x) dx := f (x) dx a
I
immer das Lebesgue-Integral verstehen. Hierbei ist I = [a, b] f¨ ur a, b ∈ R, I = [a, ∞) f¨ ur b = ∞, I = (−∞, b] f¨ ur a = −∞ und I = R f¨ ur a = −∞, b = ∞. Wegen Satz 6.12 gilt (f¨ ur a, b ∈ R) f (x) dx = f (x) dx = f (x) dx. [a,b]
(a,b]
[a,b)
286
6 Das allgemeine Integral
6.1.18
Dichten von Verteilungsfunktionen
Eine (Wahrscheinlichkeits-)Dichte ist eine messbare Funktion f : R → [0, ∞) mit der Eigenschaft ∞ f (x) dx = 1. (6.26) −∞
¨ Diese Definition steht in Ubereinstimmung mit I.7.6 und Satz 6.33. Zu jeder Dichte geh¨ort eine durch t f (x) dx, t ∈ R, F (t) := −∞
definierte Verteilungsfunktion F : R → [0, 1]. Anschaulich beschreibt F (t) die Fl¨ ache zwischen dem Graphen von f und der x-Achse u ¨ ber dem Intervall (−∞, t]. Bild 6.3 veranschaulicht eine Dichte und die zugeh¨ orige Verteilungsfunktion. F (t) f (x) 1
1
x
1
t
Bild 6.3: Dichte (links) und zugeh¨orige Verteilungsfunktion (rechts) Von zentraler Bedeutung ist die Dichte 1 (x − μ)2 ϕμ,σ (x) := √ · exp − , 2σ2 σ 2π
x ∈ R,
(6.27)
der Normalverteilung mit Parametern μ ∈ R und σ > 0 (Bild 6.4 links). Dabei ergibt sich Gleichung (6.26) aus Beispiel 3.42 und einer einfachen Substitution. Die Gr¨oßen μ und σ k¨onnen geometrisch als Symmetriezentrum bzw. Abstand zwischen μ und den bei μ±σ liegenden Wendepunkten von ϕμ,σ gedeutet werden. Eine andere interessante Dichte beruht auf der in den Beispielen I.7.31 und 3.43 diskutierten Gammafunktion ∞ Γ(α) := tα−1 e−t dt. 0
Die Dichte der Gammaverteilung (kurz: Gammadichte) mit Parametern α > 0 und β > 0 wird durch gα,β (x) :=
β α α−1 x exp (−βx) , Γ(α)
x > 0,
(6.28)
6.1 Das Lebesguesche Integral y
287 y
Wendepunkte
√ 1/(σ 2π)
α=1 α=2 •
•
μ−σ μ μ+σ
α=3
x
x
Bild 6.4: Dichte der Normalverteilung (links) und Dichten von Gammaverteilungen mit β = 1 und verschiedenen Werten von α (rechts)
und gα,β (x) := 0 f¨ ur x ≤ 0, definiert. Bild 6.4 (rechts) zeigt Graphen von gα,β f¨ ur β = 1 und verschiedene Werte von α. Man beachte, dass im Spezialfall α = 1 die in Beispiel I.7.42 diskutierte Exponentialverteilung vorliegt.
6.1.19
Der Satz von Fubini
Es seien m und n nat¨ urliche Zahlen, M ⊂ Rm+n eine messbare Menge sowie ¯ eine messbare Funktion. Ist f integrierbar, so wird das Integral von f :M →R f auch in der Form f (x, y ) d(x, y ) := f (z) dz M
M
geschrieben. Hierbei greifen wir eine Vereinbarung aus 2.4.3 auf und schreiben einen Punkt z ∈ Rm+n in eindeutiger Weise als z = (x, y ) mit x ∈ Rm und y ∈ Rn . F¨ ur das Lebesgue-Integral gilt der Satz von Fubini (Satz 2.39) in der folgenden Form: 6.34 Satz. (Satz von Fubini) ¯ ist genau dann integrierbar, wenn die Eine messbare Funktion f : Rm+n → R m ¯ nicht integrierMenge N aller x ∈ R , f¨ ur welche die Funktion f (x, ·) : Rn → R bar ist, eine Nullmenge darstellt und x → f (x, y ) dy eine integrierbare Funktion auf Rm \ N ist. In diesem Fall gilt f (x, y ) dy dx. f (x, y ) d(x, y ) = Rm \N
Rn
¯ integrierbar, so schreibt man die Aussage des Satzes von Ist f : Rm+n → R Fubini auch einfach in der Form f (x, y ) d(x, y ) = f (x, y ) dy dx = f (x, y ) dx dy . Dabei gilt die zweite Gleichung aus Symmetriegr¨ unden.
288
6 Das allgemeine Integral
6.1.20
Der Integralsinus
Die durch
Si(t) := 0
t
sin(u) du, u
t ≥ 0,
definierte Funktion Si : [0, ∞) → R heißt Integralsinus . Aus Stetigkeitsgr¨ unden setzt man im obigen Integranden (sin u)/u := 1 f¨ ur u = 0. 6.35 Satz. (Asymptotik des Integralsinus) Es gilt limt→∞ Si(t) = π/2. Beweis: Mittels Differentiation best¨atigt man die Formel t 1 1 0 e−ux sin x dx = 1 − e−ut (u sin t + cos t) , 2 1+u 0 Aufgrund der Absch¨atzung t ∞ 0
0
|e−ux sin x| du dx ≤
0
t
t ≥ 0.
| sin x| dx ≤ t x
kann der Satz von Fubini auf die Funktion (x, u) → 1(0,t)×(0,∞) (x, u)e−ux sin x angewendet werden, und wir erhalten 2 ∞ 3 3 t ∞ 2 t −ux −ux Si(t) = sin x e du dx = e sin x dx du 0 0 0 0 ∞ −ut ∞ 1 e du − (u sin t + cos t) du. = 2 1 + u 1 + u2 0 0 Das erste Integral ergibt π/2. Nach dem Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz strebt das zweite Integral f¨ ur t → ∞ gegen 0. Damit ist die Behauptung bewiesen.
Bild 6.5 zeigt die Funktionen sin t/t und | sin t|/t. Wir beweisen jetzt, dass letztere auf [0, ∞) nicht Lebesgue-integrierbar ist. Dazu betrachten wir die Intervalle Ik := [(k + 1/6) · π, (k + 5/6) · π), k ∈ N0 . F¨ ur t ∈ Ik ist | sin t| ≥ 1/2 und t ≤ (k + 1)π, also 1 | sin t| ≥ . t 2(k + 1)π ur jedes m ∈ N Wegen λ1 (Ik ) = 2π/3 folgt somit f¨ 0
mπ
m−1 m−1 m−1 | sin t| | sin t| 1 1 1 dt ≥ dt ≥ λ1 (Ik ) = . t t 2(k + 1)π 3 k+1 Ik k=0
k=0
k=0
Weil die harmonische Reihe divergiert, ist das Kriterium aus Satz 6.24 verletzt, die Funktion | sin t|/t also nicht integrierbar.
6.1 Das Lebesguesche Integral
289
1
1
π
2π
3π
4π
t
π
2π
3π
4π
Bild 6.5: Die Funktionen t → sin t/t (links) und t → | sin t|/t (rechts)
6.1.21
Die Faltung
Es seien f, g : R → C integrierbare Funktionen. Nach Satz 6.20 ist die durch h(x, y) := f (x − y) · g(y) ur jedes feste y ∈ R integrierbar erkl¨arte Funktion h : R2 → C messbar. Da h(·, y) f¨ ist (h(·, y) in Real- und Imagin¨arteil zerlegen sowie Satz 6.26 anwenden!), liefert der Satz von Fubini die Integrierbarkeit der Funktion h. Wiederum mit dem Satz von Fubini k¨onnen wir jetzt schließen, dass der Ausdruck f ∗ g(x) := f (x − y) · g(y) dy (6.29) f¨ ur jedes x außerhalb einer Nullmenge N ⊂ R wohldefiniert ist. F¨ ur x ∈ N setzen wir f ∗ g(x) := 0. Die durch (6.29) definierte Funktion f ∗ g : R → C heißt die Faltung von f und g. Aus der Definition und Satz 6.26 erhalten wir unmittelbar: 6.36 Satz. (Kommutativit¨at der Faltung) F¨ ur alle integrierbaren f, g : R → C gilt f ∗ g = g ∗ f . Aus dem Satz von Fubini folgt: 6.37 Satz. (Faltung von Dichten) Sind f, g : R → R Dichten, so ist auch f ∗ g eine Dichte. Wir werden sp¨ater (s. Satz 9.16) sehen, dass f ∗ g die Dichte der Summe zweier unabh¨angiger Zufallsvariablen ist, welche die Dichten f bzw. g besitzen. 6.38 Satz. (Gleichm¨aßige Stetigkeit der Faltung) Es seien f, g ∈ L1 (R; C) ∩ L2 (R; C). Dann ist f ∗ g beschr¨ankt und gleichm¨ aßig stetig.
t
290
6 Das allgemeine Integral
Beweis: Die Cauchy–Schwarzsche Ungleichung (Satz 6.28) liefert x ∈ R, |f ∗ g(x)| ≤ |f (x − y)|·|g(y)| dy ≤ f 2 ·g2 , und damit die Beschr¨anktheit von f ∗ g. F¨ ur alle x, h ∈ R gilt ferner |f ∗ g(x + h) − f ∗ g(x)| ≤ |f (x + h − y) − f (x − y)|·|g(y)| dy ≤
1/2
2
|f (h − y) − f (−y)| dy
·g2 .
Ist f stetig, und ist {x ∈ R : f (x) = 0} eine beschr¨ ankte Menge, so folgt aus dem ur h → 0. Im Satz von der majorisierten Konvergenz |f (h − y) − f (−y)|2 dy → 0 f¨ allgemeinen Fall benutzt man die Approximation aus Satz 6.45. Auf die Details k¨ onnen wir hier verzichten.
f (x)
f (x)
1
∗ 0
x
1
g(x)
1
1 = 0
1
x
0
1
2
Bild 6.6: Faltung zweier Gleichverteilungen: g = f ∗ f
6.39 Beispiel. (Faltung von Gleichverteilungen) F¨ ur die Dichte f = 1[0,1] der Gleichverteilung auf [0, 1] (vgl. Beispiel I.7.41 und 6.1.18) gilt f ∗ f (x) =
f (x − y)f (y) dy =
min(1,x) max(0,x−1)
1[0,1] (x − y) 1[0,1] (y) dy.
Daraus ergibt sich die in Bild 6.6 rechts dargestellte Dichte f ∗ f (x) = x · 1[0,1] (x) + (2 − x) · 1[1,2] (x) der sogenannten Dreiecksverteilung. 6.40 Beispiel. (Faltung von Gammadichten) F¨ ur zwei Gammadichten gα1 ,β und gα2 ,β (vgl. (6.28)) mit gleichem Parameter β gilt gα1 ,β ∗ gα2 ,β = gα1 +α2 ,β .
(6.30)
x
6.1 Das Lebesguesche Integral
291
F¨ ur jedes x > 0 erhalten wir n¨amlich x β α1 +α2 gα1 ,β ∗ gα2 ,β (x) = (x − y)α1 −1 y α2 −1 e−β(x−y) e−βy dy Γ(α1 )Γ(α2 ) 0 β α1 +α2 xα1 +α2 −2 e−βx x x − y α1 −1 y α2 −1 dy = Γ(α1 )Γ(α2 ) x x 0 β α1 +α2 xα1 +α2 −1 e−βx = B(α1 , α2 ), Γ(α1 )Γ(α2 ) wobei zuletzt die Substitution z := y/x benutzt wurde und 1 B(α1 , α2 ) := z α1 −1 (1 − z)α2 −1 dz 0
gesetzt ist. Die Funktion B(·, ·) heißt Eulersche Beta-Funktion . Da nach Satz 6.37 die Funktion gα1 ,β ∗ gα2 ,β eine Dichte ist, folgt B(α1 , α2 ) =
Γ(α1 )Γ(α2 ) Γ(α1 + α2 )
und somit auch (6.30).
6.1.22
Gl¨ attungseigenschaften der Faltung
¯ so heißt die abgeschlossene H¨ Ist f : Rn → R, ulle der Menge {x ∈ Rn : f (x) = 0} Tr¨ager von f . Man bezeichnet ihn mit supp(f ). Sind G ⊂ Rn eine offene Menge und k ∈ N, so bezeichnet C0k (G) die Menge aller k-mal stetig differenzierbaren Funktionen f : Rn → R, deren Tr¨ager beschr¨ ankt und Teilmenge von G ist. Diese Bezeichnung verwenden wir auch f¨ ur k = 0 bzw. k = ∞. Dann ist C0k (G) die Menge aller stetigen bzw. unendlich oft differenzierbaren Funktionen mit beschr¨anktem in G gelegenen Tr¨ager. Im Folgenden verwenden wir oft, dass eine Funktion aus f ∈ C0k (G) u ¨ber G integrierbar ist. Wegen λn (supp(f )) < ∞ und der Beschr¨ anktheit von f ergibt sich diese Integrierbarkeit aus Folgerung 6.23. 6.41 Beispiel. (Unendlich oft differenzierbare Funktionen) Die Funktion f (t) := 1(0,∞) (t) exp(−1/t) ist stetig. Analog zu Beispiel I.6.63 ergibt sich aus dem Mittelwertsatz, dass f unendlich oft differenzierbar ist. Nach der Kettenregel ist die Funktion
ψ(x) := c · f 1 − x22 , x ∈ Rn , ebenfalls unendlich oft differenzierbar. Die Normierungskonstante c > 0 wird hier so gew¨ahlt, dass ψ(x) dx = 1. Die Funktion ψ hat als (beschr¨ ankten) Tr¨ ager die Kugel B(0, 1).
292
6 Das allgemeine Integral
6.42 Satz. (Differenzierbarkeitseigenschaften der Faltung) Es seien f, g ∈ L1 (Rn ; R). Der Tr¨ ager von f sei beschr¨ankt, und g sei k-mal stetig differenzierbar. Dann ist auch die Faltung f ∗ g k-mal stetig differenzierbar, und es gilt (f ∗ g)(k) = f ∗ g (k) . Beweis: Der Einfachheit halber beschr¨anken wir uns auf den Fall n = 1. Nach Voraussetzung an f gibt es ein r > 0 mit supp(f ) ⊂ [−r, r]. F¨ ur alle x ∈ R und h = 0 gilt dann r g(x + h − y) − g(x − y) f ∗ g(x + h) − f ∗ g(x) = dy. f (y) · h h −r Nach Voraussetzung strebt der Integrand f¨ ur h → 0 gegen f (y)g (x − y). Aus dem Mittelwertsatz I.6.50 erhalten wir f¨ ur alle y und h die Existenz einer Zahl θ = θ(x, h) ∈ (0, 1) mit (g(x + h − y) − g(x − y))/h = g (x − y + θ(x, h)h). Setzen wir o.B.d.A. |h| ≤ 1 aßig durch die auf voraus, so ist obiger Integrand wegen der Stetigkeit von g betragsm¨ dem Intervall [−r, r] integrierbare Funktion y → |f (y)| max{|g (z)| : |x − z| ≤ r + 1} beschr¨ ankt. Damit folgt die Behauptung aus dem Satz 6.16 u ¨ber die majorisierte Kon vergenz. Den Beweis der Stetigkeit von f ∗ g u ur allgemeines ¨ berlassen wir dem Leser. F¨ k ∈ N0 bzw. k = ∞ ergibt sich die Behauptung durch Induktion.
Mit Hilfe der Funktion ψ aus Beispiel 6.41 definieren wir f¨ ur jedes f ∈ L1 (Rn ; R) und jedes α > 0 x − y 1 fα (x) := n f (y)ψ dy = f (x − α y )ψ(y ) dy , x ∈ Rn . (6.31) α α Hierbei ergibt sich die zweite Gleichung aus der Transformationsformel in Satz 6.26 (man setze T (y) := (x −y)/α). Mit ψα (x) := α−n ψ(x/α) gilt fα = f ∗ψα . Hat f einen beschr¨ankten Tr¨ager, so ist fα nach Satz 6.42 unendlich oft differenzierbar. Außerdem gilt dann lim sup{|f (x) − fα (x)| : x ∈ Rn } = 0,
α→0
die Funktion f kann also gleichm¨aßig durch C0∞ -Funktionen approximiert werden. Wir werden den (recht einfachen) Beweis dieser Konvergenz hier nicht f¨ uhren. Stattdessen beweisen wir im n¨achsten Unterabschnitt ein a hnliches Resultat u ¨ ¨ ber 1 die L -Approximation einer beliebigen integrierbaren Funktion durch Funktionen aus C0∞ . Dabei wird die Gl¨attung fα eine wichtige Rolle spielen.
6.1.23
Approximation integrierbarer Funktionen*
F¨ ur viele Zwecke ist es w¨ unschenswert, eine integrierbare Funktion durch unendlich oft differenzierbare Funktionen beliebig genau (im Sinne der L1 -Norm) zu
6.1 Das Lebesguesche Integral
293
approximieren. Zur Vorbereitung eines entsprechenden Resultates ben¨ otigen wir den folgenden Satz, welcher auch von eigenst¨ andigem Interesse ist. 6.43 Satz. (Approximation messbarer Mengen durch offene Mengen) Ist M ⊂ Rn eine messbare Menge, so gibt es f¨ ur jedes ε > 0 eine offene Menge n n G ⊂ R mit M ⊂ G und λ (G \ M ) ≤ ε. Beweis: Zun¨ achst seien A ⊂ Rn beliebig und ε > 0. Nach Definition von λn (A) finden ∞ ∞ ur jedes j ∈ N wir Quader Q1 , Q2 , . . . mit A ⊂ ∪j=1 Qj und j=1 |Qj | ≤ λn (A) + ε. F¨ n n −j gibt es einen offenen Quader Vj ⊃ Qj mit λ (Vj ) ≤ λ (Qj ) + 2 ε. F¨ ur die offene Menge G := ∪∞ at von λn die Ungleichungskette j=1 Vj erhalten wir aus der σ-Subadditivit¨ λn (G) ≤
∞ j=1
λn (Vj ) ≤
∞
(λn (Qj ) + 2−j ε) ≤ λn (A) + 2ε.
j=1
Ist nun M eine beliebige messbare Menge, so ist M die Vereinigung ∪∞ k=1 Mk beur jedes k ∈ N gibt es nach dem ersten schr¨ ankter messbarer Mengen Mk . Es sei ε > 0. F¨ Beweisteil eine offene Menge Gk ⊃ Mk mit λn (Gk ) ≤ λn (Mk )+2−k ε. Wegen λ(Mk ) < ∞ alt M . bedeutet das λn (Gk \ Mk ) ≤ 2−k ε. Die Menge G := ∪∞ k=1 Gk ist offen und enth¨ Aus G \ M ⊂ ∪∞ at von λn erhalten wir k=1 Gk \ Mk und der σ-Subadditivit¨ λn (G \ M ) ≤
∞
λn (Gk \ Mk ) ≤ ε
k=1
und damit die Behauptung.
Wir ben¨otigen noch eine Hilfsaussage. Dazu verwenden wir die durch (2.9) definierte Parallelmenge. 6.44 Lemma. (Approximation offener Mengen) Es seien G ⊂ Rn eine offene und beschr¨ankte Menge sowie B eine abgeschlossene Teilmenge von G. Dann gibt es ein g ∈ C0∞ (G) und ein α > 0 mit 0 ≤ g ≤ 1, B⊕α ⊂ G und g(x) = 1 f¨ ur jedes x ∈ B⊕α . Beweis: Wir setzen C := Rn \ G. Die schon in I.8.6.3 und 2.3.4 diskutierte Abbildung x → d(x, C) := inf{x − y 2 : y ∈ C} ¨ ist stetig. (Der interessierte Leser kann zur Ubung beweisen, dass sogar die Lipschitzstetigkeit |d(x, C) − d(y , C)| ≤ x − y 2 vorliegt!) Wegen B ⊂ G gilt d(x, C) > 0 f¨ ur jedes x ∈ B. Nach Satz 1.18 ist also d(B, C) := inf{d(x, C) : x ∈ B} = 6α f¨ ur ein α > 0. Es sei h : R → R diejenige stetige Funktion, die auf (−∞, 2α] den Wert 0 und auf [4α, ∞) den Wert 1 annimmt und zwischen 2α und 4α linear w¨ achst. Wir betrachten jetzt die durch f (x) := h(d(x, C)),
x ∈ Rn ,
294
6 Das allgemeine Integral
definierte stetige Funktion f : Rn → Rn . Nach Definition ist f (x) = 0 f¨ ur x ∈ C⊕2α und f (x) = 1 f¨ ur x ∈ / C⊕4α . Wegen B⊕2α ⊂ Rn \ C⊕4α (der Leser mache sich das graphisch und analytisch klar!) gilt also insbesondere f (x) = 1 f¨ ur x ∈ B⊕2α . Wir zeigen jetzt, dass die durch (6.31) definierte Funktion g := fα alle geforderten Eigenschaften hat. Nach Satz 6.42 ist g unendlich oft differenzierbar. Aus 0 ≤ f ≤ 1 und der Monotonie des Integrals ergibt sich 0 ≤ g ≤ 1. (Man beachte ψ(y ) dy = 1.) y ∈ B⊕2α und damit (wegen supp(ψ) ⊂ B(0, 1)) F¨ ur x ∈ B⊕α und y2 ≤ 1 gilt x − α g(x) = 1. F¨ ur x ∈ C⊕α und y2 ≤ 1 gilt x − α y ∈ C⊕2α und damit g(x) = 0. Deshalb ist die offene Menge A := ∪x∈C B 0 (x, α) eine Teilmenge von {x ∈ Rn : g(x) = 0}, und es folgt supp(g) ⊂ Rn \ A ⊂ Rn \ C = G. Damit ist das Lemma vollst¨andig bewiesen.
6.45 Satz. (Approximation integrierbarer Funktionen) ur Es seien G ⊂ Rn eine offene Menge, p ≥ 1 und f ∈ Lp (G; R). Dann gibt es f¨ jedes ε > 0 ein g ∈ C0∞ (G) mit f − gp ≤ ε. Beweis: Wir gehen schrittweise vor, und beginnen mit sehr einfachen Funktionen f . (i): Zun¨ achst gelte f = 1H f¨ ur eine offene und beschr¨ankte Menge H ⊂ G. F¨ ur jedes k ∈ N ist Hk := {x ∈ H : d(x, ∂H) ≥ 1/k} eine beschr¨ ankte und abgeschlossene Menge. Ferner gilt H = ∪∞ k=1 Hk . Nach Lemma 6.44 gibt es zu jedem k ∈ N ein fk ∈ C0∞ (H) mit 0 ≤ fk ≤ 1 und fk (x) = 1 f¨ ur x ∈ Hk . Damit folgt fk ≤ 1H und limk→∞ fk (x) = 1H (x). Wegen | 1H −fk |p ≤ 2p 1H und λn (H) < ∞ erhalten wir limk→∞ 1H −fk p = 0 aus dem Satz 6.16 u ¨ ber die majorisiert Konvergenz. ur eine beschr¨ ankte und messbare Menge (ii): Im n¨ achsten Schritt setzen wir f = 1A f¨ A ⊂ H voraus. Nach Satz 6.43 gibt es f¨ ur jedes ε > 0 eine offene Menge H ⊂ G mit A ⊂ H ankt ist. (Sonst k¨ onnte und λn (H \ A) ≤ ε. Dabei k¨onnen wir annehmen, dass H beschr¨ man H mit einer geeigneten offenen Kugel schneiden.) Damit ist 1H ∈ Lp (G; R) und 1H − 1A p ≤ ε. Wegen (i) und der Minkowski-Ungleichung ergibt sich die Behauptung. (iii): Jetzt gelte f = c1 1A1 + . . . + cm 1Am f¨ ur ein m ∈ N, c1 , . . . , cm ∈ R \ {0} und beschr¨ ankte und messbare Mengen A1 , . . . , Am ⊂ G. Ein solches f nennen wir spezielle Elementarfunktion (vgl. 6.2.7). Es sei ε > 0 gegeben. Nach (ii) k¨ onnen wir 1Aj f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , m} bis auf |cj |−1 m−1 ε in der Lp-Norm durch ein gj ∈ C0∞ (G) approximieren. Damit liefert die Minkowski-Ungleichung m m m cj gj = cj (1Aj −gj ) ≤ |cj |· 1Aj −gj p ≤ ε. f − j=1
p
j=1
p
j=1
(iv): Abschließend behandeln wir den allgemeinen Fall. Die S¨ atze 6.48 und 6.52 liefern eine Folge (fk )k≥1 messbarer Elementarfunktionen (vgl. 6.2.7) mit limk→∞ fk (x) = f (x) f¨ ur jedes x ∈ Rn und |fk (x)| ≤ |f (x)|. Insbesondere gilt supp(fk ) ⊂ supp(f ). Mit ur x2 ≤ k und gk (x) := 0 f¨ ur x2 > k erhalten wir spezielle gk (x) := min(k, fk (x)) f¨ Elementarfunktionen gk , die ansonsten dieselben Eigenschaften haben wie die Funktionen fk . Aus |f (x) − gk (x)|p ≤ 2p |f (x)|p und dem Satz u ¨ ber majorisierte Konvergenz folgt
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
295
limk→∞ f − gk p = 0. Zusammen mit (iii) und der Minkowski-Ungleichung ergibt sich dann die Behauptung.
6.2
Grundzu ¨ge der Maßtheorie*
Wir geben hier eine kurze, auf die Bed¨ urfnisse dieses Buches zugeschnittene Einf¨ uhrung in die allgemeine Maß- und Integrationstheorie. Eine ausf¨ uhrliche Darstellung findet man etwa in (Leinert, 1995).
6.2.1
Mengen
Im gesamten Abschnitt sei Ω eine (als Grundmenge dienende) nichtleere Menge. Ist A ⊂ Ω, so bezeichnet Ac := Ω \ A wie u ¨blich das Komplement von A. Sind An ⊂ Ω, n ∈ N, Mengen, so spricht man auch von einer Folge von Mengen. Man bezeichnet sie auch mit (An )n≥1 oder (An ). Folgen (An )n≥m von Mengen (m ∈ N) werden ganz analog eingef¨ uhrt. F¨ ur eine Folge An ⊂ Ω, n ∈ N, von Mengen schreibt man An ↑ A (f¨ ur n → ∞), falls An ⊂ An+1 und ∪∞ n=1 An = A. Analog schreibt man An ↓ A (f¨ ur n → ∞), falls An+1 ⊂ An und ∩∞ n=1 An = A.
6.2.2
Mengensysteme
Ein Mengensystem (¨ uber Ω) ist eine Teilmenge A der Potenzmenge P(Ω) von Ω. Ein Mengensystem A ⊂ P(Ω) heißt (i) durchschnittsstabil (bzw. vereinigungsstabil ), wenn mit A, B ∈ A auch A ∩ B ∈ A (bzw. A ∪ B ∈ A) gilt; (ii) abgeschlossen unter Differenzbildung (bzw. echter Differenzbildung ), falls aus A, B ∈ A (bzw. aus A, B ∈ A und A ⊂ B) die Beziehung B \ A ∈ A folgt; (iii) abgeschlossen unter Komplementbildung , falls aus A ∈ A die Relation Ac ∈ A folgt; (iv) abgeschlossen unter monotonen Vereinigungen falls aus Ak ∈ A, k ∈ N, und Ak ↑ A die Relation A ∈ A folgt. (v) abgeschlossen unter monotonen Durchschnitten , falls aus Ak ∈ A, k ∈ N, und Ak ↓ A die Relation A ∈ A folgt. Zwischen diesen Eigenschaften gibt es zahlreiche Beziehungen. Ist etwa A durchschnittsstabil und abgeschlossen unter Komplementbildung, so ist A wegen A ∪ B = (Ac ∩ B c )c auch vereinigungsstabil.
296
6.2.3
6 Das allgemeine Integral
σ-Algebren
Ein Mengensystem A ⊂ P(Ω) heißt σ-Algebra (¨ uber Ω), falls Ω ∈ A und falls A abgeschlossen unter Komplementbildung sowie unter abz¨ ahlbaren Durchschnitten und Vereinigungen ist. Letzteres bedeutet ∞ /
Ak ∈ A,
k=1
∞
Ak ∈ A
(6.32)
k=1
f¨ ur jede Folge Ak ∈ A, k ∈ N, von Mengen aus A. Jede σ-Algebra enth¨alt die leere Menge ∅ = Ωc und ist vereinigungs- und durchschnittsstabil. Um letzteres einzusehen, kann man in (6.32) f¨ ur jedes k ≥ 3 Ak := Ω (bzw. Ak := ∅) setzen. Abz¨ahlbar viele mengentheoretische Operationen mit Mengen aus einer σ-Algebra A f¨ uhren nicht aus A heraus. Der Durchschnitt beliebig vieler σ-Algebren ist wieder eine σ-Algebra. Ist also J = ∅ und ist {Aj : j ∈ J} eine Menge von σ-Algebren Aj ⊂ P(Ω), so ist / Aj = {A ⊂ Ω : A ∈ Aj f¨ ur jedes j ∈ J } j∈J
ebenfalls eine σ-Algebra. Die Potenzmenge P(Ω) ist eine σ-Algebra, die jedes Mengensystem umfasst. Diese Sachverhalte erm¨ oglichen die folgende Definition. Ist M ⊂ P(Ω) ein Mengensystem, so heißt / / σ(M) := A = {A : A ⊂ P(Ω) ist σ-Algebra und A ⊃ M} M⊂A A σ-Algebra
die von M erzeugte σ-Algebra. Das System M heißt Erzeuger von σ(M).
6.2.4
Der monotone Klassensatz
Ein Mengensystem D ⊂ P(Ω) heißt d-System , falls Ω ∈ D und falls D abgeschlossen unter echter Differenzbildung und monotonen Vereinigungen ist. Mit dem folgenden Satz erhalten wir ein sehr n¨ utzliches Hilfsmittel, um Aussagen von durchschnittsstabilen Systemen M auf die erzeugte σ-Algebra σ(M) ausdehnen zu k¨onnen. 6.46 Satz. (Monotoner Klassensatz) Es seien M ⊂ P(Ω) ein durchschnittsstabiles Mengensystem und D ein d-System mit M ⊂ D. Dann gilt σ(M) ⊂ D. Beweis: O.B.d.A. k¨onnen wir annehmen, dass D das (wohldefinierte!) kleinste d-System ist, welches M enth¨alt. Weil ein d-System genau dann eine σ-Algebra ist, wenn es durch¨ schnittsstabil ist (der Beweis sei Ubungsaufgabe!), gen¨ ugt es zu zeigen, dass D durchschnittsstabil ist. Dazu w¨ahlen wir zun¨achst ein B ∈ M und definieren DB := {A ⊂ Ω : A ∩ B ∈ D}.
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
297
Weil M nach Voraussetzung durchschnittsstabil ist, gilt M ⊂ DB . Wir weisen jetzt nach, dass DB ein d-System ist. Aus unserer anf¨ anglichen Annahme u urde dann ¨ber D w¨ D ⊂ DB folgen. Offenbar gilt Ω ∈ DB . Sind A, A ∈ DB mit A ⊂ A, so folgt (A \ A ) ∩ B = A ∩ B \ A ∩ B ∈ D, weil D ein d-System ist. Schließlich folgt aus An ∈ D und An ↑ A auch An ∩B ↑ A∩B ∈ D. Damit gilt D ⊂ DB , also A ∩ B ∈ D f¨ ur jedes B ∈ M und jedes A ∈ D. Wir vertauschen jetzt die Rollen von A und B und betrachten f¨ ur A ∈ D das System DA aller Mengen B ⊂ Ω mit A ∩ B ∈ D. Wie wir gerade gesehen haben, gilt M ⊂ DA . Weil aber DA ein d-System ist (Beweis wie oben!), erhalten wir D ⊂ DA , also die gew¨ unschte Beziehung A ∩ B ∈ D f¨ ur alle A, B ∈ D. Damit ist der Satz bewiesen.
6.2.5
Die Borelsche σ-Algebra
Es seien Ω ein normierter Raum und U das System aller offenen Teilmengen von Ω (vgl. 4.3.1). Dann heißt B(Ω) := σ(U ) Borelsche σ-Algebra (¨ uber Ω). Die Elemente von B(Ω) heißen Borelsche Mengen oder kurz Borelmengen (in Ω). Die σ-Algebra der Borelmengen u ¨ber Rn (versehen mit einer beliebigen Norm) n n wird mit B := B(R ) bezeichnet. In Satz 6.61 wird sich herausstellen, dass jede Borelsche Teilmenge des Rn Lebesgue-messbar ist. Ferner gilt: 6.47 Satz. (Borelsche σ-Algebra u ¨ber Rn ) n Im normierten Raum (R , · 2 ) ist das System M := {×nj=1 [aj , bj ] : aj < bj , aj , bj ∈ Q f¨ ur j = 1, . . . , n} aller Quader mit rationalen Eckpunkten ein Erzeuger von B n . Beweis: Aus Satz 1.9 folgt, dass das System aller abgeschlossenen Teilmengen ein Erzeuger von B n ist. (Insbesondere gilt also {x} ∈ B n f¨ ur jedes x ∈ Rn .) Damit ist σ(M) ⊂ B n . Zum Beweis der umgekehrten Inklusion gen¨ ugt es zu bemerken, dass jede (nichtleere) offene Menge A ⊂ Rn Vereinigung derjenigen abz¨ahlbar vielen Q ∈ M mit Q ⊂ A ist.
6.2.6
Messr¨ aume und messbare Abbildungen
Satz 6.5 und 6.1.10 legen die folgenden Definitionen nahe. (i) Ist A ⊂ P(Ω) eine σ-Algebra, so heißt das Paar (Ω, A) Messraum . Die Elemente von A nennt man messbare Mengen . ¯ heißt A-messbar (ii) Es sei (Ω, A) ein Messraum. Eine Funktion f : Ω → R (kurz: messbar) , falls {ω ∈ Ω : f (ω) < c} ∈ A
f¨ ur jedes c ∈ R.
(6.33)
298
6 Das allgemeine Integral
Wie in 6.1.10 erkennt man, dass die Messbarkeitsbedingung (6.33) zu {ω ∈ Ω : f (ω) ≤ c} ∈ A,
c ∈ R,
(6.34)
atze 6.18 ¨aquivalent ist. Im wichtigen Spezialfall (Ω, A) = (Rn , B n ) bleiben die S¨ und 6.19 u andert ¨ ber die Messbarkeit stetiger bzw. monotoner Funktionen unver¨ g¨ ultig.
6.2.7
Approximation messbarer Funktionen
Eine Funktion f : Ω → [0, ∞) heißt Elementarfunktion , falls f (Ω) eine endliche Menge ist, d.h. falls f nur endlich viele verschiedene Werte annimmt. Nimmt die Elementarfunktion f die paarweise verschiedenen reellen Werte c1 , . . . , cm an, so gilt f = c1 1A1 + . . . + cm 1Am
(6.35)
mit Aj := {ω ∈ Ω : f (ω) = cj }, j ∈ {1, . . . , m}. Diese Mengen sind paarweise disjunkt. Ist (Ω, A) ein Messraum und ist f A-messbar, so folgt A1 , . . . , Am ∈ A. Sind fk : Ω → [0, ∞], k ∈ N, Funktionen mit fk (ω) ≤ fk+1 (ω) f¨ ur jedes k ∈ N und jedes ω ∈ Ω, so schreibt man fk ↑ (f¨ ur k → ∞). In diesem Fall existiert f¨ ur jedes ω ∈ Ω der Grenzwert f (ω) := limk→∞ fk (ω) im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne, und man schreibt fk ↑ f (f¨ ur k → ∞). f (ω)
f (ω) 2 1.5
1
1
0.5
0.5 ω
ω
Bild 6.7: Approximation von f durch f1 (links) und f2 (rechts) 6.48 Satz. (Approximation durch Elementarfunktionen) Es seien (Ω, A) ein Messraum und f : Ω → [0, ∞] eine A-messbare Funktion. Dann gibt es A-messbare Elementarfunktionen fk : Ω → [0, ∞), k ∈ N, mit fk ↑ f f¨ ur k → ∞. Beweis: F¨ ur jedes k ∈ N definieren wir ur ein j ∈ {0, . . . , k2k − 1}, j2−k , falls j2−k ≤ f (ω) < (j + 1)2−k f¨ fk (ω) := k, falls f (ω) ≥ k.
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
299
Bild 6.7 zeigt die ersten beiden Approximationen f1 und f2 f¨ ur eine auf einem Intervall erkl¨ arte quadratische Funktion. Weil f messbar ist, ist fk eine messbare Elementarfunktion. Man pr¨ uft leicht nach, dass die Folge (fk ) die geforderten Eigenschaften hat.
6.2.8
Messbarkeit von Grenzwerten
Sind J eine nichtleere Menge und fj f¨ ur jedes j ∈ J eine Funktion von Ω nach ¯ R, so bezeichnet man mit supj∈J fj die durch ω → sup{fj (ω) : j ∈ J} defi¯ Hierbei erinnern wir an die in 6.1.1 getroffenen nierte Funktion von Ω nach R. Vereinbarungen u ur ein ¨ber Infimum und Supremum. Gilt J = {m, m + 1, . . .} f¨ m ∈ N0 , so nennt man fn , n ≥ m, (bzw. (fn )n≥m ) eine Folge von Funktionen. Man schreibt dann supk≥m fk := supj∈J fj . Analog definiert man die Funktion inf j∈J fj . Im Fall J = {m, m + 1, . . .} k¨onnen auch die Funktionen lim inf k→∞ fk bzw. lim supk→∞ fk ganz analog definiert werden. Besitzt die Folge (fk (ω)) f¨ ur jedes ω ∈ Ω einen Grenzwert im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne, so be¯ zeichnet limk→∞ fk die Funktion ω → limk→∞ fk (ω) von Ω nach R. 6.49 Satz. (Grenzwerte messbarer Funktionen) ¯ k ∈ N, eine Folge A-messbarer FunkSind (Ω, A) ein Messraum und fk : Ω → R, tionen, so sind inf k∈N fk , supk∈N fk , lim inf k→∞ fk und lim supk→∞ fk ebenfalls A-messbare Funktionen. Beweis: Nach Voraussetzung und den Eigenschaften einer σ-Algebra ist {ω ∈ Ω : sup fk (ω) ≤ c} = k∈N
∞ /
{ω ∈ Ω : fk (ω) ≤ c}
k=1
f¨ ur jedes c ∈ R in A. Also ist supk∈N fk messbar. Die Messbarkeit von inf k∈N fk folgt aus der Gleichung inf k∈N fk = − supk∈N (−fk ) (vgl. auch Satz 6.50). Die verbleibenden Behauptungen ergeben sich dann aus lim inf k→∞ fk = supm∈N inf k≥m fk und einer analogen Formel f¨ ur lim supk→∞ fk .
6.2.9
Weitere Eigenschaften messbarer Funktionen
Wir betrachten einen Messraum (Ω, A) und beweisen Satz 6.20. Vorher sollen ¯ schreibt man einige n¨ utzliche Abk¨ urzungen eingef¨ uhrt werden. F¨ ur f, g : Ω → R {f ≤ g} := {ω ∈ Ω : f (ω) ≤ g(ω)}. Analog definiert man die Mengen {f ≥ g}, {f < g}, {f > g} und {f = g}. F¨ ur g ≡ c ∈ R ergibt sich etwa die Bezeichnung {f ≤ c} = {ω ∈ Ω : f (ω) ≤ c}. 6.50 Satz. (Operationen mit messbaren Funktionen) ¯ A-messbare Funktionen und α ∈ R. Dann sind auch die Es seien f, g : Ω → R Funktionen |f |, α · f , f + g (falls auf ganz Ω definiert) und f · g A-messbar. Gilt g(ω) = 0 f¨ ur jedes ω ∈ Ω, so ist auch der Quotient f /g A-messbar.
300
6 Das allgemeine Integral
Beweis: Es gelte etwa α < 0. Dann folgt f¨ ur jedes c ∈ R {α · f < c} = {f > c/α} ∈ A und damit die Messbarkeit von α · f . Wir beweisen jetzt die Messbarkeit von f + g. Sind f und g messbare Elementarfunktionen, so kann man leicht zeigen, dass auch f + g eine messbare Elementarfunktion ist. Im allgemeinen Fall ergibt sich aus den S¨atzen 6.48 und 6.52 die Existenz zweier Folgen (fn ) und (gn ) messbarer Elementarfunktionen mit limn→∞ fn = f bzw. limn→∞ gn = g. Ist f + g auf ganz Ω definiert, so gilt f + g = limn→∞ (fn + gn ), wobei beide Seiten gleich −∞ oder ∞ sein k¨onnen. Damit folgt die Messbarkeit von f + g aus Satz 6.49. Die verbleibenden Aussagen beweist man analog.
6.51 Satz. (Messbare Funktionen und messbare Mengen) ¯ A-messbare Funktionen, so geh¨ort jede der Mengen {f < g}, Sind f, g : Ω → R {f ≤ g}, {f = g} und {f = g} zu A. ¯ durch h(ω) := g(ω), falls |g(ω)| < ∞ Beweis: Wir definieren eine Funktion h : Ω → R und durch h(ω) := 0 sonst. Aus {|g| = ∞} ∈ A ergibt sich die Messbarkeit von h. Weil f − h nach Satz 6.50 messbar ist, folgt {f < h} = {f − h < 0} ∈ A und damit {f < g} = {f < h} ∩ {|g| = ∞} ∪ {f < ∞} ∩ {g = ∞} ∈ A. Vertauschen wir die Rollen von f und g, so erhalten wir {f ≤ g} = {g < f }c ∈ A. Schließlich folgt {f = g} = {f ≤ g} ∩ {g ≤ f } ∈ A und {f = g} = {f = g}c ∈ A.
6.2.10
Positiv- und Negativteil einer Funktion
¯ eine Funktion, so heißen die durch Ist f : Ω → R f + (ω) := max(f (ω), 0),
f − (ω) := − min(f (ω), 0),
¯ Positivteil bzw. Negativteil von f . definierten Funktionen f + , f − : Ω → R h+ (ω)
h(ω)
ω
h− (ω)
ω
ω
Bild 6.8: Funktion h mit Positiv- und Negativteil ¯ Bild 6.8 veranschaulicht diese Begriffsbildung. F¨ ur jede Funktion f : Ω → R gelten die Gleichungen f = f + − f −,
|f | = f + + f − .
(6.36)
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
301
Hierbei ist die Funktion |f | : Ω → [0, ∞] nat¨ urlich wieder argumentweise definiert. Ferner ist |∞| = | − ∞| := ∞. Wegen des folgenden Satzes nennen wir die Gleichung f = f + − f − auch messbare Zerlegung von f (in Positiv- und Negativteil). 6.52 Satz. (Messbarkeit von Positiv- und Negativteil) ¯ eine A-messbare Funktion, so sind die Sind (Ω, A) ein Messraum und f : Ω → R + − Funktionen f , f und |f | ebenfalls A-messbar. Beweis: F¨ ur jedes c > 0 gilt {f + < c} = {f < c}. F¨ ur c ≤ 0 ist {f + < c} = ∅. Also + − ist f messbar. Analog folgt die Messbarkeit von f . Damit ergibt sich die Messbarkeit von |f | = f + − f − aus Satz 6.50.
6.2.11
Maße
Es sei (Ω, A) ein Messraum. Satz 6.7 motiviert die folgende Definition. Eine Funktion μ : A → [0, ∞] heißt Maß auf (Ω, A), falls sie die folgenden Eigenschaften besitzt: (i) Es gilt μ(∅) = 0. (ii) Sind A1 , A2 , . . . paarweise disjunkte Mengen aus A, so gilt ⎛ ⎞ ∞ ∞ ⎝ ⎠ μ Aj = μ(Aj ). (σ-Additivit¨ at) j=1
j=1
Ist μ ein Maß auf (Ω, A), so heißt das Tripel (Ω, A, μ) Maßraum . Aus der Definition eines Maßes μ ergeben sich zahlreiche weitere Eigenschaften wie zum Beispiel die (endliche) Additivit¨at μ(A1 ∪ . . . ∪ Am ) = μ(A1 ) + . . . + μ(Am ) f¨ ur beliebiges m ∈ N und beliebige paarweise disjunkte Mengen A1 , . . . , Am aus A. Der folgende Satz liefert weitere Eigenschaften. 6.53 Satz. (Eigenschaften von Maßen) Es sei (Ω, A, μ) ein Maßraum. Dann gilt: (i) Das Maß μ ist monoton, d.h. aus A, B ∈ A und A ⊂ B folgt μ(A) ≤ μ(B). (ii) Das Maß μ ist stetig von unten, d.h. aus Ak ∈ A, k ∈ N, und Ak ↑ A folgt μ(A) = limk→∞ μ(Ak ). (iii) Das Maß μ ist stetig von oben, d.h. aus Ak ∈ A, k ∈ N, Ak ↓ A und μ(A1 ) < ∞ folgt μ(A) = limk→∞ μ(Ak ).
302
6 Das allgemeine Integral
(iv) Das Maß μ ist σ-subadditiv, d.h. aus Ak ∈ A, k ∈ N, folgt ∞ ∞ μ Ak ≤ μ(Ak ). k=1
k=1
Beweis: Eigenschaft (i) folgt aus der disjunkten Zerlegung B = A ∪ (B \ A) und der Additivit¨ at μ(B) = μ(A) + μ(B \ A). Zum Beweis von (ii) definieren wir paarweise disjunkte messbare Mengen durch B1 := A1 und Bk := Ak \ Ak−1 f¨ ur k ≥ 2. Aus at von μ folgt A = ∪∞ k=1 Bk und der σ-Additivit¨ m m μ(A) = lim μ(Bk ) = lim μ Bk = lim μ(Am ). m→∞
m→∞
k=1
m→∞
k=1
Den Beweis von (iii) u ¨berlassen wir dem Leser. Zum Beweis von (iv) definieren wir paarweise disjunkte Mengen induktiv durch B1 := A1 und Bk+1 := Ak+1 \ Bk . Dann gilt m ur jedes m ∈ N. Damit folgt aus der Additivit¨ at und der Monotonie ∪m k=1 Bk = ∪k=1 Ak f¨ von μ μ(A1 ∪ . . . ∪ Am ) = μ(B1 ) + . . . + μ(Bm ) ≤ μ(A1 ) + . . . + μ(Am ). Da wegen (ii) die linke Seite dieser Ungleichung f¨ ur m → ∞ gegen μ(∪∞ k=1 Ak ) konvergiert, folgt die Behauptung (iv).
6.54 Beispiel. (Lebesgue-Dichten) Nach Satz 6.7 ist (Rn , Ln , λn ) ein Maßraum. Ist f : Rn → [0, ∞] Lebesgueintegrierbar, so definiert μ(A) := f (x) dx, A ∈ Ln , A
ein Maß μ auf (Rn , Ln ). Die Eigenschaften eines Maßes werden sich aus den S¨atzen 6.71 und 6.66 ergeben. Die Funktion f heißt Dichte von μ (vgl. 6.1.18). 6.55 Beispiel. (Dirac3 -Maß) Es sei ω ∈ Ω. Dann ist die durch δω (A) :=
1, falls ω ∈ A, 0, falls ω ∈ / A,
definierte Funktion δω : A → R ein Maß, das Dirac-Maß im Punkt ω. Offenbar gilt δω (A) = 1A (ω). 3 Paul Adrien Maurice Dirac (1902–1984), Physiker und Mathematiker. Professor f¨ ur Mathematik in Cambridge (ab 1940) und Oxford (ab 1953), Nobelpreis 1933 f¨ ur Arbeiten zur Quantenmechanik, entwarf die nach ihm benannte Hypothese von einem Weltall unendlicher Masse.
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
303
6.56 Beispiel. (Z¨ahlmaß) Es sei D ⊂ Ω. F¨ ur jedes A ∈ A sei μ(A) := card(A ∩ D) die Kardinalit¨at von A ∩ D. Dabei sei card(B) := ∞, falls B ⊂ Ω eine unendliche Menge ist. Eine einfache Verallgemeinerung von Satz I.3.16. (i) zeigt, dass μ ein ahlmaß mit Tr¨ager D. In Anwendungen ist D meist eine Maß ist. Es heißt Z¨ endliche oder abz¨ahlbar unendliche Menge, die auch oft mit Ω zusammenf¨ allt. Sind μ ein Maß auf (Ω, A) und c ≥ 0, so definiert (cμ)(A) := c · μ(A),
A ∈ A,
ein Maß cμ. Der n¨achste Satz zeigt, dass man Maße auch addieren kann: 6.57 Satz. (Summe von Maßen) Es seien μk , k ∈ N, Maße auf (Ω, A). Dann definiert μ(A) :=
∞
μk (A),
A ∈ A,
(6.37)
k=1
ein Maß μ auf (Ω, A). Beweis: Es gilt μ(∅) = 0. Zum Nachweis der σ-Additivit¨ at von μ betrachten wir paarweise disjunkte Mengen Aj ∈ A, j ∈ N. Dann gilt ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ∞ ∞ ∞ Aj ⎠ = μk ⎝ Aj ⎠ μ⎝ j=1
k=1
=
∞ ∞
j=1
μk (Aj ) =
k=1 j=1
∞ ∞ j=1 k=1
μk (Aj ) =
∞
μ(Aj ).
j=1
Hierbei wurde benutzt, dass die Summation einer Reihe mit nichtnegativen Summanden in beliebiger Reihenfolge vorgenommen werden kann.
F¨ ur das in Satz 6.57 eingef¨ uhrte Maß μ schreibt man auch μ=
∞
μk .
(6.38)
k=1
6.58 Beispiel. (Diskrete Maße) Es seien D ⊂ Ω eine diskrete (d.h. endliche oder abz¨ ahlbar-unendliche) Menge. Ferner sei ω → pω eine Abbildung von D in [0, ∞). Dann definiert pω , A ∈ A, μ(A) := ω∈D∩A
304
6 Das allgemeine Integral
ein sogenanntes diskretes Maß μ. Mit dem in Beispiel 6.55 eingef¨ uhrten Dirac-Maß und der Bezeichnung (6.38) gilt μ= pω δω . ω∈D
ager von μ. Das Z¨ ahlmaß aus Beispiel 6.56 Die Menge {ω ∈ D : pω > 0} heißt Tr¨ ergibt sich im Spezialfall pω := 1, ω ∈ D. 6.59 Satz. (Eindeutigkeitssatz) Es seien μ und ν Maße auf (Ω, A) mit μ(Ω) = ν(Ω) < ∞. Gilt dann μ(A) = ν(A) f¨ ur jedes A aus einem durchschnittsstabilen Erzeuger M von A, so folgt μ = ν. Beweis: Es sei D das System aller Mengen A ∈ A mit μ(A) = ν(A). Nach Voraussetzung ist Ω ∈ D. Ferner ergibt sich aus den Eigenschaften eines Maßes (vgl. Satz 6.53 nebst Beweis) sehr schnell, dass D ein d-System ist. Weil aber D nach Voraussetzung das durchschnittsstabile System M umfasst, impliziert Satz 6.46 die behauptete Inklusion A = σ(M) ⊂ D.
6.2.12
¨ Außere Maße
Wir stellen jetzt Hilfsmittel zur Verf¨ ugung, welche die Konstruktion allgemeiner Maße erlauben. Dazu erweist sich der folgende Begriff als n¨ utzlich. Eine Funktion μ : P(Ω) → [0, ∞] heißt ¨außeres Maß (auf Ω), wenn sie die folgenden Eigenschaften hat: (i) Es gilt μ(∅) = 0. (ii) Die Funktion μ ist monoton , d.h. aus A ⊂ B folgt μ(A) ≤ μ(B). (iii) Die Funktion μ ist σ-subadditiv , d.h. f¨ ur jede Folge An ⊂ Ω, n ∈ N, gilt ∞ ∞ μ An ≤ μ(An ). n=1
n=1
Nach Satz 6.3 ist das ¨außere Lebesgue-Maß λn ein ¨ außeres Maß auf Rn .
6.2.13
Konstruktion von Maßen aus ¨ außeren Maßen
Es sei μ ein ¨außeres Maß. Eine Menge A ⊂ Ω heißt μ-messbar , falls μ(E) = μ(E ∩ A) + μ(E ∩ Ac ),
E ⊂ Ω.
Das System aller μ-messbaren Mengen wird mit A(μ) bezeichnet.
(6.39)
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
305
Wegen der Subadditivit¨at von μ (vgl. (6.5)) ist (6.39) zu μ(E) ≥ μ(E ∩ A) + μ(E ∩ Ac ),
E ⊂ Ω,
(6.40)
¨aquivalent. 6.60 Satz. (Eigenschaften messbarer Mengen) Es sei μ ein ¨ außeres Maß auf Ω. Dann ist A(μ) eine σ-Algebra, und die Einschr¨ankung von μ auf A(μ) ist ein Maß. Beweis: F¨ ur jedes E ⊂ Ω gilt μ(E ∩ ∅) + μ(E ∩ Ω) = μ(∅) + μ(E) = μ(E), d.h. ∅ ∈ A(μ). Außerdem folgt aus A ∈ A(μ) offensichtlich auch Ac ∈ A(μ). Es seien jetzt A, B ∈ A(μ) und E ⊂ Ω. Wir verwenden nacheinander die Beziehungen A ∈ A(μ) und B ∈ A(μ) und erhalten μ(E) = μ(E ∩ A) + μ(E ∩ Ac ) = μ(E ∩ A ∩ B) + μ(E ∩ A ∩ B c ) + μ(E ∩ Ac ). at von μ ergibt sich Wegen E ∩ (A ∩ B)c = (E ∩ A ∩ B c ) ∪ (E ∩ Ac ) und der Subadditivit¨ μ(E) ≥ μ(E ∩ A ∩ B) + μ(E ∩ (A ∩ B)c ). Also folgt A ∩ B ∈ A(μ), d.h. A(μ) ist durchschnittsstabil. Weil A abgeschlossen unter Komplementbildung ist, ist A(μ) auch vereinigungsstabil. Nun seien A, B ∈ A(μ) mit A ∩ B = ∅. Dann gilt f¨ ur jedes E ⊂ Ω μ(E ∩ (A ∪ B)) = μ(E ∩ (A ∪ B) ∩ A) + μ(E ∩ (A ∪ B) ∩ Ac ) = μ(E ∩ A) + μ(E ∩ B ∩ Ac ) = μ(E ∩ A) + μ(E ∩ B)
(6.41)
wobei zuletzt A ∩ B = ∅ benutzt wurde. Jetzt betrachten wir eine Folge Ak ∈ A(μ), k ∈ N, paarweise disjunkter Mengen ∞ und setzen Bm := ∪m k=1 Ak , m ∈ N, und B := ∪k=1 Ak . Aus der Monotonie von μ und m-maliger Anwendung von (6.41) erhalten wir f¨ ur jedes E ⊂ Ω und jedes m ∈ N μ(E ∩ B) ≥ μ(E ∩ Bm ) = μ(E ∩ A1 ) + . . . + μ(E ∩ Am ). F¨ ur m → ∞ ergibt sich μ(E ∩ B) ≥
∞ k=1
μ(E ∩ Ak ) und damit aus der σ-Subadditivit¨ at
μ(E ∩ B) =
∞
μ(E ∩ Ak ).
(6.42)
k=1
Mit der Wahl E = Ω folgt, dass μ auf A(μ) σ-additiv ist. Es verbleibt zu zeigen, dass A(μ) eine σ-Algebra ist. Mit Blick auf die bereits bewiesenen Eigenschaften von A(μ) gen¨ ugt es, B ∈ A(μ) nachzuweisen. (F¨ ur eine beliebige Folge Ak ∈ A(μ), k ∈ N, k¨ onnen wir A1 := A1 und Am := Am \ (∪m−1 ur m ≥ 2 setzen. Dann sind die Am paarweise j=1 Aj ) f¨ ∞ disjunkte Mengen aus A(μ) mit ∪∞ m=1 Am = ∪m=1 Am .)
306
6 Das allgemeine Integral
Wir wissen bereits, dass Bm ∈ A(μ), m ∈ N, gilt. Aus (6.42) und der Monotonie von μ erhalten wir f¨ ur jedes E ⊂ Ω c μ(E) = μ(E ∩ Bm ) + μ(E ∩ Bm )=
m
c μ(E ∩ Ak ) + μ(E ∩ Bm )
k=1
≥
m
μ(E ∩ Ak ) + μ(E ∩ B c ).
k=1
Wegen (6.42) konvergiert der letzte Ausdruck f¨ ur m → ∞ gegen μ(E ∩ B) + μ(E ∩ B c ). Damit ist B ∈ A(μ), und der Satz ist bewiesen.
6.2.14
Lebesgue-messbare Mengen
Wir betrachten das in 6.1.1 definierte ¨außere Lebesgue-Maß λn auf Rn . Nach 6.1.4 ist A(λn ) das System Ln der Lebesgue-messbaren Teilmengen von Rn . Insbesondere impliziert Satz 6.60 die Aussagen (i), (ii) der S¨ atze 6.5 und Satz 6.7. Jede n Menge aus L stimmt bis auf eine Nullmenge mit einer Borelmenge u ¨ berein: 6.61 Satz. (Charakterisierung Lebesgue-messbarer Mengen) Eine Menge A ⊂ Rn ist genau dann Lebesgue-messbar, wenn es eine Borelsche Menge B ⊂ Rn mit A ⊂ B und λn (B\A) = 0 gibt. Insbesondere ist jede Borelsche Menge Lebesgue-messbar. Beweis: Es sei A eine Lebesgue-messbare Menge. Mit Satz 6.43 finden wir f¨ ur jedes k ∈ N eine offene Menge Gk mit A ⊂ Gk und λn (Gk \ A) ≤ 1/k. Die Menge B := ∩∞ k=1 Gk ist Borelsch und umfasst A. Aus der Monotonie von λn folgt λn (B \ A) ≤ 1/k f¨ ur jedes k ∈ N und damit λn (B \ A) = 0. Wegen Satz 6.5 ist jeder Quader Lebesgue-messbar. Damit impliziert Satz 6.47, dass sogar jede Borelsche Menge Lebesgue-messbar ist. Die Mengen A und B m¨ ogen die im Satz fomulierten Bedingungen erf¨ ullen. Weil dann B \A als Nullmenge Lebesgue-messbar ist, ist A = B ∩ (B \ A)c als Durchschnitt zweier Mengen aus Ln ebenfalls in Ln .
6.2.15
Das Integral messbarer Elementarfunktionen
In den n¨achsten Unterabschnitten fixieren wir einen Maßraum (Ω, A, μ). Es sei f : Ω → [0, ∞) eine nichtnegative und A-messbare Elementarfunktion der Form f = c1 1A1 + . . . + cm 1Am mit c1 , . . . , cm ∈ [0, ∞) und paarweise disjunkten A1 , . . . , Am ∈ A. Dann heißt f dμ := c1 μ(A1 ) + . . . + cm μ(Am ) ∈ [0, ∞] (6.43) μ-Integral von f .
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
307
Diese Definition h¨angt nicht von der gew¨ ahlten Darstellung von f ab. Gilt n¨amlich f = b1 1B1 + . . .+bk 1Bk mit b1 , . . . , bk ∈ [0, ∞) und paarweise disjunkten B1 , . . . , Bk ∈ A, so folgt aus der Additivit¨at von μ sowie aus der Gleichung ci = dj f¨ ur jedes Paar (i, j) mit Ai ∩ Bj = ∅: m
ci μ(Ai ) =
i=1
k m
ci μ(Ai ∩ Bj )
i=1 j=1
=
m k
bj μ(Ai ∩ Bj ) =
j=1 i=1
k
bj μ(Bj ).
j=1
Diese Gleichung gilt auch, wenn die linke (bzw. die rechte) Seite gleich ∞ ist.
6.2.16
Eigenschaften des elementaren Integrals
Analog zum gerade gef¨ uhrten Beweis ergibt sich: 6.62 Lemma. (Linearit¨at des elementaren Integrals) Sind f, g : Ω → [0, ∞) A-messbare Elementarfunktionen und α, β ∈ [0, ∞), so ist αf + βg eine A-messbare Elementarfunktion, und es gilt (αf + βg) dμ = α f dμ + β g dμ. Aus diesem Lemma folgt die Gleichung f dμ = c1 μ(A1 ) + . . . + cm μ(Am ) f¨ ur die A-messbare Elementarfunktion f = c1 1A1 + . . .+cm 1Am auch dann, wenn die Mengen A1 , . . . , Am ∈ A nicht paarweise disjunkt sind. Auch den einfachen Beweis des n¨achsten Lemmas u ¨ berlassen wir dem Leser. 6.63 Lemma. (Monotonie des elementaren Integrals) Sind f, g : Ω → [0, ∞) A-messbare Elementarfunktionen mit f ≤ g, so gilt f dμ ≤ g dμ. 6.64 Lemma. (Konsistenz) Gegeben seien A-messbare und nichtnegative Elementarfunktionen f, g, f1 , f2 , . . . mit fk ↑ f f¨ ur k → ∞ und g ≤ f . Dann gilt limk→∞ fk dμ ≥ g dμ. Beweis: Wegen f ≤ g gibt es paarweise disjunkte Mengen A1 , . . . , Am ∈ A und Zahlen c1 , d1 , . . . , cm , dm mit f = c1 1A1 + . . . + cm 1Am , g = d1 1A1 + . . . + dm 1Am und cj ≤ dj f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , m}. F¨ ur jedes j gilt cj 1Aj fk ↑ cj 1Aj f f¨ ur k → ∞. Wegen der Linearit¨ at des elementaren Integrals k¨onnen wir deshalb o.B.d.A. g = 1A f¨ ur ein A ∈ A annehmen.
308
6 Das allgemeine Integral
Wir w¨ ahlen ein ε > 0 und betrachten die messbaren Mengen Ak := A ∩ {fk ≥ 1 − ε}, k ∈ N. Die Monotonie des Integrals (Lemma 6.63) liefert fk dμ ≥ 1Ak fk dμ ≥ (1 − ε) 1Ak dμ = (1 − ε)μ(Ak ). Nach Voraussetzung gilt Ak ↑ A und damit fk dμ ≥ (1 − ε)μ(A), lim k→∞
wobei die Existenz des Grenzwertes aus der Monotonie des Integrals folgt. F¨ ur ε → 0 ergibt sich die Behauptung des Lemmas.
Der folgende Satz gestattet es, das Integral f¨ ur allgemeine messbare Funktionen einzuf¨ uhren. 6.65 Satz. (Monotone Konvergenz) Es seien (fk ) und (gk ) Folgen messbarer und nichtnegativer Elementarfunktionen mit fk ↑ und gk ↑ sowie limk→∞ fk = limk→∞ gk . Dann gilt lim fk dμ = lim gk dμ. k→∞
k→∞
Beweis: Lemma 6.64 impliziert limk→∞ fk dμ ≥ gm dμ f¨ ur jedes m ∈ N. Somit folgt lim fk dμ ≥ lim gm dμ. k→∞
m→∞
Die umgekehrte Ungleichung gilt aus Symmetriegr¨ unden.
6.2.17
Das Integral nichtnegativer messbarer Funktionen
Die S¨atze 6.48 und 6.65 rechtfertigen die folgende Definition. Es seien f : Ω → [0, ∞] eine messbare Funktion und (fk ) eine Folge messbarer ur k → ∞. Dann heißt Elementarfunktionen mit fk ↑ f f¨ f dμ := lim fk dμ k→∞
das μ-Integral von f . Aus dieser Definition folgt, dass die Aussagen der Lemmata 6.62 und 6.63 auch f¨ ur nichtnegative messbare Funktionen g¨ ultig bleiben.
6.2.18
Der Satz u ¨ ber die monotone Konvergenz
Der folgende Satz macht eine Aussage u ¨ber die Vertauschung von Grenzwert- und Integralbildung f¨ ur monotone Funktionenfolgen.
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
309
6.66 Satz. (Satz u ¨ ber die monotone Konvergenz) Sind fk : Ω → [0, ∞], k ∈ N, messbare Funktionen mit der Eigenschaft fk ↑ f f¨ ur k → ∞, so gilt f dμ = lim
k→∞
fk dμ.
Beweis: F¨ ur jedes m ∈ N w¨ahlen wir eine Folge gmk , k ∈ N, nichtnegativer und messbaur k → ∞. Die messbaren Elementarfunktionen rer Elementarfunktionen mit gmk ↑ fm f¨ hmk := max(g1k , . . . , gmk ) (Definition komponentenweise!) bilden sowohl in m als auch ur k → ∞. Damit folgt f¨ ur in k eine monoton wachsende Folge. Ferner gilt hmk ↑ fm f¨ jedes m ∈ N f = lim fk ≥ lim hkk ≥ lim hmk = fm k→∞
k→∞
k→∞
und somit hkk ↑ f f¨ ur k → ∞. Wegen hkk ≤ fk ↑ f ergibt sich aus der Definition von f dμ und der Monotonie des elementaren Integrals hkk dμ ≤ lim fk dμ ≤ f dμ f dμ = lim k→∞
k→∞
und damit die Behauptung des Satzes.
6.67 Satz. (Lemma von Fatou4 ) F¨ ur jede Folge fk : Ω → [0, ∞], k ∈ N, nichtnegativer messbarer Funktionen gilt lim inf fk dμ ≤ lim inf fk dμ. k→∞
k→∞
Beweis: F¨ ur die messbaren Funktionen gk := inf m≥k fm gilt gk ↑ lim inf m→∞ fm =: f f¨ ur k → ∞. Satz 6.66 u ¨ ber die monotone Konvergenz impliziert gk dμ = lim inf gk dμ ≤ lim inf fk dμ. f dμ = lim k→∞
k→∞
k→∞
Hierbei haben wir zuletzt die Ungleichungen gk ≤ fk , k ∈ N, und die Monotonie des Integrals benutzt.
6.2.19
Nullmengen
Eine Menge A ∈ A mit μ(A) = 0 heißt μ-Nullmenge . 6.68 Satz. (Integrierbarkeit und Nullmengen) Ist f : Ω → [0, ∞] eine A-messbare Funktion mit f dμ < ∞, so ist {f = ∞} eine μ-Nullmenge. 4
Pierre Joseph Louis Fatou (1978–1929), ab 1901 am astronomischen Observatorium in Paris. Hauptarbeitsgebiete (neben astronomischen Forschungen): Funktionentheorie, Funktionalgleichungen.
310
6 Das allgemeine Integral
Beweis: Aus der messbaren Zerlegung f = 1{f 0 die Gleichung
f dμ = ∞.
6.69 Satz. (Positivit¨at des Integrals) Ist f : Ω → [0, ∞] eine nichtnegative A-messbare Funktion, so gilt f dμ = 0 ⇐⇒ μ({f > 0}) = 0. Beweis: Wegen der Monotonie des Integrals ist nur =⇒“ zu beweisen. Es gelte also ” μ({f > 0}) > 0. F¨ ur die Mengen Ak := {f ≥ 1/k}, k ∈ N, gilt Ak ↑ {f > 0}, und aus Satz 6.53 (ii) folgt μ(Ak ) ↑ μ({f > 0}). Also gibt es ein k ∈ N mit μ(Ak ) > 0. Das Monotonieargument des vorangehenden Beweises zeigt f dμ ≥ μ(Ak ) · 1/k > 0.
6.2.20
Das Integral beliebiger messbarer Funktionen
¯ Wir definieren jetzt das Integral einer beliebigen messbaren Funktion f : Ω → R. Dazu benutzen wir die messbare Zerlegung (6.36). (i) Gilt f + dμ < ∞ oder f − dμ < ∞, so heißt f μ-quasiintegrierbar . In diesem Fall heißt + f dμ := f dμ − f − dμ μ-Integral von f . Es wird auch mit
f (ω) μ(dω) oder
f (ω) dμ(ω) be-
zeichnet. Die Funktion f heißt Integrand . (ii) Gilt
f + dμ < ∞ und
f − dμ < ∞, so heißt f μ-integrierbar .
Wir halten zun¨achst eine wichtige Eigenschaft der Integrierbarkeit fest: 6.70 Satz. (Absolute Integrierbarkeit) ¯ ist genau dann μ-integrierbar, wenn ihr Eine messbare Funktion f : Ω → R Betrag |f | μ-integrierbar ist. Beweis: Wegen f − ≤ |f | und f + ≤ |f | folgt aus der μ-Integrierbarkeit von |f | und der Montonie des Integrals in 6.2.17 die μ-Integrierbarkeit von f . Umgekehrt ergibt sich aus der μ-Integrierbarkeit von f und der Linearit¨at des Integrals in 6.2.17 die Integrierbarkeit von |f | = f − + f + .
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
6.2.21
311
Grundlegende Eigenschaften des Integrals
6.71 Satz. (Linearit¨at des Integrals) ¯ seien μ-integrierbar. Ferner seien α, β ∈ Die messbaren Funktionen f, g : Ω → R R. Dann ist αf + βg (falls auf ganz Ω definiert) μ-integrierbar, und es gilt
(αf + βg) dμ = α
f dμ + β
g dμ.
Beweis: F¨ ur den Fall, dass f , g, α und β s¨amtlich nichtnegativ sind, haben wir die Richtigkeit der Behauptung bereits in 6.2.17 erkannt. Im n¨ achsten Schritt zeigen wir, dass die Behauptung f¨ ur β = 0 richtig ist. Es gelte etwa α < 0. Dann folgt (αf )+ = |α|f − und (αf )− = |α|f + . Also ist αf μ-integrierbar, und es gilt − + − + αf dμ = |α|f dμ − |α|f dμ = |α| f dμ − f dμ = α f dμ. Mit Blick auf die bereits bewiesene Homogenit¨ atseigenschaft gen¨ ugt es jetzt, den Fall α = β = 1 zu betrachten. Nach Definition gilt (f + g)+ − (f + g)− = f + g = f + − f − + g + − g − , d.h. (f + g)+ + f − + g − = (f + g)− + f + + g + . (Weil f + g definiert sein soll, gilt diese Gleichung auch in den F¨allen (f + g)+ = ∞ und (f + g)− = ∞.) Integration beider Seiten dieser Gleichung ergibt unter Beachtung der Linearit¨ at f¨ ur nichtnegative Integranden + − − − + (f + g) dμ + f dμ + g dμ = (f + g) dμ + f dμ + g + dμ. (6.44) Sind f und g μ-integrierbar, so folgt aus der Monotonie des Integrals sowie den Ungleichungen (f +g)+ ≤ f + +g + und (f +g)− ≤ f − +g − die Integrierbarkeit von (f +g)+ und (f + g)− (und damit auch von f + g). Deshalb ergibt sich die Behauptung aus Umstellung von (6.44).
6.72 Satz. (Das Integral wird durch Nullmengen nicht beeinflusst) ¯ messbare und μ-quasiintegrierbare Funktionen. Ist {f > g} Es seien f, g : Ω → R eine μ-Nullmenge, so folgt f dμ ≤ g dμ. Ist {f = g} eine μ-Nullmenge, so folgt f dμ = g dμ. Beweis: Aus Satz 6.69 und der Definition des Integrals folgt 1A f dμ = 1A g dμ = 0, falls A eine μ-Nullmenge ist. Wir setzen zun¨ achst f ≥ 0 und g ≥ 0 voraus. Ist {f > g} eine μ-Nullmenge, so ergibt sich aus der Linearit¨at und der Monotonieaussage aus 6.2.17 f dμ = 1{f ≤g} f dμ ≤ 1{f ≤g} g dμ = g dμ.
312
6 Das allgemeine Integral
F¨ ur allgemeine f und g folgen aus f ≤ g die Ungleichungen f + ≤ g + und f − ≥ g − und somit {f + > g + } ∪ {f − < g − } ⊂ {f > g}. Mit {f > g} sind somit auch {f + > g + } und {f − < g − } μ-Nullmengen. Nach dem bereits bewiesenen Spezialfall folgt + − + − f dμ = f dμ − f dμ ≤ g dμ − g dμ = g dμ. Die zweite Behauptung ist eine direkte Folgerung aus der ersten.
Analog zu Satz 6.25 erh¨alt man aus der Monotonie des Integrals: 6.73 Satz. (Dreiecksungleichung) ¯ μ-integrierbar, so gilt Ist die A-messbare Funktion f : Ω → R f dμ ≤ |f | dμ.
6.2.22
Summation als Spezialfall der Integration
Wir betrachten das in Beispiel 6.58 eingef¨ uhrte diskrete Maß μ = F¨ ur jedes A ∈ A gilt 1A dμ = μ(A) = pω 1A (ω).
ω∈D
pω δω .
ω∈D
Wegen der Linearit¨at des Integrals folgt f dμ = pω f (ω)
(6.45)
ω∈D
f¨ ur jede A-messbare Elementarfunktion f . Wegen Satz 6.48 und Satz 6.66 u ¨ ber die monotone Konvergenz bleibt diese Gleichung f¨ ur jede A-messbare Funktion f : Ω → [0, ∞] richtig. Aus (6.45) und der Definition der μ-Integrierbarkeit folgt, ¯ genau dann μ-integrierbar dass eine beliebige A-messbare Funktion f : Ω → R ist, wenn pω |f (ω)| < ∞. Das Integral ergibt sich erneut nach (6.45). In diesem Sinne ist also Summation ein Spezialfall der Integration!
6.2.23
Der Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz
6.74 Satz. (Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz) ¯ k ∈ N, eine Folge messbarer Funktionen. Weiter seien Es sei fk : Ω → R, ¯ eine Funktion mit limk→∞ fk = f und g : Ω → R ¯ eine messbare f : Ω → R und μ-integrierbare Funktion mit |fk | ≤ g, k ∈ N. Dann ist f messbar und μintegrierbar, und es gilt fk dμ. f dμ = lim k→∞
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
313
Beweis: Satz 6.49 impliziert dieMessbarkeit von f . Aus den Voraussetzungen folgt auch |f | ≤ g. Deshalb ergibt sich aus g dμ < ∞ und Satz 6.72 die μ-Integrierbarkeit von fk , k ∈ N, und f . Wegen g + fk ≥ 0 erhalten wir aus dem Lemma von Fatou (g + f ) dμ ≤ lim inf (g + fk ) dμ = g dμ + lim inf fk dμ, k→∞
d.h.
d.h.
k→∞
f dμ ≤ lim inf k→∞ fk dμ. Analog folgt aus g − fk ≥ 0 (g − f ) dμ ≤ lim inf (g − fk ) dμ = g dμ + lim inf −fk dμ k→∞ k→∞ = g dμ − lim sup fk dμ, f dμ ≥ lim supk→∞
6.2.24
k→∞
fk dμ. Damit ist der Satz bewiesen.
Integrationsbereiche
¯ eine A-messbare Funktion und ist A ∈ A, so definiert man Ist f : Ω → R f dμ := 1A f dμ, A
falls 1A f μ-quasiintegrierbar ist. Man spricht auch vom Integral der Funktion f uber dem Integrationsbereich A. ¨ ¯ A-messbar, wenn die Menge Ist A ∈ A, so heißt eine Funktion f : A → R {ω ∈ A : f (ω) < c} f¨ ur jedes c ∈ R A-messbar ist. ¯ kann auf (mindestens) Das μ-Integral einer A-messbaren Funktion f : A → R zwei verschiedenen Wegen eingef¨ uhrt werden. So kann man durch den Ansatz fA (ω) := f (ω) f¨ ur ω ∈ A und fA (ω) := 0 f¨ ur ω ∈ / A eine A-messbare Funktion ¯ definieren. Das μ-Integral von f ist dann durch fA : Ω → R f dμ := fA dμ A
erkl¨art. So sind wir bereits beim Riemannschen Integral vorgegangen. Ein zweite Methode besteht darin, den Maßraum (A, A , μ ) mit A := {B ∩ A : B ∈ A} und μ (B) := μ(B ∩ A), also die sogenannte Einschr¨ankung von (Ω, A, μ) auf A zu betrachten. Weil die A-Messbarkeit von A -Messbarkeit von f ¨ aquivalent fA zur ist, kann das Integral A f dμ auch als f dμ eingef¨ uhrt werden. Der interessierte Leser sollte sich u ange zum selben Ergebnis f¨ uhren! ¨berlegen, warum beide Zug¨
6.2.25
Das Lebesguesche Integral
Wir betrachten hier den Maßraum (Rn , Ln , λn ) f¨ ur ein n ∈ N und zeigen, dass ¯ genau dann λn eine messbare (d.h. Lebesgue-messbare) Funktion f : Rn → R integrierbar ist, wenn sie im Sinne von 6.1.6 Lebesgue-integrierbar ist. In diesem
314
6 Das allgemeine Integral
Fall gilt die Gleichung
f dλn =
f (x) dx.
(6.46)
Außerdem beweisen wir Satz 6.22. Zun¨achst gelte f= cA 1A A∈H
mit einem endlichen oder abz¨ahlbar-unendlichen System H paarweise disjunkter Lebesgue-messbarer Mengen und Zahlen cA ∈ R, A ∈ H. Wir betrachten die Lebesgue-Partition Z ∗ := H ∪ {A0 } mit A0 := Rn \ A. A∈H
Ist Z eine Lebesgue-Partition mit Z Z ∗ , so gilt O(|f |; Z) < ∞ genau dann, wenn A∈H |cA |λn (A) < ∞. Diese Ungleichung ist ¨ aquivalent zur λn -Integrier ∗ ∗ n barkeit von |f |. Außerdem gilt U (f ; Z ) = O(f ; Z ) = f dλ und damit (6.46). Wir nehmen jetzt an, f sei Lebesgue-integrierbar und w¨ ahlen die LebesguePartition Z ∗ gem¨aß (6.11). F¨ ur jede Lebesgue-Partition Z folgt analog zu Satz 2.1 die Ungleichung U (|f |; Z) ≤ O(|f |; Z ∗ ) und somit sup{U (|f |; Z) : Z ist Lebesgue-Partition von Rn } < ∞.
(6.47)
Wir zeigen, dass f messbar und λn -integrierbar ist und beweisen Gleichung (6.46). Weil f Lebesgue-integrierbar ist, finden wir analog zu Satz 2.2 f¨ ur jedes k ∈ N onnen wir eine Lebesgue-Partition Zk mit O(f ; Zk ) − U (f ; Zk ) ≤ 1/k. Dabei k¨ o.B.d.A. die Beziehungen Zk+1 Zk Z ∗ annehmen. F¨ ur jedes k ∈ N definieren wir messbare Funktionen gk := inf f (A) · 1A , hk := sup f (A) · 1A . A∈Zk
A∈Zk
Dann gilt gk ≤ gk+1 ≤ f ≤ hk+1 ≤ hk . Ferner ist g := A∈Z ∗ sup |f |(A) 1A eine Majorante von fk und gk . Nach Wahl von Z ∗ sowie dem bereits bekannten Spezialfall von (6.46) ist n g dλ = g(x) dx < ∞. Die Funktionen g∞ := limk→∞ gk und h∞ := limk→∞ hk sind messbar, und es gilt g∞ ≤ f ≤ h∞ . Der Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz impliziert die λn -Integrierbarkeit von g∞ sowie n gk dλ = g∞ dλn . lim k→∞
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
315
Eine analoge Beziehung gilt f¨ ur h∞ . Andererseits erhalten wir nach Wahl von Zk hk dλn − gk dλn , (6.48) 0 = lim (O(f ; Zk ) − U (f ; Zk )) = lim k→∞
k→∞
d.h. (h∞ − g∞ ) dλn = 0. Nach Satz 6.13 ist {h∞ = g∞ } und damit auch {f = g∞ } eine Lebesguesche Nullmenge. Weil g∞ messbar ist, folgt die Messbarkeit von f aus Satz 6.21. Gleichung (6.46) ergibt sich aus g∞ dλn = f dλn (Satz 6.12) sowie (6.48). Es sei jetzt f eine messbare Funktion mit der Eigenschaft (6.47). F¨ ur jedes k ∈ N und j ∈ N0 setzen wir Ak,j := {j2−k ≤ |f | < (j + 1)2−k }. Dann ist k
fk := 2 1{|f |≥2k } +
2k −1 2
j=1
j · 1Ak,j , 2k
k ∈ N,
eine Folge messbarer Funktionen, die monoton wachsend gegen |f | konvergiert. Mit Zk := {{|f | ≥ 2k }} ∪ {Ak,j : j = 0, . . . , 22k } gilt fk dλn ≤ U (|f |; Zk ). Aus dem Satz 6.66 u ¨ ber die monotone Konvergenz und (6.47) folgt deshalb |f | dλn < ∞, d.h. die λn -Integrierbarkeit von f . Wir haben noch zu zeigen, dass eine messbare und λn -integrierbare Funkti¯ auch Lebesgue-integrierbar ist und die entsprechenden Inteon f : Rn → R grale u onnen wir nach Satz ¨ bereinstimmen. Wegen der Integrierbarkeit von f k¨ 6.11 o.B.d.A. annehmen, dass f nur reelle Werte annimmt. Ferner nehmen wir zus¨ atzlich an, dass f nur nichtnegative Werte annimmt. Die Behandlung des allgemeinen Falls erfordert lediglich mehr Schreibaufwand. F¨ ur alle k, j ∈ N setzen wir Ak,j := {j2−k ≤ f < (j + 1)2−k },
Bk,j := {2−k(j+1) ≤ f < 2−kj }.
Dann ist Zk := {Ak,j : j ∈ N} ∪ {Bk,j : j ∈ N} eine Lebesgue-Partition. Die messbaren Funktionen gk := hk :=
∞ j=1 ∞ j=1
j2−k 1Ak,j +
∞
2−k(j+1) 1Bk,j ,
j=1
(j + 1)2−k 1Ak,j +
∞
2−kj 1Bk,j
j=1
haben die Eigenschaft gk ≤ gk+1 ≤ f ≤ hk+1 ≤ hk sowie n U (f ; Zk ) ≥ gk dλ , O(f ; Zk ) ≤ hk dλn .
316
6 Das allgemeine Integral
Ferner gilt ∞ ∞ −k n −k (j + 1)2 1Ak,j dλ = j2 1Ak,j dλn + 2−k λn ({f ≥ 2−k }). j=1
j=1
Aus der von gk und λn ({f ≥ 2−k }) < ∞ (sonst w¨ are f nicht integrierbar!) ergibt sich damit, dass hk λn -integrierbar ist.Aus majorisierter Konvergenz erhalten wir deshalb limk→∞ gk dλn = limk→∞ hk dλn = f dλn und damit auch lim U (f ; Zk ) = lim O(f ; Zk ) = f dλn . λn -Integrierbarkeit
k→∞
k→∞
Daraus folgen sowohl die Lebesgue-Integrierbarkeit von f als auch (6.46).
6.2.26
Maße mit Dichten
Der folgende Satz wird in Kapitel 9 eine wichtige Rolle spielen. 6.75 Satz. (Integration und Maße mit Dichten) Es seien (Ω, A, μ) ein Maßraum und f : Ω → [0, ∞) eine A-messbare Funktion. Dann ist die durch f dμ, A ∈ A, (6.49) ν(A) := A
definierte Funktion ν : A → [0, ∞] ein Maß auf (Ω, A), und f¨ ur jede A-messbare Funktion h : Ω → [0, ∞] gilt h dν = h · f dμ. (6.50) ¯ ist genau dann ν-integrierbar, Eine beliebige A-messbare Funktion h : Ω → R wenn das Produkt hf integrierbar bzgl. μ ist. In diesem Fall gilt ebenfalls (6.50).
Beweis: Wegen A f dμ := 1A f dμ (vgl. 6.2.24) ist ν wohldefiniert, und es gilt ν(∅) = 0. Die σ-Additivit¨ at von ν folgt aus dem Satz u ur ¨ber die monotone Konvergenz, denn f¨ paarweise disjunkte Mengen A1 , A2 , . . . ∈ A gilt ⎛ ⎞ n n ∞ ∞ ν⎝ 1Aj dμ = Aj ⎠ = 1Aj dμ = lim ν(Aj ). lim
j=1
n→∞
j=1
n→∞
j=1
j=1
ur IndikatorfunktioWegen 1A dν = ν(A) = 1A f dμ, A ∈ A, gilt Gleichung (6.49) f¨ nen und somit wegen der Linearit¨at des Integrals auch f¨ ur A-messbare Elementarfunktionen. F¨ ur beliebige nichtnegative A-messbare Funktionen ergibt sich die Behauptung aus Satz 6.48 und dem Satz u ¨ ber monotone Konvergenz. Ist h eine beliebige A-messbare Funktion, so gilt h+ dν = h+ f dμ und h− dν = h− f dμ, so dass die letzte Behauptung aus der Definition der Integrierbarkeit folgt.
Unter den Voraussetzungen von Satz 6.75 heißt f (eine) μ-Dichte von ν.
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
6.2.27
317
Der Satz von Fubini
Es sei (Ω, A, μ) ein Maßraum. Das Maß μ heißt σ-endlich , wenn es eine Folge (Ak )k≥1 messbarer Mengen gibt, so dass ∪∞ ur jedes k=1 Ak = Ω und μ(Ak ) < ∞ f¨ k ∈ N gilt. In diesem Fall heißt (Ω, A, μ) σ-endlicher Maßraum . Die σ-Endlichkeit eines Maßes ist keine sehr einschr¨ ankende Voraussetzung. So ist das Lebesgue-Maß offenbar σ-endlich. Es gibt eine F¨ ulle weiterer Beispiele: 6.76 Beispiel. (Maße mit Dichten) Wir betrachten das durch (6.49) definierte Maß ν und setzen voraus, dass μ σendlich ist. Also gibt es messbare Mengen Ak ∈ A, k ∈ N, mit μ(Ak ) < ∞ f¨ ur jedes k ∈ N. F¨ ur die Mengen Bk,m := Ak ∩ {f ≤ m}, k, m ∈ N, gilt ν(Bk,m ) = 1Ak 1{f ≤m} f dμ ≤ m 1Ak 1{f ≤m} dμ ≤ mμ(Ak ) < ∞. Also ist auch ν σ-endlich. 6.77 Satz. (Allgemeiner Satz von Fubini) Es seien (Ω1 , A1 , μ1 ) und (Ω2 , A2 , μ2 ) σ-endliche Maßr¨aume sowie Ω := Ω1 × Ω2 und A := σ({A1 × A2 : A1 ∈ A1 , A2 ∈ A2 }).
(6.51)
Dann gibt es ein eindeutig bestimmtes Maß μ auf (Ω, A) mit μ(A1 × A2 ) = μ1 (A1 ) · μ(A2 ),
A1 ∈ A1 , A2 ∈ A2 .
(6.52)
ur jedes ω2 ∈ Ω2 A1 -messbar, und Ist f : Ω :→ [0, ∞] A-messbar, so ist f (·, ω2 ) f¨ f (ω1 , ·) μ1 (dω1 ) ist A2 -messbar. Ferner gilt f (ω)μ(dω) = f (ω1 , ω2 ) μ1 (dω1 ) μ2 (dω2 ) = f (ω1 , ω2 ) μ2 (dω2 ) μ1 (dω1 ). (6.53) wenn Eine A-messbare Funktion f : Ω → R ist genau dann μ-integrierbar, |f (ω1 , ·)| μ1 (dω1 ) μ2 -integrierbar ist, bzw. genau dann, wenn |f (·, ω2 )| μ2 (dω2 ) μ1 -integrierbar ist. In diesem Fall gilt (6.53). (Sind die inneren Integrale nicht definiert, so kann ihnen der Wert 0 zugewiesen werden.) Beweis: Wir nehmen an, dass μ1 (Ω1 ) < ∞ und μ2 (Ω2 ) < ∞ gilt. Wegen der vorausgesetzten σ-Endlichkeit kann n¨amlich der allgemeine Fall darauf zur¨ uckgef¨ uhrt werden. Die Details dieser Reduktion k¨onnen wir hier unterschlagen. Die behaupteten Messbarkeitsaussagen sind offensichtlich richtig, falls f von der Form ur ein A1 ∈ A1 und ein A2 ∈ A2 ist. Weil {A1 × A2 : A1 ∈ A1 , A2 ∈ A2 } f = 1A1 ×A2 f¨ ein durchschnittsstabiler Erzeuger von A ist, liefert der monotone Klassensatz 6.46 die
318
6 Das allgemeine Integral
G¨ ultigkeit dieser Aussagen auch f¨ ur Indikatorfunktionen beliebiger Mengen aus A (vgl. auch den Beweis von Satz 6.59). Im allgemeinen Fall erhalten wir die Messbarkeitssaussagen aus Satz 6.48. Wir definieren jetzt μ(A) := 1A (ω1 , ω2 ) μ2 (dω2 ) μ1 (dω1 ), A ∈ A. Offenbar ist μ ein Maß auf (Ω, A), welches nach Definition die Eigenschaft (6.52) besitzt. Andererseits kann es nach Satz 6.59 nur ein Maß mit dieser Eigenschaft geben. Insbesondere folgt μ(A) = 1A (ω1 , ω2 ) μ1 (dω1 ) μ2 (dω2 ), A ∈ A, ur eine beliebige messbare Funktion f : Ω :→ und somit (6.53) f¨ ur den Fall f = 1A . F¨ [0, ∞] folgt (6.53) aus der Linearit¨at der Integrale, Satz 6.48 und Satz 6.66 u ¨ ber die monotone Konvergenz. Es sei jetzt f : Ω → R eine messbare Funktion. Die behauptete Charakterierung der μ-Integrierbarkeit ergibt sich durch Anwendung von (6.53) auf |f |. Wegen Satz 6.68 ist N1 := {ω1 ∈ Ω1 : |f (ω1 , ω2 )| μ2 (dω2 ) = ∞} eine μ1 -Nullmenge und die analog definierte Menge N2 ∈ A2 eine μ2 -Nullmenge. Wir definieren eine messbare Funktion g : Ω → R durch g(ω1 , ω2 ) := f (ω1 , ω2 ) falls ω ∈ / N1 und ω ∈ / N2 und durch g(ω1 , ω2 ) := 0, sonst. Wegen der Eigenschaften von N1 und N2 ist {f = g} eine μ-Nullmenge. Gleichung (6.53) kann jetzt auf g + und g − angewendet werden. Ziehen wir die Ergebnisse voneinander ab, so folgt (6.53) zun¨achst mit g an Stelle von f . Nach Satz (6.72) kann aber g durch f ersetzt werden. Damit sind alle Behauptungen des Satzes bewiesen.
Unter den Voraussetzungen und mit den Bezeichnungen von Satz 6.77 nennt man die in (6.51) definierte σ-Algebra A das Produkt der σ-Algebren A1 und A2 und schreibt A1 ⊗ A2 := A. Das Maß μ1 ⊗ μ2 := μ heißt Produktmaß von μ1 und μ2 . 6.78 Beispiel. (Der Satz von Fubini f¨ ur das Lebesgue-Integral) ur gegebene m, n ∈ Wir betrachten die Maßr¨aume (Rm , B m , λm ) und (Rn , B n , λn ) f¨ N. Streng genommen bezeichnet hier λm die Einschr¨ ankung des ¨ außeren Maßes m m λ auf B oder auch die Einschr¨ankung des Lebesgue-Maßes von Lm auf B m (vgl. 6.2.14). Aus Satz 6.47 folgt B m+n = B m ⊗ B n .
(6.54)
Ferner gilt λm+n (A) = λm ⊗ λn (A),
A ∈ B m+n .
Nach Definition von λm ⊗ λn gilt diese Gleichung f¨ ur Quader. Eine einfache Verallgemeinerung von Satz 6.59 auf σ-endliche Maße zeigt die G¨ ultigkeit der
6.2 Grundz¨ uge der Maßtheorie
319
ur den Beweis Gleichung f¨ ur jedes A ∈ Bm+n . (Diese Argumentation wurde schon f¨ der Eindeutigkeitsaussage in Satz 6.77 benutzt.) ¨ Ber¨ ucksichtigen wir die obigen Uberlegungen, so ergibt sich aus dem allgemeinen Satz 6.77 von Fubini die spezielle Version des Satzes 6.34 zun¨ achst f¨ ur ¯ (F¨ B m+n -messbare Funktionen f : Rm+n → R. ur die Anwendungen ist dieser ¯ Lebesgue-messbar, so findet man mittels Fall ausreichend.) Ist f : Rm+n → R Satz 6.61 und Approximation durch messbare Elementarfunktionen eine B m+n ¯ so dass {f = g} eine λm+n -Nullmenge ist. messbare Funktion g : Rm+n → R, Somit erhalten wir aus Satz 6.72 (unter den entsprechenden Voraussetzungen der Nichtnegativit¨at oder Integrierbarkeit) f (z) dz = g(x, y ) d(x, y ) = g(x, y ) dx dy . (6.55) Weil {f = g} eine λm+n -Nullmenge ist, ist die Menge aller y ∈ Rn mit der Eigenschaft λm ({x ∈ Rm : g(x, y ) = f (x, y )}) > 0 eine λn -Nullmenge. (Diese technische Aussage u ¨ber Lebesguesche Nullmengen in Rm+n soll hier nicht bewiesen werden. Sie ergibt sich beispielsweise aus Satz 6.43.) Damit ist die rechte Seite von (6.55) gleich f (x, y ) dx dy . Satz 6.34 ist also auch f¨ ur Lebesgue-messbare Funktionen richtig.
6.2.28
Allgemeine Lp-R¨ aume
Wir fixieren einen Maßraum (Ω, A, μ) und bezeichnen analog zu 6.1.16 f¨ ur p ≥ 1 mit Lp (μ) die Menge aller A-messbaren Funktionen f : Ω → R mit |f |p dμ < ∞. Auch in diesem allgemeinen Rahmen gelten die H¨ oldersche Ungleichung (Satz 6.28) und die Minkowski-Ungleichung (Satz 6.29). Die Beweise sind w¨ ortlich dieselben. Wieder ist es u ur die {f = g} eine ¨blich, zwei Funktionen f, g ∈ Lp (μ), f¨ μ-Nullmenge ist, miteinander zu identifizieren. Aus der Minkowski-Ungleichung und Satz 6.69 folgt dann, dass die Abbildung 1/p p |f | dμ f → f p := eine Norm auf dem reellen Vektorraum Lp (μ) ist. Wir beweisen jetzt Satz 6.30. 6.79 Satz. (Vollst¨andigkeit von Lp ) F¨ ur jedes p ≥ 1 ist der Raum Lp (μ) vollst¨andig. Beweis: Es sei (fk ) eine Cauchy-Folge in Lp (μ). Wir konstruieren ein f ∈ Lp (μ) mit f − fm p → 0 f¨ ur m → ∞. Zun¨achst gibt es eine Teilfolge (nk )k≥1 der nat¨ urlichen Zahlen mit fnk+1 − fnk p ≤ 2−k , k ∈ N. Aus dem Satz u ¨ ber monotone Konvergenz und der H¨ olderschen Ungleichung folgt ∞ m m |f − f | = lim |f − f | ≤ lim fnk+1 − fnk p < ∞. nk+1 nk nk+1 nk m→∞ m→∞ k=1
p
k=1
p
k=1
320
6 Das allgemeine Integral
∞ Wegen Satz 6.68 ist die Menge A aller ω ∈ Ω, f¨ ur die k=1 |fnk+1 (ω) − fnk (ω)| nicht konvergiert, eine μ-Nullmenge. Insbesondere ist die Folge (fnk (ω))k≥1 f¨ ur jedes ω ∈ / A eine (reelle) Cauchy-Folge, deren Grenzwert mit f (ω) bezeichnet werde. F¨ ur ω ∈ A setzen wir f (ω) := 0. Nach Satz 6.49 ist die so definierte Funktion f A-messbar. Das Lemma von Fatou zeigt f¨ ur jedes m ∈ N f − fm p ≤ lim inf fnk+1 − fm p ≤ sup{fl − fm p : l ≥ m}. k→∞
Nach Voraussetzung konvergiert die rechts stehende Folge f¨ ur m → ∞ gegen 0. Weil f = (f − fm ) + fm die Summe zweier Funktionen aus Lp (μ) ist, gilt f ∈ Lp (μ).
Lernziel-Kontrolle • Wie ist das a¨ußere Lebesguesche Maß einer Menge definiert? • Wann heißt eine Teilmenge des Rn Lebesgue-messbar? • Was ist das Lebesgue-Maß? • Was ist eine Lebesgue-Partition? • Wann heißt eine Funktion Lebesgue-integrierbar? ¯ erkl¨ • Wie ist die Messbarkeit einer Funktion f : M → R art? • Was ist eine Lebesguesche Nullmenge? • K¨ onnen Sie Eigenschaften des Lebesgue-Integrals angeben? • Wie ist das Integral komplexwertiger Funktionen definiert? • Was besagt der Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz? • Was ist ein Lp -Raum? • Was bedeutet die Vollst¨andigkeit eines Lp -Raumes? • Was besagen die Ungleichungen von H¨older und Minkowski? • Wie ist der Integralsinus definiert? • Was versteht man unter der Faltung zweier Funktionen? • Welche Eigenschaften hat eine σ-Algebra? • Wie ist die Borelsche σ-Algebra u ¨ ber Rn definiert? • Was versteht man unter einem Maß und einem Maßraum? • Was sind der Positivteil und der Negativteil einer Funktion? • Was ergibt sich als Integral einer Elementarfunktion? • Welche Funktionen kann man integrieren? • Unter welchen Bedingungen k¨onnen Integral und Grenzwert vertauscht werden?
Kapitel 7
Fourieranalyse Il r´esulte de tout ce qui a ´et´e d´emontr´e dans cette section, concernant le d´evelloppement des fonctions en s´eries trigonom´etriques que si l’on suppose une fonction f (x), dont la valeur est r´epresent´ee dans un intervalle d´etermin´e depuis x = 0 jusqu’` a x = x, par l’ordon´ee d’une ligne courbe trac´ee arbitrairement, on pourra toujours d´evellopper une fonction en une s´erie qui ne contiendra que les sinus ou les cosinus, ou les sinus et les cosinus d’arcs multiples ...
Jean Baptiste Joseph Fourier
Mit den trigonometrischen Funktionen t → a cos(ωt) und t → a sin(ωt) k¨ onnen sogenannte harmonische Schwingungen beschrieben werden (Bild 7.1). Dabei wird das Argument t als Zeit interpretiert. Die Zahlen a ≥ 0 und ω > 0 heißen Amplitude bzw. Kreisfrequenz der Schwingung. Im Sinne der folgenden Definition sind diese Funktionen periodisch mit der Periode 2π/ω. Eine Funktion f : R → C heißt periodisch mit der Periode T > 0 oder kurz T -periodisch, falls f (t + T ) = f (t), t ∈ R. Die Fourier1 -Analyse behandelt die Frage, unter welchen Bedingungen eine pe¨ riodische Funktion durch Uberlagerung (m¨oglicherweise unendlich vieler) harmo1
Jean Baptiste Joseph Fourier (1768–1830). Fourier f¨ uhrte ein bewegtes Leben in der Zeit der franz¨ osischen Revolution. Der Sohn eines Schneiders war w¨ ahrend der Revolution in Auxerres abwechselnd Gefangener und Pr¨ asident des Revolutionskomitees. Mit Napoleon ging er nach ¨ Agypten, wurde nach Napoleons R¨ uckzug von den Engl¨ andern gefangen gehalten, konnte aber mit den Expeditionsberichten nach Frankreich zur¨ uckkehren. Als Pr¨ afekt des Departements Is`ere vollendete er die Trockenlegung der S¨ umpfe bei Lyon und rottete dadurch dort die Malaria aus. 1822 wurde Fourier st¨ andiger Sekret¨ ar der Acad´emie des Sciences. Im gleichen Jahr wurde sein Buch Th´ eorie analytique de la chaleur publiziert, nach dessen Erscheinen Temperatur und W¨ armetransport mit Hilfe von Fourierreihen und Fourierintegralen berechenbar waren. N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_7, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
322
7 Fourieranalyse
nischer Schwingungen mit derselben Periode darstellbar ist. Dieses Problem hat in der historischen Entwicklung der modernen Mathematik eine bedeutende Rolle gespielt. Heute geh¨ort die Fourier-Analyse zu den unentbehrlichen Hilfsmitteln der Mathematik und deren Anwendungen, wie z.B. der Signalverarbeitung. f (t) 2π/ω a t
Bild 7.1: Harmonische Schwingungen mit Amplitude a und Kreisfrequenz ω —— : f (t) = a sin(ωt), - - - - : f (t) = a cos(ωt)
7.1
Fourierreihen
In diesem Abschnitt geht es um die Darstellung periodischer Funktionen mittels sogenannter trigonometrischer Reihen. Wie allgemein u ¨blich werden auch wir ausschließlich 2π-periodische Funktionen betrachten. Diese Spezialisierung bedeutet keine Einschr¨ankung der Allgemeinheit. Ist n¨ amlich f eine T -periodische Funktion, so besitzt t → f (T · t/2π) die Periode 2π.
7.1.1
Trigonometrische Reihen
Eine trigonometrische Reihe ist eine unendliche Reihe der Gestalt ∞
a0 + (an cos(nt) + bn sin(nt)), 2 n=1
t ∈ R.
(7.1)
Dabei sind die Koeffizienten an , n ∈ N0 , und bn , n ∈ N, komplexe Zahlen. Ist diese Reihe f¨ ur jedes t ∈ R konvergent, so definiert sie eine 2π-periodische Funktion. Konvergenzfragen werdensp¨ater behandelt. Es ist jedoch klar, dass obige Reihe unter der Voraussetzung ∞ n=1 (|an | + |bn |) < ∞ absolut konvergiert. Eine zu (7.1) ¨ aquivalente Darstellung ist ∞
cn eint ,
t ∈ R,
(7.2)
n=−∞
mit geeigneten komplexen Koeffizienten cn∈ C, n ∈ Z. Dabei verstehen wir unter int f¨ (7.2) den Grenzwert der Partialsummen m ur m → ∞. Der Grund n=−m cn e
7.1 Fourierreihen
323
f¨ ur diese spezielle Summationsvorschrift ist der folgende: Bestehen zwischen den Koeffizienten die Beziehungen 1 cn = (an − ibn ), 2
1 c−n = (an + ibn ), 2
n ∈ N0
(7.3)
(hierbei haben wir b0 := 0 gesetzt), so gilt m m a0 (an cos(nt) + bn sin(nt)) = cn eint . + 2 n=−m n=1
Diese Gleichung folgt aus der Eulerschen Formel eix = cos x + i sin x sowie den Symmetriebeziehungen cos(−x) = cos(x) und sin(−x) = − sin(x). Danach gilt cn eint + c−n e−int = an cos(nt) + bn sin(nt),
n ∈ N0 .
¨ Aquivalent zu (7.3) sind die Gleichungen bn = i(cn − c−n ),
an = cn + c−n ,
7.1.2
n ∈ N0 .
(7.4)
Fourierkoeffizienten und Fourierreihen
Im gesamten Abschnitt 7.1 bezeichne Lπ die Menge aller 2π-periodischen Funktionen f : R → C, die auf dem Intervall [−π, π] (Lebesgue-)integrierbar sind, f¨ ur die also gilt: π
−π
|f (t)| dt < ∞.
Wir stellen uns die Frage, welche Funktionen aus Lπ durch eine trigonometrische Reihe der Gestalt (7.1) (bzw. (7.2)) darstellbar sind. Dazu ist zun¨ achst zu onnen. kl¨aren, wie die Koeffizienten an , bn und cn bestimmt werden k¨ Zu diesem Zweck werde angenommen, dass f¨ ur gegebene komplexe Zahlen . . . c−2 , c−1 , c0 , c1 , c2 , . . . durch die Festsetzung f (t) :=
∞
cn eint ,
t ∈ R,
(7.5)
n=−∞
eine stetige (und offenbar 2π-periodische) Funktion definiert wird. Wir fixieren eine nat¨ urliche Zahl m und bilden das Integral von f (t)e−imt u ¨ber dem Intervall [−π, π]. Dabei sei vorausgesetzt, dass die Reihenfolge von Integration und Summation vertauscht werden kann. Nach Satz I.7.17 ist diese Vertauschung erlaubt, falls die Partialsumme kn=−k cn eint auf [−π, π] gleichm¨ aßig gegen f (t) konvergiert. Es folgt dann π π ∞ 1 1 −imt f (t)e dt = cn · eint e−imt dt. (7.6) 2π −π 2π −π n=−∞
324
7 Fourieranalyse
An dieser Stelle machen wir Gebrauch von den Orthogonalit¨atsrelationen π 1, falls m = n, 1 eint e−imt dt = 2π −π 0, falls m = n.
(7.7)
Diese Gleichungen folgen (durch Aufspaltung in Real- und Imagin¨ arteil, vgl. 6.1.12) f¨ ur m = n aus eint e−imt = 1 und f¨ ur m = n aus π 1 1 (ei(n−m)π − e−i(n−m)π ) = 0. ei(n−m)t dt = 2π −π 2πi(n − m) Die letzte Beziehung ist auch eine direkte Konsequenz der Periodizit¨ at der Funktion t → eiπt . Einsetzen von (7.7) in (7.6) motiviert die folgende Definition: F¨ ur jedes f ∈ Lπ heißen die komplexen Zahlen 1 π an (f ) := f (t) cos(nt) dt, n ∈ N0 , (7.8) π −π π 1 f (t) sin(nt) dt, n ∈ N0 , (7.9) bn (f ) := π −π π 1 cn (f ) := f (t)e−int dt, n ∈ Z, (7.10) 2π −π die Fourierkoeffizienten von f . Man beachte, dass an (f ) und bn (f ) reell sind, falls f eine reellwertige Funktion ist. Die Definition dieser Koeffizienten erkl¨ art sich durch (7.10) und den zu (7.4) analogen Gleichungen an (f ) = cn (f ) + c−n (f ),
bn (f ) = i(cn (f ) − c−n (f )),
n ∈ N0 .
F¨ ur jedes f ∈ Lπ heißt die trigonometrische Reihe S(f ; t) :=
∞
cn (f )eint ,
t ∈ R,
(7.11)
n=−∞
die Fourierreihe von f (an der Stelle t) und deren k-te Partialsumme Sk (f ; t) :=
k n=−k
a0 (f ) = (an (f ) cos(nt) + bn (f ) sin(nt)) + 2 k
int
cn (f )e
n=1
die k-te Fourierapproximation (k ∈ N) von f (an der Stelle t). Man schreibt S(f ; t) = z, falls die Folge der k-ten Fourierapproximationen an der Stelle t gegen den Grenzwert z konvergiert. L¨ asst sich aber eine Funktion f ∈ ur jedes Lπ u ¨ berhaupt durch ihre Fourierreihe darstellen, gilt also f (t) = S(f ; t) f¨
7.1 Fourierreihen
325
t ∈ R? In der Sprache der Signalanalyse lautet diese Frage: L¨ asst sich ein Signal, das im Zeitbereich [−π, π] durch die Funktion f modelliert ist, gem¨ aß (7.5) durch ¨ Uberlagerung von m¨oglicherweise unendlich vielen harmonischen Schwingungen, deren Kreisfrequenzen Vielfache einer Grundfrequenz (im obigen Fall =1) sind, in seine Frequenzanteile zerlegen? Es ist nicht zu erwarten, dass obige Frage in allen F¨ allen positiv beantwortet werden kann. Wegen Satz 6.12 ¨andert sich n¨ amlich die Fourierreihe einer integrierbaren Funktion f nicht, wenn man die Funktionswerte von f an endlich oder abz¨ahlbar unendlich vielen Stellen modifiziert. Man ben¨ otigt also zus¨ atzliche Voraussetzungen an f . Zun¨achst sollen aber grundlegende Eigenschaften der Fourierkoeffizienten diskutiert sowie einige Beispiele f¨ ur Fourierreihen vorgestellt werden.
7.1.3
Eigenschaften der Fourierkoeffizienten
Eine Funktion f : R → C heißt gerade bzw. ungerade , falls f (−t) = f (t) bzw. f (−t) = −f (t) f¨ ur jedes t ∈ R gilt (vgl. auch I.6.11). Ist f ∈ Lπ ungerade, so liefert eine Anwendung von Satz 6.26 auf die Transformation T (t) := −t a 0 0 f (t) dt = f (−t) dt = − f (t) dt, a > 0, a
0
−a
−a
ur jedes a > 0. Ist dagegen f ∈ Lπ gerade, so folgt und somit −a f (t) dt = 0 f¨ a a ur jedes a > 0. Weil das Produkt einer geraden und −a f (t) dt = 2 0 f (t) dt f¨ einer ungeraden Funktion ungerade ist und das Produkt zweier gerader (oder zweier ungerader) Funktionen eine gerade Funktion liefert, erhalten wir jetzt direkt aus den Definitionen (7.8) und (7.9): 7.1 Satz. (Fourierkoeffizienten gerader und ungerader Funktionen) Es sei f eine Funktion aus Lπ . Ist f gerade, so gilt bn (f ) = 0 und 2 π an (f ) = f (t) cos(nt) dt, n ∈ N0 . π 0 Ist f ungerade, so gilt an (f ) = 0 und 2 π f (t) sin(nt) dt, bn (f ) = π 0
n ∈ N0 .
Aus der Definition und der Linearit¨at des Integrals ergeben sich nachstehende Eigenschaften der Fourierkoeffizienten. 7.2 Satz. (Linearit¨at der Fourierkoeffizienten) F¨ ur alle f, g ∈ Lπ und alle λ, μ ∈ C gilt cn (λf + μg) = λcn (f ) + μcn (g),
n ∈ Z.
326
7 Fourieranalyse
7.1.4
Beispiele von Fourierreihen
Zu jeder Funktion f : [−π, π) → C gibt es genau eine 2π-periodische Funktion f˜ : R → C, die mit f auf [−π, π) u amlich ¨ bereinstimmt, n¨ f˜(t) := f (t − 2kπ), t ∈ [(2k − 1)π, (2k + 1)π), k ∈ Z. Man nennt f˜ die periodische Fortsetzung von f . Zur Vereinfachung der Notation schreiben wir im Folgenden kurz f = f˜. y π
−3π
3π x
−π
Bild 7.2: Fourierapproximationen der S¨ agezahn-Funktion In den nachstehenden Beispielen bezeichnet f : R → R eine (durch ihre Werte auf dem Intervall [−π, π) festgelegte) 2π-periodische Funktion. 7.3 Beispiel. (S¨agezahn-Funktion) Durch periodische Fortsetzung der Funktion t, falls |t| < π, f (t) := 0, falls |t| = π, wird die sog. S¨agezahn-Funktion definiert (Bild 7.2). Weil f ungerade ist, folgt aus Satz 7.1 an (f ) = 0, n ∈ N0 . Ferner erhalten wir mittels partieller Integration 2 π t sin(nt) dt bn (f ) = π 0 π π 2 2 =− cos(nt) dt · t cos(nt) + nπ nπ 0 0 2 n ∈ N. = (−1)n+1 · , n Gilt t = kπ f¨ ur ein k ∈ Z, so ist S(f ; t) = 0 = f (t). F¨ ur t ∈ / {kπ : k ∈ Z} wird sich aus Satz 7.11 die Beziehung S(f ; t) = f (t) ergeben. Also gilt sin t sin 2t sin 3t t=2 − + − +... , |t| < π. 1 2 3
7.1 Fourierreihen
327
ur k = 1 (gepunktete Kurve), Bild 7.2 zeigt die Fourierapproximationen Sk (f ; t) f¨ k = 3 (gestrichelte Kurve) und k = 5 (durchgezogene Kurve). y 1 −3π
•
•
•
•
•
3π x
−1
Bild 7.3: Fourierapproximationen der Rechteckschwingung
7.4 Beispiel. (Rechteckschwingung bzw. Vorzeichen-Funktion) Die periodische Fortsetzung der durch ⎧ ⎪ falls 0 < t < π, ⎨1, f (t) := 0, falls t ∈ {−π, 0, π}, ⎪ ⎩ −1, falls −π < t < 0, definierten Abbildung heißt Rechteckschwingung oder Vorzeichen-Funktion (Bild 7.3). Wie in Beispiel 7.3 folgen aus Satz 7.1 die Gleichungen an (f ) = 0, n ∈ N0 . Ferner gilt f¨ ur n ∈ N π 4 , falls n ungerade, 2 π 2 sin nt dt = − cos nt = nπ bn (f ) = π 0 nπ 0 0, falls n gerade. Also ist
4 S(f ; t) = π
sin t sin 3t sin 5t + + + ... . 1 3 5
Gilt t = kπ f¨ ur ein k ∈ Z, so folgt S(f ; t) = 0 = f (t). F¨ ur alle anderen Werte von t ergibt sich mit Satz 7.11 die Gleichung S(f ; t) = f (t). F¨ ur t = π/2 erhalten wir speziell 1 1 1 π = 1 − + − + −..., 4 3 5 7 eine Reihe, die bereits aus I.6.9.3 bekannt ist. Bild 7.3 zeigt die Fourierapproximation Sk (f ; t) der Rechteckschwingung f¨ ur k = 1 (gepunktete Kurve), k = 3 (gestrichelte Kurve) und k = 5 (durchgezogene Kurve).
328
7 Fourieranalyse y
−3π
3π
x
Bild 7.4: Fourierapproximationen der Betragsfunktion
7.5 Beispiel. (Der Absolutbetrag) Bild 7.4 zeigt die periodisch fortgesetzte Absolutbetrag-Funktion f (t) := |t|, |t| ≤ π, als Zickzack-Kurve“. Wegen Satz 7.1 ist bn (f ) = 0, n ∈ N0 . Ferner erhalten ” wir 2 π a0 (f ) = t dt = π, π 0 und f¨ ur n ∈ N
2 π an (f ) = t cos nt dt π 0 π π 2 2 sin nt dt · t sin nt − = nπ nπ 0 0 π −4/n2 π, falls n ungerade, 2 = 2 · cos nt = n π 0 0, falls n gerade.
Aus Satz 7.11 folgt 4 π |t| = − 2 π
cos t cos 3t cos 5t + + + ... , 1 32 52
|t| ≤ π.
(7.12)
F¨ ur t = 0 ergibt sich hier die interessante Reihe 1 1 1 π2 = 1 + 2 + 2 + 2 + .... 8 3 5 7
(7.13)
Bild 7.4 veranschaulicht die Fourierapproximationen S1 (f ; t) (gepunktete Linie) und S3 (f ; t) (durchgezogene Linie) der Zickzack-Kurve“. Die verbl¨ uffende G¨ ute ” ¨ der Ubereinstimmung von S3 (f ; t) mit f (t) liegt an der im Vergleich zu den fr¨ uheren Beispielen h¨oheren Konvergenzgeschwindigkeit der Fourierapproximationen. Ursache ist das quadratische Anwachsen des Nenners in (7.12).
7.1.5
Stu ¨ ckweise differenzierbare komplexwertige Funktionen
¨ In Ubereinstimmung mit 1.7.1 heißt eine auf einer Menge D ⊂ R definierte komplexwertige Funktion f : D → C differenzierbar in einem Punkt t ∈ D, wenn dort
7.1 Fourierreihen
329
sowohl Real- als auch Imagin¨arteil von f differenzierbar sind. Unter der Ableitung f (t) von f an der Stelle t versteht man dann die komplexe Zahl f (t) := (Re f ) (t) + i(Im f ) (t). Die Funktion f heißt differenzierbar (auf D), wenn sie in jedem Punkt differenzierbar ist. In diesem Fall heißt f : D → C, t → f (t), Ableitung von f (auf D). F¨ ur jedes n ∈ N wird die n-fache (stetige) Differenzierbarkeit von f v¨ ollig analog zum reellen Fall erkl¨art (vgl. I.6.6.12). uckweise stetig differenzierbar , falls es eine Eine Funktion f : D → C heißt st¨ Menge A ⊂ D gibt, so dass die folgenden Eigenschaften erf¨ ullt sind: (i) f ist auf D \ A stetig differenzierbar. (ii) Re f , Im f , Re f und Im f besitzen in jedem Punkt aus A einseitige Grenzwerte. (iii) A ∩ [−r, r] ist f¨ ur jedes r ≥ 0 eine endliche Menge.
7.1.6
Gleichm¨ aßige Konvergenz von Fourierreihen
Der folgende (zun¨achst nur teilweise bewiesene) Satz gibt Auskunft u ¨ber die Konvergenz der Fourierreihe glatter“ Funktionen. ” 7.6 Satz. (Gleichm¨aßige Konvergenz von Fourierreihen) uckweise stetig differenzierbar. Dann ist Die Funktion f ∈ Lπ sei stetig sowie st¨ die Fourierreihe von f an jeder Stelle absolut konvergent, und die Partialsummen m
cn (f )eint
n=−m
konvergieren f¨ ur m → ∞ gleichm¨aßig gegen f (t). Beweis: Ist f stetig differenzierbar, so ergibt sich mit Hilfe partieller Integration (Aufspaltung in Real- und Imagin¨arteil!) f¨ ur jedes n ∈ Z cn (f ) =
π −π
π f (t)e−int dt = f (t)e−int + in −π
π −π
f (t)e−int dt = incn(f ).
(7.14)
Durch eine geeignete Zerlegung des Integrationsintervalls kann diese Formel auch unter den (allgemeineren) Voraussetzungen des Satzes bewiesen werden. Wir nehmen jetzt an, dass f zweimal stetig differenzierbar ist. Dann folgt aus (7.14) cn (f ) = incn (f ) = −n2 cn (f ),
n ∈ Z.
(7.15)
330
7 Fourieranalyse
Außerdem liefert die Dreiecksungleichung (Satz 6.25), dass die Fourierkoeffizienten jeder Funktion g ∈ Lπ wie folgt nach oben abgesch¨atzt werden k¨ onnen: π 1 g1 , n ∈ Z. (7.16) |g(t)| dt = |cn (g)| ≤ 2π −π 2π Hierbei bezeichnet g1 die L1 -Norm von g als Funktion auf [−π, π] (vgl. 6.1.14). Damit erhalten wir aus (7.15) f 1 , n ∈ Z \ {0}. 2πn2 2 Wegen ∞ n=1 1/n < ∞ (vgl. I.5.2.4) ist die Fourierreihe (7.11) von f absolut konvergent. Die gleichm¨ aßige Konvergenz folgt aus der Absch¨ atzung m ∞ f 1 1 int cn (f )e ≤ . S(f ; t) − 2 π n n=−m n=m+1 |cn (f )| ≤
Die behauptete Gleichung f (t) = S(f ; t) wird sich aus Satz 7.10 ergeben. In 7.1.13 werden wir beweisen, dass die gleichm¨aßige Konvergenz bereits dann vorliegt, wenn f nur als stetig differenzierbar vorausgesetzt wird.
Das Zwischenergebnis (7.14) halten wir gesondert fest: 7.7 Satz. (Fourierreihe der Ableitung) uckweise stetig differenzierbar. Dann Die Funktion f ∈ Lπ sei stetig sowie st¨ ergibt sich die Fourierreihe der Ableitung f durch gliedweise Differentiation der Fourierreihe von f .
7.1.7
Der Satz von Riemann und Lebesgue
Das folgende Ergebnis wird im Beweis der Konvergenzs¨ atze in 7.1.8 eine entscheidende Rolle spielen. 7.8 Satz. (Satz von Riemann und Lebesgue) F¨ ur die Fourierkoeffizienten einer Funktion f ∈ Lπ gilt lim c−n (f ) = lim cn (f ) = 0.
n→∞
n→∞
Beweis: F¨ ur jedes k ∈ N bezeichne die Menge der k-mal stetig differenzierbaren Funktionen g : [−π, π] → C, f¨ ur die es ein δ > 0 mit der Eigenschaft g(t) = 0 f¨ ur jedes t∈ / [−δ, δ] gibt. Zu jedem f ∈ Lπ existiert nach Satz 6.45 ein g ∈ C01 mit f − g1 ≤ ε. Aus Satz 7.2 und der Dreiecksungleichung erhalten wir zun¨ achst C0k
|cn (f )| = |cn (f − g + g)| = |cn (f − g) + cn (g)| ≤ |cn (f − g)| + |cn (g)|. Der erste Summand ist wegen (7.16) durch ε/2π nach oben beschr¨ ankt. Aus den Eigen1 schaften einer Funktion aus C0 folgt, dass die periodische Fortsetzung von g ebenfalls stetig differenzierbar ist. Deshalb kann der zweite Summand nach (7.14) durch g 1 /|n| nach oben abgesch¨atzt werden. Insgesamt folgt also |cn (f )| ≤ ε f¨ ur gen¨ ugend großes |n|. Damit ist der Satz bewiesen.
7.1 Fourierreihen
7.1.8
331
Konvergenzkriterien
Wir werden jetzt h¨aufig Funktionen der Form f (t)/t f¨ ur ein f : [−π, π] → C betrachten. F¨ ur t = 0 ist eine solche Funktion zun¨ achst nicht definiert. Da es aber im Folgenden nur auf die Integrabilit¨atseigenschaften dieser Funktionen ankommt, kann der Funktionswert an der Stelle t = 0 beliebig festgesetzt werden. Wir beweisen zun¨achst einen allgemeinen Satz u ¨ber die Konvergenz von Fourierreihen. Die f¨ ur Anwendungen wichtigen Aussagen u ¨ber die Konvergenz bei differenzierbaren Funktionen (Satz 7.10) und an Unstetigkeitsstellen (Satz 7.12) werden sich als Spezialfall ergeben. 7.9 Satz. (Allgemeiner Konvergenzsatz) Es seien f ∈ Lπ , a ∈ [−π, π], z ∈ C und δ > 0 so beschaffen, dass die Funktion t → (f (t) − z)/(t − a) ¨ uber [a − δ, a + δ] integrierbar ist. Dann gilt S(f ; a) = z, d.h. die Fourierreihe von f konvergiert an der Stelle a und hat dort den Wert z. Beweis: Wir zeigen zun¨achst, dass o.B.d.A. a = 0 und z = 0 vorausgesetzt werden kann. Zu diesem Zweck setzen wir fa (t) := f (t + a) und betrachten die Hilfsfunktion f˜(t) := fa (t) − z,
t ∈ R.
Mit der Festsetzung h(t) := z, t ∈ R, liefert Satz 7.2 die Gleichung cn (f˜) = cn (fa ) − cn (h).
(7.17)
Nach (7.10) ist c0 (h) = z und cn (h) = 0 f¨ ur n = 0. Deshalb gilt S(h; t) = z, t ∈ R. Aus der Transformationsformel (Satz 6.26) und der f¨ ur jedes g ∈ Lπ (wegen der Periodizit¨ at von g) g¨ ultigen Beziehung π+a π g(t) dt = g(t) dt −π
−π+a
folgt ferner cn (fa ) =
π
f (a + t)e−int dt =
−π
π+a
−π+a
f (a + t)e−int dt = eina cn (f ).
(7.18)
Hieraus ergibt sich S(fa ; 0) = S(f ; a) und deshalb nach (7.17) S(f˜; 0) = S(fa ; 0) − z = S(f ; a) − z. Die Behauptung des Satzes ist also zu S(f˜; 0) = 0 ¨ aquivalent. Aus der Voraussetzung (und einer einfachen Anwendung von Satz 6.14) folgt, dass f˜(t)/t u ¨ber dem Intervall [−δ, δ] integrierbar ist. Wir k¨onnen also ab jetzt in der Tat o.B.d.A. a = 0 und z = 0 voraussetzen. Zu zeigen ist dann S(f ; 0) = 0. Die Hauptidee des Beweises besteht darin, die Fourierkoeffizienten von f durch die Fourierkoeffizienten der 2π-periodischen Funktion g(t) :=
f (t) , 1 − eit
t ∈ R,
332
7 Fourieranalyse
auszudr¨ ucken. Zun¨achst gilt
f (t) t · ≤ c · f (t) , |g(t)| = it t e −1 t
t = 0,
(7.19)
f¨ ur eine Konstante c > 0. Eine solche Konstante gibt es, weil einerseits die Funktion it/(eit − 1) auf R \ {0} stetig ist, andererseits aber wegen der Reihendarstellung eit − 1 =
∞ (it)k k=1
k!
f¨ ur t → 0 gegen den Grenzwert 1 strebt. Als stetige Funktion ist 1 − eit nach Satz 6.18 messbar. Wegen Satz 6.20 ist dann auch g messbar. Damit erhalten wir aus (7.19) und Folgerung 6.23 die Integrierbarkeit von g. Nun ist π 1 cn (f ) = (1 − eit )g(t)e−int dt 2π −π π 1 g(t)e−i(n−1)t dt = cn (g) − cn−1 (g) = cn (g) − 2π −π und somit (Teleskopeffekt!) m
cn (f ) = cm (g) − c−m−1 (g),
m ∈ N.
n=−m
Wegen des Satzes 7.8 von Riemann und Lebesgue strebt die letzte Differenz f¨ ur m → ∞ gegen 0. Also ist S(f ; 0) = 0, wie behauptet.
7.10 Satz. (Konvergenzsatz f¨ ur stetig differenzierbare Funktionen) Ist die Funktion f ∈ Lπ stetig differenzierbar, so gilt S(f ; t) = f (t), t ∈ R. Beweis: Nach Satz 6.22 (oder Satz 6.18) ist f messbar. Ist a ∈ [−π, π], so folgt aus der Messbarkeit der Funktion t → t − a (Satz 6.18) und Satz 6.20 die Messbarkeit der Funktion t → (f (t) − f (a))/(t − a). Andererseits erhalten wir aus dem Mittelwertsatz (und der Voraussetzung an f ) die Ungleichung |f (t) − f (a)| ≤ c · |t − a|,
t ∈ [−π, π]
f¨ ur ein geeignetes c > 0. Nach Folgerung 6.23 ist (f (t) − f (a))/(t − a) integrierbar. Damit k¨ onnen wir Satz 7.9 mit z = f (a) anwenden und erhalten S(f ; a) = f (a).
Der obige Beweis zeigt, dass auch schw¨ achere Voraussetzungen gen¨ ugen, um auf die Behauptung zu schließen: 7.11 Satz. (Konvergenzsatz f¨ ur h¨olderstetige Funktionen) Es seien f ∈ Lπ und a ∈ [−π, π]. Es gebe positive Konstanten α, δ und c mit |f (t) − f (a)| ≤ c · |t − a|α ,
t ∈ [a − δ, a + δ].
(7.20)
Dann gilt S(f ; a) = f (a). Diese Behauptung ist insbesondere dann richtig, wenn f in a differenzierbar ist. Eine Funktion f mit der Eigenschaft (7.20) heißt h¨olderstetig im Punkt a .
7.1 Fourierreihen
7.1.9
333
Verhalten an Sprungstellen
In den Beispielen 7.3 und 7.4 gilt die Mittelwerteigenschaft 1 S(f ; a) = (f (a−) + f (a+)), a ∈ R, 2 wobei f (a−) und f (a+) die in I.6.3.2 definierten einseitigen Grenzwerte f (a−) := lim f (t), t→a−
(7.21)
f (a+) := lim f (t) t→a+
bezeichnen. Diese (komplexwertigen) Grenzwerte sind hier separat f¨ ur Real- und Imagin¨arteil zu bilden. Der folgende Satz zeigt, dass das in den obigen Beispielen beobachtete Verhalten (7.21) der Fourierreihe kein Zufall ist. 7.12 Satz. (Mittelwerteigenschaft der Fourierreihen) Es seien f ∈ Lπ und a ∈ [−π, π]. F¨ ur ein gewisses δ > 0 sei f auf den Intervallen [a − δ, a) und (a, a + δ] stetig differenzierbar, und es m¨ogen die einseitigen Grenzwerte von f und f an der Stelle a existieren. Dann besitzt die Fourierreihe von f an der Stelle a die Mittelwerteigenschaft (7.21). Beweis: Zun¨ achst liefert der auf das Intervall [a − δ, a] angewendete Mittelwertsatz |f (t) − f (a−)| ≤ c · |t − a|,
t ∈ [a − δ, a).
(7.22)
Hierbei ist c eine obere Schranke von {|f (t)| : t ∈ [a − δ, a)}, deren Existenz sich aus den Voraussetzungen ergibt. Im Folgenden sei g ∈ Lπ die in Beispiel 7.4 diskutierte Vorzeichenfunktion. Wir setzen z := (f (a+) − f (a−))/2, y := (f (a+) + f (a−))/2 und definieren h(t) := f (t) − z · g(t − a),
t ∈ R.
(7.23)
Eine einfache Rechnung liefert f (t)−f (a−) = h(t)−y f¨ ur t < a und f (t)−f (a+) = h(t)−y f¨ ur t > a. Wie im Beweis von Satz 7.10 erhalten wir somit aus (7.22), dass (h(t)−y)/(t−a) u ¨ ber dem Intervall [a − δ, a] integrierbar ist. Analog folgt, dass diese Funktion auch u ¨ ber dem Intervall [a, a+δ] integrierbar ist. (Dazu benutze man das Analogon der Ungleichung (7.22) f¨ ur das Intervall [a, a + δ].) Wegen Satz 6.14 ist dann (h(t) − y)/(t − a) u ¨ ber [a − δ, a + δ] integrierbar, so dass Satz 7.9 die Gleichung S(h; a) = y liefert. Andererseits ergibt sich aus der Definition (7.23) von h und Satz 7.2 y = S(h; a) = S(f ; a) − zS(g−a; a), mit ga (t) := g(t − a), t ∈ R. Wegen (7.18) gilt hier S(g−a ; a) = S(g; 0), und nach Beispiel 7.4 gilt S(g; 0) = 0. Also folgt S(f ; a) = y = (f (a+) + f (a−))/2.
Der Beweis von Satz 7.12 zeigt, dass es gen¨ ugt, neben der Existenz der einseitigen Grenzwerte f (a−) und f (a+) die Existenz der einseitigen Grenzwerte f (t) − f (a−) , t→a− t−a lim
vorauszusetzen.
f (t) − f (a+) t→a+ t−a lim
334
7.1.10
7 Fourieranalyse
Vollst¨ andige trigonometrische Orthonormalfolgen
Wir betrachten die in 6.1.14 eingef¨ uhrten R¨ aume L2π (C) := L2 ([−π, π]; C),
L2π (R) := L2 ([−π, π]; R).
Sind f, g ∈ L2π (C), so ist das Produkt f · g¯ (es ist g¯(t) := g(t)) wegen Satz 6.28 wieder ein Element von L2π (C). Mit der Definition π
f, g := f (t)¯ g(t) dt −π
erhalten wir nach Satz 6.28 ein Skalarprodukt auf L2π (C). Hierbei sei daran erinnert, dass wir in 6.1.16 vereinbart haben, zwei Funktionen f, g ∈ L2π (C) zu identifizieren, falls {t ∈ [−π, π] : f (t) = g(t)} eine Lebesguesche Nullmenge ist. Analog definiert π
f, g := f (t)g(t) dt, −π
ein Skalarprodukt auf L2π (R). Nach Satz 6.30 sind sowohl L2π (C) als auch L2π (R) vollst¨andig, d.h. Hilbertr¨aume. Wie in 6.1.14 bezeichnen wir die zugeh¨ origen L2 Normen mit · 2 . Unser Ziel besteht jetzt darin, die allgemeinen Resultate aus 4.5.9 auf L2π (C) und L2π (R) anzuwenden. Dazu definieren wir eine Folge eit e−it e2it e−2it e3it 1 (un )n∈N0 := √ , √ , √ , √ , √ , √ , . . . 2π 2π 2π 2π 2π 2π mit Elementen aus L2π (C) sowie eine Folge 1 cos t sin t cos 2t sin 2t cos 3t (vn )n∈N0 := √ , √ , √ , √ , √ , √ , . . . π π π π π 2π atsrelationen (7.7) ist (un ) mit Elementen aus L2π (R). Wegen der Orthogonalit¨ 2 eine Orthonormalfolge in Lπ (C). Durch Aufspaltung von (7.7) in Real- und Imagin¨arteil (und Benutzung des Additionstheorems (I.6.20)) ergibt sich, dass (vn ) eine Orthonormalfolge in L2π (R) ist. Der n¨ achste Satz zeigt, dass beide Folgen vollst¨andig sind. 7.13 Satz. (Vollst¨andigkeit trigonometrischer Orthonormalfolgen) Die Orthonormalfolgen (un ) bzw. (vn ) sind vollst¨andig in L2π (C) bzw. L2π (R). Beweis: Es gen¨ ugt, den komplexen Fall zu behandeln. Die Funktion f ∈ L2π (C) habe die Eigenschaft
f, un = 0,
n ∈ N0 .
(7.24)
7.1 Fourierreihen
335
Zu zeigen ist die Gleichung f 2 = 0. Dazu fixieren wir zun¨ achst ein beliebiges k ∈ N. Nach Satz 6.45 gibt es ein gk ∈ C02 (s. Beweis von Satz 7.8) mit f − gk 2 ≤ 1/k. Es sei sm (t) :=
m
t ∈ [−π, π], m ∈ N0 .
cn (gk )eint ,
n=−m
Aus (7.24) folgt
f, sm = 0,
m ∈ N0 ,
(7.25)
und aus dem Beweis von Satz 7.6 ergibt sich die Existenz eines c > 0 mit |sm (t)| ≤ c f¨ ur jedes t ∈ [−π, π]. Also ist |f (t)¯ sm (t)| ≤ c|f (t)|. Aus dem Konvergenzsatz 7.11 folgt sm (t) → gk (t), t ∈ R, f¨ ur m → ∞. Aufgrund des Satzes 6.1.9 u ¨ber die majorisierte Konvergenz k¨ onnen wir jetzt in (7.25) zum Grenzwert f¨ ur m → ∞ u bergehen und erhalten ¨ 2 dadurch f, gk = 0. Nach Wahl der gk gilt gk → f in Lπ (C) f¨ ur k → ∞. Mit der Stetigkeit des Skalarproduktes (Folgerung 4.83) schließen wir somit auf f, f = f 22 = 0. Damit ist der Satz bewiesen.
7.1.11
L2 -Konvergenz der Fourierreihen
Wegen (6.23) ist jede Funktion aus L2π (C) (bzw. L2π (R)) integrierbar. Damit sind insbesondere die Fourierkoeffizienten cn (f ) (bzw. an (f ) und bn (f )) gem¨ aß (7.10) (bzw. (7.8) und (7.9)) wohldefiniert. Aus dem allgemeinen Approximationssatz 4.90 erhalten wir jetzt: 7.14 Satz. (L2 -Konvergenz der Fourierreihen) F¨ ur jedes f ∈ L2π (C) gilt π m 2 int cn (f )e dt = 0 lim f (t) − m→∞ −π
(7.26)
n=−m
und ∞
|cn (f )|2 =
n=−∞
1 2π
π −π
|f (t)|2 dt.
(Parsevalsche Gleichung)
(7.27)
F¨ ur jedes f ∈ L2π (R) gilt π m 2 a0 (f ) (an (f ) cos(nt) + bn (f ) sin(nt)) dt = 0 lim − f (t) − m→∞ −π 2 n=1 und ∞
a0 (f )2 1 + an (f )2 + bn (f )2 = 2 2π n=1
π
−π
|f (t)|2 dt.
(Parsevalsche Gleichung)
336
7 Fourieranalyse
Beweis: Wiederum beweisen wir nur den komplexen Fall und betrachten ein f ∈ L2π (C). Nach Satz 4.90 und Satz 7.13 gilt lim fm − f 2 = 0,
(7.28)
m→∞
wobei (mit un wie in 7.1.10) fm (t) :=
2m
f, un un (t),
t ∈ [−π, π], m ∈ N0 ,
n=0
gesetzt wurde. Nach Definition ist π π 1 1 1
f, u0 u0 (t) = √ f (t) √ dt = f (t) dt = c0 (f ) 2π −π 2π −π 2π und f¨ ur n ≥ 1
f, u2n−1 u2n−1 (t) + f, u2n u2n (t) π π 1 1 1 1 = √ eint f (s) √ e−ins ds + √ e−int f (s) √ eins ds 2π 2π 2π 2π −π −π int −int . = cn (f )e + c−n (f )e Damit ist die erste Behauptung (7.26) zu (7.28) ¨ aquivalent. Analog erkennt man, dass die abstrakte Form (4.69) der Parsevalschen Gleichung 2
| f, u0 | +
∞
2
2
| f, u2n−1 | + | f, u2n |
n=1
π
= −π
|f (t)|2 dt
zu (7.27) ¨ aquivalent ist.
In der Terminologie der Signalanalyse beschreibt jedes f ∈ L2π (C), also jede u ¨ber dem Intervall [−π, π] quadratisch-integrierbare komplexwertige Funktion f , ein Signal mit endlicher Energie im Intervall [−π, π]. Durch die Parsevalsche Gleichung erfolgt eine additive Zerlegung der Gesamtenergie des Signals in Bestandteile, die von den verschiedenen harmonischen Schwingungen in der Fourierreihe von f herr¨ uhren. Die trigonometrischen Orthonormalfolgen bieten auch die M¨ oglichkeit, ortho int gonale Projektionen im Sinne von 4.5.4 zu berechnen. So ist m n=−m cn (f )e 2 (m ∈ N) die beste Approximation von f ∈ Lπ (C) (im Sinne des Skalarproduktes) durch eine Funktion aus Span(1, eit , e−it , . . . , emit , e−mit ). F¨ ur m → ∞ ergibt sich die Fourierreihe.
7.1.12
Der Eindeutigkeitssatz
Nach Satz 7.14 legen die Fourierkoeffizienten eine Funktion in folgendem Sinne eindeutig fest:
7.1 Fourierreihen
337
7.15 Satz. (Eindeutigkeitssatz) Besitzen die Funktionen f, g ∈ L2π (C) (bzw. f, g ∈ L2π (R)) dieselben Fourierkoeffizienten, so ist {t ∈ [−π, π] : f (t) = g(t)} eine Lebesguesche Nullmenge. 7.16 Satz. (Eindeutigkeitssatz f¨ ur stetige Funktionen) Haben die stetigen Funktionen f, g : [−π, π] → C dieselben Fourierkoeffizienten, so ist f = g. Beweis: Wir betrachten die Menge M := {t ∈ [−π, π] : f (t) = g(t)} und beliebige Zahlen a, b ∈ [−π, π] mit a < b. Dann gilt λ([a, b] ∩ M ) > 0.
(7.29)
Aus λ([a, b] ∩ M ) = 0 w¨ urde n¨amlich wegen der Additivit¨ at und Monotonie von λ (S¨ atze 6.7 und 6.3) die Ungleichung 0 < b − a = λ([a, b]) = λ([a, b] ∩ ([−π, π] \ M )) ≤ λ([−π, π] \ M ) folgen. Das w¨ are ein Widerspruch dazu, dass [−π, π] \ M nach Voraussetzung und Satz 7.15 eine Lebesguesche Nullmenge ist. Aus (7.29) erhalten wir, dass [a, b] mindestens einen Punkt aus M enth¨ alt. Weil a, b beliebig w¨ ahlbar sind, ist M dicht in [−π, π], d.h. jeder Punkt aus [−π, π] ist Grenzwert einer Folge mit Elementen aus M . Aufgrund der Stetigkeit von f und g u agt sich die ¨bertr¨ Gleichheit von f und g von der Menge M auf den gesamten Definitionsbereich [−π, π].
7.1.13
Nochmals gleichm¨ aßige Konvergenz
Die Parsevalsche Gleichung (7.27) erlaubt uns jetzt, den Beweis von Satz 7.6 zu Ende zu f¨ uhren. Dazu betrachten wir eine den Voraussetzungen dieses Satzes gen¨ ugende Funktion f ∈ Lπ . Dann ist f (als Funktion auf [−π, π]) ein Element von L2π (C). Nach (7.14) gilt |cn (f )| = |n|·|cn (f )|, n ∈ Z. Damit erhalten wir aus der Cauchy–Schwarzschen Ungleichung ⎛ ⎝
n=0
⎞2
⎛
|cn (f )|⎠ = ⎝
|cn (f )|
n=0
|n|
⎞2
⎛
⎠ ≤⎝
n=0
⎞⎛
⎞ 1 ⎠. |cn (f )|2 ⎠ ⎝ n2 n=0
Aufgrund der Parsevalschen Gleichung f¨ ur f ist die rechte Seite dieser Unglei chung endlich, und somit folgt n∈Z |cn (f )| < ∞. Wie im Beweis von Satz 7.1.6 k¨onnen wir jetzt auf die behauptete gleichm¨aßige Konvergenz schließen. Die Gleichung S(f ; ·) = f ergibt sich aus Satz 7.11. Abschließend erw¨ahnen wir noch ein n¨ utzliches Resultat u aßige ¨ ber die gleichm¨ Konvergenz auf Teilintervallen. F¨ ur den Beweis verweisen wir auf (Walter, 2002, 10.16).
338
7 Fourieranalyse
7.17 Satz. (Gleichm¨aßige Konvergenz auf Teilintervallen) Die Funktion f ∈ Lπ sei auf einem offenen Intervall J ⊂ [−π, π] stetig differenzierbar. Dann konvergiert die Fourierreihe von f auf jedem abgeschlossenen Teilintervall von J gleichm¨ aßig gegen f .
7.1.14
Zusammenfassung des Konvergenzverhaltens
Wir fassen die Ergebnisse der S¨atze 7.12 und 7.17 in kompakter Form zusammen: 7.18 Satz. (Konvergenz der Fourierreihe) uckweise stetig differenzierbare Funktion. Dann konvergiert Es sei f ∈ Lπ eine st¨ die Fourierreihe von f an jeder Stelle t ∈ R gegen (f (t−) + f (t+))/2. Diese Konvergenz ist gleichm¨aßig auf jedem kompakten Intervall, welches keine Unstetigkeitsstellen von f enth¨alt. y 1
−2π
2π
x
Bild 7.5: Fourierapproximationen von | sin t|
7.1.15
Weitere Beispiele
In den folgenden Beispielen ist f ∈ Lπ . 7.19 Beispiel. (Kosinusdarstellung des Sinus) Es sei f (t) := | sin t|, t ∈ R (siehe Bild 7.5). Aus Satz 7.1 folgt zun¨ achst bn (f ) = 0, n ∈ N0 , und a0 (f ) = 2/π. Zur Berechnung von an (f ) f¨ ur n ≥ 1 benutzen wir das unbestimmte Integral 1 cos(n + 1)t cos(n − 1)t sin t cos nt dt = − − , 2 n+1 n−1 welches man leicht durch Differentiation und Benutzung der Additionstheoreme best¨atigen kann. Einsetzen in Satz 7.1 liefert 4 1 cos 2t cos 4t cos 6t − − − − ... , t ∈ R. (7.30) | sin t| = π 2 1·3 3·5 5·7
7.1 Fourierreihen
339
Die Konvergenz der Fourierreihe folgt hier aus Satz 7.11. Insbesondere wird durch (7.30) der Sinus auf dem Intervall [0, π] durch eine reine Kosinusreihe dargestellt! Bild 7.5 zeigt die ersten 3 Partialsummen der Fourierreihe (7.30), also S1 (t) := 2/π (gepunktete Linie), S2 (t) := 2/π − 4 cos(2t)/(3π) (gestrichelte Kurve) und S3 (t) := 2/π − 4 cos(2t)/(3π) − 4 cos(4t)/(15π) (durchgezogene Kurve). 7.20 Beispiel. (Sinusdarstellung des Kosinus) Es gelte ⎧ ⎪ falls t ∈ (0, π), ⎨cos t, f (t) := − cos t, falls t ∈ (−π, 0), ⎪ ⎩ 0, falls t ∈ {−π, 0, π}.
(7.31)
Mit Ausnahme der Punkte kπ (k ∈ Z) ist f die Ableitung der Funktion | sin t|. Folglich erhalten wir aus Beispiel 7.19 und Satz 7.7 4 2 sin 2t 4 sin 4t 6 sin 6t + + + ... , t ∈ R. f (t) = π 1·3 3·5 5·7 Die Konvergenz der Fourierreihe folgt f¨ ur t ∈ / {−π, 0, π} aus Satz 7.11. F¨ ur t ∈ {−π, 0, π} besteht offensichtlich Konvergenz. (Man beachte die Mittelwerteigenschaft!) y 1
•
•
•
•
2π •
−2π −1 Bild 7.6: Fourierapproximationen der in (7.31) definierten Funktion 7.21 Beispiel. (Fourierreihe von t2 ) Es gelte f (t) = t2 f¨ ur t ∈ [−π, π]. Diese Funktion ist gerade, und es gilt 2 π 2 2π 2 t cos nt dt = . a0 (f ) = π 0 3 Ferner folgt nach zweimaliger partieller Integration f¨ ur n ≥ 1 an (f ) =
4 4 cos nπ = (−1)n 2 . 2 n n
x
340
7 Fourieranalyse
Damit ist (etwa nach Satz 7.12) t2 =
∞ cos nt π2 +4 (−1)n 2 , 3 n n=1
t ∈ [−π, π].
y
−π
π
x
Bild 7.7: Fourierapproximationen der periodisch fortgesetzten Normalparabel F¨ ur t = 0 ergibt sich ∞
1 π2 (−1)n+1 2 . = 12 n
(7.32)
n=1
F¨ ur t = π erh¨alt man die auf Euler zur¨ uckgehende Formel ∞
1 π2 . = 6 n2
(7.33)
n=1
7.1.16
Das Gibbs-Ph¨ anomen
In diesem Unterabschnitt wollen wir die folgende bemerkenswerte Eigenschaft von Fourierreihen unstetiger Funktionen mathematisch pr¨ azisieren und beweisen: 7.22 Satz. (Gibbs2 -Ph¨anomen) Es seien f ∈ Lπ eine st¨ uckweise stetig differenzierbare Funktion und t eine Unstetigkeitsstelle von f . Dann u ¨berschwingen die Partialsummen Sn (f ; ·) der Fourierreihe von f f¨ ur große n ∈ N den Sprung bei t um etwa 9% (bezogen auf die Sprungh¨ ohe). Wir betrachten zun¨achst die periodische Fortsetzung der Funktion ⎧ 1 ⎪ falls 0 < t < π, ⎨ 2 (π − t), 1 g(t) := 2 (−π − t), falls −π < t < 0, ⎪ ⎩ 0, falls t = 0. 2
(7.34)
Josiah Willard Gibbs (1839–1903), ab 1871 Prof. f¨ ur Mathematische Physik am Yale College. Hauptarbeitsgebiete: Thermodynamik, statistische Mechanik, Vektoranalysis.
7.1 Fourierreihen
341
Sn (g; tn )
−π
•
π
tn
Bild 7.8: t Das Gibbs-Ph¨ anomen am Beispiel der S¨ agezahnfunktion
Auch diese in Bild 7.8 dargestellte Funktion nennt man S¨agezahn-Funktion (vgl. Beispiel 7.3). F¨ ur sie kann das Gibbs-Ph¨anomen wie folgt pr¨ azisiert werden. Wir verwenden den in 6.1.20 eingef¨ uhrten Integralsinus und insbesondere den Wert Si(π) ≈ 1.851937. 7.23 Satz. (Das Gibbs-Ph¨anomen f¨ ur die S¨agezahn-Funktion) Es sei g ∈ Lπ die durch (7.34) definierte Funktion. F¨ ur jedes n ∈ N sei Rn (t) := Sn (g; t) − g(t), t ∈ R, und tn die kleinste positive Maximalstelle von Rn . Dann gilt Rn (tn ) > Si(π) − π/2 ≈ 0.28113 und lim Rn (tn ) = Si(π) − π/2.
n→∞
Beweis: Analog zu Beispiel 7.3 folgt an (g) = 0, n ∈ N0 , und bn (g) = 1/n, n ∈ N. Also gilt n n π sin kt cos kx dx. (7.35) =− Sn (g; t) = k t k=1
k=1
Wir verwenden jetzt die f¨ ur jedes x = 0 g¨ ultige Formel 1 + 2 cos x + . . . + 2 cos nx =
sin(n + 1/2)x , sin x/2
(7.36)
welche man wie folgt mit der geometrische Summenformel 1 + eix + . . . + ei2nx =
ei(2n+1)x − 1 eix − 1
(vgl. I.5.2.2) beweisen kann. Multipliziert man diese Gleichung mit e−inx , so liefert eine Anwendung der Eulerschen Formel eikx = cos kx + i · sin kx 1 + 2 cos x + . . . + 2 cos nx =
ei(2n+1)x − 1 −inx ·e . eix − 1
342
7 Fourieranalyse
Die Erweiterung des rechts stehenden Bruches mit e−ix/2 und erneute Anwendung der Eulerschen Formel f¨ uhrt dann auf (7.36). Wir setzen jetzt (7.36) in (7.35) ein und erhalten f¨ ur 0 < t < π 1 (t − π) + Sn (g; t) = − 2 n
Rn (t) =
k=0
π
π
cos kx dx = − t
t
sin(n + 1/2)x dx. 2 sin x/2
Die Ableitung Rn (t) =
sin(n + 1/2)t 2 sin t/2
ist f¨ ur t < π/(n+ 1/2) positiv und danach zun¨achst negativ. Deshalb ist tn = π/(n+ 1/2) die kleinste positive Maximalstelle von Rn . Aus Rn (0+) = −π/2 folgt Rn (tn ) = −
π + 2
tn 0
sin(n + 1/2)x π dx = − + 2 sin x/2 2
π
0
sin u du, (2n + 1) sin u/(2n + 1)
wobei zuletzt die Substitution u := (n + 1/2)x verwendet wurde. F¨ ur 0 < u < π gilt (2n + 1) sin(u/(2n + 1)) < u (man bilde die Ableitung der Differenz!) und somit π sin u π π du = Si(π) − ≈ 0.28113. Rn (tn ) > − + 2 u 2 0 Aus sin x/x → 1 f¨ ur x → 0 folgt lim (2n + 1) sin
n→∞
u 2n + 1
= u.
Wegen m sin(u/m) ≤ (m + 1) sin(u/(m + 1)), m ∈ N, ist diese Konvergenz wachsend. Deshalb ist sin u sin u ≤ , (2n + 1) sin(u/(2n + 1)) 3 sin(u/3) und aus majorisierter Konvergenz (Satz 6.16) folgt Rn (tn ) → Si(π) − π/2 f¨ ur n → ∞. Damit ist alles bewiesen.
y 1 •
•
•
−1
x
Bild 7.9: Das Gibbs-Ph¨ anomen am Beispiel der Rechteckschwingung
7.1 Fourierreihen
343
Wir wenden uns jetzt der Aussage von Satz 7.22 zu und betrachten eine st¨ uckweise stetig differenzierbare Funktion f ∈ Lπ . Wir nehmen an, dass f im Punkt 0 nicht stetig ist und untersuchen das Gibbs-Ph¨ anomen in diesem Punkt. Weil der Fall einer beliebigen Unstetigkeitsstelle durch eine geeignete Verschiebung im Definitionsbereich immer darauf zur¨ uckgef¨ uhrt werden kann, bedeutet dieses Vorgehen keine Einschr¨ankung der Allgemeinheit. Es bezeichne θ := f (0+) − f (0−) die H¨ohe des Sprunges im Nullpunkt. Mit Hilfe der S¨ agezahnfunktion (7.34) definieren wir θ h(t) := f (t) − g(t), t ∈ R. π Da die Fourierkoeffizienten vom Verhalten der Funktion in einzelnen Punkten nicht abh¨angen, k¨onnen wir annehmen, dass f im Punkt 0 die Mittelwerteigenschaft f (0) = (f (0−) + f (0+))/2 besitzt. Eine einfache Rechnung ergibt dann h(0) = h(0−) = h(0+) = f (0). Insbesondere ist also h stetig im Punkt 0. Die Linearit¨ atseigenschaften aus Satz 7.2 liefern f¨ ur jedes n ∈ N die Gleichung Sn (f ; t) = Sn (h; t) +
θ Sn (g; t), π
t ∈ R.
Mit den Bezeichnungen aus Satz 7.23 bedeutet das insbesondere Sn (f ; tn ) = Sn (h; tn ) +
θ θ g(tn ) + Rn (tn ), π π
n ∈ N.
(7.37)
Nach Voraussetzung an f ist h f¨ ur gen¨ ugend kleines ε > 0 auf dem Intervall [−ε, ε] aßig stetig. Wegen Satz 7.17 konvergiert Sn (h; ·) auf solchen Intervallen gleichm¨ gegen h. (Der Fortgang des Beweises zeigt, dass auch Satz 7.6 verwendet werden kann. Dazu muss f auch an den anderen Unstetigkeitsstellen geeignet modifiziert werden.) Deshalb erhalten wir aus limn→∞ tn = 0 sowie aus der Stetigkeit von h in 0 f (0−) + f (0+) . lim Sn (h; tn ) = h(0) = n→∞ 2 ur n → ∞. Setzt man diese GrenzwertbezieFerner gilt g(tn ) → πθ g(0+) = θ/2 f¨ hungen in (7.37) ein und benutzt Satz 7.23, so folgt schließlich Si(π) 1 lim Sn (f ; tn ) = f (0+) + − ·θ n→∞ π 2 ≈ f (0+) + 0.09 · (f (0+) − f (0−)).
344
7 Fourieranalyse
¨ Dieses Uberschwingen“ von etwa 9%, bezogen auf die Sprungh¨ ohe θ, wird als ” Gibbs-Ph¨anomen bezeichnet. Links von der Unstetigkeitsstelle zeigt sich ein analoges Verhalten in Form eines Unterschwingens“. Die Bilder 7.8 und 7.9 ver” anschaulichen das Ph¨anomen f¨ ur die S¨agezahnfunktion (7.34) und die Rechteckschwingung aus Beispiel 7.4. Weil die in Satz 7.23 eingef¨ uhrte Folge (tn ) eine Nullfolge ist, widerspricht das Gibbs-Ph¨anomen nicht dem Konvergenzsatz 7.18. Vielmehr beschreibt das Ph¨anomen in pr¨aziser Weise, dass sich eine unstetige Funktion nicht gleichm¨aßig durch ihre Fouriersummen approximieren l¨ asst.
7.2 7.2.1
Die Fourier-Transformation Einfu ¨hrung
Die Theorie der Fourierreihen liefert ein Werkzeug zur Bestimmung der Frequenzanteile periodischer Funktionen. In der Sprache der Signalverarbeitung beschreibt (7.5) die Spektraldarstellung eines periodischen zeitkontinuierlichen Sig¨ nals. Die folgenden Uberlegungen dienen der Erweiterung dieser Theorie auf allgemeine (nicht notwendig periodische) zeitkontinuierliche Signale. Es seien hierzu f : R → C eine st¨ uckweise stetig differenzierbare Funktion, die f¨ ur jedes t ∈ R die Mittelwerteigenschaft f (t) = (f (t−) + f (t+))/2 besitze, sowie T > 0. Wenden wir Satz 7.18 auf die periodische Fortsetzung der Funktion t → f (t · T /2π) an, so ergibt sich f (t · T /2π) =
∞
t ∈ (−π, π),
cn (f, T )eint ,
n=−∞
bzw. f (t) =
∞ n=−∞
mit
cn (f, T )ein
2πt T
,
t∈
T T − , 2 2
π 1 f (s · T /2π)e−ins ds cn (f, T ) := 2π −π 2πs 1 T /2 = f (s)e−in T ds, n ∈ Z. T −T /2
,
(7.38)
(7.39)
¨ Gleichung (7.38) stellt die Funktion f auf dem Intervall (−T /2, T /2) als Uberlagerung von elementaren harmonischen Schwingungen mit den Frequenzen n 2π T und den Amplituden cn (f, T ) dar. Mit ΔT := 2π/T folgt aus (7.38) und (7.39) T /2 ∞ T T ΔT inΔT t −inΔT s e , (7.40) f (t) = f (s)e ds , t∈ − , 2π 2 2 −T /2 n=−∞
7.2 Die Fourier-Transformation
345
Es liegt nahe, hier den Grenz¨ ubergang der Periodendauer T nach Unendlich (d.h. ΔT → 0) zu vollziehen. Dazu setzen wir voraus, dass f integrierbar ist. Nach dem Satz u ¨ber die majorisierte Konvergenz konvergiert dann T /2 inΔT t gT (u) := 1(nΔT ,(n+1)ΔT ] (u)e f (s)e−inΔT s ds n∈Z
−T /2
f¨ ur jedes u ∈ R gegen eiut f (s)e−ius ds. Nun ist aber (7.40) das LebesgueIntegral der Funktion (2π)−1 gT (u), zumindestens dann, wenn die Reihe absolut konvergiert. Unter zus¨atzlichen Voraussetzungen an f k¨ onnen wir also erwarten, dass die Gleichung 1 iut −ius f (s)e f (t) = ds du, t ∈ R, (7.41) e 2π (sog. Integralformel von Fourier) richtig ist.
7.2.2
Definition der Fourier-Transformation
F¨ ur jede integrierbare Funktion f : R → C heißt die durch Ff (u) := f (t)e−iut dt, u ∈ R,
(7.42)
definierte Funktion Ff : R → C die Fourier-Transformation von f . Dabei ergibt sich die Integrierbarkeit von f (t)e−iut aus |e−iut | = 1 und Folgerung 6.23. Die (noch nicht vollst¨andig bewiesene) Integralformel (7.41) nimmt jetzt die Form 1 eiut Ff (u) du, t ∈ R, (7.43) f (t) = 2π ¨ an. Wohingegen die Fourierreihe (7.5) einer periodischen Funktion als Uberlagerung endlich- oder abz¨ahlbar-unendlich vieler harmonischer Schwingungen angesehen werden kann, liefert Gleichung (7.43) eine Darstellung einer allgemei¨ nen (integrierbaren) Funktion als kontinuierliche Uberlagerung“ harmonischer ” Schwingungen u ¨ ber ein kontinuierliches Frequenzspektrum. Aus diesem Grund ahrend wird die Funktion Ff auch Spektralfunktion der Funktion f genannt. W¨ die (Original)funktion f im Zeitbereich operiert, operiert die (Bild)funktion Ff im Frequenzbereich.
7.2.3
Einfache Eigenschaften der Fourier-Transformation
7.24 Satz. (Gleichm¨aßige Stetigkeit der Fourier-Transformation) F¨ ur jedes f ∈ L1 (R; C) ist Ff beschr¨ankt und gleichm¨ aßig stetig.
346
7 Fourieranalyse
Beweis: F¨ ur alle u, h ∈ R erhalten wir aus der Dreiecksungleichung (Satz 6.25) |Ff (u + h) − Ff (u)| ≤ |f (t)|·|e−i(u+h)t − e−iut | dt = |f (t)|·|e−iht − 1| dt. Nach dem Satz u ur h → 0 ¨ ber die majorisierte Konvergenz strebt das letzte Integral f¨ gegen 0. Die Beschr¨anktheit von Ff folgt aus |Ff (u)| ≤ |f (t)| dt, u ∈ R.
Die beiden n¨achsten Eigenschaften ergeben sich aus der Linearit¨ at des Integrals bzw. aus der Substitutionsregel. 7.25 Satz. (Linearit¨at der Fourier-Transformation) F¨ ur alle f, g ∈ L1 (R; C) und alle λ, μ ∈ C gilt Fλf +μg = λFf + μFg . 7.26 Satz. (Lineare Transformation im Zeitbereich) Es seien f ∈ L1 (R; C), a = 0 und b ∈ R. Dann besitzt die Funktion g(t) := f (at + b) die Fourier-Transformation Fg (u) =
eiub/a u Ff , |a| a
u ∈ R.
7.27 Satz. (Fourier-Transformation der Konjugation) Es sei f ∈ L1 (R; C). Dann besitzt die durch g(t) := f (−t) definierte Funktion g die Fourier-Transformation Fg = Ff . Beweis: F¨ ur jedes s ∈ R ist e−is die konjugiert komplexe Zahl zu eis . Beachtet man ferner, dass die Konjugation des Produktes komplexer Zahlen das Produkt der konjugierten Zahlen ist, so ergibt sich die Behauptung mittels einer einfachen Substitution.
7.2.4
Differentiation im Zeit- und Frequenzbereich
7.28 Satz. (Ableitung der Fourier-Transformation) Es sei f ∈ L1 (R; C). Die Funktion g(t) := tf (t) sei integrierbar. Dann ist Ff differenzierbar, und f¨ ur die Ableitung gilt Ff = −iFg . Beweis: F¨ ur alle u ∈ R und h = 0 bilden wir den Differenzenquotienten Ff (u + h) − Ff (u) e−i(u+h)t − e−iut = f (t) dt h h e−iht − 1 = f (t)e−iut dt. h
7.2 Die Fourier-Transformation F¨ ur jedes r ≥ 0 gilt
347
|eir − 1| =
0
r
ieis ds ≤
r
|ieis | ds = r
0
und damit |e−iht − 1| = |eiht − 1| ≤ |h|. Aus dem Satz von der majorisierten Konvergenz folgt deshalb Ff (u + h) − Ff (u) = f (t)e−iut (−it) dt lim h→0 h
¨ Der Beweis des n¨achsten Satzes sei dem Leser als Ubung empfohlen (vgl. auch Satz 8.21). 7.29 Satz. (Fourier-Transformation der Ableitung) Die Funktion f ∈ L1 (R; C) sei stetig und st¨ uckweise stetig differenzierbar, und ihre Ableitung f sei integrierbar. Dann gilt Ff (u) = iuFf (u).
7.2.5
Beispiele von Fourier-Transformationen
7.30 Beispiel. (Gleichverteilung) F¨ ur die Dichte f := 1[0,1] der Gleichverteilung auf [0, 1] (vgl. 6.1.18) gilt 1 e−iut 1 1 − e−iu e−iut dt = − , u = 0, Ff (u) = = iu 0 iu 0 ¨ sowie Ff (0) = 1. In Ubereinstimung mit Satz 7.24 gilt limu→0 Ff (u) = 1. 7.31 Beispiel. (Exponentialverteilung) F¨ ur die in Beispiel I.7.42 eingef¨ uhrte Dichte f (x) = 1[0,∞) (x)λe−λx der Exponentialverteilung mit Parameter λ > 0 gilt ∞ ∞ −(λ+iu)t λe λ Ff (u) = λe−(λ+iu)t dt = − . = λ + iu λ + iu 0 0
7.32 Beispiel. (Doppelseitige Exponentialfunktion) F¨ ur gegebenen Parameter λ > 0 betrachten wir die Funktion f (x) = e−λ|x| (Bild 7.10 links). In diesem Fall gilt ∞ 0 −λt −iut Ff (u) = e e dt + e−λt eiut dt 0 ∞ −∞ ∞ −(λ+iu)t = e dt + e−(λ−iu)t dt 0
0
1 2λ 1 + = 2 . = λ + iu λ − iu λ + u2
348
7 Fourieranalyse Ff (u)
f (x)
u
x Bild 7.10: Doppelseitige Exponentialfunktion (links) und ihre Fourier-Transformation (rechts)
7.33 Beispiel. (Normalverteilung) 2 Wir betrachten die Dichte f (x) := (2π)−1/2 e−x /2 der Normalverteilung (6.27) mit Parametern μ = 0 und σ = 1. Nach Satz 7.28 ist Ff differenzierbar, und es gilt i 2 te−t /2 e−itu dt. Ff (u) = − √ 2π Partielle Integration ergibt ∞ i i 2 2 Ff (u) = √ e−t /2 e−itu +√ e−t /2 (iu)e−itu dt = −uFf (u), −∞ 2π 2π was zeigt, dass die Funktion g(u) := ln Ff (u) die Ableitung −u besitzt. Wegen Ff (0) = f (t) dt = 1 folgt ln Ff (u) = −u2 /2 bzw. Ff (u) = e−u
2 /2
u ∈ R.
,
(7.44)
Da die Dichte (6.27) der Normalverteilung mit Parametern μ ∈ R und σ > 0 die Darstellung ϕμ,σ (t) = σ −1 ϕ0,1 ((t − μ)/σ) = σ −1 f ((t − μ)/σ) besitzt, erhalten wir aus (7.44) sowie Satz 7.26 das Resultat Ff (u) = e−iμu e−σ
7.2.6
2 u2 /2
,
u ∈ R.
(7.45)
Die inverse Fourier-Transformation
Wir wollen jetzt Voraussetzungen angeben, unter denen die Integralformel (7.42) von Fourier richtig ist. Diese Formel zeigt, wie man f aus Ff durch die inverse Fourier-Transformation zur¨ uckgewinnen kann.
7.2 Die Fourier-Transformation
349
7.34 Satz. (Inverse Fourier-Transformation) Die Funktion f ∈ L1 (R; C) sei st¨ uckweise stetig differenzierbar. Dann gilt T 1 1 (f (t−) + f (t+)) = lim eist Ff (s) ds, t ∈ R. (7.46) T →∞ 2π −T 2 Beweis: Wir fixieren t ∈ R. Aus dem Satz von Fubini folgt f¨ ur jedes T > 0 T T ∞ eist Ff (s) ds = ei(t−u)s f (u) du ds −T −T −∞ ∞
T
ei(t−u)s ds
f (u)
= −∞
du
−T
∞
ei(t−u)T − e−i(t−u)T du i(t − u) −∞ ∞ sin((t − u)T ) =2 f (u) du t−u −∞ ∞ t sin((t − u)T ) sin((t − u)T ) du + 2 du. =2 f (u) f (u) t−u t−u −∞ t =
f (u)
(F¨ ur u = t erh¨ alt der Quotient im Integranden den Wert T .) Substituiert man im ersten Integral v := t − u und im zweiten Integral v := u − t, so ergibt sich mit der Abk¨ urzung g(v) :=
1 (f (t − v) + f (t + v)), 2
v ≥ 0,
aus Satz 6.26 die Darstellung T ∞ 2 sin(T v) 1 dv. eist Ff (s) ds = g(v) 2π −T πv 0 Weil die Funktion g : [0, ∞) → C aufgrund der Voraussetzung an f integrierbar ist, gibt ∞ es zu jedem ε > 0 ein M > 0 mit M |g(v)| dv ≤ ε. Setzen wir o.B.d.A. noch πM ≥ 2 voraus, so folgt ∞ 2| sin(T v)| dv ≤ ε. |g(v)| πv M Aus diesem Grund gen¨ ugt es, f¨ ur jedes M > 0 die Grenzwertbeziehung M 1 2 sin(T v) g(v) (f (t−) + f (t+)) = lim dv T →∞ 0 2 πv nachzuweisen. Da g die Eigenschaft g(0+) =
1 (f (t−) + f (t+)) 2
besitzt, ist die obige Grenzwertbeziehung zu M 2 sin(T v) dv g(v) g(0+) = lim T →∞ 0 πv
(7.47)
350
7 Fourieranalyse
aquivalent. ¨ Es bezeichne A die Menge aller Punkte x ≥ 0, in denen g nicht differenzierbar ist. Nach Voraussetzung ist A ∩ [0, c] f¨ ur jedes c ≥ 0 eine endliche Menge. F¨ ur jedes v ∈ (0, ∞) \ A ergibt sich aus den Voraussetzungen an f v g(v) = g(0+) + g (x) dx + d(x), (7.48) 0
x∈Av
mit Av := A ∩ [0, v] und d(x) := g(x+) − g(x−), x ∈ A. Hierbei ist g die Ableitung von g auf [0, ∞) \ A und sonst beliebig definiert. Mit Blick auf die Behauptung (7.47) k¨ onnen wir o.B.d.A. annehmen, dass (7.48) f¨ ur jedes v ≥ 0 richtig ist. Setzt man die Darstellung (7.48) f¨ ur g in (7.47) ein, so folgt
M
0
M 2 sin(T v) 2 sin(T v) g(v) dv = g(0+) dv πv πv 0 M v M 2 sin(T v) 2 sin(T v) + dx dv + dv. g (x) d(x) πv πv 0 0 0 x∈Av
Da die Ungleichungen 0 ≤ v ≤ M und 0 ≤ x ≤ v zu den Ungleichungen 0 ≤ x ≤ M und x≤v≤M ¨ aquivalent sind, ist nach dem Satz von Fubini, der Linearit¨ at des Integrals und der Substitution s := T v die obige Summe gleich g(0+) 0
TM
2 sin(s) ds + πs
0
M
g (x)
TM Tx
TM 2 sin(s) 2 sin(s) d(x) ds dx + ds. πs πs Tx x∈AM
Unter Verwendung des in 6.1.20 eingef¨ uhrten Integralsinus erhalten wir insgesamt
M
g(v) 0
2 sin(T v) 2 2 M g (x)(Si(T M ) − Si(T x)) dx dv =g(0+) Si(T M ) + πv π π 0 2 + d(x)(Si(T M ) − Si(T x)). π x∈AM
Nach Satz 6.35 ist limT →∞ π2 Si(T M ) = 1 und limT →∞ (Si(T M ) − Si(T x)) = 0 f¨ ur jedes x > 0. Majorisierte Konvergenz zeigt, dass das Integral auf der rechten Seite obiger Gleichung f¨ ur T → ∞ gegen 0 strebt. Weil AM eine endliche Menge ist, strebt auch die letzte Summe gegen 0. Damit folgt (7.47), und der Satz ist bewiesen.
Aus Satz 7.34 erhalten wir insbesondere, dass die Fourier-Transformation von f die Funktion f in folgendem Sinne eindeutig festlegt. 7.35 Folgerung. (Eindeutigkeitssatz) Die Funktionen f, g ∈ L1 (R; C) seien st¨ uckweise stetig differenzierbar. Gilt dann ur alle Punkte t ∈ R, in denen sowohl f als auch Ff = Fg , so folgt f (t) = g(t) f¨ g stetig sind.
7.2 Die Fourier-Transformation
7.2.7
351
Die Fourier-Transformation der Faltung
7.36 Satz. (Die Fourier-Transformation der Faltung) F¨ ur alle f, g ∈ L1 (R; C) gilt Ff ∗g = Ff · Fg . Die Fourier-Transformation der Faltung zweier Funktionen ist also das Produkt der einzelnen Fourier-Transformierten. Beweis: Aus dem Satz von Fubini folgt Ff ∗g (u) = f (t − s)g(s)e−iu(t−s) e−ius ds dt −us −iu(t−s) dt ds. f (t − s)e = g(s)e Das innere Integral ergibt (nach einer Substitution) den Wert Ff (u). Die verbleibende Integration liefert dann das gew¨ unschte Ergebnis.
7.37 Beispiel. (Faltung von Normalverteilungs-Dichten) F¨ ur alle μ, μ ∈ R und σ, σ > 0 gilt nach (7.45) Fϕμ,σ · Fϕμ ,σ = Fϕμ+μ ,σ+σ . Damit erhalten wir aus Satz 7.36 und dem Eindeutigkeitssatz (Folgerung 7.35) die zentrale Faltungseigenschaft ϕμ,σ ∗ ϕμ ,σ = ϕμ+μ ,σ+σ der Normalverteilung. Wir kommen hierauf in Kapitel 9 zur¨ uck.
7.2.8
Die Parsevalsche Gleichung
Wir beweisen jetzt ein stetiges Analogon der Parsevalschen Gleichung (7.27): 7.38 Satz. (Parsevalsche Gleichung ) Es sei f ∈ L1 (R; C) ∩ L2 (R; C). Dann ist Ff ∈ L2 (R; C), und es gilt 1 2 |f (t)| dt = |Ff (u)|2 du. 2π
(7.49)
Beweis: Zusammen mit f betrachten wir die durch g(t) := f (−t) definierte Funktion g ∈ L1 (R; C) ∩ L2 (R; C). Nach Satz 6.38 ist die Faltung h := f ∗ g beschr¨ ankt und stetig. Ferner gilt h(0) =
|f (t)|2 dt.
352
7 Fourieranalyse
Aus den S¨ atzen 7.27 und 7.36 folgt |Ff |2 = Ff · Ff = Fh . Weil Ff beschr¨ ankt ist (Satz 7.24), liefern der Satz von Fubini und Beispiel 7.32 f¨ ur jedes λ>0 e−itu h(t) dt du e−λ|u| |Ff (u)|2 du = e−λ|u| 2λ −λ|u| −itu = h(t) e e du dt = h(t) + 2 dt. λ t Mit der Substitution s := t/λ ergibt sich e−λ|u| |Ff (u)|2 du = h(λs)
2 ds. 1 + s2
2 F¨ ur λ → 0 konvergiert der Integrand des rechts stehenden Integrals gegen h(0) 1+s 2 . Nach 2 dem Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz strebt das Integral gegen 2/(1+s ) ds = 2π. Damit folgt die Behauptung aus Satz 6.65 u ¨ ber die monotone Konvergenz.
In der Signaltheorie ist die linke Seit von (7.49) die (mathematische) Energie eines durch die Funktion f beschriebenen zeitkontinuierlichen Signals nicht festgelegter physikalischer Dimension. Die Parsevalsche Gleichung zeigt, wie die Signalenergie aus der Fourier-Transformation des Signals gewonnen werden kann.
Lernziel-Kontrolle • Was ist eine trigonometrische Reihe? • Was versteht man unter den Begriffen Fourierkoeffizient, Fourierreihe und Fourierapproximation? • Wann konvergiert die Fourierreihe einer Funktion f gleichm¨ aßig gegen f ? • K¨ onnen Sie eine vollst¨andige trigonometrische Orthogonalfolge angeben? • Was besagt die L2 -Konvergenz von Fourierreihen? • Legt die Folge der Fourierkoeffizienten eine periodische Funktion eindeutig fest? • Was besagt das Gibbs-Ph¨anomen? • Wie ist die Fourier-Transformation definiert? • K¨ onnen Sie Eigenschaften der Fourier-Transformation angeben? • Inwieweit kann eine Funktion aus ihrer Fourier-Transformierten rekonstruiert werden? • Wie ergibt sich die Fourier-Transformierte der Faltung zweier Funktionen?
Kapitel 8
Differentialgleichungen Auf der Genauigkeit, mit welcher wir die Erscheinungen in’s Unendlichkleine verfolgen, beruht wesentlich die Erkenntnis ihres Causalzusammenhangs.
Bernhard Riemann
Dieses Kapitel gibt eine Einf¨ uhrung in Theorie und Anwendungen gew¨ ohnlicher Differentialgleichungen. Derartige Gleichungen spielen bei der Modellierung von Prozessabl¨aufen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften eine beherrschende Rolle. Der tiefere Grund hierf¨ ur liegt darin, dass wir h¨ aufig realit¨ atsnahe Vor¨ stellungen u des Prozessablaufs besitzen, die durch eine kleine ¨ ber Anderungen Ver¨anderung von Einflussgr¨oßen wie etwa Ort und Zeit hervorgerufen werden.
8.1 8.1.1
Einfu ¨hrung Grundbegriffe
Eine Differentialgleichung (kurz: DGL) ist eine Gleichung, in der sog. unabh¨ angige Variablen sowie Funktionen und Ableitungen von Funktionen auftreten k¨ onnen. Ein Beispiel einer Differentialgleichung ist y + xy = 0,
x ∈ I.
(8.1)
Hierin sind I ⊂ R ein (beliebiges) Intervall, x die unabh¨ angige Variable und y die gesuchte Funktion. Eine L¨osung dieser Gleichung ist eine Funktion y = y(x), f¨ ur die (8.1) identisch in x gilt, also y (x)+xy(x) = 0 f¨ ur jedes x ∈ I erf¨ ullt ist. Durch Differentiation best¨atigt man unmittelbar, dass die Funktion y = exp(−x2 /2) eine L¨osung von (8.1) ist. Satz 8.2 wird zeigen, dass jede L¨ osung von (8.1) die Gestalt 2 y = c · exp(−x /2) f¨ ur ein c ∈ R besitzt. N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_8, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
354
8 Differentialgleichungen
Eine DGL heißt Differentialgleichung erster Ordnung , wenn in ihr nur die erste, aber keine h¨ohere Ableitung der gesuchten Funktion auftritt. In diesem Sinn ist (8.1) eine DGL erster Ordnung, aber nicht y · y = x · sin y . Die allgemeine Differentialgleichung erster Ordnung besitzt die Gestalt F (x, y, y ) = 0.
(8.2)
Dabei ist F eine auf einer Teilmenge des R3 definierte Funktion. Eine Funktion y : I → R heißt L¨osung von (8.2) auf (dem Intervall) I, wenn sie auf I differenzierbar ist und die Gleichung F (x, y(x), y (x)) = 0 f¨ ur jedes x ∈ I erf¨ ullt. Treten in einer DGL Ableitungen bis einschließlich n-ter Ordnung auf (n ∈ N), so spricht man von einer Differentialgleichung n-ter Ordnung In diesem Sinn sind also y ·sin y −x2 ·y = 0 eine DGL zweiter Ordnung und y −y ·exp(−x) = y eine DGL dritter Ordnung. Die allgemeine DGL n-ter Ordnung ist von der Form F (x, y, y , y , . . . , y (n) ) = 0
(8.3)
mit einer auf einer Teilmenge des Rn+1 definierten Funktion F . Eine L¨osung von (8.3) auf einem Intervall I ⊂ R ist eine n-mal differenzierbare Funktion y : I → R mit der Eigenschaft F (x, y(x), y (x), y (x), . . . , y (n) (x)) = 0,
x ∈ I.
Eine DGL n-ter Ordnung heißt explizit , wenn sie nach der n-ten Ableitung aufgel¨ost werden, d.h. in der Form y (n) = f (x, y, y , y , . . . , y(n−1) ) mit einer auf einer Teilmenge des Rn definierten Funktion f geschrieben werden kann. Andernfalls heißt sie implizit . In diesem Sinn sind also y = cos(xy )−3x2 y eine explizite DGL zweiter Ordnung und y ·y +exp(−xy ) = 0 eine implizite DGL erster Ordnung. Alles bisher Gesagte betraf Differentialgleichungen f¨ ur Funktionen einer unabh¨angigen Variablen; in diesem Fall spricht man von einer gew¨ohnlichen Differentialgleichung . Im Gegensatz dazu ist eine partielle Differentialgleichung eine Gleichung, in der eine gesuchte Funktion mehrerer unabh¨ angiger Variablen sowie partielle Ableitungen dieser Funktion auftreten. So ist etwa die Gleichung ∂y ∂ 2 y − 2 =0 ∂x ∂t
8.2 Wachstums- und Zerfallsprozesse
355
eine partielle DGL f¨ ur eine Funktion y = y(x, t) der beiden Variablen x und t. Wir werden im Folgenden ausschließlich gew¨ ohnliche Differentialgleichungen betrachten. Zun¨achst beginnen wir mit Differentialgleichungen erster Ordnung.
8.1.2
Richtungsfeld und Linienelement
Es sei y = f (x, y)
(8.4)
eine explizite DGL erster Ordnung. Dabei sei die Funktion f (x, y) auf einer gewissen Menge D ⊂ R2 definiert. Eine auf einem Intervall I ⊂ R definierte Funktion y : I → R heißt L¨osung der DGL (8.4) (auf I), wenn y auf I differenzierbar ist, der Graph von y Teilmenge von D ist und (8.4) gilt. Zusammengefasst bedeutet das (x, y(x)) ∈ D
und y (x) = (x, y(x)),
x ∈ I.
Die DGL (8.4) erlaubt die folgende geometrische Interpretation. Geht eine L¨osungskurve y(x) durch den Punkt (s, t) ∈ D, gilt also t = y(s), so ist y (s) = f (s, t) die Steigung dieser Kurve im Punkt (s, t). Da die Steigung der L¨ osungskurve im Punkt (s, y(s)) die Richtung“ der Kurve in diesem Punkt beschreibt, ” lenkt“ die DGL (8.4) gewissermaßen die L¨ osungskurve y(x) mit Hilfe st¨ andiger ” Richtungsanweisungen von ihrem Anfangs- zu ihrem Endpunkt. Eine Richtungsanweisung im Punkt (s, t) kann dadurch veranschaulicht werden, dass man durch diesen Punkt ein sog. Linienelement, d.h. ein kleines Geradenst¨ uck mit der dort vorgeschriebenen Steigung f (s, t), legt. Die Gesamtheit der Linienelemente der DGL (8.4) heißt ihr Richtungsfeld . Eine L¨osungskurve y(x) verl¨auft so durch das Richtungsfeld, dass das Geradenst¨ uck des Linienelements in jedem Punkt (x, y(x)) der Kurve tangential zu ihr ist. In diesem Sinn muss also eine L¨osungskurve auf das Richtungsfeld der Differentialgleichung passen“. Bild 8.1 zeigt die Richtungsfelder der Differenti” osungskurven. algleichungen y = x + y und y = x − y mit jeweils passenden“ L¨ ”
8.2
Wachstums- und Zerfallsprozesse
Die folgenden Beispiele zeigen, wie Differentialgleichungen entstehen k¨ onnen.
8.2.1
Exponentielles Wachstum
In einer N¨ahrfl¨ ussigkeit befinde sich eine Bakterienpopulation, deren zeitliche Entwicklung durch eine Funktion t → P (t) beschrieben werden soll. Dabei stehe P (t) f¨ ur den Umfang der Population zur Zeit t.
356
8 Differentialgleichungen y
y
x
x
Bild 8.1: Richtungsfelder der Differentialgleichungen y = x + y (links) und y = x − y (rechts) mit passenden“ L¨ osungskurven ” ¨ Zur Gewinnung einer geeigneten Funktion P (·) stellen wir folgende Uberlegung an. Nach Ablauf einer Zeitspanne Δt wird sich die Population um ΔP := P (t + Δt) − P (t) Mitglieder vermehrt haben. Solange gen¨ ugend Nahrung vorhanden ist, kann angenommen werden, dass dieser Zuwachs etwa proportional zur Gr¨ oße der Population zu Beginn des Zeitintervalls [t, t + Δt] und zur Zeitspanne Δt ist. Also gilt ΔP ≈ q · P (t) · Δt
(8.5)
mit einer gewissen Konstanten q > 0. Da hierdurch jedoch nicht ber¨ ucksichtigt wird, dass auch innerhalb des Zeitintervalls [t, t + Δt] hinzukommende Bakterien durch Vermehrung st¨andig zum Wachstum der Population beitragen, kann (8.5) nur bei kleinem Δt den Vermehrungsprozess einigermaßend zutreffend modellieren. Schreibt man (8.5) in der Form ΔP/Δt ≈ q · P (t) und l¨ asst Δt gegen Null streben, so entsteht die Differentialgleichung P (t) = q · P (t),
t ≥ 0.
(8.6)
Hierbei machen wir die idealisierende Annahme, der Wachstumsprozess k¨ onne durch eine differenzierbare Funktion hinreichend gut beschrieben werden (man beachte, dass die tats¨achliche Bakterienanzahl ganzzahlig ist). ¨ Die DGL (8.6) verkn¨ upft die zur Zeit t vorliegende Anderungsoder Reproduk tionsrate P (t) mit der Populationsgr¨oße P (t). Da offenbar f¨ ur jedes c ∈ R die Funktion P (t) := c · exp(qt) Gleichung (8.6) gen¨ ugt, wird bereits hier ein allgemeiner Sachverhalt deutlich: Differentialgleichungen besitzen u osungen; die Eindeutigkeit der ¨ blicherweise unendlich viele L¨
8.2 Wachstums- und Zerfallsprozesse
357
L¨osung wird im Allgemeinen erst durch Einf¨ uhrung von Zusatzbedingungen erreicht. So l¨asst sich etwa in der obigen Situation die L¨ osungsfunktion nur dann eindeutig identifizieren, wenn der Populationsumfang zu Beginn des Wachstumsprozesses, also zur Zeit t = 0, bekannt ist. In der Tat liefert die sog. Anfangsbedingung P (0) := P0
(8.7)
die Eindeutigkeit der L¨osung; die Funktion P (t) := P0 · exp(qt)
(8.8)
erf¨ ullt (8.6) und gen¨ ugt der Anfangsbedingung (8.7). Satz 8.2 wird zeigen, dass umgekehrt jede L¨osungsfunktion P (·) von (8.6) von dieser Gestalt sein muss. P (t) 8P0
Bild 8.2: Exponentielles Wachstum P (t) = P0 · exp(qt)
4P0 2P0 P0 ln 2 q
2 ln 2 q
3 ln 2 q
t
Wird ein Prozessverlauf durch die in Bild 8.2 dargestellte Funktion (8.8) beschrieben, so spricht man von exponentiellem Wachstum. Bild 8.2 verdeutlicht auch, dass sich der Umfang einer exponentiell wachsenden Population in jeweils gleichen Zeitabst¨anden verdoppelt. Aus der Gleichung P (t1 ) = 2P (t0 ) ergibt sich ¨ n¨amlich nach Einsetzen in (8.8) und Ubergang zum nat¨ urlichen Logarithmus die Gleichung qt1 = ln 2 + qt0 und somit t1 − t0 =
ln 2 0.6931 ≈ . q q
Insbesondere folgt, dass der Umfang P0 der Ausgangspopulation zum Zeitpunkt k · ln 2/q auf das 2k -fache angewachsen ist (Bild 8.2). Da eine exponentiell wachsende Population f¨ ur t → ∞ jede vorgegebene Gr¨ oße u ¨berschreitet, kann (8.8) nur die Entwicklung einer kleinen Population innerhalb einer relativ kleinen Zeitspanne einigermaßen zutreffend beschreiben. Hat eine Population jedoch eine gewisse Gr¨oße u ¨berschritten, so machen sich entwicklungshemmende Faktoren bemerkbar, die zu einer Revidierung des Modells (8.8) Anlass geben (siehe 8.2.3).
358
8.2.2
8 Differentialgleichungen
Exponentielle Zerfallsprozesse
Ein exponentieller Zerfallsprozess wird durch die Gleichung P (t) = −λ · P (t),
t ≥ 0,
(8.9)
beschrieben. Hierbei ist λ > 0 ein positiver Parameter. Der einzige Unterschied zur DGL (8.6) besteht also darin, dass der Faktor vor P (t) in (8.9) negativ ist. In Anwendungen steht P (t) oft wie fr¨ uher f¨ ur den Umfang einer Population zur Zeit t. Von dieser Population zerfalle w¨ahrend eines kleinen Zeitabschnitts Δt ein Anteil, der ungef¨ahr proportional zu Δt und P (t) ist; es gelte also P (t + Δt) ≈ P (t) − λ · P (t) · Δt
(8.10)
mit einer gewissen Proportionalit¨atskonstanten λ > 0. Subtrahiert man auf beiden Seiten von (8.10) die Gr¨oße P (t) und dividiert anschließend durch Δt, so folgt (8.9) beim Grenz¨ ubergang Δt → 0. Mit der Anfangsbedingung P (0) := P0 ist die L¨osung von (8.9) die in Bild 8.3 dargestellte Funktion P (t) = P0 · exp(−λt). P (t) P0 Bild 8.3: Exponentieller Zerfall P (t) = P0 · exp(−λt)
P0 /2 P0 /4 P0 /8 ln 2 λ
2 ln 2 λ
3 ln 2 λ
t
Der Verdoppelungszeit f¨ ur eine exponentiell wachsende Population entspricht hier die sog. Halbwertszeit: Innerhalb der Zeitspanne ln 2/λ zerf¨ allt die H¨ alfte der jeweils noch vorhandenen Population, und zwar unabh¨ angig von deren Gr¨ oße. Zu den Zeitpunkten 2 ln 2/λ und 3 ln 2/λ ist die Population somit auf ein Viertel bzw. ein Achtel ihrer urspr¨ unglichen Gr¨oße geschrumpft (Bild 8.3). Das Standardbeispiel f¨ ur einen exponentiellen Zerfallsprozess bildet eine radioaktive Substanz. In diesem Zusammenhang heißt die obige Proportionalit¨ atskonstante λ auch Zerfallskonstante. So verliert etwa das radioaktive C¨ asium-137 pro Jahr 2,3% seiner Masse. Aus der hieraus resultierenden Gleichung P (1) = P (0) exp(−λ · 1) = (1 − 0.023)P (0) (Zeiteinheit = ein Jahr) folgt λ = − ln 0.977 ≈ 0.0233 und somit ln 2/λ ≈ 29.75. Die Halbwertszeit von C¨asium-137 betr¨agt somit ungef¨ ahr 30 Jahre.
8.2 Wachstums- und Zerfallsprozesse
359
Eine interessante Anwendung des exponentiellen Zerfallsgesetzes f¨ ur radioaktive Substanzen ist die von W.F. Libby1 entwickelte Radiokarbonmethode. Sie dient der Datierung fossiler Objekte und nutzt die Tatsache aus, dass neben dem nichtradioaktiven Kohlenstoff C 12 auch ein radioaktiver Kohlenstoff C 14 mit der Zerfallskonstanten λ = 0.00012/Jahr existiert. In einem lebenden Organismus ist das Verh¨altnis zwischen C 12 und C 14 dasselbe wie in der Atmosph¨ are; er unter12 14 scheidet somit nicht zwischen C und C . Sobald der Organismus jedoch geallt, storben ist, beginnt sich dieses Verh¨altnis zu ¨ andern, weil das Isotop C 14 zerf¨ aber nicht mehr aufgenommen wird. Wird etwa in einem Fossil das α-fache (0 < α < 1) des Verh¨ altnisses von C 14 zu 12 C gemessen, das man in heute lebenden Organismen findet, so ist in dem toten Organismus nur noch das α-fache der C 14 -Menge vorhanden, die zum Todeszeitpunkt in ihm war. Bezeichnet P (t) die zur Zeit t im Organismus vorhandene Menge C 14 (dabei entspreche t = 0 dem Todeszeitpunkt), so gilt P (t) = αC(0). Da C 14 dem exponentiellen Zerfallsgesetz P (t) = P (0) exp(−λt) mit der Zerfallskonstanten λ = 0.00012/Jahr gen¨ ugt, folgt α = exp(−λt). Somit sind etwa − ln α 0.00012 Jahre seit dem Tod des Organismus verstrichen. t=
8.2.3
Logistisches Wachstum
Wir lassen uns jetzt von der Vorstellung leiten, dass eine Population aufgrund beschr¨ankter Ressourcen eine gewisse Maximalgr¨ oße S > 0 nicht u ¨ berschreiten kann. Nehmen wir an, dass die Reproduktionsrate P (t) der Population sowohl proportional zum gerade vorhandenen Bestand P (t) als auch zum noch verbleibenden Spielraum“ S − P (t) ist, so entsteht die logistische Differentialgleichung ” P (t) = q · P (t) · (S − P (t)), t ≥ 0, (8.11) in der (wie schon in Gleichung (8.6)) q > 0 eine Proportionalit¨ atskonstante ist. Durch Einsetzen best¨atigt man, dass die sog. logistische Wachstumsfunktion
P (t) := 1+
S P0
S − 1 exp(−qSt)
(8.12)
eine L¨osung von (8.11) ist und die Anfangsbedingung P (0) = P0 erf¨ ullt. Dabei ist P0 < S vorausgesetzt. Bild 8.4 zeigt den qualitativen Verlauf dieser streng monoton wachsenden Funktion. F¨ ur t → ∞ strebt P (t) gegen die maximal m¨ ogliche Populationsgr¨ oße S. 1
Willard Frank Libby (1908–1980), amerikanischer Physiker und Chemiker. Professor in Berkeley, Chicago und Los Angeles. F¨ ur die von ihm entwickelte Radiokarbonmethode erhielt er 1960 den Nobelpreis f¨ ur Chemie.
360
8 Differentialgleichungen P (t) S Bild 8.4: Logistische Wachstumsfunktion (8.12)
S/2 P0 t
t0
Aus Gleichung (8.11) folgt durch Differentiation P (t) = q · P (t) · (S − 2P (t)). Gilt P0 < S/2, ist die Anfangspopulation also klein im Vergleich zur S¨ attigungs” grenze“ S, so ist (f¨ ur gen¨ ugend kleines t) P (t) < S/2 und somit auch P (t) > 0. Die Wachstumsrate nimmt also zun¨achst st¨ andig zu. Zu dem Zeitpunkt t0 , zu welchem die Population die H¨alfte des m¨oglichen Maximalbestandes S erreicht hat, liegt wegen P (t0 ) = 0 ein Wendepunkt vor. Wegen P (t) < 0 f¨ ur t > t0 nimmt die Wachstumsrate nach Erreichen dieses Wendepunktes st¨ andig ab.
8.3
Trennbare Differentialgleichungen
Eine trennbare Differentialgleichung besitzt die Gestalt y = g(x) · h(y)
(8.13)
mit stetigen, auf gewissen Intervallen I und J definierten Funktionen g und h. Um (8.13) zu l¨osen, nehmen wir zun¨achst h(y) = 0 f¨ ur jedes y ∈ J an. Die Idee besteht dann darin, y = dy/dx zu setzen, mit dx zu multiplizieren und durch h(y) zu dividieren, also die Variablen x und y nach dem Rezept y, dy nach links ” und x, dx nach rechts“ zu trennen. Die resultierende formale Gleichung dy = g(x)dx h(y)
(8.14)
wird dann auf beiden Seiten unbestimmt integriert. Sind G eine Stammfunktion von g auf I und H eine Stammfunktion von 1/h auf J, so folgt aus (8.14) H(y) = G(x) + c,
x ∈ I, y ∈ J,
(8.15)
mit einer beliebigen Konstanten c ∈ R. Diese Gleichung kann in der Form y = y(x) = H −1 (G(x) + c) nach y aufgel¨ost werden. (Weil h auf J das Vorzeichen nicht wechselt, ist H streng monoton, also injektiv.) Dass die so erhaltene Funktion eine L¨ osung von (8.13)
8.4 Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung
361
ist, ergibt sich durch Differentiation, denn mit Satz I.6.43 (Differentiation der Inversen) und der Kettenregel folgt wegen H = 1/h, G = g die Gleichungskette 1 1 · g(x) = · g(x) y (x) = H −1 (G(x) + c) · G (x) = −1 H (H (G(x) + c)) H (y(x)) = h(y(x)) · g(x). Ist y0 eine Nullstelle von h, so ist die konstante Funktion y ≡ y0 eine (triviale) L¨osung von (8.13). Im allgemeinen Fall bestimmt man zun¨ achst alle etwaigen derartigen L¨osungen und wendet dann das obige Rezept der Trennung der Ver¨anderlichen auf jedes Intervall J ⊂ J mit h(y) = 0, y ∈ J , an. 8.1 Beispiel. Die trennbare Differentialgleichung y = y2
(8.16)
ist auf ganz R2 erkl¨art, d.h. es gilt I = J = R. Wir notieren die (einzige) triviale L¨osung y ≡ 0 und betrachten jetzt die F¨alle y > 0 (d.h. J = (0, ∞)) und y < 0 (d.h. J = (−∞, 0)). Trennung der Ver¨anderlichen ergibt dy/y 2 = dx und somit nach Integration −1/y = x + c, c ∈ R. Die Aufl¨ osung nach y liefert 1 , x = c. y(x) = − x+c Im Fall y > 0 gilt x < −c, im Fall y < 0 analog x > −c. Obwohl die DGL (8.16) osungen nur in Halbebenen auf ganz R2 erkl¨art ist, existieren die nichttrivialen L¨ {(x, y) : x < −c} oder {(x, y) : x > −c} (Bild 8.5). y
x
8.4
Bild 8.5: ur L¨ osungen der DGL y = y 2 f¨ zwei verschiedene Werte von c
Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung
Die in den Beispielen 8.2.1 und 8.2.2 auftretenden Differentialgleichungen sind Spezialf¨alle der sog. linearen Differentialgleichung erster Ordnung y (x) + a(x) · y(x) = b(x),
x ∈ I.
(8.17)
362
8 Differentialgleichungen
Dabei sind a und b auf einem Intervall I definierte stetige reellwertige Funktionen. Die Funktion b heißt St¨orfunktion. Gleichung (8.17) heißt homogen, falls b ≡ 0, andernfalls inhomogen. Die der DGL (8.17) zugeordnete homogene DGL ist y (x) + a(x) · y(x) = 0,
8.4.1
x ∈ I.
(8.18)
Die homogene lineare Differentialgleichung
Wir betrachten zun¨achst die homogene lineare DGL (8.18). Offenbar ist die Nullfunktion y ≡ 0 eine L¨osung von (8.18). Differentiation ergibt, dass mit je zwei L¨ osungen y1 und y2 von (8.18) und beliebigen Konstanten c1 , c2 auch die Linearkombination y := c1 y1 + c2 y2 eine L¨osung von (8.18) ist. Somit bildet die Menge der L¨osungen der homogenen linearen DGL (8.18) einen Vektorraum u ¨ber R. 8.2 Satz. (L¨osung der homogenen linearen DGL) (i) Die allgemeine L¨ osung der homogenen DGL (8.18) ist y = c · exp − a(x) dx . Dabei sind c ∈ R eine beliebige Konstante und Stammfunktion von a.
(8.19)
a(x)dx eine beliebige
(ii) F¨ ur jedes x0 ∈ I und jedes y0 ∈ R besitzt das sog. Anfangswertproblem y (x) + a(x) · y(x) = 0, die eindeutig bestimmte L¨osung y(x) = y0 · exp −
x
y(x0 ) = y0 ,
(8.20)
a(t) dt ,
x ∈ I.
(8.21)
x0
Beweis: (i) Durch Differentiation sieht man sofort, dass jede Funktion der in (8.19) angegebenen Gestalt eine L¨ osung osung von (8.18) ist. Ist umgekehrt y eine beliebige L¨ von (8.18) und y˜ := exp(− a(x)dx) gesetzt, so liefern die Quotientenregel I.6.6.7 sowie die f¨ ur y und y˜ geltende Gleichung (8.18) d y y y˜ − y˜ y −a(x)y y˜ + ya(x)˜ y = = = 0, x ∈ I. dx y˜ y˜2 y˜2 Nach Satz I.6.51 ist die Funktion y/˜ y konstant, und folglich existiert ein c ∈ R mit y = c˜ y. (ii) Die in (8.21) angegebene Funktion ist offenbar eine L¨ o sung von (8.20). Eine beliex bige Stammfunktion von a ist von der Gestalt A(x) = γ + x0 a(t) dt f¨ ur ein γ ∈ R. Nach Teil (i) muss eine L¨osung von (8.20) von der Form x x a(t) dt = c · exp(−γ) · exp − a(t) dt y(x) = c · exp − γ + x0
sein. Wegen y(x0 ) = y0 folgt c · exp(−γ) = y0 .
x0
8.4 Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung
8.4.2
363
Die inhomogene lineare Differentialgleichung
Wir untersuchen jetzt die inhomogene lineare DGL (8.17). Um alle L¨ osungen zu erhalten, nehmen wir an, wir h¨atten schon eine partikul¨are (d.h. irgendeine feste) L¨osung yp von (8.17) gefunden. Ist dann y irgendeine weitere L¨ osung, so folgt (y − yp ) = y − yp = b(x) − a(x)y − (b(x) − a(x)yp ) = −a(x)(y − yp ). Also ist die Differenz y−yp eine L¨osung der zugeordneten homogenen DGL (8.18). Nach Satz 8.2 (i) gilt somit y = yp + c · exp − a(x) dx (8.22) f¨ ur ein c ∈ R. Das Problem, alle L¨osungen der inhomogenen DGL (8.17) zu bestimmen, reduziert sich also auf die Angabe einer partikul¨ aren L¨ osung yp von (8.17). Zur Bestimmung einer solchen L¨osung machen wir den Ansatz yp := C · exp − a(x) dx (8.23) mit einer geeignet zu w¨ahlenden stetig differenzierbaren Funktion C : I → R. Ein Vergleich mit (8.19) zeigt, dass wir mit dieser Vorgehensweise die Konstante c der allgemeinen L¨osung der homogenen DGL (8.18) als differenzierbare Funktion auffassen, also die Konstante c variieren“ (sog. Methode der Variation der ” Konstanten). Direktes Ausrechnen (Produktregel!) ergibt yp + a · yp = C · exp − a(x) dx . ullt, muss also Damit die durch (8.23) definierte Funktion yp Gleichung (8.17) erf¨ C exp(− a(x)dx) = b oder ¨aquivalent dazu C = b · exp( a(x) dx) gelten. Da die Funktion auf der rechten Seite dieser Gleichung stetig ist, besitzt sie nach Satz I.7.20 eine Stammfunktion C := b(x) exp a(x) dx dx, (8.24) welche in (8.23) eingesetzt die gesuchte L¨osung yp liefert. Wir fassen zusammen: 8.3 Satz. (L¨osung der inhomogenen linearen DGL) (i) Die allgemeine L¨osung der inhomogenen DGL (8.17) ist von der Gestalt (8.22), also die Summe einer partikul¨aren L¨osung von (8.17) und einer allgemeinen L¨ osung der zugeordneten homogenen DGL (8.18). Eine partikul¨ are L¨ osung von (8.17) ist durch (8.23) und (8.24) gegeben.
364
8 Differentialgleichungen
(ii) F¨ ur jedes x0 ∈ I und jedes y0 ∈ R besitzt das Anfangswertproblem y (x) + a(x) · y(x) = b(x),
y(x0 ) = y0 ,
die eindeutig bestimmte L¨osung x −A(x) A(t) · y0 + b(t) · e dt , y(x) = e
x
A(x) :=
x0
(8.25)
a(t) dt. (8.26) x0
Beweis: Es ist nur noch Teil (ii) zu zeigen. Offenbar ist die in (8.26) angegebene Funktion eine L¨ osung des Anfangswertproblems (8.25). W¨ aren y1 , y2 L¨ osungen von (8.25), so w¨ are y := y1 − y2 eine L¨osung der homogenen DGL (8.18) mit der Eigenschaft y(x0 ) = 0. Nach Satz 8.2 w¨ urde dann y ≡ 0 gelten, was die Eindeutigkeit zeigt.
8.4.3
¨ Die Gompertzsche Uberlebensund Wachstumsfunktion
Wie in 8.2.1 und 8.2.2 betrachten wir eine (große) Population, deren Umfang zur Zeit t durch eine differenzierbare Funktion P (t) beschrieben sei. Dabei denken wir an den im Versicherungswesen wichtigen Fall einer Altersgruppe (Kohorte). Durch Versterben von Mitgliedern nimmt die Population st¨ andig ab; von den urspr¨ unglich P (0) Mitgliedern sind zur Zeit t noch P (t) Mitglieder vorhanden. Die angige) Absterbegeschwindigkeit (positive) Gr¨oße −P (t) kann dann als (zeitabh¨ der Population gedeutet werden. Der Quotient h(t) := −
P (t) P (t)
(8.27)
beschreibt die durchschnittliche Absterbegeschwindigkeit (zur Zeit t); er wird in der Versicherungsmathematik als Sterbeintensit¨at bezeichnet. Aufgrund der leidvollen Erfahrung, dass die Sterbeintensit¨at umso rascher w¨ achst, je gr¨ oßer sie schon ist, kann man f¨ ur h die homogene lineare DGL h (t) = λ · h(t) mit einer positiven Konstanten λ ansetzen (in Beispiel 8.2.2 hatten wir eine konstante Sterbeintensit¨at angenommen). Mit Satz 8.2 folgt dann h(t) = β · exp(λt),
β = h(0).
Einsetzen in (8.27) liefert die homogene lineare DGL P (t) + β · exp(λt) · P (t) = 0,
t ≥ 0,
die mit der Anfangsbedingung P (0) = P0 nach Satz 8.2 die L¨ osung β , t ≥ 0, P (t) = P0 · exp − · eλt − 1 λ
(8.28)
8.4 Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung
365
¨ (sog. Gompertzsche2 Uberlebensfunktion) besitzt. Ihr Schaubild ist eine fallende Kurve mit einem Wendepunkt in t = (1/λ) ln(λ/β) (Bild 8.6 links). Das Gegenst¨ uck zu (8.28) ist die der homogenen linearen DGL P (t) = β · e−λt · P (t),
t ≥ 0,
und der Bedingung P (0) = P0 gen¨ ugende Gompertzsche Wachstumsfunktion β · 1 − e−λt P (t) = P0 · exp , t ≥ 0, λ (Bild 8.6 rechts). In diesem Wachstumsmodell strebt die Populationsgr¨ oße f¨ ur t → ∞ gegen die S¨attigungsgrenze P0 exp(β/λ). P (t)
P (t) P0
P0 eβ/λ P0 t
t ¨ Bild 8.6: Gompertzsche Uberlebensund Wachstumsfunktion
8.4.4
Exponentielle Zerfallsprozesse mit Zufuhr
In Verallgemeinerung von 8.2.2 liefert die lineare inhomogene DGL P (t) = −λP (t) + β,
t ≥ 0,
λ, β > 0,
(8.29)
¨ ein Modell f¨ ur die Entwicklung einer Population, deren Anderung in einem kleinen Zeitintervall [t, t + Δt] durch P (t + Δt) ≈ P (t) − λ · P (t) · Δt + β · Δt approximativ beschrieben wird. In diesem Fall wird also der nach einem exponentiellen Zerfallsgesetz stattfindende Abbau durch eine konstante Zufuhr (Immigration) u orper bei gleichzeitiger Zufuhr der ¨berlagert (z.B. Abbau einer Substanz im K¨ Substanz durch Tropfinfusion). Unter der Anfangsbedingung P (0) = P0 besitzt osung (8.29) nach Satz 8.3 die f¨ ur den Fall P0 > β/λ in Bild 8.7 dargestellte L¨ β β P (t) = + P0 − exp (−λt) , t ≥ 0. λ λ Die Populationsgr¨oße wird also auf die Dauer stabil. 2
Benjamin Gompertz (1779–1865), englischer Versicherungsmathematiker.
366
8 Differentialgleichungen P (t)
P0
Bild 8.7: Expontieller Zerfallsprozess mit zeitlich konstanter Zufuhr
β/λ t
8.5 8.5.1
Existenz- und Eindeutigkeitss¨ atze Ein globaler Existenz- und Eindeutigkeitssatz
Es seien I := [a, b] (a, b ∈ R, a < b) ein Intervall und x0 ∈ I. In diesem Abschnitt wenden wir uns der Frage zu, ob das Anfangswertproblem y = f (x, y),
y(x0 ) := y0
(8.30)
genau eine auf [a, b] definierte L¨osung(sfunktion) y(x) besitzt. Wie das folgende Resultat zeigt, kann diese Frage bejaht werden, wenn die Funktion f auf dem Streifen S := {(x, y) : x ∈ I, y ∈ R} stetig ist und dort der globalen Lipschitzbedingung (vgl. auch 3.2.3) |f (x, y) − f (x, z)| ≤ L · |y − z|,
x ∈ I, y, z ∈ R,
(8.31)
gen¨ ugt. Dabei unterliege die Lipschitzkonstante L ≥ 0 keiner Einschr¨ ankung. of4 ) 8.4 Satz. (Globaler Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard3 –Lindel¨ Die Funktion f sei auf dem Streifen S stetig und gen¨ uge der Lipschitzbedingung (8.31). Dann besitzt das Anfangswertproblem (8.30) genau eine L¨osung y(x) auf dem Intervall I. Beweis: Die Beweisidee besteht darin, das Anfangswertproblem in eine Fixpunktgleichung y = T y umzuschreiben und den Banachschen Fixpunktsatz 4.73 anzuwenden. Ist y eine im Intervall I differenzierbare L¨osung von (8.30), so ist wegen der Stetigkeit von f die Ableitungsfunktion y stetig, die L¨osung y also sogar stetig differenzierbar. Nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (Satz I.7.20) gilt dann x f (t, y(t)) dt, x ∈ I. (8.32) y(x) = y0 + x0 3 (Charles) Emile Picard (1856–1941), ab 1886 Professor an der Sorbonne. Hauptarbeitsgebiete: Differentialgeometrie, Analysis, algebraische Kurven und Fl¨ achen 4 Ernst Leonard Lindel¨ of (1870–1946), ab 1903 Professor in Helsinki. Lindel¨ of lieferte bedeutende Arbeiten zur Funktionentheorie (Begr¨ under der sog. finnischen Schule) und Analysis.
8.5 Existenz- und Eindeutigkeitss¨atze
367
Umgekehrt erf¨ ullt jede auf I stetige L¨osung y von (8.32) die Anfangsbedingung y(x0 ) = y0 . Da die rechte Seite von (8.32) und somit auch y(x) stetig differenzierbar ist und nach Satz I.7.20 Gleichung (8.30) gilt, ist das Anfangswertproblem gleichwertig mit dem Bestehen der Integralgleichung (8.32). Fassen wir die rechte Seite von (8.32) als Operator T : C(I) → C(I), x y → T y, (T y)(x) := y0 + f (t, y(t)) dt, x0
auf, so ist (8.32) gleichbedeutend mit y = T y. Jeder Fixpunkt des Operators T ist somit eine L¨ osung des Anfangswertproblems (8.30). Damit T eine kontrahierende Abbildung auf einem Banachraum wird, verwenden wir einen Trick. Wir versehen die Menge C(I) n¨ amlich nicht mit der normalen“ Supremumsnorm y∞ = sup{|y(x)| : x ∈ I}, sondern ” mit einer bewichteten Supremumsnorm y := sup{|y(x)| · e−αx : x ∈ I}. Hierbei ist α > 0 eine zun¨achst beliebige Zahl. Es ist unmittelbar einzusehen, dass · eine Norm auf C(I) darstellt. Im Fall 0 ≤ a (die F¨ alle b ≤ 0 und a < 0 < b folgen analog) gilt e−αb ≤ e−αx ≤ 1 und somit y ≤ y∞ ≤ eαb · y,
y ∈ C(I).
(8.33)
Die Normen · und · ∞ sind also ¨aquivalent, was insbesondere zeigt, dass (C(I), · ) ein Banachraum ist. Aufgrund der Lipschitzbedingung (8.31) gilt f¨ ur beliebige y, z ∈ C(I) x [f (t, y(t)) − f (t, z(t))] dt |(T y)(x) − (T z)(x)| = x x0 L · |y(t) − z(t)| dt ≤ x0 x =L· |y(t) − z(t)| · e−αt · eαt dt x0 x eαt dt ≤ L·y − z ≤ L·y − z ·
x0 αx
e α
und somit
L ·y − z. α W¨ ahlen wir jetzt α := 2L, so ist T eine Kontraktion mit der Kontraktionskonstanten 1/2. Nach dem Banachschen Fixpunktsatz 4.73 besitzt T genau einen Fixpunkt y. Da y wie oben gesehen das Anfangswertproblem (8.30) l¨ ost, ist der Satz bewiesen. T y − T z ≤
Es sei betont, dass es auch lokale Varianten“ von Satz 8.4 gibt, welche die Exis” tenz und Eindeutigkeit einer L¨osung von (8.30) in einer Umgebung des Punktes (x0 , y0 ) sicherstellen (siehe z.B. (Walter, 2000, Satz 6.III)).
368
8 Differentialgleichungen
Der Banachsche Fixpunktsatz 4.73 besagt, dass bei Wahl einer beliebigen auf dem Intervall I = [a, b] stetigen Funktion g0 die durch gn+1 := T gn , also x f (t, gn (t)) dt (8.34) gn+1 (x) := y0 + x0
osung y des Anfangsrekursiv definierte Folge (gn ) in der Norm · gegen die L¨ wertproblems y = f (x, y), y(x0 ) = y0 , konvergiert. Wegen (8.33) gilt dann auch gn − y∞ → 0; die Folge (gn ) konvergiert also auf dem Intervall I gleichm¨ aßig gegen y. Wir wollen dieses Prinzip anhand eines Beispiels verdeutlichen. 8.5 Beispiel. Wir suchen die nach Satz 8.4 eindeutige L¨osung des Anfangswertproblems y = x + y,
0 ≤ x ≤ 1.
y(0) = 0,
Starten wir mit der Funktion g0 ≡ 0, so liefert das Iterationsverfahren (8.34) x x2 t dt = , g1 (x) = 2 0 x x2 x3 t2 dt = + , t+ g2 (x) = 2 2 6 0 x 2 3 t t x2 x3 x4 g3 (x) = t+ + dt = + + , 2 6 2 6 24 0 und vollst¨andige Induktion ergibt gn (x) =
n+1 k=2
xk , k!
n ∈ N.
Anhand der Gestalt von gn kann osung des Anfangswert man kjetzt sogar die L¨ x /k!, x ∈ R (vgl. I.5.3.2) und Satz I.6.32 problems ablesen. Wegen ex = ∞ k=0 konvergiert die Folge (gn ) auf jedem beschr¨ ankten Intervall gleichm¨ aßig gegen y(x) := ex − 1 − x. Diese Funktion l¨ost das eingangs gestellte Anfangswertproblem, und zwar auf jedem Intervall [0, b] mit b > 0. Da unmittelbar zu sehen ist, dass y(x) auch das Anfangswertproblem y = x + y, y(0) = 0, auf jedem Intervall [a, 0] mit a < 0 l¨ost, ist die auf ganz R definierte Funktion x → ex − 1 − x die einzige L¨ osung der DGL y = x + y mit der Eigenschaft y(0) = 0. Ein Ausschnitt des Graphen dieser Funktion ist in Bild 8.1 links zu sehen. Wie das folgende Beispiel zeigt, kann ein Anfangswertproblem mehrere L¨ osungen besitzen, wenn keine Lipschitzbedingung erf¨ ullt ist.
8.5 Existenz- und Eindeutigkeitss¨atze
369
8.6 Beispiel. Das Anfangswertproblem y (x) = y 2/3 ,
0 ≤ x ≤ 1,
y(0) = 0,
besitzt die beiden L¨osungen y1 ≡ 0 und y2 (x) = (x/3)3 . Mit f (x, y) := y 2/3 kann es kein L ≥ 0 mit (8.31) geben. Speziell f¨ ur z = 0 w¨ are dann n¨ amlich y 2/3 ≤ L · y, 1/3 0 < y ≤ 1, und somit 1 ≤ L · y , 0 < y ≤ 1, was f¨ ur hinreichend kleines y nicht erf¨ ullbar ist.
8.5.2
Systeme von Differentialgleichungen
Sind f1 (x, y1 , . . . , yn ), . . . , fn (x, y1 , . . . , yn ) stetige, auf einer Menge D ⊂ Rn+1 definierte Funktionen, so heißen die n Differentialgleichungen y1 = f1 (x, y1 , y2 , . . . , yn ), y2 = f2 (x, y1 , y2 , . . . , yn ), .. .. . .
(8.35)
yn = fn (x, y1 , y2 , . . . , yn ) ein System von Differentialgleichungen erster Ordnung (in expliziter Form). Eine vektorwertige Funktion y := (y1 . . . , yn ) heißt eine L¨osung von (8.35) in einem Intervall I, wenn yj f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , n} auf I differenzierbar ist und dort der Gleichung yj (x) = fj (x, y1 (x), . . . , yn (x)) gen¨ ugt. Außerdem muss (x, y1 (x), . . . , yn (x)) ∈ D, x ∈ I, gelten. Schreiben wir kurz y := (y1 , . . . , yn ) und f := (f1 , . . . , fn ), so nimmt obiges Differentialgleichungssystem die vom Fall n = 1 her vertraute kompakte Form y (x) = f (x, y ),
x ∈ I,
an. Ein Anfangswertproblem liegt vor, wenn neben der G¨ ultigkeit von (8.35) noch die Anfangsbedingungen yj (x0 ) = aj
(j = 1, . . . , n)
oder kurz y (x0 ) = a
(8.36)
mit a := (a1 , . . . , an ) erf¨ ullt sein sollen. Dabei gelte x0 ∈ I und (x0 ,a) ∈ D. ¨ Aquivalent zu (8.35) und (8.36) ist die (komponentenweise zu lesende) vektorwertige Integralgleichung x y (x) = a + f (t, y(t)) dt, x ∈ I, x0
welche ihrerseits als Fixpunktgleichung y = T y ,
x
f (t, y(t)) dt
(T y )(x) := a + x0
370
8 Differentialgleichungen
f¨ ur einen auf dem Raum der stetigen Rn -wertigen Funktionen definierten Operator T umgeschrieben werden kann. Ganz analog zu Satz 8.4 erhalten wir jetzt mit Hilfe des Banachschen Fixpunksatzes die folgende Existenz- und Eindeutigkeitsaussage (vgl. (Walter, 2000, Par. 10)). 8.7 Satz. (Existenz- und Eindeutigkeitssatz f¨ ur Systeme) In der obigen Situation gelte D = I × Rn f¨ ur ein Intervall I ⊂ R. Ferner gebe es ein L ≥ 0, so dass die Lipschitz-Bedingung f (x, y ) − f (x, z)2 ≤ L · y − z2 ,
x ∈ I, y, z ∈ Rn ,
(8.37)
gilt. Dann hat das Anfangswertproblem (8.35), (8.36) genau eine L¨osung in I.
Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
8.6
Es seien n eine nat¨ urliche Zahl, I ⊂ R ein Intervall und a0 , a1 , . . . , an−1 , b : I → R stetige Funktionen. In Verallgemeinerung von (8.17) heißt die Gleichung y (n) (x) + an−1 (x) · y (n−1) (x) + . . . + a0 (x) · y(x) = b(x),
x ∈ I,
(8.38)
lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung. Die Funktionen a0 , . . . , an−1 heißen Koeffizientenfunktionen , die Funktion b St¨orfunktion. Die DGL (8.38) heißt homogen, falls b ≡ 0, andernfalls inhomogen. Die der Gleichung (8.38) zugeordnete homogene lineare Differentialgleichung ist y (n) (x) + an−1 (x) · y (n−1) (x) + . . . + a0 (x) · y(x) = 0,
8.6.1
x ∈ I.
(8.39)
Eindeutige L¨ osbarkeit des Anfangswertproblems
Ein Anfangswertproblem liegt vor, wenn zus¨ atzlich zu (8.38) f¨ ur ein beliebiges (n−1)
x0 ∈ I und beliebige reelle Zahlen y0 , y0 , . . . , y0 y(x0 ) = y0 ,
das Bestehen der Gleichungen (n−1)
y (x0 ) = y0 , . . . , y (n−1) (x0 ) = y0
(8.40)
gefordert wird. 8.8 Satz. (Existenz- und Eindeutigkeitssatz) Das Anfangswertproblem (8.38), (8.40) besitzt genau eine L¨ osung y : I → R. Beweis: Wir nehmen an, y w¨are eine L¨osung von (8.38), (8.40). Setzt man y0 (x) := y(x), y1 (x) := y (x), y2 (x) := y (x), . . . , yn−1 (x) := y (n−1) (x), so gilt
y0 (x) = y1 (x), y1 (x) = y2 (x), . . . , yn−2 (x) = yn−1 (x)
(8.41)
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung sowie
371
yn−1 (x) = y (n) (x) = b(x) − a0 (x) · y0 (x) − . . . − an−1 (x) · yn−1 (x),
was in Matrixschreibweise die Form ⎞ ⎛ ⎛ 0 1 0 y0 (x) ⎜ y1 (x) ⎟ ⎜ 0 0 1 ⎟ ⎜ ⎜ ⎟ ⎜ .. ⎜ .. .. .. ⎟=⎜ . ⎜ . . . ⎟ ⎜ ⎜ ⎝yn−2 0 0 (x)⎠ ⎝ 0 (x) −a0 (x) −a1 (x) · · · yn−1
0 0 .. .
··· ··· .. .
··· ···
··· ···
⎞ ⎛
0 0 .. .
y0 (x) y1 (x) .. .
⎞
⎛
0 0 .. .
⎞
⎟ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎟·⎜ ⎟+⎜ ⎟ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎠ ⎝yn−2 (x)⎠ ⎝ 0 ⎠ 1 b(x) −an−1 (x) yn−1 (x)
oder kurz y (x) = A(x) · y (x) + b(x)
(8.42)
annimmt. Im Sinne von (8.35) ist Gleichung (8.42) ein System von n Differentialgleichungen f¨ ur die Rn -wertige Funktion y mit den Komponentenfunktionen y0 , . . . , yn−1 . Schreiben wir die Anfangsbedingung (8.40) in der kompakten Form y (x0 ) = y0 ,
(n−1)
y0 := (y0 , y0 , . . . , y0
),
(8.43)
so gen¨ ugt folglich jede L¨osung y von (8.38), (8.40) (mit der Festsetzung (8.41)) den Gleichungen (8.42), (8.43). Umgekehrt erf¨ ullt die erste Komponente y jeder L¨ osung y von (8.42), (8.43) die Gleichungen (8.38), (8.40). Mit f (x, y ) := A(x) · y + b(x) gilt nach Beispiel 4.69 z )2 = A(x) · (y − z)2 ≤ A(x)2 ·y − z2 . f(x, y ) − f(x, Da die Funktion x → A(x)2 = (n − 1 + a20 (x) + a21 (x) + . . . + a2n−1 (x))1/2 stetig ist, ist sie auf jedem kompakten (d.h. beschr¨ankten und abgeschlossenen) Teilintervall J von I beschr¨ ankt. Somit ist Bedingung (8.37) mit J anstelle von I erf¨ ullt. Nach Satz 8.7 gibt es also eine eindeutige L¨osung in J. Das Intervall I ist die Vereinigung von kompakten ur jedes k ∈ N sei yk die soeben Intervallen Jk ⊂ I, k ∈ N, wobei Jk ⊂ Jk+1 , k ∈ N. F¨ gefundene L¨ osung in Jk . Aus der Eindeutigkeit der L¨ osungen folgt yk (x) = yk+1 (x) f¨ ur jedes x ∈ Jk und jedes k ∈ N. Deshalb liefert der Ansatz y (x) := yk (x) (k ∈ N, x ∈ Jk ) eine wohldefinierte Funktion y : I → Rn . Es ist nicht schwer zu sehen, dass diese Funktion die gesuchte eindeutig bestimmte L¨osung ist.
8.6.2
Fundamentalsystem, Wronski-Determinante
Nachdem wir jetzt wissen, dass das Anfangswertproblem (8.38), (8.40) genau eine L¨osung besitzt, k¨ onnen wir die Struktur der L¨ osungsmenge der homogenen DGL (8.39) aufkl¨aren. Hierzu w¨ahlen wir ein beliebiges x0 ∈ I. Satz 8.8 besagt insbesondere, dass f¨ ur jeden der kanonischen Einheitsvektoren e1 = (1, 0, 0, . . . , 0), e2 = (0, 1, 0, . . . , 0), . . . , en = (0, 0, . . . , 0, 1) des Rn die homogene DGL (8.39) zusammen mit den Anfangsbedingungen (y(x0 ), y (x0 ), y (x0 ), . . . , y (n−1) (x0 )) = ej
(8.44)
372
8 Differentialgleichungen
genau eine mit bj bezeichnete L¨osung besitzt (j = 1, . . . , n). Es sei nun y eine beliebige L¨osung von (8.39). Offenbar ist die Linearkombination u := y(x0 )b1 + y (x0 )b2 + . . . + y (n−1) (x0 )bn auch eine L¨ osung von (8.39), die wegen (8.44) die Gleichungen u(x0 ) = y(x0 ), u (x0 ) = y (x0 ), . . . , u(n−1) (x0 ) = y (n−1) (x0 ) erf¨ ullt, also die gleichen Anfangswerte wie y besitzt. Nach Satz 8.8 muss y = u gelten, die beliebige L¨osung y von (8.39) also eine durch die Anfangsbedingung eindeutig bestimmte Linearkombination der Funktionen b1 , . . . , bn sein. Sind v1 , . . . , vn irgendwelche L¨osungen der homogenen DGL (8.39), so heißt die Determinante ⎛ ⎞ v1 (x) v2 (x) ··· vn (x) ⎜ v1 (x) v2 (x) ··· vn (x) ⎟ ⎜ ⎟ W (v1 , . . . , vn ; x) := det ⎜ .. .. .. .. ⎟ ⎝ ⎠ . . . . (n−1)
v1
(n−1)
(x) v2
(n−1)
(x) · · ·
vn
(x)
die Wronski 5 -Determinante von v1 , . . . , vn (an der Stelle x). Gibt es ein x0 ∈ I mit W (v1 , . . . , vn ; x0 ) = 0, so heißt v1 , . . . , vn ein Fundamentalsystem (von L¨osungen) der Gleichung (8.39). In diesem Sinn bilden also die oben eingef¨ uhrten Funktionen b1 , . . . , bn ein Fundamentalsystem von (8.39). Gilt W (v1 , . . . , vn ; x0 ) = 0, so l¨asst sich das lineare Gleichungssystem v1 (x0 ) · c1 v1 (x0 ) · c1 .. . (n−1)
v1
+ +
v2 (x0 ) · c2 v2 (x0 ) · c2 .. . (n−1)
(x0 ) · c1 + v2
+ ... + + ... + .. .
vn (x0 ) · cn vn (x0 ) · cn .. . (n−1)
(x0 ) · c2 + . . . + vn
= =
y(x0 ) y (x0 ) .. .
(8.45)
(x0 ) · cn = y (n−1) (x0 )
eindeutig nach c1 , . . . , cn aufl¨osen, und die mit diesen cj gebildete Funktion u := c1 v1 + . . . + cn vn erf¨ ullt (8.39) und besitzt nach (8.45) die gleichen Anfangsbedingungen wie y. Nach Satz 8.8 gilt y = u; eine beliebige L¨ osung von (8.39) ist also auch als (durch gegebene Anfangsbedingungen eindeutig bestimmte) Linearahnliches Argument zeigt, kombination der Funktionen v1 , . . . , vn darstellbar. Ein ¨ dass diese Funktionen linear unabh¨angig sind. Wir fassen zusammen: 8.9 Satz. (Struktur der L¨osungsmenge einer linearen DGL) (i) Die L¨ osungen der homogenen linearen DGL (8.39) bilden einen n-dimensionalen reellen Vektorraum V . Jedes Fundamentalsystem v1 , . . . , vn von L¨osungen von (8.39) ist eine Basis von V . 5
Graf Ho¨en´e Wronski (1778–1853), polnischer Mathematiker.
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
373
(ii) Man erh¨ alt alle L¨osungen der inhomogenen Gleichung (8.38) in der Form y = yp +
n
cj · vj ,
c1 , . . . , cn ∈ R,
j=1
are L¨osung von (8.38) ist. wobei yp eine fest gew¨ahlte partikul¨ Das n¨achste Resultat zeigt, dass die Wronski-Determinante eines Fundamentalsystems st¨andig von 0 verschieden ist. Es zeigt auch, dass n L¨ osungen der homogenen Gleichung (8.39) genau dann linear abh¨ angig sind, wenn ihre WronskiDeterminante in mindestens einem Punkt von I von Null verschieden ist. 8.10 Satz. (Die Wronski-Determinante ist immer = 0 oder immer = 0) Es seien v1 , . . . , vn irgendwelche L¨osungen der homogenen DGL (8.39). Dann sind die folgenden Aussagen ¨ aquivalent: (i) Es gibt ein x0 ∈ I mit W (v1 , . . . , vn ; x0 ) = 0. (ii) Es gilt W (v1 , . . . , vn ; x) = 0 f¨ ur jedes x ∈ I. Beweis: Es ist nur die Richtung (i) =⇒ (ii) zu zeigen. Wir f¨ uhren den Beweis durch ur ein x1 ∈ I. Dann Kontraposition und nehmen an, es w¨are W (v1 , . . . , vn ; x1 ) = 0 f¨ besitzt das homogene lineare Gleichungssystem v1 (x1 ) · c1 v1 (x1 ) · c1 .. . (n−1)
v1
v2 (x1 ) · c2 v2 (x1 ) · c2 .. .
+ +
(n−1)
(x1 ) · c1 + v2
+ ... + + ... + .. .
vn (x1 ) · cn vn (x1 ) · cn .. . (n−1)
(x1 ) · c2 + . . . + vn
= 0 = 0 .. .
(8.46)
(x1 ) · cn = 0
eine vom Nullvektor verschiedene L¨osung (c1 , . . . , cn ). Die Funktion y := c1 v1 +. . .+cn vn gen¨ ugt der homogenen DGL (8.39) und erf¨ ullt wegen (8.46) die Anfangsbedingungen y(x1 ) = y (x1 ) = . . . = y (n−1 )(x1 ) = 0. Da die Nullfunktion die gleichen Eigenschaften besitzt, muss nach Satz 8.8 y ≡ 0, also c1 · v1 (x) + c2 · v2 (x) + . . . + cn · vn (x) = 0,
x ∈ I,
(8.47)
gelten. Durch wiederholte Differentiation erh¨alt man hieraus v1 (x) · c1 .. . (n−1) (x) v1
+
· c1 +
v2 (x) · c2 .. . (n−1) v2 (x)
+ ... + .. .
· c2 + . . . +
vn (x) · cn .. .
= 0 .. .
(n−1) vn (x)·cn
= 0
(8.48)
f¨ ur jedes x ∈ I. Da mindestens ein ck von Null verschieden ist, k¨ onnen die insgesamt n Gleichungen (8.47) und (8.48) nur dann bestehen, wenn W (v1 , . . . , vn ; x) = 0 f¨ ur jedes x ∈ I gilt (vgl. Satz 3.13 (v)). Dies widerspricht aber der in (i) gemachten Voraussetzung.
374
8 Differentialgleichungen
8.6.3
Variation der Konstanten
Um eine partikul¨are L¨osung yp der inhomogenen Gleichung (8.38) zu erhalten, gehen wir von einem Fundamentalsystem v1 , . . . , vn der zugeordneten homogenen DGL (8.39) aus. Analog zum Vorgehen in (8.23) setzen wir yp in der Form yp (x) := C1 (x)·v1 (x) + . . . + Cn (x)·vn (x)
(8.49)
mit geeigneten Funktionen C1 , . . . , Cn an und erhalten durch Differentiation
yp = C1 v1 + . . . + Cn vn + C1 v1 + . . . + Cn vn . Fordert man, dass der erste Klammerausdruck verschwindet, also C1 v1 + . . . + Cn vn = 0
(8.50)
gilt, so folgt yp = (C1 v1 + . . . + Cn vn ) + (C1 v1 + . . . + Cn vn ) . Stellt man an C1 , . . . , Cn die weiteren Forderungen (k)
C1 v1 + . . . + Cn vn(k) = 0,
k = 1, . . . , n − 2,
(8.51)
so ergibt sich (k)
yp(k) = C1 v1 + . . . + Cn vn(k) , (n)
sowie yp
(n)
(n)
= C1 v1 + . . . + Cn vn
(n−1)
+ C1 v1
k = 1, . . . , n − 1 (n−1)
+ . . . + Cn vn
. Es folgt
yp(n) + an−1 yp(n−1) + . . . + a0 yp (n)
=
C1 v1
Cn vn(n)
+
...
+
+
...
+
Cn an−1 vn(n−1)
+ C1 an−2 v1 .. .
+
...
+
Cn an−2 vn(n−2)
+
+
...
+
(n−1)
+ C1 an−1 v1
(n−2)
C1 a0 v1
+
(n−1)
C1 v1
+ . . . + Cn vn(n−1)
Cn a0 vn .
Da der erste Ausdruck gleich der St¨orfunktion b sein soll und da jedes vk die homogene DGL (8.39) erf¨ ullt, liefert spaltenweise Addition eine weitere Forderung an die Funktionen C1 , . . . , Cn , n¨amlich (n−1)
C1 v1
+ . . . + Cn vn(n−1) = b.
(8.52)
Die insgesamt n Gleichungen (8.50), (8.51) und (8.52) sind f¨ ur jedes x ∈ I ein lineares Gleichungssystem in den Unbekannten C1 (x), . . . , Cn (x). Es ist eindeutig
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
375
l¨osbar, da die Determinante der Koeffizientenmatrix die Wronski-Determinante W (v1 , . . . , vn ; x) ist, welche nach Satz 8.10 f¨ ur jedes x ∈ I von Null verschieden ist. Da alle auftretenden Funktionen stetig sind, h¨ angen nach den Regeln zur Bestimmung der inversen Matrix (siehe I.8.7.7) die Funktionen C1 (x), . . . , Cn (x) stetig von x ab. Sie besitzen folglich Stammfunktionen C1 , . . . , Cn , und diese f¨ uhren mittels (8.49) zur gesuchten partikul¨aren L¨ osung. Auf etwaige Integrationskonstanten kommt es hier nicht an; ganz gleich, wie diese gew¨ ahlt werden, es entsteht immer eine L¨osung von (8.38). 8.11 Beispiel. (Der Spezialfall n = 2) Im Spezialfall n = 2 liegt das Gleichungssystem C1 (x)·v1 (x) + C2 (x)·v2 (x) = 0 C1 (x)·v1 (x) + C2 (x)·v2 (x) = b(x) vor. Dieses besitzt die L¨osung C1 (x) =
8.6.4
b(x)v2 (x) , v1 (x)v2 (x) − v1 (x)v2 (x)
C2 (x) =
−b(x)v1 (x) . (8.53) − v1 (x)v2 (x)
v1 (x)v2 (x)
Der Spezialfall konstanter Koeffizientenfunktionen
Im Gegensatz zu linearen Differentialgleichungen erster Ordnung k¨ onnen lineare Differentialgleichungen h¨oherer Ordnung mit variablen Koeffizientenfunktionen nur in Spezialf¨allen explizit gel¨ost werden. Wir betrachten jetzt einen wichtigen explizit l¨osbaren Spezialfall von (8.39), n¨amlich die homogene lineare DGL y (n) (x) + an−1 ·y (n−1) (x) + . . . + a0 ·y(x) = 0,
x ∈ I,
(8.54)
mit konstanten Koeffizienten(funktionen) a0 , a1 , . . . , an−1 ∈ R. Wie im Folgenden gezeigt wird, l¨asst sich f¨ ur (8.54) mit Hilfe des Eulerschen Ansatzes y(x) := eλx ,
λ ∈ C,
(8.55)
ein Fundamentalsystem von L¨osungen gewinnen. Dabei lassen wir zumindest vorl¨aufig auch komplexwertige L¨ osungen von (8.54) zu. Darunter verstehen wir differenzierbare Funktionen y : I → C, deren Real- und Imagin¨ arteil die Gleichung (8.54) erf¨ ullen. Offenbar bildet die Menge aller L¨ osungen einen linearen Unterraum des komplexen Vektorraums aller stetigen Funktionen von I nach C (vgl. Beispiel 4.25). Durch Differentiation folgt, dass mit (8.55) Gleichung (8.54) die Gestalt eλx ·P (λ) = 0,
x ∈ I,
376
8 Differentialgleichungen
annimmt. Dabei bezeichnet P (λ) := λn + an−1 ·λn−1 + . . . + a1 ·λ + a0 das charakteristische Polynom von (8.54). Da die Exponentialfunktion nirgends verschwindet, f¨ uhrt der Ansatz (8.55) genau dann zu einer L¨ osung von (8.54), wenn P (λ) = 0 gilt, also λ eine Nullstelle des charakteristischen Polynoms ist. Wir erinnern hier an die Diskussion in 5.2.6. 8.12 Satz. (Fundamentalsystem der homogenen DGL) (i) Jeder k-fachen Nullstelle λ des charakteristischen Polynoms entsprechen k komplexe L¨osungen der DGL (8.54), n¨amlich eλx ,
x · eλx ,
x2 · eλx , . . . , xk−1 · eλx .
(8.56)
Aus den n Nullstellen des charakteristischen Polynoms (jede mit ihrer Vielfachheit gez¨ahlt) ergeben sich so n linear unabh¨angige L¨osungen von (8.54). (ii) Ein reellwertiges Fundamentalsystem erh¨alt man in zwei Schritten. Im ersten Schritt erfasst man die sich aus (8.56) ergebenden reellwertigen L¨osungen. Im zweiten Schritt betrachtet man nacheinander die Paare konjugiert ¯ Hat λ die Vielfachheit k und gilt λ = α+i·β, komplexer Nullstellen λ und λ. so spaltet man die L¨osungen (8.56) gem¨aß eαx · cos βx, x · eαx · cos βx, .. .
eαx · sin βx, x · eαx · sin βx, .. .
xk−1 · eαx · cos βx, xk−1 · eαx · sin βx ¯ = α − iβ geh¨orenden in Real- und Imagin¨arteil auf und streicht die zu λ L¨ osungen. Beweis: (i): Ist λ eine k-fache Nullstelle von P , so gilt P (t) = P˜ (t)(t − λ)k mit einem Polynom P˜ n − k-ten Grades, und es folgt (Produktregel!) P (λ) = P (λ) = . . . = P (k−1) (λ) = 0.
(8.57)
Wir zeigen zun¨ achst, dass f¨ ur jedes q = 0, 1, . . . , k − 1 die Funktion x → xq exp(λx) eine L¨ osung von (8.54) ist. Wegen dq xq eλx = q eλx dλ folgt mit der Festsetzung an := 1 ⎛ ⎞ q n n n dq ⎝ d λx dj q λx dj dj λx ⎠ = q = aj · j x e aj · j e aj · j e dx dx dλq dλ dx j=0 j=0 j=0 =
q q k λx dq λx λ e · P (q−k) (λ) = 0, (e P (λ)) = dλq k k=0
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
377
wobei die letzte Gleichung aus (8.57) folgt. Wir zeigen jetzt, dass die so (f¨ ur jede Nullstelle) erhaltenen Funktionen linear unabh¨ angig sind und betrachten hierzu eine beliebige Linearkombination dieser L¨ osungen (mit reellen oder komplexen Koeffizienten). Diese Linearkombination besitzt die Gestalt y(x) =
m
Qj (x) · eλj x .
j=1
Dabei sind λ1 , . . . , λm die paarweise verschiedenen Nullstellen des charakteristischen Polynoms P und Q1 , . . . , Qm Polynome mit im Allgemeinen komplexen Koeffizienten. Zu ur j = 1, . . . , m. Der Beweis zeigen ist die G¨ ultigkeit der Implikation y ≡ 0 =⇒ Qj ≡ 0 f¨ wird durch vollst¨ andige Induktion u uhrt, wobei der Induktionsanfang m = 1 ¨ ber m gef¨ offensichtlich ist. F¨ ur den Induktionsschluss von m auf m + 1 gelte m
Qj (x) · eλj x + Q(x) · eλx ≡ 0
(8.58)
j=1
mit einem Polynom Q und λ ∈ / {λ1 , . . . , λm }. Multiplikation mit e−λx liefert m
Qj (x) · e(λj −λ)x + Q(x) ≡ 0.
j=1
Differenziert man hier so oft, bis das Polynom Q verschwindet, so folgt m
Rj (x) · e(λj −λ)x ≡ 0
j=1
mit gewissen Polynomen R1 , . . . , Rm und somit nach Induktionsvoraussetzung R1 ≡ 0, . . . , Rm ≡ 0. Letzteres ist aber nur m¨oglich, wenn P1 ≡ 0, . . . , Pm ≡ 0 gilt, denn durch Differentiation eines Ausdrucks p(x) exp(μx) (p Polynom = 0, μ = 0) entsteht der Ausdruck (p (x) + μp(x)) exp(μx), wobei p + μp ein Polynom vom gleichen Grad wie p, also = 0 ist. In (8.58) verschwinden also alle Qj , und somit gilt auch Q ≡ 0. (ii): Zun¨ achst liefern die beiden Schritte n (reelle) L¨ osungen y1 , . . . , yn der DGL. Gilt nun α1 y1 + . . . + αn yn = 0 f¨ ur α1 , . . . , αn ∈ R, so folgt leicht α1 z1 + . . . + αn zn = 0 f¨ ur die in (i) konstruierten komplexen L¨osungen z1 , . . . , zn . Also ergibt sich α1 = . . . = αn = 0 und somit die lineare Unabh¨angigkeit von y1 , . . . , yn .
8.13 Beispiel. Die homogene Differentialgleichung y (5) + 7y (4) + 11y (3) − 9y + 54 = 0 besitzt das charakteristische Polynom P (λ) = λ5 + 7λ4 + 11λ3 − 9λ2 + 54. Wegen P (λ) = (λ + 3)3 · (λ − 1 + i) · (λ − 1 − i)
378
8 Differentialgleichungen
besitzt P die reelle Nullstelle −3 der Vielfachheit 3 sowie die konjugiert komplexen einfachen Nullstellen 1 + i und 1 − i. Nach Satz 8.12 ist e−3x , xe−3x , x2 e−3x , ex sin x, ex cos x ein reelles Fundamentalsystem von L¨osungen.
8.6.5
Explizite Formeln im Fall n = 2
Im Spezialfall n = 2, also der homogenen Differentialgleichung y (x) + a1 · y (x) + a0 · y(x) = 0,
x ∈ I,
(8.59)
ergeben sich die Nullstellen des charakteristischen Polynoms P (λ) = λ2 +a1 λ+a0 je nach dem Vorzeichen der Diskriminante D := a21 − 4a0
(8.60)
zu
λ1,2
⎧ √ ⎪ ⎨(−a1 ± D)/2, := −a1 /2, ⎪ √ ⎩ (−a1 ± i −D)/2,
falls D > 0, falls D = 0, falls D < 0.
Nach Satz 8.12 besitzt (8.59) die L¨osungen ⎧ ⎪ ⎨c1 · exp(λ1 x) + c2 · exp(λ2 x), yh (x) := (c1 + c2 x) · exp(λ1 x), ⎪ ⎩ c1 · exp(αx) cos(βx) + c2 · exp(αx) sin(βx),
falls D > 0, falls D = 0, falls D < 0.
(8.61)
(8.62)
Dabei sind c1 , c2 ∈ R beliebig, und a1 α := − , 2
√ β :=
−D . 2
(8.63)
Die Konstanten c1 , c2 k¨onnen dazu verwendet werden, Anfangsbedingungen y(x0 ) = y0 ,
y (x0 ) = y0
(y0 , y0 ∈ R)
(8.64)
zu erf¨ ullen. Im Fall D > 0 f¨ uhrt (8.64) auf die Gleichungen c1 eλ1 x0 + c2 eλ2 x0 = y0 , λ1 c1 eλ1 x0 + λ2 c2 eλ2 x0 = y0 und somit auf c1 =
λ2 y0 − y0 , (λ2 − λ1 )eλ1 x0
c2 =
λ1 y0 − y0 . (λ1 − λ2 )eλ2 x0
(8.65)
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
379
Im Fall D = 0 folgt nach direkter Rechnung c1 =
y0 (1 + λ1 x0 ) − y0 x0 , eλ1 x0
c2 =
y0 − λ1 y0 , eλ1 x0
(8.66)
und im Fall D < 0 sind die Anfangsbedingungen (8.64) f¨ ur y0 (α sin(βx0 ) + β cos(βx0 )) − y0 sin(βx0 ) , βeαx0 y cos(βx0 ) − y0 (α cos(βx0 ) − β sin(βx0 )) c2 = 0 βeαx0
c1 =
(8.67) (8.68)
mit α und β wie in (8.63) erf¨ ullt. Im Fall der inhomogenen Differentialgleichung y (x) + a1 · y (x) + a0 · y(x) = b(x),
x ∈ I,
(8.69)
gewinnt man mit Hilfe von (8.53) und (8.49) eine (vom Vorzeichen der Diskriminante D in (8.60) abh¨angige) partikul¨are L¨ osung von (8.69). Wir fassen unsere Ergebnisse zusammen: 8.14 Satz. (Partikul¨are L¨osung der inhomogenen linearen DGL) √ √ (i) Im Fall D > 0 ist (mit λ1 = (−a1 + D)/2, λ2 = (−a1 − D)/2) √ x x √ e−a1 x/2 Dx/2 −λ1 t − Dx/2 −λ2 t √ e e b(t) dt − e e b(t) dt yp (x) := D x0 x0 eine partikul¨ are L¨osung von (8.69). (ii) Im Fall D = 0 besitzt (8.69) die partikul¨are L¨osung x x −a1 x/2 a1 t/2 a1 t/2 e b(t) dt − te b(t) dt . yp (x) := e x x0
x0
(iii) Im Fall D < 0 ist √ x 4 √ −Dx −Dt a1 t/2 e cos b(t) dt sin 2 2 x0 √ √ x 5 −Dx −Dt a1 t/2 e sin − cos b(t) dt 2 2 x0
2e−a1 x/2 yp (x) := √ −D
eine partikul¨ are L¨osung von (8.69). Da jede dieser partikul¨aren L¨osungen die Gleichungen yp (x0 ) = 0, yp (x0 ) = 0 erf¨ ullt, erhalten wir nach Satz 8.8 und Satz 8.9 das folgende Resultat.
380
8 Differentialgleichungen
8.15 Satz. (L¨osung des Anfangswertproblems der inhomogenen DGL) Das Anfangswertproblem (8.69), (8.64) besitzt die eindeutig bestimmte L¨ osung y(x) := yp (x) + yh (x) mit yp wie in Satz 8.14 und yh wie in (8.62). Dabei sind die Konstanten c1 , c2 aus (8.62) je nach dem Vorzeichen der Diskriminante durch (8.65)–(8.68) gegeben.
8.6.6
Die freie harmonische Schwingung
Bild 8.8 zeigt links eine an einer Aufh¨angung befestigte Feder in Ruhelage. Eine angebrachte Masse m bewirkt eine Federauslenkung der L¨ ange s (Bild 8.8 Mitte). In dieser Gleichgewichtsposition wird die Gewichtskraft G der Masse durch die entgegengesetzt gerichtete R¨ uckstellkraft R der Feder kompensiert.
R
s m
G
y0 m
y0
Bild 8.8: Schwingende Masse an einer Feder Nach dem Hookeschen6 Gesetz ist R = k · s die R¨ uckstellkraft einer um die Strecke s ausgelenkten Feder. Dabei ist k die sog. Federkonstante. Bezeichnet wie u ¨blich g = 9.81m/sec2 die Erdbeschleunigung, so ist die Gewichtskraft G durch G = m · g gegeben. In der Ruhelage (Bild 8.8 Mitte) gilt also k · s = m · g oder m · g − k · s = 0.
(8.70)
Der Massenschwerpunkt werde nun gegen¨ uber der Gleichgewichtsposition um die Strecke y0 ausgelenkt und dann losgelassen (Bild 8.8 rechts). Dabei bezeichnen positive bzw. negative Werte von y0 eine Auslenkung nach unten bzw. oben. Ist uber der Gewichtskraft gr¨ oßere R¨ uckstellkraft der Feder y0 > 0, so wird die gegen¨ eine Bewegung nach oben bewirken; im Fall y0 < 0 ist die Gewichtskraft gr¨ oßer als die R¨ uckstellkraft, die Masse bewegt sich somit nach unten. Wenn keine ¨ außeren Kr¨afte auf das Feder-Masse-System einwirken, wird der Massenschwerpunkt in vertikaler Richtung um die Gleichgewichtsposition herum schwingen. 6
Robert Hooke (1635–1703), englischer Physiker.
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
381
Zur mathematischen Modellierung dieses Schwingungsverhaltens bezeichne y(t) die gegen¨ uber der Gleichgewichtslage y = 0 gemessene Position des Massenschwerpunkts zur Zeit t. W¨ahlen wir den Zeitpunkt, zu dem wir die Feder losgelassen haben, als t = 0, so gilt also y(0) = y0 . Nach Regeln der Physik sind y(t + Δt) − y(t) , Δt→0 Δt
y (t) := lim
y (t + Δt) − y (t) Δt→0 Δt
y (t) := lim
die Geschwindigkeit und die Beschleunigung des Massenschwerpunkts zur Zeit t. Nach dem zweiten Newtonschen Gesetz ist die auf einen bewegten K¨ orper einwirkende momentane Kraft gleich dem Produkt m · y (t). Da andererseits zum Zeitpunkt t die R¨ uckstellkraft −k · (s + y(t)) und die Gewichtskraft m · g wirken (die R¨ uckstellkraft erh¨alt ein negatives Vorzeichen, weil sie der zu positiven Auslenkungswerten y gerichteten Gewichtskraft entgegengesetzt ist), erhalten wir zusammen mit (8.70) die Differentialgleichung m · y (t) = −k · (s + y(t)) + m · g = −k · y(t).
(8.71)
Hier setzt man ω 2 := k/m und gelangt so zur homogenen linearen DGL y (t) + ω 2 · y(t) = 0
(8.72)
zweiter Ordnung mit den konstanten Koeffizienten a1 = 0, a0 = ω 2 (vgl. (8.54)). Da die Diskriminante D = a21 − 4a0 = −4ω 2 negativ ist, haben wir es mit dem in (8.61) und (8.62) beschriebenen dritten Fall zu tun. Mit der Festlegung y(0) := y0 ,
y (0) := v0
(8.73)
einer Ausgangslage y0 und einer Anfangsgeschwindigkeit v0 zur Zeit t = 0 folgt durch Einsetzen in (8.67) und (8.68) (mit α = 0 und β = ω), dass y(t) := y0 · cos(ωt) +
v0 · sin(ωt) ω
(8.74)
eine L¨osung des Anfangswertproblems (8.72), (8.73) ist. Die durch (8.74) beschriebene Bewegung heißt freie harmonische Schwingung. Man beachte die Bedeutung der Parameter v0 , y0 und ω in (8.74). Im Fall v0 = y0 = 0 wird die Masse zu Beginn weder ausgelenkt noch mit einer Geschwindigkeit versehen; sie verharrt dann in der Ruhelage y(t) ≡ 0. Im Fall v0 = 0 f¨ uhrt die Masse eine reine Kosinusschwingung mit der Amplitude y0 aus (siehe Bild 8.9). Die als Periode bezeichnete Zeit zwischen je zwei lokalen Maxima ist T := 2π/ω. Die Frequenz f := 1/T = ω/(2π) ist die Anzahl der Schwingungen pro Sekunde. oßer, je gr¨ oßer die Federkonstante Wegen ω = k/m ist die Frequenz umso gr¨ k und je kleiner die Masse m ist. Haben v0 und y0 das gleiche Vorzeichen, so wird die Anfangsauslenkung zun¨achst verst¨arkt (vgl. den Fall v0 = 3 in Bild 8.9),
382
8 Differentialgleichungen
andernfalls erfolgt ein zun¨achst schnelleres Erreichen der Gleichgewichtsposition y = 0 (vgl. den Fall v0 = −2 in Bild 8.9). In jedem Fall vergr¨ oßert eine von Null verschiedene Anfangsgeschwindigkeit die Schwingungsamplitude. Zur Bestimmung dieser Amplitude machen wir den Ansatz v0 y(t) = (8.75) · sin(ωt) + y0 · cos(ωt) = A · sin(ωt + φ) ω mit geeigneten, zu bestimmenden Gr¨oßen A und φ und erhalten mit dem Additionstheorem I.6.29 f¨ ur die Sinusfunktion durch Gleichsetzen der Vorfaktoren von sin(ωt) und cos(ωt) das Resultat A · cos φ = v0 /ω, A · sin φ = y0 . Hieraus folgt 6 v0 2 y0 v0 A= + y02 , sin φ = &
, cos φ = &
. 2 ω v0 v0 2 2 2 + y ω + y 0 0 ω ω Aus diesen Gleichungen l¨asst sich der sog. Phasenwinkel φ ∈ [0, 2π) eindeutig bestimmen. Die harmonische Schwingung l¨asst sich somit als Sinuskurve mit der Amplitude A und dem Phasenwinkel φ beschreiben. y(t) T y0
v0 = 0
v0 = −2
v0 = 3
2π
t
−y0
Bild 8.9: Die Funktion y(t) = v0 sin(ωt)/ω + y0 cos(ωt) f¨ ur den Fall y0 = 1, ω = 3 und verschiedene Werte von v0
8.6.7
Ged¨ ampfte Schwingung
Die in 8.6.6 diskutierte Situation ist wenig realistisch, weil das Modell keinerlei Reibungskr¨afte vorsieht, die auf die schwingende Masse einwirken. In der Mechanik wird meist angenommen, dass solche Reibungskr¨ afte (z.B. der Luftwiderstand) proportional zu einer Potenz der Momentangeschwindigkeit sind. Wir nehmen jetzt zus¨atzlich an, dass eine bewegungsd¨ ampfend wirkende Reibungskraft existiert, deren Gr¨oße proportional zum Betrag der Momentangeschwindigkeit y (t) und deren Richtung der Bewegungsrichtung entgegengesetzt ist. Im Vergleich zu (8.71) gelangen wir jetzt zur Differentialgleichung m · y (t) = −k · y(t) − d · y (t). Hierbei ist d > 0 eine sog. D¨ampfungskonstante. Schreiben wir wieder sowie λ := d/(2m), so f¨ uhrt (8.76) zu y (t) + 2λ · y (t) + ω 2 · y(t) = 0,
(8.76) ω2
:= k/m (8.77)
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
383
also zur homogenen linearen DGL (8.59) mit a1 = 2λ und a0 = ω 2 .
Bild 8.10: Ged¨ ampfte Schwingung durch Reibungsverluste
m
Im Gegensatz zur freien harmonischen Schwingung kann jetzt f¨ ur die Diskriminante D = a21 − 4a0 = 4(λ2 − ω 2 ) jeder der in (8.61) betrachteten F¨ alle (i) λ > ω
(D > 0, sog. starke D¨ampfung),
(ii) λ = ω
(D = 0, sog. kritische D¨ampfung),
(iii) λ < ω
(D < 0, sog. schwache D¨ampfung)
auftreten. Die L¨osungen des Anfangswertproblems (8.77), (8.73) ergeben sich somit nach (8.62) durch Einsetzen in (8.65) (starke D¨ ampfung), (8.66) (kritische D¨ampfung) bzw. (8.67), (8.68) (schwache D¨ampfung) wie folgt: (i): Im Fall λ > ω besitzt das Anfangswertproblem (8.77), (8.73) die L¨ osung √ √ 2 2 2 2 (8.78) y(t) := e−λt · c1 · e λ −ω ·t + c2 · e− λ −ω ·t mit √ c1 =
λ2 − ω 2 + λ y0 + v0 √ , 2 λ2 − ω 2
√ c2 =
λ2 − ω 2 − λ y0 − v0 √ . 2 λ2 − ω 2
(8.79)
Bild 8.11 zeigt den zeitlichen Verlauf der stark ged¨ ampften Schwingung (8.78), (8.79) f¨ ur verschiedene Werte der Anfangsgeschwindigkeit v0 . Bei v0 = 0 strebt die Feder gegen die Gleichgewichtsposition y = 0, ohne in die andere Richtung zu schwingen. Das Gleiche gilt im Fall v0 = 5, nur findet hier am Anfang eine st¨arkere Auslenkung statt. Im Fall v0 = −10 startet die Masse mit so hoher Geschwindigkeit in Richtung der Gleichgewichtslage, dass sie in den Bereich y < 0 hin¨ uberschwingt und von dort aus dem Gleichgewichtszustand zustrebt. (ii): Im Fall ω = λ besitzt (8.77), (8.73) die L¨ osung y(t) := (y0 + (v0 + λy0 )t) e−λt .
(8.80)
384
8 Differentialgleichungen y(t) v0 = 5
y0 v0 = 0
t v0 = −10 −y0
Bild 8.11: Verlauf√der stark ged¨ampften Schwingung (8.78), (8.79) mit ω = 3, λ = 10 und y0 = 1 f¨ ur verschiedene Werte von v0 y(t) v0 = 5
y0 v0 = 0
t −y0
v0 = −12
Bild 8.12: Verlauf der kritischen Schwingung (8.80) f¨ ur y0 = 1, λ = 3 und verschiedene Werte von v0
Bild 8.12 zeigt, dass die qualitativen Verl¨aufe der kritischen und der ged¨ ampften Schwingung a¨hnlich sind, wobei auch die Diskussion des Effektes einer Ver¨ anderung der Anfangsgeschwindigkeit analog zu Fall a) zu f¨ uhren ist. (iii): Im Fall ω > λ besitzt das Anfangswertproblem (8.77), (8.73) die L¨ osung √ (v0 + y0 ) sin( ω 2 − λ2 · t) √ (8.81) y(t) := e−λt y0 cos( ω 2 − λ2 · t) + ω 2 − λ2 Bild 8.13 zeigt den qualitativen Verlauf der schwach ged¨ ampften Schwingung f¨ ur verschiedene Werte der Anfangsgeschwindigkeit v0 . Im Gegensatz zur kritischen und zur stark ged¨ampften Schwingung macht sich hier das Vorhandensein der periodischen Komponenten (Sinus- und Kosinusfunktion) bemerkbar.
8.6.8
Ged¨ ampfte Schwingung mit ¨ außerer Erregung
Wir betrachten die ged¨ampfte Schwingung aus 8.6.7, nehmen aber jetzt an, dass auf das System zur Zeit t eine ¨ außere Kraft f (t) wirkt. Im Vergleich zu (8.76)
8.6 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung
385
y(t) v0 = 4
y0
v0 = 0
t v0 = −4
−y0
Bild 8.13: Verlauf der schwach ged¨ampften Schwingung (8.81) f¨ ur y0 = 1, λ = 1, ω = 3 und verschiedene Werte von v0
gelangt man dann zur Gleichung m · y (t) = −k · y(t) − d · y (t) + f (t), und diese f¨ uhrt mit den fr¨ uheren Abk¨ urzungen ω 2 := k/m und λ := d/(2m) sowie b(t) := f (t)/m zur inhomogenen linearen DGL y (t) + 2λ · y (t) + ω 2 · y(t) = b(t).
(8.82)
¨ Nach den in 8.6.5 angestellten Uberlegungen ist die L¨ osung von (8.82) unter den Anfangsbedingungen (8.73) in expliziter Form (d.h. ohne auftretenden Integralausdruck) erh¨altlich, wenn die in Satz 8.14 auftretenden Integrale in geschlossener Form angegeben werden k¨onnen. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn die St¨orfunktion die Gestalt b(t) = K · cos ρt,
K, ρ > 0,
(8.83)
besitzt, die ¨außere Kraft also in Form einer reinen Kosinusschwingung wirkt. In diesem Zusammenhang nennt man ω die Eigenfrequenz und ρ die Erregerfrequenz des Systems. Wir betrachten im Folgenden nur die Situation λ < ω der schwach ged¨ampften Schwingung. Mit den Abk¨ urzungen M1 :=
(ω 2
(ω 2 − ρ2 )K , − ρ2 )2 + 4λ2 ρ2
c1 := y0 − M1 ,
2λρK , (ω 2 − ρ2 )2 + 4λ2 ρ2 v0 + λy0 − λM1 − ρM2 √ c2 := ω 2 − λ2 M2 :=
ist die L¨osung des Anfangswertproblems (8.82) (mit b(t) wie in (8.83)) und (8.73) in diesem Fall durch ω 2 − λ2 · t + c2 · sin ω 2 − λ2 · t y(t) = e−λt c1 · cos + M1 · cos ρt + M2 · sin ρt
(8.84)
386
8 Differentialgleichungen
gegeben. Diese L¨osung ergibt sich durch direktes Rechnen aus Satz 8.14 c) unter Beachtung der Gleichungen sin(u + v) + sin(u − v) , 2 cos(u + v) + cos(u − v) cos u cos v = 2 ux (u sin(vx) − v cos(ux)) e , eux sin(vx) dx = u2 + v 2 eux (u cos(vx) + v sin(vx)) eux cos(vx) dx = . u2 + v2 sin u cos v =
Da man analog zu (8.75) die beiden letzten Summanden in (8.84) zu A · sin(ρt + φ),
A :=
K (ω 2
−
ρ2 )2
+
4λ2 ρ2
,
sin φ =
M1 M2 , cos φ = A A
zusammenfassen kann und der erste Summand f¨ ur t → ∞ gegen Null strebt, kann man das Verhalten der kosinuserregten ged¨ampften Schwingung so beschreiben: Nach einem Einschwingvorgang“ f¨ uhrt das System schließlich eine reine Sinus” schwingung mit der Erregerfrequenz ρ und der Amplitude A aus (sog. eingeschwungener oder station¨arer Zustand). Bild 8.14 zeigt den Verlauf der kosinuserregten ged¨ ampften Schwingung f¨ ur den Fall y0 = 1, λ = .2, ω = 3, v0 = 1, K = 1.5 und verschiedene Werte der 2 Erregerfrequenz ρ. Im hier vorliegenden Fall 2λ2 < √ω wird die Amplitude A in Abh¨angigkeit von ρ maximal, wenn ρ den Wert ω 2 − 2λ2 (sog. Resonanzfrequenz) annimmt. Dieser Fall entspricht der durchgezogenen Kurve in Bild 8.14. y(t) y0
t −y0
Bild 8.14: Kosinuserregte ged¨ampfte Schwingung (8.84) (y0 = 1, λ = .2, ω = 3, v0 = 1, K = 1.5) und verschiedene Werte von ρ
8.7 Die Laplace-Transformation
8.7
387
Die Laplace-Transformation
Die Laplace-Transformation ist eng mit der Fourier-Transformation verwandt. Mit ihrer Hilfe lassen sich insbesondere lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten auf elegante Weise l¨osen.
8.7.1
Definition der Laplace-Transformation, Beispiele
Wie schon in 6.1.14 bezeichnen wir mit L0 ([0, ∞); R) die Menge aller Lebesguemessbaren Funktionen f : [0, ∞) → R. Wir definieren 4 5 ∞ 0 −st L := f ∈ L ([0, ∞); R) : es gibt ein s ∈ R mit e · |f (t)| dt < ∞ . 0
Offenbar geh¨oren jede beschr¨ankte Funktion, jede integrierbare Funktion und 2 jedes Polynom ∞ −σt zu L, nicht aber die Funktion f (t) = exp(t ). Gilt 0 e · |f (t)| dt < ∞, und ist s ∈ R mit s > σ, so gilt auch
∞
−st
e 0
· |f (t)| dt =
∞
e
−(s−σ)t
0
Setzt man s0 := inf{s ∈ R :
∞ 0
−σt
·e
· |f (t)| dt ≤
∞
0
e−σt · |f (t)| dt < ∞.
e−st · |f (t)|dt < ∞} und
' If := s ∈ R :
∞ 0
( e−st · |f (t)| dt < ∞ ,
so folgt, dass f¨ ur jedes f ∈ L einer der drei F¨ alle If = R (im Fall s0 = −∞), If = [s0 , ∞) oder If = (s0 , ∞) eintritt. Die Menge If heißt Konvergenzbereich. F¨ ur jede Funktion f ∈ L heißt die Funktion ⎧ ⎨If → R, ∞ Lf : (8.85) ⎩s → Lf (s) := e−st · f (t) dt 0
die Laplace-Transformierte von f . Die auf der Menge L definierte Zuordnung f → Lf heißt Laplace-Transformation. In diesem Zusammenhang nennt man f die Originalfunktion und Lf die Bildfunktion. H¨aufig findet man auch die Bezeichnung F (s) := Lf (s), wobei die Zuordnung f → Lf in der Form f (t) ◦ • F (s) geschrieben wird. 8.16 Beispiele. In Tabelle 8.1 sind einige Beispiele f¨ ur Funktionen und ihre zugeh¨ origen LaplaceTransformierten angegeben. Weitere Beispiele findet man etwa in (Doetsch, 1976).
388
8 Differentialgleichungen
f (t)
Lf (s)
1.
1
1 s
2.
tk , k ∈ N
3.
e−at
4.
tk e−at, k ∈ N
5.
sin(αt)
6.
cos(αt)
7.
sin(αt + β)
8.
cos(αt + β)
Nr.
Nr.
k! , s>0 sk+1 1 , s > −a s+a k! , s > −a (s + a)k+1 α s2 + α2 s 2 s + α2 s sin β + α cos β s2 + α2 s cos β − α sin β s2 + α2
Lf (s)
f (t)
9.
sin2 (αt)
10.
cos2 (αt)
11.
e−at sin(bt)
12.
e−at cos(bt)
13.
t sin(αt)
14.
t cos(αt)
15.
1[0,a] (t), a > 0
16.
1[a,∞) (t), a > 0
2α2 + 4α2 ) 2 s + 2α2 s(s2 + 4α2 ) b (s + a)2 + b2 s+a (s + a)2 + b2 2αs (s2 + α2 )2 s2 − α2 (s2 + α2 )2 1 − e−as s e−as s s(s2
Tabelle 8.1: Funktionen und zugeh¨ orige Laplace-Transformierte
8.7.2
Eigenschaften der Laplace-Transformation
Ersetzt man in (8.85) s durch iu mit u ∈ R und setzt man f (t) := 0 f¨ ur t < 0, so entsteht die in (7.42) eingef¨ uhrte Fourier-Transformierte Ff von f . Die Laplace-Transformation ist somit eng mit der Fourier-Transformation verwandt, und viele Eigenschaften der Fourier-Transformation gelten hier in analoger Weise. angenden Menge If Im Unterschied zu Ff ist Lf jedoch nur auf einer von f abh¨ definiert. In diesem Zusammenhang u ¨berlegt man sich leicht, dass mit Funktionen f, g ∈ L und a, b ∈ R auch die Funktion af + bg sowie die Faltung f ∗ g zu L geh¨oren. Weiter geh¨oren mit f auch die Funktionen t → f (c · t), c > 0, und t → e−at f (t), a ∈ R, zu L. Im Folgenden ist es manchmal bequem, Lf (t) f¨ u r Lf zu schreiben. 8.17 Satz. (Algebraische Eigenschaften der Laplace-Transformation) Es seien f, g ∈ L, a, b ∈ R und c > 0. Dann gilt: (i) Laf +bg (s) = a · Lf (s) + b · Lg (s), (ii) Le−at f (t) (s) = Lf (s + a), s 1 , (iii) Lf (ct) (s) = · Lf c c (iv) Lf (t−c) (s) = e−sc · Lf (s),
s ∈ If ∩ Ig .
s + a ∈ If .
(Linearit¨ at) (D¨ ampfungssatz)
s/c ∈ If .
¨ (Ahnlichkeitssatz)
s ∈ If .
(Verschiebungssatz)
8.7 Die Laplace-Transformation
389
Dabei sei f (t − c) := 0 f¨ ur t < c gesetzt. (v) Lf ∗g (s) = Lf (s) · Lg (s),
s ∈ If ∩ I g .
(Faltungssatz)
Beweis: Die Aussagen (i)–(iv) ergeben sich aus der Definition (8.85) sowie der Linearit¨ at des Integrals (f¨ ur Teil (i)) bzw. den Substitutionen u := ct (f¨ ur Teil (iii)) und u := t−c (f¨ ur Teil (iv)). Analog zum Beweis von Satz 7.36 ergibt sich (v) aus dem Satz von Fubini.
Man beachte, dass sich die Nummern 4, 11 und 12 in Tabelle 8.1 unmittelbar aus den Nummern 2, 5 und 6 ergeben, wenn man den D¨ ampfungssatz anwendet. Die Nr. 16 entsteht durch Anwendung des Verschiebungssatzes auf die Nr. 1. Die Namensgebung D¨ampfungssatz“ r¨ uhrt vom Fall a > 0 ( D¨ ampfung“ der ” ” Funktionswerte f (t) durch die abfallende Exponentialfunktion exp(−at)) her. 8.18 Satz. (Differenzierbarkeit von Lf ) Die Laplace-Transformierte Lf einer Funktion f ∈ L ist im Inneren If◦ des Konvergenzbereiches beliebig oft differenzierbar, und es gilt dk Lf (s) = (−1)k · Ltk f (t) (s), dsk
k ∈ N.
Beweis: Wir f¨ uhren den Beweis f¨ ur den Fall k = 1; der allgemeine ∞ Fall folgt dann durch Induktion. Ist s ∈ If◦ , so existiert ein ε > 0 mit s− ε ∈ If , also 0 e−(s−ε)t ·|f (t)| dt < ∞. Wegen e−εt/2 · t ≤ 2/(e · ε) f¨ ur t ≥ 0 (Kurvendiskussion!) ergibt sich hieraus ∞ ∞ e−(s−ε/2)t · t · |f (t)| dt = e−(s−ε)t e−εt/2 · t · |f (t)| dt < ∞. (8.86) 0
0
Es sei nun (hn ) eine reelle Nullfolge , wobei |hn | ≤ ε/2 f¨ ur jedes n ≥ n0 (ε) gelte. Mit der Abk¨ urzung gn (t) := e−εt/2 f (t)(e−hn t − 1)/hn , t ≥ 0, folgt dann ∞ −(s+hn )t ∞ Lf (s + hn ) − Lf (s) e − e−st = f (t) dt = e−(s−ε/2)t gn (t) dt. hn h n 0 0 Es gilt limn→∞ gn (t) = −e−εt/2 tf (t), t ≥ 0 sowie (unter Beachtung der Ungleichung |ex − 1| ≤ |x| · e|x| , x ∈ R) |gn (t)| ≤ e−εt/2 t · e|hn |t |f (t)| = e(|hn |−ε/2)t t · |f (t)| ≤ t · |f (t)|,
n ≥ n0 .
Wegen (8.86) liefert dann der Satz von der majorisierten Konvergenz ∞ Lf (s + hn ) − Lf (s) lim = e−(s−ε/2)t e−εt/2 · (−tf (t)) dt = −Ltf (t) (s). n→∞ hn 0
Nach Satz 8.18 kann die Laplace-Transformierte der Funktion t → tk f (t) durch (k)
Ltk f (t) (s) = (−1)k · Lf (s)
390
8 Differentialgleichungen
alt man etwa durch Differentiation aus Lf gewonnen werden. Auf diese Weise erh¨ in Tabelle 8.1 die Nr. 2 aus der Nr. 1, die Nr. 4 aus der Nr. 3, die Nr. 13 aus der Nr. 5 und die Nr. 14 aus der Nr. 6. 8.19 Satz. (Laplace-Transformation des Integrals) F¨ ur f ∈ L sei die Funktion g : [0, ∞) → R durch
t
g(t) :=
f (u) du 0
definiert. Dann gilt g ∈ L sowie Lg (s) =
Lf (s) , s
s ∈ If ∩ (0, ∞).
Beweis: Es sei s ∈ If mit s > 0, und es sei t ≥ 0. Die Ungleichungskette
t 0
|f (u)| du ≤ est
t
0
e−su |f (u)| du ≤ est
∞ 0
e−su |f (u)| du < ∞
zeigt, dass die Funktion g wohldefiniert ist. Aus dem Satz von Fubini folgt dann
∞
e−st
0
0
t
|f (u)| du
∞
dt = 0
∞
= 0
e−st dt |f (u)| du u e−su 1 ∞ −su |f (u)| du = e |f (u)| du. s s 0
∞
Also ist s ∈ Ig , und eine analoge Rechnung mit f anstelle von |f | zeigt die Behauptung.
8.20 Beispiel. Wegen
cos(αt) = 1 − α
t
sin(αu) du, 0
t ≥ 0,
folgt aus Satz 8.19, Satz 8.17 (i) sowie den Nummern 1 und 5 aus Tabelle 8.1 Lcos(αt) (s) =
Lsin(αt) (s) 1 s 1 α α = 2 . −α· = − · 2 s s s s s + α2 s + α2
8.21 Satz. (Laplace-Transformation der Ableitung) Es sei f ∈ L auf (0, ∞) stetig differenzierbar, und es sei f ∈ L. Dann existiert f (0+) = limt→0+ f (t), und es gilt Lf (s) = s · Lf (s) − f (0+),
s ∈ If ∩ (0, ∞).
8.7 Die Laplace-Transformation
391
Beweis: Es sei s ∈ If ∩ (0, ∞). Aus dem Beweis von Satz 8.19 mit f anstelle von f 1 folgt 0 |f (u)| du < ∞ und somit nach dem Satz von der majorisierten Konvergenz
1
1
f (u)du = lim
t→0+
0
f (u) du = lim (f (1) − f (t)) = f (1) − lim f (t) t→0+
t
t→0+
= f (1) − f (0+). Folglich existiert f (0+), und Satz 8.19 mit ϕ(t) := f (t) − f (0+) liefert dann zusammen mit der Linearit¨ atseigenschaft (Satz 8.17 (i)) und Beispiel Nr. 1 aus Tabelle 8.1 Lf (s) −
f (0+) Lf (s) = Lf (t)−f (0+) (s) = . s s
Durch Induktion ergibt sich die folgende Verallgemeinerung von Satz 8.21. 8.22 Satz. (Laplace-Transformation h¨oherer Ableitungen) Es sei f ∈ L auf (0, ∞) n mal stetig differenzierbar, und es sei f (n) ∈ L. Dann existiert f (0+) = limt→0+ f (t) sowie f (k)(0+) = limt→0+ f (k) (t) f¨ ur k = 1, . . . , n, und es gilt f¨ ur jedes s ∈ If (n) ∩ (0, ∞) Lf (n) (s) = sn Lf (s) − sn−1 f (0+) − sn−2 f (0+) − . . . − f (n−1) (0+). Die S¨atze 8.19 und 8.22 besagen, dass den transzendenten“ Operationen des ” ¨ Integrierens und Differenzierens nach Ubergang zu Laplace-Transformierten elementare algebraische Operationen (Division durch s bzw. Multiplikation mit sn und Subtraktion eines Polynoms) entsprechen. Dies ist der tiefere Grund daf¨ ur, dass die Laplace-Transformation bei der L¨osung von Differentialgleichungen Verwendung findet.
8.7.3
Der Eindeutigkeitssatz
Wir gehen jetzt der Frage nach, inwieweit eine Funktion f durch ihre LaplaceTransformierte Lf festgelegt ist. Stimmen zwei Funktionen f1 , f2 ∈ L bis auf eine Nullmenge u ¨ berein, so gilt Lf1 = Lf2 . Ohne weitere Voraussetzungen an f wird man also (¨ahnlich wie bei der Fourier-Transformation) keine eindeutige Identifizierung von f aus Lf erwarten k¨onnen. 8.23 Lemma. Es seien a, b ∈ R mit a < b und g : [a, b] → R eine stetige Funktion. Gilt dann
b
xn g(x) dx = 0 a
so folgt g(x) = 0 f¨ ur jedes x ∈ [a, b].
f¨ ur jedes n = 0, 1, 2, . . .,
(8.87)
392
8 Differentialgleichungen
Beweis: G¨ abe es ein x0 ∈ [a, b] mit g(x0 ) = 0, so w¨ are wegen der Stetigkeit von g b b |g(x)| dx > 0, v := g 2 (x) dx > 0. u := a
a
Nach dem Weierstraßschen Approximationssatz 4.48 existiert zu beliebigem ε > 0 ein Polynom p(x) mit maxa≤x≤b |g(x) − p(x)| ≤ ε. Zusammen mit (8.87) folgt dann b b v = g(x) · (g(x) − p(x)) dx ≤ |g(x)| · |g(x) − p(x)| dx ≤ u · ε, a
a
also ein Widerspruch dazu, dass ε beliebig klein gew¨ ahlt werden kann.
Analog zu 7.1.5 nennen wir eine Funktion f : [0, ∞) st¨ uckweise stetig, falls es eine Menge A ⊂ [0, ∞) gibt, so dass f in jedem Punkt aus [0, ∞) \ A stetig ist, und A ∩ [0, r] f¨ ur jedes r ≥ 0 eine endliche Menge ist. 8.24 Satz. (Eindeutigkeitssatz f¨ ur Laplace-Transformationen) uckweise stetig. Es gebe ein σ ∈ R mit Die Funktionen f1 , f2 ∈ L seien st¨ Lf1 (s) = Lf2 (s),
s ≥ σ.
Bezeichnet A die Menge aller Stellen t, in denen f1 oder f2 unstetig ist, so gilt f1 (t) = f2 (t),
t ∈ [0, ∞) \ A.
Beweis: F¨ ur die st¨ uckweise stetige Funktion f := f1 − f2 gilt Lf (s) = Lf1 (s) − Lf2 (s) = 0, Setzen wir
t
R(t) := 0
e−σu f (u) du,
s ≥ σ.
(8.88)
t ≥ 0,
∞ so ist R eine st¨ uckweise stetig differenzierbare und wegen |R(t)| ≤ 0 e−σu |f (u)|du < ∞ eine beschr¨ ankte Funktion. Wegen R(0) = 0 folgt f¨ ur jedes s > σ (partielle Integration!) ∞ ∞ ∞ e−(s−σ)t · e−σt f (t) dt = e−(s−σ)t R(t) + (s − σ) e−(s−σ)t R(t) dt Lf (s) = 0 0 0 ∞ −(s−σ)t = (s − σ) e R(t) dt. 0
F¨ ur die spezielle Wahl s := σ + n + 1, n ∈ N0 , folgt dann aus (8.88) ∞ e−(n+1)t R(t) dt = 0, n ∈ N0 , 0
und somit nach der Substitution t := − log x, 0 < x ≤ 1, 1 1 dx = 0, n ∈ N0 . xn · R log x 0
(8.89)
8.7 Die Laplace-Transformation
393
Da der Grenzwert limx→0+ R(log(1/x)) = Lf (σ) existiert, kann man R(log(1/x)) zu einer stetigen Funktion auf [0, 1] erweitern. Nach Lemma 8.23 folgt dann aus (8.89) die Beziehung R(t) = 0, t ∈ [0, ∞), und somit (nach Definition von R) e−σu f (u) = 0 (und damit auch f (u) = 0) f¨ ur jede Stetigkeitsstelle u von f .
Satz 8.24 besagt unter anderem, dass stetige Funktionen mit derselben LaplaceTransformierten gleich sind. Insbesondere ist somit die L¨ osung y einer DGL (als differenzierbare Funktionen) eindeutig aus Ly identifizierbar.
8.7.4
Die Umkehrformel
Analog zu Satz 7.34 gibt es auch eine Umkehrformel f¨ ur die Laplace-Transformation. Es seien hierzu f ∈ L, s ∈ If und u ∈ R beliebig. F¨ ur die komplexe Zahl z := s + iu gilt |ez | = |eiut |·es = es , t ∈ R. Damit ist das Integral ∞ Lf (z) := e−zt f (t) dt (8.90) 0
wohldefiniert. Man kann die Laplace-Transformation also auch f¨ ur alle z ∈ C mit Re(z) ∈ If betrachten. Setzt man f (t) := 0 f¨ ur t < 0, so kann die untere Integrationsgrenze in (8.90) auch gleich −∞ gesetzt werden, und es folgt ∞ Lf (s + iu) = e−iut · e−st f (t) dt = Fe−st f (t) (u). −∞
Ist f st¨ uckweise stetig differenzierbar, so gilt dies auch f¨ ur t → e−st f (t), und wegen der Integrierbarkeit von e−st f (t) liefert Satz 7.34 die Gleichung T 1 −st 1 eiut Lf (s + iu) du, t ∈ R, e (f (t−) + f (t+)) = lim T →∞ 2π −T 2 und somit die Umkehrformel 1 est (f (t−) + f (t+)) = lim T →∞ 2π 2
T
−T
eiut Lf (s + iu) du,
t ∈ R.
(8.91)
Da die rechte Seite von (8.91) nicht von s abh¨angt, reicht somit zur Identifizierung aren Achse einer stetigen Funktion f die Kenntnis von Lf auf einer zur imagin¨ parallelen Geraden, die die reelle Achse in einem Punkt s ∈ If schneidet, aus.
8.7.5
Anwendung auf die L¨ osung von Differentialgleichungen
Die Grundidee zur L¨osung einer Differentialgleichung mit Hilfe der LaplaceTransformation besteht darin, dass man die Laplace-Transformierte der L¨ osung zu bestimmen versucht, um dann mit Satz 8.24 die L¨ osung zu identifizieren. Zur Verdeutlichung dieser Idee betrachten wir einige Beispiele.
394
8 Differentialgleichungen
8.25 Beispiel. (Die lineare DGL erster Ordnung) Wir betrachten das Anfangswertproblem y (t) + ay(t) = b(t),
t ≥ 0,
y(0) := y0 ,
(8.92)
mit a ∈ R und einer St¨orfunktion b ∈ L (dabei wird b nicht notwendig als stetig vorausgesetzt). Nehmen wir an, (8.92) habe eine L¨ osung y ∈ L, und es gelte y ∈ L. Aus der Linearit¨at der Laplace-Transformation (Satz 8.17 (i)) sowie Satz 8.22 und der Forderung y(0) = y(0+) = y0 folgt dann f¨ ur hinreichend großes s die Gleichung sLy (s) − y0 + aLy (s) = Lb (s). Schreibt man diese in der Form Ly (s) = Lb (s) ·
1 y0 + , s+a s+a
so l¨asst sich mit Hilfe der Linearit¨at der Laplace-Transformation, des Faltungssatzes (Satz 8.17 (v)) und der Nr. 3 in Tabelle 8.1 die L¨ osung ablesen“; es ist ” t y(t) = b(t) ∗ e−at + y0 e−at = b(u) · e−a(t−u) du + y0 e−at , t ≥ 0. 0
Man beachte, dass wir die Voraussetzungen y, y , b ∈ L nur gemacht haben, um die Methode der Laplace-Transformation anwenden zu k¨ onnen. Wenn sich zeigt, dass die gefundene Funktion y die gestellten Forderungen (8.92) erf¨ ullt, so k¨ onnen wir die Annahmen y, y , b ∈ L auch nachtr¨aglich fallen lassen! 8.26 Beispiel. (Die lineare DGL zweiter Ordnung) Ganz analog zu oben behandelt man das Anfangswertproblem y (t) + a1 y (t) + a0 y(t) = b(t),
t ≥ 0,
y(0) := y0 , y (0) := y0 ,
(8.93)
mit einer St¨orfunktion b und a0 , a1 , y0 , y0 ∈ R. Unter der Annahme der LaplaceTransformierbarkeit beider Seiten von (8.93) und der Stetigkeit von y und y in t = 0 folgt dann unter Verwendung von Satz 8.22 s2 Ly (s) − sy0 − y0 + a1 (sLy (s) − y0 ) + a0 Ly (s) = Lb (s) und somit (f¨ ur hinreichend großes s) Ly (s) =
Lb (s) + sy0 + a1 y0 + y0 . s2 + a1 s + a0
(8.94)
Im Nenner von (8.94) steht das charakteristische Polynom P (s) := s2 + a1 s + a0 der zu (8.93) geh¨orenden homogenen DGL y + a1 y + a0 y = 0. Man beachte, dass die Anfangsbedingungen nicht wie in (8.93) nebenher laufen“, sondern in ” der rechten Seite von (8.94) automatisch ber¨ ucksichtigt sind. Wegen Ly (s) = Lb (s) ·
a1 y0 + y0 1 1 + y0 · s · + P (s) P (s) P (s)
8.7 Die Laplace-Transformation
395
k¨onnte man auch hier die L¨osung y sofort ablesen“, wenn man eine Funktion g ” mit Lg (s) = 1/P (s) gefunden h¨atte. In diesem Fall w¨ are nach Satz 8.19 n¨ amlich Lg (s) = sLg (s), und der Faltungssatz w¨ urde y(t) = b(t) ∗ g(t) + y0 · g (t) + (a1 y0 + y0 ) · g(t)
(8.95)
liefern. Die Gestalt der Funktion g h¨angt nur von der Diskriminante D = a21 −4a0 von P (s) ab. Im Fall D > 0 gilt 1 1 1 1 1 = − = 2 P (s) s + a1 s + a0 λ1 − λ2 s − λ1 s − λ2 √ mit λ1,2 = (−a1 ± D)/2 und folglich (vgl. Nr. 3 in Tabelle 8.1) 1 g(t) = eλ1 t − eλ2 t . λ1 − λ2 Im Fall D = 0 folgt 1/P (s) = (s + a1 /2)−2 und somit (vgl. die Nr. 4 in Tabelle 8.1 mit k = 1) a 1 g(t) = t · exp − t . 2 Im verbleibenden Fall D < 0 gilt 1/P (s) = ((s + a1 /2)2 − D/4)−1 , was mit Nr. 11 in Tabelle 8.1 auf √ a 2 −D 1 g(t) = √ · exp t · sin t 2 2 −D f¨ uhrt. Einsetzen von g(t) in (8.95) liefert dann die L¨ osung y von (8.93). So ergibt sich etwa f¨ ur die DGL y (t) + ω 2 y(t) = 0 der freien harmonischen Schwingung (a1 = 0, a0 = ω 2 , b ≡ 0, D = −4ω 2 < 0) die Funktion g(t) = ω −1 sin(ωt) und somit nach Einsetzen in (8.95) die schon bekannte L¨ osung (8.74). Nach dem gleichen Prinzip kann auch die allgemeine lineare DGL y (n) (t) + an−1 · y (n−1) (t) + . . . + a0 · y(t) = b(t),
t ≥ 0, (n−1)
mit den Anfangsbedingungen y(0) = y0 , y (0) = y0 , . . . , y (n−1) (0) = y0 behandelt werden. Unter Verwendung von Satz 8.22 ergibt sich die Darstellung
1 1 Ly (s) = Lb (s) · + y0 sn−1 + an−1 sn−2 + . . . + a2 s + a1 · P (s) P (s)
1 + y0 · sn−2 + an−1 sn−3 + . . . + a2 · P (s) ..................... 1 (n−2) + y0 (s + an−1 ) · P (s) 1 (n−1) + y0 , · P (s)
396
8 Differentialgleichungen
wobei P (s) = sn + an−1 sn−1 + . . . + a1 · λ + a0 das charakteristische Polynom bezeichnet. Eine Funktion g(t) mit Lg (s) = 1/P (s) erh¨ alt man durch eine sog. Partialbruchzerlegung von 1/P (s) (siehe z.B. Heuser (2009)).
8.8
Numerische Verfahren
Differentialgleichungen lassen sich oft nur mit Hilfe numerischer Verfahren approximativ l¨osen, und es existiert eine umfangreiche Spezialliteratur zu diesem Themenkreis (siehe z.B. Hanke-Bourgeois (2009)). Im Rahmen dieses Buches kann dieses Gebiet nur gestreift werden. Wir betrachten hierzu wie in 8.5.1 das Anfangswertproblem y = f (x, y),
a ≤ x ≤ b.
y(a) := y0 ,
(8.96)
Jedes numerische Verfahren arbeitet mit einer Diskretisierung, d.h. man betrachtet anstelle der kontinuierlichen“ L¨osung y(x), a ≤ x ≤ b, von (8.96) eine Zerle” gung des Intervalls [a, b] in Teilpunkte a =: x0 < x1 < . . . < xn := b und sucht N¨aherungswerte y1 . . . , yn f¨ ur y an den Stellen x1 , . . . , xn . Wir beschr¨anken uns im Folgenden auf den Fall ¨aquidistanter St¨ utzstellen xj := x0 + j ·h,
j = 0, . . . , n,
h :=
b−a , n
x0 := a.
Dabei wird die Zahl h als Schrittweite bezeichnet.
8.8.1
Das Eulersche Polygonzugverfahren
Dieses klassische Verfahren orientiert sich an der geometrischen Deutung des Richtungsfeldes und beruht auf der einfachen Idee, vom Anfangspunkt (x0 , y0 ) geradlinig mit der dort herrschenden Steigung f (x0 , y0 ) eine Schrittweite nach rechts zu gehen, von dem so erhaltenen Punkt (x1 , y1 ) mit der dort gegebenen Steigung f (x1 , y1 ) einen weiteren Schritt nach rechts zu gehen und auf diese Weise fortzufahren, bis der Abszissenwert b = xn erreicht ist. Die N¨ aherungswerte y1 , . . . , yn ergeben sich also rekursiv nach der Vorschrift yj+1 := yj + h·f (xj , yj ),
j = 0, . . . , n − 1.
(8.97)
Durch Verbinden der Punkte (xj , yj ) (j = 0, . . . , n) entsteht der als N¨ aherungsl¨osung f¨ ur y dienende sog. Eulersche Polygonzug. Bild 8.15 zeigt die Eulerschen Polygonz¨ uge f¨ ur n = 4 bzw. n = 10 (zusammen mit der exakten L¨ osung y = 1.15 exp(x) − x − 1) f¨ ur das Anfangswertproblem y = x + y, 0 ≤ x ≤ 1, y(0) := 0.15.
8.8 Numerische Verfahren
397
y
y
y(xn )
y(xn ) yn
yn
x0
x1
x2
xn
x3
x0 x1 x2 x3 . . .
x
x
xn
Bild 8.15: Eulerscher Polygonzug am Beispiel des Anfangswertproblems y = x + y, 0 ≤ x ≤ 1, y(0) := 0.15 (links: n = 4, rechts: n = 10)
Es ist zu vermuten, dass sich der Eulersche Polygonzug bei Verkleinern der Schrittweite h der L¨osung y von (8.96) immer mehr ann¨ ahert. Zum Nachweis dieser Behauptung setzen wir die Lipschitz-Bedingung (8.31) sowie y ∈ C 2 und sup |y (x)| ≤ M < ∞
(8.98)
a≤x≤b
voraus. Wegen (8.97) und y (x) = f (x, y(x)) liefert eine Taylorentwicklung h2 |y(xj+1 ) − yj+1| = y(xj ) + hf (xj , y(xj )) + y (θj ) − yj − hf (xj , yj ) 2 h2 ≤ |y(xj ) − yj | + h·|f (xj , y(xj )) − f (xj , yj )| + |y (θj )| 2 mit einer Zwischenstelle θj ∈ (xj , xj+1 ). Aus (8.31) und (8.98) folgt dann |y(xj+1 ) − yj+1| ≤ (1 + hL)|y(xj ) − yj | +
h2 M h2 M ≤ ehL |y(xj ) − yj | + 2 2
ur jedes k = 1, . . . , n (j = 0, 1, . . . , n − 1) und somit wegen y(x0 ) = y0 f¨ |y(xk ) − yk | ≤
k−1 j=0
enhL − 1 h2 M h2 M h2 M ≤ = hL · . ejhL · 2 2 e −1 2 n−1
ejhL ·
j=0
Unter Beachtung von ehL − 1 ≥ hL > 0 und nh = b − a ergibt sich max |y(xk ) − yk | ≤ C · h,
k=0,...,n
C :=
(e(b−a)L − 1)M . 2L
(8.99)
Man sagt hierf¨ ur auch, das Eulersche Polygonzugverfahren konvergiere f¨ ur h → 0 von erster Ordnung gegen die L¨osung des Anfangswertproblems (8.96).
398
8.8.2
8 Differentialgleichungen
Das Halbschrittverfahren
Ein im Vergleich zur Eulerschen Polygonzugmethode wesentlich leistungsf¨ ahigeres Verfahren ergibt sich aufgrund der folgenden geometrischen Betrachtung: Ist P (t) = α + βt + γt2 ein Polynom h¨ochstens zweiten Grades, so besitzt die Sehne durch zwei beliebige Punkte (x, P (x)) und (x + h, P (x + h)) (h > 0) die gleiche Steigung wie die Tangente an den Graphen von P im Punkt (x+h/2, P (x+h/2)), denn direktes Ausrechnen liefert (s. auch Bild 8.16) h P (x + h) − P (x) =P x+ , x, h ∈ R, h > 0. h 2 P (t) Bild 8.16: Parallelit¨ at von Sehne und Tangente bei einer Parabel
x
x+h/2
x+h
t
Man kann vom Punkt (x, P (x)) ausgehend den Punkt (x + h, P (x + h)) gerad” linig erreichen“, indem man von (x, P (x)) aus mit der Richtung der Tangente im Punkt (x+h/2, P (x+h/2)) um h nach rechts geht. Dies ist der Grundgedanke des Halbschrittverfahrens (verbesserten Euler-Verfahrens), bei dem man von (x0 , y0 ) aus nur einen halben Schritt mit der Steigung f (x0 , y0 ) nach rechts geht, die dort herrschende Steigung f (x0 + h/2, y0 + h/2f (x0 , y0 )) ermittelt und mit dieser dann erneut von (x0 , y0 ) aus, aber jetzt einen ganzen Schritt, nach rechts geht. Von dem so erhaltenen Punkt (x1 , y1 ) wird das Verfahren in gleicher Weise fortgesetzt. Im Vergleich zu (8.97) ist die Rekursionsformel des Halbschrittverfahrens also h h j = 0, . . . , n − 1. (8.100) yj+1 = yj + h·f xj + , yj + f (xj , yj ) , 2 2 Um auch hier zu einer Fehlerabsch¨atzung f¨ ur |y(xk )−yk | zu gelangen, setzen wir f als zweimal stetig differenzierbar mit beschr¨ ankten zweiten partiellen Ableitungen voraus. Damit ist die durch f1 (x, y) := fx (x, y) + fy (x, y)f (x, y) definierte Funktion f1 : [a, b] × R → R stetig differenzierbar nach y, und der Mittelwertsatz liefert eine weitere Lipschitz-Konstante L1 mit |f1 (x, y) − f1 (x, z| ≤ L1 · |y − z|,
a ≤ x ≤ b, y, z ∈ R.
(8.101)
8.8 Numerische Verfahren
399
Nach dem Satz von Taylor gilt y(xj+1 ) = y(xj ) + hf (xj , y(xj )) +
h2 h3 y (xj ) + y (θj ) 2 6
(8.102)
(j = 1, . . . , n − 1) mit einer Zwischenstelle θj ∈ (xj , xj+1 ). Nach (8.100) und Folgerung 1.51 ergibt sich weiter yj+1 = yj + hf (xj , yj ) + +
h2 f1 (xj , yj ) 2
(8.103)
h3 fxx (ξj , ηj ) + 2fxy (ξj , ηj )f (xj , yj ) + fyy (ξj , ηj )f 2 (xj , yj ) , 8
wobei (ξj , ηj ) ein Punkt auf der Verbindungsstrecke zwischen (xj , yj ) und (xj + h/2, yj + h/2f (xj , yj )) ist. Setzen wir voraus, dass die Koeffizientenfunktionen aßig auf [a, b] × R beschr¨ ankt sind, der h3 -Terme in (8.102) und (8.103) gleichm¨ so liefert Subtraktion der Gleichungen (8.102) und (8.103) unter Beachtung von y (xj ) = f1 (xj , y(xj )) die Absch¨atzung |y(xj+1 ) − yj+1 | ≤ |y(xj ) − yj | + h·|f (xj , y(xj )) − f (xj , yj )| +
h2 ·|f1 (xj , y(xj )) − f1 (xj , yj )| + M · h3 2
mit einer gewissen von h unabh¨angigen Konstanten M . Mit (8.31), (8.101) und √ L := max(L, L1 ) > 0 folgt L1 h2 |y(xj ) − yj | + M · h3 |y(xj+1 ) − yj+1| ≤ 1 + Lh + 2
≤ ehL ·|y(xj ) − yj | + M · h3 . Wie beim Eulerschen Polygonzugverfahren erh¨ alt man hieraus die zu (8.99) analoge Fehlerabsch¨atzung max |y(xk ) − yk | ≤ D · h2
k=0,...,n
mit einer von h unabh¨angigen Zahl D. Im Gegensatz zum Eulerschen Polygonzugverfahren konvergieren die N¨ aherungsl¨osungen des Halbschrittverfahrens bei h → 0 quadratisch gegen die L¨ osung y von (8.96). Man sagt, das Halbschrittverfahren ist ein Verfahren zweiter Ordnung. Dass sich dieser Qualit¨atsunterschied in der Praxis dramatisch auswirkt, zeigt der in Bild 8.15 links dargestellte Eulersche Polygonzug zur Schrittweite h = 0.25. W¨ urde man in dieses Bild den Polygonzug einzeichnen, der sich durch Verbinden
400
8 Differentialgleichungen
der aus dem Halbschrittverfahren resultierenden Punkte (xj , yj ) (j = 0, . . . , 4) ergibt, so w¨are dieser Polygonzug optisch kaum vom Graphen der L¨ osungsfunktion zu unterscheiden, denn es gilt maxj=0,...,4 |y(xj ) − yj | ≈ 0.027. Abschließend sei bemerkt, dass man bei jedem numerischen Verfahren zur L¨osung einer DGL stets auch Rundungsfehler ber¨ ucksichtigen muss. Daraus resultiert eine Grenzgenauigkeit“, die auch durch eine Verkleinerung der Schrittweite ” nicht unterschritten werden kann.
Lernziel-Kontrolle • Welches ist die allgemeine Form einer expliziten DGL 2. Ordnung? • Welchen DGL’en gen¨ ugen exponentielle Wachstums- und Zerfallsprozesse? ¨ • Durch welche Uberlegungen entsteht die logistische Differentialgleichung? • K¨ onnen Sie die Begriffe Richtungsfeld und Linienelement erkl¨ aren? • Was ist eine trennbare Differentialgleichung? • Welche Gestalt besitzt eine lineare Differentialgleichung erster Ordnung? • Wozu dient die Methode der Variation der Konstanten? • Was besagt der globale Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard–Lindel¨ of? • Was ist eine lineare DGL n-ter Ordnung? • Wie lautet das Anfangswertproblem f¨ ur eine lineare DGL n-ter Ordnung? • Erkl¨ aren Sie die Begriffe Fundamentalsystem und Wronski-Determinante! • Auf welche Weise erh¨alt man alle L¨osungen einer inhomogenen linearen DGL? • Welche Gestalt besitzt das charakteristische Polynom einer linearen DGL mit konstanten Koeffizienten? • Auf welche Weise liefert das charakteristische Polynom ein Fundamentalsystem von L¨ osungen einer homogenen linearen DGL? • K¨ onnen Sie die DGL der ged¨ampften harmonischen Schwingung herleiten? • Wie ist die Laplace-Transformation definiert? • Was besagen der D¨ampfungs- und der Verschiebungssatz? • Inwieweit ist f durch Lf bestimmt? • Welche Idee liegt der L¨osung einer DGL durch die Laplace-Transformation zugrunde? • Was ist der entscheidene Unterschied zwischen dem Eulerschen Polygonzugverfahren und dem Halbschrittverfahren?
Kapitel 9
Stochastik Es bleibt n¨amlich noch zu untersuchen, ob durch Vermehrung der Beobachtungen best¨andig auch die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur w¨achst, daß die Zahl der g¨ unstigen zu der Zahl der ung¨ unstigen Beobachtungen das wahre Verh¨altnis erreicht, und zwar in dem Maße, daß diese Wahrscheinlichkeit schließlich jeden beliebigen Grad der Gewißheit ¨ ubertrifft, ...
Jakob Bernoulli Ausger¨ ustet mit der allgemeinen Integrationstheorie k¨ onnen wir in diesem Kapitel die in I.4 begonnene Einf¨ uhrung in die Stochastik als Mathematik des ” Zufalls“ fortsetzen. Nach der Diskussion allgemeiner Zufallsvariablen und ihrer Verteilungen werden das Gesetz großer Zahlen und der zentrale Grenzwertsatz f¨ ur Folgen unabh¨angiger Zufallsvariablen im Mittelpunkt des Kapitels stehen. Die Entwicklung der Stochastik ist bis heute von einer intensiven Wechselwirkung zwischen Theorie und Anwendungen gepr¨agt. Zu den zahlreichen aktuellen Anwendungen geh¨oren etwa die Telekommunikation (Modellierung der Abfolge und Dauer von Datentransfers), das Versicherungswesen (Pr¨ amienkalkulation unter Unsicherheit u unftige Schadensaufkommen), die Finanzmathematik (Risi¨ ber zuk¨ komanagement und Optionsbewertung) oder die Meinungsforschung (Gewinnung repr¨asentativer Stichproben). Wir werden im letzten Abschnitt mit der Black– Scholes-Formel eines der zentralen Ergebnisse der Finanzmathematik herleiten.
9.1 9.1.1
Grundlagen Stochastische Vorg¨ ange
Als Teil der Stochastik modelliert und analysiert die Wahrscheinlichkeitstheorie (WT) stochastische Vorg¨ ange (Zufallsexperimente). Ein mathematisches Modell f¨ ur einen stochastischen Vorgang sollte die folgenden Aspekte erfassen: N. Henze, G. Last, Mathematik für Wirtschaftsingenieure und naturwissenschaftlichtechnische Studiengänge, DOI 10.1007/978-3-8348-9785-5_9, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
402
9 Stochastik
(i) Was kann alles passieren? (ii) Mit welchen Wahrscheinlichkeiten treten diese oder jene Ereignisse ein? Dem ersten Aspekt wird mit dem sog. Grundraum Ω Rechnung getragen. Dieser Grundraum ist eine nichtleere Menge, die alle m¨ oglichen Ergebnisse (Ausg¨ ange, Realisierungen) des stochastischen Vorgangs enth¨ alt. Den zweiten Aspekt erfasst man mit einem Wahrscheinlichkeitsmaß P, welches geeigneten Teilmengen von Ω (sog. Ereignissen) Wahrscheinlichkeiten zuordnet. 9.1 Beispiel. (M¨ unzw¨ urfe) Die m¨oglichen Ergebnisse eines M¨ unzwurfes k¨ onnen durch die Menge Ω := {0, 1} beschrieben werden. Werden beide Ergebnisse als gleich wahrscheinlich“ erach” tet, so w¨ahlt man f¨ ur P den Ansatz P({0}) = P({1}) := 1/2. Wird die M¨ unze n-mal in Folge geworfen, so bietet sich als Grundraum das kartesische Produkt Ω := {0, 1}n = {ω := (ω1 , . . . , ωn ) : ωj ∈ {0, 1} f¨ ur j = 1, . . . , n} an. Sieht man auch hier jeden dieser Ausg¨ange als gleich wahrscheinlich“ an, so ” ur jedes ω ∈ Ω und allgemeiner in dr¨ uckt sich diese Annahme in P({ω}) := 2−n f¨ P(A) :=
|A| |A| = n, |Ω| 2
A ⊂ Ω,
aus. Man nennt P die Gleichverteilung (oder Laplace-Verteilung) auf Ω. 9.2 Beispiel. (Unendlich viele M¨ unzw¨ urfe) Wird eine M¨ unze gedanklich beliebig oft geworfen, so ist die Menge ur j ∈ N} Ω := {0, 1}∞ = {(ωj )j∈N : ωj ∈ {0, 1} f¨ aller 0/1-Folgen ein nat¨ urlicher Grundraum f¨ ur diesen stochastischen Vorgang. Das zu konstruierende Wahrscheinlichkeitsmaß P sollte mit Blick auf Beispiel 9.1 allen Folgen mit gegebener gleicher Anfangssequenz die Wahrscheinlichkeit P({ω ∈ Ω : ω1 = i1 , . . . , ωn = in }) := 2−n zuordnen. Dabei sind n ∈ N und (i1 , . . . , in ) ∈ {0, 1}n beliebig. Aufgabe der WT ist es, diese Definition in vern¨ unftiger Weise auf m¨ oglichst viele Teilmengen von Ω zu erweitern. So sollte etwa die auch empirisch gest¨ utzte Aussage P({ω ∈ Ω : lim (ω1 + . . . + ωn )/n = 1/2}) = 1 n→∞
gelten. Hier handelt es sich um ein Beispiel f¨ ur das Gesetz der großen Zahlen.
9.1 Einf¨ uhrung
403
9.3 Beispiel. (Gleichverteilte Zufallszahl) Auf vielen Taschenrechnern findet sich eine Taste, deren Bet¨ atigung eine zuf¨ alli” ge“ Zahl ω aus dem Intervall Ω := [0, 1] liefert. Ist diese Zufallszahl rein zuf¨ allig“, ” so sollte f¨ ur ein stochastisches Modell die Beziehung P({ω ∈ [0, 1] : a ≤ ω ≤ b}) = b − a,
0 ≤ a ≤ b ≤ 1,
gelten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zufallszahl in ein bestimmtes Intervall f¨allt, h¨angt also ausschließlich von der L¨ange des Intervalls ab. Mit Hilfe des in 6.1.1 eingef¨ uhrten Lebesgue-Maßes l¨asst sich diese Idee mathematisch pr¨ azisieren. 9.4 Beispiel. (Brownsche Bewegung) Der Botaniker R. Brown1 beobachtete 1828, dass Bl¨ utenpollen in einer Fl¨ ussigkeit scheinbar v¨ollig erratische stochastische“ Bewegungen ausf¨ uhrten. Dieses Ph¨ ano” men l¨asst sich mit den zahllosen Zusammenst¨ oßen zwischen den Pollen und den sehr viel kleineren Fl¨ ussigkeitsmolek¨ ulen erkl¨ aren. Beobachtet man ein Pollen etwa zwischen den Zeitpunkten 0 und 1 und beschreibt dessen Aufenthaltsort ω(t) zur Zeit t zun¨achst nur durch eine Koordinate, so bietet sich als Grundraum Ω die Menge aller stetigen Funktionen ω : [0, 1] → R mit ω(0) = 0 an. Es zeigte sich, dass ein geeignetes Wahrscheinlichkeitsmaß P die Gleichung b x2 1 √ exp − P({ω ∈ Ω : a ≤ ω(t) ≤ b}) = dx (9.1) 2tσ 2 σ 2tπ a f¨ ur jedes t ∈ (0, 1] und alle a < b erf¨ ullen soll. F¨ ur die Wahrscheinlichkeitstheorie stellen sich hier viele interessante Fragen. Warum tritt in (9.1) gerade √ das Integral der Dichte (6.27) der Normalverteilung (mit Parametern 0 und σ t) auf? Welche Eigenschaften muss man zu (9.1) hinzunehmen, um P(A) f¨ ur m¨ oglichst viele Mengen ( Bewegungsverl¨aufe“) A ⊂ Ω erkl¨ aren zu k¨ onnen? Die Brownsche ” Bewegung (siehe 9.8.3) ist ein fundamentales Beispiel eines stochastischen Prozesses. Theorie und Anwendungen solcher Prozesse bilden einen wesentlichen Teil der heutigen Wahrscheinlichkeitstheorie.
9.1.2
Wahrscheinlichkeitsr¨ aume
Die folgende auf A.N. Kolmogorow zur¨ uckgehende und durch die Eigenschaften (i)–(iii) aus I.5.4.1 motivierte Definition bildet das Fundament der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie. Ein Wahrscheinlichkeitsraum (W-Raum) ist ein Tripel (Ω, A, P), wobei Ω eine beliebige nichtleere Menge, A ⊂ P(Ω) eine σ-Algebra u ¨ber Ω (vgl. 6.2.3) und P : A → [0, ∞] eine Funktion mit folgenden Eigenschaften ist: 1
Robert Brown (1773–1858), schottischer Mediziner und Botaniker. 1810 Fellow der Royal Society und 1822 Fellow sowie 1849 bis 1853 Pr¨ asident der Linnean Society.
404 (i) 0 ≤ P(A) ≤ 1,
9 Stochastik A ∈ A.
(ii) P(Ω) = 1. (iii) Sind A1 , A2 , . . . paarweise disjunkte Mengen aus A, so gilt ⎞ ⎛ ∞ ∞ Aj ⎠ = P(Aj ). (σ-Additivit¨ at) P⎝ j=1
j=1
Die Funktion P heißt Wahrscheinlichkeitsmaß (W-Maß) auf (Ω, A). Da aus obigen Axiomen leicht die Eigenschaft P(∅) = 0 gefolgert werden kann ur j ≥ 2), ist ein Wahrscheinlichkeitsraum (setze in (iii) A1 := Ω und Aj := ∅ f¨ ein Maßraum (Ω, A, μ) (vgl. 6.2.11) mit der Normierungsbedingung μ(Ω) = 1. 9.5 Beispiel. (Diskrete Wahrscheinlichkeitsmaße) Es seien (Ω, A) ein Messraum, D ∈ A eine endliche oder abz¨ ahlbar-unendliche Menge sowie pω > 0, ω ∈ D, Zahlen mit ω∈D pω = 1. Gem¨ aß Beispiel 6.58 definiert P(A) = pω 1A (ω), A ∈ A, (9.2) ω∈D
ein W-Maß P auf (Ω, A) (nach Voraussetzung gilt P(Ω) = P(D) = 1). Ist umgekehrt P ein gegebenes W-Maß mit P(D) = 1, so gilt Gleichung (9.2) mit ahlt man Ω := D pω := P({ω}). Derartige W-Maße heißen diskret mit Tr¨ager D. W¨ und A := P(Ω), so ergibt sich der in I.5.4 diskutierte diskrete W-Raum. 9.6 Beispiel. (Wahrscheinlichkeitsmaße mit Dichten) Es seien (Ω, A, μ) ein Maßraum und f : Ω → [0, ∞] eine A-messbare Funktion mit der Eigenschaft f dμ = 1. Dann definiert P(A) := f (ω) μ(dω), A ∈ A, A
¨ ein W-Maß P auf (Ω, A). In Ubereinstimmung mit 6.2.26 heißt die Funktion f μ-Dichte von P. Besonders wichtig ist der Fall (Ω, A, μ) = (Rn , Ln , λn ), der bereits in Beispiel 6.54 diskutiert wurde. Dann nennt man f die Lebesgue-Dichte (oder einfach Dichte) von P und das W-Maß P absolut stetig. Dabei ist es in der Stochastik u ¨blich, n nicht die σ-Algebra L der Lebesgue-messbaren Mengen, sondern die f¨ ur praktische Zwecke v¨ollig ausreichende σ-Algebra B n ⊂ Ln der Borelmengen zu betrachten (ein Grund hierf¨ ur ist auch die Gleichung 6.54). In der Notation (Rn , B n , λn ) bezeichnet dann λn die Einschr¨ankung des Lebesgue-Maßes auf B n .
9.2 Zufallsvariablen und ihre Verteilungen
405
Es ist oft hilfreich, einen W-Raum (Ω, A, P) als Modell f¨ ur einen (m¨ oglicherweise sehr komplexen) stochastischen Vorgang zu interpretieren. In diesem Zusammenhang nennt man jede Menge A ∈ A ein Ereignis. Die Zahl P(A) heißt Wahrscheinlichkeit des Ereignisses (bzw. von) A. Die Menge ∅ heißt unm¨ogliches und die Menge Ω sicheres Ereignis. Liefert der stochastische Vorgang den Ausgang ω ∈ Ω und ist A ∈ A, so gibt es die beiden M¨ oglichkeiten ω ∈ A oder ω ∈ / A. Man sagt dann, dass das Ereignis A eingetreten bzw. nicht eingetreten ist. Ist B ein weiteres Ereignis und gilt ω ∈ A ∩ B (bzw. ω ∈ A ∪ B), so sagt man, dass A und (bzw. oder) B eingetreten sind (bzw. ist). In Verallgemeinerung dazu beschreiben ∪nj=1 Aj und ∩nj=1Aj (A1 , . . . , An ∈ A) die Ereignisse mindestens ” eines der Ereignisse A1 , . . . , An tritt ein“ bzw. jedes der Ereignisse A1 , . . . , An ” tritt ein“.
9.1.3
Folgerungen aus den Axiomen
Da eine σ-Algebra A abgeschlossen gegen¨ uber der Bildung von Komplementen sowie von Vereinigungen und Durchschnitten endlich vieler oder abz¨ ahlbarunendlich vieler Mengen ist, bleiben die in I.4.2.3 hergeleiteten Eigenschaften f¨ ur ein Wahrscheinlichkeitsmaß P in der allgemeinen Situation von 9.1.2 unver¨ andert g¨ ultig. Hinzu treten die Eigenschaften (i) aus Ak ↑ A folgt P(A) = limk→∞ P(Ak ),
(Stetigkeit unten)
(ii) aus Ak ↓ A folgt P(A) = limk→∞ P(Ak ), 7 ∞ (iii) P ( ∞ k=1 Ak ) ≤ k=1 P(Ak ).
(Stetigkeit von oben) (σ-Subadditivit¨ at)
Dabei sind A1 , A2 , . . . ∈ A (vgl. Satz 6.53 (ii)–(iv)).
9.2
Zufallsvariablen und ihre Verteilungen
In diesem Abschnitt sei (Ω, A, P) ein beliebiger W-Raum.
9.2.1
Zufallsvariablen
Ist (X, X ) ein Messraum, so heißt jede Abbildung X : Ω → X mit der sog. (A, X )-Messbarkeitseigenschaft“ ” X −1 (B) = {ω ∈ Ω : X(ω) ∈ B} ∈ A,
B ∈ X,
(9.3)
eine X-wertige Zufallsvariable (auf Ω). In den F¨ allen (X, X ) = (R, B 1 ) bzw. (X, X ) = (Rk , B k ) f¨ ur k ∈ N mit k ≥ 2 nennt man X auch eine reelle Zufallsva-
406
9 Stochastik
riable bzw. einen k-dimensionalen Zufallsvektor. Im Fall einer reellen Zufallsvariablen ist (9.3) gleichbedeutend mit {ω ∈ Ω : X(ω) ≤ t} ∈ A
f¨ ur jedes t ∈ R.
(9.4)
Das ergibt sich aus den nachfolgenden Beziehungen (9.5) und (9.6) sowie der Tatsache, dass das System aller Intervalle der Form (−∞, x], x ∈ R, einen Erzeuger der Borelschen σ-Algebra B 1 bildet. Im Sinne von 6.2.6 ist eine reelle Zufallsvariable also nichts anderes als eine A-messbare reellwertige Abbildung auf Ω. Ist X =: (X1 , . . . , Xk ) ein k-dimensionaler Zufallsvektor, also eine (A, B k )messbare Abbildung ω → X(ω) = (X1 (ω), . . . , Xk (ω)), so heißen die Zufallsvariablen X1 , . . . , Xk die Komponenten von X. Wie in der Stochastik allgemein u ¨blich werden Zufallsvariablen mit großen lateinischen Buchstaben aus dem hinteren Teil des Alphabetes bezeichnet. Auf eine Pfeil-Schreibweise f¨ ur Zufallsvektoren wird verzichtet. ¯ Bisweilen treten auch R-wertige Zufallsvariablen auf. In diesem Fall ist X = 1 ¯ aquivalent. {B ⊂ R : B ∩ R ∈ B }, und die Bedingung (9.3) ist zu (9.4) ¨ Die Definition einer Zufallsvariablen wurde bewusst so allgemein gew¨ ahlt, um auch die f¨ ur die Anwendungen so wichtigen stochastischen Prozesse (vgl. 9.8.3) zu erfassen. ¨ F¨ ur die folgenden Uberlegungen erinnern wir daran, dass die zu einer Abbildung X : Ω → X geh¨orende Urbild-Abbildung X −1 : P(X) → P(Ω) durch X −1 (B) := {ω ∈ Ω : X(ω) ∈ B},
B ⊂ X,
definiert ist (vgl. I.2.1.5). Man u ur beliebige Teilmengen ¨berlegt sich leicht, dass f¨ B, B1 , B2 , . . . von X die Beziehungen X −1 (X \ B) = Ω \ X −1 (B), ⎛ ⎞ ∞ ∞ −1 ⎝ ⎠ Bj = X −1 (Bj ), X j=1
⎛ X
−1 ⎝
j=1
∞ /
⎞ Bj ⎠ =
j=1
(9.5) ∞ /
X −1 (Bj )
(9.6)
j=1
gelten (sog. Vertr¨aglichkeit von X −1 mit mengentheoretischen Operationen).
9.2.2
Verteilungen
Sind (X, X ) ein Messraum und X : Ω → X eine X-wertige Zufallsvariable, so wird durch PX (B) := P(X −1 (B)),
B ∈ X,
(9.7)
ein W-Maß PX auf der σ-Algebra X definiert. Es heißt die Verteilung von X. Ist X = (X1 , . . . , Xk ) ein k-dimensionaler Zufallsvektor, so nennt man PX auch die gemeinsame Verteilung von X1 , . . . , Xk .
9.2 Zufallsvariablen und ihre Verteilungen
407
Dass durch (9.7) ein W-Maß auf (X, X ) definiert wird (und somit ein neuer W-Raum (X, X , PX ) entsteht), ist unmittelbar einzusehen, denn nach (9.3) ist PX wohldefiniert, und es gilt 0 ≤ PX (B) ≤ 1 sowie PX (X) = P(Ω) = 1. Sind B1 , B2 , . . . ∈ X paarweise disjunkt, so sind auch die Urbilder X −1 (Bj ) (j = 1, 2, . . .) paarweise disjunkte Mengen in A, und (9.6) sowie die σ-Additivit¨ at von P liefern ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ∞ ∞ ∞ ∞
PX ⎝ Bj ⎠ = P ⎝ X −1 (Bj )⎠ = P X −1 (Bj ) = PX (Bj ). j=1
j=1
j=1
j=1
Wir werden in der Folge auf die schwerf¨allige Notation PX (B) verzichten und die (auch suggestivere) Schreibweise P(X ∈ B) := P({X ∈ B}) = P({ω ∈ Ω : X(ω) ∈ B}) = PX (B)
(9.8)
verwenden. Hierbei erinnern wir an die in 6.2.9 getroffenen Vereinbarungen. Analoge Bezeichnungen werden wir auch f¨ ur andere Ereignisse benutzen. Sind zum Beispiel (X , X ) ein weiterer Messraum, Y eine X -wertige Zufallsvariable und B ∈ X , C ∈ X , so steht P(X ∈ B, Y ∈ C) f¨ ur die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses {ω ∈ Ω : X(ω) ∈ B und Y (ω) ∈ C}. Es sei betont, dass es f¨ ur das Studium der Verteilung einer Zufallsvariablen X nicht auf die konkrete Gestalt des zugrunde liegenden W-Raumes (Ω, A, P) ankommt, sondern nur darauf, ob die Existenz eines (als Verteilung von X fungierenden) W-Maßes Q auf X gesichert ist. Existiert ein derartiges Q, so existieren auch ein W-Raum (Ω, A, P) und eine X-wertige Zufallsvariable X : Ω → X mit Q = PX ; wir brauchen hierzu nur Ω := X,
A := X ,
P := Q,
X := idΩ
(9.9)
zu setzen (sog. kanonisches Modell). Die folgenden Beispiele zeigen, wie man im Fall reeller Zufallsvariablen und k-dimensionaler Zufallsvektoren vorgeht, um praktisch wichtige Klassen von Verteilungen (W-Maßen Q auf (R, B1 ) bzw. (Rk , B k )) zu erzeugen. 9.7 Beispiel. (Diskrete Verteilungen und Zufallsvektoren) In v¨olliger Analogie zu Beispiel 9.5 heißt ein k-dimensionaler Zufallsvektor X diskret (verteilt) und seine Verteilung PX diskret, falls es eine endliche oder abz¨ahlbar-unendliche Menge D ⊂ Rk (und somit D ∈ Bk ) sowie positive Zahlen px , x ∈ D, mit x∈D px = 1 gibt, so dass gilt: P(X ∈ B) =
x∈B∩D
px =
x∈D
1B (x)px ,
B ∈ Bk .
408
9 Stochastik
Insbesondere ergibt sich f¨ ur y ∈ D mit der Wahl B := {y } P(X = y ) = py . Wegen der σ-Additivit¨at ist die Verteilung eines diskreten Zufallsvektors durch die Angabe der Werte P(X = x), x ∈ D, eindeutig bestimmt. Die Menge D heißt Tr¨ ager (der Verteilung) von X. Bereits bekannt diskrete Verteilungen f¨ ur reelle Zufallsvariablen sind die • Binomialverteilung Bin(n, p) mit D = {0, . . . , n} (s. I.4.9.1), also n k P(X = k) = p (1 − p)n−k , k = 0, 1, . . . , n, k • die geometrische Verteilung G(p) mit D = N0 (s. I.5.4.3), d.h. P(X = k) = (1 − p)k · p,
k = 0, 1, 2, . . . ,
• die negative Binomialverteilung N b(r, p) mit D = N0 (s. I.5.4.4), also k+r−1 P(X = k) = · pr · (1 − p)k , k = 0, 1, 2, . . . . k • und die Poisson-Verteilung P o(λ) mit D = N0 (s. I.5.4.5), d.h. P(X = k) = e−λ ·
λk , k!
k = 0, 1, 2, . . . .
Ein wichtiges Beispiel eines diskret verteilten Zufallsvektors X = (X1 , . . . , Xk ) ist die Multinomialverteilung M ult(n; p1 , . . . , pk ), also P(X1 = j1 , . . . , Xk = jk ) =
n! · pj1 · . . . · pjkk , j1 ! · . . . · jk ! 1
mit dem Tr¨ager D = {(j1 , . . . , jk ) ∈ Nk0 : j1 + . . . + jk = n}, vgl. I.4.9.2. 9.8 Beispiel. (Absolut stetige Verteilungen und Zufallsvektoren) In Analogie zu Beispiel 9.6 heißt ein k-dimensionaler Zufallsvektor X absolut stetig (verteilt) und seine Verteilung PX absolut stetig, falls es eine B k -messbare Funktion f : Rk → [0, ∞) mit der Eigenschaft f (x) dx = 1 Rk
9.2 Zufallsvariablen und ihre Verteilungen
409
gibt, so dass P(X ∈ B) =
f (x) dx,
B ∈ Bk .
(9.10)
B
In diesem Fall heißt die Funktion f (eine) (Lebesgue)-Dichte von X bzw. gemeinsame Dichte von X1 , . . . , Xk , wenn X1 , . . . , Xk die Komponenten von X bezeichnen. Man spricht auch von einer Verteilungsdichte oder Dichte der Verteilung von X. Zur Hervorhebung der Dimension k wird f auch als λk -Dichte bezeichnet. Da man den Integranden f in (9.10) auf einer Nullmenge ab¨ andern kann, ohne dass sich der Wert des Integrals ¨andert, ist eine Dichte nicht eindeutig bestimmt. In Anwendungen wird f im Allgemeinen hinreichend regul¨ ar sein, so dass die Berechnung von P(X ∈ B) f¨ ur einfache“ Mengen B wie z.B. achsenparallele ” Quader auch mit Hilfe des Riemann-Integrals erfolgen kann. Bereits bekannte absolut stetige Verteilungen sind f¨ ur k = 1 die • Gleichverteilung U (a, b) mit der Dichte (vgl. Bsp. I.7.41) f (x) := 1[a,b] (x)
1 , b−a
• die Exponentialverteilung Exp(λ) mit der Dichte (vgl. Bsp. I.7.42), f (x) := 1[0,∞)(x)λ exp(−λx), • die Normalverteilung N (μ, σ 2 ) mit der Dichte (vgl. 6.1.18) (x − μ)2 1 f (x) := √ · exp − , x ∈ R, 2σ2 σ 2π • und die mit Gam(α, β) bezeichnete Gammaverteilung (vgl. 6.1.18) mit der Dichte f (x) :=
9.2.3
β α xα−1 exp (−βx) , Γ(α)
x > 0,
(f (x) := 0, sonst).
Die Verteilungsfunktion
F¨ ur eine reelle Zufallsvariable X auf einem W-Raum (Ω, A, P) heißt die durch F (x) := P(X ≤ x),
x ∈ R,
definierte Funktion F : R → [0, 1] die (kumulative) Verteilungsfunktion von X. F¨ ur ein W-Maß Q auf (R, B 1 ) heißt die durch F (x) := Q((−∞, x]),
x ∈ R,
410
9 Stochastik
definierte Funktion F : R → [0, 1] die Verteilungsfunktion von Q. Die Verteilungsfunktion einer reellen Zufallsvariablen X ist zugleich die Verteilungsfunktion der Verteilung PX von X. Eine Verteilungsfunktion F ist monoton wachsend und rechtsseitig stetig, und sie besitzt das asymptotische Verhalten lim F (x) = 0,
x→−∞
lim F (x) = 1
x→∞
(9.11)
(vgl. I.6.3.6). Bild 9.1 illustriert diese Eigenschaften. Ist F die Verteilungsfunktion einer reellen Zufallsvariablen X, so ist F (t) − F (t−) = lim (F (t) − F (s)) = lim P(X ∈ (s, t]) = P(X = t) s→t−
s→t−
die Sprungh¨ ohe von F im Punkt t ∈ R. Die Funktion F ist also genau dann stetig, wenn es kein t ∈ R mit P(X = t) > 0 gibt. Im Gegensatz dazu ist F genau dann st¨ uckweise konstant, wenn X eine diskrete Verteilung besitzt. F (x) 1 •
Bild 9.1: Verteilungsfunktion einer Zufallsvariablen
◦
x
Es ist leicht zu sehen, dass das System aller Intervalle der Form (−∞, x], x ∈ R, ein durchschnittsstabiler Erzeuger der Borelschen σ-Algebra B 1 ist. Nach Satz 6.59 legt also die Verteilungsfunktion F die Verteilung PX von X eindeutig fest.
9.2.4
Die Quantil-Transformation
Interessanterweise ist jede monoton wachsende und rechtsseitig stetige Funktion F : R → [0, 1] mit den Eigenschaften (9.11) die Verteilungsfunktion einer geeigneten Zufallsvariablen. Hierzu definieren wir die Quantilfunktion F −1 : (0, 1) → R zu F durch F −1 (u) := inf{x ∈ R : F (x) ≥ u},
0 < u < 1.
Diese Begriffsbildung ist in Bild 9.2 veranschaulicht. Man beachte, dass die Quantilfunktion mit der (dann existierenden) Umkehrabbildung F −1 : R → (0, 1) u ¨bereinstimmt, wenn F stetig und auf R streng monoton wachsend ist. Deshalb wird F −1 auch als verallgemeinerte Inverse von F bezeichnet.
9.3 Stochastische Unabh¨angigkeit
411
9.9 Satz. (Quantil-Transformation) Zu jeder monoton wachsenden und rechtsseitig stetigen Funktion F : R → [0, 1] mit der Eigenschaft (9.11) gibt es einen W-Raum (Ω, A, P) und eine Zufallsvariable X auf Ω, so dass F die Verteilungsfunktion von X ist. Wir setzen hierzu A := {B ∈ B 1 : B ⊂ (0, 1)},
Ω := (0, 1), X(u) := F −1 (u),
u ∈ Ω,
und w¨ ahlen als W-Maß P die Einschr¨ankung des Lebesgueschen Maßes λ1 auf die σ-Algebra A. Beweis: Wegen (9.11) gilt X(u) ∈ R, u ∈ Ω, und die rechtsseitige Stetigkeit von F liefert ¨ die Aquivalenz F (x) ≥ u ⇐⇒ x ≥ F −1 (u),
x ∈ R, 0 < u < 1.
(9.12)
Hieraus folgt die A-Messbarkeit von X, denn f¨ ur jedes c ∈ R gilt {X ≤ c} = {u ∈ Ω : u ≤ F (c)} = (0, F (c)] ∈ A. Schließlich gilt (wiederum mit (9.12)) P(X ≤ x) = P({u ∈ Ω : u ≤ F (x)}) = λ1 ((0, F (x)]) = F (x),
x ∈ R,
so dass X in der Tat die Verteilungsfunktion F besitzt.
Satz 9.9 unterstreicht die Bedeutung des Lebesgueschen Maßes f¨ ur die Konstruktion stochastischer Modelle. Dar¨ uber hinaus liefert die Quantiltransformation u → F −1 (u) (vgl. Bild 9.2) eine Methode zur Erzeugung von Zufallszahlen nach einer vorgegebenen Verteilungsfunktion, wenn ein Algorithmus zur Erzeugung gleichverteilter Zufallszahlen im Intervall (0, 1) zur Verf¨ ugung steht. F (x) 1 u3 •
u2 u1
◦
F −1 (u1 )
9.3
Bild 9.2: Zur Definition der Quantilfunktion
F −1 (u2 ) F −1 (u3 )
x
Stochastische Unabh¨ angigkeit
In diesem Abschnitt f¨ uhren wir die in I.4.8 begonnene Diskussion der stochastischen Unabh¨angigkeit als einer zentralen Begriffsbildung der Stochastik in einem allgemeinen Rahmen fort. Dazu sei im Folgenden (Ω, A, P) ein beliebiger W-Raum.
412
9.3.1
9 Stochastik
Unabh¨ angigkeit von Ereignissen
Wie in I.4.8.3 heißen n ≥ 2 Ereignisse A1 , . . . , An ∈ A (stochastisch) unabh¨angig (bzgl. P), falls f¨ ur jedes r ∈ {2, . . . , n} und jede Wahl von i1 , i2 , . . . , ir ∈ {1, . . . , n} mit 1 ≤ i1 < i2 < . . . < ir ≤ n gilt: r r / # P Aim = P (Aim ) . (9.13) m=1
m=1
Die Unabh¨angigkeit von n Ereignissen ist also durch 2n − n − 1 Gleichungen beschrieben (vgl. die Diskussion in I.4.8).
9.3.2
Unabh¨ angigkeit von Mengensystemen
Es seien M1 , . . . , Mn ⊂ A nichtleere Systeme von Ereignissen. Die Mengensysteme M1 , . . . , Mn heißen (stochastisch) unabh¨angig (bzgl. P), falls Gleichung (9.13) f¨ ur jedes r ∈ {2, . . . , n}, jede Wahl von i1 , i2 , . . . , ir ∈ {1, 2, . . . , n} mit ullt 1 ≤ i1 < i2 < . . . < ir ≤ n und jede Wahl von Aim ∈ Mim (m = 1, . . . , r) erf¨ ist. Man beachte, dass diese Definition im Spezialfall Mj := {Aj } (j = 1, . . . , n) die Unabh¨angigkeit von n Ereignissen beschreibt. Verkleinert man“ unabh¨angige Mengensysteme M1 , . . . , Mn , indem man zu ” (nichtleeren) Systemen N1 , . . . , Nn mit N1 ⊂ M1 , . . . , Nn ⊂ Mn u ¨ bergeht, so angig. Bez¨ uglich des Vergr¨ osind offenbar auch N1 , . . . , Nn stochastisch unabh¨ ” ßerns“ unabh¨angiger Systeme gilt folgendes wichtige Resultat. 9.10 Satz. (Vergr¨oßern unabh¨angiger Systeme) angige durchschnittsstabile MenEs seien M1 , . . . , Mn ⊂ A nichtleere unabh¨ gensysteme. Dann sind auch die erzeugten σ-Algebren σ(M1 ), . . . , σ(Mn ) unabh¨angig. Beweis: Wir behaupten zun¨achst, dass das durch Dn := {E ∈ A : M1 , . . . , Mn−1 , {E} sind unabh¨ angige Systeme} definierte Mengensystem ein d-System (vgl. 6.2.4) ist. Offenbar gilt Ω ∈ Dn . Im Folgenden seien r ∈ {1, . . . , n − 1} sowie i1 , . . . , ir ∈ {1, . . . , n − 1} mit 1 ≤ i1 < . . . < ir ≤ n − 1 sowie Aim ∈ Mim (m = 1, . . . , r) beliebig. Sind D, E ∈ Dn mit D ⊂ E, so gilt r r r / / / Aim ∩ (E \ D) = P Aim ∩ E − P Aim ∩ D P m=1
m=1
= =
r # m=1 r # m=1
P (Aim ) · P(E) −
m=1 r #
P (Aim ) · P(D)
m=1
P (Aim ) · (P(E) − P(D)) =
r # m=1
P (Aim ) · P(E \ D)
9.3 Stochastische Unabh¨angigkeit
413
und somit E \ D ∈ Dn . V¨ollig analog zeigt man, dass Dn auch abgeschlossen unter monotonen Vereinigungen und somit ein d-System ist. Nach Konstruktion sind M1 , . . . , Mn−1 , Dn unabh¨ angig. Wegen Mn ⊂ Dn und der Durchschnitsstabilit¨at von Mn folgt dann aus dem monotonen Klassensatz 6.46 die Beziehung σ(Mn ) ⊂ Dn und somit die Unabh¨angigkeit von M1 , . . . , Mn−1 , σ(Mn ). Aus Symmetriegr¨ unden k¨onnen wir jetzt f¨ ur jedes j = 1, . . . , n − 1 das System Mj durch σ(Mj ) ersetzen.
9.3.3
Unabh¨ angigkeit von Zufallsvariablen
Ist X : Ω → X eine X-wertige Zufallsvariable, so heißt das Mengensystem σ(X) := {X −1 (B) : B ∈ X } ⊂ A die von X erzeugte σ-Algebra . Dass σ(X) eine σ-Algebra ist, folgt unmittelbar aus den Eigenschaften (9.5) und (9.6) der Urbild-Abbildung. Im Folgenden seien (Xj , Xj ) (j = 1, . . . , n; n ≥ 2) Messr¨ aume, und Xj : Ω → Xj Xj -wertige Zufallsvariablen. Die Zufallsvariablen X1 , . . . , Xn heißen (stochastisch) unabh¨angig (bzgl. P), angig sind. falls die von ihnen erzeugten σ-Algebren σ(X1 ), . . . , σ(Xn ) unabh¨ Nach Definition der Unabh¨angigkeit von Mengensystemen und Ereignissen sind also X1 , . . . , Xn genau dann unabh¨angig, wenn f¨ ur jedes r ∈ {2, . . . , n}, jede Wahl von i1 , . . . , ir mit 1 ≤ i1 < . . . < ir ≤ n und jede Wahl von Mengen Bi1 ∈ Xi1 , . . . , Bir ∈ Xir gilt: r r / #
−1 Xim (Bim ) = P Xi−1 (B ) P (Xi1 ∈ Bi1 , . . . , Xim ∈ Bim ) := P i m m m=1
=
r #
m=1
P (Xim ∈ Bim ) .
m=1
Da f¨ ur die Indizes j ∈ {1, 2, . . . , n} \ {i1 , . . . , ir } die Mengen Bj := Xj gew¨ ahlt werden k¨onnen und Xj−1 (Xj ) = Ω sowie P(Xj ∈ Xj ) = 1 gilt, kann die stochastische Unabh¨angigkeit von X1 , . . . , Xn in der Form P (X1 ∈ B1 , . . . , Xn ∈ Bn ) =
n #
P (Xj ∈ Bj ) ,
B1 ∈ X1 , . . . , Bn ∈ Xn ,
j=1
(9.14) geschrieben werden. Man beachte, dass sich im Spezialfall X1 = . . . = Xn = R die Unabh¨ angigkeit von n reellen Zufallsvariablen ergibt. Die Definition ist aber bewusst so allgemein gehalten, dass auch der Fall von Zufallsvektoren mit m¨ oglicherweise unterschiedlichen Dimensionen erfasst ist.
414
9 Stochastik
9.11 Satz. (Funktionen von unbh¨angigen Zufallsvariablen sind unabh¨ angig) In der obigen Situation seien (X1 , X1 ), . . . , (Xn , Xn ) weitere Messr¨aume. F¨ ur jedes j = 1, . . . , n sei gj : Xj → Xj eine (Xj , Xj )-messbare Abbildung, d.h. es gelte gj−1 (B) ∈ Xj f¨ ur jedes B ∈ Xj . Definiert man die Xj -wertige Zufallsvariable Yj : Ω → Xj als Komposition Yj := gj ◦ Xj von gj und Xj , also Yj (ω) := (gj ◦ Xj )(ω) := gj (Xj (ω)), ω ∈ Ω, so gilt: X1 , . . . , Xn unabh¨angig =⇒ Y1 , . . . , Yn unabh¨angig. Beweis: Es seien j ∈ {1, 2, . . . , n} und B ∈ Xj beliebig. Wegen
Yj−1 (B) = {ω : gj (Xj (ω)) ∈ B} = {ω : Xj (ω) ∈ gj−1 (B)} = Xj−1 gj−1 (B) ∈ σ(Xj ) gilt σ(Yj ) ⊂ σ(Xj ). Als Teilsysteme der unabh¨ angigen Systeme σ(X1 ), . . . , σ(Xn ) sind dann auch σ(Y1 ), . . . , σ(Yn ) unabh¨angig.
9.12 Beispiel. Wir werden Satz 9.11 haupts¨achlich in der Form verwenden, dass X1 , . . . , Xn Zufallsvektoren und g1 , . . . , gn reellwertige Funktionen sind. Ist etwa n = 5, und sind X1 := (S1 , S2 , S3 ) sowie X2 := (T1 , T2 ) ein drei- bzw. ein zweidimensionaler Zufallsvektor, die stochastisch unabh¨angig sind, so sind auch die Zufallsvariablen Y1 := exp(S1 sin(S2 + S3 )) − S2 S3 ,
Y2 := cos(T1 − 3T2 )
angig. als (messbare) Funktionen von X1 und X2 stochastisch unabh¨
9.3.4
Unabh¨ angigkeit und Blockbildung
9.13 Satz. (Blockungslemma f¨ ur unabh¨angige Systeme) Es seien M1 , . . . , Mn ⊂ A unabh¨angige nichtleere durchschnittsstabile Mengensysteme. Weiter sei {1, 2, . . . , n} = J1 ∪ . . . ∪ Jl eine Zerlegung von {1, 2, . . . , n} in nichtleere paarweise disjunkte Mengen J1 , . . . , Jl (2 ≤ l ≤ n − 1) . F¨ ur jedes s ∈ {1, 2, . . . , l} bezeichne Mr Es := σ r∈Js
die von der Vereinigung aller Mr mit r ∈ Js erzeugte σ-Algebra. Dann sind auch die Systeme E1 , . . . , El stochastisch unabh¨angig. Beweis: F¨ ur jedes s ∈ {1, 2, . . . , l} sei Rs das System aller Mengen Ai1 ∩ . . . ∩ Aim
9.3 Stochastische Unabh¨angigkeit
415
mit m ∈ N, paarweise verschiedenen i1 , . . . , im ∈ Js und Aik ∈ Mik f¨ ur k ∈ {1, . . . , m}. Aufgrund der Durchschnittsstabilit¨at von M1 , . . . , Mn ist auch Rs durchschnittsstabil, und wegen der Unabh¨angigkeit von M1 , . . . , Mn sind auch R1 , . . . , Rl unabh¨ angig. Nach Satz 9.10 sind dann auch die Systeme Es = σ(Rs ), s = 1, . . . , l, unabh¨ angig.
Aus Satz 9.13 folgt, dass man unabh¨angige Zufallsvariablen in Bl¨ ocken ag” gregieren kann“ und auf diese Weise unabh¨ angige Zufallsvektoren enth¨ alt. F¨ ur unsere Zwecke ist die nachfolgende reellwertige Version“ ausreichend. ” 9.14 Satz. (Blockungslemma f¨ ur unabh¨angige Zufallsvariablen) Es seien X1 , . . . , Xn unabh¨angige reellwertige Zufallsvariablen. Weiter sei l ∈ {1, 2, . . . , n − 1} und Z1 (ω) := (X1 (ω), . . . , Xl (ω)),
Z2 (ω) := (Xl+1 (ω), . . . , Xn (ω)),
ω ∈ Ω,
gesetzt. Dann sind auch die Zufallsvektoren Z1 und Z2 unabh¨angig. Beweis: Wir zeigen die G¨ ultigkeit von σ(Z1 ) = σ (σ(X1 ) ∪ . . . ∪ σ(Xl )) .
(9.15)
Da aus Symmetriegr¨ unden dann auch σ(Z2 ) = σ (σ(Xl+1 ) ∪ . . . ∪ σ(Xn )) gilt, folgt die Behauptung aus Satz 9.13. Zum Nachweis von ⊃“ in (9.15) reicht es aus, σ(Z1 ) ⊃ σ(Xj ) ” f¨ ur jedes j = 1, . . . , l zu zeigen (dann g¨alte n¨amlich auch σ(Z1 ) ⊃ ∪nj=1 σ(Xj ) und somit ⊃“ in (9.15)). Sei hierzu o.B.d.A. j = 1 gew¨ ahlt und B1 ∈ B 1 beliebig. Die Menge ” −1 l−1 l geh¨ort zu B , und es gilt X1 (B1 ) = Z1−1 (B) ∈ σ(Z1 ). B := B1 × R Um ⊂“ in (9.15) zu zeigen, benutzen wir, dass nach Satz 6.47 B l vom System ” M := {B1 × . . . × Bl : B1 , . . . , Bl ∈ B 1 } erzeugt wird. F¨ ur B1 , . . . , Bl ∈ B 1 gilt Xj−1 (Bj ) ∈ σ(Xj ), j ∈ {1, . . . , l}, und somit Z1−1 (B1 × . . . × Bl ) = {ω : (X1 (ω), . . . , Xl (ω)) ∈ B1 × . . . × Bl } =
l /
Xj−1 (Bj ) ∈ σ (σ(X1 ) ∪ . . . ∪ σ(Xl )) ,
j=1
also Z1−1 (M) ⊂ σ (σ(X1 ) ∪ . . . ∪ σ(Xl )). Hieraus folgt die Behauptung.
Die Aussage von Satz 9.14 kann f¨ ur Aufteilungen von X1 , . . . , Xn in mehr als zwei Bl¨ocke verallgemeinert werden und gilt offenbar auch, wenn die Xj Zufallsvektoren mit m¨oglicherweise unterschiedlichen Dimensionen sind. Eine Kombination der S¨atze 9.11 und 9.14 liefert z.B., dass mit unabh¨ angigen Zufallsvariablen X1 , . . . , X5 auch die Zufallsvariablen 2X1 −sin X4 und X22 +X3 X5 unabh¨angig sind ( Blockbildung“ X1 , . . . , X5 → (X1 , X4 ), (X2 , X3 , X5 ) und Bil” dung der Funktionen (x1 , x4 ) → 2x1 − sin x4 , (x2 , x3 , x5 ) → x22 + x3 x5 ).
416
9.3.5
9 Stochastik
Konstruktion von unabh¨ angigen Zufallsvariablen
Viele stochastische Modelle basieren auf der Voraussetzung, dass es zu vorgegebenen W-Maßen Q1 , . . . , Qn auf der σ-Algebra B 1 einen W-Raum (Ω, A, P) und Zufallsvariablen Xj : Ω → R (j = 1, . . . , n) gibt, so dass X1 , . . . , Xn stochastisch unabh¨angig sind und PXj = Qj (j = 1, . . . , n) gilt, also f¨ ur jedes j = 1, . . . , n die Zufallvariable Xj die Verteilung Qj besitzt. Mit Hilfe des Lebesgueschen Maßes λn und der Quantil-Transformation (Satz 9.9) l¨asst sich wie folgt ein kanonisches Modell f¨ ur diese Situation konstruieren: Wir bezeichnen mit Fj (x) := Qj ((−∞, x]), x ∈ R, die Verteilungsfunktion von ahlen Qj und mit Fj−1 die zu Fj geh¨orende Quantilfunktion. Als Grundraum w¨ n n n wir die Menge Ω := (0, 1) mit der σ-Algebra A := {B ∩ (0, 1) : B ∈ B } der Borelschen Teilmengen von Ω. Das W-Maß P auf (Ω, A) sei die Einschr¨ ankung des Lebesgueschen Maßes λn auf A. Die Zufallsvariable Xj sei durch Xj (u) := Fj−1 (uj ),
u := (u1 , . . . , un ) ∈ Ω,
definiert (j = 1, . . . , n). F¨ ur beliebige x1 , . . . , xn ∈ R gilt dann P(X1 ≤ x1 , . . . , Xn ≤ xn ) = P {(u1 , . . . , un ) ∈ Ω : Fj−1 (uj ) ≤ xj , j = 1, . . . , n} = P ({(u1 , . . . , un ) ∈ Ω : uj ≤ Fj (xj ), j = 1, . . . , n}) ⎞ ⎛ n n # n⎝ ⎠ =λ (0, Fj (xj )] = λ1 ((0, Fj (xj )])
× j=1
j=1
= F1 (x1 ) · . . . · Fn (xn ) = P(X1 ≤ x1 ) · . . . · P(Xn ≤ xn ). Setzen wir N := {(−∞, x] : x ∈ R}, so besagen diese Gleichungen, dass die Menangig sind. Aufgrund der gensysteme M1 := X1−1 (N ), . . . , Mn := Xn−1 (N ) unabh¨ Durchschnittsstabilit¨at von N und (9.6) sind auch M1 , . . . , Mn durchschnittsstabil. Wegen σ(N ) = B 1 und σ(Mj ) = Xj−1 (σ(N )) = σ(Xj ) (j = 1, . . . , n) liefert dann Satz 9.10 die Unabh¨angigkeit von X1 , . . . , Xn . H¨alt man in der letzten Gleichung obiger Gleichungskette j ∈ {1, . . . , n} sowie xj ∈ R fest und alle anderen xk mit k ∈ {1, . . . , n} \ {j} gegen Unendlich streben, so folgt wegen limx→∞ Fk (x) = 1 = limx→∞ P(Xk ≤ x) die Gleichung Fj (x) = P(Xj ≤ x),
x ∈ R.
Also besitzt Xj die Verteilungsfunktion Fj und somit die Verteilung Qj . Wir werden in der Folge h¨aufig von unabh¨ angigen und identisch verteilten Zu” fallsvariablen“ sprechen. Identisch verteilt“ bedeutet, dass alle Zufallsvariablen ” die gleiche Verteilung besitzen sollen. Wenn dabei nicht auf den zugrunde liegenden W-Raum Bezug genommen wird, sei stillschweigend an die aufgrund obiger ¨ Uberlegungen gesicherte Existenz eines kanonischen Modellraums“ erinnert. ”
9.4 Rechnen mit Dichten
9.4
417
Rechnen mit Dichten
Dieser Abschnitt liefert Handwerkszeug“ im Umgang mit Verteilungsdichten. ”
9.4.1
Marginalverteilungen
Ist X = (X1 , . . . , Xk ) ein Zufallsvektor, so nennt man die Verteilung von Xj die j-te Marginalverteilung von X. Besitzt X eine λk -Dichte f , so besitzt Xj nach dem Satz von Fubini eine λ1 -Dichte, die sich gem¨ aß ∞ ∞ fj (xj ) := ··· f (x1 , . . . , xj−1 , xj , xj+1 , . . . , xk ) dx1 . . . dxj−1 dxj+1 . . . dxk −∞
−∞
(xj ∈ R) durch Integration von f u ¨ber die nicht interessierenden Koordinaten“ ” ergeben. Die Dichte fj heißt auch marginale Dichte von Xj (j = 1, . . . , k). In gleicher Weise besitzt die gemeinsame Verteilung irgendwelcher m (m < k) Komponenten von X eine λm -Dichte, die wie oben durch Integration u ¨ ber die nicht interessierenden Koordinaten erhalten werden kann. So ergibt sich etwa im Fall k = 4 die mit f12 bezeichnete λ2 -Dichte von (X1 , X2 ) zu ∞ ∞ f (x1 , x2 , x3 , x4 ) dx3 dx4 , (x1 , x2 ) ∈ R2 . f1,2 (x1 , x2 ) = −∞
−∞
Bild 9.3 verdeutlicht, dass die gemeinsame Verteilung von Zufallsvariablen nicht durch die Marginalverteilungen festgelegt ist. Besitzt der Zufallsvektor (X1 , X2 ) eine Gleichverteilung auf einem der drei schraffiert gezeichneten Bereiche A, B oder C, gilt also f = 2·1A , f = 2·1B oder f = 1C , so gilt in jedem dieser F¨ alle X1 ∼ U (0, 1) und X2 ∼ U (0, 1). x2
x2
1
x2
1 A
1 B C
1
x1
1
x1
1
x1
Bild 9.3: Verschiedene Gleichverteilungen mit identischen Marginalverteilungen
9.15 Beispiel. (Gleichverteilung im Einheitskreis) Der zweidimensionale Zufallsvektor X = (X1 , X2 ) sei gleichverteilt im Einheitskreis B := {(x1 , x2 ) ∈ R2 : x21 + x22 ≤ 1}, d.h. X habe die Dichte f := π −1 1B
418
9 Stochastik x2
−0.5
f1 (t)
0.5
−1
x1
1
t
Bild 9.4: Gleichverteilung im Kreis (links) und marginale Dichte (rechts)
(Bild 9.4 links). Die marginale Dichte von X1 ist nach obiger Formel ∞ f1 (t) = f (t, x2 ) dx2 , −∞
ur |t| ≥ 1 sowie und es folgt f1 (t) = 0 f¨ 1 f1 (t) = π
√
1−t2
√
− 1−t2
1 dx2 =
2 1 − t2 , π
falls − 1 < t < 1
(s. Bild 9.4 rechts). Die Zufallsvariablen X1 und X2 sind nicht unabh¨ angig, denn es gilt etwa P(X1 > 0.9, X2 > 0.9) = 0 = P(X1 > 0.9) · P(X2 > 0.9). Aus Symmetriegr¨ unden besitzt X2 die gleiche marginale Dichte wie X1 .
9.4.2
Unabh¨ angigkeit und Dichten
Sind die (reellen) Zufallsvariablen X1 , . . . , Xk stochastisch unabh¨ angig, und be1 sitzt Xj f¨ ur jedes j ∈ {1, . . . , k} eine λ -Dichte fj (x), so ist das Produkt f (x1 , . . . , xk ) := f1 (x1 ) · . . . · fk (xk ),
(x1 , . . . , xk ) ∈ Rk ,
(9.16)
eine λk -Dichte von X := (X1 , . . . , Xk ). Zum Beweis dieser Aussage betrachten ur jedes wir einen Quader Q := [a1 , b1 ] × . . . × [ak , bk ] mit aj , bj ∈ R und aj < bj f¨ j ∈ {1, . . . , k}. Aus dem Satz von Fubini erhalten wir P(X ∈ Q) = P(a1 ≤ X1 ≤ b1 , . . . , ak ≤ Xk ≤ bk ) k k bj # # = P(aj ≤ Xj ≤ bj ) = fj (xj ) dxj = f (x) dx. j=1
j=1 aj
Q
9.4 Rechnen mit Dichten
419
Da das System aller Quader ein durchschnittsstabiler Erzeuger der σ-Algebra B k ist, gilt nach dem Eindeutigkeitssatz 6.59 f¨ ur Maße P(X ∈ B) = B f (x) dx, B ∈ Bk , was zu zeigen war. Ist umgekehrt die gemeinsame λk -Dichte f von k Zufallsvariablen X1 , . . . , Xk bis auf eine λk -Nullmenge das Produkt der marginalen λ1 -Dichten f1 , . . . , fk von X1 , . . . , Xk , gilt also f (x1 , . . . , xk ) = f1 (x1 ) · . . . · fk (xk ),
(x1 , . . . , xk ) ∈ Rk \ N,
wobei N ∈ B k und λk (N ) = 0, so sind X1 , . . . , Xk unabh¨ angig. Dieser Sachverhalt folgt sofort aus obiger Gleichungskette, wenn man beachtet, dass das Integral durch Ab¨anderung des Integranden auf Nullmengen nicht beeinflusst wird.
9.4.3
Unabh¨ angigkeit und Faltungen
9.16 Satz. (Unabh¨angigkeit und Faltungen) Es seien X und Y unabh¨angige Zufallsvariablen mit den λ1 -Dichten f bzw. g. Dann besitzt die Summe X + Y die durch ∞ f (x) · g(t − x)dx, t ∈ R, (9.17) f ∗ g(t) = −∞
gegebene λ1 -Dichte f ∗ g (Faltungsformel f¨ ur Dichten, vgl. 6.1.21). Beweis: Nach (9.16) ist f (x)g(y) eine λ2 -Dichte von (X, Y ). F¨ ur die Verteilungsfunktion H(z) := P(X + Y ≤ z), z ∈ R, folgt dann aus dem Satz von Fubini (Satz 6.77) ∞ z−x H(z) = 1(−∞,z] (x + y)f (x) · g(y) d(x, y) = g(y) dy f (x) dx R2 −∞ −∞ ∞ z z ∞ = g(t − x) dt f (x) dx = g(t − x)f (x) dx dt −∞ −∞ −∞ −∞ z f ∗ g(t) dt. = −∞
Dabei wurde beim dritten Gleichheitszeichen die Substitution t := y + x benutzt.
Im Lichte dieser Erkenntnis k¨onnen wir jetzt die in Beispiel 6.40 und Beispiel 7.37 erhaltenen Resultate wie folgt neu formulieren: 9.17 Satz. (Additionsgesetze f¨ ur die Gamma- und die Normalverteilung) Es seien X1 , X2 unabh¨angige Zufallsvariablen. Dann gilt: (i) X1 ∼ Gam(α1 , β), X2 ∼ Gam(α2 , β) =⇒ X1 + X2 ∼ Gam(α1 + α2 , β). (ii) X1 ∼ N (μ1 , σ12 ), X2 ∼ N (μ2 , σ22 ) =⇒ X1 + X2 ∼ N (μ1 + μ2 , σ12 + σ22 ).
420
9 Stochastik fk (x) 0.5 0.4
Bild 9.5: Dichte der χ2k -Verteilung f¨ ur k = 1 (—-), k = 4 (· · · · · · ) und k = 6 (- - - -)
0.3 0.2 0.1 0 0
2
4
6
8
10
12
14
x
9.18 Beispiel. (Chi-Quadrat-Verteilung) Sind X1 , X2 , . . . , Xk unabh¨angige und je N (0, 1)-normalverteilte Zufallsvariablen, so heißt die Verteilung der Zufallsvariablen Y := X12 + X22 + . . . + Xk2 Chi-Quadrat-Verteilung mit k Freiheitsgraden, und wir schreiben hierf¨ ur kurz 2 Y ∼ χk . Die Zufallsvariable Y besitzt die in Bild 9.5 veranschaulichte Dichte fk (x) :=
1 2k/2 Γ( k2 )
x
k
· e− 2 · x 2 −1 ,
x>0
(f (x) := 0, sonst).
(9.18)
Dabei ergibt sich (9.18) f¨ ur k = 1 aus Beispiel 9.23 mit f = ϕ. Wegen der ur k > 1 aus dem AdditiVerteilungsgleichheit Gam(k/2, 1/2) = χ2k folgt (9.18) f¨ onsgesetz (Satz 9.17 (i)) f¨ ur die Gammaverteilung.
9.4.4
Dichten transformierter Vektoren
Sind X = (X1 , . . . , Xk ) ein Zufallsvektor mit λk -Dichte f (x1 , . . . , xk ) und T : Rk → Rk eine Abbildung, so besitzt der k-dimensionale Zufallsvektor Y := T (X) unter gewissen Voraussetzungen an T ebenfalls eine Dichte g(y1 , . . . , yk ). 9.19 Satz. (Transformationssatz f¨ ur λk -Dichten) Die Dichte f von X = (X1 , . . . , Xk ) sei gleich Null auf dem Komplement einer offenen Menge V ⊂ Rk . Die Abbildung T : V → Rk sei stetig differenzierbar und injektiv, und es sei det T (x) = 0, x ∈ V . Dann besitzt der Zufallsvektor Y := T (X) die Dichte g(y ) =
f (T −1 (y )) , | det T (T −1 (y ))|
y ∈ T (V )
(g(y ) := 0, sonst).
9.4 Rechnen mit Dichten
421
Beweis: Es sei B ⊂ T (V ) eine beschr¨ankte, abgeschlossene Jordan-messbare Menge. Der Transformationssatz 3.36 (mit T −1 anstelle von T ) liefert unter Beachtung der Gleichung det((T −1 ) (y )) = 1/ det(T (T −1 (y ))) (vgl. Satz 1.76 und Satz 1.75) −1 f (x) dx P(Y ∈ B) = P(X ∈ T (B)) = T −1 (B) 1 = dy. f (T −1 (y )) · (T −1 ( | det T y ))| B Da beide Seiten dieser Gleichung f¨ ur jedes B ∈ B k definiert sind und als Funktionen auf B k W-Maße darstellen, folgt die behauptete Gleichheit P(Y ∈ B) = B g(y) dy , B ∈ B k , aus dem Eindeutigkeitssatz f¨ ur Maße.
9.20 Beispiel. (Erzeugung der Normalverteilung, Polar-Methode) Die Zufallsvariablen X1 , X2 seien unabh¨angig und jeweils im Intervall (0, 1) gleichverteilt, besitzen also die Dichte f (x1 , x2 ) = 1(0,1)×(0,1) (x1 , x2 ). Die durch (y1 , y2 ) := T (x1 , x2 ) := −2 ln x1 · cos(2πx2 ), −2 ln x1 · sin(2πx2 ) definierte Transformation T ist auf der offenen Menge V := (0, 1)2 stetig differenzierbar und injektiv. Es gilt T (V ) = R2 \ {(y1 , y2 ) ∈ R2 : y1 ≥ 0, y2 = 0} sowie (nachrechnen!) det T (x1 , x2 ) = −2π/x1 f¨ ur (x1 , x2 ) ∈ V . Wegen x1 = exp(− 12 (y12 + y22 )) ist dann nach Satz 9.19 die Funktion −1 2 2 e−y1 /2 e−y2 /2 2π g(y1 , y2 ) = · √ (9.19) = √ exp(− 12 (y12 + y22 )) 2π 2π ((y1 , y2 ) ∈ T (V ), g(y1 , y2 ) = 0 sonst) eine Dichte von (Y1 , Y2 ) := T (X1 , X2 ). Da die Menge N := {(y1 , y2 ) ∈ R2 : y1 ≥ 0, y2 = 0} eine λ2 -Nullmenge ist, k¨onnen wir g(y1 , y2 ) auch f¨ ur jedes (y1 , y2 ) aus N durch die rechte Seite von ¨ (9.19) definieren. Aus den in 9.4.2 angestellten Uberlegungen folgt dann, dass Y1 und Y2 unabh¨angig und je N (0, 1)-normalverteilt sind (sog. Polar-Methode zur Erzeugung normalverteilter Zufallszahlen aus gleichverteilten Zufallszahlen). 9.21 Beispiel. (Affine Abbildung) In diesem Beispiel seien Vektoren und Zufallsvektoren als Spaltenvektoren geschrieben. In der Situation von Satz 9.19 betrachten wir die Abbildung T (x) := Ax + b mit einer invertierbaren k × k-Matrix A und einem Vektor b ∈ Rk . Nach Satz 9.19 besitzt der Zufallsvektor Y := AX + b die Dichte g(y ) =
f (A−1 (y − b)) , | det(A)|
y ∈ T (V )
(g(y ) := 0, sonst).
(9.20)
422
9 Stochastik
Im Fall k = 1 ist es im Allgemeinen empfehlenswert, direkt die Verteilungsfunktion G von Y zu bestimmen und dann durch Differentiation die Dichte g zu gewinnen. Hat n¨amlich G die Dichte g und ist x eine Stetigkeitsstelle von g (d.h. g ist stetig in x), so ist G differenzierbar in x, und es gilt g(x) = G (x). Unter Benutzung der Eigenschaften des Lebesgueschen Integrals kann das analog zum Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (vgl. I.7.2.3) bewiesen werden. Wir wollen diese Vorgehensweise anhand einiger Beispiele illustrieren. 9.22 Beispiel. (Normalverteilung) 2 Es sei X ∼ N(0, 1) und T (x) := σx + μ, σ > 0. Bezeichnen ϕ(t) = (2π)−1/2 e−t /2 x und Φ(x) = −∞ ϕ(t) dt die Dichte bzw. die Verteilungsfunktion der StandardNormalverteilung N (0, 1), so gilt f¨ ur die Zufallsvariable Y := T (X) = σX + μ y−μ y−μ P(Y ≤ y) = P(σX + μ ≤ y) = P X ≤ =Φ . σ σ Wegen Φ = ϕ besitzt Y := σX + μ die in Bild 6.4 dargestellte Dichte (y − μ)2 y−μ 1 1 √ · exp − ; = g(y) = · ϕ σ σ 2σ 2 σ · 2π Y ist also N (μ, σ 2 )-verteilt. Die Normalverteilung N (μ, σ2 ) ergibt sich somit durch die Transformation T (x) = σx + μ aus der Standard-Normalverteilung. 9.23 Beispiel. (Quadrat-Transformation) Wir betrachten die Transformation T (x) := x2 , also Y = X 2 , und schreiben wieder G(y) := P(Y ≤ y) f¨ ur die Verteilungsfunktion von Y . F¨ ur y < 0 gilt offenbar G(y) = P(∅) = 0. Da die Verteilungsfunktion F von X stetig ist, gilt P(X = x) = 0, x ∈ R, und somit G(0) = P(X = 0) = 0. F¨ ur y > 0 folgt √ √ √ √ G(y) = P(X 2 ≤ y) = P(− y ≤ X ≤ y) = F ( y) − F (− y). Durch Differentiation ergibt sich dann die Dichte g zu 1 √ √ g(y) = √ · (f ( y) + f (− y)), 2 y
y>0
(g(y) := 0, sonst).
(9.21)
9.24 Beispiel. (Logarithmische Normalverteilung) Die Zufallsvariable X sei N (μ, σ 2 )-normalverteilt. Wir fragen nach der Verteilung der Zufallsvariablen Y := exp(X). Nach Beispiel 9.22 gilt f¨ ur jedes y > 0 X
ln y − μ G(y) := P(Y ≤ y) = P e ≤ y = P(X ≤ ln y) = Φ , σ so dass sich die Dichte g von Y durch Differentiation (Kettenregel!) zu (ln y − μ)2 1 √ · exp − , y > 0, g(y) = 2σ 2 σy 2π
9.5 Kenngr¨oßen f¨ ur Verteilungen
423
(g(y) := 0, sonst) ergibt. Die Verteilung von Y heißt logarithmische Normalverteilung, und wir schreiben hierf¨ ur kurz Y ∼ LN (μ, σ 2 ). Bild 9.6 zeigt die typische Gestalt der Dichte einer logarithmischen Normalverteilung. Die Dichte ist rechtsschief“, d.h. sie steigt schnell an und f¨ allt dann langsamer ab. Das Ma” 2 ximum wird an der Stelle eμ−σ angenommen. An der Stelle eμ wird die Fl¨ ache unter der Dichte halbiert, d.h. es gilt G(eμ ) = 1/2. Wir werden sp¨ ater sehen, dass der Wert exp(μ + σ2 /2) der Erwartungswert von Y ist. g(y) Bild 9.6: Dichte der logarithmischen Normalverteilung
y
2 2 μ eμ−σ e eμ+σ /2
9.5
Kenngro ¨ßen fu ¨r Verteilungen
Im Folgenden werden die Begriffe Erwartungswert, Varianz, Kovarianz und Korrelation f¨ ur Zufallsvariablen auf einem beliebigen W-Raum (Ω, A, P) entwickelt.
9.5.1
Der Erwartungswert
¯ eine Zufallsvariable. Gilt mindestens eine der beiden UngleiEs sei X : Ω → R + chungen X d P < ∞ und X − d P < ∞, so heißt E(X) := X d P (∈ [−∞, ∞]) (9.22) der Erwartungswert von X. Anstelle von E(X) schreiben wir in der Folge auch oft kurz E X. Die Zufallsvariable X heißt (P-)integrierbar, falls |X| d P < ∞, falls also sowohl X + d P < ∞ als auch X − d P < ∞ gilt. Ist (Ω, A, P) wie in I.4.2.1 ein endlicher W-Raum mit Ω := {ω1 , . . . , ωs } und A := P(Ω), so l¨asst sich jede reelle Zufallsvariable X auf Ω in der Form X(ω) =
s
X(ωj ) · 1{ωj } (ω),
ω ∈ Ω,
j=1
darstellen. Satz 6.71 (i), (ii) sowie 1A d P = P(A) liefern dann s s s X(ωj ) · 1{ωj } d P = X(ωj ) 1{ωj } d P = X(ωj ) · P({ωj }), EX = j=1
j=1
j=1
424
9 Stochastik
was konsistent mit der in in (I.4.13) gegebenen Definition des Erwartungswertes f¨ ur Zufallsvariablen auf endlichen W-R¨aumen ist. Wir betrachten im Folgenden reelle integrierbare Zufallsvariablen, bewegen uns 1 also im Raum L (P) aller Zufallsvariablen X : Ω → R mit |X| d P = E |X| < ∞ (vgl. 6.2.28). Aus Satz 6.71 und Satz 6.72 ergeben sich dann die nachstehenden, schon von I.4.4.2 her vertrauten Eigenschaften des Erwartungswertes. 9.25 Satz. (Grundlegende Eigenschaften des Erwartungswertes) Sind X, Y ∈ L1 (P), A ∈ A und a ∈ R, so gilt: (i) E(X + Y ) = E X + E Y . (ii) E(a · X) = a · E X. (iii) E(1A ) = P(A). (iv) Aus P(X ≤ Y ) = 1 folgt E X ≤ E Y . Definition (9.22) ist wenig hilfreich, um Erwartungswerte in konkreten F¨ allen zu berechnen. In Verallgemeinerung von Formel (I.4.19) gilt folgendes Resultat. Der Beweis wird im n¨achsten Unterabschnitt in gr¨ oßerer Allgemeinheit gef¨ uhrt. 9.26 Satz. (Transformationsformel f¨ ur den Erwartungswert) F¨ ur jedes X ∈ L1 (P) gilt: ∞ (i) E X = −∞ x PX (dx). (ii) Ist X absolut stetig verteilt mit λ1 -Dichte f , so gilt ∞ x · f (x) dx. EX =
(9.23)
−∞
(iii) Falls P(X = x) > 0 f¨ ur x ∈ D und PX (R \ D) = 0, wobei D ⊂ R eine endliche oder abz¨ ahlbar-unendliche Menge ist, so gilt EX = x · P(X = x). (9.24) x∈D
Aussage (i) besagt, dass E X nur von der Verteilung von X und nicht von der konkreten Gestalt des zugrunde liegenden W-Raums (Ω, A, P) abh¨ angt. Aus diesem Grund spricht man auch vom Erwartungswert der Verteilung von X. Die Darstellungen (9.23) und (9.24) erlauben eine Interpretation des Erwartungswertes als Schwerpunkt einer mit der Massendichte f bzw. mit einer diskreten Massenverteilung versehenen gewichtslosen“ x-Achse (vgl. Gleichung (2.34) ” mit A := R und ρ(x) := f (x) bzw. die in I.4.4.3 gef¨ uhrte Diskussion).
9.5 Kenngr¨oßen f¨ ur Verteilungen
425
allen (ii) und (iii) zu Die Bedingung X ∈ L1 (P) wird sich in den F¨ ∞ |x| · f (x) dx < ∞ bzw. |x| · P(X = x) < ∞ −∞
x∈D
¨aquivalent erweisen.
9.5.2
Transformation allgemeiner Integrale
Es seien (Ω, A, P) ein W-Raum, (X, X ) ein messbarer Raum und X : Ω → X eine X-wertige Zufallsvariable mit der Verteilung PX (vgl. (9.7)). Weiter sei ¯ g:X→R ¯ eine X -messbare Funktion. Wegen (g ◦ X)−1 (B) = X −1 ((g−1 )(B)), (B ⊂ R, 1 −1 B ∩ R ∈ B ), und g (B) ∈ X , ist dann g(X) := g ◦ X eine A-messbare Funktion auf Ω. 9.27 Satz. (Allgemeiner Transformationssatz) (i) In der obigen Situation sei g(x) ≥ 0, x ∈ X. Dann gilt E g(X) = g ◦ X d P = g(x) PX (dx).
(9.25)
X
(ii) Ist g eine beliebige X -messbare Funktion, so ist g(X) genau dann P-integrierbar, wenn die Funktion g integrierbar bez¨ uglich PX ist. In diesem Fall gilt ebenfalls Gleichung (9.25). Beweis: (i): Zun¨ achst sei g = 1B die Indikatorfunktion einer Menge B ∈ X . F¨ ur jedes aquivalent. Damit folgt ω ∈ Ω ist dann g(X(ω)) = 1B (X(ω)) = 1 zu 1X −1 (B) (ω) = 1 ¨
g(X) d P = =
1X −1 (B) d P = P(X −1 (B)) = PX (B) =
1B (x) PX (dx)
g(x) PX (dx).
Aufgrund der Linearit¨atseigenschaft des Integrals (Satz 6.71) gilt dann (9.25) f¨ ur jede X messbare Elementarfunktion g. Ist g eine beliebige nichtnegative X -messbare Funktion, so gibt es nach Satz 6.48 eine Folge gk : X → [0, ∞), k ∈ N, X -messbarer Elementarur k → ∞. Dann ist gk ◦ X : Ω → [0, ∞), k ∈ N, eine Folge funktionen mit gk ↑ g f¨ A-messbarer Elementarfunktionen auf Ω mit gk ◦ X ↑ g ◦ X bei k → ∞, und Satz 6.2.18 liefert X gk (X) d P = lim gk (x) P (dx) = g(x) PX (dx). g(X) d P = lim k→∞
k→∞
426
9 Stochastik
(ii): Nach Teil (i) gilt (9.25) sowohl f¨ ur den Positivteil g + als auch f¨ ur den Negativteil − + + g von g. Wegen (g ◦ X) = g ◦ X und (g ◦ X)− = g − ◦ X folgt dann die Behauptung unmittelbar aus der Definition der Integrierbarkeit.
Man beachte, dass im Fall g ≥ 0 beide Seiten der Gleichung (9.25) den Wert ∞ annehmen k¨onnen. Das n¨achste Resultat zeigt, wie man die rechte Seite von (9.25) berechnet, wenn X ein absolut stetiger oder diskreter Zufallsvektor ist. 9.28 Satz. (Berechnung von E g(X)) Es sei X = (X1 , . . . , Xk ) ein k-dimensionaler Zufallsvektor. Die B k -messbare Funktion g : Rk → R sei nichtnegativ oder PX -integrierbar. Dann gilt: (i) Ist X absolut stetig verteilt mit λk -Dichte f , so gilt
E g(X) =
g(x) P (dx) = X
Rk
Rk
g(x) · f (x) dx.
(9.26)
(ii) Ist X diskret verteilt mit P(X = x) > 0 f¨ ur x ∈ D und PX (Rk \ D) = 0, k wobei D ⊂ R eine endliche oder abz¨ahlbar-unendliche Menge ist, so gilt E g(X) = g(x) PX (dx) = g(x) · P(X = x). (9.27) Rk
x∈D
Beweis: Behauptung (i) folgt aus Satz 6.75 mit (Ω, A, μ) := (Rk , B k , λk ) und ν := PX . Zum Nachweis von (ii) setzeman (Ω, A) := (Rk , B k ) und betrachte das in Beispiel 6.56 ur eingef¨ uhrte Z¨ ahlmaß μ := x∈D δx mit Tr¨ager D. Setzt man f (x) := P(X = x) f¨ x ∈ D und f (x) := 0, sonst, so ist f eine μ-Dichte von PX , denn es gilt f dμ = 1B f dμ = f (x) = PX (B), B ∈ Bk . B
x∈B∩D
Die Behauptung folgt somit erneut aus Satz 6.75.
Das folgende Resultat verallgemeinert Satz I.4.14 auf den Fall beliebiger WR¨aume. Man mache sich (z.B. anhand des Falles Y := X) klar, dass die Aussage des Satzes f¨ ur abh¨angige Zufallsvariablen im Allgemeinen falsch ist. 9.29 Satz. (Produktregel f¨ ur den Erwartungswert) Es seien X und Y integrierbare unabh¨angige Zufallsvariablen. Dann ist auch das Produkt X · Y integrierbar, und es gilt E(X · Y ) = E X · E Y.
(9.28)
9.5 Kenngr¨oßen f¨ ur Verteilungen
427
Beweis: Wegen der Unabh¨angigkeit von X und Y gilt f¨ ur beliebige B, C ∈ B 1 P(X,Y ) (B × C) = P(X ∈ B, Y ∈ C) = P(X ∈ B) · P(Y ∈ C) = PX (B) · PY (C), und somit ist die gemeinsame Verteilung P(X,Y ) nach der vor Beispiel 6.78 gemachten Bemerkung das Produktmaß von PX und PY . Satz 9.27 und der Satz von Fubini (Satz 6.77) liefern dann ∞ ∞ |x| PX (dx) · |y| PY (dy) E(|X · Y |) = |x · y| P(X,Y ) (d(x, y)) = −∞
−∞
= E |X| · E |Y | < ∞. L¨ asst man (was wegen der nachgewiesenen Endlichkeit von E |X · Y | nach dem Satz von Fubini erlaubt ist) in dieser Gleichungskette die Betragsstriche weg, so folgt (9.28).
Wie die n¨achsten Unterabschnitte zeigen, sind Erwartungswerte gewisser Funktionen von Zufallsvariablen bzw. Zufallsvektoren mit eigenen Namen belegt.
9.5.3
Varianz und Momente
F¨ ur eine reelle Zahl p > 0 bezeichne (analog zu 6.2.28) Lp (P) die Menge aller Zufallsvariablen X : Ω → R mit der Eigenschaft ∞ p p E |X| = |X| d P = |x|p PX (dx) < ∞. −∞
Man nennt (i) E X k , (ii) E |X|p ,
k ∈ N, X ∈ Lk (P), p > 0, X ∈ Lp (P),
(iii) E(X − E X)k ,
k ∈ N, X ∈ Lk (P),
das k-te Moment von X, das p-te absolute Moment von X, das k-te zentrale Moment von X,
(iv) V(X) := E(X − E X)2 , X ∈ L2 (P), die Varianz von X, V(X) := E(X − E X)2 , X ∈ L2 (P),die Standardabweichung von X. (v) Man beachte, dass nach Satz 9.25 die zentralen Momente aus den normalen“ ” Momenten erhalten werden k¨onnen, denn es gilt k k k j k j k−j j k E(X − E X) = E X (E X) E X j (E X)k−j (−1) (−1) = j j j=0
j=0
Im Spezialfall k = 2 folgt hieraus die Varianz-Formel V(X) = E X 2 − (E X)2 .
(9.29)
428
9 Stochastik
Die Berechnung von Momenten geschieht meist mit Hilfe von Satz 9.28 und g(x) := xk (f¨ ur (i)), g(x) = |x|p (f¨ ur (ii)), g(x) = (x − E X)k (f¨ ur (iii)) und 2 g(x) = (x − E X) (f¨ ur (iv)). Besitzt X die λ1 -Dichte f , so gilt folglich ∞ (x − E X)2 · f (x) dx. (9.30) V(X) = −∞
Die Namensgebung Moment“ stammt aus der Mechanik. So kann z.B. die Va” ¨ rianz als zweites zentrales Moment nach den in 3.3.8 angestellten Uberlegungen 2 1 als Tr¨agheitsmoment gedeutet werden. Besitzt X ∈ L (P) die λ -Dichte f , so setzen wir in 3.3.8 n := 2, A := {(x, 0) : x ∈ R} sowie ρ(x, 0) := f (x) und w¨ahlen als Drehachse die durch den Punkt (E X, 0) verlaufende Gerade L := {(E X, y) : y ∈ R}. Wegen d((x, 0), L) = |x − E X| folgt dann aus (3.56), dass (9.30) das Tr¨agheitsmoment der mit der Gewichtsfunktion f (x) versehenen“ ” x-Achse bei Drehung um L darstellt (vgl. auch die Diskussion in I.4.4.6). 9.30 Beispiel. (Gammaverteilung) Die Zufallsvariable X sei Gam(α, β)-verteilt; X besitze also die Dichte f (x) =
β α α−1 −βx e , x Γ(α)
x>0
(f (x) := 0, sonst),
f¨ ur positive Parameter α, β. Mit der Substitution t := βx folgt f¨ ur jedes p > 0 ∞ ∞ βα Γ(p + α) |x|p · f (x) dx = tp+α−1 e−t dt = < ∞. E |X|p = p+α Γ(α)β Γ(α)β p 0 0 Somit gilt X ∈ Lp (P) f¨ ur jedes p > 0, und es folgt E Xk =
Γ(k + α) α(α + 1) · . . . · (α + k − 1) = , k Γ(α)β βk
k ∈ N,
und (9.29) liefert V(X) = α(α + 1)/β 2 − (α/β)2 = α/β 2 . In Tabelle 9.1 sind Momente einiger der bislang betrachteten Verteilungen zusammengestellt. Man beachte hierzu die einfach zu beweisende und f¨ ur endliche W-R¨aume schon aus (I.4.30) bekannte Beziehung V(aX + b) = a2 · V(X),
a, b ∈ R,
(9.31)
sowie die Verteilungsaussagen X ∼ U (0, 1) =⇒ a + (b − a)X ∼ U (a, b), 2
X ∼ N (0, 1) =⇒ μ + σX ∼ N (μ, σ ),
a, b ∈ R, a < b μ, σ ∈ R, σ > 0.
(9.32) (9.33)
9.5 Kenngr¨oßen f¨ ur Verteilungen
429
EX
V(X)
E Xk
1 2 a+b 2
1 12 (b − a)2 12
1 k+1 k k (b − a)j ak−j j j+1 j=0
X ∼ N (0, 1)
0
1
X ∼ N (μ, σ 2 )
μ
σ2
E((μ + σY )k ), Y ∼ N (0, 1)
X ∼ Gam(α, β)
α β
α β2
Γ(k + α) Γ(α)β k
X ∼ LN (μ, σ 2 )
eμ+σ
Verteilung X ∼ U (0, 1) X ∼ U (a, b)
2
/2
2
0, 1 · 3 · . . . · (2k − 1),
2
e2μ+σ (eσ − 1)
k ungerade, k gerade
exp(kμ + k 2 σ 2 /2)
Tabelle 9.1: Momente einiger Verteilungen
9.5.4
Standardisierung, Tschebyschow-Ungleichung
Eine Zufallsvariable X ∈ L2 (P) heißt standardisiert , falls E X = 0 und V(X) = 1 gilt. Jede Zufallsvariable X mit V(X) > 0 l¨asst sich durch die Transformation − EX ˜ := X X →X V(X)
(sog. Standardisierung von X)
˜ = 0 und V(X) ˜ = 1. standardisieren; es gilt E X Da der Beweis der in I.4.9 behandelten Tschebyschow-Ungleichung P (|X − E X| ≥ ε) ≤
V(X) , ε2
ε > 0,
(9.34)
nur die Absch¨atzung 1{|X−E X|≥ε} ≤ ε−2 (X − E X)2 und Satz 9.25 (iii), (iv) verwendet, gilt (9.34) auch im Rahmen allgemeiner W-R¨ aume. Der Vorteil dieser Ungleichung liegt haupts¨achlich in deren Allgemeinheit. In speziellen F¨ allen gibt 2 es wesentlich bessere Absch¨atzungen. Ist etwa X ∼ N (μ, σ )-normalverteilt, so ˜ := (X − μ)/σ die Verteilung N (0, 1). Hier gilt besitzt die Zufallsvariable X ˜ ≥ 1) ≈ 0.317, P(|X|
˜ ≥ 2) ≈ 0.045, P(|X|
˜ ≥ 3) ≈ 0.003, P(|X|
¨ was nach Ubergang zu X und komplement¨aren Ereignissen ⎧ ⎪ ⎨0.683, falls k = 1, P (μ − kσ < X < μ + kσ) ≈ 0.955, falls k = 2, ⎪ ⎩ 0.997, falls k = 3,
430
9 Stochastik
zur Folge hat. Die verteilungsunspezifische Tschebyschow-Ungleichung w¨ urde hier nur die groben unteren Schranken 0 bzw. 3/4 bzw. 8/9 liefern.
9.5.5
Kovarianz
Im Folgenden lernen wir mit der Kovarianz und der Korrelation zwei weitere Grundbegriffe der Stochastik kennen. Die Namensgebung Kovarianz wird verst¨ andlich, wenn wir die Varianz der Summe zweier Zufallsvariablen X, Y ∈ L2 (P) berechnen wollen. Nach Definition der Varianz und Satz 9.25 ergibt sich V(X + Y ) = E(X + Y − E(X + Y ))2 = E(X − E X + Y − E Y )2 = E(X − E X)2 + E(Y − E Y )2 + 2 · E((X − E X) · (Y − E Y )) = V(X) + V(Y ) + 2 · E((X − E X) · (Y − E Y )). Im Gegensatz zur Erwartungswertbildung stellt sich somit V(X +Y ) nicht einfach als Summe der einzelnen Varianzen dar, sondern es tritt ein zus¨ atzlicher Term auf, der von der gemeinsamen Verteilung von X und Y abh¨ angt. Sind X, Y ∈ L2 (P), so heißt der Ausdruck C(X, Y ) := E((X − E X) · (Y − E Y ))
(9.35)
die Kovarianz zwischen X und Y . 9.31 Satz. (Eigenschaften der Kovarianz) Sind X, Y, X1 , . . . , Xm , Y1 , . . . , Yn Zufallsvariablen aus L2 (P) und a, b, a1 , . . . , am , b1 , . . . , bn reelle Zahlen, so gilt: (i) C(X, Y ) = E(X · Y ) − E X · E Y . C(X, X) = V(X).
(ii) C(X, Y ) = C(Y, X),
(iii) C(X + a, Y + b) = C(X, Y ). (iv) Sind X und Y stochastisch unabh¨ angig, so folgt C(X, Y ) = 0. m n n m (v) C aj · Xj , bk · Yk = aj · bk · C(Xj , Yk ). j=1
j=1 k=1
k=1
(vi) V(X1 + . . . + Xn ) =
n j=1
V(Xj ) + 2 ·
1≤j 0 ¨aquivalent (d.h. Y w¨ achst ” mit wachsendem X“) und r(X, Y ) = −1 ist zu b < 0 ¨aquivalent (d.h. Y ” f¨ allt mit wachsendem X“). Beweis: Behauptung (i) folgt aus der Nichtnegativit¨ at von M (a∗ , b∗ ) in Satz 9.36. Im Fall ∗ ∗ |r(X, Y )| = 1 gilt M (a , b ) = 0 und somit 0 = E(Y − a − bX)2 , also P(Y = a + bX) = 1 f¨ ur geeignete a, b ∈ R. F¨ ur die Zusatzbehauptungen in (ii) beachte man, dass die Gr¨ oßen ∗ b und r(X, Y ) aus Satz 9.36 das gleiche Vorzeichen besitzen.
9.5 Kenngr¨oßen f¨ ur Verteilungen
435
Da die Aufgabe (9.39) darin besteht, die Zufallsvariable Y durch eine affine (umgangssprachlich auch lineare) Funktion von X in einem gewissen Sinne bestm¨oglich zu approximieren, ist r(X, Y ) ein Maß f¨ ur die G¨ ute der affinen Vorhersagbarkeit von Y durch X. Im extremen Fall r(X, Y ) = 0 der Unkorreliertheit von X und Y gilt nach (9.41) M (a∗ , b∗ ) = V(Y ) = E[(Y − E Y )2 ] = mina,b E[(Y − a − bX)2 ], so dass dann die beste affine Funktion von X zur Vorhersage von Y gar nicht von X abh¨angt.
9.5.8
Die Methode der kleinsten Quadrate
Die Untersuchung eines statistischen Zusammenhanges“ zwischen zwei quantita” tiven Merkmalen“ X und Y bildet eine Standardsituation der Datenanalyse. Zur ” agungen Veranschaulichung werden dabei die mit xj (bzw. yj ) bezeichneten Auspr¨ von Merkmal X (bzw. Y ) an der j-ten Untersuchungseinheit (j = 1, . . . , n) als Punktwolke“ {(xj , yj ) : j = 1, . . . , n} in der xy-Ebene dargestellt. Als Zahlenbei” spiel betrachten wir einen auf K. Pearson und Alice Lee3 (1902) zur¨ uckgehenden klassischen Datensatz, n¨amlich die an 11 Geschwisterpaaren (Bruder/Schwester) gemessenen Merkmale Gr¨oße des Bruders (X) und Gr¨ oße der Schwester (Y ) (siehe Hand et al. (Hrsg.), S.309). Die zugeh¨orige Punktwolke ist im linken Bild 9.7 veranschaulicht. Dabei deutet der fett eingezeichnete Punkt an, dass an dieser Stelle zwei Messwertpaare vorliegen.
y Gr¨oße der Schwester (in cm) q
170 q 160 150
q
q
q
q 165
170
q q
175
q
170
q
•
oße der Schwester (in cm) y Gr¨
Gr¨oße des Bruders (in cm) 180 185 x
q 160 150
q
q
q
170
q q
q 165
q
•
175
Gr¨ oße des Bruders (in cm) 180 185 x
Bild 9.7: Gr¨oßen von 11 Geschwisterpaaren ohne bzw. mit Regressionsgerade
Bei der Betrachtung dieser Punktwolke f¨allt auf, dass gr¨ oßere Br¨ uder zumindest tendenziell auch gr¨oßere Schwestern besitzen. Zur Quantifizierung dieses statistischen Zusammenhanges liegt es nahe, eine Trendgerade zu bestimmen, welche 3
Alice Lee (1859–1939), Mathematikerin. Eine der ersten Frauen, die an der Universit¨ at London promoviert haben. Hauptarbeitsgebiet: Angewandte Statistik.
436
9 Stochastik
in einem gewissen Sinne m¨oglichst gut durch die Punktwolke verl¨ auft“. Eine ” mathematisch bequeme M¨oglichkeit zur Pr¨azisierung dieser Aufgabe ist die auf Gauß zur¨ uckgehende Methode der kleinsten Quadrate. Ihr Ziel ist die Bestimmung einer Geraden y = a∗ + b∗ x mit der Eigenschaft ⎛ ⎞ n n (yj − a∗ − b∗ xj )2 = min ⎝ (yj − a − bxj )2 ⎠ . (9.43) a,b
j=1
j=1
Fassen wir das Merkmalspaar (X, Y ) als zweidimensionalen Zufallsvektor auf, der die Wertepaare (xj , yj ) (j = 1, . . . , n) mit gleicher Wahrscheinlichkeit 1/n annimmt (ein mehrfach auftretendes Paar wird dabei auch mehrfach gez¨ ahlt, seine Wahrscheinlichkeit ist dann ein entsprechendes Vielfaches von 1/n), so gilt n 1 E(Y − a − bX) = · (yj − a − bxj )2 . n 2
j=1
Dies bedeutet, dass die Bestimmung des Minimums in (9.43) ein Spezialfall der Aufgabe (9.39) ist. Setzen wir 1 xj , n
1 yj , n
n
x ¯ :=
σx2 :=
j=1 n
1 n
n
y¯ :=
j=1
(xj − x ¯)2 ,
j=1
1 (xj − x ¯)(yj − y¯), n n
σxy :=
j=1
n 1 2 σy := (yj − y¯)2 , n j=1
so gelten E(X) = x ¯, E(Y ) = y¯, C(X, Y ) = σxy , V(X) = σx2 und V(Y ) = σy2 . Folglich besitzt die L¨osung (a∗ , b∗ ) der Aufgabe (9.43) nach (9.40) die Gestalt b∗ =
σxy σx2
,
a∗ = y¯ − b∗ · x ¯.
(9.44)
Hierbei werde angenommen, dass mindestens zwei der Werte x1 , . . . , xn verschieden sind und somit σx2 > 0 gilt. Die nach der Methode der kleinsten Quadrate gewonnene optimale Gerade y = a∗ + b∗ x heißt die (empirische) Regressionsgerade4 von Y auf X. Aufgrund der zweiten Gleichung in (9.44) geht sie durch den Schwerpunkt (¯ x, y¯) der Daten. Die Regressionsgerade zur Punktwolke der Gr¨ oßen der 11 Geschwisterpaare ist im rechten Bild von 9.7 veranschaulicht. Weiter gilt im Fall σx2 > 0, σy2 > 0: n ¯) · (yj − y¯) σxy j=1 (xj − x = & . (9.45) r(X, Y ) = & n n 2· 2 σx2 · σy2 (x − x ¯ ) (y − y ¯ ) j j j=1 j=1 4
Das Wort Regression geht auf Sir (seit 1909) Francis Galton (1822–1911) zur¨ uck, der bei der Vererbung von Erbsen einen R¨ uckgang“ des durchschnittlichen Durchmessers feststellte. ”
9.6 Die mehrdimensionale Normalverteilung
437
Die rechte Seite von (9.45) heißt empirischer Korrelationskoeffizient (im Sinne von Pearson) der Daten(-Paare) (x1 , y1 ), . . . , (xn , yn ).
qq q y q q q qq q q q qq qq q q q q q q q q qq q q q qq q q q qq qq q q
y
r = 0.890
qq
q
qq
q q qq q
qq q qq q q q q q q qq qq q q q qq
q q q q q q q q qq q q q q q q q qq q
y q q r = −0.0014 qq
q
qq
qq
qq
q qq
q qq
qq q q q qqq q qq
qq qqq
q qq q
qq
q
qq
q qq
q
qq
x
r = −0.612
q
q
q qq q q
q q q q
y
q
r = 0.255 q
x
q qq q q q qq q q q q qq q
q q qq q q qq q q qq q q q qqqq q qq q q qqq q q q q
x
q
x
Bild 9.8: Punktwolken und Korrelationskoeffizienten Um ein Gef¨ uhl f¨ ur die St¨arke der Korrelation von Punktwolken zu erhalten, sind in Bild 9.8 f¨ ur den Fall n = 50 vier Punkthaufen mit den zugeh¨ origen Regressionsgeraden und empirischen Korrelationskoeffizienten r skizziert. Maßeinheiten wurden nicht angegeben, weil r invariant gegen¨ uber Transformationen der Form x → ax + b, y → cy + d mit a · c > 0 ist. Das linke untere Bild verdeutlicht, dass der empirische Korrelationskoeffizient nur eine Aussage u ¨ber die St¨arke eines affinen Zusammenhangs zwischen Zufallsvariablen (Merkmalen) macht. Obwohl hier ein ausgepr¨agter quadratischer Zusammenhang“ vorliegt, ” ist die empirische lineare“ Korrelation ungef¨ ahr 0. ”
9.6
Die mehrdimensionale Normalverteilung
In diesem Abschnitt lernen wir mit der mehrdimensionalen Normalverteilung die wichtigste mehrdimensionale Verteilung kennen. Wie in 9.5.6 werden auch im Folgenden Zufallsvektoren als Spaltenvektoren geschrieben.
438
9.6.1
9 Stochastik
Definition der mehrdimensionalen Normalverteilung
Es seien Z1 , . . . , Zk unabh¨angige und jeweils N (0, 1)-normalverteilte Zufallsvariablen auf einem W-Raum (Ω, A, P), sowie Z := (Z1 , . . . , Zk )T gesetzt. Der Zufallsvektor X besitzt eine k-dimensionale Normalverteilung , wenn es eine k × k-Matrix A und einen Vektor μ ∈ Rk gibt, so dass gilt: X =A·Z +μ .
(9.46)
Ist A regul¨ar, so heißt die Verteilung nichtausgeartet und andernfalls ausgeartet. Besitzt X := (X1 , . . . , Xk )T die eben definierte Normalverteilung, so gilt nach Satz 9.35 E X = μ, Σ := Σ(X) = A · AT . Außerdem folgt aus der Definition, dass jedes Xi eine eindimensionale Normalverteilung besitzt, denn mit A =: (aij ) und μ =: (μ1 , . . . , μk )T gilt Xi =
k
aij Zj + μj ,
j=1
und nach Satz 9.17 (ii) sowie (9.33) folgt Xi ∼ N (μi , kj=1 a2ij ). Hierbei interpretieren wir N (μ, 0) (μ ∈ R) als diskretes W-Maß mit Tr¨ ager {μ}. Der n¨achste Satz besagt, dass eine nichtausgeartete mehrdimensionale Normalverteilung eine λk -Dichte besitzt, die nur von μ und Σ, nicht aber von der speziellen Gestalt der Matrix A in (9.46) abh¨angt. Deshalb heißt dann die Verteilung eines gem¨aß (9.46) erzeugten Zufallsvektors X k-dimensionale Normalverteilung mit Erwartungswertvektor μ und Kovarianzmatrix Σ. Besitzt X diese Verteilung, so schreibt man hierf¨ ur kurz X ∼ Nk (μ, Σ). Man beachte, dass mit A auch Σ eine regul¨are Matrix ist.
9.6.2
Dichte der mehrdimensionalen Normalverteilung
9.38 Satz. (Dichte der mehrdimensionalen Normalverteilung) Ein Zufallsvektor X mit der Verteilung Nk ( μ, Σ) besitzt die λk -Dichte f (x) =
(2π)k/2
1
1 T −1 ) , · exp − · (x − μ) Σ (x − μ 2 det(Σ)
Beweis: Nach (9.16) und
8k j=1
x ∈ Rk . (9.47)
exp(−zj2 ) = exp(−z22 ) ist
1 1 2 · exp − z2 , g(z) := 2 (2π)k/2
z = (z1 , . . . , zk )T ∈ Rk ,
9.6 Die mehrdimensionale Normalverteilung
439
eine λk -Dichte des Zufallsvektors Z in (9.46). Mit V := Rk und T (z) := Az + μ liefert Beispiel 9.21 (unter Vertauschung der Rollen von f und g), dass X die λk -Dichte 1 1 g(A−1 (x − μ)) −1 2 · exp − ( x − μ ) = · A f (x) = 2 | det(A)| 2 (2π)k/2 | det(A)| besitzt. Wegen
μ) A−1 (x − μ)22 = (x − μ)T (A−1 )T A−1 (x −
und Σ−1 = (AAT )−1 = (A−1 )T A−1 sowie det(Σ) = det(A) · det(AT ) = (det(A))2 folgt die Behauptung.
9.6.3
Existenz von mehrdimensionalen Normalverteilungen
9.39 Satz. (Existenzsatz) Zu jeder symmetrischen positiv definiten k × k-Matrix Σ und jedem μ ∈ Rk existiert ein k-dimensionaler Zufallsvektor X mit der Verteilung Nk ( μ, Σ). Beweis: Es seien λ1 , . . . , λk die Eigenwerte von Σ. Nach Satz 5.33 existiert eine orthogonale Matrix B mit B√T ΣB = diag(λ 1 , . . . , λk ). Da nach Satz 5.41 alle λj positiv sind, √ k¨ onnen wir D := diag( λ1 , . . . , λk ) setzen. Es gilt dann Σ = B diag(λ1 , . . . , λk )B T = BDDB T = (BD) · (BD)T und somit Σ = AAT , wobei A := BD gesetzt ist. Mit dem zu Beginn von 9.6.1 eingef¨ uhrten Zufallsvektor Z besitzt dann X := AZ + μ nach Definition die Verteilung μ, Σ). Nk (
Man beachte, dass die obige Konstruktion auch m¨ oglich ist, wenn Σ nur positiv semidefinit, aber nicht (eigentlich) positiv definit ist. In diesem Fall ist mindestens ein Eigenwert gleich Null, und der Rang der Matrix A ist kleiner als k. Man erh¨ alt dann eine ausgeartete k-dimensionalen Normalverteilung. Diese Verteilung ist ganz auf der Menge Bild(A) + μ konzentriert und besitzt keine λk -Dichte. 9.40 Beispiel. (Der Fall k = 2) Wir wollen den Spezialfall einer zweidimensionalen Normalverteilung gesondert hervorheben. Zur Vermeidung von Indizes schreiben wir (X, Y ) := (X1 , X2 ) und setzen σ 2 := V(X), τ 2 := V(Y ), ρ := r(X, Y ) = C(X, Y )/(στ ) sowie μ := μ1 , ν := μ2 . Es gilt dann 2 2 1 ρστ −ρστ τ σ −1 = Σ= , Σ , ρστ τ 2 σ2 σ 2 τ 2 (1 − ρ2 ) −ρστ und die Dichte f (x) in (9.47) nimmt die Gestalt 2 τ (x−μ)2 − 2ρστ (x−μ)(y−ν) + σ 2 (y−ν)2 1 · exp − f (x, y) = 2σ 2 τ 2 (1 − ρ2 ) 2πστ (1 − ρ2 )
440
9 Stochastik
(x, y ∈ R) an. Die Dichte f ist konstant auf Ellipsen mit Zentrum (μ, ν), deren Hauptachsenrichtungen und Halbachsenl¨angen durch die Eigenwerte und Eigenvektoren von Σ bestimmt sind. Um die Bedeutung des Korrelationskoeffizienten ρ zu veranschaulichen, betrachten wir den Spezialfall σ 2 = τ 2 = 1. Direktes Nachrechnen ergibt, dass Σ in diesem Fall die Eigenwerte λ1 = 1 + ρ√und λ2 = 1 − ρ und die origen √ dazugeh¨ (normierten) Eigenvektoren v1 = (1, 1)/ 2 und v2 = (−1, 1)/ 2 besitzt. Man sieht auch sofort, dass die in (9.46) auftretende Matrix im vorliegenden Fall als √ √ 1 1+ρ − 1−ρ √ √ A= √ 1+ρ 1−ρ 2 gew¨ahlt werden kann (es gilt Σ = AAT ). Gleichung (9.46) zeigt, wie ein Zufallsvektor (X, Y )T mit der zweidimensionalen Normalverteilung μ 1 ρ , N2 ν ρ 1 erzeugt werden kann. Sind W und Z unabh¨ angig und je N (0, 1)-normalverteilt (Erzeugung mittels Polar-Methode, vgl. Beispiel 9.20), so braucht man nur X W μ μ := A + = W 1 + ρ · v1 + Z 1 − ρ · v2 + Y Z ν ν zu setzen; die Zufallsvariablen W und Z werden also in Richtung der Eigenvekto√ √ ren v1 und v2 von Σ aufgetragen“. Die Streckungsfaktoren 1 + ρ und 1 − ρ ” bewirken, dass die Realisierungen von W und Z unterschiedlich stark in Richtung der Hauptachsen v1 und v2 streuen. Ist ρ ≈ 1, so dominiert die Richtung von v1 , und Realisierungen von (X, Y ) werden stark um die durch (μ, ν) verlaufende Gerade mit der Richtung von v1 konzentriert sein. Im Fall ρ ≈ −1 spielt die durch (μ, ν) verlaufende Gerade mit der Richtung von v2 die dominierende Rolle.
9.7
Grenzwerts¨ atze
In diesem Abschnitt lernen wir mit dem Gesetz großer Zahlen und dem zentralen Grenzwertsatz die wichtigsten Grenzwerts¨atze der Stochastik kennen.
9.7.1
Folgen unabh¨ angiger Zufallsvariablen
F¨ ur viele Fragestellungen ist es unerl¨asslich, dass auf einem gemeinsamen WRaum (Ω, A, P) unendlich viele unabh¨angige Zufallsvariablen Xj : Ω → R, j ≥ 1, mit vorgegebenen Verteilungen definiert sind. Dabei erkl¨ art man die Unabh¨ angigkeit unendlich vieler Zufallsvariablen dadurch, dass jede Auswahl von endlich vielen der Xj unabh¨angig im Sinne von 9.3.3 ist. In gleicher Weise ist die Unabh¨angigkeit von unendlich vielen Mengensystemen definiert.
9.7 Grenzwerts¨atze
441
9.41 Satz. (Existenz unendlich vieler unabh¨ angiger Zufallsvariablen) Es seien Q1 , Q2 , . . . beliebige W-Maße auf B 1 . Dann existieren ein W-Raum (Ω, A, P) und unabh¨angige Zufallsvariablen Xj : Ω → R, j ≥ 1, so dass f¨ ur jedes j ≥ 1 die Zufallsvariable Xj die Verteilung Qj besitzt. Beweis: Wir setzen Ω := (0, 1] sowie A := {B ∈ B 1 : B ⊂ Ω} und w¨ ahlen als W-Maß P die Einschr¨ ankung des Borel–Lebesgue-Maßes λ1 auf A. Jede Zahl ω ∈ (0, 1] besitzt eine eindeutig bestimmte (nicht abbrechende) dyadische Darstellung der Form ω=
∞ dj (ω) j=1
(9.48)
2j
∞ alt man mit dj (ω) ∈ {0, 1}, j ≥ 1, und j=1 dj (ω) = ∞ (vgl. auch I.3.4.10). Diese erh¨ durch
0, falls 0 < ω ≤ 1/2, d1 (ω) := dn (ω) := d1 T n−1 (ω) , n ≥ 2, 1, falls 1/2 < ω ≤ 1, mit T (ω) :=
2ω, 2ω − 1,
falls 0 < ω ≤ 1/2, falls 1/2 < ω ≤ 1.
uhrung von T . Mittels Induktion zeigt man Dabei ist T n die n-fache Hintereinanderausf¨ n dj (ω) j=1
2j
0. (9.52) lim P · n→∞ n j=1
9.7 Grenzwerts¨atze
443
n Beweis: Nach Satz 9.25 (i), (ii) gilt E(n−1 j=1 Xj ) = μ, und (9.31) sowie (9.36) liefern V(n−1 · nj=1 Xj ) = n−1 V(X1 ). Die Tschebyschow-Ungleichung (9.34) ergibt dann n V(X ) 1 1 Xj − μ ≥ ε ≤ →0 P · n j=1 n · ε2
f¨ ur n → ∞.
Satz 9.42 pr¨azisiert unsere intuitive Vorstellung des Erwartungswertes als eines auf die Dauer erhaltenen durchschnittlichen Wertes“. In diesem Zusammenhang ” sei betont, dass die im Vergleich zu (9.52) st¨ arkere Aussage P
'
( 1 Xj (ω) = μ =1 n→∞ n n
ω ∈ Ω : lim
(9.53)
j=1
gilt, sofern nur X1 , X2 , . . . ∈ L1 (P) unabh¨angig und identisch verteilt sind. Die Voraussetzung der quadratischen Integrierbarkeit wird also nicht ben¨ otigt. 9.43 Folgerung. (Schwaches Gesetz großer Zahlen von Jakob Bernoulli) Sind A1 , A2 , . . . unabh¨ angige Ereignisse mit gleicher Wahrscheinlichkeit p, so gilt n 1 lim P · 1Aj −p ≥ ε = 0 n→∞ n
f¨ ur jedes ε > 0.
(9.54)
j=1
Diese Aussage ist das Hauptergebnis der Ars Conjectandi von Jakob Bernoulli. are Version“ von (9.54), also Mit Rn := n−1 · nj=1 1Aj kann die komplement¨ ” lim P(|Rn − p| < ε) = 1
n→∞
f¨ ur jedes ε > 0,
(9.55)
wie folgt interpretiert werden: Zu jedem ε > 0 und zu jedem η mit 0 < η < 1 existiert ein von ε und η abh¨angendes n0 ∈ N mit der Eigenschaft P(|Rn − p| < ε) ≥ 1 − η
f¨ ur jedes n ≥ n0 .
Nach Folgerung 9.43 l¨asst sich also die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen, deren Eintreten oder Nichteintreten unter unabh¨ angigen und gleichen Bedingungen beliebig oft wiederholt beobachtbar ist, wie eine physikalische Konstante mit beliebig kleiner Fehlerwahrscheinlichkeit messen (vgl. auch das Vorwort von J. Bernoulli). Man sieht auch, dass die axiomatische Definition der Wahrscheinlichkeit zusammen mit den zur Herleitung von (9.52) benutzten Begriffen stochastische Unabh¨ angigkeit, Erwartungswert und Varianz genau das empirische Gesetz u ¨ber die Stabilisierung relativer H¨aufigkeiten erfasst.
444
9 Stochastik
9.7.3
Verteilungskonvergenz
Es seien Y, Y1 , Y2 , . . . Zufallsvariablen mit Verteilungsfunktionen F, F1 , . . ., und es sei C(F ) die Menge der Stetigkeitsstellen von F . Die Verteilungskonvergenz der Folge (Yn ) gegen Y ist definiert durch die Bedingung d Yn −→ Y (f¨ ur n → ∞) :⇐⇒ lim Fn (x) = F (x), n→∞
x ∈ C(F ).
(9.56)
Man sagt hierf¨ ur auch, die Folge (Yn ) konvergiere in Verteilung gegen Y . Die Verteilung PY heißt Grenzverteilung oder asymptotische Verteilung der Folge (PYn ) bzw. der Folge (Yn ). Die Funktion F heißt Grenz-Verteilungsfunktion. Da (9.56) nur eine Aussage u ¨ ber die Verteilungen von Y1 , Y2 , . . . macht, sind hierf¨ ur auch die folgenden (zum Teil hybriden“) Schreibweisen anzutreffen: ” d d d Yn −→ PY oder PYn −→ PY . Fn −→ F, F¨ ur eine stetige Verteilungsfunktion F gilt folgendes n¨ utzliches Resultat. d 9.44 Satz. (Fn −→ F impliziert Fn − F ∞ → 0 bei stetigem F ) ¨ Ist die Verteilungsfunktion F stetig, so gilt die Aquivalenz d ur n → ∞ ⇐⇒ lim sup{|Fn (x) − F (x)| : x ∈ R} = 0. Fn −→ F f¨ n→∞
d Beweis: Ist F stetig, so folgt aus Fn −→ F die Konvergenz limn→∞ Fn (x) = F (x), f¨ ur ¯ mit −∞ = x1 < x2 < . . . < xm = ∞ gilt jedes x ∈ R. F¨ ur m ≥ 3 und x1 , . . . , xm ∈ R sup{|Fn (x) − F (x)| : x ∈ R} ≤ max |Fn (xk ) − F (xk )| + max |F (xk+1 ) − F (xk )|, k
k≤m−1
atigt. Der erste Summand wie man leicht mit Hilfe der Monotonie von Fn und F best¨ strebt f¨ ur n → ∞ gegen 0. Wegen der gleichm¨ aßigen Stetigkeit von F auf kompakten Intervallen und den Grenzwertbeziehungen F (−∞) = 0 und F (∞) = 1 wird auch der zweite Summand f¨ ur großes m ∈ N und geeignet gew¨ ahlte x1 , . . . , xm beliebig klein.
Das folgende Beispiel verdeutlicht, warum es sinnvoll ist, in (9.56) nur Stetigkeitsstellen der Grenz-Verteilungsfunktion F zu betrachten. 9.45 Beispiel. (Warum nur Stetigkeitsstellen in (9.56)?) Es gelte P( Yn = 1/n) = 1 und P(Zn = −1/n) = 1, n ≥ 1. Vern¨ unftigerweise sollten die Verteilungen von Yn und Zn f¨ ur n → ∞ gegen die Verteilung einer Zufallsvariablen Y mit P(Y = 0) = 1 konvergieren. Bezeichnen Fn , Gn und F die Verteilungsfunktionen von Yn bzw. Zn bzw. Y , so gilt 1, falls x > 0, F (x) = lim Fn (x) = lim Gn (x) = n→∞ n→∞ 0, falls x < 0,
9.7 Grenzwerts¨atze
445
aber 0 = limn→∞ Fn (0) = limn→∞ Gn (0) = 1 = F (0). Durch Ausschluss der d d Unstetigkeitsstelle 0 von F in (9.56) wird gerade Yn −→ Y und Zn −→ Y erreicht. 9.46 Beispiel. (Extremwertverteilung von Gumbel) angig und jeweils Exp(1)-exponentiDie Zufallsvariablen X1 , X2 , . . . seien unabh¨ alverteilt, vgl. Beispiel I.7.42. F¨ ur die Verteilungsfunktion G(x) := P(X1 ≤ x) von X1 gilt also G(x) = 1 − exp(−x), x ≥ 0, und G(x) = 0, sonst. Da f¨ ur y ∈ R das Ereignis {maxj=1,...,n Xj ≤ y} gleich dem Durchschnitt ∩nj=1{Xj ≤ y} ist, liefert die Unabh¨angigkeit von X1 , . . . , Xn f¨ ur jedes x ∈ R und f¨ ur n ≥ e−x P max Xj − ln n ≤ x = P(X1 ≤ x + ln n, . . . , Xn ≤ x + ln n) 1≤j≤n
= (P(X1 ≤ x + ln n))n = G(x + ln n)n n e−x = 1− → exp(− exp(−x)). n Somit gilt d Yn := max Xj − ln n −→ Y, 1≤j≤n
wobei Y eine Zufallsvariable mit der Verteilungsfunktion F (x) := exp(− exp(−x)) (sog. Extremwertverteilung von Gumbel5 ) bezeichnet. Die Dichte f = F der Gumbelschen Extremwertverteilung ist in Bild 9.9 skizziert. f (x) = e−x exp(−e−x ) .4
Bild 9.9: Dichte der Gumbelschen Extremwertverteilung
.3 .2 .1
−2
0
2
4
x
Der Name Extremwertverteilung r¨ uhrt daher, dass gerade die Extremwertverteilungen (neben der Gumbelschen gibt es noch zwei weitere Verteilungstypen) das asymptotische Verhalten von Maxima und Minima (also extremen Werten) vieler Zufallsvariablen beschreiben und somit vor allem zur Modellierung der 5 Emil Julius Gumbel (1891–1966). 1923 Habilitation an der Universit¨ at Heidelberg. 1925/26 arbeitete Gumbel am Marx–Engels-Institut in Moskau und machte die von Marx und Engels hinterlassenen mathematischen Notizen druckfertig. 1930 Professor an der Universit¨ at Heidelberg. 1932 Emigration nach Frankreich und sp¨ ater in die USA (u.a. Columbia University, New York). Hauptarbeitsgebiete: Wahrscheinlichkeitsrechnung und Mathematische Statistik.
446
9 Stochastik
H¨aufigkeit des Auftretens von extremen Ereignissen wie Hochwasserst¨ anden, sehr großen Windgeschwindigkeiten o.¨a. eingesetzt werden.
9.7.4
Nachweis von Verteilungskonvergenz
Da die in (9.56) auftretenden Verteilungsfunktionen Fn analytisch meist nicht handhabbar sind, besteht ein großes Interesse an alternativen Methoden zum Nachweis von Verteilungskonvergenz. Hierzu beachte man, dass (9.56) zu lim E g(Yn ) = E g(Y ) f¨ ur jedes g = 1(−∞,x] mit x ∈ C(F )
n→∞
(9.57)
a¨quivalent ist. Das n¨achste Resultat besagt, dass man die hier auftretenden unstetigen Indikatorfunktionen durch die Menge Cb∞ (R) aller unendlich oft differenzierbaren Funktionen h : R → R, welche zusammen mit jeder ihrer Ableitungen auf R gleichm¨aßig stetig und beschr¨ankt sind, ersetzen kann. 9.47 Satz. (Kriterium f¨ ur Verteilungskonvergenz) Es seien Y, Y1 , Y2 , . . . Zufallsvariablen auf einem W-Raum (Ω, A, P). Gilt dann lim E h(Yn ) = E h(Y )
n→∞
f¨ ur jedes h ∈ Cb∞ (R),
(9.58)
d so folgt Yn −→ Y . Beweis: Es seien F, F1 , F2 , . . . die Verteilungsfunktionen von Y, Y1 , Y2 , . . .. W¨ ahlen wir x ∈ C(F ) und ε > 0 beliebig, so existiert ein δ > 0 mit |F (x) − F (t)| ≤ ε f¨ ur jedes t mit |x − t| ≤ δ. Mittels der Funktion ψ aus Beispiel 6.41 konstruieren wir jetzt eine Funktion h ∈ Cb∞ (R) mit der Eigenschaft 1(−∞,x] ≤ h ≤ 1(−∞,x+δ] . Dazu seien α := δ/3 und f eine stetige Funktion, die auf (−∞, x+α] gleich 1 und auf [x+2α, ∞) gleich 0 ist und auf dem Intervall [x + α, x + 2α] linear f¨allt. Weil ψ den beschr¨ ankten Tr¨ ager [−1, 1] hat, liefert (6.31) eine wohldefinierte Funktion h := fα . Analog zu Satz 6.42 folgt, dass h unendlich oft differenzierbar ist. Außerdem ist h gleich 1 auf (−∞, x], gleich 0 auf [x+δ, ∞) und auf [x, x + δ] zwischen 0 und 1. Auf dem kompakten Intervall [x, x + δ] sind h und auch alle Ableitungen von h gleichm¨aßig stetig. Außerhalb dieses Intervalls sind diese Funktionen aber konstant und damit sogar auf ganz R gleichm¨ assig stetig und beschr¨ ankt. Aus der Monotonieeigenschaft des Erwartungswertes und (9.58) folgt lim sup Fn (x) = lim sup E 1(−∞,x] (Yn ) ≤ lim sup E h(Yn ) n→∞
n→∞
n→∞
= E h(Y ) ≤ E 1(−∞,x+δ] (Y ) = F (x + δ) ≤ F (x) + ε und somit f¨ ur ε → 0 die Ungleichung lim supn→∞ Fn (x) ≤ F (x). Verwendet man eine Funktion h ∈ Cb∞ (R) mit 1(−∞,x−δ] ≤ h ≤ 1(−∞,x] , so folgt F (x) ≤ lim inf n→∞ Fn (x) und somit insgesamt Fn (x) → F (x) f¨ ur n → ∞.
9.7 Grenzwerts¨atze
9.7.5
447
Zentraler Grenzwertsatz
Die Anwendbarkeit von Satz 9.47 zeigt sich beim Beweis des folgenden Resultates, welches f¨ ur die Stochastik von u ¨ berragender Bedeutung ist. 9.48 Satz. (Zentraler Grenzwertsatz von Lindeberg6 –L´evy7 ) Es seien X1 , X2 , . . . ∈ L2 (P) unabh¨ angige und identisch verteilte Zufallsvariablen mit positiver Varianz. F¨ ur Sn := nj=1 Xj , n ∈ N, gilt Sn − E Sn Sn − n E X1 d = −→ N (0, 1). V(Sn ) n V(X1 )
(9.59)
Beweis: Offenbar kann o.B.d.A. E X1 = 0 und V(X1 ) = 1 angenommen werden. Weiter k¨ onnen wir nach Satz 9.41 annehmen, dass auf dem W-Raum (Ω, A, P) auch unabh¨ angige und je N (0, 1)-normalverteilte Zufallsvariablen Y1 , Y2 , . . . definiert und diese Variablen unabh¨ angig von X1 , X2 , . . . sind (ist Q die Verteilung von X1 , so setzen wir in Satz 9.41 Q2j−1 := Q und Q2j := N (0, 1), j ≥ 1). Schreiben wir n Sn j=1 Yj ˜ ˜ √ Tn := , Sn := √ , n n so besitzt T˜n nach (9.33) und Satz 9.17 (ii) f¨ ur jedes n die Verteilung N (0, 1). Wir w¨ ahlen eine beliebige Funktion h ∈ Cb∞ (R) und setzen Dn := h(S˜n ) − h(T˜n ). Wegen T˜n ∼ N (0, 1) reicht es nach Satz 9.47 aus, die Konvergenz lim E Dn = 0
(9.60)
n→∞
˜ j := Xj /√n und Y˜j := Yj /√n (j = 1, . . . , n) sowie zu zeigen. Schreiben wir X ˜1 + . . . + X ˜ k−1 + Y˜k+1 + . . . + Y˜n , k = 1, . . . , n Uk := X ˜ k ) − h(Uk + Y˜k ), Vk := h(Uk + X k = 1, . . . , n, so ergibt sich (Teleskopsumme und Taylorentwicklung um Uk (elementweise auf Ω)) Dn = =
n
Vk =
k=1 n k=1
n
˜ k ) − h(Uk + Y˜k ) h(Uk + X
k=1
1 ˜ 2 1 ˜ 2 ˜ ˜ ˜ ˜ h (Uk )(Xk − Yk ) + Xk h (Uk + Zk Xk ) − Yk h (Uk + Wk Yk ) , 2 2
wobei Zk und Wk Zufallsvariablen mit |Zk | ≤ 1 und |Wk | ≤ 1 sind. (Der Beweis des ˜ k und Satzes I.6.59 von Taylor zeigt, dass man Zk als messbare Funktion von Uk und X ˜ ahlen kann.) Mit der Abk¨ urzung analog Wk als messbare Funktion von Uk und Yk w¨ δ(t) := sup{|h (x) − h (y)| : x, y ∈ R, |x − y| ≤ t}, 6
t > 0,
(9.61)
Jarl Waldemar Lindeberg (1876–1932), Landwirt und Mathematiker. Paul L´evy (1886–1971), 1919–1959 Professor an der Ecole Polytechnique in Paris. Neben A.N. Kolmogorow und A.J. Chintschin kann L´evy als Hauptbegr¨ under der modernen maßtheoretisch fundierten Wahrscheinlichkeitstheorie angesehen werden. 7
448
9 Stochastik
folgt ˜ k |), ˜ k ) = h (Uk ) + Ak δ(|X h (Uk + Zk X h (Uk + Wk Y˜k ) = h (Uk ) + Bk δ(|Y˜k |)
(9.62) (9.63)
mit geeignet gew¨ahlten Zufallsvariablen Ak und Bk , wobei |Ak |, |Bk | ≤ 1. ˜ k und Y˜k (Blockungslemma!) sowie der BezieAufgrund der Unabh¨angigkeit von Uk , X ˜ k = E Y˜k = 0 und E X ˜ 2 = E Y˜ 2 (= 1/n) erhalten wir mit der Produktregel f¨ hungen E X ur k k 2 2 ˜ ˜ ˜ ˜ den Erwartungswert (Satz 9.29) E(h (Uk )(Xk − Yk )) = 0 sowie E((Xk − Yk )h (Uk )) = 0. Daraus folgt unter Beachtung von (9.62), (9.63) die Darstellung n 1 ˜ k2 δ(|X ˜ k |) − Bk Y˜k2 δ(|Y˜k |) . E Ak X E Dn = 2 k=1
˜ 2 δ(|X ˜ k |) (k = Wegen |Ak |, |Bk | ≤ 1 und der identischen Verteilungen sowohl von X k 2 ˜ ˜ 1, . . . , n) als auch von Yk δ(|Yk |) (k = 1, . . . , n) folgt mit der Dreiecksungleichung n ˜2 ˜ E(X1 δ(|X1 |)) + E(Y˜12 δ(|Y˜1 |)) | E Dn | ≤ 2 √ √
1 E(X12 δ(|X1 |/ n)) + E(Y12 δ(|Y1 |/ n)) . (9.64) = 2 Da h gleichm¨ aßig stetig ist, gilt limt→0 δ(t) = 0, und die Beschr¨ anktheit von h liefert die Existenz einer Zahl M mit supt∈R δ(t) ≤ M . Somit konvergiert die durch die √ integrierbare Funktion M X12 majorisierte Folge ω → X12 (ω)δ(|X1 (ω)|/ n), ω ∈ Ω, f¨ ur n → ∞ gegen die Nullfunktion, und der Satz u ¨ ber die majorisierte Konvergenz liefert √ √ limn→∞ E(X12 δ(|X1 |/ n)) = 0. Ebenso folgt limn→∞ E(Y12 δ(|Y1 |/ n)) = 0.
Die Grenzwertbeziehung (9.59) bedeutet 2 b 1 Sn − n E X1 x dx, ≤b = √ · exp − lim P a ≤ n→∞ 2 2π a n V(X1 )
a < b, (9.65)
wobei die F¨alle a = −∞ oder b = ∞ mit eingeschlossen sind. Damit wird die zentrale Stellung der Normalverteilung innerhalb der Wahrscheinlichkeitstheorie begr¨ undet. So kann zum Beispiel das Auftreten der Normalverteilung (9.1) bei der Brownschen Bewegung mit dem Zentralen Grenzwertsatz erkl¨ art werden. Im Hinblick auf die Black–Scholes-Formel ben¨ otigen wir den folgenden Zentralen Grenzwertsatz f¨ ur Binomialverteilungen. Im Spezialfall pn ≡ p ist dieser Satz auch unter dem Namen Zentraler Grenzwertsatz von de Moivre–Laplace bekannt. 9.49 Satz. (Zentraler Grenzwertsatz f¨ ur Binomialverteilungen) Es sei (pn )n≥1 eine Folge mit 0 < pn < 1, n ≥ 1, und limn→∞ pn = p, wobei 0 < p < 1. Sind dann Z1 , Z2 , . . . Zufallsvariablen mit den Binomialverteilungen Zn ∼ Bin(n, pn ), n ≥ 1, so gilt
Zn − npn d −→ N (0, 1) npn (1 − pn )
f¨ ur n → ∞.
9.8 Die Black–Scholes-Formel
449
Beweis: Sind Xn,1 , Xn,2 , . . . , Xn,n unabh¨angige und je Bin(1, pn )-verteilte Zufallsvariablen, so besitzt (nach der Erzeugungsweise der Binomialverteilung, vgl. I.4.9.1) die Zufallsvariable Zn := Xn,1 + . . . + Xn,n die Binomialverteilung Bin(n, pn ). Im Vergleich zur Situation von Satz 9.48 haben wir es hier nicht mit einer unendlichen Folge X1 , X2 , . . . , unabh¨ angiger und identisch verteilter Zufallsvariablen, sondern f¨ ur jedes n ≥ 1 mit n Zufallsvariablen Xn,1 , Xn,2 , . . . , Xn,n zu tun. Trotz dieser auf den ersten Blick andersartigen Situation k¨ onnen wir die im Beweis von Satz 9.48 verwendete Methode unmittelbar u achst ist klar, dass wir alle ¨ bertragen. Zun¨ ben¨ otigten Zufallsvariablen auf ein und demselben W-Raum (Ω, A, P) definieren k¨ onnen; wir verwenden einfach die Konstruktion von Satz 9.41 mit Q1 = Bin(1, p1 ), Q2 = N (0, 1), Q3 = Bin(1, p2 ), Q4 = Bin(1, p2 ), Q5 = N (0, 1), Q6 = Bin(1, p3 ) usw. Die Zufallsvariablen mit diesen Verteilungen sind dann X1,1 , Y1 , X2,1 , X2,2 , Y2 , X3,1 usw. Gehen wir dann mit den standardisierten Zufallsvariablen Xn,j − pn Xj := , pn (1 − pn )
j = 1, . . . , n
¨ noch einmal den Beweis von Satz 9.48 durch, so zeigt sich, dass wir ohne Anderungen bis zur Ungleichung (9.64), also zu | E Dn | ≤
√ √
1 E(X12 δ(|X1 |/ n)) + E(Y12 δ(|Y1 |/ n)) , 2
gelangen. Nach Voraussetzung u ¨ber die Folge (pn ) gibt es ein c > 0 mit pn (1 − pn ) ≥ c f¨ ur jedes n ≥ 1. Wegen P(|Xn,j − pn| ≤ 1) = 1 und der Monotonie der Funktion δ(t) folgt √ √ E(X12 δ(|X1 |/ n)) ≤ c−2 δ(1/(c n)) → 0
f¨ ur n → ∞.
Satz 9.49 setzt die Existenz eines im Intervall (0, 1) liegenden Grenzwertes f¨ ur die Folge (pn ) voraus. Dagegen macht der Poissonsche Grenzwertsatz (I.5.55) die Voraussetzung npn → λ f¨ ur ein (endliches) und positives λ, also insbesondere pn → 0. In solch einer Situation sollte man die Verteilung der Partialsumme Sn also besser durch eine Poissonverteilung approximieren.
9.8 9.8.1
Die Black–Scholes-Formel* Das Cox–Ross–Rubinstein Modell
Das in I.4.10 behandelte Cox–Ross–Rubinstein Modell der Finanzmathematik (kurz: CRR-Modell) basiert auf n unabh¨angigen Bin(1, p)-verteilten Zufallsvariablen X1 , . . . , Xn , wobei 0 < p < 1. Ausgehend von einem Anfangspreis S0 > 0 ist im CRR-Modell der Preis einer Aktie zum Zeitpunkt j ∈ {1, . . . , n} durch Sj := S0 · Z1 · . . . · Zj
450
9 Stochastik e−s , falls Xj = 0, Zj := es , falls Xj = 1,
definiert. Dabei ist
mit einem Parameter s > 0. Es handelt sich also um eine symmetrische Version des Modells in I.4.10, in welcher jede Aufw¨artsbewegung durch eine nachfolgende Abw¨artsbewegung (bzw. umgekehrt) neutralisiert werden kann. Setzen wir Yj := X1 + . . . + Xj ,
j ∈ {1, . . . , n},
sowie Y0 := 0, so gilt nach Definition Sj = S0 · exp[2sYj − js],
j ∈ {0, . . . , n}.
(9.66)
F¨ ur den Zinssatz r > 0, zu dem man risikolos Geld anlegen kann, setzen wir gem¨aß (I.4.32) die Ungleichungen e−s < 1 + r < es voraus. Wir definieren p∗ :=
1 + r − e−s , es − e−s
p :=
1 ∗ s 1 (1 + r)es − 1 p e = · 1+r 1+r es − e−s
(9.67)
und betrachten zwei W-Maße P∗ und P auf (Ω, A), so dass X1 , . . . Xn bez¨ uglich ∗ ∗ P (bzw. P ) unabh¨angig und Bin(1, p )-verteilt (bzw. Bin(1, p )-verteilt) sind (es gilt 0 < p∗ , p < 1!). Nach 9.3.5 ist die Existenz dieser W-Maße gesichert. Der folgende Satz liefert den fairen Preis eines Europ¨ aischen Calls, d.h. einer Option, die dem Besitzer das Recht einr¨ aumt, die Aktie nach Ablauf der n Handelsperioden zu einem zum Zeitpunkt 0 festgelegten Basispreis K zu kaufen. 9.50 Satz. (Zeitdiskrete Black–Scholes-Formel) Der faire Preis P eines Europ¨aischen Calls mit Basispreis K > 0 ist P = S0 · P (Yn > an ) − (1 + r)−n K · P∗ (Yn > an )
(9.68)
mit an :=
ln K − ln S0 n + . 2s 2
(9.69)
Beweis: Ausgangspunkt ist das aus I.4.10 bekannte Ergebnis P = (1 + r)−n E∗ (max(Sn − K, 0)) = (1 + r)−n E∗ 1{Sn >K} (Sn − K), uglich P∗ bezeichnet. Setzen wir hier (9.66) ein, so wobei E∗ den Erwartungswert bez¨ ergibt sich aus der Linearit¨at des Erwartungswertes sowie Satz 9.25 (iii)
P = (1 + r)−n S0 E∗ 1{Sn >K} exp[2sYn − ns] − (1 + r)−n KP∗ (Sn > K). (9.70)
9.8 Die Black–Scholes-Formel
451
Um den ersten Summanden geeignet umzuschreiben, benutzen wir die Gleichungen p es , = p∗ 1+r
1 − p e−s . = 1 − p∗ 1+r
(9.71)
Von diesen ergibt sich die erste aus der Definition von p und die zweite durch eine direkte Rechnung. Nun ist Yn unter P∗ Bin(n, p∗ )-verteilt und unter P Bin(n, p )-verteilt. Ist g : N0 → [0, ∞) eine beliebige Funktion, so k¨onnen wir mit der Transformationsformel ucken: und (9.71) den Erwartungswert von g(Yn ) unter P wie folgt durch P∗ ausdr¨ n n (p )k (1 − p )n−k g(k) E g(Yn ) = k k=0 n n −n (p∗ )k (1 − p∗ )n−k eks e−(n−k)s g(k) = (1 + r) k k=0
= (1 + r)−n E∗ exp[2sYn − ns]g(Yn ). Mit g(Yn ) := 1{Yn >an } = 1{Sn >K} folgt dann die Behauptung (9.68) aus (9.70).
9.8.2
Der Grenzu ¨ bergang zu unendlich vielen Handelsperioden
Wir untersuchen jetzt das CRR-Modell mit von n ∈ N abh¨ angenden Parametern sn und rn und fragen nach dem Verhalten des durch (9.68) gegebenen Black– Scholes-Preises Pn f¨ ur n → ∞. Dabei stellen wir uns vor, dass ein Zeitintervall [0, T ] (T > 0) in n Handelsperioden [T j/n, T (j + 1)/n], j ∈ {0, . . . , n − 1}, unterteilt sei. Die in (9.68) auftretenden W-Maße P∗ und P werden jetzt mit einem unteren Index n versehen (also: P∗n und Pn ) und die Zufallsvariablen Xj , Yj und Sj werden doppelt indiziert, also: Xn,j , Yn,j und Sn,j . Die Zufallsvariable Sn,j beschreibt dann den Aktienpreis zum Zeitpunkt T j/n. Dabei soll der Anfangspreis S0 = Sn,0 nicht von n abh¨angen. F¨ ur große n werden die einzelnen Handelsperioden sehr kurz, so dass der Handel nahezu kontinuierlich erfolgen kann. Zur Untersuchung von Pn muss die Abh¨angigkeit der Parameter sn und rn von n ∈ N spezifiziert werden. F¨ ur den Zinssatz rn machen wir den Ansatz rn := exp[ρT /n] − 1 f¨ ur ein fest vorgegebenes ρ > 0. Dann ist (1 + rn )j = exp[ρT j/n],
j = 0, . . . , n,
so dass ρ als Zinssatz bei kontinuierlicher Verzinsung (vgl. I.5.1.12) interpretiert werden kann. Es wird sich zeigen, dass die weitere Modellannahme sn := σ T /n, σ > 0, garantiert, dass Pn einen Grenzwert besitzt. Diese Voraussetzung impliziert, dass die Varianz von Sn,n unter P∗n f¨ ur n → ∞ gegen σ 2 T konvergiert (vgl. (9.76)). Man nennt den Parameter σ auch die Volatilit¨at des Aktienkurses.
452
9 Stochastik
9.51 Satz. (Black–Scholes-Formel) Unter den obigen Voraussetzungen gilt f¨ ur den fairen Preis Pn eines Europ¨aischen Calls mit Basispreis K > 0 lim Pn = S0 Φ(d1 (S0 , T )) − Ke−ρt Φ(d2 (S0 , T ))
(9.72)
n→∞
mit d1 (x, t) :=
√ d2 (x, t) := d1 (x, t) − σ t
ln x − ln K + (ρ + σ 2 /2)t √ , σ t
(9.73)
f¨ ur x > 0 und t > 0. Dabei bezeichnet Φ die Verteilungsfunktion der Standardnormalverteilung. Beweis: Der Einfachheit soll S0 = 1 und ρ = 0 angenommen werden. Gem¨ aß (9.67) setzen wir p∗n :=
1 − e−sn , esn − e−sn
pn := p∗n esn = 1 − p∗n .
Mit den (unter P∗n bzw. Pn ) standardisierten Zufallsvariablen Yn,n − np∗n , Yn∗ := np∗n (1 − p∗n )
Yn,n − npn Yn := npn (1 − pn )
gilt nach (9.68) Pn = Pn (Yn > an ) − (1 + r)−n K · P∗n (Yn∗ > a∗n ) mit a∗n
(9.74)
√ 1 n( − p∗n ) := = + 2 np∗n (1 − p∗n ) 2σ T p∗n(1 − p∗n ) p∗n (1 − p∗n ) an − np∗n
ln K
und einer analogen Formel f¨ ur an . Eine Taylorentwicklung ergibt √ √n esn + e−sn − 2 √ 1 n s2n + un s3n n = − p∗n = · · 2 2 esn − e−sn 2 2sn + vn s3n mit gewissen beschr¨ankten positiven Folgen (un ) und (vn ). Wegen sn = σ σ√ √ 1 − p∗n = n T n→∞ 2 4 lim
Insbesondere erhalten wir limn→∞ p∗n = limn→∞ pn = 1/2 sowie lim a∗ n→∞ n
√ σ T ln K = √ + , 2 σ T
lim a n→∞ n
√ σ T ln K = √ − . 2 σ T
T /n folgt (9.75)
9.8 Die Black–Scholes-Formel
453
Mit diesen Grenzwerten gehen wir jetzt in die Formel (9.74) und benutzen den Zentralen Grenzwertsatz 9.49. Weil wegen der Stetigkeit von Φ nach Satz 9.44 sogar die gleichm¨ aßige Konvergenz der Verteilungsfunktionen vorliegt, erhalten wir √ √ ln K σ T σ T ln K √ − √ + lim Pn = 1 − Φ −K 1−Φ n→∞ 2 2 σ T σ T √ √ ln K σ T σ T ln K − KΦ − √ − =Φ − √ + 2 2 σ T σ T und damit die Behauptung des Satzes.
9.8.3
Die geometrische Brownsche Bewegung
Wir betrachten einen W-Raum (Ω, A, P∗ ), so dass die oben eingef¨ uhrten Zufallsvariablen Xn,1 , . . . , Xn,n unter P∗ f¨ ur jedes n ∈ N unabh¨ angig und Bin(1, p∗n )verteilt sind. F¨ ur t = (j/n)T , j ∈ {0, . . . , n}, setzen wir X (n) (t) := 2sn Yn,j − jsn . F¨ ur alle anderen t ∈ [0, T ] definieren wir X (n) (t) durch lineare Interpolation. Setzen wir zun¨achst wieder ρ = 0 voraus, so gilt f¨ ur t = (j/n)T 2σt √ ∗ E∗ X (n) (t) = sn (2jp∗n − j) = 2sn j(p∗n − 1/2) = √ n(pn − 1/2). T Damit folgt aus (9.75) f¨ ur große n E∗ X (n) (t) ≈ −
σ2t . 2
F¨ ur die Varianz V∗ (X (n) (t)) von X (n) (t) unter P∗ gilt V∗ (X (n) (t)) = 4s2n V∗ (Yn,j ) = 4s2n jp∗n (1 − p∗n ) = 4s2n ·
nt ∗ · pn (1 − p∗n ) ≈ σ 2 t. T (9.76)
Der Zentrale Grenzwertsatz legt nahe, dass es f¨ ur jedes t ∈ [0, T ] eine Zufallsva2 riable mit der Normalverteilung N (− σ2 t , σ 2 t) gibt, so dass d X (n) (t) −→ X(t)
f¨ ur n → ∞.
Tats¨achlich konvergieren sogar die stochastischen Prozesse {X (n) (t) : t ∈ [0, T ]} in Verteilung (in einem wohldefinierten Sinne) gegen den stochastischen Prozess {X(t) : t ∈ [0, T ]} mit σ2 t , t ∈ [0, T ]. (9.77) 2 Hierbei ist {B(t) : t ∈ [0, T ]} eine Brownsche Bewegung (vgl. Beispiel 9.4) d.h. eine Menge von Zufallsvariablen B(t), t ∈ [0, T ], mit folgenden Eigenschaften: X(t) := σB(t) −
454
9 Stochastik
(i) Es ist B(0) = 0, und B(t) ist f¨ ur jedes t ∈ (0, T ] N (0, t)-verteilt. (ii) F¨ ur jedes m ∈ N und alle t1 , . . . , tm mit 0 ≤ t1 < . . . < tm ≤ T sind die Zufallsvariablen B(t1 ), B(t2 ) − B(t1 ), . . . , B(tm ) − B(tm−1 ) stochastisch unabh¨angig. (iii) Die sog. Pfade t → B(t)(ω) sind f¨ ur jedes ω ∈ Ω stetig. Der Prozess {X(t)} heißt Brownsche Bewegung mit Volatilit¨at σ und Drift −σ 2 t/2. Bild 9.10 links zeigt zwei simulierte Pfade dieses Prozesses. σB(t) − tσ 2 /2
S0 exp(σB(t) − tσ2 /2)
S0 T 0
t
0 T
t
2
−tσ /2
Bild 9.10: Simulierte Pfade der Brownschen Bewegung mit Drift (links) und der geometrischen Brownschen Bewegung (rechts) Analog konvergieren die stochastischen Prozesse {S0 exp[X (n) (t)] : t ∈ [0, T ]} in Verteilung gegen den stochastischen Prozess {S(t) : t ∈ [0, T ]} mit St = S0 exp[σBt − tσ 2 /2],
0 ≤ t ≤ T.
(9.78)
Dieser stochastische Prozess heißt auch geometrische Brownsche Bewegung (siehe Bild 9.10 rechts). Die spezielle Form der Drift in (9.78) erkl¨ art sich durch die Normierungsbedingung E∗ exp[σBt − σ2 t/2] = 1,
(9.79)
welche wegen exp[σBt − σ2 t/2] ∼ LN (−σ 2 t/2, σ 2 t) aus Tabelle 9.1 folgt. Wegen Gleichung (9.79) nennt man P∗ (wie schon im diskreten Fall) risikoneutrales Maß. ¨ Die bisherigen Uberlegungen galten f¨ ur den Fall ρ = 0. Im allgemeinen Fall (n) konvergiert {S0 exp[X (t) : t ∈ [0, T ]} in Verteilung gegen St = S0 exp[σBt + t(ρ − σ2 /2)],
0 ≤ t ≤ T.
(9.80)
9.8 Die Black–Scholes-Formel
455
Dann ist E∗ S(t) = eρt , in kompletter Analogie zu (I.4.84). Wegen S0 exp[X (n) (t)] = Sn,j
falls t = jT /n f¨ ur ein j ∈ {0, . . . , n}
kann der Black–Scholes-Preis (9.72) als fairer Preis eines Europ¨ aischen Calls mit Basispreis K und Aus¨ ubungszeitpunkt T interpretiert werden, wenn der Handel kontinuierlich erfolgen kann und der Preis der Aktie (unter dem risikolosen Maß) einer geometrischen Brownschen Bewegung folgt. Dieses grundlegende Resultat der Finanzmathematik ist das wesentliche Ergebnis in Black und Scholes (1973).
9.8.4
Diskussion der Black–Scholes-Formel
Um die Abh¨angigkeit des Black–Scholes-Preises von den verschiedenen Parametern zu untersuchen, definieren wir P (x, t, σ, ρ, K) := xΦ(d1 (x, t, σ, ρ, K)) − Ke−ρt Φ(d2 (x, t, σ, ρ, K)). Dabei sind die Funktionen d1 und d2 durch die rechten Seiten von (9.73) erkl¨ art. Die Funktion P liefert den Preis eines Europ¨ aischen Calls in Abh¨ angigkeit vom aktuellen Aktienpreis x, der Laufzeit t, der Volatilit¨ at σ, dem Zinssatz ρ und dem Basispreis K. Im n¨achsten Satz bezeichnet ϕ := Φ die Dichte der Standardnormalverteilung. Um die Formeln zu vereinfachen, werden die jeweils nicht interessierenden Variablen meist weggelassen. 9.52 Satz. (Eigenschaften des Black–Scholes-Preises) Der Black–Scholes-Preis besitzt die folgenden Eigenschaften: (i) Es gilt limt→0 P (x, t, σ, ρ, K) = max(x − K, 0). 2
∂d1 ∂ P (ii) Es gilt ∂P ∂x = Φ(d1 ) > 0 und ∂x2 = ϕ(d1 ) ∂x > 0. Als Funktion des Aktienpreises ist P also streng monoton wachsend und streng konvex.
−ρt Φ(d ) + σϕ(d √ 2 ) > 0. Als Funktion der Laufzeit ist P (iii) Es gilt ∂P 2 ∂t = Kρe 2 t damit streng monoton wachsend. √ −ρt ϕ(d ) t > 0. Als Funktion der Volatilit¨ (iv) Es gilt ∂P at ist P also 2 ∂σ = Ke streng monoton wachsend. −ρt Φ(d ) > 0. Als Funktion des Zinssatzes ist P damit (v) Es gilt ∂P 2 ∂ρ = Kte streng monoton wachsend. ∂P (vi) Es gilt ∂K = −Ke−ρt Φ(d2 ) < 0. Als Funktion des Basispreises ist P damit streng monoton fallend.
456
9 Stochastik
Beweis: F¨ ur x > K gilt limt→0 d1 (t) = limt→0 d2 (t) = ∞. F¨ ur x = K (bzw. x < K) sind diese Grenzwerte gleich 0 (bzw. −∞). Wegen Φ(∞) = 1 und Φ(−∞) = 0 erhalten wir daraus (i). Zur √ ist die durch direktes Einsetzen von d1 √ Berechnung der Ableitungen und d2 = d1 − σ t in die Funktion ϕ(y) = 1/ 2π exp[−y 2 /2] zu best¨ atigende Identit¨ at xϕ(d1 ) = Ke−ρt ϕ(d2 ) sehr hilfreich. Mit dieser Formel k¨onnen (ii)–(vi) leicht mittels der Kettenregel hergeleitet werden. Die Details dieser Rechnungen seien dem Leser u ¨ berlassen.
Aussage (i) ist plausibel. K¨onnte die Option n¨ amlich sofort ausge¨ ubt werden, so h¨atte sie einen Wert von max(x − K, 0). Die partielle Ableitung ∂P ∂x = Φ(d1 ) wird auch als Delta der Option bezeichnet. Man kann zeigen, dass Φ(d1 (S(t), T − t)) den Aktienanteil in einem die Option absichernden Portfolio zum Zeitpunkt t darstellt. Dabei ist T der Aus¨ ubungszeitpunkt und T −t die Restlaufzeit der Option. Die zweite partielle Ableitung ∂P ∂x heißt Gamma der Option. Sie beschreibt, wie sensibel das absichernde Portfolio ¨ gegen¨ uber Anderungen des Aktienpreises ist. Die partielle Ableitung ∂P ∂σ wird auch als Lambda der Option bezeichnet. F¨ ur weiterf¨ uhrende Informationen zum Black–Scholes Modell und zur Finanzmathematik sei z.B. auf Korn und Korn (2001) verwiesen.
Lernziel-Kontrolle • Was ist ein Wahrscheinlichkeitsraum? • Was sind eine Zufallsvariable und deren Verteilung? • Was sind eine absolut stetige bzw. eine diskrete Verteilung? • Welche Bedeutung besitzt die Quantil-Transformation? • Wie ist die Unabh¨angigkeit von Mengensystemen und Zufallsvariablen definiert? • Was besagt das Blockungslemma f¨ ur unabh¨ angige Zufallsvariablen? • Wie bestimmt man eine marginale Dichte aus einer gemeinsamen Dichte? • Wie ist der Erwartungswert einer Zufallsvariablen definiert? • Wie berechnet man Erwartungswert, Varianz und Momente f¨ ur diskrete und absolut stetige Zufallsvariablen? • Wie standardisiert man eine Zufallsvariable? • Wie sind die Kovarianz und der Korrelationskoeffizient definiert? • Was ist eine mehrdimensionale Normalverteilung? • Was besagt das schwache Gesetz großer Zahlen? • Was besagt der Zentrale Grenzwertsatz?
Literaturverzeichnis Black, F. und Scholes, M. (1973): The pricing of options and corporate liabilities, J. Political Econom. 81, 637-654. Doetsch, G. (1976): Einf¨ uhrung in die Theorie und Anwendung der Laplacetransformation, 3. Auflage, Birkh¨auser, Basel. Fischer, G. (2010): Lineare Algebra, 17. Auflage, Vieweg, Braunschweig. Hanke–Bourgeois, M. (2009): Grundlagen der Numerischen Mathematik und des Wissenschaftlichen Rechnens, 3. Auflage, Teubner, Stuttgart. Henze, N. (2010): Stochastik f¨ ur Einsteiger, 8. Auflage, Vieweg, Braunschweig. Heuser, H. (2009): Lehrbuch der Analysis, Teil 1, 17. Auflage, Teubner, Stuttgart. Heuser, H. (2008): Lehrbuch der Analysis, Teil 2, 14. Auflage, Teubner, Stuttgart. Heuser, H. (2004): Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen, 4. Auflage, Teubner, Stuttgart. Irle, A. (2005): Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, Grundlagen – Resultate – Anwendungen, 2. Auflage, Teubner, Stuttgart. Korn, R. und Korn, E. (2001): Optionsbewertung und Portfolio-Optimierung – Moderne Methoden der Finanzmathematik, 2. Auflage, Vieweg, Braunschweig. Krengel, U. (2005): Einf¨ uhrung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, 8. Auflage, Vieweg, Braunschweig. Leinert, M. (1995): Integration und Maß, Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden. Walter, W. (2002): Analysis 2, 5. Auflage, Springer, Berlin. Walter, W. (2000): Gew¨ ohnliche Differentialgleichungen, 7. Auflage, Springer, Berlin.
Symbolverzeichnis N = {1, 2, 3, 4, . . .}
Menge der nat¨ urlichen Zahlen
N0 = {0, 1, 2, . . .}
Menge der nichtnegativen ganzen Zahlen
Z = {0, 1, −1, 2, −2, . . .} Q = {p/q : p ∈ Z, q ∈ N}
Menge der ganzen Zahlen Menge der rationalen Zahlen, 11
R = (−∞, ∞) ¯ = R ∪ {−∞, ∞} R
Menge der reellen Zahlen, 11, 73 erweiterte Zahlengerade
C x2
Menge der komplexen Zahlen, 179 euklidische Norm des Vektors x, 2
B(x, r)
abgeschlossene Kugel mit Mittelpunkt x und Radius r, 8
0
B (x, r) 0
M , ∂M, M ∂f , ∂j f fxj , ∂xj
offene Kugel mit Mittelpunkt x und Radius r, 8 Inneres, Rand und abgeschlossene H¨ ulle der Menge M , 9, 10 partielle Ableitung von f , 22
grad f (a) = f (a) 1M
Gradient von f an der Stelle a, 24 Indikatorfunktion der Menge M , 87
Re(z), Im(z) z¯
Real- und Imagin¨arteil einer komplexen Zahl z, 179 konjugiert komplexe Zahl von z, 181
|z|
Betrag der komplexen Zahl z, 181 f (x) dx
M p
Riemann- bzw. Lebesgue-Integral der Fkt. f , 86, 91, 273
L (M ; K)
Menge der p-fach integrierb., K-wert. Funkt.’n auf M , 280
f ∗g fk ↑ f
Faltung der Funktionen f und g, 289 aufsteigende Funktionenfolge, 298
(Ω, A)
Messraum, 297
(Ω, A, μ)
Maßraum, 301
+
f ,f δω
−
Positivteil und Negativteil der Funktion f , 300 Dirac-Maß im Punkt ω, 302
Bn
Borelsche σ-Algebra in Rn , 297
S n−1 [a, b]
Einheitssph¨are, 42 Verbindungsstrecke zwischen a und b, 47
Hf (a) Jf (a) = f (a)
Hesse-Matrix von f an der Stelle a, 49 Jacobi-Matrix von f an der Stelle a, 54
Index Abelsche Gruppe, 193 abgeschlossene H¨ ulle, 10, 206 abgeschlossene Kugel, 8, 206 abgeschlossene Menge, 10, 206 Ableitung, 30, 55 absolut stetige Verteilung, 408 Abstand, 6, 204, 223 Additionsgesetz f¨ ur die Gammaverteilung, 419 f¨ ur die Normalverteilung, 419 Additionstheoreme, 186 ahnliche Matrizen, 243 ¨ ¨ Aquivalenz von Normen, 7, 211 außeres Lebesgue-Maß, 267 ¨ außeres Maß, 304 ¨ affine Funktion, 32, 421 affine Vorhersagbarkeit, 435 algebraische Vielfachheit, 247 allgemeiner Transformationssatz, 425 Amplitude, 321 Anfangswertproblem, 362, 366, 369, 370 Approximation durch Elementarfunktionen, 298 integrierbarer Funktionen, 294 messbarer durch offene Mengen, 293 offener Mengen, 293 Approximationssatz von Weierstraß, 207 Archimedische Spirale, 167 Argument einer komplexen Zahl, 187 Ars Conjectandi, 443 Assoziativgesetze in Vektorr¨aumen, 193 asymptotische Verteilung, 444 Banach, 217 Banachraum, 217 Banachscher Fixpunktsatz, 220 Basis, 198 Basisdarstellung, 142, 238
Basispreis, 450 Basiswechsel, 240 Bernˇstein, 207 Bernˇstein-Polynom, 207 beschr¨ ankte Folge, 5 beschr¨ ankte Funktion, 19 beschr¨ ankte Menge, 12, 208 Besselsche Ungleichung, 235 Beta-Funktion, 291 Betrag einer komplexen Zahl, 181 Betragssummennorm, 6 Bewegung, 158 Bild einer Kurve, 37 Bild einer linearen Abbildung, 202 Binomialverteilung, 408 Black–Scholes-Formel, 452 zeitdiskrete, 450 Blockcode, 224 Blockungslemma, 414 Bogenl¨ ange, 42 Borel, 12 Borelsche Mengen, 297 Borelsche σ-Algebra, 297 Brownsche Bewegung, 403, 453 Carath´eodory, 270 Cauchy–Schwarzsche Ungleichung, 282, 434 Cauchy-Folge, 4 im Rn , 4 in einem metrischen Raum, 225 in normierten R¨ aumen, 217 Cavalieri, 117 charakteristisches Polynom einer linearen Abbildung, 246 einer linearen DGL, 376 einer Matrix, 246 Chi-Quadrat-Verteilung, 420
227,
460 Cholesky-Zerlegung, 262 C k -Funktion, 26 Cobb–Douglas-Funktion, 72 Cox–Ross–Rubinstein Modell, 449
Index Dreiecksungleichung f¨ ur allgemeine Integrale, 312 f¨ ur das Riemann-Integral, 105 f¨ ur komplexe Zahlen, 182 f¨ ur komplexwertige Integrale, 279 f¨ ur Normen, 204 f¨ ur vektorwertige Integrale, 108 Drift, 454 d-System, 296 Durchmesser einer Menge, 100 durchschnittsstab. Mengensystem, 295
Darboux-Integral, 86 Darstellung(smatrix), 201, 238 de Moivre, 187 Definitheit einer Norm, 204 Delta der Option, 456 Determinante, 16 einer linearen Abbildung, 140 Eigenfrequenz, 385 einer Matrix, 142 Eigenraum, 245 Multiplikationssatz, 141 Eigenvektor, 244 Determinantenform, 134 Determinantenkriterien f¨ ur Definitheit, 16, Eigenwert, 244 algebraische Vielfachheit, 247 260 geometrische Vielfachheit, 248 diagonalisierbare Matrix, 250 Eindeutigkeitssatz Diagonalmatrix, 154 f¨ ur die Fourierreihe, 337 Dichte, 286, 302, 316 f¨ ur die Fourier-Transformation, 350 Dichte eines W-Maßes, 404 f¨ ur die Laplace-Transformat., 392 dichte Menge, 337 f¨ ur Maße, 304 Diffeomorphismus, 164 Einheitsmatrix, 240 Differentialgeometrie, 68 Einheitssph¨ are, 42 Differentialgleichung, 353 Elementarfunktion, 106, 298 erster Ordnung, 354 Ellipse, 37, 166 explizite, 354 Ellipsoid, 155 gew¨ ohnliche, 354 empirische Regressionsgerade, 436 implizite, 354 empirischerKorrelationskoeffizient, 437 lineare mit konst. Koeff., 375 Entwicklungssatz von Laplace, 147 logistische, 359 Erregerfrequenz, 385 n-ter Ordnung, 354 Erwartungswert, 423 partielle, 354 Eigenschaften, 424 trennbare, 360 Erwartungswertvektor, 432 differenzierbare Funktion, 30 Erzeugendensystem, 197 Differenzierbarkeit Erzeuger, 296 einer vektorwertigen Funktion, 55 euklidischer Vektorraum, 253 komplexwertiger Funktionen, 329 Eulersche Formel, 186 Dimension, 198 Eulersches Polygonzugverfahren, 396 Dimensionsformel, 202 Europ¨ aischer Call, 450 Dirac, 302 explizite Differentialgleichung, 354 Dirac-Maß, 302 Exponentialfunktion, 185 diskretes Wahrscheinlichkeitsmaß, 404 Exponentialverteilung, 347, 409, 445 Drehachse, 258 exponentieller Zerfallsprozess, 358 Drehung, 158, 257 exponentielles Wachstum, 355 Drehwinkel, 258 Extremwertverteilung von Gumbel, 445 Dreiecksmatrix, 145
Index
461
Faltung, 289, 351 Faltungsformel f¨ ur Dichten, 419 Fatou, 309 Feinheit einer Partition, 100 Feinheit einer Zerlegung, 84 Fixpunkt, 220 Fl¨ ache, 68 Folge Grenzwert einer, 3, 206 im Rn , 2 in einem Vektorraum, 206 konvergente, 3, 206 von Funktionen, 299 von Mengen, 295 folgenkompakte Menge, 12 Folgenraum komplexer, 195, 232 reeller, 194 Formel von de Moivre, 187 Fourier, 321 Fourier-Transformation, 345 Fourierapproximation, 324 Fourierkoeffizienten, 234 Fourierreihe, 234, 324 Eindeutigkeitssatz, 337 gleichm¨ aßige Konvergenz, 329, 338 Konvergenzsatz, 332 L2 -Konvergenz, 335 fremde Mengen, 89 Frequenzbereich, 345 Fubini, 115 Fundamentalsatz der Algebra, 190 Fundamentalsystem, 372 Funktion C k , 26 k-mal partiell differenzierbare, 26 k-mal stetig partiell diff.bare, 26 h¨ olderstetige, 332 integrierbare, 274 Lipschitzstetige, 150 messbare, 277, 297 st¨ uckweise stetig diff.bare, 329
gemeinsame Verteilung, 406 geometrische Brownsche Bewegung, 454 geometrische Reihe, 183 geometrische Verteilung, 408 geometrische Vielfachheit, 248 gerade Funktion, 325 gew¨ ohnliche Differentialgleichung, 354 Gibbs, 340 Gibbs-Ph¨ anomen, 340 gleichm¨ aßige Stetigkeit, 20, 213 Gleichverteilung, 290, 347, 409 globales Maximum, 50 Gompertz, 365 ¨ Gompertzsche Uberlebensfunktion, 365 Grad eines Polynoms, 190 Gradient, 24 Grenzverteilung, 444 Grenzwert einer Folge, 3, 182, 206 einer Funktion, 21 Gumbel, 445
Galton, 436 Gamma der Option, 456 Gammaverteilung, 286, 409, 428 gemeinsame Dichte, 409
identisch verteilt, 416 Identit¨ atssatz f¨ ur Polynome, 190 imagin¨ are Achse, 179 imagin¨ are Einheit, 179
H¨aufungspunkt, 20 H¨older, 281 Halbschrittverfahren, 398 Halbwertszeit, 358 Hamming, 224 Hammingabstand, 224 harmonische Schwingung, 321 Hauptachsentransformation, 258 Heine, 12 Hermite, 252 hermitesche Matrix, 252 Hesse, 49 Hesse-Matrix, 49 Hilbert, 232 Hilbertraum, 232 H¨ohenlinie, 42, 68 H¨oldersche Ungleichung, 281 h¨olderstetige Funktion, 332 Homogenit¨ at einer Norm, 204 Hooke, 380
462
Index
Jacobi, 54 Jacobi-Determinante, 160 Jacobi-Matrix, 54 Jordan, 92 Jordan-Inhalt, 92 Jordan-K¨ astchen, 252 Jordan-messbare Menge, 92 Jordan-Messbarkeit, 92 Kriterium f¨ ur, 99
komplexe Reihe, 183 absolut konvergente, 183 geometrische, 183 komplexe Zahlen, 179 komplexer Vektorraum, 193 Kongruenzabbildung, 156 konjugiert komplexe Zahl, 181 kontrahierende Abbildung, 220 Kontraktion, 220 Kontraktionskonstante, 220 Konvergenz, 206 in normierten R¨ aumen, 206 komplexer Zahlen, 182 von Folgen, 3 Konvergenzradius, 184 konvexe Menge, 124, 150 Koordinaten, 161, 199 Koordinatenfolge, 2 Koordinatensystem, 199 Koordinatenvektor, 199 Korrelationskoeffizient, 433 empirischer, 437 Kosinus, 185 Kosinusdarstellung des Sinus, 338 Kovarianz, 430 Eigenschaften, 430 Kovarianzmatrix, 432 Kreisfrequenz, 321 Kreissektor, 122 Kreisumfang, 42 Kugel, 8, 206 Kugelkoordinaten, 170 Kugeloberfl¨ ache, 124 Kugelumgebung, 8 Kugelvolumen, 119 Kurve, 37
K¨orper der komplexen Zahlen, 179 kanonisches Modell, 416 Kegel, 119 Kern einer linearen Abbildung, 202 Kettenregel, 35 allgemeine, 57 Kommutativgesetze in Vektorr¨aum., 193 kompakte Menge, 12, 208 komplexe Einheitswurzeln, 188 komplexe Potenzreihe, 184
L¨ ange einer Kurve, 41 L¨ osung einer Differentialgleichung, 353 L´evy, 447 Lagrange, 74 Lagrange-Funktion, 75 Lagrange-Multiplikatoren, 75 Lagrangesche Multiplikatorenregel, 74 Lambda der Option, 456 λk -Dichte, 409 Laplace-Transformation, 387
Imagin¨ arteil einer komplexen Zahl, 179 implizit definierte Funktionen, 60 implizite Differentialgleichung, 354 implizite Differentiation, 65 indefinite Matrix, 15 Indikatorfunktion, 87 innerer Punkt, 9, 206 Inneres einer Menge, 9 Integral, 274 einer Elementarfunktion, 306 einer komplexwertigen Funkt., 279 einer messbaren Funktion, 310 einer nichtnegativen Funktion, 308 oberes, 91 Riemann, 86 unteres, 91 Integralnorm, 205 Integralsinus, 288 Integrand, 86, 91, 273, 310 Integrationsbereich, 86, 91, 273, 313 integrierbare Funktion, 274, 310 invarianter Unterraum, 243 inverse Fourier-Transformation, 348 inverse Matrix, 240 isometrische Abbildung, 156, 256 Isomorphismus, 203
Index Laplace-Transformierte, 387 Lebesgue, 107 Lebesgue-Dichte, 404 Lebesgue-Integrierbarkeit, 273 Lebesgue-Maß, 271 Lebesgue-messbare Menge, 270 Lebesgue-Partition, 272 Lebesguesche Nullmenge, 107, 274 Lebesguesches Integrabilit¨atskrit., 107 Lee, 435 Leibnizsche Sektorformel, 167 Lemma von Fatou, 309 Libby, 359 Lindeberg, 447 Lindel¨ of, 366 linear unabh¨ angige Menge, 197 lineare Abbildung, 201 lineare Abh¨ angigkeit, 197 lineare Differentialgleichung erster Ordnung, 361 homogene, 362, 370 inhomogene, 362, 370 mit konstanten Koeffizienten, 375 n-ter Ordnung, 370 lineare Fortsetzung, 201 lineare Unabh¨ angigkeit, 197 Linienelement, 355 Lipschitz, 150 Lipschitzbedingung, 150, 366 Lipschitzkonstante, 150 Lipschitzstetigkeit, 150 logarithmische Normalverteilung, 422 logistische Differentialgleichung, 359 lokale Extremalstelle, 50 lokale Maximalstelle, 50 lokale Minimalstelle, 50 lokales Maximum, 50 hinreichendes Kriterium f¨ ur, 51 strenges, 50 unter Nebenbedingung, 73 lokales Minimum, 50 hinreichendes Kriterium f¨ ur, 51 unter Nebenbedingung, 73 Lp -Norm, 280, 319 Lp -Raum, 280, 319 marginale Dichte, 417
463 Marginalverteilung, 417 Masse, 128 Massendichte, 128 Maßraum, 301 Matrix, 237 diagonalisierbare, 250 hermitesche, 252 inverse, 240 regul¨ are, 240 unit¨ are, 255 Matrixprodukt, 239 Maximumsnorm, 6 Maß, 301 mehrdimensionale Normalvert., 438 Dichte, 438 Existenzsatz, 439 Mengensystem, 101, 295 messbare Funktion, 277, 297 messbare Menge, 297, 304 Messbarkeit, 313 Messraum, 297 Methode der kleinsten Quadrate, 436 Metrik, 223 metrischer Raum, 223 Min-Max-Eigenschaft, 19, 211 Minimalabstand, 224 Minkowski, H., 124 Minkowski-Ungleichung, 282 Mittelwertabsch¨ atzung, 59 Mittelwerteigenschaft der Fourierreihen, 333 Mittelwertsatz, 48 der Integralrechnung, 105 mittlere quadratische Abweichung, 433 Moment k-tes, 427 k-tes zentrales, 427 p-tes absolutes, 427 Monotoner Klassensatz, 296 multilineare Abbildung, 134 Multinomialverteilung, 408 Multiplikatorenregel von Lagrange, 74 Multiplizit¨ at, 190 negativ definite Matrix, 15 negativ semidefinite Matrix, 15 negative Binomialverteilung, 408
464 Negativteil einer Funktion, 300 Newton-Verfahren, 222 Norm, 6, 204 Norm einer Matrix, 59 Normalbereich, 126 Normalverteilung, 169, 286, 348, 409, 422 normierter Raum, 204 vollst¨ andiger, 217 n-te Einheitswurzeln, 188 Nullfunktion, 195 Nullmenge, 99, 309 oberer Jordan-Inhalt, 92 oberes Darboux-Integral, 86 oberes Riemann-Integral, 86 Obersumme, 85, 272 offene Kugel, 8, 206 offene Menge, 10, 206 Operatornorm, 214 Optimierung unter Nebenbed., 71 Optimierungsproblem, 434 Ordinatenmenge, 111 orthogonal, 229 orthogonale Abbildung, 156, 256 eigentliche, 257 uneigentliche, 257 orthogonale Matrix, 157 orthogonale Projektion, 229 orthogonales Komplement, 229 Orthogonalsystem, 230 Orthonorm.verf. von E. Schmidt, 231 Orthonormalbasis, 230 Orthonormalfolge, 233 vollst¨ andige, 233 Orthonormalsystem, 230 Parallelepiped, 131 Parallelmenge, 96 Parallelogramm, 132 Parallelotop, 132 Parseval, 234 Parsevalsche Gleichung, 234, 335, 351 partielle Ableitung, 22 h¨ oherer Ordnung, 26 partielle Ableitung(sfunktion), 22 partielle Differentialgleichung, 354 partielle Differenzierbarkeit, 54
Index in einem Punkt, 22 Partition, 100 Pearson, 433 Periode, 321 periodische Fortsetzung, 326 periodische Funktion, 321 Phase, 187 Picard, 366 Poisson-Verteilung, 408 Polar-Methode, 421 polares Fl¨ achenmoment, 166, 175 Polarkoordinaten, 54, 164, 170, 187 Polynom, 46 komplexes, 190 positiv definite Matrix, 15 positiv semidefinite Matrix, 15 Positivteil einer Funktion, 300 Potenzreihe, 184 Prinzip von Cavalieri, 117 Produkt von σ-Algebren, 318 Produktmaß, 318 Produktregel f¨ ur den Erwartungswert, 426 Projektionsformel, 231 Pyramide, 119 Quader, 108, 266 verallgemeinerter, 110 quadratische Form, 14, 24, 258 Quantil-Transformation, 411 Quantilfunktion, 410 quasiintegrierbare Funktion, 310 Radiokarbonmethode, 359 Rand einer Menge, 9 Randpunkt, 9 Rang einer Matrix, 238 Realteil einer komplexen Zahl, 179 Rechteckschwingung, 327 Rechtecksumme, 93 reeller Vektorraum, 193 Regression, 436 regul¨ are Kurve, 39 regul¨ are Matrix, 240 rektifizierbare Kurve, 41 Resonanzfrequenz, 386 Restglied, 47 Richtungsableitung, 43
Index
465
Standardabweichung, 427 standardisierte Zufallsvariable, 429 Standardisierung, 429 station¨ arer Punkt, 51 Steiner, 175 Sterbeintensit¨ at, 364 stetig differenzierbare Abbildung, 57 stetig differenzierbare Funktion, 31 stetige Funktion, 13 Stetigkeit in einem Punkt, 13 S¨ agezahn-Funktion, 326, 341 in normierten R¨ aumen, 209 Sarrus, 144 Stetigkeit eines Maßes Sattelpunkt, 52 von oben, 301 Satz von unten, 301 u ¨ ber die majorisierte Konvergenz, 276, stochastischer Prozess, 453 312 st¨ uckweise stetig diff.bar, 329 u ¨ ber die monotone Konvergenz, 309 Subadditivit¨ at, 269 u ¨ ber implizite Funktionen, 63 Supremumsnorm, 204 von Bolzano–Weierstraß, 5 System von Differentialgleichungen, 369 von Fubini, 114, 287, 317 von Heine–Borel, 12 Tangente, 39 von Riemann und Lebesgue, 330 Tangentialebene, 32 von Steiner, 175 Tangentialraum, 68 von Taylor, 47 Tangentialvektor, 39 Schema von Sarrus, 145 Taylorpolynom, 47 Schnittfunktion, 18 Tetraeder, 119 Schwaches Gesetz großer Zahlen, 442 total differenzierbare Funktion, 30 von Jakob Bernoulli, 443 Tr¨agheitsmoment, 428 Schwerpunkt, 128, 424, 436 Tr¨ager Sekante, 38 einer diskreten Verteilung, 408 Sektorformel von Leibniz, 167 einer Funktion, 291 selbstadjungierte Abbildung, 253 eines diskreten Maßes, 304 σ-Additivit¨ at, 271, 301 eines diskreten W-Maßes, 404 σ-Algebra, 296 Tr¨agheitsmoment, 174 σ-endliches Maß, 317 Transformationsmatrix, 240 σ-Subadditivit¨ at, 268, 302, 304 Transformationssatz f¨ ur Integrale, 160 Signum einer Permutation, 137 Transformationssatz f¨ ur λk -Dichten, 420 Simpson-Quadraturoperator, 202 Transposition, 136 Sinus, 185 Trendgerade, 435 Sinusdarstellung des Kosinus, 339 trennbare Differentialgleichung, 360 Skalar, 194 Treppenfunktion, 106 Skalarprodukt, 225 trigonometr. Orthonormalfolge, 334 Spaltensummennorm, 216 trigonometrische Reihe, 322 Spektralfunktion, 345 Spur einer Matrix, 246 Umgebung, 8, 206 St¨ orfunktion, 370 Umkehrsatz, 70 Richtungsfeld, 355 Riemann-Integral, 86, 91 f¨ ur vektorwertige Funktionen, 108 oberes, 86 unteres, 86 Riemann-Integrierbarkeit, 86 Riemannsches Integrabilit¨atskrit., 87 risikoneutrales Maß, 454 Rotationsk¨ orper, 121 Rotationsparaboloid, 122
466 Umlegung, 158 Unabh¨ angigkeit und Blockbildung, 414 und Dichten, 418 von Ereignissen, 412 von Mengensystemen, 412 von Zufallsvariablen, 413 ungerade Funktion, 325 unit¨ arer Vektorraum, 253 unit¨ are Abbildung, 256 unit¨ are Matrix, 255 Unkorreliertheit, 431, 435 und Unabh¨ angigkeit, 431 Unterdeterminante, 144 unterer Jordan-Inhalt, 92 unteres Darboux-Integral, 86 unteres Riemann-Integral, 86 Untermatrix, 144 Unterraum, 196 Untersumme, 85, 272 Urbild-Abbildung, 406 Varianz, 427 Additionsformel, 431 Variation der Konstanten, 363, 374 Vektor, 194 Vektorraum, 193 endlichdimensionaler, 198 euklidischer, 253 unendlichdimensionaler, 198 unit¨ arer, 253 verallgemeinerter Quader, 110 Verbindungsstrecke, 47 vereinigungsstab. Mengensystem, 295 Verfeinerung, 86 Vertauschbarkeitssatz von Schwarz, 27 Verteilung absolut stetige, 408 Dichte, 409 diskrete, 407 einer Zufallsvariablen, 406 Verteilungsfunktion, 286, 409 Verteilungskonvergenz, 444 Vielfachheit einer Nullstelle, 190 Volatilit¨ at, 451 vollst¨ andig differenzierbare Funktion, 30 vollst¨ andiger metrischer Raum, 225
Index vollst¨ andiger normierter Raum, 217 vollst¨ andiges Differential, 34, 57 volumentreue Abbildung, 156 Vorhersagefehler, 433 Vorzeichen einer Permutation, 137 Wahrscheinlichkeitsmaß, 404 absolut stetiges, 404 diskretes, 404 Wahrscheinlichkeitsraum, 403 Weierstraßscher Approx.satz, 207 Wronski, 372 Wronski-Determinante, 372 Z¨ ahlmaß, 303 Zeilensummennorm, 216 Zeitbereich, 345 Zentraler Grenzwertsatz f¨ ur Binomialverteilungen, 448 von Lindeberg–L´evy, 447 Zerlegung, 84 Zielfunktion, 71 Zinssatz, 450 Zufallsvariable, 405 Zylinder, 111, 174 Zylinderkoordinaten, 172 zylindrischer Keil, 173