Liebling, ich bin noch frei Alice Brooke
Kim hat mit dem Arzt Stephen Anderson so ihre Last. Von Schuldgefühlen geplagt...
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Liebling, ich bin noch frei Alice Brooke
Kim hat mit dem Arzt Stephen Anderson so ihre Last. Von Schuldgefühlen geplagt, muß Kim sich eingestehen, daß er ihre Phantasie mehr beschäftigt, als ihr Verlobter es jemals könnte. Dieser Mann bringt sie ständig in größte Verlegenheit. Und schon bevor der Sommer zu Ende ist, muß sich Kim zwischen Stephen und ihrem Verlobten entscheiden…
© by Alice Brooke Unter dem Originaltitel: „No Guarantees“ erschienen bei Silhouette Books, division of Harlequin Enterprises Limited Übersetzung: Anita Kerr © Deutsche Erstausgabe in der Reihe NATALIE Band 156 (8 2), 1985 by CORA VERLAG GmbH & Co. Berlin Alle Rechte vorbehalten einschließlich des Rechtes der ganzen oder teilweisen Reproduktion in jeder Art und Form. Diese Ausgabe wird in Vereinbarung mit Harlequin Enterprises Limited, Toronto, Canada, veröffentlicht. NATALIERomane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Satz: Axel Springer Verlag AG, Kettwig Druck: Ebner Ulm Printed in Western Germany
1. KAPITEL Kim Grayson schaute auf ihre Uhr und seufzte. Drei Uhr nachmittags war die schlimmste Tageszeit für jemanden, der in einem Büro arbeitete. Es schien fast so, als wäre sie schon seit einer Ewigkeit hier, und doch mußten noch zwei endlose Stunden vergehen, bis sie das Büro verlassen konnte. Die Bank war jetzt für den Publikumsverkehr geschlossen, und die Stille machte Kim beinah unruhig. Zum erstenmal seit Stunden konnte sie die leise Hintergrundmusik hören, eine PopVersion von Beethovens Fünfter Sinfonie. Ich könnte eigentlich Kopfschmerzen bekommen, dachte sie. Seit meiner Erkältung zu Weihnachten war ich nicht mehr krank. Sie stellte sich vor, wie sie Mr. Larrabee, den Vizepräsidenten, dessen Sekretärin sie war, fragte, ob sie früher nach Hause gehen könnte. Wahrscheinlich würde er ihr zwei Aspirintabletten anbieten und ihr vorschlagen, sich für zehn Minuten im Aufenthaltsraum für Angestellte hinzulegen. Nein, sie würde bei ihm wohl kein Glück haben. Vielleicht gab es einen Stromausfall, oder sie könnte Nasenbluten vortäuschen und hinauslaufen. Doch so wünschenswert diese Einfälle auch waren, Kim wußte, sie würde weiterhin tippen, ablegen und fotokopieren, bis Büroschluß war. Kim blickte wieder auf die Uhr. Fünf nach drei. Sie schlenderte zum Ende des Ganges, blieb am Fenster stehen und schaute in den Regen hinaus, der auf den Parkplatz vor dem Haus fiel. Hinter dem Parkplatz fuhr gelegentlich ein Wagen auf der Proctor Street vorbei. Es war ein ungewöhnlich kalter und schneereicher Frühling, und obwohl nächstes Wochenende schon Ostern ins Haus stand, war der Parkplatz immer noch von hohen schmutzigen Schneewällen umgeben. Es war noch nicht warm genug, daß der Schnee schmelzen konnte. Wenn Kim später heimfuhr, waren die Straßen sicher vereist und glatt. Sie versuchte, sich Sonnenschein, Narzissen und den würzigen Geruch von warmer Erde vorzustellen, ohne Stiefel, Handschuhe und Schal hinauszugehen, aber das alles schien noch so weit entfernt. Kim kehrte an ihren Schreibtisch zurück und nahm die Briefe mit den Darlehensbewilligungen in Angriff. Wenn sie sich auf die Arbeit konzentrierte, würde die Zeit schon schneller vergehen. Drei Briefe, drei Umschläge, später sechs Durchschläge, und die Uhr würde bald halb vier zeigen. Eineinhalb Stunden blieben dann nur noch übrig. Am kommenden 15. Juli arbeitete Kirn zwei Jahre bei der Bank. Sie hatte im vergangenen August eine Woche Urlaub genommen und würde erst im nächsten August eine zweite Woche bekommen. In einem Zeitraum von einem Jahr und acht Monaten war sie vier Tage krank gewesen. Sie hatte inzwischen zwei Gehaltserhöhungen bekommen, eine Weihnachtsfeier versäumt. Kuchen für eine andere Weihnachtsfeier gebacken, war zweimal zum Essen ausgegangen und hatte an ihren Pflanzen das Heranwachsen von Ablegern verfolgen können. Einmal hatte eine Maus das Büro für mehrere Stunden in Atem gehalten, und einmal war die Bank wegen Stromausfalls geschlossen worden. Die älteren Sekretärinnen dachten noch an die Zeit zurück, als die Bank umgebaut wurde und wie schwer es für sie gewesen war, sich an die goldfarbenen Polsterstühle und an den dunkelbraunen Teppich zu gewöhnen. Die Sekretärin des Direktors konnte sich noch an den Einsatz der ersten elektrischen Schreibmaschinen erinnern. Das Leben in der Bank barg nur wenige Überraschungen, dafür war es sicher und vorhersehbar. Kim hatte das Bedürfnis zu schreien. Statt dessen zog sie die letzte Postkarte von Roger heraus und betrachtete das Bild der Surfer vor Malibu. Der Ozean wirkte
intensiv blau, fast zu blau, und der Sand beinahe golden. Auf der Rückseite der Karte war zu lesen: „Das Wetter ist herrlich. Nächste Woche mache ich einen Werbespot, in dem ich tatsächlich einen Satz sagen darf. Grüße an alle, Roger.“ Kim versuchte angestrengt, jede, auch die kleinste Information aus den Worten herauszuziehen. Nahm man sie nur als Nachricht, dann war die Postkarte zufriedenstellend. Offensichtlich machte Roger Fortschritte bei seiner Schauspielerkarriere. Nach zwei Jahren Aufenthalt in Hollywood hatte er endlich eine Sprechrolle in einem Werbespot bekommen. Kim erkannte die Bedeutung dieser Tatsache und freute sich mit Roger. Als Liebesbrief von ihrem Verlobten jedoch ließ die Ansichtskarte eine Menge zu wünschen übrig. Sie enthielt kein einziges liebes Wort, noch nicht einmal „Liebe Kim!“ oder „In Liebe, Roger!“ Er gestand ihr nicht, daß er sie vermißte, er fragte noch nicht einmal, wie es ihr ging. Natürlich braucht er nicht zu fragen, wie es mir geht, verteidigte sie ihn sofort, da ich ihm ja jede Woche schreibe. Das war doch eine ausreichende Begründung, außerdem erinnerte sie sich daran, daß Roger immer sehr ungern geschrieben hatte. Kim lächelte, als sie an die Mittelschule zurückdachte, wo sie die meisten seiner Hausarbeiten für ihn geschrieben hatte. Ohne sein Talent fürs Theaterspielen wäre er im Fach Englisch wahrscheinlich nie durchgekommen. Sie betrachtete wieder das Strandfoto und stellte sich vor, wie sie auf dem Sand lag, warm, braungebrannt und völlig entspannt. Sie hörte das Donnern der Brandung und die wilden Schreie der Seemöwen. Kim stellte die Füße auf das Heizungsrohr unter ihrem Schreibtisch und bildete sich ein, sie seien durch die Sonne gewärmt geworden. Vor ihrem geistigen Auge servierte sie sich ein Picknick mit EiSalatSandwiches, kalter Limonade und Schokoladenkuchen. Sie gefiel sich in einem winzigen Bikini, der weiß sein mußte, um ihre Bräune zu unterstreichen, und ihr mittellanges hellbraunes Haar würde durch die Sonne gebleicht sein. Roger durfte nicht fehlen, er mußte ihr den Rücken mit Sonnenlotion einreiben, und sie würden beide vor Glück lachen. Sie sah sich aufsetzen und ihm ein Sandwich reichen und merkte dabei mit plötzlicher Ernüchterung, daß sie sich nicht mal mehr deutlich an sein Gesicht erinnern konnte. Kim besaß eine Menge Fotos von ihm in allen möglichen Posen, doch wo war der junge Mann aus Fleisch und Blut, den sie gekannt hatte? Alles in ihrer Phantasie war lebendig gewesen, doch der Schokoladenkuchen wirkte echter als Roger. Sie seufzte. Plötzlich wurde Kim aus ihren Gedanken gerissen. „Machen Sie Überstunden, Kim?“ „Nein, Mr. Larrabee. Ich muß wohl die Zeit übersehen haben.“ Erst jetzt merkte Kim, daß alle sich zum Aufbruch bereit machten. Der Arbeitstag war endlich vorüber. Sie eilte in den Umkleideraum und schlüpfte in ihren braunen Wollmantel. Eine Weile stand sie vor dem Spiegel und schlang sich geistesabwesend einen handgestrickten dunkelgrünen Schal um den Hals. Die Enden stopfte sie in den Mantelkragen und bewunderte den Kontrast zu ihren dunkelblauen Augen. Mit einemmal konzentrierte sie sich auf ihr Gesicht, als ob ihr das helfen würde, sich an Rogers Gesicht zu erinnern. Sie hatte eine klare schimmernde Haut, das Haar fiel in weichen glänzenden Wellen. Die Augen waren groß, intensiv blau und die Lippen voll und rot. Sie war zufrieden mit ihrem Spiegelbild und wünschte sich nur, sie wäre nicht so klein und dünn. Kim sehnte sich nach üppigen Kurven
und bedauerte ein wenig, wie schlank ihr vollkommen geformter Körper war. Während sie den Reißverschluß ihrer hohen Lederstiefel zuzog und die Handschuhe überstreifte, dachte sie über ihre Beziehung zu Roger nach. Bevor er nach Abschluß der Mittelschule Bradford verlassen hatte, hatte er sie gebeten, auf ihn zu warten. Im Verlauf des folgenden Jahres hatte Kim eine Sekretärinnenschule besucht, und Roger war nach New York City gezogen, wo er hin und wieder kleinere Rollen in kleineren unbekannten Produktionen bekam. Sie hatten ein paar idyllische Wochenenden zusammen verbracht, wenn Roger nach Bradford gefahren war, um seine Familie zu besuchen und sich von seinen Verwandten Geld zu leihen. Dann, vor fast zwei Jahren, war er nach Hollywood gegangen. Während des ersten Jahres hatte er oft geschrieben und telefoniert, um Kim die Neuigkeiten über seine gelegentlichen Erfolge mitzuteilen. In den letzten zehn Monaten jedoch wurden die Pausen zwischen den Briefen länger und die Briefe selbst kürzer. Seit Monaten hatte er nicht mehr angerufen. Kim sehnte sich danach, seine Stimme zu hören, hatte aber Verständnis dafür, wie unsicher das Einkommen eines jungen Schauspielers war. Sie wollte Roger nicht mit ihren Klagen zusätzlich belasten. Als Kim die Bank verließ, trieb ein kalter Wind ihr eisige Regentropfen ins Gesicht, so daß sie den wollenen Schal übers Kinn ziehen mußte. Ihre Lederstiefel waren bereits undicht, und die Zehen wurden taub, noch bevor sie ihren Wagen erreicht hatte. Sie schwor sich, daß dies der letzte Winter war, den sie auf sich nahm. Wenn ich nächstes Jahr um diese Zeit nicht in Südkalifornien bin, dachte sie, dann kaufe ich mir wenigstens ein Paar neue Stiefel. Und einen neuen Mantel. Ihr altersschwacher Wagen wollte nicht anspringen. Kim lehnte den Kopf für einen Augenblick ans Steuerrad und nahm alle Kraft zusammen, um nicht zu verzweifeln. Seit dem Morgen hatte sich ein kleiner See um das Auto gebildet. Grimmig stieg sie aus, öffnete die Motorhaube und trocknete den Vergaser, bevor sie ihn mit Schmiermittel einölte. Der Regen tropfte ihr in den Kragen, und nasse Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn. Vielleicht sollte sie sich einen neuen Vergaser einbauen lassen. Sie watete durch die Pfütze zurück und versuchte, noch einmal zu starten. Endlich hatte sie Glück. Kim fuhr vorsichtig über die nassen Straßen, während der Dampf aus ihrer feuchten Kleidung stieg und die Windschutzscheibe einnebelte. Sie hatte ihren kleinen Cousins versprochen, einige Bücher bei der Leihbücherei für sie abzugeben, deswegen parkte sie zehn Minuten später gegenüber der Bibliothek. Sie steckte den Schlüssel in die Handtasche, nahm die Bilderbücher und AbenteuerRomane unter den Arm und wollte mit einem Spurt zur Bücherei hinüberlaufen. Kim sprang aus dem Wagen, schlug die Tür hinter sich zu und wurde plötzlich rückwärts gerissen, so daß sie fast das Gleichgewicht verlor und beinah die Bücher fallen gelassen hätte. Ihr Mantel war jetzt in der Wagentür eingeklemmt, und sie hatte vor dem Zuschlagen auch noch den Knopf hinuntergedrückt. Kim holte tief Luft und zählte bis zehn. Der Mantel war so knapp in der Tür verklemmt, daß sie sich nicht weit genug umdrehen konnte, um das Schloß zu erreichen. Nervös suchte sie in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln, die sich mit einem zarten Klimpern über ihre hektischen Bemühungen lustig zu machen schienen. Der Bügel der Tasche rutschte von ihrer Schulter, aber Kim konnte die Tasche gerade noch abfangen. Mit Hilfe ihrer Zähne zog sie den rechten Handschuh aus. Endlich hatte sie den Schlüssel herausgefischt und hielt ihn nun triumphierend hoch, als ein kleiner silberfarbener Sportwagen die Straße
entlanggerast kam. Mit einer schrecklichen Vorahnung sah sie das Pfützenwasser hinter dem Wagen hochspritzen und schrie auf, als sie von Kopf bis Fuß mit eisigem, schlammigem Wasser bespritzt wurde. Wütend merkte sie, daß sie vor Schreck die Wagenschlüssel fallen gelassen hatte. Kim war dem Weinen nahe. Doch Tränen würden das Problem nicht lösen. Ihr Auto stand in einem kleinen See, und so konnte sie nicht sehen, wo die Schlüssel hingefallen waren. Sie versuchte, sich hinunterzubeugen, um besser sehen zu können, doch ihr Mantel hinderte sie daran. Kim mühte sich ab, in die Hocke zu gehen, merkte aber, daß der Mantel so eingeklemmt war, daß sie sich kaum rühren konnte. Verzweifelt sah sie sich um und bemerkte erst jetzt, daß der Sportwagenfahrer angehalten hatte, ausgestiegen war und nun vor ihr stand. Der hochgewachsene Fremde in einem warmen, trockenen, elegant geschnittenen braunen Mantel erfaßte mit einem Blick die ganze Situation. „Sieht so aus, als könnten Sie Hilfe brauchen“, sagte er mit tiefer Stimme. Kim bemühte sich, gelassen zu reagieren. „So? Wie kommen Sie auf die Idee?“ „Nun“, meinte er ruhig, „Sie sehen schrecklich aus – wie eine ertrunkene Ratte in einer Falle.“ Durchfroren, naß und plötzlich rasend vor Zorn blickte Kim ihn an. „Wie… wie können Sie es wagen! Erst spritzen Sie mich naß, und dann finden Sie das auch noch so komisch, daß Sie Witze darüber machen. Wollen Sie mir helfen, oder haben Sie nur angehalten, um sich über mich lustig zu machen?“ „Eigentlich habe ich angehalten, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Aber ich kann nicht anders, ich muß einfach lachen.“ Kim war empört. „Wenn Ihr Anfall von Heiterkeit beendet ist, würden Sie mir dann vielleicht helfen, meine Schlüssel zu finden?“ Sie war wirklich wütend, war sich aber trotzdem der dunkelgrauen Augen bewußt, die sie musterten. Voller Erstaunen merkte sie, wie sie rot wurde. Der Fremde schüttelte traurig den Kopf. „Es tut mir leid, daß Sie so unversöhnlich sind, obwohl ich mich doch bemühe, den guten Samariter zu spielen. Wissen Sie vielleicht ungefähr, wo die Schlüssel sein könnten?“ Kim kämpfte darum, ihren Zorn zu zügeln. Der Mann stand mit fragend erhobenen Brauen vor ihr. Trotz ihrer Verärgerung fielen Kim seine breiten, kräftigen Schultern auf, überhaupt sah er sehr gut aus. Kim wies auf das Hinterrad. „Sie sind dort hingefallen.“ Mit einer schnellen und überraschend geschmeidigen Bewegung hob der Fremde die Schlüssel auf, stand dann dicht vor Kim und blickte prüfend auf die Bücher, die sie im Arm hielt. „Ich hoffe, diese Erfahrung wird sie lehren, künftig anspruchsvollere Literatur zu lesen“, bemerkte er. „Oder noch besser wäre es vielleicht, wenn Sie den Fernseher hielten. Da ist es bedeutend sicherer für Sie. Und sie werden nicht naß.“ „Wollen Sie jetzt bitte endlich die Türaufschließen“, rief sie gereizt. „Na schön, auch wenn ich dann wohl auf das weitere Vergnügen Ihrer charmanten Gesellschaft verzichten muß.“ Endlich konnte Kim sich wieder frei bewegen und damit entlud sich auch der aufgestaute Zorn gegen den Fremden. „Sie sind der unerträglichste, roheste, arroganteste, unverschämteste Mann, den ich je getroffen habe. Sie sind eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit, und man sollte Ihnen die Fahrerlaubnis entziehen.“ Er lächelte gelassen während ihres Ausbruchs und reagierte nur mit einer eleganten Verbeugung. Kim widerstand der Versuchung, ihm ein Buch über den Kopf zu schlagen. Sie riß sich zusammen, schritt hoheitsvoll über die Straße und
begann, die Stufen zur Bibliothek hinaufzusteigen. „Haben Sie nicht etwas vergessen?“ Mitten im Schritt blieb sie stehen und drehte sich argwöhnisch um. Der Mann stand gegen ihr Auto gelehnt und ließ lässig die Wagenschlüssel an seinem Finger kreisen. Mit einem leisen Ausruf der Verärgerung ging Kim wieder zurück, wobei sie halb über das Eis schlitterte, und packte ihre Schlüssel. Lautes, tiefes Gelächter folgte ihr bis in die Bücherei hinein. Noch immer wütend fuhr Kim den Wagen in die Einfahrt des Hauses ihrer Cousine Katherine Pierce. Sie hatte in der Toilette der Bücherei versucht, mit Papiertüchern die gröbsten Flecke von ihrer Kleidung abzutupfen, doch ohne große Wirkung. Als sie die Bibliothek verlassen hatte, war sie auf sich selbst ärgerlich, weil sie tatsächlich enttäuscht darüber war, keinen kleinen silberfarbenen Sportwagen auf der Straße zu sehen. Was für ein unangenehmer Mensch, dachte sie. Sie überlegte, ob er verheiratet war, und schüttelte sich. Warum zum Teufel sollte sie sich dafür interessieren, ob er verheiratet war oder nicht? Lächelnd stellte sie sich vor, wie anders sich Roger in dieser Situation verhalten hätte. Er hätte seinen Mantel über den verschmutzten Boden vor ihr ausgebreitet, und Kim wäre zur Königin geworden. Roger konnte stets unangenehme Tatsachen in unterhaltsame Spiele umwandeln. Er war so erfinderisch! Katherines Haus war ein großer verwinkelter Bau, der vor hundert Jahren ein bequemes Heim für die vielköpfige Familie eines Farmers gewesen sein mußte. Das Haus und eine geräumige, aber undichte Scheune waren alles, was an die Farm erinnerte. Die Stadt hatte sie schon vor langer Zeit eingeschlossen, so daß sie nun in der Mitte eines Neubaugebiets stand. Der Hof war noch immer groß und sonnig, so daß Katherine ihren fünf Kindern – auch nach dem Tode ihres Mannes vor drei Jahren – ein schönes Zuhause bieten konnte. Seit Kim zehn Jahre alt war, hatte sie bei der Familie Pierce gelebt. Katherines Mann hatte die kleine Waise gern in seine Familie aufgenommen, und Kim war bald nicht mehr wegzudenken gewesen. Sie hatte bei der Versorgung der Kinder geholfen, die Hausarbeit mit Katherine geteilt und sich jahrelang uneigennützig gezeigt. Kim liebte das Gefühl, gebraucht zu werden. Als Jeffrey Pierce bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, hatte Katherine sofort einen Job als Kellnerin in einem nahegelegenen Restaurant angenommen. Kim hatte damals darauf bestanden, daß sie zum Lebensunterhalt beitrug. So hatte sie verhindert, daß das Haus verkauft werden mußte. Und noch immer beteiligte sie sich mit einem Teil ihres Gehalts an den häuslichen Unkosten. An diesem Abend sehnte Kim sich eigentlich nach einem ausgedehnten heißen Bad, entschied sich aber für eine kurze Dusche, damit sie noch bei den Vorbereitungen zum Essen helfen konnte! Sie schlüpfte in bequeme Jeans und in einen überweiten blauen Pullover. Unten in der Küche deckte die vierzehnjährige Annie gerade den Tisch. Kim bereitete eine Kasserolle mit Fleisch vor, während Annie Gemüse putzte. „Du wirst es nicht glauben, was mir heute nachmittag passiert ist“, begann Kim und erzählte von ihrem Erlebnis. Annie hielt sich den Bauch vor Lachen, und erst durch die Sicht der Dinge konnte Kim ihren Sinn für Komik zeigen. Als ihre Cousine Katherine mit den vier kleinen Kindern kam, konnte Kim beim erneuten Erzählen schon über sich selbst lachen. Katherine, hoffte, daß Kim sich keine
Lungenentzündung geholt hatte, und der achtjährige Tom wollte wissen, welchen Wagen der Fremde gefahren hatte. Die zehnjährige, romantisch veranlagte Mary wollte sich immer wieder den hübschen Fremden beschreiben lassen. „Warum hast du nicht einfach den Mantel ausgezogen?“ fragte Annie plötzlich und erntete fröhliches Lachen bei der Überlegung, daß Kim diese einfachste Lösung offenbar nicht eingefallen war. Kim mußte mitlachen, dachte aber insgeheim beschämt, daß der Fremde sie wohl für recht dumm gehalten haben mußte. Sie mußte sich streng ins Gedächtnis rufen, daß es ihr egal war, was er dachte. Nach dem fröhlichen Abendessen war Kim wieder so vergnügt wie eh und je. „Gehst du heute abend noch mit Bert aus?“ fragte sie ihre Cousine, die während des Essens immer wieder auf die Uhr geschaut hatte. Bert war ein enger Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen, und Katherine traf sich seit einem Jahr mit ihm. „Ja, wir wollten ins Kino gehen. Macht es dir etwas aus, heute abend zu Haus zu bleiben?“ „Himmel, nein! Nicht für alles in der Welt möchte ich dieses trockene warme Haus verlassen wollen. Vergnüge du dich nur! Annie und ich werden schon auf die Kinder aufpassen, nicht wahr, Annie?“ Nachdem Katherine gegangen war, spülte Kim schnell das Geschirr ab und räumte die Küche auf Sie füllte eine Ladung Wäsche in die Waschmaschine und wurde von Annie beim Baden der beiden kleineren Kinder unterstützt. Um halb acht lagen die kleinsten Kinder im Bett und die beiden mittleren durften sich einen Naturfilm im Fernsehen anschauen. Annie saß zunächst schweigend bei Kim am großen Küchentisch, um die Schulaufgaben zu erledigen, während Kim die Zeitung las. „Kim, arbeitest du eigentlich gern in der Bank?“ fragte Annie unvermittelt. „Naja, ich hasse die Arbeit nicht gerade. Warum fragst du?“ „Ach, ich weiß nicht. Du wirkst nicht gerade begeistert beim Erzählen. Es muß ganz schön langweilig sein, was?“ Kim dachte einen Augenblick nach. „Ja, oft ist es sehr eintönig, aber ich hasse die Arbeit nicht, Annie. Mein Chef, Mr. Larrabee, ist sehr nett zu mir, und mit meinen Kollegen verstehe ich mich gut. Natürlich ist die Arbeit nicht besonders abwechslungsreich. Sie wird ganz einfach zur Routine.“ „Warum suchst du dir keinen anderen Job?“ fragte Annie. „Gute Stellungen findet man nicht so leicht, besonders in Bradford, und du möchtest doch nicht, daß ich wegziehe, oder?“ „Ich möchte, daß du immer hier bist, so wie jetzt“, meinte Annie. „Aber du wirst eines Tages nach Kalifornien ziehen, und es wäre selbstsüchtig zu wünschen, daß du hier bleibst, obwohl es dir woanders besser gehen könnte.“ Annie machte sich wieder an die Hausaufgaben, und Kim goß sich eine Tasse Tee auf. Vielleicht hatte Annie recht. Kim fand die Arbeit in der Bank in letzter Zeit sehr ermüdend. Auch wenn sie sich eine beträchtliche Summe hatte zusammensparen können, war sie immer noch weit davon entfernt, finanziell so abgesichert zu sein, daß sie nach Kalifornien ziehen konnte. Roger würde sie zwar bestimmt unterstützen wollen, aber sie war entschlossen, sich selbst durchzubringen. Wenn Roger sie nicht bald herüberholen konnte, würde sie trotzdem dort hinziehen, sich eine Arbeit suchen und ein Apartment mieten. Bestimmt gab es in Los Angeles interessantere Jobs als in Bradford. Vielleicht konnte sie sogar in einem der Filmstudios als Sekretärin arbeiten. Wenigstens würden sie und Roger sich dann sehen können. Und wenn sie ein regelmäßiges eigenes Einkommen hatte, würde das Roger sicher entlasten. Viele
Männer brauchten die Stütze und Ermunterung einer Frau, während sie ihre
Karriere aufbauten.
Kim setzte sich wieder, nippte an ihrem Tee und überflog die Stellenanzeigen in
der Zeitung. Ihr Blick fiel auf ein Inserat, das vielversprechend aussah:
Sekretärin gesucht. Sommercamp für Kinder am Adirondack
See. Ausgezeichnetes Gehalt, Unterkunft und Verpflegung.
Angenehme Arbeitsbedingungen. Bewerbungen unter ChiffreNr. 102.
„Annie, lies mal diese Anzeige!“ „Kim, ein See in Adirondacks! Das klingt großartig. Wirst du dich bewerben?“ „Ich weiß nicht. Wieviel werden die wohl zahlen?“ „Wenn du dich bewirbst, werden sie es dir sagen“, meinte Annie ganz vernünftig. „Ich finde, du solltest es versuchen. Du mußt den Job ja nicht nehmen, wenn er dir nicht gefällt.“ „Aber wie kann ich den ganzen Sommer über in den Adirondacks leben? Was soll da aus euch allen werden?“ „Ach, Kim, wir kommen schon zurecht. Frag doch mal Mami. Ich wette, sie will, daß du den Job annimmst, wenn er gut ist.“ Gemeinsam holten sie den Atlas heraus und und durchforschten auf der Landkarte die Region der Adirondacks. Wenn der Job gut bezahlt wurde und sie fast alles davon sparen konnte, dann könnte sie vielleicht schon im Herbst nach Kalifornien umziehen. Kim stellte sich einen Sommer vor, in dem sie nur schwamm, Tennis spielte, wanderte, Boot fuhr, und in dem glückliche Kinder Fußball spielten und sich singend ums Lagerfeuer versammelten. Sie sah sich auf einem sternenbeschienenen See Kanu fahren und der romantischen Musik lauschen, die über das Wasser zu ihr herüberdrang. Vielleicht wurde auch auf einer Veranda getanzt. Aber der Gedanke, Katherine mit fünf Kindern allein zu lassen, bremste ihre schwärmerischen Gedankenflüge. Allerdings wuchs Annie heran und übernahm immer mehr Aufgaben, so daß Katherine nicht ganz ohne Hilfe dastehen würde. Wenn mir etwas zustößt, machte Kim sich Mut, dann wird Katherine auch zurechtkommen. Sollte ich im Herbst nach Kalifornien ziehen und Roger heiraten, dann muß ich sie auch allein lassen. Wenn ich mir darüber keine Sorgen mache, warum dann wegen des Sommercamps? Aber aus irgendeinem Grund schien ein großer Unterschied zu bestehen zwischen dem Weggehen, weil man heiratete, und dem Weggehen, weil man einen Job in einem Sommerlager annahm. Kim entschloß sich, zuerst einmal eine Bewerbung abzuschicken und zu warten. Vielleicht bekam sie den Job gar nicht, und dann hatte sich die Frage von allein gelöst. Und wenn man ihr die Stellung doch anbot, konnte sie immer noch mit Katherine sprechen, bevor sie sich entschied. Kim erledigte automatisch ihre abendlichen Haushaltspflichten, indem sie sich vergewisserte, daß genügend Orangensaft für das Frühstück da war, Haferflocken und Schüsseln bereit standen, Teebeutel in den großen Keramikkannen hingen und das Besteck herausgelegt war. Wer macht das alles, wenn ich nicht mehr da bin, fragte sie sich und mußte sich dann selbst auslachen. Zweifellos sparten ihre Vorbereitungen am Morgen Zeit, aber die Welt würde nicht untergehen, wenn das Frühstück nicht so gut organisiert wäre… In dieser Nacht träumte Kim, daß sie an ihrem Schreibtisch in der Bank saß und den Gang hinunter zum Wasserbehälter ging. Sie trug nur ihr dünnes Baumwollnachthemd. Durch das Fenster beim Wasserbehälter sah sie statt des Parkplatzes einen wunderschönen piniengesäumten See, der in der
Nachmittagssonne, glitzerte. Kim stieß das Fenster auf, das auf einmal verschwand, und sie konnte zum Ufer des Sees hinunterschlendern. Alles war still und friedlich, Kim war es warm, und sie war zufrieden. Sie war ganz und gar nicht überrascht, ein kleines silberfarbenes Boot zu entdecken, das sich ihr leise über den See näherte. Das Boot legte an einem Holzsteg an, und ein großer Fremder mit dunkelgrauen Augen winkte sie zu sich. Kim zögerte, denn sie fühlte sich sehr nackt in dem kurzen Nachthemd, aber der Mann sah sie so freundlich an, und sein Lächeln war so ermutigend, daß Kim seine Hand ergriff und zu ihm ins Boot stieg. Anstatt ihre Hand loszulassen, nahm der Fremde Kim in die Arme und drückte sie fest an sich. Kim erwachte vom Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, schlief aber sofort wieder ein. Am Morgen versuchte sie vergeblich, sich genau an die einzelnen Phasen ihres verwirrenden Traums zu erinnern. An diesem Tag verfaßte Kim ein Bewerbungsschreiben für die Stellung im Sommerlager und steckte den Brief hoffnungsvoll in den Postkasten.
2. KAPITEL Kim warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel ihres Wagens, malte die Lippen nach und kämmte schnell ihr Haar. Sie zog den Brief aus ihrer Tasche und vergewisserte sich noch einmal, daß die Adresse stimmte. Das imposante viktorianische Gebäude am Stadtrand schien gar nicht der geeignete Ort für ein Einstellungsgespräch zu sein. Kim stieg aus dem Wagen. Sie trug ein sportliches blaues Jackenkleid, das mit der Farbe ihrer Augen harmonierte und ihr ausgezeichnet stand. In der Hoffnung, daß keiner sie vom Haus aus beobachtete, wischte sie sich einen kleinen Schmutzfleck vom Schuh. Noch einmal holte sie tief Luft, straffte die Schultern und stieg die hohe Treppe zum Eingang hinauf. Auf ihr Klingeln hin wurde überraschend schnell geöffnet. „Sie müssen Miss Kim Grayson sein. Wir erwarten Sie bereits. Ich bin Sybil Hauser.“ Kim begrüßte die Frau und wußte sofort, daß ihr Mrs. Hauser gefiel. „Kommen Sie doch herein. Entschuldigen Sie bitte die Unordnung. Wir tapezieren gerade die Diele. Das ist ein wunderschönes altes Haus, aber man muß viel Arbeit hineinstecken. Zur Zeit sieht alles noch chaotisch aus, weil wir mit zu vielen Veränderungen auf einmal angefangen haben.“ Sie plauderte weiter, während sie Kim durch einen schwach erleuchteten Flur in ein gemütliches Wohnzimmer führte, wo in einem offenen Kamin das Feuer prasselte. Auf Regalen, Tischen und Stühlen, sogar auf dem Boden lagen überall Stapel von Büchern herum. Ein großes rundes Fenster gab den Blick auf einen Garten voll blühender Frühlingsblumen – Narzissen, Tulpen, Hyazinthen – frei. Am anderen Ende des Gartens erstreckten sich Felder und Wälder. Mrs. Hauser war eine grauhaarige Dame von Ende Fünfzig. Sie trug einen schwarzen Wollrock und einen grauen Pullover. Um ihren Hals hing eine Lesebrille an einem Band. Mrs. Hauser bewegte sich rasch und energisch, sprach voller Enthusiasmus und mit einem leichten ausländischen Akzent. „Bitte machen Sie es sich bequem, Miss Grayson. Ich hole inzwischen meinen Mann.“ Sie verließ den Raum, und Kim schaute sich die Bücher an. Viele Bände befaßten sich mit Erziehung und Medizin, zum Teil waren sie in fremden Sprachen verfaßt. Kim entdeckte voll Erleichterung einige Kriminalromane zwischen den zahllosen ernsthaften Werken. Nach kurzer Zeit kam Mrs. Hauser zurück. Ein kleiner Mann, der ebenso energisch wirkte wie sie, folgte ihr. Wenn Kim nicht gewußt hätte, daß die beiden verheiratet waren, dann hätte sie sie für Bruder und Schwester gehalten. „Ah, Miss Grayson, ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Mit aufrichtiger Freude schüttelte Mr. Hauser Kim die Hand und räumte dann die Bücher von einem großen Stuhl. „Ich muß mich für die Unordnung hier entschuldigen.“ „Ich habe das schon erklärt, Wilfred“, belehrte Mrs. Hauser ihn. „Natürlich, meine Liebe“, erwiderte er. „Sehen Sie, Miss Grayson, die Tante meiner Frau starb vor einem Jahr und hinterließ uns unter anderem dieses Haus. Seitdem sind wir immer während der Ferien und an Wochenenden hier, um die notwendigen Ausbesserungsarbeiten vorzunehmen.“ „Wir leben in New York City, Miss Grayson“, erklärte Mrs. Hauser, „jedenfalls bisher. Nach dem Sommer werden wir für immer hierherziehen.“ „Sie müssen wissen, wir leiten eine Schule für Kinder von ausländischen Besuchern und Diplomaten, von UNDelegierten und Geschäftsleuten. Die meisten Kinder können nicht genügend Englisch, und ihre Eltern haben keine Zeit zu helfen, weil sie gewöhnlich viel auf Reisen sind.“ „Kennen Sie New York City, Miss Grayson?“
Kim schüttelte den Kopf. Ihr gefiel die unbeschwerte Art, wie sich die Hausers die Unterhaltung teilten. „Wir haben immer davon geträumt, eine eigene Schule zu haben, die wie unser Camp geführt werden soll. Es ist viel schöner, wenn man etwas so tun kann, wie man es gern hat, und niemandem etwas erklären muß. Finden Sie nicht auch? Und auf diese Weise können wir Aufsicht und Unterricht in einer Umgebung bieten, die wie ein Zuhause wirken soll. Natürlich fangen wir klein an, vielleicht mit sechs oder acht Kindern.“ Kim war ein wenig verwirrt. „Dann gehört Ihnen das Sommerlager?“ „O ja, es gehört uns schon seit mehreren Jahren.“ „Es wird Ihnen gefallen.“ Mr. Hauser lächelte zuversichtlich. „Das Lager ist klein, aber sehr schön. Sprechen Sie deutsch, Miss Grayson?“ Kim schüttelte den Kopf. „Wir sind Österreicher“, erklärte Mrs. Hauser. „Nach dem Zweiten Weltkrieg sind wir nach Amerika gekommen. Wir hatten das Glück, daß uns jemand geholfen hat.“ „Ich habe Medizin studiert, als der Krieg ausbrach“, erzählte Mr. Hauser. „Ich wollte Arzt werden. Auch mein Freund, Porter Anderson, studierte. Aber dann trat er in die amerikanische Armee ein, und ich sah ihn viele Jahre nicht mehr. Auch ich mußte in den Krieg.“ „Wilfred hatte das Glück, nicht als Soldat kämpfen zu müssen. Er war in einer Sanitätseinheit. Leider konnte er seine Studien nicht beenden.“ Mrs. Hauser schüttelte traurig den Kopf. „Nach dem Krieg kam mein Freund Dr. Anderson nach Wien und half uns, in die Vereinigten Staaten auszuwandern.“ „Es folgten einige unsichere Jahre, aber Dr. Anderson hat uns unterstützt. Er baute eine Privatklinik auf, in der wir beide Arbeit fanden. Jahre später wurde die Klinik in eine Schule umfunktioniert.“ „Die Schule gehört den Andersons nicht mehr allein, aber sie haben noch Anteile. Wir sind als Direktoren angestellt, das heißt, wir waren es.“ Mr. Hauser lächelte seine Frau liebevoll an. „Viele Eltern, die wir im Laufe der Jahre kennengelernt haben, würden ihre Kinder lieber draußen auf dem Land wissen, wenn sie sie schon in ein Internat stecken müssen. Für den Herbst haben wir bereits sechs Plätze reserviert.“ „Während der Sommermonate bekommen wir von vielen Colleges Mitarbeiter. Es sind intelligente und talentierte Studenten, die die Kinder unterrichten und in der Freizeit beschäftigen.“ „In unserem Feriencamp haben wir gewöhnlich vier oder fünf Studenten als Mitarbeiter“, fuhr Mrs. Hauser fort. „Ich koche, und Wilfried erledigt die geschäftlichen Dinge. Sie sehen also, abgesehen von einer Sekretärin, die die Berichte schreibt, fehlt uns nichts.“ „Aber wir haben Sie noch nicht einmal gefragt, wie es Ihnen gefallen würde, den ganzen Sommer über in einem Ferienlager zu arbeiten. Die Kinder haben oft Heimweh und können sich nicht einfinden. Manchmal sind sie sehr kompliziert.“ Kim zögerte. „Ich glaube nicht, daß ich da Schwierigkeiten hätte. Mit Kindern komme ich gut zurecht.“ Mr. Hauser durchquerte den Raum und stocherte energisch im Kaminfeuer herum, so daß die Funken stoben. „Haben Sie jemals mit Kindern zusammengearbeitet? Vielleicht haben Sie jüngere Geschwister?“ „Nein, ich bin ein Einzelkind“, erwiderte Kim. „Meine Mutter starb, als ich noch ein Baby war, und mein Vater, als ich zehn war. Er hatte wieder geheiratet, aber meine Stiefmutter interessierte sich nicht sonderlich für kleine Kinder…“ Kim
brach ab und erinnerte sich an die Einsamkeit jener frühen Jahre. Die zweite Ehe ihres Vaters war die schrecklichste Phase in Kims Leben gewesen. Doris war in ihrer reservierten Weise freundlich zu Kim gewesen, aber sie hatte nie die Bedürfnisse eines kleinen Kindes verstanden. Lärm hatte ihr Kopfschmerzen verursacht, und sie konnte keine Unordnung ertragen. Kim hatte viele Stunden allein im Kinderzimmer verbracht, ihren Puppen Geschichten erzählt, und sich vorgestellt, daß ihre leibliche Mutter im Zimmer nebenan sei. Plötzlich merkte Kim, wie die Hausers darauf warteten, daß sie fortfuhr. Also erzählte sie weiter: „Als mein Vater starb, hat mich meine Cousine Katherine Pierce aufgenommen. Sie war jung verheiratet und hatte gerade ihr erstes Baby bekommen. Ich bin in ihre Familie hineingewachsen und auch ihre weiteren Kinder waren mir wie Brüder und Schwestern. Ich habe also schon Erfahrung darin, mit Kindern zusammenzuleben.“ „Ihre Cousine muß eine wunderbare Frau sein“, sagte Mrs. Hauser voll Bewunderung. „Wie viele Kinder hat sie?“ „Fünf. Annie, die älteste, ist vierzehn, dann Mary, sie ist zehn, Tom ist acht, Paul vier, und Chris ist letzten Monat drei Jahre alt geworden.“ „Als unsere Sekretärin werden Sie nicht unmittelbar mit den kleinen Feriengästen zu tun haben, aber die Kinder verstehen es, sich bemerkbar zu machen“, meinte Mr. Hauser. Kim lächelte. „Ich weiß, was Sie meinen. Das werde ich schon schaffen.“ „Wie Sie in Ihrer Bewerbung schreiben, haben Sie eine Sekretärinnenschule besucht, nicht wahr?“ fuhr Mr. Hauser fort. „Ja, ein Jahr lang. Seitdem habe ich für Mr. Larrabee gearbeitet, den stellvertretenden Direktor der Bank. Seine Telefonnummer steht ebenfalls auf meiner Bewerbung. Ich bin sicher, daß er mir ein gutes Zeugnis geben wird.“ Mrs. Hauser stand auf. „Ich werde Tee machen. Inzwischen können Sie mit meinem Mann die Einzelheiten besprechen.“ Sie ließ die beiden allein, und als sie zurückkam, plauderten Mr. Hauser und Kim wie alte Freunde. Mrs. Hauser goß dampfenden, duftenden Tee in die Tassen und reichte Sandwiches und Süßigkeiten dazu. Kim bewunderte gerade die antiken Petroleumlampen im Zimmer. „Wir lieben diese Art von Beleuchtung“, erklärte Mrs. Hauser. „Und wir vermeiden elektrisches Licht, wo wir nur können. Mein Mann wird behaupten, daß er damit die Stromrechnung senken möchte, aber in Wirklichkeit liegt es daran, daß wir im Herzen Romantiker sind.“ „Haben Sie denn Elektrizität im Lager?“ wollte Kim wissen. „Aber ja. Die Eltern würden sich bestimmt Sorgen machen, wenn sie das Gefühl hätten, ihre Kinder seien von der Zivilisation abgeschnitten. Wir haben auch elektrische Heizung, obwohl wir sie nicht oft brauchen, Telefon und fließendes warmes Wasser. Alle modernen Errungenschaften.“ „Aber“, fügte Mr. Hauser hinzu, „beim Fernsehen streiken wir. Es ist heuzutage ja so leicht, die Kinder vor einen Apparat zu setzen und sie dann zu vergessen. Wir halten das nicht für richtig. In unserem Lager sind sie den größten Teil des Tages draußen, schwimmen, gehen im Wald spazieren, spielen, lernen ein paar Handfertigkeiten und verbessern natürlich auch ihr Englisch.“ „Und in diesem Sommer haben wir das Glück, einen Arzt bei uns zu haben.“ „Ja, den Sohn von Dr. Anderson!“ ergänzte Mr. Hauser begeistert. „Er ist ein fabelhafter Mann!“ „Und ein ausgezeichneter Arzt. Außerdem schreibt er ein Buch über den Ernährungsmangel in Verbindung mit den üblichen Krankheiten der frühen Kindheit“, fügte Mrs. Hauser stolz hinzu.
„Er hat seine Forschungsergebnisse bereits in medizinischen Zeitschriften veröffentlicht, aber jetzt möchte er seine Entdeckungen den Eltern und Familien mitteilen, deswegen arbeitet er an einer allgemeinverständlichen Fassung. Sie werden ihn sicher mögen.“ Mr. Hauser sprach so stolz von ihm, als sei er sein eigener Sohn. „Im Herbst geht er nach Schottland, wo er für ein Jahr eine Gastprofessur an der Universität von Edinburgh bekommen hat. Das ist eine große Ehre.“ Offenbar merkten sie, daß sie vom Thema abgeschweift waren, denn Mr. Hauser zeigte Kim nun ein paar Schnappschüsse von dem Feriencamp. „Wie Sie sehen, haben wir kleine Häuschen für jeweils vier Kinder und ihren Betreuer. Dann gibt es noch ein Blockhaus, das als Lagerraum benutzt wird. Daran schließt sich die Küche und der Eßraum. Die Unterkunft von meiner Frau und mir ist auf diesem Foto zu sehen, und hier ist ein Bild von dem Häuschen, das Sie bewohnen werden.“ „Falls Sie die Stellung annehmen“, fügte Mrs. Hauser hinzu, Kim bewunderte die hübschen kleinen Gebäude mit den Blumenkästen vor den Fenstern, in denen Geranien wuchsen. „Wo wird der Arzt wohnen, von dem Sie sprachen?“ fragte Kim. Mr. Hauser führte sie zum Kamin und zeigte auf eine Stelle der ausgebleichten Landkarte, auf der Harrow Lake zu lesen war. Dann wies er auf eine kleine Insel inmitten des Sees. „Er wohnt auf der Insel. Mit dem Motorboot erreicht man sie in ein paar Minuten. Er braucht Ruhe und Abgeschiedenheit, um sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.“ Mrs. Hauser erklärte nun, daß Dr. Anderson seine Sekretärin mitbringen würde. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, die kleine Hütte mit ihr zu teilen.“ „Ihr Verantwortungsbereich wären die Korrespondenz, die Buchhaltung und vielleicht hier und dort eine kleine Hilfe. Es ist wirklich nicht schwierig, und ich glaube sogar, daß es Ihnen gefallen würde. Die Unterkunft und das Essen sind frei. Als Gehalt bieten wir Ihnen…“ Mr. Hauser nannte eine Summe, die noch über dem Betrag lag, den Kim sich erhofft hatte. „Sie müssen sich nicht sofort entscheiden“, erklärte Mrs. Hauser. „Ich glaube, mein Mann ist mit mir einer Meinung, daß wir Sie sehr gern bei uns haben würden. Aber Sie können sich Zeit lassen mit der Entscheidung. Sie werden sicher mit Ihrer Familie darüber beraten wollen. Vielleicht gibt es auch einen Freund, mit dem Sie die Angelegenheit besprechen möchten.“ Kim errötete, überging aber die Anspielung. Ihre Beziehung zu Roger war viel zu kompliziert, als daß sie sie mit den Hausers erörtern wollte – wenigstens nicht im Augenblick. „Wir hoffen aber, daß Sie sich positiv entscheiden werden“, meinte Mr. Hauser. Kim erhob sich lächelnd. „Ich werde mit meiner Cousine Katherine darüber sprechen. Wenn sie mich entbehren kann, nehme ich gern an.“ Dieser Job schien ideal für sie zu sein. Während der Heimfahrt wechselten Kims Gefühle von Begeisterung zu ernsthaften Bedenken. Was würde Katherine zu ihren Plänen sagen? So sehr Kim sich einen Sommer in dem Kinderlager wünschte, so sehr empfand sie es auch als ihre Pflicht, ihrer Cousine zu helfen. Wenn sie nur mit Roger darüber sprechen könnte! Er wüßte, was sie machen mußte. Er würde sicher mehr die Annehmlichkeiten in dem Sommerlager sehen und weniger die Arbeit. Außerdem hatte er immer gesagt, daß Katherine sehr gut ohne ihre Hilfe auskomme. Als Kim zu Haus angelangt war, hatte sie sich immer noch nicht entschieden, ob sie den Job im Feriencamp annehmen sollte. Schließlich verdrängte sie alle
Überlegungen, zog sich etwas Bequemes an und bereitete ein köstlich duftendes Nudelgericht zum Abendessen. Annie, Paul und Chris stürzten in die Küche und fragten neugierig, wie Kims Gespräch verlaufen sei. „Man hat mir die Stelle angeboten“, begann Kim. „Ich wußte es!“ rief Annie. „Und wirst du sie annehmen?“ „Ich weiß es noch nicht. Ich kann mich nicht so leicht entscheiden.“ Sie gab Annie einen genauen Bericht über das Gespräch mit Mrs. und Mr. Hauser. Paul und Chris hörten gespannt zu. Plötzlich begann Paul zu weinen. „Ich will nicht, daß Kim weggeht“, jammerte er. Chris, die sah, daß ihr Bruder weinte, begann ebenfalls zu weinen. Kim versuchte, sie zu trösten. Mary und Tom kamen vom Spielen herein und wollten wissen, was los sei. Und inmitten des ganzen Aufruhrs erschien auch Katherine, die verwirrt ihre weinenden Kinder betrachtete. „Was ist denn hier passiert?“ rief sie, nahm Chris auf den Arm und wischte ihr die Tränen ab. „Beruhige dich, und die anderen auch. Kim, das Essen riecht wunderbar. Mary, Tom, habt ihr die Hände gewaschen?“ Ein paar Minuten später saßen alle friedlich am Tisch. „Bevor wir zu essen anfangen, möchte ich euch etwas mitteilen“, sagte Katherine in einem Tonfall, der alle gespannt aufhorchen ließ. „Bert und ich haben beschlossen zu heiraten.“ Nach einem Augenblick überraschten Schweigens rief Tom: „Hurra!“ Die nächsten Minuten vergingen mit Lachen, Küssen und Umarmungen. Die Kinder mochten Bert, und Katherine war in der glücklichen Lage zu wissen, daß ihre Heirat nicht nur einen praktischen Wert hatte, sondern daß auch die Kinder, Bert und sie selbst sie gefühlsmäßig voll bejahten. In drei Wochen sollte die Hochzeit sein. Katherine und Bert wollten für eine Woche Flitterwochen in einer Hütte bei Bar Harbor machen, die Berts Familie gehörte. „Bert wird sein Haus verkaufen und hier leben. Für uns acht ist sein Haus zu klein.“ Es hätte nicht besser kommen können, dachte Kim. In einem Monat werde ich nach Harrow Lake fahren können. Nach soviel Aufregung dauerte es einige Zeit, bis die Kinder ins Bett und zur Ruhe gekommen waren, und als Kim und Katherine nach Erledigung der Hausarbeiten am späten Abend bei einem Glas Wein im Wohnzimmer saßen, erzählte Kim von den Hausers und ihrem Angebot. „Kim, selbst wenn ich nicht heiraten würde, wollte ich, daß du die Stellung annimmst“, versicherte Katherine ernst. „Du hast mir immer soviel geholfen, und ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte, aber jetzt wird es Zeit, daß du dein eigenes Leben lebst. Du sollst an dich denken, an deine Zukunft.“ „Danke, Katherine, aber du weißt, ich würde nicht gehen, wenn du mich brauchtest.“ „Kim, du bist jetzt zwanzig Jahre alt, und es wird Zeit, daß du von zu Haus wegkommst. Ich habe nicht von dir erwartet, daß du für immer hier bleibst. Du hast nie Gelegenheit gehabt, für dich zu sein, und ich möchte, daß du sie jetzt wahrnimmst. Nimm den Job. Vergnüge dich, genieß den Sommer und mach dir keine Sorgen um uns.“ In Katherines Augen stand tiefes Verständnis. Kim nickte lächelnd. „Ich könnte eine Menge Geld zusammensparen. Im September kann ich dann sicher zu Roger nach Kalifornien fahren.“ Katherine wurde ernst. „Kim, wie lange ist es her, daß du zuletzt von Roger gehört hast?“ „Ich habe letzten Monat eine Postkarte von ihm bekommen, das weißt du doch.“
„Hör zu, Liebes, ich möchte nicht, daß man dir weh tut. Du solltest nicht mit Roger rechnen. Jetzt sind es schon fast zwei Jahre her, und er ruft nie mehr an.“ „Aber, Katherine, du weißt, wie teuer Ferngespräche sind. Er schreibt mir.“ „Ja, ich weiß, eine Postkarte alle drei Monate. Darauf kann man keine Beziehung aufbauen. Warum gehst du nicht mit anderen Männern aus, suchst dir jemanden in Bradford – oder zumindest auf dieser Seite des Kontinents?“ „Roger ist der einzig interessante Mann, den ich bisher kennengelernt habe. Ich liebe ihn.“ „Du hast dich in Roger verknallt, als du in der Mittelschule warst. Das ist schon lange her. Du glaubst nur, daß du ihn liebst. Aber es ist keine wirkliche Liebe.“ „Die Menschen lieben eben auf verschiedene Weise“, beharrte Kim. „Stimmt. Sie lieben auf verschiedene Weise. Aber Roger hat dich zwei Jahre lang völlig vernachlässigt. Könntest du jemals glücklich werden mit einem Mann, der dich so behandelt?“ Kim überhörte die beunruhigende Frage. „Auf seiner letzten Postkarte hat er geschrieben, daß er jetzt bessere Rollen und Gagen bekommt. Er wird sich bald eine Ehe leisten können.“ „Kim, so, wie er lebt, kann er sich eine Heirat erst leisten, wenn du dreißig oder vierzig bist. Wenn ihr euch im Herbst wiederseht, werdet ihr euch völlig fremd geworden sein. Ich weiß, daß es weh tut, Kim, aber du mußt den Tatsachen ins Auge sehen.“ Auf einmal wollte Kim das Gespräch beenden. „Es wird sicher alles gutgehen. Ich habe so lange auf Roger gewartet, ich kann noch ein paar Monate länger warten.“ „Du wirst dir nur Liebeskummer damit einhandeln“, sagte Katherine und schüttelte traurig den Kopf. „Na ja, wenigstens werde ich zuerst einen herrlichen Sommer in den Adirondacks genießen.“ Kim brachte das Gespräch auf die Hochzeitsvorbereitungen, und Katherine ging mit Eifer darauf ein. Gemeinsam stellten sie eine Liste von Dingen auf, die in den nächsten Wochen erledigt werden mußten. Als Kim später in ihrem Schlafzimmer war, las sie noch einmal alle Karten und Briefe durch, die sie von Roger bekommen hatte. Sie mußte feststellen, daß das Wort „Liebe“ nicht sehr oft vorkam. Sie würde es zwar nie zugeben, aber das Gespräch mit ihrer Cousine hatte sie doch etwas beunruhigt. Sie suchte die Fotoalben aus ihrer Schulzeit heraus und betrachtete die vielen Bilder des hübschen Roger Petrie, der groß, schlank, blond und hinreißend war und so viele andere Mädchen anzog, aber immer die „kleine braune Maus“ bevorzugt hatte, wie er sie oft geneckt hatte. Kim kletterte aus dem Bett und stellte sich vor den Spiegel. Sie war seit ihrer Schulzeit zwar nicht mehr gewachsen und auch nicht dicker geworden, doch waren hübsche Rundungen an ihrem Körper zu sehen. Sicher war sie eine jener Frauen, die mit zunehmendem Alter immer besser aussahen. Vielleicht würde Roger sie gar nicht mehr erkennen. Diese Überlegung erinnerte sie wieder an Katherines Warnung, und sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Roger war talentiert, wenn er auch durch Charme und Schmeicheleien mehr erreicht hatte als durch harte Arbeit und Lernen. Er war aber immer ein richtiger Gentleman gewesen. Er hatte sie – im Gegensatz zu anderen jungen Männern – sexuell nie bedrängt. Gewöhnlich schrieb Kim ihm montags, doch an diesem Abend gab es so viele Neuigkeiten, daß Kim die Routine durchbrach. Roger würde sich sicher freuen zu erfahren, daß sie schon im September bei ihm in Kalifornien sein könnte. Sie wollte ihm sofort schreiben.
3. KAPITEL Kim streckte die Füße wohlig auf dem Rücksitz des vollgestopften Kombiwagens aus. Mrs. Hauser hatte es sich auf dem Vordersitz bequem gemacht und war eingeschlafen. Mr. Hauser hielt mit angespannter Aufmerksamkeit die Geschwindigkeitsbegrenzung ein und konzentrierte sich auf die Straße, als ob auch nur die geringste Ablenkung sie ins größte Unheil stürzen würde. Kim war mit ihren Gedanken allein. Sie waren jetzt seit mehreren Stunden unterwegs und fuhren in nördlicher Richtung durch eine gebirgige Gegend. Das Land wurde immer wilder und grüner. Vor einiger Zeit schon hatten sie das letzte Haus hinter sich gelassen. Kim, die bisher so wenig Möglichkeiten zum Reisen gehabt hatte, genoß die Fahrt und wünschte sich, es würde immer so weitergehen. Ihr Chef, Mr. Larrabee, war zuerst überrascht gewesen, hatte Kim dann jedoch ermutigt, den Job im Feriencamp anzunehmen. Es hatte ein Abschiedsessen für sie in einem der besten Restaurants der Stadt gegeben, und selbst der Direktor der Bank hatte Zeit gehabt zu kommen. Mit großer Erleichterung hatte Kim sich dann auf Katherines Hochzeit konzentriert. Bert war während des letzten Monats fast jeden Tag zum Abendessen gekommen. Die Kinder mochten ihn. Kim wußte, daß die Zukunft der Familie nun glücklicher würde. Die Hochzeit fand in kleinem Rahmen statt. Berts Mutter und seine Schwester waren dabei. Jedem der Kinder war eine Rolle bei den Feierlichkeiten übertragen worden. Annie und Mary waren Brautjungfern, Paul und Chris streuten Blumen, und Tom durfte die Eheringe überreichen, nachdem der Pastor die Trauungsformel gesprochen hatte. Dieser Tag würde allen unvergeßlich bleiben. Während das frischgetraute Paar die Flitterwochen verlebte, saßen Kim und Annie abends beisammen, besprachen Kims Garderobe für den Sommer, nähten Säume und befestigten Knöpfe. Die Hausers hatten Kim geraten, hauptsächlich Shorts, Jeans, TShirts und Hemden einzupacken. Wahrscheinlich gab es nur eine einzige festliche Veranstaltung während des ganzen Sommers, nämlich die CocktailParty am Elternwochenende. Zu diesem Anlaß hatte Kim nach langer Beratung mit Annie ein hübsches Kleid gekauft. Endlich hatte sie alles gepackt. Bert und Katherine waren nach Hause zurückgekehrt und hatten zusammen mit Kim eine Einladung zum Essen von den Hausers angenommen. Der Abend war sehr nett gewesen, man hatte viel gelacht und erzählt. Katherine hatte Kim später verraten, daß das Treffen mit den Hausers ihre letzten Zweifel beseitigt habe und sie nun überzeugt sei, daß Kim die richtige Entscheidung getroffen habe. In einem Dorf hielt Mr. Hauser nun, um zu tanken, ein paar Kleinigkeiten einzukaufen und ein Gespräch in einem Postamt zu führen. „Harrow Lake ist nur fünf Meilen weiter, Kim“, erklärte er flüsternd, um seine Frau nicht zu wecken, die immer noch friedlich schlief. „Das hier ist Harrow Center, der vom Lager aus nächstgelegene Ort. Es mag nicht besonders großartig aussehen, aber das hier kommt von allem, was Sie während der nächsten drei Monate sehen werden, der Zivilisation am nächsten.“ Kurz darauf fuhren sie weiter. Nach drei Meilen bogen sie auf einen Kiesweg ab, der so eng war, daß die Büsche über die Seiten des Wagens strichen. Bei diesem Geräusch erwachte Mrs. Hauser endlich und setzte sich auf. „Wir sind fast da!“ rief sie. Sie fuhren weiter durch einen dichten Wald, so daß das Sonnenlicht kaum durch die Zweige dringen konnte. Es duftete herrlich nach Pinien. Endlich lichtete sich
der Wald, und sie sahen vor sich einen See in der späten Nachmittagssonne glitzern. Eine Gruppe kleiner Holzhütten stand zwischen ihnen und dem Wasser. Mr. Hauser parkte den Wagen vor dem größten Haus. „Willkommen in Harrow Lake“, sagte er fröhlich. Kim sprang aus dem Wagen. Sie war begeistert. „Es ist herrlich hier!“ Das ganze Camp war so gebaut worden, daß es gut in die Landschaft paßte. Die Hausers führten Kim in das Erholungsgebäude, dann ins Bootshaus, in die kleine Scheune, in ihre eigene Hütte und ins Büro. Schließlich begutachteten sie noch den Gemüsegarten, wo ein ortsansässiger Gärtner bereits einige Vorarbeit geleistet hatte. Die Küche hinter dem Eßraum war groß und mit allen modernen Errungenschaften ausgestattet. Ein behäbiger Holztisch stand in der Mitte, vor den Fenstern hingen blauweiße Vorhänge, und in dem eisernen Ofen brannte bereits das Feuer. „Gewöhnlich essen wir hier in der Küche zu Abend, wenn die Kinder gegessen haben“, erklärte Mrs. Hauser, während Kim den Salat vorbereitete. „Aber Frühstück und Mittagessen nehmen wir gemeinsam mit den Kindern und ihren Betreuern im Eßzimmer ein.“ Mit einer durch jahrelange Praxis eingeübten Geschwindigkeit hatte Mrs. Hauser die Vorräte weggeräumt. Sie setzte sich an den Tisch und ging die Liste der Dinge durch, die sie noch erledigen mußte. „Gottlob kommen die Kinder erst in ein paar Tagen. Wir müssen vorher noch die Hütten säubern und den Betreuern, die morgen oder übermorgen eintreffen werden, Anweisungen notieren. Morgen bekommen wir eine Ladung mit weiteren Lebensmitteln.“ „Ich hätte nie gedacht, daß man soviel organisieren muß, wenn man ein Feriencamp wie dieses führen will, Mrs. Hauser“, gestand Kim. „Ich bin wirklich beeindruckt. Wann kommt denn Ihr Freund, der Arzt?“ Mr. Hauser war dazugekommen, während Kim sprach, und er antwortete: „Wir erwarten Stephen und seine Sekretärin in ein paar Tagen, aber bei ihm weiß man nie so genau.“ Er entkorkte eine eingestaubte Flasche Rotwein und füllte drei Gläser. „Wir wollen auf den glücklichen Beginn eines weiteren Sommers trinken.“ Kim war es nicht gewöhnt, vor dem Essen zu trinken, aber sie wollte bei diesem Trunk gern mitmachen. „Auf einen erfolgreichen Sommer für uns alle!“ Nach dem Essen war sie froh, sich in ihr Häuschen zurückziehen zu können. Es war von innen viel größer, als es von außen vermuten ließ. Sogar eine winzige abgeschirmte Veranda mit zwei Schaukelstühlen schloß sich an, von der aus man auf den See blicken konnte. Drinnen wurde der große Raum durch eine Kombination aus Bücherregal und Schrank in zwei eigene Bereiche getrennt, von denen jeder mit einem Bett und einem Nachttisch versehen war. In einem großen Schrank befanden sich saubere Decken, Bettwäsche und Handtücher. Im rückwärtigen Teil der Hütte war sogar ein recht komfortables Badezimmer. Nachdem Kim ein heißes Bad genommen hatte, kletterte sie ins Bett und fiel kurz darauf in tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen stand Kim früh auf. Sie war ganz begierig auf den neuen Tag. Da die Morgenluft noch frisch war, zog sie einen dicken Pullover und Jeans an. Bevor sie zum Frühstücken in die Küche ging, schlenderte sie zum Ufer hinunter, setzte sich auf einen großen Felsen, atmete tief den Pinienduft ein und betrachtete einen Habicht, der über dem Wasser kreiste. Die Sonnenstrahlen lagen warm auf ihrem Gesicht, und eine leichte Brise fuhr durch ihre hellbraunen Locken. Vergnügt erhob sie sich. Die Hausers hatten ihr Frühstück schon beendet, als Kim die Küche betrat.
„Ich bin so glücklich hier, ich kann es Ihnen gar nicht beschreiben!“ sagte sie und erntete ein Lächeln der beiden. „Wir empfinden genauso“, versicherte Mr. Hauser. „Es ist, als ob wir in einer anderen Welt wären.“ „Ja, in einer Welt voll Schönheit und Ruhe“, fügte Mrs. Hauser hinzu. Kim goß sich Kaffee ein und verrührte Sahne und Zucker darin. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wieder in der Bank zu arbeiten. Wie habe ich das nur ausgehalten? Ich muß verrückt gewesen sein.“ „Vielleicht erscheint Ihnen das hier nach ein paar Monaten genauso langweilig“, gab Mrs. Hauser zu bedenken. „Nie!“ beteuerte Kim heftig, und alle lachten. „Als erstes müssen wir die Hütten in Ordnung bringen“, sagte Mr. Hauser, während er und seine Frau das Geschirr abräumten. „Nach dem Frühstück sollten Sie sich vielleicht das Büro anschauen. Unsere Sekretärin hat letzten Sommer ein wenig Unordnung hinterlassen.“ „Gut. Und wenn ich mit dem Büro fertig in, helfe ich Ihnen beim Aufräumen“, bot Kim sich an. Die Hausers gingen, und Kim machte sich Spiegeleier und Toast. Nach einer zweiten Tasse Kaffee war auch sie bereit für die Arbeit. Mr. Hauser hatte nicht übertrieben, als er die Unordnung erwähnt hatte. Entsetzt stellte Kim fest, daß in dem kleinen Raum ein richtiges Chaos herrschte. Er war modern ausgestattet, besaß bequeme praktische Holzmöbel und eine elektrische Schreibmaschine. Ein Aktenschrank befand sich gleich neben dem Schreibtisch. Durch große sonnendurchflutete Fenster sah man auf den See, die Wälder und die Hütte mit dem Eßzimmer. Vor dem Schreibtisch standen mehrere riesige Faltkartons, die mit allen möglichen Bürosachen gefüllt waren. Auf dem Schreibtisch stapelte sich Korrespondenz, die nicht abgelegt worden war. Nach kurzer Überlegung stürzte sich Kim in die Arbeit. Gegen Mittag glaubte sie bereits einen schönen Fortschritt erzielt zu haben. Zusammen mit den Hausers verzehrte sie dann Sandwiches und trank Eistee. Bevor Kim ins Büro zurückkehrte, zog sie sich in ihrer Hütte um. Die Temperatur war mit der Sonne gestiegen, so daß Kim Jeans und Pullover durch Shorts und ein luftiges Oberteil ersetzte. Sie wollte noch rechtzeitig vor dem Abendessen fertig werden, so daß sie schwimmen gehen konnte. Nach angestrengter Tätigkeit hatte sie schließlich die Ablage erledigt, die meisten Kisten waren geleert, und das Ende der Arbeit war in Sicht. Kim beugte sich tief über die letzte Kiste und wühlte darin herum, als jemand mit tiefer Stimme hinter ihr sagte: „Ich wußte, daß dieser See malerisch ist, aber diesen Anblick hätte ich nicht erwartet.“ Kim fuhr zusammen und hätte fast das Gleichgewicht verloren, wenn nicht eine starke Hand sie gepackt und am Arm hochgezogen hätte. Wütend fuhr Kim herum und blickte in ein Paar graue Augen. „Ach, ist das nicht die kleine Wasserratte?“ Kim war so verblüfft, als sie den Mann erkannte, daß sie vergaß, den Mund zu schließen. „Können Sie nicht einmal einem alten Freund danke sagen, der Ihnen schon wieder zu Hilfe geeilt ist? Beim letztenmal, als wir uns trafen, hatten Sie doch eine Menge zu sagen“, bemerkte er. „Was tun Sie denn hier?“ fuhr Kim ihn an. „Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Gut, daß ich Ihnen behilflich sein durfte.“ „Wie kommen Sie dazu, sich so hereinzuschleichen?“
Kim spürte plötzlich ein heftiges Verlangen, das ironische Lächeln von dem
Gesicht des Mannes fortzuwischen. Er sah unglaublich attraktiv aus, das
verunsicherte sie. Er trug Jeans und einen legeren weißen Baumwollpullover.
Seine Schultern waren breit und muskulös. Kim mußte unwillkürlich schlucken.
„Tut mir leid, feststellen zu müssen, daß Ihr Benehmen sich nicht gebessert hat“,
sagte er und schüttelte gespielt fassungslos den Kopf. „Aber vielleicht kann man
Sie mit Geduld und Güte dazu bringen, sich wie ein zivilisierter Mensch zu
benehmen.“
„Und Sie glauben, Sie können mir das beibringen?“ fragte Kim wütend. „Sie?“
Er machte einen Schritt auf sie zu, Kim wich zurück und vergaß, daß eine Kiste
genau hinter ihr stand. Wieder verlor sie das Gleichgewicht und griff instinktiv
nach dem nächsten Halt. Unglücklicherweise war das der Mann, an dessen
Pullover sie sich festklammerte. Er drückte sie an sich, so daß Kim seinen
warmen Atem auf ihrem Gesicht fühlte.
„Es wäre vielleicht ganz lustig, es zu versuchen“, erwiderte er leise.
Mit einer heftigen Bewegung stieß sie ihn von sich weg.
„Ruhig, ruhig“, beschwichtigte er sie mit einem Lächeln.
„Ah, Kim, wie ich sehe, haben Sie sich schon mit Dr. Anderson bekannt
gemacht“, sagte Mr. Hauser, der mit seiner Frau und einer jungen Dame
ahnungslos dazugekommen war.
Dr. Anderson! Das durfte nicht wahr sein!
„O ja“, erwiderte der Arzt, „Kim und ich haben uns in Bradford kennengelernt.“
Mit einem Seitenblick auf Kim fügte er leise hinzu: „In einer Wasserpfütze.“
„Muriel Schmidt, das ist Kim Grayson. Sie beide werden Zimmergenossinnen sein
– und Freundinnen hoffentlich.“
Kim riß sich zusammen und reichte Muriel die Hand.
„Kim, wollen Sie Muriel nicht in Ihre Hütte führen, damit sie sich zum Essen
umziehen kann? Ich bin sicher, Muriel und Stephen sind nach der langen Fahrt
hungrig.“
„Ich hätte nicht geglaubt, daß wir jemals hier ankommen“, sagte Muriel. „Ich
dachte schon vor Stunden, wir seien irgendwo im Niemandsland
verlorengegangen.“
„Ich wußte gar nicht, daß Sie unseren Freund Stephen kennen“, bemerkte Mr.
Hauser zu Kim.
„Er hat mir einmal buchstäblich aus der Klemme geholfen.“ Sie alle verließen das
Büro, und Kim führte Muriel in ihre Hütte, während die Hausers sich mit Stephen
unterhielten. Kim fühlte seinen Blick auf sich, während sie den Weg entlangging,
und sie wünschte sich von ganzem Herzen, ihre Shorts wären nicht ganz so kurz.
Muriel mußte Ende Zwanzig sein und war ein paar Zentimeter größer als Kim. Sie
trug ein schickes Sommerkleid, flache Schuhe, hatte das Haar gefärbt und mußte
Kims Meinung nach Schwierigkeiten haben, mit so langen Fingernägeln zu tippen.
„Ist das alles hier?“ erkundigte Muriel sich verwundert. „Gibt es kein
Schwimmbecken?“
„Wozu ein Schwimmbecken, wenn wir diesen herrlichen See haben?“ fragte Kim
lächelnd.
„Soll das heißen, daß in dem See Leute schwimmen? Ist der nicht voller Fische
und so?“
„Ja, aber die Fische sind doch sauber. Der See ist nicht verschmutzt. Das Wasser,
das wir trinken, kommt direkt aus dem See.“
Muriel sah Kim entsetzt an.
„Oh, das ist schon in Ordnung.“ Kim blickte auf die Unmenge Gepäck auf der
Veranda. „Gehört das alles Ihnen?“
„Ja. Wahrscheinlich habe ich die Hälfte vergessen, aber den Rest werde ich mir
nachschicken lassen“, erklärte Muriel. „Das ist ja wahnsinnig eng hier!“
Kim begann, die Koffer hereinzutragen und erwiderte: „Sie können die meisten
Schubladen und fast alle Fächer benutzen. Ich habe nicht viel dabei.“
„Ich begreife nicht, weshalb wir keine eigenen Hütten bekommen. Ich bin sicher,
sie könnten noch eine zur Verfügung stellen. Es wird doch ziemlich unangenehm,
wenn eine von uns einen Gast über Nacht mitbringt.“
„Ich erwarte niemanden“, antwortete Kim kurz.
„Ich auch nicht, aber man weiß ja nie. Aber das kann dann sicher noch geregelt
werden. Wo ist der Fernseher?“
„Es gibt keinen. Mr. Hauser mag keine Fernseher.“
„Was sollen wir dann mit uns anfangen? Mit den Kindern ums Lagerfeuer
herumsitzen und fröhliche Lieder trällern? Ich werde noch wahnsinnig.“
Kim wußte nicht, was sie darauf sagen sollte.
„Das Badezimmer ist wenigstens in Ordnung“, mußte Muriel nach einer
sorgfältigen Begutachtung zugeben. Sie packte ein kleines Radio aus, stellte
Popmusik ein und verschwand ins Bad.
Kim schlüpfte in eine Khakihose und in eine Baumwollbluse, die sie bis zum Hals
zuknöpfte. Dann setzte sie sich auf die Veranda. Warum nur mußte sie
ausgerechnet mit diesem Stephen Anderson zusammentreffen? Und von allen
Sekretärinnen mußte er jemanden wie Muriel mitbringen!
Seufzend schaute Kim auf den See. Gottlob mußte sie nicht für Stephen arbeiten.
So ein unmöglicher Mensch! Zum Glück würde er die meiste Zeit auf der Insel
sein, und sie mußte ihn nicht sehen, außer bei den Mahlzeiten. Warum habe ich
nur diese Shorts angezogen, dachte sie wütend, und prüfte, ob auch alle Knöpfe
ihrer Bluse geschlossen waren. Doch dann knöpfte sie einen nach dem anderen
wieder auf. Ich lasse mich von ihm nicht einschüchtern, dachte sie entschlossen.
Muriel trat auf die Veranda und sank auf den anderen Schaukelstuhl. Sie zündete
sich eine Zigarette an und bot Kim die Packung an. Sie trug einen viel zu
eleganten schwarzen Hosenanzug, dessen Oberteil tief ausgeschnitten war.
„Nein, danke“, wehrte Kim die Zigaretten ab.
„Ziehen Sie sich zum Abendessen nicht um?“
„Ich bin bereits umgezogen“, erwiderte Kim.
„Na, ich werde mich wohl an das lässige unzivilisierte Leben gewöhnen müssen“,
stöhnte Muriel und stieß ein paar Rauchkringel in die Luft. „Ich glaube, hier im
Wald braucht man auf Förmlichkeiten keinen Wert zu legen. Aber bei einem so
attraktiven Mann wie Stephen gehe ich lieber kein Risiko ein.“
„Ist Dr. Anderson denn nicht verheiratet?“
„Aber, Kim, wissen Sie das nicht? Er ist einer der begehrtesten Junggesellen von
Manhattan. Ich glaube, jede Krankenschwester des Landes hat es bereits bei ihm
versucht. Und wenn man den Gerüchten glauben darf, dann ist er nicht
abgeneigt, mit den meisten von ihnen zu spielen – wenn Sie wissen, was ich
meine.“
Kim wußte, was sie meinte, und war entsprechend schockiert.
„Ich wollte es einfach nicht glauben, als die Agentur mich zu einem Gespräch im
Hinblick auf diese Stellung einlud. Ich bin Arztsekretärin und war gerade
verfügbar. Stephen hätte lange suchen müssen, bis er jemand gefunden hätte,
der nur halb soviel Erfahrung hat wie ich.“ Bescheidenheit gehörte nicht zu
Muriels Tugenden.
Kim konnte sich das gut vorstellen und erfaßte die Doppeldeutigkeit von Muriels
Worten.
„Aber ich hatte ja keine Ahnung, auf was ich mich da einließ. Er hat so getan, als
ob dieser Ort ein Himmelreich sei. Das hier soll ein schönes, abseits gelegenes Sommerlager sein. Na ja, abseits gelegen ist es bestimmt, aber schön? Hier gibt es doch innerhalb von fünfzig Meilen weder ein Restaurant noch eine Bar!“ Sie drückte ihre Zigarette aus und stand auf. „Stephen wird sicher genauso gelangweilt sein wie ich, und ich kann mir eine Menge Möglichkeiten für uns beide vorstellen, wie wir die Zeit totschlagen können.“ „Wir sollten jetzt zum Essen hinübergehen“, schlug Kim vor. Sie hatte die schlimme Vorahnung, daß es ein langer Abend werden würde. „Ich amüsiere mich gern“, fuhr Muriel auf dem Weg zum Haupthaus fort. „Ich gehe gern tanzen, auf Parties, in Konzerte und so weiter. Sie nicht?“ „Doch, aber das Nachtleben in Bradford bietet nicht sonderlich viel?“ „Im Grunde meines Herzens bin ich ein Stadtmensch“, verkündete Muriel fröhlich. Kim blieb einen Augenblick stehen, um zuzusehen, wie der feurige Sonnenball hinter den Bergen unterging. Ein samtener blauschwarzer Schatten hatte sich über die Hügel gelegt. Kim entdeckte eine winzige Fledermaus, die über ihren Köpfen kreiste. Sie war weise genug, Muriel gegenüber nichts davon zu erwähnen. „Ich verbringe im Sommer die meisten Wochenenden auf Long Island, dort ist immer viel los“, fuhr Muriel fort, als ob die Ruhe sie nervös machte. „Man trifft da tolle Leute.“ Muriel und Kim hatten das Blockhaus erreicht und betraten die Küche. Stephen erzählte gerade einen Witz, über den die Hausers herzlich lachten. Muriel wollte sofort, daß Stephen auch ihr den Witz erzählte, während Kim an der Tür stehenblieb und den jungen Arzt betrachtete, denn er hatte sich umgezogen und trug nun eine Khakihose, die Kims Hose sehr ähnlich war, und ein langärmeliges Baumwollhemd. Stephen bemerkte ihren Blick und lachte. „Meine Damen, kommen Sie herein und freuen Sie sich mit uns!“ Er reichte Muriel ein Glas Wein und trat dann zu Kim, die ihn immer noch anblickte. „Wir sehen aus wie Zwillinge, nicht wahr?“ „Purer Zufall“, bemerkte Kim und fühlte sich dabei nicht wohl. Sie bedauerte sofort ihren feindseligen Ton. „Klar.“ Er trat näher und flüsterte: „Besser, ich sehe Ihnen ähnlich als Muriel. Ich würde in so einem Partyanzug ganz schön komisch wirken.“ Bevor Kim etwas erwidern konnte, rief Mr. Hauser Stephen zur Beaufsichtigung der Krebse, die er mitgebracht hatte und die nun gekocht werden mußten. Muriel und Mrs. Hauser begannen ein Gespräch über ihre Lieblingsrestaurants in Manhattan. Da Kim nur einmal in Washington und hin und wieder in Albany gewesen war, konnte sie nicht viel zur Unterhaltung beitragen. Sie hörte nur zu und versuchte Stephen und Mr. Hauser zu ignorieren, die sich mit dem Kochen beschäftigten. Auch während des Essens verhielt Kim sich zurückhaltend. Da sie noch nie zuvor Krebse gegessen hatte und nicht wußte, wie man sie aß, beobachtete sie die anderen verstohlen und folgte ihrem Beispiel. Durch die jahrelange Freundschaft der Andersons und Hausers drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich um gemeinsame Bekannte, und auch Muriel, die viel mit Ärzten zu tun hatte, waren diese Menschen nicht unbekannt. So kam es, daß Kim sich ziemlich ausgeschlossen vorkam. „Sie sind ja so still, Kim“, sagte Mr. Hauser schließlich, während er ihr eine Tasse Kaffee reichte. „Ich bin nur ein wenig müde.“ Kim fühlte Stephens Blick auf sich und schaute
befangen auf ihren Teller.
„Sie haben uns noch gar nicht erzählt, wie Sie Stephen in Bradford kennengelernt
haben“, sagte Mrs. Hauser. Interessiert schaute sie von einem zum andern.
Kim zögerte und wurde rot.
„Wir haben uns vor einer Buchhandlung kennengelernt“, kam Stephen ihr zu
Hilfe. „Kim hatte ein paar Bücher zurückgebracht, und ich hatte angehalten, um
einer in Not geratenen Autofahrerin zu helfen.“
Erleichtert und doch voller Argwohn blickte Kim kurz zu ihm hinüber.
„An jedem Tag“, fuhr er freundlich fort, „habe ich Kim von einer ganz
ungewöhnlichen Seite kennengelernt. Ich freue mich schon darauf, sie noch
besser kennenzulernen.“ Die Zweideutigkeit fiel aber nur Kim auf.
Während die Hausers ihm in bester Absicht zustimmten, blickte Kim ihn entrüstet
an.
An diesem Abend lag Kim noch lange wach. Sie konnte sich erst entspannen, als
sie an Roger dachte, den sie in drei Monaten wiedersehen würde.
4. KAPITEL Die nächsten Tage vergingen schnell. Fünf Betreuer trafen ein, und fast gleichzeitig die Kinder mit ihren Eltern. Plötzlich erwachte das Camp zum Leben, und in den Wäldern hallte es von Rufen und Lachen. Muriel stellte voll Entsetzen fest, daß sie täglich mit einem Motorboot auf die kleine Insel fahren mußte, auf der Stephen Anderson lebte. Kim schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel, daß sie die beiden bis auf die Mahlzeiten nicht zu Gesicht bekommen würde. Stephens Haus lag auf hügeligem Land am östlichen Ende der Insel. Ost und Nordwand bestanden zum größten Teil aus Isolierglas, um den Blick auf den See und die umliegenden Berge zu ermöglichen. Im Innern wurde der warme Naturholzton durch Teppiche, Kissen und Polster in Erdfarben unterstrichen. Der Zentralraum vereinte Küche, Eßecke, Wohnzimmer und Büro. Ein großer Schreibtisch beherrschte die Nordostecke, und in die Südmauer war ein riesiger Kamin eingebaut. Zwei Schlafzimmer bildeten den südlichen Teil des Gebäudes. Über ihnen befand sich ein Dachboden zu Lagerzwecken, der nur über eine Leiter zwischen den beiden Schlafzimmertüren zu erreichen war. Für einen Augenblick beneidete Kim Muriel fast, und diesmal konnte Muriel sich mit Schwärmereien nicht zurückhalten. Sie stand mit Kim zusammen in der Küche, während die anderen auf der Terrasse in ein angeregtes Gespräch vertieft waren. „Es wird Ihnen sicher nicht leichtfallen, sich bei soviel Schönheit auf die Arbeit zu konzentrieren“, sagte Kim. „Ja“, erwiderte Muriel, „und er wird es genauso empfinden.“ Kim schaute sie überrascht an und sah, daß Muriels Blick auf Dr. Anderson gerichtet war, der offenbar Muriels höchste Bewunderung erregte. Kim bemerkte den tiefen Ausschnitt von Muriels Bluse, der die Mulde zwischen den üppigen Brüsten entblößte, und sie fragte sich, wie groß wohl Stephen Andersons Fortschritte an seinem Buch in diesem Sommer sein würden. An diesem Nachmittag schrieb Kim einen Brief an Roger, in dem sie ihm vom Camp, von Dr. Anderson und Muriel erzählte. Sie hatte kurz vor Katherines Hochzeit einen Brief von ihm erhalten. Er hatte von der Oberflächlichkeit des Lebens in Hollywood berichtet und daß er sich einen Porsche gemietet hatte, den sein Agent für unumgänglich hielt, wenn Roger sein Image aufbauen wollte. Als dann die Kinder im Lager eintrafen, verging die Zeit für Kim noch schneller. Sie war den ganzen Tag damit beschäftigt, die Neuankömmlinge einzuweisen, mit den Eltern zu sprechen, die Behandlung von besonderen Problemen abzuklären, wie Allergien, Angst vor Dunkelheit oder Widerwillen gegen bestimmte Nahrungsmittel. Ein kleiner Junge, Josef, klammerte sich weinend an seinen Vater. Ein kleines Mädchen, das Vicky hieß, kletterte auf einen Baum und mußte von dort heruntergeholt werden. Die meisten Kinder sahen der Trennung von den Eltern entweder mit übertriebener Ausgelassenheit oder mit Bangen entgegen. Nur ganz wenige behielten die Ruhe. Bald verlief das Lagerleben jedoch in geregelten Bahnen. Die fünf Betreuer verbrachten ihre gesamte Zeit mit den Kindern, so daß Kim oft einen freien Nachmittag hatte. Mit einem Pflanzenlexikon bewaffnet, spazierte sie dann durch die Wälder und lernte immer neue Arten von Blumen kennen. Ein kleiner Wasserfall oben in den Hügeln, unter dem sich ein winziger Teich gebildet hatte, wurde Kims Lieblingsplatz. Nachdem sie mehrere Nachmittage lang bei ihren Besuchen hier nicht gestört
worden war, entledigte sie sich eines Tages mutig ihrer Kleider und badete in dem See. Danach legte sie sich nackt auf die Felsen und ließ sich von der Sonne wärmen. Für Muriel jedoch schien der Sommer sich nicht so anzulassen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Noch am späten Nachmittag, wenn die Kinder vor dem Abendessen badeten, hörte Kim die Geräusche der klappernden Schreibmaschine über das Wasser herüberdringen. Muriel würde bestimmt nicht so eifrig schreiben, wenn Dr. Anderson dauernd mit ihr flirtete. Und doch mußte Kim sich jeden Abend Muriels Geschichten von Stephens Vernarrtheit, von Stephens Komplimenten, von Stephens Verlangen anhören. Kim wußte nicht, ob sie ihr glauben sollte oder nicht. Wenn sie abends beim Essen zusammensaßen, zeigte Dr. Anderson sich Muriel gegenüber immer vollkommen korrekt und höflich, und Kim konnte kein romantisches Gefühl bei ihm für sie entdecken. Doch Kim mußte auch zugeben, daß sie bei diesem Mann nichts überraschen würde. Eines Morgens entdeckte Kim den kleinen Josef Belös in ihrem Büro. Leise weinend klammerte er sich an sie. Diese Hilflosigkeit rührte Kim. Sie sprach mit seinem Betreuer und erfuhr, daß Josef vor Wasser Angst hatte. Kim erhielt die Erlaubnis, daß Josef die Zeit mit ihr verbrachte. Also saß er still auf dem Boden, malte etwas, während sie arbeitete, und umarmte sie zärtlich, wenn seine Betreuer ihn wieder abholten. Langsam wurden Josefs Besuche bei ihr zur Gewohnheit, und er bestand nun auch darauf, daß er beim Essen neben Kim saß. Sie befestigte einige seiner Zeichnungen an der Wand des Büros und gefiel sich bei dem Gedanken, daß sie endlich jemandem helfen konnte. Eines Abends fragte Muriel plötzlich: „Wo ist Ihr Freund, Kim?“ Einen Augenblick lang wußte Kim nicht, von wem Muriel sprach. „Ach, Sie meinen Josef? Der schläft, wie die anderen Kinder auch.“ Muriel wandte sich an Stephen: „Wahrscheinlich wissen Sie noch gar nicht, daß unsere kleine Kim einen Verehrer hat. Ich habe noch nie eine so rührende Liebe gesehen.“ Kim, die fühlte, daß Stephens Blick auf sie gerichtet war, mißfiel Muriels Ton. Sie versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen, und erwiderte: „Sie brauchen sich über Josef gar nicht lustig zu machen.“ „Es war ja nur ein Spaß“, beruhigte Muriel sie. „Der kleine Josef Belös scheint tatsächlich in Kim vernarrt zu sein“, erklärte Mrs. Hauser. „Er verbringt schon die Vormittage in ihrem Büro, anstatt zu schwimmen.“ „Ich glaube, Josef hat Heimweh und ist hier noch nicht warm geworden“, fügte Mr. Hauser hinzu. „Er ist unser jüngster Feriengast, er wird sich schon noch eingewöhnen. Wenn der See sich erst richtig erwärmt hat, dann wird er sich auch auf das Schwimmen freuen.“ Er schien sich keine Sorgen um Josef zu machen. Nach dem Essen schlenderte Kim zum See hinunter und setzte sich auf einen der großen Felsen nahe dem Wasser. Sie hatte keine Lust, in ihre Hütte zu gehen und sich Muriels Geschichten anzuhören. Muriel ging ihr immer mehr auf die Nerven, am meisten beim Essen, wenn Stephen anwesend war. Plötzlich hörte Kim Schritte hinter sich und fuhr herum. „Kim, ich möchte mit Ihnen über Josef reden“, sagte Stephen ernsthaft und setzte sich neben sie. „Ich habe mit den Hausers darüber gesprochen und möchte Ihnen nun sagen, daß Sie Josef keinen Gefallen tun.“ „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Muriel hat übertrieben“, erwiderte Kim kühl.
„Hören Sie zu, Kim. Ich möchte Ihre Gefühle nicht verletzen. Aber Sie helfen Josef nicht. Wollen Sie, daß er mit dem Glauben durchs Leben geht, er könne allem Unangenehmen durch Weinen ausweichen?“ Verärgert stand sie auf. „Ich brauche das mit Ihnen nicht zu diskutieren.“ „Setzen Sie sich.“ Auch seine Stimme klang jetzt so verärgert, daß Kim sich augenblicklich wieder setzte. „Einer der Gründe, weshalb Josefs Vater ihn in dieses Lager gebracht hat, war, daß er lernt, sich anzupassen. Zu Hause wird Josef von gutmeinenden Menschen umhegt und gepflegt. Das sollte ihm aber hier gerade nicht passieren. Wenn er sieht, wie die anderen Kinder sich im Wasser vergnügen und ihn akzeptieren, dann wird er sicher schnell die Angst verlieren. Wir wollen ja nichts Böses. Bitte komplizieren Sie die Sache nicht.“ „Josef ist einsam, und er braucht einen Freund. Ich werde ihn nicht zurückweisen, bloß weil Sie das so wollen.“ „Kim, wenn Sie aufhören, das persönlich zu nehmen, würden Sie einsehen, daß ich recht habe.“ „Ich nehme das nicht persönlich“, wehrte sie sich. „Ich glaube doch. Es dauert nicht lange, und sie weinen wie Josef, weil Sie Ihren Willen nicht durchsetzen können.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „Regen Sie sich nicht auf, es war ja nur ein Scherz.“ Kim kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. „Ich werde die Sache mit den Hausers besprechen und ihren Rat befolgen. Mit Ihnen möchte ich nicht darüber diskutieren, Doktor Anderson.“ „Wenn Sie vernünftig wären, müßte man darüber kein Wort mehr verlieren.“ Wieder sprang Kim auf. Stephen erhob sich ebenfalls und stellte sich vor sie. Mit dem See hinter ihr gab es kein Entkommen. „Wollen Sie so freundlich sein und mir aus dem Weg gehen!“ rief sie und war wütend darüber, daß seine Nähe sie so verwirrte. „Kim, beruhigen Sie sich doch.“ Er legte ihr die Hände auf die Schultern. „Es tut mir leid, wenn wir nicht einer Meinung sind, aber glauben Sie mir, ich weiß, was für Josef das Richtige ist. Ich wollte Sie nicht aufregen. Ich möchte, daß wir Freunde sind.“ „Das werden wir niemals sein! Wenn ich gewußt hätte, daß Sie hier sind, hätte ich diesen Job nicht angenommen.“ Stephen nahm die Hände von ihren Schultern. „Ich wußte nicht, daß Sie so empfinden. Wir müssen uns ja nicht so oft sehen.“ „Gott sei Dank!“ rief sie, ging an ihm vorbei und machte sich eilig auf den Weg zu ihrer Blockhütte. Erst als sie merkte, daß Stephen ihr nicht folgte, mäßigte sie ihren Schritt. Der arme kleine Josef! Wie konnte Stephen sich anmaßen, ihr zu befehlen, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie wollte sich bei Mr. Hauser über ihn beschweren. Aber bei diesem Gedanken schossen Kim Tränen in die Augen. Sie würde sich nicht so demütigen und diese Unterhaltung wiederholen. Davon mußte niemand etwas wissen. Sie wollte sich nicht einschüchtern lassen und nie zugeben, daß, was immer Dr. Stephen Anderson auch sagte oder tat, irgendeine Wirkung auf sie hatte. Die Meinung Dr. Andersons würde ihre Pläne mit Josef nicht im geringsten ändern. Sie würde genau das tun, was sie wollte. Als Kim ein paar Minuten später ihre Hütte betrat, lag Muriel bereits im Bett, hörte wie immer Radio und blätterte in einer Zeitschrift. „Es ist kaum zu glauben!“ stöhnte Muriel. „Es ist noch nicht einmal zehn Uhr, und ich liege schon im Bett. Ansonsten bin ich nie so früh im Bett – außer ich habe einen guten Grund dazu.“
Kim wußte nichts darauf zu antworten, und Muriel fuhr mit ihren Klagen fort. „Seit drei Wochen habe ich das Camp nicht verlassen. Ich kann diese Ruhe nicht mehr aushalten. Das macht mich noch verrückt. Wenn ich nicht bald ein paar Menschen treffe und mich vergnügen kann, verliere ich noch den Verstand.“ „Warum leihen Sie sich am Sonnabend nicht den Wagen aus und machen einen Ausflug?“ schlug Kim vor. „Aber wohin denn? Ich müßte ja Stunden unterwegs sein, bis ich irgend etwas Interessantes erreicht habe, und dann wäre es schon wieder Zeit zum Heimfahren.“ Kim verschwand im Badezimmer und putzte sich die Zähne. Muriel folgte ihr und blieb auf der Schwelle stehen. „Ich meine es ernst, Kim“, sagte sie. „Hier werde ich noch verrückt.“ „Das tut mir leid, Muriel“, antwortete Kim, die wieder ins Schlafzimmer zurückging, um sich ein frisches Nachthemd anzuziehen. „Kim, ich glaube nicht, daß ich das noch lange aushalte.“ „Haben Sie schon mit Dr. Anderson darüber gesprochen?“ Muriel sank aufs Bett zurück. „Ach, mit dem kann ich nicht reden. Er hat doch nur sein Buch im Kopf.“ Höchst überrascht vernahm Kim Muriels Geständnis, und sie begann sich zu fragen, was wohl passieren würde, wenn Muriel wirklich ginge. Stephen würde ohne Sekretärin nicht arbeiten können, und dann müßte auch er gehen. Kim kletterte ins Bett und meinte: „Na ja, wenn Sie hier wirklich unglücklich sind…“ „Es würde ihm nur recht geschehen, wenn ich ginge. Dann würde er ganz schön in der Klemme sitzen.“ „Überlegen Sie es sich noch einmal. Vielleicht fühlen Sie sich morgen besser. Wenn nicht, können Sie sich immer noch entscheiden.“ Muriel knipste die Nachttischlampe aus. „Ich werde morgen mit Stephen reden. Wenn er merkt, daß ich wirklich gehen werde, ändert er sich vielleicht.“ Kim überlegte sich beim Einschlafen, wie schön der Sommer ohne Muriel und ohne Stephen Anderson werden könnte. Am folgenden Tag kamen Muriel und Stephen zu spät zum Abendessen. Als Stephen endlich erschien, entschuldigte er sich sofort für die Verspätung. „Muriel zieht sich nur noch um. Ich denke, sie hat euch dann etwas zu sagen.“ Er setzte sich neben Kim und fragte: „Habe ich Sie heute morgen mit Josef im See gesehen?“ „Ich dachte, daß ich ihm helfen könnte, sich ans Wasser zu gewöhnen, weil er mir vertraut“, erklärte sie verlegen. „Ich glaube, es hat ihm gefallen.“ Mrs. Hauser setzte sich zu ihnen. „Kim und ich haben heute morgen über Josef gesprochen, und wir sind beide zu dem Entschluß gekommen, daß wir ihn anspornen sollten, mehr mit den Kindern zusammenzusein und sich weniger auf Kim zu verlassen.“ Kim fühlte Stephens Blick auf sich, wollte ihn aber aus irgendeinem Grund nicht erwidern. Er schien ihre Verlegenheit zu verstehen und wechselte das Thema. Mr. Hauser kam dazu und kurz nach ihm auch Muriel. Sie schien ein wenig erregt und verhielt sich während des Essens ungewöhnlich schweigsam. Erst beim Kaffee räusperte Muriel sich und verkündete: „Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich werde weggehen. Ich weiß, ich bringe Sie damit in Schwierigkeiten, und es tut mir auch leid, aber es gefällt mir hier nicht, und ich möchte zurück nach Haus.“ Stephen und Kim waren natürlich nicht überrascht, aber die Hausers äußerten ihr Bedauern. Sie versuchten, Muriel umzustimmen und nach Gründen zu forschen,
aber Muriel ließ sich nicht ausfragen. Sie war damit einverstanden, bis zum Ende
der Woche zu bleiben, und bei der Suche nach Ersatz zu helfen. Dann
verabschiedete sie sich, um ins Bett zu gehen.
„Stephen, was ist denn nur passiert?“ fragte Mrs. Hauser sofort, als Muriel den
Raum verlassen hatte.
„Es gefällt ihr hier wohl nicht.“
„Aber warum nicht?“
„Ich glaube, der Reiz, mit mir zu arbeiten, hat sich verflüchtigt, und jetzt kann
sie die Langeweile nicht mehr aushalten. Und wenn ihr glaubt, daß ich versucht
habe, ihr zu nahe zu treten, dann kennt ihr mich schlecht. Wenn ich ihr zu nahe
getreten wäre, wäre sie nicht so gelangweilt gewesen.“
Die Hausers kannten Stephen seit seiner Kindheit und verstanden die
Selbstironie hinter seinen Worten, nur Kim war von seiner Arroganz unangenehm
berührt.
„Was machen wir nun?“ fuhr Mr. Hauser fort. „Es wird längere Zeit dauern, bis
Muriel mit ihrer Agentur in Verbindung getreten ist und Ersatz beschafft hat.“
„Ach, so schlimm ist das nicht“, räumte Stephen ein. „Muriel war zwar eine gute
Sekretärin, aber wir schaffen es auch ohne sie.“
„Aber du wolltest doch vor dem Herbst noch fertig werden, bevor du nach Europa
abreist“, gab Mr. Hauser zu bedenken.
„Wir müssen praktisch denken“, sagte Mrs. Hauser. „Dein Buch ist jetzt das
Wichtigste. Ich bin sicher, daß Kim inzwischen alles so gut organisiert hat, daß
ich das Büro ohne große Schwierigkeiten weiterführen kann.“
Kim sah sie verständnislos an.
„Natürlich!“ rief Mr. Hauser. „Kim kann Muriels Stelle übernehmen.“
„Aber ich verstehe nichts von medizinischen Texten“, protestierte Kim entsetzt.
Sie blickte Stephen an, der höchst amüsiert und überhaupt nicht beunruhigt
schien.
„Ach, so schwierig ist das gar nicht. Ich bin sicher, Sie schaffen es.“
„Aber Muriel hat gesagt, es sei schrecklich kompliziert – und diese entsetzlich
vielen Fachausdrücke.“
„Natürlich, wenn Sie nicht wollen…“
Die Hausers schauten Kim an, und Kim hatte nun keine Wahl mehr.
„Na schön, ich versuche es. Aber machen Sie mir keine Vorwürfe, wenn ich alles
durcheinanderbringe.“
„Das werden Sie nicht“, tröstete Stephen. „Außerdem bin ich ja die ganze Zeit
bei Ihnen und passe auf, daß Sie alles richtig machen.“
„Erinnern Sie mich nicht daran“, flüsterte Kim gequält.
Kim erbat sich eines der Ruderboote und machte zur Bedingung, daß sie selbst
immer hin und zurück ruderte und sich nicht von Stephen fahren ließ. Diese
körperliche Übung würde ihr guttun, und außerdem, dachte sie insgeheim, würde
das die Zeit mit Stephen verkürzen.
Später in der Hütte war Muriel über die Entwicklung der Dinge in keiner Weise
überrascht.
„Sie mögen Stephen nicht, stimmt’s?“ sagte sie.
„Wie kann jemand einen so arroganten, eingebildeten…“
„Aber er mag Sie.“
Kim lachte. „Er mag niemanden außer sich.“
Muriel schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es, wenn einem Mann eine Frau im Kopf herumgeht, und diese Frau bin
nicht ich.“
„Selbst wenn Sie recht haben, muß das nicht heißen, daß er an mich denkt. Die
Vorstellung allein ist ja schon absurd.“ Kim lachte bitter. Sie hatte sich einen friedlichen, idyllischen Sommer vorgestellt, und nun war alles ganz anders geworden. Am ersten Morgen ihrer neuen Aufgabe fühlte Kim sich wie eine Verurteilte, die sich zu ihrer eigenen Hinrichtung rudern mußte. Die blasse Mondsichel hing noch am klaren, wolkenlosen Himmel. Einige Habichte kreisten über dem See, und glitzernde blaue Fische schossen unter der Wasseroberfläche in alle Richtungen. Kim ließ die Ruder einen Augenblick ruhen und lauschte. Während sie sich schließlich der Insel näherte, sah sie voller Entzücken eine Gruppe von Schildkröten ins Wasser gleiten, die sich offenbar von ihrer Anwesenheit gestört fühlten. Hinter einer Sandbank trieb etwas, das sie auf den ersten Blick für eine Schlange hielt, aber da sie nicht glaubte, daß Schlangen schwimmen können, verdrängte sie diesen furchterregenden Eindruck. Sie vertäute das Boot an dem kleinen Steg und marschierte entschlossen zum Haus hinauf. Unglücklicherweise war es ein langer Weg, bei dem sich ihre Nerven nicht gerade beruhigten. Im Gegenteil, ihre Unruhe verstärkte sich wieder. Stephen war in der Küche und goß sich Kaffee ein, als Kim eintrat. Sein Haar war zerzaust, und er trug einen locker gebundenen Morgenmantel, der ihm bis knapp über die Knie reichte. Der mangelnde Respekt vor ihr machte Kim wütend, doch gleichzeitig wurde sie sich seiner überwältigenden Männlichkeit bewußt. Plötzlich wußte sie nicht mehr, wo sie hinschauen sollte. Dieser Anblick machte sie höchst verlegen. „Hereinspaziert, meine Liebe. Ich bin entzückt, Sie zu sehen“, rief Stephen gutgelaunt. „Trinken Sie bitte eine Tasse Kaffee mit mir. Nehmen Sie sich einen Stuhl.“ Kim gehorchte automatisch und setzte sich so weit wie möglich von ihm an den Tisch. „Bedienen Sie sich mit Milch und Zucker“, forderte er sie auf. „Ich bin heute morgen ein bißchen spät dran. Haben Sie schon gefrühstückt? Ein herrlicher Morgen, nicht wahr?“ „Ja, wunderschön.“ „Erzählen Sie mir nicht, daß Sie zu den Morgenmuffeln gehören“, sagte er und sah sie überrascht an. Kim hoffte, daß er ihr Erröten dem heißen Kaffee zuschrieb, den sie gerade trank, um ihre Verwirrung zu verbergen. „Ganz und gar nicht.“ „Gut. Haben Sie schon gefrühstückt?“ „Ja.“ Kim nahm ihren Mut zusammen. „Dr. Anderson, ich bin hier, um Ihr Buch zu tippen. Da Sie sich ohnehin verspätet haben, sollte ich mir vielleicht schon meinen Arbeitsplatz ansehen, bis Sie sich angezogen haben.“ Er schmunzelte. „Bitte, seien Sie nicht so förmlich. Sie können mich Stephen nennen.“ Er stand auf, und Kim erstarrte, als sein Morgenmantel plötzlich neben ihr auf dem Stuhl landete. Stephen stand in einer feuchten Badehose neben ihr und beobachtete sie schmunzelnd. „Es geht nichts über ein Bad im See vor dem Frühstück“, erklärte er. „Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht.“ Kim war zu verlegen, um zu antworten, und blickte Stephen fassungslos nach. Der Vormittag verging schnell und angenehm. Der Text war weniger kompliziert, als Kim befürchtet hatte, und dabei durchaus interessant. Stephen saß am großen Schreibtisch in der Ecke, brachte Notizen und Verbesserungen zu Papier, während Kim an einem kleineren Tisch tippte. Sie arbeiteten schweigend, und Kim entspannte sich allmählich. „Ich werde jetzt das Mittagessen machen“, sagte Stephen nach geraumer Zeit.
„Und ich schlage vor, daß wir uns in Zukunft dabei abwechseln.“ „In Ordnung. Morgen werde ich kochen. Kann ich Ihnen jetzt helfen, oder soll ich hier weiterarbeiten.“ „Gehen Sie doch hinaus, und machen Sie eine Pause. Vielleicht tut Ihnen ein kleiner Spaziergang gut? Sie sollten übrigens immer einen Badeanzug mitbringen. Es ist sehr angenehm, vor dem Essen zu schwimmen. Wenn Sie aber zur Entspannung lieber lesen möchten, dann bedienen Sie sich meiner Bibliothek.“ Kim war überrascht von seiner Aufmerksamkeit. „Danke. Ich werde wohl einen Spaziergang machen. Aber es stimmt, es wäre schön, vor dem Essen im See zu baden.“ „Wenn Sie heute ohne Badeanzug schwimmen wollen, verspreche ich, daß Sie ungestört sein werden.“ „Sie sind schrecklich!“ rief Kim und eilte hinaus. „Fünfzehn Minuten!“ rief er ihr nach. „Und bleiben Sie auf dieser Seite der Insel.“ Kim hörte Stephen lachen, während sie zum Ufer hinunterging. Ich sollte ihn einfach nicht beachten, sagte sie sich wütend. Kurze Zeit später hatte sie eine kleine sandige Bucht erreicht. Sie sah die Fische im kristallklaren Wasser und watete ihnen hinterher. Später im Haus genoß sie Stephens gemischten Salat und verschiedene Käsesorten mit Vollkornbrot. Kim bekam Fruchtsaft, während Stephen Wein trank. Sie wollte schon protestieren, zog es dann aber klugerweise vor, in würdevollem Schweigen zu verharren. Am Ende erzählt er mir noch, ich sei zu jung, dachte sie wütend. In Stephens Augen blitzte es amüsiert, während er ihren Gesichtsausdruck wechseln sah. Als sie am Ende des Tages zum Camp zurückruderte, fand Kim es gar nicht so übel, mit Stephen zusammenzuarbeiten. Und schon überlegte sie, was sie am folgenden Tag kochen könnte.
5. KAPITEL Kim stellte fest, daß sie sich gut in ihr neues Leben eingefügt hatte: Frühstück mit den Ferienkindern, eine friedliche Bootsfahrt über den See, dann die morgendliche Arbeit mit Stephen und die angenehme Gewohnheit, vor dem Mittagessen im See zu baden. Nach anfänglicher Zurückhaltung gefiel Kim Stephens Gesellschaft beim Schwimmen, wenn er sie nicht gerade wieder einmal neckte. Es war beim erstenmal nicht leicht für sie gewesen, sich ihm im Badeanzug zu präsentieren. In seinem Blick lag etwas, das Kim das Gefühl gab, sie sei nackt, egal, was sie gerade trug. Sie konnte dann ihr brennendes Gesicht nur kühlen, indem sie sich ins kalte Wasser stürzte. Wenn nur Roger bei mir wäre, dachte sie manchmal. Sie hatte ihm geschrieben und von ihren neuen Aufgaben erzählt. Kim hoffte, er würde ihr bald antworten, denn sie wollte Pläne für die Zukunft machen. Trotz allem gefiel es ihr, für Stephen und sich zu kochen, und hin und wieder backte sie sogar einen kleinen Kuchen oder pflückte einen Strauß wildwachsender Blumen für den Küchentisch. Kim stellte erstaunt fest, daß die Arbeit mit Stephen ihr Freude machte. Zwar neckte er sie ständig, aber sie lernte, den Ärger zu verbergen, den seine Bemerkungen manchmal in ihr hervorriefen. Hin und wieder wirkte er sogar enttäuscht, wenn seine spitzen Bemerkungen ins Leere trafen, und er beschuldigte sie dann, sie hätte keinen Humor. „Oh, ich habe Sinn für Humor“, verteidigte sie sich. „Aber vielleicht finde ich es gar nicht so lustig, wenn die Scherze immer auf meine Kosten gehen.“ „Sie müssen lernen, über sich selbst zu lachen“, belehrte er sie. „Warum soll ich über mich selbst lachen, wenn Sie das doch schon für mich erledigen?“ konterte sie. „Sie sind schlagfertig“, bekannte Stephen lächelnd. Obwohl Kim das Arbeiten mit ihm von Mal zu Mal leichter fiel, brachte seine Nähe sie immer wieder durcheinander. Er hatte sich angewöhnt, auf einem Stuhl neben Kim zu sitzen, wobei er all seine Papiere um sich herum auf dem Boden verteilte und sich einen Beistelltisch heranzog, um noch mehr Ablagefläche zu haben. „Sie könnten es sich einfacher machen, wenn Sie an Ihrem Schreibtisch blieben“, machte Kim ihn gleich beim erstenmal aufmerksam. „Schon, aber an einem Schreibtisch kann jeder arbeiten. Wo liegt da der Reiz? Das hier ist wenigstens eine Herausforderung“, erwiderte er gelassen, während er ein bestimmtes Blatt aus dem ungeordneten Stapel zu seinen Füßen zog. „Außerdem ist das, was ich von hier aus sehe, viel schöner.“ „Aber das ist doch albern“, fand Kim und wollte schon zu bedenken geben, daß er von seinem Schreibtisch aus den See sehen könnte, während er von seinem Stuhl neben ihr nur sie im Blickfeld hatte. Sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und ärgerte sich über ihre Dummheit. Er wollte sie wieder nur necken. „Sie machen mich nervös!“ „Ich mache Sie nervös? Wie kommt das nur? Ich muß mich wohl entschuldigen für die Wirkung, die ich auf Ihre Nerven habe. Möchten Sie, daß ich den Raum verlasse? Vielleicht sollte ich Ihnen ein Beruhigungsmittel verschreiben.“ Kim bedauerte sofort ihren Fehler und wechselte das Thema. „Wahrscheinlich habe ich Hunger. Sind Sie nicht heute an der Reihe, das Mittagessen zuzubereiten?“ Stephen erhob sich. „Ja, aber vorher sollten wir schwimmen. Das wird Ihren
angegriffenen Nerven guttun.“ Kim war bereits im Wasser, spritzte herum und fühlte sich wie ein neuer Mensch, als Stephen zum Ufer herunterkam. Er hatte zwei Luftmatratzen bei sich. Kim war begeistert. Unter gemeinsamem Gelächter bliesen sie sie um die Wette auf und jagten dann damit ins Wasser. Kim ließ sich in völliger Zufriedenheit unter der warmen Nachmittagssonne auf dem Wasser treiben. Plötzlich bemerkte sie, daß Stephen auf seiner Matratze fest eingeschlafen war. Leise ließ sie sich ins Wasser gleiten und schwamm zu ihm hinüber. Es dauerte nur eine Minute, den Stöpsel aus Stephens Luftmatratze zu ziehen, ans Ufer zu schwimmen und sich ins Gras zu setzen. Kichernd sah sie zu, wie er langsam sank. Das geschieht ihm recht, dachte sie vergnügt. Kurz bevor er unterging, wachte Stephen auf. Sein verblüffter Gesichtsausdruck ließ Kim in lautes Gelächter ausbrechen. Als er merkte, was geschehen war, lachte er ebenfalls und schwamm ans Ufer. „Es war nur zu Ihrem Besten, Stephen“, rief sie ihm entgegen. „Ich dachte mir, das Wasser wäre gut für Ihre angegriffenen Nerven.“ Sie strahlte vor Freude, doch als Stephen sich der Bucht näherte, stand sie schleunigst auf und wich zurück. „Na, wenn die Wasserkur mir geholfen hat, dann…“, sagte er, konnte den Satz aber nicht zu Ende bringen, da Kim einen ahnungsvollen Schrei ausstieß und davonrannte. Er folgte ihr dicht auf den Fersen, während sie sich lachend in den Wald flüchtete. Sie umsprang Bäume, überwand Felsbrocken und lachte unaufhörlich. Er hatte sie schon fast gepackt, als sie plötzlich über eine Wurzel stolperte und hart auf den Boden schlug. „Kim!“ Stephen kniete sich neben sie, zog sie in seine Arme und untersuchte mit ärztlicher Genauigkeit, ob sie sich keinen größeren Schaden zugezogen hatte. „Es ist alles in Ordnung, meine Kleine“, flüsterte er tröstend. „Es war nur der Schreck. Entspannen Sie sich, gleich wird es Ihnen besser gehen.“ Kim konnte jetzt wieder Atem holen. Sie fühlte Stephens Arme um sich und legte den Kopf zurück. Seine dunkelgrauen Augen waren nur Zentimeter von ihr entfernt. Kim war sich sicher, daß er sie gleich küssen würde. Sie senkte den Blick und erwartete seinen Kuß. Doch der Augenblick verging, und Stephen rührte sich nicht. Plötzlich wurde Kim wütend. Sie stieß Stephen von sich. Er ließ sich auf die Fersen zurücksinken, gab Kim aber nicht frei, sondern zog sie auf sich. „Lassen Sie mich los!“ rief sie und kämpfte gegen ihn an. Mit einer plötzlichen Drehung lag er auf ihr und drückte ihre Hände auf den Boden. Jetzt fühlte sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. „Zwei Dinge sollten Sie sich merken“, sagte er ruhig, während sie sich unter ihm wand. „Erstens, laufen Sie nicht im Wald herum, wenn Sie nicht sehen können, wohin Sie gehen, weil Sie fallen und sich verletzen können.“ Er machte eine Pause. Kim lag jetzt still und erschöpft da. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Die zweite Lektion können Sie sich selbst denken.“ Er ließ sie plötzlich los und stand auf. Kim blieb noch einen Augenblick auf dem Boden liegen und versuchte, sich zusammenzureißen. Erst als Stephen die Hand nach ihr ausstreckte, nahm sie seine Hilfe an und stand auf. „Ihre Knie bluten“, sagte Stephen. „Wir gehen besser ins Haus zurück und reinigen und verbinden die Wunde.“ Verlegen grübelte Kim darüber nach, was wohl die zweite Lektion sein sollte, gab es aber bald auf. Sie folgte Stephen zum Haus und war froh, daß er schwieg. Ihre Beine schmerzten noch vom Sturz, aber ihre Gedanken waren bei der Frage,
warum Stephen sie nicht küssen wollte – nicht, daß sie es sich von ihm gewünscht hätte! Wirklich nicht! „Kommen Sie mit!“ befahl Stephen und marschierte ins Badezimmer. „Warum?“ „Weil sich das Verbandszeug hier befindet und wir Ihre Wunden versorgen müssen. Also hören Sie auf, unnötige Fragen zu stellen.“ Zum erstenmal hörte Kim den Ärger aus seiner Stimme. „Ich kann das schon“, meinte sie kleinlaut. Er wollte ihr eine wütende Antwort geben, hielt sich aber zurück. Statt dessen nahm er ihren Arm, zog sie mit sich ins Badezimmer und drückte sie auf einen Hocker. „Kim, sitzen Sie ruhig. Ich habe nicht viel Übung darin, jungen Mädchen ein aufgeschlagenes Knie zu verbinden.“ Sie lächelte, denn plötzlich war die Spannung verflogen. „Ich glaube, jetzt brauchen Sie ein Beruhigungsmittel.“ „Vielleicht brauchen wir beide eins.“ „Was hätten Sie gemacht, wenn Sie mich gefangen hätten?“ fragte Kim und bereute sofort ihre Frage. „Ich weiß nicht. Es gab mehrere Möglichkeiten. Was meinen Sie wohl?“ Sie ignorierte seine vielsagende Bemerkung und erklärte barsch: „Ich meine, wir sollten etwas essen.“ Er hatte den Verband angelegt, doch seine Hände strichen immer noch an ihren Beinen entlang. Plötzlich fragte er mit heiserer Stimme: „Wollen Sie nicht die verschiedenen Möglichkeiten mit mir erforschen?“ Der Druck seiner Hände verstärkte sich erregend. „Nein, das will ich nicht“, erklärte sie entschlossen, mied aber seinen Blick. Das Essen hielt sich in bescheidenem Rahmen. Es gab nur Suppe und Kräcker, da keiner von ihnen große Lust zum Kochen hatte. Als Kim das Geschirr spülte, trat Stephen zu ihr. „Hören Sie, Kim, ich habe es mit meinem Rat vorhin ernst gemeint. Es ist nicht gut, wenn Sie allein im Wald herumstreifen. Gehen Sie auch auf keinen Fall auf die Nordseite der Insel. Es ist dort drüben sumpfig, und es gibt wirklich nichts Besonderes zu sehen. In Ordnung?“ Kim nickte lächelnd. Insgeheim hatte sie bereits beschlossen, so bald wie möglich einen Spaziergang durch das Sumpfgebiet zu machen. Bestimmt wuchsen dort viele interessante Pflanzen. Stephen mußte ja nichts davon wissen. Auch wenn Stephen und Kim ihre Gewohnheit beibehielten, vor dem Essen zu schwimmen, versuchten sie doch stets, ihre Unterhaltung strikt auf das Geschäftliche zu konzentrieren. Irgendwie vermißte Kim Stephens Neckerei. Andererseits schien er sie jetzt aber ernster zu nehmen und erklärte sogar einige Einzelheiten seiner Forschungsergebnisse. Die Arbeit wurde für Kim immer verständlicher und interessanter. Kim hatte keine Hemmungen mehr, Fragen zu stellen und auf Punkte hinzuweisen, die klarer ausgedrückt werden konnten. Auch wenn er hin und wieder ein wenig ungeduldig wurde, so verstand sie sein Wesen jetzt besser und genoß die Zusammenarbeit mit ihm. Eines Abends nach dem Abendessen schlenderte Mr. Hauser mit Stephen zum Anleger hinunter und fragte den jungen Arzt, wie er mit Kim zurechtkomme. Stephen lächelte. „Sie ist intelligent, aber ein bißchen mehr Selbstvertrauen könnte ihr nicht schaden.“ „Da waren familiäre Probleme, Stephen. Kim hat sehr früh ihre Eltern verloren.“ „Oh, das wußte ich nicht.“
„Ich fühle mich verantwortlich für sie“, sagte Mr. Hauser ernst. Stephen blieb stehen und sah seinem väterlichen Freund in die Augen. „Wilfred, du brauchst keine Angst zu haben, daß ich Kim in irgendeiner Weise ausnützen werde. Ich versichere dir, daß alles vollkommen harmlos ist. Außerdem“, fügte er mit einem traurigen Lächeln hinzu, „kann sie mich nicht ausstehen.“ Inzwischen hatte auch Mrs. Hauser die Gelegenheit genutzt, mit Kim allein zu sein und sie über das gleiche Thema zu befragen. „Kim, verstehen Sie sich mit Stephen?“ Kim wußte, daß die Hausers Stephen mochten, und sie war deswegen vorsichtig mit ihrer Antwort. „O ja, es ist alles in Ordnung. Sein Buch ist sehr interessant, und ich glaube, ich habe schon eine Menge gelernt. Er arbeitet sehr sorgfältig.“ „Wir sind sehr stolz auf Stephen. Er ist uns wie ein Sohn. Aber wir wissen natürlich, daß wir Sie ein wenig gedrängt haben, für Muriel einzuspringen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, mit ihm auf der Insel zu arbeiten.“ „Nein, es macht mir nichts aus. Es ist wunderschön, morgens hinüberzurudern, wenn der See noch friedlich und still ist. Und die Insel ist herrlich.“ Kims offensichtliche Unschuld veranlaßte Mrs. Hauser, deutlicher zu werden. „Kim, mein Mann und ich machen uns ein wenig Sorgen, weil wir Sie praktisch genötigt haben, Ihre Tage auf der Insel mit einem Mann zu verbringen, den Sie kaum kennen. Wir wissen, daß Stephen ein Gentleman ist, aber wir hoffen trotzdem, daß Ihnen die Situation nicht unangenehm ist und alles seine Ordnung hat.“ Plötzlich ging Kim ein Licht auf, und sie mußte laut herauslachen. „Sie glauben, ich könnte mich in ihn verlieben? Ich? Ach, Mrs. Hauser, das ist zu komisch! Ich habe bereits einen Freund, und ich bin an Stephen Anderson wirklich nicht interessiert.“ Kim begann über Roger zu sprechen, seine Talente und Vorzüge zu preisen und von ihren gemeinsamen Zukunftsplänen in Kalifornien zu erzählen. „Das ist ja alles sehr schön, aber wann hören Sie denn etwas von ihm?“ fragte Mrs. Hauser, die wußte, daß Kim noch keinen Anruf bekommen und nur eine Postkarte von ihrer Cousine Annie erhalten hatte. Kim erklärte ausweichend, daß Roger und sie nicht ständig in Kontakt miteinander stehen müßten. „Wir verstehen uns auch so.“ „Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?“ fragte Mrs. Hauser. Kim begann erneut ihre Vereinbarung mit Roger zu erklären und die Schwierigkeiten, in einem solchen Beruf sattelfest zu werden. „Hat er Ihnen einen Verlobungsring gegeben?“ Errötend schüttelte Kim den Kopf und gab zu bedenken, wie sorgfältig Roger mit dem Geld haushalten müßte, da sein Einkommen so unsicher sei. „Ich weiß, es klingt eigenartig, aber es ist immer schwierig, die Beziehungen anderer Leute zu verstehen“, fügte Kim mit Unbehagen hinzu. „Das stimmt, Kim. Manchmal ist es schwer, andere Leute zu verstehen.“ Kim konnte jetzt endlich das Thema wechseln, und Mrs. Hauser vergaß ihre Bedenken mit Stephen und begann, sich statt dessen um Kim und Roger ernstlich zu sorgen. Am folgenden Tag konnte Stephen sich kaum konzentrieren. Auch Kim fühlte sich nach ihrem Gespräch mit Mrs. Hauser nicht wohl, da sie fürchtete, zuviel von sich preisgegeben zu haben. Die Leute scheinen Roger nie zu verstehen, dachte sie. Vielleicht sollte ich besser meinen Mund halten. Sie tippte die Seite zu Ende und wartete auf das nächste Kapitel. „Kim, ich komme heute morgen nicht weiter. Gehen Sie doch an die Bucht und lassen mich allein weiterarbeiten. Vielleicht schaffe ich es dann leichter. Ich rufe
Sie, wenn das Essen fertig ist, ja?“ Sie war ein wenig verletzt, erinnerte sich aber an ihren Plan, den sumpfigen Norden zu besichtigen. Nach einem Blick auf die Uhr rechnete sie aus, daß sie eine Stunde Zeit hatte. Sie packte ihre Tasche, in der sich ein Pflanzenbestimmungsbuch, ein Kamm und ihre Sonnenbrille befanden, und verließ mit soviel Eifer die Hütte, daß Stephen völlig überrascht war. Er brauchte zwanzig Minuten, bis ihm auffiel, daß sie ihren Badeanzug nicht angezogen hatte. Kim spazierte zuerst zur Bucht hinunter. Stephen konnte sie zwar vom Haus aus nicht sehen, doch sie wählte diesen Weg für den Fall, daß er auf die Veranda trat. Außerdem konnte sie dann später wahrheitsgetreu sagen, daß sie schnurstracks zur Bucht hinuntergegangen sei. Auf die Nordseite hinüberzugelangen war schwieriger, als Kim erwartet hatte. Der Pfad war überwuchert und manchmal nicht mehr auszumachen. Zweige schlugen ihr gegen die nackten Arme und Beine, und Insekten summten um ihre Ohren. Mit einem erstickten Schrei schüttelte sie eine große gelbgetupfte Spinne vom Arm. Es war ungewöhnlich heiß und still, und Kim bekam langsam das Gefühl, als sei sie in einen Dschungel eingedrungen. Sie dachte für einen Augenblick daran, umzukehren, doch ihr Eigensinn setzte sich durch. Kurz darauf entdeckte sie ein paar blaßrosa Blumen, schlug in ihrem Botanikführer nach und hatte bald alles andere vergessen. Der Boden wurde immer feuchter und weicher, die Insektenschwärme wurden dichter, doch auch die Pflanzen wurden mit jedem Schritt interessanter. Wenn Roger viel Geld verdiente, wollte sie sich als Botanikassistentin ausbilden lassen. Kim begann nun, mit den Füßen einzusinken, und manchmal verlor sie fast die Sandalen im Morast. Stephen hatte eigentlich recht gehabt mit der Unzulänglichkeit dieser Inselseite, aber er konnte ihre wissenschaftliche Neugierde wohl nicht begreifen. Vielleicht schreibe ich eines Tages ein Buch über meine botanischen Entdeckungen und lasse es von Stephen abschreiben, dachte sie und lachte laut auf. Sie gelangte auf eine kleine Lichtung, die die Sonne in intensivem Grün aufleuchten ließ. Ungefähr vier Meter entfernt entdeckte sie eine kleine grünlich weiße Blume an einer Ranke, und sie eilte nach vorn, um sich zum erstenmal den Mondsamen in Natur anzusehen. Plötzlich sank ihr rechtes Bein bis zum Knie ein, und Kim verlor das Gleichgewicht. Sie versuchte verzweifelt, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen, jetzt blieb auch das linke Bein im Schlamm stecken. Je mehr sie kämpfte, desto schneller schien sie zu sinken. Entsetzt schaute Kim sich um. Wenn es nur irgend etwas gäbe, woran sie sich festhalten und herausziehen könnte! Sie entdeckte eine Ranke, versuchte danach zu greifen und sackte durch die Gewichtsverlagerung nur noch tiefer in den Schlamm. Sie war jetzt bis zu den Schenkeln eingegraben und stellte sich zum erstenmal einen Tod im Moor vor. Sie sah sich schon Zentimeter um Zentimeter tiefer sinken, bis sie darum kämpfen würde, mit dem Mund über dem Schlamm zu bleiben. Schließlich würde sie langsam ganz darin versinken. Kim begann, um sich zu schlagen, sie stöhnte leise auf, dann erstarrte sie förmlich. Keinen Meter von ihr entfernt lag eine Schlange. Sie mußte schon die ganze Zeit über dort gelegen haben, nur hatte Kim sie aufgrund ihrer tarnenden Farbe nicht bemerkt. Das Entsetzen packte Kim, und sie schrie wie eine Wahnsinnige. Ihr verzweifelter Kampf drückte sie nur noch tiefer, während die Schlange sie bewegungslos anstarrte. Der Schlamm war bereits über ihre Arme und ihr Gesicht gespritzt, Kim spürte eine Ohnmacht nahen, da hörte sie ganz schwach Stephens Rufe. „Hier! Stephen! Schnell!“ kreischte sie wie von Sinnen. Stephen war hinter ihr
auf die Lichtung getreten. Kim zeigte mit zitterndem Finger auf die Schlange.
„Beruhige dich, meine Kleine, ich bin ja hier. Es ist gleich alles in Ordnung.“ Er
näherte sich langsam und vorsichtig. Kim wußte, daß er sie retten würde. „Du
bringst dich aber auch immer wieder in die eigenartigsten Situationen.“
Er stand seitlich von ihr, packte mit der linken Hand einen Baumzweig, prüfte
seine Festigkeit und streckte die richte Hand aus.
„Kümmere dich nicht um die Schlange“, beruhigte er sie. „Sie tut dir nichts. Sie
hat wahrscheinlich gerade gefressen und ist jetzt sehr träge.“
Kim streckte sich verzweifelt, bis sie Stephens Finger und dann die ganze Hand
fühlte. Die Saugkraft des Schlamms war stärker als beide erwartet hatten, so daß
Kim das Gefühl hatte, sie würde entzweigerissen werden. Sie sah, wie sich die
Muskeln an Stephens Arm wölbten und wie sich kleine Schweißtropfen auf seiner
Stirn bildeten.
So unvermittelt gab der Schlamm Kim frei, daß Stephen nach hinten flog und
Kim zu seinen Füßen auf dem Boden lag, mit Schlamm bedeckt und schluchzend
vor Angst. Bevor Stephen noch aufstehen konnte, war sie nach vorn gekrochen,
hatte ihre Arme um seinen Nacken geschlungen und sich verzweifelt an Stephen
geklammert.
Stephen schaffte es, sich aufzusetzen und Kim auf seinen Schoß zu ziehen.
Während sie schluchzte, murmelte er tröstende Worte in ihr Ohr, strich ihr über
das Haar und drückte sie an sich.
„Laß uns von hier verschwinden, Kleines“, sagte er und nahm sie auf den Arm. Er
trug sie aus dem Wald und zur Bucht hinunter, und erst hier konnte Kim sich ein
wenig beruhigen. Sie war immer noch nicht in der Lage, zu stehen, deswegen
setzten sie sich auf den Sand.
„O Stephen, ich glaubte, sterben zu müssen“, schluchzte sie.
„Du wärst nicht gestorben. Der Schlamm ist nicht so tief.“ Er zog sie in seine
Arme. „Du siehst vielleicht aus!“
„Ich habe dich ganz mit Schlamm beschmiert“, sagte sie und lachte nervös.
Wieder drückte er sie an sich, und sie schwiegen eine Weile. Kim hatte aufgehört
zu weinen, in Stephens Armen fühlte sie sich geborgen.
„Was hast du überhaupt dort drüben gemacht?“ fragte er leise.
Plötzlich merkte Kim, daß sie aus ihren Schwierigkeiten noch nicht heraus war,
und sie suchte krampfhaft nach einer vernünftigen Erklärung.
Er löste ihre Arme von seinem Hals und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
„Ich… ich habe nach wildwachsenden Blumen gesucht.“
„Aber ich habe dich doch gewarnt!“
„Stephen, es tut mir leid. Du hast gesagt, da drüben sei es morastig, aber du hat
nichts von Moorlöchern gesagt.“
„Genügt es dir nicht, wenn ich dir sagte, daß du nicht hinübergehen sollst?“
„Ich muß dir nicht gehorchen! Ich bin kein Kind mehr, Stephen!“ rief sie bockig.
Stephen stand auf und zog Kim mit sich hoch. „Du solltest inzwischen wissen,
daß ich keine kindischen Spielchen treibe, und wenn ich dir gesagt habe, daß du
nicht allein dorthin gehen sollst, dann hatte ich einen guten Grund. Warum hast
du mich nicht gebeten, mit dir zu kommen?“
„Ich habe nicht daran gedacht.“
„Du hast Glück gehabt, daß du nicht ohnmächtig geworden bist, bevor ich dort
war. Du hättest ersticken können! Kim, du hast mir einen wahnsinnigen
Schrecken eingejagt.“
Kim war die Kehle so zugeschnürt, daß sie nur noch stumm nicken konnte.
„So“, sagte er, „und da ich keinen Schlamm in meinem ganzen Haus haben
möchte, ziehst du jetzt bitte deine Kleider aus und wäschst sie im See aus.“
Verwirrt blickte sie zu ihm auf, während er sein Hemd auszog. „Das kannst du gleich mitwaschen. Außerdem hast du Schlamm im Haar. Ich werde ins Haus gehen und dir etwas zum Anziehen heraussuchen, bis deine eigenen Sachen trocken sind.“ Ohne sich nach ihr umzudrehen, verschwand er im Haus. Zögernd stand Kim einen Augenblick da. Sie dachte kurz daran, zum Boot zu laufen und damit zum Camp zu flüchten, doch sie wußte sofort, daß Stephen sie einholen würde. Seufzend zog sie sich aus und schwamm in den See hinaus. Ein paar Minuten später kehrte Stephen zurück und hinterließ ihr einen trockenen Badeanzug und eines seiner blauen Arbeitshemden. Eine Weile später waren die nassen Kleider auf der Veranda zum Trocknen aufgehängt, und Kim aß hungrig das belegte Brot, das Stephen ihr zubereitet hatte. Sie erledigten noch eine ganze Menge Arbeit an diesem Nachmittag, und als Kim am Abend ins Lager zurückkehrte, fühlte sie sich beschwingter und friedlicher, als sie es je für möglich gehalten hätte.
6. KAPITEL Kim konnte kaum glauben, daß die Hälfte des Sommers schon fast vorüber war, doch das Elternwochenende näherte sich rasch. Geschäftig bereitete Mrs. Hauser die Übernachtungsmöglichkeiten für acht Personen vor. Die anderen Eltern kamen nur für einen Tag und wollten nach der Party am Sonnabend wieder abfahren. Mehrere Tage lang drehten sich sämtliche Gespräche bei Tisch nur um die Vorbereitungen für dieses Wochenende. Stephen ärgerte fast jeden mit seinem Argument, daß das alles nur eine Zeitverschwendung sei. Die Kinder würden nach der erneuten Trennung von den Eltern nur unglücklich sein oder aber Angst haben, daß sie schon nach Hause fahren müßten. Die folgende Woche würde man nur damit verbringen müssen, die Kinder wieder zu beruhigen. „Aber den Eltern gefällt es, und manchen fällt es schwer, drei Monate lang ihre Kinder nicht zu sehen“, gab Mr. Hauser zu bedenken. „Es sind schließlich die Eltern, die zahlen“, fügte Mrs. Hauser hinzu. „Wir müssen auch ihre Wünsche berücksichtigen. Sie ein Wochenende bei uns zu haben, ist das mindeste, was wir tun können.“ Später erkundigte Kim sich bei Mrs. Hauser nach Josef. „Ich habe ihn nicht mehr oft zu Gesicht bekommen, seit ich drüben auf der Insel arbeite. Geht es ihm gut? Hat er nun gelernt zu schwimmen?“ „Wir wollten nicht, daß Sie sich Sorgen machen, aber anfangs war er sehr unglücklich. Er hatte sich so sehr an Sie gehängt, daß er seine Betreuer kaum kannte, daher war es ein bißchen schwierig für ihn, sich umzustellen. Aber jetzt scheint er recht glücklich zu sein.“ „Dann war ich ihm gar keine Hilfe, nicht wahr?“ „Ach, Kim, Sie haben es gut gemeint, und in solchen Situationen ist es manchmal schwer zu sagen, was richtig ist.“ „Stephen sagte, ich würde Josef keinen Gefallen tun, wenn ich ständig mit ihm zusammen wäre“, gab Kim zu. „Stephen ist trotz seiner Scherze ein weiser Mann. Ich habe seinen Rat immer sehr vernünftig gefunden.“ „Was Kinder wie Josef anbelangt?“ Mrs. Hauser lachte. „Nein, alles andere auch. Wenn er einen Rat gibt, dann nur, weil er weiß, wovon er spricht. Jedesmal, wenn ich nicht auf Stephen gehört habe, habe ich das gewöhnlich hinterher bereut.“ Kim erinnerte sich an seinen Rat wegen der Nordseite der Insel und an ihre Reue, weil sie nicht auf Stephen gehört hatte. Bei dieser Erinnerung errötete sie prompt. Mrs. Hauser deutete dieses Erröten falsch. „Haben Sie schon mit Stephen über Ihren Freund gesprochen?“ Kim war erstaunt. „Nein, noch nicht.“ „Sie sollten aber mit ihm darüber sprechen.“ „Aber warum denn?“ Kim erhob sich, um Wasser für den Tee aufzusetzen. „Ich will mich da ja nicht einmischen, aber Sie müssen zugeben, daß die Situation ein wenig ungewöhnlich ist.“ „Vielleicht ist sie ungewöhnlich, aber Stephen Anderson ist der letzte Mensch auf der Welt, mit dem ich über Roger sprechen möchte.“ „Warum sagen Sie das?“ Kim wußte selbst nicht genau, warum sie das gesagt hatte, aber sie glaubte nun mal daran. „Stephen ist immer so – so selbstsicher. Er würde mich sicher nicht verstehen, und er würde mich deswegen auf den Arm nehmen. Außerdem will ich
eben nicht mit ihm darüber reden. Das sind meine Angelegenheiten. Ich meine jetzt nicht…“ Kim war verwirrt. Hastig fuhr sie fort: „Es ist ja alles in Ordnung mit meiner Beziehung zu Roger. Er hat großen Respekt vor mir und ist noch nie zudringlich geworden.“ Mrs. Hauser meinte nachdenklich: „Wissen Sie, als ich ein junges Mädchen war, kamen viele nette junge Männer in unser Haus. Sie waren auch sehr höflich und anständig. Aber ich habe mich nach einem Helden gesehnt, nach jemandem, der romantisch und aufregend war. Für die meisten Mädchen ist Respekt weder romantisch noch aufregend.“ Unangenehme Stille herrschte. Dann fragte Mrs. Hauser endlich: „Kommen Sie mit Stephen zurecht?“ „Wir arbeiten gut zusammen“, antwortete Kim ausweichend. „Mögen Sie ihn denn nicht, Kim?“ „Ich kann Menschen nicht ausstehen, die so eingebildet sind. Aber wir arbeiten gut zusammen, und ich weiß, daß er auf seinem Gebiet sehr in Ordnung ist. Es gibt also keinen Grund, weshalb ich ihn nicht mögen sollte. Er mißfällt mir nicht. Eigentlich ist es mir egal. Ich muß eben mit ihm arbeiten, wie ich mit einer Schreibmaschine arbeiten muß.“ Kim war zufrieden mit der Darstellung ihrer Beziehung zu Stephen und beschloß, an den jungen Arzt nicht anders als an ihre Schreibmaschine zu denken. Kim dachte während der folgenden Tage oft an diese Unterhaltung zurück. Zum erstenmal überlegte sie, warum Roger nie versucht hatte, mit ihr zu schlafen. Sie überlegte auch, warum ihr das nie vorher aufgefallen war. War sie vielleicht gefühllos? Aber Respekt war doch wichtig für eine Beziehung. Wenn die meisten Frauen sich nach einem romantischen Helden sehnten, der sie entführen sollte, dann war sie eben nicht wie die meisten Frauen. Sie stellte sich vor, wie Roger sie auf seinen Sattel hob und mit ihr zu seinem Schloß ritt, doch der Gedanke daran löste bei ihr nur ein Kichern aus. Einen Abend, bevor die Gäste eintreffen sollten, ging Kim etwas früher schlafen und glitt sofort in einen Traum hinein: Sie lag mit Roger in einem Bett, und er flüsterte ihr Worte der Liebe zu. Sie rückte ein wenig zur Seite, um ihm in ihrem Bett mehr Platz zu lassen, und schloß die Augen, während er zärtlich ihre Lippen küßte. Seine Hand glitt hinter ihren Rücken und drückte sie an sich, die andere legte sich auf ihren Busen. Kim fühlte, wie sein Herz klopfte. Sie stöhnte vor Erregung, strich mit den Händen über seinen muskulösen Rücken und durch sein dunkles Haar. Er beugte sich über ihre Brüste, und Kim drängte sich ihm entgegen. Geschwind zog er ihr das Nachthemd über den Kopf, und dabei rieb sie ihr Gesicht an seiner behaarten Brust. Kim fühlte, wie eine Hitzewelle sie vom Scheitel bis zur Sohle erfaßte, und sie hörte ihn flüstern: „Meine Kleine… mein Liebling…“ Kim fuhr hoch und schaltete das Licht an. Roger war blond, und seine Brust nicht behaart! Von wem hatte sie also geträumt? Als sie dann merkte, daß Stephen durch ihre Phantasien gewandert war, sprang sie entsetzt aus dem Bett, marschierte auf die Veranda hinaus und setzte sich auf einen Schaukelstuhl. Es dauerte lange, bis Kim in jener Nacht wieder einschlafen konnte. Am folgenden Tag trafen die Eltern der Ferienkinder ein. Kim war erstaunt, daß Steve Belös, Josefs Vater, noch jung und recht attraktiv war. Er und sein Sohn setzten sich zum Essen neben sie, und so erfuhr Kim, daß Steve von seiner Frau geschieden war und er das Sorgerecht für Josef übertragen bekommen hatte. Da Steve geschäftlich viel unterwegs war, blieb Josef häufig bei seiner Großmutter und Tante zurück.
Am Nachmittag brauchte Mrs. Hauser Kims Hilfe nicht mehr, so konnte Kim zur
Insel hinüberrudern, um ihre Arbeit dort zu erledigen. Sie ahnte, daß sie sich
vielleicht ein bißchen sonderbar verhalten würde, aber sie ärgerte sich noch
immer über Stephen und sich selbst. Ihr Traum war so lebendig gewesen, daß
sie fast geglaubt hatte, Stephen sei in der vergangenen Nacht heimlich in ihr
Zimmer geschlichen. Sie war bei der Arbeit unkonzentriert und gereizt.
Schließlich hatte Stephen genug. „Na schön, Kim, wir wollen darüber sprechen.
Was ist los?“
„Nichts.“
„Ärgerst du dich über etwas?“
„Nein.“
„Schalte die Schreibmaschine aus! Ich glaube nicht, daß wir heute noch etwas
zustande bringen werden.“
Blitzartig begann Kim, den Schreibtisch aufzuräumen.
„Ich habe nicht gesagt, daß du gehen sollst.“
„Was willst du dann?“ fragte sie verärgert.
„Ich will, daß du mir sagst, was los ist.“
„Nichts!“
„Kim, bist du mir wegen irgend etwas böse?“
Sie seufzte. „Das ist es nicht.“
„Ah, dann ist also doch etwas. Hast du schlechte Nachrichten von zu Hause?“
„Nein.“
„Hast du überhaupt Nachrichten von zu Hause?“
„Stephen, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur nicht in bester Verfassung.“
„Das brauchst du mir nicht erst zu sagen. Ich möchte nur wissen, warum?“
„Was geht es dich an?“ fauchte sie gereizt zurück.
Plötzlich lachte Stephen. „Du hast recht. Was geht es mich an, wenn du den
ganzen Nachmittag über ein Gesicht ziehst und mir den Kopf abreißen könntest?
Was geht es mich an, ob dich etwas bekümmert? Geh und nimm deine schlechte
Laune mit.“
Kim stürmte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Josefund sein Vater saßen auf dem Anleger und warfen Steinchen ins Wasser, als
Kim mit dem Boot ankam. Sie wurde mit einer solchen Begeisterung empfangen,
daß sie sofort ihre schlechte Laune vergaß. Steve war von mittlerer Größe, er
hatte gewelltes blondes Haar, seine Augen waren hellblau. Die guten Manieren
und sein beschwingter Charme erinnerten Kim ein wenig an Roger. Steve war
nach Stephens erdrückender Männlichkeit eine angenehme Abwechslung.
Voll Interesse erfuhr sie, daß Steve dieselbe Universität besucht hatte wie
Stephen, obwohl sie verschiedene Seminare besucht hatten. Am Abend zuvor
hatten die beiden sich wie alte, aber nicht sehr vertraute Freunde begrüßt.
Der Sonntag wurde recht turbulent. Man veranstaltete mit den Kindern Spiele
und Wettrennen. Nachdem Kim Mr. Hauser geholfen hatte, Lampions an den
Bäumen zu befestigen, entspannte sie sich bei einem Glas Eistee, als Steve zu ihr
kam.
„Kim, wir wollen uns ein paar Minuten zurückziehen. Josef schläft gerade, er wird
mich nicht vermissen. Lassen Sie uns einen Spaziergang machen.“
Kim war sofort damit einverstanden und lachte wie eine Verschwörerin, als sie in
den Wald liefen und so taten, als seien sie auf der Flucht und würden jeden
Augenblick eingeholt. Kim mochte Steve und seine angenehme Plauderei immer
mehr. Sie führte ihn zu dem kleinen Wasserfall, den sie entdeckt hatte. Hier
setzten sie sich friedlich zusammen und erholten sich vom Laufen.
„Das erinnert mich an die Sommermonate, als ich noch ein Junge war“, sagte er.
„Haben Sie jemals nackt gebadet, als Sie klein waren?“
„Nein, aber vor ein paar Wochen habe ich hier nackt gebadet. Unglücklicherweise
wurde ich von einem lärmenden Vogel erschreckt und bin nicht mehr
hergekommen.“
Mit plötzlicher Begeisterung schaute er sie an. „Wie wäre es jetzt mit einem
Bad?“
Kim sah ihn überrascht an. Das ging ihr ein bißchen schnell.
„Niemand wird es erfahren. Das wird ein Spaß.“ Steve begann, Schuhe und
Socken auszuziehen.
„Nein, Steve, ich möchte nicht“, erklärte sie entsetzt. Sie hatte sich noch nie vor
einem Mann ausgezogen und hatte nicht die geringste Lust, es jetzt zu tun.
„Ach, kommen Sie schon! Sie sind doch nicht prüde, oder?“
„Natürlich nicht!“ beteuerte sie. „Aber ich will nicht.“
Nach ein paar weiteren Überredungsversuchen erkannte er deren Erfolglosigkeit.
„Wir können ja wenigstens die Füße ins Wasser hängen lassen“, schlug er vor,
und sie setzten sich schweigend an das grasbewachsene Ufer des kleinen Sees.
Kim war erleichtert, daß Steve seine eigenartige Idee fallengelassen hatte.
Nach kurzem Schweigen sagte Kim: „Es ist schön hier, nicht wahr? Alles
erscheint noch so sauber und rein.“
„Das klingt wie eine Beschreibung von Ihnen. Rein und sauber.“
Kim mußte lachen.
„Sie sind eine reine Freude!“ erklärte Steve lachend und küßte sie auf die
Schläfe.
„Schauen Sie!“ rief Kim hastig und war dankbar für die Ablenkung. „Kolibris!“
Zwei farbenprächtige Vögel hatten sich auf der Lichtung niedergelassen.
„Vögel machen mich nervös, besonders am frühen Morgen, wenn ich noch
schlafen möchte“, erklärte Steve ungerührt. Kim konnte das nicht verstehen. In
heftiges Argumentieren verwickelt, gingen sie wieder zurück zum Camp, wo eine
Gruppe von Kindern Stephen umringte, der gerade ein hitzig gekämpftes
Wettrennen beurteilte.
Stephen war aber nicht so beschäftigt, daß er die beiden nicht aus dem Wald
hätte kommen sehen. Der Anblick mißfiel ihm ganz offensichtlich.
In ihrer Hütte fand Kim ein großes Kuvert mit einem kalifornischen Absender vor.
Roger hatte ihr geschrieben! Aufgeregt öffnete sie den Umschlag. Es waren vier
große Hochglanzfotografien von Roger darin, aber kein Brief. Auf jedes Foto war
ein Stempel gedrückt: „Herzliche Grüße, Roger.“ Die Autogramme waren noch
nicht einmal mit der Hand geschrieben. Kim drehte jedes Foto um, bis sie auf
einer Rückseite die gekritzelte Notiz fand:
Liebe Kim, sicher freust Du Dich über meine neuesten Aufnahmen. Ich hoffe, Du genießt den Sommer. Grüße, Roger. Für einen Augenblick erfaßte sie eine Welle der Enttäuschung, sie war sehr verletzt. Kim widerstand jedoch dem Drang, die Fotos in kleine Stücke zu reißen. Statt dessen sagte sie sich, daß Roger immerhin an sie gedacht hatte. Sie entnahm dem Bilderrahmen auf ihrem Nachttisch das letzte Foto von Roger und ersetzte es durch eine der neuen Aufnahmen, auf der seine Gesichtszüge besonders zur Geltung kamen. Strahlend hatte er in die Kamera gesehen. Die anderen Bilder steckte sie sorgfältig ins Kuvert zurück und legte es in eine Schublade. Die Hausers hatten ein abwechslungsreiches Abendessen im Freien geplant, und Kim verbrachte den Rest des Nachmittags damit, bei den Vorbereitungen zu
helfen. Um sieben Uhr stand eine Bar im Hof, auf einem anderen Tisch hatte man Gemüse, Soßen, verschiedene Salate und Brote angerichtet. Mr. Hauser grillte frischen Fisch und Kartoffeln. Einige der Mütter hatten Kuchen und Plätzchen mitgebracht, und außerdem gab es noch Käse und Obst. Als Kim sich dann endlich zum Umziehen zurückzog, trafen bereits die ersten Gäste ein. Gern wäre Kim noch länger unter der Dusche geblieben und hätte sich in aller Ruhe angezogen, doch sie hörte bereits Gelächter und Gläser klingen. Sie fönte sich das Haar in weiche Wellen, verrieb duftende Lotion über ihren Körper und tupfte Parfüm hinter die Ohren und auf den Nacken. Das weiße Kleid, das Kim für diese Party mitgebracht hatte, war aus leichtem Baumwollstoff gefertigt, tief ausgeschnitten, in der Taille gerafft und hatte einen weiten Rock. Kim wußte, daß die Farbe einen hübschen Kontrast zu ihrer Bräune ergab und der schwingende Rock ihre Taille unterstrich. Bevor sie eine dünne goldene Kette mit einer einzelnen Perle daran um den Hals befestigte, schminkte sie sich dezent und eilte dann in den Hof, um sich der Party anzuschließen. Mr. und Mrs. Hauser waren von Kims Erscheinung entzückt und machten sie mit den zuletzt eingetroffenen Gästen bekannt. Bei Gin mit Tonic unterhielt Kim sich mit den Eltern, als Stephen in einem hellbraunen Sommeranzug eintraf. Diesmal mußte Kim zugeben, daß seine männliche Erscheinung, seine Gesichtszüge und die lässige Grazie seiner Bewegungen eine große Faszination auf sie ausübten. Wenn einem so ein Typ gefällt, dachte sie… Amüsiert stellte sie fest, wie schnell sich die Damen ihm zuwandten. Steve erschien ein paar Minuten später in einem weißen Anzug und erinnerte Kim unwillkürlich an einen Eisverkäufer. Doch sie wies sich sofort zurecht. Steve kleidete sich vielleicht nicht so geschmackvoll wie Stephen, dafür hatte er wahrscheinlich bessere Manieren. Als Steve sie sah, winkte er ihr lächelnd zu, kam aber nicht zu ihr herüber, was sie ein wenig enttäuschte. Das Abendessen wurde eröffnet, doch Kim war zu aufgeregt, um sonderlich viel zu sich zu nehmen, dafür trank sie einen weiteren Cocktail. Sie war überrascht, daß sie sich so vergnügte. Selbst der Anblick von Stephen, der mit seiner Aufmerksamkeit für eine Blondine einen Narren aus sich machte, konnte ihre Freude nicht trüben. Alle schienen sich gut zu unterhalten. Und als der Mond über dem See aufstieg, schaltete jemand einen Kassettenrekorder ein, und man begann zu tanzen. Kim amüsierte sich mit Steve und ließ sich zu einem weiteren Drink überreden. Doch allmählich wurde sie von einem leichten Schwindel erfaßt und bat Steve, ihr ein Glas Wasser zu holen. „Du solltest aufhören zu trinken, Kleines. Du bist es nicht gewöhnt.“ Stephen stand plötzlich vor ihr. „Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe“, wies sie ihn leise zurecht. „Das hier ist nicht dein kleines InselKönigreich. Geh doch zu deinem blonden Gift zurück!“ Aus irgendeinem Grund schien Kim das Wort „Gift“ besonders gut zu gefallen, denn sie kicherte, schlang die Arme um Stephens Nacken und fügte hinzu: „Ist das nicht eine herrliche Party?“ „Du solltest lieber zu Bett gehen“, meinte er belustigt. „O nein, noch lange nicht“, protestierte Kim, denn Steve kam zurück und reichte ihr das gewünschte Glas Wasser. „Ich fühle mich jetzt besser. Außerdem wird Steve auf mich aufpassen.“ Steve legte den Arm um Kim. „Stimmt, Stephen. Ich kümmere mich um sie.“ Stephen zuckte ärgerlich mit den Schultern und ging fort. „Ich glaube, Sie brauchen frische Luft“, meinte Steve besorgt. „Wir sollten einen
Spaziergang zum See machen.“ Kim überlegte, ob ihr die Luft am See guttun würde, aber sie wollte sich nicht streiten. Ihre Knie waren ein bißchen weich, so daß sie über Steves Stütze froh war. Doch allmählich schien ihr Verstand wieder zu arbeiten, und sie merkte, daß sie viel weiter gegangen waren, als nötig gewesen wäre. Endlich setzten sie sich auf eine Bank, von der aus man den See überblicken konnte. Steve rückte ganz dicht neben Kim und legte den Arm um sie. Seine leicht feuchten Finger auf ihrer nackten Haut irritierten sie plötzlich, und sie versuchte vergeblich, die Hand zu entfernen. „Kim, du bist so süß“, flüsterte er, legte den anderen Arm um ihre Taille und versuchte sie zu küssen, Kim stieß ihn weg und drehte das Gesicht zur Seite, doch er preßte sie hart an sich. Er war stärker, als er aussah. „Steve, hören Sie auf, lassen Sie mich los!“ protestierte sie, aber er kümmerte sich nicht darum. Er küßte sie, versuchte ihre Lippen zu erreichen und verlagerte sein ganzes Gewicht auf sie, so daß Kim rücklings auf die Bank gezwungen wurde. „Du bist so süß“, wiederholte er, drückte das Gesicht in ihren Ausschnitt und schob eine Hand unter ihren Rock. Kim griff in seine Haare und versuchte, seinen Kopf zurückzuziehen. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Kein Mensch würde sie hören, wenn sie schrie, Steves Hand glitt an ihrem Schenkel hoch, er keuchte. „Störe ich etwa?“ Stephen stand hinter ihrer Bank und ließ die beiden hochfahren. Kim sprang auf und stellte sich schutzsuchend neben ihn. Steve hingegen erhob sich zögernd und fluchte leise. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser“, knurrte er und zog eine Grimasse. „Gott sein Dank!“ stöhnte Kim mit zitternder Stimme, während Steve zur Party zurückeilte. „Ich wollte keine Szene machen.“ „Ist alles in Ordnung?“ Stephen schaute sie forschend an, als sie nickte. „Ich bringe dich jetzt zu deiner Hütte, oder möchtest du noch zur Party.“ Kim lachte nervös. „Ich habe jetzt genug von der Party. Dieser Steve ist ja entsetzlich.“ „Er wird sich morgen früh sicher recht dumm vorkommen.“ ‘‘Stephen zögerte. „Laß es dir nicht so nahegehen. Männer benehmen sich manchmal so, wenn sie getrunken haben.“ „Frauen auch, glaube ich.“ Langsam bummelten sie das mondbeschienene Ufer entlang. „Ich bin froh, daß er morgen abreist.“ „Wirklich? Das ist gut.“ Stephen begriff nicht, weshalb er so erleichtert war. „Weißt du, ich wollte es dir schon vorher sagen, aber irgendwie bin ich nicht dazu gekommen. Du siehst heute abend sehr schön aus.“ Die Freude, die Kim bei diesem überraschenden Geständnis empfand, war fast körperlich. Es tat ihr beinah leid, daß sie so schnell ihre Hütte erreicht hatten. Kim drehte sich um und blickte Stephen in die Augen. Nach kurzem Zögern beugte Stephen sich vor und küßte sie ganz sanft auf die Lippen. Es war, als ob diese Berührung einen Funken entfacht hätte, der schon seit Wochen glomm. Plötzlich schlang Kim die Arme um Stephen. Er preßte sie gegen seine Brust, während er sie mit heißer Leidenschaft küßte. Kim konnte jede Bewegung seines Körpers fühlen, seine Hände, die sanft über ihren Rücken strichen, und sie stöhnte sehnsüchtig. Ihre Lippen trennten sich, und Stephen zog sie für einen Augenblick noch fester an sich. Kim drückte das Gesicht an seine Brust und atmete seinen
verführerischen männlichen Duft ein. Zärtlich nahm er ihre Hände in die seinen und küßte ihre Finger. „Gute Nacht, Kleines“, flüsterte er und war auch schon verschwunden. Kim verstand das nicht. Sie wartete noch ein paar Minuten darauf, daß er zurückkam, aber er kam nicht. Ihr war schwindelig und heiß, sie fühlte sich plötzlich verlassen. Auch die Lippen schmerzten noch von der Heftigkeit seiner Küsse, doch es war ein süßer Schmerz. Endlich betrat sie ihre Hütte und ließ sich mit einem Seufzer auf das Bett fallen.
7. KAPITEL Kim erwachte mit heftigen Kopfschmerzen. Sie schleppte sich ins Badezimmer, schluckte ein Aspirin und betrachtete im Spiegel ihre geröteten, leicht geschwollenen Lider. Wenn sie nur unter die Bettdecke zurückkriechen und so lange schlafen könnte, bis ihre Probleme gelöst wären! Sie verzog den Mund bei dem Gedanken, Steve zu sehen, und schlug die Hände vors Gesicht, als sie daran dachte, Stephen zu begegnen. Eine lange heiße Dusche bewirkte Wunder. Teils zur Selbstbestrafung, teils, um ihren Kreislauf anzukurbeln, beendete sie die Dusche mit einem kurzen kalten Wasserstrahl. Jetzt war sie wenigstens wach, auch wenn sie sich hundeelend fühlte. Sie zog die ältesten verwaschenen Jeans und ein bequemes Flanellhemd an, pfiff auf ihre Eitelkeit und verließ die Hütte, um sich den anderen beim Frühstück anzuschließen. „Da ist ja unser Aschenputtel!“ rief Mr. Hauser fröhlich, als sie die Küche betrat, wo mehrere Elternpaare einschließlich Steve um den großen Tisch herum saßen. Kim lächelte schwach, goß sich Kaffee ein und setzte sich. Mit einem dümmlichen Grinsen wünschte Steve ihr einen guten Morgen und konzentrierte sich dann krampfhaft auf sein Frühstück. Niemand schien rechten Appetit zu haben. Die Unterhaltung beschränkte sich auf Angebote von Aspirin und Ratschlägen bei Kopfschmerzen. Erleichtert stellte Kim fest, daß der gestrige Abend nicht nur bei ihr seine Folgen zeigte. Schließlich gingen die Eltern zu ihren Kindern, um die letzten Stunden im Camp mit ihnen zu verbringen. Kim bot sich für den Küchendienst an, so daß die Hausers sich den Eltern widmen konnten, die noch Fragen hatten. Mit ungutem Gefühl bemerkte Kim, daß Steve zurückgeblieben war, und sie bereitete sich auf eine unangenehme Unterhaltung vor. „Kim, ich wollte mich wegen des gestrigen Abends entschuldigen“, begann er. „Nicht nötig.“ „Doch. Ich hatte zuviel getrunken und war nicht mehr ganz nüchtern.“ „Macht nichts.“ „Ich mag Sie sehr. Ich dachte, wir könnten Freunde werden.“ „Wir sind Freunde, Steve.“ „Ich meine, mehr als Freunde. Ich würde Sie gern wiedersehen. Josef hält viel von Ihnen. Er würde sich sicher auch freuen, Sie wiederzusehen.“ „Danke, Steve, aber ich glaube nicht, daß das möglich sein wird.“ „Warum nicht? Gibt es einen anderen Mann?“ Kim hatte nicht das Herz, ihm zu sagen, daß sie eigentlich nicht viel für ihn empfand. Deswegen nickte sie nur. „Ich hätte es wissen müssen. Kein Wunder, daß Stephen aufgetaucht ist.“ Kim verstand den Zusammenhang nicht, doch Josef kam hereingestürzt, um seinen Vater zu suchen, und bis sie Steves Verdacht durchschaut hatte, daß sie und Stephen ein Verhältnis miteinander hätten, waren die beiden gegangen und ließen sie mit dem schmutzigen Geschirr zurück. Den ganzen Morgen über kam Kim sich unnütz vor. Sie erledigte ein paar kleinere Aufgaben, die sie nicht richtig in Anspruch nahmen, und mußte wegen des dunklen bewölkten Himmels auf einen Spaziergang verzichten. Stephen erschien erst gegen Mittag, um sich von den Eltern zu verabschieden. Kim scheute die Begegnung mit Stephen, weil sie nicht wußte, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Daß es Stephen ähnlich erging, kam ihr nicht in den Sinn.
Zusammen mit den Hausers standen sie auf dem Rasen und winkten dem letzten davonfahrenden Wagen nach. Allgemein hörte man einen tiefen Seufzer der Erleichterung. „Ich freue mich immer auf die Eltern“, gestand Mrs. Hauser, „aber dann bin ich wieder höchst erleichtert, wenn sie abgefahren sind.“ Die Hausers schlenderten plaudernd Arm in Arm zu den Hütten, während Kim an Stephens Seite zurückging. Das Schweigen zwischen ihnen wurde mit jedem Augenblick erdrückender. „Tut mir leid wegen gestern abend“, sagte Kim endlich. Stephen schaute sie überrascht an. „Ich dachte, das wäre mein Text.“ „Ich meine, ich hätte nicht soviel trinken dürfen.“ Er blieb stehen. „Mein liebes Kind, willst du dich dafür entschuldigen, daß ich meinen Vorteil ausgenützt habe? Es täte meiner Männlichkeit viel besser, wenn du mir erlauben würdest zu glauben, daß ich der Angreifer war und mich nun bei dir entschuldigen muß. Obwohl ich geglaubt habe, du würdest lieber so tun, als sei nichts geschehen.“ „Aber das wollte ich ja. Ich meine, ich wollte es nicht erwähnen. Das habe ich nicht gemeint. Ich meinte Steve“, erklärte sie verworren. „Aha, ein weiterer Schlag gegen mich. Steve Belös hatte ich schon ganz vergessen.“ Kim fühlte sich zu elend, um zu antworten, deswegen ging sie schweigend weiter. Sie konnte Stephen nicht erklären, daß seine Küsse sie überwältigt und fassungslos gemacht hatten. Und Stephen konnte nicht erklären, daß ihr Kuß jedes andere Ereignis des vergangenen Abends ausgelöscht hatte. Es war eine große Erleichterung, als der Regen, der sich den ganzen Vormittag über schon düster angekündigt hatte, endlich einsetzte, und Stephen seine Absicht kundtat, den Rest des Tages allein auf der Insel zu verbringen. „Wenn es heute abend immer noch regnet, koche ich mir selbst etwas. Erwartet mich dann nicht“, sagte er zu den Hausers. „Kim, ich rechne morgen zur gewohnten Zeit mit dir. Wenn es aber in Strömen gießt, oder ein Gewitter aufzieht, dann rudere nicht zur Insel.“ Kim nickte, und Stephen verschwand. Den Rest des Tages verbrachte Kim in ihrer Hütte, las und hörte dem Plätschern des Regens zu. Endlich beschloß sie, Roger zu schreiben. Der Stolz verbot ihr, um eine Antwort zu betteln, doch wenn sie energisch genug von ihrer einsamen Unsicherheit berichtete, dann würde er schon antworten müssen. Seit langer Zeit hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Wenn er die Beziehung allerdings hätte abbrechen wollen, dann hätte er es ihr sicher gesagt. Oder nicht? Vielleicht war er krank. Vielleicht hatte er den Job verloren, von dem er ihr berichtet hatte, und schämte sich nun, es ihr einzugestehen. Oder steckte er in anderen Schwierigkeiten? Kim wickelte sich in eine Decke und setzte sich in den Schaukelstuhl auf der Veranda. Sollte sie Roger von Stephen schreiben? Und wenn ja, dann wie? „Der Arzt, für den ich arbeite, ist egoistisch, arrogant und überheblich, aber seine Küsse machen mich schwach und atemlos.“ Oder: „Dr. Anderson ist groß, dunkel und hübsch, und er ist immer da, wenn ich ihn brauche.“ Oder: „Dr. Anderson ist ein schrecklicher Mensch, aber die Hausers verehren ihn, und ich wünschte, er würde mich wieder küssen.“ Sie lachte bei der nächsten Möglichkeit: „Letzte Woche zog Dr. Anderson mich aus dem Sumpf, und ich fürchte, ich verliebe mich in ihn.“ Nein, so ging das nicht. Außerdem würde sie sich bestimmt nicht in Stephen verlieben, und wenn sie das behauptete, dann nur, um Roger weh zu tun. Warum
wollte sie das? Kim mußte sich eingestehen, daß Rogers Schweigen sie verletzte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb: Lieber Roger, es ist lange her, seit ich von Dir gehört habe. Ist irgend etwas nicht
in Ordnung? Dein Schweigen verwirrt mich ein wenig, und es verletzt mich auch.
Soll ich immer noch im September zu Dir kommen? Ich möchte Dich nicht
drängen, aber ich muß langsam planen. Die Unsicherheit ist schlimmer als alles
andere. Geht es Dir gut? Danke für die hübschen Fotos! Das Camp hier ist schön,
die Kinder sind lieb, und die Hausers könnten nicht freundlicher sein.
Dr. Anderson ist ein interessanter Mensch. Die Zusammenarbeit mit ihm ist sehr
lehrreich.
Ich warte auf Post von Dir. Du weißt ja, wie lange sich die Zeit hinzieht, wenn
man auf etwas wartet. Bitte schreib bald!
Liebe Grüße, Kim.
Sie las den Brief noch einmal durch und beschloß, ihn so wegzuschicken. Sie überlegte noch kurz, ob sie ihm schreiben sollte, daß sie ihn liebte und jeden Tag an ihn dachte, aber das konnte er sich ja denken, denn sonst würde sie ihm nicht schreiben. Jetzt war er am Zug, und für sie gab es nichts mehr zu sagen. Das Abendessen verlief höchst eintönig. Mrs. Hauser gestand, daß sie den ganzen Nachmittag über geschlafen habe, konnte jedoch trotzdem nicht aufhören zu gähnen. „Stephen würde uns aufmuntern. Zu schade, daß er nicht da ist! Wie langweilig es erst für ihn dort drüben sein muß! Wie wäre es mit einem Spielchen nach dem Essen?“ Kim blieb noch eine Stunde, dann entschuldigte sie sich und ging zu Bett. Das Wochenende war lang und erschöpfend gewesen. Am folgenden Morgen fühlte Kim sich in ihrem weitgeschnittenen Khakiponcho wie eine Ente, als sie über den See ruderte. Der Regen hatte nicht aufgehört, so daß es eine Wohltat war, Stephens Haus zu betreten, in dessen Kamin ein prasselndes Feuer brannte. „An so einem Morgen ist ein offenes Feuer eine feine Sache“, sagte er, während Kim den Regen von ihrem Poncho schüttelte. „Ich liebe brennendes Holz. Es riecht so gut“, sagte sie und fügte etwas schüchtern hinzu: „Wir haben dich gestern abend beim Essen vermißt.“ Er lachte. „Nach all dem Trubel am Wochenende dachte ich, daß Ruhe eine willkommene Abwechslung für euch wäre. Ich habe diesen Abend für mich allein jedenfalls genossen.“ Seine Worte verletzten Kim, denn sie hatte das Gefühl, er wolle die Distanz zwischen ihm und ihr vergrößern und die Verbundenheit, die zwischen ihnen entstanden war, leugnen. Er schritt zu seinem Schreibtisch. „Jetzt haben wir die erste Hälfte unserer Arbeit hinter uns. Der Rest dürfte recht einfach werden. Wenn wir konzentriert arbeiten, schaffen wir das Buch ein, zwei Wochen früher und können uns dann entspannen.“ „Na, dann wollen wir mal keine Zeit verlieren“, erklärte Kim und spannte hastig ein Blatt Papier in die Schreibmaschine. Sie war verärgert, wollte es aber nicht zeigen. An diesem Vormittag wurde kaum noch ein Wort gesprochen. Stephen kochte eine Kartoffelsuppe und las während des Essens in einem Buch. Aus Rache blätterte Kim wild in mehreren Zeitschriften und überlegte, ob Stephen in seiner Kindheit niemals gesagt worden war, daß es unhöflich war, bei Tisch zu lesen. Ich mag eine Waise sein, dachte sie, aber ich habe wenigstens Manieren gelernt.
Stephen gab sich zwar recht lässig, aber er stellte fest, daß er denselben Satz immer wieder las. Hin und wieder warf er einen verstohlenen Blick zu Kim hinüber. Er sehnte sich danach, die schmollenden Lippen zu küssen, aber er wußte, daß es ein Fehler wäre, Kim zu bedrängen. Sie hatten ja noch viel Zeit, doch wenn er daran dachte, wie Kim sich an ihn geschmiegt hatte, dann mußte er mit Mühe seine Ungeduld bezähmen. Es schien für Kim der längste Tag auf der Insel zu sein. Ihr war zum Heulen zumute, als sie zum Camp zurückruderte, wenn sie auch nicht genau wußte, warum. Beim Abendessen fiel Mr. Hauser auf, daß Kim müde aussah. „Wir konnten heute nicht schwimmen“, erklärte Kim. „Ohne diese Erfrischung wurde der Tag irgendwie anstrengender.“ Stephen war selbst überrascht, als er sich sagen hörte: „Wenn es morgen immer noch regnet, dann könnten wir ja mit dem Boot hinausfahren und schauen, wie den Fischen der Regen gefällt. Hast du in diesem Sommer schon geangelt, Kim?“ „Nein, überhaupt noch nie. Ginge das wirklich?“ „Sicher. Und wenn wir es richtig machen wollen, dann müssen wir noch vor Morgengrauen auf dem See sein. Komm doch einfach eine Stunde früher, und wenn wir Glück haben, gibt es frischen Barsch zum zweiten Frühstück.“ „Großartig!“ „Es wird sicher kalt und naß sein, Kim, und Sie werden nichts fangen außer einer Erkältung“, gab Mrs. Hauser zu bedenken. „Aber es wird interessant werden, und im Grunde ist es mir egal, ob wir etwas fangen oder nicht.“ Da Kim auf keinen Fall verschlafen wollte, verbrachte sie eine ruhelose Nacht, während der sie fast stündlich auf den Wecker schaute. Endlich war es Zeit zum Aufstehen. Sie zog eine Khakihose und ein Flanellhemd an und warf sich eine alte Trainingsjacke über. Dann ging sie in den grauen stillen Morgen hinaus. Im Nebel wirkte der See fast ein wenig unheimlich. Stephen kam gerade an den Bootssteg, als sie dort anlangte. Schnell luden sie Angel und Köder sowie Stephens Tasche ins Boot, der er kurze Zeit später draußen auf dem See eine Thermosflasche entnahm. Schweigend bot er Kim einen Becher dampfenden Kaffees an. Kim freute sich insgeheim, weil er an ihre Vorliebe für viel Zucker und Milch im Kaffee gedacht hatte. Sie fühlte sich in Stephens Gegenwart wohl, und sie stellte bewundernd fest, daß er selbst in dem alten Regenmantel und dem unförmigen Hut sehr gut aussah. Stephen legte die Ruder ins Boot, befestigte den Köder am Angelhaken und reichte Kim die Rute. In nachdenklichem, aber entspanntem Schweigen saßen sie da, bis ein Zittern durch Kims Angel ging. Als sie sie herauszog, war der Wurm verschwunden. Stephen versah den Haken mit einem neuen Köder und erklärte Kim, daß sie die Angel mit einem Ruck aus dem Wasser ziehen müsse, wenn ein Fisch sich am Köder festgebissen habe. Er selbst fing sofort einen kleinen Barsch. „Armes Tier! Es muß grausam sein“, flüsterte Kim. „Es empfindet nicht viel. Mach dir deswegen keine Sorgen!“ „Woher willst du das wissen?“ „Fische dieser Art haben kein Schmerzempfinden.“ „Bist du sicher?“ „Ich bin Arzt. Ich sollte so etwas wissen.“ „Ja, aber du bist kein Tierarzt.“ Stephen lächelte. „Wenn du den Fisch nachher ißt, wirst du dir keine Gedanken mehr darüber machen, wie der Fisch empfunden hat.“ Kim war sich dessen nicht so sicher, fing aber kurz darauf selbst einen. Trotz
Stephens Beteuerungen empfand sie Mitleid mit der armen Kreatur, die in der Luft ums Überleben kämpfen mußte, wobei von vornherein sicher war, daß sie den Kampf verlor. Kim war froh, daß Stephen mehrere prächtige Exemplare von Barschen fing und nicht bemerkte, wie sie ihren Fisch wieder ins Wasser gleiten ließ. Wieder auf der Insel angelangt, blieb Stephen am Steg, um die Fische zu reinigen. Kim ging ins Haus und bereitete einen Obstsalat zu. Dann bemühte sie sich vergeblich, den altmodischen Backofen in Gang zu setzen. Sie kniete gerade vor dem Herd und versuchte, das Gas einzuschalten, als Stephen in die Küche kam. Er legte die Fische auf den Küchentisch und zog Kim in seine Arme. „Brauchst du Hilfe?“ fragte er leise und strich ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du Schwierigkeiten haben könntest, ein Feuer zu entfachen.“ Er schlang die Arme um ihre Taille und küßte Kim mit wilder Zärtlichkeit. Dabei streichelte er ihre Brüste. Kim stöhnte vor Lust. Ich bin verloren, dachte sie mit dem herrlichen Gefühl, von ihm gefunden worden zu sein. Sie war so erregt, daß sie kaum atmen konnte. Kim gab sich ganz Stephens stürmischer Umarmung hin. Doch plötzlich ließ sie ein Geräusch zusammenfahren. Zu ihrem Erstaunen sah sie Mr. Hauser den Weg heraufkommen. Er wirkte recht aufgeregt. „Stephen, ich bin froh, daß ihr zurück seid“, rief er dem jungen Arzt entgegen. Er war so mit seiner Nachricht beschäftigt, daß er gar nicht bemerkte, in welche Situation er hineinplatzte. „Die kleine Vicky D’Amico ist vom Baum gefallen, und wir fürchten, daß sie sich den Arm gebrochen hat.“ Seufzend löste Stephen sich von Kim, um seine Arzttasche zu holen. Er fragte Mr. Hauser nach dem Zustand der Kleinen und unterbrach plötzlich eine Antwort mit der ungeduldigen Frage: „Was, zum Teufel macht sie auch auf einem Baum mitten im Regen vor dem Frühstück?“ Kim begann verstohlen zu lachen. Es klang nicht so, als ob das Mädchen sich schwer verletzt haben könnte, und Stephan ärgerte es ganz offensichtlich, daß er gerade jetzt gestört wurde. „Du stellst am besten den Fisch in den Kühlschrank. Wir werden ihn essen, sobald ich zurückkomme. Falls Vickys Arm gebrochen ist, werde ich sie nach Harrow Center fahren müssen. Wenn ich also in ein, zwei Stunden nicht zurück bin, können wir erst am Abend essen.“ Kim beschloß zu duschen. Die Sachen, die sie beim Fischen angehabt hatte, würden sicher bald trocknen, sobald sie ein Feuer entfacht hatte. Zum Umziehen betrat sie Stephens Schlafzimmer mit dem aufregenden Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Durch die vorhanglosen Fenster sah man direkt auf grüne Baumwipfel. Eine Anzahl eingetopfter Farne in der Südecke gab dem Ganzen das Aussehen eines Gewächshauses. Kim fand den grünen Morgenrock, den Stephen an ihrem ersten Arbeitstag auf der Insel getragen hatte, und nahm ihn mit ins Badezimmer. Die heiße Dusche tat ihr wohl. Anschließend wickelte sie sich in den für sie viel zu weiten Morgenrock, entfachte ein Feuer im Kamin und setzte sich davor. Sie zögerte, ihren Büstenhalter und Höschen im Wohnzimmer aufzuhängen, doch es gab keinen anderen Platz, wo sie so schnell trocknen konnten. Außerdem würde Stephen so bald nicht zurückkommen, und bis dahin hatte sie die Wäsche entfernt. Kim gähnte. Seit Sonnenaufgang war sie auf den Beinen, und der Tag war aufregend gewesen. Sie schlenderte ins Schlafzimmer und schaute in den Spiegel. Ihre Lippen waren geschwollen und erinnerten sie an die Szene in der
Küche. Wie hatte sie Stephen erlauben können, sie so zu küssen? Und was noch schlimmer war, wie hatte sie es genießen können? Sie fühlte immer noch die Berührung seiner Haut und seine Lippen auf ihrem Mund. Schaudernd wandte sie sich vom Spiegel ab. Kim legte sich aufs Bett und atmete den leichten Duft von Stephen ein, der der Bettwäsche anhaftete. Wie romantisch es wäre, von hier aus dem Feuer zuzusehen oder die Sonne durch das Ostfenster aufgehen zu sehen! Ob Stephen jemals eine Frau in diesem Bett gehabt hatte? Der Gedanke gefiel ihr nicht, und sie verwarf ihn deswegen. Was Roger wohl sagen würde, wenn er ihr schamloses Verhalten sehen könnte? Einige Zeit später nahm Kim einen herrlichen Duft wahr: Es roch nach Fisch! Nach gegrilltem Fisch. Kim reckte sich genüßlich. Plötzlich aber setzte sie sich ruckartig auf. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte Stephen lächelnd am Türrahmen. „Gut geschlafen?“ fragte er, und dabei wanderte sein Blick ungeniert über ihren Körper. Kim versuchte schleunigst, den Morgenmantel in Ordnung zu bringen, der sich ein wenig geöffnet hatte. Verlegen drehte sie sich weg. Jetzt war sie nicht nur auf Stephens Bett eingeschlafen, sie war auch noch halb nackt! Stephen lachte. „Nimm dich zusammen und versink nicht im Boden. Ich bin Arzt. Übrigens, deine Sachen hängen hier über der Stuhllehne, und unser Essen ist fertig. Zieh dich schnell an, ich habe Hunger.“ Während Kim sich ankleidete, mußte sie verlegen feststellen, daß Stephen ihre Wäsche über die Stuhllehne gelegt hatte. Sie beschloß nun, nicht mehr mit Stephen Anderson zu flirten. Sie würde ihn nie wieder küssen und ihm auch nicht erlauben, sie zu küssen. Und doch war sie ein wenig enttäuscht, als das so lang hinausgeschobene Essen zu Ende ging und Stephen sie nicht angerührt hatte.
8. KAPITEL Ein paar Tage später saßen Stephen und Mr. Hauser zusammen in der Küche,
genossen nach dem Essen ihren Kaffee und sprachen über die Sommergrippe,
die durch das Camp zu gehen schien. Fünf Kinder mußten das Bett hüten, viele
klagten über einen rauhen Hals und Schnupfen, und alle sehnten das Ende der
Regenphase herbei, die jede kleine Gemütsverstimmung gleich zu einer
Katastrophe werden ließ.
„Wenn der Regen aufhört und die Sonne herauskommt, werden die Kinder bald
wieder gesund sein“, tröstete Mr. Hauser.
„Und was ist, wenn es die ganze Saison hindurch regnet?“
„Dann bauen wir eine Arche, mein Freund, und suchen uns von jeder lebenden
Kreatur zwei Exemplare. Was meinst du? Ich werde natürlich Sybil mit mir
nehmen. Aber was ist mit dir? Wen sollen wir für dich auswählen?“
Im Zwielicht konnte Stephen sehen, wie Kim über den regennassen Rasen
herankam.
„Ja, stimmt“, antwortete Stephen geistesabwesend.
Mr. Hauser, der mit dem Rücken zum Fenster saß, drehte sich um, um zu sehen,
was Stephens Aufmerksamkeit abgelenkt hatte. Da betrat Kim schon die Küche
und blieb sofort zögernd stehen.
„Störe ich? Ich wollte mir heiße Schokolade machen.“
„Stephen und ich haben gerade über den Regen gesprochen. Kein sehr originelles
Thema, was?“ sagte Mr. Hauser.
Kim lächelte und goß etwas Milch in einen Topf, um sie zu erhitzen. „Ich glaube,
seit dem Elternwochenende wird über nichts anderes gesprochen.“
„Wir können froh sein, daß der Regen erst danach eingesetzt hat“, bemerkte Mr.
Hauser. „Sonst wäre unsere reizende Party buchstäblich ins Wasser gefallen.“
In Kims Erinnerung paßte das Wort „reizend“ ganz und gar nicht zu der Party. Sie
lachte plötzlich laut und meinte: „Und nun reden wir immer noch über den
Regen. Ich kann das Wort schon nicht mehr hören. Könnten wir nicht über etwas
sprechen, das nichts mit dem Wetter zu tun hat?“
„Deine Milch kocht“, antwortete Stephen.
Kim wandte sich schnell dem Herd zu, während Mr. Hauser leise lachte und
Stephen lässig in seinem Stuhl saß, die langen Beine von sich gestreckt, die Füße
auf einem Fußschemel. Er beobachtete Kim, wie sie Kakao in die Milch rührte und
das Ganze in eine kleine Thermosflasche umfüllte. Plötzlich begann sie in
schneller Folge zu niesen.
„Gesundheit“, wünschte Mr. Hauser.
Kim bedankte sich, wünschte ihrerseits gute Nacht und verließ die Küche.
Stephen trat ans Fenster und lehnte sich gegen den Rahmen. Er sah Kim nach,
die rasch zu ihrer Hütte zurückkehrte.
„Stephen, ich habe dich gefragt, ob du noch mehr Kaffee möchtest.“
„Bitte? Oh, nein danke.“
Mr. Hauser räumte den Tisch ab. „Was ist plötzlich mit dir los? Wir haben uns
doch ganz normal unterhalten, bis Kim hereinkam.“ Mr. Hauser verharrte in
seiner Bewegung und blickte Stephen an. Stephen sah die Frage in den Augen
seines väterlichen Freundes und lächelte.
„Ja, Wilfred, du hast es erraten. Aber kein Wort zu Sybil darüber.“
„Natürlich werde ich nichts sagen. Aber jetzt sag mir doch bitte, was genau ich
erraten habe!“
Nach kurzem Zögern durchquerte Stephen den Raum. Am Küchentisch begann er
geistesabwesend ein paar Sachen hochzuheben und wieder abzustellen.
„Stephen!“ entfuhr es Mr. Hauser. „Du bist in Kim verliebt.“ Stephen lächelte. „Ja, das stimmt wohl.“ „Junge, Junge!“ „Ich habe noch nicht mit ihr darüber gesprochen, das ist mir zu früh. Ich weiß, daß sie mich mag, aber ich bin mir nicht so sicher, ob sie es schon gemerkt hat. Kim ist noch sehr jung.“ „Aber Sybil hat mir erzählt, daß Kim bereits verlobt ist.“ Stephen ließ die Zuckerdose fallen, die er gerade in der Hand hatte. „Was? Verlobt? Mit wem?“ Er starrte auf den Zuckerberg auf dem Boden. „Da gibt es offenbar so ein Herzchen aus der Schulzeit, das jetzt in Kalifornien lebt. Sybil sagt, es soll eine ziemlich eigenartige Situation sein. Kim hat den Jungen seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“ Stephen begann den verschütteten Zucker aufzufegen. Erleichtert meinte er: „Dann kann es ja nichts Ernstes sein. Aber es erklärt eine Menge. Wenn sie sich gleich nach dem Schulabschluß verlobt hat und der Junge nach Kalifornien gezogen ist, dann ist es kein Wunder, daß sie manchmal immer noch wie ein Kind ist.“ Er setzte sich wieder neben Wilfred. „Ich glaube, ihre Art von Unschuld ist eines der Dinge, die ich von Anfang an an ihr geliebt habe.“ „Vorsicht, Stephen. Ich möchte nicht, daß einer von euch beiden einmal leidet“, mahnte Mr. Hauser. „Keiner wird leiden. Obwohl es mich nicht überraschen würde, wenn es bis zu unserer Hochzeit noch ein paar schmerzliche Augenblicke gäbe.“ Er lächelte seinen Freund an. „Wilfred, bist du mit meiner Wahl einverstanden?“ „Sybil wird sicher genauso begeistert sein wie ich. Aber zuerst muß sich die etwas verworrene Situation klären.“ „Es wird sich schon alles regeln. Kim ist aufrichtig, und sie ist dickköpfig wie ein Maulesel, wenn sie sich im Recht glaubt. Das sind gute Qualitäten, Wilfred. Sie hat Mut, und sie ist ehrlich. Ich glaube, ich kann keine bessere Frau und Partnerin finden. Stell sie dir nur mal vor, wie sie in zehn, fünfzehn Jahren sein wird. Ich kann es kaum erwarten. Ich will nicht eine Minute davon versäumen. Wenn ich irgend etwas dazu zu sagen habe, und das habe ich, dann wird sie in absehbarer Zukunft an meiner Seite sein.“ „Ich hoffe, du hast recht.“ Mr. Hauser schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Ich würde dich mit keiner anderen Frau lieber verheiratet sehen. Laß uns darauf trinken!“ Er holte eine Flasche alten Brandy aus dem Barschrank, die beiden Männer drückten sich die Hand und prosteten sich zu. Kim hatte sich ausgezogen, saß nun auf ihrem Bett und nippte an der heißen Schokolade, Sie machte sich Sorgen. Roger hatte auf ihren letzten Brief nicht geantwortet, und ihr blieben nur noch vier Wochen, bis das Camp schloß. Wenn sie im September nicht nach Kalifornien ging, was machte sie dann? Vielleicht konnten die Hausers ihr einen Job in der von ihnen geplanten Schule geben. Sie dachte an Stephen und seufzte. Er wollte im Herbst nach Schottland reisen und den Lehrstuhl an der Universität von Edinburgh annehmen. Es mußte schrecklich aufregend und interessant sein, in einem fremden Land zu wohnen und neue Menschen kennenlernen zu können. Vielleicht sollte sie mit dem Geld, das sie für ihre Reise nach Kalifornien gespart hatte, nach Schottland reisen. Sie stellte sich vor, wie sie Stephen rein zufällig auf einer Straße in Edinburgh begegnete. Je länger sie sich mit dem Gedanken beschäftigte, um so mehr geriet Kim ins Träumen. Sie erlebte in ihrer Phantasie, wie sie Stephen begrüßte: „Hallo“, sagte sie, „reizend, dich hier zu treffen!“ Sie tranken zusammen Tee und
plauderten über den Sommer in Harrow Lake. Am Abend gingen sie zusammen ins Theater, und Stephen sah hinreißend in seinem Abendanzug aus. Es verschlug ihm die Sprache, weil sie in einem schlichten, aber eleganten weißen Seidenkleid die breite Treppe des Grandhotels hinabstieg. Alle Männer des Hotels flüsterten sich zu: „Wer ist denn diese bezaubernde junge Dame?“ Nach dem Theater fuhren sie in einer Pferdekutsche um den Park, Kim zitterte ein wenig in der kühlen, feuchten Nachtluft, woraufhin Stephen schützend die Zobelstola um ihre zarten Schultern legte. Von plötzlicher Sehnsucht überwältigt, küßte er sie, schwor ihr seine Ergebenheit und bat sie, ihn zu heiraten. Er flehte sie um Verzeihung an, weil er in Harrow Lake ein solcher Narr gewesen war. „Ich habe nie gemerkt, wie sehr ich dich liebe. Du warst die ganze Zeit über da, und ich habe dich bis zu diesem Augenblick nie richtig bemerkt. Du bist so schön, Kim, Liebling, bitte sag mir, daß du mich liebst.“ Dann machte sie ihn entweder zum glücklichsten Mann auf Erden oder wies seine Werbung kühl ab. In ihren Träumen würde sie ihm erklären: „Ich hätte dich vielleicht einmal ins Herz geschlossen, Stephen, aber dein barbarisches Benehmen, deine Arroganz und deine Ironie haben meine Gefühle für dich zerstört. Nein, es kann nicht sein.“ Er würde daraufhin aus der Kutsche steigen, ihr Lebewohl sagen und mit gesenktem Haupt und hallenden Schritten über das nächtliche Pflaster davongehen. Doch nein, besser war es, wenn sie ihn zum glücklichsten Mann auf Erden machte. Er fuhr sie zu dem Hotel zurück, von dessen Suite aus man den Park überblickte, trank Champagner mit ihr, lachte mit ihr und plauderte über die ersten Augenblicke, als er sich in sie verliebte. Dann kniete er zu ihren Füßen und zog einen Ring mit einem riesigen Diamanten aus einem Etui. Sie weinte vor Rührung, während er ihr den Ring über den Finger streifte. Zum Schluß würde er noch eine diamantenbesetzte Halskette hervorzaubern. „Deine Augen stellen jeden Diamanten in den Schatten“, sagte er. Dann küßte er sie, trug sie ins Schlafzimmer, bat sie um einen möglichst frühen Termin für die Hochzeit und verabschiedete sich zärtlich von ihr. Alles war ein wunderschöner Traum gewesen, aber eben nur ein Traum. Kim kehrte in die Wirklichkeit zurück. Seufzend schaltete sie das Licht aus. Vielleicht sollte sie sich von dem gesparten Geld einen Wagen kaufen und wieder ihren Job bei der Bank annehmen, statt nach Schottland zu reisen. Völlig erschlagen erwachte Kim am folgenden Morgen durch ein ungewohntes Licht. Sie setzte sich auf und schaute zum Fenster. Die Sonne schien wieder, und es hatte aufgehört zu regnen. Kim machte sich schnell fertig und ging zum Bootssteg. Die Schildkröten waren auf ihren Lieblingsfelsen zurückgekehrt und badeten nun in der Sonne, während Kim mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ vorbeiruderte. Sie bewegte sich auf einmal in einer neuen, glitzernden, duftenden Welt und war voller Optimismus, daß Roger bald schreiben würde. Sie sprang vom Anleger den Weg hinauf, als Stephen neben ihr auftauchte. Er hatte gerade ein Morgenbad genommen. Von seinem braungebrannten Körper tropfte noch das Wasser, und in den Tropfen auf seinem Brusthaar brachen sich glitzernd die Sonnenstrahlen. Unvermittelt umschlang er ihre Taille und wirbelte Kim im Kreis herum. „Ich weihe diesen Tag der Sonnenanbetung!“ rief er. „Setz mich ab!“ protestierte Kim fröhlich. Sein Gesicht wurde zum Fixpunkt in der kreisenden Welt um sie herum. Lachend setzte er sie ab und schlang die Arme
um sie.
„Stephen, mir ist schwindelig!“
„Dir wird es gleich besser gehen“, erwiderte er ungerührt. „Komm, wir gehen auf
eine Expedition.“
„Wohin?“ Es war vollkommen natürlich für Kim, neben Stephen zu gehen, den
Arm um ihn zu legen und seinen Arm auf ihren Schultern zu fühlen. Er drückte
sie an sich.
„Wir werden Biber suchen“, erwiderte er.
„Du machst wohl Scherze!“ Kim blieb stehen. Stephen schaute sie voller Wärme
an, und plötzlich umarmte er sie. Ihre Lippen trafen sich in einem Gefühl von
Sehnsucht und Leidenschaft. Kim spürte nur noch heißes Begehren in sich, das
jedes andere Gefühl wegspülte. Stephen hatte ihre Bluse aus dem Hosenbund
gezogen und strich nun mit kühlen erfahrenen Händen über ihre nackte Haut.
Kim seufzte vor Wonne. Da hob er den Kopf ein wenig und brach den Zauber,
indem er mit einem Ausdruck auf sie hinabblickte, den Kim nicht verstehen
konnte.
„Stephen!“ flüsterte sie. „Stephen!“
„Komm, Kleines, die Biber warten.“
Kim war verletzt, doch als sie forschend in seine Augen schaute, sah sie
unmißverständlich Zuneigung und Glück in seinem Blick. Plötzlich lachten beide.
Hand in Hand liefen sie den Pfad zu Stephens Haus hinauf. Stephen verschwand
im Schlafzimmer, um sich umzuziehen, während Kim Sandwiches mit
Thunfischsalat vorbereitete. Es ist ein idealer Ferientag, dachte sie lächelnd, doch
ihr Lächeln verschwand, als Roger in ihren Gedanken auftauchte. Ach was,
beruhigte sie sich, es ist nichts Schändliches an ein paar harmlosen Küssen. Ich
liebe Roger, und es wird sich nichts daran ändern, auch wenn ich Stephen küsse.
Sie versuchte gerade, sich zwischen Eistee, Apfelsaft und Milch zu entscheiden,
als Stephen in Shorts und TShirt die Küche betrat.
„Ich habe bereits etwas Erfrischendes zu trinken eingepackt“, erklärte er. „Aber
eine Thermosflasche mit Kaffee halte ich trotzdem nicht für schlecht.“
Während er Kaffeebohnen in eine Handmühle schüttete, setzte Kim sich auf die
Veranda. Ein paar Minuten später kam Stephen nach.
Für einen Augenblick schauten sie sich schweigend in die Augen.
„Wohin gehen wir?“ fragte Kim endlich. „Nehmen wir das Motorboot?“
„Wir rudern zu einem kleinen Bach auf der Westseite des Sees und dann
bachaufwärts, so weit wir kommen. Wenn das Wasser zu seicht wird, wandern
wir weiter. Am Ende befindet sich ein Biberdamm. Ich selbst habe noch nie Biber
dort gesehen, aber diesmal könnten wir Glück haben. Auf dem Weg dorthin
werden wir über einen kleinen Hügel klettern müssen. Die Aussicht von oben ist
phantastisch.“
„Los, gehen wir!“ rief Kim begeistert.
„Vielleicht solltest du deinen Badeanzug mitnehmen“, schlug er vor „Es wird
sicher heiß werden.“
„Aber wo kann ich mich umziehen?“
Stephen setzte sich auf die Fersen zurück und lachte. „Kim, was soll ich nur mit
dir machen!“ Kopfschüttelnd legte er eine Hand auf sein Herz. „Ich schwöre dir,
daß du nicht mädchenhaft erröten mußt, denn ich werde dir bestimmt den
Rücken zudrehen, während du dich umziehst!“
Kim konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, Stephen einen Schubs zu
versetzen und ihn damit in den See zu befördern. Statt dessen rannte sie los, um
ihren Badeanzug zu holen.
Sie hatten bald den See überquert und drangen in die Mündung eines Flüßchens
ein. Stephen beugte sich aus dem Boot, um eine rote Wasserlilie zu pflücken. „Nicht!“ rief Kim. „Die roten sind sehr selten!“ Sie kam sich ein wenig dumm vor bei ihrer Heftigkeit und fügte ruhiger hinzu: „Die weißen riechen übrigens besser.“ „Ich wußte gar nicht, daß rote Wasserlilien so ungewöhnlich sind“, gestand er. „Sie sind nicht bedroht oder so, sie kommen auf diesem See nur selten vor“, erklärte sie und begann die ganz seltenen Arten aufzuzählen, bis Stephen sie wegen ihrer Kenntnisse neckte. Doch Kim wußte, daß er beeindruckt war. Sie schienen meilenweit das Flüßchen hinaufzurudern. Bis auf das Geräusch der Ruderriemen, das Summen der Insekten und gelegentliche Vogelschreie war nichts zu hören. Das Laub an den Bäumen war noch immer naß vom Regen und schillerte in der Morgensonne. Mit der Zeit verengte sich das Flüßchen, und Kim konnte die Fische dahinhuschen sehen. Sie und Stephen sprachen nur wenig. Uneingeschränkte Harmonie hatte sie erfaßt. Von Zeit zu Zeit trafen sich ihre Blicke, als ob sie ein unausgesprochenes Geheimnis teilten. Sie wechselten sich beim Rudern ab. Wenn Kim an der Reihe war, beobachtete Stephen sie und bewunderte ihre Geschicklichkeit im Umgang mit dem Boot. Wenn Stephen ruderte, beugte Kim sich hinaus und ließ die Finger durchs Wasser gleiten. Schließlich wurde der Bach so eng, daß die Ruderspitzen gegen die Ufer stießen. Stephen vertäute das Boot, und sie bewegten sich so geräuschlos wie möglich zu Fuß fort. Endlich erreichten sie den Damm. Auf der anderen Seite des Damms war das Flußbett bis auf ein schlammiges Rinnsal ausgetrocknet. Biber waren nicht zu sehen. „Wo sind die Biberbauten?“ flüsterte Kim. Stephen zeigte auf einen Stapel aus Zweigen an der tiefsten Stelle des Bachs. Sie warteten ungefähr eine halbe Stunde, als sich dann immer noch nichts tat, kehrten sie zum Boot zurück. „Ich habe Hunger, und es ist mir egal, ob die Biber zu Hause sind oder nicht“, erklärte Kim. „Ich kenne flußabwärts einen idealen Picknickplatz“, erwiderte Stephen, und gemeinsam ruderten sie bis zu einer Stelle, wo Stephen das Boot an einer Birke festmachte und Deckelkorb und Kühlflasche aus dem Boot lud. Kim folgte ihm über den feuchten Boden. Das Gebüsch klatschte gegen ihre Arme und Beine. Hin und wieder glaubte sie, geeignete Stellen zum Picknicken gefunden zu haben, doch Stephen lehnte alle ab. Schließlich teilte sich das Gestrüpp, und sie traten auf eine grasbewachsene, sich neigende Wiese, von wo aus man den See und die fernen Berge sehen konnte. Kim konnte sogar das Dach von Stephens Haus auf der Insel ausmachen. Sie breiteten schnell eine große Decke aus und packten den Picknickkorb aus. Mit einer großen Geste brachte Stephen eine Flasche Champagner und zwei Gläser zum Vorschein. „Heute trinken wir auf die Sonne!“ verkündete er und reichte Kim ein Glas. Kim lachte. „Thunfischsalat paßt kaum zu Champagner, aber es schmeckt trotzdem.“ Da sie durstig war, trank sie ziemlich schnell. Schweigend aßen sie eine Weile, schauten auf den See hinaus und bewunderten die Sicht. Nachdem sie gegessen hatten, schüttete Stephen die Krümel auf den Boden, damit die Vögel sich daran gütlich tun konnten. Kim streckte sich auf der Decke aus und schloß die Augen. Komisch, dachte sie. Gestern abend habe ich mir vorgestellt, daß Stephen mich bitten würde, seine Frau zu werden, und daß wir dabei Champagner trinken, und
heute liegen wir auf einem Hügel und trinken tatsächlich Champagner. Sie
öffnete die Augen und stellte etwas nervös fest, daß Stephen sie beobachtete.
„Ich dachte, du seist eingeschlafen“, sagte er. „Du hast gelächelt wie die Mona
Lisa.“
„Ich habe nur darüber nachgedacht“, log sie, „welch kühles, köstliches, silbriges
Geräusch der Wind in den Birken erzeugt.“
„Wie kann ein Geräusch silbrig sein? Silber ist eine Farbe.“
„Von Romantik hast du keine Ahnung.“
„Das würde ich nicht sagen.“
„Aber du mußt zugeben, daß das Geräusch kühl und köstlich ist.“
„Das Geräusch ist beruhigend und angenehm. Der Champagner ist kühl und
köstlich. Die Birkenblätter im Wind sind grün und silbrig, und meine Seele ist
voller Romantik.“
Kichernd setzte Kim sich auf und protestierte, als Stephen ihr noch mehr
Champagner eingoß.
„Ich werde betrunken!“
„Wir können den Champagner nicht aufheben, also müssen wir ihn austrinken.
Wir werden hier eine Stunde ausruhen und anschließend Kaffee trinken. Mach dir
keine Sorgen.“ Er legte sich neben Kim auf die Seite und stützte den Kopf auf
eine Hand. „Wie sehen eigentlich deine Pläne für die Zukunft aus?“
Die Sonne verschwand hinter einer Wolke. Kim trank ein paar Schluck und
entfernte einen Grashalm aus ihren Zehen. „Ich bin mir noch nicht ganz sicher.
Ich habe gestern abend über die verschiedenen Möglichkeiten nachgedacht.“
„Was sind das für Möglichkeiten?“
Sie zögerte. „Na ja, vielleicht gehe ich nach Kalifornien. Wenn ich das nicht
mache, muß ich mir einen Job suchen. Aber vielleicht verreise ich auch zuerst.“
„Warum Kalifornien?“
Kim seufzte. Sie wollte Stephen eigentlich nicht von Roger erzählen. „Ich habe
einen Freund dort.“
„Willst du mit deinem Freund zusammenleben?“
„Wahrscheinlich. Ich bin mir noch nicht sicher.“
„Kim, Wilfred hat mir erzählt, daß du mit einem jungen Mann verlobt bist, der in
Kalifornien lebt. Ist das wahr?“
„Warum, zum Teufel, hat er das gemacht? Er hatte kein Recht, dir das zu sagen.“
Sie rollte sich auf den Bauch und drehte Stephen den Rücken zu.
„Ist das wahr?“
„Was interessiert dich das? Was würde es ändern?“
„Ist das wahr?“
Plötzlich standen Tränen in ihren Augen. Sie schwieg lange, dann sagte sie
endlich: „Es ist wahr – irgendwie.“
Stephen lachte und erntete dafür einen wütenden Blick von Kim.
„Was ist daran so lustig?“ fauchte sie.
„Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die so zögernd zugab, daß sie verlobt
war. Was ist eigentlich los mit ihm?“
„Nichts ist los mit ihm. Er ist ein wunderbarer Mensch, freundlich, rücksichtsvoll,
anständig. Er ist überhaupt nicht wie du. Ach, das verstehst du ja sowieso nicht!“
„Versuch’s mir verständlich zu machen.“
„Was soll das heißen?“
„Du hast recht. Ich verstehe es nicht. Aber wenn du es mir erklärst, verstehe ich
es vielleicht doch. Erzähl mir von diesem Musterbeispiel an Tugenden. Hat er
einen Namen?“
„Ach Stephen, der Tag war so schön. Wir müssen ihn doch nicht ruinieren. Wir
wollen nicht streiten. Und ich will nicht über Roger sprechen.“
Er seufzte. „Na schön, Kleines, wir wollen nicht über ihn sprechen. Aber die
meisten verlobten Frauen, die ich kennengelernt habe, wollten über nichts
anderes als über ihren Verlobten sprechen. Du bist ganz ungewöhnlich.“
Noch immer auf dem Bauch liegend, beobachtete Kim eine Ameise, die sich
abmühte, einen Krümel über einen Grashalm zu schleppen. Die Wolken zogen
weiter, und die Sonne kam wieder zum Vorschein.
Kim schaute verstohlen zu Stephen hinüber. Er saß da, hatte die Arme um die
Knie geschlungen und sah mit ernster Miene auf den See hinaus. Sie überlegte,
ob ihre Zurückhaltung beim Erzählen von Roger ihn verärgert hatte. Unvermittelt
stand sie auf und setzte sich dicht neben ihn.
„Stephen, erzähl mir von deinen Zukunftsplänen. Bist du schon aufgeregt, weil
du nach Schottland gehst?“
Lächelnd legte er einen Arm um ihre Schulter. „Ja, ich freue mich darauf.
Edinburgh ist eine wunderschöne Stadt. Es würde dir dort gefallen.“ Er begann
von der Princess Street zu erzählen, vom Zoo und vom Schloß. Fasziniert hörte
sie zu. Plötzlich brach er ab. „Ich glaube, es wird Zeit, daß wir zurückgehen. Ich
freue mich schon auf ein Bad im See, das wir unterwegs nehmen können.“
Bald erreichten sie eine sandige, einsam gelegene Bucht in der Nähe der
Flußmündung, wo das Wasser tief und bewegungslos stand. Kim kletterte aus
dem Boot, während Stephen seine Schuhe auszog.
„Ich werde mich jetzt hier hinstellen und meinen Badeanzug anziehen“,
verkündete sie. „Und du wirst dein Wort halten und nicht schauen.“
Stephen saß im Boot und blickte ins Wasser. „Ich halte mein Wort.“
Kim schlüpfte schnell aus ihren Sachen und empfand es als sehr abenteuerlich,
als sie nackt unter der Sonne stand und Stephen nur ein paar Schritte von ihr
entfernt war. Sie zog den Badeanzug hoch und befestigte die Bänder.
„Ich habe allerdings nicht versprochen, daß ich den Anblick des Spiegelbilds
ignorieren werde, das du auf der Wasseroberfläche produzierst“, sagte Stephen
lässig.
Voller Entsetzen ging ihr auf, daß sie zu nahe am Wasser gestanden hatte.
Stephen kletterte schnell aus dem Boot und legte die Hände auf ihre Schultern.
Kim war schockiert und wußte nicht, wie sie reagieren sollte. Als sie ihm eine
Ohrfeige versetzen wollte, hielt er sie umfangen, and als sie sich dann zum
Weinen entschieden hatte, küßte er sie bereits. Auf einmal war all das nicht mehr
wichtig.
Kim mußte über sich selbst lachen, als sie auf dem Rücken im kühlen
erfrischenden Wasser trieb und versonnen in den tiefblauen Himmel schaute.
Sie beobachtete Stephen, wie er mit kraftvollen Stößen in den See
hinausschwamm. Plötzlich tauchte er. Er blieb für bedenklich lange Zeit
verschwunden, dann schoß er ein paar Meter neben ihr aus dem Wasser hoch.
Sie schwammen noch eine Weile und wateten dann ans Ufer zurück.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte plötzlich ihren Fuß, und Kim schrie auf.
Stephen war sofort neben ihr.
„Ich bin auf etwas getreten“, wimmerte sie.
Er nahm sie auf die Arme und trug sie ans sandige Ufer, wo sie die Decke
ausgebreitet hatten. In der Mitte von Kims Fuß war ein tiefer Schnitt zu sehen.
„Leg dich auf den Bauch, damit ich mir die Wunde besser ansehen kann“, befahl
Stephen.
Über die Schulter beobachtete Kim, wie Stephen Wasser brachte und damit die
Wunde auswusch. Dann trocknete er den Fuß mit einem sauberen Handtuch sehr
gründlich ab.
Dann sagte er: „Du mußt auf einen spitzen Stein oder eine Glasscherbe getreten
sein. Der Himmel weiß, was alles auf dem Boden des Sees liegen kann.“
Kurzentschlossen saugte er die Wunde aus.
„Was tust du?“ rief sie und wollte den Fuß wegziehen.
„Bleib ruhig!“ Stephen strich an ihren Beinen entlang und küßte sie auf die
Zehen.
Kim lag still da, bis eine Welle der seltsamsten Gefühle sie erfaßte. Ihr Herz
begann wild zu pochen.
Stephens Hände glitten höher und strichen liebkosend über ihren Körper.
Plötzlich lag er neben ihr und küßte sie auf die Wangen, auf das Kinn und auf den
Mund. Kim preßte das Gesicht in sein Haar.
Wieder trafen sich ihre Lippen, und Kim wurde von einer Leidenschaft
mitgerissen, die stärker war, als sie sich je hätte erträumen lassen.
Sie rollten sich auf der Decke, wobei Kim einen Augenblick auf ihm lag, dann
schob er sich wieder halb auf sie, legte einen Arm unter ihre Schultern und
streichelte mit der anderen Hand ihren Busen. Langsam zog er den Badeanzug
hinunter und entblößte ihre Brüste. Kim stöhnte leise.
„Stephen, nicht“, flüsterte sie. „Nicht!“
Plötzlich lag er still da. Sein Kopf ruhte bewegungslos auf ihrer Brust.
„Es tut mir leid“, begann sie.
„Sag nichts.“ Er setzte sich mit dem Rücken zu ihr auf. Einen Augenblick lang
schwiegen sie beide.
Plötzlich stand Stephen auf und schritt zum See hinunter. Er warf sich ins Wasser
und schwamm kräftig bis zur Mitte des Sees. Er blieb eine Weile im Wasser, als
ob er sich erschöpfen wollte. Kim saß am Ufer und baute nervös ein paar
Sandhügel.
Endlich kehrte er zurück und ließ sich ein Stück von ihr entfernt auf die Decke
fallen.
„Es war ein denkwürdiger Urlaubstag“, bemerkte er endlich und stand wieder auf.
„Morgen können wir wieder zur alten Routine zurückkehren, als ob nichts
geschehen wäre.“
„Ja, als ob nichts geschehen wäre“, wiederholte Kim dumpf, während sie sich auf
den Weg zum Camp machten.
9. KAPITEL Der langen Regenperiode folgte eine Woche drückender Hitze. Jeder Tag schien heißer zu werden als der vorherige. Selbst bei geöffneten Fenstern und Türen war die Luft in Stephens Hütte unerträglich heiß. Kim und Stephen verbrachten in der nachmittäglichen Hitze lange Stunden mit Luftmatratzen auf dem See. Stephen hatte nicht mehr versucht, Kim zu küssen. Sie konnte sich also nicht beklagen, auch wenn dieses Verhalten sie ein wenig verwirrte. Dafür lag etwas Vertrautes in seinem Wesen. Es war fast so, als sei eine Frage gestellt und zu seiner Zufriedenheit beantwortet worden. Kim bemühte sich, jeden körperlichen Kontakt mit Stephen zu vermeiden, doch die engen Räumlichkeiten, in denen sie sich tagtäglich bewegten, machten das unmöglich. Jedesmal, wenn Stephen in ihrer Nähe war, begann Kims Herz wild zu klopfen, und ihr Mund wurde trocken. Jede Berührung schien sie zu elektrisieren. Doch er selbst gab sich beiläufig und sachlich. Das war nicht fair. Kim begann allmählich zu fürchten, daß die Spannung ihren Verstand in Mitleidenschaft zog. Sie konnte es nicht genau erklären, aber sie hatte das seltsame Gefühl, als ob die Hausers und Stephen etwas wüßten, das sie selbst nicht wußte. Sie hatte sogar den Eindruck, daß die Hausers sie beobachteten. All das bewirkte, daß sie sich am Ende nach Stephens schützenden Armen sehnte. Es wurde immer heißer. Eine seltsame Ruhe lag auf einmal in der Luft. Als Kim in abgeschnittenen Jeans und leichtem Baumwollhemd die Küche betrat, traf sie Stephen an, der nur mit Shorts bekleidet war. Sie setzte sich hinter ihn an den Tisch und betrachtete seinen kraftvollen Körper. „Was tust du?“ wollte sie wissen. Erwartungsvoll sah sie ihn an. „Ich mache Eiskaffee.“ Er trat an den Tisch und reichte ihr ein Glas. Er beobachtete sie, wie sie von dem Getränk kostete. „Es würde mich nicht überraschen, wenn es heute ein Gewitter gäbe“, sagte er. „Es liegt etwas in der Luft.“ „Das wäre nicht schlecht. Dadurch könnte sich die Atmosphäre abkühlen.“ Die Spannung lag in der Luft, und etwas Bedrohliches beherrschte den Rest des Tages. Kim arbeitete wie besessen und fühlte oft Stephens Blick auf sich. Am späten Nachmittag zogen sich dann riesige schwarze Wolken zusammen. Entfernter Donner war zu hören, und gelegentlich blitzte es auf. „Da ist das Gewitter“, sagte Stephen, nahm Kims Arm und zog sie zur Tür hinüber. „Wir wollen zusehen.“ Kim fragte sich, ob Stephen ihr Herzklopfen bemerkte. Er hielt sie locker an sich gedrückt und stützte sein Kinn leicht auf ihrem Kopf auf. Kim zitterte. Der Donner wurde immer heftiger und immer lauter. Langsam glitt Stephens Hand tiefer, strich über ihre Brüste, blieb auf ihrem Bauch liegen. „Du fürchtest dich nicht vor einem kleinen Sturm, nicht wahr?“ fragte er leise und drückte ihre Hüften gegen seine muskulösen Oberschenkel. In Kim erwachte große Sehnsucht nach Stephen, und sie lehnte sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen ihn. Unter seinen sanften streichelnden Händen wuchs ihre Sinnlichkeit. Kim wehrte sich nicht dagegen, als Stephen sie auf die Arme nahm, ins Wohnzimmer zurücktrug und sich neben sie auf die Couch legte. Kim war unter seinen Küssen verloren. Sie stöhnte leise, denn seine Lippen glitten über ihren Hals, die Ohren und Schultern. Er knöpfte ihre Bluse auf und flüsterte Liebesworte, bis sich seine Lippen über ihren Brustwarzen schlossen und seine Zunge sie kreisend zu liebkosen begann. Es war dunkel im Zimmer geworden, der Regen klatschte gegen die Fenster.
Immer wieder flammten grelle Blitze auf, gefolgt von unmittelbarem
Donnerkrachen.
Stephen hatte Kims Shorts geöffnet und schob sie sanft die Hüften hinunter.
Kim wußte, daß sie nicht mehr aufhalten konnte, was geschehen würde, und sie
wollte es auch nicht. Sie zog Stephen auf sich hinunter, hungrig nach seinen
Küssen und ungeduldig, seine Liebe zu erfahren. Sie brauchte ihn so verzweifelt.
Das Verlangen tobte wie ein Schmerz in ihr, und nur Stephen konnte dies
befriedigen.
Plötzlich flog die Haustür mit lautem Krachen auf, der Sturm jagte durch den
Raum, wirbelte Papier durch die Luft und warf eine Topfpflanze um. Stephen
fluchte leise, erhob sich und konnte nur mit Mühe die Tür zudrücken.
Kim setzte sich auf. Sie zitterte plötzlich vor Kälte und blickte an ihrer
halbgeöffneten Bluse und den Shorts hinunter, die sich in Kniehöhe befanden.
Kim begann hastig, sich wieder anzuziehen.
Stephen kam zurück und nahm Kim in die Arme, doch sie stieß ihn weg.
„Laß mich in Ruhe!“ rief sie wütend und schamerfüllt.
„Das meinst du nicht im Ernst“, erwiderte er ruhig und hob sie mühelos auf
seinen Schoß. Kim kämpfte gegen ihn an, doch gegen seine Kraft konnte sie
nichts ausrichten. „Du bist nur wütend, weil wir unterbrochen wurden, Liebling.
Aber wir können da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“
Kim hatte es schließlich geschafft, ihren linken Arm zu befreien, und schlug ihn
zornig auf die Wange. Mit einemmal saßen beide wie benommen da. Kim konnte
verfolgen, wie sich der Abdruck ihrer Hand auf seiner Wange von Weiß in Rot
veränderte. Stephens Blick war plötzlich kalt und hart. Er rührte sich nicht, als
Kim von seinem Schoß glitt, sich ein Stück entfernt mit dem Rücken zu ihm
hinstellte und mit zitternden Fingern die Knöpfe ihrer Bluse zumachte.
„War das wirklich nötig?“ fragte er mit beißender Schärfe, die seinen Kampf um
Selbstbeherrschung verriet. „Würdest du mir bitte antworten. War es wirklich
nötig, mich zu schlagen?“
„Ja!“ platzte sie mit trotzig erhobenem Kinn heraus. „Ich erlaube dir eben nicht,
so mit mir umzugehen.“
„Wie möchtest du denn gern, daß man mit dir umgeht?“
Sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. „Wie kannst du dich so benehmen,
wenn du doch weißt, daß ich dich so nicht haben will?“
„Nein? Dann hast du mich sicher genarrt.“
„Ach, hör auf! Du weißt, daß ich verlobt bin. Warum läßt du mich nicht in Ruhe?“
„Weil du nicht willst, daß ich dich in Ruhe lasse. Deshalb.“
„Das ist nicht wahr.“ Kims Augen funkelten vor Zorn.
„Nein? Glaubst du, ich merke das nicht? Du willst einfach die Tatsachen nicht
sehen.“
„Tatsachen? Welche Tatsachen? Wovon redest du überhaupt?“
„Ich spreche von Liebe, Kim, etwas, von dem du offenbar sehr wenig Ahnung
hast.“
„Wie kannst du so etwas sagen! Ich liebe dich nur nicht, das ist alles. Aber deine
männliche Eitelkeit kann das natürlich nicht akzeptieren.“
„Du willst mir wahrscheinlich erzählen, daß du den Jungen in Kalifornien liebst,
von dem du seit Jahren nichts gehört und nichts gesehen hast.“
„Ja, das will ich. Ich hätte mich nicht mit ihm verlobt, wenn ich ihn nicht lieben
würde. Und außerdem geht es dich nichts an.“
„Es geht mich wohl an. Ich werde nicht zusehen, wie du dein Leben aus
Dickköpfigkeit und Unwissenheit ruinierst.“
„Wie kannst du so mit mir reden!“ Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten.
„Außerdem“, fügte er ungerührt hinzu, „ist das schon eine komische Verlobung. An die scheinst du dich immer nur in den seltsamsten Momenten zu erinnern. Glaubst du wirklich, dein sogenannter Verlobter denkt mehr daran als du?“ „Das geht nur Roger und mich etwas an. Und es ist keine Entschuldigung für dich, mich verführen zu wollen.“ Stephen sprang auf und trat bedrohlich auf sie zu. „Ich versuche nicht, dich zu verführen, Kim. Ich versuche, Liebe mit dir zu machen. Das ist ein Unterschied. Und wenn dein Verlobter nur ein bißchen mehr wäre als das Produkt blühender Phantasie, dann wüßtest du das bereits.“ „Roger ist kein Produkt meiner Phantasie.“ Tränen der Wut rollten über ihre Wangen. „Roger ist genauso wirklich wie du.“ Stephen zog sie in seine Arme. „Ist er genauso wirklich wie dieses jetzt?“ In einem schmerzenden Kuß preßte er den Mund auf ihre Lippen, dann wurde der Kuß sanfter, und Kim entspannte sich beinahe gegen ihren Willen. Sie schlang die Arme um Stephens Hals und erwiderte seine Zärtlichkeit. Stephen hielt sie an sich gepreßt und flüsterte heiser: „Kim, du bist in mich verliebt, gib es doch zu. Roger war ein Teil deiner Vergangenheit. Du klammerst dich nur an eine Erinnerung. Hat Roger dich je so geküßt? Hast du je so bei ihm empfunden? Du gehörst mir, ob du es willst oder nicht. Wir beide gehören zusammen. Ich liebe dich, Kim, und ich brauche dich. Sag mir, daß du mich liebst. Sag es mir!“ Während er sprach, klammerte Kim sich an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf. Jubelnde Freude erfüllte sie, und sie sehnte sich nach dem Augenblick, sich ihm ganz zu ergeben. Doch dann gewannen Schuld und Scham wieder die Oberhand. „Nein!“ rief sie und befreite sich aus seiner Umarmung. Sie rannte blindlings aus der Hütte in den Sturm hinaus. Einen Augenblick stand Stephen wie benommen da, dann folgte er ihr. Kim bemerkte kaum den krachenden Donner und den strömenden Regen, der bald ihre Kleidung durchdrungen hatte. Sie sehnte sich so sehr nach Stephen und brannte gleichzeitig vor Scham, weil sie es gezeigt hatte. Sie war wütend auf sich, auf Stephen und Roger. Wie hatten die beiden sie in diese Situation bringen können! Wie hatte sie das zulassen können! Warum war Roger nie da, wenn sie ihn brauchte? Wie hatte er zulassen können, daß ein anderer Mann ihr zeigte, was es heißt, eine Frau zu sein! Warum sehnte sie sich jetzt so schmerzlich nach Stephens Liebe? All die Jahre hatte sie auf Roger gewartet, doch dieses vergebliche Warten hatte sie nie mit solcher Frustration erfüllt wie jetzt die unerfüllte Sehnsucht nach Stephen. Sie fühlte die Leere in sich. Etwas Wichtiges fehlte in ihr. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aus diesem Gefühlsgewirr herauskommen sollte. Als sie am Anleger stand, wußte sie, daß sie automatisch zum Boot gerannt war. Die Wellen des Sees schlugen wütend gegen das Ufer. Die Sichtweite war durch den Regen bedeutend geschrumpft, und Kim wußte, daß sie nicht zum Camp rudern konnte. Warum hatte sie nur diesen Job angenommen? Sie hätte an dem Tag abreisen müssen, als sie erfuhr, daß Stephen da war. Ein solcher Mann konnte einen nur in Schwierigkeiten stürzen. Sie drehte sich um und fuhr erschrocken zusammen. Stephen stand mit finsterem Gesicht genau hinter ihr. „Wo willst du hin?“ fragt er kalt. Bevor sie noch antworten konnte, packte er ihre Hand, drehte sich um und zog Kim mit sich. Sie wurde fast von der Stelle gerissen, und sie mußte laufen, um seine Geschwindigkeit zu halten.
„Stephen! Du tust mir weh!“ rief sie, als sie auf dem nassen, rutschigen Pfad ausglitt. Stephen nahm sie mit einem Schwung hoch und legte sie über seine Schulter. Da Kim wußte, daß jeder Kampf zwecklos war, verkrampfte sie ihre Finger in das nasse Rückenteil seines Hemdes. Endlich hatten sie das Haus erreicht. Stephen stieß zornig die Tür mit dem Fuß auf, durchquerte das Wohnzimmer, betrat das Schlafzimmer und ließ sie aufs Bett fallen. Wie betäubt lag Kim einen Augenblick da und starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Stephen wandte sich ab. „Zieh die nassen Sachen aus!“ „Was?“ „Du hast mich verstanden.“ Er holte aus dem Badezimmer seinen Morgenrock und warf ihn Kim zu. Dann begann er, sich zu entkleiden. Kim packte den Morgenrock, floh ins Gästezimmer, knallte die Tür zu und lehnte sich mit klopfendem Herzen dagegen. Angestrengt lauschte sie, ob er ihr folgte, doch bis auf das Geräusch des Regens auf dem Dach war das Haus ruhig. Sie stand da und überlegte, was sie tun sollte. Während des Sturms konnte sie die Hütte nicht verlassen. Sie hörte, wie Stephen sich näherte, und wich zurück. Ohne anzuklopfen, trat er in den Raum. Er trug jetzt trockene Bluejeans, war barfuß und hatte kein Hemd angezogen. „Kim“, erklärte er, „du wirst dir noch den Tod holen, wenn du dich nicht umziehst.“ Seine Stimme war ruhig und kalt. „Wenn du dich nicht sofort ausziehst, werde ich das für dich tun. Du hast die Wahl.“ Unter seinem Blick erst merkte Kim, daß sie traurig aussehen mußte, so naß und zerzaust, wie sie war. Bevor Stephen den Raum verließ, riet er: „Und du brauchst auch nicht zu glauben, daß du dich die ganze Nacht hier verstecken kannst. Deine Kindereien genügen mir jetzt.“ Seufzend zog sie die nassen Sachen aus und wickelte sich in den warmen trockenen Bademantel. Nachdem sie sorgfältig den Gürtel verknotet hatte, ging sie ins Badezimmer, wo sie duschte und ihre Haare wusch. Als sie sich dann auf die Suche nach Stephen machte, fühlte sie sich bedeutend besser. Stephen lag ausgestreckt auf der Couch und las in einer Zeitschrift. Kim durchquerte den Raum und setzte sich steif auf einen Stuhl. Ihr Magen verkrampfte sich, und die wußte nicht, ob aus Wut oder vor Hunger. Tränen schossen ihr plötzlich in die Augen. Warum sagte er denn nichts? Endlich warf er die Zeitschrift beiseite und blickte Kim an. „Na, jetzt siehst du jedenfalls besser aus.“ „Ich fühle mich auch besser.“ „Schade, daß du so vernünftig warst. Ich hatte mich schon darauf gefreut, dich auszuziehen. Vielleicht ein andermal.“ Er gähnte herzhaft. Kim verkniff sich eine Bemerkung. Sie wollte nicht mehr kämpfen. Seufzend schaute sie aus dem Fenster. Die Nacht war hereingebrochen. Erst jetzt merkte Kim, wie einsam das Haus auf der Insel lag. Nur Wälder und Dunkelheit umgaben es. Das Trommeln des Regens und das Gurgeln des Wassers in den Regenrinnen waren die einzigen Geräusche. Wenn sie nicht diesen dummen Streit gehabt hätten, wenn Stephen sich nicht so schamlos ihr gegenüber verhalten hätte, dann hätten sie einen wunderschönen Abend hier verbringen können. Andererseits hatte aber auch sie schlimme Dinge gesagt, und zu einem Streit gehörten immer zwei. Sie schaute zu ihm hinüber und überlegte, ob sie sich entschuldigen sollte. Kim schloß die Augen und stellte sich vor, wie sie mit Tränen in den Augen vor ihm
stand, ihm sagte, daß ihre Worte ihr leid täten und ob sie wieder Freunde sein
könnten. Er würde sie an sich drücken, sie küssen und sie wegen all der
schlimmen Dinge, die er gesagt hatte, um Verzeihung bitten und ihr versichern,
daß alles nur seine Schuld gewesen sei. Er würde sie wieder küssen, und sie
würde ihn ein wenig schelten, ihm aber schließlich verzeihen.
Lächelnd sah sich Kim an seine nackte Brust gepreßt. Während er sie küßte und
streichelte, würde ihr Morgenrock sich irgendwie öffnen, sie spürte förmlich, wie
er ihre Brüste mit den Lippen liebkoste und seine Hände über ihre nackten
Schenkel strichen.
Kim riß die Augen auf und setzte sich kerzengerade hin. Woran dachte sie nur!
Mit Stephen durfte so etwas noch nicht einmal in ihrer Phantasie geschehen. Bei
Roger wäre das etwas anderes.
Trotzdem wäre es nicht schlecht, sich zu entschuldigen. Sie wollte nicht, daß
Stephen böse auf sie war.
Kim wollte schon aufstehen und zu ihm hinübergehen, um ihn um Verzeihung zu
bitten, als seine Stimme die Stille zerriß.
„Hast du für heute abend noch ein paar kindische Glanzleistungen auf Lager?
Oder glaubst du, wir können uns wie vernünftige Erwachsene hinsetzen und zu
Abend essen?“ fragte er.
Ihn um Verzeihung bitten? Nicht im Traum!
„Ich habe keinen Hunger!“ fuhr sie ihn an.
„Oh, wir schmollen jetzt!“ rief er belustigt. „Na schön. Dann bleibst du hier sitzen
und pflegst dein Selbstmitleid. Ich werde inzwischen etwas essen.“
„Ich hoffe, du erstickst dabei.“ Kim bereute ihre Bemerkung sofort, aber sie war
zu wütend, um sie zurückzunehmen.
Stephen fuhr herum. „Ich habe nicht die Absicht, deinen Wunsch zu erfüllen,
auch wenn dir der Anblick gefallen dürfte.“
„Tut mir leid, was ich gesagt habe“, sagte sie steif.
„Du brauchst dich auch nicht zu entschuldigen.“ Er ging in die Küche und begann,
im Kühlschrank herumzusuchen. Kim folgte ihm.
„Aber ich möchte mich entschuldigen. Ich habe es nicht so gemeint. Na ja,
vielleicht schon, aber ich war wütend, als ich es gesagt habe. O Stephen, können
wir nicht…“
„Können wir nicht was?“ unterbrach er sie. „Was willst du von mir? Findest du,
wir sollten uns küssen und unseren Streit beilegen? Ist es das?“ Sie wand sich
unter seinem Blick. „Sprich dich nur aus. Aber es reicht mir mit dir. Ich bin es
müde, mich mit dir abzugeben.“
„Du hast kein Recht, so mit mir zu reden.“
Er knallte die Kühlschranktür zu und meinte mit beißendem Sarkasmus: „Stimmt,
habe ich nicht. Ich habe kein Recht, überhaupt mit dir zu reden. Schließlich bist
du ja verlobt. Du bist hier und jetzt von jeder gefühlsmäßigen Bindung mit einer
menschlichen Umwelt freigesprochen aufgrund deiner historischen Beziehung zu
irgendeinem MittelschulRomeo, der während der letzten zwei Jahre dreitausend
Meilen entfernt war.“ Er machte ärgerlich einen Schritt auf sie zu. „Kannst du dir
eigentlich vorstellen, wie idiotisch dein Benehmen ist? Es ist höchst absurd!“
„Du verstehst das nicht“, hielt sie ihm vor.
„Darauf kannst du wetten. Ich verstehe nicht wie ein intelligenter Mensch sich so
einfältig benehmen kann.“
„Du nennst mich dumm?“
„Dein Verhalten ist lächerlich. Wach endlich auf! Du wirfst mit beiden Händen das
Glück weg. Hör auf, in einer Traumwelt zu leben!“ Er packte sie an den
Schultern. „Ich würde dir schon Vernunft beibringen, wenn es nur helfen würde.
Aber du mußt deine eigenen Entscheidungen treffen. Das kann ich dir nicht abnehmen.“ Er ließ sie los, wandte sich ab und fügte hinzu: „Das alles war ein Fehler. Wir können offenbar nicht weiter zusammenarbeiten. Ich werde mein Buch allein beenden. Es ist nicht nötig, daß wir uns gemeinsam weiterquälen.“ Kim starrte ihn an. „Du meinst, du willst nicht mehr, daß ich zu dir komme?“ „So ist es.“ Er nahm den Teller mit den Sandwiches, die er vorbereitet hatte, und setzte sich mit dem Rücken zu Kim an den Küchentisch. „Du wirst es den Hausers erklären.“ Sie sah ihm kurz zu, wie er aß, dann sagte sie: „Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht.“ Stephen antwortete nicht, und Kim verzog sich eilig ins Gästezimmer und schloß geräuschvoll die Tür. Ein paar Stunden später, mitten in der Nacht, wachte Kim auf. Ihr Kopf war überraschend klar, und sie war hellwach. Stephen wollte sie nicht mehr sehen. Er wollte lieber sein Buch allein weiterschreiben, als ihre Gegenwart zu ertragen. Sie konnte sich nicht vorstellen, im Camp zu bleiben, ihm jeden Abend beim Essen gegenüberzusitzen und nicht mit ihm befreundet zu sein. Jetzt merkte sie, daß sie Stephan liebte, und diese Erkenntnis erfüllte sie mit Verzweiflung. Vielleicht war sie nicht offiziell mit Roger verlobt, aber sie hatten über eine Ehe gesprochen. Sie erinnerte sich an den ersten Schultag nach dem Tod ihres Vaters und an ihre Ankunft bei Katherine. Kim war einsam und verängstigt gewesen. Roger hatte sie aufgefordert, sich während des Essens zu ihm zu setzen, und seitdem hatte sie ihn verehrt. Egal, was geschehen würde, sie würde Roger immer für seine Freundschaft ihr gegenüber lieben. Kim schauderte. Was meinte sie mit: egal, was geschehen würde? Nichts würde geschehen. Sie ging nach Kalifornien und besuchte ihn. Wenn sie sich dann wiedersahen, würde alles ganz einfach werden. Sie würden heiraten, denn es gab keinen Grund mehr zu warten. Fast zwei Jahre waren vergangen, und ihre Gefühle für Roger hatten sich nicht verändert. Das war sicher lange genug, um sicher sein zu können. Kim verwarf diesen Gedanken, denn wenn Stephen recht hätte, dann hätte sie sich ja die letzten zwei Jahre wie eine Närrin benommen. Das war mit Sicherheit ganz unmöglich. Abgesehen davon, liebte Stephen sie nicht mehr. Das hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben. Der Regen hatte plötzlich aufgehört. Vorsichtig setzte Kim sich auf und lauschte in die Stille des Hauses. Die beleuchteten Zeiger des Weckers auf ihrem Nachttisch standen auf kurz nach zwei. Kim wollte bis drei Uhr warten, dann wollte sie verschwinden. Natürlich lief sie nicht davon. Sie verschwand nur, um mit Stephen nicht argumentieren zu müssen. Sie fürchtete überhaupt nicht, daß er sie aufhalten würde. Sie hatte keine Angst vor ihm. Es war nur viel leichter so. Doch wieder meldeten sich Zweifel. Wenn sie nicht davonlief und keine Angst vor einer Diskussion mit Stephen hatte, dann könnte sie doch bis zum Morgen warten und Mr. Hauser bitten, sie zur Bushaltestelle zu fahren. Es würde schließlich ein langer nasser Marsch durch den Wald werden, und dann mußte sie ja auch noch den schweren Koffer mit ihren Sachen mitnehmen. Man könnte ihr den Koffer nachschicken. Kim war auf gar keinen Fall gewillt, bis zum Morgen zu warten, denn alle würden nur versuchen, sie von ihrem Entschluß abzubringen. Sie wollte aber den Hausers nichts erklären, und sie konnte es außerdem nicht mehr erwarten, Roger wiederzusehen. Das war nämlich der Grund, weshalb sie sofort verschwand – nicht weil sie vor Stephen Angst hatte! Die Minuten schleppten sich endlos dahin. Kim versuchte, um nicht
einzuschlafen, die Erlebnisse des Sommers noch einmal zu durchleben, und jedesmal stand Stephen inmitten aller Erinnerungen. Stephen hatte eine viel zu große Bedeutung in ihrem Leben gewonnen. Es war höchste Zeit, daß sie sich zurückzog. Endlich war es drei Uhr. Kim kletterte geräuschlos aus dem Bett, stopfte mit zitternden Fingern ein paar Kissen unter die Decke und formte sie zu einer menschlichen Figur. Sie konnte Stephen zwar nicht lange damit täuschen, aber sie konnte die Dinge damit ein wenig hinauszögern. Kim hatte vergessen, ihre Kleider vor das Feuer zu hängen, und fror nun heftig, als sie die feuchten, klammen Shorts anzog. Sie zitterte noch immer, als sie ihr Zimmer verließ und an der Tür des Schlafzimmers auf Stephens tiefen, regelmäßigen Atem lauschte. Behutsam tastete sie sich weiter ins pechschwarze Wohnzimmer, wo sie prompt mit dem Schienbein gegen einen Stuhl prallte. Doch da dieses Geräusch bei weitem nicht so laut war wie ihr Herzklopfen, war sie sicher, daß Stephen davon nicht geweckt worden war. Nun konnte sie sich nicht mehr erinnern, wo sie ihre Schuhe gelassen hatte, wollte aber auf eine Suche verzichten, da das Wohnzimmer über Nacht gewachsen zu sein schien und sie scheinbar Meilen zurücklegen mußte, bis sie endlich die Tür erreichte. Doch dann stand sie im Freien und zitterte in der kühlen Nachtluft. Sie schritt mit klappernden Zähnen den Pfad zum Steg hinunter und konnte kaum glauben, daß am Morgen vorher der See vor Hitze noch fast gedampft hatte. Kim ruderte über den See und vertäute das Boot. Nach einem Lauf durch das nasse Gras betrat sie ihre Hütte, nahm eine heiße Dusche und zog im Licht der Schreibtischlampe schnell eine graue Hose und eine Bluse an. Ihre wichtigsten persönlichen Dinge warf sie in eine Leinentasche und setzte sich, um den Hausers eine Nachricht zu hinterlassen. Es war nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Sie entschuldigte sich als erstes für ihre überstürzte Abreise ohne vorherige Aussprache mit dem Ehepaar und versicherte ihnen, daß sie ihnen gern persönlich für all ihre Freundlichkeit gedankt hätte. Sie versprach, bald ausführlich zu schreiben oder zu telefonieren, und unterschrieb. Dann überlegte Kim, ob sie Stephen irgendeine Nachricht hinterlassen sollte. Aber welche? Als Kim sah, daß der Himmel im Osten bereits heller wurde, gab sie ihr Nachdenken auf. Was tut’s, wenn sie seine Gefühle verletzte! Sie stellte das Kuvert auf die Kommode, so daß es sofort ins Auge fiel, verließ die Hütte und lief über den Rasen. Auf halbem Weg fuhr sie herum, kehrte zurück und kritzelte auf die Rückseite des Kuverts: „Sagen Sie Stephen, daß es mir leid tut.“ Eine Stunde später nahm ein vorbeifahrender Bauer Kim mit in die Stadt, und bald darauf befand sie sich bereits im Bus nach Bradford.
10. KAPITEL Katherine stand am Küchenfenster und versah gerade einen Kuchen mit Zuckerguß, als sie Kim über den Vorplatz kommen sah. Sofort eilte sie zur Tür. Kim wurde sehr herzlich umarmt, und sie kämpfte dagegen an, in Tränen auszubrechen und ihrer Cousine gleich alles zu erzählen. Zusammen setzten sie sich an den Küchentisch, wo Katherine Kim genauer betrachtete. „Was ist bloß passiert? Was machst du hier?“ Kim wußte, daß sie ihre Worte mit Bedacht wählen mußte. Es gab so vieles, was sie für sich behalten wollte. „Ich mußte weg, Katherine. Ich will nach Kalifornien fahren, um Roger zu sehen.“ „Oh!“ Katherine setzte Wasser zum Kochen auf. „Hast du heute schon etwas gegessen?“ Kim schüttelte den Kopf. „Du solltest wissen, daß man mit leerem Magen nicht eine so lange Reise unternimmt. Warte, ich mache dir schnell ein Omelette. Wir reden später über deine Pläne.“ Während Kim aß, versorgte Katherine sie mit den neuesten Nachrichten aus Bradford und aus ihrer Familie. Bei der zweiten Tasse Tee mußte Kim zugeben, daß die Welt gar nicht mehr so furchterregend und auch die Zukunft nicht schwarz aussah. Es tat gut zu wissen, daß Katherine alles verstehen würde. „Erzähl mir jetzt, warum du nach Kalifornien gehen willst. Hat Roger dich gebeten zu kommen?“ „Eigentlich nicht. Aber ich muß ihn sehen. Wir müssen miteinander reden.“ „Aber warum so plötzlich? Warum konnte das nicht warten, bis das Camp nach der Saison ohnehin schließt.“ Kim dachte einen Augenblick nach. „Vielleicht hätte es warten können. Vielleicht habe ich nur den Kopf verloren. Aber da ich nun schon mal so weit gegangen bin, kann ich auch bis zum Ende weitergehen, glaubst du nicht?“ „Aber wieso hast du den Kopf verloren?“ Wieder zögerte Kim. „Ich habe so lange nichts mehr von ihm gehört. Wir müssen uns einmal klar aussprechen. Wenn er mich nicht mehr liebt, möchte ich es wissen. Und ich möchte ihn sehen, um zu wissen, ob ich ihn immer noch liebe.“ „Weißt du eigentlich, daß du zum erstenmal zugibst, daß die Dinge sich geändert haben könnten? Es scheint, du bist in diesem Sommer ein bißchen erwachsener geworden.“ Katherine lächelte, dann kniff sie lauernd die Augen zusammen. „Das hat doch nichts mit dem arroganten Doktor zu tun, den du in deinem Brief erwähnt hast, oder?“ Kim seufzte und fühlte sich plötzlich einsam und elend. Sie wünschte sich sehnlichst, sie wäre mit Stephen auf der Insel von Harrow Lake. Wahrscheinlich würde sie Stephen nie wiedersehen. Er würde ihr nie verzeihen, daß sie vor ihm weggelaufen ist. Katherine nahm ihre Hand. „Macht nichts, Liebes, alles wird sich zum Besten wenden, du wirst sehen. Ich werde mit dem Reisebüro telefonieren und morgen einen Flug nach Kalifornien buchen. Ich finde, du solltest so bald wie möglich abreisen.“ Sie sprachen über praktische Einzelheiten, und Kim war froh, daß nicht mehr über den arroganten Doktor gesprochen wurde. Kaum hatte Stephen Kims Abwesenheit entdeckt, eilte er zum Camp hinüber. Die Hausers, die gerade beim Frühstück waren, sahen ihn über den Rasen stürmen und wütend die Tür von Kims Hütte aufstoßen. Ihre Blicke trafen sich in Unverständnis. Ein paar Augenblicke später sahen sie, wie Stephen mit einem Blatt Papier auf sie zukam.
„Was ist denn passiert? Wo ist Kirn?“ fragten sie, als er die Küche betrat. Stephen warf sich auf den nächsten Stuhl und griff nach der Kaffeekanne. Er sprach eine Weile nicht, und die beiden konnten erkennen, daß er sich mühevoll zu beruhigen versuchte. „Ich nehme an, Kim ist auf dem Weg zurück nach Bradford“, erklärte er endlich. „Ich kann den Grund nur erraten. Aber sie hat euch diese Nachricht hinterlassen.“ Er reichte den beiden das Schreiben. Das Kuvert, auf dem die Nachricht an ihn gestanden hatte, hatte er weggeworfen. „Das verstehe ich nicht“, gestand Mrs. Hauser verwirrt. „Kim ist in mich verliebt. Ich glaube, sie hat es erst gestern abend gemerkt, und das hat sie zu Tode erschreckt. Deswegen ist sie weggelaufen. Ich wette, sie will nach Kalifornien, um diesen geheimnisvollen Roger zu sehen.“ Er bemühte sich um einen leichten Ton, doch seine angespannten Kiefermuskeln straften ihn Lügen. „Was ist gestern abend passiert?“ fragte Mr. Hauser. „Nicht, was ihr denkt“, erwiderte Stephen schnell. „Wir hatten einen Streit, und ich wollte sie nicht während des Sturms zurückfahren lassen. Sie war verärgert, weil sie die Nacht auf der Insel verbringen sollte, auch wenn alles ganz sauber verlief.“ Er schnitt eine Grimasse, als er sich daran erinnerte, wie sehr sie sich gestern einer bestimmten Grenze genähert hatten. „Weißt du noch, Wilfred, ich habe dir gesagt, daß es schmerzliche Momente geben wird, bevor Kim und ich heiraten. Dies ist einer davon.“ „Verzeih mir, mein Lieber“, bat Mrs. Hauser, „aber bist du dir deswegen sicher? Bist du dir deiner und ihrer Gefühle sicher? Weißt du genau, daß sie dich liebt? Sie ist noch so jung.“ „Ich weiß, aber sie hat einen eisernen Willen. Sie läßt bei ihren Prinzipien keinen Kompromiß zu. Sie muß ein ungewöhnlich schwieriges Leben hinter sich haben, und doch hat sie sich eine seltene Art von Unschuld bewahrt. Ich bewundere und liebe sie deswegen.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Wahrscheinlich ist es meine Schuld, daß sie weggelaufen ist. Ich habe eine Menge Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen, Dinge, die ich nicht so meinte, aber ich bin in Wut geraten. Ich glaube, ich bin es nicht gewöhnt, abgewiesen zu werden.“ „Was willst du jetzt tun?“ „Ich lasse ihr ein paar Tage Zeit zum Nachdenken. Sie soll sich wegen ihrer Zukunft entscheiden. Dann fahre ich nach Bradford. Wenn sie nicht dort ist, fliege ich nach Kalifornien. Ich werde sie finden und dafür sorgen, daß sie die richtige Wahl trifft.“ „Aber wenn sie den Jungen in Kalifornien heiraten will?“ Er seufzte. „Ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich. Zweifellos wird auch er mitreden wollen, und ich vermute, daß er schon Pläne für die Zukunft hat, die Kim nicht einschließen. Ich bin aber sicher, daß sie ihn nicht liebt, ich weiß, sie liebt mich.“ Entschlossen sprang er auf. „Ich habe eine Menge zu tun. Keine Angst, das wird sich alles schon einrenken.“ „Ich weiß zwar nicht, was für ein Mensch dieser Roger ist“, meinte Mrs. Hauser, nachdem Stephen gegangen war, „aber er kann Stephen sicher nicht das Wasser reichen.“ Mr. Hauser nickte. „Es würde mich überraschen, wenn Kim das nicht merkte. Sie mag jung und unerfahren sein, aber sie ist nicht dumm.“ „Stephen wird nicht zulassen, daß sie sich für Roger entscheidet.“ „Ja, er weiß, was er will, und er wird es durchsetzen.“ Am Nachmittag ging Kim in die Stadt, um ein paar neue Kleider für ihr Treffen mit Roger einzukaufen. Die Geschäfte stellten bereits Winterkleidung aus, so daß
Kim lange suchen mußte, bis sie ein schickes Sommerkleid fand. Sie stand lange
vor Röcken und Pullovern aus Lammwolle und dachte daran, daß, wenn die Dinge
sich anders entwickelt hätten, das die richtige Kleidung für Schottland wäre. Aber
am nächsten Tag traf sie sich ja schon mit Roger, und dieser Gedanke erfüllte sie
mit einem Gefühl der Nervosität, wie vor einem Arzttermin.
Katherines Kinder freuten sich über Kims Rückkehr. Daß sie früher
zurückgekommen war als beabsichtigt, werteten sie als eine von Kim eigens
ausgedachte Überraschung. Voller Rührung beobachtete Kim, wie gut Bert sich in
der Familie eingelebt hatte, und wie er mit ihr auskam.
Kim zog sich an diesem Abend körperlich und seelisch erschöpft schon früh in ihr
Zimmer zurück. Bevor sie sich noch ans Packen machen konnte, kam Annie in ihr
Zimmer.
„Weshalb hast du das Camp verlassen?“ fragte das Mädchen.
„Das habe ich euch doch gesagt. Ich will nach Kalifornien fahren.“
„Aber warum? Was ist passiert? Ich bin kein Baby mehr, du kannst offen mit mir
reden.“
Kim lachte und legte einen Arm um die Schultern des Mädchens. „Das weiß ich.
Du bist eine meiner besten Freundinnen, mit der ich sehr gern rede. Aber ich
kann dir nicht mehr sagen.“
„Läufst du weg?“
„Nein, natürlich nicht. Das heißt, vielleicht. Bitte sag nichts Katherine, aber ich
hatte Streit mit Dr. Anderson, so daß ich nicht mehr bleiben konnte, und
außerdem war es höchste Zeit, daß Roger und ich zu einer Einigung kommen.“
„Worum ging der Streit?“
„Dieser Mann macht mich so wütend. Er glaubt, er weiß alles.“ Verärgert schlug
sie das Fenster zu.
„Aber worum ging es bei dem Streit?“
„Es ging wohl um Roger.“
„Woher weiß er von Roger? Was hat er gesagt?“
„Ich hatte ihm gesagt, daß ich mit Roger verlobt bin, und zwar schon seit einiger
Zeit, und da hat er gesagt, ich könnte Roger nicht lieben, weil ich ihn so lange
nicht mehr gesehen hätte. Er sagte, Roger sei eine Einbildung von mir. Stell dir
das mal vor!“
„Und was hast du dann gesagt?“
„Ich habe ihm erklärt, daß ihn das nichts angeht. Und dann bin ich abgereist.“
„Da muß mehr gewesen sein.“
„Das ist die Kurzfassung.“
„Weshalb interessiert sich Dr. Anderson dafür, ob du Roger liebst?“
„Annie, du stellst die unmöglichsten Fragen.“
„Nein, wirklich, was interessiert ihn das? Außer, er ist selbst in dich verliebt. Ist
es das, Kim? Bist du deswegen weggegangen? Dr. Anderson ist in dich verliebt,
und du bist weggelaufen, um deine Unschuld zu retten.“ Sie sah Kim aus großen
glänzenden Augen an.
„Du ziehst voreilige Schlüsse. Außerdem, was weißt du schon von Unschuld
retten?“
„Ich sehe eben fern“, belehrte Annie sie. „Aber stimmt es? Habe ich richtig
geraten? Ist Dr. Anderson in dich verliebt?“
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, er war gelangweilt. Er hat gesagt, er liebt mich,
aber das ist sowieso egal, denn ich liebe Roger, und ich werde ihn morgen sehen,
Stephen Anderson aber nie wieder.“
„Und wenn du Roger nicht mehr magst?“
„Das ist albern. Ich mag ihn immer noch.“
„Aber wenn du ihn nun nicht mehr magst?“ „Dann – dann… Ach, ich weiß nicht. Dann komme ich wohl wieder nach Bradfort zurück und arbeite in der Bank.“ „Warum kannst du nicht Dr. Anderson heiraten, wenn du Roger nicht mehr heiraten willst?“ „Annie, so einfach ist das nicht. Ich kann nicht so mir nichts dir nichts zu Stephen zurückgehen, wenn es mit Roger nicht geklappt hat. Er würde nie Lückenbüßer spielen wollen. Ich könnte ihm nie mehr in die Augen sehen, wenn sich herausstellte, daß er in allem recht gehabt hat.“ „Liebst du ihn?“ „Natürlich nicht. Die meiste Zeit hasse ich ihn inbrünstig.“ Plötzlich ließ Annie sich von ihrem Spiegelbild ablenken, als sie nämlich versuchte, Kims Lippenstift auszuprobieren. „Annie, ich bin müde, und ich muß morgen sehr früh aufstehen. Wir reden weiter, wenn ich von Kalifornien zurück bin.“ „Kommst du wirklich zurück?“ „Ich habe Katherine versprechen müssen, daß ich auf jeden Fall hierher zurückkomme und mit ihr rede, bevor ich irgendeinen Entschluß fasse. Ich komme also mit Sicherheit wieder. Und jetzt laß mich bitte zu Bett gehen.“ Es war nicht so leicht, die Fragen zu verdrängen, die Annie gestellt hatte. Kim lag lange Zeit wach. War ihre Reise nach Kalifornien wirklich nur eine andere Form des Weglaufens? Wollte sie Roger nur sehen, um von Stephen wegzukommen? Dieser Gedanke entmutigte sie. Es schien unmöglich, daß Roger und sie da weitermachen konnten, wo sie einst aufgehört hatten. Und Stephen würde ihr nie verzeihen. Sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen. Stephen würde sie nie wieder necken, nie wieder mit ihr schimpfen, sie nie wieder umarmen und küssen. Sie würde nie wieder seine lachenden grauen Augen sehen. Schmerzliche Leere machte sich in ihr breit. Sie wollte sich jetzt nur noch auf die Zukunft konzentrieren. Mit einer Mischung aus Angst und Aufregung freute sie sich auf ihren ersten Flug. Vielleicht zeigte Roger ihr Los Angeles, und sie sah den Pazifik. Schließlich sank Kim erschöpft in den Schlaf. Wie eine Schlafwandlerin überstand Kim die Reise von Bradford nach New York und von New York nach Los Angeles. Zwischendurch sagte sie sich, daß Tausende von Menschen täglich von Küste zu Küste flogen, doch die Angst, daß irgendein Unheil eintraf, machte sie völlig benommen. Das Reisebüro hatte einen Mietwagen für sie in Los Angeles bestellt, mit dem sie völlig erschöpft, aber zufrieden mit sich selbst ihr Hotel erreichte. In ihrem Zimmer streckte sie sich auf dem Bett aus und begann, den Stadtplan zu studieren. Rogers Adresse war der Pacific Coast Highway in Malibu. Gleich am nächsten Tag wollte sie dorthin fahren. Das würde eine perfekte Überraschung abgeben. Übernächtigt und erschöpft erwachte Kim am frühen Morgen. Das Hotel lag zwar in günstiger Nähe zum Flughafen, doch der Lärm der donnernden Maschinen hatte sie die halbe Nacht hindurch wachgehalten. Nun kaufte sie sich eine Zeitung, um sie während des Frühstücks in dem reizenden Terrassencafe zu lesen. In ihrem Zimmer schlüpfte Kim in ihr neues Kleid und legte behutsam Makeup auf. Kurz darauf fuhr sie ihren Mietwagen aus der Parklücke auf die Straße hinaus. Sie mußte sich stark auf den Verkehr konzentrieren, während sie die Route verfolgte, die sie sich anhand der Straßenkarte eingeprägt hatte. Auf der Strecke gen Norden nach Malibu öffnete sich das Land. Wild zerklüftete Hügel
traten in Kims Blickfeld, und sie hatte den Eindruck, als würden jeden Augenblick Cowboys und Indianer an ihr vorbeireiten. Wolkenlos wölbte sich der blaue Himmel über ihr. Kim verließ die Schnellstraße und bog auf eine gewundene zweispurige Straße ab, die an einem atemberaubenden Canyon entlangführte. Endlich sah sie den Ozean in der Ferne funkeln, und Kim merkte schockiert, daß sie sich Stephen herbeisehnte. Plötzlich wurde sie so nervös, daß ihr Fuß auf dem Gaspedal zu zittern begann. Sie hätte Roger Bescheid geben müssen, daß sie kam. Vielleicht paßte ihm ihr Besuch gerade nicht, oder er war gar nicht zu Hause. Kim bremste ab und begann die Nummern der Häuser zu lesen, bis sie Rogers Haus gefunden hatte. Sie lenkte den Wagen von der Straße und stellte den Motor ab. Das Haus war riesig. Es stand etwas zurückgesetzt von der Straße und war teilweise von mehreren mächtigen Buchen verdeckt. Kim saß in ihrem Wagen und blickte fassungslos auf das Haus, in dessen Einfahrt zwei Mercedes standen. Sie hatte sich darauf vorbereitet, daß Roger in einem kleinen Apartment wohnte oder sich ein Strandhaus mit einem hungernden Schauspielerkollegen teilte. Was machte er nur an einem solchen Ort? War er hier vielleicht als Hausmeister oder Verwalter angestellt? Ungefähr eine halbe Stunde saß sie im Auto, dann nahm sie ihre kleine Strohtasche und ging zur Haustür. Während sie darauf wartete, daß ihr die Tür geöffnet wurde, mußte sie gegen den Impuls ankämpfen, zum Wagen zurückzulaufen. Sie hörte schließlich, wie sich jemand der Tür näherte, und schluckte schwer. Erstaunt blickte sie auf die große und sehr blonde Frau, die ihr geöffnet hatte. Ihre Haut war braungebrannt, und sie trug ein lose geschnittenes Kleid von schimmernder Goldfarbe. Das Haar hatte sie flüchtig auf dem Kopf zusammengesteckt, wodurch sie noch größer wirkte. Mit offener Gleichgültigkeit blickte sie Kim an und wartete darauf, daß sie sich vorstellte. Kim kam sich plötzlich wie ein kleines Mädchen vor. Mit vor Verlegenheit brennenden Wangen begann sie zu stottern: „Tut mir leid – ich meine, ich war – ich habe mich vielleicht geirrt. Ich wollte – das heißt, wohnt Roger Petrie hier?“ Die Haltung der Frau versteifte sich, während sich ihre Mundwinkel zu einem leichten Lächeln hoben. „Ja, er wohnt hier. Wollen Sie nicht hereinkommen?“ Sie zog die Tür nicht einen Zentimeter weiter auf, so daß Kim sich seitlich hineinzwängen mußte. „Warten Sie hier. Ich hole ihn.“ Kim stand allein in dem riesigen Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich eine Gleitglastür zu einer Veranda, die den Ozean überblickte. Kim konnte sich später nur daran erinnern, daß der Raum bis auf den überwältigenden Eindruck des blauen Pazifiks recht dunkel gewesen war. Sie hörte, wie die Frau flötete: „Liebling! Da ist ein Mädchen am Eingang und fragt nach dir.“ Kim war jetzt entschlossen zu fliehen. Sie fuhr herum und packte den Türknauf, doch ihre Handflächen waren so schweißnaß, daß sie den Knauf nicht drehen konnte. Sie zerrte an dem Knauf, bis sie merkte, daß sie die Tür verriegelte. Wenn sich nur der Boden unter ihr öffnen und sie verschlucken würde! „Kim?“ Langsam drehte sie sich um und blickte in Rogers überraschte blaue Augen. Wie im Scheinwerferlicht stand er da, denn alles um ihn herum blieb dämmrig. Er trug einen dunkelblauen Bademantel, und Kim bemerkte die Wasserpfütze, die sich zu seinen Füßen bildete. Sie wußte gar nicht mehr, daß er so groß, so schlank und so schön war. Seine Haut war gebräunt, und das helle, lange Haar wirkte wie die Mähne eines Löwen.
„Ich war gerade im Pool. Virginia sagte, es sei jemand hier. Was machst du denn
hier?“
Sie schluckte. „Du siehst blendend aus, Roger.“
„Danke. Ich bin so überrascht, daß ich nicht mehr weiß, was ich sagen soll.“ Er
gab sich einen Stoß, trat zu Kim, legte die Hände leicht auf ihre Schultern und
küßte sie auf die Wange. „Komm mit, wir wollen etwas trinken. Vielleicht
eisgekühlten Tee? Wann bist du hier angekommen? Wo wohnst du?“
Sie folgte ihm hölzern auf die Veranda hinaus und setzte sich auf einen
Liegestuhl, der unter einem riesigen Sonnenschirm neben einem kleinen runden
Tisch stand.
„Das ist eine Überraschung. Vielleicht wäre etwas Stärkeres als Eistee
angebracht.“
Eine ältere Frau in einer rosafarbenen Uniform erschien auf irgendein
unsichtbares Zeichen hin. Roger bat um zwei Bloody Marys und ließ sich neben
Kim auf einem Stuhl nieder. „Wie geht es so im guten alten Bradford?“
„Ich hätte dich vorher anrufen sollen.“
„Sei nicht albern. Das ist eine wunderbare Überraschung. Was führt dich nach
Kalifornien?“
Es war schrecklich schwierig für Kim zu sprechen. Die Hitze, die Sonne, das Haus
und seine Bewohner verwirrten sie. Und Roger war die Karikatur des Jungen, den
sie einmal gekannt hatte.
„Ich wollte dich sehen, mit dir reden.“
„Du meinst, du hast das ganze Land überquert, nur um mit mir zu reden? Wie
schmeichelhaft!“
Die Frau war mit zwei Gläsern und einer Karaffe auf einem Tablett
zurückgekehrt. Roger goß die Gläser voll.
„Aber ich freue mich, dich zu sehen. Du bist gewachsen.“ Er betrachtete sie nicht
gerade interessiert. Kim trank einen Schluck, hustete leicht und lächelte.
„Ich kann gar nicht glauben, daß ich hier bei dir bin. Es ist so lange her.“
„Ja. Ah, da ist Virginia. Liebling, ich möchte dich mit einer alten Freundin von mir
bekannt machen. Sie stammt aus meiner Heimatstadt. Kim Grayson – Virginia.“
Die beiden Frauen nickten sich beiläufig zu.
„Roger, vergiß nicht, du wolltest mich später zum Kurbad bringen, und der
Porsche muß in die Werkstatt. Außerdem erwarte ich heute abend ein paar Leute
zum Cocktail. Vielleicht will uns deine Freundin Gesellschaft leisten. Es dürfte
amüsant werden.“
„Danke“, sagte Kim, „aber ich habe bereits Pläne gemacht.“ Sie glaubte zu
sehen, wie Roger erleichtert die Luft ausstieß.
Virginia streckte sich gekonnt auf einer Liege aus, und einen Augenblick lang
entstand ein peinliches Schweigen.
„Wie gefällt dir Kalifornien, Kim?“ fragte Roger.
„Ich kenne es eigentlich noch nicht. Aber es ist sehr schön hier.“
Virginia stieß einen verächtlichen Ton aus. „Es gibt Kalifornien, meine Liebe, und
es gibt Malibu. Verwechseln Sie das nicht.“
„Wann bist du angekommen?“ fragte Roger schnell.
Kim war vorsichtig genug, um Virginia nicht wissen zu lassen, daß sie nur Rogers
wegen gekommen war, und log: „Vor ein paar Tagen. Ich besuche Freunde.“ Sie
hoffte, daß keiner nach dem Namen und der Adresse der Freunde fragte.
„Wie lange bleibst du?“
„Ich weiß noch nicht.“
Wieder entstand eine Pause. Roger setzte plötzlich mit einem Knall sein leeres
Glas ab. „Ich ziehe mich schnell um, dann gehen wir an der Bucht spazieren, ja,
Kim?“
Sie nickte dankbar, kurz darauf war sie mit Virginia allein.
„Sie haben Roger wohl ewig nicht gesehen?“
„Es sind fast zwei Jahre her, seit er Bradford verließ.“
„Finden Sie ihn verändert?“
„Ich glaube schon. Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mich verändert.“
Virginia lachte. „Machen Sie’s nicht schwierig, meine Liebe. Die Zeiten ändern
sich und wir uns mit ihnen.“ Plötzlich stand sie auf und trat an Kim heran. „Seit
ich Roger kenne, hat er sich sehr verändert, und nur zum Besten. Er bekommt
bessere Rollen, sein Name wird bekannt. Vielleicht wird er nie ein großer Star,
aber er wird sich durchmogeln. Und was machen Sie?“
Kim zögerte. „Im Augenblick reise ich gerade.“
„Wie schön für Sie!“
Endlich erschien Roger in Jeans und blaßsilbernem, bis zur Taille offenem Hemd.
Mehrere zarte Goldketten hingen um seinen Hals. Schnell fuhr er sich mit einem
Kamm durchs Haar.
„Wir wollen gehen, Kim, sonst wird es zu heiß.“
„Vergiß nicht meinen Termin!“ rief Virginia ihm nach.
Roger führte Kim um die Veranda herum. An jedem Fenster des Hauses blieb er
kurz stehen, um seine goldenen Ketten zu richten oder sein Haar oder das Hemd
in Ordnung zu bringen.
„Das war wirklich eine Überraschung, dich wiederzusehen, Kim. Weshalb bist du
gekommen?“
„Ich wollte mit dir reden, Roger. Es ist schon so lange her, daß wir uns gesehen
haben.“
Er lachte gekünstelt. „Es erscheint mir gar nicht so lange her und dann doch
wieder wie Jahrhunderte. Wir haben schöne Zeiten verbracht früher, was?“
Sie nickte.
„Hättest du mich wiedererkannt, Kim?“
Sie schaute ihn überrascht an. „Aber natürlich.“
„Es ist nicht leicht, in Form zu bleiben. Ich kann nicht vorsichtig genug sein. Bei
dieser Sonne hier altert man einfach zu schnell. Und das Aussehen ist alles.“
„Aber Roger, sei doch nicht albern, du bist doch kaum älter als ich. Du siehst
wunderbar aus.“
„Du siehst auch gut aus, wirklich. So eine Überraschung! Wie lange bleibst du?“
Kim nahm ihren ganzen Mut zusammen und gestand: „Das hängt von dir ab.“
Er seufzte. „So etwas Ähnliches habe ich befürchtet. Ich weiß, ich hätte schreiben
sollen, aber ich wußte einfach nicht, was. Ich hoffte, du würdest merken, daß wir
beide jetzt erwachsen sind und nicht ewig die gleichen Spiele spielen können. Es
ist nicht so, daß du mir gleichgültig bist. Ich werde dich immer gern haben. Du
bist der einzige Mensch in Bradford, der mir wirklich etwas bedeutet hat. Aber die
Zeiten haben sich geändert.“
„Aber Roger, ich habe dir jede Woche geschrieben. Hast du denn nicht gemerkt,
wie wichtig du mir immer noch warst? Irritiert sah sie zu ihm auf.“
„Schon, aber ich dachte mir, es bedeutet eigentlich nichts. Ich habe deine Briefe
für eine Art Fanpost gehalten. Wir waren doch immer gute Freunde, Kim. Als ich
Bradford verließ, dachte ich, ich sei in dich verliebt. Ich wollte dich nachkommen
lassen, damit wir zusammen leben und Parties geben und so weiter. Aber das
war vor zwei Jahren. Ich hätte nie gedacht, daß du das alles nicht vergessen
würdest.“
„Ich habe es nicht vergessen.“ Sie schritt automatisch neben ihm her und starrte
geradeaus.
„Na ja, ich habe es eigentlich auch nicht richtig vergessen. Das heißt, ich denke
noch manchmal an dich und hoffe, es geht dir gut. Ich dachte, du wärst
inzwischen schon verheiratet.“
Kim blickte ihn erstaunt an.
„Es ist kein einfaches Leben hier, Kim. Einer frißt den anderen, wie im Dschungel.
Es geht nicht darum, wie gut du bist, sondern, wer dich kennt. Virginia war
wirklich großartig zu mir. Man muß hier kämpfen, wenn man es schaffen will, und
es ist ein harter Kampf. Manchmal wollte ich aufgeben und nach Hause fahren.
Dann dachte ich an dich. Ich wollte heimfahren, in Dads Laden arbeiten und dich
heiraten. Aber ich habe jetzt zu hart gearbeitet, um das alles wegwerfen zu
können. Ich kann es einfach nicht aufgeben.“
„Nein, natürlich nicht.“
„Schau nicht so, Kim. Das ist nicht das Ende der Welt.“
„Ich weiß. Es ist nur so heiß…“
„Wir wollen umkehren. Du bist die Sonne nicht gewöhnt.“
Sie gingen eine Weile schweigend weiter.
„Warum kommst du heute abend nicht auf die CocktailParty? Es gibt eine Menge
interessanter Leute dort. Vielleicht triffst du ein paar nette Männer. Es wird dir
gefallen.“
„Es klingt hübsch, aber ich möchte nicht.“
„Kim, ich fühle mich wie ein Wurm.“
Sie schaute ihn erstaunt an. „Ich wollte nicht, daß du dich schlecht fühlst, Roger.
Ich wollte nur die Wahrheit wissen.“
„Und die Wahrheit ist schrecklich, ich hätte dir schon lange schreiben sollen. Ich
hatte einfach nicht geglaubt, daß du nach all der Zeit immer noch an mich
denkst.“
„Vielleicht habe ich es nur aus Gewohnheit getan.“
„Genau, das war es. Du hattest dich an mein Gesicht gewöhnt!“
Jetzt mußte Kim lachen. „Wie konnte ich mich an dein Gesicht gewöhnen, Roger,
wenn ich es kaum mehr gesehen habe?“
„Ach, du weißt schon, wie ich es meine. Ich freue mich, daß du es so gut
aufnimmst, Kim. Ich erinnere mich noch an den ersten Tag, als ich dich sah. Du
warst neu an der Schule und hattest vor jedem und allem Angst.“
„Dann hast du mich eingeladen, mit dir zu essen, und ich hatte das Gefühl, ich
hatte einen Freund gewonnen.“
„Und nach dem Essen habe ich die Hausaufgaben von dir abschreiben dürfen. Ich
hätte die Schule nie geschafft, wenn du mir nicht geholfen hättest.“ Er zögerte.
„Kim, ich will dir die ganze Wahrheit sagen. Ich werde nächsten Monat Virginia
heiraten, sobald ihre Scheidung ausgesprochen ist. Sie ist ein bißchen älter als
ich, aber wir verstehen uns gut. Wir haben die gleiche Einstellung, verstehst du?
Ich halte das für wichtig für eine Ehe. Findest du nicht?“
„Doch.“
„Wir haben viele gemeinsame Interessen und Freunde. Wir können die Ehe
erfolgreich machen. Willst du uns nicht Glück wünschen, Kim?“
„Natürlich. Ich hoffe, ihr beide werdet sehr glücklich.“
„Gut, alte Kim. Wir werden dir eine Einladung zur Hochzeit schicken.“
„Nicht nötig. Ich kann bestimmt nicht herüberkommen.“ Sie gingen eine Weile
schweigend weiter, bis sie kurz vor dem Haus standen. Plötzlich legte Kim eine
Hand auf Rogers Arm. „Roger, ich schätze deine Ehrlichkeit, und ich finde, ich
sollte ebenfalls ehrlich mit dir sein. Ich möchte nicht, daß du glaubst, ich hätte
die ganze Zeit über nur an dich gedacht. Ich werde bald heiraten, und ich bin nur
gekommen, um dich zu sehen und mich zu vergewissern, daß du nicht zu sehr
verletzt bist. Ich mußte das wissen.“
„Kim, das ist ja großartig! Wie schön! Ich werde das gleich Virginia erzählen. Du
mußt heute abend zu unserer Party kommen. Wir haben soviel zu feiern.“
„Lieb von dir, Roger, aber ich muß packen. Ich reise morgen ab.“
„Das ist schade. Aber eines Tages wirst du zurückkommen. Jeder kommt nach
Los Angeles zurück.“
Virginia wartete bereits. „Roger, beeile dich, ich möchte mich nicht verspäten.
Fahren Sie wieder, Kim?“
Kim war ein wenig verletzt, weil Roger noch nicht einmal gefragt hatte, wen sie
heiratete, aber sie war auch froh, daß er sich soviel mit sich beschäftigte. Das
ersparte ihr eine Menge Lügen. Sie seufzte. Es hätte ja auch der Wahrheit
entsprochen, wenn sie nicht vor Stephen weggelaufen wäre, wenn sie nicht all
die schrecklichen Dinge gesagt hätte.
Roger begleitete sie zum Wagen. Kim staunte, wie schnell Träume und
Hoffnungen zweier Jahre zerstört werden konnten. Ihre Unterhaltung war höflich
und beherrscht verlaufen. Leidenschaftslos waren ihre jugendlichen Vorstellungen
über die Zukunft zerronnen.
„Mußt du wirklich so bald zurückfliegen?“ fragte Roger. „Wenn du noch ein paar
Tage bleiben könntest, würde ich dir die Stadt zeigen und die Fernsehstudios, wo
ich gearbeitet habe. Es würde dir sicher gefallen.“
„Es klingt hübsch, aber ich habe noch eine Menge zu tun. Ich muß ein paar
Vorbereitungen treffen – wegen meiner Zukunft, du weißt schon.“
„Wird es eine große Hochzeit?“
Diese Frage kam überraschend, denn Kim hatte ihre kleine Lüge schon wieder
ganz vergessen.
„Nein, wahrscheinlich nicht. Wir haben noch nicht entschieden.“
„Virginia und ich werden in Vegas heiraten, und Flitterwochen werden wir im
Maui machen. Ihre Familie hat dort ein Haus.“ Sie standen am Auto, und jeder
bemühte sich noch einmal um ein freundliches Wort. „Ich hoffe, du denkst nicht
schlecht von mir, Kim.“
„Ich denke, alles hat sich wahrscheinlich zum Besten gewandt.“
„Ich habe dich immer gern gehabt, auf meine Weise. Aber es wäre mit uns nicht
gutgegangen. Wir haben uns eben in verschiedene Richtungen entwickelt. Jetzt
ist es zu spät. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen.“
„Ich glaube nicht, daß ich sie zurückdrehen möchte“, erwiderte Kim langsam.
„Vielleicht habe ich dir deswegen nie von Virginia geschrieben“, fuhr er fort, als
ob sie nichts gesagt hätte. „Vielleicht habe ich es nicht fertiggebracht, dich ganz
aufzugeben. Alles schien so einfach. Aber nichts ist einfach oder leicht, wirklich
nicht. Es ist, als ob man an den Nikolaus glaubt. Es wäre schön, wenn es wahr
wäre, und man möchte auch daran glauben, aber man kann es einfach nicht.
Weißt du, was ich meine?“
„Ungefähr. Ich habe auch gedacht, daß das Leben so einfach ist. Ich dachte,
eines Tages würdest du mich anrufen und mir sagen, daß ich zu dir kommen soll,
daß wir heiraten und immer glücklich sein werden. Wie im Märchen. Jeder Tag
wird ein bißchen leichter, wenn man sich auf etwas freuen und denken kann:
,Wenn es soweit ist, dann werde ich glücklich sein.’ Lange Zeit warst du mein
Nikolaus.“
Beide lachten ein wenig verlegen.
„Wenn ich nach Bradford zurückgegangen wäre und dich geheiratet hätte, dann
wäre das wie eine Niederlage gewesen“, sagte Roger. „Es wäre ein Schritt nach
rückwärts gewesen. Das hat aber nichts mit dir persönlich zu tun, Kim.“
„Wir haben uns in der Vergangenheit gegenseitig viel bedeutet, und ich bin froh,
daß ich dich wiedergesehen habe. Wir wollen in Verbindung bleiben.“
„Wir können nicht in Verbindung bleiben. Du schreibst ja nie!“
Wieder lachten sie beide.
„Jetzt, da ich dir gegenüber keine Schuldgefühle mehr habe, schreibe ich dir
vielleicht öfter.“
„Nein, du solltest keine Schuldgefühle haben.“
Er öffnete ihr die Tür, und Kim setzte sich hinters Steuerrad. Einen Augenblick
lang sahen sie sich beide an, dann beugte Roger sich zu ihr hinunter und küßte
sie sanft auf die Wange. Sie winkten sich zu, und Kim fuhr davon.
11. KAPITEL Kim flog am folgenden Tag nach Bradford heim, wo sie am späten Abend eintraf. Sie war sehr müde, da die Zeitverschiebung ihren Rhythmus durcheinander gebracht hatte. Bis sie in Bradford eingetroffen war, hatte sie sich nur mechanisch bewegt. Sie hatte funktioniert wie ein Roboter und sich genauso dumpf und innerlich unberührt gefühlt. Und wann immer ein schmerzlicher Gedanke auftauchen wollte, hatte sie ihn zurückgedrängt. Annie und Katherine holten sie am Flughafen ab. „Wie ist alles gelaufen?“ fragten sie neugierig. „Roger heiratet nächsten Monat eine Frau namens Virginia. Es war schön, ihn wiederzusehen.“ Katherine seufzte, und Annie nahm Kims Koffer auf. Langsam schritten sie durch das Flughafengebäude. „Schaut nicht so traurig“, sagte Kim. „Es ist sicher das beste, und jetzt weiß ich es wenigstens. Ich bin nur so müde, und ich kann gar nicht mehr richtig denken. Ich habe es selbst noch nicht ganz begriffen. Ich weiß, daß ich mir überlegen muß, wie es weitergeht, aber ich kann es einfach noch nicht.“ Zum erstenmal in ihrem Leben merkte sie, daß sie ihre Zukunft ohne Roger planen mußte. Und wenn sie jetzt noch an Stephen dachte, würde sie auf der Stelle zu weinen anfangen. „Wirst du nach Harrow Lake zurückfahren?“ wollte Annie wissen. „Der Sommer ist noch nicht vorbei. Es bleiben dir noch ein paar Tage.“ „Ich kann nicht zurückgehen“, erwiderte sie mit leiser Stimme. „Wir wollen heute abend nicht darüber reden, Annie. Wir wollen Kim nach Hause bringen, damit sie ins Bett gehen kann“, sagte Katherine. Die Kinder erhoben lautes Getöse bei Kims Rückkehr, so daß sie froh war, bald in ihr Zimmer verschwinden zu können. Am folgenden Morgen war Kim ganz allein im Haus. Die Kinder waren zur Schule gegangen und die Erwachsenen zur Arbeit. Kim duschte, zog sich an und setzte sich mit der Morgenzeitung an den Frühstückstisch am Fenster. Danach wechselte sie in den Schaukelstuhl über und lauschte dem Knarren des Holzes. Von ein paar Blocks entfernt hörte sie das Schreien einiger Kinder. Ein Rasen wurde gemäht. Die zarten weißen Vorhänge bewegten sich leicht in der Brise. Gelegentlich fuhr ein Wagen vorbei. Kim stand auf, schlenderte durchs Wohnzimmer ins Eßzimmer, durch die Küche in die Eingangsdiele hinunter und wieder hinauf ins Wohnzimmer, wo sie sich erneut auf dem Schaukelstuhl niederließ. Nach einer Weile stieg sie in ihr Zimmer hinauf, schloß leise die Tür und legte sich aufs Bett. Sie zog das Kissen über den Kopf und drückte es an ihre Ohren. Sie wollte nichts sehen, nichts hören, nichts denken, nichts fühlen. Lange Zeit blieb sie regungslos liegen, dann nahm sie ihre ruhelose Wanderung wieder auf. Manchmal überkam sie ohne jede Vorankündigung ein überwältigender Schmerz. Dann merkte sie, daß Roger überhaupt nichts mit ihrer Verzweiflung zu tun hatte. Roger hatte sie gar nicht verletzt. Seine mangelnde Zuneigung hatte ihr gar nicht so viel bedeutet. Das war jedesmal wieder eine Überraschung für sie. Sie empfand keinen Ärger über ihn, nur ein wenig Enttäuschung, weil er nicht den Mut gehabt hatte, ihr schon seit langem die Wahrheit zu sagen. Und doch konnte sie ihn verstehen. Alle hatten recht gehabt: Mrs. Hauser, Katherine, Stephen. Sie alle hatten sie gewarnt. Aber sie war dickköpfig und verblendet gewesen. Vielleicht hatte
Stephen recht gehabt, als er sagte, sie verstünde nichts von der Liebe. Wieder empfand sie einen stechenden Schmerz. Vielleicht wußte ich wirklich nichts von der Liebe, dachte sie, aber jetzt weiß ich, daß ich Stephen liebe und ihn verloren habe. Wenn ich nur weinen könnte, dann würde ich mich wahrscheinlich besser fühlen. Doch ihre Augen blieben trocken. Sie war so ruhelos, daß sie nicht still sitzen konnte, und unternahm daher einen langen Spaziergang. Ich habe alles weggeworfen, dachte sie. Ich glaubte, ich sei so klug und wüßte mehr als jeder andere. Ich nahm an, ich sei etwas Besonderes, in Tugend gebettet, die Geduld persönlich auf einem Monument. Ich war so stolz auf mich selbst, weil ich so treu war. Aber ich bin eine Närrin, eine große Närrin. Sie erinnerte sich an die Blondine, die während der Cocktailparty mit Stephen geflirtet hatte. Stephen würde sicher nicht lange brauchen, um jemanden zu finden, der ihn aufheiterte. Muriel fiel ihr ein. Muriel hat mir gesagt, daß Stephen an mir interessiert sei, erinnerte sie sich, und ich habe sie noch für verrückt gehalten. Kim krümmte sich innerlich wegen ihrer eigenen Blindheit. Sie stieß einen Stein vom Weg. Stephen hatte ihr gesagt, daß er sie liebte, aber jetzt würde er sie nicht mehr wollen, er würde sie nur auslachen, weil sie abgewiesen worden war. Sie mußte sich um ihre Zukunft kümmern. Jetzt, da Bert in Katherines Haus war, wurde Kim eigentlich nicht mehr gebraucht. Außerdem war sie zwanzig Jahre alt, und es war Zeit, daß sie ihren eigenen Weg ging. Aber wie? Und wohin? Die nächsten Tage verbrachte Kim mit langen Spaziergängen über die heißen staubigen Straßen von Bradford. Die Zeit schien aufgehoben. Es war schrecklich schwer, eine Entscheidung zu fällen. Sie war ruhelos und angespannt. Wann immer das Telefon läutete, fuhr sie zusammen, und ihr Herz schlug erst wieder in normalem Rhythmus, als sie merkte, daß der Anrufer nicht sie verlangte. Einmal klingelte es an der Haustür, und Kim sah von der Diele aus eine große kräftige Gestalt sich vom Hintergrund der sonnenhellen Straße abheben. Wie angewurzelt blieb sie einen Augenblick stehen, kämpfte gegen ihre dumme Hoffnung an und konnte vor Erregung kaum gehen, bis sie feststellte, daß der Besucher ein Freund von Bert war. Nachdem der Mann gegangen war, lief sie in ihr Zimmer hinauf und weinte. Kim wußte, daß sie den Hausers schreiben sollte, aber sie verschob es von Tag zu Tag. Bald würden sie nach Bradford heimkehren, dann wollte sie sie besuchen. Nachts lag sie wach, lauschte dem fernen Pfeifen des Nachtzugs und dachte voller finsterer Verzweiflung, daß ihr Leben vorbei sei. Sie hatte nichts, auf das sie sich freuen, auf das sie hoffen konnte. Die Erinnerungen an Stephen quälten und reizten sie, bis ihr schrecklich heiß wurde. Sie durchlebte noch einmal jeden Kuß, jede Zärtlichkeit, jede Umarmung, selbst jedes Stirnrunzeln und jeden Streit. Sie verwünschte sich, weil sie an jenem letzten Nachmittag nicht Ihrem Verlangen nachgegeben hatte. Vielleicht wäre dann alles ganz anders geworden. Bittere Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen über ihre Wangen. Dann trommelte sie aufs Kissen und flüsterte: „Ich hatte unrecht. Ich habe einen Fehler gemacht.“ Sie mußte sich zusammenreißen. Sie konnte sich nicht ständig in Selbstvorwürfen und Depressionen ergehen. Katherine schlug vor, daß sie sich mit irgend etwas beschäftigte, und Kim beschloß, Großputz im Haus zu halten. Sie begann im obersten Stockwerk, ging Zimmer für Zimmer durch, saugte und wischte Staub, schüttelte und klopfte Teppiche, wusch Vorhänge, polierte die Möbel, putzte Fenster und räumte Schränke auf. Während sie arbeitete, dachte sie an die Hausers, die sich jetzt von allen Ferienkindern verabschiedeten und
genau wie sie die Zimmer des Camps reinigten. Meistens überlegte sie, was Stephen gerade tat und wann er abreisen würde. Wenn er mich wirklich liebte, dachte sie oft, dann hätte er inzwischen von sich hören lassen, dann würde er mich nicht hier allein lassen. Nebenbei durchforschte sie die Stellenangebote in der Zeitung, doch es war nie eine für Kim geeignete Stellung ausgeschrieben. Drei ganze Tage harter Arbeit waren nötig, um die oberen Stockwerke zu Kims Zufriedenheit sauber zu bekommen. Am vierten Morgen kleidete sie sich in alte Jeans, die an den Knien bereits durchlöchert waren, und in ein altes ausgebleichtes TShirt und nahm die Küche in Angriff. Es war ein warmer Tag im August. Man spürte bereits den Herbst in der Luft. Die Blätter an den Bäumen färbten sich bunt. Kim öffnete weit die Hintertür des Hauses und dachte daran, daß der sowohl glücklichste als auch schmerzlichste Sommer ihres Lebens bald vorüber war. Sie lag auf den Knien, schrubbte das alte Wachs mit einer harten Bürste ab und schob sich langsam rückwärts zur Tür, als eine tiefe Stimme erklang: „Na, das ist aber ein vertrauter Anblick.“ Kim erstarrte. Sie wagte nicht, sich zu rühren, fürchtete, sie würde einer Halluzination unterliegen. Dann drehte sie nur langsam den Kopf. Stephen stand an der offenen Tür, hatte die Hände in die Hosentasche geschoben und lehnte sich gegen den Türrahmen. Er trug einen tadellos geschnittenen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Kim wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie war völlig durcheinander und konnte kaum einen zusammenhängenden Gedanken fassen. Sie war sich ihrer armseligen Kleidung bewußt, ihrer unvorteilhaften Tätigkeit, und da stand Stephen und sah aus, als sei er einem Modejournal entstiegen. Als sie sich dann auch noch ihrer lächerlichen Körperhaltung bewußt wurde, erhob sie sich schnell, wandte sich Stephen zu und wischte nervös ihre Hände an einem Tuch ab. „Darf ich hereinkommen?“ „Ja, natürlich.“ Sie machte unbewußt einen Schritt auf ihn zu und zögerte sofort. Langsam näherte Stephen sich ihr. Kim forschte in seinem Gesicht nach einem Hinweis auf seine Stimmung und hoffte, er würde sie in die Arme nehmen. Doch er nahm ihr nur das Tuch aus der Hand und wischte zärtlich eine Schmutzstelle von ihrem Gesicht. Überrascht stellte Kim fest, daß seine Hände dabei zitterten. Ihr Herz schlug so wild, daß sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Wieder spürte sie seinen leicht würzigen Duft, und sie mußte dagegen ankämpfen, sich in seine Arme zu werfen. „Du könntest mir eine Tasse Kaffee anbieten“, schlug er vor, wobei sein Gesicht dem ihren immer noch ganz nahe war. Kim hatte auf etwas ganz anderes gehofft und wollte ihm schon den Weg zum nächsten Cafe erklären, wenn er sich lediglich einen Kaffee wünschte. „Natürlich.“ Sie riß sich zusammen. „Setz dich! Wir gehen dann ins andere Zimmer hinüber, sobald der Kaffee fertig ist. Ich habe hier gerade sauber gemacht.“ Sein Gesicht schien sich bei ihrem nüchternen Ton zu verhärten, und er trat von ihr weg. „Das sehe ich.“ Langsam glitt sein Blick über Kim, die heftig errötete. „Ich bin überrascht, dich hier zu sehen“, sagte sie, während sie den Kaffee zubereitete. „Ich wollte schon schreiben. Warum hast du dich so feierlich angezogen?“ „Vielleicht wollte ich dich beeindrucken.“ Noch immer war sein Blick kalt. So inbrünstig, wie Kim noch vor Minuten seine Anwesenheit herbeigewünscht hatte, so sehr sehnte sie sich jetzt nach seiner Abwesenheit.
„Ich freue mich schon darauf, die Hausers wiederzusehen. Sind sie zurück?“
Plötzlich rutschte er auf seinem Stuhl vor. „Ich bin nicht hierhergekommen, um
über die Hausers zu sprechen. Und du weißt das!“
Kim legte schleunigst einigen Abstand zwischen sich und ihn, indem sie Tassen
und Unterteller holte. „Ich weiß jedenfalls nicht, warum du hier bist. Der Kaffee
ist jetzt fertig. Wir können ins Eßzimmer hinübergehen.“
Stephen hielt ihr die Tür auf. Das Geschirr klapperte laut auf dem Tablett, als
Kim es an Stephen vorbei ins Eßzimmer trug. Er folgte ihr schweigend und
beobachtete mit erhobenen Brauen, wie sie versuchte, den Kaffee einzugießen,
ohne ihre Nervosität zu verraten.
Das Schweigen zog sich unangenehm in die Länge. Kim grübelte verzweifelt, was
sie sagen könnte. Sie starrte auf Stephens Hände, auf seine Lippen. Nachdem er
so oft in ihren Gedanken gewesen war, konnte sie es nicht fassen, daß er jetzt in
Wirklichkeit vor ihr saß und genüßlich an seinem heißen Kaffee in Katherines
Eßzimmer nippte, als sei das die normalste Sache der Welt.
„Und?“ fragte er plötzlich. „Was hast du mir zu sagen?“
„Ich – was meinst du?“
„Genau das, was ich gesagt habe.“
„Ich verstehe nicht…“ Dann brach es aus ihr heraus: „Warum bist du
hierhergekommen? Nur um mich zu quälen? Wir haben nichts zu besprechen. Ich
finde, du solltest gehen.“
Wieder beugte er sich vor und fixierte sie mit seinem Blick. „Da ist noch etwas
unausgesprochen zwischen uns, meine Liebe, und ich mag keine ungeklärten
Verhältnisse. Ich mag es auch nicht, wenn man mir davonläuft. Da gibt es zum
Beispiel das Buch, an dem wir den ganzen Sommer über zusammen gearbeitet
haben. Ich soll das wohl allein beenden. Mir gefällt das nicht.“
„Aber du hattest doch…“
„Egal, was ich gesagt habe. Warum, zum Teufel, bist du einfach davongerannt?“
Kim war den Tränen nahe und konnte ihn nicht anschauen. „Tut mir leid,
Stephen, aber ich mußte das.“
„Du mußtest das? Du mußtest dich wie eine Diebin in der Nacht aus dem Haus
schleichen? Das mußtest du? Ist dir nichts Besseres eingefallen?“ Er marschierte
durch den Raum, während Kim am Tisch saß, steif die Hände auf dem Schoß
gefaltet hatte und den Blick gesenkt hielt. „Hast du gedacht, das sei fair den
Hausers gegenüber? Oder mir gegenüber? Hast du überhaupt gedacht?
Vielleicht sagst du mir, was so wichtig war, daß du nicht bis zum nächsten
Morgen warten konntest.“
„Ich mußte nach Kalifornien fahren. Ich mußte Roger sehen. Ich konnte nicht
mehr warten. Ich habe bereits zu lange gewartet.“
Plötzlich blieb er wie erstarrt stehen und umklammerte die Lehne eines Stuhl.
„Und?“
„Also bin ich hinübergeflogen und habe ihn besucht.“ Sie hob verärgert die
Stimme. „Und du hattest recht. Alle hatten recht. Na los, sag es schon: ,Ich hab’s
dir ja gesagt!’ Ich verdiene es.“
„Und womit hatten sie alle recht?“
„Was Roger betrifft, und daß ich in der Vergangenheit gelebt habe und mich nur
an eine Erinnerung geklammert habe. Daß ich nichts verstanden habe von – von
allem.“
Er setzte sich neben sie und sagte in bedeutend weicherem Ton: „Tut mir leid,
Kim. Manchmal muß es weh tun, bevor wir etwas verstehen.“
„Aber das ist es ja gerade!“ rief sie. „Es hat nicht weh getan, jedenfalls nicht das.
Ich mochte Roger gar nicht so sehr. Ich meine, es war nur die Einbildung, die ich
hatte, Roger war es eigentlich gar nicht. Er war nur der Teil eines Traums, und
als ich ihn sah und mit ihm sprach, wußte ich, daß er nicht einmal mehr die
Person war, an die ich mich erinnerte. Es war alles Phantasie, wie der Nikolaus.“
Stephen saß nachdenklich da. „Und was hast du daraus gelernt?“
„Gelernt?“
„Ja. Was hast du daraus gelernt.“
Sie dachte einen Augenblick nach. „Ich glaube, ich habe daraus gelernt, daß ich
gar nicht so viel weiß, wie ich dachte. Und“, fügte sie leise hinzu, „Ich habe
gelernt, wie weh ein Irrtum tun kann.“
„Aber du hast doch gesagt, daß du dir gar nicht soviel aus Roger gemacht hast.“
„Das war es ja auch nicht, was weh getan hat.“
„Weiter.“
„Das ist alles.“
„Nein, ist es nicht.“
Hilflos rang sie die Hände. „Was soll ich denn noch sagen?“
„Kim!“ rief er laut und ließ sie vor Schreck zusammenfahren. „Ich weiß ganz
genau, was du mir zu sagen hast, und du wirst diesen Raum nicht verlassen,
bevor du es gesagt hast, und wenn wir die ganze Nacht hier verbringen müssen.
Du wirst dich nicht aus der Sache winden, und ich werde es dir nicht
leichtmachen. Also fang an zu reden. Wir werden jetzt reinen Tisch machen!“
Er war aufgesprungen und stand nun fast drohend vor ihr. Kim konnte die Tränen
nicht mehr zurückhalten, und sie mußte sich sogar beim Sprechen abmühen. „Ich
mußte Roger sehen, weil ich befürchtet hatte, ich hätte mich in dich verliebt. Ich
mußte in jener Nacht davonlaufen, weil ich mit dir nicht mehr allein sein konnte.
Du hast es gewußt, und ich hatte es fast gesagt an jenem Nachmittag. Erinnerst
du dich?“
Stephen schwieg.
„Also flog ich nach Kalifornien, aber die ganze Zeit über warst du es, den ich
wollte, und als ich festgestellt hatte, daß Roger mich nicht liebte, war ich
erleichtert. Aber dann kam ich nach Hause, und ich wußte, du würdest mich nicht
mehr wollen. Ich hatte dich verloren, und alles nur wegen meines Dickkopfes. Es
war meine Schuld. Das war es, was weh getan hat.“
„Ich glaube, da ist noch etwas.“
„Ich habe mich so schlecht gefühlt, weil ich dich und die Hausers im Stich
gelassen habe. Ich habe gedacht, ich würde dich nie wiedersehen, und ich wollte
es dir doch erklären, aber ich wußte, daß ich es nicht mehr konnte. Dabei wollte
ich dich bitten, mir zu verzeihen.“
Kim schwieg einen Moment, dann fuhr sie zögernd fort: „Du hast gesagt, du
liebst mich, und ich habe es zerstört. Ich wußte, daß du mich nicht mehr lieben
konntest nach dem, was ich getan habe. Aber ich habe weitergehofft. Ich habe
gedacht, wenn du mich lieben würdest, würdest du mir nachfahren. Aber du bist
nicht gekommen.“ Der letzte Satz endete in einem Schluchzen, bei dem Kim die
Hände vors Gesicht schlug.
Sie fühlte, wie sie herumgedreht wurde, dann kniete Stephen vor ihr und zog
ihre Hände vom Gesicht. „Schau mich an, Kim.“
Sie blickte ihn durch einen Tränenschleier an und hörte ihn mit der ihr so
vertrauten Zärtlichkeit in der Stimme sagen: „Ich bin jetzt gekommen, oder
nicht?“
Ihre Blicke trafen sich. Plötzlich lag sie an seiner Brust, lachte und weinte. Und er
hielt sie, wiegte sie, und ihre Lippen berührten sich in einem tränenreichen Kuß.
„Stephen, kannst du mir verzeihen?“ fragte sie endlich.
„Ich habe dir nichts zu verzeihen, Liebling, aber kannst du dir selbst verzeihen?“
„Du bist also nicht böse?“ schluchzte Kim auf.
„Das würde ich nicht gerade sagen. Zuerst war ich ganz schön wütend. Und ich
dachte mir, eine gerechte Strafe sei heute angebracht. Hat ganz gut geklappt,
was?“
„Oh! Das war alles nur gespielt?“
„Nicht ganz. Du solltest mir nicht so leicht dabei wegkommen nach dem, was du
mir angetan hast. Du kannst von Glück sagen, daß es nicht schlimmer wurde.
Aber wenn du noch einmal so eine Bravourleistung bringst…“
„Ja, ich weiß, dann komme ich in Schwierigkeiten“, erwiderte sie glücklich und
schmiegte sich an ihn. „Aber das werde ich nicht, bestimmt nicht. Wir werden
glücklich sein.“
Stephen stimmte ihr nicht mit Worten zu, dafür mit Taten. Als er wieder
sprechen konnte, zog er sie auf seinen Schoß und sagte: „Da ist noch ein Punkt,
den du wohl nie beachtet hast. Wie, glaubst du wohl, habe ich mich gefühlt, als
du – trotz deines offensichtlichen Interesses für mich…“
„Das hatte ich nicht.“
„O doch, du hattest.“ Er küßte sie. „Unterbrich mich nicht: Als du trotz deines
offensichtlichen Interesses für mich und trotz der Tatsache, daß du seit
Ewigkeiten nichts mehr von Roger gehört hast, dich immer noch ihm gegenüber
loyal gezeigt hast? Wie habe ich mich da wohl gefühlt?“
„Unwohl?“
„Nein, na ja, ein bißchen. Aber das war einer der Gründe, weshalb ich mich in
dich verliebt habe. Wenn du einem Jungen, der dich nur vernachlässigt hat, so
treu sein konntest, dann wollte ich diese Treue für mich selbst haben. Verstehst
du das?“
„Ja. Du warst eifersüchtig.“
Er küßte sie wild, um sie für diese haarsträubende, unbegründete Annahme zu
bestrafen.
„Erzähl mir von den anderen Gründen, weshalb du dich in mich verliebt hast.
Wann hast du zum erstenmal gewußt, daß du mich liebst?“
„Ich glaube, ich habe mich an jenem Tag vor der Bibliothek in dich verliebt, als
du in strömendem Regen in der Autotür festgeklemmt warst und du mir gesagt
hast, ich sei der unerträglichste, arroganteste Mensch, den du je getroffen
hättest, und daß du mich nie wiedersehen wolltest. Ich glaube, in jenem
Augenblick habe ich angefangen, dich zu lieben.“
Kim war schockiert. „Das alles habe ich gesagt?“
„Jawohl. Aber jetzt ist es genug. Wir können noch unser ganzes Leben lang über
die Gründe diskutieren, weshalb wir uns ineinander verliebt haben.“ Er stellte sie
auf die Füße, stand selbst auf und zog Kim an sich. „Ich glaube, wir brauchen
mindestens ein ganzes Leben. Glaubst du nicht?“
„Doch“, flüsterte sie.
„Aber jetzt haben wir viel zu tun.“
„Wirklich?“
„Natürlich. Hast du einen Paß?“
„Nein, warum?“
„Warum wohl! Ich werde nicht ohne meine Frau nach Schottland gehen. Und du
kannst nicht ohne Paß mitkommen. Verstehst du?“
Kim schüttelte langsam den Kopf. Sie war wie benommen vor Glück. „Vielleicht
erklärst du es mir besser.“
Stephen preßte sie an sich. „Keine Erklärungen mehr. Nur noch Liebe.“
– ENDE –