Herausgegeben von Frank Festa Band 7
Die Masken des Cthulhu August Derleth Ein Episoden-Roman Aus dem Amerikanischen ...
87 downloads
853 Views
863KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Herausgegeben von Frank Festa Band 7
Die Masken des Cthulhu August Derleth Ein Episoden-Roman Aus dem Amerikanischen von Michael Siefener
FESTA
1. Auflage September 2001 © dieser Ausgabe 2001 by Festa Verlag, Almersbach www.Festa-Verlag.de Originaltitel: The Mask of Cthulhu © 1958 by Arkham House Publishers, Inc. Druck und Bindung: Wiener Verlag, A-2325 Himberg Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-935822-07-3
Inhalt
Vorbemerkung Hasturs Rückkehr Die Ziegenmelker in den Bergen Etwas aus Holz Der Sandwin-Pakt Das Haus im Tal Das Siegel von R lyeh
Vorbemerkung
Die Erzählungen in diesem Buch bedienen sich eindeutig Lovecraftscher Themen. Eine der Geschichten
Hasturs Rückkehr
wurde sogar vor
dem Tode H. P. Lovecrafts begonnen, der noch die Anfangsseiten und das Exposé lesen und somit einige Vorschläge machen konnte, die ich freudig in den Text aufgenommen habe. Auch die übrigen Geschichten leiten sich unmittelbar von dem Cthulhu-Mythos ab, so wie Lovecraft ihn erschaffen hat; es war seine Art, Schriftstellerkollegen dazu anzuhalten, den Mythos zu erweitern und zu ergänzen. Diese Erzählungen wurden während zweier Jahrzehnte geschrieben; sie beginnen mit Hasturs Rückkehr aus dem Jahre 1936 und enden mit Das Siegel von R lyeh , das im Sommer des Jahres 1953 in Los Angeles erdacht und verfaßt wurde. Während alle Geschichten ihre Existenz dem Lovecraftschen Mythensystem verdanken, wurde eine, nämlich Das Haus im Tal , von der Skizze einer tatsächlich existierenden Landschaft inspiriert, die von dem bekannten Künstler und Karikaturisten Richard Taylor stammt. Die Geschichten auf diesen Seiten stellen einen nachträglichen Tribut an die schöpferische Phantasie des verstorbenen H. P. Lovecraft dar. August Derleth
Hasturs Rückkehr 1 Es begann schon vor langer Zeit
und ich wage nicht daran zu denken, vor
wie langer Zeit. Soweit es meine eigene Verwicklung in den Fall betrifft, der meine Anwaltspraxis ruiniert und mir von Seiten der medizinischen Zunft erhebliche Zweifel an meine geistige Gesundheit eingebracht hat, begann alles mit dem Tod von Amos Tuttle. Es war in einer Nacht im späten Winter; der Südwind fegte bereits den Frühling herbei. Ich war an jenem Tag im alten, legendenumrankten Arkham. Tuttle hatte von meiner Anwesenheit durch Doktor Ephraim Sprague erfahren, der sein behandelnder Arzt war, und er hatte den Doktor dazu gebracht, in Lewiston House vorzusprechen und mich zu jenem düsteren Anwesen an der Aylesbury Road in der Nähe der Schnellstraße nach Innsmouth zu bringen. Es war kein Ort, an den ich gern ging, doch der alte Mann hatte mich früher gut dafür bezahlt, damit ich seine mürrische Laune und seine Exzentrizität ertrug, und jetzt machte mir Sprague klar, daß Tuttle im Sterben lag; es sei nur noch eine Sache von Stunden. Und so war es. Tuttle besaß kaum mehr die Kraft, Sprague aus dem Zimmer zu schicken und mit mir zu reden, auch wenn er deutlich und ohne große Anstrengung sprach. »Sie kennen mein Testament«, sagte er. »Befolgen Sie jeden Buchstaben darin.«
Dieses Testament war ein ewiger Zankapfel zwischen uns gewesen, denn er hatte bestimmt, daß sein Erbe und einziger lebender Verwandter Paul Tuttle den Erbanspruch nur geltend machen konnte, wenn vorher das Haus zerstört worden sei
nicht bloß abgerissen, sondern restlos
vernichtet, zusammen mit gewissen Büchern, die im Testament mit ihrer Katalognummer angegeben waren. Das Sterbelager war nicht der rechte Ort, um diese mutwillige Zerstörung von neuem zur Sprache zu bringen. Ich nickte, und Amos Tuttle war zufrieden. Wenn ich doch bloß seine Anordnungen ausgeführt hätte! »Nun gut«, fuhr er fort. »Unten befindet sich ein Buch, das Sie der Bibliothek der Miscatonic University zurückgeben müssen.« Er nannte mir den Titel. Damals bedeutete er mit wenig, doch inzwischen ist er wichtiger für mich, als ich ausdrücken kann. Dieses Buch ist ein Symbol jahrhundertealten Grauens und wahnsinniger Dinge hinter dem Schleier des alltäglichen Lebens Übersetzung
des
es handelt sich um die lateinische
verabscheuungswürdigen
Necronomicon,
dessen
Verfasser der wahnsinnige Araber Abdul Alhazred war. Ich fand das Buch sofort. Die letzten zwanzig Jahre hatte Amos Tuttle in wachsender Zurückgezogenheit zwischen seinen Büchern verbracht, welche er aus allen Teilen der Welt zusammengetragen hatte. Es waren alte, wurmzerfressene Texte mit Titeln, die einen weniger abgehärteten Mann in Angst und Schrecken versetzt hätten: das unheimliche De Vermis Mysteriis des Ludwig Prinn, Comte d Erlettes Cultes de Goules, von Junzts verdammenswerte Unaussprechliche Kulte und viele andere. Damals wußte ich nicht, wie selten diese Werke sind, und ich erkannte auch nicht den unfaßbaren Wert gewisser Fragmente: das schreckliche Book of Eibon, die entsetzensgesättigten Pnakotischen Manuskripte und den ungeheuerlichen
lyeh-Text, den Tuttle aus dem dunklen Zentralasien
erhalten hatte. Seinen Akten zufolge hatte er nicht weniger als hunderttausend Dollar dafür bezahlt, doch zusätzlich fand ich in seinen Unterlagen hinsichtlich dieses vergilbten Manuskripts eine Eintragung, die mich damals sehr verwirrte und an die ich mich aus einem ganz bestimmten Grund erinnere: Hinter die obengenannte Summe hatte Amos Tuttle in seiner spinnenartigen Handschrift notiert: zusätzlich zu dem Versprechen. Diese Tatsachen kamen erst ans Licht, nachdem Paul Tuttle das Erbe angetreten hatte, doch vorher ereigneten sich einige seltsame Dinge Dinge, die mich angesichts der regionalen Legenden über einen mächtigen, übernatürlichen Einfluß, der angeblich auf das alte Haus ausgeübt wurde, hätten mißtrauisch machen müssen. Das erste dieser Ereignisse war im Hinblick auf die anderen von nur geringer Bedeutung. Als ich das Necronomicon der Universitätsbibliothek in Arkham zurückgeben wollte, wurde ich von einem schweigsamen Bibliothekar unverzüglich in das Büro des Direktors Dr. Llanfer geführt, der mich ohne Umschweife fragte, wie das Buch in meine Hände gelangt sei. Ich hatte keinen Grund, die Wahrheit zu verschweigen, und erfuhr so, daß das seltene Werk niemals offiziell ausleihbar gewesen war. Amos Tuttle hatte es offenbar bei einem seiner seltenen Besuche entwendet, nachdem es ihm nicht gelungen war, von Dr. Llanfer eine Erlaubnis für die Ausleihe zu erhalten. Amos war klug genug gewesen, im Voraus eine erstaunlich gute Reproduktion des Buches anzufertigen, die einen fast identischen Einband besaß. Das Titelblatt und die ersten Textseiten hatte er anscheinend aus der Erinnerung wiedergegeben. Bei der Einsicht in das Buch des wahnsinnigen Arabers hatte er heimlich das Original durch die Kopie ersetzt und sich auf diese Weise eines der beiden auf dem nordamerikanischen
Kontinent
existierenden
Exemplare
dieses
gemiedenen Werkes angeeignet; es war eines von weltweit fünf bekannten Exemplaren. Die zweite Begebenheit war schon verwirrender, wenn sie auch das Gepräge einer durchschnittlichen Gespenstergeschichte trägt. Sowohl Paul Tuttle als auch ich hörten in der Nächten gelegentlich das Geräusch von Fußstapfen, besonders als sich der Leichnam seines Onkels noch im Haus befand, doch an diesen Schritten war etwas Merkwürdiges: Sie klangen nicht so, als gehe jemand innerhalb des Hauses umher; es war eher, als ob eine gigantische, jenseits aller Vorstellungskraft gewaltige Kreatur in weiter Ferne unter der Erdoberfläche umherwandere, so als schienen die Laute aus der Tiefe geradewegs in das Haus hineinzuvibrieren. Wenn ich sie als Schritte bezeichnet habe, geschah das nur, weil ich keine besseren Worte dafür finde, denn es waren keine deutlichen, klaren Schritte, sondern eher ein schwammiges, gallertartiges, platschendes Geräusch, hinter dem eine so gewaltige Masse steckte, daß die Erde erbebte. Das war alles, und schließlich verklang das Geräusch in jener Morgendämmerung, in der Amos Tuttles Körper achtundvierzig Stunden früher als geplant fortgebracht wurde. Das Geräusch taten wir als Erdverwerfungen an der fernen Küste ab
nicht nur, weil wir ihm keine allzugroße Bedeutung
zumaßen, sondern auch wegen dem, was geschah, bevor Paul Tuttle offiziell Besitz von dem alten Haus an der Aylesbury Road ergriff. Das letzte Ereignis war das schockierendste, und von den drei Personen, die es miterlebten, habe nur ich überlebt. Doktor Sprague ist nun seit genau einem Monat tot, dabei hatte er nur einen einzigen Blick auf den Toten geworfen und gesagt: »Begrabt ihn sofort!« Das taten wir, denn die Veränderungen an Amos Tuttles Körper waren unbeschreiblich
grauenhaft
und
deuteten
etwas
außerordentlich
Entsetzliches an. Es war nicht etwa so, daß der Körper nicht einer
erkennbaren Verwesung anheimfiel, sondern er veränderte sich auf andere Weise: Er wurde von einem unheimlichen Leuchten überzogen, das langsam dunkler wurde, bis der Leib eine beinahe ebenholzfarbene Tönung angenommen hatte. Das Fleisch an seinen geschwollenen Händen und dem Gesicht wurde schuppig. Auch die Form des Kopfes veränderte sich; er schien länger zu werden und nahm ein seltsam Lurchartiges Aussehen an, und aus dem Sarg drangen nun fischartige Ausdünstungen. Daß diese Veränderungen nicht nur eingebildet waren, bestätigte sich später auf schockierende Weise, als nämlich der Körper an einem Ort gefunden wurde, zu dem übelwollende Wesen ihn geschleppt hatten, und dort haben neben mir auch andere Personen die schrecklichen, andeutungsvollen Veränderungen an dem verwesenden Leichnam gesehen, glücklicherweise ohne zu wissen, was diesem Anblick vorangegangen war. Doch zuvor, als Amos Tuttle noch in dem alten Haus lag, gab es keine Anzeichen, die auf das Kommende hindeuteten. Wir schlossen rasch den Sarg und brachten ihn noch rascher zu der efeuüberwucherten Familiengruft auf dem Friedhof von Arkham. Paul Tuttle war damals in den späten Vierzigern, doch wie viele Männer seiner Generation hatte er das Gesicht und die Figur eines Zwanzigjährigen. Den einzigen Hinweis auf sein Alter gaben die schwachen, grauen Haarsträhnen im Bart und an den Schläfen. Er war groß und dunkelhaarig, leicht übergewichtig, und seine blauen Augen blickten offen und benötigten trotz vieler Jahre wissenschaftlicher Forschungen noch keine Brille. Sogar im Bürgerlichen Recht kannte er sich aus, denn er ließ durchblicken, daß er das Testament Amos Tuttles wegen dessen geistiger
Umnachtung
anfechten
werde,
falls
ich
als
Testamentsvollstrecker seines Onkels nicht bereit sei, hinsichtlich der letztwillig angeordneten Zerstörung des Hauses an der Aylesbury Road ein
Auge zuzudrücken. Ich bedeutete ihm, damit stehe er allein gegen mich und Doktor Sprague, doch ich war nicht blind gegenüber dem Umstand, daß die Unsinnigkeit von Amos Tuttles Forderung seinem Neffen möglicherweise recht geben mochte. Auch ich hielt diese mutwillige Zerstörung für überflüssig und wollte es deswegen nicht auf einen Rechtsstreit ankommen lassen. Hätte ich aber vorausgesehen, was noch kommen sollte, und hätte ich mir träumen lassen, was für unvorstellbare Schrecken auf uns warteten: Ohne Rücksicht auf eine mögliche Gerichtsentscheidung hätte ich Amos Tuttles letzten Willen ausgeführt. Leider war mir jedoch eine solche Voraussicht nicht gegeben. Tuttle und ich suchten Richter Wilton auf und legten ihm den Fall dar. Er stimmte mit uns darin überein, daß die Zerstörung des Hauses unnötig sei, und signalisierte mehr als einmal seine Zustimmung zu Paul Tuttles Auffassung, sein Onkel sei verrückt gewesen. »Ich kannte den alten Knaben, er war nie ganz bei Trost gewesen«, sagte er trocken. »Und was Sie angeht, Mr. Haddon, könnten Sie reinen Gewissens in den Zeugenstand treten und schwören, daß er geistig vollkommen gesund war?« Ich erinnerte mich mit einem gewissen Unbehagen an den Diebstahl des Necronomicon aus der Miscatonic University und mußte gestehen, daß ich eine solche Aussage nicht machen konnte. Also nahm Paul Tuttle das Anwesen an der Aylesbury Road in Besitz, und ich begab mich zurück in meine Kanzlei in Boston. Ich war mit dem Verlauf der Dinge nicht unzufrieden, doch es blieb ein lauerndes, schwer zu greifendes Unbehagen
das schleichende Gefühl einer bevorstehenden
Tragödie, welches beträchtlich von meiner Erinnerung an das gespeist wurde, was wir in Amos Tuttles Sarg gesehen hatten, bevor wir ihn
versiegelten und in der jahrhundertealten Gruft auf dem Arkhamer Friedhof wegschlossen.
2
Es dauerte einige Zeit, bevor ich die Walmdächer und georgianischen Balustraden des hexenverseuchten Arkham wiedersah. Ich hielt mich dort in der Gegend auf, da ich mich im Auftrag eines Klienten darum kümmern sollte,
daß
sein
Grundbesitz
im
alten
Innsmouth
vor
den
Regierungsagenten und der Polizei beschützt wurde. Diese schnüffelten rücksichtslos in der gemiedenen und verfluchten Stadt herum, obwohl es bereits einige Monate her war, seit die Häuserblöcke am Kai und ein Teil des grauenbeladenen Teufelsriffs draußen im Meer gesprengt worden waren. Was dort vorging, wurde seitdem sorgsam verheimlicht, obwohl ich von einem Bericht erfuhr, in dem angeblich die Wahrheit über den Schrecken von Innsmouth stand
es handelte sich um das privat
publizierte Manuskript eines Schriftstellers aus Providence. Damals war es unmöglich, nach Innsmouth hineinzugelangen, denn die Leute vom Geheimdienst hatten alle Straßen gesperrt. Ich wurde jedoch bei der zuständigen Person vorstellig und erhielt die Versicherung, daß das Eigentum meines Klienten unter Schutz stehe, denn es liege weit genug vom Ufer entfernt. Nun blieb mir noch Zeit, einige kleinere Angelegenheiten in Arkham zu regeln. An jenem Tag aß ich in einem kleinen Restaurant in der Nähe der Miscatonic University zu Mittag und wurde dort plötzlich von einer bekannten Stimme angesprochen. Ich sah auf und erkannte Doktor Llanfer, den Direktor der Universitätsbibliothek. Er schien etwas aus der Fassung gebracht; seine Besorgnis stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich lud ihn ein, sich zu mir zu setzen, doch er lehnte ab. Schließlich
setzte er sich doch, aber nur auf die Stuhlkante. »Haben Sie sich mit Paul Tuttle getroffen?« fragte er unvermittelt. »Ich wollte ihn diesen Nachmittag besuchen«, entgegnete ich. »Stimmt etwas nicht?« Er errötete schuldbewußt. »Das kann ich nicht sagen«, meinte er pedantisch. »Aber in Arkham laufen ein paar sehr unschöne Gerüchte um. Außerdem ist das Necronomicon wieder verschwunden.« »Himmel! Sie wollen doch nicht Paul Tuttle des Diebstahls bezichtigen?« rief ich halb überrascht und halb belustigt aus. »Ich kann mir nicht vorstellen, was er mit diesem Buch will.« »Er hat es «, beharrte Doktor Llanfer. »Aber ich glaube nicht, daß er es gestohlen hat, und möchte daher nicht diesen Eindruck erwecken. Meiner Meinung nach hat es ihm einer unserer Angestellten übergeben, der sich nun scheut, seinen gewaltigen Irrtum einzugestehen. Wie dem auch sei, das Buch ist nicht zu uns zurückgekehrt. Ich fürchte, wir müssen uns um seine Rückgabe bemühen.« »Ich könnte ihn danach fragen.« »Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, antwortete Doktor Llanfer recht eifrig. »Ich nehme an, Sie wissen nichts von den hiesigen Gerüchten?« Ich schüttelte den Kopf. »Sehr wahrscheinlich sind sie nur die Ausgeburt eines allzu phantasiebegabten Verstandes«, fuhr er fort, doch er machte den Eindruck, als könne oder wolle er eine so einfache Erklärung nicht akzeptieren. »Angeblich haben Reisende auf der Aylesbury Road tief in der Nacht seltsame Geräusche aus Tuttles Haus gehört.« »Was für Geräusche?« fragte ich mit einer gewissen Besorgnis. »Offenbar Fußtritte, obwohl das niemand so eindeutig sagt. Nur ein einziger junger Mann hat sie als glitschig beschrieben und sagte, sie hätten
geklungen, als ob etwas Großes irgendwo in der Nähe durch Schlamm und Wasser wate.« Die seltsamen Laute, die Paul Tuttle und ich in der Nacht nach Amos Tuttles Tod gehört hatten, waren mir aus dem Gedächtnis geschwunden, doch als Dr. Llanfer die Tritte erwähnte, kehrte die Erinnerung mit voller Wucht zurück. Ich fürchte, ich habe mich verraten, denn plötzlich sah mich Doktor Llanfer eingehend an. Glücklicherweise interpretierte er mein Verhalten als Bestätigung dafür, daß ich trotz meiner gegenteiligen Behauptung doch etwas über die Gerüchte gehört hatte. Ich tat nichts, um das Mißverständnis zu beseitigen, und wollte gleichzeitig nichts mehr darüber hören. Deswegen bat ich ihn nicht um weitere Einzelheiten, und schließlich stand er auf, kehrte zu seinen Pflichten zurück und ließ mich mit dem Versprechen allein, Paul Tuttle nach dem fehlenden Buch zu fragen. Seine Geschichte war zwar nur vage, aber sie beunruhigte mich; unwillkürlich erinnerte ich mich an viele kleine Begebenheiten
an die
Schritte, die wir gehört hatten, an die seltsame Klausel in Amos Tuttles Testament, an die schreckliche Metamorphose von Amos Körper. Bereits jetzt hegte ich den wagen Verdacht, daß hier eine Kette düsterer Ereignisse deutlich werde. Meine angeborene Neugier meldete sich, auch wenn sich ein gewisses Gefühl des Unbehagens und einer drohenden Tragödie darunter mischte, so daß ich gleichzeitig den Wunsch verspürte, die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber schließlich entschied ich mich, Paul Tuttle so rasch wie möglich aufzusuchen. Meine Arbeit in Arkham nahm den ganzen Nachmittag in Anspruch, und so stand ich erst bei Einbruch der Dämmerung vor der massiven Eichentür des alten Tuttle-Hauses an der Aylesbury Road. Mein ziemlich gebieterisches Klopfen wurde von Paul persönlich
beantwortet, der plötzlich mit der Lampe in der Hand vor mir stand und in die herannahende Nacht starrte. »Mr. Haddon!« rief er aus und öffnete die Tür weiter. »Kommen Sie herein!« Zweifellos war Tuttle froh, mich zu sehen, denn die Begeisterung in seiner Stimme ließ keinen anderen Schluß zu. Die Herzlichkeit seiner Begrüßung bestärkte mich in meinem Entschluß, nicht über die Gerüchte zu sprechen und ihn erst bei passender Gelegenheit nach dem Necronomicon zu fragen. Ich erinnerte mich daran, daß er kurz vor dem Tode seines Onkels an einer philologischen Abhandlung über die Ausbreitung der indianischen Sac-Sprache gearbeitet hatte, und entschloß mich, ihn danach zu fragen, als ob im Augenblick nichts anderes wichtig wäre. »Ich vermute, Sie haben schon zu Abend gegessen«, meinte Tuttle und führte mich durch die Eingangshalle in die Bibliothek. Ich antwortete, ich sei bereits in Arkham eingekehrt. Er stellte die Lampe auf einem bücherüberwucherten Tisch ab und schob dabei einige Papiere zur Seite. Er lud mich ein, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst auf den Stuhl, von welchem er offensichtlich durch mein Klopfen fortgerufen worden war. Nun bemerkte ich, daß er etwas zerzaust war und sich einen Bart hatte wachsen lassen. Außerdem hatte er an Gewicht zugelegt, was wohl eine Folge intensivierter Studien war, die ihn an das Haus fesselten und sportliche Übungen verhinderten. »Wie steht es mit der Sac-Abhandlung?« fragte ich. »Ich habe sie beiseite gelegt«, antwortete er knapp. »Ich nehme sie später wieder auf. Im Augenblick arbeite ich an etwas weitaus Wichtigerem
wie wichtig es wirklich ist, kann ich noch nicht sagen.«
Ich erkannte nun, daß die Bücher auf dem Tisch nicht die üblichen wissenschaftlichen Bände waren, die ich früher auf seinem Schreibtisch in Ipswich gesehen hatte. Mit vager Besorgnis sah ich, daß es gerade jene Bücher waren, welche aufgrund der ausführlichen Anweisungen von Tuttles Onkel eigentlich der Vernichtung hätten anheimfallen sollen. Ein rascher Blick auf die leeren Stellen in den Bücherregalen bestätigte meinen Verdacht. Tuttle wandte sich mir übereifrig zu und senkte die Stimme, als fürchte er, jemand könnte uns belauschen. »Es ist wirklich kolossal, Mr. Haddon eine Heldentat der Phantasie. Ich bin mir allerdings nicht mehr sicher, ob es sich wirklich nur um Phantasie handelt. Nein, in der Tat nicht. Ich habe mich über die Klausel im Testament meines Onkels gewundert; ich verstand nicht, warum er wollte, daß das Haus zerstört wird, und nahm an, der Grund dafür müsse irgendwo in den Seiten dieser Bücher liegen, die er so sorgsam verdammt hat.« Er wies auf die alten Druckwerke vor ihm. »Also habe ich sie untersucht, und dabei bin ich auf so unglaubliche Seltsamkeiten und bizarre Schrecken gestoßen, daß ich manchmal zögere, mich tiefer in diese Geheimnisse einzugraben. Um ehrlich zu sein, Mr. Haddon, das ist das Absonderlichste, das mir je untergekommen ist, und es erforderte beachtliche Nachforschungen auch außerhalb der Bücher in Onkel Amos Sammlung.« »Tatsächlich?« sagte ich trocken. »Darf ich annehmen, daß Sie dazu weit reisen mußten?« Er schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht, mit Ausnahme eines Ausflugs
zur
Bibliothek
der
Miscatonic
University.
Ich
habe
herausgefunden, daß die Post für meine Zwecke ausreicht. Erinnern Sie sich an die Unterlagen meines Onkels? Nun, durch sie habe ich herausgefunden, daß Onkel Amos hunderttausend Dollar für ein
bestimmtes Manuskript bezahlt hat
anscheinend ist es in Menschenhaut
gebunden , und dahinter stand die rätselhafte Zeile: zusätzlich zu dem Versprechen. Ich habe mich gefragt, was für ein Versprechen Onkel Amos gemacht haben könnte und wem er es gegeben hat die ihm diesen
vielleicht der Person,
lyeh-Text verkauft hat, oder jemand anderem. Ich habe
mich sofort darangemacht, den Namen desjenigen herauszufinden, der ihm das Buch verschafft hat. Schließlich habe ich seine Adresse (es ist ein chinesischer
Priester
aus
Zentraltibet)
herausgefunden
und
ihm
geschrieben. Seine Antwort kam vor einer Woche.« Er beugte sich fort und stöberte kurz in den Papieren auf dem Schreibtisch herum, bis er fand, was er gesucht hatte, und es mir übergab. »Ich habe im Namen meines Onkels geschrieben, weil ich der ganzen Sache nicht traute. Ich habe so getan, als hätte ich das Versprechen vergessen und wolle mich davon irgendwie lösen«, fuhr er fort. »Seine Antwort ist genauso rätselhaft wie die Notiz meines Onkels.« Genauso war es, denn der zerknitterte Zettel, den er mir in die Hand gedrückt hatte, trug nur eine einzige Zeile in einer seltsamen, gespreizten Handschrift und besaß weder Unterschrift noch Datum: Eine Zuflucht zu bereiten für ihn, dessen Name nicht genannt werden darf. Als ich zu Tuttle aufsah, muß sich meine Verwunderung deutlich in meinem Blick widergespiegelt haben, denn er lächelte, bevor er zu einer Erklärung ansetzte. »Das sagt Ihnen nichts, oder? Als ich es zuerst gesehen habe, hat es mir ebenfalls nichts bedeutet. Damit Sie das Folgende verstehen, sollten Sie wenigstens eine kurze Zusammenfassung der Mythologie wirklich nur eine Mythologie ist
falls es
erhalten, mit der dieses Rätsel
zusammenhängt. Mein Onkel Amos wußte anscheinend alles darüber, und
er glaubte daran, denn die verschiedenen Anmerkungen am Rand der in seinem Testament verdammten Bücher bezeugen ein Wissen, welches das meine weit übersteigt. Anscheinend besitzt diese Mythologie einen gemeinsamen Ursprung mit unser eigenen Genesis, auch wenn die Ähnlichkeiten nur sehr vage sind. Manchmal bin ich versucht zu sagen, daß diese Mythologie älter als alle übrigen ist; sicherlich geht sie in ihrer Konsequenz weit über die anderen hinaus, denn sie ist kosmisch und zeitlos, und ihre Wesenheiten sind von zweierlei Art: Die Großen Alten oder Uralten und die Älteren Götter, die von kosmischer Güte sind
und dann gibt es jene von
kosmischer Boshaftigkeit. Sie tragen viele Namen und teilen sich in verschiedene Gruppen auf. Sie scheinen mit den Elementen verbunden zu sein, überschreiten sie aber gleichzeitig, denn es gibt Wasserwesen, die sich in den Meerestiefen verstecken, und Luftwesen, die jenseits der Zeit lauern, und Erdwesen, welche schreckliche belebte Überbleibsel ferner Äonen sind. Vor unglaublich langer Zeit verbannten die Großen Alten alle bösen Wesen von ihrer kosmischen Zuflucht und setzten sie an vielen verschiedenen Orten gefangen, doch bald brüteten diese bösen Wesen höllische Helfer und Häscher aus, die ihre Rückkehr zur alten Größe vorbereiten sollten. Die Großen Alten sind namenlos, doch ihre Macht ist groß genug, um die anderen im Zaum zu halten. Unter den Bösen gibt es anscheinend oft Zwistigkeiten, so wie so oft unter niederen Wesen. Die Wasserwesen stellen sich gegen die Luftwesen, die Feuerwesen stellen sich gegen die Erdwesen. Aber alle zusammen hassen und fürchten sie die Großen Alten und hoffen, sie irgendwann besiegen zu können. In den Aufzeichnungen meines Onkels befinden sich in seiner spinnenhaften Handschrift viele furchterregende Namen: Der Große Cthulhu, der See von Hali, Tsathoggua, Yog-Sothoth, Nyarlathotep,
Azathoth, der Unaussprechliche Hastur, Yuggoth, Aldones, Thale, Aldebaran, die Hyaden, Carcosa und andere. Es ist möglich, aufgrund der mir verständlichen Notizen einige dieser Namen in gewissen vielsagenden Kategorien zusammenzufassen, aber etliche Rätsel sind für mich noch undurchdringlich, und vieles ist in einer mir unbekannten Sprache verfaßt, deren Symbole und Zeichen seltsam und erschreckend sind. Aber durch meine Forschungen weiß ich inzwischen, daß der Große Cthulhu ein Wasserwesen und Hastur eines der Wesen ist, welche die Räume zwischen den Sternen durchwandeln. Man kann aus undeutlichen Hinweisen in diesen verbotenen Büchern herauslesen, wo sich einige jener Wesen befinden. So wurde nach dieser Mythologie der Große Cthulhu an einen Ort unter einem Meer auf der Erde verbannt, während Hastur in den Weltraum geschleudert wurde, und zwar an jenen Ort, wo die schwarzen Sterne hängen, was als Aldebaran in den Hyaden gedeutet wird und der Ort ist, den auch Chambers nennt und der im Carcosa von Bierce mitschwingt. Wenn ich die Botschaft des Priesters aus Tibet in diesem Licht betrachte, kann es nur eine Erklärung geben: Mr. Haddon, ohne den Schatten eines Zweifels ist Er, dessen Name nicht genannt werden darf, kein anderer als Hastur, der Unaussprechliche!« Sein plötzliches Verstummen ließ mich zusammenzucken; sein feuereifriges Geflüster hatte etwas Hypnotisches an sich, das mich weit über seine Worte hinaus überzeugt hatte. Irgendwo tief in meinem Inneren war eine Saite zum Erklingen gebracht und eine mnemonische Verbindung hergestellt worden, die ich weder weiter verfolgen noch abtun konnte und die mich mit dem Gefühl unendlichen Alters zurückließ
es war eine
kosmische Brücke zu einem anderen Ort und einer anderen Zeit. »Das klingt logisch«, sagte ich vorsichtig.
»Logisch! Haddon, es ist so; es muß so sein!« rief er aus. »Falls dem so ist, was dann?« »Nun, falls dem so ist«, fuhr er rasch fort, »müssen wir zugestehen, daß mein Onkel Amos versprochen hat, Hastur eine Zuflucht zu verschaffen, wenn er aus jener Region im Weltraum zurückkehrt, wo er jetzt noch gefangengehalten wird. Wo sich diese Zuflucht befindet und um was für einen Ort es sich dabei handelt, hat mich bisher noch nicht interessiert, auch wenn ich da bereits eine gewisse Vorstellung habe. Aber jetzt ist nicht die Zeit für Gedankenspiele. Doch einige Schlüsse lassen sich aus den vorliegenden Beweisen ziehen. Der erste und wichtigste ist von doppelter Natur: Etwas Unvorhergesehenes hat die Rückkehr Hasturs zu Lebzeiten meines Onkels verhindert, und dafür ist ein anderes Wesen erschienen.« Er sah mich ungewöhnlich offen und beunruhigt an. »Ich möchte jetzt lieber nichts über die Beweise für diese Erscheinung sagen. Es mag reichen, wenn ich sage, daß ich solche Beweise habe. Ich will nun zu meinen eigentlichen Thema zurückkehren. Unter den wenigen Randbemerkungen meines Onkels waren zwei oder drei bemerkenswerte, die sich auf den
lyeh-Text bezogen. Im Lichte
dessen, was mir bekannt ist und was ich aus meinen Kenntnissen ableiten kann, erscheinen diese Bemerkungen sehr düster und unheilvoll.« Er öffnete das uralte Manuskript und blätterte zu einer Stelle recht nah am Anfang. »Hören Sie genau zu, Mr. Haddon.« Ich stand auf und beugte mich über seine Schulter, um einen Blick auf die spinnenhafte, fast unlesbare Handschrift zu werfen, die ich als jene von Amos Tuttle erkannte. »Sehen Sie sich die unterstrichene Textzeile an: Ph nglui mglw nafh
Chtulhu R lyeh wagah nagl fthagn. Und dahinter steht
in der
unverkennbaren Handschrift meines Onkels: Seine Häscher bereiten ihm den Weg; träumt er nicht mehr? (WT. 2/28). Wegen der noch zitteriger gewordenen Handschrift muß die folgende einzelne Eintragung jüngeren Datums sein: Inns! Ohne die Übersetzung des Textes ergibt nichts davon einen Sinn. Da ich deswegen zunächst nicht weiterkam, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Buchstaben und Zahlen in der Klammer, und nach kurzer Zeit erkannte ich, daß es sich um den Hinweis auf das Magazin Weird Tales in der Ausgabe vom Februar 1928 handelt. Ich habe es hier.« Er hielt das geöffnete Magazin über den unverständlichen Text und verdeckte so die Zeilen, die allmählich unter meinem Blick eine unheimliche Atmosphäre gräßlichen Alters erschufen. Unter Paul Tuttles Hand lag nun die erste Seite einer Erzählung, die so eindeutig zu dieser unglaublichen Mythologie gehörte, daß ich vor Überraschung auffuhr. Der nur teilweise von Pauls Hand verdeckte Titel lautete Cthulhus Ruf ; der Verfasser hieß H. P. Lovecraft. Doch Tuttle hielt sich nicht lange bei der ersten Seite auf. Er blätterte zur Mitte der Geschichte und zeigte mir dieselbe unlesbare Zeile wie jene neben der kritzeligen Handschrift Amos Tuttles in dem unglaublich seltenen
lyeh-Text, auf welchem das
Magazin lag. Und nur einen Abschnitt tiefer in der Geschichte stand die angebliche Übersetzung der vollkommen fremdartigen Sprache: In seinem Haus in R lyeh wartet träumend der tote Cthulhu. »Da haben wir s«, bemerkte Tuttle mit gewisser Genugtuung. »Auch Cthulhu hat auf die Zeit seiner Wiederkunft gewartet
wie viele Äonen,
kann niemand sagen; doch mein Onkel hat es in Frage gestellt, ob Cthulhu noch immer träumt, und dahinter hat er eine doppelt unterstrichene Abkürzung gesetzt, die nur Innsmouth bedeuten kann! Dies eröffnet
zusammen mit der grausigen Geschichte, die lediglich eine Erfindung sein will, einen Blick auf unvorstellbares Grauen und jahrtausendealte Bosheit.« »Grundgütiger Gott!« rief ich unwillkürlich aus. »Sie glauben doch nicht etwa, daß diese Ausgeburt der Phantasie Wirklichkeit geworden ist?« Tuttle wandte sich zu mir um und schenkte mir einen seltsam abwesenden Blick. »Es ist unwichtig, was ich glaube, Mr. Haddon«, erwiderte er ernst. »Aber eines würde ich nur allzu gern wissen: Was ist in Innsmouth passiert? Was ist während der letzten Jahrzehnte dort passiert, daß die Leute es so ängstlich meiden? Warum ist dieser früher so wohlhabende Seehafen in Vergessenheit gesunken, warum steht die Hälfte seiner Häuser leer, warum sind dort Grund und Boden wertlos? Und warum hielt es die Regierung für notwendig, Reihe um Reihe der Wohnund Lagerhäusern am Ufer zu sprengen? Und schließlich
warum um alles
in der Welt haben sie ein U-Boot ausgeschickt, damit es die Klippen hinter dem Teufelsriff vor Innsmouth torpediert?« »Darüber weiß ich nichts«, entgegnete ich. Er hörte mir nicht zu, sondern hob seine schwankende Stimme noch ein wenig und fuhr fort: »Ich kann es Ihnen sagen, Mr. Haddon. Es ist genauso, wie mein Onkel es aufgeschrieben hat: Der Große Cthulhu hat sich wieder erhoben!« Einen Augenblick lang war ich erschüttert; dann sagte ich: »Aber es war Hastur, auf den er gewartet hat.« »Genau«, stimmte Tuttle mir mit lehrerhafter Stimme zu. »Dann will ich aber wissen, wer oder was tief unter der Erde in tiefster Nacht umgeht, wenn Fomalhaut aufgegangen ist und die Hyaden im Osten stehen!«
3
Nun wechselte er abrupt das Thema und stellte mir Fragen über mich selbst und meine Kanzlei. Als ich mich schließlich erhob und gehen wollte, bat er mich, die Nacht über zu bleiben. Ich willigte widerstrebend ein, worauf er sofort verschwand, um ein Zimmer für mich herzurichten. Ich nutzte diese Gelegenheit und suchte den Schreibtisch nach dem Necronomicon ab, das aus der Bibliothek der Miscatonic University verschwunden war. Es befand sich nicht auf dem Tisch, doch als ich die Bücherregale absuchte, fand ich es dort. Ich hatte es gerade herausgenommen und mich vergewissert, daß es das gesuchte Buch war, als Tuttle eintrat. Sein Blick fiel auf den Band in meiner Hand, und er lächelte schwach. »Ich möchte Sie bitten, es Dr. Llanfer zurückzugeben, wenn Sie morgen früh gehen, Mr. Haddon«, sagte er beiläufig. »Ich habe den Text abgeschrieben und brauche das Buch nicht mehr.« »Das werde ich gern tun«, sagte ich und war erleichtert, daß diese Angelegenheit so rasch erledigt war. Kurz danach zog ich mich in jenes Zimmer im ersten Stock zurück, das Tuttle für mich vorgesehen hatte. Er begleitete mich bis zur Tür und hielt dort kurz inne, als liege ihm etwas auf der Zunge, das aber nicht über seine Lippen treten wollte. Ein paarmal drehte er sich ein um und wünschte mir eine gute Nacht, bevor er endlich das aussprach, was ihn bedrückte: »Übrigens, seien Sie nicht besorgt, wenn Sie in der Nacht etwas hören, Mr. Haddon. Was immer es ist, es ist harmlos
noch.«
Erst als er gegangen und ich allein in meinem Zimmer war, begriff ich
die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte. Mir wurde klar, daß dies die Bestätigung der wilden Gerüchte war, die in Arkham umliefen, und daß Tuttle nicht ganz ohne Furcht war. Ich zog mich langsam und nachdenklich aus und schlüpfte in den Pyjama, den Tuttle für mich bereitgelegt hatte. Nicht einen Augenblick lang vergaß ich die seltsame Mythologie aus Amos Tuttles Büchern. Ich bilde mir nie ein vorschnelles Urteil und tat dies auch nun nicht. Trotz der scheinbaren Absurdität des ganzen Denkgebäudes war es doch genügend fest gezimmert, so daß es mehr als nur einer oberflächlichen Prüfung bedurfte. Und mir war klar, daß Tuttle mehr als nur halb von seiner Wahrheit überzeugt war. Das allein gab mir genügend zu denken, denn Paul Tuttle hatte sich durch die Gründlichkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit
einen
Namen
gemacht,
und
in
seinen
veröffentlichten
Abhandlungen stimmte jedes kleinste Detail. Angesichts dieser Tatsachen mußte ich zugeben, daß die Mythologiestruktur, die Paul Tuttle mir beschrieben hatte, nicht ganz aus der Luft gegriffen war, doch natürlich befand ich mich noch nicht in der Lage, sie als Wahrheit oder Irrtum zu klassifizieren. Wenn man einmal etwas für sich entschieden hat, ist es doppelt oder gar dreifach schwierig, diese Entscheidung wieder zu verwerfen, als wie falsch sie sich auch erweisen mag. Mit diesen Gedanken ging ich zu Bett und erwartete den Schlaf. Die Nacht war immer dunkler geworden, doch ich konnte durch die dünne Fenstergardine die Sterne sehen. Andromeda stand hoch im Osten, und die Konstellationen des Herbstes stiegen langsam auf. Ich war gerade dabei, einzuschlafen, als ich durch ein Geräusch hochschreckte, das wohl schon einige Zeit dagewesen war, das ich aber jetzt erst in seiner ganzen Bedeutung begriff. Es war der ferne, zitternde Schritt einer gigantischen Kreatur, der durch das ganze Haus vibrierte.
Aber das Geräusch drang nicht aus dem Haus, sondern von Osten her, und einen verwirrten Augenblick lang dachte ich an etwas, das sich aus dem Meer erhoben hatte und nun im nassen Sand am Strand entlangging. Doch dieses Trugbild verging, als ich mich auf den Ellbogen stützte und genauer hinhörte. Einen Moment lang war alles still, dann kam das Geräusch wieder: unregelmäßig, abgehackt
ein Schritt, eine Pause, zwei
Schritte in rascher Folge und dann ein seltsam saugendes Geräusch. Verwirrt stand ich auf und öffnete das Fenster. Die Nacht war warm, windstill und schwül. Weit im Nordosten schnitt von einem Leuchtturm ein Lichtbogen in den Himmel, und von Norden drang schwach das Dröhnen eines Flugzeugs herüber. Es war schon nach Mitternacht; tief im Osten leuchteten Aldebaran und die Pleiaden, doch damals brachte ich die Geräusche, die ich hörte, noch nicht mit dem Erscheinen der Hyaden am Horizont in Verbindung. Die seltsamen Laute hielten unvermindert an
und endlich begriff ich,
daß sie sich tatsächlich dem Haus näherten, wie langsam sie auch herankommen mochten. Ich zweifelte nicht, daß sie aus der Richtung des Meeres kamen, denn es gab nichts, was die Schallwellen hätte ableiten können. Wieder dachte ich an jene ähnlichen Geräusche, die wir gehört hatten, als Amos Tuttles Leichnam im Haus aufgebahrt gewesen war, auch wenn ich mich nicht daran erinnerte, daß damals die Hyaden im Westen gestanden hatten. Falls es einen Unterschied in den Geräuschen gab, so fiel er mir nicht auf; ich bemerkte jedoch, daß sie diesmal näher klangen. Es war keine physische, sondern eher eine psychische Nähe. Davon war ich so überzeugt, daß ich ein wachsendes Unbehagen verspürte, welches nicht frei von Angstgefühlen war. Ich fühlte eine wilde Rastlosigkeit und sehnte mich nach Gesellschaft. Rasch ging ich zur Zimmertür, öffnete sie, ging leise hinaus in die
Halle und machte mich auf die Suche nach meinem Gastgeber. Nun entdeckte ich etwas Neues. Solange ich in meinem Zimmer gewesen war, schienen die Geräusche trotz der schwachen, beinahe unmerklichen Erschütterungen des alten Hauses fraglos aus Osten gekommen zu sein, doch hier, in der Dunkelheit der Halle, die ich ohne jegliches Licht in der Hand betreten hatte, bemerkte ich, daß die Laute und Erschütterungen eher von unten zu kommen schienen
nicht von
irgendwo innerhalb des Hauses, sondern von tiefer unten, als ob sie aus einem unterirdischen Ort hochdrangen. Die nervöse Spannung in mir stieg. Als ich mich im Dunkeln zurechtzufinden versuchte, bemerkte ich plötzlich, wie ein schwaches Leuchten von unten heraufstieg. Sofort bewegte ich mich lautlos darauf zu, schaute über das Geländer und sah, daß das Licht von einer elektrischen Lampe in Paul Tuttles Hand kam. Er stand im Hausmantel in der unteren Halle, aber ich erkannte deutlich, daß er sich noch nicht zur Nacht umgekleidet hatte. Das Licht, das auf sein Gesicht fiel, enthüllte das ungeheure Maß seiner Spannung. Er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt, als lausche er angestrengt, und stand reglos da, während ich ihn beobachtete. »Paul!« rief ich mit scharfem Zischen. Er sah gleich hoch zu mir. Mein Gesicht wurde von der Lampe in seiner Hand beleuchtet. »Hören Sie das?« fragte er. »Ja. Was in Gottes Namen ist das?« »Ich habe es früher schon gehört«, sagte er. »Kommen Sie herunter.« Ich stieg in die untere Halle hinab und stellte mich seinem durchdringenden und fragenden Blick. »Haben Sie keine Angst, Mr. Haddon?« Ich schüttelte den Kopf.
»Dann kommen Sie mit.« Er drehte sich um und führte mich zum hinteren Teil des Hauses. Von dort aus stiegen wir in die Kellergewölbe hinunter. Nun wurden die Geräusche lauter; es war, als näherten sie sich dem Haus, ja als seien sie nun unmittelbar unter uns. Das Gebäude wurde leicht erschüttert, und die Erde erbebte. Es war, als habe eine unterirdische Störung sich genau diesen Ort für ihre Manifestation ausgesucht. Doch Tuttle ließ sich davon nicht beeindrucken; sicherlich kannte er es schon gut. Er ging durch den ersten und zweiten zum dritten Keller, der etwas tiefer als die anderen lag und offensichtlich neueren Datums war, doch wie die ersten beiden war er aus Kalkstein und Zement erbaut. In der Mitte dieses tieferen Kellers hielt Tuttle inne und lauschte reglos. Die Geräusche waren inzwischen so laut geworden, daß es schien, als befinde sich das Haus im Strudel eines vulkanischen Bebens, ohne aber dadurch Schaden zu erleiden. Das Zittern, Knirschen und Ächzen der Deckensparren über uns legte Zeugnis von dem gewaltigen Druck ab, der von unten gegen die Erde ausgeübt wurde, und selbst der Steinboden unter meinen bloßen Füßen schien lebendig geworden zu sein. Schließlich hatte es den Anschein, als ob die Geräusche zurückwichen, auch wenn sie keineswegs schwächer wurden. Dies war vielmehr der Tatsache zuzuschreiben, daß wir uns langsam an sie gewöhnten und nun auch andere Laute wahrnahmen, die aus größerer Tiefe heraufdrangen. Ihre schleichende Boshaftigkeit wurde uns immer deutlicher bewußt. Die ersten Pfeiftöne waren nicht deutlich genug, als daß man ihren Ursprung hätte erraten können. Erst als ich ihnen einige Zeit gelauscht hatte, begriff ich, daß die schrecklichen, jaulenden Geräusche von einem Lebewesen verursacht wurden
von einem fühlenden Wesen
, denn
plötzlich wurden sie zu ungeschlachten und schockierenden Lauten, die
selbst dann nicht deutbar wurden, als sie deutlich zu hören waren. Inzwischen hatte Tuttle die Lampe abgesetzt, war auf die Knie gesunken und lag halb auf dem Boden, mit dem Ohr an den Steinen. Ich tat es ihm gleich und vernahm, daß die Laute sich nun zu deutlicher erkennbaren Silben auflösten, auch wenn sie immer noch völlig sinnlos waren. Einige Zeit lang hörte ich nur unzusammenhängendes Geheul und Gesangsfetzen dazwischen, die ich später so niedergeschrieben habe: Iä! Iä!
Shub-Niggurath
Ugh! Cthulhu fhtagn! Iä! Iä! Cthulhu!
Aber bald begriff ich, daß ich mich hinsichtlich einer dieser Silben geirrt hatte. Cthulhu war trotz der polternden Geräusche überall um uns herum deutlich zu hören, doch das folgende Wort war etwas länger als fthagn. Es schien eine weitere Silbe hinzugefügt worden zu sein, doch ich war mir nicht sicher, ob sie nicht schon immer dagewesen war. Schließlich war sie deutlicher zu hören. Tuttle nahm Notizbuch und Stift aus der Tasche und schrieb: »Sie sagen Cthulhu nafthagn.« Seinem erregten Augenausdruck nach zu urteilen, bedeutete das etwas für ihn, nicht aber für mich, der ich nur eine Teilübereinstimmung mit den Worten feststellte, die in dem abscheulichen
lyeh-Text und später wieder
in der Magazingeschichte erschienen, welche in ihrer Übersetzung behauptete, daß die Worte soviel wie Cthulhu wartet träumend bedeuteten. Meine
Begriffsstutzigkeit
erinnerte
Tuttle
daran,
daß
seine
philologischen Kenntnisse die meinen bei weitem übertrafen. Er lächelte kalt und flüsterte: »Es kann sich nur um eine Verneinungsform handeln.« Selbst jetzt verstand ich noch nicht sofort, daß er mir erklären wollte, daß die unterirdischen Stimmen nicht das sagten, was ich vermutet hatte, sondern: Cthulhu wartet nicht länger im Traum! Es war keine Frage des Glaubens mehr. Die Geschehnisse waren
eindeutig außermenschlichen Ursprungs und ließen keinen anderen Schluß zu, als daß sie zumindest entfernt mit der unglaublichen Mythologie in Verbindung standen, die Tuttle mir vor kurzem dargelegt hatte. Als ob diese fühl- und hörbaren Beweise noch nicht genügten, stieg nun ein seltsamer Gestank auf, in den sich ein ekelerregender Fischgeruch mischte, der offensichtlich durch den porösen Kalk drang. Tuttle bemerkte ihn zur gleichen Zeit wie ich, und mit großer Bestürzung entdeckte ich in seinen Zügen eine stärkere Besorgnis, als ich sie je zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Einen Augenblick lang lag er reglos da; dann stand er leise auf, nahm die Kerze, schlich aus dem Raum und gab mir mit einem Wink zu verstehen, daß ich ihm folgen solle. Erst als wir wieder im oberen Stockwerk waren, wagte er zu sprechen. »Sie sind näher, als ich dachte.« »Ist es Hastur?« fragte ich nervös. Er schüttelte den Kopf. »Er kann es nicht sein, denn der Tunnel unten führt nur zum Meer und steht zweifellos voller Wasser. Deswegen kann es nur eines der Wasserwesen sein, die dort Unterschlupf gesucht haben, als die Torpedos das Teufelsriff hinter Innsmouth torpedierten
es ist
entweder Cthulhu selbst, oder es sind einige seiner Diener, so wie ihm die Mi-Go in den eisigen Schlupfwinkeln dienen oder die Tcho-Tcho auf den verborgenen Hochebenen Asiens.« Wir konnten nicht mehr schlafen und setzten uns eine Weile in die Bibliothek. Tuttle sprach in seiner halb singenden Art über die seltsamen Dinge, die er in den alten Büchern seines Onkels gelesen hatte. Wir saßen da und warteten auf die Morgendämmerung, während er über die schreckliche Hochebene von Leng sprach, über die Schwarze Ziege der Wälder mit ihren tausend Jungen, über Azathoth und Nyarlathotep, über
den mächtigen Boten, der in Menschengestalt die Räume zwischen den Sternen durchwandert, über das schreckliche und teuflische Gelbe Zeichen, über die heimgesuchten und sagenhaften Türme des rätselhaften Carcosa, über den schrecklichen Lloigor und den verhaßten Zhar, über Ithaqua, das Schneewesen, über Chaugnar Faugn und N gha-Kthun, über das unbekannte Kadath und die Saaten vom Yuggoth. Er redete stundenlang, während die Geräusche unter uns nicht nachließen und ich in schrecklicher Todesangst dasaß und ihm zuhörte. Doch diese Furcht war umsonst, denn mit der Morgendämmerung verblaßten die Sterne, und der Aufruhr unter uns erstarb. Er zog sich nach Osten und in die Tiefen des Meeres zurück, und schließlich ging ich auf mein Zimmer und zog mich für die Abreise um.
4
Etwas mehr als einen Monat später befand ich mich wieder auf dem Weg über Arkham zum Tuttle-Anwesen. Mich hatte eine Karte mit einer dringenden Botschaft von Paul erreicht, die nur aus zwei Worten in einer zitterigen Handschrift bestand: »Kommen Sie!« Auch wenn er nicht geschrieben hätte, wäre es meine Pflicht gewesen, trotz meiner Abneigung gegen Tuttles seelenzerrüttende Nachforschungen und meiner unbezwingbaren Angst zu dem alten Haus an der Aylesbury Road zurückzukehren. Doch bisher hatte ich immer gezögert, wenn ich wieder einmal zu dem Schluß gekommen war, Tuttle von weiteren Nachforschungen abhalten zu müssen
bis zu jenem Morgen, an dem
mich seine Postkarte erreichte. An diesem Morgen las ich im Transcript einen zurechtgestutzten Bericht aus Arkham. Ich hätte ihn fast übersehen, doch dann fiel mein Blick auf seine kleine Überschrift: Frevel auf dem Friedhof in Arkham hieß es da, und darunter stand: Tuttle-Gruft geschändet. Der Bericht war kurz und bot nur wenig mehr Informationen als die Überschrift: Heute früh entdeckte man, daß Vandalen in den Friedhof zu Arkham eingebrochen sind und die Gruft der Familie Tuttle zum Teil verwüstet haben. Eine Wand ist so beschädigt, daß eine Restaurierung kaum mehr möglich sein wird, und die Särge wurden aufgebrochen. Den Augenzeugenberichten zufolge ist der Sarg des kürzlich verstorbenen Amos Tuttle verschwunden, doch zum
Zeitpunkt der Drucklegung gab es noch keine Bestätigung für diese Behauptung. Nachdem ich diesen vagen Bericht gelesen hatte, erfüllte mich stärkste Besorgnis
ich spürte sofort, daß diese Grabschändung kein übliches
Verbrechen war, und brachte es unweigerlich mit den Ereignissen in dem alten Tuttle-Haus in Zusammenhang. Daher hatte ich mich bereits entschlossen, endlich nach Arkham zu fahren und Paul Tuttle zu besuchen, bevor seine Karte bei mir eintraf. Die kurze Botschaft machte mir noch größere Sorgen und bestätigte meine Befürchtung, daß ein abscheulicher Zusammenhang zwischen der Grabschändung und den Wesen bestand, die in der Erde unter dem TuttleHaus an der Aylesbury Road umgingen. Doch gleichzeitig verspürte ich großen Widerwillen, Boston zu verlassen. Mich erfüllte eine ungreifbare Furcht vor einer unsichtbaren und unbekannten Gefahr. Doch mein Pflichtgefühl zwang mich zu der Reise. Wie sehr ich sie auch fürchtete, ich mußte aufbrechen. Ich kam am frühen Nachmittag in Arkham an und begab mich in meiner Eigenschaft als Rechtsbeistand der Familie sofort zum Friedhof, um das Ausmaß der Schäden festzustellen. Ein Polizist stand Wache, doch er erlaubte mir, das Gelände zu untersuchen, nachdem ich mich ausgewiesen hatte. Ich mußte erkennen, daß der Zeitungsbericht entsetzlich ungenau gewesen war, denn die Tuttle-Gruft war fast vollständig zerstört und die Särge lagen ungeschützt in der Sonnenglut. Einige von ihnen waren aufgebrochen und enthüllten uralte Knochen. Amos Tuttles Sarg war in der Nacht verschwunden, doch gegen Mittag wurde er auf offenem Feld etwa zwei Meilen östlich von Arkham gefunden
zu weit von der Straße entfernt, um dorthin getragen worden zu sein. Das Rätsel dieses Sarges wurde immer undurchdringlicher, denn bald stellte man in der Erde tiefe Eindrücke in großen Zwischenräumen fest, von denen manche einen Durchmesser von vierzig Fuß hatten! Es war, als sei dort eine gewaltige Kreatur umhergegangen; zumindest schien es mir so. Diese Eindrücke in der Erde blieben ein Rätsel, das selbst die wildesten Vermutungen nicht zu lösen vermochten. Vielleicht lag das auch an der noch verwirrenderen Tatsache, daß der Leichnam Amos Tuttles aus dem Sarg verschwunden war und sogar die eingehendste Durchsuchung des umliegenden Gebietes keine Spur erbrachte. Dies alles erfuhr ich vom Friedhofswächter, bevor ich mich auf den Weg zur Aylesbury Road machte. Ich weigerte mich, weiter über diese unglaublichen Informationen nachzudenken, bevor ich nicht mit Paul Tuttle gesprochen hatte. Diesmal wurde mein Klingeln an der Tür nicht sofort beantwortet. Ich fragte mich besorgt, ob ihm etwas zugestoßen sei, doch schließlich hörte ich ein schwaches, schlurfendes Geräusch hinter der Tür, und Tuttles gedämpfte Stimme ertönte. »Wer ist da?« »Haddon«, entgegnete ich und hörte einen Seufzer der Erleichterung. Die Tür wurde geöffnet, doch erst als sie sich wieder hinter mir schloß, bemerkte ich die nachtgleiche Düsterkeit in der Halle. Die Fenster am gegenüberliegenden Ende waren dicht verblendet, und auch aus den angrenzenden Zimmern fiel kein Licht in den langen und breiten Korridor. Ich unterdrückte die Frage, die mir auf der Zunge lag, und wandte mich Tuttle zu. Es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich an die unnatürliche Finsternis gewöhnt hatten und ich ihn erkennen konnte. Ich war schockiert, denn Tuttle hatte sich von einem großen,
aufrechten
Mann
in
den
besten
Jahren
zu
einer
gebeugten,
übergewichtigen, unbeholfenen und abstoßenden Erscheinung entwickelt, die ein Alter vortäuschte, welches er noch lange nicht erreicht hatte. Seine ersten Worte erfüllten mich mit Sorge. »Schnell, Mr. Haddon«, sagte er. »Es bleibt uns nicht viel Zeit.« »Was ist denn los, Paul?« Er beachtete meine Frage nicht, sondern führte mich in die Bibliothek, in der eine elektrische Lampe matt brannte. »Ich habe ein Paket mit den wertvollsten Büchern meines Onkels geschnürt
dem
lyeh-Text, dem
Buch von Eibon, den Pnakotischen Manuskripten und einigen anderen. Sie müssen sie unbedingt heute noch persönlich in die Bibliothek der Miscatonic University bringen. Von nun an stehen sie im Eigentum dieser Bibliothek. Und hier ist ein Umschlag, der gewisse Anweisungen an Sie enthält, falls es mir nicht gelingen sollte, persönlich oder telefonisch habe nach Ihrem letzten Besuch ein Telefon angeschafft
ich
bis zehn Uhr
heute abend mit Ihnen in Kontakt zu treten. Ich vermute, Sie logieren im Lewiston House, ja? Gut, jetzt hören Sie mir bitte genau zu: Falls ich es nicht schaffe, Sie bis zehn Uhr anzurufen, müssen Sie die hierin enthaltenen Anweisungen ohne Zögern befolgen. Ich befehle Ihnen, dann unverzüglich zu handeln. Für den Fall, daß Sie die Anweisungen als zu ungewöhnlich ansehen, habe ich bereits mit Richter Wilton telefoniert und ihm erklärt, daß ich einige seltsame, aber lebenswichtige Instruktionen bei Ihnen hinterlassen werde und ihre buchstäbliche Ausführung wünsche.« »Was ist passiert, Paul?« fragte ich. Einen Augenblick lang schien es, als wolle er offen reden, doch dann schüttelte er nur den Kopf und sagte: »Ich weiß es selbst nicht genau. Doch soviel kann ich sagen: Wir beide, mein Onkel und ich, haben einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich fürchte, es ist jetzt zu spät, um ihn
wiedergutzumachen. Haben Sie gehört, daß Onkel Amos Leichnam verschwunden ist?« Ich nickte. »Er ist wieder aufgetaucht.« Ich war höchst erstaunt, denn ich kam ja gerade aus Arkham und hatte nichts Dergleichen gehört. »Unmöglich!« rief ich aus. »Man sucht doch noch nach ihm.« »Wie dem auch sei, er befindet sich nicht dort«, sagte Paul seltsamerweise. »Er ist hier, am Ende des Gartens, wo man ihn zurückgelassen hat, nachdem er nutzlos geworden war.« Dabei schnellte sein Kopf hoch, und wir hörte ein schlurfendes und grunzendes Geräusch irgendwo aus im Innern des Hauses. Im nächsten Augenblick war es verstummt, und Paul wandte sich wieder mir zu. »Die Zuflucht«, murmelte er und lachte grausig. »Ich bin sicher, Onkel Amos hat den Tunnel graben lassen. Aber es war nicht die Zuflucht, die Hastur wollte. Jetzt dient sie den Häschern seines Halbbruders, des Großen Cthulhu.« Daß draußen die Sonne schien, war hier drinnen kaum wahrzunehmen, denn die Düsterkeit des Raumes und die Atmosphäre drohenden Unheils verliehen diesem Ort ein Gefühl weltenferner Unwirklichkeit. Ich stellte an Tuttle eine beinahe fiebrige Erwartungshaltung fest, die mit nervöser Hast gemischt war. Seine Augen flackerten seltsam und waren aus den Höhlen gequollen; seine Lippen waren dick und rauh geworden und sein Bart war unglaublich verfilzt. Er lauschte kurz und wandte sich dann wieder an mich. »Ich selbst muß erst einmal hierbleiben. Ich bin mit der Verminung des Hauses noch nicht soweit; damit muß ich unbedingt noch fertig werden«, fuhr er sprunghaft fort. Er sprach weiter, bevor ich die Fragen, die mir
durch den Kopf schossen, stellen konnte. »Ich habe herausgefunden, daß das Haus auf einem teilweise natürlichen und teilweise künstlichen Fundament ruht. Dort unten gibt es wahrscheinlich nicht nur diesen Tunnel, sondern auch ein ganzes Gewirr von Höhlen, die vermutlich zum größten Teil mit Wasser gefüllt sind
und vielleicht sind sie auch
bewohnt«, fügte er dunkel hinzu. »Aber das ist im Augenblick natürlich von untergeordneter Bedeutung. Ich habe keine direkte Angst vor dem, was dort unten haust, sondern vor dem, was da kommen wird.« Wieder hielt er inne und lauschte, und wieder drangen ferne Laute an unsere Ohren. Ich hörte genau hin und bemerkte ein seltsames Tasten, als ob sich irgendein Wesen an einer Tür zu schaffen mache. Ich versuchte, mir den Ursprung dieser Geräusche vorzustellen. Zuerst hatte ich geglaubt, die Laute kämen aus dem Innern des Hauses; dabei hatte ich beinahe instinktiv den Dachboden vor Augen gehabt, denn die Geräusche schienen von oben herabzudringen, doch bald begriff ich, daß sie keineswegs im Haus ihren Ursprung hatten, sondern irgendwo dahinter irgendwo weit, weit hinter den Wänden des Gebäudes. Es war ein tappender, zerrender Lärm, den ich mit keinen mir bekannten Lauten in Verbindung bringen konnte; er schien nicht von dieser Erde zu kommen. Ich spähte hinüber zu Tuttle und sah, daß er seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf etwas außerhalb des Hauses gerichtet hatte, denn er hielt den Kopf erhoben und die Augen blickten geradezu hinter die einengenden Mauern und trugen einen seltsam verzückten Ausdruck, in den sich auch Angst und Hilflosigkeit mischten. »Das ist Hasturs Zeichen«, sagte er mit erstickter Stimme. »Wenn die Hyaden aufgehen und Aldebaran heute nacht durch den Himmel schreitet, wird Er kommen. Der Andere wird mit Seinem Wasservolk uranfänglichen Kiemenrasse
auch hier sein.«
der
Dann lachte er plötzlich rauh, und mit verstohlenem, halb verrücktem Blick fügte er hinzu: »Und Cthulhu und Hastur werden hier um ihre Zuflucht kämpfen, während der große Orion über den Horizont zieht, zusammen mit Beteigeuze, wo die Großen Alten sind, die allein die bösen Pläne dieser höllischen Brut verhindern können!« Mein Erstaunen über seine Worte schlug sich zweifellos in meiner Miene nieder und machte ihm wiederum klar, welches Entsetzen und welche
Zweifel
ich
verspürte,
denn
sofort
änderte
sich
sein
Gesichtsausdruck; sein Blick wurde sanfter, die Hände verkrallen sich nervös ineinander und ließen wieder los, und seine Stimme wurde wieder normaler. »Aber vielleicht ermüdet Sie das alles nur, Mr. Haddon«, sagte er. »Ich möchte nichts mehr darüber sagen, denn die Zeit läuft uns davon, der Abend naht, und schon bald ist die Nacht da. Ich bitte Sie, keine Fragen über meine Anweisungen zu stellen, die ich für Sie schriftlich niedergelegt habe. Ich befehle Ihnen, sie bedingungslos zu befolgen. Wenn es sich so verhält, wie ich befürchte, wird zwar auch das nichts mehr helfen, aber wenn nicht, setzte ich mich mit Ihnen rechtzeitig in Verbindung.« Er nahm das Bündel mit den Büchern und drückte es mir in die Hand. Dann führte er mich zur Tür. Ich folgte ihm ohne Widerworte, denn ich war verwirrt, und sein seltsames Verhalten sowie die unheimliche Atmosphäre brütenden Grauens in jenem uralten, heimgesuchten Haus hatten mich entmutigt. An der Schwelle hielt er kurz inne und berührte mich am Arm. »Auf Wiedersehen, Mr. Haddon«, sagte er mit freundlicher Eindringlichkeit. Dann fand ich mich auf der Veranda im gleißenden Licht der untergehenden Sonne wieder, die so hell schien, daß ich die Augen
schließen mußte. Während ich mich an diesen Glanz gewöhnte, klang mir das fröhliche Singen einer späten Amsel auf einem Zaunpfahl in den Ohren; mir war, als wolle sie die Atmosphäre dunkler Angst und unaussprechlichen Grauens hinter mir Lügen strafen.
5
Jetzt komme ich zu jenem Teil meiner Erzählung, vor dem ich mich am meisten scheue, nicht nur wegen all dem Unglaublichen, über das ich schreiben muß, sondern weil ich bestenfalls einen vagen, ungewissen Bericht abgeben kann, angefüllt mit Mutmaßungen und beachtenswerten, wenn
auch
unzusammenhängenden
Beweisen
über
das
grauengeschwängerte, jahrtausendealte Böse jenseits der Zeit und über die uranfänglichen Dinge, die außerhalb der Grenzen des uns bekannten Lebens existieren, sowie über schreckliches Leben an verborgenen Orten dieser Erde. Wieviel davon Tuttle aus jenen höllischen Texten erfuhr, die er mir anvertraut hatte, damit ich sie den verschlossenen Bücherschränken der Universitätsbibliothek übergab, weiß ich nicht. Es ist sicher, daß er vieles nur erriet und die Wahrheit darüber erst erfuhr, als es zu spät war. Er sammelte Hinweise, aber es ist zu bezweifeln, daß er die volle Tragweite seiner Forschungen je verstand, durch die er in Erfahrung bringen wollte, warum Amos Tuttle die Zerstörung des Hauses und der Bücher angeordnet hatte. Nach meiner Rückkehr in die alten Straßen von Arkham ereignete sich alles mit unerwünschter Geschwindigkeit. Ich hinterlegte Tuttles Bücherpaket in der Bibliothek bei Doktor Llanfer und begab mich unverzüglich zu Richter Wiltons Haus, wo ich ihn glücklicherweise antraf. Der Richter wollte gerade zu Abend essen und lud mich ein, ihm dabei Gesellschaft zu leisten. Ich tat ihm diesen Gefallen, auch wenn ich keinen Appetit hatte, ja ich ekelte mich geradezu vor Nahrung. Inzwischen waren alle Ängste und ungreifbaren Zweifel in mir aufgebrochen, und Wilton
bemerkte, daß ich unter ungewöhnlicher nervlicher Anspannung stand. »Seltsame Sache, das mit dieser Tuttle-Gruft, nicht wahr?« fragte er vorsichtig, weil er darin den Grund meine Anwesenheit in Arkham vermutete. »Ja, aber nicht halb so seltsam wie der Umstand, daß Amos Tuttles Körper in seinem eigenen Garten gefunden wurde.« »In der Tat«, sagte er ohne sichtbares Zeichen von Interesse. Seine Gelassenheit half mir, meine innere Ruhe wiederzufinden. »Ich vermute, daß Sie gerade von dort kommen und wissen, wovon Sie reden.« Nun erzählte ich ihm in aller Kürze die ganze Geschichte, wobei ich nur wenige, allzu unwahrscheinliche Einzelheiten ausließ, doch es gelang mir nicht, seine Zweifel vollständig auszuräumen, auch wenn er zu sehr Gentleman war, um mich das spüren zu lassen. Nachdem ich meinen Bericht beendet hatte, saß er eine Weile nachdenklich und stumm da und warf einige Male einen Blick zur Uhr, die bereits halb acht anzeigte. Schließlich tauchte er aus seinen Gedanken auf und schlug mir vor, ich solle beim Lewiston-Haus anrufen und darum bitten, daß jeder Anruf für mich zu Richter Wiltons Haus umgeleitet werde. Das tat ich sofort und war froh, daß er das Problem ernst genug nahm, um ihm den ganzen Abend zu widmen. »Was diese Mythologie angeht«, sagte er, nachdem ich ins Zimmer zurückgekehrt war, »so könnte man sie als die Erfindung dieses verrückten Arabers Abdul Alhazred abtun. Ich sage absichtlich könnte, denn im Lichte der Ereignisse in Innsmouth möchte ich mich nicht festlegen. Aber wir sind hier nicht vor Gericht. Es geht um Paul Tuttle; ich schlage vor, wir untersuchen unverzüglich die Anweisungen an Sie.« Ich holte den Umschlag hervor und öffnete ihn. Er enthielt nur ein einziges Blatt, auf dem die folgenden rätselhaften und unheilvollen Zeilen
standen: »Ich habe Haus und Grundstück vermint. Gehen Sie unverzüglich zum Weidegatter westlich vom Haus, bei dem ich in den Büschen rechts vom Weg Arkham kommt
wenn man von
den Zünder versteckt habe. Mein Onkel
Amos hatte recht; ich hätte es sofort tun sollen. Wenn Sie versagen, Mr. Haddon, werden Sie vor Gottes Angesicht eine solche Geißel auf das Land loslassen, welche die Menschheit nie zuvor erlitten hat und auch nie wieder erleiden wird
falls die Menschheit sie überlebt!«
In diesem Augenblick muß ich eine Ahnung der überwältigenden Wahrheit gespürt haben, denn als Richter Wilton sich zurücklehnte, mich seltsam ansah und fragte: »Was werden Sie jetzt tun?«, antwortete ich ohne Zögern: »Ich werde die Anweisungen buchstabengetreu ausführen.« Einen Augenblick lang starrte er mich schweigend an, dann beugte er sich dem Unvermeidlichen und lehnte sich zurück. »Wir warten zusammen bis zehn Uhr«, sagte er ernst. Der letzte Akt des Grauens, dessen Brennpunkt das Tuttle-Haus war, fand etwas vor zehn statt. Er begann so entwaffnend prosaisch, daß das volle
Ausmaß
des
schließlich
eintretenden
Entsetzens
doppelt
schockierend und gewaltig war. Fünf Minuten vor zehn schellte das Telefon. Richter Wilton nahm sofort den Hörer ab, und selbst von meinem Platz aus konnte ich hören, wie die gequälte Stimme Paul Tuttles meinen Namen rief. Ich nahm Richter Wilton den Hörer aus der Hand. »Hier ist Haddon«, sagte ich mit gespielter Ruhe. »Was ist los, Paul?«
»Tun Sie es jetzt!« rief er. »O Gott, Haddon jetzt sofort zu spät. O Gott
die Zuflucht! Die Zuflucht
bevor
Sie kennen den Ort
Weidegatter. O Gott, schnell! « Dann geschah etwas, das ich nie vergessen werde. Seine Stimme fiel plötzlich in sich zusammen, als ob sie verschrumpele und in unendliche Tiefen sinke. Die Laute, die nun durch den Hörer drangen, waren bestialisch und unmenschlich
schockierendes Geplapper und rohe,
tierische, knarrende Laute, von denen einige häufig wiederholt wurden. Ich lauschte in steigendem Entsetzen dem triumphierenden Geplapper, bis es endlich erstarb: »Iä! Iä! Hastur! Ugh! Iä Hastur cf ayak vulgtmm, vugtlagln, vulgtmm! Ai! Shub-Niggurath!
hastur
Hastur cf tagn! Iä!
Iä! Hastur! « Dann endeten plötzlich alle Laute, und ich blickte in das entsetzte Gesicht von Richter Wilton. Doch ich sah ihn nicht, ich sah nichts mehr, denn mich überspülte plötzlich die Erkenntnis dessen, was Tuttle erst viel zu spät begriffen hatte. Sofort ließ ich den Telefonhörer fallen und rannte ohne Hut und Mantel aus dem Haus und auf die Straße. Hinter mir hörte ich, wie Richter Wilton wie verrückt über das Telefon nach der Polizei rief; seine Worte verklangen in der Nacht. Ich rannte so schnell ich konnte fort von den verschatteten, hexenversuchten Straßen Arkhams und in die Oktobernacht hinein, die Aylesbury Road hinunter und bog in den Weg ein, der zu dem Weidegatter führte. Während in der Ferne die Sirenen heulten, sah ich das Tuttle-Haus hinter dem Obstgarten in höllischem, purpurnem Glimmen liegen wunderschön, aber unirdisch und vom Bösen durchtränkt. Ich drückte den Zünder, und das alte Haus explodierte mit einem gewaltigen Dröhnen. Flammen stiegen dort auf, wo seine Mauern zuvor
aufragten. Einige Augenblicke lang stand ich verwirrt da und sah, wie die Polizeiwagen auf der südlich am Haus vorbeiführenden Straße eintrafen. Dann fing ich mich und ging hinüber zu den Polizisten. Nun erkannte ich, daß die Explosion genau das ans Licht gebracht hatte, was Paul Tuttle vermutete hatte: die Höhlen unter dem Haus waren zusammengefallen, die Erde hatte sich bewegt und war abgerutscht, und die Flammen zischten im aufschießenden Wasser. Dann geschah noch etwas
das letzte unirdische Grauen, das über das
steigende Wasser hinausragte
wo einst das Tuttle-Haus gestanden hatte
sah ich eine große protoplasmische Masse, sie erhob sich aus der Mitte des Sees, und dieses Ding, es rief uns etwas über die Wiese zu, bevor es sich dem anderen Wesen zuwandte und einen titanischen Kampf begann, der nur durch eine gewaltige Lichtexplosion unterbrochen wurde, die wie ein unglaublich machtvoller Blitz aus dem östlichen Himmel hervorzuschießen schien
eine mächtige Energieentladung in Form von Licht, so daß für
einen Augenblick alles enthüllt wurde, bis blitzähnliche Auswüchse aus dem Inneren der blendenden Säule herabstiegen. Etwas ergriff die Masse im Wasser, hob sie hoch und schleuderte sie weit hinaus aufs Meer; etwas anderes hob das zweite Wesen von der Wiese und wirbelte es empor in den Himmel. Es verschwand als dunkler Punkt zwischen den ewigen Sternen! Dann entstand eine plötzliche, kosmische Stille. Wo zuvor das Lichtwunder gewesen war, gab es nun nur Dunkelheit und die Reihe der Bäume, die sich gegen den Himmel abhoben, und tief im Osten das leuchtende Auge Beteigeuzes, während Orion sich in die Herbstnacht erhob. Eine Sekunde lang wußte ich nicht, was schlimmer war
das Chaos
des vorangegangenen Augenblicks oder die gegenwärtige schwarze und
vollkommene Stille. Die erstickten Rufe der entsetzten Männer brachten mich zu mir zurück, und ich begriff allmählich, daß sie das geheime Grauen nicht erkannten, das in den dunklen Stunden aufsteigt und die bodenlosen Tiefen des Verstandes heimsucht und ihn versengt. Vielleicht hatten sie wie ich dieses schwache, pfeifende Geräusch gehört, dieses wahnsinnig machende Heulen aus der Tiefe des kosmischen Raums, dieses Jaulen, das der Wind mit sich trug, und die Silben, die durch die Luft glitten: Tekeli-li, tekeli-li, tekeli-li Und sicherlich haben sie das Ding gesehen, das uns etwas aus den versinkenden Ruinen entgegenrief
jenes Zerrbild einer menschlichen
Gestalt, deren Augen in dicken Massen schuppigen Fleisches versunken waren und die ihre knochenlosen Arme wie die Tentakel eines Oktopus bewegte
jenes Wesen, das mit Paul Tuttles Stimme schrie und plapperte!
Aber sie kannten nicht das Geheimnis, das mir allein bekannt war das Geheimnis, welches Amos Tuttle in den Schatten seiner Todesstunde erraten haben mochte Erfahrung
gebracht
das Geheimnis, das Paul Tuttle zu spät in hatte:
daß
die
Zuflucht,
die
Hastur
der
Unaussprechliche suchte und die Ihm, Der Nicht Genannt Werden Darf, versprochen wurde, nicht der Tunnel war und nicht das Haus, sondern der Körper und die Seele Amos Tuttles
und da diese nicht mehr zur
Verfügung standen, das lebendige Fleisch und die unsterbliche Seele jenes Mannes benutzten, der nun in dem verfluchten Haus an der Aylesbury Road lebte!
Die Ziegenmelker in den Bergen 1 Am letzten Tag im April des Jahres 1928 nahm ich das Haus meines Vetters Abel Harrop in Besitz, denn zu diesem Zeitpunkt war klar, daß die Männer aus dem Büro des Sherrifs von Aylesbury entweder unfähig oder unwillig waren, sein Verschwinden zu klären. Also entschloß ich mich, eigene Nachforschungen anzustellen. Das war eine Frage des Prinzips, nicht der Zuneigung, denn mein Vetter Abel hatte immer etwas außerhalb der Familie gestanden. Seit seiner Jugend hing ihm der Ruf an, seltsam zu sein, und er hatte sich nie die Mühe gemacht, einen von uns zu besuchen oder uns zu sich einzuladen. Sein schlichtes Haus in einem abgeschiedenen Tal sieben Meilen von der Hauptstraße nach Aylesbury entfernt war auch nicht gerade dazu angetan, unser Interesse zu erwecken und uns aus Boston und Portland wegzulocken. Ich möchte dies klarstellen, denn die folgenden Begebenheiten gebieten es, meinem Aufenthalt in diesem Haus keinen anderen Grund zu unterstellen. Wie ich schon sagte, war das Haus meines Vetters sehr schlicht. Es war ein typisches Neu-England-Haus, wie man es in Dutzenden von Dörfern der Umgebung und auch noch weiter südlich sehen kann; es war rechteckig und hatte zwei Stockwerke, hinten einen Balkon und vorn eine Veranda, um das Rechteck zu vervollständigen. Die Veranda war mit einer früher einmal blickdichten Abschirmung versehen, in der sich nun allerdings kleine Risse befanden und die einen Hauch von Verfall
vermittelte. Das Haus selbst jedoch, das aus Holz bestand, war in Ordnung; die Außenwände waren vor weniger als einem Jahr weiß gestrichen worden, und dieser Anstrich hatte gut gehalten, so daß das Gebäude mit Ausnahme der Abschirmung fast neu aussah. Rechts von ihm stand ein Holzschuppen und daneben ein Räucherhäuschen. Es gab auch einen überdachten Brunnen mit einer Winde und einigen Eimern, der von einer Quelle gespeist wurde. Auf der linken Seite befanden sich eine praktischere Pumpe und zwei kleinere Schuppen. Da mein Vetter kein Bauer war, gab es für Tiere keinen Platz. Das Innere des Hauses war in gutem Zustand. Anscheinend hatte mein Vetter es sehr gepflegt, auch wenn die Möbel etwas abgenutzt und verblichen waren. Er hatte sie von seinen Eltern geerbt, die vor zwanzig Jahren gestorben waren. Das untere Stockwerk bestand aus einer engen, kleinen Küche, die auf den rückwärtigen Balkon hinaussah, weiterhin aus einem altmodischen, unüblich großen Wohnzimmer und einem Raum, der wohl einmal das Eßzimmer gewesen war, den Abel aber zu einem Arbeitszimmer ungestaltet hatte. Es war voller Bücher; sie standen auf rohen, selbstgezimmerten Regalen und lagen auf Truhen, Stühlen, einem Sekretär und einem Tisch. Manche stapelten sich sogar auf dem Boden, und ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Tisch, so wie es dort gelegen hatte, als mein Vetter verschwand; man hatte mir im Gerichtsgebäude in Aylesbury versichert, daß nichts durcheinandergebracht worden sei. Der erste Stock befand sich bereits unter dem Dach; die Räume hier fielen schräg ab. Es gab immerhin drei davon; sie waren allesamt klein. Zwei waren Schlafzimmer, und der dritte diente als Abstellkammer. Jeder Raum hatte nur ein einziges Giebelfenster. Das eine Schlafzimmer lag über der Küche, das andere über dem Wohnzimmer, und die Abstellkammer befand sich über dem Arbeitszimmer. Es gab keine Anzeichen dafür, daß mein
Vetter eines der Schlafzimmer benutzt hatte; er schien vielmehr die Nächte auf einem Sofa im Wohnzimmer verbracht zu haben. Da dieses Sofa sehr weich war, entschloß ich mich, ebenfalls darauf zu schlafen. Die Treppe zum ersten Stock führte aus der Küche hoch und trug zur Beengtheit dort bei. Die Umstände, unter denen mein Vetter verschwunden war, sind nicht sonderlich verwickelt, wie sich jeder Zeitungsleser erinnern wird. Abel war zuletzt in Aylesbury Anfang April gesehen worden; er hatte fünf Pfund Kaffee, zehn Pfund Zucker, etwas Draht und etliche Netze gekauft. Vier Tage später, am siebten April, ging ein Nachbar an seinem Haus vorbei und bemerkte, daß aus dem Kamin kein Rauch aufstieg. Nach einigem Zögern ging er auf das Haus zu. Mein Vetter war anscheinend nicht wohlgelitten; er war von Natur aus mürrisch, und die Nachbarn hatten sich von ihm ferngehalten, doch da der siebte April ein sehr kalter Tag war, hatte sich Lern Giles ein Herz gefaßt, war an die Haustür getreten und hatte geklopft. Als keine Antwort kam, drückte er gegen die Tür. Sie war offen, und er ging hinein. Er fand das Haus kalt und verlassen vor; eine Kerze, die auf dem Tisch neben einem aufgeschlagenen Buch stand, war ausgebrannt. Obwohl Giles dies alles sehr merkwürdig fand, sagte er niemandem etwas davon, bis er am zehnten April auf seinem Weg nach Aylesbury erneut an dem Haus vorbeikam, es aus demselben Grund wieder betrat und alles unverändert antraf. Nun sprach er mit einem Ladeninhaber in Aylesbury darüber und erhielt den Rat, die Sache dem Sheriff zu melden. Lern Giles tat es nach langem Zögern. Ein Deputy fuhr zum Haus meines Vetters und schaute sich um. Da inzwischen Tauwetter herrschte, gab es keine sichtbaren Fußspuren; der Schnee war sehr schnell geschmolzen. Es fehlte nur wenig vom Kaffee und Zucker, die mein Vetter gekauft hatte, weswegen man annahm, daß er etwa einen Tag nach seinem
Besuch in Aylesbury verschwunden sei. Es gab einige Anzeichen dafür, daß mein Vetter etwas mit den Netzen vorhatte, denn sie lagen in einem losen Haufen auf dem Schaukelstuhl, doch da es sich um Schlagnetze handelte, mit denen man entlang der Küste bei Kingsport Seefische fing, blieb sein Vorhaben ein Rätsel. Die Bemühungen der Polizisten aus Aylesbury waren andeutete
wie ich schon
sehr oberflächlich. Nichts deutete an, daß sie Abels
Verschwinden wirklich aufklären wollten; vielleicht entmutigte sie die Verschwiegenheit der Nachbarn. Davon wollte ich mich allerdings nicht abschrecken lassen. Wenn die Polizeiberichte verläßlich waren
ich hatte keinen Grund,
etwas Gegenteiliges anzunehmen , dann waren Abels Nachbarn ihm aus dem Weg gegangen, und selbst jetzt, nach seinem mutmaßlichen Tod, wollten sie genausowenig über ihn reden, wie sie damals etwas mit ihm zu tun haben wollten. Noch bevor ich einen ganzen Tag im Haus meines Vetters verbracht hatte, erhielt ich den handgreiflichen Beweis für diese Haltung. Im Haus gab es keinen Strom, doch es hatte einen Telefonanschluß. Als das Telefon am Nachmittag schellte
weniger als zwei Stunden nach
meiner Ankunft , ging ich zu ihm hinüber und nahm den Hörer von der Gabel, denn ich hatte vergessen, daß mein Vetter nur einen Gemeinschaftsanschluß besaß. Ich hatte mich nicht sofort gemeldet, und als ich den Hörer ans Ohr hielt, sprach bereits jemand. Ich hätte ohne Umschweife den Hörer aufgelegt, wenn nicht plötzlich mein Name und der meines Vetters erwähnt worden wäre. Da ich von Natur aus neugierig bin, hörte ich schweigend zu. jemand is in Abe Harrops Haus jekommen«, sagte die Stimme einer Frau. »Lem is vor zehn Minuten da vorbeijekommen un hat s
jesehn.« Zehn Minuten, dachte ich. Offenbar handelte es sich um Lem Giles Anwesen; er war der nächste Nachbar hinter diesem Talkessel. »O Miss Giles, Se jlauben doch nich , er is zurückjekommen?« »Jott jebe, dat dem nich so is . Aber dat is der nich . Lem hat jesacht, dat er anners aussieht.« »Wenn der zurück is , will ich wech von hier. Da is schon zu viel vorjefallen.« »Von ihm ham se nich Haut noch Haar jefunden.« »Un dat wer n se auch nich . Die hamihn jeholt. Ich weiß doch, er hat se jerufen. Amos hat ihm ja sofort jesacht, er soll de Bücher wegschmeißen, aber er hat s ja besser jewußt. Hat da Nacht für Nacht jesess n und in dene teuflischen Bücher rumjelesen.« »Mach dir keine Sorjen nich , Hester.« »Bei all dem, wat da vorjeht, können mer froh sein, dat mer noch leben un uns Sorjen machen können!« Die Nachbarn im Umkreis des Talkessels zählten sieben Familien, von denen keine in Sichtweite des Hauses wohnte. Oberhalb des Kessels lebten Lem und Abbey Giles und ihre beiden Söhne Arthur und Albert sowie ihre Tochter Virginia, eine geistesschwache Frau um die dreißig. Hinter ihnen wohnten im nächsten Talkessel Lute und Jethro Corey, beides Junggesellen, zusammen mit ihrem Lohnarbeiter Curtis Begbie; östlich von ihnen hoch in den Bergen Seth Whateley, seine Frau Emma und ihre drei Kinder Willie, Mamie und Ella; unter ihnen und etwa eine Meile östlich vom Haus meines Vetters lebten der Witwer Laban Hough, seine Kinder Susie und Peter und seine Schwester Lavinia; etwa eine halbe Meile weiter hatten sich an der Straße, die in den Talkessel führte, Clem Osborn und seine Frau Marie mit den beiden Lohnarbeitern John und
Andrew Baxter niedergelassen, und schließlich wohnten hinter den westlichen Bergen Rufus und Angeline Wheeler mit ihren Söhnen Perry und Nathaniel, sowie die drei ältlichen Hutchins-Schwestern Hester, Josephine und Amelia nebst den Tagelöhnern Jesse Trumbull und Amos Whateley. All diese Leute waren durch den Gemeinschaftsanschluß verbunden, an dem auch das Telefon meines Vetters hing. Im Verlauf von drei Stunden hatten sich alle Frauen untereinander angerufen und über meine Anwesenheit informiert. Jede der Frauen teilte mit, was sie wußte, und so erfuhren alle schließlich, wer ich war, und errieten, was ich hier wollte. So etwas ist natürlich normal in einer derart abgelegenen Gegend, wo das alltäglichste Ereignis Anlaß zu Spekulationen bietet, denn es gibt ja sonst nichts, was die Aufmerksamkeit der Leute erregen könnte. Doch es erstaunte mich, daß es in all dem telefonischen Geklatsche eine stets gegenwärtige Unterströmung der Angst gab. Sicherlich war mein Vetter Abel wegen dieser unglaublichen Angst und dem, was er getan hatte, gemieden worden. Mir kam der ernüchternde Gedanke, daß aus solch primitiver Angst heraus durchaus der Entschluß reifen mochte, jemanden zu töten, um sich so der Angst zu entledigen. Ich wußte, daß es nicht leicht sein würde, die argwöhnische Reserviertheit der Nachbarn zu überwinden, doch ich war fest dazu entschlossen. An jenem Abend zog ich mich früh zurück, aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß es schwierig sein würde, in dieser Umgebung einzuschlafen. Ich hatte vollkommene Stille erwartet, statt dessen erlebte ich eine wahnsinnig machende Kakophonie, die das Haus umbrandete. Eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang begannen Ziegenmelker in der Dämmerung mit einem Gesang, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Nachdem ein einzelner Vogel etwa fünf Minuten lang gerufen hatte, waren
es eine halbe Stunde später schon zwanzig, und nach einer Stunde schienen es bereits über hundert zu sein. Die Berge an den Seiten des Talkessels warfen die Echos zurück, so daß es scheinbar doppelt so viele Vögel waren; ihre Laute reichten von verlangenden Schreien nahe vor dem Fenster bis zu schwachem Gewisper tief unten im Tal. Ich wußte ein wenig über die Gewohnheiten der Ziegenmelker und erwartete, daß der Lärm nach etwa einer weiteren halben Stunde aufhören und kurz vor Sonnenaufgang in der Morgendämmerung wieder anfangen werde. Doch ich irrte. Die Vögel schrien nicht nur die ganze Nacht hindurch, sondern kamen auch noch aus den Wäldern herbeigeflogen und setzten sich auf die Dächer des Hauses und der Schuppen sowie auf den Erdboden zwischen den Gebäuden und machten einen so ohrenbetäubenden Lärm, daß ich erst in der Morgendämmerung einschlafen konnte, als sie einer nach dem anderen fortflogen und still wurden. Lange würde ich diese nervenzerfetzende Kakophonie nicht ertragen können. Ich hatte erst eine Stunde geschlafen, als ich noch völlig erschöpft durch das Klingeln des Telefons erwachte. Ich stand auf, hob ab und fragte mich, wer wohl wen zu dieser frühen Stunde anrufen mochte. Ich murmelte ein schläfriges »Hallo.« »Harrop?« »Hier ist Dan Harrop«, sagte ich. »Muß Ihnen was sagen. Hören Se zu?« »Wer ist da?« fragte ich. »Hören Se mir zu, Harrop. Wenn Sie wissen, wat jut für Se is , haun Se von hier ab, so schnell Se könn n!« Bevor ich meinem Erstaunen Ausdruck verleihen konnte, war die Leitung wieder tot. Ich war noch etwas benommen durch den
Schlafmangel. Einen Augenblick lang stand ich unschlüssig da, dann legte ich den Hörer auf die Gabel. Es war die schroffe und alte Stimme eines Mannes gewesen. Sicherlich handelte es sich um einen meiner Nachbarn; das Telefonklingeln hatte sich angehört, als ob der Anruf von innerhalb des Gemeinschaftsanschlusses kam. Ich war auf halbem Weg zurück zu meinem behelfsmäßigen Bett im Wohnzimmer, als das Telefon wieder schellte. Diesmal war es kein Anruf für mich, doch ich ging sofort zu dem Apparat. Inzwischen war es halb sieben, und die Sonne stieg über den Bergen auf. Es war Emma Whateley, die Lavinia Hough anrief. »Vinnie, haste se jehört letzte Nacht?« »Um Jottes Willen, ja! Emma, jlaubst du, das bedeutet
?«
»Keene Ahnung. War wat Schreckliches in der Art, wie se immer weiter jeschrien ham. Hab sowat nich mehr jehört, seit Abel letzten Sommer draußen in den Wäldern war. Hat Willie un Mamie de janze Nacht wachjehalten. Ich hab Angst, Vinnie.« »Ich auch. Jott, wat is , wenn jetz alles wieder von vorn losjeht?« »Bis still, Vinnie. Mer weiß ja nie, wer mithört.« Das Telefon schellte den ganzen Morgen hindurch, und es ging immer um dasselbe. Ich begriff, daß es die Ziegenmelker und ihr wildes Geschrei in der Nacht waren, was die Nachbarn so aufregte. Ich hatte es als störend empfunden, nicht aber als ungewöhnlich. Aus dem, was ich mithörte, schloß ich jedoch, daß ein solch hartnäckiges Lärmen der Vögel nicht nur ungewöhnlich war, sondern als böses Omen angesehen wurde. Es war Hester Hutchins, welche die abergläubischen Ängste der Nachbarn in Worte kleidete, als sie mit einer Kusine aus dem einige Meilen weiter nördlich gelegenen Dunwich telefonierte. »Die Berge ham heut nacht wieder jesprochen, Flora«, sagte sie leise,
aber in drängendem Tonfall. »Hab se die janze Nacht jehört, konnt kaum schlafen. Warn nur die Ziejenmelker, hunderte un aberhunderte, die janze Nacht hindurch. Kam aus Harrops Talkessel, aber se war n so laut, als hätten se aufm eijenen Zaun jesessen. Se warten nur drauf, ne Seele zu fangen, so wie beim Tod von Benji Wheeler un Schwester Hough un Curtis Begbies Frau Annie. Ich weiß Bescheid
die halten mich nich zum
Narren. Jemand wird sterben, un zwar bald, da kannste Jift drauf nehmen.« Was für ein seltsamer Aberglaube, dachte ich. Am nächsten Tag war ich zu beschäftigt, um unter meinen Nachbarn Nachforschungen
anzustellen,
doch
abends
lauschte
ich
den
Ziegenmelkern. Ich saß in der Dunkelheit am Fenster des Arbeitszimmers. Eine Lampe war nicht nötig, denn der Mond, dem nur noch drei Tage an seiner ganzen Fülle fehlten, beschien das Tal und erfüllte es mit jenem weißlich-grünen Licht, das dem Mond eigen ist. Lange bevor sich die Dunkelheit über das Tal senkte, hatte er bereits Besitz von den umliegenden bewaldeten Hügeln ergriffen. Aus den dunklen Stellen im Wald ertönten die ersten Schreie der Ziegenmelker. Vorher hatte es nur wenig üblichen Abendgesang der Vögel gegeben; bloß ein paar Mäusebussarde waren im Abendhimmel erschienen und zogen mit miauendem Ruf ihre Runden; sie stiegen in Spiralen auf und schossen dann mit seltsam zischendem Geräusch wie ein Senkblei nach unten. Als die Dunkelheit sich über das Land breitete, waren sie jedoch nicht mehr zu sehen. Ein Ziegelmelker nach dem anderen begann nun seinen Ruf. Sie überfielen das Tal wie die Finsternis. Unleugbar trieben die Ziegenmelker auf lautlosen Schwingen von den Hügeln herab und auf das Haus zu, in dem ich saß. Ich sah, wie der erste Vogel
ein dunkler Fleck im Mondlicht
herankam und sich auf dem Dach des Holzschuppens niederließ. Wenig später folgte der nächste Vogel, dann ein weiterer und noch einer. Bald bemerkte ich, wie sie den Boden zwischen den Schuppen und dem Haus besetzten, und sicherlich waren sie auch auf dem Dach des Wohngebäudes. Sie nahmen jedes Dach und jeden Zaunpfahl in Beschlag. Ich zählte über hundert, bevor ich damit aufhörte, denn einige von ihnen flatterten von einer Stelle zu einer anderen, so daß ich bald nicht mehr wußte, ob ich sie schon eingerechnet hatte. Nicht ein einziges Mal wurde ihr Geschrei unterbrochen. Früher war ich der Meinung gewesen, der Ruf eines Ziegenmelkers sei ein süßer, nostalgischer Laut! Die um das Haus versammelten Vögel stimmten eine unvorstellbar
höllische
Kakophonie
an.
Während
der
Ruf
des
Ziegenmelkers sanft und angenehm ist, wenn er aus der Ferne herdringt, ist derselbe Ruf unglaublich schrill und lärmend, wenn er direkt vor dem Fenster erschallt; es ist eine Kreuzung zwischen einem Schrei und einem wütenden Röcheln. Die vervielfachten Rufe konnten einen wirklich wahnsinnig machen. Sie waren mir derart zuwider, daß ich mir nach einigen Stunden Watte in die Ohren stopfte. Doch selbst das verhalf mir nur zu einer vorübergehenden Linderung. Wenigstens gelang es mir, nach einer Weile schlecht und recht zu schlafen; nach der durchwachten letzten Nacht war ich einfach vollkommen erschöpft. Mein letzter wacher Gedanke war, daß ich mich ohne weitere Verzögerung um meine Angelegenheiten kümmern mußte, bevor mir die Beharrlichkeit der Ziegenmelker, die zu dieser Jahreszeit offenbar jede Nacht aus den Bergen herkamen, den Verstand raubte. Ich erwachte vor Anbruch der Morgendämmerung; die Erschöpfung war von mir abgefallen, und die Ziegenmelker riefen immer noch. Ich brachte mich auf dem Sofa in eine sitzende Lage und stand schließlich auf,
um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Die Vögel waren noch da, auch wenn sie ein wenig vom Haus zurückgewichen und nicht mehr so zahlreich waren. Eine schwache Ahnung der Morgendämmerung hing am östlichen Himmel, und dort nahmen nun die Morgensterne den Platz des untergegangenen Mondes ein
Mars, der schon hoch am Himmel stand,
sowie Venus und Jupiter, knapp fünf Grad über dem östlichen Horizont; sie alle strahlten in überirdischem Glanz. Ich zog mich an, machte mir Frühstück und schaute danach zum ersten Mal Vetter Abels Bücher durch. Ich hatte bereits zuvor einen flüchtigen Blick in das offene Buch auf dem Tisch geworfen, doch es sagte mir nichts, denn es war in einer Type gedruckt, die eine Handschrift nachahmte und daher schwer lesbar war. Außerdem handelte es von sehr fremdartigen Dingen,
welche
mir
wie
die
verrückten
Phantasien
eines
drogengeschädigten Verstandes erschienen. Die anderen Bücher meines Vetters waren offenbar von derselben Art. Eine Sammlung von Old Farmer s-Almanachen war das einzige, was mir angenehm vertraut war. Obwohl ich durchaus belesen bin, muß ich gestehen, daß mich angesichts der Bibliothek meines Vetters
wenn man sie so nennen kann
ein Gefühl äußerster Fremdheit befiel. Doch eine oberflächliche Untersuchung der Bestände erfüllte mich mit neuem Respekt vor meinem Vetter, denn seine Sprachkenntnisse übertrafen die meinen offenbar bei weitem, falls er wirklich in der Lage gewesen sein sollte, all die Bände zu lesen, die er zusammengetragen hatte. Sie waren ihren Titeln zufolge in mehreren Sprachen verfaßt, und die meisten Werke bedeuteten mir gar nichts. Ich erinnere mich vage, einmal etwas über die Thaumaturgic Prodigies in New-England Canaan des Reverend Ward Phillips gehört zu haben, doch solche Bände wie die Cultes des Goules von Comte d Erlette, De Vermis Mysteriis von Dr.
Ludwig Prinn, Lullys Ars Magna et Ultima, die Pnakotischen Manuskripte, der
lyeh-Text, von Junzts Unaussprechliche Kulte und
viele andere ähnliche Titel waren mir völlig unbekannt. Der Gedanke, sie könnten etwas mit dem Verschwinden meines Vetters zu tun haben, kam mir erst viel später an jenem Tag, als ich mir endlich die Zeit nahm, einige Nachbarn zu besuchen, denn ich erhoffte mir von ihnen mehr Aufschluß als vom Büro des Sheriffs. Zuerst ging ich zum Anwesen der Giles, das etwa eine Meile in die Berge hinein direkt südlich vom Haus meines Vetters lag. Der Empfang war nicht ermutigend. Abbey Giles, eine große, hagere Frau, sah mich vom Fenster aus, schüttelte den Kopf und weigerte sich, zur Tür zu kommen. Als ich im Vorgarten stand und mich fragte, wie ich ihr klarmachen konnte, daß ich ungefährlich war, kam Lern Giles aus der Scheune herbeigerannt. Sein streitlüsterner Blick machte mich zögerlich. »Was wollen Se hier, Fremder?« zischte er. Obwohl er mich »Fremder« nannte, spürte ich, daß er sehr gut wußte, wer ich war. Ich stellte mich vor und erklärte, daß ich die Wahrheit über das Verschwinden meines Vetters herausfinden wollte. Ob er mir etwas über Abel berichten könne? »Kann Ihnen gar nix sagen«, meinte er knapp. »Jehn Se zum Sheriff, hab ihm alles jesagt, was ich weiß.« »Ich glaube, die Leute hier wissen mehr, als sie sagen«, behauptete ich fest. »Mag sein. Aber sie sagen s nicht. Faktum.« Mehr konnte ich nicht aus Lern Giles herausbekommen. Ich ging zum Anwesen der Coreys, doch es war niemand zu Hause; also nahm ich einen Weg über den Hügel und hoffte, er würde mich zum Hutchins-Anwesen führen. Ich hatte recht. Doch bevor ich das Haus
erreichen konnte, wurde ich von einem der Hügelfelder aus bemerkt und angesprochen. Ein Mann mit einem Brustkorb wie eine Tonne stellte sich mir in den Weg; er war einen halben Kopf größer als ich und wollte in harschen Worten wissen, wohin ich unterwegs sei. »Zu den Hutchins «, sagte ich. »Dann brauchen Se erst ja nich weiterzujehen«, meinte er. »Se sin nich zu Hause. Ich arbeite für se. Heiß Amos Whateley.« Ich hatte schon einmal mit Amos Whateley gesprochen; ich erkannte seine Stimme als die des Mannes, welcher mir geraten hatte: »Haun Se von hier ab, so schnell Se können!« Ich sah ihn eine Zeitlang schweigend an. »Ich bin Dan Harrop«, sagte ich schließlich. »Ich bin hergekommen, um herauszufinden, was mit meinem Vetter Abel passiert ist, und das werde ich auch.« Ich erkannte, daß er gewußt hatte, wer ich war. Er schaute mich einen Augenblick lang nachdenklich an, bevor er sagte: »Un wenn Se s rausfinden, hauen Se dann ab?« »Ich habe keinen anderen Grund zu bleiben.« Er schien unentschlossen zu sein, als ob er mir noch nicht traue. »Verkauf n Se dann dat Haus?« wollte er wissen. »Ich habe keine Verwendung für es.« »Dann sag ich s Ihnen«, meinte er plötzlich. Er hatte sich entschieden. »Ihr Vetter, der wo Abel Harrop is , der is von denen von Draußen jeholt worden. Er hat se jeruf n un se sin jekommen.« Er hielt unvermittelt inne, und seine dunklen Augen ruhten forschend auf meinem Gesicht. »Se jlauben s nich !« rief er. »Se wissen s nich !« »Was sollte ich wissen?« fragte ich. »Dat von denen von draußen.« Er sah bedrückt drein. »Hätt s Ihnen jar nich erst sagen soll n. Se jlauben mir ja doch nich .«
Ich versuchte mich in Geduld zu üben und erklärte ihm noch einmal, daß ich nur wissen wolle, was mit Abel geschehen sei. Aber er war nicht mehr an dem Schicksal meines Vetters interessiert. Er sah mich immer noch scharf an und meinte. »De Bücher! Haben Se de Bücher jelesen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich sag Ihnen: Verbrennen Se se. Verbrennen Se se alle, bevor s zu spät is !« Er sprach mit beinahe fanatischer Beharrlichkeit. »Ich weiß n bißchen, wat drin steht.« Es war diese seltsam eindringliche Bitte, die meine Aufmerksamkeit wieder auf Abels Bücher lenkte. An jenem Abend setzte ich mich an den Tisch, an dem mein Vetter sicherlich oft gesessen hatte, und schaute mir im Licht einer Lampe und unter dem Chor der Ziegenmelker das Buch, in dem mein Vetter zuletzt gelesen hatte, sorgfältiger an. Ich fand zu meinem Erstaunen beinahe sofort heraus, daß die handschriftähnlichen Drucklettern in Wirklichkeit tatsächlich eine Handschrift waren. Weiterhin hatte ich den unangenehmen Eindruck, daß das titellose Manuskript in Menschenhaut gebunden sei. Auf alle Fälle war es sehr alt und schien aus verstreuten Blättern zusammengesetzt zu sein, auf denen der Schreiber Abschnitte aus Büchern kopiert hatte, die nicht sein eigen waren. Einiges war in Latein verfaßt, einiges in Französisch, einiges in Englisch. Die Handschrift war zu unleserlich, um das Latein und Französisch zu verstehen, doch nach einigen Mühen verstand ich etwas von den englischen Stellen. Das meiste davon war Gewäsch, doch mein Vetter
wie ich annahm
hatte zwei Seiten mit Rotstift angestrichen, so daß ich glaubte, sie seien für Abel von entscheidender Bedeutung gewesen. Ich machte mich daran, einen Sinn aus der spinnenartigen Handschrift herauszulesen. »Um Yogghe-Sothothe von dem Draussen zu rufen, warte weise, biß
die Sonn stehet im Fünfften Hause unnd Sathurn in Ascendentis sey. Zeichne das Pentagramm aus Fewer unnt spreche drey Male den neunnten Vers, welcher widerholet werde zur Mittsommerwend unnt zu Aller Heiligen Abend, so das Wesen brüte im Draußen hinter den Thore, von welchem Yogge-Sothothe der Wächter. Dergleichen mag bringen nicht ihn, sondern einen Andern, wo gleicher Maßen des Wachsens begiret, unnt wenn Er nicht das Bluthe eines Andern findet, mag Er deines nehmen. Derethalben sey nicht unweise in disen Dingen.« Darunter hatte mein Vetter geschrieben: »Vgl. Seite 71 in Text.« Ich übersprang diese Anmerkung und kam zu der anderen angestrichenen Seite, doch wie sorgfältig ich sie auch las, so begriff ich doch nur, daß es sich hierbei um eine Salbaderei aus einem weitaus älteren Text handelte: »Ueber dye Alten stehet geschoben, so auf ewig sye warten ann deme Tore, das Tore sey ann aller Orthen zu aller Zeit. Denn sye wissen nicht der Zeit noch des Orthes, sondern seynd gemeinsam an allen Orthen unnt Zeiten ohne desgestaltig zu scheinen. Unter solche da seynd jene, so da können wechslen dye Gestallt, so sye beliben unnt form unnt thor seynd allezeit da für sye. Das erste so Ich geöffent in Irem, wo dye Stadt der Säulen dye statt unnter deren wuesten, doch wo immer Menschen sagen verbotten wörter, dort sey das thor und sye sollen dinen jenen, so kommen hyndurch, gleich denen dholen unnt erschröckl. Mi-Go unnt deme Volk derer Tcho-Tcho, unnd dye Tiefen unnd Gugs unnd Schröcken dere Nacht unnt Schoggoten unnd Voormis unnd Schantakß so wachen inn dere kalthen wüst unnd dere hohen Ebene von Leng. Alle seynt kinnderen der Alten Götter, doch dye Grosse Rasse von Yith unnd dye Alten seny einer Meynunng nicht einannder. Getrennet von dene Altte seynd dye Grossen in Besitz Thum der Erd, als welchen dye Große Rass kehret zurück von Yith
unnd nahm Wohnunng in ferner Zunkufft im Erdenlannd. Nicht wissen es jene, wo da wandelen auff Erden heut. Dort ist ihrer des Warttens bis abermalen dye Winde unnd dye Stimmen kommen, welche sye vertriben, unnt das Wesen welches da wanderet auff dem Winde über dye Erden unnt in dene Orthe, wo da seynd auff ewig zwischen dene Stern.« Ich las diese Zeilen mit Verwunderung, aber da ich sie nicht verstand, kehrte ich zu der ersten angestrichenen Seite zurück und versuchte, eine Bedeutung aus ihr herauszufiltern. Es gelang mir nicht, aber ich erinnerte mich mit Unbehagen an Amos Whateleys Bemerkung über »die von draußen.« Ich vermutete, daß sich die Anmerkung meines Vetters auf den lyeh-Text bezog; also nahm ich das schmale Buch zur Hand und sah auf der angegebenen Seite nach. Meine Fremdsprachenkenntnisse waren unglücklicherweise nicht umfassend genug, um die betreffende Stelle zu verstehen, doch es schien sich um eine Beschwörungsformel oder einen rituellen Gesang zu handeln, wodurch ein uraltes Wesen angelockt werden sollte, an das einige primitive Völker anscheinend früher einmal geglaubt hatten. Schweigend ging ich den Text durch, dann las ich ihn Wort für Wort laut vor, doch auch jetzt erhielt er keine tiefere Bedeutung für mich; er war vermutlich nur ein seltsames, altes religiöses Glaubensbekenntnis. Als ich mich müde von den Büchern erhob, hatten die Ziegenmelker wieder Besitz von dem Tal ergriffen. Ich löschte das Licht und spähte in die monderhellte Dunkelheit hinter dem Haus. Wie am Abend zuvor waren die Vögel da; sie warfen dunkle Schatten auf das Gras und die Dächer. Im Mondlicht sahen sie seltsam verzerrt aus; es waren offenbar ungewöhnlich große Tiere. Ich hatte geglaubt, daß Ziegenmelker nur ein paar Zentimeter messen, doch diese hier waren mehr als zehn oder gar zwanzig Zentimeter lang und dementsprechend dick, so daß sie unglaublich massig wirkten.
Zweifellos rührte das nur vom Mondlicht und den Schatten her sowie von meiner Müdigkeit und überfließenden Phantasie. Doch es ließ sich nicht leugnen, daß die Heftigkeit und Lautstärke ihrer Rufe im Verhältnis zu ihrer scheinbar unnatürlichen Größe standen. In dieser Nacht waren sie weitaus weniger unruhig, und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß sie jemanden oder etwas riefen oder auf irgendein Ereignis warteten. Hester
Hutchins
Flüsterstimme
kam
mir
mit
verwirrender
Hartnäckigkeit wieder in den Sinn: »Se warten nur drauf, ne Seele zu fangen «
2
Die folgenden seltsamen Ereignisse im Haus meines Vetters hatten ihren Ursprung in jener Nacht. Eine unheilvolle Macht schien nun das ganze Tal heimzusuchen. Irgendwann in der Nacht wachte ich auf und war überzeugt davon, mehr als nur das endlose Geschrei der Ziegenmelker durch die monderhellte Finsternis gellen zu hören. Ich lag hellwach da und lauschte, bis das Geschrei aus tausend Hälsen schließlich in Einklang mit meinem Herzschlag und dem Pulsieren der Sphären zu sein schien! Dann hörte ich es! Ich lauschte und traute meinen Ohren nicht. Es war eine Art Gesang, der sich augenblicklich zu einem Geheul erhob
in einer Sprache, die ich nicht kannte. Selbst jetzt kann ich sie
nicht einmal annähernd beschreiben. Vielleicht könnte man es mit den Lauten vergleichen, die entstehen, wenn sich mehrere ausländische Radiosender überlagern. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, daß hinter alledem ein Sinn steckte. Das Geplapper mischte sich auf unheimliche Weise mit dem Geschrei der Ziegenmelker. Es erinnerte mich an eine Litanei, in welcher der Priester das Rezitativ singt und die Gemeinde murmelnd antwortet. Die Geräusche kamen stoßweise; Konsonanten herrschten vor und wurden nur gelegentlich von einem Vokal abgewechselt. Die am deutlichsten hörbaren Laute klangen in etwa so: »Lllllll-nglui, nnnnn-lagl, fthagn-nagh, ai YogSothoth!« Sie wurden in einem Crescendo hervorgestoßen, das bei den letzten Silben regelrecht explodierte und dem die Ziegenmelker rhythmisch antworteten. Sie stellten ihr Geschrei nicht etwa ein; es wurde nur blasser
und ferner, wenn die anderen Laute ertönten, dann schwollen sie als Antwort auf die Nachtgeräusche wieder triumphierend an. Diese Geräusche waren schrecklich und beängstigend, doch noch beängstigender war ihr Ursprung, denn sie kamen aus dem Inneren des Hauses
entweder aus den oberen oder unteren Zimmern. Mit jedem
Moment, den ich zuhörte, wurde ich mehr davon überzeugt, daß das scheußliche Geplapper aus dem Raum drang, in dem ich lag. Es war, als pulsierten die Wände unter den Geräuschen und als erzittere das ganze Haus, ja es hatte sogar den Anschein, als ob ich selbst an dieser grauengesättigten Litanei Anteil hatte
nicht passiv, sondern aktiv und
freudig! Wie lange ich in kataleptischem Zustand dalag, weiß ich nicht. Aber schließlich hörten die hereindringenden Laute auf. Kurz bemerkte ich etwas, was wie erderschütternde Schritte wirkte, welche in den Himmel hineinliefen und von einem gewaltigen Aufruhr begleitet wurden, als ob die Ziegenmelker sich von den Dächern und dem Erdboden erhöben; dann fiel ich in tiefen Schlaf, aus dem ich erst am Mittag erwachte. Ich stand tatendurstig auf, denn ich wollte meine Nachforschungen unter den Nachbarn so schnell wie möglich fortsetzen. Auch hatte ich mir ursprünglich vorgenommen, einen weiteren Blick in die Bücher meines Vetters zu werfen, doch als ich an diesem Mittag in das Arbeitszimmer kam und mich vor den Tisch stellte, schloß ich das Buch darauf und warf es nachlässig zur Seite. Dies tat ich vollkommen bewußt und immer noch mit dem Willen, soviel darin zu lesen wie möglich. Doch am Rande meines Bewußtsein lauerte etwas anderes, eine unerklärliche, hartnäckige Gewißheit, daß ich den gesamten Inhalt dieses Buches und aller anderen kannte, die hier und dort aufgetürmt lagen, und noch mehr
viel mehr. Und als ich diese Überzeugung in mich einsaugte,
wuchs plötzlich tief in meinem Inneren wie aus ererbter Erinnerung, zu welcher ich keinen freien Zugang hatte, ein überwältigendes Bewußtsein titanischer Höhen und unauslotbarer Tiefen, und ich sah gewaltige amorphe Wesen wie aus protoplasmischer Gallerte, die fangarmähnliche Fortsätze ausstreckten und nicht auf dem vertrauten Erdboden standen, sondern auf dunklem, verbotenem Grund ohne jegliche Vegetation und sich gigantisch gegen unbekannte Sterne abhoben. Und mit innerem Ohr hörte ich gesungene Namen
Cthulhu, Yog-Sothoth, Hastur, Nyarlathotep,
Shub-Niggurath und viele andere
und wußte, daß dies die Großen Alten
waren, die von den Älteren Göttern verbannt worden waren und nun vor dem Tor warteten, auf daß sie wie früher schon einmal auf die Erde gerufen würden. Sie versprachen Ehre und Ruhm jenen, die ihnen dienten, und sie würden ihren Kampf um die Erde und alle Völker wieder aufnehmen und den Zorn der Älteren Götter auf sich herabziehen, während die arme, elende Menschheit ihr eigenes Schicksal besiegelte. Ich wußte genau wie Abel, daß ihre Diener die Auserwählten sind, die sie anbeten und ihnen Zuflucht verschaffen werden, die sie beherbergen und nähren werden, bis es soweit ist und das Tor wieder weit offensteht und ihnen tausend kleinere Tore auf der ganzen Welt aufgetan werden! Diese Vision kam und verging wie ein vorüberhuschendes Bild auf einer Leinwand; aus welcher Quelle sie gespeist wurde, kann ich unmöglich sagen. Sie war so kurz, so flüchtig, daß sie bereits vergangen war, als der dumpfe Aufprall des Buches auf dem Stapel neben dem Tisch noch zu hören war. Ich war erschüttert, denn ich wußte, daß diese Vision einerseits keinen Sinn ergab und andererseits für dieses Haus, das Tal und die ganze mir bekannte Welt von außerordentlicher Wichtigkeit war. Ich verließ das Haus und trat hinaus in die mittägliche Sonne, und unter ihren wohltuenden Strahlen verflog die quälende Vision. Ich sah
zurück zum Haus; es leuchtete weiß in der Sonne, und der Schatten einer Ulme lag auf ihm. Ich ging nach Südosten und lief an lange vernachlässigten Feldern und Weiden entlang zum Haus der Whateleys, das etwa eine Meile entfernt lag. Seth Whateley war der jüngere Bruder von Amos; sie hatten sich vor einigen Jahren zerstritten, wie ich in Aylesbury erfahren hatte
worüber,
wußte niemand. Nun sahen sie sich selten und sprachen kaum miteinander, obwohl sie nur zwei Meilen voneinander entfernt wohnten. Amos hatte sich den Whateleys aus Dunwich angenähert, »dem degenerierten Zweig einer der alteingesessenen Familien von Massachusetts«, wie die Leute in Aylesbury sagten. Der größte Teil des Weges führte über Hügel und dichtbewaldete Hänge sowie durch das Tal dahinter. Oft scheuchte ich Ziegenmelker auf, die sich mit lautlosen Schwingen erhoben, eine Weile kreisten und sich dann wieder im Gezweig oder auf dem Erdboden niederließen. Sie verschmolzen mit den Ästen, Stämmen und Blättern und starrten mich mit ihren kleinen, schwarzen Augen an. Hier und da sah ich Eier im Blattwerk. Die Hügel waren lebendig vor Ziegenmelkern. Ich fand es merkwürdig, daß es zehnmal mehr von diesen Tieren an den Hängen gab, die zum Harrop-Tal hin lagen, als auf der anderen Seite. Aber so war es. Als ich durch die aromatisch duftenden Maiwälder in das Tal der Whateleys hinunterging, verscheuchte ich nur einen einzigen Vogel, der nicht bloß aufflog und sich etwas entfernt wieder niederließ, um mich zu beobachten, sondern lautlos verschwand. Doch ich hatte damals noch nicht den Eindruck, daß die seltsame Aufmerksamkeit der Ziegenmelker an dem nahen Hang beängstigend sei. Ich sorgte mich darum, wie man mich im Haus der Whateleys aufnehmen mochte, und mußte bald feststellen, daß meine Sorgen nicht
unbegründet waren, denn Seth Whateley trat mir mit einem Gewehr bewaffnet gegenüber und bedachte mich mit steinernem Blick. »Se ham hier nix zu suchen«, sagte er, als ich mich näherte. Anscheinend hatte er gerade zu Mittag gegessen und war auf dem Rückweg zum Feld gewesen, als er mich sah. Er war ins Haus zurückgekehrt und hatte sein Gewehr geholt. Hinter ihm bemerkte ich seine Frau Emma und die drei Kinder, die an ihren Rockzipfeln hingen und mich mit angstvollen Augen ansahen. »Ich will Sie nicht belästigen«, beteuerte ich und versuchte meine Verärgerung über diese Wand aus Mißtrauen zu verbergen, die sich mir überall in den Weg stellte. »Aber ich will wissen, was mit meinem Vetter Abel passiert ist.« Bevor er antwortete, bedachte er mich erneut mit einem steinernen Blick. »Wir wissen gar nix. Wir schnüffeln nich in der Jejend rum. Was Ihr Vetter jetan hat, war seine eijene Sache, solange er uns nich in de Quere jekommen is . Auch wenn man an manches besser nich rührt«, fügte er düster hinzu. »Irgend jemand muß ihn mitgenommen haben, Mr. Whateley.« »Ja, mitjenommen. Dat sagen de Leute, sagt auch mein Bruder Amos. Mitjenommen, mit Leib un Seele. Wenn n Mann in Sachen rumschnüffelt, die er besser ruhen jelassen hätte, passiert halt sowat. Hier hat kein Mann de Hand nich jejen ihn erhoben.« »Ich werde auf alle Fälle herausfinden
«
Er hob drohend das Gewehr. »Aber nich hier. Ich hab Ihnen jesagt, dat wir gar nix wissen. Un dat stimmt auch. Ich will Se nich beleidijen, aber meine Frau is janz aus dem Häuschen. Dat dulde ich nich . Also jehn Se.« Seth Whateleys Worte waren roh, aber unmißverständlich. Genauso war es bei den Houghs; dort spürte ich sogar eine noch
größere Spannung in der Atmosphäre
es war nicht nur Angst, sondern
auch Haß. Sie waren höflicher, aber sehr bemüht darum, mich loszuwerden, und als ich schließlich ging, ohne auch nur ein einziges erhellendes Wort von ihnen gehört zu haben, war ich davon überzeugt, daß sie aus irgendeinem Grund den Tod von Laban Houghs Frau meinem Vetter zur Last legten. Dies ergab sich weniger aus dem, was gesagt wurde, als vielmehr aus dem, was nicht gesagt wurde; die Anklage lag in den unausgesprochenen Worten und lauerte hinter Augen und Zunge. Ich erinnerte mich, wie Hester Hutchins mit ihrer Kusine Flora über die Ziegenmelker gesprochen hatte, die angeblich die Seelen von Benji Wheeler, Schwester Hough und Annie Begbie beansprucht hatten, und wußte daher, daß die Ziegenmelker und mein Vetter Abel Harrop dem primitiven Aberglauben zufolge, der die sehr erdverbundenen und abgelegen lebenden Leute hier bei Tag und Nacht quälte, irgendwie miteinander in Verbindung standen, aber was für ein Band diese Ereignisse angeblich bildeten, konnte ich nicht einmal erraten. Es war offenkundig, daß mir diese Leute mit Angst und Abneigung oder sogar Abscheu
begegneten, so wie sie auch Abel gegenübergetreten
waren. Welchen Grund sie auch immer für ihre Angst vor Abel gehabt haben mochten, denselben Grund hielt ihr beschränktes Denkvermögen auch für mich bereit. Doch soweit ich mich an Abel erinnerte, war er sogar noch sensibler als ich gewesen, zwar etwas mürrisch von Natur aus, aber ausnehmend höflich, und weder Mensch noch Tier hatte er jemals etwas zuleide getan. Zweifellos nahm ihr Argwohn seinen Ursprung in jener Quelle dunklen Aberglaubens, den man so oft in abgelegenen Landstrichen beobachten kann und der jederzeit im Hintergrund lauert, um irgendwann wieder eine Salemer Hexenjagd zu entfachen und hilflose Opfer zu Tode zu hetzen, deren einziges Verbrechen Wissen war.
Es war in jener Nacht, der Nacht des Vollmondes, als unnennbares Grauen den Talkessel heimsuchte. Aber bevor ich erfuhr, was in jener Nacht im Talkessel geschah, hatte ich selbst eine schwere Prüfung zu bestehen. Sie begann, kurz nachdem ich von meinem letzten Besuch an diesem Nachmittag heimgekehrt war. Die Sonne war hinter dem westlichen Hügelkamm versunken, und ich aß gerade mein karges Abendmahl. Allmählich bedrängten mich seltsame Vorstellungen, und ich konnte mir den Gedanken einfach nicht aus dem Kopf schlagen, ich sei nicht allein in diesem Haus. Also ließ ich mein Abendessen stehen und durchsuchte das Gebäude, zuerst im Erdgeschoß und dann, nachdem ich mir eine Lampe geholt hatte, im ersten Stock, denn die Giebelfenster ließen nur wenig Licht ein. Die ganze Zeit über glaubte ich zu hören, wie jemand meinen Namen rief
jemand mit Abels Stimme, so wie sie geklungen hatte, als wir
Kinder waren und in diesem Haus zusammen spielten; damals lebte noch seine Familie hier. Ich entdeckte etwas in der Abstellkammer
etwas, das ich mir nicht
erklären konnte. Ich fand es durch Zufall, weil ich sah, daß eine der Fensterscheiben fehlte; das hatte ich zuvor nicht bemerkt. Der Raum war vollgestellt mit Kartons und ausgemusterten Kleinmöbeln; alles war säuberlich gestapelt, so daß noch immer genug Licht durch das einzelne Fenster in den Raum fiel. Als ich den Schaden entdeckte, ging ich hinüber zum Fenster. Ich drückte mich an einigen Schachteln vorbei und sah plötzlich, daß zwischen ihnen und dem Fenster ein kleiner Zwischenraum war
groß genug für einen Stuhl und für jemanden, der darauf sitzen
konnte. Tatsächlich stand hier ein Stuhl, der aber leer war
bis auf die
Kleider, die ich als die von Abel erkannte. Die Art, wie sie auf dem Stuhl lagen, verursachte mir eine Gänsehaut, obwohl ich nicht wußte, was mich
daran so ängstigte. Die Kleidung lag auf höchst eigentümliche Weise dort. Es machte nicht den Eindruck, als ob sie jemand abgelegt hätte; ich glaube nicht, daß jemand Kleidung auf diese Art auslegen kann. Ich sah sie immer wieder an. Es sah so aus, als ob jemand hier gesessen und dann aus seinen Kleidern herausgesaugt worden sei, während sie zusammenfielen, weil nichts mehr in ihnen steckte. Ich stellte die Lampe ab und berührte die Kleider. Sie waren nicht im mindesten verstaubt; also lagen sie noch nicht lange hier. Ich fragte mich, ob die Polizisten sie bemerkt hatten, auch wenn sie vermutlich nicht mehr damit hätten anfangen können als ich selbst. Ich rührte die Kleidung nicht länger an und nahm mir vor, am nächsten Tag den Sheriff davon in Kenntnis zu setzen. Aber aus dem einen oder anderen Grund und vor allem wegen der folgenden Ereignisse im Talkessel vergaß ich es. Die Kleider liegen noch da
genauso zusammengesunken, wie ich
sie in jener Vollmondnacht im Mai vor dem Fenster der Abstellkammer gefunden hatte. Ich schreibe dies hier und jetzt nieder, weil es ein Beweis für meine Behauptungen ist und sich den schrecklichen Zweifeln von allen Seiten entgegenstemmt. In
jener
Nacht
riefen
die
Ziegenmelker
mit
wahnsinniger
Beharrlichkeit. Ich hörte sie, als ich noch in der Abstellkammer war; sie riefen aus den dunkel bewaldeten Hängen, aus denen das Tageslicht verschwunden war, doch tief im Westen war die Sonne noch nicht ganz untergegangen. Der Talkessel lag bereits in blauem Zwielicht, aber draußen schien noch die Sonne auf die Straße, die Arkham mit Aylesbury verbindet. Es war früh für die Ziegenmelker, sehr früh, früher als je zuvor. Ich war verärgert über die dumme, abergläubische Furcht, die all meine Bemühungen während des
Tages vereitelt hatte, und wußte, daß ich eine weitere schlaflose Nacht nicht durchstehen würde. Aber bald waren die Rufe und Schreie überall. Wippurwill! Wippurwill! Wippurwill! Nichts außer diesem eintönigen Schreien und Krächzen, diesem andauernden Wippurwill! Wippurwill! Es drückte sich von den Hügeln hinab in das Tal, es erhob sich in die monderhellte Nacht, als die Vögel das Haus in einem großen Kreis umgaben, bis es mit eigener Stimme ihre Rufe zurückzuwerfen schien
als ob jeder Balken, jeder
Träger, jeder Nagel und Stein, jede Planke und Schindel das von draußen hereindonnernde schreckliche und wahnsinnige Wippurwill! Wippurwill! Wippurwill zu beantworten schien, das sich in einem kakophonen Chor erhob, der in mein Innerstes eindrang und es auseinanderriß. Gegen acht Uhr abends hielt ich es nicht mehr aus; ich mußte etwas unternehmen. Ich trug keine Waffe bei mir, und das Gewehr meines Vetters war vom Sheriff beschlagnahmt worden und befand sich im Gerichtsgebäude von Aylesbury, doch ich fand eine massive Keule unter dem Sofa, das mir als Bett diente. Offenbar gehörte sie meinem Vetter, der sie in Reichweite hatte haben wollen, wenn er nachts aufwachte. Ich beschloß, hinauszugehen und so viele Ziegenmelker wie möglich zu erschlagen. Vielleicht trieb sie das von hier fort. Ich hatte nicht vor, tief in die Nacht hineinzugehen, deshalb ließ ich die Lampe brennend im Arbeitszimmer zurück. Bei meinem ersten Schritt nach draußen flogen die Ziegenmelker auf und stoben fort von mir. Doch meine angestaute Wut trieb mich voran; ich rannte zwischen sie und schwang wild die Keule, während sie lautlos aufstiegen. Einige waren nun still, doch die meisten hatten ihr schreckliches Rufen noch nicht eingestellt. Ich verfolgte sie durch den ganzen Hof, die Straße entlang und bis in die Wälder, hin und her. Ich lief
weit; wie weit, weiß ich nicht, und ich tötete viele, bevor ich schließlich erschöpft zum Haus zurücktaumelte. Ich hatte gerade noch genug Kraft, um die stark heruntergebrannte Lampe im Arbeitszimmer zu löschen und auf das Sofa zu fallen. Bevor die Ziegenmelker, die mir entkommen waren, sich wieder dem Haus genähert hatten, war ich bereits in tiefen Schlaf gefallen. Weil ich nicht weiß, wie spät es war, als ich das Haus wieder betrat, kann ich nicht sagen, wie lange ich geschlafen hatte, als mich das Telefon aufweckte. Obwohl die Sonne bereits aufging, war es erst halb sechs. Ich lief hinaus zum Telefon in die Küche, wie ich es inzwischen immer tat, und nahm den Hörer ab. Auf diese Weise erfuhr ich von dem herannahenden Schrecken. »Miss Wheeler, hier is Emma Whateley. Harn Se s schon jehört?« »Nee, Miss Whateley, ich hab noch nix gehört.« »Himmel! Et is so schrecklich. Et is Bert Giles. Er is tot. Se ham ihn kurz nach Mitternacht jefunden, wo de Straße über Giles Bach läuft, bei der Brücke. Lute Corey hat ihn jefunden, un et heißt, er hätt nen Schrei ausjestoßen, der Lern Giles aufjeweckt hat, un da hat er et jewußt. Seine Mama hat Bert jebeten, nich nach Arkham zu jehen, aber er wollte nun mal. Se wissen ja, wie de Gileses sin . Anscheinend wollt er mit den Baxter-Männern jehn, die wo auf Osborns Farm arbeiten, unjefähr drei Meilen von den Gileses entfernt, un er wollte zu ihnen jehn, so daß er zusammen mit ihnen fahren kann. Keine Ahnung, wat ihn jetötet hat, aber Seth, der wo hier war heut morgen, hat jesagt, dat seine Kehle aufjerissen war un de Pulsadern auch und de Klamotten nur noch Fetzen. Un dat is noch nich alles, auch wenn et dat schlimmste war. Als Seth dastand, kam Curtis Begbie anjerannt un hat jesagt, dat vier von Coreys Kühen, die in der Nacht auf der Weide warn, tot sin un janz zerfleischt
so wie der
arme Bert!« »Oh Jott!« wimmerte Mrs. Wheeler erschüttert. »Wer wird der Nächste sein?« »Der Sheriff sagt, es is wohl n wildes Tier, aber et jibt keine Spuren. Sie sin de janze Zeit da draußen un suchen, seit se et jehört haben, un Seth sagt, se haben nich viel jefunden.« »Dat is ja schlimmer, als wenn Abel noch hier wär!« »Ich hab ja immer jesagt, dat der Abel nit der schlimmste is . Ich habet jewußt. Ich kenn ein paar von Seths Leuten
diesen Wilbur un den
alten Whateley , un die sin noch schlimmer als so einer wie Abel Harrop. Ich habet jewußt, Miss Wheeler. Un da jibt et noch annere in Dunwich
de Whateleys sin nich de einzijen.«
»Aber wenn et nich Abel war
«
»Un Seth sagt, als er da jestanden is un den armen Bert Giles anjesehen hat, is Amos jekommen
Amos, der in zehn Jahrn kaum zehn
Worte mit Seth jesprochen hat. Er hat sich dat janze anjesehn un wat jemurmelt. Seth sagt, er hat jesagt: Der verdammte Idiot hat de Worte jesagt! oder sowat. Un Seth dreht sich zu ihm um un sagt: Wat sagste, Amos? Un Amos sieht ihn an un sagt: Et jibt nix Schlimmeres als nen Idioten, der nit weiß, wat er tut! « »Dieser Amos Whateley war schon immer n schlechter Kerl, Miss Whateley. Dat is Tatsache, un et macht nix aus, ob Se mit ihm verwandt sin oder nich .« »Dat weiß keiner besser als ich selbs , Mis Wheeler.« Inzwischen beteiligten sich auch andere Frauen an der Unterhaltung und meldeten sich mit Namen. Mrs. Osborne sagte, daß die Baxters nicht mehr hatten warten wollen, weil sie glaubten, Bert habe es sich anders überlegt, und seien nach Arkham gefahren. Sie waren gegen elf Uhr
dreißig zurückgekommen. Hester Hutchins prophezeite, daß »dat nur der Anfang is . Dat hat Amos jesagt.« Vinnie Hough schrie hysterisch, daß sie die Kinder, ihre Nichte und ihren Neffen nehmen und nach Bosten fliehen wolle, bis »der Teufel anderswo sein Zelt aufschlägt«. Erst als Hester Hutchins den anderen entsetzt erzählte, daß Jesse Trumbull sie besucht und gesagt habe, alles Blut sei aus dem Körper von Bert Giles und auch aus den vier Kühen gesaugt worden, legte ich auf. Ich sah deutlich, wie aus wenigen Fakten eine abergläubische Legende gebildet wurde. Den ganzen Tag über kamen mir verschiedene Berichte zu Ohren. Am Mittag schaute der Sheriff herein und wollte wissen, ob ich in der Nacht etwas gehört habe. Ich sagte ihm, daß ich wegen der Ziegenmelker nichts hatte hören können. Da auch alle anderen die Ziegenmelker erwähnt hatten, war er darüber nicht erstaunt. Er sagte, Jethro Corey sei in der Nacht aufgewacht und habe die Kühe muhen hören, doch bevor er sich anziehen und hinausgehen konnte, waren sie verstummt. Also hatte er angenommen, daß ein wildes Tier auf der Weide sie aufgeschreckt habe in den Bergen wimmelt es von Füchsen und Waschbären
, und war
wieder ins Bett gegangen. Mamie Whateley hatte jemanden schreien gehört; sie war sicher, daß es Bert war, doch da sie erst etwas darüber sagte, nachdem sie alle Einzelheiten über den Todesfall erfahren hatte, war es vielleicht nur ein nachträglicher Einfall
ein pathetischer Versuch, ein
wenig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nachdem der Sheriff gegangen war, besuchte mich einer seiner Untergebenen. Er war offenbar sehr in Sorge, denn das Unvermögen, das Rätsel um das Verschwindens meines Vetters zu lösen, stellte bereits einen Fleck auf der weißen Weste der hiesigen Polizei dar, und dieses neue Verbrechen brachte ihnen möglicherweise noch mehr Schimpf und
Schande ein. Abgesehen von diesen Besuchen und dem ständigen Telefonklingeln wurde ich den ganzen Tag hindurch nicht gestört, und es gelang mir, im Vorgriff auf die nächste wegen der Ziegenmelker durchzuwachenen Nacht etwas zu schlafen. Seltsamerweise
taten
mir
die
Ziegenmelker
trotz
ihres
verdammungswürdigen Gekreisches in jener Nacht einen guten Dienst. Ich war erstaunlicherweise trotz ihrer Rufe eingenickt und hatte etwa zwei Stunden geschlafen, als ich plötzlich aufwachte. Zuerst glaubte ich, die Morgendämmerung sei angebrochen, doch so war es nicht. Was mich aufgeweckt hatte, waren das Schweigen der Vögel und die daraufhin einsetzende Stille. Dieses merkwürdige und beispiellose Ereignis machte mich vollends wach. Ich stand auf, zog meine Hose an, ging zum Fenster und schaute hinaus. Ich sah, wie ein Mann vom Hof lief
ein großer Mann. Sofort dachte
ich daran, was mit Albert Giles in der letzten Nacht passiert war, und eine plötzliche Angst ergriff von mir Besitz, denn ein großer Mann könnte die nächtlichen Verwüstungen durchaus angerichtet haben. Ein großer Mann und gleichzeitig ein mörderischer Wahnsinniger. Aber ich wußte, daß es im Tal nur einen Mann gab, der so groß war: Amos Whateley. In der Richtung, in welche er im Mondlicht verschwunden war, lag das Anwesen der Hutchins, wo er arbeitete. Ich verspürte den Drang, ihm nachzulaufen und ihn zur Rede zu stellen, doch ich bezwang mich, als ich etwas am Rande
meines
Blickfeldes
sah:
ein
plötzliches,
unregelmäßiges
orangefarbenes Glimmen. Ich stieß das Fenster auf und streckte den Hals vor. An einer Ecke brannte das Haus! Da ich keine Zeit verlor und bereits ein voller Eimer unter der Pumpe stand, konnte ich das Feuer löschen, bevor es großen Schaden anrichtete. Es war zweifellos gelegt worden, und zwar von Amos Whateley, und wenn
die Ziegenmelker nicht plötzlich still gewesen wären, hätte ich mein Ende in einer Brandkatastrophe finden können. Ich war erschüttert, denn was hatte ich noch von meinen Nachbarn zu erwarten, wenn sie mir derart feindlich gesonnen waren und mich unbedingt aus dem Haus meines Vetters vertreiben wollten? Doch Widerstand hatte mich schon immer angestachelt, und so war es auch jetzt wieder. Wenn meine Suche nach den Gründen für das Verschwinden meines Vetters die Bewohner der Umgegend derart aufschreckte, wußten sie eindeutig weitaus mehr, als sie mir sagen wollten. Ich ging wieder zu Bett und entschied, Amos Whateley am nächsten Tag zur Rede zu stellen, falls ich ihn irgendwo auf den Feldern antraf und wir uns unterhalten konnten, ohne daß jemand mithörte. Am nächsten Morgen machte ich mich auf die Suche nach Amos Whateley. Er arbeitete auf jenem Feld hoch oben in den Hügeln, wo ich ihn schon einmal angetroffen hatte, doch diesmal kam er mir nicht entgegen. Er hielt die Pferde an, stand da und beobachtete mich. Als ich mich der steinernen Umfriedungsmauer näherte, erkannte ich den Ausdruck von Besorgnis und Trotz in seinem bärtigen Gesicht. Er bewegte sich nicht, drückte nur seinen zerknitterten Filzhut tiefer in den Nacken, die Lippen waren zu einer dünnen, reglosen Linie zusammengepreßt, die Augen blinzelten wachsam. Da er sich nicht weit von der Einfriedung befand, blieb ich am Rande des Waldes stehen. »Whateley, ich habe gesehen, wie Sie letzte Nacht mein Haus in Brand gesetzt haben«, rief ich. »Warum?« Es kam keine Antwort. »Na los! Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden. Ich könnte genausogut nach Aylesbury gehen und mit dem Sheriff sprechen.« »Se lesen die Bücher«, spuckte er krächzend aus. »Hab Ihnen jesagt,
Se sollen dat nich tun. Se ham die Stelle laut jelesn. Dat hab ich jewußt. Se ham dat Tor jeöffnet, un die von da draußen können kommen. War nich janz so wie bei Ihrem Vetter. Der hat se jerufn un se sin jekommen, aber er hat nich jemacht, wat se wollten. Also ham se ihn mitgenommen. Er hatte keine Ahnung nich , un Sie auch nich , un jetz sitzen se jenau in dieser Minute in diesem Tal un keiner weiß, wat als nächstes passiern wird.« Ich brauchte eine Weile, um einen Sinn aus diesem Geschwätz herauszulesen, und selbst dieser Sinn hatte nichts mit Logik zu tun. Anscheinend wollte Amos andeuten, daß ich eine bestimmte Macht oder ein Wesen von »draußen« in das Tal eingeladen hatte, indem ich eine Stelle in dem Buch laut gelesen hatte, welches die letzte Lektüre meines Vetters gewesen war. Das war zweifellos ein wesentlicher Teil des hiesigen Aberglaubens. »Ich habe hier in der Gegend keine Fremden gesehen«, sagte ich schroff. »Man sieht se nich immer. Vetter Wilbur sagt, se können jede Jestalt annehmen, wat se wolln, un se könn n in dich reinkriechen un durch deinen Mund essen un durch deine Augen sehn, un wenn de nit den Schutz has , könn n se dich mitnehmen wie den Abel. Se können se nich sehn«, fuhr er fort, wobei er die Worte fast herausschrie, »weil se in dieser Minute in Ihnen drin sin !« Ich wartete darauf, daß sich seine Hysterie etwas legte. »Und was essen diese Wesen?« fragte ich ruhig. »Dat wissen Se doch!« schrie er heftig. »Blut un Seelen! Blut, damit se wachs n, un Seelen, damit se wie de Menschen werden. Lachen Se, wenn se wollen, aber se müßten s eijentlich wissen. De Ziejenmelker wissen s janz jenau. Darum singen se dauernd und schrein bei Ihrem
Haus.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. Doch seine Ernsthaftigkeit stand außer Frage und bewirkte schließlich, daß mir das Lachen im Halse steckenblieb. »Aber das erklärt nicht, warum Sie mein Haus in Flammen setzen wollten
und mich ebenfalls, wenn ich mich nicht irre.«
»Ich wollte Ihnen nix tun, aber ich wollte, dat Se abhaun. Wenn Se kein Haus mehr ham, können Se nit bleiben.« »Denken die anderen genauso?« »De meisten, ja«, sagte er, und ein Funken Stolz glomm durch seinen besorgten Trotz. »Mein Opa hatte de Bücher un hat mir ne Menge jesagt, un Vetter Wilbur wußte et auch, un ich weiß ne Menge Sachen, die wo der Rest nit weiß, über dat, wat da abjeht den Himmel, »
oder da unten
« er zeigte mit einer Hand in
« er deutete auf den Boden, »
aber de
meisten wissen nix, un dat is auch jut so, damit se keine Angst nich ham. Nur halbes Wissen is nix. Se hätten de Bücher verbrenn n solln, Mr. Harrop. Hab s Ihnen schon mal jesagt. Jetz isset zu spät.« Ich suchte vergeblich in seinem Gesicht nach einem Anzeichen dafür, daß er mich verkohlte, doch er meinte es vollkommen ehrlich und schien sogar ein wenig zu bedauern, daß er mich jenem namenlosen Schicksal überlassen mußte, welches er für mich vorhersah. Einen Augenblick lang war ich unsicher, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Man kann den Versuch, einem das Haus über dem Kopf anzuzünden, nicht einfach ignorieren. »Nun gut, Amos. Ihr Wissen ist Ihre persönliche Angelegenheit. Aber ich weiß, daß Sie mein Haus in Brand gesteckt haben, und das kann ich nicht hinnehmen. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie das in Ordnung bringen. Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie zu mir und reparieren den Schaden.
Falls Sie das tun, werde ich dem Sheriff nichts davon sagen.« »Sons nix?« »Was soll denn sonst noch sein?« »Wenn Sie et nit wissen
« Er zuckte die Achseln. »Ich komm so
schnell wie möglich zu Ihnen.« Auch wenn sein Geschwätz lächerlich war, hatte es mich doch aus der Fassung gebracht, vor allem weil eine verrückte Logik dahintersteckte. Als ich durch den Wald zurück zum Haus meines Vetters ging, dachte ich, daß allerdings hinter jedem Aberglauben eine solche verdrehte Logik steht, welche seine Langlebigkeit durch die Generationen erklärt. Außerdem hatte Amos Whateley eindeutig Angst gehabt, die man nur mit seinem Aberglauben erklären konnte, denn Whateley war ein kräftiger Mann, der mich mit nur einem Arm über den Steinwall zwischen uns hätte schleudern können. Und in Whateleys Haltung lag etwas unsagbar Verwirrendes. Ich wünschte mir, den Schlüssel dazu zu besitzen.
3
Nun komme ich zu jenem Teil meiner Erzählung, der unglücklicherweise verschwommen bleiben muß, denn ich bin mir der genauen Abfolge und Bedeutung der Ereignisse nicht sicher. Whateleys Geplapper hatte mich verwirrt, und ich ging sofort zurück zum Haus meines Vetters und widmete mich den seltsamen alten Büchern, aus denen seine Bibliothek bestand. Ich suchte weitere Hinweise auf Whateleys seltsamen Glauben, doch sobald ich eines dieser Bücher aufgeschlagen hatte, erfüllte mich wieder die unerschütterliche Überzeugung, daß diese Suche sinnlos sei, denn was bringt es, etwas zu lesen, das man bereits kennt? Mir war, als sehe ich erneut jene seltsame Landschaft mit den titanischen, amorphen Wesen und als höre ich wieder die fremden, gesungenen Namen, die eine schreckliche Macht andeuteten und von Flötenmusik begleitet wurden, und dazu einen Choral, vorgetragen von nichtmenschlichen Kehlen. Diese Vision dauerte nur einen kurzen Augenblick; sie war gerade lang genug, um mich von meinem Vorhaben abzulenken. Ich untersuchte die Bücher meines Vetters nicht weiter, sondern machte nach einem leichten Mittagessen einen weiteren Versuch, das Verschwinden meines Vetters aufzuklären. Ich hatte so wenig Erfolg, daß ich es am späten Nachmittag aufgab und zweifelnd zum Haus zurückkehrte. Ich war mir nicht mehr sicher, daß die Polizisten nicht alles in ihrer Macht Stehende getan hatten, um auf Abels Spur zu kommen. Auch wenn meine Entschlossenheit nicht wankte, hatte ich zum ersten Mal schwere Zweifel an meiner Fähigkeit, den Fall aufzuklären. In jener Nacht hörte ich wieder seltsame Stimmen. Vielleicht sollte ich
nicht »seltsam« sagen, denn ich hatte sie zuvor schon gehört; sie waren unidentifizierbar und fremdartig, und ihr Ursprung war mir wieder einmal ein Rätsel. Aber in jener Nacht waren die Ziegenmelker lauter denn je; ihre Schreie durchstachen das Haus und den Talkessel. Die fremdartigen Stimmen erklangen etwa um neun Uhr abends. Es war bewölkt; graue Wolkenbänke drückten auf die Hügel und das Tal, und die Luft war feucht. Diese Feuchtigkeit verstärkte das Geschrei der Ziegenmelker und die seltsamen Stimmen, die ohne Vorwarnung plötzlich einsetzten, so wie es schon einmal geschehen war. Sie waren unheimlich, unbegreiflich, seltsam und noch vieles mehr
sie widersetzten sich jeder Beschreibung. Erneut
wirkten sie wie eine Litanei; der Chor der Ziegenmelker schwoll wie zur Antwort auf jeden gesungenen Satz an; es war eine unerträgliche Kakophonie, die sich zu erschreckender Intensität verdichtete. Eine Weile versuchte ich, die im Raum pulsierenden fremdartigen Stimmen zu verstehen, aber sie waren nicht deutlich genug. Es schien sinnloses Geplapper zu sein, aber ich hatte trotzdem den Eindruck, daß es eine Bedeutung besaß, die meine Verstandesfähigkeit bei weitem überstieg. Es war mir inzwischen egal, woher die Stimmen kamen; ich wußte, daß sie irgendwo innerhalb des Hauses ihren Ursprung hatten, doch ich fand nicht heraus, ob sie durch ein natürliches Phänomen oder durch andere Einwirkungen entstanden. Sie waren das Erzeugnis der Dunkelheit; ich konnte die Möglichkeit nicht leugnen, daß sie in meinem Bewußtsein entstanden, welches die dämonischen Schreie der Ziegenmelker zutiefst verstörte. Die Vögel erfüllten Tal und Haus und Verstand mit ihrem schrecklichen Tollhauslärm
mit dem andauernden, schrillen Wippurwill!
Wippurwill! Wippurwill! Ich lag wie gelähmt da und lauschte: »Lllllll-nglui, nnnn-lagl, fthagnnbah, ai Yog-Sothoth!«
Die Ziegenmelker antworteten in einem rollenden Crescendo, das auf das Haus zuströmte, gegen es donnerte, in es eindrang, und die Berge warfen das Echo zurück, das nur wenig schwächer gegen meinen Verstand anbrandete. » Ygnaiih! Y bthnk! EEE-ya-ya-ya-yahaaahaahaahaaa!« Und wieder der explodierende Lärm, das unablässige Wippurwill! Wippurwill! Wippurwill!, das durch die Nacht und die wolkenverhangene Dunkelheit peitschte wie das Donnern von tausend und abertausend wilden Trommeln! Zum Glück verlor ich das Bewußtsein. Der menschliche Körper und Geist kann nur ein gewisses Maß ertragen, bevor das Vergessen kommt, und mit dem Vergessen kam in jener Nacht ein Traumgebilde von unaussprechlicher Macht und Furchtbarkeit. Ich träumte, ich befinde mich an einem fernen Ort, an einem Ort mit gewaltigen monolithischen Gebäuden, die nicht von Menschen, sondern von Wesen bewohnt wurden, die weit jenseits der wildesten Phantasie existieren. Das Land war mit großen, unbekannten Farnbäumen bestanden, mit Kalamus und Sigillaria, welche die phantastischen Bauwerke umgaben, und es gab furchterregende Wälder aus Bäumen und anderen Gewächsen, die zu keinem bekannten Ort auf Erden gehörten. Hier und dort erhoben sich Kolosse aus schwarzem Stein an Orten, in denen ewiges Zwielicht herrschte, und in einigen Gegenden gab es Basaltruinen von unglaublichem Alter. An diesen nachterstickten Orten glichen die Sternkonstellationen nichts, was ich je gesehen hatte, so wie der Topographie des Landes an jenen Orten nichts ähnlich kam, was ich kannte
außer den Vorstellungen einiger Künstler von der Erde in
prähistorischer Zeit weit vor dem Paläozoikum. Was die Wesen angeht, welche diesen Traum bevölkerten, so weiß ich
nur noch, daß sie keine feste Form besaßen, gigantisch groß waren und tentakelähnliche Auswüchse hatten, mit denen sie sich fortbewegten und Dinge ergreifen und festhalten konnten; außerdem waren diese Auswüchse in der Lage, sich zurückzubilden und an anderer Stelle wieder hervorzuschießen. Das waren die Bewohner der monolithischen Gebäude; viele von ihnen waren schlaftrunken und wurden von fötusartigen, weitaus kleineren Wesen umsorgt, die ebenfalls die Form ändern konnten. Sie hatten eine schreckliche, pilzgraue Farbe, die keineswegs wie Fleisch aussah; darin ähnelten sie der Farbe vieler Gebäude, und manchmal wechselten sie auf schreckliche Art ihre Gestalt, als ob sie die Steinmetzarbeiten nachahmen wollten, die in einigen Teilen jener Traumwelt weit verbreitet waren. Das Singen und Kreischen der Ziegenmelker bildete seltsamerweise einen wesentlichen Teil des Traums; es hob und senkte sich im Hintergrund wie in weiter Ferne. Auch ich selbst schien an diesem merkwürdigen Ort zu existieren, aber auf einer anderen Ebene, so als wäre ich einer der Diener der Großen Alten und streiche durch die fremdartigen Wälder, erlege wilde Tiere und öffne ihre Adern, damit sich die Großen Alten nähren und aus den Dimensionen ihrer schrecklichen Welt herauswachsen konnten. Wie lange dieser Traum dauerte, weiß ich nicht. Ich schlief die ganze Nacht und war am Morgen doch unverhältnismäßig müde, so als ob ich den größten Teil der Nacht gearbeitet und nur wenig Schlaf bekommen hätte. Ich schleppte mich müde in die Küche, briet mir etwas Speck und Eier und setzte mich lustlos an den Tisch. Doch das Frühstück und einige Tassen schwarzer Kaffee verhalfen mir zu neuem Leben, und ich stand erfrischt auf. Gerade als ich draußen war und Holz holen wollte, schellte das Telefon. Es war Houghs Klingeln, und ich eilte hinein und hörte zu.
Sofort erkannte ich Hester Houghs Stimme; ihr Gerede ohne Punkt und Komma war mir inzwischen vertraut. »Et heißt, dat sechs oder sieben jetötet worden sin . De besten Kühe in der Herde, sagt Mr. Osborn. Se waren da hinten im Süden
dat is de nächste Weide an Harrops Talkessel.
Jott weiß, wie viele andere et erwischt hätt , wenn der Rest der Herde nich den Zaun niederjetrampelt hätt un in den Stall jelaufen wär . Un deshalb is Osborns Tagelöhner Andy Baxter zur Weide jelaufen mit ner Laterne un hat de Bescherung jesehn. So wie bei Coreys Kühen un beim armen Bert Giles
de Kehlen rausjerissen un de armen Tiere janz schrecklich
zerschunden! Jott weiß, wat im Talkessel umjeht, Vinnie, aber et muß wat jeschehn, oder wir sterben alle. Ich hab jewußt, dat de Ziejenmelker nach ner Seele schreien, un se ham die vom armen Bert jekriegt. Se rufen immer noch un ich weiß, wat dat bedeutet, un du auch, Vinnie Hough et werden noch mehr Seelen zu den Ziejenmelkern kommen, bevor et nochmal Vollmond wird.« »Jott sei uns jnädig! Ich hau ab nach Boston, sobald et jeht.« Ich wußte, daß der Sheriff heute wieder vorbeischauen würde, und war bereit für ihn, als er kam. Gehört hatte ich nichts; ich erklärte, ich sei von der Nacht davor so erschöpft gewesen, daß ich trotz der lärmenden Ziegenmelker hatte schlafen können. Er berichtete mir, was mit Osborns Kühen geschehen war. Sieben waren abgeschlachtet worden. Seltsam war, daß keine Kuh stark geblutet hatte, obwohl ihnen doch die Kehle aufgeschlitzt worden war. Obgleich es auf den ersten Blick wie der Angriff eines Tieres aussah, mußte es doch ein Mensch gewesen sein, denn es gab Reste von Fußspuren, die unglücklicherweise zu unvollständig waren, um sie identifizieren zu können. Er sagte mir jedoch im Vertrauen, einer seiner Männer habe schon seit einiger Zeit Amos Whateley in Verdacht. Amos hatte sehr seltsame Bemerkungen gemacht, und seine Handlungen waren
die eines Mannes, der sich verfolgt oder beobachtet fühlt. Der Sheriff war müde, denn er war ununterbrochen auf den Beinen, seit man ihn zu Osborns Gehöft gerufen hatte. Er fragte mich, was ich über Whateley wisse. Ich schüttelte den Kopf und gestand, daß ich zu wenig über meine Nachbarn wußte. »Aber mir ist sein seltsames Gerede nicht entgangen«, gestand ich. »Jedesmal, wenn ich ihn getroffen habe, hat er sehr merkwürdige Dinge gesagt.« Der Sheriff beugte sich mir eifrig entgegen. »Hat er irgendwann einmal etwas darüber gesagt, jemanden an etwas zu verfüttern?« Ich gab zu, daß dem so gewesen war. Der Sheriff schien zufrieden zu sein. Er verließ mich, nachdem er mich indirekt für auffallende Erfolglosigkeit bei meinen Bemühungen um die Enträtselung von Abel Harrops Schicksal getadelt hatte. Sein gegen Amos Whateley gerichteter Verdacht verwunderte mich nicht. Doch etwas in mir widersprach der Theorie des Sheriffs. Eine gewisse Unruhe verblieb in mir eine nagende Erinnerung an etwas unvollendet Gebliebenes. Während des ganzen Tages verließ mich die Erschöpfung nicht, und ich arbeitete nur wenig, obwohl es nötig war, einen Teil meiner Kleidung zu waschen, denn sie war irgendwie rostfleckig geworden. Ich nahm mir auch die Zeit, die Arbeit meines Vetters an den Fischernetzen zu begutachten. Anscheinend hatte er damit etwas fangen wollen
was sonst
als die Ziegenmelker, die ihn sicherlich immer wieder bis an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten? Vielleicht aber war er mit ihren Gewohnheiten vertrauter als ich und hatte einen noch besseren Grund als ihr andauerndes Schreien, um sie zu fangen. Ich schlief während des Tages, wann immer es möglich war, und von Zeit zu Zeit lauschte ich dem Strom der ängstlichen Gespräche am
Telefon. Sie fanden kein Ende; das Telefon schellte den ganzen Tag über. Manchmal redeten jetzt auch die Männer miteinander und manchmal die Frauen, die bisher die Leitung allein für sich beansprucht hatten. Sie sprachen darüber, die Herden zu vereinigen und eine Wache aufzustellen, doch jeder hatte Angst und wollte nicht allein Wache stehen; sie redeten davon, die Kühe über Nacht im Stall zu lassen, und schließlich entschieden sie sich für diesen Vorschlag. Die Frauen wollten nicht, daß irgend jemand aus welchem Grund auch immer nach Einbruch der Dunkelheit hinausging. »Am Tag kommt et nit«, beharrte Emma Whateley gegenüber Marie Osborn. »Am Tag is noch nie was passiert. Also sollte jeder zu Hause blei m, wenn de Sonne hinter den Hügeln versinkt.« Lavinia Hough war mit den Kindern nach Boston geflohen, so wie sie es angekündigt hatte. »Auf un davon mit den Kindern un hat Laban zurückjelassen«, sagte Hester Hutchins. »Aber er is nich allein; er hat nen Mann aus Arkham bei sich. Is dat alles schrecklich! Dat ist ein Strafjericht Jottes, un dat Schlimmste is , dat keiner weiß, wie et aussieht un woher et kommt.« Und all die abergläubischen Theorien über das Ausbluten der Kühe wurden wiederholt. »Man sagt, dat de Kühe nit viel jeblutet ham. Weißte warum? Weil se jar kein Blut mehr hatten«, sagte Angeline Wheeler. »Oh Jott, wat wird noch aus uns? Wir können doch nit hier sitzen un warten, bis wir alle umjebracht werden.« Diese angstvollen Gespräche waren so etwas wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit; das Telefon gab sowohl den Männern als auch den Frauen das Gefühl, nicht allein zu sein. Daß niemand mich anrief, machte mir nichts aus. Ich war ein Außenseiter, und Fremde wie ich werden frühestens nach zehn Jahren in dörfliche Gemeinschaften wie die meiner Nachbarn
aufgenommen
wenn überhaupt. Gegen Abend lauschte ich nicht mehr am
Telefon; ich war noch immer sehr müde. In der nächsten Nacht kam nur eine der Stimmen zurück. Und auch der Traum kehrte wieder. Erneut befand ich mich an jenem gewaltigen Ort mit den seltsamen Basaltgebäuden und den schrecklichen Waldgewächsen. Und ich wußte, daß ich an diesem Ort ein Auserwählter war, ein stolzer Diener der Großen Alten, und daß ich zu dem größten von allen gehörte, der wie die anderen und gleichzeitig doch nicht wie sie war jener, der allein die Gestalt von Massen leuchtender Globen annehmen konnte, der Wächter der Schwelle, der Wächter des Tores, der Große YogSothoth, der auf die Rückkehr in seine frühere irdische Heimat wartet, wo ich ihm weiterhin dienen werde. Oh welches Wunder, welches Grauen! Oh welch ewiger Segen! Und ich hörte die Ziegenmelker rufen; ihre Stimmen stiegen und fielen im Hintergrund, während die Sänger unter den fremden Sternen, unter dem fremden Himmel und in die verhüllten Gipfel und Täler schrien: »Lllllll-nglui, nnn-lagl, fthagn-nbah, ai Yog Sothoth!« Und auch ich erhob die Stimme, um Ihn zu preisen, den Wartenden auf der Schwelle
»Lllllll-nglui, nnn-lagl, fthagn-nbah, ai Yog Sothoth!«
Das habe ich angeblich gerufen, als sie mich fanden, wie ich neben dem Körper der armen Amelia Hutchins hockte und ihr die Kehle herausriß. Die hilflose Frau war auf ihrem Rückweg über den Hügelkamm von einem Besuch bei Abbey Giles niedergeschlagen worden. Das habe ich angeblich in meiner tierischen Raserei gebrüllt, während die Ziegenmelker in der Nähe mit ihren wahnsinnig machenden Stimmen krächzten und kreischten. Und deshalb haben sie mich in dieses Zimmer mit dem vergitterten Fenster eingesperrt. Oh diese Narren! Diese Narren! Bei Abel haben sie versagt, und nun greifen sie nach jedem Strohhalm. Glauben sie etwa, sie können
einen Auserwählten von IHNEN fernhalten? Was sind denn schon Gitterstäbe für SIE? Sie versuchen, mir Angst einzujagen, indem sie mir sagen, ich hätte diese Dinge getan. Ich habe nie die Hand gegen ein menschliches Wesen erhoben. Ich habe ihnen gesagt, wie es war, aber sie wollen nicht begreifen. Ich habe es ihnen gesagt. Das war nicht ich. Niemals! Nein, ich weiß, wer es war. Ich glaube, ich habe es immer gewußt, und wenn sie nachsehen, werden sie den Beweis dafür finden. Es waren die Ziegenmelker, die unablässig rufenden Ziegenmelker, die verdammten, lauernden Ziegenmelker, die dort draußen warten Ziegenmelker, die Ziegenmelker in den Bergen
die
Etwas aus Holz Es ist ein Glück, daß der begrenzte menschliche Verstand es uns nicht oft erlaubt, die wahre Natur der Dinge und Ereignisse zu erkennen, mit denen er sich beschäftigt. Das habe ich häufig gedacht, besonders angesichts der seltsamen Umstände, welche das Verschwinden von Jason Wecter, dem Musiker und Kunstkritiker des Bostoner Dial, begleiteten, das sich vor einem Jahr ereignete und Anlaß zu vielen Spekulationen gab, die vom Verdacht des Mordes durch einen enttäuschten, von Wecter boshaft kritisierten Künstler bis zum Glauben reichten, Wecter sei einfach mit unbekanntem Ziel und aus einem Grund verreist, der nur ihn selbst etwas anging. Diese letztere Meinung kommt der Wahrheit vermutlich näher, als man gemeinhin annimmt, auch wenn es sich dabei um ein terminologisches Problem handelt und man die Frage stellen muß, ob Wecters Abwesenheit freiwillig oder unfreiwillig ist. Es gibt jedoch eine Erklärung, die sich den Phantasiebegabten geradezu aufdrängt, ja gewisse Umstände des Geschehens lassen tatsächlich keinen anderen Schluß zu. An diesen Umständen hatte ich einen nicht geringen Anteil, auch wenn ich selbst dies erst nach Jason Wecters Verschwinden begriff. Die Ereignisse begannen mit einem Wunsch, wie er prosaischer nicht hätte sein können. Wecter lebte allein in einem alten Haus in der King s Lane in Cambridge, weit entfernt von den belebten Durchgangsstraßen. Er sammelte primitive Kunst, vorzugsweise aus Stein oder Holz; er besaß zum Beispiel seltsame religiöse Darstellungen der Penitenten, [{(BasRelief)}] Basreliefs der Maya, außergewöhnliche Skulpturen von Clark
Ashton Smith, hölzerne Fetische und Götterbilder aus der Südsee und vieles mehr; und er hatte sich etwas aus Holz gewünscht, was »anders« sei, obwohl die Stücke von Smith mir gerade dies zu sein schienen. Aber Smiths Arbeiten waren nicht aus Holz, und Wecter wollte unbedingt etwas aus Holz, um seine Sammlung ausgeglichener zu machen, denn tatsächlich besaß er kaum Schnitzwerke außer einigen Masken von Ponape, die der seltsamen und wundervollen Imaginationskraft C. A. Smiths nahekamen. Ich vermute, daß mehr als einer seiner Freunde nach etwas in Holz für Jason Wecter suchte, doch es blieb ausgerechnet mir vorbehalten, so etwas eines Tages in einem versteckt gelegenen Antiquitätenladen in Portland zu finden, wo ich gerade Urlaub machte. Es war wirklich ein seltsames Stück, aber wunderbar gearbeitet
eine Art [{(Bas-Relief)}] Basrelief, das eine
tintenfischartige Kreatur zeigte, welche
aus einem zerbrochenen
monolithischen Gebäude irgendwo auf dem Meeresboden hervorkroch. Der Preis von vier Dollar war äußerst fair, und meine Unfähigkeit, das Schnitzwerk zu deuten, würde es in Wecters Augen umso wertvoller machen. Ich habe das »Wesen« als »tintenfischartig« beschrieben, aber es war kein Tintenfisch. Ich hatte keine Ahnung, worum es sich handelte; der Körper war länger und anders geformt als bei einem Tintenfisch, und die tentakelartigen Fortsätze saßen nicht nur im Gesicht hätte sein sollen
dort, wo die Nase
, sondern auch an den Seiten und in der Mitte des
Körpers, etwa wie bei Smiths Skulptur Älterer Gott. Die zwei Fortsätze im Gesicht waren eindeutig Greifwerkzeuge und so dargestellt, als wollten sie gerade etwas packen. Unmittelbar über ihnen befanden sich tief in den Höhlen liegende Augen, geschnitzt mit unheimlicher Kunstfertigkeit, so daß sie den Eindruck gewaltiger und verstörender Boshaftigkeit vermittelten. Auf dem Sockel war eine Zeile in einer unbekannten Sprache
eingraviert: Ph nglui mglw nafh Cthulhu R lyeh wagah nagl fthagn. Ich hatte keine Ahnung, von welchem Baum das Holz stammte. Es war dunkelbraun, beinahe schwarz, hatte eine seltsame Maserung und war ungewöhnlich schwer. Obwohl es größer war als alles, was ich für Jason Wecter kaufen wollte, wußte ich, es würde ihm gefallen. Woher stammte es? Ich fragte den phlegmatischen kleinen Mann hinter der vollgestopften Theke. Er schob seine Brille auf die Stirn und sagte, er wisse nur, daß es aus dem Atlantik kam. »Vielleicht wurde es von einem Schiff gespült«, vermutete er. Es war vor einer oder zwei Wochen von einem alten Mann hereingebracht worden, der gewohnheitsmäßig die Küste nach solchem Strandgut absuchte. Ich fragte, was die Arbeit darstellen sollte, doch darüber konnte mir der Ladeninhaber noch weniger sagen als über ihre Herkunft. Also stand es Jason frei, sich eine beliebige Legende darum zu bilden. Er war entzückt von der Schnitzerei, besonders weil er sofort überraschende Ähnlichkeiten mit den Steinskulpturen von Smith feststellte. Als Autorität für Primitive Kunst betonte er, der Ladenbesitzer habe mir das Stück praktisch geschenkt, denn gewisse Anzeichen deuteten darauf hin, daß es mit Werkzeugen hergestellt worden war, die weitaus älter als unsere Zivilisation waren. Diese Einzelheiten waren für mich natürlich von nur geringem Interesse, da ich Wecters Begeisterung für Primitive Kunst nicht teilte, doch ich gestehe, daß mich eine unerklärliche Abneigung gegen diese oktopoide Holzschnitzerei erfaßte, als er sie neben die Arbeiten von Smith stellte. Falls dieses Ding tatsächlich jahrhundertealt war, wie Wecter folgerte, und eine bislang völlig unbekannte Schnitztechnik repräsentierte, wie ließ sich dann seine Ähnlichkeit mit den modernen Skulpturen von Clark Ashton Smith erklären? War es vielleicht mehr als Zufall, daß Smiths
Figuren, die er seiner unheimlichen Prosa und seinen Gedichten nachgebildet hatte, eine Parallele in der Kunst von jemandem besaßen, der viele hundert Jahre und Meilen entfernt von ihm gelebt hatte? Aber ich stellte diese Fragen nicht. Wenn ich es getan hätte, wären die nachfolgenden
Ereignisse
vielleicht
anders
verlaufen.
Wecters
Begeisterung und Freude schmeichelten meinem künstlerischen Urteil, und das Schnitzwerk fand seinen Platz zwischen Wecters besten Holzarbeiten. Ich ging zufrieden fort und dachte nicht mehr über die Sache nach. Es dauerte zwei Wochen, bis ich Jason Wecter wiedersah. Ich hätte ihn vielleicht nicht sofort nach meiner Rückkehr nach Boston aufgesucht, wenn mir nicht seine außerordentlich wilde Kritik einer Ausstellung der Skulpturen Oscar Bogdogas aufgefallen wäre, dessen Werk Wecter erst vor zwei Monaten hochgelobt hatte. Wecters Bericht über diese Ausstellung erregte das verstörte Interesse vieler seiner Freunde; er deutete Wecters neue Annäherung an die Kunstform der Skulptur an und versprach jenen, die regelmäßig seinen Kritiken folgten, viele Überraschungen. Einer unserer Freunde war ein Psychiater, der sich wegen seltsamer Anspielungen in Wecters kurzem, aber bemerkenswertem Artikel ernsthafte Sorgen machte. Ich las den Bericht mit steigender Verwunderung und entdeckte sofort gewisse Abweichungen von Wecters üblichem Stil. Seine Behauptung, Bogdogas Werk fehle »Feuer, das Element der Spannung
und jegliche
Spiritualität«, war noch durchaus gewöhnlich, aber seine Behauptungen, der Künstler »sei offensichtlich nicht vertraut mit der kultischen Kunst von Aphai und Ahmnoida« und hätte besser etwas anderes geschaffen »als eine hybride Imitation der Schule von Ponape«, waren nicht nur unangebracht, sondern entbehrten jeglicher Grundlage, denn Bogdoga war ein Mitteleuropäer, dessen Werk Ähnlichkeiten mit Epstein und Mestrovic
aufwies, nicht aber mit der Kunst der Primitiven, die Wecter so entzückte und die inzwischen offenbar auf seine Urteilsfähigkeit einwirkte. Wecters Artikel war gespickt mit seltsamen Querverweisen zu Künstlern, von denen noch nie jemand etwas gehört hatte, und zu fernen Zeiten und Orten falls sie überhaupt auf dieser Erde lagen , und zu kulturellen Systemen, die sogar dem vorgebildeten Leser absolut fremd waren. Doch war seine Annäherung an Bogdogas Kunst nicht ganz aus heiterem Himmel gekommen, denn nur zwei Tage zuvor hatte er eine Kritik über die neue Sinfonie von Fritz Hoebel geschrieben, die von dem manirierten und egozentrischen Dirigenten Fradelitski uraufgeführt wurde. Wecter hatte sich darin auf »die Flötenmusik der Sphären« bezogen und »auf jene geflöteten Töne von prä-druidischem Ursprung, welche bereits den Äther heimsuchten, bevor die Menschheit ein Instrument in die Hand nahm oder an die Lippen setzte«. Gleichzeitig hatte er die Aufführung von Harris Sinfonie Nummer 3 gepriesen, die er früher öffentlich abgelehnt hatte, und nannte sie »ein brillantes Beispiel für die Rückkehr zu jener primitiven Musik, welche das kollektive Bewußtsein der Menschheit heimsucht, die Musik der Großen Alten, die trotz der Umformung durch Fradelitski durchscheint
Fradelitski, der in sich keine Kreativität trägt,
muß halt jeder Musik seinen Stempel aufdrücken, um sein Ego zufriedenzustellen, auch wenn er damit den Komponisten beleidigt.« Diese beiden völlig verwirrenden Artikel trieben mich rasch zu Wecters Haus. Ich traf ihn an seinem Schreibtisch an, wo er über den verleumderischen Kritiken und einem beachtlichen Stapel Protestbriefen brütete. »Ah, Pinckney«, begrüßte er mich. »Zweifellos sind auch Sie wegen meiner seltsamen Kritiken hergekommen.« »Nicht ganz«, wand ich mich. »Jede Kritik hat ihren Ursprung in der
persönlichen Meinung; also sind Sie frei, das zu schreiben, was Sie wollen, solange Sie es ernst meinen. Aber wer zum Teufel sind Ahapi und Ahmnoida?« »Ich wünschte, ich wüßte es.« Er sprach so ernst, daß ich die Wahrheit seiner Worte nicht anzweifeln konnte. »Aber ich zweifle nicht daran, daß sie existieren«, fuhr er fort. »So wie die Großen Alten in den alten Überlieferungen eine ganz bestimmte Stellung zu haben scheinen.« »Warum haben Sie sie erwähnt, wenn Sie nicht wissen, wer sie sind?« fragte ich. »Auch das kann ich nicht vollständig erklären, Pinckney«, antwortete er und runzelte sorgenvoll die Stirn. »Aber ich kann es versuchen.« Nun begann er mit einem nicht ganz zusammenhängenden Bericht über gewisse Dinge, die ihm zugestoßen waren, seit er im Besitz des tintenfischartigen Schnitzwerkes war, das ich in Portland entdeckt hatte. Er hatte seither jede Nacht von der seltsamen Kreatur auf dem Schnitzwerk geträumt; manchmal stand sie im Vordergrund, manchmal nur am Rande seines Traums. Er hatte von unterirdischen Orten geträumt und von Städten unter dem Meer; er hatte sich selbst auf den Karolineninseln und in Peru gesehen; er war im Traum unter den lauernden Walmdächern des
legendenverseuchten
Arkham
umhergewandert;
er
war
in
merkwürdigen Booten zu Orten gefahren, die weit hinter den bekannten Meeren liegen. Er wußte, daß die Holzschnitzerei die verkleinerte Abbildung eines gewaltigen protoplasmatischen Wesens war, das seine Gestalt auf unzählige Arten verändern konnte. Wecter sagte, sein Name laute Cthulhu; sein Reich sei
lyeh, eine schreckliche Stadt tief im
Atlantik. Dieses Geschöpf sei eines der Großen Alten, die der Sage nach aus anderen Dimensionen und von den fernen Sternen sowie aus den
Meerestiefen und aus Raum-Zeit-Löchern hergekommen waren, um ihre alte Oberherrschaft über die Erde wieder zu errichten. Cthulhu werde von amorphen, untermenschlichen Zwergen begleitet, die ihm vorausgehen und eine seltsame, unvergleichliche Flötenmusik spielen. Vielleicht war das Schnitzwerk, das anscheinend vor unglaublich langer Zeit geschaffen wurde
sicherlich bevor es menschliche Aufzeichnungen gab, aber nach
dem Einsetzen der Menschheitsdämmerung
eine »Kontaktstation« aus
einer anderen Dimension, welche von den rückkehrwilligen Wesen bewohnt wurde. Ich gestehe, daß ich ihm mit ziemlicher Skepsis zuhörte. Als Wecter das bemerkte, verstummte er, holte das oktopoide Schnitzwerk vom Kaminaufsatz und stellte es vor mir auf den Tisch. »Sehen Sie sich es genau an, Pinckney. Erkennen Sie eine Veränderung daran?« Ich untersuchte es gewissenhaft und sagte schließlich, mir falle nichts auf. »Haben Sie nicht den Eindruck, daß die ausgestreckten Tentakel im Gesicht, wie soll ich es sagen?
noch weiter ausgestreckt sind?«
Ich sah das nicht so und sagte ihm das auch, aber ich war mir nicht ganz sicher. Die Andeutung ist nur allzu oft Vater der Tatsachen. Waren die Tentakel verlängert? Ich hatte keine Ahnung; ich weiß es selbst jetzt noch nicht. Aber Wecter glaubte offenbar an diese gewachsenen Ausstülpungen. Ich untersuchte das Schnitzwerk noch einmal und verspürte wieder jene seltsame Abneigung wie beim ersten Mal, als ich die Ähnlichkeit zwischen Smiths Skulpturen und diesem Stück hier bemerkt hatte. »Sehen Sie denn nicht, daß die Enden der Tentakel jetzt etwas höher und weiter vorgestreckt sind?« bedrängte er mich.
»Nein, tut mir leid.« »Nun gut.« Er nahm die Schnitzerei und stellte sie wieder auf den Kaminsims. Als er zu seinem Schreitisch zurückkam, sagte er: »Ich fürchte, Sie glauben, ich bin verrückt, Pinckney. Seit ich dieses Kunstwerk in meinem Arbeitszimmer habe, spüre ich die Existenz von etwas, das ich nur als fremde, uns unbekannte Kraft bezeichnen kann
als jene Dimensionen,
von denen ich geträumt habe. Ich kann mich zum Beispiel nicht daran erinnern, diese Kritiken geschrieben zu haben, aber trotzdem stammen sie von mir. Ich besitze ihre Entwürfe, die Korrekturbögen und die Zeitungsabdrucke. Ich kann sie nicht öffentlich verleugnen, auch wenn ich mir sehr wohl bewußt bin, daß sie meinen bisherigen Ansichten und Meinungen widersprechen. Es ist wohl unleugbar, daß ihnen eine seltsame, beeindruckende Logik innewohnt, denn nachdem ich sie und die entrüsteten Briefe darüber gelesen hatte, mußte ich der Sache natürlich auf den Grund gehen. Im Gegensatz zu meiner bisherigen Meinung, die Ihnen vielleicht bekannt ist, besitzt Bogdogas Werk tatsächlich Ähnlichkeiten mit einer hybriden Form der Kultkunst auf den Karolineninseln, und die dritte Sinfonie von Harris hat wirklich einen Anklang an primitive Musik, so daß man sich fragen muß, ob der Anstoß, den sensible oder kulturell interessierte Personen daran genommen haben, nicht eine instinktive Reaktion gegen das eigene primitive Ego ist.« Er zuckte die Achseln. »Aber das tut nichts zu Sache, oder, Pinckney? Tatsache ist, daß das Schnitzwerk, welches Sie in Portland gefunden haben, einen irrationalen, verwirrenden Einfluß auf mich ausübt, der so stark ist, daß ich nicht einmal weiß, ob er gut oder schlecht ist.« »Was für einen Einfluß meinen Sie?« Er lächelte seltsam. »Ich möchte Ihnen beschreiben, wie ich mich
fühle. Als Sie die Skulptur hiergelassen hatten, spürte ich es zum ersten Mal. Ich habe an jenem Abend eine Party gegeben, doch um Mitternacht waren die Gäste gegangen, und ich saß wieder an der Schreibmaschine. Ich hatte eine prosaische Arbeit zu erledigen: einen Artikel über ein kleines Klavierkonzert, das einer von Fradelitskis Schülern gegeben hatte. Ich hatte ihn in Windeseile fertig. Aber während ich ihn schrieb, war ich mir andauernd dieses Schnitzwerkes bewußt, und zwar auf zwei Ebenen. Zum einen sah ich es als etwas an, das Sie mir geschenkt haben, als ein nicht sehr großes, eindeutig dreidimensionales Objekt, doch andererseits war es gleichzeitig das Tor
oder ein Eindringen, wenn Sie so wollen
in eine
andere Dimension, in der ich mir im Vergleich zu der Schnitzerei wie ein Samenkorn neben einem Kürbis vorkam, und doch befand ich mich immer noch in diesem Zimmer. Als ich mit meinem kurzen Artikel fertig war, hatte ich den seltsamen Eindruck, daß die Skulptur zu gigantischen Proportionen angeschwollen sei. Einen kataklysmischen Moment lang spürte ich, daß sie nun lebendig geworden war und sich wie ein Koloß vor mir auftürmte, der ich nur eine traurige Miniatur war. Dieser Eindruck währte bloß einen Augenblick, dann verwehte er. Achten Sie auf meine Worte: Ich sagte, er verwehte. Das Ding hörte nicht einfach auf zu existieren; es schien sich zu verdichten, sich zurückzuziehen, als kehre es aus dieser Dimension zu dem Zustand zurück, in dem es vor meinen Augen existiert, nicht aber vor meiner psychischen Wahrnehmung. Dieser Vorgang hat sich wiederholt. Es ist garantiert keine Halluzination, auch wenn ich Ihrem Gesichtsausdruck entnehme, daß Sie glauben, ich habe den Verstand verloren.« Rasch versicherte ich ihm, daß es so schlimm nicht sei. Was er gesagt hatte, war entweder eine Lüge oder die Wahrheit. Seine seltsamen Zeitungsartikel deuteten an, daß er es ernst meinte; also glaubte Jason
Wecter, die Wahrheit zu sagen. Deshalb mußte seine Aussage eine bestimmte Bedeutung und Begründung haben. »Nehmen wir einmal an, daß Ihre Behauptungen stimmen«, sagte ich vorsichtig, »dann muß es einen Grund für sie geben. Vielleicht haben Sie zu hart gearbeitet, und die Ereignisse stellen nur eine Erweiterung Ihres eigenen Unterbewußtseins dar.« »Mein lieber Pinckney!« rief er lachend. »Wenn es nicht so ist, muß es einen Grund geben, der von außen kommt.« Sein Lachen verschwand; die Augen verengten sich. »Das geben Sie zu, Pinckney?« »Zunächst einmal ja.« »Gut. Das habe ich nach dem dritten Mal auch geglaubt. Zweimal war ich bereit, an eine Sinnestäuschung zu glauben, aber nicht dreimal. Halluzinationen, die sich aus Überanstrengung der Augen ergeben, sind selten so ausführlich; sie beschränken sich meistens auf eingebildete Ratten, Punkte und ähnliches. Falls diese Kreatur zu einem Kult gehört, in welchem sie das Objekt der Anbetung ist
und ich bin der Ansicht, daß sie
auch heute noch insgeheim angebetet wird , kann es nur eine einzige Erklärung geben. Ich kehre zu dem zurück, was ich vorhin gesagt habe: Das Schnitzwerk ist ein Brennpunkt, der einen Kontakt zu einer anderen Raum-Zeit-Dimension herstellt. Wenn man das als gegeben hinnimmt, ist es ganz eindeutig, daß diese Kreatur versucht, mit mir in Kontakt zu treten.« »Wie?« fragte ich offen heraus. »Ich bin kein Mathematiker, kein Wissenschaftler. Ich bin nur Musikund Kunstkritiker. Meine Schlußfolgerungen stellen die Grenze meines außerkulturellen Wissens dar.«
Die Halluzinationen waren geblieben. Sie existierten auf einer anderen Ebene auch in seinen Träumen. In ihnen begleitete Wecter die Kreatur aus dem Schnitzwerk ohne Schwierigkeiten in andere Dimensionen außerhalb unseres
eigenen
Raum-Zeit-Kontinuums.
Fortgesetzte,
sich
sogar
weiterentwickelnde Illusionen sind in der Medizin keine Seltenheit, doch Jason Wecters Erlebnisse waren eindeutig mehr als eine Illusion, da sie sich auf heimtückische Weise bis in seine Gedankenmuster fraßen. In jener Nacht dachte ich darüber lange nach und rief mir alles ins Gedächtnis zurück, was er mir über die Älteren Götter, über die Großen Alten, die mythologischen Wesen und ihre Anbeter gesagt hatte, und verglich es mit dem kulturellen System, in das Wecter mit so beunruhigenden Ergebnissen eingedrungen war. Von nun ab hielt ich im Dial ängstlich Ausschau nach Jason Wecters Kolumne. Wegen dem, was er in den zehn Tagen schrieb, bevor ich ihn wiedersah, wurde Jason Wecter rasch zum Tagesgespräch des kulturell interessierten Boston und der Umgegend. Erstaunlicherweise wurde er nicht von allen verdammt, auch wenn er seine neuen Ansichten nun immer wieder vertrat. Diejenigen, die ihn bisher unterstützt hatten, waren jetzt wütend und verdammten ihn, und jene, die ihm bisher gezürnt hatten, unterstützten ihn jetzt. Aber seine Beurteilungen von Konzerten und Kunstausstellungen, die in meinen Augen völlig neben der Sache lagen, waren nicht weniger rasiermesserscharf geworden; er stellte seine übliche Häme zur Schau und schmähte wie gewöhnlich, und auch seine Beobachtungsgabe schien sich nicht verändert zu haben. Allerdings sah er nun alles aus einer anderen Perspektive, die sich von seiner früheren radikal unterschied. Seine Meinungen waren verwirrend und oft unerhört. Die großartige, alternde Primadonna Madame Bursa-DeKoyer war für ihn
»ein gewaltiges Monument bourgeoisen Geschmacks, der leider nicht ganz darunter begraben liegt.« Corydon de Neuvalet, der Schwarm New Yorks, war »bestenfalls ein amüsanter Hochstapler, dessen surrealistische Sakrilegien in Schaufenstern auf der Fifth Avenue ausgestellt werden, und zwar von Galeristen, deren Kunstkenntnisse so gering sind, daß man sie nicht einmal unter dem Mikroskop erkennen könnte. Sein Farbempfinden macht ihn immerhin zu einem Westentaschen-Vermeer, auch wenn er nicht einmal an die schwächsten Werke von Ahapi herankommt.« Die Gemälde des geisteskranken Veilan erregten seine extreme Bewunderung. »Hier ist anscheinend jemand, der einen Pinsel halten kann und etwas von Farbe versteht. Er begreift mehr von der Welt um ihn als die meisten der Unwissenden, die seine Leinwände anstarren. Hier ist eigenständige
Wahrnehmung,
befreit
von irdischen
Dimensionen,
ungehindert durch jegliche menschliche Tradition. Seine Kunst ist wie ein Flugzeug, das im Primitiven startet, sich aber weit darüber erhebt; den Hintergrund bilden Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart in RaumZeit-Spalten,
sichtbar
Wahrnehmungsfähigkeit
nur
für
Begnadeten,
jene
mit
welche
im
außersinnlicher allgemeinen
als
geisteskrank abgetan werden.« Über ein Konzert Fradelitskis, in welchem dieser Werke seines augenblicklichen Favoriten, des russischen Komponisten Blantanowitsch, spielte, berichtete Wecter so vernichtend, daß Fradelitski öffentlich mit einer Klage drohte: »Blantanowitschs Musik ist Ausdruck jener gräßlichen Kultur, welche die exakte Gleichheit aller Menschen unterstellt
mit
Ausnahme jener, die gleicher sind, um Orwell zu zitieren; diese Musik würde niemals gespielt werden, wenn es Fradelitski nicht gäbe, der sich in der Tat von allen anderen Dirigenten auf der Welt abhebt, denn er ist der
einzige, der mit jedem von ihm dirigierten Konzert weniger lernt.« Man brauchte sich nicht darüber zu wundern, daß Wecters Name in aller Munde war; er wurde verunglimpft; der Dial konnte nicht einmal annähernd alle Leserbriefe veröffentlichen, in denen Wecter gepriesen, gelobt, verdammt und aus den Zirkeln ausgestoßen wurde, zu denen er bisher ungehinderten Zugang gehabt hatte, aber vor allem wurde über ihn geredet. Daß er an einem Tag zum Kommunisten und am anderen zum hartnäckigen Reaktionär gemacht wurde, schien ihm egal zu sein. Er wurde nur selten anderswo als bei den Konzerten gesehen, die er besuchen mußte, und dort sprach er mit niemandem. Lediglich an einem anderen Ort sah man ihn zuweilen: in der Widener-Bibliothek, und später hieß es, man habe ihn zweimal in der Arkham-University-Bibiliothek, Abteilung seltene Bücher, gesehen. So standen die Dinge, als Jason Wecter am Abend des zwölften August, also zwei Tage vor seinem Verschwinden, in meiner Wohnung in einem Zustand auftauchte, den man am vorteilhaftesten mit einer vorübergehenden geistigen Verwirrung beschreiben könnte. Seine Blicke waren wild und seine Reden noch wilder. Es war bereits kurz vor Mitternacht, doch die Nacht war warm. Es hatte ein Konzert stattgefunden, und er hatte es zur Hälfte gehört; danach war er nach Hause gegangen, um in gewissen Büchern nachzuschlagen, die er aus der Widener-Bibliothek entwendet hatte. Von dort war er mit dem Taxi zu meiner Wohnung gefahren und hatte mich überfallen, als ich gerade zu Bett gehen wollte. »Pinckney! Dem Himmel sei Dank, daß Sie hier sind! Ich habe versucht, Sie anzurufen, aber es hat niemand abgenommen.« »Ich bin gerade erst hereingekommen. Beruhigen Sie sich, Jason. Drüben auf dem Tisch stehen Scotch und Soda; bedienen Sie sich.« Er goß sich weitaus mehr Scotch als Soda ein. Nicht nur seine Hände
zitterten, sein Blick erschien mir fiebrig. Ich ging zu ihm herüber und legte ihm die Hand auf die Stirn, doch er drückte sie ungehalten weg. »Nein, nein, ich bin nicht krank. Erinnern Sie sich an unser Gespräch über das Schnitzwerk?« »Ziemlich genau.« »Also, Pinckney, es ist wahr. Es ist alles wahr. Ich könnte Ihnen Sachen erzählen
über das, was in Innsmouth passiert ist, als 1928 die
Regierung dort eingeschritten ist, und über all diese Explosionen draußen beim Teufelsriff ist
über das, was 1911 in Limehouse in London passiert
über das Verschwinden Professor Shrewsburys drüben in Arkham vor
einigen Jahren
Ich weiß, daß es hier in Massachusetts noch immer
geheime Riten gibt
hier und überall auf der Welt.«
»Traum oder Wirklichkeit?« fragte ich scharf. »Das ist Wirklichkeit. Ich wünschte, es wäre nicht so. Träume habe ich auch gehabt. Und was für Träume! Ich sage Ihnen, Pinckney, sie reichen aus, um einen Mann vor Ekstase verrückt werden zu lassen, wenn er in dieser langweiligen Welt erwacht und weiß, daß jene äußeren Welten wirklich existieren! Oh diese gigantischen Bauwerke! Diese Kolosse, die sich in den fremden Himmel türmen! Und der Große Cthulhu! Oh diese Wunder, diese Schönheit! Ah, dieses Grauen, dieses Böse! Und diese Unausweichlichkeit!« Ich stellte mich vor ihn und rüttelte ihn durch. Er holte tief Luft, setzte sich und schloß einen Augenblick lang die Augen. Dann sagte er: »Sie glauben mir nicht, Pinckney, oder?« »Ich höre Ihnen zu. Dabei ist nicht wichtig, was ich glaube.« »Ich möchte, daß Sie etwas für mich tun.« »Was?« »Wenn mir etwas passiert, nehmen Sie das Schnitzwerk an sich -Sie
wissen, welches ich meine , beschweren Sie es und werfen Sie es ins Meer, falls möglich irgendwo vor Innsmouth.« »Bedroht Sie jemand, Jason?« »Nein, nein. Versprechen Sie es mir?« »Natürlich.« »Egal was Sie auch immer hören oder sehen oder zu hören oder zu sehen glauben?« »Wenn Sie es so wollen « »Ja. Schicken Sie es zurück. Es muß zurückkehren.« »Sie sind letzte Woche in Ihrem Artikel ziemlich hart gewesen, Jason. Hat es etwa jemand auf Sie abgesehen?« »Machen Sie sich nicht lächerlich, Pinckney. Damit hat es nichts zu tun. Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie werden mir nicht glauben. Es ist die Holzschnitzerei
sie reicht immer tiefer in unsere Dimensionen hinein.
Können Sie das nicht verstehen, Pinckney? Allmählich materialisiert es sich. Zum ersten Mal war es vor zwei Nächten. Ich habe seine Fangarme gespürt!« Ich enthielt mich eines Kommentars und wartete darauf, daß er weitersprach. »Ich sage Ihnen, ich wachte auf und spürte, wie einer seiner kalten, feuchten Tentakel das Bettzeug fortzog; ich spürte ihn auf meinem Körper wie Sie vielleicht wissen, schlafe ich nackt. Ich sprang auf, schaltete das Licht ein
und da war es. Es war real; es war etwas, das ich sehen und
spüren konnte. Jetzt zog es sich zurück, wurde kleiner, löste sich auf, und schließlich war es verschwunden, zurückgekehrt in seine eigene Dimension. Außerdem höre ich seit letzter Woche Laute aus dieser Dimension
Flötenmusik zum Beispiel und ein unheimliches Pfeifen.«
In jenem Augenblick war ich davon überzeugt, daß mein Freund den
Verstand verlor. »Warum zerstören Sie die Schnitzerei nicht, wenn sie solche Auswirkungen auf Sie hat?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Niemals. Das ist mein einziger Kontakt mit dem Draußen, und ich versichere Ihnen, Pinckney, daß es dort nicht überall düster ist. Das Böse existiert an vielen Orten, wie Sie wissen.« »Haben Sie denn keine Angst, Jason?« Er beugte sich zu mir vor, und seine glitzernden Augen bohrten sich in mir fest. »Ja«, keuchte er. »Ja, ich habe schreckliche Angst
aber es
fasziniert mich auch. Verstehen Sie das? Ich habe Musik aus dem Draußen gehört; ich habe dort Dinge gesehen
neben ihnen erblaßt alles in unserer
Welt. Ja, ich habe furchtbare Angst, aber ich lasse es nicht zu, daß meine Angst zwischen uns steht.« »Zwischen Ihnen und
wem?«
»Cthulhu!« flüsterte er. In diesem Moment hob er den Kopf; sein Blick ging ins Leere. »Hören Sie«, sagte er sanft. »Können Sie es hören, Pinckney? Die Musik! Oh diese wundervolle Musik! Oh Großer Cthulhu!« Er stand auf und lief aus meiner Wohnung. Auf seinen asketischen Gesichtszügen hatte ein beinahe seliges Entzücken gelegen. Das war das letzte, was ich je von Jason Wecter sah. Wirklich? Jason Wecter verschwand am zweiten Tag nach diesem Besuch, oder vielleicht auch in der zweiten Nacht. In der Zwischenzeit war er von anderen gesehen worden, die aber nicht mit ihm gesprochen hatten. Als letzter sah ihn ein Nachbar in der folgenden Nacht durch das hell erleuchtete
Fenster
seines
Arbeitszimmers;
er
saß
an
seiner
Schreibmaschine und arbeitete. Aber man fand später kein Manuskript, und der Dial hatte auch keinen Artikel mehr für Wecters Kolumne
erhalten. Seine Anweisungen für den Fall, daß ihm etwas zustoße, waren eindeutig. Ich sollte die Holzschnitzerei an mich nehmen, die er als »Seegottheit aus Ponape« beschrieben hatte
als habe er die Identität der
dargestellten Kreatur verheimlichen wollen. Mit Zustimmung der Polizei nahm ich die Skulptur in Besitz und wollte mit ihr verfahren, wie ich es Wecter versprochen hatte. Doch zuvor mußte ich der Polizei versichern, daß nichts von Wecters Kleidung fehlte. Anscheinend war er aus dem Bett aufgesprungen und splitternackt verschwunden. Ich untersuchte das Schnitzwerk nicht, als ich es aus Wecters Haus entfernte, sondern steckte es einfach in meine geräumige Aktentasche und nahm es mit nach Hause. Ich hatte bereits Vorbereitungen getroffen, am nächsten Tag in die Nähe von Innsmouth zu fahren und die mit Gewichten beschwerte Skulptur dort ins Meer zu werfen. Daher bemerkte ich erst im letzten Augenblick die abstoßende Veränderung an ihr. Ich muß bekräftigen, daß ich niemals den Prozeß dieser Veränderung beobachtete. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß ich zuvor bei mindestens zwei Gelegenheiten das fragliche Schnitzwerk sorgfältig untersucht hatte, einmal auf das ausdrückliche Geheiß Jason Wecters hin, um angebliche, für mich unsichtbare Veränderungen zu erkennen. Und das, was ich nun sah, erblickte ich in einem schaukelnden Boot, während ich einen Laut hörte, den ich nur als Stimme beschreiben kann, welche meinen Namen aus unermeßlicher Ferne rief
eine Stimme wie die Jason Wecters.
Vielleicht hatte die Erregung des Augenblicks meine Sinne verwirrt. Als ich weit vor Innsmouth auf dem Meer in meinem gemieteten Boot saß und die bereits mit Gewichten versehene Skulptur aus meiner Aktentasche nahm, bemerkte ich erstmals jenen fernen und unglaublichen Laut, der einer Stimme ähnelte, die meinen Namen rief und nicht von
oben, sondern von unter mir zu kommen schien. Bestimmt war es das, was meine Bewegungen lange genug gefrieren ließ, so daß ich noch einen flüchtigen Blick auf den Gegenstand in meiner Hand werfen konnte, bevor er in den sanften Wellen des Atlantiks versank. Ich bezweifle nicht im geringsten das, was ich sah. Denn so, wie ich das Schnitzwerk hielt, konnte mir nicht entgehen, daß in den ausgestreckten, bisher leeren Tentakeln des von einem unbekannten Künstler aus uralter Zeit geschaffenen Wesens eine winzige, unbekleidete Gestalt hing, perfekt in jeder Einzelheit. Es war ein Mann, dessen asketische Gesichtszüge mir so vertraut waren und der in Relation zu dem Wesen, in Jason Wecters eigenen Worten, an die ich mich in jenem Boot mit schrecklicher Endgültigkeit erinnerte, »wie ein Samenkorn vor einem Kürbis« war. Als ich das Ding fortwarf, hatte ich den Eindruck, als bewegten sich die Lippen des Miniaturmannes und sprächen meinen Namen aus. Als die Skulptur auf die Wasseroberfläche traf und versank, glaubte ich jene ferne Stimme, die der Stimme von Jason Wecter so ähnlich war, schrecklich keuchen und gurgeln zu hören. Eine Silbe hörte ich noch deutlich; die anderen verschluckten die tiefen Wasser des Teufelsriffs.
Der Sandwin-Pakt Ich weiß jetzt, daß die seltsamen und schrecklichen Ereignisse im Haus der Sandwins viel früher begannen, als wir uns damals vorstellen konnten auf alle Fälle früher, als Eldon und ich zu jener Zeit glaubten. In den Wochen, in denen Asa Sandwins Leben sich dem Ende zu neigte, gab es noch keinen Grund zu der Annahme, daß seine Schwierigkeiten aus einer Vergangenheit herrührten, die so fern war, daß sie weit jenseits unseres Begreifens lag. Erst gegen Ende der Geschehnisse in Sandwin House eröffneten sich uns furchtbare Einblicke und Hinweise auf etwas Beängstigendes und Erschreckendes, das durch die Oberfläche des Alltäglichen brach, und schließlich waren wir dazu in der Lage, einen flüchtigen Blick auf die tieferen Wahrheiten zu werfen. Sandwin House hieß ursprünglich Sandwin-by-the-Sea, doch rasch war nur noch seine spätere Bezeichnung gebräuchlich. Es war ein altmodisches Haus und auch nach neuenglischen Maßstäben alt; es stand an der Straße nach Innsmouth, nicht allzuweit von Arkham entfernt, hatte zwei Stockwerke, einen Dachboden und einen tiefen Keller. Das Dach besaß viele Giebel und etliche Mansardenfenster. Vor dem Gebäude standen alte Ulmen und Ahornbäume, und hinten heraus trennte nur eine Fliederhecke den Rasen vom steil abfallenden Meeresufer. Das Haus erhob sich etwas entfernt von der Straße auf einer kleinen Anhöhe. Es mochte dem zufällig Vorbeikommenden ein wenig abweisend erscheinen, doch meine Kindheitserinnerungen an viele Urlaube, die ich hier mit meinem Vetter Eldon verbracht hatte, tauchten es für mich in ein mildes Licht; es bedeutete für mich eine Fluchtmöglichkeit aus dem übervölkerten Boston.
Bis zu den seltsamen Ereignissen, die im späten Winter des Jahres 1938 begannen, waren meine frühen Eindrücke von Sandwin House in mir lebendig; erst nach dem Ende dieses merkwürdigen Winters bemerkte ich, daß
sich
Sandwin
House
allmählich
von
der
Zuflucht
der
Kindersommertage in einen Hafen des unvorstellbar Bösen verwandelt hatte. Mein erster Kontakt mit jenen seltsamen und verwirrenden Ereignissen war äußerst prosaisch; er kam durch einen Telefonanruf Eldons zustande, als ich gerade mit meinen Bibliothekarskollegen von der Miscatonic University in Arkham in dem kleinen Klub, in welchem wir Mitglied waren, zu Abend essen wollte. Ich nahm den Anruf im Foyer des Klubs entgegen. »Dave? Hier ist Eldon. Ich möchte, daß du ein paar Tage zu mir kommst.« »Ich fürchte, ich bin gerade zu beschäftigt«, erwiderte ich. »Ich versuche es nächste Woche.« »Nein, nein, jetzt sofort. Dave, die Eulen schreien.« Das war alles. Ich kehrte zu der hitzigen Diskussion zurück, an welcher ich teilgenommen hatte, bevor ich zum Telefon gerufen wurde, und hatte bereits den Faden wieder aufgenommen, als die Worte meines Vetters in mir eine Brücke zur Vergangenheit schlugen. Sofort entschuldigte ich mich, lief nach Hause und traf Vorbereitungen für die Reise nach Sandwin House. Vor etwa dreißig Jahren, in sorgenfreien Kindertagen, hatten wir ein Übereinkommen geschlossen: Wenn einer von uns dem anderen gegenüber einen bestimmten rätselhaften Satz äußerte, war dieser als Hilferuf anzusehen, dem unbedingt Folge zu leisten war. Dazu verpflichteten wir uns feierlich. Dieser kryptische Satz lautete: Die Eulen schreien! Und mein Vetter
Eldon hatte ihn ausgesprochen. Innerhalb einer Stunde hatte ich mich um meine Vertretung in der Universitätsbibliothek gekümmert und befand mich auf dem Weg nach Sandwin House. Ich fuhr viel schneller als erlaubt. Ehrlich gesagt war ich halb erschrocken und halb belustigt. Die feierliche Verpflichtung war damals zwar durchaus ernstgemeint gewesen, doch schließlich hatte es sich dabei um ein kindliches Spiel gehandelt. Daß Eldon diesen kryptischen Satz nun ausgesprochen hatte, schien mir Beweis genug für eine ernsthafte Bedrohung seiner Existenz zu sein; es war eher ein Ausdruck äußerster Qual als eine bloße Reminiszenz an die Kindheit. Die Nacht brach herein, bevor ich Sandwin House erreicht hatte; Frost hing in der Luft. Eine dünne Schneedecke lag auf dem Boden, doch die Autobahn war geräumt. Die letzten Meilen nach Sandwin House führten am Meer vorbei, und die Fahrt dort entlang war einzigartig schön. Das Mondlicht bildete einen breiten, gelben Pfad auf dem Meer, und der Wind kräuselte das Wasser, so daß die gesamte Bucht wie aus sich selbst heraus zu glimmern und zu glitzern schien. Von Zeit zu Zeit tauchten Bäume, Häuser und Abhänge am östlichen Horizont auf, aber sie verminderten die Schönheit der See nicht. Und schließlich erschien die große, plumpe Masse von Sandwin House in der Ferne. Sandwin House war bis auf einen dünnen Lichtstreifen an der Rückseite völlig dunkel. Eldon lebte hier allein mit seinem Vater und einem alten Diener, und eine oder zwei Frauen aus der Umgebung kamen regelmäßig her, um das Haus sauberzuhalten. Ich fuhr um das Gebäude herum zu einer alten Scheune, die als Garage diente, stellte den Wagen unter, nahm meine Tasche heraus und ging zum Haus. Eldon hatte mich gehört. Er kam mir in der Dunkelheit vor der Haustür entgegen. Auf seinem langen Gesicht lag das Licht des Mondes. Er hielt
seinen Hausmantel eng an den dünnen Körper gepreßt. »Ich wußte, daß ich mich auf dich verlassen kann, Dave«, sagte er und nahm mir die Tasche ab. »Was ist los, Eldon?« »Sprich nicht darüber«, sagte er nervös, als ob jemand mithöre. »Warte. Ich werde es dir rechtzeitig sagen. Und sei ruhig; wir wollen Vater fürs erste nicht stören.« Er führte mich ins Haus und ging mit äußerster Vorsicht durch die große Halle zur Treppe, hinter der unsere Zimmer lagen. Ich bemerkte die unnatürliche Stille im Haus und das Rollen der See dahinter. Ich empfand die Atmosphäre ein wenig unheimlich, doch ich schüttelte dieses Gefühl schnell wieder ab. Im Licht seines Zimmers sah ich, daß mein Vetter trotz seines freundlichen Willkomms ernsthaft aus der Fassung gebracht war. Meine Ankunft war eindeutig nicht das Ende seiner Probleme, sondern nur ein Zwischenschritt zu ihrer Lösung. Er war abgehärmt, die Augen waren dunkel und rot unterlaufen, als ob er einige Tage nicht geschlafen habe, und seine Hände bewegten sich in übergroßer Nervosität, wie es bei Neurotikern üblich ist. »Setz dich doch, mach es dir gemütlich. Du hast schon zu Abend gegessen, oder?« »Ja«, versicherte ich ihm und wartete darauf, daß er mir sein Herz ausschüttete. Er ging im Zimmer herum, öffnete vorsichtig die Tür und sah hinaus, bevor er zurückkam und sich neben mich setzte. »Also, es geht um Vater«, sagte er ohne weitere Einleitung. »Du weißt, daß wir immer ohne erkennbares Einkommen gelebt haben und doch stets Geld hatten. So ist es schon seit mehreren Generationen in der SandwinLinie, und ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht. Letzten Herbst
aber bekamen wir Geldprobleme. Vater sagte, er müsse eine Reise machen, und ging fort. Vater verreist selten, doch ich erinnerte mich daran, daß wir ebenfalls in einer mißlichen finanziellen Lage gewesen waren, als er vor etwa zehn Jahren das letzte Mal eine Reise gemacht hatte. Aber nach seiner Rückkehr schien wieder genug Geld vorhanden zu sein. Ich habe nie gesehen, wie mein Vater das Haus verlassen hat und wie er zurückgekommen ist. An einem Tag war er fort, an einem anderen wieder da. Diesmal war es genauso, und danach stand uns wieder genügend Geld zur Verfügung.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich muß gestehen, daß ich danach in der Zeitung eingehend nach Berichten über einen Raub gesucht habe, aber es gab keine.« »Vielleicht irgendein Geschäft«, murmelte ich. Er schüttelte den Kopf. »Aber das ist es nicht, was mir im Moment Sorgen macht. Ich könnte es vergessen, wenn es keine Verbindung zu Vaters augenblicklichem Zustand gäbe.« »Ist er denn krank?« »Ja und nein. Er ist nicht mehr er selbst.« »Was willst du damit sagen?« »Er ist nicht mehr der Vater, den ich gekannt habe. Ich kann es mir selbst nicht erklären, und natürlich hat es mich aus der Fassung gebracht. Zum ersten Mal habe ich es bemerkt, als er zurückgekehrt war. Er blieb vor seiner Zimmertür stehen und sagte mehrfach mit tiefer, gutturaler Stimme zu sich selbst: Ich habe sie überlistet. Er sagte natürlich noch mehr, aber ich hörte nicht zu. Dann ging er hinein. Ich klopfte an seiner Tür, worauf er mir barsch befahl, in mein Zimmer zurückzugehen und dort bis zum nächsten Tag zu bleiben. Seitdem benimmt er sich immer seltsamer, und inzwischen scheint er sich vor etwas oder jemandem zu
fürchten. Und es sind ungewöhnliche Dinge passiert.« »Was denn?« fragte ich frei heraus. » Also
zum Beispiel die feuchten Türgriffe.«
»Feuchte Türgriffe!« rief ich erstaunt. Er nickte ernst. »Als er sie zum ersten Mal bemerkte, wollte er von Ambrose und mir wissen, wer von uns beiden mit feuchten Händen durch das Haus gegangen sei. Natürlich hatten wir das nicht getan; er schickte uns sofort weg, und damit war die Sache erledigt. Aber von Zeit zu Zeit waren immer wieder ein oder zwei Türgriffe feucht, und Vater begann sich davor zu fürchten.« »Weiter.« »Dann sind da natürlich noch die Schritte und die Musik. Sie scheinen aus der Luft zu kommen oder aus der Erde
ich weiß es wirklich nicht.
Aber hier befindet sich etwas, das ich nicht verstehe und vor dem Vater offensichtlich Angst hat. Er bleibt immer öfter in seinen Zimmern; manchmal kommt er tagelang nicht daraus hervor, und wenn er sich zeigt, hat man den Eindruck, als erwarte er jederzeit den Angriff eines Feindes. Sein Blick huscht zu jedem Schatten, zu jeder Bewegung, und er kümmert sich kaum noch um Ambrose oder mich oder die Putzfrauen, von denen er keiner erlaubt hat, seine Zimmer zu betreten; er zieht es vor, sie selbst sauber zu halten.« Die Worte meines Vetters bedrückten mich
weniger wegen meines
Onkels als vielmehr Eldons wegen. Am Ende seines Berichts war er schrecklich aus der Fassung gebracht, und es gelang mir weder, das Gesagte mit der beabsichtigten Objektivität zu beurteilen, noch ihm die Ernsthaftigkeit zu erweisen, die ihm meiner Meinung nach zukam. Also bewahrte ich mir eine interessierte Unparteilichkeit. »Ich vermute, Onkel Asa ist noch nicht zu Bett gegangen«, sagte ich. »Er wird überrascht sein,
daß ich hier bin, und du willst sicher nicht, daß er den wahren Grund für meine Anwesenheit erfährt. Wir sollten jetzt besser zu ihm gehen.« Mein Onkel Asa war in jeder Hinsicht das Gegenteil seines Sohnes. Während Eldon groß und dünn war, war Asa breit und schwer, nicht fett, sondern muskulös, mit kurzem, kräftigem Nacken und einem seltsam abstoßenden Gesicht. Er hatte kaum eine Stirn; dickes, schwarzes Haar wuchs nur drei Zentimeter über den buschigen Augenbrauen, und ein Bartstreifen nach Kapitänsart lief von einem Ohr zum anderen; einen Schnurrbart trug er nicht. Die Nase war klein, kaum zu sehen, und stand im Kontrast zu den abnorm großen Augen, deren erster Blick jeden Betrachter verwirrte.
Außerdem schienen
die Augen
aufgrund
der
dicken
Brillengläser weit hervorzutreten. In letzter Zeit war Onkel Asas Sehkraft immer schwächer geworden, und alle sechs Monate mußte er einen Augenarzt aufsuchen. Sein Mund war einzigartig breit und dünn; er hatte keine dicken Lippen, wie man bei einem so breiten und schweren Mann annehmen könnte, doch die Mundbreite betrug erstaunliche zehn Zentimeter. Wegen der Kürze seines Nackens und dem täuschenden, rahmenhaften Bart erschien es so, als trenne die Mundlinie den Kopf vom Torso. Er machte einen seltsam krötenhaften Eindruck, und schon zu unseren Kindertagen hatten wir ihm den Spitznamen Der Frosch gegeben, weil sein Gesicht bereits damals eine große Ähnlichkeit mit jenen Geschöpfen besaß, die Eldon und ich oft in den Wiesen und Sümpfen landeinwärts hinter der Straße fingen. Als wir Onkel Asas Arbeitszimmer im ersten Stock betraten, war er gerade über seinen Schreibtisch gebeugt. Er drehte sich sofort um. Die Augen waren zu Schlitzen verengt, und der Mund stand halb offen, doch der Ausdruck plötzlicher Angst verschwand beinahe sofort. Er lächelte freundlich, stand vom Schreibtisch auf und schlurfte mit ausgestreckter
Hand auf mich zu. »Ah, guten Abend, David. Ich hatte gehofft, dich vor Ostern wiederzusehen.« »Ich konnte mich kurzfristig aus Boston loseisen«, erwiderte ich. »Also bin ich hergekommen. Ich habe so lange nichts mehr von dir und Eldon gehört.« Der alte Mann warf Eldon einen raschen Blick zu. Mein Vetter wirkte älter, als er war, doch meinem Onkel waren seine mehr als sechzig Jahre nicht anzusehen. Er stellte Stühle für uns zurecht und verwickelte mich sofort in ein Gespräch über Außenpolitik, worin ich ihn erstaunlich gut informiert fand. Seine zwanglose Art zerstreute größtenteils den Eindruck, den Eldon mir vermittelt hatte. Ich vermutete bereits, daß Eldon an einer ernsthaften psychischen Krankheit litt, als ich schließlich doch noch eine Bestätigung für den vagen Verdacht meines Vetters erhielt. Mein Onkel brach das Gespräch über europäische Minderheiten in der Mitte des Satzes ab, hielt den Kopf leicht schräg, als ob er auf etwas lausche, und ein Ausdruck von Angst und Trotz glitt über sein Gesicht. Er war vollkommen abwesend und schien uns ganz vergessen zu haben. Beinahe drei Minuten lang saß er so da. Weder Eldon noch ich bewegten uns; wir drehten nur den Kopf ein wenig, um ebenfalls das zu hören, was Onkel Asa hörte. Es war jedoch unmöglich zu sagen, auf was er lauschte; draußen war Wind aufgekommen, und die Stimme des Meeres murmelte und donnerte über den Strand; dahinter erhob sich die Stimme eines Nachtvogels, es war ein unheimliches, unvertrautes Heulen, und über uns rauschte etwas unablässig auf dem Dachboden, als heule der Wind irgendwo durch eine Öffnung. Während dieser drei Minuten bewegte sich keiner von uns. Wir schwiegen. Dann verzerrte sich das Gesicht meines Onkels plötzlich vor
Wut. Er sprang auf, rannte zu dem einen offenen Fenster in der Ostwand und schlug es mit solcher Gewalt zu, daß ich befürchtete, das Glas müsse zerspringen. Doch es hielt. Einen Augenblick lang stand mein Onkel da und murmelte vor sich hin, dann drehte er sich um und eilte zurück zu uns. Nun war er wieder so ruhig und liebenswürdig wie immer. »Gute Nacht, mein Junge. Ich habe noch viel zu erledigen. Fühl dich hier ganz wie zu Hause
so wie immer.« Er schüttelte mir wieder die
Hand, diesmal etwas förmlich, und wir waren entlassen. Eldon sagte nichts, bis wir wieder seine eigenen Räume erreicht hatten. Nun sah ich, daß er zitterte. Er setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und murmelte: »Jetzt hast du es gesehen! Ich habe es dir ja gesagt. Und das war noch gar nichts.« »Ich glaube nicht, daß du dir deswegen Sorgen machen mußt«, versicherte ich ihm. »Ich kenne eine Menge Leute, die gedanklich weiterarbeiten, während sie sich mit anderen unterhalten, und plötzlich zu sprechen aufhören, wenn ihnen eine Idee gekommen ist. Und was die Episode mit dem Fenster angeht erklären kann, aber
ich muß gestehen, daß ich das nicht
«
»Oh, das war nicht mein Vater«, sagte Eldon unvermittelt. »Es war der Schrei, der Ruf des Draußen
dieses Heulen.«
»Ich habe geglaubt, es sei ein Vogel«, meinte ich lahm. »Kein Vogel macht ein solches Geräusch, und der Vogelzug hat noch nicht eingesetzt; außer Rotkehlchen, Drosseln und Regenpfeifern gibt es hier nichts. Dave, ich sage dir, genau das war es
was immer dieses
Geräusch verursacht, spricht mit meinem Vater!« Einige Augenblicke lang war ich zu überrascht, um etwas zu sagen. Mich beunruhigte die Ernsthaftigkeit meines Vetters, und ich konnte die
Tatsache nicht verleugnen, daß Onkel Asa sich tatsächlich so verhalten hatte, als ob jemand mit ihm rede. Ich stand auf und ging im Zimmer herum; dabei schaute ich immer wieder zu Eldon hinüber, aber es war offensichtlich, daß mein Vetter meinen Glauben nicht brauchte, um den seinen bestätigt zu sehen. Also setzte ich mich wieder neben ihn. »Wenn wir annehmen, daß es so ist, Eldon, stellt sich die Frage, mit wem dein Vater redet.« »Ich habe keine Ahnung. Zum ersten Mal habe ich es vor einem Monat bemerkt. Vater schien sehr verängstigt, und nach kurzer Zeit habe ich es erneut gehört. Ich habe versucht herauszufinden, woher es kommt, aber das ist mir nicht gelungen. Beim zweiten Mal schien es vom Meer herzudringen, so wie heute abend; später glaubte ich, es habe seinen Ursprung über dem Haus, und einmal hätte ich schwören können, daß es von unter dem Gebäude heraufdringt. Kurz nach dem ersten Mal habe ich Musik gehört
unheimliche Musik, wunderschön, aber böse. Ich glaubte,
geträumt zu haben, denn diese Töne erregten in mir seltsame, phantastische Träume
Träume von einem Ort, der weit entfernt von der
Erde und doch durch irgendein Band an sie gekettet ist. Ich kann es nicht einmal annähernd korrekt beschreiben. Gleichzeitig habe ich Schritte gehört, und ich schwöre, daß sie irgendwo aus dem Himmel kamen, auch wenn ich sie einmal unter mir gehört habe. Es waren keine menschlichen Schritte; irgend etwas viel Größeres verursachte sie. Zu diesen Zeiten sind die Türgriffe feucht, und das ganze Haus strömt einen seltsamen, fischartigen Geruch aus, der vor der Zimmerflucht meines Vaters am stärksten zu sein scheint.« In jedem anderen Fall hätte ich Eldons Worte einer ihm und mir unbekannten Krankheit zugeschrieben, doch einiges, was er sagte, weckte
alte Erinnerungen in mir, die zaghaft den Abgrund zwischen der prosaischen Gegenwart und jenen vergangenen Tagen überspannten, in denen ich mit gewissen Aspekten der dunklen Seite des Lebens vertraut geworden war. Deshalb schwieg ich und durchforschte die Kanäle meiner Erinnerung, doch ohne Erfolg, obwohl ich die Verbindung zwischen Eldons Erzählung und gewissen schrecklichen und verbotenen Berichten bemerkte, die in der Bibliothek der Miscatonic University unter Verschluß liegen. »Du glaubst mir nicht«, klagte er plötzlich. »Im Augenblick weiß ich nicht, was ich glauben soll«, erwiderte ich ruhig. »Wir sollten darüber schlafen.« »Aber du mußt mir glauben, Dave! Alles andere ist Wahnsinn.« »Es ist weniger eine Frage des Glaubens als eines Grundes für die Existenz dieser Dinge. Wir werden sehen. Sage mir aber noch eines, bevor wir zu Bett gehen: Weißt du, ob du allein von diesen Dingen betroffen bist, oder ob Ambrose sie ebenfalls bemerkt?« Eldon nickte schnell. »Natürlich bemerkt er sie. Er wollte uns verlassen, aber bisher haben wir ihn zum Bleiben überreden können.« »Dann brauchst du dich nicht um deine geistige Gesundheit zu sorgen«, versicherte ich ihm. »Jetzt sollten wir aber zu Bett gehen.« Ich hatte immer dasselbe Zimmer, wenn ich in diesem Haus übernachtete; es lag neben Eldons Räumen. Ich wünschte ihm eine gute Nacht, ging durch die dunkle Halle und betrat mein Zimmer, während ich mir Sorgen um Eldon machte. Aufgrund dieser Besorgnis bemerkte ich erst sehr spät, daß meine Hand feucht war; ich stellte es fest, als ich mein Jackett ausziehen wollte. Einen Augenblick lang stand ich da und starrte auf meine glitzernde Hand; dann erinnerte ich mich an Eldons Geschichte.
Ich ging sofort zur Tür und öffnete sie. Tatsächlich
der äußere
Türgriff war naß und verströmte einen starken Geruch nach Meeresleben; es war derselbe fischartige Gestank, von dem Eldon erst vor wenigen Augenblicken gesprochen hatte. Ich schloß die Tür und wischte mir verwirrt die Hand ab. War es möglich, daß jemand im Haus versuchte, Eldon in den Wahnsinn zu treiben? Sicherlich nicht, denn Ambrose hatte dadurch nichts zu gewinnen, und soweit ich all die Jahre hindurch hatte feststellen können, bestanden keinerlei Feindseligkeiten zwischen meinem Onkel Asa und seinem Sohn. Sonst gab es niemanden, der eine solche Attacke des Schreckens hätte inszenieren können. Noch immer beunruhigt ging ich zu Bett und versuchte, den Abgrund zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu überbrücken. Was war vor beinahe zehn Jahren in Innsmouth geschehen? Was stand in jenen gemiedenen Manuskripten und Büchern in der Miscatonic University? Ich mußte sie unbedingt einsehen; also beschloß ich, sobald wie möglich nach Arkham zurückzukehren. Noch während ich in meinen Erinnerungen nach einem Schlüssel für die Lösung der nächtlichen Ereignisse suchte, schlief ich ein. Ich zögere, das zu berichten, was sich kurz nach meinem Einschlafen ereignete. Der menschliche Geist ist bestenfalls unverläßlich, besonders im Schlummer oder kurz danach, wenn schlaftrunkene Trägheit die Verstandeskräfte hemmt. Aber im Licht der folgenden Geschehnisse erhält der Traum jener Nacht eine Klarheit und Wirklichkeit, die ich bei einem solchen Nachtgespinst nie für möglich gehalten hätte. Denn ich träumte; ich träumte beinahe sofort von einer großen, ausgedehnten Hochebene in einer merkwürdigen, sandigen Welt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Hochebenen von Tibet und Honan aufwies, die ich früher einmal bereist hatte. An jenem Ort blies der Wind auf ewig, und einzigartig schöne Musik
drang an meine Ohren. Aber diese Musik war nicht rein, nicht frei vom Bösen, denn immer gab es eine Unterströmung dunkler Noten, wie eine greifbare Warnung vor kommenden Leiden, ähnlich der dunklen Schicksalstöne in Beethovens fünfter Sinfonie. Die Musik hatte ihren Ursprung in einer Ansammlung von Gebäuden auf einer Insel in einem schwarzen See. Alles dort war ruhig; Gestalten standen reglos da, Wesen mit seltsamen Gesichtern und in menschlicher Erscheinung, und einige merkwürdige Chinesenmischlinge schienen Wache zu stehen. Während des ganzen Traumes war es mir, als bewege ich mich mit dem Wind hoch über mir
mit dem Wind, der nie nachließ. Ich weiß nicht,
wie lange ich dort war, denn ich träumte endlos lange. Schließlich befand ich mich nicht mehr an diesem Ort, sondern schaute aus großer Höhe hinunter auf eine weitere Insel, auf der sich gewaltige Gebäude und Steingötzen befanden. Auch hier existierten merkwürdige Wesen, einige von ihnen hatten Menschengestalt, und wieder ertönte die unsterbliche Musik. Aber hier war noch etwas. Ich hörte die Stimme des Wesens, das erst vor kurzem mit meinem Onkel Asa gesprochen hatte. Es war dasselbe unheimliche Heulen und kam tief aus dem Inneren eines breiten Gebäudes, dessen Kellergewölbe sicherlich vom Meer überflutet waren. Ich warf nur einen kurzen Blick auf diese Insel, und etwas in mir kannte ihren modernen Namen: Osterinsel. Dann riß es mich fort und ich befand mich nun über einer gefrorenen Weite hoch im Norden. Ich schaute hinab auf ein verborgenes Indianerdorf, wo die Eingeborenen Schneeidole anbeteten. Der Wind war allgegenwärtig, genau wie die Musik und der Klang jener pfeifenden Stimme. Es war wie ein Prolog des Schreckens, wie eine Warnung vor dem unglaublichen und schrecklichen Bösen, das bald hereinbrechen würde. Überall lauerte die Stimme des uranfänglichen Grauens verborgen unter der wunderbaren, überirdischen Musik.
Kurz darauf erwachte ich. Ich war unerträglich müde, lag mit offenen Augen da und starrte in die Dunkelheit. Langsam wich die Schläfrigkeit von mir, und ich bemerkte, daß die Luft im Zimmer mit jenem schweren, fischigen Geruch gesättigt war, von dem Eldon gesprochen hatte. Gleichzeitig wurde ich mir zweier weiterer Umstände bewußt: der eine war das Geräusch verklingender Schritte und der andere das nachlassende Heulen, das ich nicht nur im Traum, sondern vor wenigen Stunden auch im Zimmer meines Onkels gehört hatte. Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Fenster und schaute hinaus in Richtung Osten. Mir wurde lediglich klar, daß die Laute ihren Ursprung eindeutig in dem gewaltigen Ozean dort draußen hatten. Ich durchquerte den Raum und ging hinaus auf den Korridor, wo der Meeresgeruch noch vielstärker war als in meinem Zimmer. Ich klopfte sacht an Eldons Tür, und da ich keine Antwort erhielt, trat ich ein. Er lag auf dem Rücken, die Arme hatte er abgewinkelt, die Finger arbeiteten. Ganz offenbar schlief er noch, auch wenn ich wegen der geflüsterten Worte, die ihm von den Lippen drangen, zuerst etwas anderes angenommen hatte. Ich wollte ihn schon aufwecken, hielt aber mit ausgestreckter Hand inne und lauschte. Seine Stimme war tief und trug nicht weit, aber trotzdem verstand ich einige Worte, bei denen er sich offenbar bemühte, deutlicher zu sprechen: Lloigor
Ithaqua
Cthulhu. Diese Worte
wiederholte er mehrmals, bevor ich ihn endlich an der Schulter packte und schüttelte. Sein Erwachen erfolgte nicht rasch, so wie es normal gewesen wäre, sondern zögerlich. Erst nach einer vollen Minute bemerkte er mich, doch von diesem Augenblick an war er wieder ganz der alte. Er richtete sich im Bett auf und schien sich gleichzeitig des Geruchs im Zimmer und der
Geräusche draußen bewußt zu werden. »Ah
siehst du?« sagte er ernst,
als ob ich nun alle Beweise erhalten hätte, die ich benötigte. Er verließ das Bett, ging hinüber zu den Fenstern und schaute hinaus. »Hast du geträumt?« fragte ich. »Ja, und du?« Wir hatten im wesentlichen denselben Traum gehabt. Während er mir seine Nachtgesichte beschrieb, bemerkte ich eine Bewegung im Stockwerk über uns; sie war verstohlen und zäh und klang, als ob etwas Feuchtes über den Boden patsche. Zur gleichen Zeit erstarb das Heulen hinter dem Haus, und nun hielten auch die Schritte inne. In der Atmosphäre des alten Hauses lag nun etwas Bedrohliches und Grauenvolles, so daß die Stille oben nur wenig zu unserer Seelenruhe beitrug. »Wir sollten hinaufgehen und mit deinem Vater sprechen«, schlug ich plötzlich vor. Seine Augen weiteten sich. »O nein! Wir können es nicht wagen, ihn zu stören. Er hat eindeutige Befehle gegeben.« Aber ich ließ mich nicht entmutigen. Ich wandte mich um, ging allein die Treppe hoch und klopfte gebieterisch an Onkel Asas Tür. Es kam keine Antwort. Ich kniete nieder und spähte durch das Schlüsselloch in den Raum, aber ich sah nichts; alles war dunkel. Doch es war jemand da, denn gelegentlich drangen Stimmen heraus; eine von ihnen gehörte eindeutig Onkel Asa, sie war allerdings seltsam guttural und krächzend, als ob sich eine grundlegende Veränderung mit ihr vollzogen habe; und die andere Stimme glich nichts, was ich je gehört habe. Sie hatte einen tiefen, kehligen Klang und war harsch und dunkel drohend. Mein Onkel sprach in verständlichem Englisch, der Besucher hingegen nicht. Ich beschloß zu lauschen und hörte zunächst die Stimme meines Onkels.
»Das werde ich nicht tun!« Die unwirklichen Töne des anderen Wesens im Zimmer drangen durch die Tür. »Iä! Iä! Shub-Niggurath!« Dann folgten rasch ausgestoßene, verärgert klingende Laute. »Cthulhu wird mich nicht ins Meer ziehen; ich habe den Durchgang verschlossen.« Wieder antwortete gewalttätige Wut meinem Onkel, der jedoch keine Angst zu empfinden schien, auch wenn seine Stimme lauter wurde. »Ithaqua wird nicht auf dem Wind herkommen; ich kann seine Bemühungen ebenfalls zunichte machen.« Der Besucher meines Onkel spuckte nur ein einziges Wort aus: »Lloigor!« Darauf antwortete mein Onkel nichts. Ich verspürte eine feine Unterströmung des Schreckens, die sich von der bedrohlichen Atmosphäre in dem alten Haus unterschied, denn mein Onkel hatte dieselben Worte ausgesprochen, die Eldon noch vor wenigen Minuten im Schlaf gemurmelt hatte. Ich begriff, daß ein bösartiger Einfluß in diesem Haus am Werk war. Ferner erinnerte ich mich allmählich an seltsame Berichte und Erzählungen, die ich damals in den verbotenen Texten in der Miscatonic University gelesen hatte: unheimliche und unglaubliche Geschichten über uralte Gottheiten und bösartige Wesen, die älter als die Menschheit sind. Ich hatte mich mit den schrecklichen Geheimnissen aus den Pnakotischen Manuskripten beschäftigt sowie mit dem
lyeh-Text und seinen vagen, eindringlichen Geschichten über
Kreaturen, die so schrecklich sind, daß man in unserer modernen, prosaischen Existenz nicht mehr über sie nachdenken kann. Ich versuchte, die über mir hängende Wolke aus Angst abzuschütteln, doch die Atmosphäre des Hauses machte dies unmöglich. Glücklicherweise erreichte die Ankunft meines Vetters Eldon das, was ich nicht selbst
bewirken konnte. Er war hinter mir die Treppe hochgeschlichen und wartete nun auf meinen nächsten Schritt. Ich winkte ihn heran und berichtete, was ich gehört hatte. Dann lauschten wir gemeinsam. Nun war kein Gespräch mehr zu hören, sondern nur noch ein grämiges, unverständliches Murmeln, das von lauter werdenden Schritten begleitet wurde
oder vielmehr von etwas,
das sich wie Schritte anhörte, die aber von keinem mir bekannten Geschöpf herzurühren schienen, sondern eher von einem Wesen, das durch einen Sumpf watete. Nun lief gleichzeitig ein schwaches Zittern durch das Haus, ein seltsames, unnatürliches Erschauern, das weder stärker noch schwächer wurde, sondern anhielt, bis die Schritte in der Ferne erstarben. Während der ganzen Zeit war uns kein Laut entschlüpft, doch als die Schritte das Zimmer hinter der Tür durchquerten und ins Freie hinter dem Haus hinausgingen, hielt Eldon den Atem an, bis ich das Blut in seinen Schläfen rauschen hörte. »Guter Gott!« stieß er schließlich hervor. »Was war das?« Ich war mir nicht klar, ob ich darauf die Antwort kannte, doch ich wollte ihm gerade etwas sagen, als sich die Tür plötzlich öffnete und wir beide erstarrten. Onkel Asa stand vor uns. Hinter ihm drang ein überwältigender Geruch wie von Fischen oder Fröschen heraus; es war ein dicker, miasmatische Gestank, wie er von fauligem Brackwasser ausgeht. Beinahe hätte ich mich übergeben. »Ich habe euch gehört«, sagte mein Onkel langsam. »Kommt herein.« Er machte Platz, und wir betraten sein Zimmer. Eldon schien zu zögern. Die Fenster an der gegenüberliegenden Wand standen weit offen. Zunächst war im trüben Licht nichts zu sehen; der Raum war wie von Nebel eingehüllt, doch bald wurde deutlich, daß etwas Feuchtes im Zimmer gewesen war
etwas, das schwer ausgedünstet hatte, denn
Wände, Boden, Möbel und alles andere waren taubenetzt, und hier und dort standen Wasserpfützen auf dem Boden. Mein Onkel schien dies nicht zu bemerken; vielleicht war er auch bereits daran gewöhnt. Er setzte sich in seinen Ohrensessel, beobachtete uns und wies uns Sessel vor ihm an. Der Dunst hob sich langsam und unmerklich, und Onkel Asas Gesicht war nun deutlicher zu sehen. Sein breiter Kopf schien jetzt noch unmittelbarer auf den Schultern zu sitzen, seine Stirn war vollkommen verschwunden, die Augen hielt er halb geschlossen, so daß er den Fröschen aus unseren Kindertagen schrecklich ähnlich sah. Er war zu einer grotesken, Schreckliches andeutenden Karikatur geworden. Wir zögerten nur kurz, bevor wir uns setzten. »Hast du etwas gehört?« fragte er seinen Sohn. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Vermutlich. Ich frage mich schon seit einiger Zeit, ob ich es dir nicht sagen soll
möglicherweise bleibt mir nicht mehr viel
Zeit. Aber vielleicht kann ich sie ja an der Nase herumführen und ihnen entkommen « Er öffnete die Augen und schaute Eldon an; mich schien er gar nicht wahrzunehmen. Eldon lehnte sich nervös vor. Es war überdeutlich, daß der alte Mann sich Sorgen machte; er war nicht mehr er selbst und schien nicht ganz bei der Sache zu sein; es war, als wanderten seine Gedanken an fernen Orten umher. »Der Sandwin-Pakt muß zu einem Ende kommen«, sagte er mit derselben gutturalen Stimme, die ich bereits zuvor gehört hatte. »Behalte das in Erinnerung. Laß es nicht zu, daß sich noch ein Sandwin in die Gewalt dieser Kreaturen begibt. Hast du dich je gefragt, woher unser Geld kommt, Eldon?« wollte er plötzlich wissen. »O ja
oft«, brachte Eldon hervor.
»So ist es nun schon seit drei Generationen; bei meinem Großvater und meinem Vater war es genauso. Mein Großvater hat meinen Vater verkauft, und mein Vater hat mich verkauft, aber keine Angst: Ich werde dich nicht verkaufen. Es muß ein Ende haben. Sie erlauben mir nicht, ein natürliches Ende zu finden, so wie es bei meinem Großvater und meinem Vater der Fall war. Sie werden nicht auf mich warten, sondern mich holen. Aber du wirst frei von ihnen sein, Eldon. Du wirst frei sein.« »Was soll das bedeuten, Vater? Was ist los?« Er schien nicht zuzuhören. »Gehe keinen Pakt mit ihnen ein, Eldon. Meide sie, geh ihnen aus dem Weg. Was sie bringen, ist böse unvorstellbar böse. Es gibt Dinge, die du besser nicht weißt.« »Wer war hier, Vater?« »Ihr Diener; er hat mir keine Angst gemacht. Auch vor Cthulhu habe ich keine Angst, und genausowenig vor Ithaqua, mit dem ich über das Antlitz der Erde geflogen bin, über Ägypten und Samarkand, über die große, weiße Ebene der Stille, über Hawaii und den Pazifik
aber ich
fürchte mich vor Lloigor, der den Körper Stück für Stück von der Erde fortholen kann, und vor seinem Zwillingsbruder Zhat und dem schrecklichen Volk der Tcho-Tcho, das sie auf den Hochebenen Tibets anbetet, und vor
«
Er schwieg plötzlich und erschauerte. »Sie haben mir mit seinem Kommen gedroht.« Er holte tief Luft. »Soll er nur kommen.« Mein Vetter sagte nichts, aber seine Qual stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Was ist das für ein Pakt, Onkel Asa?« fragte ich. Er schien meine Frage nicht gehört zu haben und fuhr fort: »Du wirst dich erinnern, daß man den Sarg deines Großvaters geschlossen hielt. Wie leicht er war! In seinem Grab liegt nichts außer dem leeren Sarg, genau
wie im Grab deines Großvaters. Sie haben sie geholt, sie sind bei ihnen. Irgendwie haben sie ihnen unnatürliches Leben gegeben, seelenloses Leben
bloß für unseren Unterhalt, für unser kleines Einkommen und das
Wissen um ihre scheußlichen Geheimnisse. Ich glaube, alles hat in Innsmouth angefangen. Mein Großvater hat dort jemanden getroffen jemanden, der wie er selbst zu jenen Kreaturen gehörte, die wie Frösche aus dem Meer kamen.« Onkel Asa zuckte die Achseln und warf einen kurzen Blick aus den Fenstern in der Ostwand, hinter denen nun weißlicher Nebel glimmerte und das Geräusch des Meeres von fern heranbrandete das lange Rollen und Murmeln des Wassers. Mein Vetter wollte die entstandene Stille gerade mit einer weiteren Frage durchbrechen, als Onkel Asa sich uns wieder zuwandte und schroff sagte: »Genug jetzt. Laßt mich allein.« Eldon protestierte dagegen, aber mein Onkel blieb hart. Inzwischen benötigte ich kaum weitere Aufklärung. Die Geschichten, die ich über Innsmouth gehört hatte, die Tuttle-Affaire an der Straße nach Aylesbury, das seltsame Wissen, das in jenen gemiedenen Texten in der Miscatonic University verborgen lagen Eibon, der
die Pnakotischen Manuskripte, das Buch von
lyeh-Text und als dunkelstes von allen das schreckliche
Necronomicon , all das beschwor lange vergessene Erinnerungen an die mächtigen, bösen Großen Alten in mir herauf. Sie waren uralte Wesen aus einer unglaublichen Vergangenheit, alte Götter, die früher einmal nicht nur die Erde, sondern das ganze Universum bewohnt hatten und in Mächte des Guten und des Bösen aufgespalten waren, von denen die letzteren größer an Zahl, aber geringer an Macht und nun in Ketten gelegt waren. Die ältesten von allen, die sogenannten Älteren Götter, die Mächte des Guten, waren namenlos, doch die anderen waren mit unheimlichen und schrecklichen Namen belegt: Cthulhu, der Anführer der Mächte des
Wassers, Hastur, Ithaqua und Lloigor, welche die Mächte der Luft befehligten, sowie Yog-Sothoth und Tsathoggua, die Mächte der Erde. Jetzt war mir klar, daß drei Generationen von Sandwins einen scheußlichen Pakt mit jenen Geschöpfen geschlossen hatten
einen Pakt,
der ihnen großes Wissen und materielle Sicherheit im Gegenzug für Seele und Körper versprach. Doch der schrecklichste Teil dieses Paktes war die Tatsache, daß jede Generation die ihr nachfolgende Generation verkaufte. Onkel Asa hatte sich schließlich dagegen aufgelehnt und erwartete nun die Konsequenzen. Als wir wieder in der Halle waren, ergriff Eldon meine Hand und sagte: »Ich verstehe das nicht.« Ich schüttelte seinen Arm barsch ab. »Ich auch nicht, Eldon, aber ich habe eine Vermutung. Ich möchte in die Bibliothek zurückkehren und sie überprüfen.« »Du kannst uns jetzt nicht verlassen.« »Nein, aber wenn einen oder zwei Tage lang nichts mehr passiert, mache ich mich auf den Weg. Ich komme so schnell wie möglich zurück.« Wir verbrachten noch etwa eine Stunde in Eldons Zimmer, unterhielten uns über die ganze Angelegenheit und lauschten mit beinahe morbidem Interesse, ob sich oben noch etwas regte. Doch alles blieb still, und schließlich kehrte ich in meinem Bett zurück. Das Fehlen jeglicher seltsamer Gerüche und Laute war mir nun beinahe genauso unangenehm wie ihr früheres Auftreten. Der Rest der Nacht verlief ereignislos, genau wie der nächste Tag, während dessen Onkel Asa sein Zimmer nicht verließ. Auch die zweite Nacht ging ruhig vorbei. Am folgenden Tag kehrte ich nach Arkham zurück und hieß den
heimatlichen Anblick der alten Walmdächer und georgianischen Balustraden willkommen. Nach zwei Wochen kehrte ich zum Haus der Sandwins zurück. Nichts Weiteres war geschehen. Ich sah meinen Onkel kurz und war erstaunt über die Veränderung in seinem Aussehen. Er sah noch froschartiger aus, und sein Körper schien etwas geschrumpft zu sein. Er versuchte, seine Hände zu verbergen, aber ich hatte schon die absonderliche Umwandlung an ihnen bemerkt. Zwischen den Fingern wuchsen seltsame Hautfalten, deren Bedeutung ich nicht sofort begriff. Ich fragte ihn bei der Gelegenheit, ob er noch etwas von den Besuchern aus der Nacht vor vierzehn Tagen gehört habe. »Ich warte auf Lloigor«, sagte er dunkel. Sein glänzender Blick war starr auf die Ostfenster gerichtet, und um seinen Mund spielte eine gewisse Härte. In der Zwischenzeit hatte ich mehr über die furchtbaren Geheimnisse der Älteren Götter und der bösen Wesen erfahren, die vor langer Zeit an verborgene Orte auf der Erde verbannt wurden
in die arktischen Wüsten,
in Ödländer, auf die gemiedene Hochebene von Leng, ins Herz Asiens, den See von Hali, in die gewaltigen und fernen Höhlen unter dem Meer. Ich hatte genug erfahren, um von der Existenz des Paktes zwischen meinem Onkel und diesen Wesen überzeugt zu sein. Ich hatte über das Pfand von Körper und Seele gelesen, über die Pflicht, zusammen mit dem Volk der Tcho-Tcho im fernen Tibet Cthulhu und Lloigor zu dienen und ihnen nach dem Tod in ihrem andauernden Kampf gegen die Herrschaft der Älteren Götter beizustehen; ich erfuhr von den Siegeln, mit welchen die zurückweichenden Großen Alten sie gebannt hatten, und von ihrem Kampf mit dem Ziel, sich wieder zu erheben und auf der Erde Grauen zu
verbreiten. Ich bezweifelte nicht, daß der Vater und der Großvater meines Onkels in irgendeiner fernen Region dienten, denn Anzeichen für bösartige Aktivitäten waren überall um mich herum, nicht nur in den sichtbaren Dingen, sondern auch in der unglaublich starken Aura ungreifbaren Schreckens, die das Haus belagerte. Bei jenem zweiten Besuch traf ich meinen Vetter in besserer Verfassung an, doch er wartete immer noch ängstlich auf das Eintreten eines furchtbaren Ereignisses. Es gelang mir nicht, ihm Hoffnung zu machen; ich mußte ihm vielmehr einiges von dem eröffnen, was ich in den alten und verbotenen Büchern gefunden hatte, welche in den Kellergewölben der Miscatonic University lagerten. Am Abend vor meiner Abreise saßen wir unbehaglich in Eldons Zimmer zusammen und warteten darauf, daß etwas geschah. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und mein Onkel kam in einem für ihn ungewöhnlichen, schwankenden Gang herein. Als ich ihn nun auf den Beinen sah, schien er irgendwie noch kleiner geworden zu sein; seine Kleidung bauschte sich um ihn. »Eldon, warum gehst du morgen nicht zusammen mit David nach Arkham?« fragte er unvermittelt. »Eine kleine Abwechslung wird dir gut tun.« »Ich nehme ihn gern mit«, sagte ich. Eldon schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe hier und passe auf, daß dir nichts passiert, Vater.« Onkel Asa lachte brüchig und, wie mir schien, leicht höhnisch, als halte er nichts von Eldons Beistandsversuchen. Eldon mochte die Haltung seines Vaters nicht verstehen, doch für mich war sie klar, denn ich wußte mehr als Eldon über die Mächte des
uranfänglich Bösen, mit denen sich mein Onkel verbündet hatte. Onkel Asa zuckte die Achseln. »Nun, ihr seid völlig sicher, es sei denn, ihr sterbt vor Angst.« »Erwartest du, daß etwas geschieht?« fragte ich. Der alte Mann warf mir einen forschenden Blick zu. »Zumindest du erwartest etwas, David«, sagte er nachdenklich. »Ja, ich warte auf Lloigor. Wenn ich mit ihm kämpfen kann, bin ich frei von ihm. Wenn nicht
« Er
zuckte die Schultern und fügte hinzu: »Dann wird Sandwin House wohl von seiner verfluchten Wolke des Bösen befreit sein, die es so lange verhüllt hat.« »Gibt es dafür eine bestimmte Zeit?« fragte ich. Sein Blick blieb fest, doch die Augen verengten sich ein wenig. »Ich glaube, es ist soweit, wenn der Vollmond aufsteigt. Wenn meine Berechnungen stimmen, muß auch der Nordstern über dem Horizont stehen, bevor Lloigor auf seinen kosmischen Stürmen herkommen kann. Er ist ein Windwesen und wird daher mit dem Wind reisen. Aber ich erwarte ihn.« Er zuckte noch einmal die Achseln, als wolle er damit irgendein unwesentliches Ereignis abtun, doch seine Worte deuteten an, daß es in Wirklichkeit um sein Leben ging. »Nun gut, Eldon, wie du willst.« Er verließ das Zimmer, und Eldon drehte sich zu mir um. »Können wir ihm bei dem Kampf mit diesem Ding nicht helfen, Dave? Das muß doch möglich sein.« »Wenn es möglich wäre, wüßte es dein Vater.« Er zögerte eine endlose Minute lang, bevor er etwas sagte, das ihm offenbar schon lange im Kopf herumgegangen war. »Hast du Vaters Aussehen bemerkt? Wie er sich verändert hat?« Er erschauerte. »Wie ein Frosch, Dave.« Ich nickte. »Es gibt eine gewisse Beziehung zwischen seinem
Aussehen und dem der Kreaturen, mit denen er sich verbündet hat. So etwas ist auch in Innsmouth geschehen. Die Leute hatten eine seltsame Ähnlichkeit mit den Bewohnern des Teufelsriffs, bevor es bombardiert wurde. Du erinnerst dich sicher daran, Eldon.« Er sagte nichts mehr, bis ich ihm befahl, telefonisch mit mir in Verbindung zu bleiben. »Es könnte zu spät sein, Dave.« »Nein, ich werde sofort kommen. Ruf mich an, sobald du bemerkst, daß etwas nicht stimmt.« Er willigte ein, ging zu Bett und hatte eine ruhelose, aber ungestörte Nacht. Der Aprilvollmond trat etwa gegen Mitternacht des siebenundzwanzigsten April ein. Schon lange vorher war ich bereit für Eldons Telefonanruf. Am späten Nachmittag und frühen Abend dieses Tages verspürte ich mehr als einmal den Drang, nach Sandwin House zu fahren, ohne Eldons Anruf abzuwarten, doch ich widerstand diesem Impuls. Um neun Uhr abends rief Eldon an; seltsamerweise hatte ich kurz zuvor bemerkt, daß der Nordstern im Osten über den Dächern Arkhams stand und sein bernsteinfarbenes Licht trotz der Helligkeit des Mondes leuchtend erstrahlte. Ich wußte, daß etwas geschehen war, denn Eldons Stimme zitterte, er verschluckte die Worte in seinem Eifer, mich zu sich zu bitten. »Um Himmels willen, Dave, komm!« Mehr sagte er nicht; mehr brauchte er nicht zu sagen. Nach wenigen Minuten saß ich in meinem Wagen und raste die Küstenstraße entlang zum Sandwin House. Die Nacht war still; Regenpfeifer und Ziegenmelker riefen, und gelegentlich stieß ein Nachtfalke im Licht der Scheinwerfer auf mein Auto herab und flog wieder auf. Die Luft duftete vor Wachstum, vor dem
reichen Aroma geeggter Erde und früher Blätter, vor Sumpfland und offenem Wasser. All das stand in direktem Gegensatz zu dem Grauen, das sich zäh in meinen Verstand gekrallt hatte. Wie immer kam Eldon mir im Vorhof von Sandwin House entgegen. Ich hatte kaum den Wagen verlassen, als er auch schon neben mir stand. Er war völlig durcheinander, und seine Hände zitterten. »Ambrose ist soeben gegangen«, sagte er. »Er ist gegangen, bevor der Wind eingesetzt hat
wegen der Ziegenmelker.«
Während er redete, wurde mir die Gegenwart der Ziegenmelker bewußt. Dutzende von ihnen riefen überall um uns herum, und ich erinnerte mich an den Aberglauben so vieler Einheimischer: daß die Ziegenmelker im Dienste des Bösen beim Herannahen des Todes nach der Seele des Sterbenden schrien. Ihre Rufe waren unablässig, ohne Unterbrechung, und am lautesten drangen sie von den Wiesen westlich des Hauses herbei. Etwas schien unmittelbar bevorzustehen. Der Ruf des Ziegenmelkers klingt aus der Ferne nostalgisch und einsam, aber vervielfältigt und aus der Nähe wird er zu einem harschen, schrillen Schreien, das man nur schwer längere Zeit ertragen kann. Bei der Nachricht von Ambroses Flucht lächelte ich grimmig und erinnerte mich daran, daß Eldon gesagt hatte, der Diener sei vor dem Einsetzen des Windes gegangen. Die Nacht war noch windstill. »Was für ein Wind?« fragte ich schroff. »Komm herein.« Er wandte sich um und führte mich rasch in das Haus. In dem Augenblick, in welchem ich in jener Nacht die Schwelle von Sandwin House übertrat, drang ich in eine andere Welt ein, die unendlich weit entfernt von der war, die ich soeben hinter mir gelassen hatte. Als erstes bemerkte ich ein hohes, rauschendes Geräusch wie von starkem
Wind. Das Haus schien unter dem Ansturm gewaltiger Mächte des Alls zu erzittern, doch da ich gerade erst hereingekommen war, wußte ich, daß die Nacht ruhig war und kein Lüftchen sich regte. Also bliesen die Winde nur innerhalb des Hauses; sie gingen vom oberen Stockwerk aus, also von den Zimmern, welche mein Onkel Asa bewohnte und die in Verbindung mit dem Bösen standen, welchem er sich verschrieben hatte. Zusätzlich zu diesem unablässig rauschenden Wind drang wie aus großer Ferne nun jenes schauderhaft vertraute Heulen aus dem Osten her, und gleichzeitig waren die gigantischen Schritte zu hören
jene schmatzenden, nassen
Schritte, die von einem unleugbar saugenden Geräusch begleitet wurden, das seinen Ursprung irgendwo unter uns und außerhalb des Hauses zu haben schien, ja sogar außerhalb der Erde, wie wir sie kennen. Auch dies kam aus einer psychischen Quelle; auch dies war eine Manifestation jener bösartigen Wesen, mit denen die Sandwins diesen abscheulichen Pakt eingegangen waren. »Wo ist dein Vater?« fragte ich. »In seinen Zimmern; er will nicht herauskommen. Die Tür ist verschlossen; ich kann nicht zu ihm gehen.« Ich schritt die Treppe hoch zur Zimmerflucht meines Onkels und hatte vor, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Eldon lief protestierend hinter mir her; es sei zwecklos, versicherte er mir; er habe es schon versucht und sei gescheitert. Ich hatte die Tür beinahe erreicht, als ich mitten im Lauf von einer undurchdringlichen Barriere aufgehalten wurde. Es war etwas Substanzloses: eine Mauer aus kalter, frostiger Luft, hinter die ich nicht dringen konnte, wie sehr ich es auch versuchte. »Siehst du?!« rief Eldon. Ich versuchte immer wieder, hinter diese unbewegliche Barriere zu gelangen, schaffte es aber nicht. Schließlich rief ich voller Verzweiflung
nach Onkel Asa. Aber keine menschliche Stimme antwortete mir. Das einzige, was ich hörte, war das Heulen des Sturms irgendwo hinter jener Tür. Bereits unten in der Halle hatte der Wind getobt, doch hier vor der Zimmerflucht meines Onkels war er noch weitaus gewaltiger; es schien, als müßten jeden Augenblick die Wände unter diesen schrecklichen, entfesselten Kräften auseinanderfliegen. Während der ganzen Zeit wurden die Schritte und das Heulen immer stärker; sie näherten sich dem Haus aus der Richtung des Meeres, und ein Teil von ihnen schien schon hier zu sein und das Haus der Sandwins in einen unheiligen Mantel aus Bösartigkeit zu hüllen. Gleichzeitig mit dem Herannahen dieser Geräusche aus der Richtung des Wassers drang ein weiterer Laut hoch über uns in unser Bewußtsein. Dieser Laut war so unglaublich, daß wir uns ansahen, als trauten wir unseren Ohren nicht: Es war der Klang von Musik und singenden Stimmen, steigend und fallend, klar und dann wieder undeutlich. Doch sofort begriffen wir die Quelle dieser Musik als dieselbe, aus der auch die unheimlichen und zugleich wundervollen Töne gekommen waren, die wir in unseren Träumen im Haus gehört hatten, denn die Musik, die an der Oberfläche so wunderschön und ätherisch war, floß vor höllischen Untertönen über. Solche Musik mögen die Sirenen Odysseus zu Gehör gebracht haben; sie war so schön wie die Musik im Venusberg, aber pervertiert vom deutlich zutage tretenden Bösen. Ich wandte mich an Eldon, der mit weit aufgerissenen Augen zitternd hinter mir stand. »Sind die Fenster offen?« »Nicht in Vaters Zimmern. Er hat in den letzten Tagen an ihnen gearbeitet.« Er hielt den Kopf leicht geneigt und packte mich plötzlich am Arm. »Hör nur!« Nun erhob sich hinter der Tür ein anschwellendes Heulen, das von
einem abscheulichen Geplapper begleitet wurde. Ein paar Worte waren verständlich
schreckliche Worte, die mir aus den verbotenen Büchern in
der Miscatonic University allzu vertraut waren. Es waren die Laute jener Kreaturen, mit denen sich die Sandwins in unheiliger Allianz verbunden hatten; es waren die bösartigen Laute der höllischen Kreaturen, die vor langer Zeit von den Älteren Göttern auf der fernen Beteigeuze in die Tiefen des Weltraums sowie an abgelegene Orte auf der Erde und anderen Planeten in diesem Universum verbannt worden waren. Ich lauschte mit steigendem Entsetzen, welches durch das Wissen um meine Machtlosigkeit noch verstärkt wurde. Auch empfand ich jetzt eine namenlose Angst um meine eigene Existenz. Die Laute hinter der Tür gewannen an Eindringlichkeit und wurden gelegentlich von einem scharfen Ton durchbrochen, der einen anderen Ursprung haben mußte. Die Stimmen der Wesen hingegen waren klar; sie stiegen und fielen wie die ferne Musik, als ob eine Gruppe von Dienern ihre Verehrung für den Herrn und Meister in höllischem Choral und triumphierendem Heulen heraussinge: »Iä! Iä! Lloigor! Ugh! Shub-Niggurath! Cthulhu fhtagn! Ithaqua! Ithaqua!
Lloigor fhtagn!
Iä! Iä! Lloigor naflfhtagn! Lloigor
cf ayak vulgtmm, vutlagln, vulgtmm. Ai! Ai! Ai!« Es entstand eine kurze Pause, in der eine Stimme wie zur Antwort ertönte.
Es
waren
unverständliche
Worte
in
einem
schroffen,
froschähnlichen Quaken, dessen harscher Klang noch immer fesselnd vertraute Untertöne besaß; es war, als hätte ich irgendwo schon einmal derartige Modulationen gehört. Das harsche Quaken wurde immer zögerlicher; der Sprecher konnte offenbar kaum mehr die Kehllaute bilden, und wieder erhoben sich das triumphierende Heulen und jener wahnsinnige Choral hinter der Tür. Damit einher ging ein solches Gefühl des Grauens, wie es keine Worte beschreiben können.
Ich zitterte heftig. Mein Vetter streckte die Hand aus und hielt mir seine Armbanduhr entgegen. Es war nur noch wenige Minuten bis Mitternacht, der Stunde des vollen Mondes. Die Stimmen in den Zimmern vor uns nahmen an Heftigkeit zu, und der Wind wurde stärker, so daß wir den Eindruck hatten, wir befänden uns inmitten eines rasenden Zyklons. Gleichzeitig war wieder die harsche, quakende Stimme zu hören. Sie nahm an Lautstärke zu, bis sie sich plötzlich zu dem schlimmsten Jammern verwandelte, das je ein Mensch gehört hat. Es war das Kreischen einer verlorenen Seele, der dämonengepeitschte Schrei einer für alle Zeiten untergegangenen Seele. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt erkannte ich, daß die quakende Stimme nicht von einem der höllischen Besucher meines Onkels herrührte, sondern von Onkel Asa selbst! Im Augenblick dieser furchtbaren Erkenntnis, die Eldon zur selben Zeit gekommen sein mußte, verstärkten sich die Geräusche hinter der Tür zu einem unerträglich schrillen Klang, und die dämonischen Winde heulten und donnerten. In meinem Kopf wirbelte es, ich hielt mir die Hände vor die Ohren An mehr erinnere ich mich nicht. Als ich erwachte, bemerkte ich, daß Eldon sich über mich beugte. Ich lag noch auf dem oberen Korridorboden vor dem Eingang zur Zimmerflucht meines Onkels, und Eldons bleiche, leuchtende Augen starrten mich besorgt an. »Du bist ohnmächtig geworden«, flüsterte er. »Genau wie ich.« Ich zuckte hoch. Der Klang seiner Stimme verwirrte mich; sie schien so laut zu sein, obwohl sie nicht mehr als ein Wispern war. Alles war still. Kein Geräusch störte die Stille von Sandwin House. Am entgegengesetzten Ende der Halle lag das Mondlicht in einem weißen
Geviert auf dem Boden und tauchte die Dunkelheit in einen mystischen Schein. Mein Vetter schaute zur Tür der Zimmerflucht meines Onkels. Ohne zu zögern ging ich auf sie zu, obwohl ich Angst vor dem hatte, was ich hinter ihr finden mochte. Die Tür war noch verriegelt; wir mußten sie aufbrechen. Eldon zündete ein Streichholz an, um die dichte Dunkelheit der Räume zu durchdringen. Ich weiß nicht, was Eldon zu finden erwartete, aber was wir dann tatsächlich entdeckten, übertraf sogar meine schlimmsten Befürchtungen. Wie Eldon gesagt hatte, waren die Fenster so dicht vernagelt, daß nicht ein einziger Mondstrahl in die Zimmer fiel, und auf den Fensterbänken lag eine
seltsame
Sammlung
fünfzackiger
Steine.
Doch
eine
Zugangsmöglichkeit hatte mein Onkel offensichtlich vergessen: das Fenster in der Abstellkammer. Es war zwar geschlossen und verriegelt, hatte aber einen kleinen Sprung in einer der Scheiben. Der Weg, den der Besucher meines Onkels genommen hatte, war deutlich nachzuverfolgen. Eine feuchte Spur führte von der Klapptür nahe des Kammerfensters in das Quartier meines Onkels. Die Räume selbst befanden sich in einem schrecklichen Zustand. Kein einziger Gegenstand war unversehrt
außer dem Sessel, den mein Onkel für gewöhnlich
benutzte. Es wirkte tatsächlich so, als habe ein mächtiger Sturm Papiere, Möbel und Tapeten mit ungeheurer Böswilligkeit zerfetzt. Aber es war der Sessel meines Onkels, auf den sich unsere ganze Aufmerksamkeit richtete, und was wir darin sahen, war nun, da die greifbare Aura des Grauens Sandwin House verlassen hatte, umso schrecklicher. Die Spur aus der Abstellkammer führte von der Klapptür geradewegs zum Sessel meines Onkels und wieder zurück. Es war eine seltsame, unförmige Reihe von Spuren
einige von ihnen waren
schlangenähnlich, andere schienen von Füßen mit Schwimmhäuten herzurühren, die seltsamerweise ihren Ursprung beim Lieblingssessel meines Onkels nahmen und von dort bis zu dem winzigen Sprung in der Scheibe führten. Etwas war an dieser Stelle hereingekommen, und gemeinsam mit ihm war etwas anderes wieder hinausgegangen. Unglaublich, schrecklich, entsetzlich der Gedanke an das, was hier stattgefunden haben mußte, während wir vor der Tür gelegen hatten
und
noch schrecklicher der Gedanke an das, was meinem Onkel dieses grauenhafte Jammern entlockt hatte, das wir gehört hatten, bevor wir in Ohnmacht gefallen waren. Von meinem Onkel gab es nur eine einzige Spur
unheimliche
Überbleibsel, die nicht von ihm stammten, sondern für ihn standen. In seinem Lieblingssessel lagen seine Kleider: nicht ausgezogen und achtlos hingeworfen, nein, sondern in der schrecklichen, lebensähnlichen Gestalt eines sitzenden Mannes. Sie waren ein wenig zusammengefallen; von der Krawatte bis zu den Schuhen waren sie die furchtbare Spottgestalt eines dort sitzenden Mannes
aber sie waren leer, waren nur eine Schale,
von einer gräßlichen Macht jenseits unseres Verstehens zum Abbild des Mannes gestaltet, der sie einst getragen hatte; des Mannes, der allem Anschein nach von einem bösartigen und entsetzlichen Wesen aus den Kleidern herausgesogen worden war
von dem Wesen, das dem
schrecklichen Wind gebot, den wir in diesen Räumen toben gehört hatten: das Zeichen Lloigors, der im Sturm zwischen den Sternen wandelt gräßlichen Lloigor, gegen den mein Onkel keine Waffe gehabt hatte!
des
Das Haus im Tal 1 Ich, Jefferson Bates, schreibe diese Aussage im vollen Bewußtsein der Tatsache nieder, daß ich unter keinen Umständen mehr lange zu leben habe. Ich tue dies einerseits, um denjenigen, die mich überleben, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und andererseits, um mich selbst von der Anklage zu reinigen, die ungerechterweise gegen mich erhoben wurde. Ein großartiger, wenn auch wenig bekannter amerikanischer Schriftsteller des Unheimlichen schrieb einmal, daß »das Gnädigste auf der Welt die Unfähigkeit des menschlichen Geistes ist, seine einzelnen Elemente miteinander in Beziehung zu setzen.« Ich jedoch hatte genügend Zeit zum intensiven Nachdenken und Überlegen und erreichte dadurch eine Ordnung in meinen Gedanken, die ich noch vor einem Jahr niemals für möglich gehalten hätte. Natürlich begannen innerhalb dieses Jahres meine »Probleme«. Ich nenne sie so, weil ich nicht weiß, welchen anderen Namen ich ihnen verleihen sollte. Wenn ich einen bestimmten Tag angeben muß, so vermute ich ehrlich, daß es der Tag war, an dem mich Brent Nicholson in Boston anrief und mir sagte, er habe für mich den Ort voller Einsamkeit und Naturschönheit, nach dem ich im Hinblick auf die Arbeit an einigen meiner Gemälde so lange gesucht hatte, ausfindig gemacht und sofort das dort stehende Haus für mich gemietet. Es lag in einem fast völlig von der Außenwelt abgeschnittenen Tal an einem breiten Fluß, nicht allzu weit von
der Küste von Massachusetts entfernt und in der Nachbarschaft der alten Ansiedlungen Arkham und Dunwich, die jeder Künstler aus der Region wegen ihrer merkwürdigen Walmdächer kennt, die für das Auge so angenehm, für den Verstand aber gefährlich sind. Es ist wahr, daß ich zunächst zögerte. Es gab immer wieder Künstlerkollegen, die einen Tag in Arkham oder Dunwich verbrachten, und genau diesen Künstlerkollegen wollte ich entkommen. Aber am Ende überredete Nicholson mich, und schon nach einer Woche befand ich mich in meinem neuen Haus. Es stellte sich als groß und alt heraus
sicherlich
stammte es aus derselben Periode wie die meisten Häuser in Arkham
und
stand in einem kleinen Tal, das eigentlich sehr fruchtbar hätte sein müssen, aber keine Anzeichen von Bewirtschaftung aufwies. Das Gebäude erhob sich inmitten dürrer Kiefern, die sich bis an das Haus herangepirscht hatten, und an einer Wand lief ein breiter, klarer Bach vorbei. Trotz der Schönheit, die das Haus dem Auge aus der Ferne bot, zeigte es aus der Nähe ein anderes Gesicht. Zum einen war es schwarz angestrichen. Zum anderen hatte es etwas Abstoßendes an sich. Seine gardinenlosen Fenster starrten düster in die Gegend. Um das ganze Erdgeschoß verlief eine schmale Veranda, die mit halbverrotteten Stühlen, Tischen, mit Bindfaden zugezurrten Säcken, hohen Kommoden und einer einzigartigen Vielzahl altmodischer Haushaltsgegenstände vollgestellt war. Es wirkte wie eine Barrikade, die entweder jemanden im Haus einsperren oder von ihm fernhalten sollte. Diese Barrikade war offenbar schon recht alt, denn sie zeigte deutlich die Auswirkungen von Wind und Wetter mehrerer Jahre. Der Grund für ihr Dasein war auch dem Makler, dem ich deswegen schrieb, verborgen geblieben, aber sie verlieh dem Haus den seltsamen Anschein des Bewohntseins, auch wenn es sonst keinerlei Anzeichen für Leben gab und nichts darauf hinwies, daß in der letzten Zeit
hier jemand gewohnt hatte. Aber genau dies war eine Illusion, die mich nie verließ. Es schien eindeutig, daß niemand das Haus betreten hatte, auch nicht Nicholson oder der Makler, denn die Barrikade erstreckte sich auch auf die Vorder- und Hintertüren des beinahe quadratischen Gebäudes, und ich mußte einen Teil der Gegenstände wegzerren, um in das Haus hineinzukommen. Drinnen wurde das Gefühl des Bewohntseins noch stärker. Aber es gab einen Unterschied. Die gesamte Düsterkeit des schwarz gestrichenen Äußeren war ins Gegenteil verkehrt. Hier war alles hell und überraschend sauber
wenn man bedachte, wie lange das Haus leergestanden hatte.
Überdies war es möbliert, zugegebenermaßen kärglich, aber immerhin. Zuvor hatte ich noch den Eindruck gehabt, als ob alles, was sich einmal im Haus befunden hatte, auf der Veranda aufgestapelt worden sei. Das Haus war drinnen so schachtelähnlich, wie es von außen erschien. Unten waren vier Räume
ein Schlafzimmer, eine Küche nebst
Vorratskammer, ein Eßzimmer und ein Wohnzimmer, und oben befanden sich vier weitere Räume von exakt denselben Abmessungen
drei
Schlafzimmer und eine Abstellkammer. In allen Zimmern gab es viele Fenster, besonders in denen, die nach Norden heraus lagen, wofür ich sehr dankbar war, denn Licht von Norden ist zum Malen am besten. Für das Obergeschoß hatte ich keine Verwendung; deshalb wählte ich das Schlafzimmer an der nordwestlichen Seite als Atelier. Ich brachte meine Sachen dorthin und schob das Bett einfach hinaus. Ich war schließlich nicht hergekommen, um ein geselliges Leben zu führen und Besuch zu empfangen, sondern um an meinen Gemälden zu arbeiten. Dazu war ich bestens ausgerüstet; mein Wagen war so schwer beladen, daß ich den größten Teil des ersten Tages dazu benötigte, ihn auszuladen, meine Sachen fortzuräumen und einen Pfad zur Hintertür zu räumen, so wie ich
es auch vorn getan hatte, damit ich sowohl zur Nordseite als auch zur Südseite des Hauses gleichermaßen ungehindert Zugang hatte. Als ich endlich fertig war und gegen die herandrängende Dunkelheit eine Lampe angezündet hatte, nahm ich Nicholsons Brief hervor und las ihn noch einmal, nun in der richtigen Umgebung und mit besonderer Aufmerksamkeit: »Einsamkeit wirst du haben. Die nächsten Nachbarn sind mindestens eine Meile entfernt. Es sind die Perkinsons auf dem Hügelkamm im Süden. Nicht weit dahinter leben die Mores. Auf der anderen Seite, also im Norden, hausen die Bowdens. Der Grund für die lange Verlassenheit des Hauses müßte Dir eigentlich zusagen. Niemand wollte es mieten oder kaufen, bloß weil es einmal von einer dieser seltsamen alteingesessenen Familien bewohnt wurde, wie man sie oft in abgelegenen ländlichen Gebieten antrifft
den
Bishops, von denen das letzte überlebende Mitglied, eine hagere, hoch aufgeschossene Gestalt namens Seth, einen Mord in diesem Haus begangen hat. Das ist der einzige Grund, warum sich die abergläubische Bevölkerung von Haus und Land fernhält. Letzteres ist wirst
wie Du sehen
reich und fruchtbar; schade, daß Du dafür keine Verwendung hast.
Selbst ein Mörder kann auf seine Art ein kreativer Künstler sein, wie ich annehme, aber Seth war wohl alles andere als das. Er scheint etwas roh gewesen zu sein und ohne Grund getötet zu haben
einen Nachbarn,
soweit ich weiß. Er hat ihn einfach in Stücke gerissen. Seth war sehr stark. Mir verursacht das eine Gänsehaut, Dir aber wohl kaum. Das Opfer war einer der Bowdens. Es gibt im Haus ein Telefon, das ich habe anschließen lassen. Das Haus hat auch einen eigenen Generator. Es ist also nicht ganz so altertümlich, wie es aussieht, auch wenn die Maschine natürlich erst lange
nach der Errichtung des Hauses eingebaut wurde. Sie befindet sich im Keller. Möglicherweise ist sie nicht in Betrieb. Leider gibt es keine Wasserleitungen. Die Quelle soll ganz gut sein, und außerdem brauchst Du ein wenig Bewegung, um Dich frisch zu halten
das schaffst Du bestimmt
nicht, indem du vor der Staffelei sitzt. Das Haus sieht abgeschiedener aus, als es ist. Wenn Dich die Einsamkeit überkommt, ruf mich an.« Das Stromaggregat, von dem er geschrieben hatte, war wirklich nicht in Betrieb. Alle Lichter im Haus blieben aus. Aber das Telefon funktionierte,
wie
ich
feststellte,
als
ich
in
Aylesbury,
dem
nächstgelegenen Dorf, anrief. In jener ersten Nacht war ich sehr müde und ging früh zu Bett. Ich hatte natürlich mein eigenes Bettzeug mitgebracht, da ich nicht angenommen hatte, nach so langer Zeit noch etwas Brauchbares im Haus vorzufinden, und war bald eingeschlafen. In jeder Sekunde meines ersten Tages in diesem Haus hatte ich den undeutlichen, unfaßbaren Eindruck gehabt, als ob hier noch jemand wohne, auch wenn ich genau wußte, daß das absurd war, denn ich hatte das ganze Haus und dessen Umgebung sofort nach meinem ersten Eintreten besichtigt und dabei keinen Platz entdeckt, wo sich jemand versteckt halten konnte. Feinfühligen Menschen ist klar, daß jedes Haus seine eigene, individuelle Atmosphäre hat. Es ist nicht nur der Geruch des Holzes oder der Ziegel oder des alten Steins und der Farbe; nein, es sind auch die Hinterlassenschaften der Menschen, die dort gelebt haben, und die Ereignisse, die in die Mauern gezogen sind. Die Atmosphäre des BishopHauses war nur schwer zu beschreiben. Es gab den erwarteten Altersgeruch, den vermutlich aus dem Keller hochziehende Feuchtigkeit verursachte, doch da war noch mehr, Wichtigeres
etwas, das dem Haus
eine Aura des Lebendigen verlieh. Es war, als sei es ein lebendes Tier, das mit unendlicher Geduld auf etwas wartete, von dem es wußte, daß es kommen mußte. Ich möchte betonen, daß dieses Gefühl keineswegs Unbehagen bei mir auslöste. In jener ersten Woche hatte es nichts von Furcht oder gar Grauen an sich, und bis zu einem bestimmten Morgen in der zweiten Woche verspürte ich keinerlei Unruhe. Es geschah, nachdem ich bereits zwei phantasiegewaltige Bilder fertiggestellt hatte und im Freien an einem dritten arbeitete. An jenem Morgen hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Zuerst sagte ich mir im Scherz, das Haus belauere mich, denn seine Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen, die aus dem düsteren Schwarz herausstarrten, doch schließlich erkannte ich, daß der Beobachter hinter dem Gebäude stehen mußte. Von Zeit zu Zeit warf ich rasche Blicke zum Rand des kleinen Waldes südwestlich des Hauses. Bald hatte ich den versteckten Beobachter entdeckt. Ich drehte mich zu den Büschen, in denen er sich verborgen hielt, und rief: »Kommen Sie heraus; ich weiß, daß Sie da sind!« Es zeigte sich ein großer, sommersprossiger junger Mann; er sah mich mit harten, dunklen Augen argwöhnisch und streitlustig an. »Guten Morgen«, grüßte ich ihn. Er nickte mir zu, sagte aber nichts. »Wenn es Sie interessiert, kommen Sie her und sehen Sie sich alles an«, lud ich ihn ein. Er wurde etwas zutraulicher und trat aus dem Gebüsch hervor. Nun sah ich, daß er etwa zwanzig Jahre alt war. Er trug Arbeitshosen und ging barfuß: ein geschmeidiger junger Kerl, muskulös und zweifellos schnell und wachsam. Er kam gerade nahe genug heran, um zu sehen, was ich tat; dann hielt er an. Er unterzog mich einer unverhohlenen Prüfung.
Schließlich fragte er: »Ihr Name Bishop?« Meine Nachbarn glaubten sicher, daß ein Mitglied der Familie aus einem entlegenen Winkel der Welt hergekommen sei und den verlassenen Besitz für sich beansprucht habe. Der Name Jefferson Bates würde ihm überhaupt nichts sagen. Außerdem widerstrebte es mir seltsamerweise, ihm meinen Namen zu nennen. Ich antwortete höflich, mein Name sei nicht Bishop, auch sei ich kein Verwandter der Familie; ich habe das Haus nur für den Sommer und vielleicht einen oder zwei Monate in den Herbst hinein gemietet. »Ich heiß Perkins«, sagte er. »Bud Perkins. Von da hinten.« Er wies in die Richtung des südlichen Hügelkamms. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.« »Sie sind schon seit ner Woche hier«, fuhr Bud fort und bewies mir damit, daß meine Ankunft im Tal nicht unbemerkt geblieben war. »Sie sind noch immer hier.« Überraschung lag in seiner Stimme; für ihn schien es seltsam zu sein, daß ich es so lange im Bishop-Haus ausgehalten hatte. Er fuhr fort: »Ich meine, Ihnen ist nix passiert. Das ist n Wunder bei allem, was mit dem Haus los ist.« »Was ist denn mit ihm los?« fragte ich offen heraus. »Wissen Sie das nicht?« Ihm fiel die Kinnlade herunter. »Ich weiß das über Seth Bishop.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Das ist noch lange nicht alles, Mister. Ich würd keinen Fuß in das Haus setzen, und wenn man mich dafür bezahlen würd
auch nicht für alles Geld der Welt. Mir läuft schon ne
Gänsehaut über n Rücken, wenn ich bloß neben Ihnen steh .« Er runzelte die Stirn. »Man hätt es schon damals niederbrennen sollen. Was haben diese Bishops bloß immer in der Nacht gemacht?«
»Es wirkt sauber. Und es ist bequem. Es hat nicht einmal Mäuse.« »Hah! Wenn s nur Mäuse wär n! Warten Sie s ab.« Damit drehte er sich um und tauchte wieder in den Wald ein. Mir wurde klar, daß viele örtliche Legenden über das verlassene Bishop-Haus entstanden sein mußten. Was wäre natürlicher, als es als Spukhaus anzusehen? Trotzdem hinterließ Bud Perkins Besuch einen unangenehmen Eindruck. Offenbar hatte ich seit meiner Ankunft unter heimlicher Bewachung gestanden. Mir war klar, daß neue Nachbarn immer die Neugier der anderen erregen, doch ich erkannte, daß die Neugier meiner Nachbarn in diesem entlegenen Tal etwas anderer Natur war. Sie erwarteten, daß etwas geschah; sie warteten darauf, und nur der Umstand, daß dieses Ereignis noch nicht eingetreten war, hatte Bud Perkins hergetrieben. In jener Nacht ereignete sich der erste widrige »Zwischenfall«. Möglicherweise hatten Bud Perkins indirekte Bemerkungen die Bühne dafür vorbereitet. Jedenfalls war dieser »Zwischenfall« so nebelhaft, daß er fast gar nicht wahrnehmbar war und es ein Dutzend Erklärungen für ihn gab. Nur die späteren Ereignisse sind daran schuld, daß ich mich überhaupt an ihn erinnere. Es geschah etwa zwei Stunden nach Mitternacht. Ein unnatürliches Geräusch hatte mich geweckt. Jeder, der an einem fremden Ort schläft, gewöhnt sich allmählich an die dort üblichen Geräusche der Nacht, und bald überhört er sie im Schlaf, doch jeder neue Laut reißt ihn wieder aus dem Schlummer. So wie ein Stadtbewohner, der mehrere Nächte auf einem Bauernhof verbringt, sich an die Geräusche der Hühner, Vögel, des Windes oder der Frösche gewöhnt und doch von dem neuen Laut einer Kröte aufgeweckt wird, weil er nicht in den inzwischen bekannten Choral paßt, so wurde ich plötzlich eines neuen Lauts im nächtlichen Choral der Ziegenmelker, Eulen und Insekten gewahr.
Dieser neue Laut war unterirdisch; das heißt, er schien von tief unter dem Haus zu kommen, aus den Tiefen der Erde. Es hätte eine Erdverwerfung sein können, oder eine sich öffnende und schließende Spalte oder auch nur ein flüchtiges Erdbeben, aber es kam und ging mit einer gewissen Regelmäßigkeit, als würde es von einem sehr großen Ding verursacht, das sich in einer gewaltigen Höhle tief unter dem Haus bewegte. Es dauerte vielleicht eine halbe Stunde, schien von Osten heranzunahen und mit sehr gleichmäßigen Lauten auch dorthin wieder zu verschwinden. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte den undeutlichen Eindruck, daß das Haus sacht unter den unterirdischen Geräuschen erzitterte. Vielleicht war es dieser Zwischenfall, der mich dazu trieb, am nächsten Tag die Abstellkammer zu durchstöbern. Ich wollte selbst herausfinden, was mein neugieriger Nachbar mit seinen Fragen und Andeutungen über die Bishops gemeint hatte. Was hatten sie getan, daß ihre Nachbarn so schlecht von ihnen dachten? Die Abstellkammer war nicht so vollgeräumt, wie ich vermutet hatte. Vielleicht waren die meisten Dinge hinaus auf die Veranda gebracht worden. Das einzig Ungewöhnliche, das ich entdeckte, war ein Regal voller Bücher, die offenbar zum Teil noch in Gebrauch gewesen waren, als die Tragödie die Familie ausgelöscht hatte. Es waren Bücher aus sehr unterschiedlichen
Gebieten.
Hauptsächlich
handelte
es
sich
um
Gartenbücher. Sie waren extrem alt und lange nicht benutzt worden. Vermutlich hatte sie ein früheres Mitglied der Bishop-Familie versteckt, und sie waren erst vor kurzem wiederentdeckt worden. Ich warf einen raschen Blick in zwei oder drei von ihnen und stellte fest, daß sie für den modernen Gärtner völlig wertlos waren, denn sie beschrieben Methoden, mir zum größten Teil völlig unbekannte Pflanzen
zu ziehen und zu pflegen
Nieswurz, Mandragora, Nachtschatten,
Hexenhaselnuß und andere, und jene Seiten, auf denen bekanntere Gewächse
behandelt
wurden,
quollen
über
vor
Legenden
und
Aberglauben, die in unserer modernen Welt keinerlei Bedeutung mehr haben. Ein in Pappe gebundenes Buch war der Traumdeutung gewidmet. Es schien nicht häufig gelesen worden zu sein, war aber so verstaubt und fleckig, daß ich kaum etwas darin entziffern konnte. Es war eines dieser billigen Bücher, die vor zwei oder drei Generationen so beliebt gewesen waren. Die wenigen Traumdeutungen, die ich lesen konnte, waren höchst gewöhnlich. Es war halt ein Buch, wie man es bei einem unwissenden Bauern erwartete. Von allen Büchern rief nur ein einziges mein Interesse wach. Es war wirklich ein sehr seltsames Werk. Obwohl es höchstwahrscheinlich keinerlei literarischen Wert hatte, wäre es doch in jedem Kuriosa-Museum am rechten Platz gewesen. Damals unternahm ich nur wenige Anstrengungen, es zu lesen, denn es schien eine Ansammlung von sinnlosem Geschreibsel zu sein, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Traumbuch hatte. Es besaß ein unbeholfen beschriebenes Titelblatt, welches andeutete, daß sich seine Quelle in irgendeiner alten Privatbibliothek befunden haben mußte: Seth Bishop sein Buch, oder Auszüge aus dem Necronomicon & den Cultes des Goules & den Pnakotische
Manuskripte
&
dem
lyeh-Text ,
eigenhändig
abgeschrieben von Seth in den Jahren 1919 bis 1923. Darunter hatte er in einer spinnenartigen Handschrift, die sehr ungewöhnlich für einen Ungelehrten war, seine Unterschrift gesetzt. Zusätzlich zu diesem Buch gab es noch andere Werke, die in Beziehung mit dem Traumbuch standen. Ein Exemplar des berüchtigten
Sechsten und Siebten Buch Mosis
ein Buch, das von gewissen alten
Leuten aus dem hexenverseuchten Pennsylvanien hochgeschätzt wurde erkannte ich aufgrund eines kürzlich gelesenen Zeitungsartikels über einen Hexenmord. Weiterhin fand ich ein schmales Gebetbuch, in dem es nur Spottgebete zu geben schien, denn sie alle waren an Asrael und Sathanas sowie an andere dunkle Engel gerichtet. Es gab in der gesamten kleinen Bibliothek nichts von Wert, wenn man einmal von der Kuriosität der Bände absieht. Ihre Gegenwart zeugte lediglich von einer Mannigfaltigkeit dunkler Interessen bei allen Generationen der Bishop-Familie. Die Gartenbücher hatten höchstwahrscheinlich Seths Großvater gehört, während der Eigentümer des Traumbuches und des Bandes über Hexerei vermutlich jemand aus der Generation von Seths Vater gewesen war. Seth selbst schien sich für noch düstere Legenden interessiert zu haben. Die Werke, aus denen Seth Abschnitte kopiert hatte, waren jedoch anscheinend bedeutend gelehrter als das meiste, was ein Mann mit Seths Horizont üblicherweise liest. Das verwirrte mich, und bei der ersten sich bietenden
Gelegenheit
reiste
ich
nach
Aylesbury
und
stellte
Nachforschungen in einem Krämerladen am Rande des Ortes an. Ich vermutete, Seth habe ausschließlich hier seine Einkäufe gemacht, denn er hatte im Ruf eines scheuen Einzelgängers gestanden. Der Ladenbesitzer, der sich von Mutterseite her als entfernt mit Seth verwandt herausstellte, wollte nicht gern über Seth sprechen, doch schließlich antwortete er mir widerstrebend auf meine hartnäckigen Fragen. Von ihm »zuerst«
er hieß übrigens Obed Marsh
erfuhr ich, daß Seth
also vermutlich als Kind und junger Mann »so zurückgelieben
war wie jeder aus dieser Familie«. In den Jahren vor seinem zwanzigsten Geburtstag war er »merkwürdig« geworden; damit meinte Marsh, daß Seth zum Einzelgänger geworden war. Damals habe er andauernd über seine
seltsamen und verstörenden Träume und über gewisse Geräusche geredet, sowie über Visionen, die ihn innerhalb und außerhalb des Hauses überfielen. Nach zwei oder drei Jahren verstummte Seth plötzlich; er sprach nie wieder über diese Dinge. Er schloß sich in einem Zimmer im Erdgeschoß ein Abstellkammer
nach Marshs Beschreibung war es zweifellos die und las alles, dessen er habhaft werden konnte, aber
trotzdem »kam er nie sehr weit mit seiner Bildung.« Später suchte er die Bibliothek der Miscatonic University in Arkham auf und forschte dort weiter. Nach dieser Periode lebte Seth als Einsiedler, bis zu jenem Ereignis: dem schrecklichen Mord an Amos Bowden. All das war kaum mehr als die Geschichte eines unfähigen Geistes, der verzweifelt versucht hatte, sich Wissen anzueignen, und schließlich unter dieser Bürde zerbrochen war. So erschien es mir zumindest zu jenem Zeitpunkt meines Aufenthalts im Bishop-Haus.
2
In jener Nacht nahmen die Ereignisse eine außerordentliche Wendung. Wie bei so vielen anderen Vorkommnissen an meinem vorübergehenden Aufenthaltsort begriff ich ihre volle Bedeutung nicht sofort. Wenn man die nackten Fakten betrachtet, scheint es absurd, daß ich überhaupt einen Gedanken an sie verschwendet habe. Es war bloß ein Traum, den ich in jener Nacht hatte. Er war nicht einmal
besonders
erschreckend
oder
grauenhaft,
sondern
eher
beeindruckend und ehrfurchtgebietend. Ich träumte lediglich, ich liege schlafend im Haus der Bishops, und während ich dalag, nahm eine undeutliche, undefinierbare, aber irgendwie mächtige und eindrucksvolle nebelhafte Wolke im Keller Gestalt an, wogte durch die Mauern und Böden hoch, umhüllte die Möbel, schien aber weder ihnen noch dem Haus selbst zu schaden. Inzwischen bildete sie die Umrisse einer großen, amorphen Kreatur aus, aus deren Kopf fließende Fangarme hervorsprossen und wie Schlangen hin und her schwankten, während das Geschöpf ein seltsames Heulen ausstieß. Irgendwo in der Ferne spielte ein Orchester aus unheimlichen Instrumenten eine unirdische Musik, und eine menschliche Stimme sang fremdartige Worte, die, wie ich später erfuhr, wie folgt lauteten: Ph nglui mglw nafh Cthulhu R lyeh wagah nagl fhtagn. Schließlich stieg die amorphe Kreatur noch höher auf und umgab auch den Schläfer, also mich selbst. Kurz darauf schien sie sich in einen langen, dunklen Korridor zu verwandeln, durch den in irrer Hast ein menschliches Wesen rannte, das Ähnlichkeit mit der Beschreibung aufwies, welche mir
von dem verstorbenen Seth Bishop gegeben worden war. Auch dieses Wesen wurde größer, türmte sich beinahe so hoch auf wie der amorphe Nebel, verschwand wie dieser, während sie auf die schlafende Gestalt im Bett innerhalb jenes Hauses im Tal zulief. Auf den ersten Blick war dieser Traum bedeutungslos. Fraglos handelte es sich um einen Alptraum
aber darin lag nichts
Beängstigendes. Ich schien mir vage bewußt zu sein, daß etwas überaus Wichtiges mit mir geschah oder geschehen würde, aber da ich es nicht verstand, fürchtete ich es nicht. Außerdem verliehen die amorphe Kreatur, die singende Stimme, das Heulen und die seltsame Musik dem Traum eine geradezu rituelle Eindrücklichkeit. Als ich am Morgen erwachte, erinnerte ich mich an alle Einzelheiten dieses Traumes und hatte das hartnäckige Gefühl, daß sie mir nicht wirklich fremd waren. Irgendwo hatte ich schon einmal diesen phantastischen Gesang gehört oder niedergeschrieben gesehen. Unter diesem Gedanken fand ich mich in der Abstellkammer wieder, wie ich über dem unglaublichen Buch in Seth Bishops Handschrift brütete. Ich las hier und da einen Abschnitt und stellte verwundert fest, daß es in den Texten um einen uralten Glauben an die Älteren Götter und die Großen Alten ging sowie um einen Kampf zwischen ihnen
zwischen den Älteren
Göttern und solchen Kreaturen wie Hastur, Yog-Sothoth und Cthulhu. Dies schlug in mir einen bekannten Ton an. Als ich weitersuchte, fand ich den Gesang, den ich gehört hatte, und dazu eine Übersetzung in Seth Bishops Handschrift: In seinem Haus in R lyeh wartet träumend der tote Cthulhu. Das Verwirrende daran war, daß ich bei der ersten Durchstöberung der Abstellkammer nicht auf diese Liedzeile gestoßen war. Ich hatte vielleicht zufällig beim Durchblättern des Manuskripts den Namen
Cthulhu
gelesen, mehr aber auf keinen Fall. Wie hätte ich diesen Text also träumen
können, wenn er weder in meinem Bewußtsein noch in meinem Unterbewußtsein vorhanden war? Im allgemeinen nimmt man nicht an, daß der Geist im Traum Dinge erschafft, die ihm vollkommen fremd sind. Doch gerade dies ist mir widerfahren. Mehr noch: Als ich in diesem oft schockierenden Text über seltsame Überbleibsel alten Brauchtums und höllische Kulte weiterlas, entdeckte ich in vage gehaltenen Abschnitten Hinweise auf ein Wesen wie jenes, das ich im Traum gesehen hatte
nicht aus Nebel oder Dunst, sondern aus fester
Materie. Hierbei handelte es sich um einen weiteren Traumbestandteil, der meiner Erfahrung vollkommen fremd war. Ich hatte natürlich von der Theorie über psychische Rückstände gehört von zurückbleibenden Kräften, die jedes Ereignis hinterläßt, sei es eine große Tragödie oder irgendeine mächtige emotionale Erfahrung
Liebe,
Haß, Angst. Möglicherweise hatte etwas von dieser Art meinen Traum verursacht. Es war, als habe die Atmosphäre des Hauses mich im Schlaf durchdrungen.
Diese
Theorie
sah
ich
nicht
als
vollkommen
unwahrscheinlich an, denn ich befand mich eindeutig in einem seltsamen Haus, und die Ereignisse, die hier stattgefunden hatten, waren von eindrücklicher Kraft gewesen. Nun war Mittag, und mein Körper verlangte nach Nahrung, doch der nächste Schritt zur Aufklärung meines Traumes führte mich zunächst in den Keller. Nach eingehender Suche, während der ich auch die Regale mit alten eingemachten Früchten und Gemüsen von den Wänden rückte, entdeckte ich einen verborgenen Durchgang, der vom Keller in einen höhlenähnlichen Tunnel führte. Ich lief ein Stück weit hinein. Schon bald zwangen mich das schwindende Licht und die Feuchtigkeit des Bodens, umzukehren
doch erst, als ich die beunruhigende Weiße der über das
Erdreich verstreuten Knochen erkannt hatte.
Ich kehrte mit einer Lampe in diesen unterirdischen Korridor zurück und verließ ihn erst, als ich keinen Zweifel mehr daran hegte, daß es sich bei den Knochen um Tierskelette handelte. Es waren eindeutig mehrere Tiere. Nicht die Entdeckung dieser Knochen, sondern die Frage, wie sie dorthin gekommen waren, verwirrte mich. Doch damals dachte ich nicht lange darüber nach. Ich wollte tiefer in den Tunnel eindringen und ging in Richtung Küste, bis ein Erdrutsch mir den Weg versperrte. Als ich schließlich den Tunnel wieder verließ, war es später Nachmittag, und ich war nahezu halb verhungert. Doch zwei Dinge wußte ich nun mit Gewißheit: Der Tunnel war keine natürliche Höhle zumindest nicht am vorderen Ende; er war deutlich das Werk menschlicher Hände; und er war zu irgendeinem dunklen Zweck benutzt worden, von dem ich mir keine Vorstellung machen konnte. Diese Entdeckungen erfüllten mich mit großer Aufregung. Wenn ich mich völlig unter Kontrolle gehabt hätte, wäre mir zweifellos aufgefallen, daß ein solches Verhalten sehr untypisch für mich war, doch in jenem Augenblick lockte mich ein Rätsel, das mir von größter Wichtigkeit zu sein schien. Ich war fest entschlossen, soviel wie möglich von diesem bisher anscheinend unbekannt
gebliebenen
Teil des Bishop-Anwesens zu
erkunden.
Notgedrungen mußte ich damit bis zum nächsten Tag warten, denn zur Erforschung der Höhle brauchte ich Werkzeuge, und die hatte ich im Haus bisher nicht gefunden. Eine weitere Reise nach Aylesbury war also unausweichlich. Ich ging zu Obed Marshs Laden und fragte nach einer Spitzhacke und Schaufeln. Irgendwie schien diese Bitte den alten Mann aufzuregen. Er wurde blaß und zögerte, mich zu bedienen. »Wollen Sie graben, Mr. Bates?« Ich nickte.
»Es geht mich ja nichts an, aber Sie sollten wissen, daß es genau das war, was Seth getan hat. Hat dabei drei oder vier Schaufeln verbraucht.« Er lehnte sich vor; seine Augen glitzerten. »Und das Seltsamste ist, daß keiner je rausgefunden hat, wo er gegraben hat
man hat nie nirgendwo
ne Schaufelvoll Erde gesehn.« Das verblüffte mich, aber ich erwiderte ohne zu zögern: »Die Erde um das Haus sieht gut und fruchtbar aus.« Er schien erleichtert zu sein. »Also wenn Sie nen Garten anlegen wollen, dann ist das natürlich was anderes.« Ein anderer meiner Einkäufe verwirrte ihn wieder. Ich benötigte ein Paar Gummistiefel, um mich vor dem Schlamm und Dreck des Tunnelbodens zu schützen; offenbar sickerte das Wasser des nahen Baches durch. Aber Marsh sagte nichts dazu. Als ich gehen wollte, redete er wieder über Seth. »Sie haben sonst nix gehört, Mr. Bates, oder?« »Die Leute hier in der Gegend reden nicht viel.« »Sind halt nicht alle Marshs«, erwiderte er mit einem verstohlenen Grinsen. »Manche sagen, daß Seth eher n Marsh als n Bishop war. Die Bishops haben an Hexen und sowas geglaubt, die Marshs aber nie.« Mit dieser kryptischen Aussage in den Ohren verließ ich den Laden. Nun war ich auf den Tunnel vorbereitet und konnte den nächsten Tag kaum erwarten, an dem ich zu diesem unterirdischen Ort zurückkehren und das Rätsel weiter erforschen wollte, das sicherlich mit dem ganzen legendären Umkreis der Bishop-Familie in Beziehung stand. Die Ereignisse beschleunigten sich nun. In jener Nacht geschah zweierlei. Das Erste bemerkte ich kurz nach Einbruch der Dämmerung. Ich sah, wie Bud Perkins um das Haus herumschlich. Ich war verärgert, denn ich hatte gerade in den Keller hinabsteigen wollen, doch gleichzeitig
wollte ich natürlich wissen, was Bud hier zu suchen hatte; also öffnete ich die Tür, trat nach draußen in den Vorgarten und ihm in den Weg. »Suchen Sie etwas Bestimmtes, Bud?« fragte ich. »Hab n Schaf verloren«, antwortete er lakonisch. »Ich habe es nicht gesehen.« »Ist aber hierhin gelaufen«, meinte er. »Sie können sich gern umschauen.« »Will gar nicht dran denken, daß jetzt alles wieder von vorn losgeht«, sagte er. »Was meinen Sie damit?« »Wenn Sie s nicht verstehen, hat s auch keinen Zweck, es Ihnen zu sagen. Wenn Sie s wissen, ist es sowieso besser, wenn ich den Mund halte. Also sag ich nix.« Dieses rätselhafte Gespräch verblüffte mich. Offenbar glaubte Bud Perkins, daß mir sein Schaf in die Hände gefallen sei. Ich trat einen Schritt zurück und stieß die Tür auf. »Wenn Sie wollen, können Sie auch im Haus nachsehen.« Bei diesen Worten weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. »Ich soll einen Fuß da rein setzen?« rief er. »Niemals!« Er fügte hinzu: »Ich bin der einzige, der Mumm genug hat, so nahe ans Haus ranzugehen. Aber ich würd nicht für alles Geld der Welt da reingehen. Nein, ich nicht.« »Es ist aber völlig sicher da drinnen«, sagte ich und mußte über seine Furcht lächeln. »Das glauben Sie vielleicht. Wir wissen s aber besser. Wir wissen, was hinter den schwarzen Wänden wartet
was drauf wartet, daß jemand
kommt. Und jetzt sind Sie gekommen. Und nun geht alles wieder von vorn los, wie früher.«
Er drehte sich um und rannte wie bei seinem vorigen Besuch zurück in den Wald. Als ich mich davon überzeugt hatte, daß er nicht zurückkam, ging ich zurück ins Haus. Und dort machte ich eine Entdeckung, die mich eigentlich hätte aufrütteln müssen, die mir damals aber nur etwas ungewöhnlich erschien, da ich offenbar in lethargischem Zustand und nicht ganz wach war. Die neuen Stiefel, die ich erst gestern gekauft hatte, waren benutzt worden; sie waren schlammbespritzt. Ich wußte aber genau, daß sie am vorigen Tag sauber und unbenutzt gewesen waren. Als ich sie sah, wuchs in mir ein Gedanke. Ohne die Stiefel anzuziehen, ging ich in den Keller, öffnete den Durchgang zum Tunnel und lief hastig bis zu dem Erdrutsch. Vielleicht hatte ich gewußt, was ich finden würde. Die eingebrochene Erde war zum Teil fortgeschaufelt, so daß ein Loch entstanden war, durch das man sich quetschen konnte. Und die Spuren im feuchten Erdreich stammten eindeutig von meinen neuen Stiefeln, denn das in die Sohle eingeschnittene Markenzeichen war im Schein meiner Taschenlampe deutlich zu erkennen. Es gab nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder hatte jemand in der vergangenen Nacht meine Stiefel benutzt und diese Veränderung im Tunnel bewirkt, oder ich war schlafgewandelt und hatte es selbst getan. Es war kaum zweifelhaft, welche der beiden Alternativen zutraf, denn trotz meiner Ungeduld und Erwartungshaltung war ich so erschöpft, als hätte ich einen großen Teil der Nacht beim Buddeln an der unterirdischen Barriere verbracht. Ich kann heute die Überzeugung nicht verhehlen, daß ich damals wußte, was ich finden würde, wenn ich mich weiter in den Tunnel hineinarbeitete: die uralten, altarähnlichen Gebilde in den unterirdischen Höhlen, zu denen der Tunnel sich öffnete, und den Beweis für weitere
Opferhandlungen
diesmal nicht nur Tiere, sondern auch unleugbar
menschliche Knochen, und schließlich, ganz am Ende, die gewaltige Höhle. Sie öffnete sich nach unten zum schwach glitzernden Wasser, das durch eine Öffnung in der Tiefe hereinwogte. Es war zweifellos der atlantische Ozean, der durch unterirdische Kavernen hierher strömte. Auch muß ich eine Ahnung davon gehabt haben, was ich sonst noch vor dem endgültigen Abstieg in die Meerestiefe vorfand: die Wollbüschel, der einzelne Huf mit einem zerrissenen und gebrochenen Beinstück daran. Das war alles, was von dem jungen, frischen Schaf übriggeblieben war! Ich floh erschüttert und wollte nicht wissen, wie das Schaf hierhergekommen war. Bestimmt handelte es sich um Bud Perkins Tier. War es aus demselben Grund dorthin gebracht worden wie die anderen Kreaturen, deren Überreste ich vor jenen dunklen und geborstenen Altären in den kleineren Höhlen zwischen dem ewig aufgewühlten Wasser und dem Haus gefunden hatte? Ich blieb nicht lange im Haus, sondern machte mich wieder auf den Weg nach Aylesbury, scheinbar ziellos, doch
wie ich jetzt weiß
gedrängt durch meinen Wunsch, mehr über die Legenden und Überlieferungen zu erfahren, die sich um das Bishop-Haus rankten. Doch in Aylesbury erfuhr ich zum ersten Mal die volle Wucht öffentlicher Mißbilligung, denn die Leute auf der Straße wandten den Blick von mir ab und drehten mir den Rücken zu. Ein junger Mann, den ich ansprach, lief an mir vorbei, als ob ich gar nicht vorhanden sei. Selbst Obed Marshs Haltung zu mir hatte sich verändert. Er hatte nichts dagegen, mein Geld zu nehmen, war aber mürrisch und wollte offensichtlich, daß ich seinen Laden so schnell wie möglich wieder verließ. Doch ich ließ keinen Zweifel daran, daß ich erst gehen würde, wenn er meine Fragen beantwortet hatte. Ich wollte wissen, was ich getan hatte,
daß mich die Leute mieden. »Es ist dieses Haus«, sagte er schließlich. »Man kann es doch nicht mit mir gleichsetzen«, gab ich unzufrieden zurück. »Es gibt Gerede.« »Gerede? Was für Gerede?« »Über Sie und Bud Perkins armes Schaf. Über das, was zu Seth Bishops Lebzeiten passiert
ist.« Er beugte
sich
mit
düsterem
Gesichtsausdruck zu mir vor und flüsterte rauh: »Es gibt Leute, die sagen, Seth sei zurückgekommen.« »Seth Bishop ist schon lange tot und begraben.« Er nickte. »Ja, ein Teil von ihm. Aber ein anderer Teil vielleicht nicht. Ich sage Ihnen, das Beste wäre für Sie, jetzt von hier zu verschwinden. Noch haben Sie Zeit dazu.« Ich erinnerte ihn kühl daran, daß ich das Bishop-Haus gepachtet und die Miete für vier Monate im Voraus bezahlt hatte; außerdem besaß ich die Option darauf, ein ganzes Jahr dort zu verbringen. Er wurde sofort zugeknöpft und sagte nichts mehr über meine Bleibe. Ich fragte ihn trotzdem nach Einzelheiten aus Seth Bishops Leben, aber alles, was er mir sagen wollte oder konnte, waren Zusammenfassungen von undeutlichen Gerüchten und dunklen Verdächtigungen, die in der Nachbarschaft kursierten, so daß ich ihn schließlich mit einer Vorstellung von Seth Bishop verließ, die weniger zu Furcht als vielmehr zu Mitleid Anlaß bot. Er war von seinen Nachbarn auf den Hügelkämmen und den Leuten aus Aylesbury in seinem schwarzen Haus im Tal wie ein Tier unter Kontrolle gehalten worden, zugleich gehaßt und gefürchtet, obwohl es nicht das geringste Anzeichen dafür gab, daß er irgendeine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Gegend darstellte.
Was hatte Seth Bishop denn getan
außer dem letzten Verbrechen,
dessen er sich schuldig gemacht hatte? Er hatte das Leben eines Einsiedlers geführt und den seltsamen Garten seiner Vorfahren verwildern lassen; er hatte dem düsteren Interesse seines Großvaters und seines Vaters an Hexerei und Okkultismus den Rücken gekehrt und sich statt dessen eingehend für weitaus ältere Überlieferungen interessiert, die allerdings genauso lächerlich waren wie das Hexenwesen. Es war wohl so, daß solche Interessen in derart abgelegenen Gebieten und insbesondere bei so alten Familien wie den Bishops einfach nicht untergingen. Vielleicht hatte Seth in den alten Büchern seiner Vorfahren gewisse düstere Andeutungen entdeckt, welche ihn in die Bibliothek der Miscatonic-University getrieben hatten, wo er sich eifrig an die gewaltige Aufgabe gemacht hatte, große Teile von Büchern abzuschreiben, die er vermutlich nicht entleihen durfte. Die Überlieferungen, die ihn hauptsächlich beschäftigt hatten, waren im wesentlichen eine Verzerrung alter christlicher Legenden; kurz gesagt bestanden sie aus den Berichten über den kosmischen Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Es war schwer, eine Zusammenfassung davon zu geben, aber es hatte den Anschein, daß diesen Legenden zufolge die ersten Bewohner des Weltraums große Wesen in nichtmenschlicher Gestalt waren, »Ältere Götter« genannt, und diese hatten vor undenklichen Zeiten auf Beteigeuze gelebt. Gegen diese Wesen hatten gewisse »Alte«, auch genannt »Große Alte«, rebelliert: Azathoth, Yog-Sothoth, der amphibische Cthulhu, der fledermausähnliche Hastur der Unaussprechliche, Lloigor, Zhar, Ithaqua der Windwanderer und die Erdwesen Nyarlathotep und Shub-Niggurath. Doch ihr Aufstand schlug fehl, und sie wurden von den Älteren Göttern
verbannt und unter ihrem Siegel auf fernen Planeten und Sternen eingekerkert: Cthulhu tief unter dem irdischen Meer an einem Ort namens lyeh, Hastur auf einem schwarzen Stern in den Hyaden in der Nähe Aldebarans, Ithaqua in der arktischen Eiswüste, andere an einem Ort namens Kadath in der Kalten Wüste, der in einer Raum-Zeit-Parallele zu einem Teil Asiens existiert. Seit dieser ursprünglichen Rebellion
die im wesentlichen den
Legenden über die Rebellion Satans und seiner Anhänger gegen die himmlischen Erzengel entsprach
hatten die Großen Alten unablässig
versucht, ihre Macht wiederzuerlangen und gegen die Älteren Götter zu kämpfen, und auf der Erde und anderen Planeten waren Kultgemeinden und Gefolgschaften wie die schrecklichen Schneemenschen, die Dholen, die Tiefen Wesen und viele andere entstanden; alle hatten sich dem Dienst an den Großen Alten verschrieben, und mehrfach war es ihnen gelungen, die Älteren Siegel zu entfernen und die Mächte des uranfänglichen Bösen zu entfesseln, die jedoch entweder durch unmittelbares Eingreifen der Älteren
Götter
oder
die
Wachsamkeit
menschlicher
Wesen
niedergeschlagen werden konnten. Das war die Zusammenfassung dessen, was Seth Bishop aus den alten und seltenen Büchern kopiert hatte. Vieles davon wiederholte sich, und es handelte sich ausnahmslos um die wildesten Phantasien. Es stimmt, daß einige beunruhigende Zeitungsausschnitte dem Manuskript angehangen waren
Berichte über die Geschehnisse am Teufelsriff vor Innsmouth im
Jahre 1928, über eine angebliche Seeschlange in Rick s Lake, Wisconsin, über einen schrecklichen Vorfall im nahegelegenen Dunwich und einen anderen in den Wäldern von Vermont, doch all das waren in meinen Augen Zufälle, die einen ähnlichen Ton wie das Manuskript anschlugen. Zwar gab es bisher keine Erklärung für den unterirdischen Tunnel, der zum
Meer führte, aber ich sah es als sicher an, daß er das Werk eines Vorfahren von Seth Bishop gewesen war und Seth ihn erst erheblich später für seine eigenen Zwecke benutzt hatte. Aus alldem ergab sich das Portrait eines unwissenden Mannes, der sich auf den ihn interessierenden Gebieten bilden wollte. Er war zwar leichtgläubig und abergläubisch und vielleicht am Ende auch geistig verwirrt gewesen, aber sicherlich nicht durch und durch böse.
3
Es war etwa um diese Zeit, als mich ein höchst merkwürdiges Gefühl beschlich. Ich hatte den Eindruck, daß sich noch jemand im Haus befinde ein fremdes menschliches Wesen, das dort nichts zu suchen hatte und von außen eingedrungen war. Obwohl seine Berufung das Malen von Bildern zu sein schien, war ich mir sicher, daß er bloß gekommen war, um herumzuspionieren. Ich erhaschte nur sehr flüchtige Blicke auf ihn. Manchmal sah ich sein Abbild in einem Spiegel oder einer Fensterscheibe, wenn ich in der Nähe war, aber ich entdeckte im nördlichen Zimmer des Erdgeschosses Anzeichen seiner Arbeit
eine unvollendete Leinwand auf
der Staffelei und mehrere fertiggestellte Bilder. Ich hatte keine Zeit, nach ihm zu suchen, denn der Eine unten rief nach mir, und jede Nacht stieg ich mit Nahrung hinab
nicht für ihn, denn er
nährte sich von etwas, das keinem sterblichen Wesen bekannt war, sondern für jene aus der Tiefe, die ihn begleiteten und in der Höhle aus dem Wasser tauchten. Für meine Augen waren sie wie eine Spottgeburt aus Mensch und Frosch; sie hatten Schwimmhäute an den Händen und breite, krötenähnliche Münder sowie Kiemen und große Glotzaugen, mit denen sie auch in den dunkelsten Winkeln Seines Schlafplatzes unter dem gewaltigen Meer sehen konnten. Dort unten wartete er darauf, sich wieder zu erheben und von seinem Königreich Besitz zu ergreifen, das auf der Erde und in Raum und Zeit zugleich lag, wo er einst über alle anderen geherrscht hatte, bis er niedergeworfen worden war. Vielleicht kam all das von dem alten Tagebuch, das ich jetzt las, als sei es ein Buch, das ich seit meiner Kindheit wie einen Schatz behandelte. Ich
hatte es zufällig im Keller gefunden. Es war verschimmelt und wirkte, als habe es sehr lange dort gelegen
zum Glück, denn es standen Dinge darin,
die kein Außenstehender lesen durfte. Die ersten Seiten waren verschwunden, herausgerissen und verbrannt in einem Anfall von Angst, bevor das Selbstvertrauen stark genug geworden war. Aber alle anderen Blätter waren noch vorhanden, und die spinnenhafte Handschrift war gut lesbar »8. Juni. Ging um acht zum Versammlungsort, zog das Kalb der Mores hinter mir her. Zählte zweiundvierzig Tiefe Wesen. Auch einen anderen, keiner von ihnen, wie ein Oktopus, aber es war keiner. Bin drei Stunden dort geblieben.« Das war der erste Eintrag. Die folgenden Einträge waren ähnlich; es ging um den Besuch des unterirdischen Wasserlochs und um das Treffen mit den Tiefen Wesen und gelegentlich mit anderen Wassergeschöpfen. Im September des Jahres aber ereignete sich eine Katastrophe »21. September. Die Löcher überfüllt. Habe erfahren, daß etwas Furchtbares beim Teufelsriff passiert ist. Einer von den alten Narren in Innsmouth hat etwas gesagt, und die Leute von der Regierung sind mit Unterseebooten und Schiffen gekommen und haben das Teufelsriff und die Häuser, die direkt am Meer lagen, gesprengt. Die Marsh-Leute sind abgehauen
zumindest die meisten. Viele Tiefe Wesen getötet. Die
Bomben haben R lyeh aber nicht erreicht, wo Er träumend lebt 22. September. Weitere Berichte aus Innsmouth. 371 Tiefe Wesen getötet. Viele aus Innsmouth abgeführt
all jene, die der Marsh- Look
verraten hat. Einer von ihnen sagte, daß alle, die vom Marsh-Clan übriggeblieben waren, nach Ponape geflohen seien. Drei Tiefe Wesen von dort heute nacht hier. Sagen, sie erinnern sich, wie Käpt n Marsh dort angekommen ist und welchen Pakt er mit ihnen geschlossen hat und wie er
eine von ihnen geheiratet hat und Kinder bekam, geboren von einem Menschen und einer Tiefen, die den Marsh-Clan auf ewig befleckt haben, und wie seitdem den Schiffen der Marshs nichts mehr passierte und ihre Unternehmungen auf See ihre kühnsten Erwartungen übertrafen. Sie wurden reich und mächtig und waren bald die wohlhabendste Familie in Innsmouth, wo ihre Mitlieder tagsüber in den Häusern blieben und nachts zu den Tiefen Wesen am Riff schwammen. Die Marsh-Häuser in Innsmouth wurden verbrannt, und die Regierung erfuhr alles. Aber die Marshs werden zurückkehren, sagen die Tiefen Wesen, und alles wird von neuem beginnen an dem Tag, an dem der Große Alte sich aus dem Meer erheben wird. 23. September. Schreckliche Zerstörungen in Innsmouth. 24. September. Es wird Jahre dauern, bis Innsmouth wieder aufgebaut ist. Sie werden warten, bis die Marshs zurückkommen.« Man konnte über Seth Bishop sagen, was man wollte. Er war kein Narr. Das hier war der Bericht eines Autodidakten. All die Arbeit an der Miscatonic University war nicht umsonst gewesen. Von allen Bewohnern der Region um Aylesbury wußte er allein, was in den atlantischen Tiefen vor der Küste verborgen lag; niemand sonst ahnte etwas Das waren meine Gedanken und Beschäftigungen in jenen Tagen im Bishop-Haus. Ich dachte so und lebte so. Und nachts? Sobald sich die Dunkelheit dem Haus genähert hatte, war ich mir noch deutlicher bewußt, daß sich irgend etwas ereignen werde. Aber irgendwie habe ich es verdrängt. Wie könnte es auch anders sein? Ich wußte, warum die Möbel auf die Veranda gebracht worden waren: weil die Tiefen Wesen durch den Tunnel bis in das Haus kamen. Es waren Amphibien. Sie hatten buchstäblich die Möbel verdrängt, und Seth hatte sich nie die Mühe gemacht, sie wieder hineinzuschaffen.
Jedesmal, wenn ich das Haus verließ und mich von ihm entfernte, sah ich es wieder in seinen tatsächlichen Proportionen, was mir nicht mehr gelang, wenn ich in ihm war. Die Haltung meiner Nachbarn war für mich inzwischen zur Bedrohung geworden. Nicht nur Bud Perkins belauerte das Haus, sondern auch einige von den Bowdens und Mores und einige andere aus Aylesbury. Ich ließ sie alle kommentarlos herein
all jene, die sich
trauten. Bud war nicht dabei und auch niemand von den Bowdens. Aber die anderen suchten vergeblich nach etwas, das sie zu finden gehofft hatten. Und was hatten sie zu finden gehofft? Sicherlich nicht die Kühe, die Hühner, die Schweine und Schafe, die ihnen abhanden gekommen waren. Warum sollte ich sie genommen haben? Ich zeigte ihnen, wie kärglich ich lebte, und sie sahen sich die Bilder an. Doch sie alle gingen verdrießlich fort, schüttelten den Kopf und waren nicht im mindesten überzeugt. Konnte ich noch mehr tun? Ich wußte, daß sie mich mieden und haßten, und sie hielten schließlich Distanz zum Haus. Trotzdem störten und beunruhigten sie mich. Es gab Tage, an denen ich erst gegen Mittag erschöpft aufwachte, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Noch verwirrender war der Umstand, daß ich oft vollständig angekleidet war, wo ich doch genau wußte, daß ich ausgezogen zu Bett gegangen war, und ich entdeckte Blutflecken auf Kleidung und Händen. Tagsüber fürchtete ich mich davor, in jenen unterirdischen Tunnel zurückzukehren, doch eines Tages zwang ich mich trotzdem dazu. Ich ging mit meiner Taschenlampe hinunter und untersuchte den Tunnelboden sorgfältig. Dort, wo die Erde weich war, sah ich die Spuren vieler Füße in beide Richtungen verlaufen. Die meisten davon waren menschliche Abdrücke
doch es gab auch andere, beunruhigende: nackte Füße mit
verwischten Zehen, als seien sie durch Schwimmhäute verbunden! Ich
gestehe, daß ich zitternd den Lichtkegel von ihnen abwandte. Was ich am Rande der Wassergrube sah, war genug, um durch den Tunnel zurück zum Haus zu fliehen. Etwas war aus den nassen Tiefen geklettert; ich sah die Spuren klar und konnte sie ebenso klar deuten, und es war unschwer zu erkennen, was hier geschehen war, denn alle nötigen Beweise lagen in stummen Überresten auf dem Grund verstreut und leuchteten unter meiner Lampe weißlich auf! Ich wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis die Wut meiner Nachbarn überkochte. In diesem Haus, ja im ganzen Tal konnte es keinen Frieden geben. Der alte Haß, die alten Feindschaften lebten weiter und gediehen prächtig an diesem Ort. Bald verlor ich jegliches Zeitgefühl; ich existierte buchstäblich in einer anderen Welt, denn dieses Haus im Tal war eindeutig der Brennpunkt für den Zugang zu einer anderen Seinsebene. Ich weiß nicht, wie lange ich in dem Haus verbrachte
vielleicht sechs
Wochen oder auch zwei Monate , als eines Tages der Bezirkssheriff in Begleitung von zwei seiner Untergebenen mit einem Haftbefehl bei mir erschien. Mit grimmiger Miene erklärte er mir, daß er diesen Haftbefehl eigentlich nicht ausführen, mir aber trotzdem einige Fragen stellen wolle, und wenn ich ihn und seine Männer nicht freiwillig begleitete, werde ihm nichts anderes übrigbleiben, als den Haftbefehl auszuführen, der, wie er mir im Vertrauen sagte, auf einer schweren Anklage beruhe, die ihm höchst übertrieben und völlig unbegründet erschien. Ich ging freiwillig mit
den ganzen Weg bis nach Arkham. In dieser
uralten Stadt mit ihren winkeligen Walmdächern fühlte ich mich seltsam wohl und hatte keinerlei Angst vor dem, was da kommen mochte. Der Sheriff war ein liebenswürdiger Mann, dessen Einschreiten ich zweifellos meinen Nachbarn zu verdanken hatte.
Als ich ihm in seinem Büro gegenübersaß und ein Stenograph alles mitschrieb, entschuldigte er sich beinahe für die Umstände, die er mir bereitet habe. Als erstes wollte er wissen, ob ich in der vorletzten Nacht das Haus verlassen hatte. »Meines Wissens nicht«, antwortete ich. »Sie werden doch wohl kaum Ihr Haus verlassen, ohne es zu bemerken.« »Ich könnte schlafwandeln.« »Schlafwandeln Sie denn für gewöhnlich?« »Nicht, bevor ich hierher gekommen bin. Keine Ahnung, ob ich es seit meiner Ankunft tue.« Er stellte mir scheinbar bedeutungslose Fragen und umging das Wesentliche. Doch schließlich sprach er es aus. Man hatte einen Menschen gesehen, der irgendwelche Tiere zu einer Herde führte, die sich nachts auf der Weide befand. Die gesamte Herde wurde bis auf zwei Tiere buchstäblich in Stücke gerissen. Das Vieh hatte Sereno More gehört, und er war es gewesen, der mich angezeigt hatte. Bud Perkins hatte ihn dazu angestiftet; er war noch beharrlicher als Sereno. Als der Sheriff die Anklage endlich vorgebracht hatte, wirkte sie lächerlicher denn je. Auch er selbst spürte das, und sein Verhalten wurde noch kleinlauter. Ich konnte kaum ein Lachen unterdrücken. Welches Motiv sollte ich für eine solche Tat haben? Und was für »Tiere« hatte ich angeblich angeführt? Ich besaß keine, nicht einmal einen Hund oder eine Katze. Trotzdem war der Sheriff auf freundliche Weise hartnäckig. Wie sei ich zu den Kratzern an meinen Armen gekommen? Ich bemerkte sie zum ersten Mal und starrte sie nachdenklich an.
Hatte ich Beeren gepflückt? Ich hatte, und das sagte ich. Aber ich fügte hinzu, daß ich mich nicht daran erinnere, Kratzer davongetragen zu haben. Der Sheriff schien erleichtert zu sein. Er vertraute mir an, daß der Schauplatz des Angriffs auf die Viehherde an einer Seite von einer Brombeerhecke
begrenzt
wurde
und
meine
Kratzer
daher
ein
bemerkenswerter Zufall waren, den man nicht unbeachtet lassen durfte. Dennoch schien er mit meiner Erklärung zufrieden zu sein, und als er bemerkte, daß ich wirklich der war, welcher zu sein ich behauptete, wurde er gesprächiger. So erfuhr ich, daß früher schon einmal etwas Ähnliches geschehen war; damals wurde Seth Bishop angeklagt, doch wie diesmal kam bei der ganzen Sache nichts heraus. Das Bishop-Haus war durchsucht worden, aber man hatte nichts gefunden, und der Angriff war so grundlos und
unmotiviert
gewesen,
daß
allein
aufgrund
der
dunklen
Verdächtigungen der Nachbarn niemand vor Gericht gestellt werden konnte. Ich versicherte ihm, daß ich gern bereit sei, mein Haus durchsuchen zu lassen. Er grinste und sagte mir in aller Freundlichkeit, daß es bereits vom Dach bis zum Keller durchsucht worden war, während ich mich in seiner Gesellschaft befand. Man hatte wieder einmal nicht das Geringste gefunden. Doch als ich zu dem Haus im Tal zurückkehrte, war ich besorgt, und mir war unbehaglich zumute. Ich versuchte, wach zu bleiben und der Dinge zu harren, die da kommen mochten, aber es gelang mir nicht. Ich schlief ein
nicht im Schlafzimmer, sondern in der Abstellkammer,
während ich über diesem seltsamen und schrecklichen Buch in Seth Bishops Handschrift brütete. Ich träumte zum zweitem Mal. Und wieder träumte ich von einem
gewaltigen, amorphen Wesen, das sich aus dem Wasserloch in der Höhle hinter dem Tunnel erhob; doch diesmal war es nicht nebelhaft, sondern schrecklich und schockierend real, es bestand aus Fleisch, das aus altem Fels geschaffen zu sein schien
ein riesiger Fels aus Materie, gekrönt von
einem Kopf ohne Hals. An seinem unteren Rand schlängelten und wanden sich Tentakel, die sich zu außerordentlicher Länge ausstreckten. Während das Geschöpf aus dem Wasser stieg, schwammen die Tiefen Wesen in einer Ekstase der Anbetung und Unterwerfung um es herum, und erneut erhob sich die schrecklich schöne Musik, und tausend froschähnliche Kehlen schrien verheißungsvoll und schrill »Iä! Iä! Cthulhu fhtagn!« Und abermals ertönte das Geräusch gewaltiger Tritte unter dem Haus, in den Eingeweiden der Erde In diesem Moment wachte ich auf, und ich hörte noch immer die unterirdischen Tritte und spürte, wie Haus und Erde im Tal erzitterten. Die unglaubliche Musik ertönte in den Tiefen unter dem Gebäude. In meinem Entsetzen floh ich aus dem Haus und rannte blindlings fort, nur um mich damit in noch größere Gefahr zu begeben. Bud Perkins stand vor mir, mit dem Gewehr im Anschlag. »Wohin wollen Sie gehen?« fragte er fordernd. Ich hielt an und wußte nicht, was ich sagen sollte. Im Haus hinter mir war jetzt alles still. »Nirgendwohin«, sagte ich schließlich. Meine Neugier überwand meinen Abscheu gegen diesen finsteren Nachbarn, und ich fragte ihn: »Haben Sie etwas gehört, Bud?« »Wir alle hören es, Nacht für Nacht. Jetzt bewachen wir unser Vieh. Das sollten Sie wissen. Wir wollen auf niemanden schießen, aber wenn wir es müssen, tun wir s.« »Ich kann nichts dafür.«
»Die anderen auch nicht«, antwortete er lakonisch. Ich spürte seine Feindseligkeit. »Genauso war s, als Seth Bishop noch hier war. Wir sind nicht sicher, ob er vielleicht nicht doch noch hier ist.« Bei diesen Worten überkam mich eine merkwürdige Kälte; jetzt schien das Haus hinter mir trotz aller dort lauernden Schrecken einladender zu sein als die Dunkelheit hier draußen, wo Bud und seine Nachbarn mit Waffen Wache standen, die genauso tödlich waren wie alles, was sich innerhalb dieser schwarzen Mauern befand. Vielleicht war auch Seth Bishop dieser Haß entgegengeschlagen; vielleicht hatte er die Möbel nicht zurück ins Haus gebracht, weil sie einen Schutzwall gegen die Kugeln bildeten. Ich drehte mich um und ging ohne ein weiteres Wort ins Haus zurück. Drinnen war nun alles ruhig. Nirgendwo hörte ich ein Geräusch. Ich hatte es zunächst als etwas ungewöhnlich angesehen, daß es keine Anzeichen von Mäusen oder Ratten in dem verlassenen Haus gab, denn ich wußte, wie schnell diese kleinen Tiere ein Gebäude in Beschlag nahmen. Jetzt hätte ich das Geräusch ihres Umherhastens und Nagens willkommen geheißen. Aber da war nichts außer erwartungsvoller Totenstille, als ob das Haus wisse, daß es von wild entschlossenen, erbarmungslosen Männern umzingelt war, die sich gegen ein Grauen bewaffnet hatten, das sie nicht kannten. Erst tief in der Nacht schlief ich ein.
4
Mein Zeitgefühl war in diesen Wochen nicht sehr gut, wie ich schon betonte. Wenn meine Erinnerung mir keinen Streich spielt, gab es nach jener Nacht eine Ruhepause von beinahe einem Monat. Allmählich bemerkte ich, daß die Wachen abgezogen wurden; nur Bud Perkins blieb erbarmungslos auf dem Posten, Nacht für Nacht. Es muß mindestens fünf Wochen später gewesen sein, als ich eines Nachts aus dem Schlaf erwachte und mich in dem Tunnel unter dem Haus wiederfand. Ich ging in Richtung Keller, fort von dem gähnenden Abgrund am anderen Ende. Mich hatte ein ungewohntes Geräusch aufgeweckt
ein
Kreischen, das nur von einer menschlichen Stimme weit hinter mir herrühren konnte. Ich lauschte in kaltem Grauen und gleichzeitiger Lethargie, während die Schreie an- und abschwollen und schließlich einfach abgeschnitten wurden. Danach stand ich lange Zeit an dieser Stelle; ich konnte mich weder vorwärts noch zurück bewegen und wartete darauf, daß die erschreckenden Schreie wieder einsetzten. Sie erklangen aber nicht wieder, und schließlich ging ich zu meinem Zimmer und fiel erschöpft auf das Bett. Am nächsten Morgen erwachte ich mit einer Vorahnung dessen, was kommen würde. Und es kam
am Vormittag, in Form eines mürrischen, haßerfüllten
Mobs aus Männern und Frauen; die meisten waren bewaffnet. Glücklicherweise hielt ein Untergebener des Sheriffs sie im Zaum. Obwohl sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten, beanspruchten sie für sich das Recht, mein Haus zu durchstöbern.
Angesichts ihrer Stimmung wäre es verrückt gewesen, es ihnen zu verweigern; also versuchte ich es erst gar nicht. Ich trat nach draußen und ließ die Tür hinter mir offen für sie. Sie stürmten das Haus, und ich hörte, wie sie Raum für Raum unten und oben durchkämmten und Gegenstände verrückten und umherwarfen. Ich protestierte nicht dagegen, denn ich wurde von drei Männern bewacht, von denen einer Obed Marsh, der Ladenbesitzer aus Aylesbury, war. Er war es, den ich schließlich so gefaßt wie möglich ansprach: »Darf ich fragen, was das alles soll?« »Wollen Sie erklären, Sie wüßten es nicht?« fragte er verächtlich. »Ja.« »Jared Mores Junge ist letzte Nacht verschwunden. Er ist von einer Schulfeier gekommen und ein Stück die Straße entlang gegangen. Hier muß er vorbeigekommen sein.« Ich konnte nichts dazu sagen. Es war offensichtlich, daß sie glaubten, der Junge sei in diesem Haus verschwunden. Auch wenn ich dagegen protestieren wollte, konnte ich die Erinnerung an die schrecklichen Schreie aus dem Tunnel nicht abschütteln. Ich wußte nicht, wer sie ausgestoßen hatte; ich wußte jedoch, daß ich es nicht erfahren wollte. Ich war mir ziemlich sicher, daß sie den Eingang zum Tunnel nicht finden würden, denn er war kunstvoll hinter einigen Regalen in dem kleinen Keller verborgen, doch von diesem Augenblick an schwebte ich in schrecklicher Ungewißheit, denn ich hatte wenig Zweifel daran, was mit mir geschehen würde, falls man zufällig einige der Habseligkeiten des Schuljungen auf meinem Grund und Boden fand. Doch wieder rettete mich ein gnädiges Schicksal vor der Entdeckung falls es eine solche überhaupt gegeben hätte, denn ich wagte zu hoffen, daß meine Ängste grundlos seien. Falls sie erwartet hatten, etwas zu finden,
wurden sie bitter enttäuscht. Sie konnten sich nicht vorstellen, wohin der verschwundene Junge gegangen sein mochte
er mußte sich im Bishop-
Haus befinden. Der Untergebene des Sheriffs, der ihnen ihren Willen gelassen hatte, drängte sie nun dazu, das Haus zu verlassen. Sie zerstreuten sich
mit
Ausnahme von Bud Perkins und einiger grimmig dreinblickender Männer, die Wache schoben. Tagelang spürte ich den bedrückenden Haß gegen das Bishop-Haus und seinen einsamen Bewohner. Dann setzte ein Zeit vergleichsweiser Ruhe ein. Und dann
die letzte Nacht, die Katastrophe! Es begann mit schwachen
Andeutungen, daß sich in der Tiefe etwas regte. Ich vermute, daß ich diese Bewegungen zuerst unbewußt wahrnahm. Ich las gerade in Seth Bishops höllischem Manuskript und war auf eine Seite gestoßen, welche die Häscher des Großen Cthulhu beschrieb
die Tiefen Wesen, die das Opfer
warmblütiger Tiere verschlangen. Sie selbst waren Kaltblüter und wurden fett und stark durch eine Art heidnischen Kannibalismus Ich sagte, daß ich gerade diese Stelle las, als ich ohne Vorwarnung die Regungen in der Tiefe bemerkte. Es war, als sei die Erde lebendig geworden, als zittere sie schwach und rhythmisch, und sofort danach setzte eine undeutliche, ferne Musik ein, die jener, welche ich in meinem ersten Traum in diesem Haus gehört hatte, exakt glich. Sie ging von Instrumenten aus,
die
menschlichen
Händen
unbekannt
sind,
ähnelten
aber
Flötenklängen und wurden von gelegentlichem Heulen begleitet, das aus der Kehle eines lebenden Wesens kam. Ich kann nicht einmal annähernd die Auswirkungen beschreiben, die all das auf mich hatte. Da ich mich gerade in einen Bericht vertieft hatte,
der offensichtlich mit den Ereignissen der letzten Wochen in Beziehung stand, war ich offen für derartige Dinge, aber ich befand mich keineswegs in einem exaltierten Geisteszustand. Mich erfüllte der dringende Wunsch, aufzustehen und Ihm zu dienen, der träumend in der Tiefe unter mir lag. Wie im Traum schaltete ich das Licht in der Abstellkammer aus und huschte hinaus in die Dunkelheit. Wegen der hinter den Wänden lauernden Feinde war ich äußerst vorsichtig. Die Musik war noch so schwach, daß man sie außerhalb des Hauses nicht hören konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es so bleiben mochte; also beeilte ich mich, das zu tun, was von mir erwartet wurde, bevor der Feind bemerkte, daß die Bewohner des nassen Abgrunds sich wieder dem Haus im Tal entgegenhoben. Aber ich ging nicht in den Keller. Als hätte ich einen Plan, schlüpfte ich durch die Hintertür hinaus und stahl mich durch die Dunkelheit zu den schützenden Bäumen und Büschen. Langsam, aber stetig ging ich voran. Irgendwo vor mir stand Bud Perkins Wache Ich weiß nicht genau, was danach geschah. Der Rest war sicherlich nur ein Alptraum. Bevor ich Bud Perkins erreichte, ertönten zwei Schüsse. Das war das Signal, das die anderen zu ihm rief. Ich war weniger als einen Fuß in der Dunkelheit von ihm entfernt, und seine Schüsse erschreckten mich beinahe zu Tode. Auch er hatte wohl die Geräusche aus der Tiefe bemerkt, denn ich konnte sie hier draußen in der Dunkelheit ebenfalls deutlich hören. Daran erinnere ich mich mit ziemlicher Deutlichkeit. Doch das, was danach geschah, verwirrt mich auch heute noch. Natürlich kam der Mob heran, und wenn die Leute aus dem Sheriffbüro nicht ebenfalls auf der Lauer gelegen hätten, könnte ich jetzt diese Aussage nicht mehr niederschreiben. Ich erinnere mich deutlich an den schreienden,
tobenden Mob; ich erinnere mich daran, daß sie das Haus in Brand setzten. Ich war dorthin zurückgelaufen, aber dem Feuer entkommen. Von meiner Position aus sah ich nicht nur die Flammen, sondern noch viel mehr: die schrill kreischenden Tiefen Wesen, die dem Mob und den Flammen zum Opfer fielen, und zum Schluß jenes gigantische Wesen, das sich aus dem Feuer erhob und mit den Tentakeln umherdrosch, bevor es zu einer großen, sich schlängelnden Fleischmasse zusammenfiel und dann ohne eine Spur verschwand! Nun warf jemand aus dem Mob Dynamit in das brennende Haus. Noch bevor das Echo des Knalls erstarb, hörten ich und alle anderen, welche die Überreste des Bishop-Hauses umzingelten, jene singende Stimme. Sie rief: »Ph nglui mglw nafh Cthulhu R lyeh wagah nagl fhtagn!« Sie verkündete der Welt, daß der Große Cthulhu noch immer träumend in seiner Zuflucht R lyeh unter dem Meer lag! Man sagte mir, ich hätte neben den zerfetzten Überresten von Bud Perkins gekauert, und man deutete gräßliche Dinge an. Aber die anderen müssen genau wie ich gesehen haben, was sich in dieser brennenden Ruine wand, obwohl sie bestreiten, daß es außer mir noch irgend etwas gegeben habe. Was sie mir vorwarfen, ist zu schrecklich, um wiederholt zu werden. Es ist nichts als die Ausgeburt ihrer kranken, haßerfüllten Gehirne, denn natürlich können sie nicht verleugnen, was ihre Sinne ihnen übermittelt haben. Sie haben vor Gericht gegen mich ausgesagt und damit mein Schicksal besiegelt. Sie müssen doch wissen, daß ich nicht all die Dinge getan habe, die sie mir zu Last legen! Sie müssen doch wissen, daß es die Macht Seth Bishops war, die von mir Besitz ergriffen und jene unheilige Verbindung zu den Kreaturen aus der Tiefe wiederhergestellt hat, die ihnen Nahrung gebracht
hat, wie in den Tagen, als Seth Bishop noch in einem Körper gehaust und ihnen persönlich gedient hat, so wie die Tiefen Wesen und zahllose andere, die über die ganze Welt verstreut sind. Es war Seth Bishop, der all das Bud Perkins Schaf und Jared Mores Jungen und all den verschwundenen Tieren und schließlich Bud Perkins selbst angetan hat, und er hat ihnen nur vorgegaukelt, daß ich es getan habe, denn ich hätte so etwas niemals tun können. Es war Seth Bishop, der aus der Hölle zurückgekommen ist, um wieder jenen schrecklichen Wesen zu dienen, die aus den Meerestiefen zu seinem Wasserloch gekommen sind. Es war Seth Bishop, der von ihrer Existenz erfahren, sie angelockt und ihnen zu seiner und meiner Zeit gedient hat, und der vielleicht jetzt noch tief unter der Erdoberfläche an jener Stelle lauert, wo einst das Haus im Tal gestanden hat
und er wartet auf ein neues Gefäß, das er besetzen und
in dem er Ihm auf ewig dienen kann.
Das Siegel von R lyeh 1 Mein Großvater väterlicherseits, den ich niemals außerhalb eines abgedunkelten Zimmers sah, sagte oft zu meinen Eltern: »Haltet ihn vom Meer fern!« Als ob ich einen Grund gehabt hätte, Wasser zu fürchten! Im Gegenteil, es zog mich immer magisch an. Aber diejenigen, die unter einem Tierkreiszeichen des Wassers geboren sind
mein Zeichen ist der
Fisch , haben bekanntermaßen eine natürliche Affinität zum Wasser. Es heißt auch, sie seien medial veranlagt, aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls war das die Meinung meines Großvaters. Er war ein seltsamer Mann, den ich nicht einmal beschreiben könnte, wenn dies nötig wäre, um meine Seele zu retten
obwohl das, bei Tageslicht besehen, wahrlich
zweideutig ist! Das war, bevor mein Vater bei einem Autounfall getötet wurde, und danach sagte es mein Großvater niemals vergeblich, denn meine Mutter hielt mich in den Bergen zurück, weit fort vom Anblick und Geräusch und Geruch des Meeres. Aber was geschehen muß, muß geschehen. Ich besuchte ein College in einer Stadt im Mittelwesten, als meine Mutter starb, und in der folgenden Woche verschied auch mein Onkel Sylvan und hinterließ mir seinen gesamten Besitz. Ich war ihm nie begegnet. Er war der Exzentriker der Familie gewesen, der komische Kauz, das schwarze Schaf; er war unter einer Vielzahl von Bezeichnungen bekannt. Alle redeten nur in verächtlichem Ton von ihm, außer meinem
Großvater, der immer einen schweren Seufzer ausstieß, wenn die Rede auf Onkel Sylvan kam. Ich war der Letzte aus der direkten Linie meines Großvaters; irgendwo lebte lediglich noch ein Großonkel
in Asien, wie
ich glaubte, aber was er dort machte, schien niemand genau zu wissen, außer daß es etwas mit dem Meer zu tun hatte; vielleicht war er Seemann , und daher war es nur natürlich, daß ich die Häuser meines Onkels Sylvan erbte. Er hatte zwei besessen, und wie es der Zufall wollte, lagen beide am Meer; das eine in einer Stadt in Massachusetts namens Innsmouth und das andere einsam an der Küste oberhalb dieser Stadt. Selbst nach Abzug der Erbschaftssteuern blieb so viel Geld übrig, daß ich nicht mehr auf das College zurückgehen oder irgend etwas tun mußte, was ich nicht wollte. Das einzige, was ich wirklich wollte, war das, was mir zweiundzwanzig Jahre lang verboten worden war, nämlich am Meer leben und mir ein Segelboot
oder eine Yacht oder was immer ich wollte
kaufen.
Aber ganz so einfach sollte es nicht sein. Ich besuchte unseren Anwalt in Boston und fuhr dann weiter nach Innsmouth. Es war eine seltsame Stadt. Nicht fremdenfreundlich, auch wenn einige Einwohner lächelten, als sie erfuhren, wer ich war; ihr Lächeln aber war seltsam und heimlichtuerisch, als ob sie etwas über Onkel Sylvan wüßten, was sie mir nicht sagen wollten. Glücklicherweise war sein Haus in Innsmouth das kleinere der beiden. Offenbar hatte er es nicht oft bewohnt; es war ein düsteres, trostloses altes Gebäude, und ich fand mit Erstaunen heraus, daß es sich hierbei um dem Stammsitz der Familie handelte, den mein Urgroßvater erbaut hatte. Er war im Chinahandel tätig gewesen, und mein Großvater hatte einen großen Teil seines Lebens hier verbracht, und der Name Phillips hatte in der Stadt noch immer einen ehrfürchtigen Klang. Nein, Onkel Sylvan hatte den größten Teil seines Lebens auf dem
anderen Anwesen verbracht. Er war erst fünfzig gewesen, als er starb, und hatte ähnlich wie mein Großvater gelebt. In der Umgegend hatte man ihn nicht oft gesehen, denn er verließ selten dieses düstere, bewachsene Haus auf einer Anhöhe vor der Küste oberhalb von Innsmouth. Es war kein hübsches Haus und konnte einem Liebhaber des Schönen nicht gefallen, doch es besaß eine eigentümliche Anziehungskraft, die ich sofort spürte. Ich fand, daß es zum Meer gehörte, denn der Klang des Atlantiks war immer in ihm gegenwärtig, und Bäume trennten es vom Hinterland, während der Blick zur See ungehindert war; die breiten Fenster zeigten auf ewig nach Osten. Es war kein altes Haus wie das andere
man sagte mir,
daß es erst seit dreißig Jahren stand , doch mein Onkel hatte es auf der Stelle eines weitaus älteren Hauses errichtet, das ebenfalls meinem Urgroßvater gehört hatte. Es hatte viele Zimmer, doch der einzige Raum, der einem in Erinnerung blieb, war das große, zentral gelegene Arbeitszimmer. Obwohl der ganze Rest des Hauses auf einem einzigen Stockwerk lag und sich von diesem Zimmer fort erstreckte, hatte das Arbeitszimmer eine Höhe von zwei Stockwerken; es lag vertieft, und seine Wände waren mit Büchern und allen Arten von Antiquitäten bedeckt sowie mit außerordentlich ausgefallenen und eindrücklichen Schnitzereien und Skulpturen, Gemälden und Masken, die aus vielen Teilen der Welt stammten, hauptsächlich aber aus Polynesien und den Landen der Azteken, Mayas und Inkas, und von alten Indianerstämmen aus den nordwestlichen Küstenregionen des nordamerikanischen Kontinents. Es war eine faszinierende, provozierende Sammlung, die mein Großvater begründet hatte und die von Onkel Sylvan fortgesetzt und ergänzt worden war. Ein großer, handgewebter Teppich mit einem seltsamen, oktopoiden
Muster bedeckte die Mitte des Fußbodens, und alle Möbel befanden sich in dem Raum zwischen den Wänden und dem Teppich, auf welchem überhaupt nichts stand. Überdies entdeckte ich Symbole im Dekor des Hauses. Hier und dort fand ich eingewebt in die Teppiche
besonders in jenem großen im
Arbeitszimmer , in Tapeten und auf Schmuckplatten, ein Muster, das ein einzigartig verworrenes Siegel darzustellen schien. Es war scheibenähnlich und besaß eine grobe Ähnlichkeit mit dem astronomischen Zeichen für Wassermann
eine Ähnlichkeit, die vielleicht vor unendlich langer Zeit
bestanden hatte, als Wassermann noch nicht seine heutige Form hatte. Es thronte über der unheimlichen Andeutung einer untergegangenen Stadt, und im Mittelpunkt der Scheibe befand sich eine unbeschreibliche, gleichzeitig fisch- und saurierähnliche Gestalt, die überdies oktopoid und halbmenschlich
war
und
eindeutig
trotz
ihrer
perspektivischen
Verkleinerung einen gigantischen Koloß darstellen sollte. Ferner war die Scheibe mit bedeutungslosen Worten in einer Sprache umschrieben, die ich nicht lesen konnte; die Worte waren so klein, daß sie für das Auge kaum erkennbar waren. Doch irgendwo tief in meinem Innern schlugen sie eine bekannte Saite an: Ph nglui mglw nafh Cthulhu R lyeh wagah nagl fhtagn. Es erschien mir keinesfalls merkwürdig, daß dieses seltsame Muster von Anfang an eine übergroße Anziehungskraft auf mich ausübte, obwohl ich seine Bedeutung erst viel später erkannte. Auch den starken Sog, den das Meer auf mich ausübte, konnte ich mir nicht erklären. Obwohl ich dieses Gebäude nie zuvor betreten hatte, beschlich mich das höchst eindrückliche Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. In all den Jahren hatten mich meine Eltern nie mit nach Osten genommen; ich war nie östlicher als bis Ohio gekommen, und einer
größeren Wassermenge war ich nur bei kurzen Ausflügen zum Lake Michigan und zum Lake Huron näher gekommen. Die unleugbare Anziehungskraft des Meeres schrieb ich angeborener Erinnerung zu. Hatten meine Vorfahren nicht am und auf dem Meer gelebt? Wie viele Generationen lang? Von zweien wußte ich, und vielleicht waren es noch mehr gewesen. Seit Generationen waren sie Seeleute gewesen, bis etwas geschah, das meinen Großvater dazu bewegte, tief ins Landesinnere zu ziehen, die See auf immer zu meiden und allen, die nach ihm kamen, diese Abneigung mit auf den Weg zu geben. Ich erwähne dies, weil seine Bedeutung im Licht der nachfolgenden Ereignisse klar wird, die ich hier aufschreiben will, bevor ich wieder zu meinem eigenen Volk gehe. Das Haus und das Meer zogen mich an; sie beide waren mein Zuhause und gaben diesem Wort mehr Bedeutung als das Heim, das ich noch vor wenigen Jahren mit meinen in mich vernarrten Eltern geteilt hatte. Es war seltsam; seltsamer aber war, daß ich es damals nicht so empfand; meine Gefühle schienen die natürlichsten der Welt zu sein, und ich hinterfragte sie nicht. Zunächst wußte ich nicht, was für ein Mann Onkel Sylvan gewesen war. Ich fand
ein frühes Portrait von ihm,
das von einem
Amateurphotographen aufgenommen worden war. Es zeigte einen ungewöhnlich ernsten jungen Mann, kaum älter als zwanzig und von einem Aussehen, das zwar nicht unbedingt häßlich, aber doch sicherlich für viele Leute abstoßend war, denn sein Gesicht wirkte nicht ganz normal die Nase war platt, der Mund sehr breit, die Augen starr. Ich entdeckte keine spätere Photographie von ihm, doch es gab Leute, die sich an ihn aus den Jahren erinnerten, in denen er noch nach Innsmouth ging oder fuhr, um dort einzukaufen; dies erfuhr ich eines Tages, als ich in Asa Clarkes Laden meine Vorräte für die Woche abholte.
»Sie sin n Phillips?« fragte der alte Ladenbesitzer. Ich gab es zu. n Sohn von Sylvan?« »Mein Onkel war nie verheiratet«, sagte ich. »Wir hatten bloß sein Wort dafür«, erwiderte er. »Dann sin Sie Jareds Sohn. Wie geht s ihm?« »Er ist tot.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Auch tot, hä? Der letzte seiner Familie. Und Sie ?« »Der letzte meiner Familie.« »Die Phillips waren früher mal sehr einflußreich hier. ne alte Familie aber das wissen Sie ja.« Ich sagte, daß ich es nicht wisse. Ich kam aus dem Mittelwesten, und mir sei nur wenig über meine Vorfahren bekannt. »Ach, wirklich?« Er starrte mich einen Augenblick ungläubig an. »Nun, die Phillips lassen sich so weit zurückverfolgen wie die Marshs. Die beiden Familien haben damals, vor langer Zeit, zusammengearbeitet. Chinahandel. Haben Waren von hier und Boston aus nach dem Orient verschifft
Japan, China, die Inseln
und von dort etwas mitgebracht,
nämlich « Er verstummte, sein Gesicht wurde blaß, und er zuckte die Achseln. »Viele Dinge. Ja, wirklich viele Dinge.« Er schenkte mir einen verwirrenden Blick. »Haben Sie vor, hierzubleiben?« Ich sagte ihm, daß ich das Haus meines Onkels an der Küste geerbt habe und dort einziehen wolle. Nun suche ich nach Bediensteten. »Die werden Sie nicht finden«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Das Haus liegt zu weit die Küste hoch und wird nicht sehr geschätzt. Wenn noch mehr von den Phillips übrig wären
« Er breitete die Hände mit
hilfloser Geste aus. »Aber die meisten von ihnen sind 1928 gestorben, als
es die ganzen Explosionen und Feuersbrünste gab. Vielleicht finden Sie noch einen oder zwei Marshs, die Ihnen helfen; es gibt hier noch ein paar. Von ihnen sind damals nicht so viele umgekommen.« Diese indirekte und rätselhafte Bemerkung beachtete ich nicht weiter. Mein einziger Gedanke war, jemanden zu finden, der mir im Haus meines Onkels zur Hand ging. »Marsh«, wiederholte ich. »Können Sie mir einen von ihnen benennen und seine Adresse geben?« »Da gibt es einen
« sagte er nachdenklich und lächelte still in sich
hinein. Auf diese Weise lernte ich Ada Marsh kennen. Sie war fünfundzwanzig, doch es gab Tage, an denen sie viel jünger aussah, und andere Tage, an denen sie weitaus älter wirkte. Ich ging zu ihrem Haus, traf sie dort an und fragte sie, ob sie tageweise bei mir arbeiten wolle. Sie besaß einen eigenen Wagen, auch wenn es nur ein altes T-Modell von Ford war, und konnte demnach hin und her fahren, und die Aussicht, in »Sylvans Versteck«, wie sie es seltsamerweise nannte, zu arbeiten, schien ihr zu gefallen. Sie war geradezu begierig darauf, zu mir zu kommen, und bot mir an, noch am selben Tag die Arbeit aufzunehmen, falls ich es wünsche. Sie war keine gutaussehende Frau, wirkte aber genau wie mein Onkel merkwürdig anziehend auf mich, wie sehr sie andere Leute auch abstoßen mochte. Ihre breiter, plattlippiger Mund hatte einen gewissen Charme, und ihre unleugbar kalten Augen wurden in meiner Gegenwart oft sehr warm. Sie kam am nächsten Morgen, und es war deutlich zu sehen, daß sie bereits zuvor in diesem Haus gewesen war, denn sie lief herum, als kenne sie es gut. »Sie sind schon einmal hier gewesen!« stellte ich sie zur Rede. »Die Marshs und die Phillips sind alte Freunde.« Sie sah mich an, als
müsse ich das wissen. Tatsächlich hatte ich in diesem Augenblick das Gefühl, daß es genauso sei, wie sie sagte. »Alte, alte Freunde
so alt wie
die Erde selbst, Mr. Phillips. So alt wie der Wassermann und das Wasser.« Auch sie war seltsam. Ich fand heraus, daß sie auf Einladung Onkel Sylvans mehr als einmal sein Gast gewesen war. Und jetzt hatte sie ohne Zögern mein Angebot angenommen, für mich zu arbeiten. Auf ihren Lippen lag ein eigenartiges Lächeln
»so alt wie der Wassermann und das
Wasser« , das meine Gedanken auf das Muster überall um uns herum lenkte. Wenn ich nun daran zurückdenke, glaube ich, daß mich damals zum ersten Mal ein Gefühl des Unbehagens beschlich. Das zweite Mal lag nur wenige Worte in der Zukunft. »Haben Sie es gehört, Mr. Phillips?« fragte sie. »Was soll ich gehört haben?« fragte ich. »Wenn Sie es gehört hätten, wüßten Sie es.« Doch ich fand bald heraus, daß der wahre Zweck ihrer Besuche bei mir nicht die Arbeit war. Sie wollte Zugang zum Haus haben. Das begriff ich, als ich einmal früher als geplant vom Strand zurückkam und sie nicht bei der Arbeit,
sondern bei einer
systematischen und
eingehenden
Durchsuchung des großen zentralen Zimmers antraf. Sie rückte Bücher hin und her, blätterte sie durch, hob vorsichtig die Bilder von den Wänden, die Skulpturen von den Regalen und schaute an jedem Ort nach, wo etwas versteckt sein könnte. Ich wich zurück und schlug die Tür laut zu. Als ich das Arbeitszimmer betrat, war Ada wieder mit Abstauben beschäftigt und tat so, als habe sie nie etwas anderes gemacht. Zuerst wollte ich sie zur Rede stellen, doch ich ahnte, daß es keinen Sinn hatte. Falls sie wirklich etwas suchte, fand ich es vielleicht als erster. Also hielt ich den Mund, und nachdem sie am Abend gegangen war, machte ich dort weiter, wo sie aufgehört hatte. Ich wußte nicht, wonach ich
suchte, konnte aber die Größe des Gegenstandes von den Plätzen ableiten, an denen sie herumgestöbert hatte. Es mußte etwas Kleines, Kompaktes sein, das kaum größer als ein Buch war. War es vielleicht ein Buch? fragte ich mich wiederholt an diesem Abend. Natürlich fand ich nichts, obwohl ich bis Mitternacht suchte; dann gab ich erschöpft auf. Ich war trotzdem zufrieden, weil ich in meiner Suche weiter gekommen war, als es Ada morgen möglich sein würde, selbst wenn sie den größten Teil des Tages zur Verfügung hätte. Ich ruhte mich in einem der stark ausgepolsterten Sessel aus, die vor den Wänden standen, und hatte dort meine erste Halluzination. Ich nenne es so, weil ich keine bessere und genauere Bezeichnung dafür habe. Ich schlief nämlich nicht als ich ein Geräusch hörte, das dem rasselnden Atem eines großen Tieres nahekam. Sofort schreckte ich hoch und war sicher, daß das Haus selbst, der Fels, auf dem es stand und das Meer, das gegen die Felsen leckte, im Einklang miteinander atmeten, als seien sie verschiedene Teile eines gewaltigen lebenden Wesens. Ich spürte das, was ich oft verspüre, wenn ich mir die Gemälde gewisser zeitgenössischer Künstler anschaue besonders die von Dale Nichols , welche die Erde und die Umrisse des Landes als einen großen, schlafenden Menschen sehen. Ich hatte das Gefühl, als ruhe ich auf Brust, Bauch oder Stirn eines gewaltigen Wesens, dessen Größe mein Vorstellungsvermögen überstieg. Ich erinnere mich nicht daran, wie lange diese Vision dauerte. Ich dachte an Ada Marshs Frage: »Haben Sie es gehört?« War es das, was sie damit gemeint hatte? Denn bestimmt waren das Haus und der Fels, auf dem es stand, lebendig und genauso ruhelos wie das Meer, das sich im Osten bis zum Horizont erstreckte. Lange Zeit hatte ich diesen Eindruck. Erzitterte das Haus tatsächlich wie unter tiefen Atemzügen? Es wirkte so, doch ich schrieb es einem Konstruktionsfehler des Gebäudes zu und
machte seine seltsamen Bewegungen und Geräusche verantwortlich für die Weigerung der anderen Einheimischen, für mich zu arbeiten. Am dritten Tag unterbrach ich Ada mitten in ihrer Suche. »Wonach suchen Sie, Ada?« Sie maß mich mit äußerster Offenheit und kam zu dem Schluß, daß ich sie schon einmal bei ihrer Tätigkeit beobachtet hatte. »Ihr Onkel war auf der Suche nach etwas, das er vielleicht gefunden hat. Ich bin ebenfalls daran interessiert. Möglicherweise wären Sie es auch, wenn Sie davon wüßten. Sie sind wie wir
Sie sind einer von uns, von den
Marshes und Phillips.« »Und worum handelt es sich?« »Um ein Notizbuch, ein Tagebuch, ein Journal, Papiere
« Sie zuckte
die Achseln. »Ihr Onkel hat nur selten mit mir darüber gesprochen, aber ich weiß es trotzdem. Er war häufig verreist und blieb lange weg. Wo ist er hingefahren? Vielleicht hat er sein Ziel erreicht. Denn er ist nie auf der Straße weggegangen.« »Vielleicht kann ich es finden.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wissen zu wenig. Sie sind wie
ein
Außenseiter.« »Klären Sie mich auf.« »Nein. Wer redet schon mit jemandem, der noch zu jung ist, um zu verstehen? Nein, Mr. Phillips
Sie sind noch lange nicht soweit.«
Darüber ärgerte ich mich, und ich ärgerte mich auch über sie. Trotzdem schickte ich sie nicht fort. Ihre provokante Haltung war eine Herausforderung für mich.
2
Zwei Tage später wußte ich, was Ada Marsh suchte. Onkel Sylvans Papiere waren an einer Stelle versteckt, wo Ada als erstes nachgesehen hatte
hinter einem Regal mit seltsamen okkulten Büchern, in einer
verborgenen Aussparung, die ich nur durch einen verrückten Zufall entdeckte. Darin lagen so etwas wie ein Tagebuch und einige Fetzen Papier, die mit einer winzigen Handschrift bedeckt waren, welche ich als die meines Onkels erkannte. Ich nahm die Dokumente mit auf mein Zimmer, als fürchte ich, Ada Marsh könnte jetzt, mitten in der Nacht, herkommen und mir alles abnehmen. Es war absurd, denn ich hatte nicht nur keine Angst vor ihr, sondern fühlte mich auch stärker von ihr angezogen, als ich mir bei unserer ersten Begegnung je hätte vorstellen können. Zweifellos bedeutete die Entdeckung dieser Papiere einen Wendepunkt in meinem Dasein. Man kann sagen, daß die ersten zweiundzwanzig Jahre meines Lebens statisch waren und ich mich in einer Warteschleife befand; die ersten Tage im Küstenhaus meines Onkels waren eine Schwebezeit zwischen meinem früheren Zustand und dem kommenden, und der Wendepunkt war erreicht, als ich die Papiere entdeckte und las. Aber wie sollte ich den ersten Abschnitt verstehen? »Unterird. Kont. Pl. Nördliches Ende von Inns. erstreckt sich bis ca. Singapur. Urspr. Quelle bei Ponape? A. glaubt, R. sei im Pazifik, i. d. N. von Ponape; E. meint, R. b. Inns. Maj.-Autoren sind der Ansicht, es sei in der Tiefe. Könnte R. ganze Kont. Pl. von Inns. bis Singapur einnehmen?« Das war der erste Teil. Der zweite war noch verwirrender.
»C. wartet träumend in R. ist alles in allem und überall. Er ist in R. bei Inns. und in Ponape, er ist auf den Inseln und in der Tiefe. Welche Beziehung zu den Tiefen Wesen? Und wo haben Obed und Cyrus den ersten Kontakt hergestellt? Auf Ponape oder einer der kleineren Inseln? Und wie? An Land oder im Wasser?« Aber dieser Glücksfund bestand nicht nur aus Papieren meines Onkels. Es gab weitere, noch verwirrendere Enthüllungen von anderer Hand, zum Beispiel den Brief von Reverend Jabez Lovell Phillips an eine namentlich nicht genannte Person. Das Schreiben war etwa hundert Jahre alt und lautete so: »An einem gewissen Tag im August des Jahres 1797 berichtete Kapitän Obed Marsh, begleitet von seinem Ersten Maat Cyrus Alcott Phillips, daß ihr Schiff, die Cory, mit Mann und Maus bei den Marquesas gesunken sei. Der Kapitän und der Erste Maat erreichten den Hafen von Innsmouth in einem Ruderboot. Sie schienen in nicht besonders schlechtem Zustand zu sein, obwohl sie doch viele tausend Meilen in einem Schiff zurückgelegt hatten, das sie unmöglich so weit hatte tragen können. Danach setzte in Innsmouth eine Reihe von Geschehnissen ein, welche die Ansiedlung innerhalb einer Generation in schrecklichen Verruf brachten, denn den Marshes und Phillips wurde eine seltsame Nachkommenschaft geboren, und eine Seuche fiel auf ihre Familien nach dem Erscheinen der Frauen
wie kamen sie dorthin? , welche die Weiber
von Kapitän Marsh und seinem Ersten Maat waren, und auf Innsmouth wurde eine höllische Brut losgelassen, die kein Mensch niederwerfen konnte und gegen die alle Gebete, die ich gen Himmel geschickt habe, machtlos waren. Was tummelt sich in den Wassern vor Innsmouth in den dunkelsten Stunden der Nacht? Manche sagen, es seien Meerjungfrauen. Pfui, was für ein Unsinn! Meerjungfrauen also. Und was ist, wenn es sich
um die verfluchte Brut der Marshs und Phillips handelt?« Ich las nicht mehr weiter, denn ich war seltsam erschüttert. Als nächstes wandte ich mich dem Tagebuch meines Onkels zu. Die letzte Eintragung lautete: »Mit R. ist es so, wie ich vermutet hatte. Das nächste Mal werde ich C. selbst sehen, wie er in der Tiefe liegt und auf den Tag der Wiederkehr wartet.« Doch es hatte kein nächstes Mal für Onkel Sylvan gegeben, sondern nur den Tod. Vor dieser Eintragung gab es noch viele andere; mein Onkel hatte von Dingen geschrieben, die mein Wissen überstiegen. Er schrieb über Cthulhu und R lyeh, über Hastur und Lloigor, über Shub-Niggurath und Yog-Sothoth, über die Hochebene von Leng, über die SussexFragmente und das Necronomicon, über die Marsh-Spalte und die entsetzlichen Schneemenschen, doch am häufigsten schrieb er über R lyeh und den Großen Cthulhu
die »R.« und »C.« in seinen Papieren
und
über eine fortdauernde Suche nach ihnen, denn aus den Manuskripten ging eindeutig hervor, daß er nach diesen Orten oder Wesen forschte. Ich konnte das eine kaum vom anderen unterscheiden, denn seine Aufzeichnungen und sein Tagebuch waren ungeordnet und nur für ihn selbst bestimmt. Er wußte, wovon er schrieb, aber ich hatte keine Anhaltspunkte, nach denen ich mich richten konnte. Auch entdeckte ich eine unbeholfene Landkarte, die von früherer Hand gezeichnet sein mußte, denn das Papier war alt und stark zerknittert. Sie faszinierte mich, obwohl ich keine Ahnung von ihrem wahren Wert hatte. Es war eine grobe Karte der Welt
aber nicht der Welt, wie ich sie
kannte oder während meiner Studien kennengelernt hatte, sondern einer Welt, die nur in der Vorstellung des Kartenzeichners existierte. Tief im Innern Asiens hatte er zum Beispiel die »Hocheb. Leng« eingezeichnet, und darüber anstelle der Mongolei »Kadath in der Kalten Wüste«, das als
»Raum-Zeit-Kontinuum, angrenzend« benannt war, und im Meer oberhalb von Polynesien lag die »Marsh-Spalte«, die offenbar eine Bruchstelle im Meeresboden war. Auch das Teufelsriff vor Innsmouth und Ponape fand ich; diese Namen kannte ich, doch die anderen waren mir völlig fremd. Ich versteckte die Manuskripte so, daß Ada Marsh sie keinesfalls finden konnte, und ging trotz der späten Stunde noch einmal in das zentrale Arbeitszimmer. Dort untersuchte ich das Regal, hinter dem die Schriftstücke versteckt gewesen waren. Ich fand einige der Bücher, die Onkel Sylvan in seinen Aufzeichnungen erwähnt hatte: die SussexFragmente, die Pnakotischen Manuskripte, das Cultes de Goules des Comte d Erlette, das Buch von Eibon, von Junzts Unaussprechliche Kulte und viele andere. Doch leider waren die meisten von ihnen in Latein oder Griechisch verfaßt, die ich gar nicht verstand; aber ein wenig Französisch und Deutsch verstand ich. Trotzdem entdeckte ich in diesen Seiten vieles, was mich mit Verwunderung, Grauen, Entsetzen und atemloser Aufregung erfüllte. Es war, als habe ich endlich erkannt, daß Onkel Sylvan mir nicht nur sein Haus und Eigentum vermacht hatte, sondern auch seine Erkenntnisse über die vormenschlichen Äonen. Ich las, bis die Morgensonne in den Raum drang und die Lampen, die ich angeschaltet hatte, verblaßten. Ich hatte über die Großen Alten gelesen, die als erstes im Universum existiert hatten, und über die Älteren Götter, welche die rebellischen Uralten bekämpft und besiegt hatten: den Großen Cthulhu, den Wasserbewohner; Hastur, der im See von Hali in den Hyaden ruhte; Yog-Sothoth, der Alles-in-einem-und-einer-in-allem: Ithaqua, der Windwanderer; Lloigor, der Sternenwanderer, Cthuga, der im Feuer wohnt; der große Azathoth
sie alle waren besiegt und verbannt worden,
doch eines fernen Tages würden sie und ihr Gefolge sich wieder erheben, die Menschheit auslöschen und die Älteren Götter herausfordern. Ich las
über ihre Häscher: die Tiefen Wesen in den Meeren und anderen Gewässern der Erde, über die Dholen, die schrecklichen Schneemenschen Tibets und der verborgenen Hochebene von Leng, über die Shantaks, die auf das Geheiß des Windwanderers aus Kadath in der Kalten Wüste herbeiflogen, über den Wendigo, den Vetter Ithaquas, über ihre Rivalitäten, durch die sie eins und doch getrennt waren. All dies und noch mehr
las
ich
schrecklich
viel
mehr:
die
Sammlung
von
Zeitungsausschnitten über unerklärliche Vorfälle, die Onkel Sylvan als Beweise für die Wahrheit ansah, an die er glaubte. Und in den Seiten dieser Bücher entdeckte ich weitere Beispiele der seltsamen Sprache, die in die vielen Dekorationen im Haus meines Onkels eingelassen waren: Ph nglui mglw nafh Cthulhu R lyeh wagah nagl fhtagn, was an mehr als einer Stelle übersetzt wurde als: »In seinem Haus in R lyeh liegt träumend der tote Chtulhu
«
Die Suche meines Onkels hatte offenbar R lyeh, den versunkenen, unterseeischen Aufenthaltsort Cthulhus, zum Gegenstand gehabt! Im kalten Licht des Tages überdachte ich meine Schlußfolgerungen. Hatte mein Onkel Sylvan tatsächlich an solch eine Ansammlung von Mythen geglaubt? Oder war seine Jagd nichts anderes als die Beschäftigung eines Gelangweilten gewesen? Die Bibliothek meines Onkels bestand aus vielen Büchern, unter denen die gesamte Weltliteratur vertreten war, doch eine bedeutende Abteilung war vollständig okkulten Themen gewidmet. Hier gab es Bücher über seltsame Glaubensrichtungen und noch seltsamere Tatsachen, die für die Wissenschaft unerklärlich waren, und Bücher über kaum bekannte religiöse Kulte; sie wurden durch große Alben mit Ausschnitten aus Magazinen und Zeitungen ergänzt, deren Studium mich zugleich mit schrecklichen Vorahnungen und zwanghafter Freude erfüllte, denn in
diesen prosaischen Fakten lag der überzeugende Beweis für das Mythensystem, an das mein Onkel geglaubt hatte. Doch dieses System war nicht neu. Alle Glaubensrichtungen und mythologischen Systeme, egal welcher Kultur, ähneln einander; sie basieren auf einem Kampf zwischen den Mächten des Guten und Bösen. Dieses Muster lag auch dem Mythos meines Onkels zugrunde. Die Großen Alten und die Älteren Götter, die möglicherweise identisch waren, repräsentierten das uranfängliche Gute; die Uralten hingegen das Böse. Wie es in vielen Kulturen üblich ist, wurden die Älteren Götter nicht oft beim Namen genannt, die Uralten hingegen oft, denn man betete sie noch immer überall auf der Erde und im Weltall an und verehrte sie. Sie hatten sich nicht nur gegen die Älteren Götter in Stellung gebracht, sondern auch gegeneinander in einem unablässigen Kampf um die Oberherrschaft. Kurz gesagt repräsentierten sie die Elementarkräfte, und jeder von ihnen hatte sein eigenes Element: Cthulhu das Wasser, Cthuga das Feuer, Ithaqua die Luft und Hastur den interplanetarischen Raum; und wieder andere bildeten die uranfänglichen Mächte: Shub-Niggurath, der Bote der Götter, stand für Fruchtbarkeit, Yog-Sothoth für die Raum-Zeit-Kontinua, und Azathoth war in gewisser Weise die Quelle alles Bösen. War dieses System nicht sehr vertraut? Die Älteren Götter hätten leicht zur christlichen Dreifaltigkeit werden können; die Uralten hätten sich für die meisten Gläubigen zu Satanas und Beelzebub, Mephistopheles und Azrael verwandeln können. Doch es verwirrte mich, daß diese Glaubenssysteme parallel existierten. Ich wußte allerdings, daß sich die Religionen in der Geschichte der Menschheit oft überschnitten hatten. Mehr noch: Es gab gewisse Anzeichen dafür, daß der Cthulhu-Mythos nicht nur lange vor dem Mythos des Christentums existiert hatte, sondern sogar älter als die chinesische Kultur und die Dämmerung der Menschheit
war und in entlegenen Gebieten der Erde bis heute überdauert hatte, zum Beispiel beim Volk der Tcho-Tcho in Tibet und den schrecklichen Schneemenschen auf den Hochebenen Asiens sowie bei einem seltsamen Seevolk namens »Die Tiefen Wesen«. Bei ihnen handelte es sich um amphibische Hybriden, die aus Paarungen zwischen Humanoiden und Froschwesen hervorgegangen waren und Mutationen der Menschenrasse darstellten. Dieser Kult hatte sich erkennbar auch in neuere Religionen hinübergerettet; man fand seine Spuren bei Quetzalcoatl und anderen Göttern der Mayas, Azteken und Inkas, bei den Idolen der Osterinsel, in den
Zeremonialmasken
der
Polynesier
und
der
Indianer
der
Nordwestküste, wo die Tentakel und die oktopoide Gestalt Chtulhus wiederkehrten. Man konnte also sagen, daß der Cthulhu-Mythos der älteste aller Mythen ist. Selbst wenn ich all dies in den Bereich von Theorie und Spekulation verwies, blieb immer noch die gewaltige Menge der Zeitungsausschnitte, die mein Onkel gesammelt hatte. Diese prosaischen Berichte verdrängten vermutlich weitaus effektiver als alles andere meine letzten Zweifel, weil sie so objektiv waren, denn die Ausschnitte kamen nicht von Sensationsblättern, sondern von Magazinen wie dem National Geographic, die nichts als Fakten mitteilten. Was geschah mit Johansen und dem Schiff Emma, wenn seine eigene Aussage unrichtig war? Doch gab es eine andere Erklärungsmöglichkeit? Und warum schickte die amerikanische Regierung Zerstörer und Unterseeboote aus, um das Meer um das Teufelsriff vor dem Hafen von Innsmouth zu bombardieren? Und warum wurden Dutzende von Bürgern aus Innsmouth verhaftet und dann nie wiedergesehen? Und warum wurden die Gebäude am Hafen in Brand gesetzt und viele andere ebenfalls zerstört?
Warum das alles, wenn es nicht stimmte, daß man Leute aus Innsmouth bei seltsamen Riten beobachtet hatte
Leute, die eine
teuflische Ähnlichkeit mit gewissen Meeresbewohnern aufwiesen, welche man nachts am Teufelsriff beobachten konnte? Und was geschah mit Wilmarth im Bergland von Vermont, als er bei seinen Nachforschungen über den Kult der Uralten der Wahrheit zu nahe kam? Und was war mit den Schriftstellern geschehen, die vorgaben, Literatur zu schreiben
wie
Lovecraft, Howard, Barlow , und mit jenen, die wissenschaftliche Bücher verfaßten
wie Fort , wenn sie zu nahe an die Wahrheit herankamen? Sie
alle waren tot. Tot oder vermißt, wie Wilmarth. Die meisten starben vor der Zeit, noch als vergleichsweise junge Männer. Mein Onkel besaß ihre Bücher
nur Lovecraft und Fort waren ausgiebig in Buchform publiziert
worden , und ich schlug sie auf und las sie, was mich in noch größere Verwirrung stürzte. Die Literatur H. P. Lovecrafts hatten dieselbe Beziehung zur Wahrheit wie die Fakten Charles Forts, die für die Wissenschaft unerklärlich waren. Falls Lovecrafts Geschichten wirklich nur Literatur darstellten, besaßen sie aber eine verdammt große Nähe zu den Tatsachen
auch wenn man von Forts Tatsachenberichten absah; sie
waren selbst Quasi-Mythen, genau wie der frühzeitige Tod ihres Schöpfers, dessen unerwartetes Ableben bereits Stoff für viele Legenden abgegeben hatte, unter denen die prosaischen Fakten immer schwerer auszumachen waren. Ich versenkte mich noch tiefer in die Geheimnisse, die in den Büchern meines Onkels steckten, und las weiter in seinen Aufzeichnungen. Es war klar, daß sein Glaube stark genug gewesen war, um die Suche nach dem versunkenen R lyeh aufzunehmen. Ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um eine Stadt oder ein Königreich handelte und es sich tatsächlich um den halben Erdkreis von der Küste Massachusetts im Atlantik bis nach
Polynesien im Pazifik erstreckte. Dorthin war Cthulhu verbannt; tot und doch nicht tot
»Der tote Cthulhu liegt träumend da!«, wie es in mehr als
einem Bericht hieß. Er wartete darauf, daß seine Zeit kam, sich zu erheben und erneut gegen die Herrschaft der Älteren Götter aufzubegehren und die Welt und das Universum für sein Geschlecht zu beanspruchen. Es stimmt nicht, daß das Böse zum Gesetz allen Lebens wird, wenn es die Oberhand gewonnen hat, und dann das Gute bekämpft werden muß, weil das Gesetz der Mehrheit die Norm bildet und alles andere als abnorm oder
nach
menschlichen
verabscheuungswürdig
Begriffen
als
schlecht
und
anzusehen ist.
Mein Onkel hatte nach R lyeh gesucht und auf verwirrende Weise darüber geschrieben. Er war von seinem Haus an der Küste aus in die Tiefen des Atlantiks hinabgetaucht und bis zum Teufelsriff und darüber hinaus gekommen. Aber nirgendwo erwähnte er, wie er das geschafft hatte. Mit einer Taucherausrüstung? Mit einer Taucherkugel? Nichts dergleichen hatte ich im Haus gefunden. Diese Forschungsreisen waren der Grund dafür, warum er so oft und lange vom Haus an der Küste abwesend war. Doch nirgendwo wurde ein Fahrzeug erwähnt, und es befand sich auch keines auf dem Anwesen meines Onkels. Wenn R lyeh der Gegenstand der Suche meines Onkels gewesen war, was suchte dann Ada Marsh? Diese Frage mußte noch beantwortet werden. Am nächsten Tag ließ ich einige unwichtige Aufzeichnungen meines Onkels auf dem Tisch in der Bibliothek liegen. Es gelang mir, Ada zu beobachten, als sie die Manuskripte entdeckte, und ihre Reaktion ließ keinen Zweifel daran, daß sie nach dem Versteck dieser Handschriften und Materialsammlungen gesucht hatte. Sie hatte von ihnen gewußt. Aber wodurch? Ich trat ihr gegenüber. Noch bevor ich etwas sagen konnte, rief sie:
»Sie haben sie gefunden!« »Wieso wußten Sie davon?« »Ich wußte, was er getan hat.« »Die Suche?« Sie nickte. »Das können Sie doch nicht ernst nehmen«, hielt ich ihr vor. »Warum sind Sie bloß so dumm?« rief sie wütend. »Haben Ihre Eltern Ihnen nichts gesagt? Ihr Großvater auch nicht? Wie konnte man Sie nur in einer solchen Dunkelheit aufziehen!« Sie kam näher, drückte mir die Manuskripte in die Hand und befahl: »Ich will auch die übrigen sehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Bitte! Für Sie sind sie wertlos.« »Das werden wir noch sehen.« »Sagen Sie mir: Hat er mit der Suche angefangen?« »Ja. Aber ich weiß nicht wie. Es gibt hier weder einen Tauchanzug noch ein Boot.« Sie bedachte mich mit einem Blick, in dem eine herausfordernde Mischung aus Mitleid und Verachtung lag. »Sie haben noch nicht einmal alles gelesen, was er geschrieben hat. Sie haben die Bücher nicht gelesen
rein gar nichts. Wissen Sie überhaupt,
worauf Sie gerade stehen?« »Meinen Sie diesen Teppich?« fragte ich verwundert. »Nein, nein
das Muster meine ich. Es ist überall. Wissen Sie nicht
warum? Weil es das große Siegel von R lyeh ist. Er hat es vor vielen Jahren herausgefunden und war stolz darauf, alles damit auszuschmücken. Sie stehen auf dem, wonach Sie suchen! Schauen Sie sich weiter um und finden Sie seinen Ring.«
3
Nachdem Ada Marsh gegangen war, wandte ich mich wieder den Papieren meines Onkels zu. Ich las bis weit nach Mitternacht in ihnen. Nun hatte ich das meiste überflogen und einiges eingehend durchgearbeitet. Es fiel mir schwer zu glauben, was ich gelesen hatte, doch Onkel Sylvan hatte eindeutig nicht nur daran geglaubt, sondern sogar damit gearbeitet. Er hatte sich schon früh der Suche nach dem versunkenen Reich verschrieben, bekannte offen seine Verehrung für Cthulhu, und seine Schriften enthielten überdies zweideutige, unheimliche Berichte über seltsame Begegnungen: manchmal in den Tiefen des Ozeans, manchmal auf den Straßen des legendenvergifteten Arkham
einer uralten, walmdächerigen Stadt im
Landesinneren hinter Innsmouth, nicht weit von der Küste entfernt und am Miscatonic River gelegen
, oder im nahen Dunwich oder auch in
Innsmouth selbst. Dort traf er sich mit Männern
und auch mit Wesen, die
keine Menschen waren , welche denselben Glauben wie er hatten und in den dunklen Fesseln desselben wiedererstandenen Mythos gefangen waren. Doch trotz meines Ikonoklasmus verspürte ich in mir eine Spur von Glauben, die ich einfach nicht abschütteln konnte. Vielleicht entsprang sie den merkwürdigen Anspielungen und undeutlichen Darstellungen in seinen Notizen, die nur für ihn selbst gedacht waren, denn er bezog sich in ihnen auf etwas, daß er zu gut kannte, um es niederzuschreiben. Es gab Andeutungen über die unheiligen Heiraten von Obed Marsh und »drei anderen«
ob ein Phillips darunter war?
und die spätere Entdeckung von
Photographien der Marsh-Frauen: von Obediahs Witwe, einer seltsam
plattgesichtigen Frau mit sehr dunkler Haut und breitem, dünnlippigem Mund, sowie von den jüngeren Marshs, die alle ihrer Mutter ähnelten. Den Notizen zufolge hatten sie einen seltsam hüpfenden Gang, der charakteristisch sei »für jene, die von den Überlebenden des Untergangs der Cory abstammten«, wie Onkel Sylvan schrieb. Was er damit ausdrücken wollte, war unzweifelhaft: Obediah Marsh hatte in Ponape eine Frau geheiratet, die keine Polynesierin war, aber dort lebte und zu einer Meeresrasse gehörte, die höchstenfalls halbmenschlich war. Obediah Marshs Kinder und Kindeskinder hatten das Stigma dieser Verbindung getragen, die schließlich zu der Katastrophe in Innsmouth im Jahre 1928 und der Vernichtung so vieler Angehöriger der alteingesessenen Familien geführt hatte. Obwohl mein Onkel sehr ungenau über all das geschrieben hatte, lauerte doch das Grauen hinter seinen Worten, und das Echo des Unheils hallte aus den Sätzen und Abschnitten wider. Denn diejenigen, über welche er geschrieben hatte, waren den Tiefen Wesen verbunden; wie diese, so waren auch sie amphibische Geschöpfe. Wie weit dieser abscheuliche Makel ging, ließ er offen; auch verlor er kein Wort über seine eigenen Beziehungen zu ihnen. Kapitän Obediah Marsh und vermutlich auch Cyrus Phillips sowie die beiden anderen aus der Besatzung der Cory, die auf Ponape geblieben waren
zeigten sicherlich
nicht die Merkmale ihrer Frauen und Kinder, aber ob der Makel noch über ihre Kinder hinausreichte, vermochte niemand zu sagen. War es das, was Ada Marsh gemeint hatte, als sie zu mir sagte: »Sie sind einer von uns!« Oder hatte sie sich auf ein noch dunkleres Geheimnis bezogen? Vielleicht stammte die Abscheu meines Großvaters vor dem Meer aus dem Wissen um die Taten seines Vaters. Zumindest hatte er dem düsteren Erbe erfolgreich Widerstand geleistet. Die Papiere meines Onkels waren einerseits zu ungenau für ein
zusammenhängendes Bild, andererseits aber zu deutlich, um seinen Berichten sofort Glauben zu schenken. Am meisten verwirrten mich die wiederholten Hinweise darauf, daß sein Haus
dieses Haus
eine
»Zuflucht«, ein »Kontaktpunkt« und eine »Öffnung zu dem, was darunter liegt« sei, und auf den ersten Seiten fand sich oft die Erwähnung, das Haus und die felsige Klippe »atmeten«, worauf er sich später nicht mehr bezog. Seine
Niederschriften
waren
verblüffend
und
herausfordernd,
furchterregend und wundervoll und erfüllten mich mit Ehrfurcht und gleichzeitig mit wütender Ungläubigkeit sowie dem verzweifelten Wunsch, zu glauben und zu wissen. Überall versuchte ich, zu verstehen, und wurde nur immer verblüffter. Die Einwohner von Innsmouth hatten dünnlippige Münder, und einige von ihnen mieden mich tatsächlich; sie wechselten die Straßenseite, wenn ich mich ihnen näherte, und im italienischen Bezirk bekreuzigten sie sich offen, als ob sie sich gegen den bösen Blick schützen wollten. Niemand gab mir Informationen, und selbst in der öffentlichen Bücherei erhielt ich keine Bücher oder Akten, die mir weiterhalfen, denn der Bibliothekar erklärte mir, daß nach dem Feuer und den Explosionen von 1928 alles von Regierungsbeamten beschlagnahmt und vernichtet worden sei. Ich suchte an anderen Stellen, und in Arkham und Dunwich erfuhr ich von noch dunkleren Geheimnissen. Schließlich fand ich in der großartigen Bibliothek der Miscatonic University den Urquell aller Bücher über dunkle Dinge: das legendäre Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred, in dem ich nur unter dem aufmerksamen Blick eines Bibliotheksassistenten lesen durfte. Zwei Wochen nach der Entdeckung der Papiere meines Onkels entdeckte ich seinen Ring. Er befand sich an einer Stelle, wo man ihn am
wenigsten erwartet hätte, auch wenn er genau dort hingehörte: in einem Päckchen mit
persönlichen Gegenständen, welches der Bestatter
hergebracht hatte und das unausgepackt in der Schreibtischschublade lag. Der Ring bestand aus Silber; es war ein massives Schmuckstück mit einem eingelegten milchigen Stein, der an eine Perle erinnerte, aber keine war, und dem eingravierten Siegel von R lyeh. Ich
untersuchte
außergewöhnlich
den
Ring
eingehend.
Nichts
an
ihm
war
sieht man von seiner Größe ab , doch wenn man ihn
überstreifte, geschahen unfaßbare Dinge. Sobald ich ihn an den Finger gesteckt hatte, war mir, als eröffneten sich mir neue Dimensionen
oder
als würden die alten Horizonte unendlich weit fortgeschoben. All meine Sinne wurden schärfer. Das erste, was ich bemerkte, war das Raunen des Hauses und Felsens, das sich mit den langsamen Bewegungen des Meeres im Einklang befand. Es war, als stiegen und fielen das Haus und der Fels zusammen mit der Bewegung des Wassers, und ich hatte den Eindruck, als höre ich tief unter dem Haus das Anbranden und Ablaufen von Wasser. Noch wichtiger schien mir, daß ich gleichzeitig ein psychisches Erwachen spürte. Unmittelbar nach der Aneignung des Rings bemerkte ich den Druck unsichtbarer, unbeschreiblich mächtiger Kräfte, als sei dieses Haus der Brennpunkt von Gewalten jenseits meiner Vorstellungskraft. Kurz gesagt: Mir war, als sei ich ein Magnet, der die Mächte der Elemente überall um mich herum anzog. Sie rasten mit solchem Druck gegen mich an, daß ich mich wie eine sturmgepeitschte Insel inmitten des Meeres fühlte, über dem ein Hurrikan tobt. Mit so etwas wie Erleichterung hörte ich den sehr realen Klang einer schrecklichen, tierähnlichen Stimme, die sich zu einem scheußlichen Heulen erhob sondern tief unter mir!
nicht über oder neben mir,
Ich zog den Ring vom Finger, und sofort flaute alles ab. Haus und Fels kehrten zu Ruhe und Einsamkeit zurück; Wind und Wasser beruhigten sich; die Stimme, die ich gehört hatte, wurde leiser und verstummte; die außersinnlichen Wahrnehmungen endeten, und wieder einmal schien alles auf meine weiteren Handlungen zu warten. Also war der Ring meines toten Onkels ein Talisman und ein Zauberring; er war der Schlüssel zu Onkel Sylvans Wissen und die Tür zu fremden Daseinsebenen. Durch diesen Ring entdeckte ich den Zugang meines Onkels zum Meer. Ich hatte schon seit langem den Pfad gesucht, auf dem er zum Strand gegangen war, aber keiner war genügend ausgetreten, um auf andauernden Gebrauch schließen zu lassen. Es gab einige Pfade den abschüssigen Fels hinab, in den man vor langer Zeit an ein paar Stellen Tritte hineingemeißelt hatte, so daß man das Wasser von dem Haus auf der Klippe aus erreichen konnte, doch nirgendwo entdeckte ich eine Landestelle für ein Boot. Das Ufer fiel steil ab; mehrere Male schwamm ich im tiefen Wasser, wobei mich immer ein Gefühl des Triumphes überkam; so groß war mein Vergnügen am Meer. Es gab viele Felsen hier, und die einzigen Sandstrände lagen in einiger Entfernung sowohl südlich als auch nördlich von der Bucht und waren zu weit entfernt, um dorthin schwimmen zu können, es sei denn, man war ein sehr guter Schwimmer. Zu meinem großen Erstaunen fand ich heraus, daß ich ein solcher war. Ich hatte Ada Marsh nach dem Ring fragen wollen. Schließlich war sie es gewesen, die mir von seiner Existenz berichtet hatte, aber seit dem Tag, an dem ich ihr den Zugang zu den Papieren meines Onkels verweigert hatte, war sie nicht mehr ins Haus gekommen. Ich hatte sie allerdings manchmal in der Nähe lauern gesehen und auch bemerkt, daß sie bisweilen ihren Wagen an der westlich am Haus vorüberführenden Straße parkte, und
wußte so, daß sie durch die Nachbarschaft strich. Einmal hatte ich in Innsmouth nach ihr gesucht, aber sie war nicht zu Hause, und meine Nachforschungen hatten mir nur offene Feindseligkeit vom größten Teil der Bevölkerung eingebracht sowie verstohlene, bedeutungsschwangere,
aber
unverständliche
Blicke
von
den
watschelnden, halb verwahrlosten Leuten, die in den Haupt- und Nebenstraßen entlang der Küste wohnten. Ich habe es nicht Adas Hilfe zu verdanken, daß ich den Zugang meines Onkels zum Meer fand. Eines Tages hatte ich den Ring angezogen und war fest entschlossen, hinunter zum Meeresufer zu klettern; so stark zog mich das Wasser an. Als ich den zentralen Raum des Hauses durchqueren wollte, mußte ich jedoch feststellen, daß ich es nicht verlassen konnte; seine Macht über den Ring war zu stark. Ich gab es schließlich auf und erkannte, daß hier eine gewaltige psychische Kraft am Werk war. Ich stand einfach nur da und wartete darauf, geleitet zu werden. Als ich zu einem einzigartig abstoßenden Schnitzwerk gezogen wurde
einem primitiven
Werk, das einen scheußlichen, froschähnlichen Hybriden darstellte, welcher auf einer Säule an einer Wand des Arbeitszimmers stand, gab ich dem Drang nach, ging hinüber zu ihm, packte die Skulptur, drückte und zog an ihr und drehte sie hin und her. Sie glitt nach links weg. Sofort ertönte ein Knirschen von Ketten, ein Klappern von Gestängen, und der gesamte Teil des Bodens, der von dem Teppich mit dem Siegel lyehs darauf bedeckt wurde, klappte auf wie eine große Falltür. Verwundert ging ich zu ihr hinüber; mein Puls raste vor Erregung. Ich schaute in das Loch hinab
es war eine gewaltige, gähnende Tiefe, in
deren Rand man Stufen aus dem festen Fels gemeißelt hatte, auf dem das Haus stand.
Ob die Stufen zum Wasser führen mochten? Ich nahm wahllos ein Buch aus der Dumas-Sammlung meines Onkels und warf es in die Tiefe; dann lauschte ich. Schließlich ertönte aus weiter Ferne ein Platschen. Mit äußerster Vorsicht schlich ich die endlosen Stufen hinunter und tauchte ein in die Gerüche des Meeres
kein Wunder, daß ich den
Eindruck gehabt hatte, das Meer krieche bis ins Haus! Ich stieg immer tiefer in die feuchte Kälte eines vom Wasser beherrschten Ortes hinab, bis ich die Nässe der Wände und Stufen spürte. Ich näherte mich dem Klang rastlosen Wassers, dem Rauschen und Plätschern der See, und schließlich kam ich zum Ende der Treppe unmittelbar am Rande des Wassers. Ich befand mich in einer Art Höhle, die groß genug war, um das ganze Haus zu verschlucken, in dem Onkel Sylvan gelebt hatte. Und ich wußte nun zweifelsfrei, daß dies der Weg meines Onkels zum Meer gewesen war, doch überraschenderweise fand ich hier kein Boot, sondern nur Fußspuren sowie noch etwas anderes, als ich ein Streichholz entzündete
lange, verwischte Spuren und Flecken, als ob sich hier ein
gewaltiges Wesen ausgeruht hätte. Diese Spuren verursachten mir eine Gänsehaut, denn sie erinnerten mich an die Darstellungen, die Onkel Sylvan und andere vor ihm von den rätselhaften Inseln Polynesiens mitgebracht hatten und die im großen Arbeitszimmer aufgestellt waren. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Der Ring mit dem Siegel lyehs steckte an meinem Finger, und ich hörte aus den Tiefen des Wassers Geräusche von Bewegungen und Leben, die aus sehr großer Ferne kamen
aus der Richtung des Meeres und gleichzeitig aus großer Tiefe,
was die Vermutung nahelegte, daß es einen direkten Zugang von hier zum Meer gab, entweder ganz in der Nähe durch eine knapp unter dem
Wasserspiegel liegende Höhle oder einen tieferen Zugang, denn die Grotte, in der ich stand, war sehen konnte
soweit ich im schwachen Licht des Streichholzes
von festem Fels umgeben. Die Bewegung des Wassers
hingegen glich der des Meeres, und das konnte kein Zufall sein. Also gab es eine Öffnung nach draußen, die ich so schnell wie möglich finden mußte. Ich kletterte die Stufen wieder hoch, verschloß die Falltür, eilte zu meinem Wagen und fuhr nach Boston. Spät am Abend kehrte ich mit einem Taucherhelm und einem tragbaren Sauerstoffbehälter zurück. Am folgenden Tag wollte ich in das Wasser unter dem Haus hinabtauchen. Ich zog den Ring nicht mehr aus, und in jener Nacht träumte ich großartige Träume von uralten Überlieferungen, von Städten auf fernen Sternen und grandiosen, vieltürmigen Ansiedlungen an phantastischen, verborgenen Orten auf dieser Erde: in der unbekannten Antarktis, hoch im gebirgigen Tibet, tief unter der Oberfläche des Meeres. Ich träumte, daß ich zusammen mit anderen meiner Art sowie mit fremden Wesen, die meine Freunde waren, an großartigen Orten des Wunders und der Schönheit umherging. Der Anblick dieser fremden Wesen hätte mir in wachem Zustand das Blut in den Adern gefrieren lassen, doch in dieser nächtlichen Welt hatten wir alle dasselbe Ziel
jenen Großen Wesen zu dienen, deren Boten wir
waren. Ich träumte von anderen Welten und anderen Seinszuständen, von neuartigen Empfindungen und von unglaublichen, tentakelbewehrten Wesen, die von uns Anbetung und Gehorsam verlangten. Am nächsten Morgen wachte ich erschöpft, aber sehr angeregt auf, als ob ich in der Nacht meine Träume tatsächlich gelebt und unvorstellbare Kräfte für kommende, noch größere Prüfungen erhalten habe. Ich stand an der Schwelle einer noch gewaltigeren Entdeckung.
Spät am nächsten Nachmittag zog ich meine Badehose und Schwimmflossen an, setzte den Helm auf, schnallte die Sauerstoffbehälter um und stieg zum Rand des Wassers unter dem Haus hinab. Selbst jetzt fällt es mir noch schwer, ohne Erstaunen und Ungläubigkeit über das zu schreiben, was mir widerfuhr. Ich ließ mich vorsichtig in das Wasser hinab, tastete nach dem Grund, fand ihn und ging auf dem Boden der Höhle, deren Höhe das Vielfache der Körpergröße betrug, in Richtung Meer, bis ich plötzlich zu ihrem Ende kam. Ohne Vorwarnung trat ich hinaus in die offene See und sank langsam zum Meeresboden hinab, einer grauen Welt aus Steinen, Sand und Gewächsen, die im schwachen Licht, das bis in diese Tiefe drang, unheimlich zitterten und zuckten. Hier spürte ich deutlich den Wasserdruck und fragte mich, wie ich mit dem schweren Helm und den Sauerstofftanks je wieder aufsteigen sollte. Vielleicht fand ich eine Stelle, wo ich bis zum Strand hinaufgehen konnte, doch noch während ich darüber nachdachte, wurde ich weiter nach draußen gezogen, fort vom Strand, fort von Innsmouth, immer weiter südwärts. Mit schrecklicher Deutlichkeit begriff ich plötzlich, daß ich wie von einem Magnet angezogen wurde. Gegen besseres Wissen ging ich weiter; der Sauerstoff in meinen Tanks würde nicht lange reichen, und ich benötigte Ersatz, wenn ich von so weit draußen je wieder zurückkehren wollte. Doch es gelang mir nicht, mich davon abzuhalten, weiter ins Meer hineinzugehen; es war, als ziehe mich eine Kraft, der ich nichts entgegensetzen konnte, immer weiter vom Ufer fort, hinein und hinunter ins Meer, denn der Boden fiel hier sanft ab. Ich bewegte mich in südöstlicher Richtung und ging gleichmäßig und ohne Unterbrechung, obwohl ich wachsende Panik verspürte. Ich mußte unbedingt umkehren und mich auf den Rückweg machen! Zur Höhle zurückzuschwimmen würde beinahe übermenschliche Kräfte erfordern,
auch wenn der nachlassende Druck meinem Fortkommen half. Der Sauerstoff würde keinesfalls mehr bis zur Höhle reichen, wenn ich nicht sofort umkehrte. Doch es wurde mir nicht erlaubt, mich umzudrehen. Ich ging weiter und weiter, als ob mich etwas beherrsche, das stärker als mein Wille war. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich mußte weitergehen, und währenddessen wuchs meine Besorgnis. Ich wurde hin und hergerissen zwischen dem, was ich tun wollte, und dem, was ich tun mußte, und die Sauerstoffbehälter wurden immer leerer. Mehrmals sprang ich hoch und schwamm mit kräftigen Zügen, doch obwohl mir dieses Schwimmen keinerlei Schwierigkeiten bereitete
ich
schien sogar mit wundersamer Leichtigkeit zu schwimmen , kam ich doch immer wieder zum Meeresboden zurück oder stellte fest, daß ich weiter ins offene Meer hinausschwamm. Einmal hielt ich an und sah mich um. Vergeblich versuchte ich, die Tiefen des Ozeans mit meinem Blick zu durchdringen. Ich glaubte, einen blaßgrünen Fisch in meinem Kielwasser schwimmen zu sehen, und verfiel der Illusion, es sei eine Meerjungfrau, denn ich bemerkte fließendes Haar, doch dann war das Geschöpf hinter Meeresgewächsen verschwunden. Ich konnte nicht lange dastehen; ich wurde wieder vorwärts gezogen, bis ich schließlich wußte, daß mein Sauerstoff beinahe aufgebraucht war und mir das Atmen immer schwerer fiel. Ich versuchte, zur Oberfläche aufzusteigen, doch ich fiel von der Stelle, wo ich mich abgestoßen hatte, in eine Spalte des Meeresbodens. Wenige Sekunden, bevor ich das Bewußtsein verlor, bemerkte ich, daß mein Verfolger rasch auf mich zukam; ich spürte Hände am Helm und den Sauerstoffbehältern.
Es handelte sich weder um einen Fisch noch um eine Meerjungfrau. Was ich gesehen hatte, waren der nackte Körper Ada Marshs und ihr langes Haar, das hinter ihr herfloß; sie schwamm mit der Natürlichkeit und Leichtigkeit eines Meeresbewohners!
4
Was auf diesen beinahe traumhaften Anblick folgte, ist das Unglaublichste von allem. Im Zustand abnehmender Bewußtlosigkeit spürte ich, daß mir Ada Marsh Helm und Sauerstofftanks abnahm und sie in die Tiefe warf. Langsam kehrte das Bewußtsein zurück, und ich bemerkte, daß ich schwamm. Ada leitete mich mit starken, zupackenden Fingern
nicht
zurück, sondern immer weiter hinaus ins Meer. Ich selbst schwamm genau so geschickt wie sie, und wie sie öffnete und schloß ich den Mund, als atmete ich unter Wasser
und genauso war es! Das Erbe, das ich ohne
mein Wissen besessen hatte, entdeckte sich mir nun und erschloß mir all die gewaltigen Wunder der See
ich konnte atmen, ohne aufzutauchen,
und war eine echte Amphibie! Ada schwamm vor mir dahin, und ich folgte ihr. Ich war schnell, aber sie war schneller. Nun ging ich nicht mehr langsamen Schrittes über den Meeresboden, sondern schwamm mit Armen und Beinen, die für das Wasser geschaffen zu sein schienen, zwanglos und von tiefer Freude erfüllt einem Ziel entgegen, von dem ich die vage Vorstellung hatte, daß es mir vorherbestimmt war. Ada wies mir den Weg, und ich folgte ihr, während über uns, hoch über dem Wasser, die Sonne im Westen versank und der Tag sich neigte. Das letzte Licht zog sich nach Westen zurück, und die Mondsichel leuchtete im Abendrot. Zu dieser Stunde stiegen wir an die Oberfläche und folgten einer Linie aus gezackten Felsen, die den Strand oder eine Insel einfaßten, und gingen weit vom Ufer entfernt bei einer vorspringenden Klippe an Land, von der
aus man im Westen die funkelnden Lichter einer Hafenstadt sehen konnte. Ada und ich saßen im Mondlicht, und Boote bewegten sich schattenhaft zwischen uns und dem Strand und der Linie am östlichen Horizont. Als ich zurückschaute, wußte ich plötzlich, wo ich mich befand auf dem Teufelsriff draußen vor Innsmouth, wo sich vor jener katastrophalen Nacht des Jahres 1928 unsere Vorfahren mit ihren Geschwistern aus den Tiefen des Meeres vergnügt hatten. »Wieso hast du das nicht gewußt?« fragte Ada geduldig. »Du hättest sterben können; all dieses Zeug hätte dich beinahe erstickt. Wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre
«
»Ich hatte keine Ahnung.« »Wie sollte dein Onkel denn sonst auf Entdeckungsreise gegangen sein?« Die Suche meines Onkels war auch ihre, und jetzt war es auch meine die Suche nach dem Siegel von R lyeh, die Entdeckung des Schläfers in der Tiefe, des Träumers, dessen Ruf ich verspürt hatte und dem ich gefolgt war: der Große Cthulhu. Das Siegel befand sich nicht vor der Küste von Innsmouth, dessen war sich Ada sicher. Um es zu beweisen, führte sie mich erneut in die Meerestiefe weit hinter dem Teufelsriff und zeigte mir die großen, megalithischen Steinbauten, die wegen des Bombardements von 1928 in Ruinen lagen. Es war derselbe Ort, an dem vor vielen Jahren die Marshs und die Phillips ihren Kontakt mit den Tiefen Wesen fortgesetzt hatten. Ada schwamm mit mir durch die Ruinen dieser einstmals großen Stadt, und ich sah das erste dieser Wesen, bei dessen Anblick mich das Entsetzen packte. Es war die froschähnliche Karikatur eines Menschen, und sie schwamm mit gewaltig übertriebenen Bewegungen wie denen eines Frosches. Mit hervorquellenden Augen und froschähnlichem Maul beäugte
es uns keineswegs ängstlich, sondern unerschrocken, und erkannte uns als seine Geschwister von draußen. Wir stiegen abermals zum Meeresboden hinab. Hier waren die Zerstörungen sehr groß. Auch andere Orte waren auf dieselbe Weise von Horden begriffsstutziger Menschen zerstört worden, um die Rückkehr des Großen Cthulhu zu verhindern. Schließlich schwammen wir zurück zu dem Haus auf dem Felsen, wo Ada ihre Kleider abgelegt hatte, und besiegelten jenen Pakt, der uns aneinanderband. Dann planten wir unsere Reise nach Ponape und die weitere Suche. Zwei Wochen später befanden wir uns in einem gecharterten Boot auf der Fahrt nach Ponape. Wir sagten keinem Besatzungsmitglied etwas von unserer Mission, da wir befürchteten, man könne uns für verrückt halten und desertieren. Wir waren sicher, daß unsere Suche irgendwo auf einer der vielen nicht kartierten Inseln Polynesiens erfolgreich sein würde. Dann wollten wir uns auf immer zu unseren Geschwistern in den Meeren gesellen, die auf den Tag der Auferstehung warten, wenn sich Cthulhu, Hastur, Lloigor und Yog-Sothoth wieder erheben und die Älteren Götter in dem unvermeidlichen titanischen Kampf besiegen werden. Wir
machten
Ponape
zu
unserem
Hauptquartier.
Manchmal
schwammen wir von dort aus los; manchmal benutzten wir das gecharterte Boot, wobei wir blind für die Neugier der Besatzung waren. Wir suchten das Wasser ab; zu Zeiten waren wir tagelang unterwegs. Und bald war meine Verwandlung vollständig. Ich wage nicht zu berichten, wie wir uns bei jenen Reisen unter Wasser ernährten und von welcher Art unsere Nahrung war. Einmal stürzte ein großes Flugzeug ins Meer
nein, genug davon. Es
reicht zu sagen, daß wir überlebten und ich Dinge tat, die ich noch vor einem Jahr als bestialisch angesehen hätte. Nur die Dringlichkeit unserer
Suche trieb uns an; nichts anderes interessierte uns
nur unser Überleben
und das Ziel, das wir unablässig vor Augen hatten. Wie soll ich beschreiben, was wir gesehen haben, und doch eine Spur Glaubwürdigkeit behalten? Große Städte lagen auf dem Meeresboden; die größte von allen war jene vor der Küste Ponapes, wo es vor Tiefen Wesen wimmelte, und wir schwammen tagelang zwischen Türmen und Steinplatten, den Minaretten und Kuppeln dieser versunkenen Stadt umher, die beinahe von unterseeischen Wäldern überwuchert war. Wir sahen, wie die
Tiefen
Wesen
lebten,
und
freundeten
uns
mit
seltsamen
Meeresgeschöpfen an, die oktopoid wirkten, es aber nicht waren. Sie kämpften gegen Haie und andere Feinde, was auch wir manchmal tun mußten, und lebten nur, um Ihm zu dienen, dessen Ruf in den Tiefen erschallt, auch wenn niemand weiß, wo Er liegt und von der Zeit Seiner Wiederkunft träumt. Was soll ich über unsere unablässige Suche schreiben
von Stadt zu
Stadt, von Gebäude zu Gebäude, immer Ausschau nach dem großen Siegel haltend, unter dem Er liegt? Es war eine endlose Reihe von Tagen und Nächten, und nur die Zuversicht und die Dringlichkeit unseres Ziels, dem wir jeden Tag etwas näher zu kommen hofften, hielt uns aufrecht. Selten änderte sich etwas, und doch war jeder Tag anders. Niemand konnte sagen, was der neue Tag bringen würde. Unser gechartertes Schiff war nicht immer ein Segen, denn wir mußten es jedesmal mit dem Beiboot verlassen. Erst wenn es von einer Uferlinie verborgen wurde, konnten wir uns in die Tiefe stehlen, was uns nicht sonderlich gefiel. Trotzdem wurde die Besatzung mit jedem Tag neugieriger, weil sie vermutete, daß wir nach einem versunkenen Schatz suchten, und vermutlich ihren Anteil daran haben wollte. Es war schwierig, ihren Fragen und ihrem wachsenden Mißtrauen auszuweichen.
Auf diese Weise suchten wir drei Monate lang, und vor zwei Tagen ankerten wir vor einer seltsamen, unbewohnten Insel fernab von jeder menschlichen Ansiedlung. Nichts wuchs hier, und es wirkte wie ein verfluchtes Land. Es schien nicht mehr zu sein als ein Basaltfels, der sich früher einmal hoch über das Wasser erhoben haben mußte, aber vermutlich während des letzten Krieges heftig bombardiert worden war. Wir verließen unser Schiff, umrundeten die Insel und tauchten ins Meer hinab. Auch hier gab es eine Stadt der Tiefen Wesen, und auch diese war durch Feindeseinwirkung verwüstet und zerstört. Aber obwohl die Stadt unter der schwarzen Insel in Ruinen lag, war sie nicht verlassen. Sie dehnte sich zu allen Seiten bis in unberührte Regionen aus. Und dort, in einem der ältesten jener gewaltigen, monolithischen Gebäude, fanden wir, wonach wir gesucht hatten. Im Mittelpunkt eines gewaltigen, viele Stockwerke hohen Raumes lag eine große Steinplatte, die das Urbild jener Formen bildete, die ich als Schmuckelemente im Haus meines Onkels gesehen und zuerst nicht erkannt hatte: das Siegel von R lyeh. Als wir darauf standen, nahmen wir darunter eine Bewegung wie von einem gewaltigen amorphen Körper wahr, so ruhelos wie das Meer und im Traum sich regend. Nun wußten wir, daß wir das Ziel unserer Suche erreicht hatten und auf ewig Ihm, Der Sich Wieder Erheben Wird, dienen durften
dem
Bewohner der Tiefe, dem Schläfer im Abgrund, dessen Träume nicht nur die Erde umfassen, sondern auch alle Universen, und der jemanden wie Ada Marsh und mich braucht, damit ihm gedient wird bis zu seiner Wiederkunft. Während ich dies schreibe, sind wir noch immer hier. Ich mache diese Aufzeichnungen für den Fall, daß es uns nicht gelingt, zu unserem Schiff
zurückzukehren. Es ist schon spät, und morgen werden wir wieder hinabsteigen, um einen Weg zu finden, wie wir das Siegel eröffnen können. Haben tatsächlich die Älteren Götter es dem Großen Cthulhu auferlegt, um ihn zu bannen? Dürfen wir es in diesem Falle wagen, es aufzubrechen, darunter zu kriechen und sich in die Gegenwart Dessen, Der Im Traume Liegt, zu begeben? Ada und ich
und bald wird es noch einen geben,
geboren in seinem natürlichen Element, der dem Großen Cthulhu dient. Denn wir haben den Ruf gehört, wir haben ihm gehorcht, und wir sind nicht allein. Andere kommen von allen Enden der Erde her; auch sie sind die Nachkommen jener Vermischung von Männern und Seefrauen, und bald werden die Meere uns gehören, und danach die ganze Welt und noch viel mehr
und Macht und Ruhm werden auf ewig unser sein. ***
Auszug aus der Singapore Times vom 7. November 1947: »Die
Besatzung
der
Rogers
Clark
wurde
heute
freigelassen, nachdem sie im Zusammenhang mit dem seltsamen Verschwinden von Mr. und Mrs. Marius Phillips verhaftet worden war. Mr. und Mrs. Phillips hatten das Schiff gechartert, um gewisse Nachforschungen bei den polynesischen Inseln anzustellen. Zuletzt wurden sie in der Nähe einer unbewohnten Insel 47 Grad 53 südlicher Breite und 47 Grad 37
westlicher Länge
gesehen. Sie waren in einem kleinen Boot hinausgefahren und hatten die Insel vermutlich an dem den Schiff
gegenüberliegenden Strand betreten. Von der Insel aus scheinen sie ins Meer gegangen zu sein, denn die Besatzung gab an, ein ungewöhnliches und einzigartiges Ansteigen des Wassers vor der anderen Seite der Insel gesehen zu haben, und der Kapitän des Schiffes sowie der erste
Maat,
die
sich
auf
der
Brücke
befanden,
beobachteten, wie das Ehepaar von einem geysirartigen Ausbruch in die Luft gewirbelt wurden und dann wieder ins Wasser fielen. Sie tauchten nicht mehr auf, obwohl das Schiff einige Stunden lang an derselben Stelle lag. Eine Untersuchung der Insel offenbarte, daß sich die Kleider von Mr. und Mrs. Phillips in ihrem kleinen Boot befanden. Ein Manuskript in Mr. Phillips Handschrift, das vorgibt, Fakten mitzuteilen, in Wirklichkeit aber reine Fiktion ist, wurde in seiner Hütte gefunden und von Kapitän Morton der Singapurer Polizei übergeben. Von Mr. und Mrs. Phillips fand man keine Spur mehr
«