Masken des Todes Fünf Stories von Hugh Walker INHALTSVERZEICHNIS Einführung 1. Der Gott aus der Vergangenheit 2. Der gr...
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Masken des Todes Fünf Stories von Hugh Walker INHALTSVERZEICHNIS Einführung 1. Der Gott aus der Vergangenheit 2. Der große Hunger 3. Blut für die Hölle 4. Geliebtes Medium 5. Vollmond Einführung Horror-Autoren sind keine Ungeheuer. Sie leben von alltäglichen Nahrungsmitteln, sehen Blut meist nicht besonders gern (nicht nur das eigene) und fressen keine kleinen Kinder. Horror-Autoren sind meist furchtsamer als andere Menschen. Das hängt mit ihrer Phantasie zusammen. Aber sie sind harmlos und freundlich. Wirklich, daß mußte einmal gesagt werden. Es sieht fast so aus, als wäre ich ein wenig in Verruf gekommen, weil ich für meine Vampire, Werwölfe und dergleichen oft die Ich-Form wähle. Ich kann Sie beruhigen, es sind nicht meine Memoiren. Und Ihre Feststellung „Irgendwoher muß er es doch haben!" weise ich in diesem Zusammenhang entschieden zurück. Ich meine, es gibt Leute, die verfassen Bier- und Whisky-
Reklamen und sind keine Alkoholiker. Der vorliegende Band ist ein altes Wunschprojekt, das sich endlich realisieren ließ: meine erste Story-Sammlung. Zwei der Geschichten werden dem einen oder anderen Leser nicht mehr neu sein, nämlich BLUT FÜR DIE HÖLLE und GELIEBTES MEDIUM. Sie sind in den sechziger Jahren unter anderem Titel und unter Pseudonym erschienen. Aber da es sich um meine ersten beiden professionell veröffentlichten Horror-Stories handelt, wollte ich sie aus nostalgischen Gründen in dieser Sammlung haben. Von der ich hoffe, daß es nicht die letzte bleibt. Und daß sie Ihnen gefällt. Hugh Walker
1. Der Gott aus der Vergangenheit Ich läutete. Erleichtert vernahm ich einen Augenblick später Schritte, die sich der Tür näherten. Ich straffte mich innerlich, wappnete mich gegen eine neuerliche, bedauerliche Absage. Ein Mädchen erschien. Dunkelbraunes Haar fiel ein wenig wirr um die Schultern und umrahmte ein blasses Gesicht, das das eines Engels hätte sein können. Kinder und Engel haben vieles gemeinsam. Bestimmt war sie nicht älter als zwölf oder dreizehn. Sie hatte ein hübsches rotes Kleidchen an und stand barfuß auf dem kalten Stein. „Guten Tag", stotterte ich leicht verwirrt. „Ist Ihre Mutter da?" „Nein", antwortete sie, Panik in der Stimme. Sie wollte die Tür schließen. „Wir brauchen nichts!" „Bitte warten Sie! Ich bin kein Vertreter..." „Aber ein Mann", meinte sie. Die Tür knallte zu. „Allerdings", knurrte ich ärgerlich. „Das läßt sich nur schwer ändern!" Ich seufzte. Was nun? Es gab mehrere Möglichkeiten: Ich konnte mich in der Nähe herumtreiben, bis die Eltern des Mädchens nach Hause kamen. Ich konnte zu Freddie fahren, dort eine weitere Nacht verbringen und vielleicht am Morgen noch einmal hierherkommen. Oder ich konnte die Sache als erledigt betrachten.
Ich wollte mich eben zum Gehen wenden, als sich eine kleine Sichtluke an der Tür öffnete. Ein Auge blickte mich an. „Also was wollen Sie?" fragte das Mädchen. „Ich bin Student. Ich wollte wegen des Zimmers fragen", erklärte ich kurz - aus Angst, eine größere Beredsamkeit könnte den unwillkommenen Vertretereindruck verstärken. „Zimmer?" „Ja." Ich zog die Zeitung aus der Tasche und schwenkte sie vor dem kleinen Guckloch. „Ihre Eltern haben annonciert." „Oh!" Das Guckloch wurde verschlossen und verriegelt. „Oh", wiederholte ich ratlos. Dann zuckte ich die Achseln und wollte gehen. Gleich darauf öffnete sich aber die Tür einen Spalt. „Sie haben das Inserat unaufmerksam gelesen", meinte sie vorwurfsvoll. Es fiel mir schwer, den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. Es war schön... aber das war nicht alles. Ein Hauch von Düsternis lag hinter den dunklen Wimpern, dessen sie selbst im Augenblick nicht bewußt schien. „Ich hoffe nicht", brachte ich hervor. „Doch", widersprach sie. „Sehen Sie nach. In der letzten Zeile steht es deutlich: nur weibliche Mieter..." Ich überflog das Inserat erneut. Tatsächlich! Wie hatte ich das übersehen können? „Schade", murmelte ich. „Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit. Auf Wiedersehen..." Ich war auf halbem Weg zum Gartentor, als sie mir nachrief. Ich drehte mich um. Sie stand noch immer im Eingang und winkte mir, umzukehren. Ich zögerte nur einen Augenblick. Als ich vor ihr stand, öffnete sie die Tür weit. Zögernd trat ich ein, mein Glück noch nicht ganz fassend. Der Vorraum war dunkel, als sie die Haustür schloß. Sie eilte an mir vorbei, ohne sich umzusehen, ob ich ihr folgte. Es war wohl auch nicht nötig, denn natürlich folgte ich ihr. Sie führte mich in einen großen Raum, offensichtlich eine Bibliothek. Ich war überwältigt. Helligkeit strömte durch ein kuppelartiges Glasdach und verbreitete gedämpftes Licht. Der Raum war hoch und groß. Etwa auf halber Höhe verlief ein breiter Balkon um alle vier Wände, zu dem eine enge Spiraltreppe führte. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke vollkommen mit Regalen aus dunklem Holz verkleidet. Darin reihte sich Buch an Buch. „Gefällt es Ihnen?"
Rasch sagte ich: „Was wird Ihre Mutter sagen...?" Sie lächelte und strich ihr Haar aus dem Gesicht. „Ich werde mit ihr reden." Leben kam plötzlich in ihre zarte Gestalt. Sie eilte zu dem großen Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand, und schob einen der schweren, ledernen Lehnsessel zurecht. „Nehmen Sie Platz." Ich dankte ihr und setzte mich. Dabei hatte ich das Gefühl, daß heute mein Glückstag war. Ob ich ein Zimmer in solch einem Haus auch bezahlen konnte, war ein Gedanke, den ich vorerst beiseiteschob. Sie hockte sich mir gegenüber in den zweiten von insgesamt vier Sesseln und betrachtete mich neugierig. In diesem Augenblick schien sie mir älter. „Was studieren Sie?" „Psychologie..." „Die Lehre von der Seele, nicht wahr?" „Ja", entgegnete ich überrascht. Hatte ich mit zwölf auch schon etwas über Psychologie gewußt? Möglicherweise. Aber die Art, wie das Mädchen mich verwirrte, bedeutete, daß ich trotz der sechs Semester noch nicht viel weitergekommen war. Sie nickte. „Ich habe einiges in Vaters Büchern darüber gelesen. Es ist interessant, nicht wahr? Man sieht das Gute und das Böse..." Abrupt ließ sie das Thema fallen. „Kommen Sie." Sie erhob sich. Ich folgte ihr aus der Bibliothek durch einen langen Gang, der längs durch das ganze Haus führen mußte, und dann eine Treppe hinauf. Wir landeten in einer Art Vorraum, von dem aus nochmals eine Treppe hochführte. Leichtfüßig stieg sie voran. Oben angekommen, öffnete sie eine Tür und schob mich in ein Zimmer. Es war so dunkel, daß ich kaum etwas sah. Das Mädchen glitt mit schlafwandlerischer Sicherheit durch den Raum und zog die schweren Vorhänge beiseite. Blendendes Licht fiel in ein großes, kostbar eingerichtetes Zimmer. „Hier werden Sie arbeiten", stellte sie fest. „Und hier..." Sie öffnete eine weitere Tür. „Hier werden Sie schlafen..." Sie winkte mir. Ich trat zu ihr und blickte in das Schlafzimmer eines mittleren Königs, oder eines Scheichs, denn das Bett war so groß, daß er wenigstens vier Frauen um sich scharen konnte und immer noch bequem lag. (Nicht daß ich diese Absicht hatte!)
„Ich werde weder hier arbeiten, noch hier schlafen." Ihr Lächeln erstarb, der Glanz in ihren Augen erlosch. Es war, als hätte ich sie geschlagen. Hilflos suchte ich nach Worten und schalt mich einen höchst dürftigen Psychologen. „Ich... ich wollte Sie nicht... beleidigen", begann ich, und fuhr, als sie keine Antwort gab, aber den Blick nicht von mir wendete, ermutigt fort: „Es ist... wunderschön. Und ich würde wie ein... König hier wohnen. Aber ich bin sicher, daß es über meine Verhältnisse geht." Ich bemerkte, wie die Angst aus ihren Zügen schwand, und atmete innerlich auf. Sie starrte mich eine Weile an, dann zischte sie gefährlich wie eine im Mittagsschlaf gestörte Kobra: „Sie werden hier wohnen!" Damit wandte sie sich um und war, ehe ich mich versah, aus dem Zimmer verschwunden. Ich starrte benommen hinterher, im nächsten Augenblick alarmiert durch das Knirschen eines Schlüssels, der zweimal herumgedreht wurde. Ich vernahm noch das sich entfernende Tappen nackter Füße. Kein Zweifel - ich war vorerst gefangen. Ein höchst reales, unpsychologisches Phänomen! Eine Weile stand ich grübelnd vor der verschlossenen Tür. Rufen hatte wohl wenig Sinn. Ich hatte das Gefühl, daß mir das Mädchen erst öffnen würde, wenn es die Zeit für gekommen hielt unbeeinflußt von allen Drohungen, die ich ausstieß. Nach einer Weile dachte ich: ,Es ist gut, daß sie mich eingeschlossen hat. Sonst wäre ich jetzt nicht mehr hier.' Und dann: ,Es ist ein Paradies. Die Kleine ist ein Engel. Und was tue ich hier?' Und zusammenhanglos dachte ich: ,Engel haben keine Seele!' Etwas an ihr war seltsam. Nicht nur die zwingende Dunkelheit ihrer Augen - noch etwas anderes. Aber so sehr ich auch darüber nachgrübelte, es blieb nur eine vage Empfindung. Ich stand auf und trat ans Fenster. Tief unter mir lag der Garten im Licht der Spätnachmittagssonne. Hier und dort war noch eine kleine Oase von Schnee zu sehen. Die mächtigen Bäume waren von der Kahlheit des Winters, aber die Hecken sprossen schon. Ich öffnete das Fenster und sog die frische Frühlingsluft ein. Abgesehen vom Gesang der Vögel war es still ringsum. Die Straße jenseits der fernen Hecke war kaum sichtbar. Das nächste Haus, eine zweistöckige Villa, lag fast einen halben Kilometer entfernt.
An der Straße gewahrte ich das Schild der Bushaltestelle und blickte ein wenig nervös auf meine Uhr. Fünf vorbei. Der letzte Bus in die Stadt fuhr um sieben. Ich hatte viel Zeit. Um halb sechs kam ein Bus. Zwei Mädchen stiegen aus. Ich beobachtete sie, wie sie durch den Garten auf das Haus zukamen. Sie sahen sich Haus und Garten genau an. Eine gestikulierte, die andere nickte heftig. Zweifellos waren sie Interessenten für das annoncierte Zimmer. Bedauernd dachte ich, daß meine Chancen nun sinken mußten. Ich folgte ihnen mit dem Blick. Dem Alter nach mußten sie Studentinnen sein. Eine war blond, die andere hatte ihr Haar unter einem Kopftuch verborgen, aber ich sah kurz ihr Gesicht, als sie hochblickte. Sie war ein östlicher Typ. Es gab viele japanische Studenten an der Universität. Gleich darauf schrillte die Klingel, und ich hörte, wie jemand öffnete. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und Stimmen entfernten sich irgendwo im Innern des Hauses. Sie hatte sie also eingelassen. Ich redete mir ein, daß es noch nichts bedeuten mußte. Es mochte mehrere Zimmer zu vermieten geben. Die Villa hatte von außen gewaltig gewirkt. Als die Sonne verschwunden war, wurde es kalt. Es sah so aus, als blieben die Mädchen. Ob sie sie wohl auch eingeschlossen hatte? Ich schloß fröstelnd das Fenster und knipste das Licht an. Es kam nicht von der Decke, sondern in regelmäßigen Abständen von den Wänden; die Lampen gaben ein gleichmäßiges, angenehmes Licht, beinah ohne Schatten. Im Gegensatz zu der antiquiert wirkenden Bibliothek war der Raum sehr modern eingerichtet. Ein großer Schreibtisch vor der Fensterfront, zwei Lehnsessel, eine breite Couch und ein Teetisch, oval mit Onyxplatte. Über dem Schreibtisch hing ein Stilleben in Öl, über der Couch ein echter Hutter, den ich eine Weile andächtig betrachtete. Eine Wand wurde von einem gewaltigen Einbauschrank eingenommen. Ich öffnete die Türen. Er war leer. Neben der Tür stand ein Sideboard. Es war ebenfalls leer bis auf zwei Fotografien, die obenauf lagen und die man offensichtlich wegzuräumen vergessen hatte. Eine zeigte das Mädchen im Alter von acht oder neun Jahren. Damals hatte sie das Haar kurz getragen. Ich betrachtete das Bild genauer und verglich es im Geist mit dem Eindruck, den ich bisher von ihr gewonnen hatte. Dabei fiel mir auf, daß sich im Wesentlichen nur die Augen verändert hatten. Auf dem Bild wirk-
ten sie nichtssagend, so, als wären sie hinter der Iris verschlossen. Wie hatten sich diese Augen jetzt verändert! Nun funkelten sie, nun schwelte eine Glut in ihnen... Das zweite Bild war eine leere Ansichtskarte von London. Ich pochte einmal kräftig an die Tür, aber es regte sich nichts. So nahm ich das Schlafzimmer in Augenschein. Es war hell und wirkte phantastisch mit dem roten Teppich. Auch hier waren die Schränke leer. Es war offensichtlich, daß man die Zimmer zur Vermietung hergerichtet hatte. Ich gewahrte eine weitere Tür. Hoffnungsvoll versuchte ich die Klinke. Sie ließ sich öffnen. Dahinter befand sich ein kleiner Vorraum, leer, bis auf einen Stuhl und ein Tischchen, auf dem ein Telefon stand - allerdings nur ein Hausapparat. Vier Türen führten aus diesem Raum. Durch die erste war ich eingetreten. Die zweite führte zu sanitären Anlagen, die dritte in ein geräumiges Bad, die vierte in eine perfekt eingerichtete Küche. Ich seufzte. Das war keine Studentenbude mehr, das war eine Idealwohnung für ein Ehepaar. Rastlos wanderte ich zurück in das Arbeitszimmer, setzte mich auf die Couch und wartete. Es blieb nichts anderes zu tun. Die Haustür hatte ich die ganze Zeit über nicht gehört. Die Studentinnen mußten also noch hier sein. Ich zwang mich zur Geduld. Früher oder später mußte das Mädchen wiederkommen, oder Frau Ahrenberg, ihre Mutter. Und spätestens dann war der Traum ausgeträumt. Warum das Mädchen mich wohl eingesperrt hatte? Es wurde sechs. Halb sieben. Ich begann erneut und heftiger an die Tür zu pochen, und ich rief auch ein paarmal. Doch nichts regte sich. Einige Minuten nach sieben sah ich die Scheinwerfer des Autobusses. Ich starrte ihm nach, bis die roten Rücklichter verschwanden. Schritte näherten sich der Tür, der Schlüssel knirschte im Schloß, die Tür wurde aufgestoßen. Das Mädchen kam herein. Sie hielt ein großes, silbernes Tablett in beiden Händen. Ich vergaß meinen Ärger augenblicklich, als ich merkte, daß ich hungrig war. Ohne mich anzublicken, stellte sie eine Tasse auf den Tisch, goß heißen Tee ein und reichte mir Kuchen auf einem kleinen Dessertteller.
„Das war der letzte Bus." Ich nickte. „Ja, das weiß ich." Sie lachte. „Sie werden heute Nacht hier wohnen. Sie müssen hungrig sein", sagte sie in einem Atemzug. Ich setzte mich ebenfalls. „Ich bin in der Tat hungrig, und das sieht alles sehr lecker aus." Sie lächelte, und ich aß, schweigend. Wir beobachteten uns gegenseitig verstohlen. Jetzt erst fiel mir auf, daß sie ein anderes Kleid trug, ein grünes Spitzenkleid, das den Eindruck des kleinen Mädchens ein wenig verwischte. Ich trank den Tee aus und lehnte mich satt und behaglich zurück. „Das Kleid ist hübsch", sagte ich, psychologisch richtig hoffend, damit der weiblichen Eitelkeit zu schmeicheln. Sie ging aber nicht darauf ein, obwohl sie ein wenig errötete. „Ich heiße Angela." „Oh", erwiderte ich, „Sie müssen mich für sehr unhöflich halten. Ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Peter Elfing, fünfundzwanzig, ledig, ohne besondere Kennzeichen." „Sie sind nicht böse, daß ich Sie eingeschlossen habe?" „Nein, darüber bin ich sehr froh. Ich werde heute nacht in diesem Haus schlafen und von einem Engel namens Angela träumen..." Sie errötete tiefer diesmal. „Und was werden Sie träumen?" Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Das werden wir wohl beide niemals wissen. Ich vergesse meine Träume meist, bevor ich aufwache. Außerdem werde ich morgen früh in Nöten sein, denn ich habe weder Zahnbürste, noch Seife, noch Handtuch, noch einen Kamm bei mir - ganz zu schweigen von einem Schlafanzug..." „Das Haus ist groß", erklärte Angela. „Es enthält unter anderem Seife, Handtücher, Zahnbürsten, Kämme und vielleicht auch einen Pyjama, wenn Vater nicht alle mitgenommen hat." Sie sprang auf. Als sie wiederkam, fragte ich sie nach den beiden Mädchen. „Die sind nicht mehr hier", sagte sie beiläufig. „Ich sagte ihnen, das Zimmer wäre schon besetzt..." Ich horchte auf. Ich hatte die beiden nicht weggehen hören. Angela musterte mich prüfend. Die Fröhlichkeit war aus ihren Zügen verschwunden. Etwas Lauerndes lag in ihrem Blick. Unvermittelt fragte sie: „Wollen Sie hier wohnen, Peter Elfing?"
Ich sah sie verständnislos an. „Ich meine", sagte sie und musterte mich unsicher, „ich meine, liegt Ihnen daran, hier zu wohnen...?" „Ja", erklärte ich, „ich möchte es wirklich gern..." Sie schien noch etwas sagen zu wollen, schwieg aber. An der Tür wandte sie sich noch einmal um. „Morgen ist Mittwoch. Da kommt meine Mutter am Vormittag. Sie wird sich im Haus umsehen, ob auch alles in Ordnung ist. Sie darf Sie vorerst nicht sehen." „Fräulein Angela", sagte ich, „ich möchte nicht, daß Sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommen..." „Es ist nicht so schlimm. Ich brauche nur etwas Zeit, um die Dinge in den Griff zu bekommen. Haben Sie das Haustelefon bemerkt...?" Ich nickte. „Ich werde Sie rechtzeitig warnen. Dann machen Sie sich unsichtbar..." Sie zögerte. „Schlafen Sie tief...?" Ich sah sie ein wenig überrascht an. „Im allgemeinen ja..." „Das ist gut", meinte sie. „Das Haus ist manchmal unheimlich. Der Wind flüstert und wimmert an den Giebeln und Mauern... Aber haben Sie keine Angst, ich bin ja bei Ihnen. Gute Nacht." „Gute Nacht", erwiderte ich seltsam berührt und lauschte, bis ihre Schritte im unteren Teil des Hauses verklangen. Ein Hauch von Kälte war plötzlich um mich. Ich schüttelte mich. Ich beschloß ein Bad zu nehmen. Aber als ich mich ausgezogen hatte, war ich zu schläfrig und kroch ins Bett. Ich hatte einen fürchterlichen Traum. Ich wachte zitternd auf. Schockartig kam mir zu Bewußtsein, daß ich nicht mehr im Bett lag, sondern im Vorraum stand, die Hand auf der Türklinke. Von irgend woher kam der wimmernde Ton einer menschlichen Stimme, als ob jemand etwas Schreckliches erleide. Dann Stille. Ich lauschte mit klopfendem Herzen. Nun kam ein leiser, klagender Ton, der anschwoll und absank und anschwoll und absank... Fröstelnd kehrte ich ins Schlafzimmer zurück. Ein Windstoß rüttelte am Fenster. Angela hatte die Wahrheit gesprochen. Der Wind pfiff an den Giebeln und Fenstervorsprüngen. Es war ein trauriger, klagender Ton, der mir einen Augenblick lang die Gänsehaut über den Rücken trieb. Vor Kälte mit den Zähnen klappernd kroch ich wieder zwischen
die Decken. Das Schrillen des Telefons weckte mich. Eine Weile dachte ich, es würde vielleicht wieder aufhören, aber dann merkte ich, daß da jemand verdammt ausdauernd war und wohl nicht aufhören würde, bevor ich an den Apparat ging. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren, dann erinnerte ich mich an die Geschehnisse des Vorabends. „Endlich, Herr Elfing. Machen Sie rasch, meine Mutter ist auf dem Weg hierher. Machen Sie sich unsichtbar... und lassen Sie nichts liegen...!" „Ja", krächzte ich. Sie hatte schon aufgelegt. Ich stürzte zum Fenster. Tatsächlich - über den Gartenweg kam eine ältere Dame in einem schwarzen Mantel auf das Haus zu. Hastig zog ich mich an und brachte das Bett in Ordnung. Dann sah ich mich um. Nein, ich hatte nichts vergessen. Ich begab mich zur Tür und lauschte. Unten schloß jemand auf. Lange Zeit waren nur Schritte im Haus zu vernehmen - keine Stimmen. Die Frau schien ganz allein da unten zu sein. Plötzlich näherten sich ihre Schritte über die Stufen, und ich zog mich rasch zurück. Aber nicht rasch genug. Als ich die Schlafzimmertür erreichte, trat sie in die Wohnung und sah noch, wie ich die Tür schloß. „Hallo, Sie! Wer sind Sie?" rief sie. Ich machte kehrt und trat mit einem entschuldigenden Lächeln in den Vorraum, in dem sie abwartend stand. Sie mochte um die fünfzig sein und war einst wohl eine schöne Frau gewesen. „Gnädige Frau", sagte ich und nickte grüßend. „Wer sind Sie, junger Mann?" fragte sie mit unangenehmer Strenge. „Verzeihen Sie, Frau Ahrenberg", erwiderte ich rasch. „Ich kam gestern hierher, um mich für das Zimmer zu bewerben... Ich bin Student..." Ich lächelte unsicher und zuckte die Achseln. „Ich... Es war mir entgangen, daß Sie nur weibliche Mieter nehmen..." „Nur weibliche Mieter...?" wiederholte sie verständnislos. „Ja", erklärte ich hastig. „Das muß ein Irrtum sein, junger Mann. Es ist mir gleich, ob der
Mieter männlich oder weiblich ist, wenn er pünktlich bezahlt und das Haus in Ordnung hält..." „Aber sehen Sie doch", unterbrach ich sie und zog die Zeitung aus der Tasche. Ich suchte die Anzeige. „Hier steht es..." Ich brach ab. Ein wenig hilflos sah ich sie an. „Tatsächlich", stotterte ich, „da steht nichts..." Sie nickte. „Wollen Sie mir nun erklären, wieso Sie in das Haus eingebrochen sind, anstatt mich aufzusuchen!" „Ich sehe ein, daß dies alles einigermaßen unverschämt aussieht..." begann ich entschuldigend. „Das kann man wohl sagen", unterbrach sie mich. „Aber ich bin nicht eingebrochen", stellte ich fest. „Ihre Tochter hat mich eingelassen und mir dieses Zimmer..." „Wer hat Sie eingelassen?" fragte sie tonlos. „Angela, Ihre Tochter..." erwiderte ich bestürzt. „Sie haben Sie gesehen...?" fragte sie mit weitaufgerissenen Augen. „Ja, natürlich... aber was haben Sie nur...?" Sie griff nach dem Telefontischchen, um sich festzuhalten. „Sie sind nicht der erste, der das sagt", murmelte sie. „Es muß irgend ein Fluch sein, der sie nicht ruhen läßt..." „Ein Fluch..." wiederholte ich, „der sie nicht ruhen läßt...?" „Ja, junger Freund. Sie müssen wissen, daß Angela seit fast vier Jahren tot ist... ertrunken..." „Waas...?" rief ich. „Ja", antwortete sie traurig. „Sie und ihr Vater. Vielleicht haben Sie sogar schon von ihm gehört. Professor Konrad Ahrenberg...?" „Ich bin nicht sicher", sagte ich. „Irgendwie bringe ich den Namen mit Arabien in Verbindung..." Ihre Miene hellte sich auf. „Ganz richtig. Mein Mann war Archäologe. Er ist in Ägypten gewesen und in Amerika, aber am meisten interessierte ihn Arabien. Er war irgendwo auf ein paar alte Bücher gestoßen... vor acht Jahren. Von da an interessierte ihn nur noch Arabien. Die letzten drei Jahre kamen seine sporadischen Briefe aus Aden. Er schrieb, daß er seinem Ziel sehr nahe sei... was immer dieses Ziel war..." Sie zuckte die Achseln. „Mein Gott, er war mißtrauisch, wie alle diese verschrobenen Intellektuellen, bei denen Forschen zur Manie geworden ist. Als er das letztemal zurückkam... vor vier Jahren... da machte er einen gebrochenen Eindruck. Er blieb nicht lange. Als er ab-
reiste, nahm er Angela mit..." Sie hielt erneut inne. Es schien sehr schmerzlich und tröstlich zugleich für sie zu sein, diese Erinnerungen vor mir aufzufrischen. „Man fand sie einen Monat später achtzig Kilometer nordwestlich von Aden in den Bergen. Sie waren in einer Höhle in einen unterirdischen See gestürzt und ertrunken... Sie wurden dort begraben, wie er es wollte. Ich erhielt nicht viel von ihnen zurück... ein paar Kleider und persönliche Habseligkeiten... und Konrads wertvolle Bücher natürlich, sie stehen wieder unten in der Bibliothek." Nach einem Augenblick des Schweigens stellte ich die Frage, die mich am meisten bewegte: „Wer ist dann das Mädchen...?" Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe sie selbst noch nie gesehen... Sind Sie sicher, daß Sie nicht nur in Ihrer Einbildung existiert... daß sie wirklich aus Fleisch und Blut ist...? Haben Sie sie berührt...?" „Ja, ich bin sicher. Allerdings... berührt habe ich sie nicht." Die Frau sah mich groß an. „Glauben Sie an Geister?" „Nein", erklärte ich entschieden. „Eher daran, daß Ihnen hier jemand einen Streich spielt... vielleicht, um an die Bücher heranzukommen... Gewiß, sie sah dem Bild sehr ähnlich, das da drinnen auf dem Sideboard liegt, aber... wenn sie tot ist, kann das wohl nicht Ihre Tochter sein." „Sie haben wohl keine Furcht", fragte sie. „Wenigstens nicht vor Geistern", stellte ich fest. „Wollen Sie hier wohnen?" „Um ganz ehrlich zu sein...", begann ich. „Ich dachte mir schon, daß Sie ablehnen würden", sagte sie. „Keineswegs", fiel ich ihr ins Wort. „Es hängt von der Miete ab..." „Oh", meinte sie lächelnd. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie versuchen dahinterzukommen, was in diesem Haus vorgeht dafür können Sie umsonst wohnen... Abgemacht?" Ich stimmte höchst erfreut zu. Außerdem begann mich die Sache zu interessieren. Furcht hatte ich keine, aber ich mußte zugeben, daß alles ein wenig merkwürdig war. „Eine Frage noch", sagte ich. „Sind Sie sicher, daß es Ihre Tochter war, die in dieser Höhle ertrank? Ich meine..." „Es besteht kein Zweifel, Herr Elfing. Ich war selbst in Aden. Ich mußte die Leichen identifizieren." In diesem Augenblick läutete das Haustelefon.
„Warum heben Sie nicht ab", sagte ich ermutigend. „Unsere Freundin wüßte sicherlich zu gern, worüber wir uns unterhalten..." Sie hob ab. In der Stille hörte ich Angelas Stimme ganz deutlich. „Hallo, Mammi!" sagte sie. Die Frau sah mich kalkweiß an. Einen Augenblick schien es, als entfiele der Hörer ihrer zitternden Hand. „Angela!" rief sie. „Mein Liebling, wo bist du...?" Als der Hörer schwieg, stürzte sie aus dem Zimmer. Ich hörte sie die Treppen hinuntereilen und immer wieder rufen. Aber nach und nach wurden ihre Rufe resignierter, bis sie schließlich ganz verstummten. Denn das große Haus blieb stumm. Die Villa, in der ich so unerwartet Quartier gefunden hatte, war nicht die einzige der Ahrenbergs. Sie besaßen noch zwei Häuser in der Stadt, die an Firmen vermietet waren, und einen Bungalow einige Minuten von der Villa entfernt, in den sich die alternde Dame nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Tochter zurückgezogen hatte. Dort saß ich nun schon mehr als zwei Stunden mit ihr zum Tee und erfuhr eine ganze Menge über die Familie Ahrenberg, beispielsweise, daß sie eine der ältesten Familien der Stadt war und daß Angelas -sie nannte sie meist Engelchen - Urgroßvater die Villa erbaut hatte. Leider wußte sie nicht viel über die Forschungsreisen ihres Mannes; er war darüber immer äußerst schweigsam gewesen. Nur daß es sich um etwas außerordentlich Wichtiges gehandelt haben mußte, bezweifelte sie nicht. Etwas mußte ihn getrieben haben, etwas, das sie nicht verstand, etwas, das den kühl berechnenden, immer realistischen Archäologen in einen Fanatiker verwandelt hatte. Ich erfuhr auch, daß die Vermietungsanzeige bereits seit drei Monaten lief und ich bisher der einzige war, der sich gemeldet hatte. Das war mir unverständlich. Ich berichtete von den beiden Mädchen, die ich gesehen hatte, und fragte sie, warum sie im Inserat nicht die Adresse ihres Bungalows angegeben hatte. „Ich hielt es für besser", meinte sie, „wenn die Leute das Haus gleich sehen. Das erspart mir die Mühe, mit jedem hinzugehen."
„Aber wie kommen die Interessenten zu Ihnen? Woher hätten sie eine Adresse?" Sie sah mich erstaunt an. „Haben Sie es nicht gesehen, Herr Elfing? Das große Schild am Gartentor...?" Nein, das hatte ich nicht gesehen. Und die beiden Mädchen offenbar auch nicht. Angela - oder wer immer dieses Mädchen war, mußte es fortgenommen haben. Aber warum? Die Sache wurde immer geheimnisvoller. Als ich zur Villa zurückkam, sah ich mich zunächst genau um. Tatsächlich, da hing das große, weiße Schild am Gartentor. Es war einfach nicht zu übersehen. Auf ihm stand die BungalowAdresse der Frau Ahrenberg. Angela erwartete mich bereits. Sie saß in einem der Lehnstühle in der Bibliothek. Ihr hübsches Gesicht war verschlossen. „Sie kommen wieder?" fragte sie mit aller Kälte, deren sie fähig war. „Sollte ich das nicht?" fragte ich erstaunt. Statt einer Antwort meinte sie: „Warum haben Sie sich nicht verborgen, als sie kam?" „Ich war nicht rasch genug. Was soll dieses Verhör?" Ihre abweisende Miene wandelte sich plötzlich. Spöttisch fragte sie: „Was hat sie Ihnen alles erzählt...? Daß ich tot bin...?" „Ja", erwiderte ich verwirrt. Sie lachte. „Sie glaubt, ich wäre tot. Seit vier Jahren hält sie mich für tot. Sie ist verrückt... Sie haben sie ganz schön erschreckt, als sie ihr von mir erzählten..." „Nicht so sehr wie Sie mit Ihrem Anruf", entgegnete ich. „Geschieht ihr recht", stellte sie triumphierend fest. „Sie ist also verrückt, hm?" bemerkte ich. „Natürlich... oder was glauben Sie...? Daß ich tot bin...?" Ich ging auf sie zu und griff nach ihr. Sie sprang aus dem Stuhl und wich mit ängstlichem Blick zurück. „Rühren Sie mich nicht an!" zischte sie. Ich folgte ihr und ließ sie nicht aus den Augen. „Es ist aller Logik und Vernunft nach vielleicht verrückt, was die alte Dame glaubt, aber ich will ihr mit gutem Gewissen sagen können, ich habe Sie angefaßt, Sie sind aus Fleisch und Blut... und kein Geist..." „Sehen Sie denn nicht, daß ich kein Geist bin... bitte..." „Tut mir leid", sagte ich. „Ich bin nun mal der gründliche Typ besonders wenn ich das Gefühl habe, daß mich jemand zum Nar-
ren hält..." „Bitte..." Es klang flehend. Ich ließ mich nicht beirren. Ich griff nach ihren Schultern. Sie kreischte, und mir stellten sich buchstäblich die Nackenhaare auf. Noch nie hatte ich jemanden so kreischen hören - so vollkommen unmenschlich. Instinktiv krallte ich meine Nägel in ihr Fleisch und schüttelte sie wild, bis dieser entsetzliche Laut abbrach. Sie sah mich mit Augen an, die voller Haß waren. Aber so unbeschreiblich war dieser Haß, daß er wie eine Travestie anmutete. Dann sickerte noch etwas in mein Bewußtsein, und ich ließ die Kleine los, wie von einer Tarantel gestochen. Ihre Haut fühlte sich wie Leder an- und kalt. Eisig kalt. Sie wich sofort zur Seite, als ich sie freigab. Ein leiser, schriller Laut der Wut kam aus ihrem halb geöffneten Mund. Dann wandte sie sich um und verließ den Raum. Von diesem Augenblick an ging sie mir aus dem Weg. Es war, als wäre einer von uns beiden nur ein Phantom. Sie reagierte nicht auf mein Rufen und Bitten, auf meine Erklärungen, meine Entschuldigungen. Dabei fühlte ich, daß sie mich beobachtete. Sie lauerte immer irgendwo in der Düsternis des Hauses. Mir war nicht klar, was das alles zu bedeuten hatte, aber meine Neugier wuchs bis zur Raserei. Da war auch ein unerklärliches Gefühl, das mich warnte und das sich bemerkbar machte, wenn ich an ihre kalte Haut dachte. Ich war zwar nicht so verrückt wie Frau Ahrenberg, an Geister zu denken, aber irgend etwas stimmte nicht. Das Mädchen mochte krank sein - psychisch und physisch. Aber nicht nur meine Neugier forderte, daß ich etwas über sie herausfand. Frau Ahrenberg wartete auf Information. Diese Informationen waren sozusagen meine Miete. Und ich hatte das Gefühl, daß wenigstens eine Anzahlung fällig war. Den Rest des Nachmittags und Abends verbrachte ich damit, die Bibliothek zu durchstöbern. Dr. Ahrenberg schien in der Tat ein Faible für Arabien gehabt zu haben. Ein Großteil der Bücher war in arabischer Schrift und Sprache. Es handelte sich dabei aber in der Mehrzahl um sehr alte Bücher - ihrem Zustand und der Vergilbung des Papiers nach zu schließen. Dann fand ich in den obersten Regalen, die ich gerade noch mit
einer Leiter erreichte, eine Reihe von okkulten Werken. Verwundert sah ich sie durch. Die meisten waren in französischer und englischer Sprache, aber auch einige deutsche, darunter Laudamms MAGIE DER ALTEN und Juntz UNAUSSPRECHLICHE KULTE. Die anderen waren mir unbekannt. Ich war ein wenig überrascht. Ich hatte von den beiden Büchern zwar bereits gelesen, aber nicht angenommen, daß es sie auch wirklich gab. Nun, da sie vor mir standen - ehrwürdig in ihrem Alter - fand ich auch nichts Bedrohliches an ihnen, wie so oft beschrieben worden war. Aber ich gebe zu, daß ich mich befangen fühlte. Ich beschloß die Werke in den kommenden Tagen zu studieren. Ein Buch fehlte in der Reihe. Bis ich die ganze Bibliothek oberflächlich durchgesehen hatte, war es fast Mitternacht. Von Zeit zu Zeit hatte ich bemerkt, daß Angela mich beobachtete. Aber ich ignorierte sie. Kurz vor zwölf kam ich endlich ins Bett. Ich lag aber kaum in den Federn, als die wimmernden Laute wieder begannen. Dabei klangen sie so menschlich, daß ich aufstand und zum Fenster ging. Als ich es öffnete, stellte ich verwundert fest, daß kein Hauch die Luft bewegte. Die Nacht war windstill. Und noch etwas fiel mir auf. Die klagenden Laute kamen nicht vom Dach und den Mauern, sondern aus dem Innern des Hauses - irgendwo aus dem Keller. In diesem Augenblick ging das Wimmern in einen langgezogenen Schrei über, der abrupt abbrach. Ich schauderte. Angela, dachte ich aufgeregt. Angela mußte etwas zugestoßen sein! Hastig schlüpfte ich in Hemd und Hose. Eine Taschenlampe hatte ich nicht, so blieb mir nichts anderes übrig, als Licht zu machen. Ich erkannte nun, wie wichtig es war, daß ich mir das Haus genau ansah. Im Augenblick kam ich mir verdammt verloren vor. Ich wußte nicht einmal, wo sich die Tür zum Keller befand. Ich trat in die dämmrige Bibliothek, in die durch die Kuppel das Licht des vollen Mondes fiel. Deutlich sah ich die Treppe vor mir. Aufatmend erkannte ich, daß ich hier noch kein Licht einzuschalten brauchte. Der Vollmond war hell genug. Vollmond? Heute? Ich wußte es nicht. Wenn ich abergläubisch wäre wie Frau Ahrenberg... Ein Geräusch kam von unten - ein leises Klirren, als wäre jemand irgendwo angestoßen. Ich drückte mich eng an die Wand
und spähte nach unten. Aber der andere nächtliche Spaziergänger war klug genug, nicht in den mondbeschienenen Teil des Raumes zu treten. Nach einer Weile, als alles ruhig blieb, huschte ich die Treppe hinab, was ich ziemlich lautlos fertigbrachte. Dann kam ein Geräusch aus Richtung Küche. Ich hastete durch die Bibliothek, denn der Korridor, der zur Küche führte, lag gegenüber. Ich war nicht vorsichtig genug. Bevor ich die Tür erreichte, stürzte ich über ein Hindernis, das umstürzte und mit seinem Klirren selbst Tote aufgeweckt hätte. Es war das Teetischchen, voll beladen mit kostbarem Geschirr. Ich war ziemlich sicher, daß mein nächtlicher Kontrahent niemand anderer als Angela war. Diese Falle mit dem Tischchen deutete darauf hin. Wer immer sich in der Küche befand - er war nun gewarnt. Ich kletterte fluchend über das Geschirr und verursachte weiteren Lärm. Aber das war jetzt schon egal. Ich fragte mich verärgert, warum ich überhaupt hier mitten in der Nacht herumschlich. Das kleine Biest stand wahrscheinlich irgendwo in einer Ecke, krampfhaft bemüht, nicht laut aufzulachen. Die ganze Wimmerei diente wohl nur dazu, mich aus dem Bett zu locken. „Angela!" rief ich wütend. Es kam keine Antwort. Ich tastete nach dem Lichtschalter des Korridors, fand ihn und schaltete -nichts! Entweder war tatsächlich irgend etwas defekt, oder die Kleine hatte sich an den Sicherungen zu schaffen gemacht. Letzteres schien mir wahrscheinlicher. So stolperte ich mit vorgestreckten Armen durch den Gang, bis ich rechterhand die Küchentür ertastete. Gleich darauf fand ich die Klinke und drückte. Sie war schmierig wie von Seife. Es war ein unangenehmes Gefühl, und ich wischte die Hand mit einem Fluch an der Hose ab. Das Mädchen hatte sich offenbar die Hände gewaschen und war dann durch mein Geschirrklappern gewarnt. In der Küche befand sich natürlich niemand mehr. Ich hatte die Herumschleicherei in der Finsternis satt. Während ich zurückstolperte, faßte ich zwei Entschlüsse. Erstens wollte ich sofort am Morgen damit beginnen, das Haus systematisch zu erkunden, so daß ich mich notfalls auch im Dunkeln zurechtfand. Als ich die Bibliothekstreppe erreicht hatte, atmete ich auf. Nun gab es nicht mehr viel, über das ich fallen konnte. Meine Hand fühlte sich klebrig an. Endlich erreichte ich meine Räume. Auch hier brannte kein
Licht. Die Kleine war gründlich. Ich merkte mir vor, auch den Sicherungskasten auszukundschaften. Ich tastete mich ins Badezimmer. Das Licht flammte auf. Ah, hat der Scherz ein Ende, dachte ich. Im nächsten Augenblick starrte ich entsetzt auf meine Hand. Sie war rot von getrocknetem Blut! Der Scherz hatte nun wirklich ein Ende! Ekel überflutete mich, aber ich kämpfte dagegen an, Dann dachte ich an das Mädchen und stürzte in die Bibliothek zurück. Etwas mußte ihr geschehen sein. Sie mochte irgendwo hilflos liegen und sterben. Ich war nur von einem Gedanken beseelt, ihr zu helfen! Rufend sprang ich die Treppen hinab, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend. Aber das Mädchen antwortete nicht. Als ich zur Küche kam, sah ich, daß die Türklinke sauber war. Jemand hatte sie gereinigt. Ich hielt nachdenklich inne. Das mochte bedeuten, daß es vielleicht nur ein harmloser Schnitt gewesen war - oder... daß sich noch jemand im Haus befand, der das Mädchen umgebracht hatte und nun noch die Spuren beseitigen wollte. In mir war plötzlich alles Eis. Sicher konnte dieser Jemand keine Zeugen brauchen. Hinter jedem Möbelstück, hinter jeder Tür konnte er lauern und auf mich losspringen, wenn ich ahnungslos vorbeikam. Ein beängstigender Gedanke! Was konnte ich tun? Die Polizei rufen? Ich war plötzlich nicht mehr so sicher, daß ich hier noch länger wohnen wollte. Wenn dies alles nur dazu diente, mich hinauszuekeln, dann war es ihr fast gelungen. Ich beschloß, auf Nummer Sicher zu gehen und mich bis zum Morgen in mein Zimmer einzuschließen. Im nüchternen Tageslicht sah alles bestimmt anders aus. Vorsichtig schlich ich zur Bibliothek zurück und spähte hinein. Von oben kam ein spöttisches Lachen. Ich sah hoch und bemerkte Angela an der Balustrade. Ich schnellte auf die Treppe zu und hastete in großen Sprüngen hoch. Als ich oben ankam, sah ich gerade noch, wie sich ein Teil der Regalwand schloß. Ich suchte einige Minuten nach dem versteckten Schloß, das die geheime Tür öffnete, fand aber nichts. Für jetzt hatte ich endgültig genug. Nichts würde mich heute Nacht mehr aus dem Bett holen. Ich begab mich in mein Badezimmer und wusch mir die Hände. Dabei entdeckte ich, daß ich
das Blut, oder was immer das rote Zeug wirklich war, auch überall auf der Hose verteilt hatte, was meine Laune nicht besserte. Was hatte die Kleine nur gegen mich? Nur weil ich sie angefaßt hatte? Kein Zweifel, sie haßte mich! Mochte Angela nun verrückt sein, oder nicht - sie hatte jedenfalls alle Trümpfe in der Hand. Und ich hatte das dumpfe Gefühl, wenn es mir nicht gelang, mich mit ihr zu einigen, konnte ich nur noch ausziehen. Das würde Frau Ahrenberg in ihrem Geisterfimmel zwar bestärken, aber das war schließlich nicht mein Problem. Andererseits fand ich den Gedanken, die Stellung so einfach zu räumen, alles andere als angenehm, noch dazu vor dieser kleinen Göre! Als ich ins Schlafzimmer kam, sah ich, daß jemand in meinem Bett lag. Es war nicht zu erkennen, wer, denn sichtbar war nur der dunkle Haarschopf auf dem Kopfkissen. Angela? Verwundert trat ich ans Bett. Sie hatte die Decke ganz hochgezogen, so daß ich das Gesicht nicht sehen konnte. „Wer sind Sie?" fragte ich halblaut. Entweder verstellte sie sich, oder sie schlief wirklich, jedenfalls rührte sie sich nicht. Da ich müde war, war ich auch nicht mehr sehr geduldig. Ich rüttelte sie kräftig. Sie reagierte auch darauf nicht. So zog ich kurzerhand die Decke zur Seite. Und erstarrte. Vor mir lag das japanische Mädchen, das am Vorabend mit ihrer blonden Begleiterin ins Haus gekommen war - die beiden Studentinnen, die ich vom Fenster aus beobachtet hatte. Sie war nackt. Eine gräßliche dunkelrote Wunde nahm beinah die ganze linke Hälfte der Brust ein, ein tiefer, klaffender Schnitt zwischen den Rippen. Ihre Augen waren aufgerissen und starrten mich glasig an. Ihre Züge waren verzerrt, ihr Mund zum Schrei geöffnet. Ich ließ die Decke los und wich an die Wand zurück, an die ich mich zitternd lehnte. Hatte Angela sie umgebracht? Es schien alles so absurd. Was war mit der blonden Begleiterin? Befand sie sich auch im Haus? Ich erinnerte mich wieder daran, daß ich die beiden nicht hatte weggehen sehen. Ich berührte die Tote. Sie war kalt, aber sie konnte noch nicht lange tot sein. Sicherlich waren es ihre Schreie gewesen, die ich gehört hatte.
Ich mußte die Polizei verständigen. Ich rannte zur Tür - und hielt inne. Der Verdacht fiel auf mich! Ich war der einzige, der offiziell hier wohnte. Was sollte ich den Beamten sagen: etwas, das ich selbst für Unsinn hielt - daß die tote Angela Ahrenberg hier hauste? Damit grub ich mir mein eigenes Grab. Selbst wenn Frau Ahrenberg es bestätigte, war es verrückt. Niemand würde daran zweifeln, daß es mein Mord war! Nein, ich durfte die Polizei nicht verständigen- nicht bevor ich Beweise hatte. Aber was mit der Leiche tun? Das Bettzeug war voll Blut. Und wenn ich erst anfing, Spuren zu beseitigen, machte ich mich in jedem Fall schuldig. Ich mußte einige gründliche Überlegungen anstellen - und zwar rasch. Wenn ich nur Angela in die Finger bekam! Eine gute Stunde später hatte ich noch immer keine ideale Lösung gefunden. Ich war verzweifelt. Es gab nur zwei Wege: mich der Polizei vertrauensvoll in die Hände zu begeben, oder die Leiche beiseitezuschaffen. Eines war so wenig attraktiv wie das andere. Aber wenn ich letzteres tat, gewann ich Zeit und konnte vielleicht Beweise heranschaffen, um meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich ging wieder ins Schlafzimmer. Ich unterdrückte das flaue Gefühl im Magen, als ich mich an die Arbeit machte. Ich riß die Decken ganz zur Seite und breitete sie auf dem Boden aus. Der Teppich war rot. Man würde also einen Blutfleck nicht so leicht bemerken, wenn etwas durchsickerte. Ich löste das Laken vorsichtig und drehte die Tote in Rückenlage. Während der Drehung klaffte die Wunde weit auf... Ich biß die Zähne zusammen und wickelte das Mädchen in das Laken. So hob ich sie vom Bett und legte sie auf die Decken am Boden. In diese rollte ich das weiße Bündel. Stricke, um das ganze zu verschnüren, fand ich nicht, so zog ich es vorsichtig aus dem Zimmer in den Vorraum, auf dessen glattem Boden das Blut leicht zu beseitigen war, wenn es durchkam. Denn ich mußte die Leiche vorerst liegen lassen. Während des Tages konnte ich im Garten einen geeigneten Fleck suchen, um sie einzugraben. Ich eilte zurück ins Schlafzimmer. Das Blut war durch das Laken gedrungen. Zwei große, rote Flecken waren auf der Matratze. Ich holte mir Wasser und Bürste und machte mich daran, das Bett zu
säubern, was auch recht gut gelang. Anschließend ließ ich mich auf die Couch fallen, angezogen wie ich war, und hoffte, daß mich der Schlaf für eine Weile von diesem Alptraum erlöste. Aber der Schlaf kam nicht. Ich wälzte mich unruhig hin und her, von furchtbaren Traumbildern gequält, und sank erst in einen bleiernen Schlaf, als es bereits dämmerte. Das Telefon weckte mich. Es läutete unten in der Bibliothek. Ich wälzte mich stöhnend herum. Ich war so verdammt müde. Dann kam die Erinnerung an die nächtlichen Geschehnisse. Es konnte nur Frau Ahrenberg sein, die anrief. Während ich mir den Schlaf aus den Augen reibend aus dem Zimmer torkelte, noch halb benommen von der lähmenden Müdigkeit, überlegte ich verzweifelt, was ich ihr sagen sollte. Es kostete mich einige Überwindung, das Bündel der Leiche anzuschauen. Frau Ahrenbergs Stimme klang ein wenig schrill. „Wo bleiben Sie nur, junger Mann?" „Ich bin eben aufgewacht", erklärte ich wahrheitsgemäß. „Du lieber Himmel!" rief sie. „Wissen Sie, wie spät es ist? Fast elf! Sie sind ein Siebenschläfer." „Daran ist Ihre Bibliothek schuld", entgegnete ich. „Aber haben Sie nur angerufen, um mir zu sagen, wie spät es ist?" Sie schwieg einen Augenblick. „Natürlich nicht, junger Mann", erklärte sie dann mit merklich beleidigter Stimme. Sie dachte wohl, daß ich nicht übermäßig höflich war, aber das war mir gleichgültig. Wenn sie mich hinauswarf, war ich allen Kummer los. Selbst zu kündigen, oder einfach zu gehen, schien mir zu verdächtig. „Sagten Sie nicht etwas von zwei Mädchen, die nach Ihnen gekommen waren?" fuhr sie fort. „Ja", sagte ich und fühlte, wie sich in mir alles spannte. „Würden Sie sie nach der Beschreibung wiedererkennen?" Ich lachte unsicher. „Das kommt auf die Beschreibung an. Warum?" „Es steht heute in der Morgenzeitung. Zwei Mädchen werden seit vorgestern vermißt. Die... zweiundzwanzig jährige Japanerin Masaya Kitamura und die ebenfalls zweiundzwanzigjährige Kölnerin Renate Forchert. Beide Mädchen sind Studentinnen an der hiesigen Universität und befanden sich nach Aussagen einer Be-
kannten seit Dienstag auf Zimmersuche. Renate Forchert ist blond, einssiebzig groß, und trägt vermutlich einen roten Mantel. Masaya Kitamura ist schwarzhaarig und einseinundsechzig groß. Über Kleidung und besondere Kennzeichen ist der Polizei nichts bekannt..." Sie machte eine Pause. „Könnten das die beiden gewesen sein?" „Nein", sagte ich ohne Zögern. Aber ich wußte, daß sie es waren. Und ich dachte: Großer Gott, was ist mit der Blonden? „Warum sind Sie so sicher?" fragte sie. „Weil eine der beiden, eine Dunkelhaarige, hochblickte, und ich ihr Gesicht sah. Sie war jedenfalls keine Japanerin..." Ich war froh, daß ich ihr das alles über Telefon vorlügen konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich Angela in der Tür stehen. „Haben Sie schon etwas über meine... über das Mädchen erfahren...?" fragte Frau Ahrenberg. Ihre Stimme klang gespannt. „Nein... es tut mir leid, gnädige Frau..." „Aber sie ist noch hier...?" fragte sie schnell. „Ja... ich denke schon..." Ich hielt meine Antworten knapp. Ich wollte vermeiden, daß Angela mitbekam, daß ich Frau Ahrenberg über sie Auskunft gab. „Sie haben keinen Kontakt mehr...?" „Nein", erklärte ich. „Nein?" wiederholte sie enttäuscht. „Aber Sie fühlen ihre Anwesenheit?" „Ja", sagte ich. „Ich dachte es mir", stellte Frau Ahrenberg fest. „Es ist sicher der Mond..." „Der Mond?" „Ja, der Vollmond. Er ist bereits im Abnehmen. Sicher wird Ihr Kontakt in den nächsten Tagen schwächer werden und vielleicht ganz aufhören..." Mir war nicht klar, was der Vollmond damit zu tun haben sollte. Aber andererseits war ich zu wenig mit dem Aberglauben vertraut. Ich wußte zwar, daß der Mond im allgemeinen einen Einfluß auf Vampire ausübte, aber welchen nun genau, darüber waren sich die Horrorfilmer und Schreiber auch nicht einig. Als ich keine Antwort gab, fuhr sie ungeduldig fort: „Sie scheinen noch immer nicht wahrhaben zu wollen, daß in der Villa nicht alles mit rechten Dingen zugeht..." „Oh, das schon", gab ich zu, „aber ich bin nicht abergläubisch
genug für Ihre Theorie, gnädige Frau „Gerade die jungen Leute sollten aufgeschlossener sein und nicht alles einfach als Aberglauben abtun", meinte sie heftig, und ich fragte mich, wie lange sie mich noch aufhalten wollte. Es war fast elf, und oben lag eine Leiche. „Gewiß, gnädige Frau, aber..." Sie ließ mich nicht ausreden. „Sie halten mich also für abergläubisch. Dann lassen Sie mich Ihnen erklären, warum ich glaube, was ich glaube. In den letzten Briefen, die mein Mann mir aus Aden schrieb, erwähnte er Gräber, die er entdeckt habe, von sehr alten Gräbern, die keinesfalls arabisch sein konnten. Die Nomaden, die im Jahr zweimal durch dieses Gebiet kamen, nannten sie die Gräber der Ruhelosen. Nicht weit von diesem seltsamen Ort wurden mein Mann und Angela begraben. Verstehen Sie nun, warum ich mich des Gedankens nicht erwehren kann, das Mädchen, das Sie gesehen haben, habe wirklich etwas von meiner Tochter?" „Ja", murmelte ich nach einem Augenblick nachdenklich, aber sie hatte bereits aufgehängt. Ich sah zur Tür. Angela war verschwunden. Ich konnte mich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren. Aber selbst wenn in diesem Irrsinn ein winziger Funken Wahrheit steckte - wie war es mit dem Mord? Wie paßte der zu der Sache? Die Leiche blieb zunächst mein dringlichstes Problem. Ich beschloß mir den Garten anzusehen und nahm vorsichtshalber einen Haustorschlüssel mit. Geist oder nicht Geist, ich ging kein Risiko mehr mit der Kleinen ein. Der Regen in der vorletzten Nacht hatte den Schnee vollkommen verschwinden lassen. Der Boden war feucht und aufgeweicht. Die gesamte Vorderfront des Gartens war für meine Zwecke unbrauchbar, denn sie war steril wie eine Parkanlage mit Kieswegen, Rasenflächen und hohen Bäumen, gepflegt und offen. Hier herumzugraben, selbst nachts, wäre zu auffällig gewesen. Hinter der Villa sah es schon besser aus. Das Gelände war abschüssig. Es gab eine Reihe von Blumenbeeten, sogar ein altes Glashaus, eine Menge Buschwerk, einen gut versteckten Komposthaufen und eine Gartenhütte, deren eine Hälfte sich bei genauerer Untersuchung als Geräte- und Werkzeugschuppen entpuppte. Die andere Hälfte war ein geräumiges Zimmer mit Tisch und Stühlen
und mehreren Schränken. Einen Moment erwog ich, die Leiche zunächst hier zu verbergen, aber dann schien es mir doch zu riskant. Jedenfalls hatte ich alles, was ich in der Nacht brauchen würde Spitzhacke und Schaufel. Sogar eine Taschenlampe fand ich. Diese nahm ich gleich mit. Als ich zum Eingang zurückkehrte, sah ich einen Wagen vor dem Gartentor halten. Zwei Männer stiegen aus. Verdammt! Sie sahen aus, als ob sie von der Polizei sein könnten. „Hallo!" Einer winkte mir, während der zweite sich am Gartentor zu schaffen machte. „Herr Elfing?" sagte der eine. „Woher wissen Sie meinen Namen...?" fragte ich. „Frau Ahrenberg war so freundlich, uns einige Auskünfte zu geben. Gestatten Sie, Kriminalassistent Weichert. Das ist mein Kollege Krauss..." „Wie komme ich zu..." begann ich. „Reine Routine", unterbrach er mich, während der andere sich umsah und der Taschenlampe in meiner Hand einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. Wenigstens hatte ich das Gefühl. Es war einfach nicht die Tageszeit für Taschenlampen. „Zwei Mädchen werden vermißt... aber davon wissen Sie ja bereits. Sie waren auf Zimmersuche. Wir spüren allen Inseraten nach... Wie war das mit den beiden Mädchen, die Sie gesehen haben...?" „Sie kamen am selben Nachmittag, an dem ich eingezogen war." „Also vorgestern? Ließen Sie sie ins Haus?" „Nein. Warum sollte ich? Ich kannte sie nicht. Außerdem ist am Gartentor ein Schild, das die Besucher an Frau Ahrenbergs Adresse verweist..." „Wo soll das sein?" fragte der zweite. „Wir haben nämlich keines gesehen!" „Oh", sagte ich. „Dann hat sie es wohl weggetan. Sie hat ja jetzt einen Mieter..." „Sie meinen, sie hat das ganze Haus an Sie vermietet?" „Nicht das Haus", berichtigte ich ihn. „Nur eine Wohnung im Obergeschoß..." „Wir würden uns das gern mal ansehen von dort oben", meinte er, und mir wurde weich in den Knien. Geistesgegenwärtig würgte ich hervor: „Haben Sie einen Haussuchungsbefehl...?" „Nein, den haben wir nicht", meinte der Kriminalassistent
kühl,... aber es macht keinen guten Eindruck, wenn Sie uns Schwierigkeiten bei der Ausübung unserer Nachforschungen machen..." „Mag schon sein", erwiderte ich, bemüht, meiner Stimme einen nicht weniger gleichgültigen Klang zu geben. „Aber ich bin nur der Mieter. Ich kann Sie nicht so ohne weiteres hier herumschnüffeln lassen..." „Oh, wenn es nur darum geht", meinte sein Kollege, „die Alte sagte, sie hätte nichts dagegen, wenn wir uns umsehen!" „Sie sind nicht gerade höflich", wies ich ihn zurecht, während meine Gedanken rasten. Wie konnte ich sie nur davon abbringen? „Woher soll ich außerdem wissen, ob Sie die Wahrheit sagen? Bringen Sie irgend etwas Schriftliches, und Sie können hinein..." „Sie machen mich verflucht neugierig", unterbrach er mich, „und wenn ich erst neugierig bin, kenne ich mich selbst nicht mehr. Wir werden jetzt hineingehen und die alte Dame anrufen!" Damit wandte er sich um und schritt auf die Haustür zu. Sein Kollege folgte ihm. Und mir blieb auch nichts anderes übrig. Ich fluchte innerlich. Angst schnürte mir die Kehle zu, aber ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Ich kam als letzter ins Haus. „Wo ist das Telefon?" fragte der eine. Sie ließen mich vorausgehen. Ich führte sie in die Bibliothek. Der Assistent wählte, während sich der andere umsah. Ich stand hilflos dabei und suchte verzweifelt nach einer Idee, wie ich sie davon abhalten konnte, mein Zimmer zu besichtigen. Es gab noch immer die Hoffnung, daß Frau Ahrenberg die Durchsuchung ablehnte. Aber sie erwies sich gleich darauf als vergeblich. Sie gestattete es. So zuckte ich die Achseln und sagte: „Folgen Sie mir!" und ging los in Richtung Küche. Aber der Kollege deutete auf die Treppe. „Hier muß es langgehen, wenn mich mein Orientierungssinn nicht trügt", meinte er. Es schien tatsächlich keinen Ausweg zu geben. „Gehen Sie ruhig", sagte ich und ließ mich in den Lehnstuhl fallen. Nach einem Augenblick des Zögerns schienen sie einzusehen, daß sie mich nicht zwingen konnten, und stiegen die Treppe hinauf. Der Impuls, einfach loszulaufen, war gewaltig. Aber es hätte wenig Sinn gehabt. Sicher waren sie bewaffnet. Ich zwang mich, ruhig sitzenzubleiben und spannte mich für den Augenblick der Entdeckung. Ich hörte die Tür gehen und starrte hoch. Einer der
Männer stand an das Geländer gelehnt und halb mir zugewandt, als wollte er mich im Auge behalten, während die Schritte des anderen sich in der Richtung meiner Zimmer entfernten. Jetzt! dachte ich. Jetzt entdeckt er sie...! Aber es geschah nichts Aufregendes. Nach einer Weile kamen sie wieder herab. Ich saß auf Nadeln -eine spitzer als die andere , aber sie beachteten mich gar nicht, sondern sahen sich in den unteren Räumen um. Irgendwie schienen sie das Interesse verloren zu haben, denn sie kamen bald zurück und verließen das Haus mit wenig freundlichem Gruß. Ich saß einen Augenblick betäubt da, dann stürzte ich die Treppe hoch und in den Vorraum. Dort starrte ich entgeistert auf den kahlen Boden. Die Leiche war verschwunden! Das Mädchen ließ sich den ganzen Nachmittag nicht blicken. Und ich war zu beschäftigt, um nach ihr zu suchen. Ich begab mich in einige der nahegelegenen Läden und kaufte Lebensmittel ein. Danach machte ich mich daran, das Haus systematisch zu durchstöbern. Ich zählte neun große Räume im Erdgeschoß und eine Unzahl von kleinen Kammern, Abstellräumen und dergleichen. Es war ein kleines Labyrinth, aber ich fand mich bald zurecht. Die Zimmer waren alle vollgerammelt mit Möbel und Bildern und allerlei Krimskrams, vieles wertvoll, vieles Plunder. Schließlich fand ich auch den Abgang in die Kellergewölbe. Ich war vorsichtig genug, die Taschenlampe mitzunehmen, obwohl die Deckenbeleuchtung brannte. Wenn es Angela einfiel, den Strom abzuschalten, stand ich plötzlich in der Finsternis, und das war kein angenehmer Gedanke. Der Keller war riesig. Grobe Ziegelmauern bildeten ein großes Gewölbe, in dem sich eine Menge Gerumpel - von alten Fahrrädern bis zu verstaubten Regalen - befand. Eiserne Türen führten in allen Richtungen aus diesem Gewölbe. Die erste, die ich versuchte, tat sich in den Heizungsraum auf, in dem ein ziemlich moderner Ölbrenner stand. Die zweite führte zu den Tanks. Die dritte gewährte Einblick in einen umfangreichen, halbleeren Weinkeller, dessen Flaschenfülle noch immer sehr beeindruckend war. Die vierte und letzte Tür eröffnete einen schmalen, feuchten
Gang, in dem kein Licht brannte. Ich schaltete die Taschenlampe ein. Schmale Nischen befanden sich links und rechts. Das Ganze sah aus wie ein Luftschutzbunker und hatte wohl auch als ein solcher gedient. Am Ende befand sich eine weitere Tür. Sie war verschlossen. Ich suchte eine Weile nach einem Schlüssel, fand aber keinen. Als ich mich umwandte, vermeinte ich ein Gesicht verschwinden zu sehen. Ich mochte mich in dem düsteren Licht auch getäuscht haben. Aber der Gedanke, mit Angela hier in diesen Gewölben allein zu sein, war plötzlich höchst beunruhigend. In der Tat außerordentlich beunruhigend - mit einer Mörderin Versteck zu spielen! Als ich nach oben kam, war auch die Leiche wieder da. Sie lag in der Bibliothek. Es war ganz offensichtlich, was es bedeuten sollte: Das Mädchen wollte, daß ich die Leiche beiseite schaffte. Und mir blieb gar nichts anderes übrig. Es war noch zu früh, die Tote einzugraben, und zu riskant, sie mitten im Raum liegen zu lassen. Es mochte immerhin sein, daß Frau Ahrenberg auftauchte; sie besaß ja einen Schlüssel zum Haus. So zog ich sie in den Korridor zur Küche und in eine der Besenkammern. Als ich zurückkam, saß Angela in der Bibliothek. „Was hast du mit ihr vor?" fragte sie. Erstaunt sah ich sie an. Es war das erstemal seit meiner Berührung, daß sie wieder mit mir sprach. Zudem duzte sie mich noch. „Sie eingraben, sobald es dunkel wird", erklärte ich heiser. Sie nickte. „Dann bist du mitschuldig, nicht wahr?" Es lag Befriedigung in ihrer Stimme. „Hast du sie umgebracht?" „Ja", erklärte sie gleichmütig. „Warum?" entfuhr es mir. „Wir... brauchten ihr Herz...", sagte sie. „Und wir brauchen noch mehr..." „Ihr Herz...?" rief ich. „Aber in Gottes Namen, WOZU?" „Die Kraft, die es schlagen läßt", meinte sie abwesend, „sie ist das Geheimnis des Lebens..." „Aber doch nicht allein", widersprach ich automatisch. „Doch", meinte sie, „die Zellen des Herzens bergen die geheime
Kraft des Lebens. Das wußte man vor Tausenden von Jahren schon..." „Du bist verrückt", rief ich. „Du denkst, wenn du das Herz aus einem menschlichen Körper reißt, hast du das Geheimnis des Lebens entdeckt...? Das ist Wahnsinn! Siehst du nicht, daß es nur eine Funktion erfüllt wie die anderen Teile des menschlichen Körpers?" „Das ist der Aberglaube der modernen Wissenschaft", stellte sie spöttisch fest. „Komm, ich will dir etwas zeigen..." Sie schritt voran in den Keller. Wir gingen den schmalen Gang in das hintere Ende des Kellers. Dort hielt sie vor der verschlossenen Tür. Sie nahm einen Schlüssel aus einer Tasche ihres Kleides und schloß auf. Neugierig trat ich hinter ihr ein. Der Raum war größer, als ich erwartet hatte. Sein Aussehen aber war so abseits all meiner Vorstellungen, daß mir die Luft wegblieb. Ich stand in einem Tempelraum! Ein gewaltiger Altar aus dunklem Marmor erhob sich in der Mitte, auf dem Ketten und Ringe befestigt waren, über deren Zweck kein Zweifel bestand. Schwarze Vorhänge bekleideten alle Wände und verliehen dem Raum eine aufdringlich gedämpfte Atmosphäre, die noch erhöht wurde durch Kerzen und einen seltsamen Geruch, der die Sinne betäubte. Über dem Altar erhob sich eine mannshohe Statue in der Gestalt eines reptilartigen Wesens mit einem schmalen, langen, nasenlosen Gesicht und engen, schrägliegenden Augen, die geschlossen waren. Ein kostbarer Helm bedeckte den mundlosen Schädel, aus dem seitlich über den Öffnungen der Ohren, wenn es solche waren, ein knöcherner Fächer ragte, von dünner schwarzer Haut überspannt. Auch seine Arme waren wie Flügel, die dünnen Flughäute nun gefaltet. Diese Travestie eines Menschen - und gleichzeitig eines Reptils... Was war sie? Das Abbild eines lebenden Wesens? Wohl kaum. Ein Kunstwerk religiöser Phantasie vielleicht? Die Statue eines Gottes oder Teufels? Ein altes Buch lag auf dem Altar. Mich ekelte vor den dunklen, rötlichen Flecken auf dem schwarzen Einband, aber wie in Trance griff ich danach und schlug es auf.
Es war in französischer Sprache. Aber ich brauchte nicht Französisch zu verstehen, um zu erkennen, welches Buch ich vor mir hatte: Das NECRONOMICON. Das legendäre Buch der Schwarzen Magie, das alle Geheimnisse des Lebens enthalten soll und alle Formeln, um es zu erschaffen... Selbst wenn ich nicht an diesen Humbug glaubte, so lief es mir nun in diesem Augenblick kalt über den Rücken. Ein rotes Band hing zwischen den Seiten hervor. Ich nahm es und schlug das Buch an dieser Stelle auf. Mit brennenden Augen starrte ich auf eine Zeichnung - die Zeichnung des reptilienartigen Schädels über dem Altar. Ein Geräusch ließ mich herumfahren. Angela kniete vor dem Altar - zusammengesunken. Sie war nach vorn gekippt. Ich sprang zu ihr und zog sie hoch. Wieder spürte ich die Kälte ihrer Haut. Wie die einer Schlange fühlte sie sich an. Das Mädchen reagierte nicht auf meine Berührung. War sie tot? Ich schüttelte sie. Kein Lebenszeichen kam, und ich blickte anklagend zur Statue hoch in einer instinktiven Geste. Grauen erfaßte mich. Die Augen in dem schmalen Gesicht hatten sich geöffnet. Sie waren rötlich und ihr Blick von solcher Dämonie, von derart böser Glut erfüllt, daß ich unwillkürlich zurückwich. Plötzlich ein Pochen - nein, ein mehrfaches Pochen. Mein Blick fiel auf ein steinernes Gefäß neben der plötzlich so lebendigen Statue. Ich ließ Angela los. Sie fiel zu Boden, aber es kümmerte mich nicht. In einer Flüssigkeit so klar wie Wasser schwammen unzählige dunkle, zuckende Gebilde. Menschliche Herzen! Herausgerissen aus den Leibern, wie seltsame, lebende Früchte abgeschnitten an den weißlichen Adern, schwammen sie, und ihr Schlagen ließ das Wasser aufwallen. Sie lebten und pochten mit einer unglaublichen Kraft. Ich wandte mich um und lief. Aber der Anblick folgte mir, und bald war mir, als sei das ganze Haus erfüllt von diesem widernatürlichen Pochen. Der Impuls, einfach ins Freie zu laufen, den Alptraum abzuschütteln, war übermächtig. Als ich im Garten stand, kam die Vernunft zurück. Ich konnte Angela nicht so einfach verlassen.
Sie war offenbar ganz in der Gewalt dieses - Wesens. Ich unterdrückte die instinktive Furcht, die mich drängte fortzulaufen, und ging ins Haus zurück. Ich war einmal aus diesem Raum herausgekommen, warum nicht auch ein zweitesmal? Fast schämte ich mich meiner kopflosen Flucht. Alles, was ich gesehen hatte, schien mir plötzlich höchst absurd. Aber als ich den Keller betrat, da glaubte ich wieder das Pochen zu hören. Doch ich war entschlossen, Angela zu holen, und so stieg ich, mit einer wachsenden Kälte im Herzen, in die Düsternis hinab. Die Tür stand noch offen. Das Pochen war deutlich zu vernehmen. Rasch beugte ich mich zu der noch immer reglosen Gestalt des Mädchens und hob sie hoch. Die Augen der Statue waren geschlossen, dennoch hatte ich, als ich mich umwandte, das Gefühl, ihre rote Glut auf meinem Rücken zu spüren. Mit nicht ganz ruhigen Händen schloß ich die Tür und zog den Schlüssel ab. Von diesem Augenblick an war ich ruhiger. Ich stieg mit meiner Last nach oben, verschloß auch die Kellertür und stand aufatmend in der Bibliothek. Das Mädchen regte sich nicht. Es lag wie tot in meinen Armen. Tot? Ihre kalte Haut verstärkte diesen Eindruck noch. Rasch legte ich sie auf den Boden, fühlte nach ihrem Puls, ihrem Herzschlag, irgendeinem Lebenszeichen. Nichts. Sie war so tot wie sie kalt war. Ich starrte eine Weile auf ihre weiße, reglose Gestalt. Ich fühlte weder Mitleid, noch berührte mich ihr Tod schmerzlich. Zuviel war geschehen seit meiner Ankunft in der Villa. Zu sehr hatte die Kleine sich mir entfremdet. Ich hatte versucht, sie zu retten, und war zu spät gekommen. Ich hatte getan, was ich konnte, und steckte nun selbst bis über den Kopf in Problemen. Ich ging zum Tisch und griff nach dem Telefon. Wenigstens Frau Ahrenberg konnte ich anrufen. Sie konnte später bezeugen, was ich ihr nun zeigte... Ich hatte kaum zu wählen begonnen, als ich ein Geräusch hinter mir vernahm. Ich fuhr herum. Angela hatte sich aufgesetzt. Ich ließ den Hörer fallen und sprang auf sie zu. „Gott sei Dank, du lebst", rief ich. Ich zog sie hoch. „Rasch. Wir müssen fort hier!" Ich nahm sie am Arm und zog sie zur Tür. Sie wehrte sich. Ich dachte in diesem Augenblick gar nicht daran, wie es möglich war,
daß sie lebte; ich wußte nur, ich mußte sie irgendwo hinbringen, wo sie sicher war, und wo ich ihrer sicher war. Als ihr Widerstand heftiger wurde, hatte ich alle Mühe, ihrer Herr zu werden. „Nein!" kreischte sie und schrie, daß sich mir die Haare aufstellten. Aber es war mir gleich. Je mehr Leute davon angelockt wurden und herbeieilten, desto besser. Es gab kein Zurück mehr. Sie schien plötzlich einzusehen, daß nichts mich abhalten würde, sie mitzunehmen, denn sie gab ihre Gegenwehr auf. Sie sagte: „Du nimmst eine Tote mit dir fort, Peter." Verblüfft ließ ich sie los. Sie lief nicht weg. Ihre Stimme klang plötzlich anders, sanft und freundlich wie am ersten Tag, als ich vor ihrer Tür gestanden hatte. „Gib mir einen Augenblick Zeit", bat sie. „Ich fühle mich so schwach. Ich war noch nie so weit von ihm." „Von ihm?" fragte ich. „Wer ist er?" „Pharoshyr", murmelte sie. „Einer der ältesten Götter der Welt. Er ist so alt, daß er bereits im längst versunkenen Atlantis und Lemurien halb vergessene Legende war..." „Diese Statue da unten ?" entfuhr es mir. Sie nickte. „Ja, Peter. Das Al Azif berichtet, daß Pharoshyr schon über das Antlitz der Erde trat, als dieses kaum geboren war und als alles Leben noch im Meer entstand." „Das Al Azif?" fragte ich verständnislos. „Das NECRONOMICON", erklärte sie. „Aber nicht jenes, das Abdul Alhazred im achten Jahrhundert vor Christus in Damaskus geschrieben haben soll, sondern die Abschrift weitaus älterer Schriften, aber das ist alles nicht so wichtig." Sie zögerte. „Vater fand dieses älteste aller Bücher. Er sprach nie darüber wo. Und er fand auch Pharoshyr, der unsterblich war und auf seine Wiedererweckung wartete." Ich lauschte fasziniert ihren Worten. „Mein Vater hatte die alten Formeln studiert. Er war besessen von der Idee, Pharoshyr zu neuem Leben zu beschwören. Aber er brauchte für diesen Ritus das Herz eines Mädchens. Deshalb nahm er mich mit nach Aden." Ich starrte sie entsetzt an. „Er hat dich getötet?" „Er hat mich geopfert. So wie sich selbst. Wir sind beide dort gestorben in dieser Höhle. Eines der unsterblichen Herzen im Altargefäß ist meines. Alle, die ihr Herz Pharoshyr opfern, werden ewig, denn er ist das Leben. Er hat die Erde fruchtbar gemacht!"
Sie bemerkte den Unglauben auf meinem Gesicht. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie an ihr Gelenk. „Fühlst du einen Pulsschlag?" Nach einem Augenblick legte sie meine Hand an ihre Brust. „Oder einen Herzschlag? Ist meine Haut nicht hart und kalt wie die einer Toten? Ich bin längst tot!" Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was dieses Monstrum im Keller ist. Aber ich sehe, daß es dich in seiner Gewalt hat. Und wenn ich dich hier wegbringe..." „Dann werde ich aufhören zu existieren, weil ich seine schützende Kraft verliere. Laß mich zurück ins Haus." „Angela", sagte ich beschwörend, „das kann ich nicht. Du hast mindestens einen Menschen umgebracht. Nein, nicht du, dieser Dämon da unten. Und er wird es wieder tun. Durch deine Hand." „Nein", unterbrach sie mich rasch. „Ich habe mein Leben gegeben, damit er erwacht. Ich..." „Du bist nicht tot!" stellte ich fest. „Er läßt dich nur denken und glauben, du wärst tot." „Nein", erwiderte sie hastig. „Er hat mein Herz!" „Das ist Unsinn, Angela. Es wäre widernatürlich und wider alle Vernunft. Dieses tote Mädchen - ist nicht auch ihr Herz in dem Gefäß?" Sie nickte. „Siehst du. Und sie ist mausetot. Nichts kann sie mehr lebendig machen -" „Sie könnte aufwachen wie ich", meinte sie bestimmt. „Es liegt in seiner Hand. Aber sie wird nicht erwachen, denn sie hat ihr Leben nicht freiwillig gegeben." „Nichts mehr macht sie lebendig", wiederholte ich. „Und auch dich würde nichts mehr lebendig machen, wenn du wirklich tot wärst. Jeder Arzt könnte dir bestätigen, daß du lebst. Daß ich im Augenblick deinen Pulsschlag nicht feststellen kann, weil er schwach ist, hat nichts zu bedeuten. Auch nicht deine kalten Arme. Das läßt sich durch so einen einfachen Trick wie Hypnose bewirken..." Ich sah plötzlich alles viel einfacher und klarer. Hypnose! Das war des Rätsels Lösung. Sie war auch für das verantwortlich, was ich im Keller gesehen hatte. Ein Scharlatan hatte Angela in seiner Gewalt! Und mich dazu an der Nase herumgeführt! Ein wiedererweckter Gott! Es war zum Lachen. Dann starrte ich das Mädchen ungläubig an.
Wir standen dicht nebeneinander auf dem Kiesweg, und die tiefstehende Abendsonne warf meinen Schatten quer über den Weg, lang und schmal. Ich fuhr mit der Hand über meine Augen. Ich trat einen Schritt zur Seite. Aber der Irrsinn blieb. Es gab nur einen Schatten. Nur meinen! Ich wollte fliehen, aber statt dessen folgte ich ihr wie in Trance ins Haus zurück. Ich schritt hinter einer Toten her - einem Geist, einem Gespenst, einer physikalischen Absurdität! Warum war es mir nie zuvor aufgefallen, daß sie keinen Schatten besaß? Es war offensichtlich, warum. Die seltsame Beleuchtung, die nicht von der Decke kam, sondern gleichmäßig und gedämpft von allen Wänden strahlte, ließ mich beinah meinen eigenen Schatten vergeblich suchen, so daß mir schon der wahnsinnige Gedanke durch den Kopf schoß, daß ich vielleicht selbst nicht mehr am Leben war. Was wollten sie von mir? Mein Herz? Sie hätten mich längst töten können. „Du gehörst jetzt zu uns", sagte Angela. „Du bist zwar nicht tot, und ich weiß nicht, welche Pläne der Meister mit dir hat, aber ich bin sicher, daß er dich nicht mehr fortläßt. Schließlich weißt du zuviel. Ein Lebender ist eine gute Tarnung und ein guter Lockvogel. Wenn es dir einfallen sollte, uns zu verlassen, wird die Leiche der kleinen Japanerin zum Vorschein kommen - vielleicht auch die ihrer Begleiterin. Und es gibt noch mehrere. Es ist dir doch klar, was das bedeutet?" Sie musterte mich mit kalten Augen. Jetzt erst fiel mir auf, wie wenig noch menschlich an ihr war. Es war, als hätte die Erkenntnis eine Maske von ihrem Gesicht gezogen. Ich antwortete nicht. Ich tat nichts. Ich saß in der Bibliothek und wartete. Es war mir gleichgültig, was geschah - ich würde etwas unternehmen, sobald es dunkel war. Ich befand mich mit einer Toten im Raum. Mit einer lebenden Toten! Es gab keine Logik mehr, an die ich mich klammern konnte. Der Aberglaube war plötzlich Realität. Und nun, da ich den Aberglauben akzeptieren mußte, war auch die Furcht da. Eine jahrtausendealte Furcht, mit der der Mensch aufgewachsen war. Und der er endgültig zu entschlüpfen trachtete. Als Angela den Raum verließ, dachte ich verwundert, wovon sie
wohl beseelt war - von der lenkenden Kraft ihres Meisters? Besaß sie einen eigenen Willen, oder war sie nur die Marionette, für die ich sie hielt? Ihr Körper war tot, daran zweifelte ich nicht mehr. Es konnte also keine körperlichen Bedürfnisse mehr geben für sie - keinen Hunger: ich hatte sie in der Tat nie essen sehen; keine Schmerzen: ob sie wohl überhaupt etwas wahrnahm mit ihren Sinnen? Ob sie etwas fühlte? Waschen? Sicherlich. Waschen mußte sie sich wohl gelegentlich. Auch tote Leiber wurden schmutzig. Und sie kleidete sich um. Kannten die Toten so etwas wie Eitelkeit? Oder, und das schien mir plötzlich die wahrscheinlichere Lösung, war dieses Ungeheuer darauf bedacht, daß seine Puppen sich möglichst menschlich benahmen? Ich schauderte zusammen. Ich nahm das Telefonbuch und schlug die Seite der Notrufe auf. Dann griff ich zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei. Ich lauschte eine Weile, aber es ertönte kein Signal. So versuchte ich es erneut, merkte aber schon nach den ersten Zahlen, daß die Leitung tot war. Irgend etwas stimmte mit dem Telefon nicht. Und ich machte mir keinerlei Illusionen darüber, was es war. Also gab es nur einen Weg: Ich mußte fliehen! Als ich mich erhob, sah ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Jemand wollte mir den Weg ins Freie versperren! O mein Gott, ich mußte rasch handeln! Ich sprang zum Schalter und knipste das Licht an. Die tote Japanerin stand an der Tür - nackt wie sie gewesen war, als ich sie in meinem Bett fand. Noch immer war sie an Brust und Bauch und Schenkeln mit dunklen Flecken geronnenen Blutes bedeckt. Aber der breite Schnitt zwischen den Rippen hatte sich wie durch Zauberei geschlossen. Ihre Augen waren leer. Vielleicht blickten sie nach innen, vielleicht auf einen Punkt weit hinter mir. Und dennoch hatte ich das Gefühl, daß sie jede meiner Bewegungen erfaßte. Mein Blick fiel auf das dunkelrot gefleckte Messer in ihrer Rechten. Sie hielt es in ihrer Faust, den Daumen nach oben. Ich ahnte, der Stoß würde von oben kommen - oder gar nicht. Es ging nicht darum, mich zu töten. Sie wollten mein Herz! Ich ergriff einen Stuhl an der Lehne, stieß ihn mit aller Kraft vorwärts und sprang hinterher. Das Mädchen wich mit einem un-
glaublichen Reflex aus und fing mich mitten im Sprung. Ihre kalten Arme umschlangen mich. Aber mein Schwung war so groß, daß sie mich nicht halten konnte. Wir fielen beide und rollten über den Boden. Geräusche waren plötzlich auch hinter mir. Vorsichtig blickte ich mich um. Die Japanerin griff nicht mehr an. Sie schien nur darauf bedacht, mich abzuwehren und von der Tür fernzuhalten. Aber was ich hinter mir sah, machte meine Lage hoffnungslos. Ein Dutzend Mädchen standen in der Bibliothek, alle mit den gleichen teilnahmslosen Gesichtern. Zum Teil bekleidet, zum Teil nackt, wirkten sie wie eine hastig geweckte Streitmacht. Und das waren sie wohl auch. Es schien keinen Ausweg zu geben. Der einzige freie Weg schien die Treppe zu sein, die zu meinen Räumen führte. Ich überlegte nicht lange. Ich hetzte los. Auf halber Treppe ließ mich Angelas Stimme innehalten. „Peter!" rief sie. „Peter, warte!" Ich blieb stehen. Sie waren mir nicht gefolgt. Ich atmete auf. Angela stand am Fuß der Stiege und sah zu mir hoch. „Peter", wiederholte sie, „wenn du wegläufst, werden sie dich jagen!" Sie deutete auf die schweigenden, reglosen Gestalten. „Und er wird dich zu einem von ihnen machen, zu einer Puppe, die er lenken kann wie es ihm beliebt." Sie sah mich fast bittend an. „Wenn du aber freiwillig bleibst, als Verbündeter, und das Geheimnis wahrst, wird dir nichts geschehen, bis..." „Bis?" „Bis du den Wunsch hast, nicht mehr älter zu werden. Dann wirst du so sein wie ich - sein unsterblicher Diener." „Sein Sklave", berichtigte ich sie. „Nein", sagte sie rasch. „Nein, es ist mehr, Peter!" „Aber du bist tot!" stellte ich fest. „Empfindest du irgend etwas? Irgendein menschliches Gefühl?" „Gefühle?" wiederholte sie. „Ja, ich erinnere mich an Gefühle, aber sie werden schwächer. Die Erinnerung an sie wird verlöschen. Sie sind ein vages Überbleibsel aus den Wirrnissen des Lebens, in denen der Körper von tausenderlei Dingen dirigiert wird, von Nöten und Empfindungen und Bedürfnissen. Gefühle sind nur Ballast, Peter!" „Gefühle nur Ballast?" erwiderte ich aufgebracht. „Liebe zum Beispiel, Liebe soll Ballast sein?"
„Liebe", wiederholte sie. „Glaubst du, die Toten lieben nicht?" Sie kam einen Schritt auf mich zu, aber ich wich zurück. „Bleib wo du bist!" „Die Toten lieben auch", fuhr sie unbeirrt fort. „Ich verliebte mich in dich, als du kamst. Deshalb ließ ich dich ein. Ich wollte, daß du bleibst. Er wußte nichts davon. Ich hoffte, du würdest dich in mich verlieben, und ich könnte dich stark genug an mich binden, daß du mir dein Leben opfertest. Aber dann kam meine Mutter in die Quere, und deine Neugier erwachte." „Du bist verrückt", entfuhr es mir. „Vielleicht", gestand sie zu, „aber ich liebe dich noch immer. Nichts sähe ich lieber, als dich an meiner Seite - unsterblich! Für alle Zeiten! Peter! bleib bei mir -" „Als Toter?" erwiderte ich höhnisch. „Als Lebender, wenn du willst. Ich werde auf dich warten!" Wütend darüber, daß der Gedanke mich plötzlich nicht mehr mit Grauen erfüllte, stieß ich hervor: „Um zu morden, und immer wieder zu morden! Sieh sie dir doch an. Für sie vermagst du nichts zu empfinden. Mitleid hast du wohl vergessen?" „Bald wird es nicht mehr nötig sein, sie zu zwingen, wenn erst die Altäre Pharoshyrs überall auf der Erde stehen und die Menschen ihn als den wahren Gott verehren. Dann wird auch ihre Stunde der Erlösung kommen." „Erlösung?" fragte ich, wider Willen beeindruckt von ihren Worten. „Ja, glücklich. Es wird bald keinen Krieg mehr geben, keine Krankheiten, keinen Hunger, keine Probleme der Übervölkerung oder Umweltverschmutzung mehr, denn der unsterbliche Körper hat keine Bedürfnisse. Aber das kann erst geschehen, wenn alle bekehrt sind. Willst du uns nicht helfen, Peter?" Ich sah sie an, und ich vergaß einen Augenblick, wie kalt sie war- wie tot! Ich begehrte sie. Ich fühlte eine Leidenschaft wie nie zuvor. Ich begann hinabzusteigen unter ihrem beschwörendem Blick. Sie breitete die Arme aus. Die Kälte ihres Fleisches, als sie mich umarmte, brachte mich zur Besinnung. Ich erwachte wie aus einer Trance und stieß sie angewidert zurück. „Nein", murmelte ich und ballte die Fäuste. „Nein, ich werde nie zu euch gehören. Ihr nennt es bekehren, aber ihr seid Mörder. Mörder!" Ich schrie die letzten Worte hinaus, dann hastete ich die Treppen hoch.
Dann lauschte ich und hörte mit einem kalten Gefühl der Furcht, wie sie hochkamen und gegen die verriegelte Tür prallten mit ihren toten, schmerzlosen Körpern, daß es in den Angeln krachte. Ich fuhr zurück. Nun wurde es ernst. Ich stürzte zum Fenster, riß es auf und starrte in die Finsternis. Da war ein schräges Stück Dach. Rechts ein Schornstein. Ich sah ihn nur undeutlich, aber ich hatte ihn mir gemerkt, für eine mögliche Flucht. Flach auf dem Dach liegend mußte es möglich sein, sich hinüberzutasten, aber ein Fehltritt, eine unvorsichtige Bewegung bedeutete den Sturz und das Ende. Entschlossen kletterte ich aus dem Fenster. Es gelang mir, es zu schließen, bevor sie in das Zimmer kamen. Das würde mir ein paar Sekunden Vorsprung verschaffen. Keuchend lag ich auf der verdammt glatten Fläche, die Fingernägel in die schmalen Kanten des Eternits gekrallt. Meine Schuhe fanden nur mühsam Halt. Das ganze Gewicht lastete auf den Fingern, und der Schornstein schien unerreichbar. Aber ich schaffte gut zwei Meter, bevor sie das Fenster aufrissen. Es gab keine Deckung, und sie bemerkten mich sofort. Das Unheimlichste war ihr Schweigen, die Lautlosigkeit, mit der sie agierten und der dirigierenden Kraft ihres Meisters gehorchten. Ich schob mich weiter. Meine Finger waren schlüpfrig von Blut. Ich glitt ab und rutschte, bis meine Füße in der Dachrinne Halt fanden. Dann gab die Rinne nach. Ich fiel, griff vergeblich nach Halt. Ich komme, Angela, dachte ich bitter. Seltsamerweise hatte ich keine Angst. Sie würden mich nun doch nicht bekommen. Ich spürte den Aufschlag an Schultern und Genick. Aber ich fühlte den Schmerz nicht mehr. Der Schmerz blieb auch aus, als ich erwachte. Das erschien mir seltsam. Aber ich fühlte gar nichts - nur einen schwachen Druck, der besagte, daß da ein Rücken war, auf dem ich lag. Aber sonst hätte dieser Körper auch tot sein können. Bei Verletzungen der Wirbelsäule, dachte ich, kann es geschehen, daß man vollkommen gelähmt ist und nichts mehr fühlt. War mir das geschehen?
Ich versuchte mich aufzurichten, und es gelang mühelos. Nein, ich war nicht gelähmt. Etwas anderes war mit mir los. Eine ungewohnte Leichtigkeit ließ mich taumeln und meine Kräfte falsch einsetzen. Schritte näherten sich. Ich hielt den Atem an, um zu lauschen. Die Tür öffnete sich, und Angela trat ein. Sie sah mich stehen und nickte. „Ich bat ihn, dir eine Chance zu geben - um meinetwillen, die ich seine oberste Priesterin bin. Komm", sagte sie, „wir wollen ihm danken." Ich verstand nicht gleich, was sie meinte. Es war nur beruhigend, sie zu sehen. Erst als wir den Keller durchquert hatten und in den Altarraum traten und in mein Bewußtsein sickerte, daß ich noch immer die Luft anhielt - da verstand ich! Ich war tot! Eines der Herzen, die dort in dem Gefäß unermüdlich pochten, eines davon war meines. Fast vermeinte ich das vertraute Schlagen herauszuhören. Angela bestätigte es mir. „Ja, du bist tot, mein Liebster. Du bist durch den Sturz gestorben. Siehst du nun, welch ein Geschenk die Unsterblichkeit ist?" Ja, ich begann es zu sehen. Langsam - weil mir zutiefst widersinnig erschien, daß der Tod die Unsterblichkeit bringen sollte und daß sie von den pulsierenden Zellen eines einzelnen Organs abhängen sollte. Aber selbst der ungläubigste Thomas muß die Wahrheit schließlich eingestehen, wenn er sie am eigenen Leib erfährt. Ich war tot - und ich hatte keine Veranlassung zu zweifeln, daß ich nicht auch unsterblich war. Frau Ahrenberg hatte nicht recht. Es hing nicht mit dem Vollmond zusammen. Die Aktivität Pharoshyrs und seiner Geschöpfe ging ungehindert weiter in dem großen Haus, und in der folgenden Nacht hallten wieder die Schreie durch die Finsternis, wie ich sie das erstemal vernommen hatte - ein furchtbares Wimmern und Schreien, menschlich, und doch bereits unmenschlich in der Intensität der Qualen. Ich schauderte und vermeinte fast, eine Gänsehaut zu verspüren, denn die Erinnerung an Gefühle war noch frisch in mir. „Angela!" rief ich. Aber sie meldete sich nicht. Dann erinnerte
ich mich an ihre Worte - daß sie es war, die das Messer führte und das Herz herausschnitt. Sie mußte sich im Altarraum befinden. Ich stand einen Augenblick unschlüssig. Meine verdammte Neugier trieb mich hinabzugehen und zu sehen, was da vorging. Um so mehr, als ich wußte, daß seit Tagen niemand mehr das Haus betreten hatte. Ich war nicht gerufen und es ging mich nichts an. Aber meine Neugier wurde stärker. Die Kellertür stand offen. Ich zögerte nur einen Moment, dann stieg ich die düstere Treppe hinunter und hielt auf halbem Weg erstarrt inne - innerlich erstarrt. Ein Mädchen krümmte sich auf dem schmutzigen Kellerboden. Sie stieß die entsetzlichen Schreie aus. Das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, ihre Züge waren verzerrt. Aber ich erkannte sie trotzdem. Sie war eine der Toten! Und ich registrierte bestürzt, daß offenbar auch die Toten Schmerz empfanden. Und was für einen Schmerz! Nichts Menschliches war mehr an dem Mädchen. Ich versuchte sie aufzuheben, festzuhalten, doch es war unmöglich. Aber im nächsten Augenblick stieß sie einen schrillen, langgezogenen Schrei aus, der nach der Ewigkeit mehrerer Sekunden abbrach. Gleichzeitig wurde die Gestalt schlaff. Ich beugte mich über sie. War sie endgültig tot -ausgelöscht? Geschah es solcherart, wie ich eben miterlebt hatte, daß ein Toter starb? Stand mir das gleiche Schicksal bevor? War die ganze Unsterblichkeit nur ein leeres Versprechen? Mir wurde plötzlich klar, wie ausschließlich ich mich in der Gewalt Pharoshyrs befand. Es schien mir plötzlich wichtig, was er wirklich war -ein Gott oder nur ein Ungeheuer. Aber dann wußte ich, daß es bedeutungslos war, wofür ich ihn hielt. Ohne ihn wäre ich längst tot. Eine Tür öffnete sich. Angela erschien im Korridor. Sie schritt wie eine Schlafwandlerin. Verwundert sah ich sie an mir vorübergehen, ohne von mir Notiz zu nehmen. „Angela", rief ich halblaut, aber sie hörte mich nicht. Sie schien in Trance zu sein. Ich eilte hinter ihr her. Sie beachtete mich nicht, bis wir in die Bibliothek kamen. Da schreckte sie plötzlich auf und erkannte mich.
„Peter", murmelte sie. „Kannst du dich erinnern?" fragte ich rasch. Ich sah, daß sie nachdachte. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Ich erinnere mich, daß ich von oben kam, aber ich habe vergessen, warum..." „Von oben!" wiederholte ich. „Nein, Angela, du kamst von unten - aus seinem Raum. Ich hörte Schreie, und ich fand eines der Mädchen. Es... es starb - !" „Du mußt dich irren", erwiderte sie. „Niemand kann sterben. Sie sind doch bereits alle tot..." „Ich meine... endgültig sterben." „Unsinn...", begann sie. Ich machte keine Einwände. Ich sagte: „Komm mit." Und führte sie in den Keller. Doch dort wartete eine neue Überraschung. Die Tote war verschwunden. Ich mußte an Halluzinationen leiden. Vielleicht war das normal für meinen neuen, unsterblichen Zustand. Ich wußte es nicht. Ich wußte noch zu wenig über mich. Vielleicht phantasierte der Geist manchmal, wenn er seinem Körper entwöhnt wurde und die normalen physischen Funktionen nicht mehr ausfüllen konnte. Das war alles möglich. Aber eine instinktive Furcht nährte einen anderen Verdacht. Daß wir ganz der Willkür eines Dämons ausgeliefert waren. Mit mir konnte morgen das gleiche geschehen, was heute mit dem Mädchen geschehen war. Und mit Angela ebenso. War sie nicht eben in Trance durch den Keller gegangen, ohne daß sie eine Erinnerung besaß? Was trieb dieser Pharoshyr mit uns in den Stunden, an die wir uns nicht erinnerten? Ich erfuhr es bald - schon in der nächsten Nacht. Es war ein turbulenter Tag gewesen. Frau Ahrenberg selbst brachte uns neue Opfer ins Haus, eine Familie der höheren Gesellschaft der Stadt, eine ältere Dame mit zwei fast erwachsenen Töchtern. Ich erfuhr von Frau Ahrenberg, daß sie sich nun doch mit dem Gedanken trage, die Villa zu verkaufen selbstverständlich nur unter der Bedingung, daß ich bis zur Beendigung meines Studiums weiter hier wohnen dürfe. Daß ich hier wohnen könne, habe ihr gezeigt, daß nichts Unheimliches in dem Haus vorgehe. Sie führte die Damen durch das ganze Haus, und ich fragte mich, ob sie wohl das Kellerzimmer finden würden.
Aber sie fanden es nicht - nicht von sich aus. Ein anderer wies ihnen den Weg in seine Falle. Pharoshyr. Sie sahen sich plötzlich von Mädchen umringt, die mit eiskalten Händen nach ihnen griffen und die entsetzten Opfer in den Keller trieben. Es ging sehr rasch. Eine nach der anderen wurde auf den Altar gebunden, Frau Ahrenberg nicht ausgenommen, und Angela tat ihr blutiges Werk. Ich beobachtete sie gleichgültig, innerlich entsetzt darüber, wie kalt ich geworden war, nicht nur am Körper, sondern auch in der Seele. Es kam mir nicht in den Sinn, ihnen zu helfen. Ich war ja ein Teil des monströsen Geschehens. Plötzlich aber am späten Abend geschah etwas. Ich erwachte im Altarraum, ohne daß ich mir klar darüber wurde, wie ich dorthin gekommen war. Ich sah den Raum erst nur undeutlich, und nur mit äußerster Willenskraft gelang es mir, den Bann zurückzudrängen, der mich hielt. Ein irres Schreien drang von irgendwo her - spitze Schreie der Pein. Etwas starb! Aber noch immer sah ich nicht klar, was in meiner Umgebung vorging. Die Benommenheit wich nur langsam. Ich kniete und hielt etwas in Händen - hochgehoben über meinen Kopf. Ein schmatzender Laut kam ganz aus meiner Nähe. Dann erkannte ich Pharoshyr vor mir - die glühenden Augen weit offen, ein Bild dämonischer Gier. Er hielt etwas in Händen, das er immer wieder an eine mundartige Öffnung unterhalb seines schmalen Kinns brachte. Daher kam auch das Schmatzen. Dann wich der Bann plötzlich unter meiner Gegenwehr. Ich sah, was er in Händen hielt - ein Herz! Und ich erkannte im selben Augenblick auch, was er damit tat... Er fraß es! Grauen schüttelte mich. Was ich hochhielt, entfiel meinen Händen und zerbrach auf dem Boden. Es war das Gefäß mit den Herzen. Ein Großteil der glasklaren Flüssigkeit versprühte, die zuckenden Gebilde fielen in den Staub, rollten schlagend über den steinernen Boden. Eine vage Pein schwoll in meiner Brust, aber das Entsetzen machte sie bedeutungslos. Ich hatte erkannt, daß wir in den Händen eines Ungeheuers waren. Pharoshyr war kein Gott. Er war nur ein Überbleibsel aus einer unvorstellbar fernen Vergangenheit, als die Reptilien vielleicht die Herrn der Erde waren und die
Anfänge einer Intelligenz hervorgebracht hatten. Vielleicht hatte er nur überlebt, weil der primitive Mensch in ihm einen Gott sah. Gab es nicht Altäre genug in den frühen Kulturen, auf denen man Menschen das zuckende Herz aus dem Leibe riß und einem Gott opferte? Der es nahm - und fraß - und lebte! Das schmatzende Geräusch erstarb - das Schreien brach ab! Ich erwachte ganz aus meiner Starre. Ich stürzte mit geballten Fäusten vor und fegte Pharoshyr von seinem Podest. Er war zerbrechlich und spröde wie ein ausgestopftes Tier, das zu lange auf dem trockenen Speicher gestanden hat. Die schuppige Haut riß knisternd, Knochen brachen. Ein schriller Laut kam aus der Kehle des Wesens - ein Ton des Schmerzes, der mich tief befriedigte. Denn auch ich fühlte noch immer den Schmerz in der Brust, als risse mir jemand etwas aus dem Leib. Ich sprang über das Podest mitten auf die sich krümmende Gestalt. Und trampelte sie zu Brei - bis ihre Zuckungen, ihr Kreischen aufhörten. Dann riß ich wie in einem Taumel die Fackel aus der Halterung neben dem Podest und setzte die Vorhänge in Brand, bis Rauch das ganze Zimmer erfüllte und nichts mehr zu sehen war. Der Gott war tot - dachte ich triumphierend. Aber seine Geschöpfe litten noch und starben. Und ich mit ihnen... Blind taumelte ich durch den Qualm und stieß auf die Scherben des Gefäßes. Der untere Teil des steinernen Topfes war noch intakt. Zwei zuckende Gebilde lagen halb in der seichten Flüssigkeit. Sie pochten noch kräftig, während sich die anderen rundum bereits in der Glut krümmten. Ich verstand nun, daß es die Glut war, die ich in meiner Brust spürte - die Glut, die mein Herz fühlte. Eines der beiden mußte mein Herz sein! Ich lief aus dem Keller. Schon züngelten die Flammen im Korridor und fraßen sich in das Holz der Türen. Das Haus würde in Kürze in Flammen stehen und die Asche einer jahrtausendealten Kreatur unter sich begraben. Überall auf meinem Weg sah ich Körper, still und verkrümmt unter ihnen auch Angelas. Aber ich hielt mich nicht auf. Ich wußte, daß ich ihr nicht mehr helfen konnte.
Als ich aus dem Haus stürmte, sah ich den ersten Widerschein des Feuers in der Bibliothek flackern. Eine einsame Gestalt stand im Garten, bleich und verloren. Es war eines der toten Mädchen, das nun zum erstenmal bewußt wahrnahm, was mit ihr geschehen war. Ich sah es an ihren weitaufgerissenen Augen, die geweint hätten, wäre noch Leben in ihnen gewesen. So standen wir stumm da und sahen, wie das Haus aufloderte und verzehrt wurde wie ein dürres Blatt. In dem Tosen griff das Mädchen plötzlich nach dem Gefäß in meiner Hand. Ich sah das Grauen in ihren Augen, als sie erkannte, was es enthielt, und den Schock, als ihr auch die Wahrheit dämmerte. „Ihres und meines?" Ich nickte. Sie starrte mich an wie etwas ganz Unbegreifliches. Etwas war in ihren Augen, das sehr menschlich war, das ich aber nicht deuten konnte. Sie streckte ihre Hand aus, und ich wehrte sie nicht ab, als ihre Finger über eines der zuckenden Herzen glitten. Ich sah wie der Schmerz ihr Gesicht verzerrte, als sie ihr Herz fest in die kalte Faust nahm. Triumph funkelte in ihren Augen und wurde ausgelöscht von einer unerträglichen Qual. Ein wimmernder Laut entfuhr ihrem Mund. Dann hastete sie auf das brennende Haus zu und verschwand hinter dem Vorhang des Feuers. Ich hätte es ebenfalls tun sollen. Ich weiß nicht, was mich abhielt. Furcht? Feigheit? Ich hielt das Gefäß in den verkrampften Händen, sah das Mädchen sterben und war wie gelähmt. Erst später, als Menschen von den benachbarten Villen herbeieilten und Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge mit heulenden Sirenen die Straße entlang jagten, löste sich der Bann, und ich machte mich verstohlen in der Finsternis davon. Sie suchen nicht mehr nach mir. Für die Öffentlichkeit verbrannte ich in dem Haus. Aber ich lebe auf eine gespenstische Art, im Verborgenen. Es ist leicht, denn ich habe keine Bedürfnisse - weder Hunger, noch Ausscheidung, noch Bedarf an irgendwelchen Dingen, die dem menschlichen Leben von Bedeutung sind. Ich hinterlasse keine Spuren, und manchmal denke ich, daß es mich vielleicht gar nicht gibt.
Aber ich denke, und ich leide, und ich bin. Die Philosophen hätten ihre Freude an mir. Die Flüssigkeit, die mein pochendes Herz schützt, wird weniger. Es mag sein, daß sie verdunstet, oder daß die Zellen des Herzens sie als Nahrung aufnehmen. Ich kann bereits abschätzen, wann es zu Ende sein wird - in einigen Wochen, vielleicht in zwei Monaten. Es bleibt mir nur die Wahl, mich an die Menschen zu wenden, an die Lebenden - oder zu verlöschen... Aber die Probleme der Lebenden sind so gänzlich anders, ihre Medizin so komplex, ihr Leben so kompliziert. Man spricht zwar so viel von Herztransplantationen in letzter Zeit, aber sie liegen an den Grenzen menschlichen Fortschritts. Was meinst du, lieber Leser, der du dieses Manuskript in den Händen hältst, und der du vielleicht Arzt bist? Was würdest du tun, wenn ich eines Nachts zu dir käme in meiner Verzweiflung und dir mein Herz in die Hand drückte? Würdest du mir glauben? Würdest du mir helfen? Oder würdest du dich fürchten?
2 Der große Hunger Begonnen hatte es vor elf Tagen, als die erste Leiche zum Vorschein kam. Die Männer von der Highway-Patrol fanden sie in der Nähe von Mosby auf der 69er Autobahn in einem weißen Oldsmobile, Modell 1970. Als man sie in der Morgendämmerung entdeckte, schien das Blut noch verhältnismäßig frisch. Der Anblick, den die Leiche bot, war so entsetzlich, daß man mit überraschender Plötzlichkeit eine Reihe verstärkter Maßnahmen ergriff und höchste Stellen mobilisierte. Allein, die Untersuchungen ergaben nichts. Wayne hatte die Leiche noch am selben Morgen zu Gesicht bekommen. Wie aus den Papieren hervorging, handelte es sich um ein Mädchen von einundzwanzig Jahren, das in Kansas City, Missouri, wohnhaft war. Eine Farbfotografie zeigte sie blond. Bei der Identifizierung stieß man jedoch auf Schwierigkeiten. Das Gesicht
hatte alle Form verloren. Es war grau und eingefallen, wächsern und unsagbar alt. Die Kopfhaare waren weiß, die Augen fast farblos, Arme und Finger fleischlos und knöchern. Kleider, Sitze und Armaturen waren voll Blut, das aus einer Wunde am Hals stammte. Man stand vor einem Rätsel. Während man sich noch mit der Klärung des Falles abmühte, ohne jedoch in der Lage zu sein, allzuviel Licht in die Sache zu bringen, tauchte sechs Tage später eine zweite Leiche auf, welche sich nicht wesentlich von der ersten unterschied, mit der Ausnahme, daß es sich um einen Mann handelte. Auch hier wiesen die Papiere auf einen jüngeren Mann hin, während die Leiche alle Symptome eines alten, abgezehrten Menschen besaß. Die Wunde war in diesem Fall nicht am Hals, sondern am Hinterkopf. Der Mann stammte aus Excelsior Springs, einem kleinen Kurort nördlich von Kansas City, in dem auch Wayne Woodard zu Hause war, weshalb er dem Fall besondere Aufmerksamkeit zollte. Außerdem hatte er den Mann, Jimmie Eddington, persönlich, wenn auch nur oberflächlich gekannt. Obwohl er selbst zugeben mußte, daß die Leiche kaum etwas mit Eddington gemein hatte, blieb die Tatsache bestehen, daß dieser seit dem Tag der Auffindung der Leiche verschwunden war. Auch war sie in Eddingtons Wagen und in seinen Kleidern aufgefunden worden, besaß dieselbe Blutgruppe und die gleichen Fingerabdrücke. Es war also nicht unbedingt verwunderlich, wenn auch Wayne der allgemeinen Hysterie zum Opfer fiel und vage, aber immer wiederkehrende Gedanken wälzte, die schließlich in der unbestimmten Ansicht gipfelten, daß etwas Unheimliches und Entsetzliches vorgehen mußte. Um etwa dreiviertel elf verließen die letzten Picknickgäste Siloam Mountain und fuhren in den schlafenden Ort hinab, in die stillen Straßen zwischen den nachtdunklen Häusern. Wayne war der letzte. Versunken blickte er den entschwindenden Scheinwerfern des Wagens der Landings nach und lauschte dem Geräusch des Motors. Nach einer Weile versetzte ihn die Stille ringsum in einen wohltuenden Zustand der Entspannung. Statt in den Wagen zu steigen, nahm er auf einer der Picknickbänke Platz. Er rekapitulierte den Abend und versuchte sich seiner Gefühle Barbara
gegenüber klar zu werden. Er wußte, daß Ralph Landing seiner Beziehung zu seiner Tochter nicht abweisend gegenüberstand. Taylors Bemerkung über den Fall Eddington kam ihm in den Sinn: ,Und wohin führt es uns, anzunehmen, Jim sei noch am Leben, wenn alle Tatsachen dagegen sprechen?' Und Ralphs Antwort: ,Und wohin führt es uns, anzunehmen, die aufgefundene Leiche sei Jim, wenn uns der klare, nüchterne Menschenverstand sagt, daß dies nicht der Fall sein kann?' Im Augenblick kreisten seine Gedanken wieder um die beiden Morde und die unbegreiflichen Tatsachen, die damit zusammenhingen. Je länger er darüber nachdachte, um so mehr drängte er die Vernunft in den Hintergrund und zog allerlei obskure Schlüsse aus den Gegebenheiten, für die er sich Minuten später verrückt schalt, um gleich darauf von neuem darüber zu brüten, immer begleitet von einer vagen Furcht, die ihm früher fremd gewesen war. Kurz darauf fühlte er eine plötzliche Kälte sein Rückgrat entlangkriechen. Sein Nackenhaar sträubte sich. Mit unerklärlicher Sicherheit wußte er, daß er nicht mehr allein war. Er fuhr herum. Mit aller Gewalt unterdrückte er einen Aufschrei. Eisiges Entsetzen krallte sich um sein Herz und ließ ihn erstarren. Die Augen weit aufgerissen, starrte er auf die Gestalt, die eben dabei war, sich über ihn zu neigen. Ein dunkler Mantel verhüllte alles bis auf Hände und Gesicht. Die Hände schimmerten in der Finsternis bleich und waren vorgestreckt, als wollten sie etwas in würgendem Griff umfassen. Sie waren sehr nah. Das Gesicht war von gleicher Blässe und schien beim ersten Hinschauen keine Augen zu besitzen, wenn man von den zwei dunklen Höhlen absah, die ihm entgegenstarrten. Die Gestalt war auf Waynes unvermutete Reaktion in der Bewegung erstarrt. Sekunden verstrichen, ohne daß etwas geschah. Wayne kämpfte die Panik nieder, die ihn lähmte, und unterdrückte den Wunsch zu laufen. Langsam wich der Schreck aus seinen Gliedern, und mit ihm die Starre. Er sprang auf. Die Gestalt ließ die Arme sinken. Ein pfeifender Laut kam aus ihrem Mund. Wayne umklammerte die Kante des Tisches und überlegte fieberhaft. Als Reporter des Kansas City Star kannte er den Tod mit
seinen vielen Gesichtern. Er hatte ihn oft genug gesehen und beschrieben. Er war einer jener Menschen, die an der Unabwendbarkeit der Dinge keinerlei Zweifel hegten, sie mit aller Nüchternheit betrachteten und kein unnützes Wort darüber verloren. Der gewaltsame Tod, wie grauenvoll auch immer, vermochte ihn nicht zu erschrecken. Dennoch hatte er sich, seit die beiden entsetzlichen Morde geschehen waren, allerlei skurrilen Gedanken hingegeben, die in seltsamem Gegensatz zu seiner Nüchternheit standen. War dies nun das Ergebnis seiner abwegigen Phantastereien? Er strich mit der Hand über seine Augen, als wollte er ein Traumbild fortwischen. Als sich das Bild aber nicht veränderte, flackerte jäh erneutes Entsetzen auf. Tonlos murmelte er: „Wer sind Sie?" Der Unbekannte gab keine Antwort. Er senkte seine Augen in Waynes. Ein verwirrendes Feuer brannte tief in diesen Höhlen, griff nach ihm und löste in ihm ein Schwindelgefühl aus. Gewaltsam riß er sich los und hatte einen Augenblick das Empfinden einer gräßlichen Leere und Leblosigkeit. Der Tod!, dachte er. gleichzeitig fasziniert und abgestoßen von dem Gedanken. Irgendwo tief in ihm schwelte die Angst erneut auf, aber sie war nicht mehr greifbar und gegenwärtig, weil er sich an diese Empfindung der Leere und Leblosigkeit, als sie vorüber war, nicht mehr zu erinnern vermochte. Sorgsam dem Blick aus den tiefen Augenhöhlen ausweichend, fragte er: „Sind Sie der Tod?" Der Unbekannte nickte nur und blickte Wayne unverwandt an. Aber etwas schien Wayne falsch an dieser Vorstellung. Ein intuitives Auflodern der Nüchternheit vielleicht, oder das zuckende Spiel der bleichen, knöchernen Finger vor ihm - etwas drängte diesen Gedanken beiseite. „Nein, Sie sind es nicht!" „Sie reden zuviel!" Die ersten Worte, die der Fremde sagte, ließen Wayne zusammenzucken. Sie klangen schnarrend und spröde, begleitet von einem pfeifenden Entweichen von Luft. „Sie wollten mich... umbringen?" Wayne hielt den Atem an. „Ich will es immer noch!" Die Hände zuckten hoch und wurden zu häßlichen Krallen. Wieder fühlte Wayne die Gier im Wesen des andern. Er schauderte zurück. „Warum wollen Sie mich töten?" „Ich brauche das Leben. Ich muß es haben. Es ist..." Er brach
ab und suchte nach den richtigen Worten. Dann sagte er: „Es ist das Elixier, das ich benötige, um existieren zu können. Ich nehme es auf, wenn es aus dem Körper fließt!" Wayne versuchte verzweifelt Zeit zu gewinnen. Das Interesse, das er vorgab, und die scheinbare Ergebenheit in die Situation, während er diesem unheimlichen Fremden gegenüberstand, waren nur Maske. Innerlich bereitete er sich zum Sprung. „Sie meinen... Blut?" „Nein, kein Blut. Ich bin kein Vampir." Er lachte. Eine Folge von scharrenden Lauten. „Sie können es Lebenskraft nennen. Energie. Willenskraft. Wenn ich jemanden umbringe, entweicht es aus dem Körper..." „Die Seele?" Wieder das Lachen. „Was täte ich mit der Seele? Immer vorausgesetzt, daß es so etwas gibt. Oder... vielleicht ist es die Seele?" Sekundenlang starrte er sinnend ins Leere. „Nein, es ist ureigenstes Leben." Wayne horchte auf. Seine ganze innere Bereitschaft, sein schattenhafter Plan für ein mögliches Handeln wurden bedeutungslos angesichts des Gedankens, der ihm gekommen war. Sollte er doch recht gehabt haben, mit jener verrückten Idee, die von ihm Besitz ergriffen hatte? Seine Unterhaltung mit Ralph Landing vor dem Picknick kam ihm in den Sinn. „Ich muß mit dir reden. Mir geht die Sache nicht aus dem Kopf, so sehr ich mir auch einrede, daß es Unsinn ist." „Eddington?" „Mhm. Noch immer keine Spur von Jim?" „Nein." „Ihr werdet ihn nie finden, Ralph." „Warum gibst du diesen verrückten Gedanken nicht auf, Wayne?" „Es spricht zuviel dafür." „Unsinn! Ich war bei der Autopsie dabei. Die Leiche hatte mit Jim so wenig gemein, wie du mit mir, wenn nicht noch weniger..." „Bis auf die Tatsache, daß der Mann seine Kleider trug, seinen Wagen fuhr, die gleiche Blutgruppe hatte..." „Ich habe nicht behauptet, daß wir ihn lebend finden würden. Die gleiche Blutgruppe besagt nichts..."
„Aber die gleichen Fingerabdrücke, Ralph?" „Das ist allerdings seltsam." Und nach kurzem Nachsinnen: „Aber diese beiden Menschen waren siebzig oder achtzig Jahre alt. Und sie sind natürlich gealtert, Wayne. Du glaubst doch nicht an übernatürliche Dinge, oder derlei. Das ist absurd!" „Nein, natürlich nicht." Aber es hatte nicht sehr überzeugend geklungen. „Ach, zum Teufel, ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Es hat mich einfach gepackt, als ich die Leichen sah. Es ist nicht normal!" „Nein, das ist es nicht! Vielleicht wissen wir bald mehr. Jedenfalls handelt es sich bei den beiden Leichen nicht um die Verschwundenen, um Judith Beverley und Jim Eddington. Fingerabdrücke oder nicht!" „Und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß sie es doch sind." „Verdammt, Wayne, wie denn? Wie sollte das denn möglich sein? Wie?" Ja, wie? Diese Frage hatte er sich in den letzten Tagen immer wieder gestellt. War dieses ungeheuerliche Etwas vor ihm die Lösung? Es schien ihm gewiß! Er schauderte. Die bleichen Hände des anderen faßten ebenfalls den Tisch. Wayne zuckte vor der spinnenartigen Bewegung der Finger zurück. Er dachte an den kurzen Weg zum Wagen und an die Möglichkeit zu schreien. Aber um diese Zeit war kaum jemand in der Gegend. Und außerdem würde er nicht genügend Zeit haben. Der Fremde unterbrach Waynes verzweifelte Fluchtgedanken. „Dieser Körper", sagte er und blickte an sich hinab, „ist wie eine Batterie, die immer wieder aufgeladen werden muß. Und der Strom ist das, was Sie besitzen - Ihre vibrierende Essenz, Ihre erbärmlich zitternde Existenz. Wenn ich mir nehme, was ich brauche, um einen Tag existieren zu können, sind Sie um zehn Jahre älter geworden. Aber natürlich begnüge ich mich damit nicht!" Trotz des Entsetzens, das Wayne mit eisiger Hand umklammert hielt, drängte sein Inneres nach der Bestätigung seiner Vermutungen. Unsicher fragte er: „Wie bei Judith Beverley?" „Ach ja, die Kleine. Ich wußte ihren Namen nicht. Ich sehe mir
nie die Namen an. Um zu fragen ist keine Zeit. Sie gab mir sechs Tage. Sie wäre alt geworden. In den Zeitungen steht sicher nichts, wie? Ich lese aus Prinzip keine Zeitung..." „Und Jim Eddington?" sagte Wayne aschfahl. „Der Junge aus dem Ort hier?" Wayne nickte. Eine seltsame Ruhe hatte von ihm Besitz ergriffen. „Auch kein schlechter Fang. Fünf Tage. Es ist eine gute Gegend. Die Menschen sind gesund und kräftig. Sie werden alt, das ist für mich das Wesentliche." Und grinsend mit einem seltsamen Knirschen der Zähne, fügte er hinzu: „Ich hoffe, Sie enttäuschen mich nicht!" Wayne Woodard handelte blitzschnell und war dennoch zu langsam. Er sprang über die Bank, aber noch ehe er den Boden wieder unter den Füßen hatte, fühlte er, wie eine knöcherne Hand seinen Hals umschloß und festhielt. Undeutlich nahm er wahr, daß zwei Arme ihn auf die Bank niederdrückten. Er erwartete den Tod! Aber der Tod ließ sich Zeit. Die bleichen, grinsenden Kiefer über ihm öffneten sich. „Ich kann Ihr Herz pochen fühlen, und es erfüllt mich mit brennender Gier. Ich fühle das zuckende Spiel Ihrer Nerven und den Taumel Ihrer Empfindungen, Ihr heißes, lebendiges Atmen..." Er zwang sich zur Ruhe. „Sind Sie schon einmal durch einen Jahrmarkt gegangen?" Wayne nickte betäubt. „Der Ansturm, den Sie erleben, wenn Sie in diese Welt eindringen, der Lärm der vielen Menschen um Sie, das Jaulen der Jahrmarktsorgeln, die mannigfaltigen Bewegungen von Mechanismen und Organismen - die seltsame, berauschende Anziehungskraft, die von diesem Chaos ausgeht... all das empfinde ich in diesem Augenblick, da ich Ihnen gegenüberstehe! Aber es genügt nicht, es nur mit den Sinnen zu erfassen. Ich muß es erleben - ich muß es in mir fühlen!" Er schwieg nachdenklich. Sein pfeifender Atem hatte sich beruhigt. Wayne nahm die Kälte wahr, die sein Gegenüber ausstrahlte. Ein Frösteln schüttelte ihn und riß ihn aus seiner panischen Todesangst.
Der Fremde ließ ihn los. Er schritt steif um die Bank herum und setzte sich neben Wayne. „Ich verliere nichts, wenn wir reden." Und mit einem unergründlichen Blick auf Waynes totenbleiches Gesicht fügte er hinzu: „Vielleicht werde ich Sie nicht töten." Wayne sah ihn erstaunt an. „Wie vereinbart sich das mit der Gier, von der Sie sprachen?" „Es gibt noch eine Möglichkeit, zu dem zu kommen, was ich benötige." „Ohne daß damit der Tod verbunden ist?" Der Unbekannte nickte. „Warum töten Sie dann?" „Diese zweite Möglichkeit ist schwieriger. Sie erfordert eine gewisse Situation, die nur selten gegeben ist. Meist habe ich keine Wahl." Und mit einem grausigen Lächeln fügte er hinzu: „Aber davon möchte ich nicht sprechen." Wayne Woodard schwieg und schätzte seine Chancen ab. Reden! Reden! Reden! hämmerten seine Gedanken. Übergangslos wurde ihm bewußt, daß er schwitzte. Er fuhr mit dem Handrücken über seine Stirn. „Ich bleibe also am Leben?" Der Fremde überging die Frage. „Ich will Ihnen sagen, wie es in mir aussieht." Er senkte den Blick und verkrampfte die Hände im Schoß. „Leer! Ein Vakuum mit einem vagen Schmerz irgendwo, vielleicht überall, und einer skurrilen Art von Wahnsinn, der ganz nah und immer gegenwärtig ist..." „Sind Sie ein Mensch?" Verwirrt hielt der Mann inne und dachte nach. Dann sagte er kopfschüttelnd: „Nein, ich glaube, nicht mehr." Er verfiel wieder in Schweigen. Wayne spürte einen Funken Sympathie. Er unterdrückte ihn augenblicklich und erkannte, daß er nicht mehr dieselbe Furcht und das Entsetzen empfand, das er im ersten Augenblick der Begegnung gefühlt hatte. Diese plötzliche Erkenntnis gab ihm zu denken. Aber die Worte des Fremden zerrissen den dünnen Faden seiner Überlegungen. „Aber ich fühle mich bereits anders. Der Wahnsinn hat keine Kraft mehr. Die Leere füllt sich. Der vage Schmerz schwindet." Er nickte Woodard spöttisch zu. „Das Gespräch mit Ihnen ist nicht ohne Wirkung. Ich dachte nicht, daß es so einfach ist!" „Welches Spiel treiben Sie mit mir?"
Das Lächeln verstärkte sich und schwand abrupt. „Ich habe noch nie mit einem Menschen darüber gesprochen. Es ergab sich nie Gelegenheit. Die meisten habe ich getötet - um den quälenden Hunger in mir zu befriedigen. Können Sie das verstehen?" Eine deutliche Müdigkeit hatte von Wayne Besitz ergriffen. Er fühlte sie wohlig in den Gliedern. Der Hauch von Sympathie für den Fremden neben ihm auf der Bank erfaßte ihn erneut. „Ich bin einsam", fuhr der Fremde fort. „Das ist nur natürlich. Allerdings hatte ich einen Freund." Er lächelte sarkastisch. „Zwei Wochen lang. Dann fand ich eines Tages kein Opfer." Entsetzt starrte Wayne ihn an. Der andere blickte ihn fest an, als wollte er die Wirkung seiner Worte beobachten. „Er lebt noch. So wie ich. Irgendwo im Süden. New Orleans, vielleicht." Stumm betrachtete Wayne sein Gegenüber. Er kämpfte mit der Müdigkeit. New Orleans, dachte er. Man hätte davon hören müssen. Die Zeitungen hätten sicher reagiert. Ärgerlich sagt er: „Warum hat man nichts von ähnlichen Fällen in New Orleans gehört? Die Zeitungen..." „Die Zeitungen tun gar nichts." Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie schreiben, was ihnen ins Konzept paßt. Sie vertuschen, wenn sie die wahren Dinge nicht erfassen. Ein Grund, warum ich keine Zeitungen lese." „Die wahren Dinge?" Der andere nickte. „Die über dem Realen stehen. Ich, zum Beispiel!" Es kostete Wayne einige Anstrengung, den anderen anzusehen. Er versuchte sich an das Entsetzen zu erinnern, brachte aber nicht genügend Konzentration auf. Er fand nichts Abstoßendes in dessen Zügen, nichts Unheimliches. Waren es vielleicht die tiefliegenden Augen, die ihn anfangs so erschreckt hatten? Verärgert und belustigt sagte er: „Sie?" Der Fremde nickte. „Es scheint Ihnen unglaublich?" Er lächelte wieder. Fast freundlich, dachte Wayne und bemerkte zum erstenmal Farbe und Leben im Gesicht seines Gegenüber. Tief im Inneren warnte ihn ein unbestimmtes Etwas. Aber er achtete nicht darauf. Die Nacht war angenehm kühl, und es war gut zu sitzen. Die Ent-
spannung war vollkommen. Seine Gedanken schweiften ab. Er mußte sich konzentrieren, um den Fremden klar zu sehen. „Woher kommen Sie?" „Sie meinen, wo ich geboren wurde?" Wayne nickte und sagte sarkastisch: „Wenn Sie geboren wurden!" „Eine berechtigte Frage!" Und mit einem Blick auf seine langen, feingliedrigen Hände, fügte er hinzu: „In Oklahoma City. Kennen Sie Oklahoma City?" Wayne schüttelte kraftlos den Kopf. „Nein." „Eine schöne Stadt. Aber ich erinnere mich kaum noch, wie sie damals war. Sie hat sich verändert. Es wuchert alles sehr rasch in diesem Land. Besonders die Menschen." Wayne nickte abwesend. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich kann kaum noch die Augen offenhalten..." murmelte er trunken vor Müdigkeit. Er versuchte sich zu erheben und konnte es nicht. „Ist Ihnen nicht gut?" Die Stimme des Mannes schien von weither zu kommen. Ein Rauschen war in Waynes Ohren, als läge er im Inneren einer riesigen Muschel. Er klammerte sich an der Bank fest und wartete, bis sich der Schwindel legte. „Nein, es ist nichts", murmelte er. „Es war vielleicht ein anstrengender Tag." Er fühlte eine eisige Kälte in den Gliedern. Seine Kehle war trocken. Ein pochendes Gefühl bemächtigte sich seiner und glitt in die unergründlichen Tiefen seines Bewußtseins, als er es zu analysieren versuchte. Dennoch erkannte er, was es war und schreckte zurück. Hunger - ein vages, ungreifbares Hungergefühl, das im ganzen Körper saß. Erschreckt zwang er sich, einen klaren Kopf zu behalten. Lag doch Wahrheit in den Worten des Fremden? Hatte er nicht gesagt, es gäbe einen zweiten Weg...? Er sah verschwommen das Gesicht des Fremden über sich, ein hartes, aber nicht unfreundliches Gesicht, und schalt sich einen Narren. War die Phantasie mit ihm durchgegangen? Die Müdigkeit war nun allumfassend. Ich bin krank, dachte Wayne verzweifelt. Ich muß zu einem Arzt. Er griff nach dem Arm des Fremden und stützte sich. Sein Blick wurde klarer, und die Benommenheit schwand allmählich. Nur die Schwäche in den Gliedern blieb. „Bringen Sie mich zum Wagen."
Der Mann nickte. Er erhob sich, und Wayne klammerte sich an ihn. Unsicher stand er auf den Beinen. Das Bild der beiden Leichen quälte ihn für Sekunden. „Sagten Sie nicht, Sie wollten mich töten?" Der Fremde gab keine Antwort. Er führte ihn behutsam auf den Wagen zu. „Ist das die zweite Art, Ihre Gier zu befriedigen?" Hysterie peitschte Waynes schwache Stimme auf. Aber dann siegte die Schwäche und die grausame Anstrengung des Gehens über die Angst. „Ein Hunger ist in mir", murmelte Wayne mit geschlossenen Augen. „Und eine Leere..." „Mir ist, als hätte ich das schon einmal gehört. Aber es muß lange her sein..." Der Fremde schwieg. „Ich danke Ihnen, Mr…?" „Das ist schon in Ordnung. Ich muß Ihnen danken." Wayne überhörte das leise, spöttische Lachen. Das Rauschen war wieder in seinen Ohren. Er hörte auch nicht mehr, wie der Fremde sich entfernte. Mühsam hielt er sich aufrecht und versuchte die Wagentür zu öffnen. Als er sie endlich offen hatte, fiel er vornüber auf den Sitz. Er versuchte zu rufen, war aber zu schwach. Der Schwindel erfaßte ihn wieder, und er erbrach sich. Er nahm nur graue Nebel wahr. Und dann nicht einmal mehr das. Als er aus dem Delirium erwachte, fühlte er sich besser. Das Licht im Wageninneren nahm den Alptraum von ihm. Er fühlte einen vagen Schmerz und eine verzehrende Leere in sich. Unbewußt spürte er etwas Dunkles, Drohendes in seiner unmittelbaren Nähe und erkannte, daß es in seinem Inneren war. Nah und doch ungreifbar. Sein Blick klärte sich und fiel auf seine Hände. Panik erfaßte ihn und krampfte sein Herz zusammen, als er die weißen, fleischlosen knöchernen Finger sah. Die Erkenntnis hämmerte dumpf in seinem Gehirn. Entsetzt richtete er sich auf und starrte mit augenlosen Höhlen in den Innenspiegel über ihm. Er versuchte mit aller Kraft zu schreien. Ein gräßlicher, pfeifender Laut. Dann war da nur noch der Hunger.
3 Blut für die Hölle Am siebenundzwanzigsten Oktober verließ ich München in Richtung Wien, reichlich erbost darüber, daß mein Honorar für den Pariser Artikel noch nicht eingetroffen war. Fast war ich versucht gewesen, meine letzten Berichte zurückzuhalten, aber dann hatte ich mir überlegt, daß wohl nicht nur der Star, sondern auch die Post daran schuld sein mochte. Jedenfalls hatte ich vor, meinen Aufenthalt in Wien so lange auszudehnen, wie dies irgend möglich war. Ich weiß nicht, was mich eigentlich so sehr nach Wien zog. Vielleicht war es die interessante Vergangenheit dieser Stadt, vielleicht die Tatsache, daß sich dort in den letzten Jahren eine Reihe bemerkenswerter Morde ereignet hatten und ich mir eine Menge Fakten und Anregungen für meine Artikelserie Verbrechen und Kriminalität in der alten Welt erhoffte, vielleicht aber' auch nur, weil mich der sprichwörtliche Wiener Charme und die berühmte Wiener Küche lockten. Ich kam am Abend in Wien an und war zu müde, um noch etwas zu unternehmen. Ich bestellte ein Hotelzimmer in der Nähe des Bahnhofs und verbrachte den Abend damit, meine Aufzeichnungen über München zu ordnen und an den Kansas City Star abzuschicken. Am folgenden Tag vermochte ich der Wiener Kriminalpolizei ein paar außerordentliche Daten abzujagen. Außerdem besuchte ich das kriminologische Institut der Wiener Universität und unterhielt mich ausführlich mit Professor Deinzel, einem der größten Kriminalisten seit Kriegsende. Es war ein großer, hagerer Mann mit fast weißem Haar und stechenden Augen, aber einem freundlichen Lächeln und sanfter, belehrender Stimme. „Mein lieber Herr Woodard", sagte er, nachdem ich ihn über meine Absichten aufgeklärt hatte, „Sie können hier herumschnüffeln, wo Sie wollen, Sie werden überall auf Verbrechen stoßen." Er sprach gutes Oxfordenglisch mit einem leichten deutschen Akzent und ich erinnerte mich dunkel, irgendwo gelesen zu haben,
daß Professor Deinzel von einem deutschen Institut nach Österreich gekommen war. Meine Kenntnisse der deutschen Sprache waren zu gering, um damit eine halbwegs flüssige Unterhaltung führen zu können. „Diese Stadt ist korrupt, und die bekannte Freundlichkeit und Gemütlichkeit, die überall in die Welt hinausstrahlt, ist nichts als ein Mantel, der sich über alles breitet." „Damit ist Wien keine Ausnahme. Jede Stadt strahlt ihr gewisses Etwas, ihre ganze spezifische Essenz aus, ein Stück Mentalität, wenn Sie wollen." Er nickte. „So glaubt ihr Amerikaner, weil selbst eure Städte einander gleichen. Das soll nun wieder keine Herabwürdigung sein. Mir gefällt New York ausgezeichnet. Ich war auch einmal in Kansas City..." „Ja, ich weiß, 1957." „Sie haben ein gutes Gedächtnis!" Ich winkte ab. „Ich habe damals schon für den Kansas City Star gearbeitet. Sie glauben also, daß Wien ein besonderer Herd verbrecherischer Elemente ist?" „Nicht Wien allein. Europa im allgemeinen. Sehen Sie sich die Statistiken an!" Er gestikulierte heftig. „Trotz ständig schärfer werdender Maßnahmen zur Bekämpfung des Verbrechens ist dieses seit mehreren Jahren im Zunehmen begriffen. Es wächst wie eine Eiterbeule. Und die Kriminalisten können nichts dagegen tun. Vieles bleibt unaufgeklärt. Die Motive für diese Verbrechen werden immer undurchsichtiger und dunkler - kultisch fast! Ich sage Ihnen, das Abendland geht einem neuen Mittelalter entgegen." Ich lächelte. „So etwas Ähnliches sagte man mir auch in London. In diesem Punkt scheinen sich alle Fachleute einig zu sein. Ich meine damit die Tatsache, daß das Verbrechen zunimmt. Aber ich möchte doch sagen, daß Ihre übertrieben pathetische Darlegung der..." Er unterbrach mich. „Es ist weniger amüsant und übertrieben, als Sie glauben. Waren Sie schon bei der Kriminalpolizei?" Ich nickte. „Inspektor Ertl?" Ich verneinte. „Dann hat man Sie also noch nicht unterrichtet. Wissen Sie, wie viele Kinder in den letzten Wochen allein in Wien spurlos verschwanden und nicht wieder aufgefunden wurden?" „Kinder? Aber ich bitte Sie. Kidnapping ist doch kein ungewöhn-
liches oder seltenes Verbrechen." Er griff nach einem Packen Zeitungen und warf ihn auf den Tisch. „Hier, lesen Sie das. Und dann sagen Sie mir, was Sie davon halten." Die Tatsachen waren wirklich außergewöhnlich und aufrüttelnd. Seit Ende Juni waren siebenundzwanzig Kinder im Alter von drei bis viereinhalb Jahren verschwunden. Keines wurde je wiedergefunden. Auch auf Leichen stieß man nicht. Das war allerdings seltsam. Doch keineswegs so erschütternd, daß ich hätte behaupten können, das Abendland gehe einem neuen Mittelalter entgegen. „Nun?" fragte er mich ungeduldig. „Mhm, das ist allerdings ungewöhnlich. Aber..." „Aber?" sagte er kalt, und sein freundliches Lächeln war wie weggewischt. „Ich glaube, Sie überschätzen die Sache etwas", sagte ich zögernd. „Ich finde daran weder etwas kultisch noch mittelalterlich. Sie verzeihen also, wenn ich Ihre, nun, sagen wir mal, reichlich pathetisch wirkende Phrase für eine ausgezeichnete Schlagzeile halte. Aber nicht mehr." Professor Deinzel musterte mich nachdenklich. Es war mir, als läge Spott in seinen Augen. Dann zuckte er die Achseln und sagte: „Jeder glaubt, was er zu wissen glaubt!" Ich nickte unbehaglich. Es lag mir fern, ihn zu verärgern. Schließlich war ich auf seine Hilfe angewiesen, solange ich noch Material für meinen Artikel brauchte. Es war mir daher sehr willkommen, daß er das Thema wechselte und wieder auf Wien zu sprechen kam. „Haben Sie sich schon in der Stadt umgesehen?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich heute vor. Es gibt so viel zu sehen. Ich habe mir die Innenstadt aufs Korn genommen." Er nickte. „Burg, Oper, Stephansdom. Wenn ich Ihnen einen Tip geben darf, sehen Sie sich die Katakomben an." „Katakomben?" fragte ich interessiert. „Unter dem Dom. Sie können sich einer Führung anschließen." Er blickte mich lächelnd an. „Ein Stück Mittelalter!" Professor Denzel lud mich zum Essen ein, hatte jedoch bereits
am frühen Nachmittag eine wichtige Besprechung. Er versprach mir einiges interessante statistische Material zusammenzusuchen, welches ich tags darauf abholen sollte. Noch am selben Tag sah ich mich in den inneren Bezirken der Stadt um, besichtigte Universität, Rathaus, Burgtheater, Parlament und Staatsoper, die alle wie aufgefädelt an der Ringstraße liegen, jener breiten Straße, die den inneren Bezirk, das Zentrum der Stadt, umgibt. Anschließend besuchte ich den Stephansdom das Wahrzeichen Wiens. Bedauerlicherweise war eine Turmbesteigung nicht mehr möglich, da der Turm den Winter über allen Besuchern verschlossen ist. Jedoch hatte ich Glück und konnte mich einer Führung in die Katakomben anschließen. Nach längerem Palaver erhielt ich auch die Erlaubnis zu fotografieren. Dann ging’s die Stufen zum Eingang hinab. Der Führer öffnete eine knarrende Tür, und der modrige Hauch eines wenig gelüfteten Kellergewölbes umfing mich. Neun Personen nahmen außer mir an der Führung teil und drängten sich nun ins Innere, Ich blieb etwas zurück, weil ich in Ruhe fotografieren wollte. Die Luft war wärmer als in den oberen Teilen des Domes, aber doch sehr kalt. Die Katakomben waren geräumig, die Anzahl der aufgestapelten Schädel beträchtlich. Ich schoß mehrere Bilder, doch murrte der Führer über das aufflammende Blitzlicht, da es offensichtlich die übrigen Besucher ablenkte und ihn in seinem Vortrag störte. So blieb ich weiter zurück, bis ich die anderen in der Düsternis des Gewölbes kaum noch zu sehen vermochte und nur die belehrende Stimme des Katakombenführers, einem Murmeln gleich, an mein Ohr drang. Ich machte zwei weitere Aufnahmen, als die Beleuchtung erlosch. Ich stand in völliger Dunkelheit. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich zum Eingang zurückkehren, oder den anderen folgen sollte. Dann schritt ich vorsichtig in Richtung der murmelnden Stimme. Augenscheinlich hatte der Führer eine Taschenlampe bei sich und setzte die Führung fort. Lichtschein war keiner mehr zu sehen. Wahrscheinlich besaß das Gewölbe mehrere Kammern und Windungen. In der Finsternis verlor ich schnell die Orientierung. Einmal stieß ich an eine Wand aufgestapelter Gebeine. Einige kamen ins Rollen. Das Geräusch war so gräßlich, daß ich erstarrt stehen blieb und inständig hoffte, keine Lawine ausgelöst zu haben. Ich horchte angestrengt. Die Stimme war weiter entfernt und kam von rechts. Deutlich vernahm ich die Laute mehrerer Menschen. Ich
überlegte, daß der Weg wohl irgendwie in den Raum nebenan führen mußte, denn die Geräusche kamen wieder näher. Wieder erwog ich, umzukehren, aber dann verwarf ich den Gedanken, schalt mich ängstlich und tastete mich weiter voran. Plötzlich war der Weg zu Ende. Eine Steinmauer verwehrte mir jeden weiteren Schritt. Während ich nach rechts tastete und auf eine neue Ansammlung von Schädeln stieß, hörte ich ein leises, knirschendes Geräusch hinter mir. Ich fuhr herum, vermochte aber in der vollkommenen Schwärze überhaupt nichts zu sehen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die kalte Steinwand und lauschte angestrengt. Ein erneutes Knirschen - als ob kleine Räder sich über sandigen Stein bewegten. Während ich erstarrt horchte, kam mir zu Bewußtsein, daß ich die Stimmen der Touristen nicht mehr hörte. Es war totenstill. Selbst das Knirschen hatte aufgehört. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß der Raum plötzlich kleiner geworden sei. Ich hätte nicht zu sagen vermocht, wie und wieso ich das fühlte. Vielleicht war das unhörbare Echo des Atems anders geworden, vielleicht auch nur das Geräusch, das im Stein der Mauern lag und von der oberen, lebendigen Welt hier herunterdrang. Wie lange ich stand und mit jeder Faser meines Seins lauschte, weiß ich nicht mehr. Sekunden? Minuten? Als sich nichts mehr regte, atmete ich innerlich auf. Es mochten Ratten gewesen sein. Mein eigener Herzschlag schien mir unnatürlich laut. Die Lächerlichkeit der Situation kam mir schlagartig zu Bewußtsein. Irgendwann mußte das Licht ja wieder aufflammen. Ich tastete mich weiter vor und stieß wiederum auf eine Steinwand. Erstarrt hielt ich inne. Das war die Richtung, aus der ich gekommen war. Diese Mauer mußte eine Öffnung haben. Aber sie besaß keine. In den nächsten Minuten erkannte ich, daß ich in einem Raum von vielleicht zwölf Quadratmetern eingeschlossen war. Ich erinnerte mich an das knirschende Geräusch und dachte augenblicklich an die raffinierten Mechanismen in den ägyptischen Grabkammern, welche nur in einer Richtung funktionierten, damit niemand den Schlaf der Toten zu stören vermochte. Grabkammern! Panische Angst überkam mich. Ich trommelte mit den Fäusten
gegen die Steinwand vor mir. Als mir die Nutzlosigkeit meines Tuns bewußt wurde, begann ich die Wände ein zweitesmal systematisch abzusuchen. Ich bedauerte, daß ich keine Streichhölzer bei mir hatte. Ein Luftzug ließ mich innehalten. Ich horchte angestrengt und vernahm wieder ein leises Knirschen. Ich fuhr herum. Eine Öffnung tat sich vor mir auf, durch die eine vage, fast nicht wahrnehmbare Helligkeit kroch. Vorsichtig, die Hände vorangestreckt, trat ich auf die Öffnung zu - und hindurch. Zu sehen vermochte ich nichts. Rechts und links ertastete ich steinerne Wände. Ich befand mich offensichtlich in einem Gang. Mit vorgestreckten Armen schritt ich langsam aus. Nach etwa zwanzig Schritten blieb ich stehen und suchte nach meiner Kamera. Warum war ich nicht schon früher auf diese Idee gekommen? Ich hatte noch acht Blitzbirnen. Erleichtert atmete ich auf. Damit konnte man eine Menge anfangen. Ich ließ die erste aufblitzen und erkannte in diesem Sekundenbruchteil, daß der Gang mit leichter Rechtskrümmung verlief und ohne Hindernisse war. Ich schritt nun rascher voran. Je früher ich das Ende erreichte, desto früher wurde ich die Ungewißheit los. Es war kalt und still. Ich verbrauchte zwei weitere Blitzbirnen während der nächsten siebenhundert Schritte, dann bemerkte ich nach einer Linkskrümmung einen schwachen, flackernden Lichtschimmer, der aus einer Nische kommen mochte. Oder aus einem Seitengang. Ich trat leiser auf, je mehr ich mich dem Lichtschein näherte. Es war ein Seitengang, der in einen hellerleuchteten Raum mündete. Ein dunkles Gebilde erhob sich darin, das ich jedoch aus der Entfernung nicht zu erkennen vermochte. Zu rufen wagte ich nicht. Ich konnte mich eines leisen Verdachts nicht erwehren, daß ich dies nicht allein durch Zufall gefunden hatte. Das knirschende Geräusch. Mauern, wo vorher keine gewesen waren. Immer mehr wuchs diese Gewißheit nun in mir. Jemand wollte, daß ich hierher kam. Aber dann schien es mir wieder höchst unwahrscheinlich, ja geradezu absurd. Lautlos näherte ich mich dem hellerleuchteten Eingang, aus dem der Brandgeruch von Pechfackeln und das Knacken verbrennenden Holzes auf mich einstürmte. Vor mir befand sich ein schmaler, querlaufender Weg und gege-
nüber eine metallene Tür, alt und von einer dicken Rostschicht überzogen. Die Wand, in die sich diese Tür einfügte, verschmolz mit der Decke. Sie brach links und rechts nach etwa vier Metern ab. Der Weg lief weiter und krümmte sich in beiden Richtungen, wahrscheinlich zu einem vollen Kreis. Ich war in einer Grotte. Ich folgte dem schmalen Gang bis zum Ende der Wand und erblickte den Boden der Grotte - eine sandige, arenaartige Fläche in etwa zweieinhalb Metern Tiefe. Steile Stufen führten hinab zu einem schwarzen, altarförmigen Aufbau. Plötzlich hörte ich Stimmen im Hintergrund der Grotte, wo mehrere dunkle Gänge mündeten. Schnell zog ich mich zurück. An eine Flucht war im Augenblick nicht zu denken. Doch vielleicht vermochte ich diesen Menschen zu folgen, nachdem sie ihre seltsame Zusammenkunft beendet hatten. Sicherlich mußte von hier aus ein Weg ins Freie führen. Vielleicht konnte ich diesen Leuten auch entgegentreten. Aber zuerst mußte ich Gewißheit haben, daß es gefahrlos war. Ich zog mich zum Quergang zurück und vernahm auch aus dieser Richtung Stimmen. Ich suchte verzweifelt nach einem Versteck, aber die Wände waren glatt und steil. Es gab auch keine Nischen, die einen Unterschlupf hätten bieten können. Die Tür! Vorsichtig berührte ich die Klinke. Sie gab einem leichten Druck nach. Die Tür öffnete sich lautlos, den Rost höhnend, der sich an ihrer Außenseite eingefressen hatte. Schnell schlüpfte ich durch und schloß sie hinter mir. Der Raum war klein und dunkel. Durch mehrere schmale Öffnungen fiel ein Lichtschimmer aus der Grotte. Ich befand mich im Inneren des Altaraufbaus. Ich begab mich an die Sichtöffnungen und blickte in das flackernde Gewölbe. Direkt unter mir sah ich den Altar. Er war mit dickem, schwerem, schwarzem Samt bedeckt. Mehrere Kerzen brannten auf ihm. Rechts und links davon stand ein großer Tonkrug, bis zum Rand mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt. Drei Stufen führten zum Altar hoch. Auf der letzten lag ein türkischer Krummsäbel, dessen nackte Klinge in Fackellicht funkelte. Jetzt bemerkte ich dunkle, matte Flecken im schwarzen Samt des Altars. Blut! Erregt blickte ich genauer um mich. Welch seltsamen Kult be-
trieb man hier? Brachte man Tieropfer dar? Zu meiner Rechten ragte eine Statue auf. Aber ich vermochte sie nicht genau zu erkennen. Sie stand neben dem Altar. Eine etwa zweieinhalb Meter hohe Gestalt in sitzender Stellung. In der Zwischenzeit hatten mehrere Menschen den Raum betreten. Sie trugen schwarze, abstoßende Masken und verharrten schweigend vor der Mauer. Immer mehr kamen. Männer und Frauen. Ein Klicken von der Tür her schreckte mich auf. Ich hielt den Atem an und sah, wie die Klinke sich senkte, verharrte und sich wieder hob. Als nichts weiter geschah, huschte ich zur Tür und preßte das Ohr an das Metall. Undeutlich vernahm ich Stimmen. Mein Atem schien mir verräterisch laut. Als ich nichts mehr hörte, versuchte ich die Tür einen Spalt zu öffnen. Sie war verschlossen! Grauen ergriff von mir Besitz und drängte mich zu schreien und gegen die Tür zu trommeln. Aber in dieser so unleugbar fatalen Situation blieb ein Teil meines Ichs kalt und unbeeinflußbar und hielt die instinktiven Ausbrüche der Gefühle zurück. Undeutlich vermeinte ich ein Lachen zu hören. Ich saß in der Falle. Ich war selbst bereitwillig in diese Falle gegangen. Irgendwo hörte ich ein Kind schreien. Es weckte mich aus meiner Starre. Achselzuckend fügte ich mich in die Unabänderlichkeit der Situation. Zunächst konnte ich nichts tun als warten. Wenn der Augenblick kam, würde ich handeln, so nebulos die Vorstellung dieses Augenblicks jetzt auch war. Ich begab mich wieder an die Sichtöffnungen und blickte nach unten. Der Raum war bis auf einen kleinen mittleren Kreis mit Menschen gefüllt. Alle trugen die dunklen Masken vor dem Gesicht, die mir nun eher lächerlich als abstoßend erschienen. Ihrer Kleidung nach zu schließen, erstreckte sich ihr Alter etwa von fünfundzwanzig bis vierzig. Die Frauen trugen tief ausgeschnittene Kleider und flache Schuhe. Bei keiner bemerkte ich Schmuck. Weder Ring, noch Armband oder Halskette. Das Kind, das ich die ganze Zeit über schreien hörte, stand auf dem Altar. Es war ein Knabe von etwa vier Jahren. Er war nackt. Jetzt erst fiel mir die Wärme auf, die in dieser Grotte herrschte. Gleich darauf wurde ich gewahr, daß die Menge - , es mochten etwa fünfzig oder sechzig sein - ihre Blicke erwartungsvoll auf die
Stufen richtete, die zum Altar hinabführten. Gespannt starrte ich auf den untersten Teil dieser Stufen. Mehr vermochte ich von meinem Standpunkt aus nicht zu sehen. Eine Gruppe von vier Gestalten schritt würdevoll hinab und näherte sich dem Altar. Voran ging ein Mädchen in einem schwarzen, losen Gewand, das durch Spangen an ihren Schultern gehalten wurde. Sie besaß eine Krone schwarzen Haars, die einen seltsamen Kontrast zu den blutigrot geschminkten Lippen und dem bleichen, schönen Gesicht bildete, Sie war sehr jung. Siebzehn vielleicht. Hinter ihr schritten zwei vermummte Gestalten in langen schwarzen Kutten. Eine der beiden trug einen goldenen Kelch. Den Schluß bildete ein Mann in einer blutroten Mönchskutte mit einer Teufelsmaske vor dem Gesicht. Ich schauderte, und die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Teufelsanbetung! War es möglich, daß dieser magische Fruchtbarkeitsritus des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts hier eine neue Auferstehung feierte? Der schwarze Sabbat der Hexen? Der Teufelstanz? In unserem wohlkontrollierten, wissenschaftlich durchsetzten Jahrhundert? Ich war seltsam fasziniert. Was mochte wohl das Opfer sein? Dann fiel mein Blick erneut auf den Knaben. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Ich sah das Krummschwert im Fackellicht glühen. Mit trockener Kehle und brennenden Augen dachte ich an die siebenundzwanzig verschwundenen Kinder. Langsam dämmerte mir, daß dies kaum der Fruchtbarkeitskult des vierzehnten Jahrhunderts sein würde, sondern der korrupte, obszöne, bestialische Auswuchs des Hexensabbats des Mittelalters. Glaubten diese Menschen wirklich, den Teufel beschwören zu können, indem sie ihm Opfer darbrachten? Ich blickte über die Menge und hatte das bestimmte Gefühl, daß alles, was in den nächsten Stunden geschehen würde, bei vollem Bewußtsein und aus einer unbegreiflichen Religiosität heraus geschah, der die Grausamkeit nur ein Mittel zum Zweck war. Die Prozession hielt vor dem Altar. Das Mädchen löste die Klammern ihres Gewandes. Für Sekunden sah man ihren schimmernden Leib, dann fiel das lange, schwarze Haar wie ein Schleier um sie. Langsamen Schrittes trat sie auf die sitzende Statue zu, setzte sich auf ihren Schoß, verweilte dort und preßte ihre Lippen an deren Kopf. Nun wußte ich auch, wen die Statue
darstellte. Satan selbst! Der Zweck ihres Tuns war mir klar. Sie nahm den Atem, die Seele und den Leib Satans in sich auf, wurde zu seinem geweihten Werkzeug - Altar und Priesterin zugleich. Als sie von der Statue stieg, begann eine Trommel in einem langsamen, monotonen Rhythmus zu schlagen. Alles schwieg ehrfurchtsvoll. Selbst der Knabe hatte sein Weinen eingestellt. Das Groteske der Vorstellung schlug mich in seinen Bann. Und obwohl mir graute vor dem, was in den nächsten Stunden folgen würde, war ich von einer seltsamen Sucht des Schauens beherrscht. Die Priesterin blieb vor den Stufen zum Altar stehen. Sie hob den Kopf, und eine Sekunde lang hatte ich das entsetzliche Empfinden, daß sie mir direkt in die Augen blickte. Ich fühlte mich bis auf den Grund der Seele ertappt. Hastig zog ich den Kopf zurück. Aus einiger Entfernung wagte ich schließlich wieder den Blick durch die Sehöffnungen. Die Priesterin stand noch immer aufrecht vor dem Altar. Der Priester in der roten Mönchskutte an ihrer Seite. Sie schienen auf etwas zu warten. Gleich darauf wurde mir nur allzu klar, worauf sie warteten, Die Tür hinter mir wurde aufgestoßen. Die beiden vermummten Gestalten stürmten herein, Ich hatte kaum Zeit, mich umzuwenden. Sie faßten mich an den Armen. Ihr Griff war so fest, daß ich vor Schmerz aufschrie. Eine Hand legte sich über meinen Mund, Dann zerrten sie mich durch die Tür auf die Stufen zu. Widerstand war sinnlos, das sah ich bald genug ein. Deshalb straffte ich mich und stieg verhältnismäßig aufrecht die Stufen hinab, Ich blickte auf die Menschen unter mir, Nein, ich wollte ihnen kein Schauspiel bereiten. Ich wollte überlegt handeln, nicht kopflos wie ein gefangenes Tier, obwohl ich mich einem Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, nicht unähnlich fühlte. Ein Murmeln ging durch die Reihen der Anwesenden, erstarb aber rasch. Ich konzentrierte meine Blicke auf das Mädchen, das auf mich zutrat. Ein leidenschaftliches Feuer schwelte in ihren Augen. Sie gebot, mich freizugeben. Der schmerzhafte Griff der derben Hände lockerte sich zögernd. Die Trommel schwieg. „Asmodeus, Herr der Dunkelheit. Laß uns dein Opfer prüfen!"
Nach diesen Worten stießen sie mich auf den Altar zu. Jetzt wurde es ernst. Ich trat aus, um freizukommen. Ich brüllte, um mir Gehör zu verschaffen. Die Trommel schlug dumpf an. Ich fühlte einen Schlag im Genick, und die scharfen Konturen um mich verschwammen. Eine irre, widernatürliche Geometrie tanzte vor meinen Augen. Irgendwo in mir hallte die Trommel nach, einem riesenhaften Gong gleich. Ich fühlte Bewegung um mich, und dann hatte ich das Empfinden, daß ich lag. Jemand versuchte etwas in meinen Mund zu zwängen, ohne daß ich es verhindern konnte. Es quoll auf. Der entsetzliche Satz geisterte durch mein halbbetäubtes Bewußtsein. „Herr der Dunkelheit, laß uns dein Opfer prüfen!“ Nebelhaft sah ich die grauenhafte, satanische Maske über mir. Ich wollte danach greifen, sie wegreißen und konnte es nicht. Dann schwand die Betäubung schlagartig. Die Decke der Grotte wurde scharf. Ich versuchte mich zu erheben, aber das einzige, das ich zu bewegen vermochte, war der Kopf. Metallene Klammern hielten meine Hände und Arme, Füße und Beine, selbst den Leib. Ich lag auf dem Altar! Erneute Panik erfaßte mich. Ich wollte schreien. Aber ein Knebel war in meinem Mund und hielt meine Zunge wie in einem Schraubstock. Es mußte hohl sein, denn ich bekam genügend Luft zum Atmen. Während ich verzweifelt um mich blickte, wurde etwas Schwarzes auf meine Augen gepreßt, ein undurchsichtiger Stoff. Dunkelheit und Ungewißheit umgaben mich. Erschöpft legte ich den Kopf zurück und ergab mich ins Unvermeidliche. Die Trommel schwieg plötzlich. Mit der Stille kam die Todesangst über mich. Ein nutzloser Versuch des Aufbäumens. Eine panische Verkrampfung der Muskeln in Erwartung des tödlichen Stoßes. Dann kam der Schmerz. Explosionsartig wurde mein Universum aus Dunkelheit und Ungewißheit und Angst von einer blendenden Fackel der Qual entzündet. Eine Nadel drang zentimetertief in das Fleisch unter meiner Achsel ein und wurde mit der gleichen Langsamkeit entfernt. Erneut kam ein Stich. An der Hüfte. Ich zuckte und vermochte doch nicht auszuweichen. Wieder. In der Schenkelbeuge. Undeutlich wurde mir bewußt, daß man mir die Kleider vom Leib geschnitten hatte. Wieder. Am rechten Arm. Das Schlimmste war, daß ich nie wußte, wo es als nächstes kam. Und dann die eisige
Stille um mich. Wahllos, schien es, wanderte die Nadel über meinen Körper, stach da, dort, drang immer wieder tief ein. Ich wußte, was sie suchten. Das, was die Henker der Inquisition an den Hexen gesucht hatten: das Teufelsmal! Eine gezeichnete Stelle, die gegen Schmerz unempfindlich war, durch die der Teufel in den Körper Einlaß fand. Aber das war doch Wahnsinn! Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Ich versuchte mich zu entspannen, den Krampf aus den Muskeln zu lösen, um den Schmerz der Stiche zu verhindern. Und dann fühlte ich die Nadel im Nacken, empfand aber seltsamerweise keinen Schmerz. Vielleicht war die Stelle noch taub vom Schlag, den ich erhalten hatte. Ich zuckte nicht einmal. „Das Teufelsmal!" rief jemand neben mir, als man die Nadel aus meinen Nacken zog. „Satan ist in ihm!" Diese Stimme hatte ich schon gehört. Aber ich hatte keine Zeit zu überlegen. Ein Murmeln ging durch die Menge. Man riß mir die Binde von den Augen. „Bindet ihn los! Es ist Hexenblut in ihm. Er ist unser Bruder!" Ich sah, wie sich das Mädchen über mich beugte und ihre Lippen gierig an den Blutstropfen saugten, die sich an den Stichwunden gebildet hatten. Ich hielt mir vor Augen, daß es Satan war, den sie aufsaugte, den sie in mir glaubte, weil ich an einer gezeichneten Stelle, einem ganz gewöhnlichen Leberfleck, keinen Schmerz empfunden hatte, als die Nadel eindrang. Es war aber auch Satan, dem ich mein Leben verdankte. Während mich das Mädchen auf den Mund küßte und ihr langes Haar wie ein seidenes Zelt um mich fiel, band man mich los. Ich fühlte die Schwäche in mir schwinden. Als ich frei war, zerrte der Priester das Mädchen von meiner Seite. Die beiden Vermummten halfen mir vom Altar. Daß die wiedergewonnene Freiheit ein Geschenk der Hölle war, kümmerte mich wenig. Ich wußte, daß es nun diplomatisch zu sein galt, daß ich mitmachen mußte, daß ich teilhaben mußte an dem teuflischen Akt, diesem Fest der Hölle, wenn ich Wien jemals wieder lebend verlassen wollte. Man führte mich in die erste Reihe der versammelten Menge, die mich stumm willkommen hieß, und ich nahm gleich den anderen am Boden Platz. Die beiden vermummten Helfer des ,Roten Priesters' entzündeten zwei weitere Fackeln, die stark rauchend brannten und einen
aromatischen, betäubenden Duft verbreiteten. Seltsam leicht wurde mir ums Herz. Die Trommel, die wieder einsetzte, schien von einer packenden Kraft getrieben. Unbewußt begann der Körper sich in diesem Rhythmus zu wiegen, begannen die Füße zu stampfen. Seltsam. Die Menschen um mich waren nicht mehr fremd. Erregung stand in ihren Augen. Der gleiche Rhythmus zuckte in ihren Gliedern. Es wurde sehr warm. Ich bemerkte, daß die Anwesenden ihre Überkleider abgelegt hatten. Etwas sehr Eigenartiges geschah in diesen Minuten, dem ich mich nicht entziehen konnte. Der berauschende Duft der offensichtlich mit einer Droge präparierten Fackeln und der sich steigernde Schlag der Trommel brachten die Menschen auf eine Stufe völlig gemeinsamen ekstatischen Erlebens, das keine Unterschiede duldete. Ich wurde ein Teil von ihnen -wurde eins mit ihnen. Als die Trommel mit einem letzten wirbelnden Stakkato zum Schweigen kam, erhoben sich die Sitzenden. Ich mußte meine Kleider festhalten, da sie in Fetzen um meinen Leib hingen. Der Anblick des Blutes an meinem Körper brachte einen kurzen Augenblick der Ernüchterung über mich. Das Mädchen bestieg den Altar und legte sich darauf. Der goldene Kelch wurde auf ihren Leib gestellt. Die Teufelsmesse nahm ihren Verlauf. Das Offertorium begann. Die Opferdarbringung der Gläubigen! Der ,Rote Priester' Satans breitete die Arme aus und murmelte Worte in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Dann nahm er den Knaben, der neben dem Altar am Boden saß und hob ihn hoch. „Asmodeus! Sieh herab!" Das Kind schien von dem aufpeitschenden Duft ebenso berauscht wie alle Anwesenden. Sein Kopf pendelte haltlos hin und her, die Nasenflügel gebläht. „Satan! Prinz der Dunkelheit! Wir bitten dich, dieses Kind als unser Opfer anzunehmen; als Dank dafür, daß du uns einen neuen Bruder gegeben hast; und dafür, daß du uns Schutz geben mögest vor Verrat und vor der Verfolgung durch das Gesetz der Unwissenden! Luzifer, Meister der Hexenbrut, nimm es hin!" Ich wollte aufspringen, wollte Einhalt gebieten -und konnte es nicht. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich starrte, die Zähne in den
Lippen vergraben und vermochte mich nicht zu bewegen. Ein erstickter Schrei, ein unbeschreibliches Aufseufzen der Menge, ein erneutes Einsetzen der Trommel, ein chaotisches Empfinden ohnegleichen, in dem Grausamkeit und Religiosität eins wurden. Der Teufelspriester nahm seine Maske ab und wandte sich um. Unvermittelt fiel die Menge in die ekstatischen Bewegungen des Teufelstanzes, von dem ich so oft gehört hatte. Die Trommel schlug wilder, hemmungsloser. Menschen klammerten sich aneinander. Rücken an Rücken, in einem hektischen Taumel. Ich stand, unfähig, mich zu bewegen. War es ein Luftzug, der von den Gängen kam, der mich ernüchterte, oder trieb mich das Entsetzen an? Ich wand mich frei und raffte meine Kleider auf, oder was davon übrig war. Schritt für Schritt, mit starrem Blick auf die rasende Menge, zog ich mich in den Hintergrund der Grotte zurück. Scham und eisiges Entsetzen über das, was ich gesehen und getan hatte, wallten in mir hoch. Ich erreichte eine der Öffnungen und taumelte in den Gang hinein. Nach wenigen Schritten begann ich zu laufen. Die übermächtige Erinnerung an die Opferung des Kindes trieb würgende Übelkeit in mir hoch. Ich mußte mich übergeben. Und später noch ein zweitesmal. Der Weg war endlos, und immer, wenn ich stolperte und fiel, brachte der Schmerz mehr Erwachen und neue Übelkeit. Schließlich landete ich in einem Keller. Ich fand eine Wasserleitung und wusch mich. Ich hoffte inständig, daß es bereits dunkel war. Dann untersuchte ich meine Kleider. Das Hemd war zerfetzt, der obere Teil der Hose ebenso. Ich befestigte sie notdürftig. Der Mantel verhüllte den größten Teil der Schäden. Die Wunden schmerzten immer noch, aber das eiskalte Wasser hatte meine Lebensgeister wieder soweit wachgerufen, daß ich mich imstande fühlte, unter die Menschen zu treten, ohne Aufsehen zu erregen. Als ich ins Freie trat, war es bereits dunkel. Ich landete in einer schmalen Gasse, noch immer in der Innenstadt. So schnell ich konnte begab ich mich in mein Hotel und packte. Der Brief mit dem Honorar war inzwischen eingetroffen, aber es war mir gleichgültig. Ich verließ noch am selben Abend Wien in Richtung Rom.
Das Schlimmste war, sie wußten, daß ich schweigen würde. Immer mehr schien es mir später wahrscheinlich, daß diese Demaskierung des ,Roten Priesters' allein mir gegolten hatte. Der stechende, triumphierende Blick über die Menge. Der satanische Zug um den Mund. Wie sehr mußten Professor Deinzel jene Augenblicke befriedigt haben, in denen er mir am eigenen Leibe vor Augen führen konnte, daß er den Satz wörtlich meinte. Jenen Satz, bei dem mich ein leises Grauen beschleicht, den ich nicht mehr aus meinem Bewußtsein zu drängen vermag: Das Abendland geht einem neuen Mittelalter entgegen!
4. Geliebtes Medium New York. Diese Stadt faszinierte mich immer wieder. Sie zog mich mit magischer Kraft an. Seit ich vor vier Jahren das erstemal hierhergekommen war, hatte sich eine seltsame Unruhe meiner bemächtigt, so daß ich mich entschlossen hatte, jedes Jahr mehrere Wochen in New York zu verbringen. Ich arbeitete hier ruhiger und konzentrierter und mit größerer, innerer Sicherheit, ja, mein ganzes labiles Wesen schien wie verwandelt. Und wenn ich den Kritikern glauben darf, habe ich meine besten Romane in New York geschrieben. Stadt ohne Horizont beispielsweise, oder Das Seelenschiff und Erwachen ohne Träume. Ich liebte den Sommer in dieser Stadt. Wenn ein Teil ihrer Bewohner hinausfuhr, um irgendwo draußen den Urlaub zu verbringen, wenn die Straßen in der Hitze flimmerten und das Atmen schwer wurde, dann begann ich mich wohlzufühlen. Ich schäumte über vor Phantasie, und das Schreiben ging leicht von der Hand. So erstaunlich leicht, daß ich manchmal geneigt war, als Tatsache zu akzeptieren, was einer meiner Freunde einmal gesagt hatte: ,Bei dir bestätigt sich meine Theorie, daß Schreiben eine Sache des Aggregatzustandes des Gehirns ist.' Wohl bin ich mir bewußt, daß man als Schriftsteller eine Menge verrückter Freunde hat. Ein weiterer Grund, der mich immer wieder nach New York
trieb, war Mme Louise, eine alte Wahrsagerin, die in der Nähe der Universität hauste. Ich hatte sie im ersten Jahr kennengelernt, als ich in der Umgebung des Washington Square Parks durch die winkligen Straßen wanderte, um das malerische Greenwich Village kennenzulernen, das außer Volksliedersängern und allerlei Künstlern auch eine Anzahl gemütlicher Lokale zu bieten hat. Sie hatte früher in Paris gelebt, wo ihre Mutter Wahrsagerin gewesen war. Nach deren Tod hatte sie die Stadt verlassen, um in der Neuen Welt das alte, traditionelle Gewerbe ihres Zigeunergeschlechtes fortzuführen. Sie war so, wie ich mir eine Wahrsagerin immer vorgestellt hatte: beleibt, mit stechendem Blick, den unvermeidlichen Ohrringen und dem wilden Blick aller Zigeuner, auch wenn das Alter ihn bereits ein wenig gebrochen hatte. Graue Strähnen durchzogen das schwarze Haar, und zahllose Falten furchten das Gesicht, das einst wohl schön gewesen sein mußte. All die Jahre, die ich sie nun kannte, hatte sich an diesem Bild nichts geändert. Ich war oft bei ihr gewesen, manchmal jeden Tag mehrere Stunden. Dann erzählte sie mir von ihrem Beruf und den Menschen, die zu ihr kamen, und von den alten Zeiten in Paris, als es noch feine Leute gab, die ihre Mutter konsultierten. Wenn Kundschaft kam, schob sie mich ins Nebenzimmer und ließ schmunzelnd die Tür einen Spalt weit offen, so, daß ich zuhören konnte. Und ich staunte immer aufs neue, mit welcher Geschicklichkeit sie die unglaublichsten Dinge aus der großen, glitzernden Kristallkugel las. Manch einer verließ spöttisch lachend das Haus im guten Glauben, das Blaue vom Himmel herunter erfahren zu haben. Als ich sie einmal zur Rede stellte und ihr vorwarf, daß doch alles erfunden sei, was sie da erzählte, sagte sie nur: ,Vorsicht, Jimmie Boy. Davon du nix verstehst! Du schreiben Bücher, ich sagen Zukunft!' Aber sie war mir nicht böse. Es war offensichtlich, daß sie mich mochte. Oft behandelte sie mich wie einen Sohn. Doch weigerte sie sich, mir die Zukunft zu sagen. Wenn ich sie nach dem Grund fragte, zuckte sie nur die Achseln und wechselte das Thema. Manchmal gestattete sie es, daß ich mich an ihren Platz setzte und in die Kristallkugel blickte. Sie lächelte nur, wenn sie sah, wie ich mich krampfhaft bemühte, etwas Besonderes darin zu sehen, etwas, wovon sie behauptete, es zu erblicken. Bilder, Schatten, mehr als nur die verzerrten Reflexionen des gedämpften Lichts,
Einmal allerdings geschah etwas Seltsames. Mehrere Minuten lang starrte ich in die Kugel, und ein ungewöhnliches Gefühl überkam mich, als versuche etwas Fremdes in mich einzudringen, als hielte mich etwas fest und leitete mich. Eine schläfrige Starre bemächtigte sich meiner, und dann huschten Schatten und bewegliche symbolhafte Bilder durch das Kristall der Kugel, die ich nicht verstand. Als ich erschreckt aufblickte, bemerkte ich, daß ihr Blick starr auf mir ruhte. Sofort wurden ihre Augen sanft. Sie lächelte schuldbewußt. Ich drang in sie, mir doch zu erklären. Aber sie tat es nicht und bat mich, nie wieder davon zu sprechen. So habe ich es denn auch gehalten. Aber ich fühlte von diesem Augenblick an, daß Mme Louise mehr über die Zukunft wußte, als sie jemals in einer ihrer Sitzungen preisgab. Als ich das niedrige Haus betrat, in dem Mme Louise wohnte, und im dunklen Flur stehen blieb, öffnete sich die Tür, und ein großer Mann trat heraus. Er bemerkte mich und maß mich schmunzelnd. „Ah, noch ein Kunde, wie?" Ich nickte und betrat, ohne ihn zu beachten, Mme Louises Räumlichkeiten. „Jimmie Boy! Du sein zurück?" „Ja, Mme Louise. Ich bin wieder da. Magst du mich noch?" Sie kam mir entgegen und bot mir die Wange zum Kuß. Dann zog sie mich in ihr Wohnzimmer. „Und ob, Jimmie. Was würden sein Jahr ohne dich?" Es war gut, sie wiederzusehen. Wie sehr hatte ich mich darauf gefreut! Ich war am Tag vorher in New? York angekommen und hatte erwogen, sie noch am selben Abend aufzusuchen. Aber die Suche nach einem geeigneten Appartement hatte sich zu sehr in die Länge gezogen, und ich sah davon ab, „Das Jahr ohne mich? Nicht anders. So wie früher." „Oh. Dummer Jimmie Boy." „Hast du gewußt, daß ich dieses Jahr wiederkommen würde?" Sie nickte. „Woher?" „Du lieben New York wie anderer Frau." „Und dich", sagte ich. Sie nickte. „Ich weiß, Jimmie." Dann bat sie mich zu erzählen.
Später kamen Kunden, und wir unterbrachen unser Gespräch, und ich lauschte wieder hinter der Tür. Es hatte sich nichts geändert. Ich fühlte, daß mein Aufenthalt in New York so wie immer sein würde: ereignislos und doch erregend, arbeitsam und erholsam zugleich, voll jener greifbaren Entspannung, welche bisher noch immer die innere Rastlosigkeit von mir genommen hatte. Als ich das Haus der Mme Louise verließ, nahm mir die brütende Nachmittagshitze den Atem. Ich steuerte auf den Washington Platz zu und setzte mich auf den Rand des Brunnens, um die Menschen zu beobachten. Ich suchte noch einige interessante Typen für meinen neuen Roman und maß unauffällig die Vorübergehenden, in der Hoffnung, auf etwas Besonderes zu stoßen. In der Nähe hatten ein paar Studenten ihre Instrumente ausgepackt und sangen Volkslieder. Ein dichter Kreis Zuhörer saß rundum am Boden und lauschte mehr oder weniger temperamentvoll. Der Brunnen war leer, ein für einen Wochentag ungewöhnlichen Anblick, und einige Arbeiter machten sich an den Wasserdüsen zu schaffen. Der Verkehrslärm der Fifth Avenue drang gedämpft in den Park. Ich nahm meinen Notizblock zur Hand und machte ein paar Aufzeichnungen. Dann sah ich ein Mädchen in einem weißen, flatternden Kleid durch den Washington Bogen kommen und direkt auf den Brunnen zuschreiten. Versunken und von der Hitze wohlig betäubt konzentrierte ich meinen Blick auf sie. Sie hatte den Schritt eines Schlafwandlers. Sicher und doch weltfremd. Irgendwie abgekehrt. Während ich verwundert dieser Tatsache nachhing, fiel mir auf, daß sie im Gegensatz zu den meisten Menschen bleich war, als wäre sie zum erstenmal in der Sonne. Das weiße, dünne Chiffonkleid verstärkte diesen Eindruck noch. Als sie zum Rand des Brunnens trat und unschlüssig stehenblieb, hatte ich Gelegenheit, ihr Gesicht zu betrachten. Es wirkte entrückt und verloren. Die Augen waren tief und dunkel. Schattenhaft. Sie standen in wirkungsvollem Kontrast zur Blässe der Haut. Das Haar war weißblond und schulterlang und fiel in natürlichen Wellen herab. Sie wirkte sehr zerbrechlich und puppenhaft. Sie stand noch immer unschlüssig. Dann kramte sie in ihrer Handtasche und zog einen schmalen Kartonstreifen hervor, den sie vorn am Kleid befestigte. Als sie sich umwandte, las ich ver-
wundert: FREMDENFÜHRER! Sie schien es auch nicht besonders eilig zu haben, Kundschaft zu finden, denn sie setzte sich auf den Rand des Brunnens, beugte den Kopf in den Nacken und genoß die Sonne. Diese unkonventionelle Methode überraschte mich und fand meinen Beifall, und zwar so uneingeschränkt, daß ich mich sofort in Bewegung setzte und das Mädchen ansprach. „Gefällt Ihnen New York?" Sie blickte mich überrascht an. Ihr Blick wurde ein wenig abweisend. „Wollen Sie meine Dienste in Anspruch nehmen, oder...?" „Oder Sie?" Sie nickte unbewegt. „Das sage ich Ihnen, wenn Sie meine Frage beantwortet haben." Sie zuckte die Schultern. „Nicht alles." „Das ist gut. Zeigen Sie mir Ihr New York." Sie maß mich abschätzend. „Ich gehe nicht mit weniger als vier Personen. Wenn Sie also in der Nähe bleiben wollen..." Lachend sagte ich: „Nein, Sie mißverstehen mich. Ich will keine Ihrer üblichen Führungen. Ich kenne New York gut genug. Ich glaube es wenigstens. Aber ich möchte jene Teile der Stadt sehen, die Sie sich selbst gern ansehen, wenn Sie Zeit und Muße haben, weil das das einzige ist, was Sie mir wirklich zeigen können. Ich bin Schriftsteller. Ich suche nach Motiven. Zeigen Sie mir, was Ihnen gefällt und warum es Ihnen gefällt." Sie zögerte. Schnell fuhr ich fort: „Was die Gebühr betrifft, machen Sie sich keine Sorgen. Ich stehe für Ihre vier Mann Mindestbesatzung gerade. O.K.?" Sie zögerte immer noch, faßte aber dann einen Entschluß. „Ich warne Sie, mein Geschmack ist sehr eigenwillig." „Um so besser." Sie senkte den Kopf und hatte plötzlich allen Ernst der Welt in ihrem hübschen Gesicht. Dann sah sie mich unergründlich an und sagte: „Ich mag die Menschen doch. Aber es ist gefährlich, nicht wahr?" Ich war betroffen, ließ mir aber nichts anmerken und schwieg. Ich blickte sie scharf an, in der Hoffnung, den Sinn der Worte aus ihren Zügen zu erfahren. Als sie meinen Blick bemerkte, verzog sich ihr Mund rasch zu einem Lächeln, das die Augen jedoch Lügen straften. Leichtfüßig sprang sie vom Brunnenrand.
„Und Sie werden mir erzählen, worüber Sie schreiben?" Ich nickte. Wir strolchten den ganzen Nachmittag in New York herum, und ich lernte eine Reihe von Plätzen kennen, die ich vorher kaum beachtet hatte. Das Mädchen taute bald auf. Ich erfuhr, daß sie einer Gruppe von Gelehrten, die sich mit der eingehenden Erforschung der Möglichkeiten der Hypnose befaßte, als Medium diente. Dieser Gruppe gehörte auch der berühmte Psychologe Professor M. aus Chicago an. Aber sie wußte zu wenig von den Versuchen selbst, um nähere Einzelheiten zu berichten. Außerdem hatte sie striktes Verbot, darüber zu sprechen. Sie hieß Clarissa und war dreiundzwanzig Jahre alt, ein sehr labiles Geschöpf mit leichter Neigung zur Hysterie. Sie war sehr einsam, eine Tatsache, die ich auf ihre Tätigkeit als Medium zurückführte. Offensichtlich hatte sie Angst davor, jemand könnte ihre Zuneigung mißbrauchen und den Umstand ihrer Suggestibilität ausnutzen. Obwohl sie viel mit Menschen zusammenkam, blieb sie ihnen im Grunde immer fern. Im Laufe des Tages jedoch ging sie mehr und mehr aus sich heraus und faßte ein tiefgründiges, haltsuchendes Vertrauen zu mir, das ich, nachdem ich ihr Wesen erkannt hatte, mit aller Vorsicht entgegennahm und behutsam festigte. Als wir uns gegen Abend trennten, wirkte sie sehr entspannt und innerlich erleichtert, als hätte sie plötzlich entdeckt, daß sie den Anschluß an die Menschen doch nicht verloren hatte. Als ich sie fragte, ob wir uns am nächsten Tag wiedersehen würden, antwortete sie mit Nein. Aber ich war sicher, daß sie kommen würde. Am nächsten Morgen besuchte ich Mme Louise wieder, doch nur kurz, da ich noch arbeiten wollte, Von Clarissa erzählte ich ihr nichts. Das behielt ich mir für einen späteren Zeitpunkt vor, falls es dann noch aktuell sein sollte. Kurz nach dem Mittagessen begab ich mich zum Washington Bogen, um auf Clarissa zu warten. Wie ich vermutet hatte, kam sie. Sie war verlegen, aber doch erleichtert, als sie mich sah. Offenbar hatte sie geglaubt, ich würde ihre Absage ernst nehmen und nicht kommen. Ich schloß mich zwei ihrer Führungen an. Die erste bestand aus drei Engländern und zwei Franzosen, und ich bekam einen ausführlichen Einblick in Clarissas Französischkenntnisse. Mit der zweiten bugsierten wir ein bayrisches Ehepaar aus München durch Manhattan, und ich überraschte Clarissa mit meinen Kenntnissen der deutschen Sprache. Es machte
uns beiden offensichtlich Spaß. Deutlich kam mir zu Bewußtsein, daß etwas in mir vorging, aber ich vermochte vorerst nicht zu ergründen, was es war. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir in der White Horse Tavern, einem Lokal in der Hudson Street in Greenwich Village, von dem man sagt, daß es das Lieblingslokal des berühmten Dichters Dylan Thomas gewesen sei. Ich versuchte sie für den Abend einzuladen, doch sie hatte ihre wöchentliche Seance. Wir beschlossen uns am nächsten Tag zu treffen. Während der folgenden vierzehn Tage traf ich sie täglich, auch am Abend, so daß meine Arbeit bald etwas ins Hintertreffen geriet. Mir wurde klar, daß ich Clarissa nicht mehr gehen lassen würde. Nur allzu deutlich erkannte ich, was mit mir geschehen war. Und auch Clarissa hatte eine unerschütterliche Zuneigung zu mir gefaßt. In der dritten Woche unseres Zusammenseins bat ich Clarissa, mich zur nächsten Seance mitzunehmen. Sie weigerte sich zuerst mit der Begründung, daß bisher nur äußerst selten jemand zugelassen worden wäre und die Herrn strenge Diskretion verlangen, erklärte sich jedoch auf meine Bitte hin bereit, Professor M. anzurufen und die Sache zur Sprache zu bringen. Gegen Abend rief sie dann auch von einer Zelle an, während ich in der Nähe wartete. Als ich nach längerer Zeit wiederkam, lächelte sie zufrieden. „Ausnahmsweise." „War es schwierig?" „Und ob. Ich habe ihnen gedroht." „Nicht zu kommen?" Sie lachte. „Nein, aber eine höhere Bezahlung zu verlangen, weil ich meine persönlichen Angelegenheiten zu sehr einschränken müßte." „Erpresserin." „War es nicht richtig?" „Doch, aber ich möchte nicht, daß du meinetwegen in Schwierigkeiten gerätst." „Es ist nicht so schlimm. Wir hatten vor ein paar Wochen auch einen Reporter von LIFE dabei. Die Herren können mir den Gefallen schon erweisen. Du mußt nur versprechen, daß du alles für
dich behältst. Auch mir gegenüber." Ich sah sie erstaunt an. „Auch dir gegenüber? Wie soll ich das verstehen?" Sie überlegte einen Augenblick, dann sagte sie ernst: „Die Professoren sind alle sehr ehrenwerte Herren. Auf eine gewisse Art vertraue ich ihnen vollkommen. Du mußt das verstehen, Jim. Ich bin sehr labil und kraftlos, was den Willen anbelangt. Wenn ich also krank werde, nicht körperlich krank, Jim, dann sind sie es, die mir helfen können, weil sie mich am besten kennen. Weil sie mich von der richtigen Seite kennen. Ich vertraue ihnen blind." Sie zögerte. „Ich sage deshalb blind, weil ich bis auf wenige Ausnahmen nicht weiß, was mit mir während der Sitzungen geschieht. Ich weiß, daß man keinen Mißbrauch übt und daß man die Geschehnisse aus meinem Gedächtnis löscht, damit mich keine Probleme quälen, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Der Verstand ist eine sehr sensible Sache, die sich mit allem abgibt, was sich einmal irgendwo ins Unterbewußtsein eingenistet hat. Ich möchte nicht, daß du in deiner Zuneigung zu mir verschiedene Dinge mißverstehst, an denen du dich vielleicht unter anderen Bedingungen keineswegs stoßen würdest. Ich möchte nicht, daß dieses notwendige Vertrauen erschüttert wird." Ich nickte stumm. Ich war tief in Gedanken versunken, als wir Manhattan mit der Staten Island Fähre verließen, um den Ort der Zusammenkunft aufzusuchen. Der Raum war einfach möbliert. Ein längerer Tisch stand in der Mitte, an dem die Anwesenden Platz genommen hatten. Schwere Vorhänge verhüllten die Fenster und gaben dem Raum nur dämmriges Licht. Mehrere Bücherregale füllten den restlichen Platz aus. Vier Leselampen standen achtlos in einer Ecke. Außer Professor M. waren noch sechs Herren zugegen, die mich freundlich, aber zurückhaltend begrüßten. Professor M. war eine stattliche Erscheinung, die sofort auffallen mußte. Es währte einige Minuten, ehe ich erkannte, was das Wesentliche an ihm war. Als er sich umwandte und mich anblickte, wußte ich es. Seine Augen enthielten das gebieterische Element des Herrschers. Er richtete sogleich das Wort an mich: „Ich nehme an, Clarissa hat Sie davon in Kenntnis gesetzt, welches Verhalten wir von Ih-
nen erwarten. Wenn Sie sich strikt daran halten, sollen Sie uns willkommen sein." Er räusperte sich. „Ich habe zwei Ihrer Bücher gelesen, Mr. Paxton, und kann Ihnen, so Sie darauf Wert legen, eine gute Kritik aussprechen. Falls Sie vorhaben, das, was Sie hier sehen werden, literarisch auszuwerten, muß ich Sie bitten, sich rein auf die Belletristik zu beschränken, da uns an einer wissenschaftlichen Auswertung natürlich selbst gelegen ist. Wenn Sie damit einverstanden sind, können wir beginnen." Ich nickte zustimmend. „Natürlich, Herr Professor. Lassen Sie mich Ihnen für Ihr Entgegenkommen danken." Wir nahmen Platz. Der Professor zog ein Notizbuch hervor und wandte sich an die Anwesenden. „Ich möchte heute einen Versuch wiederholen, den Professor Charcot im Juni 1884 durchgeführt hat und der mich besonders interessiert. Sie, meine Herren, wissen, worum es sich handelt. Sie, Mr. Paxton, beobachten das Geschehen unvorbelastet. Wir haben Ihnen allerdings eine aktive Rolle zugedacht, die wir Sie mit größtmöglicher Natürlichkeit zu spielen bitten. Doch genug der Worte. Sie werden selbst sehen." Kaum hatte er ausgesprochen, als hinter dem Vorhang hinter Clarissa ein Gong erklang. Sie erstarrte. Es war deutlich, daß sie nicht mehr Herr über sich war. „Ihr Zustand ist kataleptisch zu nennen, Mr. Paxton. Aber das genügt nicht. Wir können sie noch nicht beeinflussen. Um den somnambulen Zustand zu erreichen, bedienen wir uns der mesmerischen Methode der magnetischen Striche. In ihrem Fall auf dem Hinterhaupt." Clarissa befand sich bald in vollkommener Trance, wie selbst ich als Laie bemerken konnte. Ihr Gesicht war friedlich und entspannt, ihr Blick ins Wesenlose gerichtet. Der große, grauhaarige Herr neben mir eröffnete das Gespräch. „Sie wissen natürlich, wo Sie sich befinden, Clarissa?" „Selbstverständlich." „Wo befinden Sie sich?" „In Ihrem Arbeitszimmer, Dr. L." „Sie kennen die Herren, die zugegen sind?" „Ja." „Ja, alle." „Diesen auch?" Dabei deutete er auf mich. „Natürlich. Das ist Jim Paxton. Ich habe ihn ja schließlich mit-
gebracht." „Dann ist alles in Ordnung. Herr Professor, fahren Sie fort." Der Professor beugte sich vor. „Clarissa, wie lange kennen Sie Mr. Paxton schon?" Die Antwort kam gleichmütig und ohne Überlegen. „Sechzehn Tage." Professor M. blickte mich fragend an. Ich nickte zustimmend. Er fuhr fort: „Lieben Sie ihn?" Ich wollte aufbegehren, da mir die Frage unfair erschien, aber er bedeutete mir zu schweigen. „Ja." Nichts in ihrem Gesicht verriet, was in ihr vorging. „Sehr?" „Sehr." Ich bewegte mich unruhig, aber er warf mir einen beschwichtigenden Blick zu. „Ist Ihnen kalt, Clarissa? Sie frösteln!" „Ja, es ist kühl." „Gut. Gehen wir in die Sonne. Wir sind jetzt im Washington Square Park. Hier sind Sie doch gern, nicht wahr? Wir sitzen am Rand des Brunnens. Ist es so besser?" „Ja, danke, daß Sie mich hergebracht haben. Die Sonne ist sehr warm." Sie reckte sich wohlig im scheinbaren Sonnenschein. Ich staunte über die Macht der Hypnose, die Menschen Dinge empfinden ließ, die gar nicht vorhanden waren. Ich hatte bereits davon gehört, war aber doch nie so richtig überzeugt gewesen. Was mochte sie im Augenblick sehen? Wirklich Washington Square mit den vielen Menschen und dem lebhaften Treiben? Zweifellos! Erschüttert versuchte ich mir über die Möglichkeiten dieser Experimente klarzuwerden. Mit größtem Interesse folgte ich dem weiteren Verlauf der Seance. „Wir waren bei Ihrer Liebe zu Jim Paxton stehengeblieben, Clarissa. Wissen Sie, ob auch er sie liebt?" Warum ließ er von diesen privaten Dingen nicht ab? Was bezweckte er. „Ja." „Woher wissen Sie das?" „Ich fühle es." „Gefühle können täuschen, das wissen Sie!" „Schweigen Sie, ich will nicht zweifeln!" Sie wandte sich in mei-
ne Richtung und fragte: „Jim, liebst du mich?" Ich wollte antworten, aber der Professor kam mir zuvor. „Sie können ihn jetzt nicht fragen, er ist nicht mit uns gekommen. Er ist mit den anderen in Dr. L's Arbeitszimmer geblieben. Wir sind ganz allein hier." „Oh. Schade", murmelte sie. „Ich werde ihn fragen, wenn wir zurück sind." Erneut versetzte es mich in Erstaunen, daß diese wenigen Worte genügten, ihre Umwelt zu charakterisieren, und wie vollkommen sie sie akzeptierte. „Gut. Aber vorher haben wir noch etwas zu besprechen. Sobald Sie wieder aufwachen..." „Aber ich schlafe doch nicht." „Das weiß ich, Clarissa. Aber nehmen wir an, Sie schliefen. Sobald Sie aufwachen, werden Sie Jim Paxton töten." Sie erstarrte. Der Professor winkte mir beruhigend zu. Dennoch hatte ich eine unbestimmte Angst. Nicht um mich, doch um Clarissa. Mußte sich nicht ihr ganzes Wesen dagegen sträuben? Ich dachte an ihre Worte: ,Der Verstand ist eine sehr sensible Sache, die sich mit allem abgibt, das sich einmal ins Unterbewußtsein eingenistet hat. Wohl wußte ich, daß man dem Medium Amnesie einsuggerieren und befehlen konnte, aber ich schauderte vor dem Gedanken zurück, welche tiefe Wunden dieser Befehl, mich zu töten, in ihre labile Psyche reißen mußte. Ich hoffte inständig, Professor M. wußte, was er tat. Er mußte sie ja besser kennen. „Still! Wenn das jemand hört." „Hier hört uns niemand, Clarissa. Niemand hört uns zu." Offenbar genügte diese Versicherung, denn ihre Furcht verschwand. „Aber warum sollte ich ihn töten? Ich liebe ihn doch." „Ich will es, daß Sie ihn töten!" „Nein, das tue ich nicht. Ich begehe kein Verbrechen." Professor M. warf einen bezeichnenden Blick auf seine Kollegen, dann wandte er sich wieder Clarissa zu. „Sie wissen doch, daß er sie betrügt?" „Das ist nicht wahr!" „Doch. Er hat noch eine Freundin in New York. Ich weiß es ganz genau." „Gehen wir zurück, ich will ihn selbst fragen." Ihre Stimme zitterte merklich. Ihr Gesicht war weiß vor Anspannung. Was moch-
te in diesem Augenblick in ihr vorgehen? Ich ahnte es. Ich fühlte es beinah selbst. Es kostete mich alle Kraft, ruhig sitzen zu bleiben, nicht aufzuspringen und sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, daß alles nur Unsinn war. „Warten Sie, ich werde ihn holen." Der Professor erhob sich und kam auf mich zu. „Wenn sie die besagte Frage an Sie richtet, gestehen Sie ihr zögernd, daß Sie noch eine Freundin haben. Nennen Sie auch den Namen, um es möglichst überzeugend zu gestalten. Bedenken Sie dabei immer, es ist nur ein Experiment, an das sie sich nach ihrem Erwachen nicht mehr erinnern wird." „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Professor. Ich will das Mädchen nicht verlieren, weil ich weiß, daß ich der einzige Mensch bin, den sie wirklich braucht. Sind Sie sicher, daß Sie mit diesem Spiel nicht etwas in ihr zerstören, das so tief ist, daß Sie selbst es nicht wissen?" „Das ist ganz ausgeschlossen, glauben Sie mir. Sie ist seit zwei Jahren bei uns. Ich kenne sie sehr gut. Im Gegenteil, ihre Neigung zur Hysterie hat sich in dieser Zeit wesentlich gebessert. Haben Sie keine Angst!" „Wenn ich sie nun in diesen zwei Wochen besser kennengelernt habe, ganz einfach, weil sie in mir die Welt sah, die sie immer zu finden hoffte? Sie wissen, daß sie nie richtig gelebt hat, daß sie äußerlich tot war..." Er unterbrach mich: „Seien Sie kein Narr, Paxton. Kein lebender, normaler Mensch vermag das zu sein, was Sie in ihr sehen. Und Clarissa ist geistig gesund, nur labil und vielleicht einsam, weil sie sich fürchtet, Vertrauen zu schenken, wenn es darauf ankommt. Kommen Sie, es ist völlig gefahrlos. Professor Charcot gelang es, sein Medium zum Mord zu bewegen, allerdings lag der Fall nicht so extrem. Darum war es mir sehr recht, daß Clarissa Sie mitbrachte. Die Gewalt der Gefühle, noch dazu, wenn sie so extrem sind, wie Sie behaupten, ist nicht zu unterschätzen, und wir werden einiges über die Grenzen der hypnotischen Kräfte erfahren, wenn dieses Experiment zu Ende ist." Zögernd folgte ich ihm. „Hier habe ich nun Mr. Paxton mitgebracht, Clarissa. Sie können ihn fragen." „Ah, Sie sind wieder da, Herr Professor. Es sind so viele Menschen hier, glauben Sie nicht...?"
„Sie können uns nicht hören, Clarissa. Fragen Sie ihn!" Langsam und gequält, wie vor einer schweren Entscheidung, wandte sie sich zu mir um. „Jim, hast du noch eine Freundin in New York?" Ich tat, als zögerte ich. Ich hatte fürchterliche Gewissensbisse. Dann aber entschloß ich mich, das Experiment zu einem Ende zu bringen und nicht unnötig zu verlängern, da ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, daß sie tatsächlich litt. „Ja, ich habe eine zweite Freundin in New York." „Wer ist sie? Ich muß es wissen!" Professor M. stieß mich an. „Sagen Sie es ihr." Noch während ich nach irgend einem Namen suchte, kam mir ein Gedanke. Wenn ich Mme Louise sagte, konnte ich damit jeden später auftauchenden Zweifel beseitigen, indem ich sie zu ihr führte. Damit mußte sie erkennen, daß ich sie nie wirklich betrogen hatte. Im Innersten fühlte ich, daß es so sehr der Betrug war, der sie entsetzen mußte, sondern die Enttäuschung des Vertrauens, das sie in mich setzte. Gepreßt sagte ich: „Mme Louise." „Mme Louise", murmelte sie leise. Sie schien mir nun bleicher als zuvor. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, als verursachte ihr etwas ungeheure Anstrengung. Aber es mochte ebenso gut von den heißen Strahlen der Sonne herrühren, welche jetzt am Washington Platz niederbrennen mußte. „Gehen Sie jetzt, Mr. Paxton", befahl mir Professor M. „Miß Clarissa und ich haben noch ein paar Dinge zu besprechen." Ich begab mich wieder auf meinen Platz zurück. Unbewußt griff ich an die Stirn und fühlte, daß ich ebenfalls schwitzte. Ich fluchte innerlich über meine Anwesenheit hier. Und ich verfluchte die Männer, die mit starren, gespannten Mienen rundum saßen und jedes Wort mit sogenanntem wissenschaftlichen Eifer aufnahmen. „Sie sehen, Clarissa, ich habe recht. Sie sind betrogen. Sie müssen ihn töten." Aber sie weigerte sich immer noch. Er redete lange auf sie ein. Langsam wurde ihre moralische Barriere schwächer. Zögernd fügte sie sich schließlich seinem Willen und erklärte sich einverstanden. „Aber ich habe keine Waffe, mit der ich ihn töten könnte." „Das brauchen Sie auch nicht. Wir werden jetzt in unser Arbeitszimmer zurückkehren. Auf dem Tisch wird ein Glas Wein ste-
hen. Es wird Gift enthalten. Ich habe alles vorbereitet. Sie bieten es Mr. Paxton an und nötigen ihn zum Trinken. Sie dürfen jedoch auf keinen Fall jemals preisgeben, wer Sie veranlaßt hat, Mr. Paxton zu vergiften, auch wenn man Sie wieder unter Hypnose setzen und dann fragen sollte. Haben Sie mich verstanden?" „Ja, ich habe Sie verstanden." „Gut. Kehren wir jetzt in das Arbeitszimmer zurück. Wir sind jetzt an Ort und Stelle. Wachen Sie auf, Clarissa!" Er unterstützte den Befehl durch leichtes Berühren ihrer Schläfen. Ich beobachtete sie gespannt und, ich gestehe es ein, erwartungsvoll. Kaum war sie erwacht, sprang sie vom Stuhl auf. Sie lächelte und wandte sich an den Professor. „Wie ist es gegangen?" „Ausgezeichnet, Clarissa. Die Herren werden mir beipflichten." Die Runde nickte, aber das Murmeln konnte nicht über die Spannung hinwegtäuschen, die im Raum herrschte. Clarissa wandte sich lächelnd zu mir um. Nichts verriet, was hinter ihrer Stirn vorging und ob sie sich an den Befehl erinnerte. Dann fiel ihr Blick auf das Glas. Sie trat zögernd an den Tisch und nahm es an sich. Dann schien sie sich innerlich einen Stoß zu geben. Sie schritt um den Tisch herum. Ich hielt den Atem an. Ich warf einen Seitenblick auf den Professor, doch dieser starrte unbewegt auf das Mädchen. Sie trat zu mir und fragte mich mit einem unbefangenen Lächeln: „Nun, Jim, wie war es?" Ich versuchte möglichst gleichgültig zu wirken und nicht den Sturm in meinem Herzen zu verraten. „Du hast mir gesagt, ich solle nicht darüber sprechen, Clarissa." „Ach ja, ich vergaß." Sie fuhr mit dem Arm über ihre Stirn. „Es ist heiß hier, nicht wahr?" Ich nickte. Mir war tatsächlich heiß geworden. „Du mußt Durst haben, Jim. Willst du einen Schluck Wein?" Um das Ganze abzukürzen, sagte ich: „Ja, bring mir Wein, Clarissa." „Es ist nicht nötig. Ich habe ein Glas hier. Du kannst von meinem trinken. Du weißt, daß ich Wein nicht mag." Mit diesen Worten hob sie das Glas, um es mir zu reichen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Ihr Gesicht wurde bleich, die wundervollen, dunklen Augen groß und starr. Ihr Mund öffnete
sich, wie um einem tiefen, inneren Schmerz einen Weg zu bahnen. Ein Krampf schien ihren Arm zu erfassen. Er zuckte wild, und ein Teil der Flüssigkeit ergoß sich auf den Boden. „Clarissa!" rief ich, von plötzlicher Angst befallen. Ich wollte ihr das Glas aus der Hand nehmen. Sie wich stöhnend zurück. Das Glas entglitt ihrer Hand. Es zerbrach am Boden. Ich sprang auf, um sie zu halten, aber sie wich schreiend vor meinen Händen zurück und wand sich in fürchterlichen Krämpfen. „Professor!" rief ich. „Machen Sie dem ein Ende!" Der Gong unterbrach meine Worte. Clarissa erstarrte. Wieder folgten die magnetischen Striche am Hinterhaupt, so daß sie sich bald in vollkommener, tiefe Trance befand. „Sie vergessen alles, was geschehen ist, Clarissa!, Wenn Sie aufwachen, wissen Sie nichts mehr von dem, was in den letzten anderthalb Stunden geschehen ist. Sie wissen es nicht mehr. Sie vergessen es! Haben Sie mich verstanden?" „Ja, ich vergesse es. Ich weiß es nicht mehr!" „Sehr gut. Sie werden fünf Minuten, nachdem Sie aufgewacht sind, Mr. Paxton einen Kuß geben." Er wandte sich an mich. „Erlauben Sie uns diesen kleinen Scherz, Mr. Paxton und seien Sie versichert, daß solche Scherze in unserer Runde nicht üblich sind. Zur Bekräftigung dessen erlauben Sie mir, Sie zu unseren nächsten Sitzungen einzuladen." Diese Worte besänftigten den Ärger, der in mir aufgestiegen war. Ich nickte dankend. „Sie werden fünf Minuten nach Ihrem Erwachen Mr. Paxton küssen. Haben Sie mich verstanden, Clarissa?" „Ich werde es tun." „Erwachen Sie jetzt." Wiederum berührte er ihre Schläfen leicht mit den Finger. Sie erwachte augenblicklich. Es war sofort offensichtlich, daß sie sich an nichts mehr erinnerte. Ich atmete erleichtert auf. Die Spannung, die mich den ganzen Abend gefangengehalten hatte, wich mit einem Schlag. Ein Mann verließ den Raum und kehrte mit Whiskygläsern und einer Flasche zurück. Ich begann wieder aufzuleben. Ein wenig später stand Clarissa plötzlich auf, kam um den Tisch herum und küßte mich auf den Mund. Die Gespräche brachen schlagartig ab. Der Kuß war keineswegs gefühllos, wie man vielleicht hätte denken können, da es sich um einen posthypnotischen Befehl handelte. Wie gesagt, keineswegs. Aber am
Ende fuhr sie zurück und blickte mich verwundert an. Dann wurde sie rot, als sie das Lächeln der übrigen Anwesenden bemerkte. Auch in den folgenden Tagen stellte sich nicht die leiseste Erinnerung an die vergangene Seance ein, so daß ich bald keinen Zweifel mehr hegte, daß Professor M. recht gehabt und ich den Dingen wohl etwas zu viel Bedeutung beigemessen hatte. Alles verlief normal, und ich war beruhigt. Das Band zwischen uns festigte sich mehr und mehr. Und bald war ich mir dessen sicher, daß ich sie nicht mehr verlieren würde. Mme Louise hatte ich noch immer nichts erzählt, obwohl ich sie öfter in der Woche besuchte und mehrere Stunden mit ihr plauderte. Irgendwie hatte ich Angst, es könnte in Clarissa Erinnerungen wecken. Mein Roman ging trotz aller verhindernden Einflüsse gut voran. Ich war also zufrieden mit der Welt und den Umständen. Einen Abend verbrachte ich bei Professor M. an der Universität. Wir unterhielten uns über Clarissa und ihre Eignung zum Medium und besonders über die letzte Sitzung. Er versicherte mir eingehend immer wieder, daß keinerlei Gefahr bestünde und ich durchaus beruhigt sein könne. Daß das letzte Experiment mißlingen werde, sagte er, habe er erwartet, da eine mehrfache Suggestion notwendig sei, wenn es gelte, moralische, ethische oder tiefe gefühlsmäßige Schranken zu überwinden. Er bat mich in diesem Sinne, das Experiment wiederholen zu dürfen. Ich erklärte mich bereit, da ich zu der Ansicht gekommen war, daß wirklich nicht viel mehr geschehen konnte, als daß man das Experiment abbrechen mußte. Daraufhin wurde eine Zusammenkunft für den nächsten Tag anberaumt. Die Sitzung verlief in ungefähr dem gleichen Rahmen wie die vorhergehende. Nur der Höhepunkt des Dramas gestaltete sich auf eine Weise, die niemand vermutet hatte. Ich war zutiefst erschüttert. Nach ihrem Erwachen kam sie, ebenso wie beim erstenmal, mit dem Glas in der Hand auf mich zu. Doch diesmal bot sie es mir wirklich an, und es sah so aus, als bewahrheitete sich Professor M.'s Theorie von der wiederholten, verstärkten Hypnose. Aber als ich das Glas an die Lippen setzte, um den ersten Schluck zu machen, riß sie es mir aus den Händen und hielt es krampfhaft fest.
Lange stand sie unentschlossen, die schönen, bleichen Züge verzerrt, als riefe sie in ihrer Qual nach einem Gott in einer unbegreiflichen Dimension jenseits dieses Raumes. Zweimal wollte sie mir das Glas noch reichen. Dann, als die ersten Krämpfe durch ihren Leib wogten, hob sie es an die eigenen Lippen und trank in tiefen Zügen. Sie gab den Wein wieder von sich, noch ehe sie das ganze Glas geleert hatte. Man versetzte sie sofort in Trance. Wie stark mußte ihr Gefühl für mich sein, daß sie den verstärkten hypnotischen Befehlen widerstand, ja, das vermeintliche Gift, anstatt es mir zu geben, selbst nahm. So eingenommen war ich von dieser Tatsache, daß ich jeden weiteren Versuch in der Richtung untersagte, so sehr Professor M. auch auf einen dritten und endgültigen Versuch drängte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß diese Anspannung und der grauenhafte Drang, das zu töten, was sie liebte, keine unsagbare Belastung ihres ohnehin wenig widerstandsfähigen Gemütes bedeuten sollte. Es schien mir unglaublich, daß dieser entsetzliche Kampf im Augenblick der vermeintlichen Tat ohne Einfluß auf ihre zerbrechliche Seele sein sollte. Ich liebte sie zu sehr, um das Risiko einzugehen, sie eines verrückten Versuches wegen zu verlieren. Professor M. versuchte mich zu überreden, ließ aber, als ich mich standhaft weigerte, die Maske seiner Höflichkeit fallen und bedachte mich mit heftigen Worten, so daß ich kurzerhand Clarissa, die der Sache völlig verständnislos gegenüberstand, am Arm nahm und mit ihr das Haus verließ. Sie drang mit Fragen in mich, doch gab ich ihr ausweichende Antworten und vertröstete sie auf einen späteren Zeitpunkt, an dem ich ihr alles erklären würde. Als ich sie bat, zu keinen weiteren Sitzungen mehr zu gehen, erklärte sie sich überraschenderweise ohne Zögern einverstanden. Hatte sie selbst Angst davor bekommen? Schlummerte in ihr tief im Inneren doch ein winziger Rest der Unsicherheit und der fürchterlichen Zweifel, die sie ausgestanden und ,vergessen' hatte? Ich wagte nicht daran zu denken. Die nächsten Tage verliefen in alter Weise, und die Schatten schwanden langsam. Dennoch hatte ich Angst, Clarissa zu verlieren. Ich hatte immer das Gefühl, daß etwas zwischen uns stand,
auch wenn sie nichts davon zu fühlen glaubte. Nicht daß sich an ihrer Liebe etwas geändert hätte. Sie war sogar noch fester geworden. Aber ich machte mir Vorwürfe, daß ich sie gebeten hatte, von den Zusammenkünften mit Professor M. fernzubleiben. Sie waren der einzige wesentliche Inhalt ihres bisherigen Lebens gewesen. War es gut, wenn sie sich von der Vergangenheit löste? Bot ich ihr wirklich mehr Halt als die Vergangenheit? Ich wußte, die Zeit würde diese Frage entscheiden. Ich blieb vorsichtig und behutsam. Stetig reifte in mir der Plan, New York zu verlassen und sie mitzunehmen. Der Himmel über der Stadt schien mir plötzlich zu wenig blau, die Hitze zu wenig heiß. Ich war ruhelos. War es eine Vorahnung, die mich quälte und nicht zur Ruhe kommen ließ? Ich unterrichtete sie von meinem Plan, die Stadt zu verlassen. Dieser Vorschlag schien auch auf sie erleichternd zu wirken, denn sie stimmte begeistert zu und bat mich, von meinem Leben in Duluth zu erzählen, was ich denn auch tat. Bald schmiedete sie mit mir Pläne, aber dann brach sie plötzlich ab und sagte: „Jim, ich werde überallhin mit dir gehen, solange du mich haben willst. Aber laß mich darüber nie im unklaren." Damit war dieser Punkt erledigt. Sie kam mit. Alles weitere würde sich finden. Wir entschieden uns, noch am nächsten Tag aufzubrechen, als trieb uns eine unerklärliche Drohung aus der Stadt. Aber die Ereignisse sollten einen anderen entscheidenden Lauf nehmen. Wir kamen um wenige Stunden zu spät zu unserem Entschluß. Etwa zwei Stunden nach unserer Entscheidung rief Professor M. bei mir an. Er fragte nach Clarissa, und ich teilte ihm in aller Höflichkeit mit, daß sie keiner Sitzung mehr beiwohnen würde. Er bat mich jedoch inständig um noch eine einzige Seance mit ihr, um wenigstens einen Teil seiner Forschungsarbeit abschließen zu können, da sonst die ganze jahrelange Arbeit umsonst gewesen wäre. Er bekam mich schließlich weich. Denn tatsächlich war ich es gewesen, der in diese Arbeitsgemeinschaft hineingeschneit war aus heiterem Himmel und sie nun auseinanderriß. Er versprach, keine Experimente im Sinne der letzten beiden Seancen vorzunehmen. Deshalb wäre es vielleicht auch besser, wenn ich nicht mitkäme.
Das hätte mich warnen sollen. Aber ich war berauscht von den Aussichten der nahen Zukunft. Ich hatte bereits Reisefieber, und da der Entschluß schon gefaßt war, nährte ich die Ansicht, daß kaum noch etwas dazwischenkommen konnte. So fragte ich Clarissa, ob sie gehen wolle. Sie überlegte einen Augenblick, und fast glaubte ich, Angst in ihren Augen zu erkennen. Dann sagte sie: „Ich möchte nicht. Aber ich glaube, ich bin es ihnen schuldig. Bist du böse, wenn ich gehe?" „Nein, Clarissa. Es wäre nicht recht gewesen, sich heimlich fortzustehlen. So hast du wenigstens Gelegenheit, dich von ihnen zu verabschieden." Sie nickte. „Schön, Jim. Dann werde ich gehen." Sie schien erleichtert. Wahrscheinlich hatte sie sich bereits mit dem gleichen Gedanken beschäftigt. So erledigte ich auch dieses Problem. Alles verlief bestens. So dachte ich. Ich verdammter, vertrauensseliger Narr! Als sie zurückkam, war es gegen zehn am Abend, und ich war mit dem Packen fertig. Sie sollte die Nacht über bei mir bleiben und am Morgen ihre Angelegenheiten regeln. Wir plauderten noch über den bevorstehenden Abschied von New York, als ich fühlte, wie sie knapp vor elf Uhr unruhig wurde. Aber ich achtete nicht darauf. Ich hielt es für Rastlosigkeit in der Erwartung des nächsten Tages. Ich war ja selbst aufgeregt genug. Immer wieder warf sie verstohlene Blicke auf die Uhr, so daß ich sie schließlich fragte: „Was hast du, Clarissa? Du bist so unruhig." „Nichts. Es ist nur das Reisefieber." „Freust du dich?" „Natürlich, Jim." Sie griff nach ihrer Handtasche und suchte nach etwas. Dabei waren ihre Bewegungen eckig und mechanisch und von ungeheurer Anstrengung geleitet. Ich wurde nun doch aufmerksam und betrachtete sie genauer. Kein Zweifel, sie war im Begriff etwas zu tun, das ihr in höchstem Maße widerstrebte. „Was tust du, Clarissa?" Sie gab mir keine Antwort. Als sie ihre Hand aus der Tasche
zog, hielt sie einen Revolver auf mich gerichtet. Ich sprang fluchend auf, da verzerrte sich ihr Gesicht zu einer schrecklichen, bleichen Maske, und sie drückte ab. Der Knall ließ mich erstarren. Ebenso Clarissa. Sie wurde bleich und bewegungslos wie in Trance. Ich bemerkte, daß ich unverletzt war. Es mußte sich um eine Platzpatrone gehandelt haben. Ich versuchte die Waffe aus ihren starren Fingern zu lösen, was mißlang. Immerhin überzeugte mich ein Blick in die Kammer von der Richtigkeit meiner Vermutung. Clarissa befand sich offenbar in Trance. Sie reagierte nicht auf meine Befehle. Ich erinnerte mich des Gongs, und vermutete, daß der Pistolenknall dieselbe Wirkung auf sie ausgeübt haben mußte. Wie hatte Professor M. gesagt? ,Ihr Zustand ist nun kataleptisch!' Plötzlich überkam mich ein blinder Zorn und ich fluchte laut. Er hatte sein Wort nicht gehalten! Er hatte den Versuch ein drittesmal unternommen. Der Erfolg war da! Ich hatte gräßliche Angst. War die Barriere nun endgültig niedergerissen? Hatte er mit seinen verdammten Versuchen das Band zwischen uns zerstört? Würde sie aufwachen und noch genau dieselbe Clarissa sein, die ich liebte? Die mich liebte? Ohne daß ein dunkles, unerklärliches Etwas zwischen uns schwebte? Von Angst und Wut übermannt eilte ich zum Telefon. Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer. Es meldete sich niemand. In überstürzter Hast nahm ich das Telefon zur Hand und suchte nach der Nummer von Dr. L. Ich fand sie und wählte unbewußt, während meine Gedanken sich im Kreis bewegten. Als ich die Stimme vernahm, atmete ich erleichtert auf. „Dr. L.? Hier ist Paxton. Warum haben Sie den Professor nicht davon abgehalten, den verdammten Versuch zu wiederholen?" „Welchen Versuch?" Ich überhörte die Verwunderung. „Mich zu töten!" „Das ist verrückt. Wir haben den Versuch nicht gemacht. Sie müssen sich irren." Wütend sagte ich: „Nein, ich irre mich nicht. Sie kam nach Hause und versuchte mich mit einer Platzpatrone zu erschießen. Ihr habt es geschafft, ihr verdammten Heuchler!" „Beruhigen Sie sich, Mr. Paxton. Ich kann Ihnen versichern, daß wir keinen derartigen Versuch gemacht haben. Dafür bin ich be-
reit, vor Gericht einen Eid abzulegen. Außerdem existieren Bandaufnahmen der vollständigen Sitzung, die nicht geschnitten sind. Ich selbst habe so ein Band in meinem Besitz. Es dürfte ein leichtes sein, die Zeit zu rekonstruieren. Ich habe Miß Clarissa selbst sofort nach der Sitzung zu Ihrem Appartement gebracht. Verzeihen Sie also, wenn ich Ihre Anschuldigung nicht ganz verstehe." Das Schlimme war, ich glaubte ihm. Dann schoß mir ein neuer Gedanke durch den Kopf. „War sie mit dem Professor allein zusammen, auch nur für kurze Zeit?" „Nein..." Die Stimme zögerte. „Doch. Nach Abschluß der Sitzung. Sie erhielt Geld von ihm. Da war sie kurz mit ihm im Nebenzimmer, während wir im Wagen auf sie warteten." „Wie lange war sie mit ihm allein?" „Etwa sieben oder acht Minuten. Wir hupten bereits ungeduldig, als sie zusammen erschienen." „Glauben Sie, daß diese Zeit genügte, ihr den fiktiven Mordgedanken einzusuggerieren?" Schweigen, dann: „Wenn ich es mir recht überlege, ja! Aber bitte fassen Sie das nicht als Behauptung auf. Ich kann mich auch irren." Heftig atmend sagte ich: „Nein, keineswegs." Für mich war die Sache klar. Ich verfluchte den verrückten Ehrgeiz Professor M.'s. In diesem Augenblick nahm ich mir vor, mit ihm abzurechnen. Ich haßte ihn. Ich haßte die Welt, die so grausam mit ihren zerbrechlichsten Geschöpfen verfuhr. Die Stimme im Hörer brachte mich in die Gegenwart zurück. „Hallo, Mr. Paxton! Hallo, sind Sie noch da?" „Ja, ich bin noch da." „Kann ich Ihnen helfen?" „Ja, ich glaube schon. Beantworten Sie mir ein paar Fragen. Jetzt, da sie es getan hat und die Barriere überwunden hat, glauben Sie, daß etwas in ihr zerstört ist, daß ihre Beziehung zu mir sich ändern wird? Was ich meine, ist..." „Ich verstehe, was Sie meinen, Mr. Paxton. Sie brauchen keine Befürchtungen zu hegen. Sie wird ebenso vergessen, was geschehen ist, als hätte sie es nie getan. Es macht keinen Unterschied." „Sind Sie sicher?"
„Absolut." „Sie nehmen eine große Angst von mir. Ich danke Ihnen. Wie wecke ich sie aus der Katalepsie?" „Am besten gar nicht. Sie würde wieder Krämpfe bekommen, oder einen neuen Versuch machen, Sie umzubringen. Ich weiß nicht, ob der Herr Professor sich in seinen Befehlen spezialisiert hat. Wenn er nur Schießen befohlen hat, kann nicht viel passieren. Wenn er allerdings töten befahl und ihr den Revolver mitgab, könnte es sein, daß sie zu anderen Mitteln greift. In jedem Fall ist der kataleptische Zustand weniger schädlich als die Krämpfe. Ich besitze leider keine Kraft über sie. Ebensowenig wie Sie. Sie ist auf den Professor trainiert. Sie müssen versuchen, ihn zu erreichen. Bevor sie nicht vergessen hat, darf sie nicht aufwachen. Sie müßten sie in den somnambulen Zustand versetzen. Trauen Sie sich das zu?" „Nein", sagte ich schwach. „Nein. Davor habe ich Angst. Danke für Ihre Hilfe." „Keine Ursache, Mr. Paxton. Rufen Sie mich wieder an, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen behilflich sein kann. Ich werde versuchen, Professor M. zu erreichen. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß. Wie war doch Ihre Nummer?" Abwesend gab ich ihm die Nummer durch und hängte ein. Erneut versuchte ich den Professor zu erreichen, erhielt aber wieder keine Verbindung. Ich ließ es zwanzigmal läuten, dann warf ich den Hörer auf die Gabel. Ich war allein mit Clarissa, die nicht wußte, was um sie vorging. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Ich scheute mich davor, sie anzublicken. Sie saß starr, die Pistole noch immer verkrampft in der Hand, das Gesicht entspannt und abwesend. Ich berührte sie vorsichtig. Keine Reaktion. Ich versuchte den Blickpunkt ihrer Augen zu finden, aber wie ich mich auch abmühte, stets lag er irgendwo hinter mir, jenseits der Mauern, jenseits des Universums, in dem ich nun ratlos stand. Erneut rief ich bei Professor M. an. Mit gleichem Erfolg wie zuvor. Niemand hob ab. Nervös begann ich auf und ab zu schreiten. Immer wieder warf ich hilflose Blicke auf Clarissa. Aber ich hätte ebensogut mit einer Toten im Zimmer sein können. Der Gedanke erschreckte mich so sehr, daß ich sofort nach ihrem Pulsschlag fühlte. Als ich ihn aufatmend wahrnahm, fuhr ich elektrisiert hoch, so plötzlich kam der Gedanke.
Mme Louise! Natürlich, sie mußte hypnotische Kräfte besitzen. Jenes Erlebnis mit der Kugel, das ich mir nie zu erklären vermocht hatte, schien mir auf einmal ein deutlicher Beweis, an den ich mich mit aller Macht klammerte. Sie konnte mir vielleicht helfen. Sie mußte helfen! Ich verlor keine Zeit. Ich hob den Telefonhörer ab, damit kein überraschender Anruf Clarissa aus ihrer Starre wecken konnte, dann vergewisserte ich mich, daß ihr Zustand sich nicht verändert hatte. Paradoxerweise beruhigt eilte ich aus der Wohnung, um Mme Louise aufzusuchen. Sie schlief bereits, als ich bei ihr eintraf, war aber sofort hellwach, als ich ihr mit kurzen Worten erklärte, wozu ich ihre Hilfe brauchte. Ihre Versicherung, daß sie mir sicherlich werde helfen können, ließ mich für den Moment aufatmen, dennoch drängte ich unnötigerweise zur Eile. Keine Versicherung vermochte mich davon abzubringen, daß jede einzelne Minute zählte. Auf dem Weg zurück in mein Appartement berichtete ich ihr die näheren Einzelheiten. Sie hörte mir aufmerksam zu und blieb während der ganzen Fahrt schweigsam und nachdenklich. Als wir die Wohnung betraten, hatte sich nichts verändert. Clarissa saß noch immer starr und unbeweglich auf dem Stuhl, wie ich sie verlassen hatte, die Pistole in den steifen Fingern, den Abzug durchgedrückt. Ich trat ans Telefon und hängte den Hörer ein. Dann schloß ich die Tür hinter Mme Louise. „Glaubst du, daß du mir helfen kannst, Mme Louise?" flüsterte ich, ungeachtet der Tatsache, daß mich die unbewegliche Gestalt auch nicht gehört hätte, wenn ich gerufen hätte. „Weiß nicht, Jimmie. Laß mich nur machen." Ungeduldig folgte ich ihren plumpen, doch zielbewußten Bewegungen. Die Anspannung in mir strebte einem neuen Höhepunkt zu. „Wie ihr sie versetzt in Hypnose, Jimmie?" „Striche", sagte ich. „Magnetische Striche am Hinterkopf." Sie nickte und trat hinter Clarissa. Dann fuhr sie mit steten Bewegungen der Finger Clarissas Hinterkopf hinab. Dabei murmelte sie beruhigende Worte. Zuerst geschah nichts, doch dann änderte sich Clarissas Zustand merklich. Ihre Starre löste sich. Ihre Finger öffneten sich. Der Abzugshahn schnappte mit einem Klicken zurück, und die Pistole fiel polternd zu Boden. Der fixierte Blick des
Mädchens wanderte, blieb aber wesenlos. Es war klar ersichtlich, daß sie tiefer und tiefer in Trance sank. Jetzt erst bemerkte ich, daß ich den Atem angehalten hatte. Erschreckend laut stieß ich die Luft aus und atmete tief durch. Ich blickte Mme Louise an. Sie lächelte mir ermutigend zu. „Sprich zu ihr, Jimmie." Ich rückte meinen Stuhl ganz nahe an ihren. Nach kurzem Überlegen sagte ich: „Clarissa, hörst du mich?" Ohne Zögern kam die Antwort: „Ja, Jim, ich höre dich." „Weißt du, wo du bist?" „Natürlich. Bei dir in deinem Zimmer." Ich jubelte innerlich. Es schien alles gut zu werden. Wenn sie nur vergessen konnte! Ich biß die Zähne zusammen und konzentrierte mich auf die Fragen, die ich ihr stellen mußte, um ganz sicherzugehen. „Hat der Professor dir befohlen, mich zu töten, Clarissa?" Keine Antwort. „Clarissa, hörst du mich?" „Ja, ich höre dich." „Hat der Professor es dir befohlen?" Wiederum keine Antwort. „Befohlen zu schweigen, Jimmie", sagte Mme Louise. Ich nickte. Ich hatte es mir bereits gedacht. Dann kam mir ein Gedanke. „Du mußt es nicht sagen, Clarissa. Du brauchst nur zu nicken. Hat der Professor dir befohlen, mich zu erschießen?" Nach einigem Zögern kam ein verneinendes Nicken. Erstaunt blickte ich Mme Louise an. Plötzlich erkannte ich meinen Irrtum. Ich wiederholte die Frage, diesmal jedoch berichtigt, da ich mich der Worte Dr. L.'s erinnerte. „Hat er dir befohlen, mich zu töten?" Sofort ein heftiges bejahendes Nicken. Ich atmete auf. Der erste Sieg war errungen. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Warum solltest du mich töten, Clarissa?" „Du hast mich betrogen!" „Mit wem, Clarissa?" „Mit Mme Louise." „Kennst du sie?" „Nein."
„Sie ist hier, Clarissa." Einen Augenblick lang schien es, als würde sich ihr Blick klären, als würde sie aus der Trance erwachen. Ein Krampf zuckte durch ihren Körper. Die Hände krümmten sich zur Krallen. Erschreckt hielt ich inne. Hastig stieß ich hervor: „Vergiß es, Clarissa." Sie beruhigte sich augenblicklich. „Hast du mich getötet?" „Ja." Erstaunt blickte ich sie an. Wie war das möglich? Dann fiel mir ein, daß sie sofort nach dem Schuß in Katalepsie gefallen war. Es stimmte. Sie mußte der Meinung sein, ich sei tot. Unvorsichtigerweise fragte ich: „Bist du sicher? Ich rede doch mit..." Mme Louise fiel mir ins Wort. „Nein, Jimmie. Sein zu gefährlich!" Ich hätte mir selbst die Zunge abbeißen mögen. Ich mußte vorsichtiger sein. Aber ich wollte diese Barriere wieder aufbauen, die der Professor niedergerissen hatte. Irgendwie glaubte ich nicht an die totale Amnesie. Nicht bei einem so sensiblen, labilen Geschöpf wie Clarissa. Ich wollte, daß sie auch in ihrem Unterbewußtsein davon überzeugt war, daß kein Grund existierte, der den Befehl gerechtfertigt hätte, mich zu töten. Ich mußte sichergehen. „Tut es dir leid, mich getötet zu haben?" Keine Antwort. „Ich habe dich nicht betrogen. Ich habe keine zweite Freundin wie dich in New York. Siehst du diese Frau?" Ich winkte Mme Louise, neben mich zu kommen. Sie trat um Clarissa herum und blieb vor ihr stehen. „Ja, ich sehe sie." „Sie ist eine alte Frau, Clarissa. Glaubst du, daß ich dich mit ihr betrügen würde?" Ein Lächeln öffnete ihre Lippen. „Nein." „Aber sie ist eine gute Freundin. Meine gute Freundin. Glaubst du mir das?" „Ja, ich glaube es dir." Ich holte tief Atem. „Sie ist Mme Louise." Im ersten Augenblick geschah nichts. Dann wurde sie bleich und begann zu zittern. Ein unmenschliches Schluchzen kam aus ihrer Kehle. Mme Louise warf mir einen warnenden Blick zu. Schnell sagte ich: „Du mußt vergessen, Clarissa."
„Nein, ich darf nicht vergessen." „Du mußt, Clarissa!" „Nein, ich darf nicht." „Hat er es dir befohlen?" „Ja." Ich hätte es mir denken sollen. Der Professor ließ sich nicht ins Handwerk pfuschen. Er hatte natürlich Vorsorge getroffen. Aber warum meldete er sich nicht? Er mußte doch wissen, was in diesem Augenblick geschah. Erwartete er sie irgendwo? Hatte er nicht bedacht, daß der Schußknall sie in Trance versetzen könnte? Erschöpft lehnte ich mich zurück. Verzweifelt versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Plötzlich erstarrte ich. „Clarissa, solltest du den Professor treffen, nachdem du den Befehl ausgeführt hattest?" „Ja." „Wo?" „In der Universität." Ich triumphierte. Endlich eine Spur! „Wann, Clarissa, wann?" „Halb zwölf." Verdammt! Ich blickte auf die Uhr. Es war fast halb zwei Uhr morgens. Dennoch stürzte ich zum Telefon und versuchte es. Aber es war zu spät. Ich bekam keine Verbindung mehr. Fluchend legte ich auf. Anschließend versuchte ich die Nummer seines Appartements. Ebenfalls nichts. Ich verstand das nicht! Es wollte einfach nicht in meinen Kopf! Wollte er sich etwa an mir rächen, weil ich ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte? Oder ging es ihm nur darum, sein Experiment zu Ende zu führen, ganz gleich, um welchen Preis? Hilflos ballte ich die Fäuste. Ich haßte die Stadt plötzlich mit ihren Millionen Bewohnern, ihrer Mitleidlosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Wesen, das ich liebte. Mme Louises Worte rissen mich aus meinen Gedanken. „Clarissa, Sie mich hören? Sie mich kennen?" „Ja, Sie sind Mme Louise." „Gut. Sie werden jetzt folgen. Zu Professor M." „Ich werde folgen." „Wir sind da." Sie winkte mich herbei. „Hier sein Professor M." „Oh, Professor M." Erleichterung huschte über Clarissas Züge. Sie akzeptierte die Tatsache vollkommen. Ich erwachte aus meiner Lethargie. Ich versuchte mich an die Stimme des Professors
zu erinnern und ahmte sie nach, soweit es mir möglich war. „Endlich, Clarissa. Wo sind Sie so lange gewesen?" „Ich bin aufgehalten worden." „Haben Sie meinen Befehl ausgeführt?" „Ja, ich habe ihn ausgeführt." „Gut. Sie werden jetzt alles vergessen, was geschehen ist, seit Sie mich nach der Sitzung verlassen haben. Sie haben es bereits vergessen. Sie wissen nichts mehr!" Einige bange Sekunden war Schweigen. War die Täuschung mißlungen ? Schweiß brach mir aus allen Poren. „Sie vergessen alles, was nach der Sitzung geschehen ist. Sie wissen es nicht mehr, Clarissa." Zögernd kam die Antwort. „Ja, ich vergesse es. Ich weiß es nicht mehr." Mit einem Dankgebet zum Himmel sagte ich: „Sie werden jetzt aufwachen, Clarissa. Sie werden sich an nichts mehr erinnern. Wachen Sie auf!" Dabei berührte ich ihre Schläfen mit den Fingerspitzen, wie ich es während der Seancen beobachtet hatte. Ihr Blick klärte sich, verlor seine Inhaltslosigkeit und blieb schließlich an mir haften. „Jim", sagte sie verwundert und griff an ihre Stirn, wie um eine Benommenheit abzuschütteln. „Was ist geschehen?" Die Anspannung der letzten Stunden wich von mir. Ich fühlte den Stein, der mir vom Herzen fiel. „Nichts, Clarissa, mein Liebling. Es ist nichts geschehen, was dich kümmern sollte." Damit zog ich sie vom Stuhl hoch und nahm sie fest in die Arme. „Doch... ich fühle mich so leer..." „Du bist nur eingeschlafen. Du bist müde." Sie blickte mich forschend an. Ich sah die Schläfrigkeit in ihren Augen. Ihr Kopf fiel an meine Schulter. „Das muß es wohl sein", murmelte sie. „Gott, ich bin müde. Ich möchte schlafen. Nur schlafen und..." Aber die letzten Worte verstand ich nicht mehr. Sie war bereits eingeschlafen. Ich trug sie zu meinem Bett und legte sie sanft darauf. Dann öffnete ich ihr Kleid, und Mme Louise half mir, es ihr auszuziehen. Sie erwachte noch einmal und erblickte Mme Louise. „Wer ist da?" flüsterte sie erschreckt.
Beruhigend sagte ich: „Hab keine Angst, Clarissa. Es ist eine gute Freundin. Mme Louise." Vielleicht irre ich mich, aber für Bruchteile einer Sekunde glaubte ich so etwas wie Erkennen in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Aber das war natürlich absurd. Sie hatte vergessen. Sie konnte sie nicht kennen! Gleich darauf schlief sie fest und tief. Nachdem ich sie nun in Sicherheit wußte, kam die Müdigkeit mit voller Kraft auch über mich. Ich wankte zum Telefon, um ein Taxi für Mme Louise zu rufen. Dann trat ich zur ihr und küßte sie auf die Wange, wie ich es immer getan hatte. „Wie kann ich dir nur danken!" Doch diesmal lächelte sie nicht. „Du sie liebst sehr?" Ich nickte. „Vorsicht, Jimmie Boy." Meine Schlaftrunkenheit schwand. „Wie meinst du das?" „Sie sein noch nicht frei." „Noch nicht frei?" Ich starrte sie verständnislos an. „Der Blick eben, als sie hören meinen Namen..." „Du hast ihn also auch bemerkt. Ich dachte, ich hätte mich geirrt." „Nein. Täuschung von Unterbewußtsein nicht so leicht." „Du glaubst also, daß sie nicht alles vergessen hat?" „Doch. Aber wie sehr?" Sie zuckte die Schultern. „Du sein vorsichtig, Jimmie. Sie muß fort von hier. Je weiter fort der Professor, um so besser." „Ja, ich weiß. Wir fahren morgen." „Nach Hause?" Ich nickte müde. „Nach Hause." „Viel Glück, Jimmie Boy. Du lassen wieder von dir hören?" „Ich werde schreiben, Mme Louise. Ich versprech' es dir!" Als ich wieder erwachte, schrillte das Telefon. Clarissa bewegte sich unruhig. Ich taumelte zum Apparat, hob ab, bevor er noch einmal läuten konnte, und warf einen Blick auf die Uhr. Halb drei! Ich hatte weniger als eine halbe Stunde geschlafen. Die Stimme im Hörer vertrieb mir augenblicklich den Schlaf. Es war Professor M.
„Mr. Paxton. Wo ist Clarissa?" „Es wird Zeit, daß Sie sich melden, Professor", sagte ich eisig. „Sie ist hier." „Ich komme sofort zu Ihnen. Nur ich kann ihr die Amnesie befehlen. Ist das Experiment gelungen? Ich verstehe nicht, daß sie noch immer bei Ihnen ist. Ich..." „Darum hätten Sie sich bereits vor Stunden kümmern müssen", sagte ich ebenso eisig wie zuvor. „Unterstehen Sie sich, hierher zu kommen! Zu Ihrer Information, einem befreundeten Hypnotiseur gelang es trotz Ihres Befehles, die Amnesie herbeizuführen und das Mädchen aufzuwecken. Sie ist völlig normal, soweit ich das beurteilen kann, nur müde. Sie schläft. Sie haben aus mir unerfindlichen Gründen die Gesundheit eines Menschen auf das Äußerste gefährdet. Wenn ich dennoch von einer Anzeige absehe, dann nur deshalb, weil Clarissa in Ihnen während der letzten beiden Jahre einen Freund gesehen hat. Ich wünsche jedoch, daß Sie sie unter keinen Umständen mehr belästigen. Was mich betrifft, so wünsche ich mir nichts ferner, als Sie noch einmal zu sehen. Gute Nacht!" „Mr. Paxton, nur ich kann die Amnesie herbeiführen. Sie wird überschnappen und..." Ich hängte ein. Leise trat ich zu Clarissa und sah, daß sie wieder fest und ruhig schlief. Beruhigt trat ich ans Fenster und schob die Rolläden hoch. Die Nachtluft war traumhaft kühl. Es dämmerte bereits. Dann legte ich mich auf die Couch und fühlte, wie die Müdigkeit über mich kroch. Als ich erwachte, war Clarissa bereits auf. Sie wirkte frisch und munter und war voller Tatendrang. Frei oder nicht frei, dachte ich, sie ist so normal wie du und ich und jeder andere. Sie erwähnte den Vorabend mit keinem Wort. Sie lachte wie immer, sie bewegte sich wie immer und sie liebte mich, wie sie es immer getan hatte. Meine letzten ängstlichen Zweifel schwanden. Gegen acht Uhr verließ sie mich, um ihre Sachen zusammenzupacken, die sie gleich mitnehmen wollte. In der Zwischenzeit brachte ich mein Gepäck zum Flughafen. Wir wollten uns dort um elf Uhr treffen. Die Maschine nach Duluth startete um elf Uhr fünfundvierzig, so blieb uns noch genügend Zeit, einen kleinen Imbiß einzunehmen, bevor wir New York verließen.
Ob ich jemals wieder zurückkommen würde? Ich bezweifelte es. Dann dachte ich an Mme Louise und war nicht mehr so sicher. Später vielleicht, in einigen Jahren. Aber jetzt rief Duluth. Ich atmete tief ein, um die schmerzlichen Gedanken an die Vergangenheit zu verdrängen. Die Gegenwart war das einzige Wesentliche. Und die Zukunft. Um elf Uhr begab ich mich wie vereinbart an den Schalter, um auf Clarissa zu warten. Aber sie verspätete sich. Als sie gegen halb zwölf noch immer nicht erschien, wurde ich unruhig. Was war geschehen? Sie kannte die Abflugszeit der Maschine. Was hielt sie so lange auf? Allerlei verrückte Gedanken begannen auf mich einzustürmen, die immer wieder in die Warnung Mme Louises mündeten: Vorsicht, Jimmie Boy. Sie sein noch nicht frei! Sie sein noch nicht frei! Täuschung von Unterbewußtsein nicht so leicht. Sie sein noch nicht frei!' Minuten später drohte mich die Ungewißheit um den Verstand zu bringen. Ich eilte in die nächste Telefonzelle und wählte die Nummer ihrer Wohnung. Es meldete sich niemand. Ich wollte schon einhängen, als mich ein Knacksen in der Leitung innehalten ließ. Ich preßte den Hörer wieder ans Ohr. „Jim?" Sie war noch immer zu Hause. Wie war das möglich? „Clarissa, wo bleibst du?" „Jim." Ihre Stimme war völlig tonlos und ohne Empfindung. Eine gräßliche Kälte kroch in mir hoch und lähmte meine Zunge. „Jim, es ist alles zu Ende..." „Clarissa! Clarissa, was ist zu Ende? Clarissa!" Aber die Leitung schwieg. Bestürzt blickte ich auf den nutzlosen Hörer. Dann schreckte ich auf. Ihre Stimme hatte wie in Trance geklungen. Sollte der Professor es gewagt haben, sich noch einmal an ihr zu vergreifen? Eine sinnlose Wut schüttelte mich. Ich stürzte aus der Zelle und auf das nächste Taxi zu. Immer wieder geisterte der entsetzliche Satz durch mein Bewußtsein: ,Sie sein noch nicht frei!' Als ich die Fäuste in meine brennenden Augen preßte, merkte ich, daß ich weinte. Die Ewigkeit der Fahrt nahm schließlich ein Ende. Und als ich vor der Tür ihres Appartements stand, hatte ich größere Angst als jemals zuvor in meinem Leben. Ich stürmte ohne zu klopfen hinein und erstarrte mitten im Schritt. Die Szene brannte sich unauslöschlich für mein ganzes Leben in meine Seele. Der Raum verschwamm vor meinen Augen. Eine
lähmende Tatsache bohrte sich in mein schwindendes Bewußtsein, und ihre Ironie ernüchterte mich bis auf den tiefsten Grund meines Verstandes. Clarissa war endgültig frei! Aber um welchen Preis! Ich starrte in ihr bleiches Gesicht. Es war nicht erkennbar, ob sie wahrnahm, was um sie herum vorging, oder ob sie sich vor der entsetzlichen Wahrheit in ihr Innerstes verkroch. Sie stand bewegungslos an der Wand, die Arme schlaff herabhängend. Ihre Hände und ihr Kleid waren über und über mit Blut bedeckt. Vor ihr am Boden lag ein lebloser Körper in einer großen Lache dunkelroten Blutes. Bereits an der Kleidung erkannte ich, wer es war. Professor M.! Vorsichtig drehte ich die Leiche herum und betrachtete das verzerrte Gesicht mit den weit geöffneten, erstaunten und selbst im Tod noch herrischen Augen. Beim Anblick der durchschnittenen Kehle überkam mich Übelkeit. Ich wandte mich ab und fühlte, wie sich eine schützende Taubheit über meine Empfindungen breitete. Ich sah das Messer in der Nähe liegen, ein großes Küchenmesser mit breiter, scharfer Klinge. Es war kaum Blut daran. Ich stand mehrere Minuten lang bewegungslos und starrte ins Leere. Warum? Wie hatte das geschehen können? Wie unendlich viel mußte ich diesem Mädchen bedeuten, daß ihr gequältes Unterbewußtsein, besorgt um die Normalität, eine derart gewalttätige Lösung herbeiführte! Ob sie in jenen Augenblicken gewußt hatte, was sie tat? Wohl kaum. Ja, Clarissa war nun frei! dachte ich bitter. Der dämonische Befehl zu töten, wenn auch - wie ironisch - nur im Spiel gegeben, hatte bittere Ernte gebracht. Man kann das Unterbewußtsein nicht so leicht täuschen! Wie sehr das stimmte! Ebensowenig das Gefühl, wenn es stark genug war. Und es war stark genug gewesen, daß es den Dämon tötete. Mir fielen die Worte des Professors ein: ,Nur ich kann ihr die Amnesie befehlen!' Vielleicht war er deshalb zu ihr gekommen, in der besten Absicht, die Sache zu einem guten Ende zu bringen? Hatte auch er Angst gehabt? Arme, erlöste Clarissa! Mit einem Gefühl vollkommener Leere stieg ich über die Leiche hinweg und hob den Telefonhörer vom Boden auf. Unschlüssig
starrte ich auf den Apparat und kämpfte um den endgültigen Schritt, der vorläufig den Strich unter meine Pläne ziehen mußte. Dann nahm ich alle Kraft zusammen und verständigte die Polizei und Dr. L. Nachdem dies getan war, blieb nur noch das Warten. Ich nahm Clarissa sanft an den Schultern und führte sie in das Badezimmer, wo ich ihr die Hände wusch und das Kleid notdürftig säuberte. Sie ließ es willenlos mit sich geschehen. Danach trug ich sie ins Nebenzimmer und legte sie auf die Couch. Ich setzte mich zu ihr und nahm sie fest in die Arme. Nach einer Weile löste sich ihre Starre, und sie begann leise zu weinen.
5. Vollmond Mein Blick fiel auf die Schlagzeilen der Abendpresse: DRITTES OPFER DER BESTIE! NOCH IMMER KEINE ANHALTSPUNKTE! DIE IN DEN FRÜHEN MORGENSTUNDEN AUFGEFUNDENE, BIS ZUR UNKENNTLICHKEIT VERSTÜMMELTE LEICHE NOCH IMMER NICHT IDENTIFIZIERT! WIE BEI DEN ERSTEN BEIDEN MORDEN DEUTET AUCH HIER ALLES AUF DAS WERK EINES RAUBTIERS HIN. INSPEKTOR WENDSON ERKLÄRTE, DASS BEREITS EIN AUSSERGEWÖHNLICH STARKER HUND DAZU IN DER LAGE WÄRE, EINEN MANN SO ZU ZERFLEISCHEN... Ich faltete die Zeitung zusammen und warf einen Blick auf die Leuchtuhr über der kleinen Cafeteria. Halb zehn! Ich verspürte ein leises Hungergefühl und ignorierte es. Es war noch zu früh. Auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser lag der Glanz des Mondes. Eine Weile blickte ich nachdenklich den treibenden Wolkenfetzen am Himmel nach. Ich erschrak, als ich fühlte, daß mich Passanten neugierig betrachteten. Rasch senkte ich den Kopf. Es war nicht gut, jetzt aufzufallen. Langsam schritt ich die Straße entlang. Ich überließ mich dem Flackern der Leuchtreklamen, dem Hauch der Stimmen, die der Nachtwind überall in diesen Gassen mit sich trug. Ein Taumel erfaßte mich. Hier war Leben! Hier war die Kraft, die
ich brauchte... Ich nahm immer den gleichen Weg in die Altstadt. Mondbedingt! Die meisten der größeren Kreuzungen lagen ganz im Licht des Mondes. Es war zu riskant, sie zu überqueren. Ich mußte sie meiden. Was ich brauchte, waren enge Gassen, wo immer eine Seite im Dunkeln lag. Und wo das Leben dünner war - wie ein Faden, bei dem ein rascher Schnitt genügt. Ich zitterte bei dem Gedanken, als mich für Sekunden ein nagendes Gefühl überkam: Hunger. Bald... Die Städte hatten etwas Magisches an sich. Sie vibrierten. Sie pulsierten. Sie waren prall gefüllt mit Leben! Aber sie bargen auch Gefahren: Polizei, organisierte Bekämpfung des Asozialen, des Unheimlichen. Sie waren alle gleich, die Städte. Ich weiß nicht, woher ich immer wieder die Kraft nahm, in die Wälder zurückzukehren. Vielleicht war es die Ernüchterung nach dem Rausch, die frische Kraft, die mir Vernunft genug gab, diesen Dschungel zu verlassen, in den ich nicht gehörte. Ich überquerte die letzte breite Straße im Schatten eines Hauses. Vor mir lag die Altstadt. Ein wenig hatte ich Angst, die Polizei könnte die richtigen Schlüsse gezogen haben. Aber es war natürlich absurd. Kein vernünftiger Mensch würde solche Schlüsse ziehen. Das war mein Vorteil. Ich war so unverdächtig wie jeder andere, der hier entlangschritt. Nur im entscheidenden Augenblick galt es rasch und wachsam zu sein. Ich tauchte in den Schlund einer engen Gasse hinein, deren Lichter nur spärlich die Dunkelheit durchdrangen. Wenige Menschen gingen hier. Und sie schritten ein wenig rascher als auf den breiten Avenuen. Die Finsternis war ihr Feind. Nicht selten fiel ihr Blick über die Schulter nach hinten. Aber mich beachteten sie nicht. Der Hunger wurde stärker, je weiter ich in die Altstadt eindrang, je winkliger die Gassen wurden, je näher der Augenblick rückte. Jetzt bewegte ich mich ganz sicher. Alle Bedenken waren verflogen. Vor mir sah ich die Gasse einmünden, in der ich es tun würde. Unbewußt lächelte ich. Es war nicht weit vom Marktplatz, auf dem das letzte Opfer gefunden worden war. Licht, Schatten.
Ich trat vom Gehsteig hinab auf die Straße und schritt am Rand des Lichtes entlang. Von irgendwoher kam das Geräusch von Schritten. Ich hielt den Atem an und lauschte. Hundert Meter vor mir überquerte ein Mädchen die Straße und kam auf mich zu. Noch sah sie mich nicht. Einen kurzen Moment lang bewunderte ich den Schwung ihrer Hüften. Dann war sie nah genug. Ich setzte zum Sprung an... Und erstarrte. Auch hinter mir erklangen Schritte. Verdammt! Ich wandte mich um und gewahrte zwei Männer, die rasch näherkamen. Sie hatten kaum Augen für die Straße und bemerkten mich nicht einmal, als sie vorübereilten. Sollte ich dem Mädchen folgen? Ich war versucht, es zu tun. Sie wäre eine verhältnismäßig leichte Beute gewesen. Ich verspürte auch noch ein anderes Verlangen beim Anblick ihrer geschmeidigen, unbewußt sinnlichen Bewegungen. Aber ich wußte, daß es erlöschen würde, sobald der Mond mich dirigierte. Ich blickte ihr nach und wollte mich eben in Bewegung setzen, als ein Polizist auftauchte. Der Hunger nagte in mir. Ich biß die Zähne zusammen und wartete reglos. Warum nicht ein Polizist...? Er marschierte langsam in meine Richtung. Das Mondlicht fiel voll auf ihn, und ich erkannte, daß er noch sehr jung war. Gut! Das bedeutete Kraft. Ich wartete, bis er fast vor mir war. Dann sprang ich aus dem Schatten hinaus. Schon während des Sprunges bemerkte ich, daß etwas schiefging. Es wurde dunkler, und das leichte Ziehen in den Gliedern, das immer der Auftakt der Verwandlung war, blieb aus. Wie berechnet landete ich auf allen Vieren vor dem ahnungslosen Polizisten, der nicht wenig zusammenschrak. Aber es waren noch immer zwei Hände und zwei Füße. Mit einem Fluch rappelte ich mich auf und blickte zum Himmel. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben! „Springen Sie immer so, wenn der Mond scheint?" fragte der Uniformierte, der sich rasch von seinem Schrecken erholt hatte, wozu sicher auch das Bewußtsein seiner Autorität beitrug. Ich murmelte eine Entschuldigung und wischte den Schmutz
von den Händen. Obwohl der Hunger in mir raste, wußte ich, daß der Augenblick vorerst vorbei war. Ich hatte zuviel Zeit verloren. Jede Sekunde mochte jemand aus einer Seitengasse auftauchen. Auch die Wolke besann sich gefährlich zu lichten. Wortlos wandte ich mich ab, um im Schatten unterzutauchen. Aber der Polizist hielt mich zurück. „Es ist gefährlich, wenn Sie allein hier herumtorkeln, mondsüchtig wie Sie sind..." „Ich bin nicht mondsüchtig...!" sagte ich barsch. „Ich wollte nicht betrunken sagen, weil ich dachte, das verletzt vielleicht ihre Gefühle", meinte er trocken. „Ich bin auch nicht betrunken!" Gehetzt blickte ich mich um. Von hinten näherten sich Schritte. Und das Mondlicht gewann von Sekunde zu Sekunde an Kraft. Es mußte gleich soweit sein. „Eigentlich sollte ich Sie mit auf die Wache nehmen, wenn Sie so unbeherrscht auf ahnungslose Leute losspringen - noch dazu an einem Ort, wo ohnehin jeder Angst vor der mörderischen Bestie hat. Wenn Sie einer von den Scherzbolden sind, die..." „Bin ich nicht..." „Wo wohnen Sie?" unterbrach er mich. „Nicht weit", log ich rasch. „Ein paar Straßen weiter!" „Ich werde Sie dahin begleiten", erklärte er barsch. „Ja, ja", sagte ich und zog ihn schnell in den Schatten. Keine Sekunde zu früh. Schon gleißte die andere Straßenhälfte wieder im hellen Schein. Vier Burschen eilten vorüber und machten eine witzige Bemerkung, als sie uns sahen. Ich atmete auf. Für den Moment war die Gefahr gebannt. Aber die Begleitung war mir alles andere als lieb. Früher oder später würden wir eine Straße überqueren, auf die der Mond schien und dann geschah es, ob ich wollte oder nicht! Ich spielte den Betrunkenen und torkelte ein wenig, um nicht zu schnell vorwärts zu kommen. Die vier jungen Männer waren bereits in einiger Entfernung, aber immer noch zu nah. Der Beamte nahm meinen Arm und drängte mich vorwärts. „Kommen Sie schon. Ich habe nicht vor, den ganzen Abend in Ihrer Gesellschaft zu verbringen." Ich auch nicht! Ich schüttelte ihn ab, doch er war beharrlich. So erreichten wir die erste Kreuzung. Da ich ihm aber immer noch nicht erklärt hatte, wo ich genau wohnte, bog ich einfach ab und folgte dem Schatten. Gleich darauf war es vorbei. Wieder kreuzte eine Straße. Sie bot keinen schützenden Schat-
ten. Ihr Vorteil lag jedoch auf der Hand: Sie war leer. Nur in weiter Ferne sah ich ein paar Fußgänger. Ich handelte. Ich stieß den Polizisten mit einem plötzlichen Ruck auf die Straße und sprang nach. Diesmal kam das ziehende Gefühl. Ich landete auf weichen Pfoten. Ich knurrte und fletschte die Zähne und sprang erneut. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich das Entsetzen in seinen Augen. Dann schrie er-Bis ich meine Zähne in seinen Hals grub. Es währte lange, köstliche Sekunden. Kraft floß über und tilgte den rasenden Hunger, der nicht aus den Eingeweiden kam. Es war ein unbeschreibliches Lustgefühl. Aufgeregte Stimmen näherten sich. Ich ließ von dem Toten ab und rannte leichtfüßig die Straße entlang. Lautlos und rasch waren die grauen Pfoten. Ein Schrei klang hinter mir auf. Ein zweiter. „Ein Wolf!" „Die Bestie...!" Ein Polizist sah mich kommen und reagierte ungewöhnlich schnell. Er hatte seine Pistole in der Hand und feuerte. Ich duckte mich und raste im Zickzack weiter. Die Kugeln pfiffen über mich hinweg. Ein brennender Schmerz im Bauch ließ mich beinahe stolpern. Der Schmerz verging rasch. Natürlich. Niemand würde auf den Gedanken kommen, mit silbernen Kugeln zu schießen. Nur das Silber lähmte meine Zellen so, daß Wunden nicht blitzschnell heilten. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken. In einer Seitengasse verharrte ich kurz. Eine Polizeisirene heulte die Menschen aus dem Schlaf und kam näher. Ich hastete noch einige Gassen weiter und begegnete keinem Menschen. Dann sprang ich in den Schatten. Ich atmete auf. Alles war glattgegangen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und schritt langsam mit einem wohligen Gefühl psychischer und physischer Sattheit die Gasse entlang. Die kühle Nachtluft genießend schlug ich den Weg ein, den ich gekommen war. Ein wenig später fuhr die Polizei mit flackerndem Einsatzlicht an mir vorüber. Als ich die Cafeteria erreichte, war es halb zwölf. Zurück in den sicheren Wald konnte ich noch nicht, weil die stadtauswärts führende Straße jetzt im vollen Licht des Mondes
lag und noch zu viele Menschen im Freien waren. Außerdem gefiel es mir in der Stadt - wie immer, wenn ich satt war! Um vier Uhr morgens ging der Mond unter. Dann war noch immer Zeit genug, zurückzukehren. Diesmal mied ich die Altstadt. Ich wanderte die breite Geschäftsstraße entlang auf das Zentrum zu. Ein paarmal hatte ich Glück an den Kreuzungen und fand dunkle, schattige Punkte, an denen ich sie überqueren konnte. Einige Male wartete ich einen günstigen Augenblick ab und wagte den Sprung, wenn ich mich unbeobachtet fühlte. Im Zentrum wurde es schwieriger. Aber das Zentrum besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit der Altstadt. Die Straßen waren enger, die Häuser höher - meist so hoch, daß das Mondlicht überhaupt nicht herabdrang. Dort konnte ich ungehindert gehen, ohne eine Überraschung befürchten zu müssen. Auf einem der Dächer flammten in wandernder Schrift die letzten Nachrichten. Eine Weile stand ich und las, neugierig, ob sie auch über mich berichten würden. Aber es war wohl noch zu früh. Ich wartete ab, bis sich die Schlagzeilen wiederholten. Nichts. Im Grunde empfand ich Sympathie für die Menschen, die Unwandelbaren. Es war selbst noch viel Menschliches in mir, und wenn ich satt war, empfand ich so etwas wie Bedauern, keine Gewissensbisse. Aber wenn die Zeit des Vollmondes kam, mußte ich diesen Hunger stillen. Und das Tier, das in mir schlummerte, das ich im Grunde war, sorgte dafür, daß ich es auch tat. Es ist der Fluch meiner Art: Lykanthropus! Ich lächelte über den so wissenschaftlichen Namen für etwas, das doch niemand in vollem Ausmaß glaubte. Ich erreichte eine breite Straße, auf die auch wieder Mondlicht fiel. Vor den Auslagen standen einige merklich geschminkte Mädchen: Dirnen. „Wie wär's?" fragte eine leise, als ich vorüberschritt. Ich blieb stehen und sah sie mir an. Sie war jung, und das Lächeln um ihren Mund war nicht derb. Ich fühlte ein plötzliches Verlangen. Das Problem war nur: Geld! Ich besaß keines. Aber ich machte mir keine Gewissensbisse. Sie war bestimmt zum erstenmal mit einem Werwolf zusammen. Und das mußte ihr die Sache wert sein. Ich nickte. „Wohin?" „Komm mit."
Sie führte mich ein Stück die Straße weiter und wollte sie überqueren. Rasch hielt ich sie zurück. „Drüben?" fragte ich und deutete über das mondhelle Pflaster. „Ja." Sie wollte weiter. Aber ich hielt sie fest und blickte links und rechts den Gehsteig entlang. Gleichmäßig erstreckte sich in beiden Richtungen das Mondlicht ungebrochen. Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir leid. Das geht nicht!" Sie schüttelte ebenfalls den Kopf. Verständnislos. Ich grinste unsicher. Da grinste sie ebenfalls. Verständnisvoll. „Oh", sagte sie, „so einer!" Mir war nicht klar, zu welcher Sorte sie mich rechnete. Es war auch gleichgültig. Ich konnte die Straße nicht überqueren, ohne sofort die Aufmerksamkeit aller auf mich zu lenken, was sicherlich das Ende bedeutet hätte. Daher sagte ich kurz: „Tut mir leid!" und ließ sie stehen. Trotzdem ließ mich der Gedanke an Frauen nicht mehr los. Und damit ein Verlangen, so ganz anders als der Hunger. Ich versuchte das Gefühl zu verdrängen, aber das war nicht einfach. Es stellte sich immer ein, wenn ich satt war und länger unter den Menschen weilte. Doch diesmal war es stärker. Die Menschen verschwanden langsam hinter Türen, und als die mächtige Domuhr Mitternacht schlug, befanden sich nur noch wenige auf den Straßen. Ein Großteil der Leuchtschriften erlosch. Dann schob sich eine größere Wolkenbank vor den Mond. Ich hielt an und überlegte. Sollte ich umkehren und die Stadt verlassen? Aber dann schalt ich mich selbst einen Narren. Ich war ja vollkommen sicher, so lange ich nicht in das Licht des Mondes trat. Kein Mensch schöpfte Verdacht. Kein Mensch glaubte ernsthaft an so etwas Absurdes wie einen Werwolf. Rasche Schritte rissen mich aus meinen Überlegungen. Ich blickte auf und sah im spärlichen Schein der Laternen ein Mädchen auf mich zulaufen. Ihre Haare flogen, und ihre dünnen Absätze klapperten laut. Von weiter weg kam Motorenlärm und das Wimmern einer Sirene. Das Mädchen stolperte auf mich zu und fiel mir fast in die Arme. „Bitte", sagte sie heftig atmend, „wie komme ich aus die-
ser Stadt hinaus?" Verwundert sagte ich: „Beruhigen Sie sich. Ich weiß den Weg." Und zufrieden lächelnd fügte ich hinzu: „Wir haben sogar den gleichen Weg..." Sie warf einen Blick zum Himmel und murmelte einen Fluch. Dann zerrte sie an meinem Arm. „Rasch", dränge sie. „Wohin?" Wiederum wimmerte die Sirene. Polizei! Das konnte gefährlich werden. Hastig sagte ich: „Sind die hinter Ihnen her?" „Ja", antwortete sie. „Ich habe mich verraten..." „Verraten?" fragte ich verständnislos. Ein Wagen kam kreischend um die Ecke. Blaulicht flammte. „Schnell!" rief ich und zog sie in meine Arme. „Vielleicht haben wir Glück!" Ich küßte sie atemlos. Wir hatten kein Glück. Der Wagen hielt quietschend neben uns. Aus der nächsten Querstraße kam ein zweiter. Das Licht seiner aufgeblendeten Scheinwerfer fiel genau auf uns. Ich hatte plötzlich Angst. Ich saß mit in der Klemme. Die Straße wimmelte von Polizisten. Das Mädchen blickte starr zum Himmel. Dann riß sie sich von mir los. „Stehenbleiben!" befahl eine Stimme scharf. Ich sah zum erstenmal auf. Wenigstens acht Pistolen waren auf uns gerichtet. Ein wenig abseits stand ein Mann mit einem Gewehr. Die Wolkenschleier vor dem Mond lichteten sich. Die andere Hälfte der Straße wurde heller. Das Mädchen lachte gellend auf. „In diesem Gewehr sind Kugeln aus Silber", bemerkte der Mann ruhig. „Und um ganz sicher zu gehen, haben wir es weihen lassen." Es war keine Spur von Spott in seiner Stimme. Eisiger Schreck durchfuhr mich. Das Ganze galt also mir, nicht dem Mädchen. Aber wie hatten sie es herausgefunden? Wie war es möglich, daß sie plötzlich daran glaubten - mitten in der Realität einer Großstadt? Sie nahmen ihre Sache sehr ernst, wenn sie selbst mit dem Aberglauben kein Risiko eingingen, daß es eines geweihten Gewehres bedurfte, um einen Werwolf zu töten! Das Mädchen unterbrach meine verzweifelten Überlegungen. Ungeheuer schnell hetzte sie auf die Straße zu. Ebenso schnell reagierte der Mann. Das Gewehr krachte zweimal. Geblendet vom Mündungsblitz schloß ich die Augen. Ich war-
tete auf den Schmerz. Er kam nicht. Verwundert sah ich mich um. Nicht weit von mir lag das Mädchen reglos auf der Straße. Während ich noch hinschaute, verschwanden die letzten Wolkenschleier vor dem Mond. Aus der schlanken Gestalt in dem dunklen Kleid wurde ein Wolf mit einem schimmernden, grauen Fell. Aber er regte sich nicht mehr. Ich fühlte, wie meine Knie zitterten. So 'war das also, wenn einer von uns starb... Die Polizisten scharten sich aufgeregt um den Tierkörper und versuchten, das Unglaubliche zu begreifen. Der Mann mit dem Gewehr kam auf mich zu. „Sie hatten allerhand Glück, daß wir zur rechten Zeit kamen, sonst wären Sie das fünfte Opfer geworden!" „Das fünfte Opfer?" wiederholte ich tonlos. „Ja, die Leiche eines unserer Kameraden fanden wir vor einer Stunde. Er war der vierte - und hoffentlich der letzte!" „Glauben Sie, daß es noch mehr von... ihrer Sorte gibt?" fragte einer der Polizisten. „Findet man erst einen, findet man auch mehr", antwortete der Mann lakonisch. „Wir können es noch immer kaum glauben", meinte ein anderer. Der Mann nickte. „Es genügt, wenn anfangs einer verrückt genug ist, daran zu glauben!" Und lässig fügte er hinzu: „Aber wir, werden diese Brut schon ausrotten!" Ja, dachte ich, ausrotten, das konnten sie. Dafür hatte ihre Geschichte genug Beispiele bereit. Sie luden den Wolfskörper in einen Wagen und verschwanden mit heulenden Sirenen. Zitternd und schwach lehnte ich mich an die Hausmauer. Erleichterung überflutete mich fast schmerzhaft. Aber sie befreite mich nicht von der Angst. Vor der Bestie Mensch.
ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite. Als Vampir-Taschenbuch Nr. 13 erscheint:
Draculas Brüder Gruselroman von Robert Lory In Manhattan bricht ein Mann sterbend zusammen. Ein Schwarm mordgieriger Vampir-Fledermäuse hat ihn angefallen und zerfleischt. In der Fünfzigsten Straße wiederholt sich das Drama. Diesmal schlägt der geflügelte Tod mehrmals zu. Ein furchtbares Verhängnis schwebt über New York. Eine Bestie in Menschengestalt hat Fledermäuse zum Töten abgerichtet und erpreßt die Millionenstadt. Es gibt keinen Ausweg. Denn der Unbekannte hat neue Mordanschläge angekündigt, wenn seine Forderungen nicht erfüllt werden. Die Vampir-Taschenbücher erscheinen monatlich und sind überall im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Preis DM 2,80.