Martin K. W. Schweer (Hrsg.) Lehrer-Schüler-Interaktion
Schule und Gesellschaft Band 24 Herausgegeben von Franz Hamburger Marianne Horstkemper Wolfgang Melzer Klaus-Jürgen Tillmann
Martin K. W. Schweer (Hrsg.)
Lehrer-SchülerInteraktion Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge 2., vollständig überarbeitete Auflage
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1. Auflage 2000 2., vollständig überarbeitete Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15416-9
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur 2. Auflage........................................................................................ 7 Vorwort zur 1. Auflage ....................................................................................... 9 Teil 1: Grundlagen der Lehrer-Schüler-Interaktion 1.1
Hubert Hofmann & Karin Siebertz-Reckzeh Sozialisationsinstanz Schule: Zwischen Erziehungsauftrag und Wissensvermittlung ............................................................................... 13
1.2
Udo Kelle & Florian Reith Empirische Forschungsmethoden .......................................................... 39
1.3
Barbara Thies Historische Entwicklung der Forschung zur Lehrer-Schüler-Interaktion ..................................................................... 77
1.4
Bernhard Sieland Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit ....... 101
1.5
Claudia Dalbert & Matthias Radant Psychologie der Schülerpersönlichkeit ................................................ 127
1.6
Reinhard Tausch Personzentriertes Verhalten von Lehrern in Unterricht und Erziehung ...................................................................................... 155
1.7
Hanns-Dietrich Dann Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen ............................. 177
1.8
Uli Sann & Siegfried Preiser Emotionale und motivationale Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion .................................................................. 209
1.9
Ulrich Glowalla Kognitives Lernen und Gedächtnis ..................................................... 227
1.10
Diemut Ophardt & Felicitas Thiel Klassenmanagement als Basisdimension der Unterrichtsqualität ........ 259
6 Teil 2: Zentrale Problem- und Anwendungsfelder 2.1
Friedrich-Wilhelm Schrader & Andreas Helmke Determinanten der Schulleistung ......................................................... 285
2.2
Detlef H. Rost & Jörn R. Sparfeldt Intelligenz und Hochbegabung ............................................................ 303
2.3
Barbara Moschner Lern- und Leistungsförderung im Unterricht ....................................... 327
2.4
Tatiana Czeschlik Umgang mit ängstlichen Schülern ....................................................... 343
2.5
Eberhardt Todt Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer ........................................... 361
2.6
Franz Petermann & Johanna Helmsen Aggressives Verhalten im Unterricht .................................................. 395
2.7
Walter Neubauer Konflikte und Konfliktbewältigung im Unterricht .............................. 435
2.8
Georg Auernheimer Lehrer-Schüler-Interaktion im Einwanderungsland ............................ 455
2.9
Marianne Horstkemper Geschlechtsrollenidentität und unterrichtliches Handeln .................... 479
2.10
Arnold Lohaus, Holger Domsch & Johannes Klein-Heßling Gesundheitsförderung im Unterricht ................................................... 499
2.11
Bardo Herzig Medieneinsatz im Unterricht ............................................................... 517
2.12
Martin K.W. Schweer Vertrauen im Klassenzimmer .............................................................. 547
2.13
Matthias von Saldern Unterrichtsklima, Partizipation und soziale Interaktion ...................... 565
2.14
Karl-Oswald Bauer Lehrer-Schüler-Interaktion im Kontext von Schulentwicklung ........... 583
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................................................... 609
Vorwort zur zweiten Auflage Erfreulicherweise ist der von mir im Jahr 2000 herausgegebene Band zur LehrerSchüler-Interaktion sehr gut angenommen worden, seit einigen Jahren ist die Erstauflage vergriffen. Vor diesem Hintergrund ist – nunmehr mit dem VS Verlag für Sozialwissenschaften – die Idee gereift, eine Neuauflage zu gestalten, jedoch unter Berücksichtung zusätzlicher Inhaltsfelder zur Lehrer-SchülerInteraktion, um möglichst umfassend den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs abbilden zu können. Viele der Autorinnen und Autoren der Erstauflage konnten zur Überabreitung ihrer ursprünglichen Beiträge gewonnen werden, hinzu gekommen sind weitere einschlägig ausgewiesene Kolleginnen und Kollegen. Der (öffentliche) Diskurs zu Bildung und zum Bildungssystem ist in aller Munde, Problemlösungen, insbesondere nach dem so genannten PISA-Schock, werden allerorten gefordert. Auch die Schul- und Unterrichtsforschung ist sich ihrer Verantwortung bewusst und versucht, auf verschiedenen Ebenen Ansatzpunkte für wissenschaftlich begründete Problemlösungen, aber auch für ein effektives, die Lebenswelten der Kinder berücksichtigendes Lehren und Lernen zu finden. Neben bildungspolitischen Fragen ist es primär die Interaktion im Klassenzimmer, der alltägliche Umgang zwischen Lehrkräften und ihren Schülerinnen und Schülern, welcher die Lern-, aber auch die Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst. Im Zuge erster Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen ist schnell klar geworden, dass die Idee einer möglichst breiten Abbildung des Forschungsstandes zu einer Neugestaltung des ursprünglichen Werkes führen wird, von daher haben der VS Verlag und ich die Überarbeitung dergestalt ausgeweitet, dass nunmehr ein Kompendium der vorliegenden Arbeiten zur Lehrer-Schüler-Interaktion entstanden ist. Der Band ist so aufgebaut, dass Teil I die wesentlichen grundlegenden Diskurse aufbereitet, Teil II aktuelle Diskurse zu den wichtigsten Problem- und Anwendungsfeldern der Schul- und Unterrichtsforschung umreißt. In Teil I finden sich also Einlassungen zu Schule und Bildungssystem als solchem ebenso wie wesentliche (forschungs-)methodische Aspekte und historisch-paradigmatische Entwicklungslinien. Die weiteren Kapitel fokussieren jeweils systematisch die Lehrer- bzw. die Schülerpersönlichkeit, anschließend werden der humanistische und der handlungstheoretische Zugang zu Schule und Unterricht als zentrale psychologische Paradigmen vertieft. Darüber hinaus werden dezidiert psychologische Funktionsbereiche erörtert, zum einen eher der emotional-motivationale, zum anderen der kognitiv-gedächtnispsychologische Bereich. Teil I schließt mit der aktuellen Diskussion zum Klassenmanagement. In Teil II hat zentrale Problem- und Anwendungsfelder im Blick, er beginnt mit den Determinanten der Schulleistung, dezidiert werden sodann die Konstrukte Intelligenz und Begabung erörtert, es folgen Einlassungen zur Förderung der
8 Lern- und Leistungsmotivation. Die folgenden Kapitel haben für den Bildungsauftrag problematisches Verhalten von Schülerinnen und Schülern zum Gegenstand, so widmet sich ein Kapitel der Ängstlichkeit, ein weiteres dem auffälligen Schülerhalten und eines der Aggressivität. Logisch folgend werden Konflikte und entsprechende Bewältigungsansätze diskutiert. Es schließen Kapitel aus dem Kontext der Gender und Diversity Forschung an, konkret werden hier Geschlechtsrollen und Fragen von Migrationshintergründen beleuchtet. Die hochaktuellen Felder der Gesundheitsförderung und des Medieneinsatzes finden ebenfalls ihren Platz. Beiträge zum Vertrauen und zum Unterrichtsklima runden den Band ab, perspektivisch schließt Teil II mit Ansatzpunkten der Schulentwicklung. Allen Autorinnen und Autoren gilt mein herzlicher Dank für die angenehme Zusammenarbeit, ohne sie wäre ein solches Werk selbstverständlich nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt aber auch den Herausgebern der Reihe „Schule und Gesellschaft“, welche der Neuauflage und ihrer Erweiterung ohne Zögern positiv gegenüber gestanden haben. Dies gilt auch für den VS Verlag, welcher die Publikationsreihe übernommen hat, ein besonderer Dank gilt hier Frau Monika Mülhausen für ihre verlässliche und angenehme Kooperation. Last but not least gilt mein ganz spezieller Dank Frau Helga Böske, welche die redaktionellen Arbeiten mit besonderer Sorgfalt und hohem Engagement durchgeführt hat. Auf geschlechtsspezifische Formulierungen und Anreden wurde zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet.
Vechta, im Mai 2008 Martin K.W. Schweer
Vorwort zur ersten Auflage Im Rahmen der Pädagogischen Psychologie (insbesondere bei der universitären Ausbildung von Lehramtskandidaten und -kandidatinnen) stellt der Bereich der Lehrer-Schüler-Interaktion ein zentrales Lehr- und Forschungsgebiet dar. Die diesbezügliche Literatur ist jedoch relativ unbefriedigend, neuere Publikationen – vor allem in Form von zusammenfassenden Darstellungen – finden sich kaum; vor diesem Hintergrund ist die Idee entstanden, eine diesbezügliche Dokumentation zusammenzustellen. Im ersten Teil der Dokumentation werden grundlegende Befunde und Annahmen zur Lehrer-Schüler-Beziehung erörtert. Ausgewählte Themen, die sowohl für den praktisch tätigen Lehrer als auch für die Wissenschaft von zunehmender Bedeutung sind, werden im zweiten Teil der Dokumentation vereint. Erfreulicherweise haben sich eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen bereit erklärt, einen Beitrag zu übernehmen. Ohne deren Kooperation wäre die Realisierung der Dokumentation nicht möglich gewesen – ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Ebenfalls danken möchte ich dem Verlag Leske + Budrich sowie den Herausgebern der dort angesiedelten Publikationsreihe „Schule und Gesellschaft“.
Vechta, im April 2000 Martin K.W. Schweer
Teil 1:
Grundlagen der Lehrer-Schüler-Interaktion
Sozialisationsinstanz Schule: Zwischen Erziehungsauftrag und Wissensvermittlung Hubert Hofmann & Karin Siebertz-Reckzeh
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Einleitung
Schule nimmt im Lebens- und Erfahrungsraum von Kindern und Jugendlichen heute eine zentrale Stellung ein. So lässt sich zunächst herausstellen, dass die historische und gesellschaftliche Entwicklung eines institutionalisierten, öffentlichen, im Prinzip allen Kindern und Jugendlichen zugänglichen Bildungswesens der heranwachsenden Generation bis dato einmalige Bildungschancen eröffnet. Dass diese auch vermehrt genutzt werden, zeigt sich mit Blick auf die letzten Jahrzehnte daran, dass die Bildungsbeteiligung der Bevölkerung gestiegen ist und sich auch insgesamt ein Trend zu höheren Schulabschlüssen abzeichnet: Im Jahr 2004 verfügten 36,2 % der 20-25-Jährigen über eine Hochschulzugangsberichtigung, im Vergleich dazu sind es nur 15,5 % der damals 60-65-Jährigen; im Vergleich dieser Kohorten hat sich der betreffende Anteil also gut verdoppelt (s. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Betrachtet man nun die Erwartungen der Eltern an die Schullaufbahnen und -abschlüsse ihrer Kinder, also die elterlichen Bildungsaspirationen, so zeigt sich, dass diese ebenfalls gestiegen sind; der Zusammenhang zwischen diesen erhöhten normativen Erwartungen der Eltern und der realisierten Bildungslaufbahn stellt sich jedoch als ein sehr komplexer dar (Busse & Helsper 2004). Auch die weit verbreitete Inanspruchnahme des außerschulischen Nachhilfeunterrichts gibt Hinweise auf gestiegene Bildungsbestrebungen (s. Schneider 2005). Schulischer Erfolg auf einem möglichst hohen formalen Niveau hat also in seiner subjektiven wie objektiven Wertigkeit an Bedeutung gewonnen. Zwar sind Bildungsbeteiligung und -stand der Bevölkerung insgesamt gewachsen, aber im Zuge u. a. der internationalen Schulleistungsvergleichsstudien sind auch die erheblichen Diskrimierungstendenzen gerade im deutschen Schulsystem wieder verstärkt in den Fokus der wissenschaftlichen wie öffentlichen Diskussion gelangt. Insbesondere sozioökonomische sowie auch Migrationshintergrunde sind häufig mit sozialen Disparitäten verbunden, die in der schulischen Bildung insgesamt bislang nicht überwunden werden (s. Prenzel et al. 2007). Es zeigt sich dagegen ein deutlich verändertes Bild in Hinsicht auf geschlechtstypi-
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Hubert Hofmann & Karin Siebertz-Reckzeh
sche Bildungswege: Mädchen bzw. Frauen erzielen insgesamt höhere Abschlüsse als die männlichen Schüler, jedoch folgt dann ein deutlicher Bruch in den beruflichen Laufbahnen, vor allem wenn es etwa um die Teilhabe an höheren Führungspositionen geht (Cornelißen, Stürzer, Roisch & Hunze 2003); dieses letztgenannte Phänomen macht auf einen möglichen, sehr nachhaltigen Effekt schulischer Sozialisation aufmerksam. Schließlich sei angemerkt, dass Kinder und Jugendliche einen erheblichen Teil ihrer Zeit in der Schule bzw. mit schulbezogenen Tätigkeiten verbringen. Fend (2006) verweist alleine auf bis zu 15.000 Unterrichtsstunden, die im Zuge einer Schullaufbahn aufgerechnet werden können. Schule stellt einen sozialen Erfahrungskontext dar, der das Denken, Fühlen und Handeln von Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Die viel zitierten gesellschaftlichen und ökonomischen Trends stellen das Bildungssystem insgesamt und so auch die schulische Bildung vor große Chancen und Herausforderungen: Zu nennen sind etwa demografischer Wandel, Globalisierung, veränderte Arbeitsmarktanforderungen und die gestiegene Vielfalt an Lebensentwürfen, Beziehungs- und Familienformen. Diese „veränderten Rahmenbedingungen“ (s. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 5f.) betreffen nicht nur die schulische Aufgabe der Qualifikation, sondern rücken auch weiteren Sozialisationseffekte schulischer Erfahrungen stärker ins Blickfeld. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die Fragen erörtert, welche Wirkungen schulische Erfahrungen auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen haben, wie und ob es unserem Schulsystem gelingt, ihnen einen Rahmen zur Entfaltung ihrer Potentiale anzubieten, welchen Beitrag Schule zur „Sozialwerdung” der nachwachsenden Generation leistet, um diese auf ein Leben in unserer Gesellschaft vorzubereiten. Dieser Beitrag soll einen aktuellen Überblick über die Effekte der Sozialisationsinstanz „Schule” hinsichtlich der schulischen Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen liefern. Dabei wird das Spannungsfeld zwischen den zentralen Aufgaben von Schule – Erziehung und Wissensvermittlung – besonders zu beleuchten sein.
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Schule als Sozialisations- und Erziehungsinstanz
In der pädagogischen Literatur wird vielfach zwischen Sozialisations- und Erziehungsprozessen unterschieden. Dabei kann unter Sozialisation „der Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt [verstanden werden]. Vorrangig thematisch ist dabei, wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet.“ (Geulen & Hurrelmann 1980:
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51, zit. n. Hurrelmann 2006a: 15). Mit dem Sozialisationsprozess ist die Persönlichkeitsentwicklung im sozialen und gesellschaftlichen Kontext angesprochen. Dabei wird in der modernen Sozialisationsforschung kein einseitiger Prozess der Anpassung eines Menschen an gesellschaftliche Werte, Normen und soziale Strukturen angenommen, sondern vielmehr ein aktiver, lebenslanger Prozess der Auseinandersetzung und schließlich auch der Einflussnahme und Gestaltung. Diese individuelle Auseinandersetzung knüpft an die subjektive Wahrnehmung und Deutung zum Beispiel gesellschaftlicher Anforderungen wie tradierter Normen an. Aus einer interaktionistischen Perspektive sind Sozialisationsprozesse somit eng mit gesellschaftlichem Wandel verbunden: sie können einerseits eine gesellschaftlich stabilisierende Funktion einnehmen oder aber andererseits auch zu gesellschaftlichen Veränderungen und Innovationen beitragen (s. Geulen 2005; Hurrelmann 2006b). Als Erziehung werden meist solche Handlungen und Veränderungen aufgefasst, die ausdrücklich von Erziehungsinstanzen (z. B. Eltern, Schule) intendiert sind, also eine absichtvolle Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen darstellen, und die mit einer expliziten Wertung einhergehen. Erziehung kann damit als Teil der Sozialisation betrachtet werden, die also weiter als Erziehung gefasst ist und auch nicht-intendierte und wertneutrale, gute oder schlechte Veränderungen umfasst (s. u. a. Tillmann 2006). Aber auch geplante Erziehungsprozesse können unbeabsichtigte Verläufe nehmen, da Erziehung wie Sozialisation etwa auf der Mikroebene (s. Kap 3) komplexe wechselseitige Interaktionsprozesse darstellen (vgl. Oelkers 2001). Beiden Begriffen – Sozialisation und Erziehung – ist außerdem gemeinsam, dass die damit beschriebenen Veränderungen relativ überdauernde Ergebnisse haben, die prinzipiell veränderbar sind und das weitere Erleben und Verhalten mitbestimmen. Zudem beruhen Sozialisation wie Erziehung auf denselben lern- und entwicklungspsychologisch beschriebenen Prozessen (Beobachtung, Nachahmung, Konditionierungen, Einsichten usw.), so dass es mitunter schwer fällt, trennscharfe Grenzlinien zwischen beiden Begriffen aufrechtzuerhalten (s. Weinert 2006). Die Grundfrage jeglicher Sozialisationstheorie bezieht sich darauf, „auf welche Weise Menschen zu sozial handlungsfähigen Personen werden” (Schneewind & Pekrun 1994: 3). Eine herausragende Bedeutung kommt hierbei der Familie als primärer Sozialisations- und Erziehungsinstanz zu. Vor allem die frühkindlichen Erfahrungen bilden eine weitreichende Basis auch für die außerfamiliäre Sozialisation. Die gegenwärtig zu beobachtende Pluralisierung der Familien- und Beziehungsmodelle wird dabei sehr unterschiedlich interpretert: Busse & Helsper (2004) sehen im Rahmen der Familienforschung eher kulturpessimistische Positionen gegenüber jenen, die den Wandeln in den Familienformen im Rahmen der Modernisierung beleuchten. In diesem Zusammenhang
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stehen auch Veränderungen im Verhältnis von Familie und Schule zur Debatte, beispielsweise wenn es um frühkindliche Bildung oder schulische Ganztagsangebote geht (Klieme, Holtappels, Rauschenbach & Stecher 2007; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Zur Frage des Einflusses von veränderten Familienstrukturen auf den schulischen Erfolg stehen systematische Untersuchung noch weitgehend aus. So zeigt sich z. B. die Annahme einer Benachteiligung der Kinder von Alleinerziehenden zumindest dann als brüchig, wenn Schulform und soziale Herkunft als Einflussvariablen kontrolliert werden (Tillmann & Meier 2001; s. Busse & Helsper 2004). Im Gegensatz zur Sozialisationsinstanz Familie oder anderen außerschulischen Sozialisationsinstanzen (wie Gleichaltrige, Massenmedien etc.) findet schulische Sozialisation weitestgehend planvoll und kontrolliert im Rahmen einer Institution und durch ausgebildete Fachkräfte statt (s. u. a. Fend 2006; Tillmann 2006). Aber auch gerade deshalb ist es wichtig, die pädagogisch Handelnden auch für nicht intendierte und möglicherweise nicht reflektierte Sozialisationseffekte im schulischen Kontext zu sensibilisieren.
2.1 Gesellschaftliche Funktionen von Schule Der Schule werden eine Reihe von gesellschaftlichen Funktionen zugeschrieben, die jeweils auch in ihrem Stellenwert für den individuellen Lebenslauf beleuchtet werden können (Pekrun 1994; Tillmann 2006): Qualifikation, Allokation, Sozialisation und Bereitstellung einer Gruppe von Gleichaltrigen. Dabei sind die Funktionen in der Literatur zum Teil unterschiedlich aufgegliedert und benannt. Schule hat die Aufgabe, grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, welche die Schüler für weitere schulische bzw. nachschulische Ausbildungs- und Berufswege qualifizieren. Diese Qualifikationsfunktion steht gegenwärtig sehr stark im Zentrum. Dabei finden Anforderungsprofile aus der Wirtschaft und dem Berufsleben mehr oder weniger explizit Eingang in Struktur und Inhalte schulischer (Aus-)Bildung. Insbesondere anhand der oft rapiden technologischen Innovationen lässt sich die Notwendigkeit verdeutlichen, erworbenes Wissen anzupassen und zu aktualisieren. (s. Weinert & Schrader 1997). Zentral dürfte daher die lebenslange Bereitschaft und Fähigkeit zur ständigen Wissenserneuerung sein. Gleichzeitig besitzt Schule eine Berechtigungsfunktion für differentielle binnen- und nachschulische Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten. Wichtige Zuweisungen für den Zugang zu späteren Ausbildungs-, Berufs- und Lebenschancen werden bereits in der Schule vorgezeichnet, wobei schulische Leistungen (Prüfungen, Zeugnisse) als Kriterium der Allokation dienen. Die bereits ein-
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leitend angesprochenen Befunde aktueller Bildungsmonitorings unterstreichen die hohe soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems. Hierin dokumentiert sich, wie eng die soziale Struktur der Gesellschaft mit Bildung und Allokation verbunden ist. Vor diesem Hintergrund macht Fend (2006) auf die begriffliche Unterscheidung aufmerksam, dass Allokation eine legitimierbare Zuweisung und keinen Ausschluss (Selektion) meint. Aus der individuellen Perspektive sind der schulische Erfolg und dessen Zertifizierung eng mit der weiteren beruflichen Lebensplanung verknüpft. Neben Qualifizierung und Allokation wird der Schule weithin eine allgemeine Sozialisationsfunktion zugeschrieben: Schule soll zur Entwicklung mündiger und sozial verantwortlicher Persönlichkeiten beitragen und gesellschaftlich wünschenswerte Wertorientierungen und Verhaltensbereitschaften vermitteln, was gemeinhin als „Erziehungsauftrag” der Schule verstanden wird. Fend (2006) geht hier von den beiden Funktionen Enkulturation und Integration aus. Es geht hierbei um die Ausbildung kultureller sowie sozialer Identitäten und daran geknüpft um kulturelle und politische Teilhabe. Insbesondere vor dem Hintergrund von Migration ist gesellschaftliche Partizipation und Integration aktuell eine große Herausforderung auch für schulische Sozialisationsprozesse. Hier wird dem Bildungssystem eine Schlüsselfunktion beigemessen sowohl in der Bewältigung von Diskriminierungstendenzen als auch darin, für die Chancen zu sensibilisieren, die mit gestiegener Heterogenität eröffnet sind (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006; zum Stichwort „diversity“ s. Thies 2008). Schule bietet Kindern und Jugendlichen einen vielfältigen Erfahrungsraum inmitten Gleichaltriger. Diese Funktion der Bereitstellung einer Gruppe Gleichaltrigen (Peer-Group) wird umso wichtiger, je weniger der außerschulische soziale Nahraum die Gelegenheit zu Kontakten mit Peers bereithält. Der Gruppe der Gleichaltrigen kommen in schulischen Umwelten vielfältige Funktionen zu, die vor allem für die soziale Entwicklung von Bedeutung sind. Beispielsweise bietet die Gruppe die Möglichkeit, sich mit anderen zu vergleichen, Zugehörigkeit zu erleben, Freundschaften einzugehen, gemeinsam zu arbeiten und zu spielen, Auseinandersetzungen zu bestehen usw. (vgl. Petillon 1991; Jerusalem & Klein-Heßling 2002).
2.2 Schule zwischen den Zielen Wissensvermittlung und Erziehung Schulgesetze, Richtlinien und Verordnungen von Kultusministerien und Curricula liefern Rahmenbedingungen, in denen Schule den genannten gesellschaftlichen Funktionen nachzukommen hat. Während die Qualifikationsziele in Lehrplänen und Bildungsstandards (s. Kultusministerkonferenz 2005) detailliert do-
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kumentiert und Zugangsberechtigungen in Schulgesetzen genau geregelt sind, finden sich für Sozialisationsziele von Schule eher vage Umschreibungen zumeist in Präambeln von Schulgesetzen und Lehrplänen. Ihre Umsetzung wird häufig durch formelle und informelle Regeln der schulischen Interaktionen bestimmt (Pekrun 1994). Betrachtet man formelle Regelwerke, die Ziele und Aufgaben der Schule fixieren, so wird dort meist eine Synthese aus Qualifikations(Wissensvermittlung) und Sozialisationszielen („Erziehungsauftrag”) formuliert. Über fachbezogene Kompetenzen hinaus wird etwa die Erziehung zu mündigen Bürgern, die am politischen und gesellschaftlichen Leben partizipieren und ihr berufliches wie privates Leben gestalten können, genannt (s. Kultusministerkonferenz 2005). Einen wesentlichen Teil des Erziehungsauftrages bildet dabei auch die Vermittlung sozialer Kompetenzen wie Teamfähigkeit und Konfliktbewältigung (Schlüsselqualifikationen) und dieses auch im präventiven Sinne mit Blick auf deviante oder delinquente Verhaltensweisen (s. Jerusalem & Klein-Heßling 2002). Zweifel an der Qualität schulischer Erziehung und Bildung sind fast so alt wie das institutionalisierte Schulwesen, das gleiche gilt für schulische Reformbewegungen. Überblickt man die Wellentäler mannigfaltiger „Reformpädagogiken” des 20. Jahrhunderts, so lässt es sich fast als Zeitraum ständiger Schulreform bezeichnen (Weinert & Helmke 1995). Der Wunsch nach Veränderungen stellt sich zumeist dann ein, wenn eine Situation als unzureichend thematisiert oder als krisenhaft bezeichnet wird. Gegenwärtig dürften die international vergleichenden Schulleistungsstudien wie TIMSS, PISA und IGLU in Deutschland der Auslöser einer intensiven Debatte um die (mindere) Qualität des deutschen Schulsystems sein. Sie haben zu einer stärkeren „outcome“-Orientierung beigetragen; so werden mit Bildungsstandards fachbezogene Kompetenzen beschrieben, die mit einem bestimmten Bildungsabschnitt erreicht sein sollen. Und die so genannten large-scale-assessments haben ein intensives Bildungsmonitoring initiiert (s. u. a. Helmke 2004; Kultusministerkonferenz 2005). Mithin ist die Bildungsgerechtigkeit wieder verstärkt im Zentrum gerückt. Wenn auch die Befunde der zuletzt durchgeführten PISA-Studie zeigen, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzen in Teilen schwächer geworden ist, so hat die grundlegende Problematik weiterhin Bestand (Prenzel et al. 2007). Jenseits der deutlichen Betonung schulischer Leistungen wird mit der öffentlichen und bildungspolitischen Diskussion um die so genannten Kopfnoten auch die Erziehungsfunktion der Schule hervorgehoben. Die Bewertungen von Arbeits- und Sozialverhalten, die in jüngster Zeit in einigen Bundesländern wieder eingeführt wurden, sind in mehrfacher Hinsicht umstritten. So können die Bildungsintentionen variieren, die u. a. auf eine stärkere Anpassung des Arbeits-
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verhaltens an gesellschaftliche Normen bezogen sein können. Im Sinne der Zertifizierung von überfachlichen Kompetenzen wie Teamfähigkeit kann damit aber auch die Allokationsfunktion angesprochen sein. Kritische Hinweise richten sich vor allem auf unklare Bewertungskriterien und die notwendige diagnostische Kompetenz der Lehrenden. Die Gefahr, dass die soziale Selektivität mit den Kopfnoten sogar gesteigert wird, wird darin gesehen, dass das erwartete Arbeitsund Sozialverhalten nicht per se vorausgesetzt werden kann, sondern in der Schule zunächst vermittelt werden muss (im Brahm 2006). Schulische und außerschulische Kontexte, d. h. Schule und Freizeit, werden vermehrt aufeinander bezogen. Zum einen werden außerschulische Lernorte in didaktischen Konzepten zunehmend eingebunden und zum anderen nimmt insbesondere die Ganztagsschule z. B. sportliche oder künstlerische Aktivitäten in ihrem Nachmittagsangebot auf. Parallel hierzu werden im Freizeitbereich vermehrt Bildungsangebote wahrgenommen (Hurrelmann 2006a). Im Zuge des vielfach beschriebenen gesellschaftlichen Wertewandels wird auch eine stärkere Konkurrenz von schulischem Lernen und der außerschulischen Vielfalt der Freizeit- und Lernangebote gesehen. Schule scheint aus Sicht der Schüler häufig eher mit dem zu erreichenden Abschluss assoziiert zu sein, eher instrumentell betrachtet zu werden und weniger mit Wohlbefinden verbunden zu sein. Angesichts der Komplexität der möglichen Offerten betont Hofer (2004) aus motivationspsychologischer Perspektive die Aufgabe, in der Schule vermehrt Kompetenzen selbstgesteuerten Lernens zu fördern. Ein grundsätzlicher Zielkonflikt kann zwischen den Zielen Leistungsmaximierung und sozial-emotionaler Kompetenzentwicklung gesehen werden, wie er auch in den verschiedenen Funktionsbeschreibungen der Institution Schule (s. o.) zu entdecken ist. Qualifizierung und Persönlichkeitsförderung auf der einen Seite dürften nur schwerlich mit leistungsbezogener Allokation und Selektion von Schülern auf der anderen Seite zur Deckung gebracht werden können. Kognitive bzw. leistungsbezogene Zielkriterien lassen sich möglicherweise nur auf Kosten nicht-kognitiver, sozial-emotionaler Ziele verwirklichen. Intrinsisch motiviertes Lernen dürfte nicht leicht mit der extrinsischen Sanktionsstruktur schulischer Leistungserbringung kompatibel sein. Selbst kognitive Zielkriterien wie Leistungssteigerung möglichst vieler Schüler und Ausgleich von Leistungsunterschieden innerhalb der Klassen lassen sich vermutlich nur schwer gleichzeitig erreichen, wenn die Maximierung des Lernerfolgs einerseits mit einer Vergrößerung des Leistungsabstands innerhalb der Klasse bzw. der Ausgleich von Leistungsunterschieden (Egalisierung) mit einem Absinken des Qualifikationsniveaus vor allem bei stärkeren Schülern erkauft wird (vgl. Helmke 2004).
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Hubert Hofmann & Karin Siebertz-Reckzeh Bedingungsfaktoren schulischer Sozialisation
Vor dem Hintergrund permanenter Bildungskontroversen scheint es zunächst sinnvoll zu sein, zum einen Bedingungsfaktoren schulischer Sozialisation ausfindig zu machen und zum anderen deren Wirkung auf unterschiedliche Bereiche der Schülerpersönlichkeit anhand vorliegender empirischer Befunde zu beleuchten. Versucht man, aus der heute nicht mehr überschaubaren erziehungswissenschaftlichen Literatur alle als relevant erachteten Determinanten schulischer Persönlichkeitsentwicklung zusammenzustellen, so könnte man eine nicht endend wollende Liste unterschiedlicher Einflussfaktoren produzieren. Zahlreiche theoretische Wirkmodelle zielen darauf ab, diese Vielzahl zu systematisieren, zu reduzieren und möglichst sparsam die Effekte von Schule auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu erklären. Je nach dem, welcher Ausschnitt aus dem Geflecht schulischer Sozialisationsbedingungen und -effekte gewählt wird, reichen die Erklärungsansätze von soziologischen Makromodellen (z. B. gesellschaftliche, historische, kulturelle, ökonomische Faktoren) über pädagogisch-psychologische Mikromodelle (z. B. Lehr- und Lernbedingungen im Klassenzimmer) bis zu kognitionspsychologischen Prozessmodellen einzelner Lern- und Leistungselemente (s. dazu Helmke & Schrader 2006; Pekrun 1994). In der Theorieentwicklung lassen sich mittlerweile vermehrt Ansätze finden, die anstatt einer monokausalen, unidirektionalen und -kriterialen Modellbildung auf komplexere, multikausale Mehrebenenmodelle zurückgreifen, deren Wirkmechanismen sodann reziproke Effekte auch hinsichtlich mehrerer Zielkriterien berücksichtigen. Diesen theoretischen Weiterentwicklungen stehen zunehmend auch Forschungsmethoden wie z. B. Mehrebenenanalysen, kausalanalytische Strukturgleichungsmodelle und Metaanalysen gegenüber. Allerdings dominieren das empirische Forschungsfeld immer noch Querschnittstudien und kurzfristige experimentelle Ansätze mit eingeschränktem Erklärungswert. Längsschnittstudien mit großen Stichproben und langer Laufzeit sind ebenso selten wie Schulversuche (Pekrun 1994). Abbildung 1 zeigt ein Rahmenmodell, das die Bedingungsvariablen schulischer Persönlichkeitsentwicklung in Anlehnung an das ökopsychologische Entwicklungsmodell von Bronfenbrenner (1981; s. Geulen 2005) zu systematisieren sucht.
Sozialisationsinstanz Schule Abbildung 1:
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Rahmenmodell schulischer Persönlichkeitsentwicklung in Anlehnung an Bronfenbrenner (1981)
Im Zentrum des Modells steht die Schülerpersönlichkeit. Unter „Persönlichkeit” wird hier das „Gesamtsystem seiner (relativ) zeitstabilen, individuellen Merkmale” (Pekrun & Helmke 1991: 33) verstanden, also Merkmale, die eine gewisse zeitliche Dauer besitzen und mit denen sich Individuen beschreiben und von anderen Personen unterscheiden lassen. Solche Merkmale sind körperlicher (z. B. genetische Informationen, neuronale Strukturen, Aussehen) und psychischer Art (z. B. kognitive Strukturen, emotionale und motivationale Prozesse). Nicht alle aus der Vielzahl möglicher Persönlichkeitsmerkmale sind unmittelbar schulischen Einflüssen unterworfen bzw. relevant für die schulische Persönlichkeitsentwicklung, dementsprechend hat sich die Forschung auf einige Aspekte konzentriert. Dazu gehören zunächst leistungsbezogene Merkmale wie etwa die Selbstkonzepte zu den eignen Fähigkeiten in den verschiedenen Unterrichtsfächern (selbstbezogen) oder Überzeugungen zu Leistungsbewertungen durch verschiedene Lehrende (umweltbezogen). Zum habituellen Erleben und Verhal-
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Hubert Hofmann & Karin Siebertz-Reckzeh
ten in schulischen Leistungssituationen tragen u. a. motivationale (z. B. Erfolgs-/ Misserfolgsorientierung) und emotionale Aspekte (z. B. Lernfreude, Prüfungsangst) bei. Weiterhin sind soziale Merkmale der Schülerpersönlichkeit zu nennen. Das Pendant zu den Fähigkeitsselbstkonzepten sind hier soziale Selbstschemata z. B. in Hinsicht auf die eigene Attraktivität oder die eigene soziale Kompetenz. Ebenso lassen sich umweltbezogene Überzeugungen und Annahmen nennen, z. B. in Hinsicht auf ein eher konkurrenzorientiertes oder kooperatives Klassenklima. Die genannten Merkmale stellen im Sinne eines transaktionalen bzw. interaktionistischen Verständnisses von Sozialisation einerseits wichtige Grundbedingungen für die weitere schulische Persönlichkeitsentwicklung dar, sind aber gleichzeitig auch immer bereits Produkt wechselseitiger Austauschprozesse des Schülers mit seiner schulischen und außerschulischen Umwelt (s. Abbildung 1). Beispielsweise sind Intelligenz und Vorwissen die stärksten Prädiktoren für schulische Leistungen (s. u. a. Helmke & Schrader 2006). Gleichzeitig sind es aber gerade schulische Lernprozesse, die umfangreichen Wissenserwerb und Intelligenzentwicklung (Ceci 1991) maßgeblich beeinflussen. Die in Abbildung 1 dargestellten Bedingungsvariablen sind im Mikro-, Meso- oder Makrobereich der Sozialisationsprozesse angesiedelt. Die tagtäglichen Interaktionsprozesse und aktiven Auseinandersetzungen (Wahrnehmung, Interpretation, Gestaltung) innerhalb der direkt erlebten proximalen Nahumwelten stecken zunächst den Lebensraum ab, in dem sich Persönlichkeitsentwicklung vollzieht. Hierzu zählen etwa die familiäre Umwelt, die Gleichaltrigen und auch die schulische Nahumwelt. Davon abgrenzen lassen sich distalere Entwicklungsumwelten. Vor allem für die Sozialisationsinstanz Schule können so proximale Bedingungsvariablen wie die Lehrer-Schüler-Interaktion unterschieden werden von distalen Bedingungen der Institution Schule wie Curricula oder Klassengrößen. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bilden den Hintergrund und stecken die Möglichkeiten ab, auf dem sich familiäre, schulische und außerschulische sozialisationsrelevante Umwelten entfalten können.
3.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Gegenwärtige gesellschaftliche, politische, kulturelle, ökonomische, technologische Rahmenbedingungen bilden den Hintergrund, vor dem Bildungssysteme konkretisiert werden. Unterschiedliche gesellschaftliche und politische Systeme entwickeln unterschiedliche Bildungssysteme mit unterschiedlichen ökonomischen und technologischen Voraussetzungen (z. B. Schulsysteme in verschiedenen Ländern). Das hiesige Regelschulsystem ist nur eines von vielen denkbar
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möglichen. Die „Produktion kollektiver Lernprozesse“ (Pekrun 1994: 468) kann als Zielsetzung aufgefasst werden, die trotz der Unterschiede jegliches Schulsystem kennzeichnet. Unzweifelhaft ist, dass die veränderten Rahmenbedingungen der Moderne einer wesentlich größeren Zahl von Kindern und Jugendlichen bis heute einmalige Bildungschancen eröffnen: „It is not a coincidence that universal schooling is found only in technologically and socially complex societies and that as the level of the technological and social complexity of the society increases, the level of formal schooling required for children increases [...] Complex societies have developed formal institutions, that is, schools, that organize the activities of children so that children acquire social and cognitive skills that would not otherwise emerge” (Geary 1995: 27). Fend (2006) beschreibt in historischer Perspektive schulische Sozialisationsmilieus im Kontext sehr unterschiedlicher politischer Rahmenbedingungen und unterstreicht in diesem Zusammenhang normative Aspekte moderner schulischer Sozialisation, die ein Erfahrungsraum für demokratische Strukturen und Wertorientierungen sein soll. Das Wirkungsgefüge von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Bildungssystem ist jedoch komplex und so verweist er darauf, dass neben potentiellen Erfahrungs- und Entfaltungschancen stets auch Risiken stehen wie etwa das wachsende Leistungsklima für Schüler und Lehrende. Methodisch wie theoretisch lassen sich direkte Wirkungen gesellschaftlicher Makrosysteme auf die Schülerpersönlichkeit aus mehreren Gründen nur schwer nachzeichnen. Einfache korrelative Befunde zwischen Systemmerkmalen und Merkmalen der Schülerpersönlichkeit sind eher deskriptiver als explikativer Natur. Sie machen eine Unterscheidung zwischen „Einflussfaktoren”, „Indikatorvariablen” und damit korrelierenden, irrelevanten Merkmalen schwer, wenn nicht aussagekräftige theoretische Wirkmodelle den Hintergrund bilden (Helmke & Schrader 2006). Die internationalen Vergleichsstudien zur Analyse unterschiedlicher Bildungssysteme wie zunächst die TIMSS streben einen Vergleich der Leistungsentwicklung in unterschiedlichen nationalen Schulsystemen an. Die Befunddokumentation der TIMSS liefert dabei detaillierte Vergleichsdaten vorwiegend zwischen US-amerikanischen, japanischen und deutschen Bildungssystemen in den Bereichen (1) Schulleistungen, (2) Curricula, (3) Lehrermerkmale und (4) Unterrichtsmerkmale in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern (Baumert & Lehmann 1997). Dabei liegen die deutschen Schüler mit ihren Leistungen im internationalen Mittelfeld; ihre Defizite liegen vor allem im konzeptuellen Verständnis. Inhaltlich findet sich vor allem für Mathematik ein international vergleichbares Kerncurriculum. Allerdings zeigen sich erheblich Unterschiede, wie die Curricula im Unterricht konkretisiert werden. Im japanischen Unterricht
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werden Themen früher, intensiver und anspruchsvoller vermittelt und systematischer wiederholt als in Deutschland oder der USA. Bei gleichem Stundenaufkommen erzielen japanische Schüler weitaus höhere Leistungen. Deutsche Lehrer fühlen sich weniger belastet, aber auch gesellschaftlich weniger akzeptiert als ihre japanischen und amerikanischen Kollegen. Gleichzeitig erleben sie eine größere Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen für einen anspruchsvollen Unterricht und adäquaten Maßnahmen zur Realisierung als japanische Lehrkräfte. Die Behandlung von Unterrichtsstoff ist an japanischen Schulen variationsreicher und anspruchsvoller, Mathematikstunden sind komplexer und kohärenter aufgebaut. Er zielt mehr auf Problemlösekompetenzen, während in Deutschland und den USA eher auf Wissenserwerb und Beherrschung einzelner Verfahren Wert gelegt wird. Auch in den PISA-Studien, die hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Kompetenzen zwischen den Jahren 2003 und 2006 positive Tendenzen und in der Folge (PISA 2006) eine Stabilisierung auf dem erreichten Niveau dokumentieren, werden vor allem bestimmte Unterrichtsmuster als einflussreich gekennzeichnet. Wiederum werden didaktische Elemente der Aufgabenkultur wie Schülerexperimente und Lerntransfer in Alltagsbereiche genannt (Prenzel et al. 2007). Diese Befunde beziehen sich jeweils nur auf einen engen Ausschnitt der schulischen Leistungsentwicklung, können aber dennoch als Hinweis gelten dass nicht unterschiedliche nationale Bildungssysteme per se Effekte auf die Leistungsentwicklung haben, sondern dass eher ihre tatsächliche Umsetzung im Unterrichtsgeschehen als entscheidende Variable anzusehen ist.
3.2 Schulische Umwelt – distale Bedingungsvariablen Von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind – wie oben geschildert – eher indirekte Wirkungen zu erwarten, die über aktuelle bildungspolitische, finanzielle und organisatorische Vorgaben auf verschiedenen Ebenen (Bundes-, Länder- Gemeindepolitik) durch Verordnungen, Gesetzte, Lehrpläne bestimmen, auf welche Weise Schule verwaltet und organisiert wird (z. B. Gesamtschulsystem vs. gegliedertes Schulwesen). Sie legen fest, nach welchen Richtlinien Lehrer ausgebildet und eingestellt werden, wie Schulen personell und finanziell ausgestattet sind, auf welche Weise Schülergruppen (z. B. nach regionalen, altersoder leistungsbezogenen Kriterien) zusammengesetzt werden, wie Lehrer diesen Schülergruppen zugeordnet werden, wie Lehr-Lernprozesse strukturiert werden (z. B. zeitlicher Ablauf, Reihenfolge und Dauer von Unterrichtseinheiten), auf welche Weise Lernresultate kontrolliert werden und welche Konsequenzen diese für binnen- und außerschulische Karrieren haben und nicht zuletzt welche Inhalte
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überhaupt vermittelt werden sollen (Curriculum). Diese distalen Systemmerkmale von Schulen wiederum determinieren proximale Merkmale schulischer Umwelten mit. Beispielsweise dürfte sich die Qualität der Lehrerausbildung auf die Expertise des Lehrers auswirken, was wiederum Folgen für den Unterrichtsprozess und dessen Effektivität haben müsste. Distale Bedingungsvariablen der Schulumwelt wirken zumeist nicht direkt auf die Schülerpersönlichkeit ein, sondern werden erst über proximale Variablen vermittelt. Dabei sind weniger die objektiven Gegebenheiten als vielmehr deren subjektive Wahrnehmung und Interpretation durch den Schüler ausschlaggebend (s. Pekrun & Helmke 1991). Die Schülerpersönlichkeit selbst wiederum steht in wechselseitiger Beziehung und Austausch zur schulischen und außerschulischen Umwelt. In mehreren US-amerikanischen Metaanalysen zum Einfluss unterschiedlicher Bedingungsvariablen auf die schulische Leistungsentwicklung wurde versucht, auf einer breiten empirischen Basis die Stärke einzelner sozialer, erzieherischer und psychologischer Faktoren auf schulisches Lernen abzuschätzen (u. a. Wang, Haertel & Walberg 1993). Auch hier dominiert die Frage nach Bedingungen der (kognitiven) Leistungsentwicklung, affektive und motivationale Schülermerkmale werden als Prädiktoren und nicht als Kriterien schulischer Persönlichkeitsentwicklung aufgefasst. Wang et al. (1993) kamen anhand von unterschiedlichsten Datenquellen (u. a. Metaanalysen, Expertenbefragungen) auf einer Datenbasis von über 11.000 Beobachtungen zu dem Schluss, dass vorwiegend die proximalen Variablen (z. B. Bedingungen der Schülerpersönlichkeit, schulische Instruktion, familiäre Umwelt) die größte Bedeutung für Schulerfolg haben, während distale Variablen (z. B. Bildungs- bzw. Schulpolitik, Merkmale der Schulorganisation) kaum direkte Auswirkungen auf schulische Leistungen haben. Nicht abstrakte, soziologische Variablen bilden direkte Effekte ab, es sind vielmehr die Handlungsträger und ihre sozialen Interaktionen, die Entwicklungen in der Schülerpersönlichkeit „erklären” können. Ähnliche Befunde deuten sich auch in anderen Metaanalysen an (u. a. Hanushek 1997). Als weiteres Beispiel für die Untersuchung der Wirkung distaler Bedingungsvariablen auf die Persönlichkeitsentwicklung von Schülern lassen sich die zahlreichen systemvergleichenden Studien zwischen „Integrierter Gesamtschule” auf der einen Seite und dem traditionellen, gegliederten Schulwesen auf der anderen Seite anführen (s. Horstkemper & Tillmann 2004). Zu Beginn der 70er Jahre wurde in Deutschland versucht, als Alternative zum herkömmlichen gegliederten Schulsystem in der Sekundarstufe (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) ein Gesamtschulenkonzept einzuführen, das eine derart starre Leistungsgruppierung abmildern und zu einem flexibleren, durchlässigeren Schulsystem führen sollte. Die Schüler verbleiben nach dem vierten Schuljahr in einer Schulform und werden je nach ihren Leistungen in den Hauptfächern in fachspezifi-
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sche Kurse eingruppiert, verbleiben aber in den anderen Fächern in stabilen Kernklassen. Leistungsdifferenzierungen werden also nicht mehr zwischensondern binnenschulisch vorgenommen, wobei ein Auf- oder Abstieg in unterschiedliche Kursniveaus leichter möglich ist. Als Gegenentwurf zum gegliederten Schulwesen sollten Gesamtschulen eine zu frühzeitige Selektion verhindern und vor allem mehr Chancengleichheit für sozial- und bildungsbenachteiligte Schüler ermöglichen. Die Studien aus den 1970er und 1980er Jahren zeigten in Hinsicht auf die Verminderung der sozialen Selektivität durchaus einen positiven, aber eher als schwach eingestuften Effekt (s. Hanisch 2006). Betrachtet man die Schulleistungen, so zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien, und zugleich sind die Leistungen in den einzelnen Schulformen so breit gestreut, dass sich hier erhebliche Überschneidungen ergeben. Zu den Gesamtschulen sind die Befunde eher uneinheitlich. Es finden sich Hinweise, dass Persönlichkeitsvariablen wie das Selbstbewusstsein der Schüler umso günstiger ausgebildet sind, je höher die Schulform ist und interessanterweise auch, je höher die leistungsbezogene Einstufung in der Gesamtschule ist. Im Gesamtschulsystem, das eine größere Leistungsspanne integriert, scheinen die sozialen Vergleichsprozesse insgesamt gravierendere Effekte zu haben – so lautet ein Erklärungsansatz (s. Horstkemper & Tillmann 2004). Insgesamt gesehen konnten die hohen Erwartungen an das Gesamtschulsystem nicht in dem Maße eingelöst werden wie von den Befürwortern erhofft. Der einzige systematische Vorteil der Gesamtschulen zeigt sich im höheren Ausmaß an leistungskontingenter Chancengleichheit. Systemvergleiche erbrachten hinsichtlich der verschiedenen Evaluationskriterien (wie Schulleistung, Prüfungsangst, Fähigkeitsselbstkonzepte, Lernbereitschaft) regelmäßig höhere Variationen zwischen Schulen und Klassen innerhalb einer Schulform bzw. eines Systems als zwischen den beiden Schulsystemen (s. zusammenfassend Horstkemper & Tillmann 2004). Die bereits erwähnten internationalen Leistungsvergleichstudien geben ebenso Hinweise auf innerdeutsche schulische Bildungsprozesse und haben auch die Frage der frühen institutionellen Leistungsdifferenzierung wieder ins Blickfeld gerückt (u. a. Wössmann 2007). Hier zeigen sich wiederum die Leistungsdifferenzen zwischen den verschiedenen Schulformen und aber ebenso die breiten Überlappungen z. B. zwischen Realschule und Gymnasium. Die Schülerschaften der einzelnen Schulformen sind demnach keine leistungshomogenen Gruppen oder umgekehrt gesehen, überschneiden sich die Leistungsprofile der einzelnen Schülerschaften. Die Problematik der mangelnden Chancengleichheit und der Weichenstellungen für die Bildungskarrieren wir daher insbesondere hinsichtlich des Übergangs in den Sekundarbereich gesehen. So weist die Gymnasialpräferenz, die die Kinder von den Lehrenden erhalten, einen deutlichen
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Zusammenhang zur sozialen Herkunft auf (IGLU 2006, s. Bos et al. 2007). Die erheblichen Leistungsunterschiede innerhalb einer Schulform können aber auch als Hinweis auf die hohe Bedeutung der einzelnen schulischen Umwelt mit ihren proximalen Bedingungsvariablen gelesen werden.
3.3 Schulische Umwelt – proximale Bedingungsvariablen Fasst man die Befundlage zu distalen Bedingungsfaktoren schulischer Persönlichkeitsentwicklung zusammen, so scheinen diese eher marginale direkte Wirkungen zu haben. Distale Faktoren liefern Rahmenbedingungen, die von Schule zu Schule, Klasse zu Klasse, Lehrer zu Lehrer, Schüler zu Schüler variieren und in deren Grenzen Raum bleibt für die konkrete Gestaltung von Unterricht. Zur schulischen Umwelt liegt eine kaum noch überschaubare Fülle von Untersuchungen vor. Hierbei wurden einerseits strukturelle Merkmale wie Ausstattung und Gestaltung von Schulen, Klassengröße und -zusammensetzung, Sitzordnungen und soziale Schülergruppierungen in Klassen, Lehrer- und Schülerpersönlichkeit, sowie andererseits Prozessmerkmale wie beobachtetes und perzipiertes Lehrer- und Schülerverhalten (Lehrer-Schüler- und Schüler-Schüler-Interaktion, Sozialklima, handlungsleitende Lehrerkognitionen, implizite Persönlichkeitstheorien von Lehrern und Schülern, Vertrauen), Instruktionsmethoden (z. B. offener Unterricht vs. direkte Instruktion), Kombinationen von Schülerund Unterrichtsmerkmalen (Aptitude-Treatment-Interaktionen) usw. einbezogen (s. dazu u. a. Hofer 1997; Pekrun 1994). Die Befunde geben insgesamt eher ein uneinheitliches Bild, das vor allem auf methodische Schwächen zurückgeführt werden kann. In der Regel werden nur einige wenige Merkmale isoliert und – meistens als querschnittliche Ein-Punkt-Messungen – mit einzelnen Effektvariablen möglichst kontextunabhängig in Verbindung gebracht. Im Folgenden werden aus der Vielzahl der untersuchten Merkmale diejenigen Forschungsbereiche überblicksartig vorgestellt, bei denen sich konsistente Effekte schulischer Umweltvariablen zeigen (s. u. a. Helmke & Schrader 2006; Pekrun 1994).
3.3.1 Unterrichtsquantität und Unterrichtsqualität Für das Ausmaß an potentieller und noch mehr an tatsächlich effektiv genutzter Lern- und Unterrichtszeit ergeben sich deutlich positive Wirkungen auf die Menge curricular vermittelten Wissens und Fertigkeiten (s. u. a. Fraser et al. 1987; Helmke & Schrader 2006). Ob und wie die zur Verfügung stehende Lernzeit im Unterricht genutzt wird, hängt vorwiegend von der Unterrichtsqualität ab, d. h.
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etwa von situationsangemessenen Interventionen, von einem störungsarmen und stimulierenden Unterrichtsklima (Helmke 2004; Helmke & Weinert 1997). Zur Untersuchung der Wirksamkeit von Unterrichtsmerkmalen war lange Zeit das so genannten Prozess-Produkt-Paradigma bestimmend (Good & Brophy 1990). Hierbei wurde nach einfachen, direkten, linearen Zusammenhängen zwischen einzelnen Prozessmerkmalen des Unterrichts wie dem Unterrichtsverhalten und Produktmaßen wie dem erzielten Leistungszuwachs nach einer Unterrichtsphase gesucht. Dieses relativ einfache Paradigma hat trotz aller Kritik (u. a. Gage & Needels 1989) einige sehr fruchtbare Erkenntnisse geliefert. Folgende Merkmale des Unterrichts erwiesen sich im Durchschnitt als förderlich für den curricularen Wissenserwerb: eine effiziente, auf Störungsreduktion bedachte Klassenführung; eine ausgeprägte Lernstoff- bzw. Aufgabenorientierung unterrichtlicher Interaktion bei gleichzeitiger intensiver, individueller Hilfestellung; klare Strukturierung des Lernstoffs; hohe Verständlichkeit der Lehreräußerungen und klare Aufgabenstellungen an die Schüler; Passung des Unterrichts an die Lernvoraussetzungen der Schüler; kontinuierliche Diagnose des Lernfortschritts (s. u. a. Good & Brophy 1990; Helmke 2004; Helmke & Weinert 1997; Hofer 1997; Pekrun 1994). Diese Befundlage charakterisiert einen Unterrichtsstil als effektiv für die Vermittlung curricularen Wissens, der im Wesentlichen Merkmale der „direkten Instruktion” bzw. eines lehrergeleiteten, stark strukturierten Unterrichts beinhaltet. Diese Form des Frontalunterrichts ist überdies eine häufig praktizierte Unterrichtsform und findet ihre Berechtigung insofern, als dass eine breite Wissensbasis eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erwerb weiteren Wissens ist (Hofer 1997). Allerdings bleibt zu bedenken, dass eine Maximierung dieser Verhaltensweisen für das Erreichen anderer Unterrichtsziele wie selbstständiges Arbeiten, intrinsische Motivation und Lernfreude, kritisches Denken, Kooperation oder Kreativität vermutlich suboptimal ist (Gruehn 1995; Helmke & Schrader 2006; Hofer 1997; Pekrun 1994). So wird letztlich die Situationsangemessenheit von Unterrichtsformen und Lehrerverhalten betont. Diese dokumentiert sich auch in der paradigmatischen Hinwendung einerseits zu den Lehrenden mit ihrer Expertise (u. a. fachliche und didaktische Kompetenzen, subjektive Theorien zu Lehren und Lernen) und andererseits zu den Schülern z.B. mit Blick auf selbstgesteuertes Lernen (s. Helmke 2004). Transaktionale Ansätze in der Forschung zur Lehrer-Schüler-Interaktion zeigen ebenso die hohe Komplexität des Unterrichtsgeschehens (s. Schweer 2006; Thies 2008). Die Heterogenität der Schüler etwa in Hinsicht auf Lernkompetenzen oder auch Erwartungen an den Lehrenden sowie auch die unterschiedliche Unterrichtsziele setzen den Fokus auf vielfältige, adaptive und individualisierende Unterrichtsmodelle und -methoden (s. u. a. Helmke 2004).
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Im Gegenzug zur direkten Instruktion ist der offene, schülerzentrierte Unterricht zu nennen. Charakteristisch ist hier, dass die Lernenden selbst (mit-) bestimmen, welche Ziele sie mit welchen Mitteln erreichen wollen, dass sie Lernaktivitäten gemeinsam organisieren und oft auch die erreichten Lernergebnisse selbst bewerten. Die Förderung von Lernkompetenz durch Methoden des offenen Unterrichts oder auch des Projektunterrichts kann dabei als ein wesentliches und zugleich vielfach vernachlässigtes Ziel von Unterricht hervorgehoben werden. Selbstreguliertes Lernen wird hier nicht zuletzt dadurch gestützt, dass sowohl Lehrende als auch die Mitschüler Modelle für Lerntechniken und -strategien sein können (Moschner & Wagener 2006). Ansätze des situierten Lernens (s. Klauer 2006) beschäftigen sich vorwiegend mit der Frage, wie über den Erwerb deklarativer, bereichsspezifischer Wissensstrukturen hinaus Kompetenzen des prozeduralen Könnens (z. B. problemlösendes Denken und Lernen; „Lernen lernen”) durch eine geeignete Gestaltung der Lernumgebung gefördert werden können. Auf der Grundlage konstruktivistischer Annahmen, wonach individuelles Wissen durch aktive, handelnde Auseinandersetzung mit Problemen konstruiert wird, sollen sich geeignete Lernumgebungen dadurch auszeichnen, dass sie authentisch und in konkrete, praktische und interessante Kontexte („situiert”) eingebettet sind und eine Betrachtung aus multiplen Perspektiven erlauben (Weinert & Schrader 1997). Durch die Konfrontation mit verschiedenen, authentischen, komplexen Problemstellungen sollen elaborierte kognitive Prozesse angeregt, eine positive motivationale und emotionale Einstellung erzeugt und Wissen unter dem Aspekt variabler Anwendungs- und Transfermöglichkeiten erworben werden.
3.3.2 Unterrichtsklima Während die soeben beschriebenen Effekte von Unterrichtsquantität und -qualität vorwiegend auf curriculares Lernen bezogen sind, konzentrierte sich ein weiterer Forschungsbereich verstärkt auf Sozialisationswirkungen schulischer Umwelten, die über den Leistungsbereich hinausgehen: die Forschung zum Sozialklima in Klassen bzw. Schulen. Nicht mehr die objektiven Umweltmerkmale stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die subjektive Wahrnehmung der Schulumwelt durch Schüler (und Lehrer) die Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst. Unter dem Klassenklima wird das „subjektive Erleben der Schulumwelt im Klassenverband“ (Drössler, Jerusalem & Mittag 2007: 159) verstanden, z. B. die erlebte gegenseitige Unterstützung in den Schüler-Schüler-Beziehungen. In den unterschiedlichen Ansätzen werden das individuell wahrgenommene Klima be-
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trachtet, das von Schüler zu Schüler variieren kann, oder der aggregierte Wert einer Gruppe wie einer Klasse. Geht man aufgrund von Kommunikation von geteilten Wahrnehmungen des Klimas aus, so ist das kollektive wahrgenommene Klima angesprochen. Mit Blick auf die Wirkzusammenhänge finden sich Studien, die das Klassenklima als unabhängige, abhängige oder Moderatorvariable verwenden (s. Eder 2006). Verschiedene Forschergruppen arbeiten dabei mit unterschiedlichen, zumeist faktorenanalytisch erschlossenen Klimadimensionen. Im deutschen Sprachraum wohl am bekanntesten sind die Sozialklimaskalen der Konstanzer Arbeitsgruppe um Fend (1977) mit den Dimensionen „Inhalte” (Selbstständigkeitserwartung, Leistungsdruck, Disziplindruck), „Regulierungen” (Kontrollformen, Mitbestimmung) und „soziale Beziehungen” (Engagement, Vertrauen, Anonymität). Zusammenhänge zwischen Klimavariablen und schulischen Leistungen konnten vielfach nachgewiesen werden, jedoch wird deren praktische Signifikanz eher als moderat beurteilt. Allerdings zeigten sich zwischen leistungsnahen Persönlichkeitsmerkmalen (z. B. Prüfungsangst, Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten, Schulverdrossenheit, Selbstwertgefühl) und schulischen Klimavariablen moderate bis hohe Korrelationen (s. u. a. Jerusalem 1997; Pekrun 1991). Das Klassenklima trägt erheblich zur Förderung sozialer Kompetenzen bei und umgekehrt. Soziale Selbstwirksamkeit, also die subjektive Einschätzung der eigenen Kompetenz im Umgang mit sozialen Anforderungen, und das Sozialverhalten stehen hierbei in engem Zusammenhang (Satow & Schwarzer 2003). Zum einen sind dabei Schüler-Schüler-Beziehungen, in denen gegenseitige Hilfsbereitschaft erlebt wird, von Bedeutung. Sie können durch kooperative Lernformen in kleineren Gruppen gestützt werden. Zum anderen ist eine individualisierte Lehrer-Schüler-Interaktion im Sinne einer individuellen Bezugsnormorientierung sowie ein personzentriertes Erziehungsverhalten förderlich (Drössler, Jerusalem & Mittag 2007; Jerusalem & Klein-Heßling 2002; zu personzentrierten Ansätzen s. Tausch 2008). Zusammenfassend legen die Befunde nahe, dass Leistungs- und Konkurrenzdruck, Anonymität, mangelnde soziale Unterstützung und Regellosigkeit ein negatives, Erfolgserwartungen und schulisches Selbstkonzept beeinträchtigendes Klassenklima begünstigen, während Lehrerunterstützung, Affiliation zwischen Schülern und Mitbestimmung ein positives, Erfolgserwartungen und Selbstkonzept förderndes Klassenklima bewirken. In Längsschnittstudien zeigte sich, dass die Einflüsse der Klimavariablen auf Persönlichkeitsmerkmale der Schüler wie Prüfungsangst und Selbstkonzepte kausalanalytisch etwas stärker ausfielen als in umgekehrter Richtung. Vor allem bei jüngeren Schülern (10-12 Jahre) stellen klimanegative Klassen eine besondere Risikoumwelt hinsichtlich der Entwicklung von Schülermerkmalen wie Leistungsängstlichkeit, Schulunlust, Selbst-
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wirksamkeitserwartungen und Hilflosigkeit dar. Das Lehrerverhalten (Bezugsnormorientierung, Objektivität, Hilfsbereitschaft, Toleranz, Gelassenheit, Lob und Tadel) wirkt nicht direkt auf diese Merkmale, sondern übt eher indirekt über das Klassenklima Einfluss auf Schülermerkmale (s. Dreesmann, Eder, Fend, Pekrun, v. Saldern & Wolf 1992; Jerusalem 1997). Vor dem Hintergrund schulischer Sozialisationsprozesse finden sich auch Überlegungen, die das Klima als wichtige Variable zur Überwindung von Unterschieden aufgrund der sozialen Herkunft der Schüler sehen (s. Eder 2006).
3.3.3 Komparative Vergleichsprozesse innerhalb von Schulklassen Die der Schule zugeschriebene Selektionsfunktion und die damit einhergehenden schulischen Maßnahmen zur Leistungsdifferenzierung haben eine Reihe von Untersuchungen angeregt, die auf Effekte solcher Leistungsgruppierungen gerade im Bereich schulischer Selbstkonzeptentwicklung und subjektiver Befindlichkeit hingewiesen haben. Verschiedene Theorien zur Selbstkonzept- oder Identitätsentwicklung gehen davon aus, dass soziale Erfahrungen als zentrale Quelle für selbstbezogene Kognitionen (Selbstkonzept) und emotional besetzte Selbstbewertungen (Selbstwertgefühl) anzusehen sind (s. u. a. Hattie 1992). Im Verlauf der Sozialisation bilden sich über direkte (z. B. verbale Zuschreibungen, Leistungsbewertungen) oder über indirekte Rückmeldungen (z. B. soziale Vergleiche mit Mitschülern) aus bedeutsamen sozialen Bezugsgruppen (z. B. Eltern, Lehrer, Mitschüler) immer stabilere Selbsteinschätzungen (Moschner & Dickhäuser 2006). Für die Entwicklung des schulischen Selbstkonzepts bietet der Klassenkontext wichtige Informationen. Schüler vergleichen ihre Noten miteinander und erfahren so, an welcher Stelle sie sich in der klasseninternen Leistungshierarchie befinden. Leistungsverteilungen innerhalb von Schulklassen spiegeln sich in den Verteilungen der Selbstkonzept- und Leistungsängstlichkeitswerte (Jerusalem & Schwarzer 1991). Im Grundschulalter nehmen die Korrelationen zwischen Schulleistungen und Selbstkonzept- und Leistungsängstlichkeitswerten ab der 3. Jahrgangsstufe zu, was zum einen entwicklungspsychologisch mit einer zunehmend objektiveren und differenzierteren Wahrnehmung eigener Leistungsfähigkeit einhergeht, zum anderen aber auch auf die Einführung der Ziffernzensuren zur Leistungsbewertung zurückzuführen ist, die soziale Vergleichsprozesse erleichtern und den anfänglichen Leistungsoptimismus bei Schulanfängern reduzieren (s. Dalbert & Stöber 2004). Weitere Belege für die Bedeutsamkeit komparativer Bezugsgruppen bei der schulischen Selbstkonzeptentwicklung zeigen die Arbeiten zu Effekten, die bei einem Wechsel der Bezugsgruppe zu beobachten sind. Beim Übergang im her-
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kömmlichen, gegliederten Schulwesen von der leistungsheterogenen Grundschule zu leistungshomogeneren Klassen in der Sekundarstufe findet sich beispielsweise ein leistungsstarker Grundschüler in Bezugsgruppe mit ebenfalls hohem Leistungsniveau wieder. Im Durchschnitt wird die relative Position in der klasseninternen Leistungshierarchie niedriger sein, was auch die Selbsteinschätzungen negativ beeinflusst. Umgekehrt verbessern leistungsschwache Grundschüler ihren Rangplatz in der Hauptschule und profitieren damit in ihrer Selbstbewertung vom Bezugsgruppenwechsel. Dieser Effekt konnte besonders deutlich bei leistungs- und fachspezifischen Selbstkonzepten nachgewiesen werden, bei globaleren Indikatoren und für das Selbstwertgefühl zeigen sich weniger deutliche Bezugsgruppeneffekte (Buff 1991; Jerusalem 1997; Jerusalem & Schwarzer 1991). Goetz et al (2004) haben in diesem Zusammenhang vergleichbare Ergebnisse für das lern- und leistungsorientierte emotionale Erleben zeigen können. Die Veränderungen im schulischen Selbstkonzept scheinen vorwiegend auf den Beginn der Sekundarstufe I beschränkt zu sein, da in höheren Klassenstufen wieder eine deutliche Stabilisierung zu beobachten ist (Buff 1991). Komparative Vergleiche nehmen jedoch nicht nur Schüler untereinander vor, auch für Lehrer finden Leistungsbewertungen der Schüler vielfach auf der Basis einer sozialen Bezugsnorm statt. Rheinberg (1980) konnte zeigen, dass sich Lehrer darin unterscheiden, ob sie eher eine soziale oder eine individuelle Bezugsnorm bei der Leistungsbewertung präferieren. Lehrer mit vorwiegend sozialer Bezugsnormorientierung vergleichen bei der Sanktionierung von Leistungen Schüler untereinander, d. h. die Leistungsbewertungen des einzelnen Schülers sind stark vom Klassendurchschnitt abhängig. Um Leistungsvergleiche durchführen zu können, verwenden diese Lehrer eher gleiche oder gleichschwere Aufgaben für alle Schüler, was Leistungsunterschiede zwischen Schülern besonders deutlich macht. Das Leistungsbild bleibt in solchen Klassen relativ stabil, individuelle Leistungsveränderungen treten nicht deutlich hervor. Vor diesem Hintergrund drängen sich dem Lehrer wie dem Schüler stabile Ursachenerklärungen wie Intelligenz oder Begabung für schulische Leistungen auf, die zu ähnlich stabilen, änderungsresistenten Leistungserwartungen führen. Lehrer mit eher individueller Bezugsnormorientierung versuchen, wenn möglich Leistungsveränderungen im intraindividuellen Längsschnitt bei der Sanktionierung von Schülerleistungen mit zu berücksichtigen. Dadurch wird der individuelle Lernzuwachs deutlicher, weniger zeitstabile Kausalattributionen wie Anstrengung oder Interesse dienen der Leistungserklärung, Aufgabenstellungen sind individualisierter (s. Rheinberg 2006). Verschiedene Quer- und Längsschnittstudien konnten ebenso wie Interventionsstudien positive Effekte individueller Bezugsnormorientierungen aufzeigen (Rheinberg 2006; Dickhäuser & Rheinberg 2003): Verglichen mit sozialer Be-
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zugsnormorientierung zeigen Schüler hier geringere Furcht vor Misserfolg und mehr Hoffnung auf Erfolg; weniger Prüfungsangst und Schulunlust; realistischere Zielsetzungen, günstigere Kausalattributionen und Selbstbewertungen; mehr Verbesserungsmotivation und weniger Hilflosigkeit; höhere Mitarbeitsfrequenz, mehr Spaß am Unterricht und schließlich auch bessere Leistungen.
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Zusammenfassung und Ausblick
Auf Seiten der schulischen Sozialisationsbedingungen ist der Erklärungswert distaler inner- und außerschulischer Rahmenbedingungen geringer als der Einfluss der vom Schüler wahrgenommenen proximalen Lernumwelten und der pädagogischen, fachlichen und diagnostischen Kompetenzen der Lehrer. Für einige Bereiche der Schülerpersönlichkeit lassen sich empirisch hinreichend fundiert Entwicklungslinien nachzeichnen. Dazu gehören u. a. Selbstkonzepte schulbezogener Fähigkeiten, Lernmotivation und Prüfungsangst. Für alle Entwicklungsbereiche gilt, dass sie multipel bedingt sind, dass die jeweiligen Determinanten selbst untereinander und mit Merkmalen der Schülerperson in ständiger Wechselwirkung stehen und sie in weiten Teilen kontext-, alters- und bereichsspezifisch sind. Insgesamt gesehen zeigt sich für die Entwicklung von schulischen Selbstkonzepten, Lernmotivation und Lernfreude bereits im Grundschulalter ein deutliches Absinken bei gleichzeitiger Zunahme von Leistungsängsten. Während ein Rückgang unrealistischen Leistungsoptimismus vielleicht noch pädagogisch wünschenswert erscheinen mag, stimmen die Motivationsverluste und zunehmende Angstniveaus jedoch bedenklich. Einer der wesentlichsten Gründe hierfür dürfte darin zu suchen sein, dass im Laufe der Grundschulzeit vermehrt interindividuell normierte Maßstäbe (soziale Bezugsnorm) zur Leistungsbewertung herangezogen werden und sich damit vor allem für Schüler im unteren Spektrum der Leistungshierarchie Misserfolgserfahrungen kumulieren. Bezugsgruppeneffekte beim Übergang in leistungshomogenere Klassen der Sekundarstufe I lassen sich in gleicher Weise interpretieren. Aus den dargestellten Befunden lässt sich eine Reihe von praktischen Schlussfolgerungen ableiten. Die Effekte von Unterrichtsquantität und -qualität auf die kognitive Entwicklung legen nahe, dass Eingriffe in Dauer und Gestaltung von Lehr- und Lernzeiten positive Wirkungen zeigen. Offene und kooperative Unterrichtsformen, Projektunterricht, situierte Lernumgebungen insbesondere an Ganztagsschulen bieten die Chance, näher an Motiv- und Interessenslagen der Schüler zu sein. So könnte leichter ein Optimum an Lenkung und Spielraum zur Selbststeuerung von Lernprozessen erreicht werden. Gleichzeitig könnte
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Schule kompensatorisch den veränderten Sozialisationsbedingungen der Kindheit (Pluralisierung der Beziehungs- und Familienmodelle, Fehlen gleichaltriger Sozialpartner in der Wohnumwelt) Rechnung tragen. Die negativen Effekte schulischer Bewertungsmodi auf die affektiv-motivationale Schülerentwicklung könnten durch eine Abkehr von einer generellen sozialen Bezugsnormorientierung hin zu intraindividuellen Leistungsbewertungen, wo immer das geht, abgemildert werden. Dazu müssten bereits vorhandene Verbesserungsvorschläge vermehrt durch empirische Erprobungen evaluiert werden und sich dann auch in der Lehrerbildung niederschlagen. Die hohe Gewichtung proximaler Bedingungsvariablen stellt letztlich eine große Herausforderung insbesondere für Lehrende dar. U. a. in der Unterrichtsgestaltung, der Leistungsdiagnostik, aber auch in beiläufigen und möglicherweise unreflektierten Interaktion werden die Sozialisationsprozesse in Hinsicht auf die Entwicklung der Schülerpersönlichkeit, aber auch in Hinsicht auf angesprochenen Diskriminierungstendenzen (z. B. Gymnasialpräferenz, zu Kategorisierungsprozessen s. Schweer & Thies 2000) virulent. Daher ist es eine wesentliche Aufgabe in der Lehrerausbildung, neben den fachlichen auch didaktische und soziale Kompetenzen für den Umgang mit diesen komplexen Phänomenen und möglichen Problematiken zu fördern.
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Empirische Forschungsmethoden Udo Kelle & Florian Reith
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Einleitung
Die Sozialwissenschaften sowie die pädagogische Psychologie im Allgemeinen und die Forschung zur Lehrer-Schüler-Interaktion im Besonderen verwenden eine breite Palette unterschiedlicher Verfahren der Datenerhebung und Datenauswertung. Zur Systematisierung dieser Verfahren werden wir uns an die gängige Unterscheidung zwischen „quantitativen“ und „qualitativen Methoden“ halten: quantitative Forschung erhebt standardisierte Daten mit eigens konstruierten Instrumenten (etwa Fragebögen oder Beobachtungsinventare), welche mit statistischen Verfahren analysiert werden. In der qualitativen Forschung wird gering strukturiertes Text-, Bild- und Videomaterial gesammelt, welches dann interpretiert und kategorisiert wird. In der neueren Literatur wird oft betont, dass die strikte Trennung zwischen quantitativer und qualitativer Forschung zu kurz greift und Möglichkeiten sinnvoller Kombination außer Acht lässt (vgl. etwa Mayring 2001: Abs. 1ff.; Buer 1985; Saldern 1992; Kelle & Erzberger 2006; Kelle 2007; Tashakkori & Teddlie 2003). Dennoch ist es sinnvoll, quantitative und qualitative Forschung zunächst getrennt voneinander zu betrachten: denn in beiden Traditionen wurden unterschiedliche Modelle des Forschungsprozesses und verschiedene Qualitätskriterien der Forschung entwickelt und vorgeschlagen. Die Kenntnis dieser Modelle und Kriterien ermöglicht es, die Stärken und Schwächen qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden zu verstehen und auch Möglichkeiten zur Methodenkombination einschätzen zu können.
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Quantitative Forschungsmethoden
Kennzeichnend für die quantitative Methodentradition ist die Forderung nach einer theoriegeleiteten, objektiven und präzisen Messung sozialer und psychologischer Merkmale. Damit verbindet sich ein besonderes Konzept wissenschaftlicher Erklärung und ein Modell des Forschungshandelns, das auch als „hypothetiko-deduktives Modell“ bezeichnet wird. Dieses Modell werden wir am Anfang kurz darstellen, bevor wir auf das Problem der Messbarmachung („Operationalisierung“) und dann auf verschiedene Untersuchungsdesigns, auf Techniken der
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Stichprobenziehung und auf Verfahren der Datenerhebung eingehen. Methoden zur Analyse quantitativer Daten werden wir nicht behandeln, weil dies den Rahmen eines solchen Handbuchkapitels sprengen würde – hierzu kann man auf die verfügbaren Statistiklehrbüchern für die Sozialwissenschaften zurückgreifen (etwa auf Bortz 2006; Kuhnel & Krebs 2007).
2.1 Methodologische Grundlagen: Wissenschaftliche Erklärung und deduktives Modell des Forschungsprozesses Ein grundlegendes Schema wissenschaftlicher Erklärung, das eine wesentliche methodologische Grundlage quantitativer Forschung bietet, ist das Modell „deduktiv-nomologischer Erklärung“, das nach seinen Autoren auch „HempelOppenheim Schema“ (oder „HO-Schema“) genannt wird (Hempel, Oppenheim 1948). Eine Erklärung nach dem HO-Schema besteht aus einem „Explanandum“ (dem „zu Erklärenden“) und einem „Explanans“ (dem „Erklärenden“), das wiederum einerseits aus allgemeinen Gesetzen und andererseits aus den spezifischen Randbedingungen (auch „Antezedensbedingungen“) der Situation aufgebaut ist. Dies lässt sich anhand eines Beispiels, dem Zusammenhang zwischen Lernmotivation und der Art der Rückmeldung durch Lehrer beschreiben: Seidel und Kollegen (2003) gehen davon aus, dass sachlich-konstruktive und positive Rückmeldungen die Entstehung unterstützender Lerngelegenheiten und damit der Schülermotivation fördern. Will man also die mangelnde Motivation von Schülern erklären, so könnte die Erklärung im HO-Schema so aussehen: Explanandum:
Schüler sind manchmal unmotiviert.
Eplanans:
Allgemeines Gesetz Wenn sachlich-konstruktive oder positive Rückmeldungen ausbleiben, dann sind Schüler unmotiviert. Randbedingung Manche Lehrer geben zu wenig sachlich-konstruktive oder positive Rückmeldungen.
Nun lassen sich aber für einen Sachverhalt wie mangelnde Schülermotivation zahlreiche alternative Erklärungen finden, (bspw. Persönlichkeitsmerkmale der Schüler, Interesse am Fach, die Sympathie, die der Lehrer genießt usw.). Die hier angebotene wissenschaftliche Erklärung (es liegt an mangelnder Rückmeldung) kann also ohne weiteres in Zweifel gezogen werden. Solange nicht gesichert ist,
Empirische Forschungsmethoden
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dass die allgemeine Gesetzmäßigkeit wahr ist und dass die Randbedingungen zutreffen, handelt sich es sich nur um eine „Erklärungshypothese“, die mit anderen Hypothesen konkurriert. Die Aufgabe empirischer Forschung ist nun, die Geltung solcher Hypothesen mit Hilfe empirischer Daten zu überprüfen – dies ist die Quintessenz des „hypothetiko-deduktiven“ (HD-)Ansatzes in der Methodologie (vgl. Popper 1963/1994: 321f. u. 349f.). Idealtypisch umfasst ein hypothetiko-deduktiver Forschungsprozess folgende Schritte: 1. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Die Formulierung eines Forschungsproblems und einer Fragestellung (bspw. Warum sind manche Schüler im Unterricht unmotiviert?), die Suche nach einer Theorie, die das Problem erklärt, die Ableitung von Hypothesen aus dieser Theorie, die Übersetzung der Begriffe, aus denen die Hypothesen bestehen, in messbare Konzepte („Operationalisierung“), die Konstruktion eines „Forschungsdesigns“, die Auswahl der Untersuchungseinheiten bzw. die Ziehung der „Stichprobe“, die Erhebung der Daten und deren Auswertung.
Die Auswertung der Daten soll dann empirische „Evidenz“ für die Gültigkeit der erklärenden Theorien liefern. Hierzu ist es notwendig, dass die aus den Theorien abgeleiteten Hypothesen „empirisch gehaltvoll“ sind, das heißt prinzipiell an der empirischen Realität scheitern können müssen. Allerdings ist es nicht möglich, eine wissenschaftliche Gesetzeshypothese durch empirische Daten endgültig zu beweisen, da Gesetzesaussagen sich auf eine (prinzipiell) unendliche Anzahl von Fällen (alle denkbaren unmotivierten Schüler zu allen denkbaren Zeiten) beziehen, während empirische Untersuchungen immer nur eine endliche Anzahl von Beobachtungen umfassen können1. Aus der universellen Theorieaussage „Wenn sachlich-konstruktive oder positive Rückmeldungen ausbleiben, dann sind Schüler unmotiviert“ lassen sich nur Einzelaussagen über konkrete Vorgänge ableiten, die überprüft werden können, bspw: „Wenn in einer konkreten Schulklasse mehr sachlich-konstruktive oder positive Rückmeldungen gegeben werden, steigt die Zahl der motivierten Schüler“. Empirische Überprüfungen solcher Hypothesen stellen dann Tests für die Theorie dar, bei denen sie sich entweder (vorläufig) bewähren kann oder scheitert, d. h. falsifiziert wird.
1
Wenn also die Daten die Hypothese nicht widerlegen („falsifizieren“), spricht man davon, dass die Hypothese „gestützt“ wurde oder sich „bewährt“ hat, nicht jedoch von einem „Beweis“ (einer „Verifikation“).
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Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist die sog. „Operationalisierung“, d. h. die „Messbarmachung“ der in der Hypothese enthaltenen Begriffe – so muss, um in unserem Beispiel zu bleiben, als erstes geklärt werden, in welcher Weise man „Motivation“ von Schülern und „sachlich-konstruktive und positive Rückmeldungen“ von Lehrern beobachten und messen kann. Die Operationalisierung betrifft also direkt die Art des Untersuchungsinstrumentes (Soll z. B. der Lehrer Auskunft über seine Art der Rückmeldung in einem Fragebogen geben oder soll ein Mitglied des Forschungsteams im Unterricht hospitieren?) sowie dessen Konstruktion (d. h. die Fragen eines Fragebogens). Als Kriterien zur Beurteilung der Qualität einer Operationalisierung können die sog. klassischen „Gütekriterien“ dienen: Objektivität, Reliabilität und Validität. Diese Begriffe sind nicht einfach zu definieren, weil sich hieran Fragen nach der „Wahrheit“ von Aussagen und dem Verhältnis von Wirklichkeit und Theorie knüpfen, die in der Wissenschaftsphilosophie kontrovers diskutiert werden. Hier kann man sich jedoch mit pragmatischen Lösungen helfen. 1. Dies ist insbesondere bei dem Konzept der Objektivität möglich. Forschungspraktisch meint man damit weniger die Neutralität und Sachlichkeit des Wissenschaftlers (eine sicher notwendige, aber schwer belegbare Eigenschaft) sondern die Intersubjektivität des Forschungsprozesses: so sollen etwa unterschiedliche Forscher bei dem Vorliegen derselben Sachverhalte zu denselben Beobachtungen und Daten gelangen. 2. Unter Reliabilität versteht man die Zuverlässigkeit von Messinstrumenten und Datenerhebung – diese lässt sich etwa anhand der Übereinstimmung von Messungen beurteilen. Wird der Rückmeldungsstil eines Lehrers zum Zeitpunkt t1 bewertet, so muss das Lehrerverhalten zum Zeitpunkt t2, wenn es sich nicht geändert hat, vom Beobachter in derselben Weise eingeordnet werden. 3. Unter Validität wird die Gültigkeit von Messinstrumenten, Daten und Ergebnissen verstanden. Misst ein Instrument tatsächlich, was es vorgibt zu messen? Geben die Daten relevante Aspekte des Sachverhaltes wieder? Objektivität ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Vorrausetzung für Reliabilität und Reliabilität wiederum eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Validität. Messungen, Beobachtungen und Daten können deshalb objektiv und reliabel (zuverlässig), aber trotzdem nicht valide (gültig) sein: das wäre z. B. dann der Fall, wenn man mit einen Beobachtungsinstrument vermeintlich mangelnde Schülermotivation erfasst, tatsächlich aber nur Müdigkeit misst. Trotzdem können solche invaliden Messungen objektiv und zuverlässig sein, wenn sie nämlich bei dem gleichen Grad von Müdigkeit der Schüler auch immer das gleiche Ergebnis erbringen.
Empirische Forschungsmethoden
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2.2 Die Umsetzung der methodologischen Standards Die Konzepte Objektivität, Reliabilität und Validität sind nur auf den ersten Blick unproblematisch. Schwierigkeit deuteten sich schon bei der Definition der Reliabilität an: wie soll man die Reliabilität bestimmen, wenn es um Merkmale geht, die nicht stabil sind? Im Folgenden wollen wir verschiedene theoretische Vertiefungen dieser Konzepte behandeln und technische Verfahren darstellen, mit denen die sehr allgemeinen Qualitätskriterien empirischer Forschung in der Forschungspraxis umgesetzt werden können. Dabei werden wir uns auf drei Felder konzentrieren, von denen die stärksten „Validitätsbedrohungen“ quantitativer Forschung ausgehen: messtheoretische Konzepte, Forschungsdesigns und Verfahren der Stichprobenziehung.
2.2.1 Reliabilität und Konzepte sozialwissenschaftlicher Messung Eine Messung stellt eine Zuordnung von Symbolen zu Objekten oder Ereignissen nach festen Regeln dar (vgl. Stevens 1951: 22). Für eine Messung müssen beobachtete Eigenschaften der untersuchten Objekte oder Ereignisse nach genauen Anweisungen den Ausprägungen oder Werten einer Variablen zugeordnet werden. Eine Variable ist eine definierte veränderliche Größe, die einen festgelegten Wertebereich besitzt. Je nachdem, wie dieser, auch als „Skala“ bezeichnete Wertebereich beschaffen ist, kann man zwischen verschiedenen Arten von Variablen – etwa zwischen kategorialen und metrischen Variablen – unterscheiden: bei einer kategorialen Variablen wird die Skala aus einfachen Kategorien oder Klassenbezeichnungen gebildet. Das theoretische Konzept Motivation lässt sich im einfachsten Fall durch eine solche kategoriale Variable mit nur zwei Ausprägungen bzw. Kategorien darstellen: die Motivation ist entweder „vorhanden“ oder „nicht vorhanden“. Die Abbildung von Schülermotivation auf einer metrischen Skala (etwa von 0 bis 100) würde höhere Anforderungen stellen – man müsste z. B. sicherstellen, dass mit der Differenz zwischen 0 und 20 Skalenpunkten ein ebenso großer Abstand gemessen wird wie mit der Differenz zwischen 80 und 100. Eine gute Operationalisierung einer kategorialen Variablen2 erfordert, dass die Kategorien erstens erschöpfend, zweitens disjunkt und drittens exklusiv sind. 1. Die Kategorien der betreffenden Variablen müssen erschöpfend sein, das heißt: alle empirisch registrierten Sachverhalte müssen sich in wenigstens eine Kategorie einordnen lassen. 2
Die folgenden Überlegungen lassen sich auch auf metrische Variablen übertragen
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2.
Des Weiteren müssen die Kategorien disjunkt sein, das heißt sie dürfen sich nicht überschneiden. Ein Ereignis oder Objekt darf in jedem Fall höchstens einer Kategorie zugeordnet werden: Wird etwa Schülermotivation durch Verhaltensbeobachtung erfasst, so darf jedes Schülerverhalten, das berücksichtigt wird, höchstens einer der Kategorien der Variable „Motivation“ (bspw. „motiviert“, „nicht motiviert“ oder „neutral“ bzw. „unklar“) zugeordnet werden können. Schließlich müssen Kategorien exklusiv sein, das heißt, mit ihrer Hilfe dürfen nur solche Ereignisse oder Objekte erfasst werden, die theoretisch relevante Eigenschaften besitzen. Bei der Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Lehrerverhalten und Schülermotivation soll bspw. nicht das Verhalten der Schüler auf dem Pausenhof erfasst werden, da die Schülermotivation bei Rangeleien dort kaum etwas mit dem Lehrerverhalten im Unterricht zu tun hat.
3.
Ein gutes Beispiel für Schwierigkeiten der Kategorienbildung liefert Tennant (2004) in seiner Untersuchung über Ethnizität und Lehrer-Schüler Interaktion: die Einordnung von Schülern in ethnische Kategorien kann bspw. hochgradig problematisch sein, weil solche Einordnungen höhere kulturelle Homogenitäten suggerieren, als für viele Gruppen angemessen ist (man denke nur an stark intern differenzierte Gruppen wie „Asiaten“). Mit Hilfe dieser Überlegungen lassen sich Objektivität und Reliabilität von Messungen nun genauer defnieren: Messungen sind objektiv, wenn verschiedene Forscher dieselben Ereignisse und Objekte denselben Kategorien bzw. Skalenwerten zuordnen. Reliabel sind sie, wenn bei mehrfacher Messung die gleichen Sachverhalte immer denselben Variablenwerten zugeordnet werden. Nun lassen sich bei allen sozialwissenschaftlichen Messungen kleinere oder größere Messfehler nie vermeiden, wobei man systematische von unsystematischen, zufälligen Fehlern unterscheiden kann. Ein systematischer Fehler liegt vor, wenn bspw. ein bestimmtes unmotiviertes Schülerverhalten aufgrund der Messanweisungen grundsätzlich als „motiviert“ eingeordnet wird. Anders als systematische Fehler, die sich durch gründlichere Theoriearbeit und saubere Operationalisierung vermeiden lassen, sind Zufallsfehler nahezu unausrottbar: sie entstehen bspw. durch kleine Unaufmerksamkeiten von Forschern oder Befragten, die die falschen Kategorien ankreuzen. Im Gegensatz zu systematischen Fehlern haben Zufallsfehler allerdings den Vorteil, dass sie sich (weil sie nicht systematisch in eine Richtung erfolgen) bei vielen Messwiederholungen im Durchschnitt ausgleichen und man deshalb Fehlerwahrscheinlichkeiten statistisch berechnen kann.
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Die Grundlagen für solche Berechnungen und damit für die statistische Bestimmung der Reliabilität liefert die sog. Klassische „Testtheorie“3: Ein beobachteter Messwert (X) setzt sich zusammen aus dem „wahren Wert“ (T) – z. B. der tatsächliche Motivationsgrad eines Schülers – und dem Messfehler (E), die unabhängig voneinander auftreten und deshalb addiert werden können. Bei einer wachsenden Zahl von Messungen wird der Gesamtmessfehler kleiner (weil sich ja die einzelnen Messfehler ausgleichen) und der Messwert X nähert sich dem wahren Wert. Auf dieser Grundlage kann das Konzept der Reliabilität statistisch operationalisiert werden. Verschiedene Messungen an demselben Gegenstand variieren untereinander, wobei ein Teil dieser Variation auf Grund systematischer Einflüsse und ein anderer Teil auf Grund von Messfehlern zustande kommt. Diese Unterschiede werden statistisch mit Hilfe der „Varianz“– dem Durchschnitt der (quadrierten) Abweichungen aller Messwerte von ihrem gemeinsamen Mittelwert- erfasst. Die Reliabilität kann gemessen werden als Verhältnis zwischen der Varianz der wahren Werte t1…. tn (also der wirklichen Unterschiede zwischen den Schülern) und der Varianz der gemessenen Werte x1…. xn. Eine Reliabilität von .804 würde also bedeuten, dass der Anteil der „wahren“ Varianz an der Gesamtvarianz bei 80 % liegt. Die Reliabilität eines Instruments (in der Regel aus mehreren Variablen besteht) wird dann durch unterschiedliche Vergleiche zwischen Messungen bestimmt. Bei der Erfassung der Test-Retest-Reliabilität werden Messungen wiederholt durchgeführt und gelten bei einer hohen Übereinstimmung zwischen den einzelnen Messwerten als reliabel. Ein gutes Beispiel im Feld der LehrerSchüler-Interaktion liefern Fish und Dane (2000), die die Test-Retest-Reliabilität für eine Beobachtungsskala zu den Eigenschaften „Zusammenhalt“, „Flexibilität“ und „Kommunikation“ im System „Klassenzimmer“ berechnen. Die TestRetest-Reliabilität lässt sich allerdings nicht sinnvoll bei Variablen einsetzen, die zeitlich nicht stabil sind. Will man etwa Lernfortschritt von Schülern erfassen, ist die Änderung des Messwertes beabsichtigt und eine einfache Wiederholungsmessung sollte dann nach einiger Zeit keine ähnlichen Messwerte mehr liefern. Weitere Formen der Reliabilitätsmessung erfassen die Homogenität eines Messinstruments (das man dann, wenn verschiedene Variablen zu einem Index aufaddiert werden, auch als Skala ansehen kann), bspw. die Split-Half Reliabilität, bei 3
4
Neben der „Klassischen Testtheorie“ wird heutzutage bei der Konstruktion von sozialwissenschaftlichen Skalen häufig die „Probabilistische Testtheorie“ eingesetzt, die teilweise von realistischeren Annahmen ausgeht – deren Darstellung hier aber den Rahmen sprengen würde (vgl. hierzu etwa Bühner 2004) Reliabilität wird normalerweise mit der Pearson’schen Produkt-Momentkorrelation gemessen. Die „erklärte Varianz“ ergibt sich, wenn man den Pearson’schen Koeffizienten r quadriert. Diese Zusammenhänge werden ausführlicher in jedem Statistiklehrbuch dargestellt.
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der ein Test in zwei äquivalente Testhälften unterteilt wird oder die ParalleltestReliabilität, bei der Parallelformen eines Testes hergestellt und verglichen werden. Validität wird stärker als die Reliabilität durch „inhaltslogische“ Überlegungen definiert und ist deswegen leider nicht so einfach statistisch zu operationalisieren und in Messwerte umzusetzen. Grundsätzlich unterscheidet man drei Arten von Validität: Inhalts-, Kriteriums- und Konstruktvalidität. 1. Inhaltsvalidität kommt der klassischen Definition („Validität erfasst das Ausmaß, mit dem ein Instrument tatsächlich das erfasst, was es erfassen soll“) am nächsten: ein Instrument zur Messung von kognitiver Leistungsfähigkeit, das stattdessen das Sprachverständnis erfasst, das zum Verstehen der Aufgaben nötig ist, ist nicht inhaltsvalide. Im konkreten Fall ist Inhaltsvalidität aber oft schwer bestimmbar, weil sie sich nur fachspezifische, gegenstandsbezogene und logische Überlegungen erfassen lässt. 2. Die Kriteriumsvalidität ist demgegenüber leichter empirisch und messtheoretisch zu operationalisieren, nämlich als Korrelation zwischen Ergebnissen, die mit einem Messinstrument erhoben wurden und einem externen Kriterium. So validieren bspw. Blankemeyer und Kollegen (2002) ihren „Relationship with teacher“ Fragebogen erstens anhand des Kriteriums „Grad, mit dem die Schüler ihre Schule mögen“ und zweitens anhand der Antworten der Schüler auf die Frage, wie glücklich sie jeden Tag in der Schule sind. Grundsätzlich kann man bei der Kriteriumsvalidität zwischen prädiktiver und konkurrenter Validität unterscheiden: bei der Erfassung der prädiktiven Validität erfolgt die Validierung mit Hilfe eines in der Zukunft beobachtbaren Kriteriums (wenn man etwa untersucht, ob die Abiturnote ein valider Indikator für Studienerfolg ist, indem man Abiturnoten mit Abschlussnoten der Universität vergleicht, vgl. u. a. Rindermann & Oubaid 1999; Gold & Souvignier 2005). Konkurrente Validität untersucht man mit Hilfe von Variablen, die zum selben Zeitpunkt erhoben werden wie das zu validierende Merkmal. Neben diesen beiden Hauptformen der Kriteriumsvalidität werden weitere in der Literatur diskutiert (vgl. z. B. Bühner 2004; Diekmann 2007; Schnell et al. 2005), von denen hier nur die inkrementelle Validität erwähnt werden soll, weil sie einen Sonderstatus einnimmt: sie gibt an, welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn ein neues Messinstrument gegenüber bereits etablierten Verfahren erbringt. 3. Die empirische Bestimmung der Konstruktvalidität ist deutlich komplizierter. Hierzu muss a priori festgelegt werden, welche Eigenschaftsdimensionen das gemessene Konstrukt aufweist und mit welchen Eigenschaftsdimensionen anderer Konstrukte sie in Beziehung stehen. Sowohl Abweichungen als auch Übereinstimmungen zwischen Messinstrumenten, mit de-
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nen verschiedene Konstrukte gemessen werden, können dabei erwünscht sein. Eine hohe Konvergenz deutet nämlich auf eine hohe Übereinstimmung zweier Konstrukte hin und zeigt damit deren „konvergente Validität“. Abweichungen zu Messinstrumenten, mit denen andere Konstrukte erfasst werden, führen zur Bestimmung der „diskriminanten Validität“. Ein etabliertes Instrument zur Überprüfung der Konstruktvalidität ist das Konzept der Multitrait-Multimethod-Matrix (MTMM) von Campbell und Fiske (1959) (ausführliche Darstellungen bei Schermelleh-Engel & Schweitzer 2003: 103ff.): hierbei werden unterschiedliche Konstrukte gleichzeitig mit verschiedenen Messinstrumenten erfasst und es wird eine Matrix der Korrelationen aller Messungen erstellt. Unter messtheoretischer Perspektive bleibt Validität ein schwieriges Konzept: Inhaltsvalidität lässt sich empirisch und statistisch nicht erfassen und die Messung der Konstrukt- oder Kriteriumsvalidität führt nur zur Prüfung abgeleiteter Aussagen, aber nicht zur Testung der Validität des Messinstruments selber (vgl. dazu auch Bühner 2004: 30).
2.2.2 Konzepte zur Bestimmung interner und externer Kausalität Einen anderen Zugang zum Validitätsbegriff eröffnet die Unterscheidung zwischen „externer Validität“ und „interner Validität“, die Campbell und Stanley in einer Grundlagenarbeit zu experimenteller und quasi-experimenteller Forschung in den Sozial- und Erziehungswissenschaften entwickeln (Campbell, Stanley 1963): 1. Externe Validität bezeichnet das Ausmaß, in dem ein bestimmtes Messergebnis auf andere Populationen und auf andere Settings verallgemeinert werden kann. 2. Interne Validität bezieht sich auf die Frage, ob das Ergebnis eines Experimentes tatsächlich auf den experimentellen Einfluss (auf das „treatment“) zurückgeführt werden kann. Da Campbell und Stanley ihre Vorstellungen von Validität ausgehend von der Logik des Experiments entwickeln, werden wir zuerst zentrale Aspekte dieser Logik und das hier zugrunde liegenden Konzept von „Kausalität“ diskutieren, um den Begriff der „internen Validität“ zu erläutern. Anschließend werden wir auf „externe Validität“ und auf der Problem der Verallgemeinerung eingehen.
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2.2.2.1 Das Kausalitätsparadigma Um Erkenntnismöglichkeiten und Probleme experimenteller Forschung zu verstehen, sind Grundkenntnisse über das Konzept der Kausalität hilfreich, wie es in der modernen Wissenschaftstheorie im Anschluss an Humes Regularitätstheorie der Kausalität (Hume 1748/1957) entwickelt wurde. Naturvorgänge werden dann sinnvollerweise als kausal interpretiert, so Hume, wenn Ereignisse immer wieder in derselben Weise in zeitlicher Aufeinanderfolge beobachtet werden können: auf eine Ursache X muss also immer und ohne Ausnahme eine bestimmte Wirkung Y folgen. Dieses strikt deterministische Kausalitätsverständnis wirft jedoch Probleme auf, die unter dem Begriff der „Hintergrundbedingungen“ (vgl. Mackie 1980) oder der „ceteris paribus Klausel“ diskutiert werden. Selbst bei einem so trivialen Beispiel wie der Betätigung eines Lichtschalters lassen sich prinzipiell unendliche viele Hintergrundbedingungen finden, die gegeben sein müssen, damit tatsächlich Licht aufleuchtet, wenn der Lichtschalter gedrückt wird: so darf der Stromkreislauf nicht unterbrochen sein, die Glühbirne muss intakt sein, das Elektrizitätswerk muss Strom liefern u. v. a. m. Die Betätigung des Schalters kann also nur dann als eine Hume’sche Ursache für das Aufleuchten des Lichts angesehen werden, wenn alle diese Bedingungen immer konstant sind und deshalb in einer „ceteris paribus Klausel“5 vernachlässigt werden dürfen. Variieren die Hintergrundbedingungen aber im Untersuchungsfeld, dann müssten alle Bedingungen bekannt sein, damit man eine Kausalaussage unter Beachtung der Hume’schen Regularitätstheorie formulieren darf (denn wenn die Glühbirne nicht immer bei Betätigung des Schalters aufleuchtet, ist die Anforderung eines „konstanten Zusammenhangs“ zwischen Ursache und Wirkung ja verletzt). Dies ist in den Sozialwissenschaften und der Psychologie eine unangemessen strenge Anforderung, deren genaue Beachtung die wissenschaftliche Arbeit sehr behindern würde. Die Lernmotivation eines Schülers ist natürlich nicht nur vom Lehrerverhalten, sondern von zahlreichen anderen Einflüssen (seinem häuslichen Umfeld, seinem momentanen Gesundheitszustand, Ablenkung durch Mitschüler usw.) abhängig, die stark variieren können. Trotzdem ist es sinnvoll, von einer kausalen Wirkung des Lehrerverhaltens auf die Schülermotivation auszugehen, ohne bei der Untersuchung dieses Zusammenhangs alle diese Einflüsse immer einzubeziehen. Dieses Problem lässt sich theoretisch durch eine statistische und durch eine interventionistische Theorie der Kausalität lösen. Beide Ansätze führen zu verschiedenen (aber miteinander verknüpfbaren) methodischen Strategien:
5
„ceteris paribus“ bedeutet: bei ansonsten gleichen (Hintergrund)bedingungen
Empirische Forschungsmethoden 1.
2.
49
Dem Prinzip der probabilistischen oder statistischen Kausalität zufolge wirkt ein Ereignis X auf ein Ereignis Y kausal, wenn X die Auftretenswahrscheinlichkeit (bzw. die Häufigkeit des Auftretens) von Y (beeinflusst6 (Suppes 1970: 10). Die Variable, die das Ereignis X erfasst, bezeichnet man dabei als unabhängige Variable, die Variable Y als abhängige Variable (weil sich Y in Abhängigkeit von X verändern soll). Ein bestimmtes Lehrerverhalten kann demnach als kausaler Faktor für die Schülermotivation gelten, wenn Schüler häufiger (oder seltener) motiviert sind, wenn Lehrer dieses Verhalten zeigen. Auf diese Weise wird die deterministische Regularitätstheorie abgeschwächt und es wird bspw. möglich, Hintergrundbedingungen, die für eine sozialwissenschaftliche Fragestellung nicht relevant sind (situative Bedingungen, die Laune bestimmter Schüler usw.) zu vernachlässigen. Schon der Philosoph Mill hatte darauf hingewiesen, dass Beobachtung ohne experimentelle Einflussnahme zwar eine konstante Aufeinanderfolge von Ereignissen zeigen kann, aber nicht eine Ursache-Wirkungsbeziehung (Mill 1874: 277). So lässt sich ein im Unterricht beobachteter Zusammenhang zwischen positiven Rückmeldungen und Schülermotivation dadurch erklären, dass das Lehrerverhalten das Schülerverhalten, aber auch dadurch, dass das Schülerverhalten das Lehrerverhalten beeinflusst: möglicherweise geben Lehrer deswegen viele positive Rückmeldungen, weil die Schüler bereits motiviert mitarbeiten. Eine experimentelle Intervention könnte diese Unklarheit beseitigen. Wenn Lehrer von einem bestimmten Zeitpunkt an gezielt positive Rückmeldungen zu geben und die Schüler daraufhin motivierter arbeiten, lassen sich Hypothesen über die Richtung der Kausalbeziehung besser absichern. Die Interventionstheorie der Kausalität (vgl. Woodward 2001) geht (in ihrer starken Fassung) sogar davon aus, dass sich Kausalbeziehungen nur durch Interventionen nachweisen lassen (Holland 1985: 51).
2.2.2.2 Experimentelle und quasi-experimentelle Designs Die Interventionstheorie der Kausalität führt konsequenterweise zum Experiment, dessen Anwendung in der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Forschung aber oftmals schwierig ist, weil der Experimentator dort nicht immer alle kausalen Bedingungen beeinflussen kann. Dies betrifft insbesondere die Lehrer-Schüler-Interaktion – Theorien über den kausalen Einfluss eines be6
Außerdem darf keine zusätzliche Bedingung Z existieren, die im gemeinsamen Auftreten mit X die Auftretenswahrscheinlichkeit von Y verändert.
50
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stimmten Lehrerverhaltens können nicht im Labor, sondern nur im natürlichen Umfeld der Schule geprüft werden. Campbell und Stanley wenden sich genau diesem Problem zu und kritisieren bestimmte Arten der empirischen Forschung, die sie als „vor-experimentelle Designs“ bezeichnen und deren prinzipiellen Aufbau sie mit „X-O Diagrammen“ veranschaulichen: „X“ steht dabei für die Intervention (das „treatment“) und „O“ für die jeweilige Messung („observation“). Bei dem vorexperimentellen Design der „one shot case study“ wird auf eine Erhebung des Wertes der abhängigen Variablen (zum Zeitpunkt t1) ganz verzichtet, das treatment durchgeführt und anschließend der Wert der abhängigen Variablen ermittelt (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: one shot case study
t1
t2
t3
X
O
Die zentrale Schwäche dieses Designs besteht darin, dass kein Vergleich möglich ist. Die Feststellung, dass die durchschnittliche Schülermotivation bspw. in einer bestimmten Schulklasse nach einer Schulung der Lehrer einen bestimmten Wert hat, hat für sich genommen gar keine Aussagekraft. Die einfachste Möglichkeit, einen Vergleichsmaßstab herzustellen, bestünde darin, dass in anderen Schulklassen (in denen keine Intervention stattfand) geprüft wird, wie hoch die durchschnittliche Schülermotivation dort ist. Aber auch die Schlussfolgerungen, die man aus solch einer static group comparison (Tabelle 2) ziehen kann, ist eingeschränkt: es bleibt die Möglichkeit, dass die Schulklasse, in der die Intervention stattfand (die „Versuchsgruppe“) von vornherein einen höheren Durchschnittswert als die Vergleichsgruppe (die „Kontrollgruppe“) aufwies. Tabelle 2: static group comparison
t1
t2
t3
X
O1 O2
Diese Validitätsbedrohung wird bei der dritten Form des vor-experimentellen Designs, beim sog. „Eingruppen-Pretest-Posttest Design“ (vgl. Tabelle 3) zwar
Empirische Forschungsmethoden
51
vermieden. Weil hier aber eine wiederum eine Kontrollgruppe fehlt, kann man nicht feststellen, ob eine gemessene Veränderung nicht ohnehin (etwa durch einen „Reifungseffekt“, d. h. aufgrund der Tatsache, dass die Schüler bei der zweiten Messung wegen ihres höheren Alters psychosozial gereift sind) stattgefunden hätte. Tabelle 3: Eingruppen-Pretest-Posttest-Design
t1
t2
t3
O1
X
O2
Ein echtes experimentelles Design (Fisher 1935) erfordert demgegenüber, dass die Werte der abhängigen Variablen sowohl in der Versuchs- als auch in der Kontrollgruppe zweimal (nämlich vor und nach dem treatment) gemessen werden. Idealerweise erfolgt die Aufteilung der Versuchspersonen auf die Versuchsund Kontrollgruppe dabei „randomisiert“, also zufällig (in der Tabelle 4 wird dies dargestellt durch das „R“ in der ersten Spalte): dabei muss jeder Beteiligte am Experiment die Chance haben, der Versuchsgruppe oder der Kontrollgruppe zugeordnet zu werden, weil nur so „Selektionseffekte“ ausgeschlossen werden können: lässt man bspw. Lehrern die Wahl, ob sie eine neue Methode der Schülermotivation im Unterricht einführen oder nicht, ist es wahrscheinlich, dass nur die von der Methode überzeugten Lehrer die Versuchsgruppe bilden. Nun ist es aber leicht möglich, dass gerade die von der Methode überzeugten Lehrer die Schüler aufgrund ihres eigenen Engagements mitreißen. Der entscheidende kausale Faktor wäre dann nicht das treatment, sondern eine andere Variable (hier: das Engagement der Lehrer). Tabelle 4: Randomisiertes Pretest-Posttest- Kontrollgruppendesign t1
t2
t3
R
O1
X
O2
R
O3
O4
Eine weitere wichtige Strategie ist die „Verblindung“: den Versuchspersonen und/oder dem Versuchsleiter wird verschwiegen, wer das treatment erhält. Hierdurch hofft man „Versuchsleitereffekten“ entgegenzuwirken: Wissen oder Über-
52
Udo Kelle & Florian Reith
zeugungen der Versuchsleiter über die Versuchspersonen kann nämlich die Versuchsergebnisse mehr oder weniger stark beeinflussen: in lang laufenden experimentellen Studien an Schulen zeigten Schüler, von deren besonderer Leistungsstärke die Versuchsleiter überzeugt waren, tatsächlich nach einer gewissen Zeit durchschnittlich bessere Leistungen (Rosenthal & Jacobson 1974). Ein Beispiel für die (in sozialwissenschaftlichen Studien oft sehr umzusetzende Verblindung) liefern ter Laak und Kollegen (2001), die in ihrer Untersuchung über Lehrerurteile Schülergruppen gebildet haben, deren Zusammensetzung aus „normalen“ und „schwierigen“ Schülern den Beobachtern nicht mitgeteilt wurde (vgl. ter Laak et al. 2001: 261). Letztendlich ist die randomisierte Aufteilung der Versuchspersonen auf Versuchs- und Kontrollgruppe für ein Experiment sogar noch bedeutsamer als die Durchführung von Pre-test Messungen7, so dass auch ein randomisiertes NurPosttest- Kontrollgruppendesign (vgl. Tabelle 5), der Gruppe der „echten“ experimentellen Designs zugeordnet wird. Tabelle 5: Randomisiertes Nur-Posttest- Kontrollgruppendesign t1 R R
t2
t3
X
O2 O4
Nun ist aber eine zufällige Aufteilung der Versuchspersonen in den Sozialwissenschaften oft entweder aus ethischen Gründen nicht vertretbar oder nicht praktikabel – schließlich lassen sich bspw. Kinder nicht nach dem Zufallsprinzip in „normale“ und „schwierige“ Schüler umwandeln. Muss man auf eine Randomisierung verzichten, so können die besonderen Schwächen vorexperimentelle Designs vermieden werden, indem zumindest eine Vorher- und Nachhermessung und eine Aufteilung in Versuchs- und Kontrollgruppe stattfindet. Campbell und Stanley sprechen hier von einem „quasi-experimentellen Design“ (vgl. Tabelle 6).
7
Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe, die eine Vorhermessung zeigen könnte, lassen sich durch echte Randomisierung mit einer statistisch bestimmbaren Wahrscheinlichkeit ausschließen.
Empirische Forschungsmethoden
53
Tabelle 6: Quasi-experimentelles Pretest-Posttestdesign min nicht-äquivalenter Kontrollgruppe t1
t2
t3
O
X
O
O
O
Durch den Vergleich der nicht-randomisierten Gruppen können zumindest viele Fehlschlüsse vermieden werden, die durch Selektion oder Reifung entstehen können – wichtig ist, dass Versuchs- und Kontrollgruppe sich in ihrer Zusammensetzung so weit es geht ähneln. Untersucht man bspw. Einflüsse der Klassengröße auf das Verhalten von Lehrern (Blatchford 2003), so muss man versuchen, Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrollklassen zu vermeiden, die durch andere Faktoren entstehen (etwa weil die kleinen Schulklassen an einer Grundschule im bildungsbürgerlich geprägten Stadtteil, die großen Schulklassen in einem sozialen Brennpunkt sind).8 Die schlimmsten Mängel vorexperimenteller Designs können aber auch in Eingruppenexperimenten beherrschbar werden, etwa in Zeitreihenexperimenten ohne Kontrollgruppe (vgl. Tabelle 7). Durch zahlreiche Messungen vor und nach dem treatment lassen sich Reifungseffekte gut erkennen. Wenn die Veränderung der abhängigen Variable (etwa: Lernerfolg) zwischen O3 und O4 (also vor und nach dem treatment, etwa der Einführung einer neuen Lernmethode) genauso groß ist wie zwischen O1 und O2, ist das ein wichtiger Hinweis darauf, dass das treatment hier keinen eigenständigen Effekt hat. Tabelle 7: Zeitreihenexperiment ohne Kontrollgruppe O1 O2 O3 X
8
O4 O5 O6
Manche Selektionseffekte, die durch das Forschungsdesign nicht ausgeschlossen werden können, lassen sich allerdings nachträglich statistisch kontrollieren, zumindest dann, wenn man die Störvariablen kennt.
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2.2.2.3 Stichprobenziehung und das Problem der Verallgemeinerbarkeit Die Auswahl der Untersuchungseinheiten hat eine zentrale Bedeutung sowohl für die Aussagekraft von Experimenten als auch in der (nicht-experimentellen) Umfrageforschung – eine brauchbare Aussage über die Grundgesamtheit oder Population (etwa: alle Schüler der 9. Klassen von Gymnasien) ist nur möglich, wenn die in der Untersuchung verwendete Stichprobe hinreichend „repräsentativ“ ist. Der Begriff der Repräsentativität (die statistische Verteilung der Merkmalen in der Stichprobe entspricht der Verteilung der Merkmale in der Population) lässt sich nur merkmalsbezogen sinnvoll verwenden – eine Stichprobe kann repräsentativ bezogen auf eine bestimmte Variable (bspw. Geschlecht), aber nichtrepräsentativ bezogen auf viele andere (etwa: soziale Herkunft, Motivation) sein. Leider wird der Begriff oft missbraucht, indem die Repräsentativität einer Stichprobe bezogen auf wenige (z. B. sozialstatistische) Merkmale bestimmt wird und dann der Eindruck erweckt, die Stichprobe sei deshalb umfassend (d. h. auch bezogen auf andere Variablen, deren Verteilungen in der Grundgesamtheit unbekannt sind) repräsentativ. Entscheidend für die Einschätzung der Repräsentativität ist also letztendlich nicht ein Vergleich mit Werten aus einer Grundgesamtheit, sondern das Ziehungsverfahren. Dabei sind zwei Verfahren gebräuchlich: die bewusste Auswahl und die Zufallsauswahl. 1. Bei einer bewussten Auswahl werden bestimmte Merkmale festgelegt, die für die Fragestellung relevant sind und auf die bezogen Repräsentativität hergestellt werden soll. Man kann die Kenntnis der Verteilung dieser Merkmale in der Population bspw. dazu nutzen, Interviewern „Quotenpläne“ auszuhändigen (sie etwa instruieren, eine bestimmte Anzahl von Frauen und von Männern). Ein Nachteil solcher Quotenstichproben besteht darin, dass man schon im Vorfeld ein sehr umfassendes Wissen über den Gegenstandsbereich haben muss, um die relevanten Merkmale für die Ziehung auswählen zu können, wobei nie ausgeschlossen werden kann, dass nicht doch unbekannte Faktoren die Stichprobe verzerren. 2. Die Zufallsziehung bietet den Vorteil, dass sich hierbei die Wahrscheinlichkeit, eine bezüglich aller möglichen Merkmale repräsentative Stichprobe zu ziehen, berechnen lässt, wobei diese Wahrscheinlichkeit mit steigendem Stichprobenumfang wächst. Definiert wird eine Zufallsstichprobe dadurch, dass jedes Element der Grundgesamtheit eine von 0 verschiedene, angebbare Chance hat, in die Stichprobe zu gelangen. Realisiert werden kann eine Zufallsstichprobe im einfachsten Fall durch eine sog. „Listenauswahl“, bei der aus einer vollständigen Liste der Grundgesamtheit die gewünschte Anzahl von Elementen zufällig ausgewählt wird.
Empirische Forschungsmethoden
55
In der Praxis der empirischen Sozialforschung werden beide Verfahren oftmals kombiniert, wobei eine reine Zufallsauswahl oft schwer zu realisieren ist9. Man behilft sich hier mit Verfahren einer „mehrstufigen“ Zufallsauswahl, wie sie etwa in der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften“ (AllBUS), eine regelmäßig wiederholte Befragung einer Bevölkerungsstichprobe in Deutschland, stattfindet (vgl. Wasmer et al. 2007): in einer ersten Stufe der Zufallsauswahl werden sog „sampling points“ festgelegt – dies sind 148 Ortsgemeinden in ganz Deutschland (Stand AllBUS 2006). Anschließend werden aus den Einwohnermelderegistern dieser Gemeinden zufällig Personenadressen gezogen. Ein solches Vorgehen gestaltet sich komplexer, wenn Teile der Stichprobe „geschichtet“ d. h. getrennt nach Subpopulation, gezogen werden. So wurde in der deutschen Erweiterung der PISA-Studie zuerst nach Bundesländern geschichtet, indem für jedes Bundesland eine eigene Stichprobe gezogen wurde und innerhalb der Länder die Stichproben differenziert nach Schulformen geschichtet. Dabei wurden die Teilstichproben „disproportional“ geschichtet – das heißt, dass der relative Umfang der Länderstichproben nicht den realen Bevölkerungszahlen entspricht und dass die Stichproben der einzelnen Schulformen spiegeln nicht die tatsächliche Verteilung der Schüler wiederspiegeln: die Stichprobe in Hamburg etwa ist genauso groß wie die Stichprobe in Nordrhein – Westfalen, die Stichprobe der Gymnasiasten genauso groß wie die Stichprobe der Hauptschüler (obwohl wesentlich mehr Schüler ein Gymnasium besuchen als eine Hauptschule). Hierdurch sollen differenzierte statistische Analysen auch für kleine Subpopulationen ermöglicht werden. Die realen Verhältnisse können dann bei der statistischen Auswertung durch eine proportionale „Gewichtung“ 10 wieder hergestellt werden. Die Repräsentativität einer Stichprobe kann entweder durch Zufallsfehler oder durch systematische Fehler eingeschränkt werden: 1. Zufallsfehler lassen sich nie vollständig vermeiden – die einzige Möglichkeit, das Risiko für solche Fehler möglichst gering zu halten, besteht darin, dass der Stichprobenumfang hinreichend groß gehalten wird. Mit Hilfe wahrscheinlichkeitstheoretischer Modelle lassen sich die Größe des Stichprobenfehlers bei gegebener Stichprobe jedoch schätzen.
9
10
Für die Ziehung einer Bevölkerungsstichprobe durch ein Listenverfahren fehlt bspw. in Deutschland ein einheitliches bundesweites Melderegister, hinzukommen oft Probleme des nonresponse (s. u.) Bei den Schätzungen von Kennwerten für Bundesländer und Schulformen wird ein Korrekturfaktor verwendet, der der jeweiligen Größe des Bundeslandes und der jeweiligen Anzahl von Schülern in den verschiedenen Schulformen gerecht wird (vgl. Deutsches PISA-Konsortium online – o. J.)
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2.
Bei systematischen Fehler („biases“) wird das Prinzip, dass jedes Element der Grundgesamtheit eine Chance haben muss, in die Stichprobe zu gelangen, systematisch verletzt. Dies ist etwa bei Passantenbefragungen der Fall (Personen, die sich tagsüber seltener dort aufhalten, etwa Vollzeitberufstätige, sind hier stark unterrepräsentiert). Grundsätzlich können aber auch solche Stichproben nützlich sein, solange der Verallgemeinerungsanspruch nicht über die faktische Grundgesamtheit (z. B. „Personen, die sich tagsüber in Einkaufspassagen bewegen und sich von Interviewern ansprechen lassen“) hinausgeht. Im Gegensatz zu Zufallsfehlern lassen sich systematische Fehler nicht statistisch beherrschen, sondern nur methodisch (bspw. durch praktische Vorkehrungen bei der Stichprobenziehung) begrenzen.
2.3 Die Erhebung standardisierter Daten Standardisierte Daten werden in den Sozialwissenschaften in der Regel entweder durch Befragung oder durch Beobachtung gewonnen. Diese beiden zentralen Erhebungsverfahren und ihre Probleme sollen im Folgenden besprochen werden.
2.3.1 Befragung Die Erhebung standardisierter Befragungsdaten erfolgt in der Regel durch Fragebögen. Die einzelnen Fragen (auch „Items“ genannt) repräsentieren dabei jene Variablen, die durch die Operationalisierung der theoretischen Konzepte entstanden sind. Im Idealfall kennt man bereits deren mögliche Ausprägungen, die dann in Form fester Antwortalternativen dem Befragten vorgelegt werden. In standardisierten Fragebögen vermeidet man, viele „offene Fragen“ zu stellen, deren Auswertung (durch eine Entwicklung von Kategorien nach der Erhebung) aufwändig ist. Die Konstruktion valider Fragebögen ist anspruchsvoll und zeitraubend, deshalb werden (wenn die Untersuchungsfragestellung dies zulässt) bereits erprobte Instrumente gerne genutzt. Klassische Fragebogenformen für die Untersuchung der Lehrer-Schüler Interaktion lassen sich im ICEQ (Individualised Classroom Enviroment Questionaire) von Fraser (1990) oder dem QTI (Questionare on Teacher Interaction) von Wubbels & Levy (1993) finden. Der ICEQ widmet sich dem Lernumfeld11, der QTI, den auch Mellor und Moore 11
Beispielitems: Gefragt wird danach wie oft der Schüler möchte, dass die im Item angesprochenen Dinge in seiner Klasse passieren: „Students would be punished if they behaved badly in class“ (Item 28). „Students would work on their own speed“ (Item 5). Die Items wurden der “Long Form“ des „Preferred Classroom“ Fragebogens entnommen (Fraser 1990: 30)
Empirische Forschungsmethoden
57
(2003) verwenden, dem Verhalten des Lehrers gegenüber seinen Schülern12. Bei komplexeren Instrumenten werden, manchmal mit Hilfe spezifischer statistischer Verfahren wie der Faktorenanalyse, Items zu „Itembatterien“ zusammengefasst, die dann eine neue Variable oder Skala repräsentieren. Für die Messung der Qualität solcher Skalen existieren verschiedene statistische Verfahren und Koeffizienten, die die Reliabilität (genauer: die interne Konsistenz, s. o.) einer Skala erfassen sollen (ein Überblick hierzu findet sich bei Bühner 2004). Hinsichtlich der Interaktion zwischen Interviewer und Befragtem lassen sich verschiedene Befragungsformen unterscheiden: die schriftliche Befragung (z. B. als Befragung im Klassenzimmer oder als postalische Befragung), die Telefonbefragung, die direkte mündliche face-to-face-Befragung und in neuerer Zeit die Online-Befragung. Eine eigene Methodenforschung (Porst 2000) befasst sich mit den besonderen Problemen der Befragung, etwa mit dem sog. nonresponse: bei zahlreichen Untersuchungen nehmen viele der ursprünglich vorgesehenen Personen nicht teil – Gründe hierfür sind Nichtbefragbarkeit (etwa aufgrund von Krankheit), Nichterreichbarkeit oder Verweigerung. Nonresponse ist für Bevölkerungsumfragen bedeutsamer als bei Befragungen in institutionellen Kontexten, bspw. in Schulen – aber auch hier kann offene und verdeckte Verweigerung bspw. den Rücklauf von Fragebögen, die an Lehrer oder Schulleitungen ausgegeben werden, erheblich senken und eine ganze Studie gefährden. Problematisch wird nonresponse, wenn die Nonresponder sich hinsichtlich relevanter Merkmale deutlich von der Gruppe der Befragten unterscheiden und auf diese Weise systematische Stichprobenfehler erzeugen. Hinweise auf Merkmalshäufungen in der Gruppe der Befragten oder bei Nonrespondern müssen deshalb sehr aufmerksam registriert werden. Neben dem „unit-nonresponse“ (komplette Fragebögen gelangen nicht in die „Nettostichprobe“), tritt ebenfalls häufig das Problem des „item-nonresponse“ auf: Befragten verweigern die Beantwortung bestimmter, zumeist sensibler Fragen (etwa Fragen nach dem Einkommen), brechen die Beantwortung des Fragebogens aus mangelnder Motivation ab o. ä. Weitere Fehlerquellen können sich entweder aus dem Fragebogen („Frageeffekte“) oder aus der Interaktion zwischen Befragtem und Interviewer ergeben, wobei hier sowohl Merkmale der Interviewer (die zu „Interviewereffekten“ führen) als auch solche der Befragten (die „Befragteneffekte“ erzeugen) eine Rolle spielen können. 1. Unter den Befragtenmerkmalen besonders erwähnenswert ist eine oft vorhandene Tendenz zu „sozial erwünschtem“ Antwortverhalten: Viele Inter12
Beispielitems: Die Aussagen der Items sollen Anhand einer 5-stufigen Likert-Skala (Likert 1932, vgl. Diekmann 2007: 240ff.) von A=Never bis E=Always eingeordnet werden: „He (der Lehrer) thinks we cheat“ (Item 19); „We are afraid of him“ (Item 61).
58
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2.
viewpartner wählen bestimmte Antwortalternativen eines Items oft nicht, weil sie sie als gesellschaftlich nicht akzeptabel einschätzen, obwohl sie ihre eigentliche Einstellung wiedergeben würden. Auch ist die generelle Befragungsbereitschaft bei Befragten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Der „Umfragemüdigkeit“ (Porst 1996) von Befragten kann man zwar mit besonderen Maßnahmen begegnen (indem man etwa kleine finanzielle Anreize bietet). Das kann allerdings Zweifel an der Validität von Untersuchungen wecken, wie sie in Medienberichten zur PISA Studie von 2006 ihren Ausdruck fanden. Hier wurde die Vergleichbarkeit der Ergebnisse angezweifelt, weil in einigen Staaten (wegen einer angeblichen „Testmüdigkeit“ der Schüler) die Teilnahme mit Beträgen von bis zu 50 € prämiiert wurde (vgl. ZEIT online 2007)13. Auch Interviewermerkmale (etwa Merkmale, die auf die soziale Herkunft des Interviewers oder auf bestimmte Einstellungen schließen lassen) können das Antwortverhalten beeinflussen und Effekte sozialer Erwünschtheit verstärken. Hierzu gehört auch der sog. „Sponsorship-Effekt“. Die Kenntnis über den Auftraggeber kann das Antwortverhalten beeinflussen – bei der Befragung von Schülern über Eigenschaften ihrer Lehrer wird es bspw. eine Rolle spielen, ob der Interviewer von der Schülerzeitung kommt oder vom Kultusministerium beauftragt wurde. In der Literatur wurden bislang sehr zahlreiche und unterschiedliche Frageeffekte beschrieben (vgl etwa Groves et al. 2004). Ergebnisse einer Befragung können oft durch minimale Umformulierungen stark verändert werden, wie Krämer (2003: 121ff.) deutlich macht. Eine Übersicht über solche Frageeffekte findet sich bspw. bei Porst (2000).
3.
Fehler in Befragungen können auch durch das Zusammenwirken mehrerer dieser Fehlerquellen zustande kommen. Ein gutes Beispiel hierfür liefert das Problem der Validität von Selbstbeschreibungen, etwa zum Arbeitsverhalten von Schülern: in der ersten PISA- Studie von 2000 wurden bspw. Skalen zum „selbstregulierten Lernen“ (Boekarts 1999; Zimmermann 1999) eingesetzt, die die Schüler direkt nach ihrem Arbeitsverhalten fragten. Solche Selbstbewertungen können valide Daten liefern, wie Schneider (1996) zeigt. Andere Forscher haben aber auch Probleme dabei entdeckt, etwa Blankemeyer und Kollegen (2002) in ihrer Studie zu Aggression und sozialer Kompetenz, die mit Hilfe von SchülerSelbsteinschätzungen gemessen wurde.
13
Bei der ersten PISA Studie wurde vom deutschen Konsortium der verfälschende Einfluss motivationaler Anreize in einer gesonderten Untersuchung ausgeschlossen (vgl. Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung online o. J.)
Empirische Forschungsmethoden
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2.3.2 Beobachtung Insbesondere Forschung zur Lehrer-Schüler-Interaktion erfordert oft die Beobachtung konkreten Verhaltens in konkreten Situationen. Das Spektrum solcher Verhaltensbeobachtungen reicht von echten experimentellen Designs, bei denen das treatment im psychologischen Labor erfolgt (bspw. die „Bobo-Doll Studie“ zum Modelllernen von Bandura und Kollegen 1993), bis hin zu Beobachtungen in alltäglichen Handlungskontexten wie einem Klassenzimmer (etwa die Studien von ter Laak et al (2001) über das Beurteilungsverhalten von Lehrern oder von Blatchford (2003) über die Abhängigkeit des Lehrerverhaltens von der Klassengröße). Bei einer Verhaltensbeobachtung nach dem hypothetiko-deduktiven Modell werden theoretische Konzepte mit Hilfe von Beobachtungsinventaren operationalisiert, die nach ähnlichen Regeln konstruiert werden müssen wie standardisierte Fragebögen: hierbei müssen unter Beachtung der Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität trennscharfe und erschöpfende Beobachtungskategorien konstruiert werden. Dabei erfordert insbesondere die präzise Ausformulierung der Kategorien sowie der Bedingungen, die festlegen, wann ein beobachtetes Verhalten einer Kategorie zugeordnet werden soll, die Festlegung detaillierter Regeln, die sicherstellen, dass die Beobachter dasselbe Verhalten in genau derselben (vom Forscher intendierten) Weise beurteilen (vgl. Kern 1997: 34ff.). Zwar werden auch in Fragebögen Probanden manchmal um die Beurteilung von Beobachtungen gebeten – hier ist es aber unproblematisch (manchmal sogar erwünscht), dass sich Urteile unterscheiden. So ist bspw. die mit Fragebögen arbeitende klassische Einstellungsforschung ja gerade an (subjektiven) Unterschieden zwischen menschlichen Urteilen und Bewertungen interessiert, während man bei der Konstruktion eines Beobachtungsinventars die Beobachter trainieren muss, Dinge einheitlich (objektiv) zu beurteilen. Zudem müssen Beobachtungsschemata einfach konstruiert sein und dürfen v. a. nicht zu viele Kategorien enthalten, damit die Beobachter jederzeit für ein spontan auftretendes Verhalten die entsprechenden Codes auf dem Kodierbogen finden. Die besonderen Probleme bei der Konstruktion von Beobachtungsinventaren für die Analyse der Lehrer-Schüler Interaktion werden in dem Erfahrungsbericht von Fish und Dane (2000) dargestellt.
3
Qualitative Forschungsmethoden
Qualitative Forschung unterscheidet sich in drei wesentlichen Aspekten von quantitativen Methoden:
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1.
Das Ziel des Forschungsprozesses ist nicht die Testung von präzise formulierten Theorien und Hypothesen – vielmehr werden in der qualitativen Forschung auf der Grundlage allgemeiner theoretischer Vorannahmen konkrete Kategorien und theoretische Annahmen erst unter Zuhilfenahme von empirischen Daten entwickelt. Die Daten werden nicht mit besonderen Messinstrumenten standardisiert erhoben, sondern durch „offene Verfahren“, deren Ergebnis wenig strukturierte „Textdaten“, Bilder oder Videoaufzeichnungen sind. Diese Daten werden nicht mit Hilfe statistischer Methoden, sondern durch interpretative und kategorienbildende Verfahren ausgewertet.
2.
3.
Im Folgenden wollen wir zuerst methodologische Grundlagen qualitative Forschung skizzieren, um dann zentrale Verfahren qualitativer Datenerhebung und Datenanalyse kurz darzustellen.
3.1 Methodologische Grundlagen Die qualitative Forschungstradition verfügt nicht über ein ähnlich einheitliches Modell des Forschungshandelns wie das HD-Modell – unter dem Etikett „qualitative Methoden“ werden vielmehr viele unterschiedliche Methoden der Datenerhebung und -auswertung mit verschiedenen theoretischen Wurzeln zusammengefasst. Dennoch gibt es bestimmte Gemeinsamkeiten, insbesondere, was die methodologische Begründung des Forschungshandelns betrifft: demnach ist der Gegenstand der Sozialwissenschaften und der Psychologie, das menschliche Erleben, Denken und (soziale) Handeln, durch Eigenschaften gekennzeichnet, die die durchgehende Anwendung hypothetiko-deduktiver Forschungsstrategien nicht sinnvoll erscheinen lassen. Qualitative Ansätze betonen, dass Menschen sich in der Welt orientieren und handeln aufgrund der subjektiven Bedeutungen, die die Dinge in ihrer Umgebung und das Verhalten ihrer Mitmenschen für sie haben. Solche Prozesse der Bedeutungszuschreibung werden zwar beeinflusst durch gesellschaftliche Regeln und Verhaltensvorschriften. Solche Regeln gelten jedoch nicht universell wie Naturgesetze, wie qualitativ ausgerichtete, „interpretative“ sozialwissenschaftliche Theorieansätze (bspw. der symbolische Interaktionismus (Mead 1934) oder die soziologische Phänomenologie (Schütz 1974)) deutlich machen – sie sind vielmehr oft mehrdeutig und müssen von den Handelnden situationsgebunden interpretiert werden. Hierdurch können soziale Regeln auch Neuinterpretationen erfahren, die sie dauerhaft verändern. Diese Subjektivität, Situativität und Flexibilität menschlichen Handelns und Erlebens, welches nicht durch starre Gesetze determiniert, sondern durch (prinzipiell ver-
Empirische Forschungsmethoden
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änderbare) Regeln und Strukturen beeinflusst wird, haben bedeutsame methodologische Konsequenzen: Forscher besitzen oft nicht genügend Kenntnisse über den untersuchten Gegenstandsbereich, um zu Beginn des Forschungsprozesses fundierte Hypothesen aufzustellen, zu operationalisieren und somit im Sinne des HD-Modells zu überprüfen (vgl. Gerdes 1979: 5). Qualitative Forschungsmethoden eröffnen Wege, mit denen man Zugang finden kann zu den subjektiven Sichtweisen, den Handlungsorientierungen und dem Alltagswissen der Akteure im Feld sowie zu gruppen- und kulturbezogenen Normen, Werten und Handlungspraktiken. Während man also in einem rein quantitativen Forschungsprojekt zur Lehrer-Schüler-Interaktion eine kausale Hypothese („Lehrerrückmeldung erhöht die Schülermotivation“) aufstellen, operationalisieren und prüfen würde, versucht man in der qualitativ orientierten „interpretativen Unterrichtsforschung“ (vgl. Krummheuer & Naujok 1999) Fragen zu beantworten wie. „Wie erleben und interpretieren Schüler bestimmte Verhaltensweisen ihrer Lehrer?“ oder „Welche Gründe haben Schüler überhaupt, sich am Unterricht zu beteiligen?“ Qualitative Forschung dient dabei einer systematischen Exploration wenig bekannter Gegenstandsbereiche und einer methodisch kontrollierten, empirisch begründeten Entwicklung von theoretischen Aussagen (vgl. Kelle 1997: 21).
3.2 Fallauswahl und Fallkontrastierung Ebenso wie in quantitativen Studien sind auch in der qualitativen Forschung Fragen nach der Auswahl von Untersuchungseinheiten von zentraler Bedeutung. Mit Hilfe qualitativer Methoden kann allerdings in der Regel immer nur eine kleine Anzahl von Fällen untersucht werden (ein qualitatives Interview dauert bspw. in der Regel wesentlich länger als die Beantwortung eines Fragebogens und seine Auswertung verlangt deutlich mehr Zeit). Statistische Repräsentativität wird hierbei normalerweise nicht erreicht und auch nicht angestrebt, Nun ist eine solche Repräsentativität auch in der quantitativen Forschung nicht Selbstzweck, wie bereits der Abschnitt über Stichprobenziehung deutlich gemacht hat – die Berücksichtigung der regulativen Idee der Repräsentativität soll vielmehr verhindern helfen, dass eine Stichprobe bezogen auf theoretisch relevante Merkmale möglichst wenig verzerrt oder fehlerhaft ist. Bei der qualitativen Fallauswahl versucht man ebenfalls, ein verzerrtes Bild des Gegenstandsbereichs zu vermeiden, indem man sich darum bemüht, die für die Forschungsfragestellung relevante Heterogenität und Varianz der Fälle im Untersuchungsfeld möglichst gut zu erfassen. Kriterium ist dabei nicht mehr die Abbildung einer bestimmten Verteilung – vielmehr kann es sogar sinnvoll sein,
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auch in einem sehr kleinen qualitativen Sample Extremfälle besonders zu berücksichtigen. Ein einzelnes Mädchen in einer Berufsschulklasse von männlichen Kfz-Mechanikern wäre bspw. so ein interessanter Extremfall, der Informationen über die Geschlechterproblematik in dieser Berufsausbildung liefern kann und deshalb auch in einer kleinen qualitativen Studie mit fünf Interviews Berücksichtigung finden kann. Insgesamt lassen sich drei Arten der qualitativen Fallauswahl unterscheiden: die Suche nach Gegenbeispielen, das „theoretical sampling“ nach Glaser und Strauss sowie die Konstruktion qualitativer Stichprobenpläne 1. Die Suche nach Gegenbeispielen ist ein schon lange bewährtes Verfahren qualitativer Fallauswahl (Znaniecki 1934; Lindesmith 1947; Cressey 1971). Die Analyse eines ersten Falls führt dabei zu einer (kausalen) Hypothese, die dann die Suche nach Gegenbeispielen („crucial cases“) anregt, also nach Fällen, die möglicherweise empirische Gegenevidenz enthalten. Wird ein solcher Fall gefunden, muss die Hypothese modifiziert oder die Fragestellung umformuliert werden. Dieser Prozess der sukzessiven Modifikation und Prüfung der Hypothese wird solange fortgeführt, bis keine Gegenbeispiele mehr gefunden werden können. Dieses Verfahren, das in vieler Hinsicht dem klassischen HD-Modell ähnelt (auch wenn es nicht nur der Bestätigung oder Widerlegung von Theorien, sondern vor allem deren systematischer Weiterentwicklung dient) hat allerdings den Nachteil, das bereits am Anfang des Forschungsprozesses eine sehr präzise (da widerlegbare) Hypothese formuliert werden muss. 2. Bei dem Verfahren des theoretical sampling (Glaser, Strauss 1967) ist es leichter möglich, Hypothesen erst während des Forschungsprozesses zu entwickeln. Hierbei werden aus der Analyse der ersten Fälle allgemeine Kategorien oder Merkmale (nicht bereits spezifische Hypothesen) gefunden, die die Auswahl weiterer Fälle anleiten, die hinsichtlich eines oder mehrerer Merkmale große Ähnlichkeiten oder große Unterschiede zum Vorgänger aufweisen. Gewinnt ein Unterrichtsforscher also bspw. durch die ersten Interviews den Eindruck, dass die Geschlechterproblematik in seinem Untersuchungsfeld eine große Rolle spielt, wird er in späteren Interviews systematisch das Geschlecht seiner Interviewpartner berücksichtigen. Die Auswahl möglichst ähnlicher Fälle („minimization“) kann die theoretische Relevanz einer bestimmten Kategorie erhärten, die Auswahl anders gelagerter Fälle („maximization“) die Heterogenität im Untersuchungsfeld abbilden. 3. Das dritte Verfahren qualitativer Fallauswahl, die Konstruktion qualitativer Stichprobenpläne vor der Erhebung, erfordert eine Kenntnis theoretisch relevanter Merkmale bereits zu Beginn des Forschungsprozesses. Bei der Aufstellung qualitativer Stichprobenpläne werden dann Fälle ausgewählt,
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die eine bestimmte Kombination forschungsrelevanter Merkmale aufweisen: so kontrastieren etwa ter Laak und Kollegen (2001) Schülergruppen danach, ob es sich um „normale“ oder „schwierige“ Schüler handelt; oder Woods und Jeffrey (2002) kontrastieren Schulen, die sie in ihr Untersuchungsdesign aufnehmen, nach deren Größe, Lage und der Menge zu Beginn eines Schuljahres aufgenommenen Schüler. Abbildung 1:
Differenzierung nach drei Merkmalen (Schulträger, Schulgröße und Stadt-Land Untersuchied), angelehnt an Woods et al. 2000
Trägerschaft staatlich privat Schülerzahl (gesamt)
1000
Stadt/Land
Stadt/Land
< 1000
Stadt/Land
Stadt/Land
3.3 Methoden qualitativer Datenerhebung Qualitative Daten sind unstandardisierte Daten, zumeist freie Texte, die der Forscher selber oder seine Informanten und Interviewpartner schriftlich oder mündlich produzieren. Ähnlich den standardisierten Daten der quantitativen Forschung werden qualitative Daten zumeist auf zwei Wegen, durch Befragung und Beobachtung gewonnen (zu seltener eingesetzten Methoden wie der qualitativen Dokumentenanalyse vgl. Flick et al. 2007), ggf. auf Tonträger und/oder visuell aufgezeichnet und verschriftlicht.
3.3.1 Offene Interviews Zentrales Merkmal eines qualitativen Interviews ist seine „Offenheit“, die dem Befragten die Möglichkeit lässt, eigene Wahrnehmungen, Sichtweisen und Orientierungen zu entfalten, ohne an feste Frageschemata und Antwortvorgaben gebunden zu sein. Es existieren eine große Vielzahl von (oft für besondere Forschungskontexte entwickelten) Interviewformen, die manchmal schwer zu unterscheiden sind. Eine Möglichkeit zur Systematisierung qualitativer Interviews bietet deren Grad an Strukturiertheit, der von unvorbereiteten informellen Gesprächen im Lauf eines Feldaufenthalts bis hin zu strukturierten Interviewtechni-
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ken reicht wie dem „Teacher Relationship Interview“, bei dem Fragen und Nachfragen sowie deren Reihenfolge fest vorgeschrieben sind, der Befragte aber frei antworten kann (Stuhlman & Pianta 2002). Hopf (2006) nennt drei Kriterien für die Strukturiertheit qualitativer Interviews: 1. Durch die Art der gestellten Fragen können den Interviewpartnern unterschiedliche starke Vorgaben gemacht werden: so kann ein kurzer „Erzählstimulus“ gegeben wie beim „narrativen Interview“ (s. u.), auf den hin der Befragte das Gespräch möglichst selbst in die Hand nehmen soll oder es wird ein „Leitfaden“ formuliert, der zentrale Themengebiete enthält (wobei das Interviewer flexibel bleibt in der Reihenfolge, in der er die Themen anspricht). In manchen qualitativen Interviews werden auch in einer bestimmten Reihenfolge vorformulierte Fragen ohne Antwortvorgaben gestellt, die dann offen beantwortet werden sollen. 2. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist die thematische Eingrenzung des Interviews, Thematiken qualitativer Interviews können von ganzen Lebensläufen (wie in „biographischen Interviews“) bis zu eng umgrenzten Themenfeldern (etwa in „Experteninterviews“) reichen. 3. Die Rolle des Interviewers kann vom aktiven Zuhören (mit gelegentlich zustimmende Lauten und Gesten) bis hin zu einem aktiven Interviewerverhalten reichen, bei dem auch konfrontative Fragen gestellt werden (Scheele & Groeben 1988). Eine Sonderstellung nimmt das narrative Interview ein, bei dem die Rolle der Interviewers sehr stark eingeschränkt wird: außer einem einzelnen Erzählanreiz ganz zu Anfang beschränkt der sich Interviewer weitgehend auf die Rolle des Zuhörers beschränken und kommt erst in einer Nachfragephase auf bestimmte Bereiche der Erzählung zurück, für die er Nachfragen formuliert. Das Anwendungsgebiet des klassischen narrativen Interviews beschränkt sich im Wesentlichen auf die Biographie- und Lebenslaufforschung, wo Interviewpartner ihr ganzes Leben (oder wesentliche Abschnitte davon) erzählen und reflektieren sollen. Diese Interviewform wurde inspiriert durch eine sozialwissenschaftliche Erzähltheorie, der zufolge selbst berichtete Ereignisse und Geschehnisse die Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns weit genauer reflektieren als Meinungen, Argumente oder zusammenfassende Berichte (vgl. Schütze 1977). Dies ist auch der Grund, warum Elemente narrativer Interviews (nämlich Anreize für kurze Erzählungen konkreter Begebenheiten) häufig auch in andere quali-
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tative Interviewformen14 integriert werden. So arbeiten etwa Bulterman, Bos und Kollegen (2003) in den Interviews, die sie mit Lehrern über deren Einstellungen gegenüber nationalen Vergleichstests und Leistungsstandards führen, intensiv mit Erzählanreizen, um die Lehrerperspektive besser in den Blick zu bekommen, ohne klassische narrative Interviews im eigentlichen Sinne durchzuführen. In der psychologischen Forschung sind strukturierte und thematisch fokussierte qualitative Interviewformen beliebt, etwa Struktur- oder Dilemma-Interviews (vgl. Colby & Kohlberg 1987), bei denen die Befragten bestimmte Aufgaben lösen, indem sie etwa ein bestimmten moralisches Dilemma bewerten. Der Begriff des „fokussierten Interviews“ wiederum geht zurück auf medienanalytische Forschungen von Merton und Kendall (1979): hierbei sollen die Interviewpartner bestimmte Reize bewerten (in der klassischen Form waren dies Filme oder Fernsehbeiträge). In ähnlicher Weise werden bei focus groups ganze Gruppen zu bestimmten Themen interviewt (vgl. Flick 2007 Kapitel 15; oder Ernst 2006 in Flick 2006: 183ff.), Neben diesen klassischen Interviewformen existieren heute zahlreiche Mischformen, von denen sich die meisten als „Leitfadeninterviews“ bezeichnen lassen. Einer der häufigsten Interviewerfehler bei diesen Interviews ist mangelnde Geduld: so werden Leitfäden manchmal wie standardisierte Fragebögen genutzt – dort, wo eigentlich intensive Nachfragen oder Erzählanreize zur Vertiefung („Können Sie hierzu ein Beispiel erzählen?“) angebracht wären, vollziehen Interviewer Themenwechsel, um ihren Leitfaden „abzuarbeiten“ (vgl. Hopf 1978).
3.3.2 Teilnehmende Beobachtung Die Teilnehmende Beobachtung, eine Methode der ethnologischen Feldforschung, bei der sich Wissenschaftler zum Teil viele Monate im Feld aufhalten und intensiven Kontakt zu Mitgliedern einer fremden Kultur aufbauen (Malinowski 1979), gelangte in die Sozialwissenschaften durch die Untersuchungen der sog. „Chicago School“, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Lebenswelten städtischer Subkulturen erforschte. Heute ist auch der Begriff der „Ethnographie“ gebräuchlich, der manchmal unzulässigerweise mit qualitativer Sozialforschung überhaupt gleichgesetzt wird (Lüders 2006). Methodologisch zentrale (und teilweise äußerst kontrovers diskutierte) Aspekte ethnographischer Forschung in den Sozialwissenschaften betreffen die Rolle des teilnehmenden
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Das führt allerdings auch zu dem weit verbreiteten Missverständnis, dass Mischformen wie Leitfadeninterviews mit geringen narrativen Anteilen fälschlicherweise als narratives Interview bezeichnet werden.
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Beobachters im Feld sowie die Vertrauenswürdigkeit der ethnographischen Daten. Die möglichen Rollen teilnehmender Beobachter lassen sich durch verschiedene Gegensatzpaare systematisieren (vgl. Friedrichs 1973: 272f.), insbesondere zwischen offener und verdeckter Beobachtung, also betreffend das Ausmaß, in dem die Akteure im Feld Kenntnis von der Rolle des Beobachters haben, und zwischen teilnehmender und nicht-teilnehmender Beobachtung, also bezüglich des Grades, mit dem der Beobachter an den Alltagsinteraktionen des Feldes selber teilnimmt15. Als ein Vorteil des Verfahrens wird oft dessen Offenheit angesehen, von der man annimmt, sie fördere die Unvoreingenommenheit des Feldforschers. Das Konzept des wissenschaftlich neutralen, objektiven, der fremden Kultur gegenüber aufgeschlossenen bis wohlwollend gegenüberstehenden Ethnographen ist allerdings umstritten, denn die Frage, wie stark Voreingenommenheiten der Forscher die Untersuchungsergebnisse beeinflussen und auch verfälschen, muss immer gestellt werden. Mögliche Fehldeutungen, die durch eine unangemessene Übertragung der Normen und Werte des Beobachters auf eine fremde Kultur entstehen, haben schon etliche Male zu heftigen Kontroversen geführt: so wurde der Kulturanthropologin Margaret Mead vorgeworfen, in ihrer berühmten Studie über die psychosexuelle Entwicklung von Jugendlichen auf Samoa seien ihr krasse Fehldeutungen unterlaufen (Shankman 2000). Fehlwahrnehmungen können manchmal auch entstehen durch eine starke Identifikation der Forscher mit ihrem Feld (in der klassischen Literatur als „going native“ bezeichnet), die durch den ethnographischen Forschungsstil gefördert wird, dessen Ziel ja darin besteht, sich mit den Perspektiven der Akteure im Feld vertraut zu machen. Arbeiten aus den 1980er Jahren haben zudem gezeigt, wie die Vorstellung eines neutralen ethnographischen Beobachters durch rhetorische Mittel erzeugt werden kann (Van Maanen 1988). Angesichts dieser Probleme ist die Qualität der aus dem Feld mitgebrachten Daten – also der Feldprotokolle und Aufzeichnungen der Forscher – von herausragender Bedeutung. In der entsprechenden Literatur werden deshalb Fragen der Protokollierung und Aufzeichnung von Ereignissen eine wichtige Bedeutung (Hammersley, Atkinson 1983: 144ff.). Zentrales Ziel der Protokollierung muss es in jedem Fall sein, dass die Ergebnisse des Feldaufenthaltes für den Rezipienten nachvollziehbar werden.
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Gold (1958) unterscheidet den vollständigen Teilnehmer, den Teilnehmer-als.Beobachter, den Beobachter-als-Teilnehmer und den vollständigen Beobachter.
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3.4 Qualitative Datenanalyse Die Auswertung qualitativen Datenmaterials, das manchmal viele hundert Seiten transkribierte Interviewtexte oder Feldprotokolle umfasst, stellt besondere Herausforderungen, weil hier – anders als bei der statistischen Analyse quantitativer Daten – keine standardisierten Verfahren existieren, die den Forschern einen schnellen Überblick über die Daten (etwa in Form von statistischen Kennziffern) ermöglichen. Der folgende Überblick über Strategien der Textinterpretation und der Kategorienbildung soll eine allererste Orientierung bieten über Möglichkeiten zur Strukturierung und Auswertung qualitativen Materials, ersetzt aber keinesfalls das vertiefte Studium entsprechender Literatur vor der Durchführung eines Forschungsvorhabens.
3.4.1 Grundprinzipien der Textinterpretation Verfahren zur Erschließung der Bedeutung von Texten werden unter dem Oberbegriff „Hermeneutik“ zusammengefasst, ein Begriff, der im 19. Jahrhundert von dem Theologen Schleiermacher geprägt und dann durch den Philosophen Dilthey in die Kultur- und Sozialwissenschaften eingeführt wurde (Dilthey 1900). Auf Schleiermacher geht auch das Modell des „hermeneutischen Zirkels“ zurück, das sich gut übertragen lässt von der Analyse historischer Texte auf die Interpretation sozialen Handelns. Die Bedeutung einer Textstelle oder Sinn einer Handlung einer Person in einer sozialen Situation (z. B. die Mitarbeit eines Schülers im Unterricht) erschließt sich demnach immer nur aus ihrem Kontext (bei einer Bibelstelle etwa die gesamte Bibel, bei einem Schülerhandeln das gesamte Unterrichtsgeschehen). Weil der Kontext aber selber wiederum aus einzelnen Bausteinen (nämlich vielen Textstellen oder Handlungen) besteht, steckt der Interpret, der beides nicht versteht, in einem Zirkel. Dieser Zirkel kann erst durchbrochen werden, wenn man mit einem (ggf. nur rudimentären) Vorverständnis an das Material herangeht. Beim sozialwissenschaftlichen Verstehen kann man zum Beispiel im einfachsten Fall auf allgemeine Wissensbestände zurückgreifen, zu denen man als Gesellschaftsmitglied Zugang hat: Forscher wissen in der Regel zumindest, was Lehrer, Schüler und Schulunterricht ist. Dieses alltagsweltliche Vorverständnis kann und sollte natürlich ergänzt werden durch das Wissen über didaktische Theorien und über Unterrichtskonzepte von Lehrern. Wissenschaftliche Beobachtung und Interpretation ist immer „theoriebeladen“ (Hanson 1985): so wird jemand mit einem bestimmten Vorwissen in der Unterrichtsforschung ein inno-
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vatives dort Lehrkonzept sehen, wo ein Beobachter ohne entsprechendes Vorwissen nur eine „Horde schreiender Kinder“ wahrnimmt. Das Entscheidende ist nun, das Vorwissen so offen zu halten, dass es durch neue Textstellen und Beobachtungen erweitert und verändert werden kann. Dann wird der hermeneutische Zirkel zur „hermeneutischen Spirale“, die auf einen (imaginären) Punkt zuläuft – der „wirklichen“ Bedeutung der Textstelle oder Handlung. Im Idealfall tastet sich der Interpret, ausgehend von seinem immer weiter in Richtung dieses Punktes vor. Das praktische Vorgehen hierzu wurde vor allem in Arbeiten zu „sequenzanalytischen Methoden“ beschrieben (vgl. etwa Oevermann et al. 1979, 1980), die für die Interpretation von Interaktionsprotokollen (wie sie bei der Videoaufzeichnung von Unterrichtssituationen anfallen können) entwickelt wurden. Hierbei werden in einer Forschergruppe zu jeder Textstelle (bspw. jeder Äußerung einer Person in einer Interaktionssituation) mögliche Deutungshypothesen oder „Lesarten“ formuliert, d. h. es werden gedankenexperimentell mögliche Kontexte konstruiert, in der genau diese Textstelle bzw. Äußerung Sinn macht. Diese Hypothesen werden bei dem weiteren Durchgang durch das Material (das beim sequenzanalytischen Vorgehen in der exakten Reihenfolge der Interaktionssequenzen durchgegangen wird) weiter erhärtet oder erweisen sich als nicht haltbar.
3.4.2 Die empirisch begründete Konstruktion von Kategorien und Typen Abhängig von der Art des Datenmaterials können hermeneutische Analysen in der oben beschriebenen Art sehr aufwändig sein. Aber das qualitative Methodenreservoir enthält nicht nur Verfahren, um kurze Texte extensiv auszudeuten, sondern auch Methoden, mit denen umfangreiche Datenmengen durch theoretische Kategorien auf den „Punkt gebracht“ werden können. Die grundlegende Operation der Kategorienbildung, die den Ausgangspunkt für eine empirisch begründete Typenbildung und Theoriekonstruktion bildet, wird als „Kodierung“ bezeichnet – eine Zuordnung von Kategorien zu Daten (meist Textpassagen), wobei sich eine offene Kodierung von der Kodierung anhand eines vorbereiteten Kategorienschemas unterscheiden lässt: Bei der offenen Kodierung, vorgeschlagen von Glaser und Strauss (1967) als Verfahren zur Entwicklung empirisch begründeter Theorie („grounded theory“), wird das Datenmaterial sequentiell (Zeile für Zeile bzw. Satz für Satz) durchgearbeitet, wobei passende Begriffe gesucht werden, die wichtige Aspekte bezeichnen. Oft sind dies sog. „in-vivo Kodes“, Begriffe, die die Akteure im Feld verwenden. Aber auch hier gilt, dass der Untersucher sein alltagsweltliches und theoretisches Vorwissen einsetzen muss, um passende
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Begriffe zu finden. Glaser und Strauss nennen dies „theoretische Sensibilität“: die Fähigkeit, empirische Daten in theoretische Konzepte zu fassen. Allerdings darf hierbei die wesentliche Funktion qualitativer Forschung, die Exploration bislang unbekannter Sachverhalte, nicht außer Kraft gesetzt werden, indem den Daten unpassende Kategorien aufgezwungen werden. Eine theoretisch sensibilisierte Kodierung erfordert dabei, dass der Untersucher über einen sehr großen Wissensfundus an theoretischen Konzepten – Glaser (1978) nennt dies „theoretische Kodes“ – verfügen muss, aus denen er die dem Material angemessenen auswählen kann – insbesondere für Anfänger stellt dies eine große Herausforderung dar. Bei der Kodierung anhand eines vorbereiteten Kategorienschemas wird die Suche nach Begriffen durch die Konstruktion eines heuristischen Rahmens von Kategorien erleichtert. Will man dabei aber das Potential der qualitativen Methode zur Entdeckung ausnutzen (und nicht zu einem hypothetikodeduktiven Vorgehen übergehen), dürfen diese Kategorien nicht zu spezifisch, sondern müssen hinreichend offen sein (vgl. hierzu Kelle, Kluge 1999: 54ff.). Diese Bedingung erfüllen bspw. viele alltagsnahe Begriffe, allgemeine „thematische Kategorien“ (bspw. die Themen eines Leitfadens) oder manche sehr allgemeinen Theoriekonzepte, denen sich sehr verschiedene empirische Sachverhalte zuordnen lassen – ein Beispiel hierfür bilden handlungstheoretische Begriffe wie „situative Bedingungen“, „Intentionen“ oder „Handlungskonsequenzen“, die sich auf ganz verschiedene Handlungen beziehen lassen.
Um Subkategorien für die bereits gefundenen Kategorien zu definieren und um Gemeinsamkeiten zwischen Kategorien zu entdecken, die die Bildung von Oberkategorien anregen können, werden dann Textstellen miteinander verglichen (wobei der Einsatz spezieller Software sinnvoll ist, vgl. Kelle 2007). Das sich bildende Kategoriensystem soll hierbei zunehmend Struktur erhalten, einerseits durch eine Festlegung von „Kernkategorien“ und andererseits, indem sozialwissenschaftliche und psychologische Theorien herangezogen werden, um die Kodes und ihre Beziehungen untereinander zu ordnen. Detailliertere Beschreibungen der Kategorien- und Typenbildung finden sich bei Strauss und Corbin (1996), Kelle und Kluge (1999) oder bei Kuckartz (1999).
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Die Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden
Quantitativen und qualitativen Methoden liegen verschiedene Modelle des Forschungsprozesses zugrunde, wobei beide Methodentraditionen differierende
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Ziele verfolgen: quantitative Forschung soll der Prüfung von vorab formulierten Hypothesen dienen, dabei wird statistische Generalisierbarkeit angestrebt und ein besonderes Augenmerk auf die Objektivität und Zuverlässigkeit der Daten und Prozeduren gelegt. Qualitative Forschung dient der Erkundung subjektiver Sichtweisen von Akteuren und der Entdeckung bislang unbekannter kultureller Regelbestände, was ein offenes und exploratives Vorgehen erfordert. Aufgrund dieser unterschiedlichen Ziele lassen sich verschiedene Kriterien für gute Forschung definieren, die miteinander in Konflikt geraten können: die Kontrolle von Störvariablen im Experiment kann dazu führen, dass eine hochgradig lebensferne Situation geschaffen wird und quantitative Forscher können mit ihren präzisen Hypothesen an den Relevanzsetzungen und Handlungsorientierungen der Befragten im Feld völlig vorbeigehen. Qualitative Feldforscher wiederum stehen in der Gefahr, dass sie aufgrund zu kleiner Fallzahlen und der mangelnden Objektivität ihrer Feldprotokolle empirische Phänomene in ihrer Bedeutung falsch einschätzen. Diese Probleme haben zu einer langen Kontroverse zwischen Vertretern beider Methodentraditionen über den „richtigen Weg“ in der Forschung geführt. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, die betonen, dass diese Unterschiede zwar bedeutsam sind, jedoch eine pragmatische Forschungspraxis nicht behindern sollten (vgl. etwa Hammersley 1995; Seale 1999). Eine wachsende Zahl von Sozialwissenschaftlern betont heute sogar den Nutzen von „mixed methods designs“ (vgl. Tashakorri, Teddlie 2003; Kelle 2007): durch eine Kombination qualitativer und quantitativer Forschung können nämlich die Schwächen der einen Methodentradition durch Verfahren der anderen Tradition ausgeglichen werden. So können etwa theoretische Aussagen, die anhand qualitativer Daten entwickelt wurden, anhand umfangreicher Stichproben quantitativ erhärtet werden, quantitative Daten können genutzt werden, um die qualitative Fallauswahl zu unterstützen oder qualitative Interviews können eingesetzt werden, um Erklärungen für verwirrende und schwer verständliche statistische Befunde zu finden. Diese und andere Möglichkeiten der Methodenkombination werden heute zunehmend in der Schulforschung eingesetzt und erprobt. Abschließend möchten wir daran erinnern, dass die hier vorgestellten Verfahren, Strategien und Techniken nur einen beschränkten Ausschnitt aus der Mannigfaltigkeit sozialwissenschaftlicher Methoden repräsentieren. Über die Brauchbarkeit einer Methode sollte dabei immer konkret, dass heißt vor dem Hintergrund eines bestimmten Forschungsproblems und einer spezifischen Fragestellung entschieden werden.
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Historische Entwicklung der Forschung zur Lehrer-Schüler-Interaktion Barbara Thies
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Einleitung
Die Optimierung von Erziehungs- und Unterrichtsprozessen ist seit den Anfängen der Pädagogik und später dann der (Pädagogischen) Psychologie als der jüngeren Wissenschaft immer ein zentrales Thema gewesen. Je nach Zeitgeist bzw. vorherrschendem Welt- und Menschenbild hat es zwar durchaus unterschiedliche Ansichten darüber gegeben, welche Erziehungs- und Unterrichtsziele erreicht werden sollten, das wissenschaftliche Interesse galt aber stets der Frage, wie sich diese Ziele erreichen lassen. Klammert man hierbei die Didaktik als eigenständige Disziplin aus, war und ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler bzw. Erzieher und Zu-Erziehendem in all ihren Facetten der diesbezüglich zentrale Gegenstand der Unterrichtsforschung. Über die Struktur dieser Beziehung gibt es nun divergierende Auffassungen. Im Rahmen der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Lehrer-Schüler-Interaktion (bzw. in einem weiteren Sinne dem Unterrichtsgeschehen) lassen sich eine Vielzahl von Forschungsschwerpunkten aufzeigen. Davies (2003) beispielsweise gruppiert die vorliegenden Arbeiten zur Lehrer-Schüler-Beziehung in Grundschulen im Rahmen eines Reviews paradigmatisch und nennt die Attachmentforschung, die Motivationsforschung und die soziokulturelle Forschung als Schwerpunkte (einen systematischen Überblick aktueller Inhaltsfelder im deutschsprachigen Bereich liefert der hier vorliegende Band). Insgesamt und unabhängig von konkreten Inhaltsfeldern sind die Modelle und Untersuchungen zur Lehrer-Schüler-Interaktion parallel zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt immer komplexer geworden. Der Ausdruck „Modelle” der Lehrer-Schüler-Beziehung legt hierbei allerdings fälschlicherweise nahe, dass es in der Forschungsgeschichte kontinuierlich explizite theoretische Entwürfe zur Lehrer-Schüler-Beziehung gibt. Trotz einiger weniger Ausnahmen (z. B. Nickel 1976) hat sich die Unterrichtsforschung dieser Thematik bis heute jedoch in auffallend geringem Umfang gewidmet. Stellt man sich also die Frage, aus welchem Blickwinkel die Lehrer-Schüler-Beziehung jeweils betrachtet wird und welche Implikationen sich daraus ergeben, lassen sich nur aufgrund der
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Barbara Thies
vorliegenden (und größtenteils empirischen) Arbeiten indirekte Rückschlüsse auf die angenommene Struktur der Lehrer-Schüler-Beziehung ziehen, so dass von „impliziten Modellvorstellungen” gesprochen werden muss (Nickel 1983: 137). Im Folgenden werden solche impliziten Modellvorstellungen in ihrem historischen Abriss dargestellt und analysiert: Ausgehend von einfachen, das Kind in seiner Einzigartigkeit betonenden reformpädagogischen Auffassungen der 1920er Jahre werden zentrale Betrachtungsweisen der Lehrer-Schüler-Interaktion erörtert. Nach den nach wie vor einflussreichen Untersuchungen von Lewin in den 1930er Jahren werden mit der ATI-Forschung erste interaktionistische Annahmen in den 1970er Jahren populär. Ab den 1980er Jahren schließlich hat sich die kognitive Wende auch in der Unterrichtsforschung vollzogen, im Vordergrund stehen hier handlungstheoretische und die Situationswahrnehmung fokussierende Ansätze, etwa in diese Zeit fällt auch die Publikation des transaktionalen Modells der Lehrer-Schüler-Beziehung von Nickel. Der Aufsatz endet mit einem Blick auf aktuelle Forschungsfelder, die – auch vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Schulleistungsvergleiche – wieder verstärkt Aspekte der Chancengleichheit fokussieren. Im Rahmen eines Ausblicks schließlich werden Implikationen für das Lehrerhandeln angerissen.
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Unidirektionale Modelle der Lehrer-Schüler-Beziehung
Blickt man in der Forschungsgeschichte zur Lehrer-Schüler-Beziehung zurück, zeigt sich, dass zunächst unidirektionale, also einseitige Betrachtungsweisen vorherrschten: Das Interaktionsgeschehen steuernd war also entweder der Lehrer oder der Schüler, der jeweils andere wurde primär reaktiv konzipiert.
2.1 Der Schüler als Initiator pädagogischer Bemühungen: Erkenntnisse aus der geisteswissenschaftlichen Pädagogik In der Geschichte der Pädagogik lässt sich seit etwa Ende des 18. Jahrhunderts eine stärkere Fokussierung auf das Kind feststellen. Es wurde zunehmend als verschieden vom Erwachsenen gesehen, folglich wurden dem Kind eigene Wünsche und Bedürfnisse zugesprochen, nicht länger wurde es als „kleiner Erwachsener” wahrgenommen. In dieser Denktradition lassen sich so prominente Vertreter wie Rousseau (1963: 1712-1778) und Pestalozzi (1932: 1746-1827) verorten. Explizite Analysen der pädagogischen Beziehung als solcher, also der Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem, finden sich mit der Reformpädagogik. Dem Lehrer kam die Aufgabe zu, den Schüler dabei zu unterstützen, seine
Historische Entwicklung der Forschung zur Lehrer-Schüler-Interaktion
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vorhandenen Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Eine solche Auffassung ist natürlich nur unter der Voraussetzung eines bestimmten (reifungstheoretischen oder humanistischen) Menschenbildes denkbar: Alle wertvollen Anlagen sind im Individuum vorhanden und können sich in einer günstigen Umwelt auch entfalten. Erziehung meinte demnach die Herstellung optimaler Bedingungen unter Ausschaltung störender Einflüsse.
2.1.1 Das Prinzip Summerhill In Kritik an der traditionellen lehrerzentrierten Schule wurden in der Reformpädagogik die kindliche Autonomie und Selbstverantwortlichkeit als Fundament erfolgreicher Erziehung betrachtet. Wohl am radikalsten ist diese Ansicht von Neill vertreten und ab den 1920er Jahren praktisch erprobt worden (Neill 1973). Neill verstand sich als erklärter Gegner erzieherischer Einflussnahme, er betrachtete das Kind als ein sich selbst regulierendes Wesen (1969). Folglich gab es in der von ihm gegründeten Schule „Summerhill” keinerlei Verpflichtungen und Zwänge; die dort lebenden Kinder und Jugendlichen konnten über alle relevanten Belange selbst entscheiden – bis hin zu der Frage, ob sie überhaupt am Unterricht teilnehmen wollten oder nicht. Das Leben in Summerhill wurde über wöchentlich tagende Schulversammlungen als (basis-)demokratisches Gremium geregelt, jeder Angehörige von Summerhill hatte hierbei dasselbe Stimmrecht. Die pädagogische Beziehung als solche war folglich durch extreme Zurückhaltung im erzieherischen Handeln gekennzeichnet (die tatsächliche Realisierung dieses Anspruches ist allerdings mehrfach kritisch hinterfragt worden; s. u. a. Kamp 1995). Aufgrund der persönlichen Faszination Neills für psychodynamische Theorien und Therapieformen hat er allerdings therapeutische Elemente umzusetzen gesucht: Im Mittelpunkt stand der eindeutige Vorrang affektiver Elemente vor kognitiven, die Gefühle der Kinder und Jugendlichen sollten stets frei durchlebt und nicht unterdrückt werden, der Erzieher stand hierfür als Projektionsfläche zur Verfügung. Pädagogische oder gar Bildungsziele hat Neill nicht explizit definiert, die totale Freiheit der Kinder und deren gegenwärtiges Erleben standen immer im Vordergrund. Folglich hat Neill seine ideologisch begründete Konzeption von Erziehung niemals einer wissenschaftlichen Fundierung unterzogen, eine entsprechende Beurteilung seines Lebenswerks ist im Grunde nur durch die Betrachtung seiner Biographie möglich (Giesecke 1997). Summerhill war stets an die Person Neills gebunden, mit seinem Tode starb im Grunde auch das Prinzip „Summerhill“ (obwohl die Schule als solche weiterhin existiert).
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2.1.2 Der pädagogische Bezug Zentraler noch als Neill hat sich Nohl der pädagogischen Beziehung gewidmet. Nohl (1933) war der erste Pädagoge, der eine explizite theoretische Fundierung der pädagogischen Beziehung vorgenommen hat: Auf der Basis der Reformpädagogik hat er sich weiterhin der zentralen Position des Kindes innerhalb der pädagogischen Beziehung verschrieben. Nohl ging ebenfalls davon aus, dass dem Kind alle wertvollen Anlagen immanent sind, der Erzieher sollte zur Entfaltung ebendieser Anlagen beitragen. Als Fundament der Erziehung betrachtete Nohl von daher „die Bildungsgemeinschaft zwischen dem Erzieher und Zögling mit seinem Bildungswillen” (1933: 21). Nohl führte (ebenfalls 1933: 22) den Begriff des „Pädagogischen Bezuges” ein, die Beziehung zwischen Erzieher und Zu-Erziehendem wurde somit zum Zentrum von Erziehung: „Die Grundlage der Erziehung ist [...]. das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme.”
Ziel von Erziehung ist letztendlich die Auflösung des pädagogischen Bezuges, wenn das Kind seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Der Erzieher fungiert hierbei aber nicht als Vermittler von gesellschaftlichen Werten, Normen und Bildungsansprüchen, vielmehr vermittelt er zwischen der Persönlichkeit des Kindes und diesen äußeren Faktoren. Er hilft dem Kind zu entdecken, welche Haltung es aufgrund seiner Einzigartigkeit diesen Anforderungen gegenüber einnehmen wird. Nohl wies also dem Erzieher eine wichtige Funktion zu, der Initiator von Erziehung und Bildung blieb aber das Kind selbst. Die Theorie Nohls hat innerhalb der Pädagogik große Beachtung gefunden, insbesondere deshalb, weil hier erstmals explizite Annahmen über die pädagogische Beziehung gemacht wurden (s. a. Giesecke 1997; Klafki 1970). Im weiteren Verlauf der Forschungshistorie ist das Werk von Nohl aber auch mehr und mehr kritisiert worden; der zunehmende Wandel der Pädagogik hin zu einer empirischen Wissenschaft hat dazu geführt, dass vor allem der praktische Nutzen der Nohlschen Konzeption in Frage gestellt wurde. Für die Pädagogik von Interesse wurden denn auch zunehmend reale Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden und damit verbunden empirische Forschungsarbeiten. Gerade in dieser Hinsicht bieten sich innerhalb der Nohlschen Konzeption vergleichsweise wenig Ansatzpunkte, umstritten ist nach wie der normative bzw. deskriptive Charakter seiner Einlassungen. Wesentliche Konstrukte Nohls wie Vertrauen, Verantwortung und Gehorsam wurden lange Zeit als einer empirischen Überprüfung nur schwer zugänglich betrachtet (u. a. Menze 1978). Einer der schärfsten Kritik-
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punkte war aber ideologischer Art: Die zum Erscheinen der relevanten Publikationen so begrüßte ideologische Offenheit wurde insbesondere in den 1970er Jahren scharf angegriffen, da sich hier die Gefahren von Missbrauch und Abhängigkeiten bis hin zu Indoktrination auftäten – Kritikpunkte, die Nohl allerdings selbst damit kommentierte, dass der pädagogische Bezug auch scheitern könne (Giesecke 1997).
2.2 Der Lehrer als Initiator pädagogischer Bemühungen: Erkenntnisse aus der Erziehungsstilforschung Im Gegensatz zur Fokussierung auf den Schüler in seiner Einzigartigkeit ist eine Forschungstradition aufzeigbar, welche den Lehrer in das Zentrum ihrer Analysen rückte und ihm die Hauptverantwortung für das Gelingen der Lehrer-Schüler-Beziehung und damit verbunden einer positiven Entwicklung der Lernenden zuschrieb.
2.2.1 Lewin und die Folgen Die Erziehungsstilforschung geht von der Prämisse aus, dass jeder Erzieher einen situationsübergreifenden Erziehungsstil aufweist, also innerhalb der pädagogischen Beziehung über ein zeitlich konsistentes Verhaltensmuster verfügt. Diese Auffassung ist vor allem durch die Untersuchungen von Lewin und seinen Mitarbeitern geprägt worden (Lewin & Lippitt 1938; Lewin, Lippitt & White 1939). Lewin, der ursprünglich die Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung zum demokratischen Verhalten erforschen wollte, hat im Rahmen einer klassischen experimentellen Studie so genannte Führungsstile und deren Konsequenzen auf eine Freizeitgruppe Jugendlicher untersucht. Im Rahmen des experimentellen Vorgehens wurden Erwachsene in einem Führungsstil unterwiesen, den sie dann in einer pädagogischen Situation konsequent verfolgen sollten. Lewin unterschied hierbei drei Führungsstile:
Der autoritäre Führungsstil ist dadurch gekennzeichnet, dass die Führungsperson die Hauptverantwortung für die Aufgabenerledigung übernimmt. Sie verteilt (Teil-)Aufgaben und bestimmt die Art und Weise der Aufgabenerledigung. Das Verhältnis zu den Jugendlichen ist distanziert. Der laissez-faire Führungsstil zeichnet sich durch mangelnde Lenkung und Kontrolle aus. Die Führungsperson verhält sich passiv, lässt die Jugendlichen selbst die Aufgabe bestimmen und einzelne Aspekte verteilen. Auch
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Barbara Thies bei auftretenden Problemen greift sie nur dann helfend ein, wenn sie ausdrücklich um Hilfe gebeten wird. Das Verhältnis zu den Jugendlichen ist distanziert bis gleichgültig. Der demokratische Führungsstil schließlich basiert auf einem kooperativen Vorgehen. Führungsperson und Jugendliche besprechen die Aufgabe gemeinsam und legen diesbezügliche Teilziele fest. Die Führungsperson gibt Hilfestellungen, ohne aber den Jugendlichen die Verantwortung aus der Hand zu nehmen. Das Verhältnis zu den Jugendlichen ist eher freundschaftlich.
Anhand der unterschiedlichen Auswirkungen der Führungsstile auf die Gruppen sollten dann deren Vor- und Nachteile erfasst werden. Die zentralen Befunde aus dieser klassischen Versuchsanordnung lagen in der jeweils unterschiedlichen Qualität und Quantität im Arbeitsverhalten der Jugendlichen. Beide Aspekte waren unter der laissez-faire-Bedingung besonders gering, gleiches galt für das Klima in der Gruppe. Unter der autoritären Führung wurde zwar ein respektables Ergebnis erzielt, allerdings war hier eine permanente Kontrolle durch den Führenden erforderlich, das Klima innerhalb der Gruppe war ebenfalls schlecht. Der demokratische Führungsstil erwies sich als in doppelter Hinsicht fruchtbar, die Schüler arbeiteten zusammen und in einem angenehmen Klima – unabhängig von der Anwesenheit des Erwachsenen. Die Untersuchungen von Lewin sind insbesondere aufgrund der ideologisch begründeten Favorisierung des demokratischen Führungsstils kritisiert worden, im Grunde genommen konnte aufgrund der Handlungsanweisungen an die Versuchsleiter nur innerhalb des demokratischen Führungsstils eine (emotionale) Beziehung aufgebaut worden; die beiden anderen Führungsstile gingen mit emotionaler Kälte bzw. Gleichgültigkeit einher (McCandless 1967). Trotz und teilweise gerade wegen kritischer Einwände haben die Untersuchungen von Lewin eine Vielzahl von Folgeuntersuchungen und eine erhöhte wissenschaftliche Beschäftigung mit Erziehungsstilen ausgelöst. Aus methodologischer Sicht sind hier zwei grundsätzlich verschiedene Vorgehensweisen zu unterscheiden (s. a. Hermann, Stapf & Deutsch 1975): Zum einen wurden theoretisch abgeleitete Modelle (so genannte a-priori-Modelle) auf ihren Geltungsbereich hin überprüft; allerdings siedelten sich diese Arbeiten vorwiegend im Rahmen der Erforschung elterlicher Einflussnahme an. Zu erheblicher Prominenz ist diesbezüglich das Zwei-Komponenten-Konzept der elterlichen Bekräftigung (Stapf, Hermann, Stapf & Stäcker 1972) gelangt. Die Autoren haben den Versuch unternommen, mit wenigen, im Wesentlichen auf der Lerntheorie basierenden Grundannahmen, erzieherische Wirklichkeit zu beschreiben. Zentral ist hierbei das Design: Merkmale der Eltern wurden erhoben und als Voraussetzun-
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gen oder auslösende Bedingungen für das kindliche Verhalten angenommen. Die Verhaltensweisen der Kinder wurden demnach als Konsequenz des elterlichen Erziehungsstils betrachtet. Berechtigte Fragen nach Einflüssen des Kindes (und seiner Persönlichkeit) auf das elterliche Verhalten blieben allerdings weitestgehend unberücksichtigt (s. a. Lewis & Rosenblum 1974). Ein anderer Weg zur Erforschung von Erziehungsstilen liegt in den so genannten a-posteriori-Modellen. Im Gegensatz zu den a-priori-Ansätzen wurde hier versucht, möglichst viele Aspekte erzieherischer Wirklichkeit zu erfassen: Beobachtbare Verhaltensweisen von Erziehern wurden erhoben und anschließend auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht, um auf diese Weise zu verallgemeinerbaren theoretischen Aussagen zu gelangen. So hat beispielsweise Ryans (1960) in einer groß angelegten empirischen Untersuchung das Lehrerverhalten in mehr als 3000 Schulklassen von geschulten Beobachtern auf mehreren Eigenschaftsskalen (z. B. „gerecht vs. ungerecht”) bewerten lassen. Auf der Basis anschließender faktorenanalytischer Auswertungen ließ sich das Lehrerverhalten insgesamt auf drei Dimensionen reduzieren: „freundlich vs. distanziert”, „verantwortungsvoll bzw. steuernd vs. planlos”, „anregend vs. langweilig”. Das Verhalten eines konkreten Lehrers lässt sich dann mit Hilfe dieser drei Dimensionen beschreiben; auf jeder Dimension weist der Lehrer eine bestimmte Ausprägung auf, so kann der Unterrichtsstil eines Lehrers beispielsweise als eher freundlich, mäßig lenkend und wenig anregend charakterisiert werden. Aufgrund der postulierten Unabhängigkeit der Dimensionen sind in der schulischen Praxis viele verschiedene Kombinationen denkbar. Im deutschsprachigen Raum haben Tausch & Tausch ebenfalls dimensionale Konzepte vorgelegt. Sie bildeten das erzieherische Verhalten von Lehrern zunächst auf zwei Dimensionen ab, nämlich einer Beziehungs- („emotionale Wärme vs. emotionale Kälte”) und einer Lenkungsdimension (starke vs. Geringe Lenkung); für das elterliche Erziehungsverhalten fanden sich analoge Dimensionen, das Erzieherverhalten besteht demnach mindestens aus den Dimensionen „emotionale Wärme vs. Kälte” sowie „kontrollierendes vs. permissives Verhalten” (s. a. Schaefer 1959). In einer Reanalyse der Lewinschen Typologie (Erziehungsäußerungen von Lehrern sowie Videomitschnitte wurden in verschiedenen Untersuchungen von unabhängigen Beobachtern den Typenkonzepten zugeordnet, darüber hinaus wurden Einzelmerkmale eingeschätzt, die zu den beiden Dimensionen als zugehörig betrachtet wurden; Tausch & Tausch 1998; s. a. Tausch, Tausch & Fittkau 1967) zeigt sich folgendes Bild (s. Abb. 1): Der autoritäre Führungsstil ist demnach gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Lenkung und Kontrolle bei gleichzeitiger emotionaler Kälte. Eine laissez-faireFührung lässt sich durch minimale Lenkung bei neutraler emotionaler Zuwen-
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Barbara Thies
dung beschreiben, wohingegen demokratisches Erziehungsverhalten durch moderate Lenkung und hohe emotionale Zuwendung charakterisiert werden kann. Analog zu dem bereits an der Arbeit von Ryans diskutierten Vorzug dimensionaler Modelle sind hier natürlich noch weitere (theoretisch unendlich viele) Kombinationen denkbar. Abbildung 1:
Die klassischen Erziehungsstile auf den Dimensionen Lenkung und Wertschätzung (n. Tausch & Tausch 1998)
maximale Lenkung und Kontrolle
autoritärer Stil demokratischer Stil
Geringschätzung/ emotionale Kälte
Wertschätzung/ emotionale Wärme
laissez-faire Stil
minimale Lenkung und Kontrolle
2.2.2 Tausch & Tausch Die Forschergruppe um Tausch & Tausch hat in empirischen Arbeiten vornehmlich die positiven Effekte emotionaler Wärme herausgestellt (Tausch & Tausch 1963). Im Rahmen von Schülerbefragungen konnte sie zeigen, dass Schüler bei Lehrern, die ein hohes Maß an emotionaler Wärme realisieren, weniger ängstlich und auch zufriedener sind. Generell scheint sich emotionale Wärme positiv auf das Klassenklima und die interpersonale Beziehung zwischen Lehrer und Schülern auszuwirken, Korrelate zum Leistungsverhalten der Schüler sind auf diese
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Weise allerdings kaum nachweisbar. Es ist jedoch zu vermuten, dass zumindest die Leistungsbereitschaft der Schüler in einem positiven Klima höher ist (analoge Befunde zum Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern liegen inzwischen vor, s. Kap. 2.12 in diesem Band). Darüber hinaus fanden Tausch & Tausch durchaus auch günstige Konsequenzen auf den Lehrer selbst: Parallel zur größeren seelischen Zufriedenheit der Schüler ergaben sich positive emotionale und die Berufszufriedenheit tangierende Effekte auf den Lehrer (Wittern & Tausch 1979, 1983). Allerdings ist wiederholt gezeigt worden, dass nur ein geringer Anteil an Lehrern (etwa 15 %) hinreichend in der Lage ist, die Dimensionen im Unterrichtsgeschehen tatsächlich zu realisieren (Tausch 1982; s. a. Tausch 2006). Tausch & Tausch haben im Zuge ihrer weiteren Forschung ein modifiziertes, eng an das therapeutische Konzept der von Carl Rogers entwickelten Gesprächspsychotherapie (1951) angelehntes dimensionales Modell vorgelegt. Das erklärte Ziel von Tausch & Tausch, deren Hauptaugenmerk immer in besonderer Weise auf pädagogischen Beziehungen gelegen hat, bestand nun darin, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie erzieherisch Tätige größtmögliche Erfolge hinsichtlich der Förderung einer positiven Persönlichkeitsentwicklung der Zu-Erziehenden leisten können (bzw. Möglichkeiten aufzuzeigen, die seelische Gesundheit von Schülern und Lehrkräften positiv zu beeinflussen; Tausch 2005): „Die zentrale Frage vieler Erzieher, Lehrer, Eltern, Kindergärtnerinnen und Dozenten ist: Durch welches Verhalten unserer Person fördern wir in der alltäglichen Erziehung diejenigen seelischen Grundvorgänge und geeigneten Erfahrungen bei Kindern / Jugendlichen und Studenten, die sehr bedeutsam für ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihr bedeutsames Lernen sind?” (Tausch & Tausch 1998: 100)
Zur Strukturierung der emotionalen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler sind nach Tausch & Tausch drei Variablenkomplexe relevant:
In der Dimension Achtung – Wärme – Rücksichtnahme kommt die Forderung zum Ausdruck, den Schüler grundsätzlich und bedingungslos in seiner Person zu akzeptieren und dessen Sichtweise ernst zu nehmen (was allerdings nicht heißen soll, dass der Lehrer nicht auch kritisch sein darf). Zentral ist hierbei, dass der Lehrer seine eigenen Wertmaßstäbe zurückgestellt und die Verhaltensweisen des Schülers keinerlei moralischer Wertung unterzieht. Folglich unterlässt er wertende Äußerungen in seinem Gesprächsverhalten. Die Dimension vollständiges emphatisches Verstehen gilt als die zentrale Arbeitsvariable. Der Lehrer übernimmt hierbei temporär das innere Bezugssystem des Schülers, er versucht hierbei, die Welt des Schülers aus dessen
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Barbara Thies Perspektive zu sehen, also zu verstehen, wie der Schüler sich Aspekte seiner Person und eigene Erlebnisse erklärt. Die Dimension Echtheit – Übereinstimmung – Aufrichtigkeit schließlich beinhaltet die Forderung an den Lehrer, sich echt und authentisch zu verhalten, also ehrlich zu sein. Diese umfassende Art von Ehrlichkeit bezieht sich vor allem auf die eigene Person des Lehrers dahingehend, dass er Zugang zu seinen eigenen Gefühlen besitzt und diese dem Schüler auch mitteilen kann. Auf diese Weise lässt der Lehrer den Schüler an seinen Gefühlen teilhaben und geht beispielsweise nicht einfach darüber hinweg, wenn er sich über den Schüler ärgert oder aber über dessen Fortschritte freut.
Bezogen auf Erziehungs- und Unterrichtsprozesse fügten Tausch & Tausch noch eine vierte Dimension hinzu („förderliche nicht-dirigierende Einzelaktivitäten”), die sich durch die Realisierung der ersten drei Dimensionen nahezu automatisch ergeben sollte; die vier Dimensionen sind folglich nicht unabhängig voneinander. Obwohl also vom Menschenbild her große Parallelen zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik und zur frühen Entwicklungspsychologie bestehen, steht die Person des Erziehers eindeutig im Vordergrund des Interesses. Trotz des unbestrittenen Verdienstes von Tausch & Tausch ist allerdings die extreme Fokussierung auf die Erziehungsperson aus heutiger Sicht zumindest außerhalb des humanistischen Paradigmas auch kritisch zu betrachten, da hier eine universelle, lineare Wirkweise unterstellt wird. Insgesamt betrachtet lassen also Klassifikationen des Lehrerverhaltens anhand dimensionaler Konzepte eine Vielzahl unterschiedlicher Beschreibungen zu, sie weisen aber immer noch deutliche Nachteile auf – es werden grundlegende Haltungen und Handlungsroutinen von Lehrern ermittelt, Unterschiede im Verhalten ein und desselben Lehrers bleiben aber nach wie vor unberücksichtigt.
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Komplexe Modelle der Lehrer-Schüler-Interaktion
In den ersten interaktionistischen Vorstellungen zur Lehrer-Schüler-Interaktion stand zwar nach wie vor der Lehrer als unabhängige Variable im Vordergrund des Interesses, allerdings wurden Variablen auf Seiten des Schülers in die Analyse integriert.
Historische Entwicklung der Forschung zur Lehrer-Schüler-Interaktion
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3.1 Die Anfänge: Erste interaktionistische Annahmen Zugrunde gelegt wurde ein einfacher Interaktionsbegriff dergestalt, dass ein konkretes Verhalten immer aus einer Interaktion von Person und Situation besteht (Hoefert 1982), d. h., dass durch die vorhandenen situativen Variablen spezifische, im Verhaltensrepertoire der Person vorhandene Handlungen wahrscheinlicher werden als andere. Besonders prägnant wurde dieser Ansatzpunkt im Rahmen der Aptitude-Treatment-Interaktio-Forschung (Cronbach & Snow 1975, 1977): Grundannahme dieser Forschungsrichtung war, dass sich die Effizienz spezifischer Unterrichtsstile („treatment“) in Abhängigkeit von grundlegenden Persönlichkeits- oder Fähigkeitsvariablen („aptitude“) der Schüler unterscheidet. Es galt also, diejenigen Fähigkeits- und Persönlichkeitsmerkmale von Schülern (etwa Ängstlichkeit oder Vorwissen) zu eruieren, welche die Wirksamkeit von Unterrichtsstilen beeinflussen, um so die Eignung und den Einsatzbereich bestimmter Lehrmethoden spezifizieren zu können (Hasebrock 2006). Die A-T-IForschung hat sich im weiteren Verlauf allerdings primär auf computerunterstützten Unterricht konzentriert (beispielsweise Crowder 1959; Salomon 1974, 1979). Im Hinblick auf den Umgang mit Lehrmaschinen oder auch neueren tutoriellen Lernprogrammen zeigt sich nach wie vor die Problematik, relevante Variablen der Lerner herauszufiltern, welche den jeweiligen Umgang mit der Software steuern (Merill 1975; Schulmeister 1996; s. a. Kap. 2.11 in diesem Band). Ähnliche Probleme traten auch in der frühen Lehr-Lern- bzw. im Rahmen der instruktionspsychologischen Forschung auf. Hier wurden gleichermaßen zahllose Versuche unternommen, den Zusammenhang von Lehrverhalten und Lernerfolgen zu ermitteln. Dunkin & Biddle (1974) sprechen folgerichtig auch von einer Prozess-Produkt-Forschung: Variablen des Lernprozesses (insbesondere Lehrstrategien) wurden mit Effekten auf den Schüler (Produkt) in Beziehung gesetzt. Vom Forschungsdesign her wurden in der Regel Zusammenhangsstudien durchgeführt, d. h. Beobachtungsmaße des Lehrerverhaltens wurden mit Maßen der Schülerleistungen korreliert (s. a. Berliner 1978; Niegemann 2006). Auf diese Weise sollten sich besonders zur Wissensvermittlung geeignete Lehrerverhaltensweisen identifizieren lassen, die mit entsprechend guten Schülerleistungen verbunden sind. Mit demselben Ziel wurden auch Längsschnittstudien durchgeführt, der Lernerfolg des Schülers wurde dann für einzelne Lehrer berechnet, um auf diese Weise wiederum Aufschlüsse über besonders geeignete Lehrstrategien zu erhalten. Wurden darüber hinaus noch spezifische überdauernde Merkmale der Schüler erhoben (z. B. Ängstlichkeit oder Intelligenz), ergeben sich konzeptuell Parallelen zur A-T-I-Forschung (für eine Übersicht s. Brophy & Good 1986).
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Den eben erörterten frühen interaktionistischen Ansätzen lag allerdings noch kein dynamischer Interaktionsbegriff zugrunde: Einzelne Merkmale auf Seiten des Lernenden und des Lehrenden wurden zueinander in Beziehung gesetzt, so dass Aussagen darüber getroffen werden konnten, welche Voraussetzungen auf Seiten des Lerners positiv oder negativ mit Variablen des Lehrenden und dessen Lehrstrategien interagieren und kovariieren. Methodisch betrachtet ging es also darum, spezifische statistische Interaktionseffekte zwischen jeweils mehrstufigen Merkmalen auf Seiten des Lehrers und Schülers zu eruieren. Auf diese Weise ließen sich eine Vielzahl von Zusammenhängen dahingehend aufzeigen, welche Verhaltensweisen eines Lehrers welche Effekte auf konkrete Schüler(-gruppen) haben. Es lässt sich so aber nicht hinreichend klären, warum es dem einen Lehrer gelingt, effektives Lehrverhalten zu realisieren, dem anderen Lehrer aber nicht. Die diesbezüglichen forschungsleitenden Fragen lauten: Wodurch wird das Lehrerhandeln gesteuert? Nach welchen Kriterien wählt ein erfolgreicher Lehrer Unterrichtsstrategien aus? Was lässt Lehrer in ihren erzieherischen Bemühungen scheitern?
3.2 Von der Interaktion zur Transaktion Seit den 1980er Jahren liegt ein wesentlicher Fokus der Unterrichtsforschung auf den innerpsychischen Prozessen von Lehrern (und natürlich auch Schülern, obwohl dieser Aspekt in deutlich geringerem Maße untersucht wurde). Die kognitive Wende in der Psychologie (s. a. Bandura 1976) hat die Erforschung der Lehrer-Schüler-Interaktion nicht unberührt gelassen, auch hier werden zunehmend komplexe kognitive Prozesse berücksichtigt. Die kognitive Organisation von Eindrücken findet demnach ihren Niederschlag im Handeln des Lehrers, der dadurch aktiv in das Situationsgeschehen eingreift. Die Verknüpfung von Wahrnehmung und Verhalten in der schulischen Situation ist jedoch keine kausale Ursache-Wirkungs-Abfolge, das Handeln des Lehrers unterliegt einer Vielzahl von Einflüssen. Um nun das konkrete Verhalten von Lehrern in unterrichtlichen Situationen beschreiben und vorhersagen zu können, sind im Wesentlichen zwei sich ergänzende Perspektiven unterscheidbar, die kognitiv-handlungstheoretische Perspektive sowie diejenige, welche die Situationswahrnehmung als solche fokussiert.
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3.2.1 Fokus: Lehrerkognitionen Für die kognitiv-handlungstheoretische Perspektive steht exemplarisch die Leitfrage Danns (1989) in einem Übersichtsartikel: „Was geht im Kopf des Lehrers vor?” Der Lehrer wird als aktiv (rational) Handelnder betrachtet, der gezielt Informationen zu seiner Handlungsplanung heranzieht (s. a. Kap. 1.7 in diesem Band): „Im Zuge des zielgerichteten Handelns strukturieren die Lehrer ihren Handlungsraum aktiv-kognitiv, d. h. die meist komplexen Situationen, denen sie sich gegenüber sehen und die ja oft mehrdeutig, rasch wandelbar, teilweise unvorhersehbar und immer kontextabhängig und mehrdimensional sind, diese Situationen werden fortlaufend analysiert, interpretiert und in bestimmter Weise rekonstruiert um schließlich eine Handlungslinie zu entwickeln, die durch ihre Realisierung wieder neue Situationen schafft. Es laufen m. a. W. Denkprozesse ab, kognitive Prozesse oder handlungsbezogene Kognitionen.” (Dann 1989: 82)
Zentrales Interesse kommt in diesem Zusammenhang der Rekonstruktion von Lehrerkognitionen zu (Wahl 1981). In diesem Forschungsparadigma werden die subjektiven Theorien von Lehrern, also deren Annahmen über professionelles Handeln in Erziehung und Unterricht, in ihrer Komplexität untersucht. Meist basieren solche Verfahren auf den so genannten Struktur-Lege-Techniken (für einen Überblick s. Scheele & Groeben 1988): Im Rahmen von Interviews werden sämtliche in Bezug auf Handlungsentscheidungen im Unterricht relevanten Kognitionen von Lehrern erhoben. Die Aussagen der Lehrer werden systematisiert und nach entsprechenden Kriterien visualisiert und anschließend im erneuten Dialog mit der Lehrkraft validiert. Erfasst wird also einerseits die Komplexität der Lehrerkognitionen in quantitativer (Anzahl verfügbarer Kognitionen) als auch in qualitativer Hinsicht (Anzahl vorhandener Verknüpfungen zwischen den Kognitionen). Darüber hinaus erlauben solche Strukturen Rückschlüsse auf die kognitive Flexibilität des Lehrers (beispielsweise viele starre „wenn-dann“Beziehungen oder aber Strukturen, die sich durch eine Reihe von einschränkenden Bedingungen auszeichnen). Verfahren wie diese sind in heuristischer Hinsicht äußerst fruchtbar. Da sie allerdings wenig ökonomisch und (was aus methodischer Sicht entscheidender ist) einer vergleichenden Analyse zwischen verschiedenen Lehrern nur schwer zugänglich sind, spielen sie innerhalb der Pädagogischen Psychologie eine eher untergeordnete Rolle, flächendeckende Untersuchungen bedienen sich zumeist des Fragebogens als standardisiertes Messinstrument. Als eine zentrale Erkenntnis der Handlungstheoretiker kristallisierte sich zunächst die (mangelnde) Konsistenz zwischen subjektiver Theorie und dem tatsächlichen Handeln von Lehrern als wesentlich heraus, das For-
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schungsinteresse verlagerte sich also auf die Frage, wann Lehrer konsistent zu ihren subjektiven Theorien handeln und wodurch dies ggf. verhindert wird. Als wesentliche Moderatorvariable wurde die emotionale Beteiligung der Lehrer an der jeweiligen Situation identifiziert: Treten Ärger-Emotionen auf und fühlt sich ein Lehrer an der Zielerreichung (z. B. Abschluss einer Unterrichtseinheit) behindert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er inkonsistent zu seiner subjektiven Theorie handelt (Dann & Humpert 1987; Dann & Krause 1988). In einer solchen Situation realisieren Lehrer vielfach direktive und punitive Unterrichtsstrategien, die innerhalb ihrer subjektiven Theorien und im absichtsvollen pädagogischen Handeln nur eine periphere Rolle spielen, allerdings handeln erfolgreiche Lehrer konsistenter zu ihren subjektiven Theorien als weniger erfolgreiche (Dann, Tennstädt, Humpert & Krause 1987). Ähnliche Befunde finden sich bis heute; so zeigen Sutton & Wheatley (2003) in einem Review eindrucksvoll, dass das emotionale Erleben von Lehrkräften Einfluss z. B. auf deren Motivation und die Auswahl von Lehrstrategien hat.
3.2.2 Fokus: Situationswahrnehmung Während handlungstheoretische Ansätze sich vorwiegend an den Prozessen orientieren, die zur Handlungsfindung führen, lassen sich demgegenüber Arbeiten benennen, welche die Situationswahrnehmung durch die Lehrer selbst stärker in den Blick nehmen. Lehrer unterscheiden sich nämlich durchaus in der Wahrnehmung und Beurteilung von Situationen, damit auch in ihrer Handlungsplanung: Zielgerichtetes pädagogisches Verhalten wird vor allem dann notwendig, wenn der Lehrer aus der Vielzahl der vorhandenen situativen Informationen solche verarbeitet, die auch auf einen Handlungsbedarf hinweisen (Schweer & Thies 2000): Dieser Prozess lässt sich schematheoretisch dahingehend beschreiben, dass der Lehrer Merkmalsbündel einzelnen Situationsklassen zuordnet, d. h. spezifische Merkmale der Situation werden zu einer Situationsklasse (beispielsweise „Unruhe in der Klasse”) zusammengefasst. Diese Etikettierung der Situation ist wiederum mit einer konkreten Handlungsklasse (z. B. „Ermahnen”) verbunden. Durch die Etikettierung der Situation werden so genannte situationsspezifsche „Scripts” (Drehbücher) aktiviert, welche das resultierende Verhalten steuern (s. a. Schank & Abelson 1977). Darüber hinaus sind Situationsbeurteilungen immer auch mit Emotionen verbunden, die mit rationalen Analysen interferieren (Rosemann & Kerres 1985; Schweer 1993). In diesbezüglichen empirischen Untersuchungen, die auch dem emotionalen Gehalt des Unterrichtsgeschehens Rechnung tragen, werden folgerichtig erhebliche interindividuelle Unterschiede in der emotionalen Involviertheit der Lehrer evident: „Objektiv” iden-
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tische Unterrichtssituationen können verschiedene emotionale Reaktionen unterschiedlicher Intensität auslösen, darüber hinaus beeinflussen sich Emotionen und Kognitionen wechselseitig. Im Zuge der Situationswahrnehmung werden positive wie negative Gefühle hervorgerufen, je nach emotionaler Tönung werden damit aber bereits spezifische Handlungsalternativen aus dem Wahrnehmungsfeld ausgeblendet. Hinzu kommt, dass die Intensität der gefühlsmäßigen Betroffenheit von Lehrern direkt mit ihrer Beurteilung einer Unterrichtssituation als problematisch kovariiert und entsprechende Bewältigungsstrategien aktiviert (Schweer 1992; Thienel 1988, 1989). Die schulische Situation wird durch den Lehrer aber nicht nur strukturiert, aufgrund seiner subjektiven (und oft unreflektierten) Auswahl von Informationen sowie der subjektiven Relevanz der Informationen verändert der Lehrer die Situation durch die resultierenden Handlungsmuster. Lehrer unterscheiden sich neben der Erfassung situativer Merkmale auch in der Auswahl der als sinnvoll erachteter pädagogischer Strategien. Als eine innerpsychische Bedingungsvariable ist hierbei die Tendenz zur Aufgabenorientierung bzw. zur sozio-emotionalen Orientierung relevant: Lehrer, die primär auf das Leistungsverhalten der Schüler achten, filtern nämlich überwiegend diesbezüglich relevante Merkmale aus der Situation und empfinden diese vor allem dann als problematisch, wenn sie ihre aufgabenorientierten Ziele gefährdet sehen. Die resultierenden Handlungsstrategien dienen dann vor allem der Wiederherstellung der situativen Kontrolle (Schweer 1998).
3.2.3 Das transaktionale Modell von Nickel Die Bedeutung kognitiver und die interpersonale Wahrnehmung modifizierender Prozesse für die Lehrer-Schüler-Interaktion hat Nickel bereits in sein 1976 vorgelegtes transaktionales Modell der pädagogischen Beziehung aufgenommen. In Anlehnung an den damaligen Forschungsstand umfasst das Modell drei Hauptkomponenten, nämlich intrapersonale Bedingungsvariablen (kognitive Prozesse und Erfahrungen), den soziokulturellen Bezugsrahmen sowie die ständige Präsenz von Rückmeldeprozessen (s. Abb. 2). Lehrer und Schüler nehmen im Rahmen dieses Modells beide gleichermaßen Einfluss auf den Interaktionsverlauf. Die Interaktion besteht aus einer permanenten wechselseitigen Verhaltenssteuerung, die durch Erwartungen an den jeweils anderen bereits im Vorfeld in eine spezifische Richtung gelenkt wird. Die intrapersonalen Bedingungsvariablen modifizieren also die Wahrnehmung und Handlungsplanung in der Lehrer-Schüler-Beziehung; Nickel (1981, 1985) nannte hier explizit Erwartungshaltungen und Einstellungen, implizite Persön-
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lichkeitstheorien und implizite Führungstheorien. Mit Erwartungshaltungen und Einstellungen sind überdauernde Überzeugungssysteme gemeint (für einen Überblick s. Rosemann & Kerres 1986; s. a. Rosemann 1978). So haben Lehrer beispielsweise unterschiedliche normative Erwartungen darüber, wie sich ein Schüler verhalten sollte; dies ist mit bestimmten Einstellungen zur Schule insgesamt und ihrer gesellschaftlichen Aufgabe verknüpft. Derartige Überzeugungen schlagen sich nun in der Auffassung des Lehrers über seine Rolle und die Struktur der Beziehung zu seinen Schülern nieder. Antizipatorische, auf Erfahrungen mit konkreten Schülern basierende und diese betreffende Erwartungen können Abbildung 2:
Transaktionales Modell der Lehrer-Schüler-Beziehung (n. Nickel 1976)
Ein transaktionales Modell der Lehrer-Schüler-Beziehung soziokultureller Bezugsrahmen des Lehrerverhaltens
soziale Lernvergangenheit: erzieherische Erfahrungen in Elternhaus und Schule; spezielle Erfahrungen in Hochschule und Studienseminar
gegenwärtig soziale Beziehungen und Erfahrungen: Schüler, Kollegen, Vorgesetzte, eigene Familie, Freunde und Bekannte
objektive Einflüsse: allgemeine und Fachliteratur; Massenmedien; Lehrpläne; Dienstanweisungen; Richtlinien usw.
Lehrer
Schüler
soziokultureller Bezugsrahmen des Schülerverhaltens soziale Lernvergangenheit: familiäre und außerfamiliäre Erziehung, bisherige Erfahrungen in der Schule
Wahrnehmung des Schülers durch Lehrer
Verhalten (Schulleistungen, Sozialverhalten)
Erwartungshaltungen; Einstellungen; Rollenerwartungen; Gewohnheiten; „implizite Persönlichkeitstheorie“, „implizite Führungstheorie“
Erwartungshaltungen; Einstellungen; Rollenerwartungen (einschließlich Geschlechtsstereotypen) Gewohnheiten; Normen
gegenwärtige soziale Beziehungen: Eltern, andere Lehrer, außerfamiliäre Erwachsene, Gleichaltrige
Verhalten (Erziehungsund Unterrichtsstil)
Wahrnehmung des Lehrers durch Schüler
objektive Einflüsse: Kindes-, Jugend- und Sachliteratur; Massenmedien usw.
folgenschwer sein und sich im Sinne einer sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung (s. a. Brophy 1983) bestätigen. Eindrucksvoll wurde dies bereits durch die klassische Studie Pygmalion im Unterricht von Rosenthal & Jacobsen (1971) gezeigt, in welcher die Manipulation von Lehrererwartungen signifikante Effekte
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auf die Leistungsfortschritte von Schülern hervorbrachte. Die Bedeutung von Lehrerurteilen über die Leistungsfähigkeit von Schülern und daraus resultierende Unterrichtsstrategien, die dann tatsächlich Leistungsfortschritte nach sich ziehen, ist (wenn auch mit unterschiedlichen Konnotationen) ein vielfach replizierter Befund der Pädagogischen Psychologie (s. u. a. Babad 1993; Jussim & Eccles 1992; zur aktuellen Gültigkeit der klassischen Erwartungseffekte s. die Metaanalyse von Harris & Rosenthal 2005). Die transaktionale Sichtweise (die sich inzwischen in nahezu sämtlichen diesbezüglichen Publikationen unter dem Begriff „Interaktion“ verbirgt) ermöglicht also die Analyse einer Vielzahl von bedeutsamen Variablen, die nicht nur die konkrete Interaktion prädeterminieren, sondern auch die aktuellen kognitiven und emotionalen Prozesse in eben dieser Unterrichtssituation modifizieren. Paradigmatisch wird also der einfache, statistische Interaktionsbegriff zugunsten eines dynamischen Interaktionsbegriffs ersetzt – in ein und derselben Situation findet eine Vielzahl von Interaktionen statt. Der Lehrer reagiert auf den Schüler, durch die Gegenreaktion des Schülers wird aber gleichermaßen das Folgeverhalten des Lehrers reguliert (soziale Interaktion). Die Verhaltensweisen beider werden zusätzlich durch selektive Wahrnehmungsprozesse gefiltert und unterliegen einer Vielzahl weiterer Einflüsse (Person-Situation-Interaktion). Letztendlich führt die Verschränkung der wechselseitigen Wahrnehmungsprozesse zu einer Transformation der Situation als solcher (Transaktion).
3.3 Aktuelle Forschungsschwerpunkte In der aktuellen Schulforschung lässt sich insgesamt eine zunehmende Konzentration auf Fragen der Leistungsfähigkeit von Schulen und Schulsystemen feststellen – bis hin zu vereinzelten Versuchen, aus übergreifenden Schulleistungen die Effektivität einzelner Lehrer für den Lernerfolg von Schülern zu bestimmen (u. a. Kuppermintz 2003). Analog dazu zeigt sich eine höhere Forschungsintensität in Bezug auf die Erfassung schulrelevanter Prozesse bzw. die Methodenentwicklung (s. Kap. 1.2 in diesem Band); die entwickelten Messinstrumente und Forschungsmethoden sind vielfältig und umspannen gleichermaßen qualitative wie quantitative Ansatzpunkte. Neben dem klassischen, von Good & Brophy in den 1970er Jahren entwickelten dyadischen Interaktionssystem (Good & Brophy 2003) gibt es inzwischen eine Vielzahl weiterer Beobachtungsverfahren (etwa das CSOS; Fish & Dane 2000) bis hin zu Beobachtungsinstrumenten für ganze Schulen, die im Rahmen von Schulentwicklungsmaßnahmen eingesetzt werden können (u. a. Ross, Smith, Alberg & Lowther 2004). Darüber hinaus liegen insbesondere für den Vorschulbereich Beobachtungs- und Ratingverfahren (etwa
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das CLASS; La Paro, Pianta, & Stuhlmann 2004) vor, die „gute“ von „schlechten“ Klassen zu unterscheiden vermögen (u. a. Hamre, Mashburn, Pianta & Locasle-Crouch 2006). Auch die Entwicklung von Fragebogenverfahren (u. a. „Questionnaire in Teacher-Interaction“; Wubbels & Levy 1993) wird intensiviert und zum Teil interkulturell validiert. Auf der inhaltlichen Seite, sicherlich auch ausgelöst durch populäre „large scale assessments“, lässt sich eine zunehmende Forschungsintensität zur (mangelnden) Chancengleichheit aufzeigen, wesentliche Forschungsstränge liefern hier die Gender- und die Diversityforschung, die strukturelle bzw. durch soziodemographische Variablen bedingte Benachteiligungen fokussieren. So kann die ethnische und die Geschlechtszugehörigkeit von Schülern (bzw. deren Passung zu derjenigen Zugehörigkeit des Lehrers) das Lehrerhandeln signifikant modifizieren (u. a. Murray & Murray 2004), auch die impliziten Auffassungen von Lehrkräften über das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern beeinflussen die Lehrer-Schüler-Interaktion maßgeblich und tragen zur Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen (s. exemplarisch She 2000) oder von Kindern verschiedener Einkommensschichten bei (s. exemplarisch Pace, Mullins, Beesley, Hill & Carson 1999). Crosnoe, Johnson & Elder (2004) finden in dieser Hinsicht beispielsweise einen extremen, kombinierten „gender-diversity“-Effekt: Nicht nur sind weiße Mädchen am leistungsstärksten bzw. unauffälligsten (im Gegensatz zu schwarzen Jungen, hier fallen die Befunde am negativsten aus), gelungene Beziehungen zur Lehrkraft haben kaum positive Wirkungen auf Jungen, bei den Mädchen hingegen resultiert ein doppelter Effekt dahingehend, dass gelungene Beziehungen einen förderlichen, misslungene Beziehungen einen schädigenden Einfluss haben. Insbesondere in den USA ist die Auseinandersetzung mit DiversityAspekten im Zuge der Lehreraus- und -fortbildung ein zentrales Anliegen, speziell in den Großstädten haben Junglehrer massive Probleme im Umgang mit „problematischen“ Kindern und deren Familien („diverse backgrounds“). Als Folge verbleiben sie oftmals nicht lange genug an den Schulen, um relevantes Expertenwissen auf- und Hemmschwellen abbauen zu können. Ferner fehlen ihnen Vorbilder, da die Fluktuationen in den Kollegien teilweise extrem hoch sind. Entsprechende Begleitungen und Erfahrungen im Rahmen von DiversityArbeit scheinen von daher zielführend, Messinstrumente zur Erfassung der diesbezüglichen Kompetenzen werden erarbeitet (s. exemplarisch Middelton 2002; zur interkulturellen und adaptiven Kompetenz von Großstadtlehrern s. a. Brown 2004). Insgesamt lässt sich also eine stärkere Konzentration der Schulforschung auf die Lösung aktueller (gesellschaftlicher) Probleme, insbesondere in Bezug auf den Abbau struktureller Benachteilungen, feststellen.
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Ausblick
Zusammengenommen verweisen die Befunde zu den zahlreichen Facetten der Lehrer-Schüler-Interaktion immer wieder auf die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes. Jeder Wirklichkeitsausschnitt, der herausgegriffen wird, trägt ein wenig mehr zum Verständnis der vielschichtigen Prozesse bei, die tagtäglich in unseren Schulen stattfinden. Für die Schulforschung ergibt sich eine Vielzahl von Ansatzpunkten, die zur weiteren Erhellung der Lehrer-SchülerBeziehung beitragen können. Als Leitgedanken stehen hier nach wie vor die Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen ebenso im Vordergrund wie die Erfüllung des pädagogischen Auftrags. Tiedemann & Billmann-Mahecha (2002) plädieren in dieser Hinsicht für transaktionale Betrachtungsweisen und kritisieren gleichzeitig, dass die Lernklimaforschung primär die Schülerwahrnehmungen in den Blick nimmt, während die Unterrichtsforschung sich sehr stark auf den Lehrer als unabhängige, also strukturierende Variable konzentriert, ohne dass sich beide Perspektiven hinreichend gegenseitig befruchten. Natürlich erschüttern die vorliegenden Befunde in ihrer Gesamtschau die Sicherheit des pädagogischen Urteils und erfordern ein hohes Maß an kognitiver Komplexität (zum Konzept s. Harvey, Hunt & Schroder 1961; Schroder, Driver & Steufert 1975) und damit verbundener Unsicherheitstoleranz, damit das eigene Urteil über die Schüler prinzipiell reflektier- und revidierbar bleibt. Es gilt, die vielfach in alltagspsychologischen Vorstellungen von (angehenden) Lehrern fest verankerten simplen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu hinterfragen und aufzubrechen. Denn will ein Lehrer seine Schüler möglichst optimal fördern, muss er sich seinen eigenen Ansprüchen und Erwartungen, aber auch seinen Fehlern und möglichen Fehlentscheidungen stellen. Hierzu bedarf es in erster Linie des Wissens um die eigenen Wahrnehmungsprozesse und Handlungsroutinen. Die Vermittlung solcher Kenntnisse und Erfahrungen ist also in elementarer Weise Aufgabe der Ausbildung von angehenden Lehrern. Lehrer müssen im Zuge des Aufbaus ihrer pädagogischen Professionalität (u. a. Bauer, Kopka & Brind 1996) erkennen, dass es trotz etwaiger ideologischer Ansprüche unmöglich ist, alle Schüler gleich zu behandeln, sie auf gleiche Weise zu fördern und Ungerechtigkeiten ganz auszuschließen. Dies widerspräche der Natur des Menschen und ließe sich in letzter Konsequenz nur durch einen generellen Verzicht auf Lehrkräfte (z. B. durch den ausschließlichen Einsatz von Lernsoftware) erreichen. Da dies aber sicherlich nicht die Zukunft der Schule sein kann und sein wird, müssen angehende Lehrer zunächst akzeptieren lernen, dass die LehrerSchüler-Interaktion mit vielen Unwägbarkeiten verbunden ist. Es gibt keine all-
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gemeingültigen Handlungsstrategien, die bei jedem Schüler in jeder Unterrichtssituation erfolgversprechend sind. Es bedarf von daher des Willens des einzelnen Lehrers, die Beziehung zu seinen Schülern so optimal wie möglich gestalten zu wollen, aber auch gegenüber Veränderungen seiner eigenen Person und seines Lehrverhaltens offen zu sein und zu bleiben.
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Barbara Thies
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Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit Bernhard Sieland
1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 4.1
5.2 5.3 6 7
Die Fragestellung Rahmenbedingungen und inzidentelles Lernen in der Schule Interdependenz und eingeschränkte Zielkontrolle Inzidentelles Lernen Emotionen als Impulse für inzidentelles Lernen Emotionen als eigenständige Lernimpulse Emotionen als Moderatorvariablen in formalen Lernprozessen Kompetente Emotionsarbeit als Lernziel für Lehrkräfte und Schüler/innen Emotionsarbeit als komplexe Voraussetzung für qualitätvolles Lehrerhandeln Effekte von Emotionsarbeit für den Akteur und seine Interaktionspartner Professionelle Lerngemeinschaften zur Prävention einer déformation professionell Professionelle Lerngemeinschaften als Lernorte für bewusste Entwicklungssteuerung Das Lehrerforum als virtuelle professionelle Lerngemeinschaft Kooperative Entwicklungssteuerung durch Selbstmanagement (= KESS) Zusammenfassung Literatur
1
Die Fragestellung
4.2 5 5.1
Dieser Beitrag zum Rahmenthema Lehrer-Schüler-Interaktion hat eine besondere Perspektive. Er fokussiert die „Intraaktion“ der Lehrkräfte als Voraussetzung für eine professionelle Interaktion. Lehrkräfte sollen Fachleute für das Lernen und Lernberater ihrer Schülerinnen und Schüler sein. Sind sie es auch für die eigenen Lernprozesse? Können sie das Eine ohne das Andere überhaupt qualitätvoll realisieren? Wenn es stimmt, dass alle Partner in Interaktionsprozessen mit jeder Handlung zwangsläufig auch lernen, dann beeinflussen Lehrkräfte entweder bewusst und Ziel führend oder eher unbewusst und richtungslos immer auch ihre
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Bernhard Sieland
eigenen Lernprozesse. Sie schaffen damit mehr oder weniger günstige Voraussetzungen für sich selbst und ihre Schüler. Sie sollten also auch bewusst für sich selbst Lern- und Entwicklungsziele setzen und ihren Entwicklungsfortschritt evaluieren. Die selbstbezogene Lern- und Emotionsarbeit zählt m. E. zu den elementaren Leistungsvoraussetzungen guter und gesunder Lehrkräfte. Gleichwohl fehlt es an theoretischen Modellen z. B. für die Kontrolle inzidenteller Lernprozesse und -Effekte (s. u. 2.2), für die emotionale Prozesssteuerung bei Lehrkräften und Schülerinnen sowie für die laufende Selbstreflexion und Intervision. In der gegenwärtigen Lehreraus- und -weiterbildung wird Lern- und Entwicklungsberatung eher von Dozentinnen und Dozenten oder Supervisoren zum Wohle der Schüler praktiziert. Wichtig wäre es, wenn sie auch von Lehramtsstudierenden und Lehrkräften selbst zum eigenen Nutzen durchgeführt würde. Diese Perspektive taucht auch in den gängigen Kompetenzmodellen nur implizit auf und wird in offiziellen Lehrerarbeitszeitmodellen kaum berücksichtigt. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit diesen wesentlichen Leistungsvoraussetzungen effektiver gesunder Lehrkräfte und geht vier Fragen nach:
Welche schulischen Rahmenbedingungen beeinflussen das Lernen von Lehrkräften und ihren Schülern? Hier geht es um das Konzept des inzidentellen Lernens. Welche Bedeutung haben angenehme und unangenehme Gefühle bzw. Unterrichtserfahrungen für inzidentelle und formale Lernprozesse? Hier werden Emotionen als Lernimpulse und Moderatorvariablen für formale Lernprozesse thematisiert. Wie können Lehrkräfte eigene Gefühle so gestalten, dass sie ihre Arbeitszufriedenheit nicht belasten und dem Unterrichtsauftrag dienlich sind? Hier geht es um das Konzept der Emotionsarbeit. Wie können Lehrkräfte ihre eigene Lern- und Emotionsarbeit professionell kontrollieren? Hier geht es um das Konzept der Professionellen Lerngemeinschaften.
Es ist daher nach augenblicklichem Stand nicht zu erwarten, dass Lehrkräfte ausreichende Expertise für den professionellen Umgang mit berufsbedingten und berufsrelevanten Erfahrungen und Emotionen mitbringen. Dieser „blinde Fleck“ in der Lehreraus- und -weiterbildung ist m. E. ein strukturelles Risiko für professionelles Lehrerhandeln und zwar sowohl für die Gesundheit und Arbeitszufriedenheit der Lehrkräfte als auch für die Lern- und Erziehungsergebnisse auf Seiten ihrer Schülerinnen und Schüler. Betrachtet werden zunächst schulische Rahmenbedingungen und das Konzept des inzidentellen Lernens für diesen Kontext.
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit 2
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Rahmenbedingungen und inzidentelles Lernen in der Schule
Die folgenden Zitate skizzieren inzidentelle unerwünschte Lernergebnisse. An ihnen haben Lehrpersonen, Schüler und Eltern systematisch mitgewirkt, vermutlich ohne es zu bemerken und zu wollen.
Bsp. 1: Hauptschülerin: „Will nich mehr. Ich bin 15 und in der 8 klasse auf ner hauptschule. ich will dort nicht merh hingehen ich möchte die schule abbrechen und einen kleinen job machen da wo man keinen abschluss braucht. ich halts dort nicht mehr aus ich wird noch ganz krank. ich hab so angst dorthinzugehen das ich atemnot krieg schwitze oder mich übergebe. könnte ich von anderen leuten die treppe putzen um geld zu verdienen?“ www.kids-hotline.de Bsp. 2: Gymnasiallehrerin: „Ich habe einmal mit sehr viel Elan und guten wissenschaftlichen Ergebnissen studiert und wurde schon im Referendariat grenzenlos enttäuscht von Schüler/innen, die nicht wollten und/oder nicht konnten…. Meine Erfahrungen haben mich darin bestärkt, dass man sehr wenig ausrichten kann, wenn die Anstrengungsbereitschaft fehlt. … Ich hätte gerne eine sehr andere „Kundschaft“. …“ www.lehrerforum.de Bsp. 3: Besorgte Hauptschülerin: „Unsere Lehrerin hat in der Klasse plötzlich angefangen zu weinen. Ich kenn die schon lange und hab sie noch nie so gesehen. Die war total fertig. Im Unterricht steht sie völlig neben sich und lässt sich von den Schülern so einiges gefallen. Andauernd hat sie Kopfweh, Rückenschmerzen und kann kaum noch unterrichten. Fast alle haben ne 1 bei ihr, damit Sie mit uns keinen Ärger kriegt! Ist ja auch schön, aber wie soll das denn auf der Berufsschule aussehen? Da kann doch keiner von mehr mithalten, wenn das so weiter geht! Und jetzt sitz ich hier zuhause, in den Ferien, und denk über meine Lehrerin nach….(is ja nicht normal :-) )“ www.lehrerforum.de
Diese Beispiele sind offensichtlich mit dem schulischen Ideal leistungsfähiger und gesunder Schülerinnen und Lehrkräfte unvereinbar. Gute gesunde Lehrkräfte bzw. Schülerinnen sind sowohl leistungsfähig als auch ausreichend zufrieden und können sich auf gesunde Strukturen und Prozesse verlassen (vgl. Sieland 2007a). Fragen wir also im ersten Schritt nach Rahmenbedingungen und Prozessen unerwünschter Lernergebnisse.
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Bernhard Sieland
2.1 Interdependenz und eingeschränkte Zielkontrolle Lehrkräfte, Schüler, Eltern und Kollegen beeinflussen sich im Zuge von Interaktionen wechselseitig. Sie agieren in wechselseitiger Abhängigkeit (Interdependenz), weil sie zur Erreichung ihrer Ziele bzw. zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse oder Motive auf gegenseitige Kooperation angewiesen sind. Anders als Handwerker können Lehrkräfte wie Schüler die Ergebnisse ihres Handelns nicht ausschließlich selbst kontrollieren. Jeder kann einen Teil seiner Motive und Ziele nur mit Hilfe der Interaktionspartner und nicht gegen deren Willen realisieren. Bei allen Beteiligten entstehen so Gratifikationsbilanzen (= subjektive Einschätzungen von Nutzen und Kosten), die ihre Arbeits- und Lebenszufriedenheit beeinflussen und sich selbst oder dem Verhalten von Mitmenschen zugeschrieben werden. Diese Bilanz beeinflusst ihre Arbeitsmotivation sowie die Qualität des nachfolgenden Verhaltens. Nach Sigmund Freud gehört der Lehrerberuf zu den „unmöglichen“ Berufen, bei denen man sich seines ungenügenden Erfolges sicher sein kann. Stresspsychologisch arbeiten Lehrkräfte unter hohen Anforderungen bei geringem Einfluss. Trotz meist defizitärer Informationsbasis und ungünstigen Gelingensbedingungen stehen sie unter enormem Entscheidungsund Handlungsdruck. Während Kaufleute ihre Tageseinnahmen genau beziffern können, sind Lehrkräfte darauf angewiesen, die erwünschten wie die unerwünschten Effekte ihres pädagogischen Handelns einzuschätzen. Je nach ihrer Stimmungslage unterscheiden sich ihre Einschätzungen mehr oder weniger stark von denen unbeteiligter Beobachter. Gleichwohl müssen sie ihre Interventionen kritisch evaluieren, um gegebenenfalls korrigierend nachzusteuern. Erschwerend kommt hinzu, dass Lernprozesse in Interaktionen oft dem Beobachterfehler unterliegen. So neigen z. B. Lehrkräfte dazu, Fehlverhalten der Schüler auf deren persönliche Entscheidungen zurückzuführen, und nicht so sehr als Folge von eigenen Verhaltensweisen zu erklären. Die Tendenz zur einseitigen Situationsund Handlungsauffassung wird auch durch die übliche Terminologie begünstigt. Die Berufsbezeichnung „Lehrer“ akzentuiert offenbar die Tätigkeit des Lehrens, während die Schüler die „hauptamtlichen“ Lerner sind. Noch verheerender wirkt sich bei vielen Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern ihre subjektive Vorstellung von Lernen aus. Sie denken dabei bevorzugt an intentionales Lernen und vergessen dabei die Lernrisiken inzidenteller Lernprozesse (s. u. 2.2, vgl. Holzkamp 1995; Sieland 2006a). Schließlich ist auffällig, dass die Bezeichnung „Lehrer-Schüler-Interaktion“ sehr viel geläufiger ist als die der „Schüler-LehrerInteraktion“. Man kann auch hier vermuten, dass die Zirkularität des Konzeptes bei vielen leicht verzerrt wahrgenommen wird. In dieser Situation verwundert es, dass die alltägliche Erlebnisverarbeitung als inzidentelle Lernarbeit der Lehrkräfte in den Katalogen von Berufsaufgaben
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(vgl. Deutscher Bildungsrat 1970; Terhart 2000; Oser & Oelkers 2001) keinen expliziten Stellenwert hat. Es werden allenfalls formale schulinterne und externe Fort- und Weiterbildung erwähnt, nicht aber die kritische Auseinandersetzung mit dem unvermeidlichen, laufenden, inzidentellen Lernen. Man kann vermuten, dass die o. g. Beispiele unerwünschter Lernprozesse sich nur entwickeln konnten, weil keine professionelle Lernarbeit der Lehrkräfte diese Entwicklungsprozesse früher erkannt und bearbeitet hat. Betrachten wir nun das Konzept des inzidentellen Lernens etwas genauer.
2.2 Inzidentelles Lernen Beim intensionalen (= zielexpliziten) Lernen weiß der Lerner, dass und was er lernen soll und identifiziert sich mehr oder weniger mit dem Lernauftrag. Bezogen auf Lehrkräfte handelt es sich meist um planvolle und formale Lernprozesse in der Aus- und Weiterbildung oder in einer kollegialen Fallbesprechung. Im Falle des inzidentellen Lernens jedoch weiß der Lerner nicht, was und dass er gerade lernt. Für diesen Bereich sind informelle Lernprozesse in der Freizeit oder auch im Beruf prototypisch. Beim inzidentellen Lernen hinterlässt die laufende Erlebnisverarbeitung ihre Spuren, möglicherweise sogar gegen die Lernabsicht des Lerners oder die Lehrabsicht eines Lehrers. Andere Termini mit verwandten Bedeutungskernen sind latentes, passives, implizites oder informelles Lernen. Die Schlussfolgerung, dass Lernen entweder intentional oder inzidentell geschehe, ist nun allerdings ein verhängnisvoller Irrtum. Intentionale Lernprozesse haben immer auch inzidentelle Lerneffekte, die weder in der Absicht des Lernenden noch etwaiger Lehrender liegen, wie die drei Beispiele (s. o.) zeigen. Während man bei formalen Lernprozessen oft nur zwischen erreichten und nicht erreichten Lernzielen unterscheidet und als schlimmsten Fall völlige Erfolglosigkeit annimmt, muss man daher trotz nachweisbarer Lernerfolge immer auch unerwünschte Lerneffekte in Rechnung stellen. Personen lernen vergleichsweise selten intentional, aber laufend inzidentell. Brouwer u. Korthagen (2005) stellen daher die prinzipielle Frage, ob zeitlich begrenzte formale Lehreraus- und Weiterbildung angesichts des zeitlich unbegrenzten und unvermeidlichen Erfahrungsstromes der täglichen Berufspraxis überhaupt optimierende Effekte haben können. Gleichwohl scheint es, als wäre die professionelle Kontrolle inzidenteller Lernprozesse keine explizite Berufstätigkeit für Lehrkräfte. Sie ist durch keine Pflichtzeiten im Berufsalltag und durch keine überprüfbaren Formalien wie etwa Material für eine Unterrichtsvorbereitung geschützt und wird auch sonst kaum explizit erwähnt! Sie ist auch kein Pflichtthema in der Lehrerbildung!
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Nachdem das Konzept des inzidentellen Lernens skizziert wurde, geht es nun um die Frage: Welche speziellen Situationen begünstigen inzidentelles Lernen? Wie können solche Lernprozesse erkannt, reflektiert und gegebenenfalls frühzeitig korrigiert werden? Hier spielen emotionsrelevante Kontexte eine besondere Rolle, wie im folgenden Abschnitt darzulegen ist.
3
Emotionen als Impulse für inzidentelles Lernen
In diesem Kapitel geht es nicht um einen Überblick zu dieser Forschungsrichtung. Vielmehr werden ausgewählte Beispiele ausführlich behandelt. Leserinnen und Leser können anhand der Tabellen (1-5) ihre eigenen Präferenzen für angenehme und unangenehme Situationen und Gefühle sowie für verschiedene Attributionsmuster und Bewältigungsstrategien klären. Sie sollten erproben, ob sie sich für wünschenswerte Alternativen sensibilisieren können.
3.1 Emotionen als eigenständige Lernimpulse Nach Hascher (2005) steuern nicht nur Kognition und Motivation Handlungen und damit verbundene Lernprozesse, sondern auch Gefühle. Diese beeinflussen die Aktivierung und die Antriebskraft eines Menschen sowie seine motivationalen Orientierungen und fungieren als Schaltstellen für kognitive Prozesse. Gefühle sind dabei immer auch Lernimpulse. Sie aktivieren beim lernenden Akteur z. B. Kausalattributionen. Die Person versucht sich das Auftreten relevanter Gefühle zu erklären, um ihre Zukunftsfähigkeit im Umgang mit Gefühlen zu verbessern. Eine besonders inspirierende Studie in diesem Kontext hat Grimm (1996) vorgelegt. Abbildung 1 zeigt die von ihm erhobenen vier Variablengruppen, die über Wechselwirkungen verschiedene Ausprägungen der Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation von Lehrkräften bedingen.
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit Abbildung 1:
107
Wolkenmodell der kognitiven Landschaft verändert nach Grimm (1996: 33).
Unterrichtssituationen
Gefühle
angenehme unangenehme
angenehme unangenehme
Zufriedenheit Motivation Attribution
Bewältigungsstrategien konstruktive destruktive
Ressourcen Vulnerabilität
Im Einzelnen befragte er Lehrkräfte nach angenehmen und unangenehmen Unterrichtssituationen. Aus jeweils rund 280 Fragebögen ermittelte er folgende Klassen von Unterrichtssituationen, die Lehrkräfte mehr oder weniger häufig erlebten und in unterschiedlichem Maße wertschätzten. Tabelle 1: Klassifikation positiv und negativ bewerteter Unterrichtssituationen bzw. Schülerverhalten durch Lehrkräfte nach Grimm (1996). Positiv bewertete Situationen
Negativ bewertete Situationen:
Aktivität/Entwicklung, z. B. Schüler denken mit, bearbeiten etwas selbstständig, wenden Erlerntes auf neues Problem an Nähe und Kontakt, z. B. Schüler suchen privaten Kontakt, sprechen über persönliche Probleme, äußern Mitempfinden über die Sorgen des Lehrers
Fortsetzung nächste Seite
Aggressivität/Unbeliebtheit, z. B. Schüler nutzen meine Schwächen aus, provozieren mich, reden vor Kollegen und Eltern schlecht Undiszipliniertheit/Unkonzentriertheit, z. B. Schüler erledigen Hausaufgaben schlampig, passen nicht auf, befolgen Anweisungen nicht
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Positiv bewertete Situationen
Negativ bewertete Situationen:
Positives Klima, z. B. Harmonie und vertraute Atmosphäre, gute Klassengemeinschaft, Freude am Lernen Anerkennung und Beliebtheit, z. B. Schüler zeigen fachliche Anerkennung, sprechen vor Kol- leginnen und Eltern positiv Disziplin/Konzentration, z. B. Schüler erledigen Hausaufgaben gut, folgen Anweisungen, stren- gen sich an, hören aufmerksam zu.
Kontaktstörung/Stagnation, z. B. ich als Lehrkraft finde keinen Zugang zu den Schülern, Beziehungen bleiben oberflächlich, Schüler entwickeln ihre Persönlichkeit nicht Passivität / extrinsische Motivation, z. B. Schüler sind unkritisch, stellen nichts in Frage, wollen unterhalten werden Kollektives Motivationsdefizit, z. B. Schüler nutzen die Unterrichtschancen nicht, fordern mich als Lehrkraft nicht heraus…
Die von den Lehrkräften in solchen Situationen berichteten Gefühle fasste Grimm zu folgenden Klassen zusammen: Tabelle 2: Klassifikation positiver und negativer Gefühle der Lehrkräfte nach Grimm (1996). positive Gefühle
negative Gefühle
Hochgefühle: Erleichterung, Faszination, Ermutigung, Überraschung Egogefühle: Selbstbestätigung, Zufriedenheit, Angenommensein, Erfolg symbiotische Gefühle: Zuneigung, Verbunden sein, Gefühl gebraucht zu werden, sinnvoll, bereichernd
Gereiztheit/Ärger: Gereizt, ungeduldig, lustlos, ärgerlich Selbstzweifel/Depressivität: unzufrieden, habe versagt, unfähig, unterlegen, Schuldgefühl, Frustration Hass und Ablehnung: Hass und Verachtung, Abneigung, Desinteresse, Unerträglichkeit Körperliche Beschwerden: Kreislauf, Muskelverspannung, Verdauungsbeschwerden, Müdigkeit Angstsyndrom: Zittern, Herzklopfen, Angst, Übelkeit
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit
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Wie erklärten sich die Lehrkräfte das Entstehen und die Häufigkeit angenehmer und unangenehmer Situationen und Gefühle? Grimm (1996) ermittelte aus den Angaben folgende Gruppen von Ressourcen bzw. Vulnerabilitätsfaktoren, mit denen sich die Lehrkräfte ihre relevanten Situationen und Gefühle erklärten: Tabelle 3: Klassifikation der von Lehrkräften angegebenen Ressourcen und Vulnerabilitätsfaktoren nach Grimm (1996). Ressourcen Vulnerabilitätsfaktoren für positive Gefühle und Situationen für negative Gefühle und Situationen Persönliche Kompetenz: leistungsfähig, habe Energie, Selbstwertgefühl, Lebenserfahrung Religiosität: beten, meditieren, Engagement in Gemeinde Rahmenbedingungen: Fachliteratur, gute Vorbereitung, Hilfsmittel Unterrichtsstrategien: schülerzentrierte Arbeitsweise, mit Schülern Unterricht planen, Theater spielen, experimentieren Ablenkung / Kommunikation: schöne Sachen kaufen, gut kleiden, telefonieren, mit Freunden über Schule sprechen, ausgehen Familie / Kommunikation: mit Familie/Partner über Schule sprechen, kümmern um die Familie, Erfahrung mit meinen Kindern Freizeitgestaltung: Arbeit in Wohnung, Haus, Garten, Basteln, Wandern, Natur,...
Kompetenzdefizit: kann mich nicht einfühlen, bin selbstunsicher, nicht flexibel im Unterrichten eigener zu hoher Anspruch: werde Schülern nicht gerecht, kann nicht Bewerter und Helfer zugleich sein, bin niemals fertig, zu sensibel für belastende Situationen systembedingte Mängel: Zensurendruck, fehlende Mittel, Geld, Projekte, Entwicklungsimpulse für Starke und Schwache Schülerumwelt: Familienprobleme überschwemmen die Klasse, Medienflut, Ereignisse: Weihnachten Andere verantwortliche Personen: Schüler ist schlecht erzogen, faul, wenig intelligent, Eltern, Schulleitung körper- und kontaktbezogene Defizite: Mangel an Entspannung, Schlaf, Kontakten, ungesunde Lebensweise Überlastung/Zeitmangel: Zu viele Zusatzaufgaben, Mangel an Bewegung, an Zeit für Interessen
Über Clusteranalysen konnte Grimm verschiedene Gruppen von Lehrpersonen mit spezifischen Mustern dieser Variablen ermitteln, die teilweise gängige Lehrertypologien stützen bzw. differenzieren. Er beschrieb diese Gruppen und zog
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Bernhard Sieland
differenzielle Konsequenzen für die Lehreraus- und Fortbildung (vgl. Grimm 1996: 189ff.). Grimm (1996) fand schließlich folgende seiner Hypothesen (vgl. 33ff. u. 175f.) überwiegend bestätigt:
Lehrkräfte, für die viele angenehme Unterrichtssituationen bedeutungsvoll sind, empfinden auch viele positive Gefühle, attribuieren auf viele Ressourcen und sind mit dem Beruf überdurchschnittlich zufrieden. Lehrkräfte, die in angenehmen Unterrichtssituationen viele positive Gefühle empfinden, attribuieren auch auf viele Ressourcen und sind im Beruf überdurchschnittlich zufrieden. Lehrpersonen, die viele Unterrichtssituationen als belastend erleben, empfinden auch viele negative Gefühle, attribuieren diese nur auf wenige Vulnerabilitätsfaktoren, begegnen diesen mit nur wenigen Bewältigungsstrategien und sind mit ihrem Beruf weniger zufrieden. Lehrpersonen, die in belastenden Unterrichtssituationen viele negative Gefühle erleben, attribuieren auf nur wenige Vulnerabilitätsfaktoren, nutzen nur wenige Bewältigungsstrategien und sind mit ihrem Beruf weniger zufrieden.
Auch wenn es sich um eine Querschnittsuntersuchung handelte, kann man m. E. die von Grimm (1996) postulierten Zusammenhänge als Lerneffekte interpretieren. Gelernt werden dabei nicht nur spezifische Situationsauffassungen und Situationsbewertungen, sondern auch die Sensibilität für bestimmte Gefühlsqualitäten, die Präferenz für bestimmte Kausal- und Kontrollattributionen sowie für bestimmte Bewältigungsstrategien. Als langfristiger Effekt ist schließlich eine Steigerung oder Absenkung der Berufszufriedenheit und der nachfolgenden Arbeitsmotivation zu erwarten. Mit Blick auf die Lehrerbildung lohnt es sich nicht nur, die bevorzugten Erklärungsmuster, sondern auch die Stress regulierenden Bewältigungsstrategien zu ermitteln und deren Trainierbarkeit zu prüfen. Jahnke und Erdmann (1997) erfassen mit ihrem Stressverarbeitungsfragebogen zwanzig Stressverarbeitungsstrategien, die Personen – so auch Lehrkräfte und Schüler – in solchen Situationen anwenden und damit unbewusst trainieren.
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit
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Tabelle 4: Strategien der Stressverarbeitung nach Janke u. Erdmann (1997). Strategien der Stressverarbeitung 1. Bagatellisierung 2. Herunterspielen 3. Schuldabwehr 4. Ablenkung 5. Ersatzbefriedigung 6. Selbstbestätigung 7. Entspannung 8. Situationskontrolle
9. Reaktionskontrolle 10. Positive Selbstinstruktion 11. soziales Unterstützungsbedürfnis 12. Vermeidung
13. Flucht 14. soziale Abkapselung 15. gedankliche Weiterbeschäftigung 16. Resignation Fortsetzung nächste Seite
Wenn mich etwas sehr aufregt, dann... ... sage ich mir, es geht schon alles wieder in Ordnung ... nehme ich das leichter als andere in der gleichen Situation ... denke ich, ich habe die Situationen nicht zu verantworten ... lenke ich mich irgendwie ab ... erfülle ich mir einen lang ersehnten Wunsch ... verschaffe ich mir Anerkennung auf anderen Gebieten … versuche ich, meine Muskeln zu entspannen ... mache ich einen Plan, wie ich die Schwierigkeiten aus dem Weg räumen kann … sage ich mir, lass dich nicht gehen ... sage ich mir, du kannst damit fertig werden ... versuche ich, mit irgendjemandem über das Problem zu sprechen ... nehme ich mir vor, solchen Situationen in Zukunft aus dem Wege zu gehen ... neige ich dazu, die Flucht zu ergreifen ... meide ich die Menschen ... beschäftigt mich die Situation hinterher noch lange ... neige ich dazu, zu resignieren
112 Strategien der Stressverarbeitung 17. Selbstmitleid 18. Selbstbeschuldigung 19. Aggression 20. Pharmakaeinnahme
Bernhard Sieland Wenn mich etwas sehr aufregt, dann... ... frage ich mich, warum das gerade mir passieren musste ... mache ich mir Vorwürfe ... werde ich ungehalten ... neige ich dazu, irgendwelche Medikamente zu nehmen
Die Autoren bewerten die Strategien 1-10 als effektiv für die Stressreduktion, die Strategien 13-18 als Stress vermehrend, und die Strategien 11 und 12 sowie 19 und 20 als ambivalent, weil sich diese von Fall zu Fall unterschiedlich auswirken. Meist bevorzugen Personen in Abhängigkeit von ihrem Lebensstil bestimmte Strategien und behalten diese auch bei mangelnder Effektivität bei. Dem entsprechen auch die umfangreichen Untersuchungen von Schaarschmidt (2005) zu den Mustern arbeitsbezogenen Erlebens und Verhaltens. Auch er hat über Clusteranalysen vier Gruppen von Lehrkräften mit spezifischen Mustern in den Faktoren berufliches Engagement, Widerstandsfähigkeit / Stressregulation und vorherrschenden Emotionen ermittelt. An seiner Längsschnittstudie ist besonders interessant, dass sich ohne gezielte Interventionen kaum Entwicklungen zu einem günstigeren Muster zeigen. Im Sinne einer differenziellen Lehrerbildung müssten also besonders Lehrpersonen der kritischen Gruppen ihre alltägliche Erlebnisverarbeitung professionell nachbereiten, um unfreiwillige Lernund Entwicklungsprozesse u. U. gezielt zu beeinflussen. Unter dem Aspekt Emotionen als eigenständige Lernimpulse bleibt festzuhalten: Das Erleben positiver und negativer Gefühle stabilisiert selektive Situationsauffassungen, Ursachenzuschreibungen und Kontrollüberzeugungen und fördert die Wahrscheinlichkeit, bestimmte Gefühle schneller und intensiver zu erleben sowie entsprechende Bewältigungsstrategien zu verwenden.
3.2 Emotionen als Moderatorvariablen in formalen Lernprozessen Emotionen aktivieren aber nicht nur emotionsspezifische Lernimpulse. Sie begünstigen oder erschweren darüber hinaus auch die Qualität formaler Lernprozesse und Leistungsergebnisse. Untersuchungen zur Leistungsängstlichkeit (vgl. Jerusalem & Pekrun 1999; Rost 2001) zeigen: negative Emotionen können aufgabenirrelevante kognitive
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit
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Prozesse auslösen, die ihrerseits aufgabenbezogene Ressourcen und ressourcenabhängige Leistungen reduzieren. Hascher (2005: 612) nennt vier Erklärungsansätze aus der Stimmungsforschung, um den Einfluss von Gefühlen auf Kognitionen, Emotionen und Handeln zu erläutern.
Stimmungen beeinflussen die Auswahl von Informationen aus einem situativen Kontext. Bei positiven Stimmungen werden eher angenehme, bei negativen Stimmungen eher negative Aspekte wahrgenommen. Stimmungen sind mit unterschiedlichen Arten der Informationsverarbeitung verknüpft. Negative Gefühle fördern analytisches Denken, positive Gefühle erleichtern intuitiv-ganzheitliche Denkmuster. Positive oder negative Stimmung ist selbst eine Informationsquelle. Positive Stimmung bedeutet z. B. eine sichere Situation und fördert die Aufnahme von Informationen. Wer positive Gefühle erlebt, möchte sie aufrechterhalten. Deshalb wählen Individuen vorzugsweise Aufgaben, deren Lösung Erfolg versprechen und vermeiden solche, die ihre positiven Gefühle gefährden könnten.
Nach Hascher (2005) sind solche Erklärungsmuster komplex determiniert und müssten im schulischen Kontext auf Kausalbeziehungen näher untersucht werden. Einerseits führen positive und negative Gefühle nicht unbedingt zu gegensätzlichen Lerneffekten. Sie können zumindest kurzfristig gleichartige Wirkungen auslösen. Doch inwieweit sind diese Effekte für die Lernprozesse selbst und für die Anwendung des Gelernten zweckmäßig? Außerdem muss gesehen werden, dass die Wirkung von Emotionen von den Ereignissen abhängig ist, die sie ausgelöst haben. So könnte z. B. eine Freude auf außerschulische Ereignisse durchaus anders wirken als eine Freude über eine lösbare Aufgabe in einer Klausur. Es bleiben also zwei Fragen: Welche Emotionen fördern das Lernen und wie können diese im Unterricht gezielt gefördert werden? Hier spielt das Konzept der Emotionsarbeit eine wichtige Rolle. Es wurde bisher überwiegend an schulfernen Dienstleistungsberufen untersucht und soll nun auf das Erziehungs- und Unterrichtshandeln von Lehrkräften übertragen werden.
114 4
Bernhard Sieland Kompetente Emotionsarbeit als Lernziel für Lehrkräfte und Schüler/innen
Im Folgenden spielt der Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz die entscheidende Rolle. Geduld kann z. B. als emotionale Kompetenz verstanden werden, d. h. als relativ stabile latente Antwortbereitschaft, über die eine Person mehr oder weniger ausgeprägt verfügt. Wird eine Kompetenz unter mehr oder weniger günstigen Bedingungen realisiert, dann spricht man von „Performanz“ und in diesem Fall von „Emotionsarbeit“. Deren Effekte sollten m. E. mit Blick auf alle an der Interaktion Beteiligten untersucht werden.
4.1 Emotionsarbeit als komplexe Voraussetzung für qualitätvolles Lehrerhandeln Emotionen und zugeordnete Phänomene wie Stress, Ärger usw. sind bisher fast ausschließlich als abhängige Variablen und Folge von Arbeits- und Interaktionsprozessen aufgefasst worden. Weitgehend vernachlässigt wurde die Perspektive, dass Emotionen auch als Bedingungsfaktoren für Arbeitsqualität zu betrachten sind (vgl. Zapf u. a. 2000). Wenn Emotionen eigenständige Lernimpulse oder auch mehr oder weniger günstige Moderatorvariablen für planvolles Lernen sind, dann ist es entscheidend, wie Lehrkräfte ihre eigenen Emotionen in professionelle Interaktionen einbringen. Emotionen werden zunächst als Widerfahrnis erlebt. Nicht selten werden empfundene Emotionen ungefiltert in Interaktionen realisiert. Was vom Akteur möglicherweise als authentisch und hilfreich erlebt wird, kann von einem Teil seiner Interaktionspartner als problematisch bewertet werden. Schmitz u. a. (2006) beschreiben das eindruckvoll am Beispiel von positiv und negativ erlebtem Lehrerverhalten verschiedener Intensitätsgrade aus Schülersicht. Hochschild hat (1983) das Konzept der Emotionsarbeit speziell in Dienstleistungsberufen eingeführt. Sie geht davon aus, dass Personen mehr oder weniger gut in der Lage sind, Gefühle nach Qualität, Stärke und Dauer hervorzurufen, zu unterdrücken bzw. zu gestalten, um damit erforderliche Effekte auf Seiten ihrer Interaktionspartner hervorzurufen. Sie definiert Emotionsarbeit als bezahlte Arbeit, bei der ein Management der eigenen Gefühle erforderlich ist, um nach außen in Mimik, Stimme und Gestik ein bestimmtes Gefühl zum Ausdruck zu bringen, unabhängig davon, ob dies mit den inneren Empfindungen übereinstimmt oder nicht. Diese Emotionsarbeit soll ihrerseits bei den Interaktionspartnern bestimmte Gefühlszustände erzeugen, die dem Interaktionsziel dienlich sind (vgl. Zapf u. a. 2000).
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit
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Hochschild unterscheidet dabei die innere Kontrolle erlebter Gefühle sowie die Kontrolle des Ausdruckverhaltens. Beides sollte in professionellen Kontexten nach Standesregeln realisiert werden. Emotionsarbeit ist der psychologische Prozess, um die von der Organisation erwünschten Emotionen zu regulieren (vgl. Zapf 2000). Emotionsarbeit kann also nur als professionell bezeichnet werden, wenn sie von den Fragen gesteuert ist: Was sollte ich als Pädagoge in dieser Situation fühlen und wie sollte ich es zum Ausdruck bringen? Damit wird deutlich, dass die in der Interaktion realisierten Emotionen teilweise dem inneren Gefühl entsprechen (= Tiefenhandeln) und teilweise anders zum Ausdruck gebracht werden müssen, als es dem Empfinden des Akteurs entspricht (= Oberflächenhandeln). Professionelle Gefühlsarbeit ist daher oft eine stressreiche und anstrengende Arbeit (vgl. Sieland 2006b). Während die Interaktionsziele bei vielen Dienstleistungen im Bereich der Kundenzufriedenheit oder der Umsatzsteigerung liegen, sind im Kontext von Schule einige Besonderheiten zu beachten: Die Emotionsarbeit der Lehrkräfte soll einerseits leistungsunabhängige Wertschätzung vermitteln, um das Selbstvertrauen (statusniedrigerer Personen) zu stützen und deren Lernfreude und Lernarbeit zu fördern. Dies ist besonders kritisch bei Leistungsrückmeldungen. Hier können sich Lehrkräfte auf verschiedene Normen beziehen und dabei mehr oder weniger intensive Emotionen zum Ausdruck bringen (vgl. Tabelle 5). Tabelle 5: Bezugsnormen, die Lehrkräfte bei Leistungsrückmeldungen verwenden und vermitteln Bezugsnorm
Beispiel
Sachliche Bezugsnorm
„Du hast Schwierigkeiten bei der Subtraktion mit Zehnerüberschreitung.“ „Bei den letzten zehn Subtraktionsaufgaben waren schon drei Aufgaben richtig, vorige Woche war nur eine Aufgabe richtig.“ „Du gehörst zu den Schwachen im Mathematikunterricht.“
Individuelle Bezugsnorm
Soziale Bezugsnorm
Gleichzeitig sollen die Lehrkräfte die emotionalen Reaktionen ihrer Schülerinnen empathisch nachvollziehen und emotional respektvoll begleiten.
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Professionelle Emotionsarbeit verlangt also von den Lehrkräften auch eine innere Regulation, die sich an professionellen ethischen Grundsätzen orientiert. Wenn diese misslingt, kommt es nicht nur zu anstrengendem Oberflächenhandeln, sondern auch zu riskanten Lernprozessen auf beiden Seiten. Von Lehrkräften wird dabei prinzipiell ein höheres Maß an emotionaler Kontrolle erwartet als von ihren Schülerinnen und Schülern. Außerdem sind professionelle Gefühlsregeln höchst komplex anzuwenden. Während Stewardessen prinzipiell freundlich und nachsichtig sein sollen, müssen Lehrkräfte ad hoc oft unter Stress entscheiden, wie viel Nachsicht und Konfrontationen angebracht sind, sollen sie doch erwünschtes Verhalten freundlich verstärken und unerwünschtes Verhalten ebenso entschieden wie taktvoll kommentieren. Die Regeln professioneller Emotionskrontrolle sind daher oft paradox: Erziehungshandeln muss immer eine Mischung sein aus überzeugender Wertschätzung und Konfrontation. Über das aktuelle Ziel führende Mischungsverhältnis beider Wirkmechanismen müssen Lehrkräfte in der Regel unter Stress Entscheidungen treffen und diese gegebenenfalls noch im Laufe derselben Interaktion wechseln! Ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass die Lehrperson sich einerseits in die Gefühle der Interaktionspartner einfühlen muss und dabei z. B. Ablehnung spürt, aber gleichwohl freundliche Zuwendung und Verständnis zum Ausdruck bringen soll. Sie sollten also in professionellen Kontexten eigene und fremde Gefühle wirkungsvoll beeinflussen und ihrem Interaktions-, Erziehungs- oder Bildungsauftrag anpassen können. Sie müssen darüber hinaus ihren Schülerinnen und Schülern effektive Emotionsarbeit beibringen. Vor dem Hintergrund dieses zentralen Erziehungsauftrages ist jede deutliche emotionale Reaktion der Lehrkraft – sei sie gelungen und Ziel führend oder destruktiv mit Blick auf professionelle Grundsätze – als gezielte Lektion zum Thema Emotionsarbeit für die gesamte Klasse zu interpretieren.
4.2 Effekte von Emotionsarbeit für den Akteur und seine Interaktionspartner Hochschild (1983) nahm an, dass Oberflächenhandeln mit steigender emotionaler Dissonanz zwischen Empfinden und Ausdruck (man muss Freundlichkeit ausdrücken, obwohl man vielleicht Ablehnung empfindet) gesundheitsschädlich wirke, wo hingegen der authentische Ausdruck von Gefühlen gut und gesundheitsförderlich sei. Gerade mit Blick auf Lehrkräfte kann man nun aber in Zweifel ziehen, ob der kontrollierte Ausdruck von Gefühlen (= Oberflächenhandeln) immer selbst entfremdend wirkt. Die Zusammenhänge sind aber viel komplexer. So kann Oberflächenhandeln von der Lehrkraft als professionell, befriedigend
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit
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und erfolgreich erlebt werden, wenn sich eine Lehrkraft mit ihren Berufsaufgaben angemessen identifiziert, über ausreichende Frustrationstoleranz verfügt und die Reaktion der Partner im erwartbaren Rahmen bleiben. Der kontrollierte Umgang mit Gefühlen hat darüber hinaus für den Akteur durchaus Vorteile, weil er sich damit kognitiv von inneren Gefühlen distanzieren und die emotionale Balance aufrechterhalten kann. An Standesnormen orientierte Emotionsarbeit ist damit nicht nur eine zusätzliche Anforderung, sondern wirkt im Vollzug als Bewältigungsstrategie im Dienste der Stressregulierung und Konfliktvermeidung (vgl. Rastetter 1999: 379)! Gelungenes Oberflächenhandeln kann sogar befriedigend und Selbstwert erhöhend erlebt werden, weil man Kontrolle über sich selbst und die Interaktionspartner verspürt. Obendrein kann es sogar trotz aller wahrgenommenen Dissonanz als authentisch erlebt werden, je mehr man sich mit den professionellen Standesregeln identifiziert. In diesem Falle wird dann das Tiefenhandeln als belastend erlebt. Bei zu starker Identifikation mit der Rolle steigt gleichzeitig allerdings auch das Risiko für Burnout-Prozesse. Da Emotionsarbeit verschiedener Personen unterschiedlich gut gelingt und von diesen als mehr oder weniger anstrengend erlebt wird, kann man vermuten, dass es eine besondere Passung gibt zwischen den emotionalen Berufsanforderungen und den emotionalen Fähigkeiten des Einzelnen. Unter diesen Aspekten ist es höchst fragwürdig, dass die Befähigung zur Emotionsarbeit immer noch eher zu den sozialen oder extrafunktionalen als zu den zentralen fachlichen Qualifikationen gerechnet wird. Es scheint, dass wichtige Aspekte der Emotionsarbeit in Grenzen sogar trainierbar sind. Ein Training zur emotionalen Kompetenz, das sich m. E. auch für die Lehrerbildung hervorragend eignet, hat Berking (2007) vorgelegt. Nach diesem Autor können Veränderungen der Situationsinterpretation u. U. den Kraftaufwand der Person und ihre Ausdauer im Oberflächenhandeln optimieren. So kann man z. B. die Vergabe einer schlechten Zensur flexibel interpretieren einerseits als Entmutigung für den Schüler oder andererseits als Information zur Förderung realistischer Selbsteinschätzung. Ebenso können Veränderungen der Personeninterpretation die Emotionsarbeit erleichtern. Die Lehrkraft könnte z. B. erkennen: „Der Schüler ist nicht aggressiv gegen mich, sondern er entlädt seine Verzweiflung zufällig an mir als einem gerade greifbaren Blitzableiter!“ Noch genereller kann man seine Aufregung reduzieren, wenn man an den Grundsatz denkt: „Kinder, die Probleme machen, haben welche!“ Manche Personen können auch empfundene Gefühle umleiten bzw. vertagen, indem sie diese nicht sofort mit der Zielperson, sondern zuvor mit anderen Lehrpersonen durcharbeiten. Zusammenfassend wird deutlich: gelingende Emotionsarbeit hängt entscheidend vom Verständnis der Kollegen und Vorgesetzten
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ab. Es ist wichtig, sie regelmäßig anzusprechen und mit Fehlern auf diesem Gebiet verständnisvoll umzugehen. Qualitätvolle Emotionsarbeit muss als vermittelbares Wissen objektiviert, kontrolliert und in die Lehrerbildung als zentrale Qualifikation eingebracht werden. Dazu brauchen Lehrkräfte günstige Rahmenbedingungen, z. B.
Rückzugs- und Aussprachemöglichkeiten, laufende Förderung der Identifikation mit den Berufsanforderungen, auch wenn man nicht immer die passenden Gefühle verspürt sowie umgekehrt, generelle Förderung der Gefühlslage, um die Identifikation mit der Berufsrolle aufrechterhalten zu können, Personale Unterstützung bei Diskrepanzen zwischen dem, was gefühlt werden soll und dem, was tatsächlich gefühlt wird.
Gleichzeitig ist die Belastungsintensität der Gefühlsarbeit im Auge zu behalten. Will man also die Teufelskreise inzidentellen Lernens (vgl. Betz-Breuniger 1998) erkennen und möglichst frühzeitig für Lehrkräfte wie Schüler unterbrechen, dann bedarf es besonderer Strukturen (z. B. Schülerkonferenz, Fallbesprechungsgruppen, Selbstreflexion und Intervision …), Diagnosen (Emotionstagebücher) und Lernprozesse etwa in professionellen Lerngemeinschaften. Diese sollen im letzten Kapitel behandelt werden. Solche Strukturen und etablierten Prozesse sind vermutlich die nachhaltigste Korrektur unerwünschter Lernprozesse. Wegen der großen Bedeutung von Emotionen für die Handlungs- und Lernregulation haben Sieland, Rahm und Bestvater (2008) ein Online-Tagebuch entwickelt (www.zeittagebuch.de). In diesem Tagebuch können Lehrkräfte anonym ihre Zeitkontingente für berufliche wie private Tätigkeiten sowie ihre Stimmungsschwankungen über den Tag und die gesamte Woche parallel zu ihren Tätigkeiten notieren. Nach einer Woche erhalten sie Rückmeldungen darüber, welches Stimmungsniveau und welche Schwankungen sie über den Tag und die Woche mit Bezug auf verschiedene Tätigkeiten erreichen. Ihr Profil zum Zeitaufwand für bestimmte Tätigkeiten sowie zu ihrem Stimmungsverlauf wird zusätzlich mit dem Durchschnittsprofil verschiedener Lehrerstichproben verglichen. Darüber hinaus haben die Nutzer die Möglichkeit, in einem angeschlossenen Forum sich wechselseitig über ihren Umgang mit Zeit und Stimmungen zu beraten. Die Autoren gehen davon aus, dass die Alltagsfreuden und der Alltagsstress bzw. Gratifikationsbilanz über die Woche im beruflichen wie privaten Bereich eine wesentliche Basis für die Qualität der Emotionsarbeit von Lehrkräf-
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ten ist. Daher sollten in beiden Bereichen Verbesserungsmöglichkeiten erkannt und genutzt werden.
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Professionelle Lerngemeinschaften zur Prävention einer déformation professionell
Sowohl emotionsbegleitetes Routinehandeln bei kleinen Störungen als auch größere Probleme und Konflikte wurden als Situationen gekennzeichnet, die zu unerwünschten kurz- und langfristigen Lerneffekten bei allen Beteiligten führen können. Daraus ergibt sich eine zentrale Berufsaufgabe: Lehrpersonen müssen sich durch passende Formen der Praxisreflexion sowie der Problem- und Konfliktlösung konsequent gegen Lernprozesse, die sie selbst und ihre Schüler schädigen, wappnen. Selbstverständlich gibt es viele Lehrpersonen, die in diesem Bereich von sich aus professionell handeln. Diese zeichnen sich durch eine entsprechende Lebenshaltung aus: Sie achten auf eine gesunde Balance von Berufs- und Privatleben, mit klaren Zeitanteilen für Arbeit und Erholung sowie für individuelle und kollegiale Lernzeit mit kritischen Freunden.
5.1 Professionelle Lerngemeinschaften als Lernorte für bewusste Entwicklungssteuerung Zunächst geht es darum, eigene Entwicklungsprozesse auf unerwünschte Effekte zu kontrollieren und Mitverantwortung für die positive eigene Entwicklung zu übernehmen. Um den laufenden Erfahrungsdruck kritisch zu verarbeiten, hat sich das Konzept der professionellen Lerngemeinschaften bewährt (vgl. Strittmatter 2006; Sieland 2006a). Solche Konzepte betrachten professionelles Lernen nicht primär als momentane Krisenintervention, sondern als laufende Professionalisierung zur Sicherstellung der eigenen Zukunftsfähigkeit. Die Mitglieder werden nicht als unerfahren bzw. ratlos verstanden, sondern als Personen, denen die Qualität ihrer Lern- und Handlungskompetenzen am Herzen liegt. Die Teilnehmer kooperieren mit Blick auf gemeinsame Werte und Ziele im Dienste einer positiven Entwicklung des Lehrkörpers wie der Schüler. Sie sind bereit, ihr Unterrichtshandeln und ihre berufsbezogenen Erfahrungen offen zur Diskussion zu stellen und in einem reflexiven Dialog zu würdigen.
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Professionelle Lerngemeinschaften können ein qualifiziertes Wir-Gefühl und Normensicherheit vermitteln. Sie bieten damit eine wichtige Grundlage für die berufliche Gesunderhaltung. Wenn professionellen Lerngemeinschaften so entscheidende Funktionen zugesprochen werden, müssten Lehrer in allen Phasen ihrer Berufsbiographie darauf vorbereitet werden. Sie müssten schon in der Ausbildung Verfahren der Selbstreflexion angenehmer und unangenehmer Erfahrungen ebenso wie Lernberatung und Supervision von Lernberatung einüben können. Dies geschieht meines Wissens selten. Bis heute müssen Lehramtsstudierende keine persönlichen Lernpläne konzipieren und entsprechende Lernentwicklungsberichte über sich selbst oder über einen Kommilitonen schreiben. D. h. sie erhalten möglicherweise Lernberatung durch Ihre Mentoren und Dozenten, üben sie aber nicht selbständig. Ein wirkungsvolles Lernarrangement müsste Lernberatung in drei Rollen trainieren. Man müsste Methoden der Lern- und Entwicklungsberatung aus der Perspektive des aktiven Lerners erfahren, man müsste sie in der Rolle des Entwicklungsberaters ohne Zensuren, aber mit gezieltem Feedback von mehreren Lernern für verschiedene Lernziele trainieren und nicht zuletzt Prozesse der Lernberatung nach verschiedenen Qualitätskriterien aus der Perspektive von Supervisoren analysieren. Mit Blick auf die o. g. Rahmenbedingungen von Schule benötigen angehende Lehrkräfte Lernprozesse, die ihre Leid- und Zukunftsfähigkeit stärken und kollegiale Selbstwirksamkeitserfahrungen im Umgang mit Problemen vermitteln. Im günstigen Falle werden in professionellen Lerngemeinschaften Probleme erkannt und gelöst. Dies stärkt die Ressourcenperspektive und die Bereitschaft, ähnliche Probleme künftig proaktiv anzugehen. Natürlich stehen auch Ermutigte vor unlösbaren Problemen. Wenn Lehrkräfte die Überzeugung gewinnen, dass sie einen Schüler zurzeit weder bilden noch erziehen können, zeigen Ermutigte aber nicht die üblichen Flucht- und Vermeidungstendenzen. Sie suchen den Rat kritischer Kollegen und sind bereit, bis auf weiteres gegenüber dem Schüler in eine Position der Begleitung, der pädagogischen „Lauerstellung“ zu gehen, um auf die nächste Chance zu warten. Hier kann z. B. ein Fachdialog im Lehrerforum www.lehrerforum.de helfen (vgl. Sieland & Rahm 2007).
5.2 Das Lehrerforum als virtuelle professionelle Lerngemeinschaft „Wenn du und ich einen Dollar austauschen, dann hat jeder einen. Wenn du und ich eine Idee austauschen, hast du zwei Ideen – und ich auch“ (Don Zadra). Unter diesem Motto wurde das Lehrerforum im Januar 2005 gestartet. Hier können Lehrpersonen anonym Fragen stellen und erhalten innerhalb von zwei Tagen
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit
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Antworten von Kolleginnen sowie 56 Expertinnen, die über verschiedene Zusatzqualifikationen (Schulleiter, Ärzte, Juristen, Schulpsychologen …) verfügen. Inzwischen wurden rund 6500 Beiträge verfasst und 202.000 Besuche im Forum gezählt. Das Forum versteht sich in erster Linie als Informations- und Entscheidungsberatung sowie als niedrigschwellige virtuelle Fallbesprechung. Nur in seltenen Fällen erfüllt es auch Funktionen der Durchführungsberatung. Einzelheiten finden sich u. a. bei Sieland und Rahm (2007). Das leicht zugängliche Verfahren eignet sich nicht nur als Beratungsinstrument, sondern kann in allen Phasen der Lehrerbildung als Möglichkeit für problembasiertes Lernen eingesetzt werden. Wer darüber hinaus professionelle Lerngemeinschaften vor Ort initiieren möchte, dem sei das KESS-Modell empfohlen.
5.3 Kooperative Entwicklungsberatung zur Stärkung der Selbststeuerung (= KESS) KESS ist ein Verfahren zur Analyse und Intensivierung von Lern- und Entwicklungsprozessen in Gruppen zu drei Personen über einen begrenzten Zeitraum von 6 Monaten. Die KESS-Gruppe kann als Peersupervision inhaltlich beliebige Schwerpunkte setzen, von der Reflexion aktueller Erfahrungen über die kollegiale Fallberatung bis hin zur Begleitung planvoller Entwicklungsprozesse. Die Reflexionen können sich auf eine anwesende Lehrperson, deren Schüler, Eltern oder Kollegen sowie auf Projekte, z. B. Einführung neuer didaktischer Modelle, beziehen. Wirkfaktor dieser Methode ist die Kombination aus gezielter Selbstreflexion und kooperativem Problemlösen aus klar umschriebener Selbst- und Mitverantwortung. Wie Abbildung 2 zeigt, werden in der geleiteten Selbstreflexion die eigenen Analyse-, Planungs- und Handlungskompetenzen aktualisiert, die dann im Team mit verschiedenen Sichtweisen kritischer Freunde diskutiert und angereichert werden. Die theoretische Basis des Verfahrens orientiert sich an den methodischen Schritten der Entwicklungsberatung (vgl. Sieland 2007b). Damit die Teammitglieder nicht nur inhaltsspezifische Kompetenzen, sondern auch Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenzen erwerben können, übernehmen sie nacheinander drei Rollen, die sie als künftige Entwicklungsberater in sich vereinigen sollen.
122 Abbildung 2:
Bernhard Sieland KESS - Kooperative Entwicklungsberatung: Drei Personen – drei Rollen – je 30 Minuten.
Person 1 reflektiert und steuert als verantwortlicher Selbstentwickler ihre eigene Lern- und Entwicklungsarbeit. Person 2 unterstützt als Entwicklungsberater den Lern- und Entwicklungsprozess des Selbstentwicklers. Sie unterstützt bei der Auswahl realistischer Ziele und deren Erreichung sowie bei dem Verständnis und dem Umgang mit Misserfolgen. Person 3 supervidiert diesen kooperativen Lern- und Entwicklungsprozess und leitet die regelmäßige Metakommunikation zur Klärung der Wirkfaktoren für Erfolge und Misserfolge. Da jede Person nacheinander alle drei Rollen einnimmt, lernt jedes Mitglied einer KESS-Gruppe Methodenkompetenz und Selbstwirksamkeitserfahrungen für kooperative Selbstentwicklung, Entwicklungs- und Lernberatung bzw. lebenslanges Lernen. Je nach gewähltem Lern- oder Entwicklungsinhalt werden spezifische Kompetenzen in einem Inhaltsbereich erworben, z. B. Zeitmanagement oder Umgang mit Ängsten, und gleichzeitig die eigene Change-Ability gestärkt. Das professionelle Vorgehen soll in der folgenden Abbildung 3 als geleitete Selbst- und Teamreflexion skizziert werden.
Lehrkräfte als Experten für die eigene Lern- und Emotionsarbeit Abbildung 3:
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KESS vier Kompetenzen in sieben Phasen durch Selbst- und Teamreflexion trainieren
1. Analysekompetenz Erkennen
Verstehen
2. Planungskompetenz
Annehmen
Planen
Gestalten
3. Handlungskompetenz Optimieren
Stabilisieren
Selbstreflexion Teamreflexion
4. Evaluationskompetenz Um etwaige Risiken, die sich aus einer einseitigen Gruppenbildung ergeben können, auszugleichen, bietet die Universität Lüneburg eine Intranetplattform an, in der die Gruppenteilnehmer kurze Entwicklungsberichte anonym darstellen können. Die Erfahrung mit derzeit ca. 45 Lehrergruppen sowie etwa 160 Gruppen von Lehramtsstudierenden zeigt, dass die Intensität der wechselseitigen anonymen Beratung im Intranet von den Beteiligten sehr gewinnbringend beurteilt wird. Darüber hinaus wird diese Intranetarbeit von Fachsupervisoren/innen kommentiert. Das Intranet hat noch weitere Effekte bewirkt: Es kommt zu Querbeziehungen zwischen verschiedenen KESS-Gruppen über ähnliche Zielsetzungen. Die Arbeitsintensität und -qualität hat sich sowohl nach dem Urteil von Studierenden als auch von Lehrergruppen deutlich erhöht. Die Teilnehmerinnen berichten über
das Erleben von persönlichen Selbstwirksamkeitserfahrungen: “Ich habe in begrenzter Zeit auf einem selbst gewählten Gebiet etwas erreicht“. das Erleben und Vermitteln von sozialen Selbstwirksamkeitserfahrungen: „Andere helfen mir durch nützliche Anregungen – sie haben auch Probleme!“ das Erleben und Vermitteln von kollegialen Selbstwirksamkeitserfahrungen: „Gemeinsam sind wir stärker, schaffen wir mehr, sind wir ausdauernder … Einer für alle, alle für einen!“
Von besonderer Bedeutung scheint allerdings die grundlegende Erfahrung zu sein, dass die eigenen Entwicklungsprozesse viel mehr Zeit brauchen als gedacht. So kann die Arbeit in KESS-Gruppen als ein Training für Geduld und
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Ausdauer verstanden werden – mit sich selbst und mit denen, deren Entwicklungsberater die Teilnehmer sein sollen. Allerdings können solche positiven Erfahrungen nur von denen gemacht werden, die als gesunde und leistungsfähige Lehrpersonen sich nicht nur selbstverständlich Zeit für ihre Körperhygiene, sondern auch für ihre kollegiale Gesundheits- und Qualitätssicherung nehmen.
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Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag erläutert, dass Lehrkräfte die eigene Lern- und Emotionsarbeit reflektieren sollen, um riskante Lerneffekte bei sich selbst und ihren Interaktionspartnern frühzeitig zu erkennen und nachsteuernd einzugreifen. Emotionsarbeit wurde dabei nicht nur als Leistungsvoraussetzung und Anforderung für Lehrkräfte herausgearbeitet, sondern auch als Erziehungs- und Bildungsziel für die Schüler betont. Die Befähigung zur eigenen Emotionsarbeit und zu deren Vermittlung an die Zielgruppen wird unter systematischen Gesichtspunkten bisher „nur“ zu den sozialen bzw. extrafunktionalen und nicht zu den fachlichen Qualifikationen der Lehrkräfte gerechnet. Unerwünschter Weise begünstigt diese geläufige Systematik vermutlich, dass die selbstbezogene Emotions- und Lernarbeit als zentrale Leistungsvoraussetzung von Lehrkräften weder in der Eignungsdebatte noch in der Aus- und Weiterbildung angemessene Berücksichtigung findet. Wie in vielen Kompetenzbereichen gibt es unter Lehrkräften Experten und Novizen, Naturtalente und solche die sich schwer tun. Es kommt darauf an, das jeweilige Leistungsniveau und den individuellen Lernbedarf zu erfassen und jenseits subjektiver Entwicklungsbereitschaft Strukturen wie z. B. die oben beschriebenen Internetforen und die kollegiale Supervision zur Sicherung der erforderlichen Mindestqualität zu schaffen.
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Psychologie der Schülerpersönlichkeit Claudia Dalbert & Matthias Radant
Die Persönlichkeit eines Menschen wird durch individuelle Muster von mehr oder minder stabilen und unterschiedlich globalen Eigenschaften beschrieben. Mit dem Terminus Schülerpersönlichkeit wird das Wechselspiel zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Schulfaktoren angesprochen (Pekrun 1983). Diesen schulbezogenen Persönlichkeitsmerkmalen wollen wir in diesem Kapitel nachgehen. Wir wollen fragen, wie die Entwicklung der Persönlichkeit im Kindesund Jugendalter durch die Schule als Sozialisationsinstanz und durch das Erziehungsverhalten der Lehrerinnen und Lehrer beeinflusst wird. Damit wollen wir keinesfalls nahe legen, dass nur die Schule Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung hätte und der Einfluss der Eltern, der Peers und der Erbanlage zu vernachlässigen wäre. Vielmehr ist mit dieser Frage nach dem Einfluss von Schule auf die Persönlichkeitsentwicklung eine Akzentsetzung gemeint, die die besondere Rolle schulischer Faktoren bei der Persönlichkeitsentwicklung hervorheben will. Des Weiteren wollen wir untersuchen, welchen Einfluss umgekehrt die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf deren Schulleistung hat. Auch vermittelnde Bedingungen zwischen Persönlichkeit und Schulleistung sollen dabei in den Blick genommen werden. Hierzu gehört etwa die Frage nach der Erklärung von Erfolg und Misserfolg oder der Einsatz bestimmter Lernstrategien. In diesem Kapitel nicht betrachtet werden weitergehende Maßstäbe für eine erfolgreiche Schulkarriere wie die seelische und körperliche Gesundheit oder das Sozialverhalten. Bei der Frage nach dem Einfluss von Persönlichkeit auf Schulleistung handelt es sich also um eine Schwerpunktsetzung. Schulleistung ist natürlich nicht nur durch die Persönlichkeit der Schüler zu erklären. Institutionelle Rahmenbedingungen ebenso wie das Instruktions- und Erziehungsverhalten der Lehrer sowie nicht zuletzt das Erziehungsverhalten der Eltern tragen zum Schulerfolg bei (Helmke & Weinert 1997). In unserem Beitrag wollen wir die besondere Rolle der Schülerpersönlichkeit zum Schulerfolg in fünf Abschnitten beleuchten. Wir werden Untersuchungen zu zwei eher emotional-motivationalen Persönlichkeitsdimensionen (Zielorientierungen, Glauben an eine gerechte Welt) sowie zu drei eher kognitiv-evaluativen Persönlichkeitsdimensionen (Fähigkeitsselbstkonzept, Selbstwirksamkeitserwartungen, Ungewissheitstoleranz) vorstellen. Jeder Abschnitt beginnt mit einer Definition des Konstrukts, beschreibt dann die Entwicklung der Persön-
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lichkeitseigenschaft in Kindheit und Jugendalter unter besonderer Berücksichtigung des schulischen Kontextes und schließt mit der Erklärung der Schulleistung und vermittelnder Faktoren ab.
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Zielorientierungen
Lehr- und Lernsituationen werden für gewöhnlich so gestaltet, dass den Schüler/innen bestimmte Leistungen abverlangt werden. Wie sich zeigt, unterscheiden sich Schüler/innen bezüglich der Ziele, die sie in solchen leistungsrelevanten Situationen verfolgen. Diesem Umstand trägt die von Dweck und Kollegen (z. B. Dweck & Legget 1988) entwickelte Unterscheidung zwischen Lernzielen (learning goals) und Leistungszielen (performance goals) Rechnung. Eine ähnliche Dichotomie entwickelte auch John Nicholls (1984), indem er Aufgabenziele (task goals) von Ichzielen (ego goals) unterschied. Ames und Archer (1987) wiesen auf die Gemeinsamkeiten beider Konzeptionen hin und befürworteten eine Integration beider Theorien. Für die beiden Zielorientierungen wählten sie die Begriffe Bewältigungsziele (mastery goals) und Leistungsziele (performance goals). Im deutschsprachigen Raum sind die der Terminologie von Dweck folgenden Bezeichnungen Lernziele und Leistungsziele am gebräuchlichsten. Lernzielorientierte Schüler/innen verfolgen in leistungsbezogenen Situationen in erster Linie das Ziel, ihre Kompetenzen zu erweitern, neue Fähigkeiten zu erlernen und die eigenen Leistungen zu verbessern. Sie beurteilen die eigenen Fähigkeiten auf der Grundlage objektiver Kriterien oder anhand des individuellen Lernfortschritts. Dementsprechend werden Leistungsrückmeldungen als nützliche Informationen über den eigenen Lernfortschritt interpretiert. Misserfolge werden als Teil des Lernprozesses angesehen und weisen darauf hin, dass eine andere Strategie oder zusätzliche Anstrengung zur Bewältigung einer Aufgabe notwendig ist. Leistungszielorientierte Schüler/innen hingegen sind in Leistungssituationen vor allem bestrebt, im sozialen Vergleich mit anderen Schüler/innen möglichst positiv abzuschneiden um dadurch zu einer positiven Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zu gelangen und diese aufrecht zu erhalten. Ihr Ziel ist es also bessere oder zumindest keine schlechteren Leistungen zu erbringen, als die anderen Schüler/innen. Dementsprechend werden Leistungsrückmeldungen nur als Bestandsaufnahme der eigenen Fähigkeiten und Misserfolge als Hinweise auf Fähigkeitsdefizite interpretiert. Häufig wird bei der Definition von Leistungszielorientierung auch darauf verwiesen, dass entsprechende Schüler/innen bemüht sind, ihre Fähigkeiten den anderen Schüler/innen gegenüber zu demonstrieren. Es wäre aber eine zu starke Vereinfachung, Leistungszielorientierung ausschließ-
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lich im Sinne positiver Selbstdarstellung zu definieren (siehe auch Harackiewicz, Barron, Pintrich, Elliot & Thrash 2002), da ein positiver sozialer Vergleich auch ohne die Zurschaustellung der eigenen Fähigkeiten erreicht werden kann. Das durch die Unterscheidung von Lern- und Leistungszielen entstehende dichotome Modell der Zielorientierungen hat sich als sehr nützlich und fruchtbar erwiesen, da gezeigt werden konnte, dass die verschiedenen Arten der Zielsetzung mit spezifischen Mustern von Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen einher gehen (zum Überblick, Moller & Elliot 2006). Dabei wurden Lernziele in erster Linie mit adaptiven Konsequenzen und Leistungsziele eher mit maladaptiven oder neutralen Konsequenzen in Zusammenhang gebracht. In den letzten Jahren wurde das dichotome Modell der Zielorientierungen jedoch als unvollständig kritisiert (Harackiewicz et al. 2002; Moller & Elliot 2006). Vor allem die in der klassischen Leistungsmotivationsforschung wichtige Unterscheidung zwischen dem Bedürfnis nach Erfolg und dem Bedürfnis nach Vermeidung von Misserfolg (Atkinson 1957) bleibt in diesem Modell unberücksichtigt. Um diesem Mangel Rechnung zu tragen, wurde deshalb zunächst eine zusätzliche Differenzierung von Leistungszielen in Annäherungs-Leistungsziele und Vermeidungs-Leistungsziele eingeführt (Elliot 1997; Elliot & Church 1997; Elliot & Harackiewicz 1996). In den Annäherungs-Leistungszielen manifestiert sich dabei das Streben nach Erfolg, also das Ziel, bessere Leistungen als andere Schüler/innen zu erbringen. Vermeidungs-Leistungsziele entsprechen hingegen dem Streben nach Vermeidung von Misserfolg und damit dem Ziel, keine schlechteren Leistungen als andere Schüler/innen zu erbringen. In noch jüngerer Zeit hat sich Elliot (1999; siehe auch Elliot & McGregor 2001; Pintrich 2000) für eine vollständige konzeptuelle und empirische Nutzbarmachung der unabhängigen Leistungs- und Lernaspekte sowie Annäherungs- und Vermeidungsaspekte von Zielorientierungen ausgesprochen. Dadurch entsteht ein 2 x 2 Modell der Zielorientierungen in dem neben Annäherungs-Leistungszielen und Vermeidungs-Leistungszielen auch Annäherungs-Lernziele und Vermeidungs-Lernziele voneinander abgegrenzt werden. Annäherungs-Lernziele entsprechen der Absicht, Neues dazuzulernen und eigene Kompetenzen zu erweitern, VermeidungsLernziele hingegen zielen darauf ab, etwas Erlerntes nicht wieder zu vergessen und erworbene Fähigkeiten nicht wieder zu verlieren. Während bei der Forschung zum dichotomen Modell der Zielorientierungen die negativen Konsequenzen von Leistungszielen gegenüber Lernzielen betont wurden, wird durch die differenziertere Betrachtung im Rahmen des 2 x 2 Modells das positive Potential der Annäherungs-Leistungsziele deutlich. Die vier Zielarten des 2 x 2 Modells schließen sich dabei nicht gegenseitig aus, sondern gelten als voneinander weitgehend unabhängige motivationale Tendenzen. Es ist
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also möglich, dass Schüler/innen in Leistungssituationen multiple Ziele verfolgen, d. h. dass sie sich an mehreren Zielen gleichzeitig orientieren. Deshalb stellt sich also nicht die Frage, welche Zielorientierung die günstigste ist, sondern welche Kombination an Zielen die optimale Motivation in Leistungssituationen darstellt. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung ist davon auszugehen, dass eine Kombination von Annäherungs-Leistungszielen und Annäherungs-Lernzielen wünschenswert ist. Im deutschsprachigen Raum liegen zwei Instrumente zur Erfassung von Zielorientierungen vor. Die Skalen von Köller und Baumert (1998) folgen der Terminologie von Nicholls und erfassen Aufgabenorientierung und Ichorientierung. Mit den von Spinath, Stiensmeier-Pelster, Schöne und Dickhäuser (2002) entwickelten Skalen lassen sich Annäherungs-Leistungsziele, VermeidungsLeistungsziele und Lernziele messen. Ein Messinstrument mit dem sich das gesamte 2 x 2 Modell der Zielorientierungen erfassen lässt, liegt im deutschsprachigen Raum noch nicht vor.
1.1 Entwicklung und schulische Sozialisationsbedingungen Nach Nicholls (1984) ist die Entwicklung von Zielorientierungen unmittelbar mit der Differenzierung des Fähigkeitsselbstkonzeptes verknüpft. Kinder beurteilen eigene Kompetenzen und Fähigkeiten zunächst nur anhand objektiver Kriterien wie Erfolge und Misserfolge bei der Bewältigung von Aufgaben. Noch im Vorschulalter beginnen Kinder die eigenen Fortschritte bei der Bewältigung von Aufgaben zu berücksichtigen und zwischen den Konzepten Fähigkeit und Anstrengung zu unterscheiden. Dementsprechend ist anzunehmen, dass Kinder vor dem Schuleintritt vorwiegend lernzielorientiert vorgehen. Mit dem Schuleintritt werden dann zunehmend auch die Ergebnisse sozialer Vergleiche zur Einschätzung der eigenen Fähigkeiten herangezogen und die Kinder beginnen, sich Leistungsziele zu setzen. Etwa im Alter von 12 Jahren sind Schüler/innen schließlich in der Lage zu erkennen, das Fähigkeit als feste „Kapazität“ verstanden werden kann und das Anstrengung kontrolliert eingesetzt werden kann, um die eigenen Fähigkeiten im Vergleich zu anderen besser einschätzen zu können: Es ist anzunehmen, dass die Genauigkeit und Anzahl sozialer Vergleiche dabei ständig zunimmt, bis die Schüler/innen schließlich erkennen können, dass sie weniger Anstrengung benötigen, um die gleiche Leistung zu erbringen wie Schüler/innen mit geringeren Fähigkeiten oder dass sie mit mehr Anstrengung mehr Leistung erbringen können, als Schüler/innen mit dem gleichen Fähigkeitsniveau. Mit den sozialen Vergleichen nimmt auch die Leistungszielorientierung nach dem Eintritt in die
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Schule zu. Untermauert wurden diese Annahmen durch eine Studie von Anderman und Midgley (1997), die zeigten, dass die Lernzielorientierung von Schüler/innen beim Übergang vom 5. Schuljahr zum 6. Schuljahr deutlich abnahm. Ebenso zeigten Köller, Baumert und Rost (1998) in einer Längsschnittstudie mit Schüler/innen im 7. Schuljahr, dass innerhalb eines Jahres die Anzahl vorwiegend lernzielorientierter Schüler abnahm, während die Anzahl der Schüler mit mittlerer und hoher Leistungszielorientierung zunahm. Als Gründe für die zunehmende Leistungszielorientierung der Schüler/innen kommen neben der kognitiven Entwicklung die Sozialisationsbedingungen in der Schule und das Erziehungsverhalten der Eltern in Frage. Wenn z. B. Mütter oder Väter ihren Kindern bei Erfolg vermehrt globale positive Leistungsrückmeldungen geben (z. B.: Was für ein schlaues Kind du doch bist!), dann steigt die Wahrscheinlichkeit, das sich die Kinder selbst AnnäherungsLeistungsziele setzen. Wenn Väter und Mütter hingegen bei Fehlern und Misserfolgen globale negative Bewertungen äußern (z. B.: Du stellst Dich aber auch immer dumm an!), dann werden sich die Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit an Vermeidungs-Leistungszielen und Vermeidungs-Lernzielen orientieren (Elliot & McGregor 2001). Ferner scheint auch die Schulform einen Einfluss auf die Zielorientierung zu haben. Köller (1998) konnte zeigen, dass Gymnasiast/innen im Vergleich zu Schüler/innen anderer Schulformen höhere Lern- und geringere Leistungszielorientierung aufwiesen. Dweck und Leggett (1988) nehmen an, das naive Theorien über die Veränderbarkeit der eigenen Fähigkeiten für die Entwicklung von Zielorientierungen verantwortlich sind. Ihrer Argumentation zufolge sollen Personen, die ihre eigenen Fähigkeiten als unveränderliche Entität wahrnehmen (entity theory) eher Leistungsziele verfolgen, während Personen, die eigene Fähigkeiten als veränderbar ansehen (incremental theory), sich eher Lernziele setzen. Dieser Zusammenhang gilt als empirisch gut bestätigt (Bempechat, London & Dweck 1991; Robins & Pals 2002; Cury, Elliot, Da Fonseca & Moller 2006) und lässt sich auch replizieren, wenn die Zielorientierungen differenzierter im Rahmen des 2 x 2 Modells betrachtet werden. Cury et al. (2006) konnten beispielsweise nachweisen, dass Entitätstheorien mit Vermeidungs-Leistungszielen und Annäherungs-Leistungszielen einhergehen. Inkrementelle Fähigkeitstheorien waren hingegen mit Annäherungs-Lernzielen und Vermeidungs-Lernzielen assoziiert. Diese Befunde galten nicht nur für selbst berichtete, sondern auch für experimentell induzierte naive Fähigkeitstheorien. Darüber hinaus wiesen Cury et al. (2006) in ihren Studien nach, dass die wahrgenommene eigene Kompetenz der untersuchten Schüler/innen einen positiven Einfluss auf Annäherungs-Leistungszielorientierung und Annäherungs-Lernzielorientierung sowie einen negativen
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Einfluss auf Vermeidungs-Leistungszielorientierung und Vermeidungs-Lernzielorientierung hat. Des Weiteren wird das 2 x 2 Modell der Zielorientierungen von Elliot und Kollegen (Elliot & Church 1997) in ein umfassenderes hierarchisches Modell eingebettet, in dem sowohl die hier vorgestellten neueren als auch die klassischen Ansätze der Leistungsmotivationsforschung integriert werden. Innerhalb dieses Modells werden die dispositionellen Bedürfnisse nach Erfolg (need for achievement) und nach Vermeidung von Misserfolg (fear of failure) als stabile Antezedenzen von Zielorientierungen gesehen. Empirisch belegt wurden diese Überlegungen von Elliot and McGregor (2001), die zeigten, dass das Bedürfnis nach Erfolg ein positiver Prädiktor für Annäherungs-Leistungsziele und Annäherungs-Lernziele ist, während sich aus der Angst vor Misserfolg die Orientierung an Vermeidungs-Leistungszielen und Vermeidungs-Lernzielen vorhersagen lässt. Zur Entwicklung der motivationalen Orientierungen tragen also neben der grundsätzlichen Leistungsmotivausprägung die kognitive Entwicklung (Fähigkeit zu sozialen Vergleichsprozessen), Erfahrungen mit Leistungsrückmeldungen in Schule und Elternhaus sowie naive Theorien über die eigene Leistungsfähigkeit bei.
1.2 Schulische Funktionen Ältere empirische Studien zu den Funktionen der verschiedenen Zielorientierungen konzentrierten sich zunächst nur auf die Unterscheidung von Lern- und Leistungszielen. Eine hohe Lernzielorientierung wurde dabei konsistent mit einer Vielzahl positiver leistungsbezogener Konsequenzen in Verbindung gebracht. Dazu gehören unter anderem eine erhöhte Ausdauer, erhöhte intrinsische Motivation, ein günstigeres Fähigkeitsselbstkonzept; günstigere Attributionen bei Erfolg und Misserfolg, positivere Einstellungen zur Schule, zum Lernen und zum Bearbeiten schwieriger Aufgaben sowie besseres subjektives Wohlbefinden (Maehr & Meyer 1997; Cury et al. 2006). Während generell über die positiven Konsequenzen von Lernzielorientierungen Einigkeit besteht, bleibt strittig, ob die Erbringung von guten Leistungen auch als direkte Folgen von Lernzielorientierungen angesehen werden kann (zusammenfassend Urdan 1997). Die Befunde zu den Konsequenzen von Leistungszielorientierungen zeichnen ein weniger einheitliches Bild. Zwar werden in der Literatur immer wieder die negativen Konsequenzen von Leistungszielorientierungen wie z. B. geringe Ausdauer, geringe intrinsische Motivation und geringe Leistung betont. Oft kön-
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nend diese Befunde jedoch nicht repliziert werden und teilweise werden auch positive Folgen beobachtet (zusammenfassend Elliot 1997). Eine differenziertere Betrachtung von Zielorientierungen im Rahmen des 2 x 2 Modells scheint hilfreich, wenn es um die Erklärung des inkonsistenten Befundmusters zu den Leistungszielorientierungen geht. Neuere Untersuchungen belegen, dass sowohl Annäherungs-Lernzielen als auch Annäherungs-Leistungszielen adaptive regulatorische Konsequenzen zugeschrieben werden können und dass vor allem Vermeidungs-Leistungszielorientierungen und VermeidungsLernzielorientierungen mit maladaptiven Konsequenzen einher gehen. Elliot und Harackiewicz (1996) zeigten in einer experimentellen Studie mit Puzzle-Aufgaben, dass nicht nur Probanden mit Lernzielorientierung, sondern auch Probanden mit Annäherungs-Leistungszielorientierung die Aufgaben länger bearbeiteten und mehr Freude und Involviertheit zeigten, als Probanden mit VermeidungsLeistungszielorientierung. Zu ähnlichen Befunden kamen Elliot und Church (1997), die in einer Fragebogenstudie an Collegestudenten die positiven Effekte von Lernzielorientierungen und Annäherungs-Leistungszielorientierungen auf die intrinsische Motivation belegen konnten; hingegen waren Vermeidungs-Leistungszielorientierungen mit negativen Effekten in Form geringerer intrinsischer Motivation und schlechterer Leistungen assoziiert. Skaalvik (1997) wies einen Zusammenhang zwischen Vermeidungs-Leistungszielorientierung und erhöhter Prüfungsangst, geringerem mathematischen Fähigkeitsselbstkonzept und schlechteren Mathematikleistungen nach; Annäherungs-Leistungszielorientierung hingegen war mit höherer intrinsischer Motivation, höherem mathematischen Fähigkeitsselbstkonzept und besseren Mathematikleistungen verknüpft. Vor allem mit objektiven Leistungsmaßen scheinen Annäherungs-Leistungsziele die engsten Zusammenhänge aufzuweisen. So sind z. B. verbesserte Examensleistungen oder verbesserte Leistungen in Mathematikprüfungen von Schüler/innen mit Annäherungs-Leistungszielen, nicht aber mit AnnäherungsLernzielen in Zusammenhang gebracht worden (Elliot & McGregor 2001). Allerdings konnte in einer anderen Studie ein positiver Zusammenhang zwischen Semesterabschlussnoten und Annäherungs-Lernzielen beobachtet werden, während kein Zusammenhang mit Annäherungs-Leistungszielen bestand (Finney, Pieper & Barron 2004). Im Gegensatz dazu gelten sowohl Vermeidungs-Lernziele als auch Vermeidungs-Leistungsziele als negative Prädiktoren objektiver Leistung. Für beide Zielarten sind z. B. Zusammenhänge mit schlechteren Leistungen in bewerteten Mathematikaufgaben (Cury et al. 2006) berichtet worden. Vermeidungs-Leistungsziele waren auch verbunden mit schlechten Werten in verschiedenen Prüfungsteilen eines Psychologiekurses (Elliot & McGregor, 2001) oder schlechten Semesterabschlussnoten (Finney et al. 2004).
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Neben dem Zusammenhang mit der Leistung, ist auch der Zusammenhang zwischen Zielorientierungen und Lernstrategien untersucht worden. Meece, Blumenfeld und Hoyle (1988) fanden in einer Studie mit Schüler/innen der 5. und 6. Klasse für Lernzielorientierungen einen positiven Zusammenhang mit Lernstrategien, die auf Tiefenverständnis abzielen und einen negativen Zusammenhang mit Lernstrategien, die auf oberflächliches Verständnis abzielen. Leistungszielorientierungen waren in dieser Untersuchung mit beiden Strategien positiv assoziiert. Differenziertere Untersuchungen weisen darauf hin, dass Annäherungs-Lernziele zu einer tiefen Verarbeitung des zu lernenden Materials führen, während Annäherungs-Leistungsziele und Vermeidungs-Leistungsziele zu oberflächlicher Verarbeitung führen (Elliot & McGregor 2001). Darüber hinaus sind Vermeidungs-Lernziele und Vermeidungs-Leistungsziele mit der Unfähigkeit des Lerners verbunden, ein organisiertes und strukturiertes Vorgehen beim Lernen zu etablieren (Elliot & McGregor 2001). Zielorientierungen werden auch zur Erklärung von Unterschieden bei der Inanspruchnahme von Hilfe heran gezogen (Karabenick 2003). Personen mit Annäherungs-Lernzielorientierung nahmen in entsprechenden Untersuchungen nur soviel Hilfe in Anspruch, wie zur Lösung einer Aufgabe nötig war und förderten damit den eigenen Lernprozess. Alle anderen drei Zielorientierungen führten eher dazu, dass die Probanden soviel Hilfe wie möglich in Anspruch nahmen oder Hilfe gänzlich vermieden, was einen effektiven Lernprozess verhindert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass insbesondere eine Annäherungslernzielorientierung intrinsische Motivation, Persistenz in der Aufgabenbearbeitung, Involviertheit, ein positives Fähigkeitsselbstkonzept sowie auf Tiefenverarbeitung abzielende Lernstrategien begünstigt, was sich wiederum positiv auf die Leistung auswirkt. Umgekehrt steht insbesondere eine Vermeidungsleistungszielorientierung in negativer Beziehung zu Leistungen und ihren Vermittlungsbedingungen und begünstigt Prüfungsängstlichkeit.
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Glaube an eine gerechte Welt
Schüler/innen fühlen sich häufig von ihren Lehrer/innen ungerecht behandelt und ärgern sich darüber. Daher gehört für Schüler/innen Gerechtigkeit zu den zentralen Eigenschaften, die sie sich von einem Lehrer wünschen (Hofer, Pekrun, & Zielinski 1986). Umgekehrt ist es nahezu allen Lehrer/innen wichtig, sich gerecht zu verhalten (Kanders 2000). Warum Menschen Gerechtigkeit so wichtig ist, erhellt die Gerechte-Welt-Forschung (z. B. Lerner 1980; zum Überblick. Furnham 2003). Die Gerechte-Welt-Hypothese besagt, dass Menschen das Be-
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dürfnis haben, an eine gerechte Welt zu glauben, in der jeder bekommt, was ihm zusteht, und jedem zusteht, was er bekommt. Diese Überzeugung ermöglicht es den Menschen, ihre Umgebung so zu behandeln, als sei sie geordnet und gerecht, und erfüllt damit wichtige adaptive Funktionen. Weil Ungerechtigkeiten diese Überzeugung bedrohen, sind Menschen motiviert diese zu beseitigen (Lerner & Miller 1978). Aufbauend auf dieser Gerechte-Welt-Hypothese wurde die Gerechtigkeitsmotivtheorie entwickelt (Dalbert 2001), die den Glauben an eine gerechte Welt (GWG) als Indikator eines inter-individuell variierenden impliziten Gerechtigkeitsmotivs versteht, also eines Strebens nach Gerechtigkeit, welches außerhalb des subjektiven Bewusstseins operiert, und von einem selbstattribuierten Gerechtigkeitsmotiv zu unterscheiden ist, welches das motivationale Selbstbild zum Ausdruck bringt. Ein solches implizites Gerechtigkeitsmotiv erklärt intuitive gerechtigkeitsthematische Reaktionen, die in unterschiedlicher Gestalt im schulischen Kontext bedeutsam sind.
2.1 Entwicklung und schulische Sozialisationsbedingungen Bis zum Alter von etwa sieben Jahren glauben Kinder typischerweise an immanente Gerechtigkeit und daran, dass Verfehlungen automatisch bestraft werden (Piaget 1932/1990). Mit zunehmender kognitiver Entwicklung lernen Kinder, zufällige Ereignisse zu erkennen, und verwerfen in der Folge ihren kindlichen Glauben an immanente Gerechtigkeit. Sie bemerken jedoch, dass ein zufälliges Schicksal ungerecht ist und rechtfertigen dieses Schicksal, wenn sie die Möglichkeit dazu haben (z. B. Jose 1990). Kinder entwickeln also einen GWG, der als eine reifere Variante ihres Glaubens an immanente Gerechtigkeit interpretiert werden kann, da er von der kognitiven Fähigkeit begleitet ist, Kausalität und Zufall zu identifizieren. Im Jugendalter erfolgt eine Differenzierung in den Glauben an eine persönliche gerechte Welt, in der einem selbst im Allgemeinen Gerechtigkeit widerfährt, und in den Glauben an eine allgemeine gerechte Welt, in der den Menschen insgesamt im Großen und Ganzen Gerechtigkeit widerfährt (Dalbert 1999; Lipkus, Dalbert & Siegler 1996). Zur Erklärung schulischer Prozesse erwies sich der persönliche GWG als bedeutsamer (Dalbert 2004). Die Stärke beider Überzeugungen nimmt während der Jugendzeit und dem jungen Erwachsenenalter etwas ab. Beide Entwicklungsprozesse, Abnahme und Differenzierung, können als Folge der kognitiven Entwicklung interpretiert werden. Menschen unterscheiden sich in der Stärke ihres persönlichen GWG und hierzu scheinen emotionale Erfahrungen in der Familie beizutragen. Eine Familie mit einem harmonischen Familienklima sowie wenig Konflikten und elterlicher
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Manipulation scheint die Entwicklung des Glaubens an eine persönliche gerechte Welt zu begünstigen (Dalbert & Radant 2004). Regelorientierung in der Familie scheint hierfür weniger bedeutsam zu sein. Diese Befundlage spricht dafür, dass der persönliche GWG eher durch das erlebte familiale Vertrauen und weniger durch das Lernen sozialer Regeln begünstigt wird. Im weiteren Verlauf der Entwicklung übernehmen Gerechtigkeitserfahrungen in unterschiedlichen Lebenskontexten eine modifizierende Funktion. So tragen im Jugendalter Gerechtigkeitserfahrungen in Schule und Familie zu einer Bekräftigung des persönlichen GWG bei (Dalbert & Stöber 2006). Lang anhaltende oder wiederholte Ungerechtigkeitserfahrungen können umgekehrt den persönlichen GWG gefährden (Cubela Adoric 2004; Dzuka & Dalbert 2002).
2.2 Schulische Funktionen Dem persönlichen GWG kommen eine Assmiliations-, eine Motivations- und eine Vertrauensfunktion zu (Dalbert 2001). Der GWG stellt einen Bezugsrahmen zur Verfügung, der es ermöglicht, persönliche Erfahrungen sinnvoll zu interpretieren. Wenn Menschen mit einem ausgeprägten GWG Ungerechtigkeiten erfahren oder beobachten, versuchen sie in der Regel, Gerechtigkeit wieder herzustellen. Wenn sie jedoch keine Möglichkeit sehen, dies in der Realität zu tun, dann versuchen sie die Ungerechtigkeit zu assimilieren, indem sie z. B. die Ungerechtigkeit als teilweise selbstverschuldet interpretieren oder ihr Ausmaß herunterspielen (z. B. Hafer & Correy 1999). So beurteilen auch Schüler/innen das Verhalten ihrer Lehrer/innen ihnen gegenüber als umso gerechter, je stärker ihr persönlicher GWG ist (Dalbert & Stöber 2005, 2006). Der GWG begünstigt also mittels Assimilation subjektive Gerechtigkeitserfahrungen, die ihrerseits wieder den GWG verstärken. Das Gefühl gerecht behandelt zu werden, vermittelt den Eindruck, ein wertvolles Mitglied einer sozialen Gruppe zu sein (Lind & Tyler 1988) und dieses Gefühl der subjektiven sozialen Inklusion (Bude & Lantermann 2006) bekräftigt und vermittelt die beiden weiteren Funktionen des GWG. Erfahren Schüler/innen Gerechtigkeit durch ihre Lehrer/innen, vermittelt ihnen dies das Gefühl, zur Schulgemeinschaft zu gehören. Je ausgeprägter der persönliche GWG ist, desto stärker sind Menschen motiviert, sich gerecht zu verhalten, um so die gerechte Welt und damit ihre eigene Aussicht auf eine gerechte Zukunft aufrecht zu erhalten. Insofern indiziert der GWG ein unbewusst funktionierendes Gerechtigkeitsmotiv, und die Verpflichtung zu eigener Gerechtigkeit gilt verstärkt in der eigenen Gemeinschaft (Correia, Vala & Aguiar 2007). Der GWG begünstigt positives Sozialverhalten (Bierhoff 1994; Bierhoff, Klein & Kramp 1991) und die Verpflichtung, Ziele nur
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mit fairen Mitteln zu erreichen (Hafer 2000). Dies gilt auch für Schüler/innen. Ein ausgeprägter persönlicher GWG von Schüler/innen geht mit einer geringeren Neigung zum Bullying, zu deviantem Verhalten oder Mogeln in Leistungssituationen einher (Correia & Dalbert 2006; Dalbert & Dzuka 2006; Dalbert & Donat 2006), und diese Beziehung wird in der Regel durch schulisches Gerechtigkeitserleben vermittelt. Es darf angenommen werden, dass ein solches Reaktionsmuster auch positive Effekte auf die schulische Leistungsbilanz aufweist. Der GWG stattet Menschen mit dem Vertrauen auf eine gerechte Zukunft und auf eine gerechte Behandlung durch andere aus (Furnham 1995; Zuckerman & Gerbasi 1977). Menschen mit einem ausgeprägten GWG investieren daher eher in die Zukunft. So ging bei Realschüler/innen ein ausgeprägter GWG mit der Zuversicht einher, die wichtigsten beruflichen und privaten Ziele zu erreichen (Dette, Stöber, & Dalbert 2004). Tomaka und Blascovich (2004) zeigten im Labor, dass ein ausgeprägter GWG Leistungsverhalten begünstigt, da er das Vertrauen bestärkt, nur mit fairen Leistungsanforderungen konfrontiert zu werden und mit der eigenen Anstrengung ein gerechtes Ergebnis zu erreichen. Vergleichbares lässt sich für die Schulleistung zeigen. Schüler/innen, die sich von ihren Lehrer/innen gerecht behandelt fühlten, konnten sich in ihren Zeugnisnoten verbessern, und dieses schulische Gerechtigkeitserleben wurde vom GWG beeinflusst (Dalbert & Stöber 2006). Der GWG scheint auch deshalb die schulische Leistung zu begünstigen, weil er mit internaler Attribution von Leistungsergebnissen auf die eigenen Anstrengungen und Lernstrategien, ausgeprägter Leistungsmotivation und schulischer Selbstwirksamkeitserwartung einhergeht (Dalbert 2004; Dalbert & Maes 2002). Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass der Glaube an eine gerechte Welt die schulische Leistung fördert, indem er das Gefühl gerechter Behandlung durch die Lehrer/innen, regelorientiertes Verhalten, Vertrauen in die Zielereichung sowie internale Attribution von Leistungsergebnissen begünstigt.
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Fähigkeitsselbstkonzept
Vorstellungen des Menschen über sich selbst werden in ihrer Gesamtheit als Selbstkonzept bezeichnet. Dieses ist hierarchisch (Cantor 1990) und differentiell (Helmke 1998) organisiert. Für den hier interessierenden schulischen Bereich können drei Spezifitätsebenen unterschieden werden. Der Selbstwert beschreibt die Gesamtheit der auf das Individuum bezogenen Gedanken und Gefühle und wird mit globalen Selbstwertskalen wie der von Rosenberg (1965) oder Deusinger (1986) gemessen, die Aussagen enthalten wie z. B. „Ich bin zufrieden mit mir“. Für den schulischen Bereich ist auf mittlerer Spezifitätsebene das schuli-
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sche Fähigkeitsselbstkonzept angesiedelt und wird mit Aussagen wie beispielsweise „Ich bin ein guter Schüler“ (z. B. Pekrun 1983) erfasst. Noch spezifischer sind schulfach- oder domainenspezifische Fähigkeitsselbstkonzepte wie das Mathematik- oder Deutsch-Selbstkonzept mit Aussagen wie „Ich bin gut in Mathematik“. Im schulischen Kontext werden vor allem schulfachspezifische Fähigkeitsselbstkonzepte, insbesondere das Mathematik- und Deutsch-Selbstkonzept (z. B. Helmke 1998; Marsh 1990), untersucht und deren Wechselbeziehung zur schulischen Leistung beleuchtet. Häufig vergleichen sich Menschen mit anderen (Festinger 1954), um zu prüfen, ob sie auf einer bestimmten Dimension besser oder schlechter sind als andere. Manche Messungen machen sich diesen komparativen Aspekt des Selbstkonzeptes zu nutze und fragen direkt danach („Verglichen mit anderen meines Alters bin ich gut in [Schulfach]“; Marsh & Yeung 1997). Oder Helmke (1998) lässt Kindergarten- und Grundschulkinder mittels Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figürchen ihre Position bezüglich ihres schulfachspezifischen Fähigkeitsselbstkonzeptes in einer Rangreihe sehr kompetenter bis überhaupt nicht kompetenter Mitschüler/innen bestimmen. Orthogonal zu den Spezifitäts-Dimensionen lassen sich affektive Selbstbeschreibungen (z. B. „Ich mag [Schulfach]“) und von evaluativ-vergleichenden Aussagen (z. B. „Ich bin gut in [Schulfach]“) unterscheiden, wobei sich affektive Aussagen gehäuft in allgemeinen Selbstwertskalen finden, und evaluativ-vergleichende Aussagen eher zur Messung spezifischer Dimensionen herangezogen werden. Der affektive Anteil des schulfachspezifischen Selbstkonzeptes kann auch als Interesse bezeichnet werden. Das Selbstkonzept ist also hierarchisch vom allgemeinen Selbstwert über das schulspezifische Fähigkeitsselbstkonzept bis hin zu den schulfachspezifischen Fähigkeitsselbstkonzepten organisiert und umfasst auf den schul(fach)spezifischen Ebenen sowohl eine affektive (Interesse) als auch eine evaluative Dimension. Nur die evaluative Dimension charakterisiert das Fähigkeitsselbstkonzept im engeren Sinne.
3.1 Entwicklung und schulische Sozialisationsbedingungen Das schulfachspezifische Fähigkeitsselbstkonzept wurde von Helmke (1991, 1998) in einem umfangreichen Längsschnitt mittels der Figürchen-Methode erhoben. So konnte der Entwicklungsverlauf des Mathematik- und des DeutschSelbstkonzeptes vom Kindergarten bis zur 6. Klasse verfolgt werden. Beide Dimensionen nahmen, verglichen mit der Zeit kurz vor Schuleintritt, nach dem Schuleintritt zu und sanken dann langsam ab, verblieben im Mittel aber auch in der 6. Klasse noch im positiven Bereich. D. h. auch die meisten Sechstklässler gaben an, etwas besser als der Durchschnitt der Klasse lesen bzw. rechnen zu
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können. Der Umstand, dass die Mehrzahl der Kinder in allen Klassenstufen angab, überdurchschnittlich gut lesen bzw. rechnen zu können, legt den Schluss nahe, dass das Fähigkeitsselbstkonzept auch auf ein optimistisches Fehlurteil zurückgeht (Taylor 1989) Allerdings weist Helmke (1991) nicht zu Unrecht darauf hin, dass auch die Schulnoten eine Häufung im positiven Bereich aufweisen. Zur Veränderung des Fähigkeitselbstkonzeptes tragen insgesamt vier Prozesse bei. Die fortschreitende kognitive Entwicklung ermöglicht den Kindern zunehmend komplexere Vergleichprozesse (Nichcolls 1978). Einfache Kognitionen über die eigene Tüchtigkeit (das Kind bemerkt, dass es etwas geschafft oder nicht geschafft hat) werden im Vorschulalter von ipsativen Fähigkeitskognitionen (das Kind bemerkt, dass es etwas schafft, was es früher nicht geschafft hat) abgelöst, die eine Differenzierung zwischen Anstrengung und Fähigkeit erlauben. Erst im Schulalter tritt die Fähigkeit zu sozialen Vergleichprozessen hinzu, die eine Entwicklung des schulischen Selbstkonzeptes im engeren Sinne ermöglicht. Als zweiter Prozess ist hier die zunehmende Veridikalisierung des Fähigkeitsselbstkonzeptes zu nennen. Im Verlauf der Grundschulzeit (Helmke 1991; Wigfield et al. 1997) nimmt die Übereinstimmung (Korrelation) zwischen Schulnoten und Fähigkeitsselbstkonzept zu. Dies ist auf die zunehmende Fähigkeit der Kinder zurückzuführen, Konsequenzen aus Leistungsrückmeldung und sozialen Vergleichsprozessen (siehe unten) zu ziehen. Als dritter Prozess sind die sozialen Vergleiche zu nennen. Kinder vergleichen ihre eigenen Leistungen mit den Leistungen der anderen Kinder in der eigenen Klasse. Erst mit Beginn des Jugendalters sind auch Vergleiche mit abstrakten Anderen zu beobachten. Da Kinder beim Übertritt von der Grundschule in die Sekundarschule die Vergleichsgruppe wechseln, sollte sich auch ihr Fähigkeitsselbstkonzept verändern. So zeigt sich, dass das Fähigkeitsselbstkonzept wie auch der Selbstwert zukünftiger Hauptschüler in der Grundschule schwächer ausgeprägt ist als das zukünftiger Gymnasiasten. Mit dem Schulwechsel ändert sich jedoch die Vergleichsgruppe und damit gleichen sich Fähigkeitsselbstkonzept und Selbstwert der Schüler/innen beider Schulformen im Mittel aneinander an (Helmke 1998; Schwarzer & Jerusalem 1982). Eine weitere Vergleichsmöglichkeit bieten schließlich die Leistungsvergleiche über verschiedene Schulfächer hinweg. Marsh (1986) fasst beide Vergleichsmöglichkeiten im Internal/External Frame of Reference Model zusammen. Köller, Klemmert, Möller und Baumert (1999) zeigten, dass auch diese intraindividuelle Vergleichsmöglichkeit zur Selbstkonzeptregulation genutzt wird, und dies galt für alle Schulformen. Erhält z. B. ein Schüler eine gute Note in Mathematik, trägt dies zu einer Verschlechterung seines Deutsch-Selbstkonzeptes bei, oder eine schlechte Note in Deutsch trägt zu einer Verbesserung des Mathematik-Selbstkonzeptes bei. Die Schüler/in-
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nen benutzen also die intraindividuellen Vergleichsmöglichkeiten, um ihr Fähigkeitsselbstkonzept zu differenzieren. Diese Entwicklungsbeschreibungen belegen, dass die Sozialisationsinstanz Schule Auswirkungen auf die Selbstkonzeptentwicklung der Schülerinnen und Schüler hat. (a) Der Schuleintritt führt zunächst zu einem Anstieg des Fähigkeitsselbstkonzeptes, da es in der ersten Klasse eher um die Einübung von Verhaltensregeln geht und weniger um individuelle Leistungsrückmeldung. (b) Der in der Folgezeit zu beobachtende Abfall des Fähigkeitsselbstkonzeptes bei gleichzeitiger Zunahme der Veridikalität dürfte neben den zunehmenden kognitiven Fähigkeiten der Kinder auch auf ein verändertes Lehrer/innenverhalten zurückzuführen sein. So werden von den Lehrer/innen spätestens mit Einführung der Noten in der 3. Klasse sowie den beginnenden Selektionsbemühungen zur Begründung der Schulwahl bei Übertritt in die Sekundarstufe verstärkt leistungsthematische soziale Vergleichsprozesse thematisiert, die zu einem Absinken des Fähigkeitsselbstkonzeptes beitragen können. Diese Überlegung steht auch mit der Beobachtung in Einklang, dass die Bedeutung der Lehrereinschätzungen für das schulspezifische Fähigkeitsselbstkonzept im Verlauf der Grundschulzeit eher zu und die Bedeutung der elterlichen Fähigkeitseinschätzungen eher abnimmt (Spinath & Spinath 2005). (c) Durch den Übergang zur Sekundarstufe kommt es zu einem Wechsel der sozialen Vergleichsgruppe, in deren Folge eine Annäherung sowohl des allgemeinen Selbstwerts als auch der schulfachspezifischen Selbstkonzepte zwischen Schüler/innen verschiedener Sekundarschulen zu beobachten ist. (d) Welches Lehrer/innenverhalten darüber hinaus das schulische Fähigkeitsselbstkonzept stärkt, ist bislang wenig untersucht. Mit Unterstützung zur Selbstständigkeit, Interesse an den Schülern und der Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung scheinen Lehrer/innen zur Stärkung des Fähigkeitsselbstkonzeptes ihrer Schüler beitragen zu können (Guay, Boggiano & Vallerand 2001; Jerusalem & Schwarzer 1991).
3.2 Schulische Funktionen Hier geht es vor allem um die Frage, ob das Fähigkeitsselbstkonzept die Leistung beeinflusst, also eine motivationale Funktion hat. Das kausale Verhältnis zwischen Fähigkeitsselbstkonzept und Leistung wird durchaus kontrovers diskutiert. Als unstrittig gilt die Annahme, dass das das Fähigkeitselbstkonzept im Jugendalter einen positiven Effekt auf die Schulleistung hat (Marsh 1990). Weniger klar ist, ob es diesen motivational zu deutenden Effekt bereits im Grundschulalter gibt oder ob im Grundschulalter lediglich die Verdikalisierung, also der Effekt von der Leistung auf das Selbstkonzept bedeutsam ist (Helmke 1998). Neueste
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Untersuchungen unterstützen die Annahme, dass bereits im Grundschulalter ein positiver Effekt des Selbstkonzeptes auf die Schulleistung zu beobachten ist (Guay, Marsh & Boivin 2003).
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Selbstwirksamkeitserwartungen
Selbstwirksamkeitserwartungen (Bandura 1977) gehören – neben den durch die Arbeiten von Rotter (1966) prominent gewordenen allgemeinem Kontrollüberzeugungen – zu den Kontrollerwartungen, die die Erreichung eines bestimmten Zielzustandes oder allgemein den Eintritt bestimmter Ereignisse unter dem Einfluss einer bestimmten Kontrollinstanz sehen. Bandura (1977) unterscheidet zwei Erwartungen: Die Handlungs-Ergebniserwartung beschreibt die Erwartung, dass eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Ergebnis führt („Tägliches Vokabellernen trägt zu einer guten Englischnote bei“). Von dieser Erwartung ist die Selbstwirksamkeitserwartung zu unterscheiden, die die Überzeugung enthält, eine bestimmte Handlung auch ausführen zu können („Ich bin in der Lage, täglich 20 Vokabeln zu lernen“). Selbstwirksamkeitserwartungen beziehen sich immer auf bestimmte Handlungen und sind von daher vermutlich realistischer als allgemeine Kontrollüberzeugungen. Schwarzer (1993) bezeichnet die Selbstwirksamkeitserwartungen auch als funktionalen Optimismus. Selbstwirksamkeitserwartungen sagen Zielsetzungen, Handlungen, Durchhaltevermögen und Rückfallkontrolle vorher (Bandura 1993). Entscheidend für die Erklärung der Schulleistungen sind solche auf bestimmte Handlungen bezogenen Selbstwirksamkeitserwartungen. Innerhalb der Selbstwirksamkeitserwartungen können unterschiedlich Spezifitätsebenen differenziert werden. So gibt es die schulische Selbstwirksamkeitserwartung (z. B. Bandura, Barbaranelli, Caprara & Pastorelli 1996; Jerusalem & Satow 1999); konkreter ist die schulfachspezifische Selbstwirksamkeitserwartung (z. B. Zimmerman & Martinez-Pons 1990); am spezifischsten sind schließlich solche Untersuchungsansätze, die Schüler/innen eine bestimmte Aufgabe vorlegen und sie dann direkt vor der Aufgabenbearbeitung nach ihrer Erwartung fragen, diese Aufgabe erfolgreich bearbeiten zu können (AufgabenSelbstwirksamkeitserwartung; z. B. Pajares & Miller 1994). Am häufigsten wurde im schulischen Kontext die Bedeutung der schulischen Selbstwirksamkeitserwartung untersucht. Selbstwirksamkeitserwartungen beinhalten die auf die Zukunft gerichtete Erwartung, dass die Person selbst eine bestimmte Handlung erfolgreich ausführen kann („Ich bin in der Lage…“). Im Unterschied dazu beschreibt das Fähigkeitsselbstkonzept (siehe oben) die Bewertung des Ergebnisses („Ich bin gut
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in…“). Hinzu kommt, dass sich das schulische Selbstkonzept durch den sozialen Vergleich speist, hingegen ist die Bewertung der schulischen Selbstwirksamkeit („Ich kann eine Gleichung mit einer Unbekannten lösen“) unabhängig von sozialen Vergleichsprozessen. Schließlich lassen sich für beide Konstrukte unterschiedliche Entwicklungsverläufe nachzeichnen. Das Fähigkeitsselbstkonzept nimmt im Laufe der Schulzeit ab, die schulische Selbstwirksamkeitserwartung nimmt im Laufe der Schulzeit zu (siehe unten). All dies spricht dafür, beide Konstrukte getrennt zu behandeln. Andererseits handelt es sich in beiden Fällen um Selbstschemata, also um Vorstellungen des Menschen über sich selbst. Es verwundert daher, dass es kaum Untersuchungen gibt (z. B. Pajares & Miller 1994), die beide Konstrukte vergleichend betrachten.
4.1 Entwicklung und schulische Sozialisationsbedingungen Wie von Piaget (z. B. 1932/1990) postuliert, nimmt das die Geordnetheit des Universums überschätzende Denken im Verlauf der Kindheit ab. Dies spiegelt sich in der generellen Abnahme aller Kontrollüberzeugungen wider; allerdings entwickeln ältere im Vergleich zu jüngeren Kindern zunehmend die Überzeugung, dass sie selbst mehr Einfluss auf ihre Zukunft haben als der Zufall oder mächtige Andere (Skinner & Chapman 1987). In Übereinstimmung mit dem Anstieg dieser relativen Internalität steht die Beobachtung eines Anstiegs der schulischen Selbstwirksamkeitserwartung über die Schulzeit (vgl. Shell, Colvin & Bruning 1995; Zimmerman & Martinez-Pons 1990). Verschiedene Studien belegen den Zusammenhang zwischen Wissen oder Begabung auf der einen und Selbstwirksamkeitserwartungen auf der anderen Seite (Veridikalität). Verbale und mathematische Selbstwirksamkeitserwartungen waren bei hochbegabten Kindern signifikant stärker ausgeprägt als bei Gleichaltrigen der Regelschule (Zimmerman & Martinez-Pons 1990) bzw. bei leistungsstärkeren Schülern stärker als bei leistungsschwächeren (vgl. Shell et al. 1995). Diese Befunde unterstreichen insgesamt den Realitätsgehalt von Selbstwirksamkeitserwartungen. Selbstwirksamkeitserwartungen können laut Bandura (1977) auf mindestens drei Wegen erworben werden. Eigene Erfolgserfahrungen werden als der zentrale Weg angesehen, um Selbstwirksamkeitserwartungen aufzubauen. Wenn ein Schüler ein Lernziel erfolgreich erreicht hat, dann sollte er in der Folge die Selbstwirksamkeitserwartung aufbauen, zukünftig vergleichbare Ziele erreichen zu können. Allerdings fanden Satow und Schwarzer (2000) keinen Effekt von den Schulnoten auf die nachfolgenden Selbstwirksamkeitserwartungen. Dieser Befund macht darauf aufmerksam, dass es vermutlich nicht das reine Leistungs-
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ergebnis ist, welches zur Bildung schulischer Selbstwirksamkeitserwartungen beiträgt. Vielmehr muss zum schulischen Erfolg die internale Attribution kommen. Nur schulische Erfolge, die auf eigene Fähigkeiten oder Anstrengungen zurückgeführt werden, können zum Aufbau schulischer Selbstwirksamkeitserwartungen beitragen. Durch Andere herbeigeführte sowie zufällig erzielte positive Leistungsergebnisse können dies nicht. Auch stellvertretende Erfahrungen können zur Entwicklung von Selbstwirksamkeitserwartungen beitragen, dies insbesondere dann, wenn die beobachteten Modelle den Akteuren ähnlich sind und wenn diese Modelle Anfangsschwierigkeiten erfolgreich meistern konnten. Schließlich kann auch die Überredung („Du kannst es“) durch Dritte zur Entwicklung von Selbstwirksamkeitserwartungen beitragen. Allerdings ist die Entwicklung der Selbstwirksamkeitserwartungen vermutlich weniger stabil, wenn sie nur auf Beobachtung oder Überredung fußt. Ihre primäre Bedeutung für die Entwicklung der Selbstwirksamkeitserwartung bekommen die Beobachtung von Mitschüler/innen und die Überredung durch Dritte, indem sie mit zur initialen Handlungsausführung beitragen können. Sind die Ziele dann so gewählt, dass sie tatsächlich erreicht werden können, und wird anschließend die Zielerreichung auf eigene Fähigkeiten und Anstrengungen zurückgeführt, dann wird die Entwicklung einer stabilen schulischen Selbstwirksamkeitserwartung gefördert. Insgesamt lässt sich feststellen, dass schulische Selbstwirksamkeitserwartungen im Laufe der Schulzeit ansteigen und über ein gewisses Ausmaß an Veridikalität verfügen. Zwei Bedingungen können zur Entwicklung positiver schulischer Selbstwirksamkeitserwartungen beitragen. Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, Ziele zu erreichen. Hierzu können eine geschickte Zielwahl, Überredung und Modelllernen beitragen. Darüber hinaus müssen die Schüler ihre Zielerreichungen internal attribuieren. Ein Lehrerverhalten, was die Autonomie der Schüler/innen durch Offenheit und Engagement unterstützt und internale Leistungszuschreibungen durch intraindividuell orientierte Rückmeldungen begünstigt (Krampen 1994), scheint die Entwicklung positiver Selbstwirksamkeitserwartungen ebenso zu fördern wie mütterliches Engagement hinsichtlich der Bildungsbemühungen ihrer Kinder (Bandura et al. 1996).
4.2 Schulische Funktionen Längsschnittstudien belegen, dass internale Kontrollüberzeugungen (Krampen 1994; Little, Oettingen, Stetsenko & Baltes 1995) und schulische Selbstwirksamkeitserwartungen (Satow & Schwarzer 2000) zu positiven Leistungsveränderungen beitragen. In einer Querschnittsstudie an Studierenden konnten Pajares und Miller (1994) darüber hinaus zeigen, dass die Mathematik-Selbstwirksam-
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keitserwartung zur Erklärung der Mathematikleistung wesentlich wichtiger war als das Mathematik-Selbstkonzept oder das Mathematik-Wissen. Schließlich zeigt eine Untersuchung von Zimmerman und Martinez-Pons (1990), dass die schulfachspezifischen Selbstwirksamkeitserwartungen mit günstigen selbstregulierten Lernstrategien einhergehen. Auch scheinen sich solche Schüler/innen stärker am Unterricht, zu beteiligen, was zusätzlich zu einer guten Schulleistung beitragen kann (Skinner, Wellborn & Connell 1990).
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Ungewissheitstoleranz
Viele Lernsituationen, denen sich Schüler/innen stellen müssen, können als besonders ungewiss charakterisiert werden. Ungewissheit entsteht beispielsweise, wenn Lernsituationen neue Elemente enthalten oder wenig strukturiert sind, wenn zu wenige oder mehrdeutige Instruktionen gegeben werden, die Aufgabenstellungen besonders komplex sind oder ungewohnte Lösungsansätze erfordern. Bei besonders anspruchsvollen Aufgaben ist es ungewiss, ob die richtige Lösung ermittelt werden kann und bei Gruppenaufgaben ist es ungewiss, wie sich die anderen Schüler/innen verhalten oder wie sie auf die eigenen Beiträge reagieren werden. Solche Situationen werden von ungewissheitstoleranten Schüler/innen als Herausforderung, von ungewissheitsintoleranten Schüler/innen hingegen als Bedrohung bewertet (Dalbert 1999). Dementsprechend unterscheiden sich ungewissheitstolerante und ungewissheitsintolerante Schüler/innen im Umgang mit Ungewissheit. Während ungewissheitstolerante Schüler/innen ungewisse Situationen aufsuchen und sich in ihnen wohl fühlen, versuchen ungewissheitsintolerante Schüler/innen diese Situationen zu vermeiden oder möglichst schnell zu beenden. Die Ungewissheitstoleranz hat mit der Ambiguitätstoleranz (FrenkelBrunswik 1949) so viele Gemeinsamkeiten, dass die Begriffe zumeist synonym verwendet werden (z. B. Dalbert 1999; Stark, Gruber, Renkl & Mandl 1997). Auch Konstrukte wie Abwechslungpräferenz, Bedürfnis nach Geschlossenheit oder das persönliche Bedürfnis nach Struktur haben mit der Ungewissheitstoleranz viel gemein. Aufgrund der Ähnlichkeiten lassen sich diese Konstrukte unter dem Oberbegriff Komplexitätstoleranz zusammenfassen (Radant & Dalbert 2006). Zur Messung der Ungewissheitstoleranz steht im deutschsprachigen Raum die Ungewissheitstoleranzskala von Dalbert (1999) zur Verfügung.
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5.1 Entwicklung und schulische Sozialisationsbedingungen Zur Entwicklung der Ungewissheitstoleranz liegen nur wenige Studien vor. Die Untersuchungen von Goch (1998) weisen darauf hin, dass die Ungewissheitstoleranz durch die wahrgenommene elterliche Erziehung beeinflusst wird. Sie fand in einer Studie Hinweise darauf, dass Konformität als Erziehungsziel oder eine an Regeln orientierte Erziehung negativ mit der Ungewissheitstoleranz der Kinder assoziiert war, eine Erziehung zur Selbstständigkeit hingegen positiv. In einer zweiten Studie fand sie positive Zusammenhänge zwischen der Ungewissheitstoleranz von Kindern und inkonsistentem Erziehungsverhalten der Eltern, familiärer Konfliktneigung und der mütterlichen Ungewissheitstoleranz. Eine Replikation dieser Befunde oder weiterführende Untersuchungen stehen noch aus.
5.2 Schulische Funktionen Die Auswirkungen der Ungewissheitstoleranz auf die schulische Leistung sind besonders im Rahmen der Aptitude-Treatment-Interaction Forschung (Weinert 1996) interessant. Diese Forschung geht der Frage nach, welche individuellen Lernvoraussetzungen von Schüler/innen bei der Anwendung verschiedener Lehrmethoden zu welchen Lernergebnissen führen. Definitionsgemäß sollte sich die Ungewissheitstoleranz der Schüler/innen insbesondere bei Lehrmethoden, die mit erhöhter Ungewissheit einhergehen, auf die Lernergebnisse auswirken. Ein Beispiel sind hier die Lehrmethoden, mit denen ein besserer Wissenstransfer, also eine erfolgreichere Anwendung des im Unterricht erworbenen Wissens auf relevante Problemstellungen außerhalb des Schulkontextes, erreicht werden soll. Dazu werden z. B. die Schüler/innen multiplen Lernkontexten ausgesetzt, was die Kontextgebundenheit erworbenen Wissens reduzieren und die Flexibilität der Wissensanwendung fördern soll. Wie Stark et al. (1997) zeigen konnten, profitierten Lernende mit höherer Ungewissheitstoleranz mehr von der Vorgabe multipler Lernkontexte als Lernende mit geringerer Ungewissheitstoleranz. Dieser Vorteil verschwand allerdings, wenn keine adäquaten Instruktionen gegeben wurden und die Lernsituation dadurch zu komplex war. Bei uniformen Lernkontexten hingegen führte eine hohe Ungewissheitstoleranz nur dann zu Vorteilen beim Erwerb flexibel anwendbaren Wissens, wenn die Ungewissheit erhöht wurde, indem keine Instruktionen gegeben wurden. Wurden die Schüler/innen in uniformen Lernkontexten ausführlicher instruiert, war die Ungewissheitstoleranz weniger relevant für den Lernerfolg.
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Eine weitere Methode zum Erwerb flexibel anwendbaren Wissens sieht den Einsatz situierter Lernbedingungen vor, die dem späteren Anwendungskontext möglichst ähnlich sein sollen. Auch dadurch wird die Ungewissheit im Vergleich zu traditionell-textbasierten Lernsituationen erhöht. Hartinger, Fölling-Albers und Mörtl-Hafizovi (2005) konnten zeigen, dass Personen mit hoher Ungewissheitstoleranz in einer situierten Lernbedingung mehr lernten als im traditionelltextbasierten Lernkontext. Darüber hinaus waren die Personen mit hoher Ungewissheitstoleranz in dieser Lernbedingung denen mit geringer Ungewissheitstoleranz überlegen. Bei Lernenden mit geringer Ungewissheitstoleranz zeigte sich ein umgekehrter Effekt: sie lernten in einer textbasierten Lernsituation mehr als in einer situierten Lernbedingung und schnitten in dieser auch besser ab als die mit hoher Ungewissheitstoleranz. Interessanterweise verschwanden diese Effekte, wenn die Schüler/innen wiederholt mit situativen Lernbedingungen konfrontiert wurden. Möglicherweise verlieren situative Lernbedingungen durch wiederholte Anwendung ihren ungewissen Charakter, so dass auch ungewissheitsintolerante Schüler/innen davon profitieren können. Bei wiederholter Anwendung des traditionell-textbasierten Lernkontexts hingegen war besonders bei den ungewissheitstoleranten Schüler/innen ein Absinken der Motivation zu beobachten. Nach Huber et al. (1992) und Huber (1996) ergeben sich in Abhängigkeit von der Ungewissheitstoleranz unterschiedliche Lernpräferenzen, die sich auch in Lernleistungsunterschieden bemerkbar machen. In entsprechenden Studien bevorzugten zwar alle Schüler kooperative Lernformen gegenüber kompetetiven Lernformen, jedoch war bei den ungewissheitstoleranten Personen die Präferenz für kooperatives Lernen stärker ausgeprägt als bei ungewissheitsintoleranten. Diese Ergebnisse konnten in Stichproben unterschiedlicher Bildungsniveaus (Hauptschule bis Universität) und verschiedener soziokultureller Umwelten (Deutschland, Kanada, Iran) repliziert werden. Darüber hinaus fühlten sich ungewissheitstolerante Schüler/innen in kooperativen Lernsituationen wohler und lernten mehr als im traditionellen Unterricht, wenn sie mit der Methode des Gruppenpuzzles unterrichtet wurden (Huber et al. 1992). Ungewissheitsintolerante Schüler/innen hingegen fühlten sich in der kooperativen Lernumgebung schlechter und schnitten auch schlechter ab als im traditionellen Unterricht. Eine aufwändige Studie von Schmidt (2000) weist in die gleiche Richtung. Sie stellte in ihrer Untersuchung Gruppen ungewissheitstoleranter und Gruppen ungewissheitsintoleranter Schüler/innen zusammen und zeichnete die gemeinsame Bearbeitung einer Aufgabe auf Video auf. Dabei konnte sie beobachten, dass die Gruppen ungewissheitstoleranter Schüler/innen mehr Ausdauer bei der Bearbeitung der Aufgabe zeigten, das in diesen Gruppen mehr Vorschläge eingebracht und mehr Fragen gestellt wurden und das Beiträge häufiger begründet
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wurden als in den Gruppen mit ungewissheitsintoleranten Schüler/innen. Darüber hinaus fühlten sich die ungewissheitstoleranten Schüler/innen bei der Bearbeitung der Gruppenaufgabe wohler als die ungewissheitsintoleranten. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass mit zunehmender Ungewissheitstoleranz der Schüler/innen deren Fähigkeit steigt, flexibel anwendbares Wissen zu erwerben und von kooperativen Lernformen zu profitieren. Für ungewissheitsintolerante Schüler/innen haben sich kooperative Lernformen, nicht jedoch unbedingt situierte Lernformen als ungünstig erwiesen. Traditionelle Unterrichtsmethoden hingegen sind für Personen mit hoher Ungewissheitstoleranz besonders ungeeignet.
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Ausblick
Wir haben die Forschung zu fünf für den Schulerfolg direkt und indirekt bedeutsamen Persönlichkeitskonstrukten unter zwei Aspekten zusammengefasst, ihre Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des schulischen Kontextes sowie ihre Bedeutung zur Erklärung des Schulerfolgs und seiner vermittelnden Bedingungen. Hierbei sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich geworden. Obwohl das Konstrukt der Ungewissheits- oder Ambiguitätstoleranz bereits 1949 (Frenkel-Brunswik 1949) eingeführt wurde, ist über dessen Entwicklung bisher nur sehr wenig bekannt. Über die anderen, hier betrachteten Persönlichkeitsmerkmale liegen hingegen mehr Erkenntnisse vor. Neben der kognitiven Entwicklung spielen die schulischen Erfahrungen für die Entwicklung eine bedeutsame Rolle. So tragen schulische Gerechtigkeitserfahrungen (GerechteWelt-Glaube), erfolgreiche Handlungserfahrungen (schulische Selbstwirksamkeitserwartungen) sowie die zunehmende Betonung leistungsthematischer sozialer Vergleiche (schulisches Selbstkonzept, Leistungszielorientierung) zur ihrer Entwicklung bei. Ebenso zeigen sich Unterschiede was die Erkenntnis der mediierenden Bedingungen betrifft. Alle untersuchten Persönlichkeitsmerkmale wirken sich positiv auf die Leistung aus, aber bezüglich der Bedingungen, die den Effekt des schulfachspezifischen Selbstkonzepts auf die schulische Leistung vermitteln, wissen wir nichts. Die Wirkung der Selbstwirksamkeitserwartungen sowie der Annäherungsleistungszielorientierung scheint auf die Wahl günstiger Lernstrategien zurückzugehen. Wahrscheinlich wirken Annäherungsleistungsziele darüber hinaus auch positiv auf die schulische Leistungsbilanz, weil sie Persistenz bei der Aufgabenbearbeitung und intrinsische Motivation fördern. Der Glaube an eine gerechte Welt stärkt vor allem die Zuversicht in die Zielerreichung, und hierüber scheinen die positiven Effekte auf die Schulleistung erklärbar zu sein.
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Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es kaum Untersuchungen die zwei oder mehr bedeutsame Persönlichkeitsmerkmale gemeinsam betrachten. Solche integrativen Untersuchungen sind aber notwendig, um ein Entwicklungsmodell zur Erklärung der Schülerpersönlichkeit sowie ein Kausalmodell zur Erklärung der Schulleistung aus Sicht der differentiellen Psychologie zu entwickeln.
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Personzentriertes Verhalten von Lehrern in Unterricht und Erziehung Reinhard Tausch
Wie verhalten sich Lehrer im Klassenraum, deren Schüler fachlich gut lernen, sich persönlich entwickeln und bei denen zwischen Lehrer und Schülern eine gute zwischenmenschliche Beziehung besteht? Dies ist eine bedeutsame Frage: Denn ein größerer Teil der Lehrer fühlt sich im Unterricht deutlich mit Unmut und Stress belastet und ist mit der Arbeit der Schüler und ihrer eigenen Unterrichtsarbeit wenig zufrieden. Sodann: Fast 50 % der Lehrer werden vor dem 60. Lebensjahr pensioniert, überwiegend aufgrund psychischer und psychiatrischer Symptome. – Ferner: Viele Schüler von Gymnasialklassen und Realschulklassen sind mit der zwischenmenschlichen sozialen Beziehung zu ihren Lehrern unzufrieden (z. Nieden 2004). Hierdurch wird das fachliche Lernen, die Freude an der Arbeit und die persönliche Entwicklung der Jugendlichen häufig deutlich beeinträchtigt. Zumal Lehrer mit häufigem Stressverhalten ein ungünstiges Wahrnehmungsmodell über Jahre hindurch für Jugendliche sind. Im Folgenden möchte ich das personzentrierte Lehrerverhalten darstellen; es ist eine empirisch begründete günstige Möglichkeit zur Förderung seelischer Vorgänge bei Kindern-Jugendlichen in der Schule.
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Was ist personzentriertes Verhalten? – Forschungen von Carl Rogers
Der amerikanische Psychologe-Psychotherapeut Carl Rogers bemühte sich intensiv, seelisch beeinträchtigten Menschen – Patienten, Eltern und Kindern – durch Gespräche zu helfen. Aufgrund von vielen Erfahrungen fand er in genialer Weise heraus: Drei charakteristische Haltungen-Verhaltensmerkmale eines BeratersPsychotherapeuten sind im Gespräch mit einem seelisch beeinträchtigten Menschen entscheidend förderlich: Achtung-Wertschätzung-Wärme, EinfühlungVerständnis sowie Aufrichtigkeit-Echtheit. In mehreren größeren empirischen Untersuchungen konnte er klar nachweisen (Rogers 1954; 1951): Wenn BeraterPsychotherapeuten ihren Klienten-Patienten gegenüber sehr achtungsvoll-warm, verständnisvoll sowie aufrichtig-echt handelten und wenn ihre Patienten sie in
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dieser Weise wahrnehmen, dann traten bei den Klienten-Patienten günstige Änderungen ein, eine Verminderung oder ein Fortfall ihrer beeinträchtigenden Symptome. Das war auch der Fall bei Gruppenzusammenkünften oder Gruppenpsychotherapien. Personen dagegen, die ihre Psychotherapeuten in geringem Ausmaß achtungsvoll, einfühlsam sowie aufrichtig wahrnahmen, hatten signifikant geringere Änderungen am Ende der Psychotherapie, zum Teil Verschlechterungen. – Die gleichen Befunde ergaben sich auch, wenn das Verhalten der Psychotherapeuten gegenüber den Patienten in den drei Merkmalen anhand von Tonaufnahmen der Gespräche von neutralen Beurteilern eingeschätzt wurde. Die analogen empirischen Befunde ergaben sich auch bei unserer Forschungsgruppe für Psychotherapie am Psychologischen Institut der Universität Hamburg, bei ca. 950 Klienten-Patienten in Einzel- oder in Gruppenpsychotherapien (Tausch & Tausch 1990). Es ergab sich noch ein zusätzliches Merkmal zu den obigen drei Haltungen als bedeutsam wirksam in Gesprächen, nämlich „Aktives Bemühen des Therapeuten“. – Entscheidend ist nun: Die in der Psychotherapie förderlichen zwischenmenschlichen Haltungen erwiesen sich auch in alltäglichen Lebensbereichen als hilfreich-förderlich: z. B. in der Ehe-Partnerschaft, im Verhalten von Eltern gegenüber Kindern, im Verhalten von Lehrern gegenüber Schülern und im Verhalten von hilfreichen verständnisvollen Laien in Gesprächen mit seelisch belasteten Mitmenschen. Diese drei Haltungen-Merkmale sind also seelisch zwischenmenschlich förderliche Haltungen-Handlungsmerkmale gegenüber anderen Personen.
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Einige Befunde zum Personzentrierten Verhalten im alltäglichen Leben
Personzentriertes Verhalten in der Partnerschaft. 120 Erwachsene im Alter von 18 bis 50 Jahren machten Angaben über das Verhalten ihres Partners sowie über ihre Zufriedenheit in verschiedenen Bereichen ihrer Ehe-Partnerschaft. Ergebnis: Mit der Partnerschaft zufriedene Personen nahmen ihren Partner zu 90 % als einfühlsam wahr (mit der Partnerschaft unzufriedene Personen nur zu 28 %), 98 % nahmen den Partner als achtungsvoll-warm-sorgend wahr (68 % unzufriedene Personen) und zu 100 % nahmen sie den Partner als nicht-dirigierend förderlich aktiv wahr (58 % unzufriedene Personen). Diese und weitere Befunde waren unabhängig von Geschlecht, Alter, ledig vs. verheiratet, Dauer der Partnerschaft-Ehe, Schulbildung, materiellen Verhältnissen (Fox & Tausch 1983; Fox 1987).
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Personzentriertes Verhalten von Eltern: Das Elternverhalten und die seelische Gesundheit ihrer Kinder im Erwachsenenalter (überwiegend mit HauptschulRealschulabschluss) wurden untersucht. 450 erwachsene Kinder, Durchschnittsalter 25 Jahre, charakterisierten rückblickend das Erziehungsverhalten ihrer Mutter und ihres Vaters in Achtung-Wärme, Aufrichtigkeit, fördernder nichtdirigierender Aktivität sowie in Lenkung-Dirigierung. Danach füllten die 25jährigen verschiedene Tests zu ihrer seelischen Gesundheit aus u. a. Ergebnisse: Erwachsene, die Vater und Mutter als deutlich achtungsvoll-warm, aufrichtig, förderlich nicht-dirigierend aktiv wahrnahmen und erfahren hatten, hatten bedeutsam günstigere Werte in seelischer Gesundheit; Personen mit ungünstiger Elternwahrnehmung hatten ungünstigere Werte in Nervosität, Aggressivität, Depressivität, emotionaler Labilität, Selbstunzufriedenheit u. a. (Tönnies & R. Tausch 1980). 90 Mütter mit jeweils einem Kind wurden in einer von vier außerhäuslichen Situationen (Verkehrsmittel, Wartezimmer, Spielzeugabteilung, Restaurant) unwissentlich beobachtet. Das protokollierte sprachliche und nicht-sprachliche Interaktionsverhalten zwischen Mutter und Kind schätzten verschiedene Beurteilergruppen ein. Ergebnisse: Die Mutter-Kind-Interaktionen waren z. T. charakterisiert durch geringe mütterliche Wärme, eine oft gereizte Mutter-KindBeziehung, intensive mütterliche Lenkung, geringe Spontaneität-Selbständigkeit der Kinder u. a. Kinder von Müttern mit warmem, achtungsvollem, wenig lenkendem und stärker anregendem Verhalten zeigten signifikant mehr Spontaneität und Selbständigkeit als Kinder von Müttern mit entgegen gesetztem Verhalten. Auch war die Mutter-Kind-Beziehung harmonischer-gelöster-entspannter bei Müttern mit achtungsvollem, wenig lenkendem Verhalten (Langer, Rieckhof, Steinbach & A. Tausch 1973). 162 Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen gaben an, welche Art von Gesprächen mit Laien-Personen (Freunden, Kollegen u. a.) ihnen im Gespräch geholfen habe. Überwiegend wurden als hilfreich erfahren Personen mit folgenden Eigenschaften: „Sprach auf sehr warme Art mit mir“, „Respektierte mich als Person, nahm mich ernst“, „War einfühlsam“, „Verstand, was ich fühlte und dachte“, „Fühlte mit mir mit“, „Bestimmte nicht Art und Verlauf des Gespräches“ u. a. Derartige Gespräche mit verständnisvollen Mitmenschen erwiesen sich als die Haupt-Bewältigungsform bei schweren seelischen Belastungen, z. B. bei Trennung vom Partner, schweren Erkrankungen, existentiellen Krisen u. a. Dagegen wurden Personen mit folgenden Verhaltensmerkmalen in Gesprächen nicht als hilfreich erfahren: Wenig einfühlsam, bewertend, kritisierend, viel redend, äußerte Kritik an meinem Verhalten, kühl und nüchtern sowie distanziert (Tausch 1997).
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Reinhard Tausch Personzentriertes Verhalten von Lehrern im Schulunterricht, empirische Befunde
Für viele mag es gut einsehbar sein, dass personzentrierte Haltungen AchtungWärme, Einfühlung, Aufrichtigkeit sowie nicht-dirigierende Aktivität in der Psychotherapie, in der Ehe-Partnerschaft, in zwischenmenschlichen Gesprächen sowie im Umgang von Eltern mit Kindern deutlich positiv wirksam sind. Aber sind die personzentrierten Haltungen-Merkmale wirklich wesentlich förderlich für das Zusammenleben von Lehrern mit Schülern? Deswegen sind im Folgenden empirische Befunde dargestellt. Es sind Ausschnitte aus Forschungen, die überwiegend in den USA sowie unabhängig davon in Deutschland durchgeführt wurden. Diese Befunde zeigen: Lehrer mit personzentrierten Haltungen (achtungsvoll-positiv zugewandt, einfühlsam, aufrichtigecht und aktiv fördernd) haben Schüler mit einem größeren Ausmaß an fachlichem und persönlichem Lernen, im Vergleich zu Lehrern mit geringem Ausmaß in diesem Verhalten. Eine eingehende Darstellung ist in Tausch und Tausch 1998: 103-117 gegeben.
3.1 Untersuchungen aus den USA von David Asby und Flora Roebuck (1974; 1973):16 1.
3.400 Schüler vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse, von 121 sehr achtungsvoll-positiv zugewandten, einfühlend verstehenden sowie aufrichtigenübereinstimmenden Lehrer/innen unterrichtet, wurden mit 3.200 Schülern verglichen, deren 119 Lehrer diese Verhaltensformen nur mäßig oder gering hatten. Dies wurde festgestellt durch Einschätzung der Tonaufnahmen des Unterrichts anhand von Schätzskalen durch neutrale Beurteiler. Einige Ergebnisse: Die Schüler der Lehrer mit deutlich personzentriertem Verhalten
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hatten einen größeren Zuwachs in fachlichen Leistungen, z. B. Mathematik oder Lesefertigkeiten. Bei Lesefertigkeiten war der Zuwachs am größten in den Jahren 1 bis 3, in Mathematik im 4. bis 6. Schuljahr, ebenfalls in der Muttersprache; hatten einen Zuwachs im IQ und in Tests für Kreativität (Kindergartenkinder und Klasse 1 bis 5); hatten ein höheres Niveau des Denkens im Unterricht, eingeschätzt anhand Tonaufnahmen;
Überblick in deutscher Sprache s. a. Rogers 1984: 153ff.
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blieben der Schule weniger Tage im Jahre fern; verursachten weniger Disziplinprobleme; begingen weniger Akte der Zerstörung des Schuleigentums; ihr Selbstbild-Selbstvertrauen änderte sich günstig – sie waren zufriedener mit ihren Leistungen und ihrem Körper – waren seelisch autonomer-unabhängiger; hatten ein besseres Verhältnis zu Lehrern und der Schule; sprachen mehr im Unterricht, stellten mehr Fragen an den Lehrer, hatten größeres Engagement, mehr Augenkontakt mit dem Lehrer, mehr körperliche Bewegung im Klassenraum. –
2.
Es wurden Klassen ermittelt, deren Schüler gemäß Einschätzung der Tonaufnahmen ein geringes Niveau der Denkprozesse zeigten (überwiegend Wiedergabe und Anwendung von gelerntem Wissen) sowie Klassen mit höherem Niveau von Denkprozessen. Diese beiden Arten von Klassen hatten – wie ermittelt wurde – deutlich unterschiedliche Lehrer: In Klassen mit deutlich günstigeren Denkvorgängen waren die Lehrer bedeutsam achtungsvollpositiv zugewandter, einfühlsamer sowie aufrichtiger. –
3.
In 75 Klassen des 2. bis 6. Schuljahres wurde festgestellt: Die drei förderlichen Verhaltensformen von Lehrern wirkten sich im Laufe der Zeit auch förderlich bei leistungsmäßig beeinträchtigten Schülern aus, etwa in Mathematik und Lesen, während die Leistungen der Schüler von Lehrern mit einem geringen Ausmaß an personzentriertem Verhalten abfielen. –
4.
In 88 Klassen des 2. bis 6. Schuljahres wurde das Störverhalten der Schüler festgestellt: Körperliche Aggressionen gegen den Lehrer, Schüler oder Gegenstände; ferner sprachliche Aggressionen, passiver Widerstand u. a. Ergebnisse: Störverhalten der Schüler ereignete sich deutlich mehr in den Klassen, deren Lehrer gering oder nur mäßig einfühlsam, achtungsvoll-positiv zugewandt sowie aufrichtig waren. –
3.2 Untersuchungen in Schulen der Bundesrepublik Deutschland Am Psychologischen Institut III der Universität Hamburg führten Dr. Höder, Dr. Joost, Dr. Klyne, Dr. Langer, Dr. A. und R. Tausch zur Prüfung der Wirksamkeit personzentrierter Verhaltensformen mehrere Untersuchungen durch (Zusammenfassungen s. Tausch & Tausch 1998: 103ff). Einige der vielen Befunde in kurzen Worten:
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1.
Bei 96 Lehrern und ihren 2.600 Schülern aus Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien wurden Unterrichtsstunden mit Tonband aufgenommen. Die Klassen waren im Alter, in der Schulart, im Fachgebiet und in der Persönlichkeit der Lehrer und Schüler sehr unterschiedlich. Die Tonaufnahmen vom Unterricht der 96 Lehrer wurden von neutralen Beurteilern anhand von Einschätzskalen nach dem Ausmaß von Achtung-Wärme, einfühlendem Verstehen, fördernder nicht-dirigierender Aktivität sowie Dirigierung-Lenkung eingeschätzt. Die Äußerungen der Schüler in den Unterrichtsstunden wurden ebenfalls anhand der Tonaufnahmen von Beurteilern eingeschätzt, nach Richtigkeit-Angemessenheit, Selbständigkeit sowie dem Niveau ihres Denkens, nach spontanem Verhalten und anderen Merkmalen. Ferner gaben die Schüler in Fragebögen an, wie sie sich während des Unterrichts gefühlt und ihre Lehrer und den Unterrichtsgegenstand empfunden hatten. Einige Ergebnisse: 11 % der Lehrer zeigten gleichzeitig ein höheres Ausmaß auf den Dimensionen Achtung-Wärme-Rücksichtnahme und Echtheit-Aufrichtigkeit sowie ein mittleres bis günstiges Ausmaß auf den weiteren Dimensionen. 12 % der Lehrer zeigten eher ungünstiges Gesamtverhalten (mittleres bis ungünstiges Ausmaß auf allen Dimensionen). Ein Vergleich dieser beiden Lehrergruppen ergab: Bei Lehrern mit eher förderlichem Verhalten waren die Unterrichtsbeiträge der Schüler auf einem höheren kognitiven Niveau, sie verhielten sich spontaner und zeigten eine bessere Arbeitsmotivation; ferner hatten sie während der Unterrichtsstunde gemäß ihren eigenen schriftlichen Angaben weniger Angst, verhielten sich offener, hatten gegenüber ihren Lehrern eine emotional positivere Einstellung (Joost 1978).
2.
Diese Befunde bestätigten Olaf Wittern und Anne-Marie Tausch (1983). Hier wurden 1.039 Schüler und ihre 44 Lehrer untersucht, vorwiegend aus Hauptschulen, 7. bis 10. Schuljahr, mit den Fächern Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften und Religion. Lehrer, die gemäß Einschätzung der Tonaufnahmen deutlich förderlich in den drei personzentrierten Verhaltensformen waren, hatten Schüler mit größerer Selbständigkeit, größerem Niveau der Denkvorgänge, größerer Arbeitsmotivation, größerer Zufriedenheit mit sich selbst, größerem Klassenzusammenhalt der Schüler, weniger Angst im Unterricht, vertrauensvollerer Beziehung Lehrer-Schüler, mehr persönlichen Äußerungen im Unterricht – verglichen mit Lehrern, die diese Verhaltensformen im Unterricht nur mäßig oder gering lebten. Allerdings: Nur 16 % der Lehrer/innen wurden als deutlich achtungsvoll und einfühlsam eingeschätzt. –
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3.
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Bereichen des Lehrerverhaltens (Achtung-Wertschätzung, Lenkung-Dirigierung, Verständlichkeit in der Informationsvermittlung) und der Art des gefühlsmäßigen Erlebens von Schülern im Unterricht (z. B. „Ich freue mich schon auf die nächste Stunde mit dieser Lehrerin“). Untersucht wurden 21 Lehrer mit je einer Klasse, insgesamt 530 Schüler der Klassen 4 bis 9. Einige Ergebnisse: Das Schülererleben gemäß dem Untersuchungs-Fragebogen hing in größerem Ausmaß mit der Art des Lehrerverhaltens gemäß Einschätzung durch Beurteiler zusammen. Es hingen zusammen günstige Schülergefühle mit einem hohen Ausmaß an Wertschätzung, einem geringen bis mittleren Ausmaß an Lenkung-Dirigierung, einem hohen Ausmaß an nicht- dirigierender fördernder Aktivität und einem hohen Ausmaß an Verständlichkeit des Lehrers (Höder, Joost & Klyne 1975).
4.
41 Unterrichtsstunden von 18 Lehrern der Grund- und Hauptschule in 7 Unterrichtsfächern wurden nach verschiedenen Merkmalen des Lehrer- und Schülerverhaltens eingeschätzt, anhand von Tonaufnahmen und Schätzskalen durch Beurteilergruppen. Das Ausmaß von Wertschätzung-AchtungWärme von Lehrern gegenüber Schülern war wenig ausgeprägt, das Ausmaß von lenkender dirigierender Aktivität der Lehrer war hoch. Beide Verhaltensbereiche standen zueinander in negativem Zusammenhang. Ferner: Ein hohes Ausmaß von Wertschätzung-Wärme der Lehrer sowie ein geringes Ausmaß von lenkender dirigierender Aktivität hing deutlich mit günstigen Schülermerkmalen im Unterricht zusammen, so mit selbständigem produktiven Denken und Urteilen, mit Güte der Unterrichtsbeiträge, mit selbständigem spontanen Verhalten und mit dem Ausmaß von Schülerentscheidungen und Eigeninitiative. Diese Zusammenhänge waren in Grund- und Hauptschulen weitgehend ähnlich (Spanhel, Tausch & Tönnies 1975).
5.
36 Hauptschullehrer unterrichteten in ihrem 7. bis 9. Schuljahr über ein gleiches Deutschthema, insgesamt über 1.000 Schüler. Die Schüler von Lehrern mit hohen Werten in den vier personzentrierten Haltungen-Merkmalen hatten eine größere inhaltliche Güte ihrer Unterrichtsbeiträge, größeres Ausmaß selbständigen Denkens und mehr unterrichtsbezogene Kommunikation der Schüler untereinander. Die vier Haltungsbereiche hingen deutlich mit der inhaltlichen Güte kognitiver Prozesse der Schüler zusammen. Dagegen korrelierte Dirigierung-Lenkung negativ mit der Güte kognitiver Prozesse. Allerdings: Einfühlendes Verstehen, Echtheit und fördernde nichtdirigierende Aktivität waren bei Lehrern gering ausgeprägt, DirigierungLenkung dagegen in hohem Ausmaß. Nur 14 % der Lehrer hatten ein höhe-
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Reinhard Tausch res Ausmaß in mindestens drei personzentrierten Bereichen (Höder, Tausch & Weber 1976).
6.
Es wurden 69 ehrenamtliche Übungsleiter (davon 59 % mit Hauptschulabschluss) von 69 Fußball-Jugendmannschaften mit ihren über 700 Jugendlichen untersucht, durch neutrale Beobachter sowie gemäß Angaben der Jugendlichen. Ergebnis: Wenn die Übungsleiter deutlich achtungsvoll, einfühlend-verstehend und aufrichtig waren sowie von den Jugendlichen als kompetent, persönlich engagiert, nicht-autoritär sowie Mitbestimmung ermöglichend wahrgenommen wurden, dann waren bei den Jugendlichen Verhaltensweisen und Erlebnisse konstruktiver als bei Übungsleitern mit einem geringen Ausmaß. Jedoch: Nur 14 % der Übungsleiter verhielten sich den Jugendlichen gegenüber personzentriert und damit psychologisch günstig (Thiel & Rossmann 1981).
Vielfältige empirische Untersuchungen zeigen deutlich: Lehrer/innen mit einem größeren Ausmaß an Achtung-Wärme, Einfühlung, förderlicher nicht-dirigierender Aktivität sowie geringer Lenkung-Dirigierung haben – verglichen mit Lehrern mit einem geringen Ausmaß in diesen Verhaltensformen – Schüler mit günstigeren fachlichen Leistungen, besserer Qualität der mündlichen Unterrichtsbeiträge, größerem Ausmaß von Denkprozessen, ferner mit mehr Kooperation und weniger Aggressivität sowie deutlich günstigerer seelischer Befindlichkeit u. a.
4
Charakterisierung der drei förderlichen personzentrierten Haltungen
Im Folgenden möchte ich eine kurze Darstellung der wirksamen Haltungen geben: Personzentrierte Lehrer (ebenfalls auch Psychotherapeuten, Partner oder Übungsleiter) sind wesentlich zentriert mit ihren Gedanken und Aktivitäten in der Person ihrer Schüler, besonders in deren Erleben. Ihre Aktivitäten sind wesentlich ausgerichtet auf die Förderung der anderen Person, ohne DirigierungLenkung. Achtung-positive Zuwendung: Die Sprachäußerungen, Aktivitäten, Maßnahmen, Gestik und Mimik zeigen, dass der Erwachsene den Jugendlichen als Person grundsätzlich gleichen menschlichen Wertes ansieht und respektiert. Es ist keine Abwertung, kein Herabblicken vorhanden. Die Äußerungen des Erwachsenen sind sozial-reversibel, d. h. der Jugendliche kann sie dem Erwachsenen gegenüber in gleicher Weise verwenden, ohne dass ein Mangel an Achtung-Res-
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pekt vorhanden wäre. Der Erwachsene akzeptiert die Person des Jugendlichen. Er empfindet Anteilnahme-Wärme für den Jugendlichen, ist rücksichtsvoll, hat eine positive, annehmende Einstellung gegenüber seiner Erlebniswelt. Der Erwachsene sucht die Selbstbestimmung und persönliche Entwicklung deutlich zu fördern. Er hat keinen Wunsch, über den Jugendlichen zu dominieren, Macht auszuüben oder ihn in Abhängigkeit zu halten. Einfühlendes nicht-bewertendes Verstehen der Erlebniswelt des Jugendlichen: Der Erwachsene sucht die seelische Erlebniswelt des Jugendlichen, die Art, wie dieser sich und die Umwelt wahrnimmt, dessen Gedanken, Gefühle und Motive wahrzunehmen-sich vorzustellen, ohne zu bewerten. Und zwar von der „Innenseite“ des Jugendlichen her, so wie dieser seine innere Welt erlebt. Äußerlich gesehen ist es ein sensitives Hinhören auf die Äußerungen des anderen und ein intensives aktives Bemühen, zu verstehen: Welche Bedeutung haben Äußerungen und Verhaltensweisen für den anderen? Was fühlt die andere Person dabei? Wie sieht sie sich und die Umwelt? Es ist ein sensibles vorurteilsfreies nicht-wertendes und genaues Hören der seelischen Welt des anderen. Ein intensives Bemühen, der seelischen Welt des Jugendlichen teilhaftig zu werden. – Das, was der Erwachsene von der seelischen Welt des Jugendlichen verstanden hat, teilt er dem Jugendlichen mit, wenn es der Situation angemessen ist. Dieser fühlt sich hierdurch deutlich verstanden und äußert meist mehr seine Erlebniswelt. Durch dieses einfühlende nicht-bewertende Verstehen sind die Äußerungen, Aktivitäten oder Maßnahmen des Erwachsenen in Unterricht und Erziehung deutlich angemessener und förderlicher; denn sie berücksichtigen und sind abgestimmt auf die seelische Situation des Jugendlichen. Aufrichtigkeit-Echtheit bedeutet eine Übereinstimmung von Fühlen, Denken, Äußerungen und Handlungen des Erwachsenen gegenüber dem Jugendlichen. Der Erwachsene ist ohne Fassade-Panzer, ohne professionelles routinemäßiges Gehabe. Er verhält sich natürlich, spielt keine Rolle, gibt sich so, wie sie/er wirklich ist. Wenn der Erwachsene sich über das, was er/sie denkt und fühlt, äußert, ist er/sie aufrichtig. Ferner ist darin eingeschlossen, dass der Erwachsene vertraut mit seinem eigenen Erlebnisstrom ist, mit seinen Gedanken, Gefühlen und Wünschen. Er ist ehrlich sich selbst gegenüber, macht sich nichts vor. Wenn es für ihn und den Jugendlichen hilfreich ist, öffnet er sich, drückt tiefere gefühlsmäßige Gedanken-Erfahrungen aus und gibt sich mit seinem Ich zu erkennen, verleugnet sich nicht.
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Nicht-dirigierende förderliche Aktivität: Diese Verhaltensform fanden Carl Rogers und wir in Untersuchungen als sehr wirksam für die Förderung der Mitarbeit der Patienten in der Therapie (Tausch & Tausch 1990: 107f., 321f.). Sodann stellten wir die förderlichen Aktivitäten von Lehrern in Untersuchungen in Schulen als sehr wesentlich für das fachliche und persönliche Lernen der Schüler fest (Tausch & Tausch 1998: 243-331). Es sind häufige Aktivitäten des Erwachsenen, um Jugendlichen gute Bedingungen für ihre Schularbeit, ihr Wohlbefinden, für ihre Freizeit sowie für die Bewältigung von Schwierigkeiten zu geben, ohne sie dabei zu dirigieren, zu bewerten, einzuschränken. Diese Aktivitäten setzen Engagement und intensive Bemühungen zur Förderung der Jugendlichen voraus, ferner kreative Flexibilität, um das Lernen der jungen Menschen zu erleichtern und zu fördern. Bei Lehrern äußerte sich dies z. B. im Einsatz von Hilfen, in sehr verständlicher Darstellung von Texten, häufiger Kleingruppenarbeit von Schülern, interessanter und lebensbezogenere Gestaltung der Unterrichtsaufgaben, Stimulierung der Aktivität oder Fragen der Schüler, dagegen weniger in Reden und Fragen des Lehrers. – Diese Verhaltensform mag einerseits dem aktiven Engagement des Erwachsenen entspringen, den jungen Menschen zu fördern. Andererseits ergab sich ein deutlicher Zusammenhang mit Achtungpositiver Zuwendung sowie einfühlendem Verstehen. Das ist nahe liegend: Wenn z. B. ein Lehrer die Erfahrungswelt Jugendlicher versteht und ihre Person achtet, dann wird er häufiger Rücksicht auf sie nehmen, etwa mechanisches Lernen und schwer verständliche Wissensinhalte interessanter-verständlicherleichter gestalten, wird ihnen in Kleingruppenarbeit mehr Eigenaktivität ermöglichen, wird mehr ihr Denken ansprechen statt Routine-Gedächtnisleistungen abfordern u. a. – Jede dieser 4 personzentrierten Verhaltensformen von Lehrern im Schulunterricht ist „messbar“. Zum einen, indem Schüler das Lehrerverhalten einschätzen, z. B. „Ich fühlte mich vom Lehrer angenommen“. Die andere Möglichkeit bei empirischen Untersuchungen ist: Es werden Tonaufnahmen vom Unterrichtsgeschehen gemacht; anhand derer schätzen neutrale Beurteiler aufgrund von Einschätzungsskalen das Verhalten der Lehrer nach den bedeutsamen Haltungen ein (s. Tausch & Tausch 1998). – Noch ein Gedanke zur Charakterisierung dieser Haltungen: Achtung, Einfühlung und Aufrichtigkeit sind zugleich sozial-ethische Haltungen. Es ist zu vermuten, dass sie in gewissem Ausmaß der Spezies Mensch genetisch mitgegeben sind. Analog wie auch manchen Tieren bestimmte soziale Verhaltensweisen, auch gegenüber dem Nachwuchs, mitgegeben sind.
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Zum Zusammenhang der personzentrierten Verhaltensformen: In Untersuchungen hingen die personzentrierten Verhaltensformen miteinander zusammen, korrelierten. Wenn also Lehrer-Erzieher gemäß Einschätzung durch Beurteiler ein hohes Ausmaß an Achtung-positiver Zuwendung hatten, dann war im Allgemeinen damit verbunden ein hohes Ausmaß an einfühlendem Verstehen, an fördernden nicht-dirigierenden Aktivitäten und an Aufrichtigkeit-Echtheit. – Ist eine Verhaltensform bedeutsamer als die andere? Dies ist schwer zu sagen. Achtung-positive Zuwendung scheint die bedeutsame Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung zu sein. Dies ergab sich deutlich auch bei einer Untersuchung von Ehepartnern (Fox 1987; Fox & Tausch 1983). – Einfühlendes Verstehen in die seelische Welt des Anderen ist meist bedeutsam für ein angemessenes Handeln gegenüber der anderen Person. – Bei Aufrichtigkeit-Echtheit ist bedeutsam, dass kein negatives Ausmaß dieser Verhaltensform vorliegt, also kein Routineverhalten, Heucheln, Rollenverhalten u. a.
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Missverständnisse zur Praxis von Achtung und Einfühlung
Merkmale eines guten Zusammenlebens-Arbeitens sind soziale Ordnung, seelische Leistungsfähigkeit sowie Freiheit des einzelnen. Gelegentlich überschreiten Schüler die hierzu vereinbarten Grenzen. Das sind wichtige Situationen sozialen Lernens. Manche Lehrer verwechseln hierbei Achtung der Schüler und Einfühlung in ihr Erleben mit weicher Nachgiebigkeit. Andere fühlen sich zu schwach oder überfordert, bei Grenzüberschreitungen die vereinbarten Konsequenzen zu verwirklichen. Sie schauen etwa bei Gewalttätigkeiten auf dem Schulhof oder Schulweg weg. Andere wiederum schimpfen und werten Schüler ab. Es ist sehr wichtig: Achtung und Einfühlung sind keine Haltungen von Schwäche! Lehrer, die die vereinbarten Konsequenzen bei Grenzüberschreitungen klar, bestimmt, aber ohne Wertungen, Schimpfen oder Anschuldigungen verwirklichen, lassen Schüler lernen: Grenzen können nicht ohne Konsequenzen übertreten werden, Achtung und Einfühlung beruhen auch auf Gegenseitigkeit. Günstig ist auch, wenn die Schüler häufig wahrnehmen können , dass ihr Lehrer sich verantwortlich fühlt für die Gemeinschaft, etwa indem er sich einsetzt für drastische Verminderung massiver Gewaltdarstellung und unsozialen Verhaltens in den Medien, Einsatz für Verbot der Werbung für Alkohol und Nikotin sowie Einsatz für die Förderung sportlicher Aktivitäten Jugendlicher, nachmittags und an den Wochenenden, etwa auf Schulhöfen.
Missverständnis: Die personzentrierten Verhaltensformen Achtung und Einfühlung seien ausreichend für das persönliche und fachliche Lernen der Ju-
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Reinhard Tausch gendlichen. Tatsache ist: Sie sind sehr förderlich für persönliches und fachliches Lernen. Darüber hinaus sind jedoch bei Lehrern notwendig: Gute didaktische Kompetenz in der Unterrichtsgestaltung, sehr gute Verständlichkeit und Klarheit des Ausdruckes, Fähigkeit junge Menschen zu motivieren, Einfallsreichtum, häufige Durchführung von Kleingruppenarbeit u. a. Einfühlung in andere sowie aufrichtige Achtung erübrigen nicht derartige Fachkompetenzen. So ist z. B. bei patient-zentrierten Ärzten die medizinische Fachkompetenz unerlässlich. Missverständnis: Achtung-positive Zuwendung sowie nicht-bewertendes Verstehen seien einfach und leicht. Häufig würden sie einer schwächlichen Haltung entsprechen. Das Gegenteil ist eher der Fall: Die personzentrierten Verhaltensformen erfordern gute Ausbildung, eine bedeutsame persönliche Entwicklung, intensives Engagement, größere seelische Stärke. Missverständnis: Personzentrierte Lehrer-Erzieher wären passiv, würden keine Grenzen setzen, seien nachgiebig, vernachlässigten das fachliche Lernen. In Wirklichkeit findet in personzentrierter Erziehung zwar wenig oder minimale Dirigierung statt, wenig Befehle, weniger Reden und Fragen des Lehrers im Unterricht. Es herrscht ein freundlicher höflicher Umgangston. Aber sowohl in der Schule als auch in der Familie werden Grenzen vereinbart und Aufgaben gestellt. Die Überschreitung der Grenzen, etwa Missachtung der Rechte und Bedürfnisse anderer – der Mitschüler oder Erwachsenen – haben negative Konsequenzen zur Folge, jedoch keine Beschimpfung und Missachtung. Missverständnis: Einfühlung in die Erlebniswelt der Jugendlichen und Akzeptierung ihrer Person seien ein lasches, nachgiebiges Verhalten, etwa „Ich kann verstehen, was du tust ...“. Das ist Laisser-faire-Verhalten! Es mindert die Ernsthaftigkeit der Beziehung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen und fördert nicht das persönliche und fachliche Lernen. Einfühlendes Verstehen bedeutet: Der Erwachsene sucht die Gefühle und persönlichen Gedanken der jungen Menschen zu verstehen, äußert sie öfter ihnen gegenüber und sucht sie in ihrem persönlichen und fachlichen Lernen zu fördern. Er akzeptiert die Person des jungen Menschen mit seinen Gedanken und Gefühlen. Aber es ist keine Billigung seiner Gedanken und seines Verhaltens oder etwa Duldung des Gebrauchs von Alkohol, Nikotin oder verbaler-körperlicher Gewalt.
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Einfühlsame achtungsvolle Lehrer verhalten sich anders; hierdurch wird die zwischenmenschliche Beziehung, das fachliche und persönliche Lernen der Schüler gefördert
Hierzu gibt es viele Befunde und Antworten. Aus Platzgründen gebe ich nur die Wesentlichsten an.
Aspy und Roebuck (1973; 1974) und Tausch und Tausch (1998) stellten fest: Einfühlsame, warm-sorgende und echte Lehrer redeten im Unterricht erheblich weniger, fragten weniger, dozierten weniger im Frontalunterricht, hatten mehr Augenkontakt mit den Schülern, lächelten mehr, gingen mehr auf das Fühlen ihrer Schüler ein, sprachen mehr im Wechselgespräch mit Schülern, äußerten mehr Anerkennung für sie, machten mehr Angebote, gaben mehr Anregungen und Hinweise, trafen Vereinbarungen und Absprachen, und hatten ein geringes Ausmaß an Dirigierung-Lenkung. Diese Befunde bestätigten sich auch z. B. in Urteilen von Erwachsenen: Lehrer, die von über 400 Erwachsenen rückblickend in ihrer Schulzeit als förderlich wahrgenommen wurden, hatten gemäß den Angaben der befragten Erwachsenen fast doppelt so viel nicht-dirigierende förderliche Tätigkeiten und nur ca. halb soviel Lenkung-Dirigierung wie Lehrer, die als beeinträchtigend empfunden wurden (Tönnies & Tausch 1980). – Das didaktische Verhalten der Lehrer wird durch Einfühlung und Achtung günstig beeinflusst. So werden Lehrer/innen mit Einfühlung in das Erleben ihrer Schüler häufig darüber nachdenken: „Wie kann ich meinen Unterricht so gestalten, dass das kognitive und emotionale Lernen meiner Schüler deutlich erleichtert und gefördert wird? Wo haben meine Schüler Schwierigkeiten im Verständnis und beim Arbeiten? Wie kann ich das vermindern? Was kann ich tun, damit sie den Unterricht als sinnvoll empfinden und engagiert arbeiten?“ Hierbei ist Einfühlung gleichsam ein Kompass, wo und wie sie den Schülern helfen können, z. B. durch: 1.
2. 3.
Intensives Bemühen um größere Verständlichkeit, Klarheit, Gliederung und Ordnung im sprachlichen Ausdruck bei Erklärungen und Anweisungen. Ferner durch häufige Anfertigung durch Skripten in sehr verständlicher Form durch Veranschaulichung, so dass auch „schwächere“ Schüler bei der Hausarbeit selbständig arbeiten können. Durch kurzzeitige Kleingruppenarbeit sowie Einzelarbeit im Unterricht. Durch Gestaltung von Arbeitsaufgaben, die als sinnvoll empfunden werden.
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Durch Inanspruchnahme technischer Trainingsmöglichkeiten, z. B. Rechtschreibtraining mit Tonkassetten oder PC. 5. Durch häufige Denk- und Kreativitätsaufgaben anstelle der Betonung des Wissensgedächtnisses. 6. Durch Förderung der Entdeckungsfreude und Begeisterung der Schüler. 7. Durch Einsatz von besseren Schülern, um schwächeren Schülern zu helfen. – So haben Einfühlung und Achtung von Lehrern bedeutsame Folgen für ihre didaktischen Aktivitäten. Diese sind angemessener als bei Lehrern mit nur geringer Einfühlung und Achtung. Das erzieherische Handeln von Lehrerinnen wird durch Achtung und Einfühlung günstig beeinflusst. Einfühlung führt etwa häufig zu folgenden Gedanken und Bemühungen: „Wie kann ich die seelische und körperliche Gesundheit meiner Schüler fördern?“ „Was hindert meine Schüler, sich sozial zu verhalten?“ „Wie kann ich das sozial-ethische sowie emotionale Verhalten der Schüler fördern?“ „Was belastet die Schüler?“ – Achtung und Ernstnehmen sowie ehrliches Interesse an der Person der Schüler verstärken die Einfühlung und motivieren Lehrer zu vielen verschiedenen förderlichen Aktivitäten, z. B. sie sprechen Schüler häufiger an und führen häufiger Gespräche mit ihnen. Dadurch erhalten sie mehr Einblick in die seelische Situation der Schüler und können angemessener handeln. Diese Gespräche können psycho-therapeutische Wirkung haben: Sie verbessern die Beziehung zum Lehrer, mindern die Angst und helfen Schülern bei der Klärung ihrer Schwierigkeiten, sei es im Unterricht oder außerhalb der Schule. Schüler machen bei einfühlsamen achtungsvollen Lehrern deutlich positive Erfahrungen, z. B. fortlaufend die Erfahrung, geachtet, ernst genommen und gemocht zu werden, in ihrem Erleben und in ihren Gefühlen gehört und verstanden zu werden. Dies fördert wesentlich ihre Selbstachtung; die auch sehr bedeutsam ist für die Tendenz, andere zu achten. Die gute zwischenmenschliche Beziehung zum Lehrer ist auch bedeutsam für den seelischen Halt der Schüler. – Die Erfahrungen, geachtet, gemocht und tief greifend verstanden zu werden, machen Schüler sowohl in persönlichen Einzel- und Gruppengesprächen mit dem Lehrer, aber auch durch seine Aktivitäten im Klassenraum. Sie erfahren es selbst und sehen es bei anderen, dass der Lehrer persönlich sich intensiv um die Schüler bemüht, mit ihnen über persönliche Schwierigkeiten spricht und/oder sie unterstützt. Soziale Unterstützung ist gemäß vielen Untersuchungen sehr wichtig für die Bewältigung von Schwierigkeiten und Belastungen. Intensiv verstanden zu werden wird fer-
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ner als sehr hilfreich empfunden und Angst mindernd. Auch Anregungen, Hinweise oder hilfreiche Informationen wirken fördernd. Bedeutsam ist ferner: Einfühlung und Achtung wirken sich fortlaufend in jeder Unterrichtsstunde durch die Sprache (Stimme), Mimik und Gestik des Lehrers aus, selbst beim Lehrervortrag! Zur Bedeutung der Qualität von Stimme und Mimik bei Einfühlung und Achtung gibt es Untersuchungen; z. B. verständnisvoll-einfühlende Äußerungen von Psychotherapeuten wirkten bei Patienten entspannend, beruhigend, gemessen an hautgalvanischen Reaktionen und an AlphaWellen des Gehirns. Eine eher nüchterne-kalte Stimme ohne Einfühlung sowie Bewertungen-Beurteilungen lösten Unruhe und Ängste aus. – Ein weiterer Befund: Ein gleicher Entspannungstext wurde von mehreren Psychotherapeuten auf Tonband gesprochen. Ergebnis: Der von Personen mit warmer verständnisvoller Stimme gesprochene Entspannungstext hatte deutliche entspannende Effekte bei den Hörenden; dagegen der mit kalter nüchterner Stimme gesprochene gleiche Text hatte keine Effekte (Morris & Suckermann 1974).
Wenn Lehrer-Erzieher in der Person der Jugendlichen zentriert sind, wenn sie deren Gefühle und Gedanken sensibel verstehen sowie achten-annehmen, dann sind fast alle ihre Handlungen den jungen Menschen gegenüber angemessener. Sei es eine angemessenere Unterrichtsgestaltung, verständlichere Erklärungen, Kleingruppenarbeit, Herstellung von Skripten u. a. Diese schülerzentrierten Aktivitäten von Lehrern unterscheiden sich deutlich von einem dozierenden Lehrerverhalten mit geringer persönlicher Beziehung Lehrer-Schüler und der Ausübung von Lenkung-Macht zum Erreichen fachlicher Ziele. Dagegen ermöglichen eine gute zwischenmenschliche Beziehung Lehrer-Schüler sowie zahlreiche förderliche Aktivitäten für günstige Arbeitsmöglichkeiten eine geringere Dirigierung des Lehrers gegenüber Jugendlichen und eine größere Selbstverantwortung-Selbstbestimmung der Jugendlichen, innerhalb vereinbarter Grenzen. -
Diese förderlichen personzentrierten Verhaltensformen von Lehrern sind gemäß Untersuchungsbefunden deutlich unterschiedlich zu überwiegend dozierendem Lehrerverhalten, emotionaler Zurückhaltung-Kälte, ungünstigen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden sowie starker Betonung des fachlichen Lernens mit Machtausübung, Druck und starker Lenkung. Manchmal mögen diese Verhaltensformen zwar äußerlich „erfolgreich“ erscheinen. So fand Helmke (1987): „Direkte Instruktionen“ von Lehrern, charakterisiert durch effiziente Klassenführung, ausgeprägte Stofforientierung und häufige fachliche Unterstützung einzelner Schüler bewirkte eine Leistungssteige-
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rung, eine Erhöhung der selbst eingeschätzten Fähigkeiten durch eine Verminderung der Leistungsängstlichkeit. Jedoch gab es auch eine andere Auswirkung: „Direkte Instruktion“ führte längerfristig (nach 1,5 Jahren) zu einer deutlichen Verschlechterung schul- und fachbezogener Affekte und der intrinsischen Motivation der Schüler. Ein letzter Gesichtspunkt: Nehmen Schüler achtungsvoll-einfühlsame Lehrer über zehn Schuljahre hinweg tagtäglich mehrere Stunden wahr, und erfahren sie sie persönlich, dann ist dies die entscheidende Bedingung, Einfühlung und Achtung gegenüber anderen Menschen als Lebensstil zu lernen, durch das fortlaufende Wahrnehmungslernen. Und auch außerhalb der Schule wirkt sich das Verhalten des Lehrers auf Schüler aus, durch die sog. mentale Repräsentation. Schüler erinnern das Verhalten des Lehrers zu Hause und im späteren Leben (z. Nieden 2004). Sie handeln vermehrt so, wie sie ihre Lehrer über ein Jahrzehnt wahrgenommen haben und wie er bei ihnen mental repräsentiert ist. Etliche spüren bei der mentalen Repräsentation eines hilfreichen Lehrers Empfindungen von seelischem Halt. Derart günstige Auswirkungen sind durch eine sog. „Wertevermittlung“ kaum zu erreichen.
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Wie können Lehrer/innen einfühlsamer, achtungsvoller und nichtdirigierend aktiv förderlich werden, auch in Belastungssituationen?
Bei Untersuchungen in Deutschland wies nur ein Teil der untersuchten Lehrer das personzentrierte Verhalten in hinreichendem Ausmaß im Unterricht auf. Die Gründe hierfür sind vielfältig:
Achtung und Einfühlung sowie auch Selbstöffnung hängen häufig mit Merkmalen der Persönlichkeit zusammen. Lehrer z. B., die außerhalb der Schule im Privatleben einschränkend und kritisch gegenüber anderen waren, eher nervös, wenig gefühlsmäßig geordnet, mit öfters psychosomatischen Störungen, waren auch im Unterricht wenig verständnisvoll, wenig freundlich-warm, eher inaktiv und wenig anregend-ideenreich (Ryans 1960; Kretschmann 1976). Ferner: Lehrerstudenten, die sich selbst als unruhig, unstet, kleinlich und unausgeglichen beim Unterrichten einschätzten, waren dies gemäß ihren Angaben auch außerhalb des Unterrichts (Popp 1974). – So ist es nahe liegend, dass Wissenskenntnisse über die günstigen personzentrierten Verhaltensformen durch Vorlesungen, Seminare oder Bücher im Allgemeinen nicht hinreichend für eine Änderung des realen Verhaltens im Unterricht sind.
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Manche Lehrer mögen in ihrem bisherigen Leben in Familie, Schule und Hochschule wenig deutliche Empathie und Achtung von anderen erfahren haben. Während des Lehrer-Studiums und der Berufsausbildung wurden die personzentrierten Haltungen, soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz bei Lehrern/innen zu wenig gefördert. Etliche Lehrer schätzen die Bedeutung günstiger zwischenmenschlicher Beziehungen im Unterricht gering ein, gleichsam als eine nicht notwendige Beigabe zur „Stoffvermittlung“, „Stoffdarbietung“. Manche Lehrer-Professoren haben wenig Kenntnisse von den bedeutsamen Auswirkungen von Achtung und Einfühlung auf Schüler-Studenten sowie über die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen etwa für die Lernmotivation. Lehrer und auch Professoren sind im Unterricht oft stark von eigenen Gedanken und Gefühlen beherrscht; sie sind in sich selbst, ihren Gedanken und Gefühlen zentriert. Und sie sehen überwiegend ihre fachlichen Ziele. Ferner fühlen sich manche auch unsicher im Unterrichten und Kontakt mit jungen Menschen. Viele sind körperlich-seelisch gespannt, durch Stress erregt. Und bei Anspannung-Stress, Zentriertheit in der eigenen Person sowie etwa bei Ärger-Zorn ist die positive Zuwendung und Einfühlung in andere generell stark eingeschränkt. Dagegen fördert Entspanntheit, Gelassenheit und Aufnahmebereitschaft die Einfühlung in andere.
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Förderliche Bedingungen zur persönlichen Entwicklung von Achtung, Einfühlung und Aufrichtigkeit
Personzentrierte Seminare und Gruppengespräche zur Förderung der Empathiefähigkeit, also der Fähigkeit, sich in das seelische Erleben anderer sensibel einzufühlen, das Verstandene ohne Bewertung zu äußern und es etwa in eigenen Handlungen zu berücksichtigen, sind bedeutsam. Die Teilnahme an personzentrierten Gruppengesprächen (Tausch & Tausch 1990) fördert nachweislich die Empathiefähigkeit von Gruppenmitgliedern.
So wiesen Wittern und A. Tausch (1979) nach: Die Teilnahme an personzentrierten Gruppengesprächen führte bei Lehrern aller Schularten zu einer Minderung ihrer persönlichen Schwierigkeiten sowie zu einer Verbesserung ihrer seelischen Lebensqualität im Klassenraum und im Privatleben. Obwohl die Lehrer in den Gruppen nicht über Didaktik, Methodik und Schulerfahrungen sprachen – sie waren in Gruppen mit Patienten unserer psychotherapeutischen Beratungsstelle zusammen – verhielten sie sich danach gemäß der Einschätzung der Ton-
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aufnahmen ihres Unterrichts durch Beurteiler sowie durch Einschätzung ihrer Schüler im Klassenraum förderlicher, hatten mehr Verständnis für sie, mehr Vertrauen, gewährten mehr Selbstbestimmung u. a. In diesen personzentrierten Gruppengesprächen lernen Menschen insbesondere die Einfühlung in andere, das Nichtbewerten der Gefühle und persönlichen Gedanken, die Achtung-Akzeptierung anderer Personen und die Fähigkeit, sich mit ihren eigenen Schwierigkeiten persönlich zu öffnen (s. Tausch & Tausch 1990).
Ein Training in personzentrierter Kommunikation gemäß dem Buch von Schulz v. Thun (1995) ist für viele förderlich. Ebenso sind die Bücher von Marshall Rosenberg (2004) zur nicht-verletzenden, gewaltlosen Kommunikation hilfreich. Ein Training in Verständlichkeit-Kürze-Prägnanz sowie Konkretheit des Sprachausdruckes sowie in Klarheit des Denkens ist bedeutsam und wirkungsvoll für das Unterrichtsverhalten von Lehrern (Langer u. a. 2006). Die Teilnahme an Stress-Verminderungsseminaren ist sehr wesentlich. Hierdurch wird die körperliche und seelische Gesundheit gefördert. Und es kommt auch den Schülern zugute, wenn sie über Jahre hinweg viele Tausende Stunden hindurch Lehrer ohne Stress, Erregung oder Gefühlsausbruch wahrnehmen (Tausch 2006). Das Lernen und tägliche Praktizieren von Entspannungsformen ist sehr entscheidend für die Ruhe, Gelassenheit und Entspanntheit von Lehrern im Unterricht. So sind z. B. Muskelentspannung (Jacobsen 1938) und Atementspannung (Benson 1975) in ihrer Wirkung kaum zu überschätzen. Genauso wie ein Spitzensportler nicht in einen Wettkampf geht ohne Entspannungstraining, so ist für Lehrer ein Entspannungstraining mindestens vor und nach dem Unterricht notwendig. Und wenn ein Lehrer ein- bis zweimal am Tag in der Unterrichtsstunde mit Schülern eine etwa zehnminütige Entspannungsübung macht, dann lernen die Schüler etwas Bedeutsames für ihr Leben; und der Lehrer ist nach den zehn Minuten auch entspannter. So mache ich in fast jeder größeren Vorlesung oder im Seminar oder auf Vorträgen ein bis zwei Entspannungsübungen; auch mit Personen, die das bisher noch nicht getan haben. Ich denke, dass mich meine täglichen Entspannungsübungen morgens und abends befähigen, etwa 25 % mehr zu arbeiten als wenn ich keine Entspannung machen würde. Auch bei seelisch belasteten Patienten in psychotherapeutischen Gesprächen ist ein Entspannungstraining sehr bedeutsam; Ängste vermindern sich und die Patienten werden ruhiger und fähiger zur Selbst-Klärung.
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Körperliches Fitnesstraining ist bedeutsam. Aspy (s. Rogers 1984: 169f.) ermittelte bei einer größeren Anzahl amerikanischer Schuldirektoren und Lehrer: Einfühlsame, achtungsvoll-positiv zugewandte und stark fördernde Lehrer waren körperlich mehr fit, betrieben häufiger regelmäßig eine Sportart, hatten in schwierigen Unterrichts-Situationen eine geringere Erhöhung des Pulsschlages als andere Lehrer, hatten häufiger Blickkontakt mit den Schülern, lächelten mehr im Unterricht, gingen öfter auf die Gedanken der Schüler ein und kritisierten Schüler weniger als vergleichbare Lehrer mit geringerer körperlicher Befähigung. Aspy: „Die Daten legen sehr stark die Vermutung nahe, dass körperliches Training notwendig ist, wenn man eine konstruktive zwischenmenschliche Beziehung längere Zeit aufrechterhalten will.“ Wenn Pädagogik-Professoren, Lehrer und Supervisoren etwa jedes Semester ein bis zwei Schulunterrichtsstunden auf DVD aufnehmen und in der Bücherei entleihbar machen, dann ist dies sehr anregend und günstig für das Lernen der Studierenden. Videoaufnahmen des eigenen Verhaltens im Unterricht sind auch für Lehrer sehr hilfreich. So gewinnen sie einen guten Betrachtungsabstand zu ihrem eigenen Verhalten. Eine Einschätzung des Lehrerverhaltens durch die Schüler ermöglicht dem Lehrer ein hilfreiches Feedback und Chancen für vermehrtes Lernen. So bitte ich fast nach jedem Vortrag oder Seminar die Teilnehmer, mir am Ende auf einem Blatt aufzuschreiben: „Welche Gedanken und Gefühle habe ich zu diesem Vortrag bzw. Seminar“. Diese Rückmeldungen geben mir eine gute Möglichkeit der Verbesserung meines Unterrichts. Ebenso gebe ich in der Psychotherapie öfters Patienten einen Rückmeldebogen, den sie ausfüllen und mir zurückreichen; eine gute Lernmöglichkeit für mich. Auch ein einfühlsamer, achtungsvoller und engagierter Lehrer kann manchmal mit einem sehr belasteten Schüler in Schwierigkeiten kommen. Für derartige Situationen sollte ein Schulpsychologe zu Gesprächen mit dem Schüler, eventuell auch mit dem Lehrer zur Verfügung stehen. Dass derzeit in Deutschland auf einen Schulpsychologen mindest 5 - 10.000 Schüler kommen, zeigt, dass schwierige seelische Situationen bei Jugendlichen als wenig bedeutsam angesehen werden. Hier gibt es in skandinavischen Ländern vernünftigere Verhältnisse.
Abschließende Gesichtspunkte
Einfühlung in die Erlebniswelt der Schüler-Studierenden sowie Achtung-Ernstnehmen ihres Erlebens und ihrer Person fördern deutlich angemessenere didakti-
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sche und erzieherische Aktivitäten der Lehrer im Unterricht. Hierdurch wird die emotionale Befindlichkeit, das soziale Lernen, die Entwicklung der Persönlichkeit sowie die Leistungsfähigkeit der Schüler deutlich gefördert, nicht nur für die Schul- und Studienzeit, sondern auch wesentlich für das spätere Leben und den Beruf. Einfühlung und Achtung gegenüber anderen sind sozial-ethische Grundwerte, die durch das Verhalten des Lehrers von den Schülern-Studierenden tagtäglich über mindestens zehn Jahre wahrgenommen und gelernt werden. Der Dali Lama: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Mitgefühl nicht nur das geeignete Mittel für die Herausbildung des voll entwickelten Menschen ist, sondern auch für das Überleben überhaupt. … Die Grundfrage ist, wie wir Mitgefühl entwickeln und es bewahren können.“ (Dalai Lama 1993, 23ff.) Es ist eine Herausforderung an uns selbst, jungen Menschen angemessener zu helfen, so dass sie ihr Leben wert-voller und sinnvoller gestalten können. Und: Wir Lehrer und Professoren werden auch dafür belohnt: Wir spüren mehr, dass unsere Arbeit wert-voll ist, wir erfahren uns mehr als Helfende sowie förderliche Begleiter und nicht nur als Unterrichtende, und dies bei geringerer Spannung und besserer seelischer Gesundheit.
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Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen Hanns-Dietrich Dann
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Einleitung
Lehrkräfte machen sich im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit vielfältige Gedanken, ein alltägliches Phänomen, das zunächst trivial erscheinen mag. Allerdings sind Denkprozesse und Wissensstrukturen von Lehrkräften etwa seit Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zunehmend von Interesse geworden, nicht nur für die Unterrichts-, Lehr- und Lernforschung, sondern auch für die Unterrichtspraxis selber, für die Lehreraus- und -fortbildung wie auch für die persönliche Entwicklung von Lehrkräften im Laufe ihres beruflichen Lebens. Im Zuge der viel zitierten „Kognitiven Wende“ in der Psychologie bzw. der Entwicklung einer interdisziplinären „cognitive science“ setzte sich die Erkenntnis durch, dass Unterschiede im Lehrerhandeln und im Lehrerfolg nicht allein über Beobachtung des Lehrerverhaltens und seiner Kontextbedingungen aufklärbar sind, sondern dass bestimmten Überlegungen einer Lehrkraft vor, während und nach Handlungen und Entscheidungen dabei eine wichtige Rolle zukommt. Unter verschiedenen Bezeichnungen und Fragerichtungen wurde so das Denken von Lehrkräften zum zentralen Gegenstand (vgl. Anderson 1995): Varianten des Oberbegriffs „Lehrerkognitionen“ sind v. a. Lehrerwissen („teachers’ knowledge“), Überzeugungen („teachers’ belief systems“), Lehrererwartungen („teachers‘ expectations“), Subjektive Theorien („implicit theories“) und andere mehr. In diesem Beitrag sollen Lehrerkognitionen und eventuell damit verbundene Handlungsentscheidungen der Lehrkräfte zunächst in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden (Abschnitt 2), bevor auf die Beziehung zwischen Lehrerwissen und Lehrerhandeln eingegangen wird (Abschnitt 3) und wir uns schließlich konkreten Untersuchungsbereichen und deren Ergebnissen zuwenden (Abschnitt 4).
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Hanns-Dietrich Dann Grundannahmen der Lehrerkognitionsforschung und ihre praktische Bedeutung
Die Forschung über Lehrerkognitionen ist mehr oder weniger explizit von allgemeinen Grundannahmen ausgegangen, die sich mittlerweile im Rahmen empirischer Forschung bewährt haben. Sie lassen sich folgendermaßen umreißen (z. B. Dann 1994: 165): 1.
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5.
Lehrkräfte werden als autonom und verantwortlich Handelnde gesehen, d. h. als Personen, die nicht ausschließlich auf äußere Reize beruflicher Situationen und auf innere Antriebe reagieren, sondern die aktive Agenten sind bei der Erfüllung ihrer beruflichen Aufgaben wie auch in der Fortentwicklung ihrer persönlichen Praxis. Bei diesem Handeln gehen Lehrkräfte i. d. R. zielgerichtet vor, d. h. sie verfolgen bestimmte Zwecke, wollen kurz- oder längerfristig etwas Bestimmtes bei ihren Klienten erreichen. Diese Klienten sind v. a. natürlich die Schüler/innen, z. T. aber auch Angehörige des Kollegiums, der Rektor oder die Rektorin, Schulaufsichtsbeamte, Eltern oder Teile der Öffentlichkeit. Im Zuge des zielgerichteten Handelns strukturieren die Lehrkräfte ihren Handlungsraum aktiv-kognitv, d. h. die meist komplexen Situationen, in denen sie agieren und die oft mehrdeutig, rasch wandelbar, teilweise unvorhersehbar und immer kontextabhängig und mehrdimensional sind, werden fortlaufend analysiert, interpretiert und in bestimmter Weise rekonstruiert. Es laufen m. a. W. Denkprozesse ab, kognitive Prozesse oder handlungsbezogene Kognitionen. Auf dieser Basis wird eine Handlungslinie entwickelt, die durch ihre Realisierung fortlaufend neue Situationen schafft. Bei all dem greifen Lehrkräfte auf Wissensbestände zurück, die nur teilweise in der formalen Ausbildung erworben wurden, zum Teil auch schon vorher in der Kindheit und Schulzeit, zum großen Teil aber erst durch die eigene mehr oder weniger reflektierte Schulpraxis. Diese im Laufe der Zeit aufgebauten, relativ überdauernden kognitiven Strukturen können als professionelles Wissen bezeichnet werden. Lehrkräfte benutzen dieses berufliche Expertenwissen in ihrer alltäglichen Arbeit. Sie ziehen es heran zur Interpretation von Situationen, zur Entwicklung von Handlungsplänen, zur Handlungsausführung und bei der nachgängigen Handlungsbewertung. Das individuelle professionelle Wissen ist teilweise sozialen Ursprungs, d. h. es enthält auch überindividuelle gesellschaftliche Wissensbestände. Das individuelle Wissen ist maßgeblich mitbeeinflusst durch solche gemeinsamen Wissenssysteme, wie sie sich in gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen als Sinngebungen, Normen und Konventionen herausgebildet
Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen
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haben. Dadurch üben diese Institutionen, vor allem die Hochschule, das Schulsystem und die jeweilige Schule, aber auch Lehrerverbände einen gewissen kontrollierenden Einfluss auf die einzelne Lehrkraft aus. Die auf der dargestellten Basis betriebene Lehrerkognitionsforschung ist mit weitreichenden Konsequenzen für das Bildungssystem verbunden, die sich z. T. erst allmählich abzeichnen und durchsetzen oder vorerst programmatischen Charakter haben (vgl. auch Dick 1994; Marland 1995): 6.
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Als fundamental für alle weiteren Konsequenzen erscheint eine Neubewertung des praktischen Erfahrungswissens von Lehrkräften und die Reflexion ihrer beruflichen Praxis. Dieses Wissen wird nicht länger einseitig als relativ nebensächliche Begleiterscheinung, als reine Rechtfertigung des unterrichtlichen Handelns oder als von vornherein defizitäres und damit änderungsbedürftiges Wissensrelikt angesehen, vielmehr werden Lehrkräfte als mehr oder weniger weit fortgeschrittene Experten ihres eigenen Unterrichts akzeptiert, die eigenständige und wertvolle Lösungen für ihre Berufspraxis entwickeln können und ihr berufliches Handeln danach ausrichten. Damit sind Lehrkräfte nicht mehr entweder potenzielle Nutzer oder aber Ignoranten von Wissen und Technologien, die in der Unterrichtsforschung produziert werden, sondern sie setzen sich mit solchen Angeboten aktiv und konstruktiv auseinander und tragen im Austausch mit und teilweise eingebunden in Unterrichtsforschung zur Entwicklung eines professionellen Wissensfundus bei. Ihre Rolle ist nicht mehr die eines Untersuchungsobjekts, sondern die eines Untersuchungspartners. Von da her wird verständlich, dass Innovationen und Reformen im Bildungswesen sich nicht „von oben“ verordnen lassen, sowenig wie sie in der Praxis lediglich „umgesetzt“ werden. Vielmehr sind sie auf Auseinandersetzung und Umgestaltung an der Basis angewiesen, wo sie erst ihre eigentliche Qualität und Form gewinnen und wo sie schließlich ihre positive Wirkung entfalten sollen. Die persönlichen Sichtweisen und Erfahrungen der Lehrkräfte sind dafür eine entscheidende Voraussetzung und Gestaltungsgröße. Wissenstransfer in die Schulpraxis muss dort ansetzen und darauf aufbauen, wenn Akzeptanz entwickelt und aufrechterhalten werden soll. Schulentwicklungsprogramme sind nur auf einer solchen Basis der Selbststeuerung denkbar. Weitreichende Konsequenzen der Lehrerkognitionsforschung ergeben sich für die Entwicklungsprozesse bei den Schüler/innen. In dem Maße, in dem Lehrkräfte sich ihrer Überzeugungen und Subjektiven Theorien bewusst werden, in dem sie diese weiterentwickeln und sich mit anderen Personen,
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Hanns-Dietrich Dann
etwa im Rahmen kollegialer Praxisberatung, darüber austauschen, können sie die Qualität ihrer beruflichen Praxis verbessern. Indem sie damit die Lernumwelt in ihrer Klasse und die Unterrichtsqualität optimieren, erhöhen sie die Chancen für das Lernen ihrer Schüler/innen. 10. Hand in Hand damit geht die berufliche Entwicklung der Lehrkräfte, und zwar nicht als ein Vorgang, dem diese nur ausgesetzt sind oder der ihnen widerfährt, sondern als ein Prozess, den sie auch selbst in die Hand nehmen können. Berufliches Wachstum, Umgang mit beruflichen Krisen (Praxisschock, Stress, Burnout) sind nicht dem Zufall überlassen, sie unterliegen auch nicht allein äußeren Einflüssen, sondern können durch Reflexion der beruflichen Praxis aktiv gestaltet werden. So haben Lehrkräfte die Chance, ihre berufliche Situation, ihr berufliches Selbstverständnis und ihre persönliche Entwicklung zu verbessern. 11. Gewichtige Konsequenzen ergeben sich darüber hinaus für Ausbildungs-, Lern- und Trainingsprozesse in verschiedenen Phasen der Lehrerbildung. Indem man Lehranfängern hilft, ihre Überzeugungen und Einstellungen sowie ihre Bilder über sich selbst als künftige Lehrkräfte zu explizieren und zu reflektieren, können sie die kognitive Basis für ihr Handeln im Klassenzimmer klären und problematische Aspekte dieser Basis leichter erkennen. Bereits im Beruf stehende Lehrkräfte sind nur über die Auseinandersetzung mit ihrem praktischen Erfahrungswissen wirklich bereit und in der Lage, Fortbildungs- und Trainingsangebote aktiv zu nutzen und in ihrer weiteren Berufspraxis wirksam werden zu lassen. Das Lehrpersonal in Lehrerausund -fortbildung erhält durch eine bessere Einsicht in die Subjektiven Theorien ihrer Klienten die Chance, effektivere Lehrstrategien zu planen, die es diesen erleichtern, das Lehren zu lernen bzw. zu optimieren. 12. Nicht zuletzt hat ein solches Verständnis vom Lehren und Lernen langfristig positive Auswirkungen auf die Professionalität des Lehrerberufs. Die Fortentwicklung einer spezialisierten Wissensbasis und darauf abgestimmte Handlungsstrategien, Lehrmethoden und Lehrfertigkeiten ist auf der Ebene und im Kontext institutioneller und gesellschaftlicher Entwicklungen eine gewichtige Voraussetzung für die Fortentwicklung und Akzeptanz des Lehrerberufs. Analoge Annahmen und Konsequenzen gelten auch für die Schüler/innen. Auch diese sind eigenverantwortlich Handelnde und damit nicht nur Objekte des Lehrerhandelns. Faktisch greifen sie auf der Basis ihrer aktuellen Wissensbasis mitgestaltend in den Unterrichtsprozess ein. Ihre Lernergebnisse sind ebenfalls – entsprechend dem Bild des „proaktiven Lerners“ – Resultat einer aktiven Auseinandersetzung mit der Lernumwelt.
Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen 3
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Lehrerwissen und Lehrerhandeln
Aufgrund der oben dargestellten Grundannahmen leuchtet es ein, dass Lehrerkognitionen und Lehrerhandeln – ebenso wie Schülerkognitionen und Schülerhandeln – nur gemeinsam sinnvoll betrachtet werden können. Handeln ohne Wissensgrundlage und Wissensproduktion erscheint undenkbar. Mit seinem Spiralenmodell veranschaulicht beispielsweise von Cranach (1992: 12f) die dynamische Wechselwirkung als ein dialektisches Verhältnis zwischen Wissen und Handeln. Danach wird Handeln durch Wissen gesteuert, und Wissen wird durch Handeln bestärkt oder verändert. Wie diese Prozesse im Einzelnen zu sehen sind und ob gar die Dichotomie zwischen Wissen und Handeln ganz aufzugeben ist (vgl. die Theorien der situierten Kognition, z. B. Clancey 1993), ist Gegenstand theoretischer Überlegungen und empirischer Forschung.
3.1 Prototypen des (Lehrer)handelns In unserem Zusammenhang steht Lehrerhandeln als zielgerichtetes Handeln im Mittelpunkt. Im Allgemeinen werden darunter Verhaltensweisen eines Akteurs verstanden, die absichtlich, ergebnisorientiert und mehr oder weniger geplant ausgeführt werden und die zumindest teilweise bewusstseinsfähig oder sogar bewusstseinspflichtig sind. Die Einheiten dieses Handelns sind konkrete Handlungen, die sich durch ein Handlungsziel kennzeichnen lassen; Handlungen sind hier Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele. Sie können interaktiv sein (die Lehrkraft in der Klasse) oder mental (die Lehrkraft bei der Unterrichtsvor- oder -nachbereitung) und zugleich auch konkret (Hantieren mit Lernmaterial, Medien etc.). Neben dem zielgerichteten Handeln werden andere Prototypen des Handelns unterschieden (von Cranach 1994), wie etwa die ebenfalls ergebnisorientierten, aber durch reduzierte kognitive Steuerung gekennzeichneten AffektHandlungen (z. B. ein wenig professioneller Zornesausbruch). Von den ergebnisorientierten Handlungstypen sind zum einen die bedeutungsorientierten Handlungen zu unterscheiden, die soziale Bedeutungen schaffen (Unterrichtsrituale, Notengebung, Verweis erteilen etc.), zum anderen die prozessorientierten Handlungen, die um ihrer selbst willen ausgeführt werden, weil der Handlungsprozess an sich als wertvoll oder belohnend empfunden wird (evtl. das begeisterte Abschweifen der Lehrkraft zu ihrem Lieblingsthema). Zu den zielgerichteten Handlungen, die wegen ihrer Bedeutsamkeit (auch für das Lehrerhandeln) am häufigsten untersucht wurden, gehören v. a. folgende Untertypen (ähnlich von Cranach 1994; Hofer 1997: 231):
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2.
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Hanns-Dietrich Dann Originär-zielgerichtete Handlungen: Dies sind erstmals oder nicht allzu häufig ausgeführte Handlungen, die durch ihre bewusstseinspflichtige, hierarchisch-sequenzielle Steuerung gekennzeichnet sind (z. B. die Entscheidung, ob die Lehrkraft heute oder erst morgen Geld einsammeln lässt; ob sie noch eine Erklärung oder ein Beispiel nachschiebt oder lieber später auf ein Problem zurückkommt). Lehrerhandlungen dieses Typs werden als Prozess und Ergebnis kognitiver Analyse und Entscheidung angesehen. Sie sind auf verschiedenen Regulationsebenen hierarchisch gegliedert, d. h. globale Ziele und Pläne steuern Teilziele und Teilpläne. Zugleich sind sie sequenziell geordnet, wobei i. d. R. Phasen der Situationsauffassung, der Handlungsauffassung, der Handlungsausführung und der Handlungsergebnisauffassung unterschieden werden. Im Alltag ist hier vielfach mit eingeschränkter Rationalität zu rechnen, wenn etwa keine Alternativen in Betracht gezogen oder zu wenige Konsequenzen bedacht werden (sog. „Durchwursteln“). Routinehandlungen: Nach mehrfacher Wiederholung laufen diese Handlungen mit hoher Geschwindigkeit und unterbewusst oder nicht-bewusst gesteuert ab (z. B. Umgang mit Aufmerksamkeitsstörungen, Verständnisproblemen oder Meldungen der Schüler/innen). Diesen raschen, überlernten und gleichwohl situationssensitiven Handlungen liegen verdichtete kognitive Konzepte zugrunde. Dadurch kann die zielgerichtete Steuerung aufrechterhalten werden, aber zugleich wird das Bewusstsein entlastet und Kapazitäten zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen werden freigesetzt (Bromme 1992). Handeln unter Druck: Zwischen abgewogener Entscheidung und Routine kann dieser Handlungstyp angesiedelt werden, der angesichts von hoher Komplexität und Unsicherheit, unter Zeitdruck und Entscheidungszwang zustande kommt (z. B. die schnelle Reaktion der Lehrkraft in einer schwierigen Unterrichtssituation). Solche Handlungen zeichnen sich durch Schwerpunktbildung, Hintergrundkontrolle und ebenfalls Rückgriff auf komprimierte Gedächtnisstrukturen aus, so dass situationsübergreifenden Zielen und Plänen Rechnung getragen werden kann (Wahl 1991). Ein Großteil des interaktiven Lehrerhandelns in der Klasse („interactive teaching“) dürfte diesem Prototyp zuzurechnen sein.
Daneben kann es bei Überschreiten von Belastungsbedingungen über eine kritische Schwelle (Überforderung, Übermüdung, starke emotionale Prozesse) zur Desorganisation von Handlungen kommen (Tomaszewski 1978). Dabei verliert die übergeordnete zielorientierte Steuerung ihre koordinierende Funktion und rein reaktives Verhalten tritt auf (reizgesteuerte Reflexe oder unflexible automatisierte Reaktionen). Bei Lehrkräften kann eine solche Störung der Handlungsre-
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gulation eintreten, wenn sie besonders ärgerlich sind oder sich in der Verfolgung ihres Handlungsziels gehindert sehen; auch ein Zielwechsel zu einer Aggressionshandlung (z. B. Bestrafung oder Herabsetzung eines Schülers) ist möglich (Dann & Krause 1988). Störungen der zielgerichteten Handlungsregulation können auch durch sog. Imperativverletzungskonflikte hervorgerufen werden (Wagner 1993). Dabei kollidiert ein subjektiv verbindlicher Imperativ (z. B. „Die Schüler dürfen nicht schwätzen“) mit der Realitätswahrnehmung (Die Schüler schwätzen) oder mit einem zweiten Imperativ (z. B. „Der Unterricht muss lebendig sein“). Für die Sozialform des Gruppenunterrichts wurde ein Grundkonflikt zwischen Eingreifen und Nicht-Eingreifen nachgewiesen, der das Handeln der Lehrkräfte beeinträchtigen kann (Haag, von Hanffstengel & Dann 2001; von Hanffstengel 1997). Über die relative Häufigkeit der Handlungstypen ist wenig bekannt; ohnehin gibt es fließende Übergänge. Einen Anhaltspunkt liefern die Handlungsanalysen von Schreckling (1986). In sog. Selbstkonfrontations-Interviews („stimulated recall“, nachträgliches lautes Denken) wurden bei drei Lehrkräften insgesamt 17 Unterrichtsstunden auf Video aufgezeichnet und danach mit der jeweiligen Lehrkraft Abschnitt für Abschnitt noch einmal durchgegangen. Die Lehrkraft hatte die Aufgabe anzugeben, was ihr während des Unterrichts durch den Kopf gegangen war. Diese Gedanken wurden nach handlungstheoretischen Gesichtspunkten klassifiziert und schließlich bestimmten Zuständen der Handlungsregulation zugeordnet. Bei mehr als der Hälfte der Unterrichtsepisoden lag ein bewusst-problemlösendes Handeln vor. Bei gut einem Drittel der Episoden fand routiniertes Handeln statt, bei dem keine bewusste Handlungsplanung oder allenfalls eine einfache Handlungsplanung festzustellen war. Der Rest bezog sich auf gestörte Handlungsregulation, bei der Schwierigkeiten in der Handlungsplanung bzw. Ratlosigkeit vorherrschten (Handeln unter Druck, das nicht eigens unterschieden wurde, kann sich unter den beiden erstgenannten Handlungstypen verbergen).
3.2 Die professionelle Wissensbasis des Lehrerhandelns Die Wissensgrundlagen des Lehrerhandelns lassen sich nach unterschiedlichen Inhaltsbereichen untergliedern. Es gibt verschiedene Versuche, solche Differenzierungen theoretisch begründet vorzunehmen, die empirisch mehr oder weniger gut gerechtfertigt erscheinen. In jedem Fall beeindruckt die unglaubliche Vielfältigkeit des für den Lehrerberuf erforderlichen Wissens. Ein Großteil dieses Wissens, das aus unterschiedlichen Quellen erworben wird, muss von der einzelnen Lehrkraft eigenständig integriert werden. In Anlehnung an Grossman (1995)
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und Bromme (1997: 195ff) lassen sich etwa die folgenden Wissensbereiche akzentuierend unterscheiden, wobei zahlreiche Beziehungen zwischen ihnen bestehen: 1.
2.
3.
4.
Inhaltswissen. Es umfasst sowohl das Fachwissen des unterrichteten Schulfachs als auch das pädagogische Inhaltswissen („pedagogical content knowledge“, Shulman 1986). Letzteres bezieht sich etwa auf die Art, wie die Schüler/innen mit dem jeweiligen Stoff umgehen, welche Fehler sie dabei machen können und wie man den Stoff am besten strukturiert und vermittelt (Fachdidaktik). Auch die „Philosophie des Schulfachs“ kann dazu gezählt werden, d. h. Überzeugungen über dessen Sinn und Zweck im schulischen Zusammenhang. Curriculares Wissen. Hier handelt es sich eigentlich um eine Sonderform des Inhaltswissens, die jedoch nicht identisch mit dem wissenschaftlichen Fachwissen oder dessen Anfangsgründen ist. Die Schulfächer haben in ihrem fachlichen Aufbau innerhalb der Klassenstufen und über diese hinweg eine eigene Logik, in die auch Zielvorstellungen über Schule und Unterricht (z. B. Allgemeinbildungskonzeptionen) eingehen und äußere Bedingungen (z. B. verfügbare Stundenzahl und Bezug zu anderen Fächern) sowie Auffassungen über Eigenarten und Möglichkeiten der Lerner Berücksichtigung finden. Wissen über Lerner und Lernen. Dies ist Wissen über Prozesse des sozialen Lernens, des Wissenserwerbs und des Gedächtnisses, über Motive und Motivierung von Schüler/innen, über ihre physische und psychische Entwicklung, über soziale Prozesse und Strukturen in der Klasse. Dazu gehört auch das Wissen über Unterschiede der ethnischen Herkunft, des sozialen Status, des Geschlechts, des Alters und der Persönlichkeit der Schüler/innen sowie über Lern- und Verhaltensstörungen. Teilweise liegen hier, aber auch im pädagogischen Inhaltswissen die Grundlagen für diagnostische Kompetenzen, nicht nur im Hinblick auf die formalisierte Beurteilung (Notengebung), sondern v. a. auch auf die aktuelle Urteilsbildung während des Unterrichtens. Pädagogisches Wissen. Darunter ist (weitgehend fächerübergreifendes) Wissen über die Gestaltung des Unterrichtsablaufs, die gemeinsame Stoffentwicklung durch Lehrkraft und Schüler/innen, die Strukturierung von Unterrichtszeit auf verschiedenen Ebenen und über das Klassenmanagement (Aufrechterhaltung von Disziplin) zu verstehen, ebenso wie Wissen über allgemeine Lehrmethoden, den Einsatz von Medien und Sozialformen des Unterrichts. Hierzu gehören auch die Auffassungen über Schulkultur und deren Entwicklung sowie das pädagogische Ethos.
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6.
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Kontextwissen. Es schließt Wissen über die verschiedenen Rahmenbedingungen, Situationen und „settings“ ein, in denen die Lehrkräfte arbeiten, wie das Wissen über die eigene Schule, die Familien der Schüler/innen, den Schulsprengel, die Region und den kulturellen und historischen Hintergrund des Landes. Wissen über die eigene Person. Hierzu zählt das Bewusstsein über die eigenen Werte und Ziele, Eigenschaften, Stärken und Schwächen in Bezug auf das Lernen und die Erziehung, sowie die Erziehungsphilosophie.
In allen Fällen ist das Wissen gemeint, das sich in den Köpfen von Lehrkräften bildet und weiterentwickelt und in beruflichen Situationen benötigt und genutzt wird. Wie dieses Wissen im Einzelnen beschaffen und kognitiv repräsentiert ist (Wissensorganisation), wie es im Berufsalltag eingesetzt wird bzw. welche Funktionen es dort erfüllt (Wissensanwendung) und wie es erworben, ausgebaut und entwickelt wird (Wissenserwerb), ist erst in Ansätzen erforscht; doch gibt es Hinweise und Belege dafür, dass es sich in vielfältiger Weise auf die Planung und Durchführung von Unterricht und auf das Lernen der Schüler/innen auswirkt (zusammenfassend Grossman 1995; Bromme 1997). Sehr unterschiedlich sind die theoretischen Modellvorstellungen darüber, wie die verschiedenen Inhaltsbereiche des Lehrerwissens kognitiv repräsentiert sind. In der Tradition der Sozialpsychologie wurden häufig erziehungs- und schulbezogene Einstellungen und allgemeine Werthaltungen v. a. mittels LikertSkalen erfasst und analysiert (z. B. Dann, Cloetta, Müller-Fohrbrodt & Helmreich 1978). Andere Autoren (z. B. Ben-Peretz 1984) haben die persönlichen Konstrukte von Lehrkräften mit der sog. Gittertechnik erhoben. Auch die Rekonstruktion als semantische Netzwerke (propositionales Wissen) ist durchgeführt worden (z. B. Leinhardt 1989). Weiterhin wurde auf kontextgebundene und situtationsspezifische narrative Formen des Lehrerwissens aufmerksam gemacht, wie persönliches praktisches Wissen (z. B. Clandinin 1986) oder Fallwissen (z. B. Shulman 1991). Im deutschsprachigen Raum wurde schließlich Lehrerwissen in Form von Subjektiven Theorien im Rahmen des „Forschungsprogramms Subjektive Theorien“ (FST) rekonstruiert. Diese Forschungsrichtung wurde wissenschaftstheoretisch und methodologisch besonders sorgfältig begründet (Groeben 1986) und ist inzwischen auch methodisch vergleichsweise weit entwickelt (Scheele 1992); mittlerweile liegt dazu eine Vielzahl empirischer Arbeiten – nicht nur über Lehrerkognitionen – vor. Deshalb soll hier ausführlicher darauf eingegangen werden. Subjektive Theorien sind komplexe Formen der individuellen Wissensorganisation. Sie werden konzipiert als relativ überdauernde „Kognitionen der Selbstund Weltsicht, als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentati-
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onsstruktur ...“ (Groeben, Wahl, Schlee & Scheele 1988: 19). Subjektive Theorien enthalten also Wissenselemente (inhaltliche Konzepte), die in bestimmten Beziehungen (formalen Relationen) zueinander stehen, so dass Schlussfolgerungen möglich sind (z. B. Wenn-dann-Aussagen). Somit besitzen sie ähnliche strukturelle Eigenschaften wie wissenschaftliche Theorien und erfüllen analog diesen für den Alltagsmenschen „ ... die Funktionen (a) der Situationsdefinition i. S. einer Realitäts-Konstituierung, (b) der nachträglichen Erklärung (und oft der Rechtfertigung) eingetretener Ereignisse, (c) der Vorhersage (oder auch nur der Erwartung) künftiger Ereignisse, (d) der Generierung von Handlungsentwürfen oder Handlungsempfehlungen zur Herbeiführung erwünschter oder zur Vermeidung unerwünschter Ereignisse“ (Dann 1994: 166). Darüber hinaus kommt zumindest bestimmten Subjektiven Theorien eine handlungsleitende oder handlungssteuernde Funktion zu (siehe unten Wissensarten und Dann 2007). Innovative Verfahren zur Rekonstruktion Subjektiver Theorien sind im Rahmen einer dialogischen Hermeneutik entwickelt worden. Es geht dabei um die verstehende Beschreibung von Handlungen, d. h. ihre sinngebende Interpretation aus der Sicht der handelnden Personen selber, und zwar in einem Dialog zwischen Untersucher/in und Untersuchungspartner/in. Nach Erhebung der Inhalte der Subjektiven Theorie liegt der eigentliche Kern dieser Verfahren in der anschließenden Strukturierung. Für diesen Zweck sind eine Reihe von StrukturLege-Verfahren entwickelt worden (eine Übersicht findet sich bei Dann 1992). Dies sind grafische Verfahren, mit deren Hilfe Schaubilder der Subjektiven Theorien erstellt werden. Auf diese Weise wird es möglich, – unter Einhaltung bestimmter Verfahrensregeln – die individuelle Sichtweise der untersuchten Person (die Innensicht) angemessen und ausführlich zu rekonstruieren. Die zweiphasige Forschungsstruktur sieht vor, dass sich an diese erste Phase (der kommunikativen Validierung) eine zweite Phase (der explanativen Validierung) anschließt. Sie dient der Überprüfung, ob die in der ersten Phase ermittelten Gründe, Intentionen und Ziele des Handelnden auch für den außenstehenden Beobachter als Ursachen und Wirkungen seiner Handlungen gelten können. Da sich Menschen in ihren Sichtweisen auch irren können, geht es hier darum zu prüfen, ob die ermittelten Konstrukte realitätsangemessen sind (Beobachtung aus der Außensicht). Das subjektiv-theoretische professionelle Wissen von Lehrkräften ist auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad organisiert. So unterscheidet Laucken (1982) zwischen konkretem Fallwissen, fallübergreifendem Herstellungswissen, abstraktem, aber noch kontextabhängigem Regelwissen und eher kontextfreiem Funktionswissen; in einem Kernbereich liegt intuitives und schwer hinterfragbares Grundwissen (i. S. von Überzeugungssystemen). Beson-
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dere empirische Relevanz haben bislang v. a. zwei dieser Wissensarten gewonnen (vgl. Dann 1992: 9; 1994: 168f): 1.
2.
Herstellungswissen oder Handlungswissen ist ein Wissen darüber, was in bestimmten Situationen zu tun ist, um ein spezifisches Ziel zu erreichen. Es hat somit die Form von Situations-Handlungs-Folge-Erwartungen, enthält Entscheidungsbedingungen und Handlungsalternativen (z. B. „wenn kein Zeitdruck besteht, warte ich, bis alle Schüler/innen aufmerksam sind; wenn ich unter Zeitdruck stehe, ermahne ich die Schüler/innen zur Aufmerksamkeit“). Subjektiv-theoretisches Wissen dieser Art wird zur Regulation von Handlungen herangezogen, stellt also eine Wissensbasis für das praktische Handeln dar (berufliches „know how“). Funktionswissen ist ein Wissen über das Zustandekommen von psychischen Ereignissen und Zuständen, über „Funktionsweisen“ von Menschen (z. B. „eine Ursache für die Unaufmerksamkeit von Schüler/innen ist der zu häufige Fernsehkonsum“). Dieses Wissen repräsentiert das Erklärungspotenzial einer Person, das auch zur Rechtfertigung und Entlastung herangezogen werden kann.
Aus Funktionswissen lässt sich Herstellungswissen teilweise ableiten, und durch häufiges Handeln kann Funktionswissen zu Herstellungswissen verdichtet werden (vgl. Wahl 1991). Doch kann sich Funktionswissen auch weiterentwickeln (z. B. aufgrund neuer Informationen), ohne dass das Herstellungswissen und damit das Handeln dieser Entwicklung angepasst wird; umgekehrt kann sich Herstellungswissen verselbständigen (z. B. durch äußere Zwänge), ohne noch im Einklang mit dem Funktionswissen zu stehen (Dann & Humpert 1987). Funktionswissen dürfte überwiegend deklaratives Wissen (Wissen über Sachverhalte) darstellen, das relativ leicht der Aufmerksamkeit zugänglich und damit verbalisierbar ist. Herstellungswissen ist dagegen teilweise auch prozedurales Wissen, das der Ausführung von Routinehandlungen zugrunde liegt; damit ist es nur unter bestimmten Bedingungen und nicht immer vollständig der Aufmerksamkeit zugänglich. Für diese verdichteten Konzepte ist die Tragfähigkeit der Theoriemetapher teilweise umstritten (Bromme 1984), doch wird sie in diesem Zusammenhang zunehmend auch im angloamerikanischen Bereich verwendet („implicit theories“, zusammenfassend Marland 1995).
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3.3 Modelle des Lehrerhandelns Im Rahmen der Forschungen über Lehrerkognitionen ist eine Reihe von mehr oder minder komplexen Modellen entwickelt worden, die unterschiedliche Akzentuierungen der kognitiven Prozesse während des interaktiven Handelns der Lehrkräfte mit der Klasse beinhalten. Sie gehen alle davon aus, dass Lehrerhandeln als aktive Auseinandersetzung mit Unterrichtssituationen verstanden werden kann (vgl. auch Terhart 1984):
Unterrichten als Entscheidungshandeln (Shavelson 1973); Unterrichten als flexibles Anpassen (Hunt 1976); Unterrichten als Informationsverarbeitung (Joyce 1979); Unterrichten als Problemlösen (Bromme 1987).
Diese Modelle schließen sich gegenseitig keineswegs aus. In jedem Fall werden die modellierten Denkprozesse insofern als handlungsbezogen (von Cranach 1983) aufgefasst, als sie nicht nur mehr oder weniger entbehrliche Begleitphänomene des Handelns darstellen, sondern vielmehr konstitutive Bestandteile des Handelns selbst, deren Ausprägung sich auf die Auswahl und den jeweiligen Ablauf der konkreten Handlung auswirkt. Das beobachtbare Lehrerverhalten wird also durch bestimmte Überlegungen gesteuert, die in der Situation aktiviert werden. In der Folge sind differenziertere Modelle des Lehrerhandelns entwickelt worden, die auch Vorstellungen darüber enthalten, an welchen Stellen im Handlungsprozess überdauernde Kognitionen bzw. Subjektive Theorien aktualisiert und zur Handlungsregulation herangezogen werden (z. B. Alisch 1990; Dann, Humpert, Krause & Tennstädt 1984; Thommen, Ammann & von Cranach 1988; Wahl 1991). Auch das Handlungsmodell von Hofer und Dobrick (z. B. Dobrick & Hofer 1991; Hofer 1986) kann als Versuch gelten, die verschiedenen Einzelaspekte der Situationsauffassung, der Handlungsauffassung bis hin zur Handlungsausführung und Handlungsergebnisauffassung zu integrieren. Der Lehrer wird hier „... als zielgerichtet Handelnder begriffen, der einschlägige Informationen aufsucht und gezielt verarbeitet, und der sich nach dem Mittel-ZweckPrinzip aus mehreren Handlungsalternativen für eine entscheidet“ (Hofer 1986: 20). Die in diesem Modell definierten Konstrukte und ihre Verknüpfungen werden in einer Übersicht veranschaulicht (Abb. 1).
Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen Abbildung 1:
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Ein Modell des Lehrerhandelns („Modell sozialen Verhaltens“ nach Hofer & Dobrick 1981: 132).
Zieldimension
naive Theorien
Erfolgsniveau
Soll-Lage HandlungsErgebnisErwartung IstLage
BedeutungsBeimessung
Attribution
WirdLage
WirdSollVergleich
Bei Überein stimmung SchülerVerhalten Kein Eingriff
Handlungsentwürfe
Auswahl des Entwurfs mit der positivsten Bilanz
HandlungsAufwandErwartung
Spezifisches Lehrerverhalten
Mit dem Modell von Hofer und Drobrick lässt sich recht gut die HandlungsEntscheidungs-Theorie vereinbaren, die von Kraak und Mitarbeitern in Fortsetzung der sog. Erwartungs-Bewertungs-Theorien entwickelt wurde (z. B. Kraak 1987; 1988). Dies ist eine Klasse von Theorien, die Antizipationen von Handlungsfolgen und deren Bewertung berücksichtigen. Dabei geht es um die Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsentwürfen ebenso wie um die Entscheidung, ob eine bestimmte Handlung ausgeführt werden soll oder nicht. Dies kann die Entscheidung sein, eine Handlung zu beginnen, ebenso wie die Entscheidung, sie fortzusetzen (z. B. gegen Widerstände), abzubrechen oder zu modifizieren. Erwartungen und Bewertungen werden immer dann entscheidungs- und das heißt handlungsrelevant, wenn ein Handlungssubjekt „Entscheidungsbedarf“ erlebt, wenn es seine Situation so erlebt, als müsste es sich Fragen stellen wie: Soll ich das auf andere Weise versuchen? Bringt das, was ich jetzt tue, noch etwas? (Kraak 1988: 62f).
Im Zentrum der Theorie stehen drei Konstrukte: 1.
Die subjektive Verfügbarkeit von Handlungen. Um subjektiv verfügbar zu sein, muss eine Handlung bekannt sein, sie muss unter den gegebenen Um-
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2.
3.
Hanns-Dietrich Dann ständen grundsätzlich als ausführbar beurteilt werden und der Handelnde muss annehmen, dass er persönlich zu ihrer Ausführung in der Lage ist. Handlungen im Unterricht (und anderswo), die objektiv möglich wären, werden oft deshalb nicht gewählt, weil sie für die Lehrkraft subjektiv nicht verfügbar sind. Die subjektive Handlungsabhängigkeit von Ereignissen. Hier geht es um den Zusammenhang von Handlungen und deren Folgen, nämlich die erwartete Veränderung der Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Folgen durch die erwogene Handlung eintreten (evtl. auch des Ausmaßes, in dem sie eintreten). Für eine Lehrkraft mag etwa entscheidend sein, ob sie mit einer bestimmten Maßnahme störendes Verhalten von Schüler/innen verändern kann und welche Nebeneffekte dies evtl. hat. Die subjektive Bedeutsamkeit handlungsabhängiger Ereignisse. Dies ist die Bewertung der Handlungsfolgen, d. h. als wie bedeutsam sie erlebt werden. Sowohl positiv als auch negativ bewertete Folgeereignisse werden dabei berücksichtigt. Die Lehrkraft bewertet es z. B. positiv, wenn ein Schüler nach einer ironischen Bemerkung seine Störung einstellt, aber negativ, wenn der Schüler daraufhin verärgert ist.
Nun wird angenommen, dass für eine subjektiv verfügbare Handlung die subjektive Handlungsabhängigkeit jedes Folgeereignisses mit dessen subjektiver Bedeutsamkeit gewichtet wird (dies kann durch Multiplikation beider Größen geschehen oder auch durch andere Operationen). Die Summe aller dieser „Folgengewichte“ wird als subjektive Bilanz handlungsabhängiger Ereignisse bezeichnet. Von ihr hängt die Entscheidung für oder gegen die verfügbare Handlung ab; bei zwei oder mehr verfügbaren Handlungsalternativen wird die Handlung mit der positivsten Bilanz bevorzugt. Es gibt eine Reihe naheliegender Einwände gegen Handlungs- oder Entscheidungstheorien dieser Art; die meisten beruhen jedoch auf Missverständnissen (vgl. Hofer 1986: 22ff; Kraak 1988: 61ff). So wurde etwa eingewendet, die angenommenen Bilanzierungsprozesse seien für alltägliches Handeln (z. B. der Lehrkraft vor der Klasse) zu kompliziert. Die Theorie erhebt jedoch nicht den Anspruch, die tatsächlich ablaufenden Prozesse im Detail abzubilden. Vielmehr hat sie den Charakter einer sog. „Als-ob-Theorie“: Sie nimmt an, dass Menschen sich so entscheiden, als ob sie solche Bilanzierungen vornähmen. Ausschlaggebend ist dann, inwieweit sich eine solche Theorie empirisch bewährt, d. h. ob sie tatsächliche Entscheidungen oder Handlungspräferenzen voraussagen bzw. erklären kann. Für die Handlungs-Entscheidungs-Theorie ist dies bislang sehr gut gelungen (vgl. Kraak 1987; 1988). Keineswegs wird vorausgesetzt, dass die ablaufenden Prozesse sich in bewussten Kognitionen niederschlagen müssten.
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Die Aufmerksamkeit richtet sich nur dorthin, wo sie für den Fortgang der Handlung benötigt wird (z. B. wenn Schwierigkeiten oder ungewohnte Ereignisse auftreten). Nicht einmal der Einwand, Erwartungs-Bewertungs-Theorien könnten nur Handlungen als Ergebnis rationaler Entscheidungsprozesse abdecken, bei denen Gefühle eine geringe Rolle spielen, ist haltbar: Die Erwartungen von Handlungsfolgen können unrealistisch und irrational sein, und die Bewertungen dieser Folgen gefühlsgeleitet und leidenschaftlich: Vorausgesetzt wird nur, dass auch Menschen, die aufs höchste erregt sind oder sich sogar in einem Zustand von verminderter geistiger Klarheit befinden, eine Handlungswahl treffen und dabei von Vorstellungen, was die Handlungen bewirken werden, und von Bewertungen dieser Wirkungen geleitet werden. (Kraak 1988: 61).
Die Lehrer-Handlungs-Modelle beschränken sich weitgehend auf das personale System der Lehrkraft. Dies ist für zahlreiche Fragestellungen zwar legitim und fruchtbar (s. Hofer 1986), aber es schränkt den Geltungsbereich dieser Theorien ein. So haben sie keine Erklärungskraft mehr für Phänomene, die aus der Tatsache erwachsen, dass Unterrichten auch ein soziales Geschehen darstellt (vgl. u. a. Terhart 1984). Die Berücksichtigung von situativen, institutionellen oder gesellschaftlichen Bedingungen als „indirekte Entscheidungsbedingungen“ (die sich auf die „direkten Entscheidungsbedingungen“ der subjektiven Handlungsabhängigkeit etc. auswirken), kann diese Begrenzung nicht aufheben. Auch wenn man Schüler/innen ebenso wie die Lehrkräfte als handelnde und entscheidende Personen auffasst und die wechselseitige Verschränkung und Beeinflussung der Handlungsprozesse betont, ist dieses Problem noch nicht völlig gelöst. Dazu bedarf es einer systemtheoretischen Sichtweise (z. B. Brunner & Huber 1989; Spanhel & Hüber 1995). Beispielsweise können den einzelnen Phasen des Systemprozesses – Planung des Unterrichts, Unterrichtsdurchführung und Reflexion des Unterrichtsablaufs –, die schon Clark & Peterson (1986) als Kreisprozess dargestellt haben, jeweils spezifische und funktional sinnvolle Schwerpunkte der kognitiven Aktivität der Lehrkräfte zugeordnet werden. Während Tempo, Rhythmus und Inhalte bei Planungs- und Reflexionsprozessen der nahezu vollständigen Kontrolle durch die Lehrkraft unterliegen, kann sie die Interaktionsprozesse während des Unterrichts nur bedingt voraussehen, kontrollieren und steuern. Aufgrund von übergeordneten Systemgrößen („Erziehungs- und Bildungsauftrag“ im Rahmen des Schulsystems) ist sie gleichwohl für den Unterrichtsablauf verantwortlich. Für die Systemerhaltung ist hier der mehr oder weniger plangemäße Aktivitätsfluss, der die Systemgröße „Unterrichtsstoff“ transportieren soll, von hoher Bedeutung. Im Interaktionsprozess ist daher die empirisch beobachtete Häufung von Überwachungskognitionen (Carter 1990: 302f; Clark & Peterson 1986: 269;
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Seel 1997: 267), d. h. die Überprüfung, ob die Schüler/innen aktiv sind und der Ablauf noch plangemäß ist, funktional sinnvoll. Dysfunktional wären in dieser Phase in die Tiefe gehende Kognitionen über Inhalte und Instruktionsprozesse. Weiterhin ist unter systemischer Perspektive zu erwarten und nachweisbar, dass Lehrkräfte, die sich subjektiv eher unsicher hinsichtlich des Unterrichtsgegenstands fühlen bzw. objektiv bewertbare Defizite im Fachwissen aufweisen, zu lehrerzentrierten und für die Schüler/innen weniger anspruchsvollen Intruktionsmethoden neigen. Um den Aktivitätsfluss nicht zu gefährden, können sie es kaum riskieren, offene Fragen zu stellen oder Sozialformen mit ungewissen und komplexen Ergebnissen einzusetzen. Dagegen zeigen Lehrkräfte mit hoher Komplexität und vertieftem Verständnis des Fachwissens mehr Auseinandersetzung mit pädagogisch-didaktischen Fragen in der Planung und ihre Schüler/innen können im Unterricht eher neue Wege der Erarbeitung des Stoffes gehen (Carlson 1987, zit. n. Bromme 1997: 195; Seel 1997). Insgesamt könnten Fragen nach dem Zusammenhang zwischen der Expertise des professionellen Wissens, der Unterrichtsplanung und den Interaktionsentscheidungen auf der Basis eines Systemverständnisses von Unterricht eine neue Qualität erhalten.
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Untersuchungsbereiche der Lehrerkognitionsforschung
Im Folgenden sollen drei vergleichsweise intensiv erforschte Untersuchungsbereiche der Lehrerkognitionsforschung und einige wichtige Ergebnisse dazu dargestellt werden.
4.1 Die Rolle von Kausalattributionen Lehrkräfte neigen dazu (wie andere Menschen auch) nach Ursachen für Ereignisse zu suchen. Besonders bei erwartungswidrigen Ereignissen und solchen, die eigenen Zielen und Bedürfnissen zuwiderlaufen (z. B. bei Misserfolgen), wird die Warum-Frage gestellt. „Kausalattributionen sind subjektive Zuschreibungen von Ursachen für wahrgenommene Ereignisse in der Umwelt“ (Hofer 1986: 197). Dabei wird angenommen, dass die zugeschriebene Ursache das Ereignis herbeigeführt hat; die Ursache „erklärt“ somit für den Beobachter das Ereignis. Im Rahmen von Subjektiven Theorien sind Ursachenerklärungen Bestandteil des Funktionswissens. Schülerleistungen etwa werden von Lehrkräften besonders auf die Faktoren Begabung (Intelligenz, Fähigkeit o. ä.) und Anstrengung (Ausdauer, Fleiß u. ä.) zurückgeführt, aber auch auf schulische und außerschulische Faktoren. Bekannt geworden ist das Einteilungsschema von Weiner et al. (1971),
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in dem die herangezogenen Kausalfaktoren zum einen nach ihrer zeitlichen Stabilität eingestuft werden und zum anderen danach, ob sie in der Person (internal) oder in der Umwelt (external) verankert sind (Tab. 1). Tabelle 1: Wahrgenommene Ursachen für (Schüler-)Leistungen (n. Weiner et al. 1971) Verankerung Zeitstabilität stabil variabel
internal Begabung Fähigkeit Anstrengung Fleiß
external Aufgabenschwierigkeit Zufall (Glück/Pech)
Auch für störendes und aggressives Schülerverhalten haben Lehrer ein reichhaltiges Erklärungspotenzial zur Hand, das sich ebenfalls nach Stabilität und Verankerung klassifizieren lässt (z. B. Dann 1990). Im Handlungsprozess (vgl. das Modell Abb. 1) ermöglichen solche Attributionen, Erwartungen über die Weiterentwicklung der Situation auszubilden (die Wird-Lage, Situations-Ergebnis-Erwartungen); dadurch kann die Lehrkraft beurteilen, ob sie überhaupt eingreifen soll. Wenn sich die Situation (im Hinblick auf die Soll-Lage) günstig zu entwickeln scheint (ein leistungsschwacher Schüler reißt sich auf einmal zusammen), ist ein Eingreifen weniger erforderlich als wenn die Dinge schlecht laufen (der leistungsschwache Schüler zeigt keinerlei Anstrengungsbereitschaft). Die zweite Funktion von Ursachenzuschreibungen in der Handlungssteuerung besteht darin, dass sie für die Lehrkraft Möglichkeiten eröffnen, wie sie eingreifen könnte (Handlungsentwürfe). Über die Einwirkung auf die Ursache kann das Ereignis evtl. günstig beeinflusst werden (dem sorglosen Schüler ins Gewissen reden). Für das Handeln ist zwar ausschlaggebend, welche Ursache die Lehrkraft für richtig hält, unabhängig davon, ob sie damit Recht hat. Doch für den Handlungserfolg ist es wichtig, verschiedene mögliche Ursachen ins Auge zu fassen, aus denen oft unterschiedliche Konsequenzen zu ziehen sind (Hofer 1986: 200). Für den Umgang mit interpersonellen Konflikten lässt sich dies systematisch nutzen (Humpert & Dann 2001, Kap. 5.1; MüllerFohrbrodt 1999, Kap. 5.2.4; Tennstädt, Krause, Humpert & Dann 1990, Kap. 4). Lehrkräfte unterscheiden sich danach, welche Ursachenzuschreibungen für die Leistungen ihrer Schüler/innen sie bevorzugen. Dies hängt mit ihrer Bezugsnormorientierung (BnO) zusammen (Rheinberg 2006). Lehrer mit sozialer BnO
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achten besonders auf die Leistungsunterschiede zwischen ihren Schüler/innen (interindividuelle Querschnittvergleiche). Daraus ergibt sich im Zusammenhang mit der von diesen Lehrkräften bevorzugten Angebotsgleichheit der Eindruck eines relativ stabilen Leistungsgefälles in der Klasse und der gemeinsame Leistungsfortschritt wird eher ausgeblendet. Dazu passt die Annahme zeitstabiler Kausalfaktoren wie Begabung, Intelligenz oder Arbeitsstil. Lehrkräfte, die (zusätzlich) die individuelle BnO anwenden, beachten dagegen vermehrt die Leistungsentwicklung der einzelnen Schüler/innen (intraindividuelle LängsschnittVergleiche). Dadurch wird auch der gemeinsame Lernzuwachs aller deutlich und es rücken eher zeitvariable Faktoren wie Anstrengung, Interesse oder der eigene Unterricht ins Blickfeld. Die Unterschiede in der BnO wirken sich in differenzieller Weise auf die motivationale Entwicklung der Schüler/innen aus. Nach dem Selbstbewertungsmodell der Leistungsmotivation (Heckhausen 1972, zit. n. Rheinberg 2000: 84ff) begünstigt die individuelle BnO eine erfolgszuversichtliche Leistungsmotiventwicklung und Kompetenzeinschätzung, während bei ausgeprägt sozialer BnO besonders bei leistungsschwächeren Schüler/innen ungünstige Motivationseffekte (in Richtung auf Misserfolgsängstlichkeit) auftreten (vgl. Überblick über empirische Belege bei Mischo & Rheinberg 1995). Der erfolgszuversichtliche Schüler attribuiert Erfolge internal und Misserfolge variabel; dadurch fällt die Selbstbewertungsbilanz insgesamt positiv aus (vgl. Tab. 1). Der misserfolgsängstliche Schüler schreibt dagegen Erfolge eher externalen, Misserfolge aber stabilen Ursachen zu; selbst bei Gleichverteilung von Erfolg und Misserfolg erwächst aus diesem Erklärungsmuster eine negative Selbstbewertungsbilanz. Dies lässt sich für Motivförderungsprogramme nutzen, indem man versucht, Lehrkräfte zur stärkeren Berücksichtigung der individuellen BnO v. a. bei der informellen Leistungsrückmeldung in der alltäglichen Unterrichtsarbeit zu bringen (Rheinberg & Krug 1993). Eine motivationstheoretische Erklärung bietet sich auch für das Phänomen des sog. „Pygmalioneffekts“ an. In einem Aufsehen erregenden Feldexperiment haben Rosenthal & Jacobson (1968) erstmals gezeigt, dass die Gedanken, die sich ein Lehrer über seine Schüler macht, deren intellektuelle Leistungsfähigkeit beeinflussen können. Bei zufällig ausgewählten Schüler/innen, die ihren Lehrern aufgrund eines angeblich speziellen Tests als „Aufblüher“ benannt worden waren, ergab sich (auf den ersten beiden Klassenstufen) im Laufe des Schuljahres ein signifikant größerer Zuwachs im IQ als bei den übrigen Schüler/innen. Die (in diesem Fall künstlich induzierten) Erwartungen der Lehrkräfte haben ihr eigenes Verhalten und das der Schüler so beeinflusst, dass am Ende genau das eintrat, was die Lehrer erwartet hatten. Diese Erwartungseffekte im Klassenzimmer stellen eine bereichsspezifische Variante der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ („self-fulfilling prophecy“) dar und sind in unzähligen Untersuchun-
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gen hinsichtlich ihrer Auftretensbedingungen und Wirkungsweise analysiert worden (zusammenfassend z. B. Good 1995; Hofer 1997; Ludwig 2006). Die motivationstheoretische Erklärung nimmt nun an, dass eine hohe Lehrererwartung mit erfolgszuversichtlichen Ursachenzuschreibungen für Erfolg und Misserfolg der betreffenden Schüler/innen verbunden ist (geringe Lehrererwartung umgekehrt mit misserfolgsmeidenden Attributionen). Dies äußert sich – z. T. in subtiler Weise – im verbalen und nonverbalen Verhalten der Lehrkräfte. Die Schüler/innen nehmen es wahr, entnehmen daraus, was die Lehrkraft von ihnen hält und übernehmen ggfs. diese Begabungseinschätzung zusammen mit dem Attributionsstil in ihr Leistungsselbstbild. Aufgrund der insgesamt günstigen (bzw. ungünstigen) Motivationsprozesse passen sich schließlich die Leistungen im Laufe der Zeit entsprechend an. Die alternative Erklärung stellt auf die je nach Lehrererwartung unterschiedliche Lehrintensität ab. Danach werden erwartungshohen Schüler/innen stärkere sozio-emotionale Unterstützung gewährt (Klima), mehr und anspruchsvollerer Stoff vermittelt (Input), mehr Anwort- und Fragegelegenheiten geboten (Output) sowie differenziertere und günstigere Rückmeldungen gegeben (Feedback). Diese besseren (im Falle geringer Lehrererwartung schlechteren) Lernbedingungen ziehen entsprechende Leistungen nach sich. Beide Erklärungsmöglichkeiten schließen sich nicht aus und sind wahrscheinlich gleichermaßen an der Leistungsentwicklung der Schüler/innen beteiligt.
4.2 Lehrerkognitionen und erfolgreiches Lehrerhandeln Die Suche nach dem „guten Lehrer“ hat eine lange Tradition; die Ursprünge der empirischen Forschung zur „Lehrereffektivität“ („teacher effectiveness“, „effective teaching“) liegen in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Mit der Einbeziehung von Lehrerkognitionen haben diese Bemühungen eine neue Qualität gewonnen. Sie stützen sich teilweise auf die kognitionspsychologische Expertiseforschung und tragen umgekehrt auch zu dieser bei (vgl. Berliner 1995; Gruber 2006). Das zentrale methodische Paradigma der Expertiseforschung ist der quasi-experimentelle Experten-NovizenVergleich. Hier zeigt sich, dass die exzellenten Leistungen von Experten in einem inhaltsspezifischen und komplexen Handlungsbereich auch von noch so intelligenten und motivierten Anfängern oder Laien nicht erreicht werden können. Voraussetzung dafür ist die durch langjährige Ausbildung, Training und Erfahrung erworbene bereichsspezifische Wissensbasis. Die theoretisch begründete Identifizierung von Lehrkräften, die als Experten gelten können, ist allerdings nicht unproblematisch (vgl. dazu Bromme 1992: 46ff; Haag 1999: 64ff).
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Allgemein ist damit „ ... der berufserfahrene Lehrer gemeint, der zum Lernerfolg der Schüler etwas beitragen kann und dessen Schüler auch das Interesse und die Freude an der Schule und am Unterricht nicht verlieren“ (Bromme 1992: 8). Globale Qualitätsurteile (durch Vorgesetzte, Kollegen, Schüler/innen) oder einfache Maße (Ausbildungsstand, Dienstalter) sind dafür wenig aussagekräftig; eine differenzierte und multikriteriale Bestimmung des Lehrerfolgs bzw. der Unterrichtsqualität erscheint vielmehr notwendig (z. B. Dann, Tennstädt, Humpert & Krause 1987; Weinert & Helmke 1996). Die Struktur und Wirkungsweise des professionellen Wissens, das die Grundlage für die Unterrichtsplanung und für das rasche und situationsangemessene Handeln von Lehrkräften bildet, ist erst in Ansätzen untersucht; doch erscheinen aufgrund bisheriger Ergebnisse (z. B. Berliner 1987; Dann et al. 1987; Leinhardt 1989; zusammenfassend Bromme 1992; 1997) erste allgemeinere Aussagen zulässig. So lässt sich etwa die Wirkung des Expertenwissens „ ... als eine Veränderung der kategorialen Wahrnehmung von Unterrichtssituationen“ (Bromme 1997: 199) verstehen: Die grundlegenden Geschehenseinheiten, mit denen Unterrichtssituationen aufgefasst und interpretiert werden, sind anders beschaffen als bei Lehranfängern. Sie verfügen z. B. über Konzepte typischer Unterrichtsereignisse, unterrichtsmethodischer Maßnahmen und dazu gehöriger Arbeitsaktivitäten der Schüler/innen und achten weniger auf äußerliche, für den Aktivitätsfluss unwesentliche Details. Sie haben eher einen Begriff von der ganzen Klasse, gehen von komplexeren und abstrakteren Analyseeinheiten aus, die über einzelne Unterrichtsstunden hinausreichen etc. Wichtig sind dabei Kategorien für fachbezogene Aktivitätsstrukturen. „Es sind Ereignisschemata (in einem kognitionspsychologischen Sinne), in denen fachinhaltliche Bedeutungen mit Aktivitäten von Schülern und Lehrern in einen Zusammenhang gebracht werden“ (a. a. O. 199). Übereinstimmend hat sich weiterhin gezeigt, dass das Wissen von erfolgreicheren Lehrkräften in verschiedenen Bereichen reichhaltiger und differenzierter ist als dasjenige von Lehranfängern. Dies betrifft v. a. situationsbezogene Informationen; Lehrerexperten wissen mehr über die spezifischen Merkmale bestimmter unterrichtlicher Situationen. Dabei ist einerseits eine Komplexitätsreduktion erkennbar, weil von nebensächlichen Details abgesehen wird und wichtige Informationen gebündelt werden, anderseits muss die Wissensbasis hinreichend komplex sein und wesentliche Bedingungen der Unterrichtsvorgänge repräsentieren, um den Anforderungen des Unterrichts gerecht werden zu können. Zugleich ist das Expertenwissen besser organisiert, d. h. in sich zusammenhängender und stimmiger im Hinblick auf die operativen Ziele des Unterrichtshandelns. Die relevanten Sachverhalte (Akteure, Objekte, Bedingungen des Unterrichts) sind vielfältiger und damit situations- und zielangemessener verknüpft.
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Dadurch ist dieses Wissen leichter und schneller zugänglich und es kann flexibler genutzt werden. Aufgrund der Organisation ihres Wissens ist es erfolgreicheren Lehrkräften möglich, unter gleichzeitiger Berücksichtigung vieler Situationsbedingungen mehr oder weniger auf Anhieb angemessen zu handeln. Unter diesem Aspekt des Zugriffs auf die Wissensbasis und damit deren Nutzung ist anzunehmen, dass aufgrund langjähriger Übung eine Verdichtung des subjektivtheoretischen Wissens stattgefunden hat und dass es teilweise in prozeduralisierter Form vorliegt (Bromme 1992; Wahl 1991). Erst dadurch ist es zu einem Expertenwissen geworden, das dem (beobachtbaren) Können zugrunde liegt, das also auch effizientes Routinehandeln und Handeln unter Druck ermöglicht (vgl. Abschn. 3.1). Für eine spezifische Unterrichtsform, die Sozialform des Gruppenunterrichts, hat Haag (1999; Haag & Dann 2001) Qualitätsmerkmale des Könnens von Lehrkräften (Handlungsaspekte, die nachweislich mit günstigen Auswirkungen bei den Schüler/innen zusammenhängen) und Qualitätsmerkmale des Lehrerwissens (Komplexität und Organisation der kognitiven Struktur, Differenziertheit der Entscheidungsbedingungen sowie inhaltliche Qualität des Wissens) zueinander in Beziehung gesetzt. Die Merkmale wurden aus umfangreichen Unterrichtsaufzeichnungen von Gruppenunterrichts-Sequenzen einerseits und aus Rekonstruktionen der Subjektiven Theorien von Lehrkräften in Form des Herstellungswissens (vgl. Abschn. 3.2) andererseits gewonnen (s. Dann, Diegritz & Rosenbusch 1999). Hier zeigt sich, dass Lehrkräfte, die guten Gruppenunterricht halten, auch über entsprechende kognitive Voraussetzungen verfügen. Umgekehrt sind Lehrkräfte ohne diese Voraussetzungen nicht in der Lage, einen qualitativ hochwertigen Gruppenunterricht zu praktizieren. Im Rahmen desselben Projekts weist Lehmann-Grube (1998; 2000) nach, dass die individuellen handlungsleitenden Wissensbestände der Lehrkräfte Anteile überindividuellen, sozial konstruierten Wissens enthalten. Drei Typen solcher Sozialen Repräsentationen (i. S. von Moscovici 1984; Thommen, Ammann & von Cranach 1988) des Gruppenunterrichts sind nachweisbar, die sich empirisch begründet als Entwicklungsstufen auffassen lassen (Gruppenunterricht trotz engem Rahmen von Lehrplan und strukturellen Bedingungen der Schule; Gruppenunterricht als Erweiterung des Rahmens ...; Gruppenunterricht als Aufhebung des Rahmens ...). Dadurch kann jede Lehrkraft mit hoher Objektivität nach dem aktuellen Entwicklungsstand ihres Herstellungswissens beurteilt werden, und dieser wirkt sich auf die Qualität und den Erfolg ihres Unterrichts aus.
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4.3 Zur Bedeutung von Handlungsentscheidungen Die komplexe Wissensbasis des Lehrerhandelns ermöglicht nicht nur eine aktive, sinnstiftende Informationsverarbeitung, situations- und zielgerichtete Problemlösung sowie flexibles Anpassen an ständig wechselnde Gegebenheiten im Unterricht, sie ist auch die Grundlage für vielfältige Entscheidungen (vgl. Abschn. 3.3). Empirische Schätzungen besagen, dass Lehrkräfte während des Unterrichts durchschnittlich mindestens alle zwei Minuten eine Entscheidung fällen (Clark & Peterson 1986). Bereits Peterson & Clark (1978) haben den Unterrichtsprozess auf Seiten der Lehrkraft als ständigen Wechsel zwischen Routinen und Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen modelliert. Danach handeln Lehrkräfte am häufigsten (in 60 bis 70 % der Episoden) routiniert, weil keine besonderen Vorkommnisse auftreten; nur wenn das Schülerverhalten nicht mehr tolerierbar erscheint, sind Entscheidungen erforderlich (die allerdings auch zum „Weitermachen wie bisher“ führen können). Die sog. Erwartungs-Bewertungs-Theorien versuchen vorherzusagen, welche Handlung im Entscheidungsfall gewählt wird (vgl. die Handlungs-Entscheidungs-Theorie Abschn. 3.3). Entscheidungen werden zwischen verschiedenen Handlungsentwürfen getroffen, entweder als Planungsentscheidungen oder als interaktive Entscheidungen während des Unterrichts. Ein Handlungsentwurf (Handlungsplan) ist die kognitive Repräsentation einer Handlung, die in einer aktuellen Situation aktiviert werden kann, um diese in eine gewünschte Situation zu überführen oder um eine unerwünschte Entwicklung der Situation zu vermeiden. Abgesehen von Einzeluntersuchungen (vgl. Clark & Peterson 1986; Humpert & Dann 1988) sind die subjektiven Repräsentationen von Handlungsentwürfen und ihre Kategorisierung bislang nicht systematisch analysiert worden. Nach Hofer (1986: 261f) können sich Handlungsentwürfe von Lehrkräften auf fünf Bereiche beziehen: 1. 2. 3. 4. 5.
Fachinhalte (Auswahl von Stoff, Aufgaben, Problemen); Methoden (didaktische Vermittlungsformen von Fachinhalten); Organisationsformen (Formen der Differenzierung, der Sozialform und der dabei notwendigen organisatorischen Maßnahmen); Hilfsmittel (Einsatz von Medien, technischen Hilfen und Materialien); Psychologische Aspekte (nicht-stoffbezogene Handlungsentwürfe des Umgangs mit den Schüler/innen, der Kommunikation, des Klassenmanagements, der erzieherischen Maßnahmen).
Handlungsentwürfe können verschiedene Ausprägungsgrade annehmen (z. B. mehr oder weniger Lob); sie können als allgemeine Prinzipien (z. B. wenn immer möglich, loben) oder als konkrete Aktionen (z. B. „das hast Du viel besser
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gemacht als letztesmal“) repräsentiert sein; Teilmengen der gesamten Handlungskompetenz werden situationsspezifisch aktiviert. Die Situationsspezifität von Lehrerentscheidungen zeigt sich v. a. auch daran, dass in der realen Unterrichtssituation bei der Entscheidung für einen Handlungsentwurf eine Vielzahl von Entscheidungsbedingungen berücksichtigt wird. Untersuchungen mit der Methode der Selbstkonfrontation (vgl. Abschn. 3.1) konnten solche Situationsvariablen aufdecken, von denen die Wahl eines Handlungsentwurfs abhängig gemacht wird (Clark & Peterson 1986; Fogarty, Wang & Creek 1983; Hofer 1986: 284ff; Krause 1986). Sie lassen sich vier Kategorien zuordnen: 1. 2.
3. 4.
Wissen über Schüler/innen (Eigenschaften, Persönlichkeitsmerkmale, Geschlecht, Begabung, Arbeitshaltung etc.); Vorausgegangenes Schülerverhalten (ausbleibende Antworten, Fehler, Initiativen, hohe oder niedrige Aufmerksamkeit, vermutete Handlungsabsicht des Schülers, Intensität des Verhaltens etc.); Selbstbezogene Kognitionen und Emotionen der Lehrkraft (Besorgnis, das Gesicht zu verlieren, Ärger, gute Laune, Stress etc.); Äußere Umstände (erste/letzte Stunde, Unterrichtsfach, Zeitbegrenzung, Unterbrechung von außen, Faktoren des Lernstoffs und des Lehrmaterials etc.).
Aufgrund seines Literaturüberblicks resümiert Hofer (1986: 289): „Insgesamt scheinen Schülervariablen als Ausgangspunkte für Entscheidungen im Disziplinund Management-Bereich zu überwiegen, während ihr Gewicht etwas geringer ist, wenn es um Instruktionsentscheidungen geht.“ Für die Maßnahmen bei Unterrichtsstörungen zeigte sich z. B. (Krause 1986): Am häufigsten wurden Merkmale des Schülerverhaltens selbst berücksichtigt (39 %), gefolgt von Wissen über Schülereigenschaften (24 %), selbstbezogenen Kognitionen und Emotionen (21 %) und schließlich äußeren Umständen (16 %). Grundlage für die Ermittlung der letztgenannten Ergebnisse waren Subjektive Theorien (i. S. des Herstellungswissens) von Lehrkräften, die mit Hilfe des dialog-hermeneutischen Verfahrens (vgl. Abschn. 3.2) der „Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen“ (ILKHA) rekonstruiert wurden (zusammenfassend Dann & Barth 1995). Ein Beispiel zeigt Abbildung 2. Mit dieser Methode lassen sich die handlungsrelevanten Entscheidungsbedingungen und die davon abhängigen Handlungen differenziert und im zeitlichen Ablauf darstellen. Auf diese Weise können nicht nur einfache Situations-Handlungs-Abfolgen sondern auch längere Interaktionssequenzen zwischen dem Akteur und seinen Interaktionspartnern abgebildet werden. Je nach Anzahl
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der beteiligten Entscheidungsbedingungen ergeben sich Bedingungskonstellationen, die mehr oder weniger differenziert sein können. Im Gruppenunterricht etwa bedenken Lehrkräfte durchschnittlich drei (die einzelnen Lehrer zwischen 1,6 und 6,6) Bedingungen, bevor sie eine Handlung ausführen (Lehmann-Grube 2000). Abbildung 2:
Ausschnitt der Subjektiven Theorie einer Lehrkraft: Beginn einer Gruppenarbeitsphase (die Entscheidungsbedingungen sind fett umrahmt) (nach Lehmann-Grube 2000: 115) Lehrer zieht sich zurück (fertigt evtl. Tafelanschrieb an), gibt den Schülern Zeit
ja +
Gruppen arbeiten. Es herrscht Ruhe?
ja +
formeller Dinge + nein -
Bewusstes Ignorieren, greift nicht sofort ein, beobachtet aber
Unruhe legt sich?
Unruhe wegen …
inhaltlicher Art +
Lehrer gibt einigen Gruppen gezielte Hilfen
nein -
Lehrer geht zu betreffender Gruppe
Auch und gerade für Lehrerexperten erfordert die Identifizierung konkreter Situationen Denkprozesse, in denen Wissensbestände aktiviert werden. Wenngleich erfolgreiche Lehrkräfte über mehr Handlungsroutinen verfügen als weniger erfolgreiche, so erschöpft sich ihr unterrichtliches Handeln keinesfalls in Routine. Gerade erfahrene Lehrkräfte greifen bei ihren interaktiven Entscheidungen häufiger und in differenzierterer Weise auf Wissen über Schüler/innen zurück (Fogarty et al. 1983). Im Falle des Handelns unter Druck (vgl. Abschn. 3.1) scheinen beide Prozesse verknüpft zu sein: Aufgrund von verdichteten Wissensstruk-
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turen (vgl. Abschn. 3.2) laufen gleichsam „routinierte Entscheidungen“ ab (ausführlicher Dann 2007). Das Interesse an Entscheidungsprozessen beruht letztlich auf der Annahme, dass die dabei ablaufenden Erwägungen sich auch auf tatsächliches Verhalten auswirken. Allerdings ist es nicht selbstverständlich, dass die Handlungsentwürfe, für die sich eine Person entscheidet, auch in beobachtbare Verhaltensabläufe umgesetzt werden. In den Untersuchungen über Entscheidungsprozesse wurden häufig nur die Auswirkungen auf Handlungspräferenzen oder Handlungsabsichten überprüft. Von besonderem Interesse sind jedoch Untersuchungen, in denen der Zusammenhang zwischen Wissen, Denkprozessen bzw. Entscheidungen einerseits und beobachtbarem Lehrerverhalten andererseits analysiert wird. Clark & Peterson (1986) berichten über Arbeiten, die recht enge Zusammenhänge zwischen Unterrichtsplanung (v. a. behandelter Inhalt, Darbietungssequenz des Stoffes, Verteilung der Zeiten, Ausmaß von Gruppenarbeit und Materialauswahl) und deren Realisierung im Unterricht gefunden haben. Dabei beziehen sich Planungsentscheidungen mehr auf die Organisation und Strukturierung des Unterrichts; feinere Details werden meist offen gelassen. Sobald der Unterricht beginnt, sind interaktive Entscheidungen gefordert. Hofer (1986: 292ff) und Haag (1999: Kap. 2.2) referieren eine Reihe von Arbeiten dazu. In einigen ergeben sich nur schwache bis mittlere Zusammenhänge. Auffallend besser ist die Befundlage (vgl. auch Hofer 1997: 230f), wenn situationsspezifisch rekonstruierte Subjektive Theorien von Lehrern (i. S. des Herstellungswissens) mit später oder zuvor beobachtetem realen Handeln in vergleichbaren Unterrichtssituationen in Beziehung gesetzt wurden. Trotz sehr unterschiedlichen methodischen Vorgehens ergeben sich durchweg eindeutige Zusammenhänge (Barth 1999; Barth 2002: Kap. 15; Dann & Humpert 1987; Dann & Krause 1988; Dann et al. 1987; Haag 1999: Kap. 7; Haag 2000; Haag & Dann 2001; Holtz 2005; Mischo 2000; Wahl, Schlee, Krauth & Murek 1983). Auch wenn im Einzelfall andere Erklärungen denkbar sind, so lassen sich doch diese Befunde in ihrer Gesamtheit im Rahmen der dargestellten handlungstheoretischen Überlegungen interpretieren: Viel spricht dafür, dass Subjektive Theorien von Lehrkräften zur Handlungssteuerung im Unterricht herangezogen werden und dass sie somit als Wissensbasis des Lehrerhandelns gelten können. Nicht zuletzt wird diese Auffassung auch durch die seit Jahren in der Schulpraxis eingesetzten Methoden zur Modifikation des Lehrerhandelns gestützt, die auf dieser Basis entwickelt und evaluiert wurden (Dann & Humpert 2001; Tennstädt, Krause, Humpert & Dann 1990; Wahl 2002; Wahl, Wölfing, Rapp & Heger 1995; vgl. auch Dann 2007). Der kognitive Ansatz wird – ebenso wie andere Ansätze – Lehrerhandeln niemals restlos aufklären können. Die theoretischen Vorstellungen mögen auch
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in vieler Hinsicht zu idealisiert und statisch sein: „Personen finden neue Ziele in der Handlung, sie aktualisieren nach dem Wahrnehmen von Handlungsergebnissen neue Kognitionen, modifizieren alte ständig. Kognitionen sind dynamisch, wandelbar, integriert“ (Hofer 1986: 301). Nicht zuletzt liegen gerade darin schöpferische Potenziale des Menschen; denn er kann die Regeln, nach denen er sich richtet, auch selbst wieder ändern.
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Emotionale und motivationale Aspekte in der LehrerSchüler-Interaktion Uli Sann & Siegfried Preiser
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Zusammenfassung
Emotionen und Motive spielen eine wesentliche Rolle für eine gelingende Schüler-Lehrer-Interaktion und für erfolgreiches schulisches Lernen. Fehlen positive Emotionen beim Lernen, ist die Informationsverarbeitung oberflächlicher und Lernmotivation und Lernleistung sind geringer. Um positive Emotionen und Lernmotivation in der Schule zu fördern gibt es eine ganze Reihe empirisch gesicherter Empfehlungen. Während es zum Verständnis der relevanten Prozesse bei der Entwicklung von Lern- und Leistungsmotivation umfassend untersuchte theoretische Konzepte gibt, steht die wissenschaftliche Betrachtung von Emotionen im pädagogischen Kontext noch am Anfang. Emotionen sind dabei sowohl Auslöser für, als auch die Folge von gelingenden oder nicht gelingenden Lernprozessen. Obwohl ein breites Wissen über motivierende Lernbedingungen vorliegt, bleiben die Chancen einer nachhaltigen Förderung der Lernmotivation häufig ungenutzt. Zum einen begrenzen gesellschaftliche Einflussfaktoren den Spielraum, zum anderen ist auch die Lehrmotivation der Lehrenden von Bedeutung. Auch eine gute Lehre hängt zusammen mit positiven Emotionen der Lehrenden, für die wiederum eine gelingende Lehrer-Schüler-Interaktion einen wichtigen Beitrag leistet.
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Einleitung
Im Zentrum von Unterricht in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung stehen Informationen und Kognitionen. Aber auch die Frage, wie Lernende für das Mitmachen, Mitdenken, Verstehen und Lernen zu begeistern sind, beschäftigt Lehrende seit Jahrtausenden – angefangen von den antiken Propheten und Philosophen über die drill-orientierten „Pauker“ des 19. Jahrhunderts bis hin zu den modernen Didaktikern. Seit den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts befassen sich neben der Pädagogischen Psychologie auch Fachdidaktiken verstärkt mit der Lernmotivation (z. B. Solmecke 1983). Obwohl Lehrkräfte meist eine
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Reihe guter Vorschläge auflisten können, wie sie ihre Schüler motivieren könnten, bleiben die Umsetzungsbemühungen oft im Stadium guter Absichten stecken. Manchmal bestehen organisatorische Hindernisse, teilweise fehlen Verhaltenskompetenzen oder eine ausreichende Eigenmotivation (Krug & Kuhl 2005). Die Rolle von Emotionen beim Lernen und in der Lehrer-Schüler-Interaktion wird erst seit einigen Jahren stärker hervorgehoben (vgl. z. B. Meyer & Turner 2002; Wild, Hofer & Pekrun 2006). Neben der schon seit längerem gut untersuchten Schul- und Prüfungsangst (vgl. Czeschlik in diesem Band) geht es um ein breites Spektrum weiterer Emotionen, wie z. B. Ärger, Langeweile und Neid, Freude und Zuneigung. Da es zur Förderung der Motivation in der Schule bereits einige wissenschaftlich fundierte und anschaulich aufbereitete Handreichungen gibt (z. B. Pintrich & Schunk 2002; Preiser & Sann 2006; Rheinberg & Krug 2005), nehmen die Emotionen im Folgenden einen etwas größeren Raum ein. Nach einigen Überlegungen zur Bedeutung von Emotion und Motivation in der Schule und in der Lehrer-Schüler-Interaktion sowie einer Erläuterung der grundlegenden Begrifflichkeiten wird auf pädagogisch relevante Modellvorstellungen zur Lernmotivation hingewiesen. Danach wird auf die Beschreibung, Entwicklung und Auswirkung von Emotionen in der Schule eingegangen. Anschließend werden theoretisch und empirisch fundierte Anregungen für die Gestaltung lern- und leistungsförderlicher motivationaler und emotionaler Bedingungen im schulischen Kontext zusammengestellt. Schließlich werden Motive, Ziele und Emotionen von Lehrern sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen angesprochen.
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Der Klassenraum voller Motive und Gefühle?
Motive und Emotionen spielen in der Lehrer-Schüler-Interaktion eine entscheidende Rolle: Beschimpfungen oder Strafen hindern Schüler an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse und sind meist mit Enttäuschung, Ärger oder Wut verbunden. Umgekehrt ärgert sich eine Lehrkraft über störende Verhaltensweisen ihrer Schüler. Lob und Zuwendung befriedigen die Bedürfnisse nach Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit. Dabei entstehen Emotionen wie Freude oder Stolz. Das durch ein Lob hervorgerufene Wohlbefinden motiviert dazu, das Verhalten beizubehalten. Auch das Ende eines unangenehmen Gefühls beeinflusst zukünftiges Verhalten. Wenn ein Schüler spürt, wie die Prüfungsangst nachlässt, sobald er sich einer schwierigen Aufgabe entzieht, wird beim nächsten Mal wieder zum Vermeidungsverhalten tendieren. Kognitiv orientierte Unterrichtsmodelle legen den Schwerpunkt auf die Informationsverarbeitung. Diese wird jedoch sowohl von emotionalen als auch von
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motivationalen Prozessen beeinflusst. Angst führt beispielsweise dazu, dass komplexe Informationen nicht angemessen verarbeitet werden können. Unterricht stößt an Grenzen, wenn es nicht gelingt, Interesse für die Inhalte zu wecken. Eltern, Schüler und Öffentlichkeit erwarten von Lehrkräften einen motivierenden Unterricht, in dem man sich wohl fühlen kann. Persönliche Zuwendung und gelungene Motivierung gelten als zentrale Charakteristika einer guten Lehrkraft. Zuwendung und flexibles Eingehen auf individuelle Bedürfnisse von Lernenden erweisen sich auch tatsächlich als bedeutsam für die Unterrichtsqualität und den Schulerfolg (vgl. Perrez, Huber & Geisler 2006). Fehlinterpretationen von Gefühlen und die daraus folgenden unangemessenen Handlungen sind eine häufige Quelle von misslingenden Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schülern. Lange Zeit wurden vor allem negative Emotionen wie Angst und Ärger als Störfaktoren für leistungsbezogene Interaktion thematisiert. Mittlerweile gilt die Aufmerksamkeit auch positiven sozio-emotionalen Aspekten von Lehrer-Schüler-Interaktionen, beispielsweise dem Wohlbefinden (vgl. Perrez, Huber & Geisler 2006), dem Vertrauen (vgl. Schweer in diesem Band) oder anderen Aspekten des Klassenklimas (vgl. von Saldern in diesem Band).
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Motivation, Emotion, Kognition und Handlung
Motive sind persönliche Neigungen, bestimmte Ziele anzustreben und bestimmte Handlungen auszuführen. Sie beziehen sich auf spezifische Inhaltsbereiche, z. B. Kontakt, Leistung, Macht oder Geborgenheit. Damit Motive verhaltenswirksam werden, bedarf es einer situativen Anregung. Nur wenn in einer Situation konkrete Anreize für die Zielerreichung oder zumindest erfolgversprechende Handlungsgelegenheiten wahrgenommen werden, wird das Motiv zur Motivation aktiviert. Anreize und Handlungsgelegenheiten bereitzustellen, ist also eine zentrale Motivierungsaufgabe für Lehrkräfte. Emotionen sind immer situativ bedingt, ausgelöst durch Ereignisse und innere Verarbeitungsprozesse. Wie ein Schüler allerdings auf Zurückweisung, Anerkennung, Bedrohungen usw. reagiert, hängt auch von individuellen Dispositionen ab, von der subjektiven Interpretation der Situation, von der Sensibilität oder Erregbarkeit und von der Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu regulieren. In welchem Ausmaß eine Bedrohung Angst auslöst, wird einerseits von der wahrgenommenen Bedrohlichkeit der Situation, andererseits von der individuellen Ängstlichkeit beeinflusst. Kognitionen, Motive, Emotionen, Handlungen und der situative Kontext bilden ein Gesamtsystem, das nur zu verstehen ist, wenn alle Komponenten beachtet werden (s. z. B. Meyer & Turner 2002).
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Uli Sann & Siegfried Preiser Modellvorstellungen der Motivationspsychologie
Inhalts- und Prozesstheorien: In den Anfängen der Motivationsforschung wurden inhaltliche Klassifikationen in Form umfangreicher Motivlisten zusammengestellt, die von Hunger und Niesen bis hin zur Neugier reichten. Andere Theorien versuchten, alle menschlichen Motive auf ein oder zwei Grundmotive zurückzuführen, beispielsweise auf Sexualität und Aggression (Sigmund Freud) oder auf das Machtmotiv und das Gemeinschaftsgefühl (Alfred Adler). Am bekanntesten unter den Inhaltstheorien wurde die sogenannte Motivpyramide von Abraham Maslow – ein Modell, das fünf hierarchisch angeordnete Motivebenen postuliert: Physiologische Grundbedürfnisse, Sicherheit, Zuwendung und Kontakt, Anerkennung und schließlich Selbstverwirklichung als das Bedürfnis, die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten auszuloten, auszuleben und weiter zu entwickeln. Die unterschiedlichen, jeweils als zentral postulierten Inhalte schienen der Willkür der Wissenschaftler zu entspringen; deshalb setzten sich in der Folge Prozesstheorien durch. Diese Theorien machen keine Aussagen über inhaltliche Motive, sondern versuchen die Bewertungsprozesse zu erklären, die zu einem mehr oder weniger motivierten Einsatz für bestimmte Ziele führen. Um welche Ziele es sich dabei handelt, kann von Person zu Person unterschiedlich sein, die scheinbare Beliebigkeit der Inhaltstheorien wird also auf die handelnden Personen selbst ausgelagert. Das grundlegende Modell der Prozesstheorien, das sogenannte Erwartungs x Wert-Modell, geht auf den Mathematiker Pascal zurück: Menschen zeigen umso stärker motivierte zielorientierte Handlungsweisen, je wertvoller ihnen das angestrebte Handlungsziel erscheint und je größer die subjektiv erwartete Wahrscheinlichkeit ist, das Ziel durch ihre Handlungen zu erreichen. Inhaltstheorien haben ihre Bedeutung nie verloren; Themen wie Leistungsmotivation und Leistungsangst, Macht und Aggression wurden vielfach mit Prozesstheorien verknüpft. In aktuelleren Motivationsmodellen werden Selbstbestimmung, Kompetenzerleben und soziale Bindungen als grundlegende Bedürfnisse postuliert (vgl. Deci & Ryan 1993). Zusätzlich lässt sich die Suche nach Ordnung, Strukturierung und Sinn als Motiv auffassen, das – zusammen mit der Suche nach Verlässlichkeit und Vertrautheit – einem grundlegenden Geborgenheitsmotiv zuzuordnen ist (vgl. Preiser 1990). Am intensivsten erforscht wurden die Lern- und Leistungsmotivation: Das Lernmotiv beinhaltet den Wunsch, Neues zu lernen und sich Wissen anzueignen; es zeigt sich bereits in der frühkindlichen Neugier. Im schulischen Kontext wird das Lernmotiv vor allem auf die Bereitschaft bezogen, vorgegebene Lernstoffe zu bearbeiten; insofern ist es eher dem Leistungsmotiv zuzuordnen. Unter Leis-
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tungsmotiv wird das Bedürfnis verstanden, Aufgaben zu bewältigen, die als herausfordernd erlebt werden. Die Gegenüberstellung von extrinsischer und intrinsischer Motivation thematisiert explizit das Verhältnis von äußeren Anreizen und inneren Antrieben. Als extrinsisch motiviert bezeichnet man Verhalten, das um eines äußeren Anreizes willen durchgeführt wird. Intrinsisch motiviert ist ein Verhalten, das um seiner selbst willen durchgeführt und dessen Ausführung als befriedigend erlebt wird. Aufgrund der positiven Emotionen wird es intensiver ausgeführt und dauerhafter aufrechterhalten. Intrinsische Motivation können Lehrende nicht durch äußere Anreize herstellen, aber sie können sie in ihrem Unterricht unterstützen. Selbst wenn Lernende einen Lerninhalt nicht als angenehm empfinden, erleben sie sich als selbstbestimmt, wenn sie von der Nützlichkeit und Bedeutung der erlernten Inhalte und Fähigkeiten überzeugt werden. Auch Interessen haben eine motivierende und eine emotionale Komponente. Sie beziehen sich auf bevorzugte Gegenstandsbereiche oder Tätigkeiten (s. Stöger & Ziegler 2003). Interessen können als besondere Beziehung von Personen zu Lerninhalten verstanden werden. Die auf diese Inhalte gerichteten Lernhandlungen sind mit positiven Gefühlen bis hin zur Begeisterung verbunden. Bei interessegeleiteten Handlungen fühlt sich die Person frei von äußeren Zwängen aus sich selbst heraus motiviert. Krapp (2005: 34) versteht dabei die „auf einem starken Interesse beruhende Bereitschaft, sich freiwillig, freudvoll und zielstrebig mit einem bestimmten Lerngegenstand zu befassen“ als den eigentlichen Prototyp intrinsischer Lernmotivation und nicht „die zweckfreie spielerische Tätigkeit“. Da Interessen geweckt oder interessante Arbeits- und Lernformen angeboten werden können, besteht hier ein erfolgversprechender Handlungsspielraum für Lehrkräfte, um effektives Lernen einerseits und subjektives Wohlbefinden andererseits zu fördern und Langeweile zu verhindern. Besonders betont wird die Rolle des emotionalen Erlebens im FlowKonzept von Csiksentmihalyi. Flow ist ein äußerst positiv erlebter Zustand hoher unwillkürlicher Konzentration auf eine Tätigkeit, bei der man alles um sich herum vergessen kann und in der man eine hohe subjektive Übereinstimmung zwischen eigenen Fähigkeiten und den Anforderungen der Situation erlebt (s. Engeser & Vollmeyer 2005). Flow können weder Lernende noch Lehrende erzeugen, aber es können günstige Rahmenbedingungen hergestellt werden. Wille und Handlungssteuerung: Prozesse der Umsetzung von Absichten werden teilweise aus dem Begriff der Motivation ausgeklammert und als Volition (Wille) bezeichnet. Das Augenmerk richtet sich dabei auf Prozesse der Handlungsplanung und -umsetzung mit den Phasen Auswahl, Planung, Durchführung und Bewertung von Handlungen.
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Erfolgs- und Misserfolgsorientierung: Personen unterscheiden sich in zwei Richtungen des Leistungsmotivs: dem Motiv, Erfolg anzustreben, verbunden mit Erfolgszuversicht, und dem Motiv, Misserfolg zu vermeiden, verbunden mit Misserfolgsängstlichkeit. Situative Einflussfaktoren sind vor allem die Erwartung von Erfolg und Misserfolg (wie schwierig erscheint die Aufgabe, wie hoch sind die subjektiven Wahrscheinlichkeiten für Erfolg und für Misserfolg?) und die Anreize von Erfolg und Misserfolg (wie wertvoll wäre ein Erfolg, wie schlimm ein Misserfolg?). Die spezifische Kombination von Person- und Situationsvariablen entscheidet darüber, welche Ansprüche sich eine Person setzt, welche Aufgabenschwierigkeit sie wählt, inwieweit sie Anstrengungsbereitschaft oder Vermeidungstendenzen zeigt. Einflussmöglichkeiten bestehen darin, den Schülern Hinweisreize und Interpretationshilfen zu geben. Subjektive Modelle: Personen unterscheiden sich in ihren subjektiven Interpretationen, indem sie Erfolg und Misserfolg eher auf innere oder auf äußere, auf stabile oder variable, auf kontrollierbare oder unkontrollierbare Faktoren zurückführen. Mit diesen Einschätzungen verbunden ist die Entwicklung von generellen und spezifischen Kompetenz- und Wirksamkeitsüberzeugungen. Durch Feedback und die Anregung angemessener Kausalattributionen (Ursachenzuschreibungen) lässt sich eine positive Selbstbewertung fördern und die Bereitschaft erhöhen, Leistungssituationen auch zukünftig aufzusuchen und Leistungen zu erbringen. Förderlich ist dabei insbesondere die Zuschreibung von Misserfolgen auf veränderbare Ursachen (siehe Stöger & Ziegler 2003). Bezugsnormorientierung der Lehrkräfte: Die Orientierung an einer sozialen Bezugsnorm, also die Bewertung aufgrund der relativen Position in der Klasse, hindert Schüler daran, sich als kompetente Verursacher eigener Erfolge zu erleben, da Erfolge von der Leistung anderer Schüler abhängen. Der Fokus auf individuelle Veränderungen über die Zeit fördert dagegen die Selbstwirksamkeit, d. h. die Tendenz, Leistungsergebnisse als Resultat der eigenen Anstrengungen zu sehen. Aufgaben-Orientierung und Performanz-Orientierung: Schüler, die ihr Ziel eher in einer Steigerung der eigenen Kompetenz sehen und – ähnlich wie im Konzept der intrinsischen Motivation – an der Aufgabe selbst interessiert sind, weisen einen höheren Wissenszuwachs auf als Schüler, die sich eher an dem erzielten Leistungsergebnis und der sozialen Anerkennung orientieren. Leider erweist sich der Anteil an genuin aufgabenorientierten Schülern in Untersuchungen als eher gering (13,7 % nach Köller 1998). Dies liegt vermutlich daran, dass auch die Lehrkräfte eher das Performanz-orientierte Verhalten unterstützen.
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Emotionen in Lern- und Leistungssituationen
Schulisches Lernen ist mit einer breiten Palette an emotionalen Erfahrungen verbunden. Sowohl im Unterricht als auch bei den Hausaufgaben können Emotionen Lernen behindern oder fördern. Gelingendes oder misslingendes Lernen führt wiederum zu starken Emotionen. Angst lässt sich beispielsweise als Vermeidungsmotivation mit hohen emotionalen Anteilen auffassen. Umgekehrt hat Stolz eine positive Verstärkungsfunktion. In Konzepten wie Interesse, intrinsische Motivation oder Flow sind deutliche affektive Anteile von Freude oder Begeisterung enthalten. Die in der Schule auftretenden Emotionen bestimmen wesentlich mit über das Wohlbefinden von Schülern und Lehrkräften (siehe Wild, Hofer & Pekrun 2006). Emotionen sind damit ganz entscheidend für eine anhaltende Lernmotivation. Emotionen in Lern- und Leistungssituationen werden auch als Lern- und Leistungsemotionen bezeichnet. Leistungsemotionen beruhen auf der Bewertung von Verhalten oder Resultaten aufgrund bestimmter Gütemaßstäbe (siehe Götz 2004). Lernrelevante Emotionen treten beim Erwerb von Wissen oder Fertigkeiten auf (siehe Grieder 2006). Sie lassen sich danach klassifizieren, ob sie positiv oder negativ erlebt werden, ob sie sich auf vergangenes (z. B. Stolz, Scham), gegenwärtiges (z. B. Freude, Langeweile) oder zukünftiges (z. B. Hoffnung, Angst) Erleben beziehen. Weiterhin lassen sich aufgabenbezogene Emotionen (z. B. Erleichterung, Stolz) von sozialbezogenen (z. B. Dankbarkeit, Ärger, Neid) unterscheiden (Götz 2004; Pekrun, Götz, Titz & Perry 2002). Als relevante Emotionen im schulischen Kontext gelten vor allem Angst, Ärger und Freude (Pekrun, Götz, Tietz & Perry 2002), Langeweile (Götz & Frenzel 2006), Neid und Zuwendung (Astleitner 2000). Aber auch Enthusiasmus, Hoffnung, Erleichterung, Stolz, Dankbarkeit, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Scham, Enttäuschung oder Überraschung können schulische Motivation und Leistung beeinflussen (Pekrun, Götz, Tietz & Perry 2002). Leistungsangst resultiert aus dem Zusammenwirken von Leistungsängstlichkeit und bedrohlichen Leistungsanforderungen. Sie lässt sich deshalb auch mit Misserfolgs-Vermeidungsmotivation gleichsetzen. Zwar kann Angst vermehrte Anstrengungen zur Vermeidung eines Misserfolgs haben, häufig aktiviert sie aber Strategien zur Vermeidung der gesamten Leistungssituation und für die Aufgabe irrelevante und somit störende Gedanken. Die Beschäftigung mit den Sorgen schränkt die Nutzung geistiger Ressourcen für das Lernen ein. Ärger als Reaktion auf eine empfundene Schädigung, Ungerechtigkeit oder Frustration stellt nicht nur ein Problem für schulisches Lernen dar, wenn er sich in aggressivem Verhalten äußert. Auch die Notwendigkeit, den Ärger „runterschlucken“ zu müssen, wird als unangenehm erlebt und führt zu Unwillen gegenüber derartigen
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Situationen (Titz 2001). Freude kann sich auf das Lernen selbst oder das erfolgreiche Erledigen einer Aufgabe beziehen (vgl. Titz 2001). Schüler mit einer hohen Freude am Lernen berichten ein höheres Kompetenzempfinden sowie ein effektiveres Arbeitsverhalten und weisen bessere Lernleistungen auf. In der Regel nimmt die Lernfreude wie auch die Lernmotivation im Laufe der Schulzeit ab. Dies gilt vor allem für schlechte Schüler (vgl. Grieder 2006). Neid beruht auf Vergleichen mit Mitschülern. Die Bewertung von bestehenden Unterschieden hängt im hohen Maße von der Leistungsrückmeldung durch die Lehrkräfte und vom Klima in der Klasse ab (vgl. Astleitner 2000). Zuneigung und Wertschätzung gegenüber den Schülern ist eine entscheidende Basis für erfolgreiches Lehren (Meyer & Turner 2002). Langeweile tritt auf, wenn eine Person, die an sie gestellten Anforderungen als gering einschätzt und weder äußere Anreize noch Interesse vorhanden sind.
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Die Entwicklung von Lernemotionen
Unterschiedliche emotionale Reaktionen werden häufig auf kognitive Bewertungsprozesse zurückgeführt. Untersuchungen zur Entstehung von Prüfungsangst zeigen, dass ungünstige Einschätzungen der eigenen Fähigkeiten, Misserfolgserwartung und eine hohe subjektive Relevanz von Misserfolg mit Prüfungsangst eng korreliert sind (siehe Wild, Hofer & Pekrun 2006). Die Entwicklung von Lernemotionen wird wesentlich mitbestimmt durch die Lehrer-Schüler-Interaktion, vor allem durch die Unterrichtsgestaltung, Autonomieunterstützung, Leistungsanforderungen, Leistungsrückmeldungen und Wertevermittlung (Pekrun 2000). Ein zeitlich und organisatorisch gut strukturierter, verständnisorientierter Unterricht, eine konsequente Leitung der Klasse, fähigkeitsangemessene, abwechslungsreiche Aufgaben von mittlerem Schwierigkeitsgrad, eine individuelle und bedarfsabhängige Förderung der Schüler und das Ermöglichen von Eigenund Gruppenaktivitäten können allgemein als förderlich für positive Lernemotionen gelten (vgl. Maier 2003; Grieder 2006). Diese Kriterien decken sich weitgehend mit jenen, die auch zu einer Zunahme von Wissen und Fertigkeiten führen. Auch die Möglichkeit, selbst eine Anpassung von Aufgabenstellungen an die eigenen Fähigkeiten vornehmen zu können, also die Unterstützung von Autonomie, ist der Entwicklung positiver Lernemotionen wie Freude und Hoffnung dienlich (Pekrun 2000). Wenn Lernende ihre grundlegenden Bedürfnisse nach Selbstbestimmung, Kompetenzerleben und sozialer Einbindung in der Lernsituation erfüllt sehen, entstehen positive Lernemotionen (Titz 2001). Ein hohes Ver-
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trauen in die eigenen Fähigkeiten ist mit Freude und mit wenig Angst verbunden (Götz 2004). Von hoher Bedeutung sind auch die Ansprüche der Umwelt an die Schüler. Ob sich Erwartungen z. B. eher an einem guten Abschneiden im sozialen Vergleich, dem Erreichen gesetzter Ziele oder einer individuellen Verbesserung orientieren, hat Auswirkungen auf die individuellen Erfolgsaussichten und damit auf die Ausbildung von Emotionen wie Bewunderung, Neid, Stolz oder Scham. Ängste entstehen, wenn schulische Leistungsanforderungen unklar sind, ein autoritärer Umgangsstil herrscht oder das Klassenklima wettbewerbsorientiert ist (siehe Wild, Hofer & Pekrun 2006). Leistungsrückmeldungen wie Lob oder Tadel können zum Auftreten starker Emotionen führen. Noch vor einer Rückmeldung entstehen Emotionen wie Hoffnung auf Erfolg oder Furcht vor Misserfolg. Leistungsbezogene Werte werden auch über Modelllernen weitergegeben. Die Begeisterung eines Lehrers für den Unterricht wirkt positiv auf das Klima im Klassenraum und stellt ein zentrales Merkmal für die Glaubwürdigkeit eines Lehrers dar. Bedeutsam für das Auftreten von Lernemotionen sind schließlich auch die unmittelbare Lernsituation und deren Bewertung durch die Lernenden. Signale für Bedrohung oder Langeweile können zu ungünstigen Bewertungen führen und sich hinderlich auf Lernabsicht und Lernanstrengung auswirken. Der Einschätzung einer Lernsituation kommt eine wesentliche Vermittlungsrolle zwischen übergreifenden motivationalen Orientierungen und dem tatsächlichen Lernverhalten zu (vgl. z. B. Boekaerts 2001).
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Auswirkungen von Emotionen auf schulisches Lernen
Es zeigen sich positive Zusammenhänge der Leistung mit positiven, aktivierenden Emotionen (z. B. Freude) und negative Zusammenhänge mit negativen, deaktivierenden Emotionen (z. B. Langeweile) (Pekrun, Götz, Titz & Perry 2002). Langeweile geht mit geringer Anstrengungsbereitschaft und der Hinwendung zu angenehmeren Tätigkeiten einher. Korrelationen zwischen Prüfungsangst und Leistung liegen typischerweise um r = -.30. Längsschnittanalysen deuten dabei auf eine wechselseitige Beziehung von Angst und Lernleistung hin. Zur Erklärung eines Einflusses von Emotionen auf Lernen und Leistung werden vor allem drei Komponenten als vermittelnde Faktoren hervorgehoben: der Einfluss von Emotionen auf die Lernmotivation, auf die Verfügbarkeit kognitiver Ressourcen sowie auf die Nutzung von Lernstrategien (s. Wild, Hofer & Pekrun 2006). Positive, aktivierende Emotionen fördern die schulische Motivation. Negative Emotionen beeinträchtigen das Lernen, weil sie zu einer Reihe von Ablen-
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kungs- und Ausweichstrategien führen. Ist eine Vermeidung der Situation nicht möglich, können aktivierende Emotionen wie Angst oder Ärger aber auch zu Anstrengungen motivieren. Da Emotionen aber kognitive Ressourcen beanspruchen, können sie die aufgabenbezogene Aufmerksamkeit und die effektive Informationsverarbeitung beeinträchtigen. Die leistungshemmende Wirkung von aufgabenirrelevanten Gedanken aufgrund von Misserfolgsangst ist gut belegt (siehe Wild, Hofer & Pekrun 2006). Bei einem hohen Interesse an den Lerninhalten kann die Lernfreude die Aufmerksamkeitszuwendung und Konzentration erhöhen (Pekrun, Götz, Titz & Perry 2002). Positive Emotionen erleichtern die Verwendung tiefgreifender, verstehensorientierter Lernstrategien, während negative Emotionen (z. B. Langeweile oder Angst) eher zu einer oberflächlichen Informationsverarbeitung führen. Weiterhin scheinen positive Emotionen generell einen divergenten, kreativen Denkstil und negative Emotionen eher einen konvergenten, analytischen Denkstil zu begünstigen (siehe Preiser 2006).
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Pädagogische Einflussnahme und Selbststeuerung
Ziel jeder Erziehung ist der reife, selbständige, intrinsisch motivierte Mensch, der sich selbst Ziele setzt, Handlungspläne entwickelt, Erfolgschancen realistisch einschätzt, zielorientiertes Handeln initiiert und auch gegen Widerstände und Ablenkungen aufrecht erhält und so sein Handeln selbst reguliert. Aber sind nicht Erziehung und Selbstregulation Widersprüche in sich selbst? – Spannungsfelder sind es sicherlich, aber man darf Ziel und Ausgangssituation nicht verwechseln. Um die Fähigkeit zur Eigenmotivation und Selbstregulierung zu entwickeln, sind vielfältige Anreize, Anregungen, Vermittlung von Selbststeuerungs-, Motivations- und Lernstrategien, manchmal aber auch Anweisungen und Vorgaben notwendig und hilfreich. Es ist also wichtig, Motivations- und Emotionsförderung nicht nur als Mittel zum Zweck des Wissens- und Fähigkeitsaufbaus einzusetzen, sondern eine nachhaltige Lernmotivation und damit verbunden das Wohlbefinden der Schüler auch als Ziele an sich zu begreifen. Aufgabe von Unterricht ist es, Informationen und Handlungsmöglichkeiten für die Lernenden bereitzustellen und sie dazu zu bewegen, sich diese Information aktiv anzueignen und dabei Kompetenzen zu entwickeln. Der Aufbau einer eigenständigen Lernbereitschaft wird wiederum dazu beitragen, überdauernde Lernmotive und positive Affekte gegenüber der Lernsituation zu etablieren und damit die Voraussetzungen für ein lebenslanges selbstreguliertes Lernen zu schaffen.
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10 Motivations- und emotionsförderliche Unterrichtsgestaltung Eine Vielzahl von Forschungsbefunden weist auf bedeutsame Merkmale einer motivationsförderlichen Unterrichtsgestaltung hin. Aus den Forschungsergebnissen zur Entwicklung günstiger Lernemotionen ergeben sich weitgehend vergleichbare Empfehlungen. Einige spezifische Förderansätze im Bereich schulbezogener Emotionen werden im Anschluss in einem eigenen Abschnitt hervorgehoben. Manche der im Folgenden aufgeführten Anregungen lassen sich in der direkten Lehrer-Schüler-Interaktion umsetzen, andere bedürfen kollegialer Absprachen und schulorganisatorischer Maßnahmen. Während zu Beginn der angewandten Motivationsforschung vor allem Bemühungen um die Veränderung von Motiven im Vordergrund standen, werden heute auch Umweltbedingungen stärker beachtet. Die folgende Aufzählung umfasst einige zentrale Empfehlungen für eine motivationsförderliche Schule (vgl. Hofer 2003; Pintrich & Schunk 2002; Rheinberg & Krug 2005; Preiser & Sann 2006; Vollmeyer & Brunstein 2005). Insgesamt ist ein Unterricht dann motivationsförderlich, wenn die Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialem Eingebundensein (vgl. Deci & Ryan 1993) berücksichtigt und individuelle Besonderheiten dabei beachtet werden. Ein positives, unterstützendes und offenes Klassen- und Schulklima ermöglicht das Erleben von sozialem Eingebundensein. Das Interesse der Lehrenden am Wohlergehen ihrer Schüler erweist sich als entscheidend für das Erleben positiver Emotionen und damit auch für Lernmotivation und Lernergebnis (vgl. auch Meyer & Turner 2002). Konkret empfehlen sich kooperative Lernformen und andere Gruppenaktivitäten. Kooperative Arbeitstrukturen führen eher zu positiven Lernemotionen als kompetitive. Verletzende und belastende Situationen sollten vermieden werden. Das Erleben von Kompetenz setzt eine durchschaubare Struktur von Unterricht und Leistungsanforderungen sowie individuelle Leistungsrückmeldungen voraus. Der Lernmotivation dient eine wirksame Unterrichtsorganisation mit reibungslosen Übergängen, dem unverzüglichen Unterbinden von Störungen mit minimalem Aufwand, transparenten, fairen und konsequent durchgesetzten Regeln. Für die Förderung positiver Lernemotionen ist die Bedeutung von Unterrichtorganisation und Instruktionsqualität ebenfalls plausibel. Eindeutige Befunde liegen allerdings noch nicht vor (vgl. Gläser-Zikuda et al. 2005). Damit Schüler Kompetenzerleben und Selbstwirksamkeit entwickeln, brauchen sie Erfolgserfahrungen. Entscheidend dafür ist die Feedbackkultur. Häufige individuelle Rückmeldungen erlauben, vergangene und zukünftige Erfolge auf eigene Anstrengungen zurückzuführen. Lob für Anstrengung oder Fortschritt verhilft zu einer wachsenden Selbstwirksamkeit. Den Unterrichtsstoff auf unterschiedlichen
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Vertiefungsniveaus zu wiederholen, macht Lernfortschritte erfahrbar. Um sich selbst als erfolgreichen Verursacher einer Leistung zu erleben, sind herausfordernde Aufgaben sinnvoll. Die Demonstration von Leistungsverbesserungen durch die Nutzung von Lernstrategien und das Angebot von alternativen Interpretations- und Bewertungsmöglichkeiten für Misserfolge helfen, ein realistisches und zuversichtliches Kompetenzempfinden zu entwickeln. Ebenso wie überzogene Leistungserwartungen sind auch zu niedrige Erwartungen zu vermeiden, da sie zu Langeweile und dem Verlust von Interesse führen. Die Bewertung anhand inhaltlicher oder individueller Normen ist günstiger als die Bewertung allein aufgrund des sozialen Vergleichs. Die nicht-öffentliche Rückmeldung von Leistungsergebnissen kann die Belastung durch soziale Vergleichsprozesse mindern. Fehler müssen erlaubt sein. Misserfolg bedarf keiner zusätzlichen Bestrafung (vgl. Griener 2006; Pekrun 2002; Pekrun & Götz 2004). Dem Bedürfnis nach Autonomie entgegenzukommen, unterstützt Lernmotivation und positive Lernemotionen und fördert darüber hinaus Selbstregulationsfähigkeiten. Entscheidend sind echte Wahlmöglichkeiten und das Akzeptieren selbständiger Lösungsversuche. Weitere Ansätze zur Förderung von Autonomie bestehen in der Beteiligung der Lernenden an Planungsprozessen und die Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten auf Schulebene. Ein pädagogisches Dilemma besteht allerdings darin, dass ein hoch strukturierter, lehrerzentrierter Unterricht zwar bei prüfungsängstlichen Schülern die Angst mindert, das damit verbundene Fehlen von selbstgesteuerten Eigen- und Gruppenaktivitäten aber der Entwicklung positiver Lernemotionen abträglich sein kann (siehe Pekrun & Götz 2006). Insgesamt erscheint ein situationsangemessenes Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Autonomiegewährung am entwicklungsförderlichsten (vgl. Grieder 2006). Autonomie wird unterstützt, wenn sich eine (Lehr-) Person in die Perspektive eines Lernenden versetzt und unter Berücksichtigung seiner Gefühle und seines Wissensstandes Informationen und Wahlmöglichkeiten anbietet und den Lernenden dabei vor zu hohen Anforderungen schützt (Black & Deci 2000). Wichtig bei der Berücksichtigung grundlegender Bedürfnisse der Schüler ist die differentielle Perspektive einer individuellen und bedarfsabhängigen Förderung. Das gleiche Lehrerverhalten kann bei verschiedenen Schülern unterschiedliche Emotionen auslösen. Während eine Schülerin ein Lob als Ansporn nimmt, sieht eine andere Schülerin das Lob für eine – aus ihrer Sicht – vergleichsweise einfache Aufgabe als einen Hinweis darauf, dass die Lehrkraft ihr wenig zutraut, und fühlt sich deshalb eher entmutigt. Zentrale Elemente der Individualisierung sind Binnendifferenzierung des Unterrichts mit unterschiedlich schweren Aufgaben, die Anpassung der Anforderungen und der verfügbaren Lernzeiten an die unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus sowie die Orientierung an individuellen Bezugsnormen, die individuelle Leistungsfortschritte deutlich machen.
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11 Verschiedene Emotionen – verschiedene Interventionen Während die allgemeine Förderung positiver Lernemotionen weitestgehend die gleichen Maßnahmen umfasst, die auch zur Förderung einer hohen Lernmotivation empfohlen werden, richten sich einige Ansätze auf spezifische Emotionen. Zur Behandlung von Ängsten, Aggressionen oder Depressionen stehen therapeutische Interventionen zur Verfügung. Auch in Stresspräventionsprogrammen für Kinder wird der Umgang mit unangenehmen Emotionen thematisiert. Zur Angstreduktion und insbesondere zur angstreduzierenden Gestaltung von Prüfungen wurden auch pädagogische Ansätze für den Schulalltag entwickelt (Strittmatter 1993). Um Angst in Prüfungen zu reduzieren und die Leistungsfähigkeit eines Schülers dadurch möglichst angemessen einschätzen zu können, ist die Transparenz der Prüfungsanforderungen wichtig. Aufgaben mit einer angemessenen Schwierigkeit in aufsteigender Reihung oder Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Aufgaben reduzieren das Erleben von Kontrollverlust. Weitere Hinweise finden sich bei Pekrun und Götz (2004). Zur Gestaltung eines emotional stimmigen Unterrichts fordert Astleitner (2000) unterschiedliche Maßnahmen gegenüber fünf verschiedenen unterrichtsrelevanten Lernemotionen: Angst, die sich aus der Einschätzung einer Situation als bedrohlich ergibt; Neid, der aus dem Wunsch etwas haben zu wollen resultiert; Ärger, der aus der Behinderung bei der Erreichung eines Ziels folgt; Sympathie, im Bezug auf Hilfeleistungen für andere; Freude, aufgrund des Meisterns einer Aufgabe. Beispielsweise wird beim Auftreten von Neid im Unterricht empfohlen, Vergleiche anhand einer individuellen Vergleichsnorm zu ermöglichen und dazu den Schülern Informationen über ihre individuelle Lerngeschichte zu geben. Um die Sympathie innerhalb der Gruppe zu erhöhen, wird die Intensivierung von Kontakten und die Förderung von einfühlenden Interaktionen empfohlen, etwa durch die Ermutigung, andere um Hilfe zu bitten. In einer empirischen Überprüfung zeigt sich, dass Neid nur in geringem Maße und Ärger überhaupt nicht reduziert werden konnte, dass aber die auf die Emotionen Sympathie, Freude und Angst gerichteten Strategien tatsächlich erfolgreich waren (Astleitner 2001, zit. nach Grieder 2006). Im pädagogischen Kontext ist die direkte Vermittlung von Maßnahmen der Emotionsregulation überwiegend auf Ansätze zur Entspannung oder Stressprävention beschränkt. In den klinischen Behandlungsansätze nach Albert Ellis, Aron Beck und Donald Meichenbaum werden zusätzlich Strategien zum Unterscheiden von Gefühlen, zum Hinterfragen von Einschätzungen, die diesen Gefühlen zu Grunde liegen, und zum Aufbau förderlicher Selbstinstruktionen angewandt. Einen viel versprechenden Ansatz zur Emotionsregulation bieten auch Interventionen, die auf dem Konzept der Achtsamkeit basieren; sie legen ihre
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Schwerpunkte auf einen nichtbewertenden Verarbeitungsstil und auf Strategien der Selbstunterstützung. Es wird dabei unter anderem vermittelt, unangenehme Gefühlzustände wahrzunehmen, ohne dem Impuls nachzugeben, sie sofort zu beseitigen (siehe Berking & Znoj 2006). Mit der Bedeutung von selbstregulierten Lernprozessen in der Schule, wächst auch die Notwendigkeit der Beschäftigung mit Prozessen der Emotionsregulation im pädagogischen Bereich. In Reattributionstrainings wird der Einfluss unterschiedlicher Attributionen auf erlebte Emotionen, Erfolgszuversicht und Anstrengungsbereitschaft verdeutlicht und es werden günstige Attributionsmuster erarbeitet (siehe Stöger & Ziegler 2003). In Trainingsprogrammen zur Förderung des selbstgesteuerten Einsatzes von Lernstrategien wird die Regulation der emotionalen Gestimmtheit in Lernsituationen besonders hervorgehoben (Pickl & Schmitz 2001). Dabei wird eine bessere Wahrnehmung und Regulation negativer, das Lernen behindernder Emotionen angezielt.
12 Chancen und Grenzen der Motivationsförderung Im Frühjahr 2004 zeigte sich bei der Evaluation eines Projekts zur Förderung von Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und Bewerbungskompetenzen von Hauptschülern nach anfänglich positiv erscheinenden Ergebnissen sowohl in der Trainingsgruppe als auch in der Kontrollgruppe eine deutliche Abnahme der Selbstwirksamkeit (Stang 2004). Die erwarteten positiven Effekte einer intensiven mehrwöchigen Förderung waren ins Gegenteil verkehrt – vermutlich weil genau in diesem Zeitraum eine medienwirksame Kampagne von Parteipolitikern und Wirtschaftsverbänden lief, die darauf abzielte, das Fehlen von Ausbildungsplätzen auf die mangelnde Eignung der Bewerber zurückzuführen. Gesellschaftlichen Faktoren, die durch die Schule nicht beeinflussbar sind, begrenzen oder konterkarieren offenbar die Möglichkeiten einer schulischen Motivationsförderung. Auch die in einer Gesellschaft dominierenden Werte spielen eine bedeutsame Rolle. Leistungs- und freizeitbezogene Werte entscheiden darüber, in welchem Ausmaß und in welcher Qualität sich Schüler ihren schulischen Aufgaben zuwenden. Die Konkurrenz verschiedener möglicher Tätigkeiten führt zu Zielkonflikten. Die Vorteile von schulischer Leistung (Freude am Lernen, Erfolge, Abschlüsse) und Freizeitaktivitäten (Spaß) und ihre Kosten (Anstrengung beim Lernen bzw. Zeitaufwand, der dem Lernen verloren geht) werden gegeneinander aufgewogen. In einer aktuellen Situation setzten sich die momentan hervorstechenden Anreize durch. Der grundsätzliche Zielkonflikt bleibt jedoch bestehen und beeinträchtigt sowohl das Wohlbefinden als auch die Effektivität des Ler-
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nens. Der Versuch, verschiedene Ziele gleichermaßen zu optimieren, führt zu lernhinderlichen Verhaltensweisen wie Aufschieben oder Multitasking. Die andauernde Güterabwägung bindet kognitive Ressourcen und macht die Aufmerksamkeit störanfällig (Hofer 2003). Als Beleg für gesellschaftliche Einflüsse wird angeführt, dass sich in den Schulvergleichstudien der letzten Jahre schlechtere Schulleistungen u. a. in Ländern mit hohem Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit und daraus resultierenden postmodernen Werteorientierungen, also einem ausgeprägterem Streben nach persönlichem Wohlbefinden, zeigen. Veränderungen auf der Makro-Ebene gesellschaftlicher Lebensstandards und damit verbundener Normvorstellungen und ihr Einfluss auf Mikro-Prozesse schulischer Motivation zeigen die Grenzen einer Motivationsförderung bei einzelnen Schülern, Klassen oder Schulen auf. Sie machen aber auch deutlich, wie notwendig und unverzichtbar eine gesellschaftliche und schulische Unterstützung unmotivierter Kinder und Jugendlicher ist, will man nicht warten, bis ein absinkender Lebensstandard die Entstehung von leistungsbezogenen Werten bei zukünftigen Schülergenerationen wieder begünstigt. Weitere Einschränkungen liegen in der Begrenzung von Ressourcen, Fähigkeiten und eigenen Motiven der Personen, die Unterricht oder schulische Rahmenbedingungen gestalten. Entscheidend sind vor allem Interesse und Engagement für das Fach (den Stoff), für das Unterrichten (Wissensvermittlung), für das Erziehen (Persönlichkeits- und Motivationsförderung). Die differenziertesten Förderansätze scheitern, wenn die betroffenen Lehrkräfte sie nicht engagiert umsetzen. Da mittlerweile ein umfangreiches Wissen über Bedingungen einer günstigen Lernmotivation von Schülern vorliegt, sollten sich zukünftige Bemühungen auf die Förderung einer optimalen Lehrmotivation von Lehrern richten. Lehrkräfte mit didaktischen Defiziten oder Motivationsproblemen sollten für die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen gewonnen werden. Bei der Evaluation der Qualität von Lehre sind – neben inhaltlichen Indikatoren – motivationsrelevante Kategorien mit einzubeziehen. Da die spezifischen Arbeitsbedingungen von Lehrern häufig nur partielle Kontrolle und keine klare Rückmeldung über eigene Erfolge zulassen, ist die Aufrechterhaltung einer angemessenen Leistungsmotivation für Lehrer erschwert. Selbst Lehrer, die sich ernsthaft um eine nachhaltige Lernmotivation ihrer Schüler bemühen, verhalten sich oft nicht motivationsförderlich, wenn sie andere Ziele bedroht sehen. Umgekehrt hängt der reibungslose Unterrichtsablauf von der Befriedigung elementarer Schülerbedürfnisse ab. Um den häufig auftretenden Demotivierungsspiralen eine schulische Interaktion entgegenzusetzen, die nachhaltig Lern- bzw. Arbeitsmotivation fördert, ist es sinnvoll, frühzeitig anzusetzen, also bei Grundschul- bzw. Vorschulkindern sowie zu Beginn der beruflichen Sozialisation von Lehrkräften. Frühzeitige Erfahrungen eines erfolgreichen
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Umgangs mit selbstbestimmten und kooperativen Arbeitsweisen begünstigen lebenslang engagierte Lern- und Interaktionsformen.
13 Vertiefungsempfehlungen Einen umfassenden Überblick zur Motivation in Erziehung und Unterricht geben Pintrich und Schunk (2002). Ein Forschungsprogramm zur Motivationsförderung in der Schule stellen Rheinberg und Krug (2005) vor. Hinweise für eine angstreduzierende Gestaltung der Lernumgebung finden sich bei Strittmatter (1993) sowie bei Pekrun und Götz (2006). Krowatschek (1996) bietet zahlreiche Übungen für den Umgang mit unruhigen Kindern und „schwierigen Klassen“ an, die Lehrkräften helfen, das Verhalten der Kinder nicht als persönliche Provokation zu erleben und Lernfreude und Lernmotivation im Klassenzimmer zu fördern. Waters, Schwartz, Gravemeier und Grünke (2003) führen Kinder mit einer Reihe von Geschichten über Angst, Ärger, Frustration, Niedergeschlagenheit und Selbstakzeptanz an Lösungsmöglichkeiten für emotionale Probleme heran und bieten Interpretationshilfen für Eltern, Erzieher und Lehrer.
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Kognitives Lernen und Gedächtnis Ulrich Glowalla
Ein zentraler Bereich der Interaktion zwischen Lehrern und Schülern betrifft den Erwerb von Wissen und Kompetenzen. Die Schülerinnen und Schüler sollen in der Schule möglichst viel und sicher lernen, damit sie die sich anschließende Berufsausbildung oder ihr Studium zügig absolvieren und schließlich in ihrem Beruf erfolgreich arbeiten können. Die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer besteht hierbei darin, durch den Einsatz geeigneter Lehrmethoden, individuelle Beratung und Unterstützung sowie allgemein die Schaffung günstiger Arbeitsbedingungen ihre Schüler so gut wie möglich bei ihren Lernbemühungen zu unterstützen. Die zentrale These dieses Kapitels lautet, dass beides, erfolgreiches Lernen und erfolgreiches Lehren, umso besser gelingen, je genauer alle Beteiligten wissen und beherzigen, wie unser Gedächtnis funktioniert und welche Faktoren den Aufbau und die flexible Nutzung von Wissensstrukturen begünstigen. Unser Gedächtnis entspricht einem riesigen neuronalen Netz und die Inhalte des Gedächtnisses sind in den Verbindungen zwischen den Nervenzellen niedergelegt. Zwischen den etwa 100 Milliarden Neuronen bestehen schätzungsweise 100 bis 500 Billionen Synapsen. Unser Gehirn verbraucht etwa 70 Liter Sauerstoff pro Stunde, was rund 20 Prozent des Gesamtbedarfs bei lediglich 2,2 Prozent Anteil am Körpergewicht entspricht. Offensichtlich handelt es sich bei unserem Gehirn um ein sehr komplexes und wichtiges Organ. Auch wenn die Hirnforschung in den letzten Jahren viele spannende Erkenntnisse im Hinblick auf das Funktionieren unseres Gehirns hervorgebracht hat, werde ich mich in den folgenden Abschnitten vor allem auf die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie stützen, da sie uns ein Bild von der Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses vermittelt hat, dass sich fast unmittelbar auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen anwenden lässt. Dieses Bild werde ich in seinen Grundzügen darstellen und dabei immer wieder praktische Empfehlungen im Hinblick auf die Gestaltung von Lehren und Lernen geben. Im Übrigen hat die Hirnforschung die meisten Erkenntnisse der kognitiven Psychologie bestätigt; nur sehr wenig musste modifiziert oder gar korrigiert werden. Den Lesern, die sich für die neuropsychologischen Grundlagen von Lernen und Gedächtnis interessieren, empfehle ich die Lektüre des zweiten Kapitels aus dem aktuellen und lesenswerten Lehrbuch von Gluck, Mercado und Myers (2007) zu den Themen Lernen und Gedächtnis.
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Ulrich Glowalla Gedächtnisprozesse und -systeme
1.1 Drei Kategorien von Erinnerungen Brewer und Pani (1983) haben vorgeschlagen, den Inhalt unseres Gedächtnisses in drei Kategorien zu unterteilen, nämlich in persönliche Erinnerungen, allgemeine Erinnerungen und Fähigkeitserinnerungen. Persönliche Erinnerungen umfassen Ereignisse, an denen wir selbst beteiligt waren, wie z. B. das heutige Frühstück. Wenn wir uns an dieses Ereignis erinnern, können wir im Geiste „sehen“, was beim Frühstück geschah. Unsere mentalen Vorstellungsbilder vermitteln uns einen Eindruck des Vergangenen. Im Hinblick auf unsere persönlichen Erinnerungen sprechen wir auch vom Episodischen Gedächtnis. Episodische Gedächtnisinhalte besitzen stets eine autobiographische Komponente und wir erinnern uns in aller Regel recht gut an Ort und Zeit einer bestimmten Episode. Allgemeine Erinnerungen beinhalten im Gegensatz dazu Wissen, das weder an einen bestimmten Ort noch an eine bestimmte Zeit gebunden ist. Wir erinnern uns gewöhnlich nicht daran, in welchem Zusammenhang wir dieses Wissen erworben haben. Es sind Gedächtnisinhalte, die in erster Linie auf die Bedeutung von Dingen bezogen sind, nicht aber auf Ereignisse aus unserem Leben. Die Bedeutung von abstrakten Begriffen wie Liebe oder Demokratie sind Beispiele für unser Allgemeinwissen, ebenso die Bedeutung von konkreten Begriffen wie Gefriertruhe oder Onkel Fritz. Zum Allgemeinwissen zählen auch Wahrnehmungserinnerungen, die festhalten, wie Dinge aussehen, wie sie klingen usw. Der Geruch von frisch gebackenem Apfelkuchen oder die Melodie von All you need is love sind somit ebenfalls allgemeine Erinnerungen. Im Hinblick auf allgemeine Erinnerungen sprechen wir auch vom Semantischen Gedächtnis. Fähigkeitserinnerungen bestehen aus kognitiven Fähigkeiten wie dem Lösen algebraischer Gleichungen, aus motorischen Fähigkeiten wie dem Radfahren und auswendig gelernten verbalen Sequenzen wie häufig gewählten Telefonnummern, Liedtexten oder Gedichten. Im Hinblick auf Fähigkeitserinnerungen sprechen wir auch vom Prozeduralen Gedächtnis.
1.2 Drei Gedächtnisprozesse Der Begriff Gedächtnis wird mit zwei verschiedenen Bedeutungen benutzt. Die umgangssprachliche Bedeutung verweist auf das Gedächtnis als Aufbewahrungsort für unser Wissen. Diese Bedeutung ist aber unvollständig, denn unser Ge-
Kognitives Lernen und Gedächtnis
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dächtnis ist kein passives Lager für Erinnerungen sondern ein aktives System. Ständig werden neue Informationen aufgenommen, gespeichert und abgerufen. Psychologen unterteilen den Kreislauf aus Einprägen und Erinnern in drei Gedächtnisprozesse: Erwerb bezeichnet den Prozess der Wahrnehmung und Aufnahme von Information. Behalten heißt der Prozess, durch den Informationen im Gedächtnis bewahrt werden. Abruf ist der Prozess, bei dem wir Informationen aus unserem Gedächtnis ins Bewusstsein rufen und uns aktiv an sie erinnern.
1.3 Drei Gedächtnissysteme und die selektive Aufmerksamkeit Wenn wir eine Information in unser Gedächtnis aufnehmen, dann werden die gerade erläuterten Gedächtnisprozesse in Gang gesetzt. Das Ergebnis ist ein Gedächtnisinhalt, eine Erinnerung, die unterschiedlich lange in unserem Gedächtnis erhalten bleibt. Manche dieser Gedächtnisinhalte verblassen schon nach ein oder zwei Sekunden, manche erst nach Minuten und andere wiederum halten sich für Stunden, Tage oder gar Jahre. Diese Unterschiede in der Behaltensdauer der Gedächtnisinhalte kann man durch verschiedene Gedächtnissysteme erklären. Es handelt sich um das Sensorisches Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis.
1.3.1 Das Sensorische Gedächtnis Praktisch in jedem Moment unseres wachen Lebens haben wir kurzzeitige Erinnerungen, die einfache Nacheffekte unserer Wahrnehmungsprozesse sind. Diese flüchtigen Sinneseindrücke, auch sensorische Gedächtnisinhalte genannt, sind von sehr kurzer Dauer. Sie können solch einen kurzen sensorischen Eindruck erzeugen, indem Sie eine Taschenlampe in einem dunklen Raum aufleuchten lassen. Rotieren Sie den Strahl in einem 30 cm großen Kreis vor sich und bewegen ihn so schnell, bis Sie einen kompletten Kreis sehen können. Das andauernde Bild des Kreises nennt man visuelles Abbild. Es dauert einige Zehntelsekunden, auch nachdem der Reiz bereits verschwunden ist, und beruht auf der Trägheit unserer Sinnesorgane: Das Abbild des Lichtstrahls ist noch sichtbar, obwohl der Strahl auf seiner Kreisbahn schon weiter gezogen ist. Die Dauer des visuellen Abbildes hilft uns, visuelle Muster zu identifizieren, die nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen sind. Auch behält unsere visuelle Welt ihre Stabilität, obwohl wir häufig mit den Augen zwinkern. Ähnliche sensorische Nacheffekte wie beim Sehen existieren für den Tastsinn und das Gehör. Wir verlassen uns z. B. in Gesprächen auf auditive Nachef-
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Ulrich Glowalla
fekte. Das anhaltende auditive Abbild versetzt uns in die Lage, sprachliche Äußerungen weiter zu verarbeiten, während der Sprecher seine Rede fortsetzt. Während einer sehr kurzen Zeitspanne (maximal 2 Sekunden) enthält das Sensorische Gedächtnis ein fast vollständiges Abbild unserer Wahrnehmungen.
1.3.2 Die Bedeutung der selektiven Aufmerksamkeit Um überhaupt eine Information weiterverarbeiten zu können, müssen wir ihr unsere Aufmerksamkeit schenken. Wenn Sie beispielsweise jetzt diese Zeilen lesen, nehmen Sie nicht nur die visuellen Reize auf der Seite wahr. Sie nehmen auch andere Reize wahr, wie den Geruch im Raum, die Geräusche rundherum oder die Dinge, die Sie berühren. Manche der wahrnehmbaren Informationen sind wichtig, andere wiederum nicht. Weil wir nicht alle Reize gleichzeitig verarbeiten können, brauchen wir einen Filter, um Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Diese Filterfunktion zwischen dem Sensorischen Gedächtnis und dem Kurzzeitgedächtnis nennen wir selektive Aufmerksamkeit. Verschiedene Variablen bestimmen, auf welche Reize wir unsere Aufmerksamkeit richten. Der Fokus unserer Aufmerksamkeit wird zunächst einmal von den Eigenschaften der Reize selbst bestimmt: Dinge, die intensiv, groß, laut oder bunt sind, erregen unsere Aufmerksamkeit. Aber auch der Kontext ist von Bedeutung: Zum Beispiel beachten wir einen Reiz eher, wenn er in einer bestimmten Situation neu oder unerwartet ist. Schließlich spielt der Bezug zu unserer eigenen Person eine wichtige Rolle: Reize, die unsere Gefühle, Wünsche und Ziele oder unser Selbstwertgefühl betreffen, erregen unsere Aufmerksamkeit besonders leicht. Hier ein Alltagsbeispiel für die Bedeutung der selektiven Aufmerksamkeit: Sie haben in Ihrem Leben sicher schon viele Ein-Euro-Münzen in der Hand gehabt. Aber Sie können vermutlich nicht korrekt angeben, welche Details auf der Vorder- und Rückseite der Münze zu sehen sind. Das „Übersehen“ solcher Details wurde von Nickerson und Adams (1979) experimentell untersucht. Allgemein kann man sagen, dass die selektive Aufmerksamkeit dazu führt, dass wir für unser Denken und Handeln funktional relevante Merkmale beachten und weniger bedeutsame Details ignorieren.
Kognitives Lernen und Gedächtnis
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1.3.3 Das Kurzzeitgedächtnis Viele unserer sensorischen Eindrücke verblassen praktisch sofort. Aber wenn wir auf einen sensorischen Eindruck achten und er damit den Filter der selektiven Aufmerksamkeit passieren kann, wird dieser Eindruck in eine dauerhaftere Phase überführt, die wir Kurzzeitgedächtnis nennen, manchmal auch aktives Gedächtnis oder Arbeitsgedächtnis genannt. Die Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses können 20 bis 30 Sekunden lang erhalten bleiben. Wenn wir neue Informationen verarbeiten, befinden sich diese Informationen aktiv in unserem Kurzzeitgedächtnis. Dabei aktivieren sie auch Wissen aus dem Langzeitgedächtnis, das inhaltlich mit den neuen Informationen verbunden ist. Dazu ein Beispiel: Wenn uns ein Freund Neuigkeiten über Angela Merkel erzählt, fallen uns Dinge ein, die uns über die Bundeskanzlerin bereits bekannt sind - etwa ihr Aussehen. Diese aktivierten Erinnerungen werden zusammen mit den Neuigkeiten als Teil unserer Erinnerung an das Gespräch gespeichert. Die Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses bleiben aktiv, solange man auf sie achtet. Wird man aber abgelenkt, dann verschwinden sie innerhalb weniger Sekunden: Die Gedächtnisspur ist nicht mehr aktiv.
1.3.4 Das Langzeitgedächtnis Nun versuchen Sie bitte, sich an den Mädchennamen Ihrer Mutter zu erinnern. Sie haben vermutlich bis zu meiner Aufforderung keine aktive Gedächtnisspur von ihrem Namen gehabt. Bevor Sie sich an ihn erinnerten, war der Name inaktiv. Er war allerdings in Ihrem Langzeitgedächtnis gespeichert. Dann, als Sie ihn abriefen, ist der Name in Ihr Bewusstsein gedrungen, ins Kurzzeitgedächtnis. Diese Beschreibung ist aber nur sinnbildlich gemeint. Sie haben nicht wirklich den Namen von einem Ort Ihres Gedächtnisses an einen anderen gebracht, denn Kurz- und Langzeitgedächtnis sind keine unterschiedlichen Orte im Gehirn. Stattdessen bezeichnen sie unterschiedliche Grade der Aktivation. Ein Gedächtnisinhalt kann entweder aktiv oder inaktiv sein, er kann Ihnen bewusst sein oder nicht. Das Langzeitgedächtnis ist der Teil des Gedächtnisses, den die meisten Menschen meinen, wenn sie von Gedächtnis sprechen. Nicht all unser Wissen ist momentan aktiv, kann aber bei Bedarf abgerufen und damit ins Kurzzeitgedächtnis geholt werden. Das Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis haben demnach eine enge und dynamische Beziehung zueinander: Das Kurzzeitgedächtnis enthält die über das Sensorische Gedächtnis neu aufgenommene Information sowie
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das zum Verständnis dieser Information aktivierte Wissen aus dem Langzeitgedächtnis. Die folgende Abbildung veranschaulicht Struktur und Funktionsweise unseres Gedächtnisses. Wir speichern in unserem Gedächtnis drei Kategorien von Erinnerungen, nämlich persönliche und allgemeine Erinnerungen sowie Fähigkeitserinnerungen. Die Funktionsweise unseres Gedächtnisses lässt sich durch die Prozesse Erwerb, Behalten und Abruf von Information charakterisieren. Unser Gedächtnis umfasst drei Systeme. Sie heißen Sensorisches Gedächtnis, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis. Zwischen dem Sensorischen und dem Kurzzeitgedächtnis ist die selektive Aufmerksamkeit als Filter eingebaut. Veranschaulicht durch das Netzwerkmodell schließlich bildet das Kurzzeitgedächtnis den aktiven und das Langzeitgedächtnis den inaktiven Teil des Gedächtnisses. Abbildung 1:
Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses
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Das Kurzzeitgedächtnis
Auf zwei verschiedenen Wegen gelangen Informationen in das Kurzzeitgedächtnis. Wir können Reize aus unserer Umgebung aufnehmen oder Informationen aus unserem Langzeitgedächtnis aktivieren. Um eine Information aus dem Langzeitgedächtnis zu aktivieren, bedarf es einer Frage danach oder einer Assoziation zu einem bereits aktivierten Gedanken. Ungeachtet dessen, wie die Information aktiviert wurde, bleibt sie in der Regel nicht lange verfügbar (Peterson und Peterson 1959). Wenn nämlich neue Gedächtnisinhalte aktiviert werden, verdrängen sie die früheren Inhalte. Unser Bewusstsein kann offensichtlich nur einige wenige Inhalte gleichzeitig aktiv halten. Wenn wir allerdings wollen, können wir Informationen durchaus für längere Zeit aktiv halten. Kennen wir die Bezeichnungen oder Namen, können wir die Informationen leise aufsagen. Wenn die Items Vorstellungsbilder sind, können wir die Bilder im Geiste wieder anschauen. Richten wir allerdings unsere Aufmerksamkeit auf neue Informationen, dann werden die neuen Informationen aktiviert und die Intensität der früheren Items nimmt ab. Das Vergessen aus dem Kurzzeitgedächtnis wird also durch Wiederholen der Information verhindert und durch Beschäftigung mit neuem Material beschleunigt.
2.1 Enkodierung in das Kurzzeitgedächtnis Wenn wir aus unserer Umgebung Informationen ins Kurzzeitgedächtnis aufnehmen, benutzen wir eine bestimmte Repräsentationsform, um diese Informationen im Kurzzeitgedächtnis darzustellen. Wann immer wir Informationen aufnehmen, die uns schon bekannt sind, benutzen wir in aller Regel dieselbe interne Repräsentation, einen ganz bestimmten Code. Die Umsetzung des Reizes in diese Repräsentation geschieht durch den bereits erwähnten Enkodierungsprozess.
2.1.1 Die akustische Enkodierung Der interne Code des Kurzzeitgedächtnisses kann einer sein, der die sensorische Qualität der Information bewahrt, wie bei der Enkodierung als Bild, als Klang oder als Eindruck eines Geruchs, eines Geschmacks oder einer Berührung. In den meisten Fällen benutzen wir aber eine akustische Enkodierung. Alle Buchstaben, Ziffern, Wörter und Bilder von bekannten Objekten haben Bezeichnungen, und in den meisten Fällen erinnern wir uns an sie mit Hilfe dieser Bezeichnungen.
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Auch Menschen, die nicht hören können, enkodieren Bezeichnungen. Die Enkodierung von Informationen im Kurzzeitgedächtnis ist bei normal hörenden Menschen und bei nicht hörenden Menschen, die die Zeichensprache benutzen, untersucht worden. In einem Experiment von Locke und Locke (1971) wurden normal hörenden und nicht hörenden Personen Buchstaben visuell dargeboten. Darunter waren sowohl Buchstaben wie D und T, die ähnlich klingen, als auch Buchstaben wie B und Y, die durch ähnliche Handzeichen dargestellt werden. Insgesamt verwechselten die Hörenden etwa gleich viele Buchstaben wie die nicht hörenden Personen. Es wurden auch etwa gleich viele ähnlich klingende wie durch ähnliche Handzeichen dargestellte Buchstaben verwechselt. Die beiden Personengruppen verwechselten aber unterschiedliche Arten von Buchstaben: Die nicht hörenden Personen verwechselten häufiger Buchstaben mit ähnlichen Handzeichen als Buchstaben mit ähnlichem Klang. Normal hörende Personen verwechselten hingegen häufiger Buchstaben mit ähnlichem Klang als Buchstaben mit ähnlichen Handzeichen. Es ist erstaunlich, dass wir diese interne Repräsentation, diesen Code stets sehr rasch zur Hand haben und jederzeit gebrauchen können, um Eintragungen in das Kurzzeitgedächtnis vorzunehmen. Offensichtlich können wir auf ein Basiswissen zurückgreifen, das in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert ist, ähnlich einem Wörterbuch. Dieses „Wörterbuch“ erlaubt uns, visuelle oder auditive Eingabemuster in ein anderes Medium zu transformieren, wie Sprachlaute, Handsignale oder innere Bilder. Wir benutzen das Wörterbuch, um Reize zu enkodieren, bevor wir sie wiederholen und erinnern. Fast jede Art von Material können wir akustisch enkodieren und das hat viele Vorteile. Die Bezeichnungen von Items im Geiste zu wiederholen, hilft uns, sie im Kurzzeitgedächtnis aktiv zu halten. Die akustische Enkodierung erlaubt uns außerdem, Informationen auf einige wesentliche, zusammenfassende Bezeichnungen oder Beschreibungen zu reduzieren, welche wir dann leichter behalten können. In ihrer Studie konnten zum Beispiel Glanzer und Clark (1963) zeigen, dass Ziffernfolgen mit wenigen verbalen Beschreibungen besser behalten werden als solche, zu deren Beschreibung viele Einheiten erforderlich sind.
2.1.2 Chunking: Das Bilden von Sinneinheiten Während des Enkodierungsprozesses scheint das Gehirn die eingehenden Informationen in die größtmöglichen bekannten Einheiten zu organisieren. Das Kurzzeitgedächtnis arbeitet dann mit diesen komplexen Einheiten als wären sie einzelne Informationen. Die Einheiten der im Kurzzeitgedächtnis enkodierten Inhalte werden Chunks (Englisch für Klumpen) genannt.
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Die meisten Enkodierungen von Informationen beruhen auf Chunking-Prozessen. Dabei können die Chunks des Kurzzeitgedächtnisses aus unterschiedlich großen Elementen bestehen: „THU“ besteht aus drei Chunks, nämlich den Buchstaben T, H und U, die Buchstabenfolge „HUT“ bildet hingegen nur einen Chunk, nämlich das Wort „Hut“. „Strohhut“ ist auch nur ein Chunk, denn wie Hut und ist auch Strohhut ein geläufiges Wort der deutschen Sprache. Das Gehirn erkennt einen Chunk aus bekanntem Material automatisch und ohne Mühe, sobald ihm ein halbwegs passendes Organisationsmuster angeboten wird. Wenn Sie den Klang „Huut“ hören oder die Buchstabenfolge „HUT“ sehen, können Sie kaum verhindern, das Wort „Hut“ wahrzunehmen. Wir können allerdings nicht beliebig viele Chunks gleichzeitig aktiv halten; ihre Anzahl ist begrenzt. Wenn Sie sich selbst testen, werden Sie feststellen, dass Sie sich an sieben oder acht Zahlen oder Buchstaben einer zufälligen Folge erinnern können. Sie können sich aber auch fünf bis sieben Dreiwortkombinationen wie Papiertaschentuch oder Schnellkochtopf merken. Die Inhalte einzelner Chunks können also von sehr unterschiedlicher Komplexität sein. Vor über 30 Jahren hat George Miller (1956) herausgefunden, dass die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses auf etwa sieben Chunks begrenzt ist. Nach George Miller haben andere Forscher dann herausgefunden, dass die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses von den Eigenschaften der Information abhängt, die man speichern will. Je mehr Zeit man braucht, eine Liste von Wörtern auszusprechen, desto kleiner ist die Gedächtnisspanne.
2.2 Ursachen des Vergessens aus dem Kurzzeitgedächtnis Informationen im Kurzzeitgedächtnis werden langsam durch einen Ersetzungsoder Verdrängungsprozess deaktiviert. Neu in das Kurzzeitgedächtnis aufgenommene Items verdrängen die früheren Items. Items werden aber auch dann vergessen, wenn wir keine neuen Items aufnehmen. Diese Situation lässt sich allerdings kaum realisieren, weil Menschen kontinuierlich neue Informationen aufnehmen. Judith Reitman (1974) ist es jedoch gelungen, die Bedingung „kein Wiederholen, kein Ersetzen durch neue Items“ in einem ausgeklügelten Experiment immerhin annähernd zu verwirklichen. Sie kam zu dem Schluss, dass nicht wiederholte Items im Laufe der Zeit tatsächlich schwächer werden, sogar dann, wenn keine neuen Informationen hinzukommen. Ihre Untersuchungen haben aber auch gezeigt, dass das Ersetzen der Items durch neue Information die weitaus bedeutsamere Ursache für das Vergessen aus dem Kurzzeitgedächtnis ist.
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2.3 Abruf aus dem Kurzzeitgedächtnis Weil es scheint als seien die Items in unserem Kurzzeitgedächtnis unserem Bewusstsein sehr schnell zugänglich, könnte man vermuten, dass wir nicht nach ihnen suchen müssen. Dem ist jedoch nicht so, wie Sternberg (1966) in einer Reihe von Experimenten zeigen konnte. Sternbergs Versuchspersonen lernten kurze Ziffernfolgen (z. B. 4, 1, 7, 9) und sollten sie im Kurzzeitgedächtnis aktiv halten, während Sternberg ihnen eine Testziffer zeigte (z. B. 7). Wenn die Testziffer eine Ziffer aus der gelernten Folge war, sollten die Versuchspersonen eine Ja-Taste drücken; war die Testziffer nicht in der gelernten Ziffernfolge, sollten sie die Nein-Taste drücken. Die entscheidende Eigenschaft der Ziffernfolgen war ihre Länge: Sie bestanden aus einer bis maximal sechs Ziffern. Sternberg fand heraus, dass die Zeit, die eine Versuchsperson für ihre Entscheidung brauchte, mit der Anzahl der Ziffern in der gelernten Ziffernfolge zunahm. Jede zusätzliche Ziffer in der Ziffernfolge führte zu einer Verlängerung der Entscheidungszeit um ungefähr 40 Millisekunden. In der Folgezeit verwendeten viele weitere Forscher Sternbergs Suchaufgabe. Sie konnten zeigen, dass die Zeit, die man zum Finden eines Items im Kurzzeitgedächtnis braucht, nicht nur mit der Anzahl sondern auch mit der Komplexität der Items ansteigt. Je schwieriger die Items sind, desto länger ist die benötigte Suchzeit und desto weniger Items können wir uns merken.
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Die Enkodierung in das Langzeitgedächtnis
Wir haben das Kurzzeitgedächtnis als aktiven Teil unseres Gedächtnisses kennen gelernt. Nun wollen wir als drittes Gedächtnissystem das Langzeitgedächtnis behandeln, das unser relativ dauerhaftes Wissen umfasst. Die Kapazität des Langzeitgedächtnisses scheint quasi unbegrenzt zu sein: Wir können während unseres ganzen Lebens neue Dinge hinzulernen und behalten.
3.1 Enkodierung der Bedeutung Auch im Langzeitgedächtnis werden Informationen auf eine bestimmte Weise enkodiert. Verbales Material wird im Langzeitgedächtnis vor allem an Hand seiner Bedeutung enkodiert. Diese Enkodierungsform nennt man semantische Enkodierung. Sie lässt sich leicht demonstrieren: Wenn Sie sich eine lange Liste unzusammenhängender Wörter einprägen und diese eine Stunde später abrufen, werden Sie zweifellos Fehler machen. Viele der fälschlicherweise genannten
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Wörter werden jedoch eine ähnliche Bedeutung wie die richtigen haben. Wenn Sie sich beispielsweise das Wort „hübsch“ einprägen sollten, erinnern Sie sich vielleicht später fälschlicherweise an das Wort „schön“. Einen noch deutlicheren Effekt hat die semantische Enkodierung im Langzeitgedächtnis, wenn wir uns Sätze einprägen. Einige Minuten nach dem Hören eines Satzes wissen wir vor allem noch seine Bedeutung, aber nicht die exakte Formulierung. Das Enkodieren der Bedeutung wird uns auch häufig im alltäglichen Leben deutlich. So zeigte sich im Watergate-Skandal der frühen siebziger Jahre, dass der Hauptzeuge der Regierung (John Dean) bei seinen Aussagen zwar viele Fehler gemacht hatte, die sich darauf bezogen, was in bestimmten Situationen genau gesagt und getan worden war. Insgesamt hatte er aber in seiner Aussage recht zutreffend beschrieben, welche Ereignisse stattgefunden hatten.
3.2 Kognitives Lernen: Das Bilden und Verstärken von Assoziationen Nehmen Sie einmal an, Pia und Kurt wären Bekannte von Ihnen und jemand erzählte Ihnen, dass Pia und Kurt geheiratet haben. Beim Lernen dieser Information aktivieren Sie die Begriffe „Pia“ und „Kurt“ aus Ihrem Langzeitgedächtnis. Dann bilden Sie eine neue Verbindung zwischen ihnen (heiraten) und verarbeiten diese aktive Verbindung (auch Assoziation genannt). Wenn das Thema der Unterhaltung wechselt, aktivieren Sie andere Begriffe, so dass die früheren Begriffe (Pia und Kurt) und deren neue Verbindung aus Ihrem aktiven Gedächtnis verschwinden. Die neue Assoziation geht aber nicht verloren. Je länger die neue Pia-Kurt-Verbindung anfangs Ihre Aufmerksamkeit erregt hat, desto stärker wird diese Assoziation in Ihrem Langzeitgedächtnis verankert sein. Je stärker eine Assoziation ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass Sie später in der Lage sind, die Information abzurufen, wenn Ihnen jemand ein geeignetes Stichwort gibt. Solch ein Stichwort, wie beispielsweise die Frage „Wen heiratete Pia?“, kann eine nicht mehr in Ihrem Bewusstsein befindliche Assoziation aktivieren. Allgemein gilt, dass eine starke Assoziation häufiger als Antwort auf ein geeignetes Stichwort hin abgerufen wird als eine schwache Assoziation. Viele Untersuchungen haben darüber hinaus gezeigt, dass starke Assoziationen schneller wieder abgerufen und nicht so leicht vergessen werden wie schwache Assoziationen.
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3.3 Lernen durch Wiederholen Ob eine Assoziation verstärkt wird, hängt zum großen Teil davon ab, ob wir uns dem Material überhaupt zuwenden und wie häufig wir es wiederholen. Durch Wiederholen wird das Material im Kurzzeitgedächtnis aktiv gehalten. Je mehr Zeit wir auf das Wiederholen verwenden, desto mehr verstärken wir die Verbindungen, die für das langfristige Behalten notwendig sind. Wenn wir beispielsweise gesagt bekommen, dass bestimmte Informationen wichtig oder wertvoll sind, widmen wir vorrangig diesen Informationen unsere Aufmerksamkeit und wiederholen sie häufiger. Aufmerksames Wiederholen erzeugt daher im Netzwerk des Gedächtnisses mehr neue Assoziationen bzw. verstärkt bereits vorhandene Assoziationen. Daher fördert aufmerksames Wiederholen die Behaltensleistung stärker als einfaches Wiederholen.
3.3.1 Die serielle Positionskurve Wie sich das Wiederholen einzelner Items auswirkt, ist in Lernexperimenten mit Wortlisten untersucht worden (vgl. Glanzer & Cunitz 1966). In Experimenten dieser Art werden den Versuchspersonen Listen von 20 bis 40 Wörtern dargeboten. Die Wörter stehen in keiner Beziehung zueinander und werden einzeln dargeboten. Nachdem alle Wörter dargeboten wurden, werden die Versuchspersonen aufgefordert, möglichst alle gelernten Wörter zu reproduzieren, wobei die Reihenfolge der Wörter keine Rolle spielt (daher die Bezeichnung freies Reproduzieren). Die Ergebnisse einer prototypischen Untersuchung zum Lernen von Wortlisten sind in Abbildung 2 dargestellt. Der Prozentsatz erinnerter Wörter ist in Abhängigkeit von der Position der Wörter in der Liste gezeigt. Im linken Teil der Kurve sind also die ersten Wörter der Liste dargestellt, im rechten Teil die letzten Wörter. Diese Kurve wird als serielle Positionskurve bezeichnet. Die Form der seriellen Positionskurve ist folgendermaßen zu erklären: Zum Zeitpunkt des Abrufs sind die letzten Wörter noch im Kurzzeitgedächtnis aktiv. Folglich ist zu erwarten, dass die letzten Wörter sehr gut erinnert werden, weil Items aus dem Kurzzeitgedächtnis leicht abgerufen werden können. Abbildung 2 zeigt, dass diese Vorhersage zutrifft. Dieser Effekt wird als Rezenzeffekt bezeichnet. In der Tat zeigt sich bei solchen Experimenten, dass die Versuchspersonen beim freien Reproduzieren häufig zunächst die letzten Wörter der Liste nennen.
Kognitives Lernen und Gedächtnis Abbildung 2:
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Die Serielle Positionskurve
Aber auch die ersten Wörter der Liste werden im Vergleich zu den mittleren Wörtern recht gut erinnert, was als Primäreffekt bezeichnet wird. Dies ist anders zu erklären: Als die ersten Wörter dargeboten wurden, hatten die Versuchspersonen viel Aufmerksamkeit für jedes einzelne Wort zur Verfügung, denn es befanden sich nur wenige Wörter im Kurzzeitgedächtnis. Dadurch konnte jedes dieser Wörter häufig wiederholt werden, was den Aufbau stabiler Assoziationen im Langzeitgedächtnis förderte. Als beim Lernen der Wortliste nach und nach immer mehr Wörter dargeboten wurden, war die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses bald erschöpft. Dadurch wurde die Möglichkeit immer geringer, jedes Wort ausreichend häufig zu wiederholen und im Langzeitgedächtnis zu festigen. So erhielten nur die ersten Wörter der Liste die Gelegenheit zu genügender Wiederholung, weshalb sie später auch recht gut aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden konnten.
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Somit sind sowohl das Langzeitgedächtnis als auch das Kurzzeitgedächtnis an der U-Form der seriellen Positionskurve beteiligt: Die ersten Items der gelernten Liste werden besser erinnert, weil sie besonders gut ins Langzeitgedächtnis enkodiert wurden und die letzten Items werden sehr gut erinnert, weil sie noch im Kurzzeitgedächtnis aktiv sind. Die mittleren Items müssen wie die ersten Items aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden, was aber deutlich schwieriger ist, da sie nicht so gut enkodiert werden konnten. Weitere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Stärke beider Effekte beeinflussen lässt. Bekommen Versuchspersonen nach dem Lernen einer Wortliste sofort eine Ablenkaufgabe, die die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses voll in Anspruch nimmt, verschwindet der Rezenzeffekt. Erhöht man die Darbietungsdauer der einzelnen Wörter, wird der Primäreffekt kleiner, da auch die mittleren Wörter von der längeren Enkodierungszeit profitieren.
3.3.2 Die Rolle der Aufmerksamkeit beim Lernen durch Wiederholen Der Einfluss von Aufmerksamkeit und Häufigkeit der Wiederholung zeigt sich auch bei Informationen, die eine starke emotionale Wirkung haben. Solche Informationen – wie plötzliches Glück, Beleidigungen oder ein vernichtender Fehler – werden meist lange Zeit aktiv gehalten. Durch unsere Emotionen werden wir dazu veranlasst, unsere Aufmerksamkeit auf diese Informationen zu richten und immer wieder an sie zu denken. Als Ergebnis zeigt sich, dass wir zu solchen emotionalen Ereignissen stärkere Verbindungen in unserem Gedächtnis ausbilden und uns später auch besser an sie erinnern als an neutrale Ereignisse. Obwohl in manchen Kinofilmen das Gegenteil behauptet wird: Hoch traumatische Erlebnisse verschwinden extrem selten aus unserem Gedächtnis. Es ist jedoch wichtig sich zu merken, dass nicht jede Art der Wiederholung das Behalten verbessert. Manchmal wiederholen wir Material, ohne über seine Bedeutung nachzudenken. Unser Gehirn schaltet quasi auf „Automatik“. Unter diesen Bedingungen werden keine Assoziationen im Langzeitgedächtnis aufgebaut oder verstärkt (vgl. Glenberg und Bradley 1979).
3.4 Lernen durch Elaboration Dauerhafte Gedächtnisinhalte werden vor allem durch elaborierendes (d. h. ausschmückendes, ausarbeitendes) Wiederholen gebildet. Wenn Personen etwas bewusst zu lernen versuchen, finden sie neue Verbindungen zwischen einzelnen Elementen heraus: Sie arbeiten die Implikationen der Ideen und ihre semanti-
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schen Beziehungen zueinander heraus und binden die einzelnen Elemente auf diese Weise in eine Organisationsstruktur ein, welche die Behaltensleistung verbessert. Vorstellungsbilder, sprachliche Elaborationen oder hierarchische Organisationen können zum elaborierenden Wiederholen verwendet werden.
3.4.1 Elaboration durch Vorstellungsbilder Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie möchten sich merken, dass sich Ihr Freund Hans einen Papagei gekauft hat. Sie könnten sich dann vorstellen, wie er seinen Papagei füttert, wie er mit ihm spricht oder sogar, wie er mit ihm fliegt. Die Vorstellungen, die Sie sich ausdenken, bringen die Verbindung von „Hans“ und „Papagei“ jeweils kurzfristig in Ihr Kurzzeitgedächtnis und erzeugen dabei viele verschiedene Assoziationen zwischen den beiden Begriffen Hans und Papagei. Je mehr Assoziationen durch die Vorstellungsbilder aufgebaut und elaboriert werden, solange das Material aktiv im Kurzzeitgedächtnis ist, desto dauerhafter und zugänglicher sind diese dann als Inhalte im Langzeitgedächtnis. In vielen Studien wurde gezeigt, dass das Elaborieren von sinnhaften Verbindungen zwischen einzelnen Elementen diese im Gedächtnis aneinander bindet. Beispielsweise hat Gordon Bower (1972) Versuchspersonen gebeten, sich Bilder vorzustellen, in denen sie eine inhaltliche Beziehung zwischen den beiden Wörtern eines Wortpaares herstellen sollten. Die Wörter eines Paares standen an sich in keinem sinnhaften Zusammenhang, zum Beispiel Hund-Zigarre. Das beziehungsstiftende Vorstellungsbild zu diesem Paar könnte sein „Ein Hund raucht eine Zigarre“. Bower ließ die Versuchspersonen dann einschätzen, wie lebhaft ihr Vorstellungsbild war und wie leicht sie eine Beziehung zwischen den beiden Wörtern herstellen konnten. Er forderte sie aber nicht auf, die Wortpaare zu lernen. Ohne Vorankündigung testete er später, wie viele Wortpaare die Versuchspersonen reproduzieren konnten. Die meisten zeigten eine hohe Behaltensleistung: etwa 75 Prozent der Wortpaare wurden erinnert. Bower (1972) verglich nun die Behaltensleistung der Versuchspersonen, die sich die Wortpaare bildlich vorgestellt hatten, mit der von anderen Personen, welche die Wortpaare verbal wiederholt hatten mit der Instruktion, sie für einen späteren Behaltenstest zu lernen. Interessant ist, dass die ersten Versuchspersonen, die sich ohne Lerninstruktion Bilder vorstellten, eine bessere Behaltensleistung zeigten als die anderen, die die Wortpaare mit Behaltensinstruktion verbal wiederholten. Sie schafften weniger als 50 Prozent der Wortpaare. Die Untersuchung zeigt, dass der bloße Wille, sich etwas zu merken, nicht immer ausreicht, es auch tatsächlich zu behalten. Stattdessen ist die Erinnerungs-
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leistung davon abhängig, wie viele Elaborationen wir aufgebaut haben, auf welche Weise wir also über das Material nachgedacht haben.
3.4.2 Verbale Elaboration Nicht nur bildhafte Vorstellungen können als Elaboration dienen. Auch zusätzliche verbale Information kann diesen Zweck erfüllen. Das Elaborieren der Bedeutung von verbalem Material kann zu einem besseren Abruf führen: Je gründlicher man die Bedeutung des Materials verstanden hat, desto besser kann man sich später daran erinnern. Wenn Sie sich eine bestimmte Aussage in einem Lehrbuch merken möchten, werden Sie sie auch langfristig besser behalten können, wenn Sie sich auf die Bedeutung der Aussage konzentrieren statt auf ihren Wortlaut. Und je tiefer und gründlicher Sie die Bedeutung der Aussage herausarbeiten, desto häufiger werden Sie sie kurzfristig aktivieren und sich später besser an sie erinnern. Eine Untersuchung von Bradshaw und Anderson (1982) illustriert den Effekt der verbalen Elaboration. Die Versuchspersonen lernten Fakten aus dem Leben berühmter Persönlichkeiten, z. B. „Zu einem wichtigen Zeitpunkt in seinem Leben reiste Mozart von München nach Paris“. Einige dieser Fakten wurden allein dargeboten. Bei anderen wurde zusätzlich eine weitere Information dargeboten. Diese hatte entweder keine Beziehung zum gelernten Faktum, sie war die Konsequenz oder sie war die Ursache des Faktums (z. B. „Mozart wollte München verlassen, um eine Liebesaffäre zu beenden“). Später wurde mit einem Behaltenstest geprüft, wie viele der gelernten Fakten die Versuchspersonen reproduzieren konnten. Die Versuchspersonen erinnerten sich am schlechtesten an die Fakten, die sie ohne Zusatzinformation gelernt hatten. Auch die Fakten mit beziehungsloser Zusatzinformation wurden nur wenig besser behalten. Viel besser wurden die Fakten mit zusätzlicher Ursache behalten und noch etwas besser die Fakten mit zusätzlicher Konsequenz. Vermutlich führt das Hinzufügen von Ursache oder Konsequenz eines Faktums dazu, dass die Versuchspersonen eine zusätzliche Assoziation von der Ursache des Verhaltens zur Zielinformation ausbilden: „Mozart reiste von München nach Paris, weil er eine Liebesaffäre beenden wollte.“ Beim Behaltenstest können die Versuchspersonen die elaborierte Zielinformation dann direkt abrufen oder indirekt, indem sie der Assoziation von der Ursache zur Zielinformation folgen. Sogar dann, wenn sie die Zielinformation vergessen haben, können sie sie auf Grund der Ursache schlussfolgern.
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3.4.3 Hierarchische Organisation des Materials Wir lernen Informationen leichter, wenn wir sie in sinnvolle Gruppen oder Kategorien einteilen und dann Beziehungen zwischen diesen Kategorien herstellen. Eine Kategorie kann einer anderen untergeordnet sein, kann Beispiele für eine übergeordnete Kategorie enthalten oder in einer anderen sinnvollen Beziehung zu ihr stehen. Wenn das Material erst einmal im Gedächtnis gespeichert wurde, dann dient jede Kategorie als Stichwort für andere Kategorien, was den Abruf erleichtert. Wenn wir im Gedächtnis der hierarchischen Organisation folgen, können wir Ebene für Ebene die dazugehörigen Informationen finden. Wie effizient hierarchische Organisationen unser Gedächtnis unterstützen, wurde in einem Experiment demonstriert, bei dem die Versuchspersonen in kurzer Zeit eine große Anzahl von Wörtern lernen sollten (Bower, Clark, Lesgold & Winzenz 1969). Bower et al. (1969) verwendete insgesamt 112 Wörter, die in vier etwa gleich große Gruppen unterteilt waren. In jeder Gruppe konnten die Wörter in eine sinnvolle Hierarchie gebracht werden. Als Beispiel ist in Abbildung 3 die in dem Experiment verwendete hierarchische Darstellung der Kategorie „Mineralien“ gezeigt. Eine Hälfte der Versuchspersonen sah die vier Wortkategorien geordnet nach solchen hierarchischen Darstellungen, ohne allerdings die hierarchische Ordnung gezeigt zu bekommen. Die anderen Personen sahen alle 112 Wörter in zufälliger Reihenfolge, willkürlich in vier Gruppen unterteilt. Abbildung 3:
Hierarchische Organisation des Lernmaterials nach Bower et al. (1969)
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Nach dem Lernen der ungeordneten oder hierarchisch geordneten Wörter führten Bower et al. (1969) mit den Versuchspersonen einen Behaltenstest durch. Dabei erinnerten sich die Versuchspersonen, die die Wörter entlang der hierarchischen Darstellung gesehen hatten, an 65 Prozent der Wörter. Die Personen, die die Wörter in zufälliger Reihenfolge gelernt hatten, erinnerten sich nur an 19 Prozent der Wörter. Die hierarchische Organisation führt demnach zu deutlich besseren Behaltensleistungen. Das liegt vor allem daran, dass jede übergeordnete Kategorie als Stichwort für die untergeordneten Kategorien dient und umgekehrt.
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Das Erinnern und Vergessen aus dem Langzeitgedächtnis
Im Gedächtnis gespeicherte Informationen sind für uns nur von Nutzen, wenn wir uns bei Bedarf an sie erinnern können. Gelingt dies, so sprechen wir von einem erfolgreichen Abrufprozess. Allzu oft ist der Abrufversuch jedoch nur teilweise oder gar nicht erfolgreich, so dass wir von Vergessen sprechen. Wir wissen dabei nicht, ob die gesuchte Information tatsächlich aus unserem Gedächtnis verschwunden ist oder ob wir im Moment nur nicht an sie „herankommen“ können.
4.1 Abruf aus dem Langzeitgedächtnis Beim Abruf aus dem Langzeitgedächtnis benutzen wir eine Frage oder ein Stichwort, um die Antwort aus dem Langzeitgedächtnis zu holen. Die Frage aktiviert Assoziationen und bringt uns die Antwort ins Kurzzeitgedächtnis, so dass wir sie benutzen können. Mancher Abruf aus dem Gedächtnis ist mühelos und automatisch. So gelingt es uns sofort, wenn wir ein Wort wie „Hund“ lesen, die Bedeutung dieses Wortes aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen. Andere Abrufprozesse benötigen mehr Zeit und bringen uns viele Gedächtnisinhalte ins Bewusstsein, auch solche, nach denen wir gar nicht gesucht haben. Gelegentlich wird ein Erinnerungsversuch auch zu einer sehr ausgedehnten Suche im eigenen Gedächtnis. Beispiele für schwierige Abrufprozesse sind das „Es-liegt-auf-derZunge“-Phänomen und ausgedehnte Abrufprozesse.
4.1.1 „Es-liegt-auf-der-Zunge“-Phänomen Erinnerungsversuche können erfolgreich sein, fehlschlagen oder auch nur teilweise glücken. Ein Beispiel für einen teilweise geglückten Erinnerungsversuch,
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der später oft noch zu vollständigem Erinnern führt, ist das sogenannte Es-liegtauf-der-Zunge-Phänomen. Wenn uns ein Wort oder ein Name „auf der Zunge liegt“, sind wir sicher, dass wir das Wort kennen, aber wir kommen einfach nicht darauf. Dieser Zustand ist uns unangenehm. Wenn wir dann das gesuchte Wort endlich gefunden haben, sind wir meist sehr erleichtert. Experimente hierzu haben gezeigt, dass die Versuchspersonen sehr wohl einige Informationen über das Wort haben, welches sie nicht abrufen können. So können sie unter Umständen angeben, wie viele Silben das Wort hat und wie es etwa klingt. Diese bruchstückhaften Informationen erlauben es auch, falsche Alternativen zu dem gesuchten Wort zurückzuweisen (Brown & McNeill 1966).
4.1.2 Ausgedehnte Abrufprozesse Die Suche nach Informationen im Langzeitgedächtnis kann manchmal ein besonders langes und frustrierendes Erlebnis sein. Williams und Hollan (1981) haben solche ausgedehnten Abrufprozesse untersucht. Sie baten erwachsene Versuchspersonen, sich mehrere Stunden lang laut denkend an die Personen zu erinnern, die mit ihnen in einer Schulabschlussklasse gewesen waren. Alle Erwachsenen hatten die Schule schon vor mehreren Jahren verlassen. Die Versuchspersonen erinnerten sich an viele richtige Namen, aber zusätzlich nannten sie auch falsche Namen: Es wurden Namen von Schülern aus Parallelklassen und Zusammensetzungen aus verschiedenen Namen genannt. Williams und Hollan fanden heraus, dass der Anteil falscher Namen im Verlauf des Experiments immer größer wurde: Nach zwei Stunden war nur ein Drittel der genannten Namen falsch, zwei Drittel waren richtig. Nach vier Stunden war der Anteil der falschen Namen schon größer und nach sechs Stunden war die Hälfte der genannten Namen falsch. Die Versuchspersonen produzierten im Laufe des Abrufprozesses demnach immer mehr falsche „Erinnerungen“. Erinnerungen werden also häufig nicht einfach aus dem Gedächtnis abgerufen sondern sind in einem hohen Maße Rekonstruktionen der tatsächlichen Begebenheiten.
4.2 Kontexteffekte beim Erinnern: Die Rolle von Stichwörtern Wie schon erwähnt basiert unser Gedächtnis auf Assoziationen zwischen den jeweils relevanten Informationseinheiten. Wenn wir Informationen speichern, assoziieren wir eine bestimmte Information vielleicht sehr eng mit einem Stichwort, mit einem anderen aber nur schwach. Das ist so, als ob wir ein Buch im
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Bibliothekskatalog nur unter dem Titel, nicht aber unter dem Namen des Autors ablegen. Eine Reihe von Experimenten von Tulving und seinen Mitarbeitern hat gezeigt, wie effektiv geeignete Stichwörter sind, um Informationen abzurufen, die wir mit Hilfe von weniger geeigneten Stichwörtern nicht gefunden haben. Wie effektiv ein Stichwort ist, hängt davon ab, was wir uns beim Lernen gedacht haben und wie die Lernsituation beschaffen war. Der Abruf ist erfolgreicher, wenn sich Lern- und Abrufsituation möglichst ähnlich sind, weil dann beim Erinnern zusätzliche Hinweisreize existieren. Dieses Prinzip der Abrufverbesserung durch Übereinstimmung von Lernund Erinnerungsumgebung wird Enkodierungsspezifität genannt. Die Stichwörter aus unserer Umgebung, die beim Abrufversuch unsere Gedächtnissuche leiten, können aus sehr unterschiedlichen Quellen stammen: sie umfassen die äußere Umgebung, die Assoziationen, die wir beim Lernen und Erinnern aktivieren, und auch unser Befinden.
4.2.1 Effekte der äußeren Umgebung Viele Untersuchungen haben Effekte der äußeren Umgebung auf den Abrufprozess demonstriert, indem das Lernmaterial in einem Raum gelernt wurde und dann in demselben oder einem anderen Raum frei reproduziert werden sollte. Dabei zeigte sich, dass in einem Labor gelerntes Material deutlich schlechter erinnert wird, wenn der Behaltenstest nicht in demselben Labor sondern in einem anderen Raum stattfindet. Experimente mit Tauchern haben für eine spektakuläre Demonstration dieses Kontexteffektes gesorgt. Godden und Baddeley (1975) baten Mitglieder eines Tauchclubs, eine Liste von Wörtern zu lernen. Die eine Hälfte der Taucher lernte die Wortliste an Land, die andere Hälfte lernte die Liste unter Wasser. Beim späteren Behaltenstest sollten sich die Taucher, die die Liste unter Wasser gelernt hatten, entweder an Land oder unter Wasser an die Wörter erinnern. Die Taucher, die an Land gelernt hatten, sollten sich ebenfalls entweder an Land oder unter Wasser an die Wörter erinnern. Godden und Baddeleys (1975) Taucher lernten und erinnerten an Land und im Wasser etwa gleich viele Wörter. Die Taucher, die unter Wasser gelernt hatten, erinnerten sich aber an deutlich mehr Wörter, wenn sie sich auch unter Wasser statt an Land erinnern sollten. Die Taucher, die an Land gelernt hatten, erinnerten sich dementsprechend an mehr Wörter, wenn sie auch an Land statt unter Wasser getestet wurden. Fanden Lernen und Erinnern am gleichen Ort statt, wurde also deutlich mehr erinnert.
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4.2.2 Effekte des verbalen Kontextes Wenn sich der verbale Kontext ändert, in dem wir Material lernten, kann dies auch zu Schwierigkeiten beim Abruf führen. In einer Untersuchung von Tulving und Thomson (1973) wurden Versuchspersonen Wortpaare wie „Zug-schwarz“ gezeigt. Sie wurden aufgefordert, sich die rechts stehenden Wörter, die sogenannten Zielwörter, zu merken. Der verbale Kontext der Zielwörter wie „schwarz“ bestand hier aus den dazugehörigen Stichwörtern „Zug“. Dann wurde den Versuchspersonen eine andere Liste einzelner Wörter vorgelesen. Sie sollten nun zu jedem Wort neue Wörter assoziieren und notieren (z. B. zu „weiß“: Schnee, Pferd, Hochzeit, schwarz, ...). Danach sollten die Versuchspersonen ihre notierten Wörter durchsehen und die Wörter anstreichen, die sie zuvor als Zielwörter gelernt hatten, also beispielsweise „schwarz“. Sie sollten also die alten Zielwörter in einem neuen verbalen Kontext wiedererkennen, nämlich der Liste ihrer assoziierten Wörter. Die meisten Versuchspersonen konnten viele Zielwörter der zuvor gelernten Wortpaare nicht unter den assoziierten Wörtern wieder erkennen. Als den Versuchspersonen jedoch später die Original-Stichwörter der ersten Liste von Wortpaaren (z. B. Zug) gezeigt wurden, erinnerten sie sich an einen viel höheren Prozentsatz der Zielwörter (z. B. schwarz). In diesem Fall war der Unterschied im verbalen Kontext zwischen Lernund Testsituation so groß, dass sich die Versuchspersonen an mehr Wörter im gleichen verbalen Kontext erinnerten als sie in einem anderen verbalen Kontext wieder erkannten. Dieses Ergebnis scheint dem gut abgesicherten Befund zu widersprechen, dass Wiedererkennen einfacher ist als Reproduzieren. Wenn wir aber den Unterschied zwischen den beiden Situationen betrachten und das Prinzip der Enkodierungsspezifität anwenden, lässt sich dieser scheinbare Widerspruch auflösen: Die Versuchspersonen konnten die Zielwörter in dem verbalen Kontext erfolgreich reproduzieren, in dem sie die Wörter auch gelernt hatten. Sie hatten aber Schwierigkeiten, die Wörter in einem anderen verbalen Kontext wieder zuerkennen. Dies liegt vermutlich daran, dass sie die Wörter in der Lernsituation auf eine Art enkodiert hatten, die beim Wiedererkennen nicht nützlich war (vgl. Anderson und Bower 1974).
4.2.3 Effekte des Befindens Auch Veränderungen im Befinden einer Person beeinflussen das Gedächtnis. In einer Untersuchung von Bower (1981) wurden Studenten durch Hypnose entweder in eine traurige oder eine glückliche Stimmung versetzt. Die Studenten sollten sich nun an emotionale Ereignisse erinnern, die sie in der vorangegangenen
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Woche erlebt hatten. Diese Erinnerungen wurden dann mit den Eintragungen in Tagebüchern verglichen, welche die Studenten während der vorangegangenen Woche über ihre emotionalen Erlebnisse geführt hatten. Studenten, die beim Erinnern in glücklicher Stimmung waren, erinnerten einen höheren Prozentsatz der glücklichen Erlebnisse. Die Studenten hingegen, die in trauriger Erinnerungsstimmung waren, erinnerten mehr unglückliche Begebenheiten. Offensichtlich führte die momentane Stimmung dazu, dass sie einen leichteren Zugriff auf die Gedächtnisinhalte hatten, die in ähnlicher Stimmung gespeichert worden waren.
4.3 Kontexteffekte beim Erinnern: Praktische Implikationen Da Kontexteffekte den Abrufprozess und damit auch den Abruferfolg stark beeinflussen können, sollte man sie schon beim Lernen beachten. Wenn Sie beispielsweise für eine Prüfung lernen müssen, sollten Sie versuchen, das Lernen so zu gestalten, dass es der späteren Prüfungssituation möglichst ähnlich ist. Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass Sie sich selbst solche Fragen stellen, die möglicherweise auch ein Prüfer stellen würde. Wenn Sie nicht wissen, wie die Prüfungssituation aussehen wird, sollten Sie mit mehreren, möglichst unterschiedlichen Methoden lernen. Dies erhöht die Chance, dass die Prüfungssituation Stichworte enthält, die beim Lernen auch vorhanden waren.
4.4 Theorien des Vergessens aus dem Langzeitgedächtnis Jeder Mensch vergisst Informationen: die Handlung eines Kinofilms, den wir vor einem halben Jahr gesehen haben; das Menü, welches es am Samstag Abend bei Freunden gab; den Geburtstag eines Freundes; das Versprechen, einem Bekannten ein Buch zu schicken. Es gibt zwei Möglichkeiten, was mit den Informationen passiert sein könnte. Entweder sind die einst gespeicherten Informationen verblasst und aus dem Gedächtnis verschwunden, oder die Informationen sind noch vorhanden, aber aus irgendeinem Grund können wir sie nicht mehr abrufen. Auf diese beiden Möglichkeiten beziehen sich auch die beiden bekanntesten Theorien zum Vergessen aus dem Langzeitgedächtnis: Die Spurenzerfallstheorie und die Interferenztheorie.
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4.4.1 Die Spurenzerfallstheorie des Vergessens Die älteste Theorie des Vergessens besagt, dass Gedächtnisspuren im Laufe der Zeit zerfallen oder verblassen. In der Spurenzerfallstheorie wird angenommen, dass im Gedächtnis eine Spur (eine Assoziationskette) aufgebaut wird, wenn neues Material gelernt wird. Im Laufe der Zeit nimmt die Stärke dieser Assoziationskette ab. Irgendwann ist die Gedächtnisspur so schwach, dass sie nicht mehr aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden kann. Es gibt allerdings Zweifel an der Allgemeingültigkeit der Spurenzerfallstheorie. Häufig können wir uns nämlich recht gut an weit zurückliegende Ereignisse erinnern. So können sich Personen, die sehr alt sind oder an der AlzheimerKrankheit leiden, zwar vielleicht nicht erinnern, was gestern passiert ist. Sie können aber häufig viele Ereignisse aus ihrer Kindheit abrufen. Das kann allerdings auch daran liegen, dass sie an diese Ereignisse häufiger gedacht oder über sie geredet haben, also die betreffende Gedächtnisspur immer wieder aktiviert wurde. Wir sind auch in der Lage, uns an motorische Fertigkeiten zu erinnern, selbst wenn wir sie über einen langen Zeitraum hinweg nicht ausüben. Wer einmal Schwimmen gelernt hat, behält diese Fähigkeit, auch wenn er jahrelang nicht schwimmen geht. Diese Tatsachen sind schwer zu erklären, wenn wir annehmen, dass der Zerfall von Information die alleinige Ursache für das Vergessen ist.
4.4.2 Interferenz als Ursache des Vergessens Neben der Spurenzerfallstheorie gibt es die Interferenztheorie. Interferenz bedeutet, dass der Abruf von bestimmten Gedächtnisinhalten durch das Lernen anderer Informationen erschwert wird. Die Bedeutung der Interferenz wurde schon vor vielen Jahren von Jenkins und Dallenbach (1924) untersucht. Ihre Versuchspersonen lernten Listen von sinnfreien Silben. Danach gingen sie entweder schlafen oder sie blieben wach und gingen ihrer täglichen Arbeit nach. Eine, zwei, vier oder acht Stunden nach dem Lernen wurde dann das Behalten der Silben getestet. Dazu wurden die schlafenden Versuchspersonen geweckt und die wachen bei ihrer Arbeit unterbrochen. Jenkins und Dallenbach stellten an jedem der vier Zeitpunkte fest, wie viele Silben die schlafenden und die wach gebliebenen Personen behalten hatten. Es zeigte sich, dass nach einer Stunde Schlaf viel mehr Silben erinnert wurden als nach einer Stunde Wachen. Das bessere Erinnern beobachtete man auch nach zwei, vier oder gar acht Stunden Schlaf nach dem Lernen.
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Eine ganze Reihe neuropsychologischer Untersuchungen belegen inzwischen, dass der Schlaf bei der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten eine zentrale Rolle spielt (z. B. Wagner, Gais, Haider, Verleger & Born 2004).
4.4.3 Untersuchung der Interferenz In einem typischen Interferenzexperiment lernen Versuchspersonen eine Liste mit Wortpaaren wie zum Beispiel Liste A in Abbildung 4. Jedes Wortpaar besteht aus einem Stichwort und einem Zielwort. Wenn die Versuchspersonen Liste A gelernt haben, lernen sie eine zweite Liste B. Die Liste B besteht wiederum aus Wortpaaren. Die Stichwörter sind die gleichen wie bei Liste A, die Zielwörter hingegen sind neue Wörter (vgl. McGeoch 1942). Wenn in Liste A z. B. das Wortpaar „sauer-weich“ enthalten ist, dann enthält die Liste B das Paar „sauer-blau“. In dem Behaltenstest eines solchen Interferenzexperimentes werden den Versuchspersonen die Stichwörter vorgelegt mit der Aufforderung, beispielsweise die Zielwörter der Liste A abzurufen (siehe Abbildung 4 rechts). Abbildung 4:
Schematische Darstellung eines Interferenzexperiments
Versuchspersonen, die bei diesem Interferenz-Experiment beide Listen von Wortpaaren gelernt haben, erinnern sich später an weniger Zielwörter der Liste A als Versuchspersonen, die nur die Liste A gelernt haben. Wenn Versuchspersonen, die beide Listen gelernt haben, die Zielwörter der Liste A abrufen wollen, erinnern sie sich häufig auch ungewollt an die Zielwörter der Liste B. Die Zielwörter beider Listen konkurrieren sozusagen miteinander, was den Abruf des gesuchten Zielwortes erschwert. Da bei diesem Experiment das Lernen einer nachfolgenden Liste zu Interferenz führt, nennen Psychologen diesen Prozess
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retroaktive Interferenz. Dies bedeutet, dass die Interferenz rückwärts (retro) gerichtet ist, also von Liste B rückwärts auf Liste A. Interferenz kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung erfolgen. Wenn man Versuchspersonen wiederum erst eine Wortliste A und danach eine Wortliste B lernen lässt und später die Behaltensleistung für die Zielwörter der Liste B prüft, reproduzieren diese Versuchspersonen weniger Zielwörter der Liste B als Versuchspersonen, die nur Liste B gelernt haben. Weil sich die Interferenz wie bei diesem Experiment vorwärts (pro) auswirkt, nennt man sie proaktive Interferenz. Anders ausgedrückt: Proaktive Interferenz entsteht durch das Lernen von störendem Material vor dem Erlernen der Zielinformation. Retroaktive Interferenz hingegen findet im Behaltensintervall der Zielinformation statt; das störende Material wird also gelernt, nachdem die Zielinformation gelernt wurde. Es ist vermutlich so, dass Interferenz nicht zum Verlust einer Information führt sondern lediglich den Zugang zu der gesuchten Assoziation erschwert. Anderson (1981) ließ seine Versuchspersonen zunächst Listen von Wortpaaren lernen. Einige Listen enthielten gemeinsame Stichwörter, so dass Interferenz zwischen den Listen zu erwarten war. Andere Listen enthielten keine gemeinsamen Wörter, so dass keine Interferenz auftreten sollte. Später wurde das Behalten getestet. Insgesamt erkannten die Versuchspersonen mehr Wörter wieder als sie frei reproduzieren konnten. Beim Wiedererkennen gab es zudem keinen Effekt der Interferenz: Mit Interferenz wurden ebenso viele Zielwörter wieder erkannt wie ohne Interferenz. Die Interferenz wirkte sich aber auf das freie Reproduzieren aus: Mit Interferenz wurden weniger Zielwörter frei erinnert als ohne Interferenz. Die Interferenz erschwerte also lediglich den Abruf der Zielwörter. Nach dem heutigen Stand der Forschung gilt, dass wir sowohl das Spurenzerfallsprinzip als auch das Prinzip der Interferenz brauchen, um die gesamte Bandbreite des alltäglichen Vergessens erklären zu können.
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Die Verbesserung der Gedächtnisleistung
Jeder von uns kann seine Gedächtnisleistung verbessern, indem er sogenannte Mnemotechniken anwendet, um sein Gedächtnis (griechisch: mneme) zu unterstützen. Solche Techniken sind seit Jahrtausenden bekannt – schon Redner der Antike verwendeten sie. Mnemotechniken verbessern die Gedächtnisleistung durch ganz verschiedene Strategien: Sie helfen uns, die Informationen besser zu organisieren, sie verwenden bildhafte Vorstellungen, bauen Bedeutungszusammenhänge auf, und sie benutzen in hohem Maße das bereits vorhandene Wissen.
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Die Mnemotechniken verwenden also verschiedene elaborierende Methoden zur Verbesserung der Behaltensleistung, die alle experimentell gut abgesichert sind. Die Verbesserung der Behaltensleistung, die Mnemotechniken im Vergleich zu einfachem Einprägen bieten, erspart uns nicht die Arbeit des Lernens. Anfangs führen einige dieser Techniken sogar zu größerem Zeitaufwand als bloßes Auswendiglernen. Aber Personen, die solche Techniken gelernt haben und anwenden, haben zwei Vorteile. Erstens sind sie in der Lage, sich alltägliche Informationen effizienter einzuprägen, was ihren Kopf freihält für Aufgaben, die eher Denken und Kreativität erfordern. Zweitens fällt ihnen das Schlussfolgern und Verstehen leichter, weil sie die dafür wichtigen Fakten besser behalten können.
5.1 Mnemotechniken mit bildhaften Vorstellungen Viele Mnemotechniken basieren darauf, dass es einfacher ist, Informationen zu behalten, die man sich bildlich vorstellen kann. Vergleichen Sie einmal die beiden Wortpaare „Gorilla-Sekt“ und „Allwissenheit-Wohlklang“. Das erste Wortpaar (zwei konkrete Begriffe) legt sofort bestimmte Vorstellungsbilder nahe, vielleicht einen Sekt trinkenden Gorilla. Das zweite Wortpaar hingegen (zwei abstrakte Begriffe) suggeriert kein Vorstellungsbild, oder allenfalls eines, das nur vage mit den beiden Begriffen in Beziehung steht. Abstrakte Begriffe können zwar durch Bilder erinnert werden, aber es besteht immer ein Risiko: Wenn wir uns etwa den Begriff „Wohlklang“ merken, indem wir uns einen Pianisten vorstellen, der unser Lieblingslied spielt, kann es leicht geschehen, dass wir später statt „Wohlklang“ die Begriffe „Melodie“ oder „Harmonie“ abrufen. Warum gerade bildhafte Vorstellungen ein so wirksames Werkzeug für das Gedächtnis sind, ist nicht eindeutig geklärt. Vielleicht wirkt das Vorstellen von Objekten ganz ähnlich wie das Elaborieren, indem viele Beziehungen zwischen den Items hergestellt werden, die man behalten will. Jede vorgestellte Beziehung liefert eine weitere Verbindung oder Assoziation, die uns hilft, ein Element eines Wortpaares abzurufen, wenn wir mit dem anderen Element als Stichwort abgefragt werden. Die drei bekanntesten Mnemotechniken, die Vorstellungsbilder verwenden, sind die Loci-Methode, die Ankerwort- und die Schlüsselwortmethode. Alle drei Methoden verwenden integrierende Vorstellungsbilder, weil diese effektiver sind als getrennte Bilder.
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5.1.1 Die Loci-Methode Die Loci-Methode basiert darauf, dass es Orte (lateinisch: loci) und Reihenfolgen von Orten gibt, die Sie in Ihrem Gedächtnis besonders gut verankert haben. Beispiele hierfür sind die Orte, die Sie auf Ihrem täglichen Heimweg passieren oder die Zimmer Ihrer Wohnung. Die Dinge, an die man sich erinnern möchte, werden in der Vorstellung entlang dieser bekannten Route an markanten Punkten abgelegt. Wenn Sie sich später an die Objekte erinnern wollen, brauchen Sie nur im Geiste den bekannten Weg abzugehen und „finden“ dabei die abgelegten Objekte. So lässt sich mit der Loci-Methode zum Beispiel eine Einkaufsliste behalten, indem Sie in Ihrer Vorstellung die einzelnen Positionen der Liste in auffälliger Weise auf dem Weg zum Laden verteilen. Im Laden müssen Sie dann nur den Weg noch einmal im Geiste abgehen, um jedes einzelne Objekt wieder zu finden. Die Loci-Methode funktioniert deswegen so gut, weil sie zwei behaltensfördernde Prinzipien anwendet: Sie bietet Ihnen sowohl ein bildhaftes Einprägesystem als auch einen systematischen Abrufplan. Sie stellen beim Einprägen bildhafte Verbindungen zwischen den bekannten Orten und den zu lernenden Objekten her, und beim Abruf gehen Sie die Orte in der gewohnten Reihenfolge ab.
5.1.2 Die Ankerwortmethode Auch die Ankerwortmethode beruht auf diesen beiden Prinzipien. Zunächst werden zehn oder mehr einfache Begriffe gelernt und dann später als so genannte Anker oder Aufhänger benutzt. Sobald man die Ankerwörter perfekt gelernt hat, kann man sich beliebige andere Items merken, indem man durch Vorstellungsbilder jeweils ein Ankerwort mit einem Item verbindet. Die Anwendung der Ankerwortmethode funktioniert ab dann ganz analog zur Loci-Methode.
5.1.3 Die Schlüsselwortmethode Die Schlüsselwortmethode wird erfolgreich genutzt, um Fremdsprachen zu lernen. Sie müssen dabei zu jeder Vokabel, die Sie lernen möchten, ein deutsches Wort finden, das ähnlich wie die Vokabel klingt. Sie stellen sich dann dieses ähnlich klingende deutsche Wort zusammen mit der Übersetzung der Vokabel bildlich vor. Dies sollte ein möglichst einprägsames Bild ergeben. Nehmen Sie
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zum Beispiel die Vokabel sea gull, das englische Wort für Möwe. Sea gull klingt so ähnlich wie Segel; Segel wäre also ein geeignetes Schlüsselwort. Nun stellen Sie sich eine Möwe vor, die auf einem Segel sitzt – dies ist Ihr Vorstellungsbild. Wenn Sie nun nach der Übersetzung von sea gull gefragt werden, suggeriert sea gull die Assoziation Segel, und das erinnert Sie an Ihre Möwe, die auf dem Segel sitzt. So finden Sie die Übersetzung Möwe für sea gull. Schüler, die beim Vokabellernen die Schlüsselwortmethode verwendeten, lernten in der gleichen Zeit doppelt so viele Wörter wie Schüler, die die Vokabeln nur mehrmals wiederholten (vgl. Atkinson 1975). Weil bestimmte Schlüsselwörter geeigneter sind als andere, funktioniert die Methode dann am besten, wenn eine Liste mit guten Schlüsselwörtern für bestimmte Vokabeln vorgegeben wird und die Schüler zu jedem Schlüsselwort ihr eigenes Vorstellungsbild entwerfen.
5.2 Den Abruf von Informationen üben Alle Techniken, die wir bisher dargestellt haben, beziehen sich hauptsächlich auf die Verbesserung des Speicherns von Informationen. Psychologen haben sich aber auch mit der Frage beschäftigt, wie man den Abruf von Informationen verbessern kann. Die beste Methode zur Verbesserung des Erinnerns scheint darin zu bestehen, den Abruf häufig zu üben. Wenn Sie nur eine begrenzte Zeit zum Lernen bestimmter Informationen haben, dann sollten Sie einen großen Teil der Zeit auf das Erinnern und Vortragen des Gelernten verwenden. Probieren Sie Ihr Gedächtnis aus. Überprüfen Sie, woran Sie sich erinnern können, und korrigieren oder erweitern Sie das Gelernte. Wichtig ist auch, dass Sie das Gelernte auf mehrere, möglichst unterschiedliche Arten üben und überprüfen. Die unterschiedlichen Arten des Übens sind wichtig, weil die Ähnlichkeit von Lern- und Abrufkontext bedeutsam ist (vgl. Abschnitt 4). Durch die unterschiedlichen Arten des Übens erhöhen Sie nämlich die Chance, dass einer der verschiedenen Lernkontexte dem späteren Abrufkontext ähnlich ist. Und je ähnlicher sich der Lern- und Abrufkontext sind, desto leichter fällt der Abruf, wie die Untersuchungen zur Enkodierungsspezifität gezeigt haben. In seiner inzwischen klassischen Untersuchung zeigte Gates bereits 1917, wie wichtig das Üben des Abrufs für die Behaltensleistung ist. Versuchspersonen, die 80 Prozent der Lernzeit auf das Üben und Überprüfen ihrer Erinnerungen verwendet hatten, erinnerten sich später an dreimal so viele Informationen wie andere Versuchspersonen, die die gesamte Zeit mit dem Studieren des Lehrstoffes verbracht hatten.
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5.3 Die PQRST-Methode Eine der bekanntesten Techniken, um das Behalten von Lehrbüchern zu fördern, wird PQRST-Methode genannt (Thomas & Robinson 1982). In verschiedenen Untersuchungen wurde gezeigt, dass Schüler Lehrtexte tatsächlich besser verstehen und behalten, wenn sie diese Studiertechnik anwenden. Die PQRSTMethode benutzt zwar keine bildhaften Vorstellungen, aber zahlreiche andere Möglichkeiten zur Verbesserung der Gedächtnisleistung. Sie besteht aus fünf Arbeitsschritten, die kapitelweise angewendet werden. Beim ersten Schritt (Preview) sollen Sie sich einen Überblick über das Kapitel verschaffen, um eine Vorstellung von den wesentlichen Inhalten und Abschnitten des Kapitels zu erhalten. Sie verschaffen sich einen Überblick, indem Sie das Kapitel überfliegen und dabei auf Überschriften und hervorgehobene Begriffe achten, und indem Sie das Inhaltsverzeichnis und die Zusammenfassung bzw. die Zusammenfassungen lesen. Diese Art des Überfliegens hilft Ihnen, den Inhalt des Kapitels zu organisieren und vielleicht auch schon die zugrunde liegende hierarchische Struktur zu erkennen. Damit basiert diese Phase auf einem wichtigen, schon vorgestellten Prinzip der Behaltensförderung: Die Wirkung der Preview-Phase basiert darauf, dass hierarchisch organisiertes Wissen leichter zu behalten ist. Die Schritte zwei bis vier (Question, Read, Self-recitation) werden jeweils auf einen Hauptabschnitt eines Kapitels angewendet, bevor der nächste Hauptabschnitt bearbeitet wird. Zuerst lesen Sie die Überschriften und hervorgehobenen Begriffe und überlegen sich Fragen dazu (Question). Dann lesen Sie den Text sorgfältig durch und achten vor allem auf Informationen, die Ihre Fragen beantworten (Read). Schließlich tragen Sie sich die Hauptideen des Abschnitts vor; entweder im Geiste oder noch besser laut (Self-recitation). Der fünfte Schritt der PQRST-Methode, die Wissensüberprüfung (Test), beginnt erst, wenn Sie das gesamte Kapitel bearbeitet haben. Sie müssen dann die Hauptideen des Textes vortragen und verstehen, wie sie miteinander in Beziehung stehen. Dabei wird der Abruf der gelernten Information geübt, was wiederum das Behalten fördert. Die Schritte zwei bis fünf der PQRST-Methode fördern die Gedächtnisleistung in doppelter Weise: Zum einen wird der Lehrstoff beim Lernen gründlicher verarbeitet, zum anderen wird der Abruf aus dem Gedächtnis geübt. Mit der Anleitung zu gründlicherer Verarbeitung des Lehrstoffes nutzt die PQRSTMethode ein bereits dargestelltes, hochwirksames Prinzip zur Verbesserung des Behaltens, nämlich das Prinzip der Elaboration.
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5.4 Schlussfolgerungen und Anregungen In diesem Buchkapitel haben Sie in den Grundzügen erfahren, wie das menschliche Gedächtnis als System funktioniert, wie wir langfristig verfügbare Wissensstrukturen aufbauen und welche Strategien wir einsetzen können, um das Einprägen und Behalten von Wissen zu erleichtern. In den beiden folgenden Absätzen möchte ich den Leserinnen und Lesern, die ihr Wissen in diesem Bereich vertiefen möchten, ein paar Tipps zur weiteren Lektüre geben. An erster Stelle möchte ich hier ein Buch von Alan Baddeley nennen. Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es die verschiedenen Bereiche der Gedächtnisforschung in geschickter Weise aus der Alltagserfahrung herleitet und viele leicht durchzuführende Selbstversuche enthält (Baddeley 2004). Der Stoff der Monographie von John Anderson (2004) und des Lehrbuches von Gluck, Mercado und Myers (2007) geht wesentlich über meine Einführung in das Themengebiet hinaus. Andersons Werk ist wohl eines der meistgelesenen Bücher der Kognitiven Psychologie, sehr spannend geschrieben von einem profilierten Vertreter des Faches. Das Lehrbuch von Gluck et al. (2007) ist hoch aktuell, sehr anregend geschrieben und verbindet Erkenntnisse der Verhaltensforschung bei Mensch und Tier mit Erkenntnissen der Hirnforschung sowie der klinischpsychologischen Forschung. Das Buch von Cohen und Conway (2008) befasst sich auf anregende Weise mit verschiedenen Gedächtnisleistungen im Alltag, also solchen Phänomenen, die in der experimentalpsychologischen Forschung häufig zu kurz kommen. Die Monographie von Pohl (2007) präsentiert umfassend sowie verständlich und übersichtlich die Forschungsergebnisse der letzten 20 Jahre zum autobiographischen Gedächtnis, also den persönlichen Erinnerungen, die maßgeblich unsere Identität definieren. Zu den vielfältigen Möglichkeiten der Verbesserung der Leistung unseres Gedächtnisses empfehle ich schließlich das Buch von Higbee (2001), das sich neben vielen populärwissenschaftlichen und häufig leider banalen oder sogar irreführenden Büchern zum Gedächtnistraining durch eine zugleich anregende und sachlich richtige Darstellung auszeichnet.
Literatur Anderson, J. R. (2004): Cognitive psychology and its implications. 6th edition. New York: Palgrave Macmillan. Anderson, J. R. (1981): Interference: The relationship between response latency and response accuracy. In: Journal of Experimental Psychology: Human Learning and Memory, 7, 326-343.
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Anderson, J. R.,/Bower, G. H. (1974): A propositional theory of recognition memory. In: Memory and Cognition, 2, 406-412. Atkinson, R. C. (1975): Mnemotechnics in second-language learning. In: American Psychologist, 30, 821-828. Baddeley, A. D. (2004): Your memory: A users' guide. London: Carlton Books. Bower, G. H. (1972): Mental imagery and associative learning. In: Gregg, L. W. (Ed.): Cognition in learning and memory, 51-88. New York: John Wiley. Bower, G. H. (1981): Mood and memory. In: American Psychologist, 36, 129-148. Bower, G. H./Clark, M./Lesgold, A./Winzenz, D. (1969): Hierarchical retrieval schemes in recall of categorized word lists. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 8, 323-343. Bradshaw, G. L./Anderson, J. R. (1982): Elaborative encoding as an explanation of levels of processing. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 21, 165-174. Brewer, W. F./Pani, J. R. (1983): The structure of human memory. In: Bower, G. H. (Ed.): The psychology of learning and motivation: Advances in research and theory. Vol. 17, 1-38, New York: Academic Press. Brown, R./McNeill, D. (1966): The „tip-of-the-tongue“ phenomenon. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 5, 325-337. Cohen, G./Conway, M. A. (2008): Memory in the real world. London: Psychology Press. Gates, A. I. (1917): Recitation as a factor in memorizing. In: Archives of Psychology, 13, 331-358. Glanzer, M./Clark, W. H. (1963): The verbal loop hypothesis: Binary numbers. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 2, 301-309. Glanzer, M./Cunitz, A. R. (1966): Two storage mechanisms in free recall. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 5, 351-360. Glenberg, A. M./Bradley, M. M. (1979): Mental contiguity. In: Journal of Experimental Psychology: Human Learning and Memory, 5, 88-97. Gluck, M. A./Mercado, E./Myers, C. E. (2007): Learning and Memory: From Brain to Behavior. New York: Worth Publishers. Godden, D. R./Baddeley, A. D. (1975): Context-dependent memory in two natural environments: On land and underwater. In: British Journal of Psychology, 66, 325-331. Higbee, K. C. (2001): Your memory: How it works and how to improve it. 2nd edition. New York: Marlowe & Co. Jenkins, J. G./Dallenbach, K. M. (1924): Obliviscence during sleep and waking. In: American Journal of Psychology, 35, 605-612. Locke, J. L./Locke, V. L. (1971): Deaf children's phonetic, visual and dactylic coding in a grapheme recall task. In: Journal of Experimental Psychology, 89, 142-146. Miller, G. A. (1956): The magical number seven, plus or minus two: Some limits on our capacity for processing information. In: Psychological Review, 63, 81-97. McGeoch, J. A. (1942): The psychology of human learning. New York: Longmanns, Green. Nickerson, R. S./Adams, M. J. (1979): Long-term memory for a common object. In: Cognitive Psychology, 11, 287-307. Peterson, L. R./Peterson, M. (1959): Short-term retention of individual verbal items. In: Journal of Experimental Psychology, 58, 193-198.
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Pohl, R. (2007): Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Kohlhammer. Reitmann, J. S. (1974): Without surreptitious rehearsal, information in short-term memory decays. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 13, 365-377. Sternberg, S. (1966): High-speed scanning in human memory. In: Science, 153, 652-654. Thomas, E. L./Robinson, H. A. (1982): Improving reading in every class: A sourcebook for teachers. Boston: Allyn & Bacon. Tulving, E./Thomson, D. M. (1973): Encoding specificity and retrieval processes in episodic memory. In: Psychological Review, 80, 352-373. Wagner, U./Gais, S./Haider, H./Verleger, R./Born, J. (2004): Sleep inspires insight. Nature, 427, 352-355. Williams, M. D./Hollan, J. D. (1981): The process of retrieval from very long-term memory. In: Cognitive Science, 5, 87-119.
Klassenmanagement als Basisdimension der Unterrichtsqualität Diemut Ophardt & Felicitas Thiel
Einleitung Unterrichtsqualität wird als das „stabile Muster von Instruktionsverhalten“ definiert, „das als Ganzes oder durch einzelne Komponenten die substantielle Vorhersage und/oder Erklärung von Schulleistung erlaubt“ (Weinert, Schrader & Helmke 1989: 899; übersetzt: Clausen 2002: 15). Diese Definition folgt einer Tradition der Lehr-Lernforschung, die die Qualität des Unterrichts an dessen Wirkungen misst. Dass mit der Konzentration auf die Wirkungsvariable Schulleistung der Blick einseitig auf die kognitiven Lernziele gerichtet werde, wurde bisweilen zwar kritisch angemerkt, die pragmatischfunktionale Definition des Begriffs ist dagegen weitgehend unstrittig. Wenngleich eine bloße Auflistung von Einzelmerkmalen guten Unterrichts der Komplexität des Gegenstands nicht gerecht zu werden vermag, können doch sowohl theoretisch als auch empirisch Basisdimensionen identifiziert werden. Neben den Merkmalen der kognitiven Aktivierung und der Schülerorientierung zählt Klassenmanagement zu den drei zentralen Merkmalen gelingenden Unterrichts (Klieme et al. 2001). Im Gegensatz zu dem durch zahlreiche empirische Befunde dokumentierten Stellenwert des Klassenmanagements ist das Thema in der deutschsprachigen Unterrichtsforschung bis in die jüngste Zeit nur randständig bearbeitet worden. Im folgenden Beitrag werden zunächst unterschiedliche Kriterien und Befunde zur Unterrichtsqualität vorgestellt (1). Anschließend werden Forschungszugänge zum Klassenmanagement skizziert (2) und schließlich werden vor dem Hintergrund eines Modells zu Anforderungsbereichen des Klassenmanagements Perspektiven der Forschung und methodische Herausforderungen diskutiert (3).
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Unterrichtsqualität: Kriterien und Befunde
Die deutschsprachige Pädagogik hat der empirischen Erforschung der Unterrichtsqualität die Aufmerksamkeit lange Zeit weitgehend verweigert. Dies ist der
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Fixierung der allgemeinen Didaktik auf die Bildungsinhalte und der Beschreibung schulischen Lernens als Realisierung eines pädagogischen Bezugs zwischen Erzieher und Zögling geschuldet. Die Qualität des Bildungsprozesses ist, folgt man dieser Auffassung, davon abhängig, dass ein charismatischer Lehrer den Zugang zu einem Kosmos kultureller Objektivationen aufschließt. Lehrerpersönlichkeit und Lehrplan sind entsprechend die entscheidenden Voraussetzungen für erfolgreiche Bildungsprozesse. Im angelsächsischen Raum wurde der Begriff der Unterrichtsqualität dagegen auf der Basis lernpsychologischer Theorien entwickelt. Miller und Dollard (1941) ermittelten vor dem Hintergrund der Überlegungen von Skinner und Thorndike drei Faktoren des Unterrichts: die Qualität der Instruktion, das aktive Engagement des Lerners und die motivationale Verstärkung durch die Lehrenden. Verstärkt wurden die Anstrengungen der Lehr-Lernforschung dann als Reaktion auf die desillusionierenden Publikationen von Coleman (1966) und Jencks et al. (1972), die in ihren Studien als Ursache des Lernerfolgs vor allem die kognitiven und sozialen Eingangsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler identifizierten. Dem Unterricht kam den Autoren zufolge nur eine marginale Bedeutung zu. Konzentrierte sich die Lehr-Lernforschung zunächst auf die methodische Kritik und Korrektur dieser pessimistischen Befunde, so wurden in der Folgezeit Untersuchungen zur Ermittlung des Anteils des Unterrichts an der Varianzaufklärung des Lernerfolgs zunehmend verdrängt von Studien, die lernerfolgversprechende Faktoren des Unterrichts zu ermitteln trachteten. Unter dem Etikett Prozess-Produkt-Paradigma sollten entsprechend Einzelmerkmale des guten Unterrichts (Prozess) empirisch mit Hilfe niedrig- und hochinferenter Beobachtungssysteme erfasst werden (vgl. Clausen 2002: 26f.). Die Wirksamkeit von Prozessmerkmalen wurde durch ihren Beitrag zur Voraussage des Lernerfolgs bzw. des Leistungszuwachses (Produkt) bestimmt (vgl. Ditton 2002). Die ersten Modelle (Caroll 1964) nahmen vor allem das Verhältnis von aufgewendeter und benötigter Lernzeit in den Blick und sortierten entsprechend die tatsächliche Lernzeit und Ausdauer bzw. Aufmerksamkeit auf die eine und kognitive Fähigkeiten, Fähigkeit, den Unterricht zu verstehen, und die Qualität des Unterrichts auf die andere Seite. Die Lernrate, als Maß für den Lernerfolg, wurde als Quotient von aufgewendeter und benötigter Lernzeit definiert. Effektiver Unterricht ist Carolls Auffassung zufolge ein an den individuellen Zeitbedarf angepasster Unterricht. Die Operationalisierung von Unterrichtsqualität erfolgt entsprechend durch die Aspekte Sequenzierung, Verständlichkeit und Adaptivität. Bloom (1971) erweiterte die Forschungsperspektive insofern, als er das Verhältnis zu den kognitiven und motivationalen Eingangsvoraussetzungen ins
Klassenmanagement als Basisdimension der Unterrichtsqualität
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Zentrum rückte. Anders als Caroll operationalisierte Bloom Unterrichtsqualität durch die Indikatoren Strukturierungshinweise, aktive Beteiligung und Verstärkung (vgl. den Überblick bei Einsiedler 1997). Bemerkenswert ist nicht nur, dass hier motivationale Aspekte stärkere Beachtung erfahren, sondern auch, dass die empirische Erfassung der Unterrichtsqualität nicht allein auf der Basis der Be obachtung des Lehrerverhaltens erfolgt, sondern auch das Verhalten der Schüler mit einbezieht. Hier ist bereits die in den späteren Expertenstudien zum Lehrerberuf betonte Etablierung und Aufrechterhaltung einer Struktur von SchülerLehreraktivitäten angedeutet, die auch in der aktuellen Konzeptualisierung des Klassenmanagements eine Rolle spielt (s. u.). Eine Erweiterung des Carollschen Modells durch Walberg erfasste neben den kognitiven und motivationalen Voraussetzungen auf Schülerseite zentrale Aspekte des Unterrichts, wie verfügbare und genutzte Lernzeit, sowie die Instruktionsqualität und schulische und außerschulische Kontextfaktoren, wie Klassenzusammensetzung, Peergroups und häusliche Unterstützung (Walberg 1984). Das Forschungsprogramm des Prozess-Produkt-Paradigmas umfasst eine Fülle von Studien zu „Teacher Effectiveness“ – also der Wirkung einzelner Lehrerfertigkeiten auf Schülerleistungen – und ist durch verschiedene vielzitierte Überblicksbeiträge gut dokumentiert (Rosenshine 1979; Brophy & Good 1986; Einsiedler 1997). Die in den Studien nachgewiesenen Einzelmerkmale effektiven Lehrerhandelns, so z. B. Klarheit der Lehrersprache, Anzahl der Fragen usw., werden in Merkmalslisten zusammengefasst und unterschiedlichen übergreifenden Dimensionen zugeordnet. So unterscheiden Brophy und Good (1986): Quantity and Pacing of Instruction, Active Teaching, Questioning the Students, Reaction to Student Responses. Einsiedler (1997) identifiziert als Merkmale der Unterrichtsqualität: Verständlichkeit, Sequenzierung, Adaptivität, Strukturierungshinweise, aktive Beteiligung, Verstärkung, Klarheit, Feedback, angepasste Aufgabenschwierigkeit, angepasste Lernschritte, Motivieren, Aufmerksamkeitssteuerung, Wissensstrukturierung, Lernen lernen, Curriculumorganisation, Leistungserwartungen. Einen Versuch, die in Merkmalslisten zusammengestellten Einzelbefunde theoretisch zu integrieren, stellt das sogenannte QUAIT Modell von Slavin (1996) dar. Slavin fasst die Vielzahl von Einzelfaktoren guten Unterrichts zu vier Megafaktoren zusammen: Quality of Instruction, Appropriateness, Incentive und Time. Quality of Instruction umfasst die Qualität des Curriculums, des Materials, der Aufgaben und der Darstellung und Erklärungen. Appropriateness bezieht sich auf die Herstellung der notwendigen Lernvoraussetzungen auf Schülerseite und findet insbesondere im angemessenen Anforderungsniveau Ausdruck. Incentive bezeichnet die Motivierungsqualität des Unterrichts, und Zeit bezieht sich
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sowohl auf die nutzbare als auch die aktive Unterrichtszeit. Dieses Modell wurde von Ditton weiter differenziert. Klassenführung und Klassenmanagement werden neben verfügbarer Zeit, Lerngelegenheiten, genutzter Lernzeit, Inhaltsorientierung und Lehrstoffbezogenheit der Dimension Unterrichtszeit zugeordnet (Ditton 2000: 82). Vor dem Hintergrund eines Modells schulischen Lernens, das die grundlegenden Aspekte individuellen Lernens auf das soziale System der Schulklasse bezieht, identifizieren Thiel und Ophardt (vgl. Thiel & Ulber 2006) Instruktion, Motivierung, Klassenmanagement und als querliegende Dimension Adaptivität als zentrale Qualitätsdimensionen. Die Maximierung der Lernzeit wird hier im Unterschied zu Slavin als abhängige Variable betrachtet, während Klassenmanagement als eigenständiger Anforderungsbereich beschrieben wird, der zwar eine Stützfunktion für Instruktion hat, aber mit der Herstellung der sozialen Ordnung im System Schulklasse eine ganz eigene Logik aufweist. Während das Modell von Ophardt/Thiel die Anforderungsbereiche entsprechend dem durch das soziale System Schulklasse gerahmten Lernprozess gegeneinander abgrenzt und in ihrem Verhältnis beschreibt, richten die Expertenstudien zum Lehrerberuf die Aufmerksamkeit stärker auf die Anforderungsdynamik des Unterrichts. Bromme unterscheidet etwa drei Anforderungen: die Organisation einer Struktur von Lehrer- und Schüler-Aktivitäten, die Stoffentwicklung und die Organisation der Unterrichtszeit. Klassenmanagement spielt insbesondere für die Herstellung einer Struktur von Lehrer-Schüler-Aktivitäten eine Rolle (vgl. Bromme 1997). Diese komplexen Anforderungen können nur im Rückgriff auf ein spezifisches Expertenwissen bewältigt werden, das verschiedene Inhaltsbereiche umfasst und im Laufe eines längerfristigen Ausbildungsprozesses entwickelt wird. Unterrichtsqualität findet nicht zuletzt ihren Ausdruck in der „Kompetenz zum raschen und situationsangemessenen Handeln“ (Bromme 1997: 198). Dass sich die Beschreibung dieser Kompetenz nicht in der empirischen Erfassung beobachtbarer Einzelmerkmale erschöpfen kann, wird durch die Studien zur Lehrerexpertise eindrücklich bestätigt. Die Frage nach der Qualität von Unterricht lässt sich außerdem – so Walberg (1990) – nur im Zusammenhang mit der Definition von „patterns of teaching“ beantworten. Die dem Prozess-Produkt-Paradigma zuzurechnenden Autoren hatten sich in erster Linie auf „explicit teaching“ und das didaktische Format der direkten Instruktion bezogen. Vor dem Hintergrund einer kognitivistischen Lerntheorie wurden vor allem die Aspekte der strukturierten Darbietung der Inhalte, der Differenzierung von Lernschritten, eines engen Monitorings, des korrektiven Feedbacks, der motivierenden Verstärkung sowie effektive Stillarbeit und Hausarbeit
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betont. Für das Muster des „comprehensive teaching“ und entsprechende Formate des problembasierten Lernens gelten dagegen Modelling, Guided Practice, selbstreguliertes Lernen und Gelegenheiten zur Wissensanwendung als entscheidende Qualitätsmerkmale. Was den offenen Unterricht betrifft, so werden Schülerorientierung, Individualisierung, der Anregungsgehalt von Material und die diagnostische Kompetenz der Lehrkräfte als zentrale Qualitätsmerkmale genannt (Walberg 1990: 473f.; vgl. auch Gruehn 2000). Gerade Klassenmanagement muss im Rahmen der unterschiedlichen didaktischen Formate ganz unterschiedlich operationalisiert werden. Unter den Vorzeichen unterschiedlicher didaktischer Formate stellt sich die Frage der Qualität demnach ganz unterschiedlich. Ob etwa einschleifendes oder anspruchsvolles Üben ein Qualitätsmerkmal darstellt, kann nur im Horizont einer didaktischen Gesamtkomposition beantwortet werden. Eine solche Gesamtkomposition muss mindestens die folgenden drei Aspekte berücksichtigen:
Lernziele: Soll in erster Linie Fachwissen oder sollen Kompetenzen der Selbststeuerung vermittelt werden? Werden kognitive, affektiv-motivationale oder soziale Lernziele betont? Steht die Verminderung der Leistungsheterogenität oder Förderung der Spitze im Vordergrund? Da eine multiple Zielerreichung zwar durchaus gelingen kann (Gruehn 1995), grundsätzlich aber durch das verfügbare Zeitbudget begrenzt wird, ist die Hierarchisierung von Lernzielen unvermeidlich. Stoff und Fach: In welchem Zeithorizont und in welcher Sequenzierung welche Inhalte vermittelt werden sollen, welche Aufgabenkultur, welche Formate der Darstellung und Erklärung effektiv sind, lässt sich nur beantworten, wenn fachliche und stoffliche Rahmenbedingungen beachtet werden (vgl. dazu: Arnold 2007). Schülervoraussetzungen: Insbesondere konstruktivistische Lerntheorien betonen, dass Lernen ein aktiver Prozess ist und dass sowohl die Einpassung neuer Informationen in vorhandene Schemata als auch die Aufrechterhaltung der Lernbereitschaft von Voraussetzungen auf Lernerseite abhängig ist. Die sogenannten Aptitude-Treatment-Interaction-Befunde verweisen nicht nur auf Unterschiede in Bezug auf kognitive Grundfähigkeiten, Wissen und Lernstrategien, sondern auch auf motivationale Aspekte. Helmke hat den Zusammenhang von Lehren und Lernen in einem Angebots-Nutzungs-Modell dargestellt, das neben dem Unterricht nicht nur die individuellen Voraussetzungen auf der Seite des Lerners, sondern auch soziale Kontextmerkmale und institutionelle Rahmenbedingungen abbildet (vgl. Helmke 2003: 41).
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Es sind also gewissermaßen Voreinstellungen der Optik erforderlich, die eine empirische Beantwortung der Frage der Unterrichtsqualität überhaupt erst erlauben. Eine weitere Frage, die durch die empirische Forschung noch nicht zureichend beantwortet werden konnte, ist, ob gute Lehrer durch „feste Merkmalskonfigurationen“ (Weinert & Helmke 1996) beschrieben werden können oder ob Substitutionsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Kompetenzen angenommen werden müssen. Vielfach wird heute die Metapher der „Orchestrierung“ (vgl. Bromme 1997: 185) gebraucht, um zu verdeutlichen, dass eine Verbesserung des Unterrichts nicht über eine gleichmäßige Optimierung von beobachtbaren Verhaltensmerkmalen erreicht werden kann, sondern nur über die Ausbildung der Kompetenz zum ziel-, fach- und schüleradäquaten Einsatz komplexer Handlungsprogramme. Zwar wird aus diesem Grund die Auflistung von Einzelmerkmalen guten Unterrichts zunehmend mit Skepsis betrachtet, gleichwohl können sowohl empirisch als auch theoretisch Basisdimensionen guten Unterrichts identifiziert werden, die Unterricht verschiedener didaktischer Formate gleichermaßen charakterisieren. Diese empirisch ermittelten Basisdimensionen – kognitive Aktivierung, Schülerorientierung, Klassenmanagement – sind an die skizzierten theoretisch begründeten Modelle zur Qualität des Lehrerhandelns anschlussfähig (vgl. Slavin 1996; Thiel 2006). Dass Klassenmanagement eine „Basisdimension qualitätsvollen Unterrichts“ (Kunter et al. 2005: 504) darstellt, ist insbesondere vor dem Hintergrund der empirischen Befunde zur Bedeutung der aktiven Lernzeit für den Lernerfolg plausibel. Definieren nominale und tatsächliche Unterrichtszeit lediglich das verfügbare Zeitbudget für die Entwicklung eines Unterrichtsangebots, so wird die nutzbare Zeit durch Interaktionssteuerung und Störungsprävention direkt beeinflusst. Die aktive Lernzeit verweist darüber hinaus auf die Bedeutung der Motivierungsqualität. Gerade das Beispiel aktive Lernzeit macht aber auch deutlich, dass die drei Basisdimensionen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Klassenmanagement ist sowohl im Verhältnis zur Instruktion/ kognitiven Aktivierung als auch zur Motivierung zu betrachten.
2
Klassenmanagement: Forschungszugänge und Befunde
War eine stärkere Thematisierung der Störungsanfälligkeit des Unterrichts mit dem Carollschen Modell des Unterrichts bereits vorgezeichnet, so erfolgte der erste systematische, methodisch kontrollierte Zugriff auf das Thema Klassenmanagement doch nicht im Rahmen der Prozess-Produkt-Forschung, sondern durch
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behavioristisch ausgerichtete Studien. Im Folgenden werden unterschiedliche Forschungszugänge sowie die zentralen Befunde dargestellt.
2.1 Klassenmanagement als individuelle Verhaltensmodifikation: Der behavioristische Zugang Die Grundfrage der Herstellung von Ordnung im Unterricht wird aus der behavioristischen Perspektive als individuelle Verhaltensmodifikation oder genauer als Förderung erwünschten und Einschränkung unerwünschten Verhaltens durch den Einsatz spezifischer Stimuli definiert (vgl. als Überblick Brophy 2006; Landrum & Kauffman 2006). Das Design der in diesem Zusammenhang durchgeführten Studien umfasste i. d. R. vier Phasen (vgl. Brophy 2006: 25): die auf Verhaltensbeobachtung beruhende Bestimmung einer Baseline-Ebene, die Einführung einer spezifischen Intervention sowie die Rücknahme und nochmalige Einführung der Intervention. Die Befunde der behavioristischen Perspektive lassen sich fünf verschiedenen Operationen der Verhaltensmodifikation zuordnen:
Der Einsatz positiver Verstärker wurde insbesondere in Bezug auf Effekte von Lob und Aufmerksamkeit untersucht (vgl. für Verweise auf entsprechende Studien Landrum & Kauffman 2006: 48ff.). Obwohl Lob und Aufmerksamkeit als wirkungsvolle Mittel zur Verhaltensmodifikation identifiziert werden konnten, zeigten die Untersuchungen, dass in der Schulpraxis Lob und Aufmerksamkeit zum einen zu selten und zum anderen nicht in ausreichendem Maße systematisch auf die Verstärkung erwünschten Verhaltens angewendet wird und dementsprechend in der Praxis weniger eindeutige Effekte zeigt als sich unter Experimentalbedingungen nachweisen lässt (Brophy 1981). Die Untersuchung der Förderung positiven Verhaltens durch den Entzug eines negativen Stimulus (z. B. Hausaufgaben) führte nicht zuletzt zu wichtigen Erkenntnissen über die unbeabsichtigte Förderung unerwünschten Verhaltens durch den Entzug negativer Stimuli. Diese liegt vor, wenn etwa ein Schüler die Stillarbeit ablehnt und sein störendes Verhalten dahingehend bestraft wird, dass, etwa durch Hinausschicken des Schülers, eine Aufhebung der Aufgabe erfolgt. „Extinction“ bzw. „Auslöschung“ (vgl. Landrum & Kauffman 2006: 50) zielt auf die Minimierung unerwünschten Verhaltens durch gezieltes Ignorieren von Missverhalten ab. Die Wirksamkeit dieser Strategie konnte insbesondere dann nachgewiesen werden, wenn gleichzeitig erwünschtes Verhalten konsequent belohnt wurde (Alberto & Troutman 2003). Einschrän-
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Diemut Ophardt & Felicitas Thiel kend in Bezug auf diesen Ansatz muss jedoch hinzugefügt werden, dass die Studien von Kounin (1970) und Emmer, Evertson & Anderson (1980) darauf hinweisen, dass in einer großen Zahl von Fällen das schnelle Eingreifen bei Störungen erfolgreicher ist als das gezielte Ignorieren (vgl. 2.2 und 2.3). „Response Cost Punishment“ stellt eine Form der Bestrafung dar, die sich auf die Minimierung störenden Verhaltens durch den Entzug eines vorher erworbenen Verstärkers bezieht, z. B. die Reduktion einer zuvor „verdienten“ 15-minütigen Pause um 5 Minuten (vgl. Landrum & Kauffman 2006: 51). Wie das Beispiel verdeutlicht, setzt der Erfolg dieser Intervention die Existenz eines Belohnungssystems voraus. Die Minimierung unerwünschten Verhaltens durch Bestrafung wurde vor allem in Bezug auf den Einsatz von Tadel und Zurechtweisung untersucht und – wie bereits festgestellt – insbesondere im Zusammenhang mit der Existenz positiver Verstärker als wirksames Mittel identifiziert (vgl. O’Leary & O’Leary 1977).
Die Kritik am klassischen behavioristischen Ansatz, der in den USA insbesondere mit dem Ansatz „Assertive Discipline“ von Canter & Canter (1992) verbunden ist, richtet sich vor allem gegen die Zuspitzung des Klassenmanagements im Hinblick auf Belohnung und Bestrafung (vgl. etwa Brophy 1999). Gleichwohl leisten die Befunde zu Sanktionierung und extrinsischer Motivierung fundierte Hinweise auf wichtige Aspekte der Schulpraxis (vgl. etwa Wellenreuther 2004: 257ff.).
2.2 Klassenmanagement als Steuerung von Aktivitätsstrukturen: Der ökologische Zugang Der ökologische Zugang zum Thema Klassenmanagement beruht vor allem auf den Studien von Kounin (1970) und Gump (1967) und wurde von Doyle (1986; 2006) in Bezug auf die theoretisch-begriffliche Konzeptualisierung ausgearbeitet. Die Etablierung von Ordnung wird aus dieser Perspektive nicht als reaktiver oder präventiver Umgang mit dem Fehlverhalten einzelner Schüler betrachtet, sondern als proaktive, konstruktive Steuerung von Aktivitäten. Vor diesem Hintergrund sind Interventionen der Lehrkraft, wie z. B. Zurechtweisungen, keine Maßnahmen zur Verhaltensmodifikation, sondern „Reparaturmaßnahmen“ zum Schutz des etablierten Aktivitätssystem (Doyle 2006: 114). In dem von Doyle ausformulierten Theorierahmen wird Klassenmanagement als der Teilbereich der komplexen, dynamischen Anforderungsstruktur des Unterrichts betrachtet, der sich nicht direkt auf Lernen bezieht, sondern auf die
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Etablierung von sozialer Ordnung und Kooperation. Trotz des Zusammenspiels von Lernen und Ordnung wird die Notwendigkeit einer analytischen Trennung hervorgehoben: „It is important to note that the task of learning and the task of order represent quite distinct levels of analysis. Because individuals rather than groups learn, an analysis of learning directs attention to individual processes. But order is a property of a social system and thus needs to be framed in a language of group processes” (Doyle 1986: 395). Zentrale Begriffe des Theorierahmens sind „Segment“, „Aktivitätsstruktur“ und „Handlungsprogramm“. Unterricht wird als „behavior setting“ verstanden, das sich aus einer Abfolge von Segmenten als „subsettings“ (Gump 1967: 84) zusammensetzt, die das Verhalten rahmen und bis zu einem gewissen Grad regulieren. Die Segmente unterscheiden sich im Hinblick darauf, wie jeweils das Verhältnis von Stoffentwicklung, Lehrkraft, Schülern und Material zueinander definiert wird. Die Segmente lassen sich bestimmten, für Unterricht typischen Mustern, den „Aktivitätsstrukturen“ (Berliner 1983), zuordnen, so etwa der Aktivitätsstruktur des Klassengesprächs. Was Ordnung im jeweiligen Kontext der Aktivitätsstrukturen bedeutet – ob etwa Gespräche mit dem Tischnachbarn während der Stillarbeit erlaubt sind oder ob nur einer reden darf –, wird über die jeweilig geltenden Handlungsprogramme definiert, deren Qualität und Dauerhaftigkeit wiederum Gelingensbedingungen zur Herstellung von Ordnung darstellen: „Order depends on the strength and durability of the primary programm or vector of action, that defines order in a particular classroom context“ (Doyle 2006: 106). Die Handlungsprogramme – so z. B. Aufgaben („academic tasks“) – haben „direction, momentum and energy“ (a. a. O., 102) und umfassen eine auf die Entwicklung des Unterrichtsstoffs verweisende „academic work dimension“ und eine die Organisation betreffende „social participation dimension“ (Doyle 2006: 106). Wenngleich Ordnung und Kooperation als „jointly enacted by teachers and students“ (Doyle 2006: 117) verstanden werden, wird den Lehrkräften in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion zugeschrieben, die sich auf Stärkung, Schutz und Reparatur des primären Handlungsprogramms bezieht. Betont wird dabei insbesondere die situationale, quasi improvisatorische Regulation der Unterrichtsstunde. Folgende Bedingungen zur Etablierung von Ordnung werden hervorgehoben:
Eindeutige, vorhersehbare Handlungsprogramme innerhalb der Aktivitätsstrukturen gehen mit einer höheren Schüleraufmerksamkeit einher als ‚hybride’ Aktivitäten (Doyle 1984). Für die Übergänge zwischen Aktivitäten sind insbesondere die situationsangemessene Flüssigkeit („Smoothness and Momentum“, Kounin 1970: 92ff.) und deutliche Markierungen relevant. Er-
268
Diemut Ophardt & Felicitas Thiel folgreiches Klassenmanagement ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass das Stadium und die Abfolge der Aktivitäten durch einen „running commentary on events taking place“ (Doyle 1984: 273) explizit kommuniziert wird. Nach Kounin und Gump (1974) erfolgt die situationale Regulation der Aktivitäten über „Signale“. Zentral für Stärkung und Schutz des Handlungsprogramms ist „continuity“ (die Kontinuität eines fachbezogenen Signals, das Ablenkungen konkurrierender Signale übertrifft und „insulation“ (die Trennung der Schüler von Signalen für unerwünschtes Verhalten). „Successful managers protect activities until they are established by actively ushering them along, focusing public attention on work, and ignoring misbehavior that disrupts the rhythm and flow of events“ (Doyle 1984: 276). Durch sogenanntes „überlappendes“ Verhalten der Lehrkraft („Overlappingness“, Kounin 1970: 83ff.) wird gewährleistet, dass z. B. auch in Zusammenhang mit Zurechtweisungen der Fokus auf die „academic work dimension“ aufrechterhalten wird. Eine wichtige Rolle für situationsangemessenes Handeln in komplexen Situationen spielt der Aspekt des „Monitoring“, so etwa im Kontext von „Withitness“ (Kounin 1970), also der Kompetenz, Verhaltensabweichungen in einem frühen Stadium des Auftretens dem tatsächlichen Urheber zuzuschreiben. Monitoring umfasst die Beobachtung des gesamten Aktivitätssystems, die kontinuierliche Aufmerksamkeit für Diskrepanzen zum Handlungsprogramm sowie für Tempo und zeitliche Dauer der Ereignisse (Doyle 2006: 109).
2.3 Klassenmanagement als gezielte Gestaltung sozialer Verhaltenserwartungen: Der handlungstheoretisch1 basierte Zugang Während der ökologische Ansatz Klassenmanagement als situationale Regulation im Kontext von Strukturen sieht, die bis zu einem gewissen Grad präformiert sind, rückt der handlungstheoretische Zugang die Lehrkraft als Gestalterin sozialer Verhaltenserwartungen in den Mittelpunkt. Ausgehend davon, dass Unterrichten als zielgerichtetes Handeln verstanden wird, das auf der Erarbeitung und Umsetzung von Handlungsplänen beruht, umfasst Klassenmanagement aus dieser Perspektive insbesondere das Entwerfen und Implementieren von Regeln und Prozeduren in Lerngruppen. Dieser Ansatz wird vor allem mit den Studien der Gruppe um Evertson und Emmer verbunden (Emmer, Evertson & Anderson 1
Gemeint ist ein psychologischer Begriff zielgerichteten Handelns, wie er von Neuenschwander (2006: 191f.) auf den hier referierten Forschungszugang bezogen wird.
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1980; Evertson & Emmer 1982). Ausgehend von deskriptiv-korrelationalen Studien wurden zahlreiche Experimental- und Evaluationsstudien durchgeführt (vgl. als Überblick Evertson & Harris 1999), in deren Zusammenhang die Wirksamkeit bestimmter Strategien der Regel- und Prozedurenetablierung nachgewiesen werden konnte. Die Gestaltung sozialer Verhaltenserwartungen durch Lehrkräfte bezieht sich zum einen auf Regeln, mit denen Fehlverhalten antizipiert wird, und zum anderen auf Prozeduren, auch „Routinen“ genannt, die Verfahrensweisen für Standardaktivitäten repräsentieren: „Although some rules are also routines, most rules are statements of what is not permitted or are explicit or implicit constraints. Routines, on the other hand, are fluid, paired, scripted segments of behavior that help movement toward a shared goal” (Leinhardt, Weidman & Hammond 1987: 136). Aus einer handlungstheoretischen Perspektive wird der gezielten Etablierung und Enaktierung von sozial geteilten Verhaltensmustern die wichtige Funktion der Komplexitätsreduktion zugeschrieben (vgl. Bromme 1992: 81). Da die unterrichtsbezogenen Handlungspläne der Lehrkraft das Handeln aller beteiligten Akteure einkalkulieren müssen, stellen Routinen und Prozeduren insofern eine Erleichterung für die Planung und Durchführung von Unterrichtsstunden dar, weil auf Schemata für sozial geteiltes Handeln zurückgegriffen werden kann. Die Studien der handlungstheoretischen Perspektive verweisen auf folgende Merkmale erfolgreichen Klassenmanagements durch Etablierung von Regeln und Prozeduren:
Lehrkräfte, deren Klassenmanagement besonders erfolgreich ist, äußern präzise und transparente Verhaltenserwartungen und verfügen über ein bewusst reflektiertes Set von Regeln, Prozeduren und Sanktionen (Emmer, Evertson & Anderson 1980). Prozeduren werden gezielt implementiert, indem sie modelliert und eingeübt werden und indem eine Stabilisierung der Muster durch kontinuierliches Feedback der Lehrkraft erfolgt. Charakteristisch für diese Phase ist, dass Lehrkräfte einen „whole-class focus“ (Emmer, Evertson & Worsham 2003, 58) aufrechterhalten, Instruktion und Anweisungen vor allem an die ganze Klasse richten, im ganzen Klassenzimmer Präsenz zeigen und Einzelkontakte minimieren. Leinhardt, Weidman & Hammond (1987) arbeiteten in ihrer Studie über sechs Experten-Lehrkräfte heraus, dass die Einführung von Routinen schrittweise von einfachen zu komplexeren Mustern erfolgt: „Teachers were observed to build on their simple routines to form more elaborate strings of action thus increasing the variety and complexity in the classroom“ (a. a. O. 135).
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Diemut Ophardt & Felicitas Thiel Die kritische Phase für die Etablierung von Verhaltenserwartungen ist der Start mit einer Schulklasse. Verschiedene Studien (Emmer, Evertson & Anderson 1980; Doyle 1984; Leinhardt, Weidman & Hammond 1987) zeigen, dass erfolgreiche Lehrkräfte in der ersten Unterrichtsstunde damit beginnen, einen großen Teil der Regeln und Prozeduren zu thematisieren und dass die Etablierungsphase nach wenigen Unterrichtsstunden abgeschlossen ist. Die Forschungsgruppe um Evertson & Emmer konnte anhand einer Reihe von Studien zeigen, dass sich durch entsprechende Lehrertrainings eine deutliche Verbesserung im Hinblick auf die Etablierung von Verhaltenserwartungen erzielen lässt: Die Lehrkräfte der Versuchsgruppe verdeutlichten nach dem Training zu Beginn des Schuljahres stärker die erwünschten Verhaltensweisen, sie reagierten konsequenter und schneller auf unangemessenes Verhalten und erinnerten häufiger an Verhaltensstandards. Lehrkräfte, die das Training in der Mitte des Schuljahres absolvierten, zeigten zwar auch eine Verhaltensveränderung, die jedoch nicht mit entsprechenden Veränderungen beim Verhalten der Schüler einherging.
Der handlungstheoretische Ansatz verdeutlicht, dass Unterrichten und damit auch Klassenmanagement eine konstruktive Gestaltungsanforderung darstellt, die nicht zuletzt die Etablierung von sozial geteilten Erwartungen und Verhaltensmustern umfasst. Aspekte des Managements und der Organisation, die als Nebenanforderungen nicht Kern des Unterrichtens sind, werden als Voraussetzung für die Gestaltung von Lernumgebungen systematisch beleuchtet.
2.4 Klassenmanagement als Basisdimension der Unterrichtsqualität: Der Zugang der Prozess-Produkt-Forschung Hatten – wie gezeigt – bereits die frühen Untersuchungen der Prozess-ProduktForschung mit der Fokussierung der Lernzeit eine stärkere Beachtung von Variablen des Klassenmanagements nahe gelegt, so wurden Merkmale eines störungspräventiven Unterrichts erst infolge der breiten Rezeption der Studie Jacob Kounins systematisch in die Beobachtungsinstrumente der Unterrichtsforschung integriert. Diese Studie nutzte als eine der ersten das Verfahren der Videoanalyse. Entsprechend der Logik der Prozess-Produkt-Forschung wurde der Zusammenhang zwischen Prozess und Wirkungsvariablen untersucht, wobei die Wir
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kungsvariable nicht durch die Schülerleistungen, sondern durch den Führungserfolg der Lehrkraft definiert wird.2 Im Unterschied zu der Studie von Kounin wird bei einem großen Teil der Studien des Prozess-Produkt-Paradigmas Klassenmanagement als ein Teilbereich von Prozessqualität definiert und in Bezug zur Leistungsentwicklung von Schulklassen untersucht. Während bei Kounin die Prozesskategorien des Management-Stils auf vorher durchgeführten explorativen Detailanalysen von Unterrichtsvideographierungen beruhen, greifen die meisten Studien der Prozess-Produkt-Forschung auf den Forschungsstand zum Klassenmanagement zurück und integrieren die Befunde in standardisierte Beobachtungsinstrumente. Ein Beispiel dafür ist der Ratingbogen zur Unterrichtsqualität aus der „Münchener Hauptschulstudie“ (Helmke 2003: 283ff.). Dieser enthält sowohl Aspekte des Führungsstils, denen vor allem die Befunde Kounins zugrunde liegen (effektive Regelverwendung, Vermeidung zeitlicher Fehleinschätzung, Vermeidung von Adressierungsfehlern, Vermeidung von Überreaktionen, Unterrichtsorganisation) als auch des Aufmerksamkeitsverhaltens der Schüler (Beschäftigung nach einer Aufgabenstellung, Unterrichtsengagement der Schüler, Lärmpegel in der Klasse). Demzufolge verweisen diese Studien nicht auf Gestaltungsbereiche des Klassenmanagements, die über die bereits genannten hinausgehen, sondern replizieren, relativieren und präzisieren bestehende Befunde und klären den Stellenwert des Konstrukts für Lernerfolg.
2
Viele der Befunde Kounins konnten mehrfach repliziert werden, so etwa die Bedeutung von „Withitness“, „Overlapping“ und „Smoothness“ für die Prävention von Störungen, einzelne Befunde wurden im Hinblick auf Unterschiede zwischen Schulfächern und Klassenstufen präzisiert (vgl. Brophy 2006: 29). Klassenmanagement steht jedoch nicht nur in Zusammenhang mit dem Aufmerksamkeitsverhalten, sondern auch mit dem Leistungszuwachs von Schülern und gehört zu den Variablen der Unterrichtsqualität, die den größten Einfluss auf Schulleistungen haben (Wang, Haertel & Walberg 1993).
Anhand eines Zeitstichproben-Verfahrens wurden alle 12 Sekunden Mitarbeit und Fehlverhalten der Schüler einem Kategoriensystem zugeordnet. Der auf diese Weise bestimmte Führungserfolg wurde wiederum in Korrelation zur Prozessebene gebracht, so dass z. B. gezeigt werden konnte, dass „Withitness“ und „Overlapping“ in signifikantem Zusammenhang mit Führungserfolg stehen (vgl. Kounin 1970: 97ff.).
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Die Bedeutung der Prozess-Produkt-Forschung besteht zum einen darin, den Beitrag des Klassenmanagements für Lernerfolg nachgewiesen zu haben. Zum anderen stehen auf der Grundlage dieser Forschungstradition bewährte Instrumente zur Verfügung (vgl. Gruehn 2000; Clausen 2002), die in zahlreichen Studien der aktuellen Bildungsforschung zum Einsatz kommen und darüber hinaus auch im Rahmen der Qualitätssicherung durch die externe Evaluation von Unterricht (vgl. etwa den „Handlungsrahmen Schulqualität“ in Berlin) genutzt werden.
3
Zentrale Herausforderungen und Perspektiven der Forschung
Eine der zentralen Herausforderungen der Unterrichtsforschung besteht derzeit darin, empirisch fundiertes Wissen über den Unterrichtsprozess im Hinblick auf Perspektiven für Unterrichtsentwicklung und Lehrerprofessionalisierung zu generieren (vgl. Baumert & Kunter 2006). Helmke, Helmke & Schrader (2007) verweisen in diesem Zusammenhang insbesondere auf ein Missverhältnis zu dem hohen Standard der großen Schulleistungsstudien und kritisieren, dass aufgrund von Forschungsdefiziten über Konsequenzen für die Verbesserung von Schule und Unterricht derzeit lediglich „spekuliert“ werden könne (a. a. O.: 52). Dieses Forschungsdefizit betrifft – verstärkt durch eine allgemeine Marginalisierung des Themas (vgl. Neuenschwander 2006) – auch das Klassenmanagement. Trotz des unstrittigen Stellenwerts als Basisdimension der Unterrichtsqualität und der Bedeutsamkeit für die Praxis ist Klassenmanagement in der Lehreraus- und -fortbildung unterrepräsentiert (vgl. Helmke 2003: 78) und wird im Rahmen derzeitiger Forschungsschwerpunkte zu instruktionsbezogenen Fragen des Unterrichtsprozesses (vgl. etwa das DFG-Schwerpunkprogramm BIQUA) anhand eines variablenorientierten Ansatzes (vgl. 2.4) lediglich am Rande in den Blick genommen. Die Grenzen dieses Vorgehens hat Doyle bereits vor über 20 Jahren formuliert: „It is one thing to identify the conditions associated with management effectiveness and another to understand how these conditions are established and maintained” (Doyle 1986: 424). Ein weiteres Problem ist der „orphan status“ (Brophy 2006: 38) des Themas, also ein diziplinäres und theoretisches Verortungsproblem. Klassenmanagement lässt sich keiner wissenschaftlichen Disziplin eindeutig zuordnen, so dass die im vorangegangenen Kapitel dargestellten unterschiedlichen Forschungszugänge weitgehend unverbunden nebeneinander stehen und ein uneinheitliches Verständnis darüber besteht, wie Klassenmanagement als eigener Anforde-
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rungsbereich des Unterrichts abzugrenzen ist.3 Daraus folgt, dass Klassenmanagement bisher noch keinen festen Platz in Aus- und Fortbildungsprogrammen gefunden hat: “It seems to slip through the cracks” (Evertson & Weinstein 2006: 4). Will man also – ergänzend zu den variablenorientierten Ansätzen – Forschungsperspektiven aufzeigen, die ein genaueres Verständnis des Unterrichtsprozesses erlauben, so ist zunächst einmal eine theoretische Konzeptualisierung des Konstruktes erforderlich. Um diese Forschungsperspektiven im Hinblick auf die Erfassung und Förderung von Unterrichtsexpertise fruchtbar zu machen, bietet sich der Expertenansatz (Berliner 1994; Bromme 1992) an. Kennzeichnend für den damit verbundenen theoretischen Zugriff ist die von Bromme (1992; 1997) ausführlich dargestellte Doppelfigur von theoretisch-empirischer Anforderungsanalyse und der darauf bezogenen Rekonstruktion des Wissens und Könnens von Lehrkräften. Im Folgenden werden – ausgehend von einer theoretischen Definition und Verortung des Konstrukts – anhand eines Modells drei Anforderungsbereiche des Klassenmanagements unterschieden. Das Modell erlaubt einen kohärenten Blick auf die oben referierten Forschungszugänge, verdeutlicht Zusammenhänge zwischen den Anforderungsbereichen und ermöglicht die Formulierung von Forschungsperspektiven in Ergänzung zu einem variablenorientierten Ansatz.
3.1 Anforderungsbereiche des Klassenmanagements und Forschungsperspektiven Vor dem Hintergrund eines Modells schulischen Lernens, das – wie bereits im 1. Kapitel dargestellt – die grundlegenden Aspekte individuellen Lernens auf das soziale System Schulklasse bezieht (vgl. Thiel & Ulber 2006), ist Klassenmanagement ein eigener, von Instruktion und Motivation grundsätzlich abzugrenzender Anforderungsbereich, der gleichzeitig als „Stützfunktion“ eng auf die Leitfunktion der Instruktion bezogen und dieser nachgeordnet ist (vgl. auch Doyle 1986; Bromme 1992). Ausgehend von dieser Definition lassen sich anhand des folgenden Modells (siehe Abb. 1) unterschiedliche, teilweise miteinander verknüpfte Gestaltungsbereiche des Klassenmanagements sowie daran anschließende Forschungsherausforderungen identifizieren.
3
So wird Klassenmanagement häufig als Teilaspekt der Motivierung (vgl. bei Kounin 1970 die Dimension der „programmierten Überdrussvermeidung“: 131ff., oder Wellenreuther 2004: 297ff.) definiert.
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Abbildung 1:
Anforderungsbereiche des Klassenmanagements Etablierung von Verhaltenserwartungen
• •
Etablierung von Regelsystemen Etablierung von Prozeduren und Routinen
Gestaltungshandlungen im Unterricht Instruktionsbegleitend
Außerhalb der Instruktion
• •
• •
Situationale Regulationshandlungen Einsatz von Prozeduren und Routinen Aktivitätsstruktur 1
Aktivitätsstruktur 2
Konfliktbearbeitung Disziplinarmaßnahmen
Aktivitätsstruktur 3 usw.
Unterrichtsprozess
Unterrichtsflankierende Maßnahmen
• • •
Konfliktlösungsmaßnahmen, Beratungsgespräche Maßnahmen zur individuellen Verhaltensmodifikation Sozialpädagogische Maßnahmen
3.1.1 Instruktionsbegleitende Gestaltungshandlungen als Kernbereich des Klassenmanagements Setzt man voraus, dass die Bereitstellung von Lerngelegenheiten die zentrale Anforderung an Unterrichtsexpertise darstellt, dann repräsentieren die instruktionsbegleitenden Gestaltungshandlungen den Kernbereich des Klassenmanagements. Wie insbesondere die ökologische Forschungstradition herausgearbeitet hat, umfasst die Stützfunktion des Klassenmanagements die beiden Anforderungsbereiche der Steuerung von Prozessen (etwa durch situationale Regulationshandlungen, wie Zurechtweisungen, aufmerksamkeitssteuernde Hinweise usw.) und der Enaktierung von Strukturen (durch bereits etablierte Routinen und Prozeduren) im Kontext aufeinanderfolgender Aktivitätsstrukturen im Unterrichtsprozess. Der in diesem Zusammenhang erfolgende Rekurs auf vereinbarte Regeln und die Enaktierung von Prozeduren beruht auf vorher etablierten sozia-
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275
len Verhaltenserwartungen (vgl. 3.2.2). Folgende Forschungsfragen sind für diesen Anforderungsbereich relevant:
Wie bereits Doyle (1986; 2006) mehrfach festgestellt hat, ist die für die Forschungstradition kennzeichnende Isolierung des Klassenmanagements von den Unterrichtsinhalten – siehe etwa die Kategorien Kounins – problematisch, weil sie der Definition der Stützfunktion nicht gerecht wird. Klassenmanagement sollte daher immer im Kontext zu fachspezifischen Aktivitätsstrukturen und Skripten des Unterrichts analysiert werden, um Spannungen und Korrespondenzen (Doyle 1986: 416ff.) zwischen Instruktion und Klassenmanagement rekonstruieren zu können (vgl. als Beispiel zur Trennung von „academic work dimension“ und „social participation dimension“ bei der Analyse von Unterrichtsausschnitten Ophardt & Thiel 2007). Die zentralen Befunde zur Effektivität von Klassenmanagement beziehen sich auf lehrerzentrierte Unterrichtsformen mit einem entsprechenden Spektrum von Lehrer-Schüler-Aktivitäten, Handlungsprogrammen und Ordnungsdefinitionen. Eine Forschungsfrage besteht in der Neuinterpretation und Erweiterung der Befunde des Klassenmanagements im Hinblick auf Lerngelegenheiten mit höheren Anteilen selbstgesteuerter und kooperativer Lernformen (vgl. Brophy 2006: 37; 1999). Eine methodische Herausforderung ist das Problem der Implizitheit. Erfolgreiches Klassenmanagement „seems to work automatically, without much teacher effort“ (Brophy 1999: 44), was zum einen aus der eng mit der Instruktion verwobenen Beiläufigkeit der Steuerungshandlungen und zum anderen aus der Enaktierung sozial geteilter Verhaltensmuster resultiert. Perspektiven für den methodischen Umgang mit dem Problem der Implizitheit (vgl. dazu ausführlicher Ophardt & Thiel 2007) lassen sich insbesondere von den Studien der ökologischen Forschungstradition ableiten:
Detailrekonstruktion komplexer, interaktiver Settings anhand von Transkripten auf der Basis von Unterrichtsvideographierungen bzw. Beobachtungsprotokollen (vgl. Doyle 1984). Unterscheidung von Segmentierungsebenen (vgl. Doyle 1986: 397) und daran anknüpfende Rekonstruktion einzelner Gestaltungshandlungen (z. B. Zurechtweisungen oder metakommunikative Hinweise). Kontrastives, fallvergleichendes Vorgehen als Grundprinzip für die Rekonstruktion impliziter Strukturen (vgl. Kounin 1970; Doyle 1984). Entwicklung einer präzisen Beschreibungssprache („a language of classroom order“ (Doyle 1986: 396) zur Rekonstruktion komplexer Zusammenhänge.
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3.1.2 Die Etablierung von Verhaltenserwartungen als Rahmung Wie bereits deutlich wurde, beruht soziale Ordnung im Unterricht in großem Umfang auf der Enaktierung sozial geteilter Verhaltensmuster (vgl. 2.3), deren Etablierung in der Phase der ersten Unterrichtsstunden angesiedelt ist und die sich somit als eigener, temporär limitierter Anforderungsbereich beschreiben lässt. Die Anforderung besteht zum einen in der expliziten Thematisierung von Verhaltenserwartungen und zum anderen in deren Bestätigung und Präzisierung im Kontext der in den ersten Stunden stattfindenden Interaktionen zwischen Lehrer und Schülern (Emmer, Evertson & Anderson 1980). Folgende Herausforderungen für die Forschung verbinden sich damit:
Die Lagerung der Erhebungszeitpunkte im Schuljahr stellt einen bedeutsamen Aspekt im Hinblick auf die Funktion von sozialen Verhaltensmustern dar. Um das längerfristige Auftreten von Verhaltensmustern zu untersuchen, ist eine entsprechende Verteilung der Erhebungszeitpunkte erforderlich (vgl. das Vorgehen bei Doyle 1984; Leinhardt, Weidmann & Hammond 1987). Bei der Untersuchung von Anfangsphasen ist mit einer Verschärfung der Probleme des Feldzugangs zu rechnen (Brophy 2006: 38). Die im Klassenzimmer erfolgende Gestaltung sozialer Verhaltenserwartungen ist in hohem Maße durch übergeordnete, d. h. lehrkraftunabhängige Rahmungen, wie fachspezifische Instruktionskulturen (vgl. Shulman 2005), kulturspezifische Unterrichtsskripte (vgl. Stigler et al. 1999) und schulspezifische Verhaltenserwartungen präformiert. Im Unterschied zu den nicht direkt beeinflussbaren fach- und kulturspezifischen Rahmungen ist die Gestaltung sozialer Verhaltenserwartungen auf der Schulebene vor allem vor dem Hintergrund aktueller Steuerungsmodelle im Bildungssystem interessant. Die Mitgestaltung unterrichtsrelevanter sozialer Verhaltenserwartungen durch die Schule als Handlungseinheit stellt daher einen wichtigen, bisher kaum systematisch untersuchten Forschungsgegenstand dar.
3.1.3 Konfliktbearbeitung innerhalb und außerhalb des Unterrichts als klientenorientierter Anforderungsbereich Im Unterschied zu den bisher genannten Anforderungsbereichen ist bei Konfliktbearbeitungen und Disziplinarmaßnahmen – auch, wenn sie im Unterricht stattfinden – der für Klassenmanagement kennzeichnende enge Instruktionsbezug und der Fokus auf die ganze Klasse aufgehoben. Es findet ein vorübergehender Ausstieg aus der Instruktion statt, indem störendes Verhalten explizit zum
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Thema gemacht wird. Die behavioristische Forschungstradition (vgl. 2.1), Studien zum Umgang mit Risikoschülern (Brophy 1996) und Ansätze zum Umgang mit aggressivem Schülerverhalten (Tennstädt et al. 1994) machen deutlich, dass die Anforderung an Lehrkräfte hier vom Kern her eine andere ist als beim instruktionsbegleitenden Klassenmanagement. Sie bezieht sich nicht auf die Steuerung von Gruppenprozessen, sondern auf den Umgang mit einzelnen Schülern und hat daher ein klientenorientiertes, sozialpädagogisch gefärbtes Anforderungsprofil mit spezifischen Expertiseanforderungen, wie etwa der Diagnostik und der Gesprächsführung. Daraus folgt:
Zu untersuchen ist in Bezug auf diesen Teilbereich des Klassenmanagements zum einen die Intervention als temporärer Ausstieg im Kontext der Aktivitätsstrukturen des Unterrichts und zum anderen – ausgehend von der Berücksichtigung des sozialpädagogischen Anforderungsprofils – die auf den einzelnen Klienten bezogene Intervention. Der Fokus auf die klientenbezogene Intervention impliziert wiederum, dass über die Grenzen des Unterrichts hinaus der Bereich unterrichtsflankierender Maßnahmen, also Einzelgespräche, Streitschlichtungsgespräche, Hinzuziehung weiterer Personen und die Einbeziehung schulischer Unterstützungssysteme, wie Schulstationen, mit berücksichtigt werden. Die Ausdehnung des Begriffs der Stützfunktion bis hin zu außerunterrichtlichen Settings und das hier angerissene sozialpädagogische Profil implizieren eine Ausweitung des Expertisebegriffs, der über übliche Topologien des Lehrerwissens (vgl. etwa Bromme 1997) hinausgeht. Die Forschung in Bereichen mit besonderen Belastungsbedingungen, so etwa in Hauptschulen in innerstädtischen Ballungsgebieten, steht somit vor der Frage einer spezifischen Anforderungs- und Professionalitätsdefinition (vgl. zur Ergänzung des Begriffs der Unterrichtsexpertise aus einer professionstheoretischen Perspektive Ophardt 2006).
3.2 Grundsätzliche Perspektiven der Forschung Querliegend zu den genannten Anforderungsbereichen und den daraus abzuleitenden Forschungsfragen lassen sich abschließend folgende grundsätzliche Herausforderungen und Perspektiven identifizieren: Klassenmanagement ist nicht nur im Hinblick auf unterschiedliche Schulfächer und didaktische Grundorientierungen zu analysieren, sondern darüber hinaus sind auch Bedingungen der Systemebene relevant. Neben jahrgangsspezifischen Unterschieden (vgl. Evertson & Emmer 1982) wäre für das gegliederte
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Schulsystem Deutschlands insbesondere die systematische Berücksichtigung schulformspezifischer Unterschiede zu nennen. Zu bedenken wäre auch eine Intensivierung der Forschungsbemühungen in marginalisierten Bereichen des Schulsystems, wie etwa der Hauptschule, wo aufgrund von außergewöhnlichen Belastungsbedingungen Probleme mit dem Klassenmanagement besonders ausgeprägt sind (vgl. Kunter et al. 2005). Ein weiteres grundsätzliches Thema betrifft die Konzeptualisierung und Erfassung der Kompetenzen von Lehrkräften. Diese müsste zum einen die in dem oben entwickelten Modell angerissenen Anforderungsbereiche berücksichtigen und zum anderen die unterschiedlichen Voraussetzungen kompetenten Handelns, also Wissen, Können und Orientierungen. In Bezug auf die Konzeptualisierung und Erfassung des Wissens und Könnens von Lehrkräften sind insbesondere durch das DFG-Projekt COACTIV (vgl. Baumert & Kunter 2006), das sich neben dem fachdidaktischen und fachlichen Wissen auch dem pädagogischen Wissen des Klassenmanagements zuwendet, wichtige Fortschritte zu erwarten. In Bezug auf die Erfassung der professionellen Orientierungen und Überzeugungen von Lehrkräften, die als Filter für die Wahrnehmung und Interpretation der Anforderungen fungieren (vgl. Pajares 1992), eignen sich insbesondere qualitativrekonstruktive Verfahren (vgl. allgemein Ophardt 2006, für Orientierungen im Hinblick auf Klassenmanagement Ophardt 2008). Auf der Basis der Konzeptualisierung und Erfassung von Kompetenzen ist schließlich auch die Frage zu bearbeiten, wie Klassenmanagement in Aus- und Fortbildung zu verankern ist. Ergänzend zu Trainingsprogrammen (vgl. etwa das in den USA in großem Umfang eingesetzte „Classroom Organization and Management Program“ (COMP), Evertson & Harris 1999) und Trainingsmodellen wie dem „Konstanzer Trainingsmodell“ zur Störungsreduktion und Gewaltprävention, das die längerfristige Reflexion von Tandempartnern vorsieht (vgl. Tennstädt et al. 1994), stellt die für den Bereich des Klassenmanagements noch ausstehende Entwicklung von Coaching-Ansätzen (vgl. Staub 2001) eine vielversprechende Perspektive dar.
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Determinanten der Schulleistung Friedrich-Wilhelm Schrader & Andreas Helmke
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Einleitung
Ausgehend von neueren Sichtweisen der Leistung wird zunächst ein Überblick über Bedingungen der Schulleistung gegeben. Anschließend werden Bedingungsfaktoren wie kultureller Kontext und soziale Schicht dargestellt, die einen relativ hohen Erklärungsabstand zum Lernen und zur Leistung haben, gefolgt von individuellen Personenmerkmalen, die das Lernverhalten und die Leistung direkt beeinflussen. Dies sind kognitive Merkmale (Intelligenz und allgemeine Fähigkeiten, Vorwissen, Lern-, Gedächtnis- und metakognitive Strategien) sowie motivationale und volitionale Merkmale. Ein weiterer Schwerpunkt sind unterrichtliche Bedingungen. Unterricht lässt sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht charakterisieren. Quantitative Parameter betreffen die im Curriculum für die Stoffbehandlung vorgesehenen Zeitumfänge, die Zeitnutzung und den Unterrichtsausfall. Bei der Unterrichtsqualität lassen sich die Kernbereiche der Klassenführung und der Instruktionsqualität im engeren Sinne unterscheiden. Nach der Darstellung einzelner Merkmale und Merkmalsbereiche wird abschließend noch auf komplexe Beziehungen eingegangen.
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Schulische Leistung und ihre Bedingungen
2.1 Schulische Leistung Fachliche Leistungen gelten gemeinhin als das zentrale Zielkriterium, an dem der Erfolg von Schule und Unterricht gemessen wird. Schulischer Unterricht wird dementsprechend als erfolgreich angesehen, wenn es gelingt, bei den Schülerinnen und Schülern günstige Leistungen oder Leistungsverbesserungen zu erreichen. Leistungen lassen sich aus kognitionspsychologischer Sicht als deklaratives und prozedurales Wissen charakterisieren. Gelegentlich werden davon noch weitere Wissensarten wie konzeptuelles, strategisches oder metakognitives Wissen abgegrenzt (vgl. Schraw 2006). Deklaratives Wissen (Wissen, was / Kenntnisse) bezieht sich auf bewusst zugängliches und verbalisierbares Wissen wie etwa die Kenntnis von Definitionen, Fakten, Zusammenhängen oder Regeln.
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Prozedurales Wissen (Wissen, wie / kognitive Fertigkeiten) kennzeichnet die im Deutschen oft als Können bezeichnete Beherrschung von Prozeduren oder Vorgehensweisen beim Lösen von Aufgaben und Problemen. Charakteristisch hierfür ist, dass das zugrunde liegende Wissen so organisiert ist, dass die einzelnen Lösungsschritte flüssig und mit einem geringen Maß an bewusster Kontrolle ausgeführt und bei entsprechender Übung weitgehend automatisiert werden können. Beispiele sind Rechenfertigkeiten oder die Worterkennung beim Lesen.
2.2 Leistung als Unterrichtsziel Leistungsbezogene Zielkriterien (educational objectives) lassen sich der bekannten Bloom’schen Taxonomie zufolge in Wissen, Verstehen, Analyse, Synthese, Anwendung und Beurteilung unterteilen. Marzano (2001) weist auf konzeptuelle Unzulänglichkeiten des Bloom’schen Ansatzes hin und schlägt eine kognitionspsychologisch angemessenere Systematik vor. Darin bilden deklaratives und prozedurales Wissen sowie psychomotorische Prozeduren die Grundlage für drei hierarchisch geordnete Verarbeitungssysteme. Das Selbstsystem ist für die Auswahl relevanter Aufgaben zuständig, das metakognitive System für die Zielsetzung und Überwachung und das kognitive System für die aufgabenspezifischen Verarbeitungsprozesse. Die daraus resultierenden Leistungen decken das gesamte Spektrum kognitiver Anforderungen ab und schließen die Bloom’schen Kategorien als Spezialfälle ein.
2.3 Kompetenz Statt von Leistung wird in der Bildungsforschung zunehmend von Kompetenz (Weinert 2001c) gesprochen. Unter Kompetenzen versteht man „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001a: 27-28). Kompetenzen sind demnach nicht rein kognitive Merkmale, sondern schließen die für den zielgerichteten Einsatz der kognitiven Fähigkeiten notwendigen auslösenden, steuernden und kontrollierenden Faktoren ein. Wichtige schulische Kompetenzbereiche sind insbesondere mathematische und naturwissenschaftliche sowie sprachliche und sprachnahe Leistungen (Beherrschung der Muttersprache und von Fremdsprachen, Lesen, Schreiben). Dazu
Determinanten der Schulleistung
287
kommen allgemeine Denk- und Problemlösungsstrategien, die oft als Schlüsselqualifikationen angesehen werden. Im Zuge der großen Leistungsstudien wurden erhebliche Anstrengungen darauf verwendet, schulische Kompetenzen in wissenschaftlich angemessener Form zu konzeptualisieren und zu operationalisieren. Dazu wurden aus der Grundlagenforschung bekannte Prozessmodelle für Zwecke der Leistungsmessung so in Kompetenzmodelle überführt, dass individuelle Unterschiede zwischen den Lernenden sichtbar gemacht und in Form von Kompetenzstufen oder -niveaus kriterial beschrieben werden können (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Prenzel, Baumert et al. 2004).
2.4 Bedingungsfaktoren Schulische Leistungen oder Kompetenzen hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab, mit denen Leistungsunterschiede zwischen Schulen, Klassen und einzelnen Schülern vorhergesagt und erklärt werden können. Helmke und Weinert (1997) haben eines der bekanntesten Bedingungsmodelle entwickelt, in dem die verschiedenen Einflussfaktoren nach ihrer Nähe zum Zielkriterium Leistung angeordnet sind. Leistungen sind das Ergebnis einer Wirkungskette, die von distalen, den Lernerfolg nur indirekt beeinflussenden, zu proximalen, unmittelbar auf den Lernerfolg einwirkenden Faktoren verläuft. Da Leistungen immer das Ergebnis von Aktivitäten des einzelnen Lernenden sind, weisen prozessnahe individuelle Schülermerkmale wie kognitive, motivationale oder volitionale Merkmale den engsten Bezug zur Leistung auf. Die Personenmerkmale werden von Prozessmerkmalen des Unterrichts (Klarheit, Verständlichkeit, Passung usw.) beeinflusst, denen wiederum Merkmale des Schul- und Klassenkontexts (Größe und Ausstattung der Schule, Größe, Fähigkeitsniveau, Heterogenität der Klasse) sowie Personenmerkmale der Lehrpersonen (Einstellungen, Lehrkompetenzen usw.) vorgeschaltet sind. Daneben spielen außerschulische Einflussfaktoren wie familiäre Lernumwelt, Medien oder Gleichaltrige eine Rolle (vgl. auch Helmke & Schrader 2006).
3
Kontext und außerschulische Bedingungsfaktoren
3.1 Bildungssystem und kultureller Kontext Zu den Faktoren, die den Lernvorgang nur indirekt beeinflussen, gehören allgemeine Rahmenbedingungen wie das Wertesystem einer Gesellschaft, ihr Bildungssystem oder die personalen und materiellen Ressourcen (Anzahl und Aus-
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bildung der Lehrkräfte, Ausstattung von Schulen). Die Bedeutung solcher Faktoren, die für Unterschiede in der schulischen Leistung in verschiedenen Ländern verantwortlich sind, ist in den großen internationalen Leistungsvergleichsstudien wie TIMSS oder PISA sichtbar geworden. Neben der Organisation des Bildungssystems hat dabei auch der kulturelle Kontext Aufmerksamkeit gefunden (Martin 2006). Ein überraschendes Ergebnis waren dabei die großen Lernerfolge von Schülern aus fernöstlichen Ländern insbesondere im Fach Mathematik, die sich keinesfalls nur bei einfachen Fertigkeiten, sondern gerade auch bei anspruchsvollen Denkleistungen gezeigt haben. Als Erklärung wird auf die andersartige Lernkultur verwiesen, die mit dem in diesen Ländern vorherrschenden Wertesystem einhergeht (Helmke & Hesse 2002). Insbesondere der konfuzianische Wertekanon, der durch eine hohe Wertschätzung von Leistung, Anstrengung, Disziplin und Autorität gekennzeichnet ist, scheint dabei eine wesentliche Rolle zu spielen (Watkins & Biggs 1996). Diese Werte finden Niederschlag in einem zeitlich umfassenden Unterrichtsangebot und einer intensiven Nutzung desselben durch die Lernenden. Eltern haben typischerweise hohe Leistungserwartungen und unterstützen das Lernen in vielfältiger Weise, was auf Schülerseite mit einer hohen Quantität des Lernens, also einem starken zeitlichen Engagement verbunden ist. Lehrpersonen haben eine große Autorität, so dass Ablenkungen und Disziplinprobleme nur eine geringe Rolle spielen. Wie die Vergleichsstudien zeigen, wird auch die Qualität des Lernens günstig beeinflusst. In welcher Weise der Unterricht dazu beiträgt, ist noch weitgehend ungeklärt. Für japanische Klassen hat die TIMS-Videostudie gezeigt, dass sich der dortige Unterricht stärker an einer konstruktivistischen Sicht des Lernens orientiert. Statt des hierzulande häufig zu findenden engführenden Unterrichts, bei dem Lehrpersonen die Schüler in kleinen Schritten zu der von ihnen erwarteten Lösung hinführen, werden die untersuchten japanischen Schülerinnen und Schüler häufig mit Aufgaben konfrontiert, für die zunächst selbstständig Lösungen gefunden werden müssen, die dann anschließend detailliert besprochen und gemeinsam aufgearbeitet werden (Baumert et al. 1997). Offenbar bietet eine derartige Verbindung zwischen kulturellem Hintergrund und spezifischen Formen der Organisation schulischen Lernens günstige Voraussetzungen für einen hohen Lernerfolg. Ob die für das Fach Mathematik dokumentierten Erfolge auch in sprachlichen Fächern zu finden sind, ist noch nicht bekannt.
Determinanten der Schulleistung
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3.2 Sozialer und familiärer Hintergrund Die internationalen Leistungsstudien haben gezeigt, dass die schulische Leistung in verschiedenen Ländern unterschiedlich eng mit der sozialen Herkunft zusammenhängt. In Deutschland ist dieser Zusammenhang besonders ausgeprägt (Baumert, Stanat & Watermann 2006). Neben kulturellen Werten scheinen hierfür Besonderheiten des Bildungssystems wie Frühförderung, Ganztagsbeschulung oder Frühzeitigkeit der Auslese eine Rolle zu spielen. Merkmale wie soziale Schicht beeinflussen den Lernvorgang nicht direkt, sondern sind nur in vermittelter Weise wirksam. Soziale Schichtzugehörigkeit geht mit unterschiedlichen materiellen und bildungsrelevanten Ressourcen (z. B. dem Angebot an Büchern) einher und wirkt sich auch auf die Gestaltung des häuslichen Lernumfelds aus. Familiäre Bedingungen manifestieren sich außer in genetische Einflüssen auch in unterschiedlichen Einstellungen, Erwartungen und Verhaltensweisen der Eltern, mit denen diese auf das Bildungs- und Lernangebot ihrer Kinder Einfluss nehmen und deren Lernverhalten auf verschiedene Weise (z. B. durch Stimulation, Instruktion, Motivation, Modellbildung) absichern und unterstützen (vgl. Baumert & Schümer 2001; Ehmke, Hohensee, Heidemeier & Prenzel 2004). Dies betrifft etwa die Auswahl des Bildungsgangs oder der Schule, die Unterstützung bei den Hausaufgaben oder andere Unterstützungsangebote.
3.3 Gleichaltrige Neben Elternhaus und Schule sind Gleichaltrige (Peers) wichtige Sozialisationsinstanzen, die das schulische Lernen unterstützen, es aber auch ungünstig beeinflussen können. Dies haben die Konstanzer Studien zum normativen Klassenkontext eindrücklich belegt (Specht & Fend, 1979). Das Lernen mit Gleichaltrigen und verschiedene Formen der kooperativen Lerngestaltung sind in den letzten Jahren intensiver untersucht worden; einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung geben Klauer & Leutner (2007).
3.4 Medien Zu den wichtigsten Medien zählt das Fernsehen, das positive wie negative Auswirkungen auf die kognitive und soziale Entwicklung und speziell auch auf den Lernerfolg haben kann. Ob der Einfluss günstig oder ungünstig ausfällt, hängt von der Art der Sendung und dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder ab. Relativ unstrittig ist, dass hoher Fernsehkonsum das Zeitbudget von Kindern
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ungünstig beeinflusst und damit die Quantität des Lernens einschränkt. Untersuchungen belegen, dass hoher Fernsehkonsum tendenziell mit niedrigen schulischen Leistungen einhergeht, wobei die ursächlichen Beziehungen aber noch ungeklärt sind (vgl. Weidenmann 2006). Auch was die Rolle des Fernsehens für die Entstehung und Begünstigung von Gewaltbereitschaft anbetrifft, erlaubt die empirische Befundlage keine eindeutigen Schlussfolgerungen. Statt einfacher kausaler und unidirektionaler Effekte ist hier von komplexen Wirkungsmustern und Transaktionen auszugehen. Der Einsatz von Computern für das Lernen bietet verschiedene Vorteile, insbesondere die Möglichkeit einer stärkeren Individualisierung. Außerdem ist es möglich, authentische Lernumgebungen zu realisieren, situiertes Lernen zu ermöglichen sowie interaktive und kooperative Prozesse anzuregen (Weidenmann 2006). Ganz allgemein können durch das Lernen in „technologie-reichen Lernumgebungen“ (computer-unterstütztes Lernen, multimediale Anwendungen) Prinzipien der Lernförderung wie Scaffolding genutzt werden, um Strategien zu erwerben und die Entstehung trägen Wissens zu vermeiden (Lajoie & Azevedo 2006).
3.5 Schul- und Klassenkontext Nicht nur die Ausstattung von Schulen, sondern auch Merkmale der Schulqualität (z. B. das Schulklima) und Merkmale der schulischen Organisation sind einflussreich (Fend 1998). Auf Klassenebene sind es Faktoren wie das Leistungsniveau und die Heterogenität der Klasse, der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit nicht-deutscher Herkunftssprache sowie die Klassengröße.
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Individuelle Bedingungsfaktoren
4.1 Intelligenz Individuelle Merkmale der Lernenden sind mit deren Lernerfolg am engsten verbunden. Der Intelligenz wird gemeinhin die größte Bedeutung zugeschrieben. Unter Intelligenz versteht man im Kern die Fähigkeit, neuartige Anforderungen durch effektives Denken und Problemlösen zu bewältigen (siehe etwa Ackerman & Lohman 2006; Gustafson & Undheim 1996). Eine grundlegende Unterscheidung ist die zwischen kristalliner und fluider Intelligenz. Kristalline Fähigkeiten betreffen den wissens- und erfahrungsabhängigen Teil der Intelligenz wie sprachliche Fähigkeiten (z. B. Wortschatz) oder die erworbenen Denk-, Lern-
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und Gedächtnisstrategien. Fluide Fähigkeiten repräsentieren grundlegende intellektuelle Funktionen wie das Erkennen von Regelmäßigkeiten bei Aufgaben, bei denen nicht auf vorhandenes Wissen zurückgegriffen werden kann. Fluide Fähigkeiten sind in höherem Maße genetisch verankert, hängen stärker mit der Intaktheit bzw. mit Schädigungen des Nervensystems zusammen und unterliegen einem stärkeren Altersabbau. Fluide Fähigkeiten spielen besonders in den ersten Lebensjahren, wenn noch in geringem Umfang auf vorhandenes Wissen zurückgegriffen werden kann, eine große Rolle, während im späteren Leben kristalline Fähigkeiten zunehmend bedeutsamer werden. Die durchschnittlichen Korrelationen zwischen Intelligenz und schulischer Leistung liegen in einer Größenordnung von r = .50. D. h. etwa 25 % der Unterschiede in der schulischen Leistung lassen sich durch Intelligenzunterschiede vorhersagen. Je nach Alter, Intelligenzfaktor und Art der Leistung gibt es aber erhebliche Unterschiede im Zusammenhang zwischen Intelligenz und Leistung.
4.2 Vorwissen Neuere Forschungen haben allerdings gezeigt, dass das für die Leistung vorhersagestärkste Personenmerkmal nicht die Intelligenz, sondern das bereichsspezifische Vorwissen ist (Dochy 1992; Schraw 2006). Die Expertiseforschung hat gezeigt, dass sich Experten und Novizen vor allem in der Quantität und Qualität des bereichsspezifischen Wissens unterscheiden. Der Erwerb von Expertise erfordert den zeit- und arbeitsaufwändigen Aufbau bereichsspezifischer Wissenssysteme, also die intensive Auseinandersetzung mit Aufgaben, die für den jeweiligen Sachbereich charakteristisch sind. Es handelt sich dabei um kumulative Lernvorgänge. Vorwissen ist nicht zuletzt deshalb so bedeutsam, weil ein nachhaltiger Erwerb neuen Wissens die Verknüpfung der neu aufgenommenen Informationen mit dem vorhandenen Wissen, d. h. die Eingliederung in die vorhandenen Wissensbasis erfordert. Aus mehreren Untersuchungen (Weinert & Helmke 1988) ist bekannt, dass Wissensdefizite durch eine hohe Intelligenz nicht kompensierbar sind. Umgekehrt weiß man, dass auch bei relativ niedriger Intelligenz zumindest innerhalb bestimmter Grenzen kompetente Leistungen möglich sind, sofern die entsprechenden Wissensvoraussetzungen vorhanden sind. Intelligenz und Vorwissen sind allerdings nicht unabhängig voneinander: Intelligente Lernende sind besser und schneller in der Lage, eine qualitativ hochwertige Wissensbasis aufzubauen, und erreichen möglicherweise auch ein höheres Wissensniveau als weniger intelligente Personen.
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Allgemeine intellektuelle Fähigkeiten scheinen vor allem zu Beginn des Lernvorgangs wichtig zu sein, wenn Beziehungen und Regelhaftigkeiten erkannt und Strategien aufgebaut und automatisiert werden müssen. Im Lehr-Lernprozess spielt das Instruktionsverständnis eine wichtige Rolle, das insbesondere von sprachlichen Fähigkeiten abhängt. In dem Maße, in dem Vorkenntnisse erworben werden, verlieren allgemeine intellektuelle Fähigkeiten an Bedeutung (Helmke & Weinert 1997). Intelligenz wird gelegentlich auch als Fähigkeit, von suboptimalem und unklarem Unterricht zu profitieren, charakterisiert (Gustafson & Undheim 1996). Intelligenten Schülern fällt es leichter als weniger intelligenten Schülern, Lücken in der Darstellung durch eigene Überlegungen und das selbstständige Erschließen von Regeln und Zusammenhängen zu schließen. Schüler mit guter Intelligenz sind also in bestimmten Grenzen in der Lage, schlechte Unterrichtsqualität zu kompensieren, während weniger intelligente und leistungsfähige Schüler stärker auf eine qualitativ hochwertige unterrichtliche Unterstützung angewiesen sind.
4.3 Metakognition, Lernstrategien, -stile Metakognition bezieht sich ganz allgemein auf die Fähigkeit, Denkvorgänge zu planen, zu überwachen und zu regulieren, und das dafür erforderliche Wissen. Metakognitive Kompetenzen sind eine wichtige Grundlage für den erfolgreichen Einsatz von Lernstrategien. Lernstrategien sind zielgerichtete und häufig auch bewusst kontrollierte Bemühungen, den eigenen Lernprozess zu beeinflussen (Artelt 2000). Ein unzureichender oder unangemessener Einsatz von Lernstrategien hängt oft mit Defiziten im Bereich der metakognitiven Kompetenz und des metakognitiven Wissens zusammen. Lernstrategien selbst werden als wichtiger Bedingungsfaktor für den Lernerfolg angesehen. Insbesondere qualitativ hochwertige Strategien wie die Elaboration, also das Herstellen von Verknüpfungen, das aktive Auseinandersetzen mit Texten oder das Finden von Beispielen gehen mit einer hohen Qualität des erworbenen Wissens einher. Lernstile betreffen allgemeinere Muster des Lernverhaltens wie eine tiefe oder oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Lernmaterial. In empirischen Felduntersuchungen werden allerdings oft nur mäßige Zusammenhänge zwischen Lernstrategien und Leistungen gefunden, was unter anderem damit zu tun haben dürfte, dass Lernstrategien über Selbstberichte des typischen Lernverhaltens im Wege von Fragebögen erfasst werden. In Untersuchungen, die das Lernverhalten in der Lernsituation erfassen, zeigen sich stärkere Zusammenhänge (Artelt 2000; Klauer & Leutner 2007).
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4.4 Motivation Motivationalen Merkmalen wird im Alltag eine zentrale Bedeutung für den Lernerfolg beigemessen. Die wissenschaftliche Befundlage ist aber eher gemischt: Zusammenhänge zwischen motivationalen Merkmalen und der Leistung hängen vom Kontext ab und können erheblich variieren (Helmke 1992; vgl. auch Schunk & Zimmerman 2006). Die motivationalen Merkmale, die in der schulbezogenen Forschung die stärkste Beachtung gefunden haben, sind Aspekte des Selbstkonzeptes (Selbstkonzept eigener Fähigkeit, Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen), der Leistungsängstlichkeit sowie die Lernmotivation im engeren Sinne, also die Wertschätzung bestimmter Lernergebnisse und deren Folgen (Anderman & Wolters 2006; Helmke & Weinert 1997). Selbst- und wertbezogene Einschätzungen lassen sich als Komponenten eines Erwartungs x Wert-Modells, bei dem Lernmotivation von der subjektiven Wahrscheinlichkeit bestimmter Folgen und deren Bewertung abhängt, ansehen. Das Selbstkonzept eigener Fähigkeit betrifft dabei die Wahrscheinlichkeit, mit der Lernerfolge erwartet werden, die Lernmotivation die Relevanz oder Werthaltigkeit von Folgen. Erwartungs x Wert-Modelle charakterisieren im Wesentlichen die extrinsische Motivation, also den Sachverhalt, dass Lernhandlungen wegen der daraus resultierenden Folgen durchgeführt oder vermieden werden. Tätigkeitsbezogene Anreize betreffen dagegen den Wert, den die Lernhandlung als solche hat. Zusammen mit gegenstands- und tätigkeitsspezifischen Interessen stellen sie wesentliche Aspekte der intrinsischen Motivation dar (Anderman & Wolters 2006; Helmke & Schrader 2001).
4.5 Volition Von den motivationalen Merkmalen sind volitionale Faktoren abzugrenzen. Motivationale Faktoren sind zu Beginn einer Lernhandlung wichtig, wenn Handlungen ausgewählt und Lernabsichten (Intentionen) gebildet werden. Volitionale Faktoren sorgen dagegen dafür, dass die gebildeten Lernabsichten auch umgesetzt werden, sie dienen insbesondere der Abschirmung der einmal gebildeten Intentionen gegen innere und äußere Störeinflüsse. Lernprobleme scheinen oft weniger solche der Motivation als vielmehr der Volition zu sein (vgl. Helmke & Weinert 1997; Schunk & Zimmerman 2006).
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4.6 Aufmerksamkeit Erfolgreiches Lernen setzt eine angemessene Steuerung und Kontrolle der Aufmerksamkeit voraus. Defizite in diesem Bereich, die erhebliche Lernschwierigkeiten (ADS, ADHS) zur Folge haben können, werden als multifaktoriell bedingte Störung gesehen, bei denen neben genetisch beeinflussten Beeinträchtigungen von Gehirnfunktionen auch Temperamentsfaktoren und metakognitive Steuerungsprozesse eine Rolle spielen (Matthews, Zeidner & Roberts 2006). Die Aufmerksamkeit im Unterricht ist eine zentrale Mediatorvariable, die zwischen dem Unterrichtsangebot und dem Lernerfolg vermittelt (s. u.).
5
Unterricht
5.1 Grundlagen Grundlage der empirischen Unterrichtsforschung war lange Zeit ein einfaches Prozess-Produkt-Modell, bei dem Unterschiede in Prozessmerkmalen (Merkmalen des Lehrerverhaltens und der Lehrer-Schüler-Interaktion) mit Unterschieden im Produkt (meistens dem Leistungszuwachs) in Beziehung gebracht wurden. Dieses grundlegende Modell, das nach wie vor einen Kern der Forschung darstellt, ist in den letzten Jahren zunehmend erweitert worden. So wurden der Kontext (z. B. Leistungsniveau der Klasse, Fachkonzept) und intervenierende Variablen (z. B. Schüleraufmerksamkeit) einbezogen, statt einfacher Zusammenhänge wurden komplexe Zusammenhänge (kurvilineare Beziehungen, Berücksichtigung mehrer Variablen, Interaktionen) untersucht und es wurden komplexe Modellierungen vorgenommen (s. etwa Helmke & Weinert 1997). Darüber hinaus wurden Wechselwirkungen von Unterrichtsmerkmalen mit Schülermerkmalen (Aptitude-Treatment-Interaktionen) sowie kompensatorische Beziehungen berücksichtigt.
5.2 Quantität und Qualität des Unterrichts Unterricht lässt sich im Hinblick auf seine Quantität und Qualität beschreiben. Ein wesentlicher Aspekt der Unterrichtsquantität sind curriculare Vorgaben: In verschiedenen Ländern und Bildungssystemen wird unterschiedlich viel Zeit für bestimmte Lehrinhalte vorsehen. Erfolgreicher Unterricht ist durch ein hohes Maß an Zeitnutzung gekennzeichnet, also dadurch, dass die vom Curriculum vorgesehene Zeit in hohem Maße für fachliche Lernaktivitäten genutzt wird und
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dass es gelingt, Schülerinnen und Schüler im Unterricht mit nachweislich lernwirksamen Aktivitäten zu beschäftigen. Unterrichtsausfall und individuelle Fehlzeiten sind weitere leistungsrelevante Zeitparameter (Hosenfeld, Helmke, Ridder & Schrader 2002). Zur Unterrichtsqualität gibt es eine Reihe von Übersichtsarbeiten (etwa Brophy & Good 1986; Helmke 2004). Meistens werden zwei große Teilbereiche unterschieden: (a) Klassenführung und Unterrichtsorganisation, (b) Unterrichtsqualität im engeren Sinne. Eine effektive Klassenführung betrifft die Herstellung von Rahmenbedingungen, die für einen erfolgreichen Unterricht erforderlich sind. Dazu gehören die Etablierung von Regeln für angemessenes Verhalten, die effektive Gestaltung von Lernsituationen und deren Überwachung, der Aufbau von Routinen und der Umgang mit Störungen und Disziplinproblemen. Untersuchungen zeigen, dass Merkmale der Klassenführung relativ hoch mit dem Lernerfolg der Schüler zusammenhängen. Eine effiziente Klassenführung ist als ein Schlüssel erfolgreichen Unterrichts und eine notwendige Voraussetzung dafür anzusehen. Unterrichtsqualität im engeren Sinne betrifft Merkmale folgender Art: Lernförderliches Unterrichtsklima; vielfältige Motivierung; Strukturiertheit, Klarheit, Verständlichkeit; Ziel-, Wirkungs- und Kompetenzorientierung; Schülerorientierung, Unterstützung; Aktivierung, Förderung selbstständigen Lernens; angemessene Variation von Methoden und Sozialformen; Konsolidierung, Sicherung, intelligentes Üben sowie Passung und sensibler Umgang mit heterogenen Lernvoraussetzungen (Helmke 2006). Aus theoretischer Sicht spielen kognitive Aktivierung und Sicherung des Lernvorgangs sowie Umgang mit Fehlern eine große Rolle (vgl. insbesondere Helmke & Schrader in Druck).
5.3 Allgemeine Unterrichtsmodelle Die empirischen Befunde werden meistens vor dem Hintergrund allgemeinerer Modelle betrachtet. Diese bewegen sich zwischen einem direktiven lehrergesteuerten Unterricht (Modell direkter Instruktion) und offenen Unterrichtsformen (Lompscher 2006). Die Forschung hat gezeigt, dass aktive Lehrer eine wichtige Rolle für den Lernerfolg der Schüler spielen. Es findet mittlerweile breite Zustimmung, dass ein erfolgreicher Unterricht eine Mischung aus lehrergesteuerten und offenen Unterrichtsformen darstellt (Weinert 1996). Neuere Ansätze wie Cognitive Apprenticeship und Reziprokes Unterrichten oder Erkenntnisse aus Strategietrainings tragen dazu bei, den Unterricht stärker auf die Förderung kognitiver und metakognitiver Kompetenzen auszurichten (Shuell 1996).
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Kooperative Unterrichtsformen wie verschiedene Varianten des tutorgesteuerten und des Gruppenunterrichts haben sich in Metaanalysen als günstig erwiesen (O’Donnell 2006). Gründe dafür liegen sowohl in der förderlichen Rolle des sozialen Zusammenhalts (Interdependenz, direkte Kommunikation, Verantwortlichkeit, Entwicklung sozialer Kompetenzen) als auch kognitiver Faktoren (kognitive Elaboration). Auch aus der kognitiven Entwicklungspsychologie bekannte Prinzipien (Konstruktivismus, Zone der nächsten Entwicklung, Scaffolding) kommen zum Tragen.
5.4 Fachspezifität Die bisherige Forschung hat sich im Wesentlichen darauf beschränkt, allgemeine, fachunspezifische Merkmale der Unterrichtsqualität zu identifizieren. Dieser Ansatz stößt zunehmend an seine Grenzen. Ziel neuerer Forschungen ist eine stärkere Berücksichtigung der Fachspezifität. Als innovativ erweisen sich dabei vor allem Kooperationen zwischen der allgemeinen Unterrichtsforschung und der Fachdidaktik. Die meisten bisherigen Forschungen haben den mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich zum Gegenstand gehabt. Im Vergleich dazu gibt es im Bereich sprachlicher Kompetenzen nur wenig empirische Forschung. In Deutschland ist das DESI-Projekt der erste Versuch, die Unterrichtsqualität im Fach Englisch mit Methoden der empirischen Unterrichtsforschung aufzuhellen (Helmke, Helmke, Schrader, Wagner, Nold & Schröder in Druck).
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Komplexe Beziehungen
Die einzelnen Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen wurden bislang weitgehend isoliert voneinander betrachtet, obwohl sie eigentlich immer auf komplexe Weise zusammenwirken. Die zugrunde liegende Logik korrelativer Zusammenhänge basiert auf einem kompensatorischen Modell, wonach sich die Einflüsse unterschiedlicher Merkmale ausgleichen können, z. B. kann mangelnde Fähigkeit bis zu einem Grade durch erhöhte Anstrengung ausgeglichen werden. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen Unterricht und individuellen Personenmerkmalen (Corno & Snow 1986; Simons 1992): Mangelnde Fähigkeiten zur Selbststeuerung werden durch die unterrichtliche Unterstützung kompensiert. Im Bereich hoher und niedriger Leistungen sind kompensatorische Beziehungen aber kaum noch möglich. Hier sind Koppelungsmodelle erforderlich, die davon ausgehen, dass bei mehreren Merkmalen Mindestausprägungen vorliegen müssen, damit Einflüsse zustande kommen. So ist für das Erzielen hoher Leis-
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tungen sowohl ein Mindestmaß an Fähigkeit als auch an Anstrengung notwendig. Um das Zustandekommen von schulischen Effekten und die Rolle der dabei beteiligten Faktoren genauer zu beschreiben, hat sich mittlerweile die Idee des Angebots-Nutzungs-Modells (vgl. Helmke 2004) weitgehend durchgesetzt.
Abbildung 1:
Angebots-Nutzungs-Modell FAMILIE Strukturelle Merkmale (Schicht, Sprache, Kultur, Bildungsnähe); Prozessmerkmale der Erziehung und Sozialisation
LEHRPERSON UNTERRICHT (Angebot) Fachliche, didaktische, diagnostische und KlassenführungsKompetenz
LERNPOTENZIAL Prozessqualität des Unterrichts
Vorkenntnisse, Sprache(n), Intelligenz, Lern- und Gedächtnisstrategien; Lernmotivation, Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer, Selbstvertrauen
- fachübergreifend - fachspezifisch
Pädagogische Orientierungen
Erwartungen und Ziele
LERNAKTIVITÄTEN
WIRKUNGEN
(Nutzung)
Qualität des LehrLern-Materials
(Ertrag) Fachliche Kompetenzen
Aktive Lernzeit im Unterricht
Fachübergreifende Kompetenzen
Engagement Außerschulische Lernaktivitäten
Erzieherische Wirkungen der Schule
Geduld Unterrichtszeit
KONTEXT Kulturelle Rahmenbedingungen
Regionaler Kontext
Schulform, Bildungsgang
Klassenzusammensetzung
Didaktischer Kontext
Schulklima Klassenklima
Diesem Modell zufolge stellt Unterricht lediglich ein Angebot dar, das nur dann wirksam wird, wenn es vom Lernenden in geeigneter Weise genutzt wird. Der heute verbreiteten konstruktivistischen Sichtweise zufolge ist erfolgreiches Lernen das Ergebnis von kognitiven und metakognitiven Aktivitäten, die vom Lernenden selbstständig eingesetzt und gesteuert werden müssen und zur individuellen Konstruktion von Wissen führen. Die für die Angebots-Nutzung erforderlichen Lernaktivitäten bilden den Kern des Modells. Im Unterricht werden sie oft über die aktive Lernzeit, also die Zeit, in der Lernende sich aktiv mit dem Lern-
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gegenstand auseinandersetzen, verankert. Lernrelevante Aktivitäten können durch Unterricht ebenso wie durch den Kontext und außerunterrichtliche Faktoren (Familie, Medien) zwar angeregt und unterstützt, gefördert und kontrolliert werden, liegen aber letztlich in der Kontrolle des Lernenden und hängen von dessen individuellen Merkmalen ab. Diese Sichtweise, erfolgreiches Unterrichten danach zu bestimmen, inwieweit günstige Lernaktivitäten angeregt und unterstützt werden, hat ältere, durch ein einfaches Prozess-Produkt-Modell gekennzeichnete Auffassungen weitgehend abgelöst. Das Unterrichtsangebot selbst wird beeinflusst durch Lehrermerkmale, insbesondere der fachlichen und didaktischen Expertise und den Einstellungen, Orientierungen und Maßstäben der Lehrperson (vgl. Helmke 2004). Auch der Unterricht hängt vom Kontext ab, etwa dem sozialen Hintergrund und dem Leistungsniveau der Klasse. Dies haben die großen nationalen und internationalen Leistungsstudien, zuletzt PISA und DESI, nochmals unterstrichen.
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Ausblick
Die vorliegende Übersicht hat sich auf Leistung als das zentrale Zielkriterium von Unterricht beschränkt. Die empirische Befundlage basiert dabei meistens auf Untersuchungen, in denen die Leistung mit Hilfe von Tests erfasst wird. Daran wurde und wird gelegentlich kritisiert, dass sich Untersuchungen auf solche Lehrziele beschränkten, die mit Tests leicht erfasst werden können. Die Unterrichtsforschung stelle deshalb solche Unterrichtsmerkmale als lernwirksam heraus, die für die Erreichung leicht abtestbarer und meistens weniger anspruchsvoller Lehrziele günstig seien. Außerdem werde die Bereitschaft gefördert, den Unterricht auf das Erreichen der durch die Tests erfassten Lehrziele auszurichten (teaching to the test). Seitdem es im Zuge der großen Leistungsstudien gelungen ist, auch sehr komplexe Aspekte der fachlichen Kompetenz in angemessener Form zu erfassen, ist diese Kritik an der Steuerungsfunktion von Tests und Testaufgaben allerdings nicht mehr stichhaltig. Mittlerweile hat sie sich geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Testverfahren sind zu einem geeigneten Mittel geworden, gehaltvolle Anforderungen zu definieren, die dann auch für den Unterricht leitend sein können (Stichwort: Aufgabenkultur). Tests und die ihnen zugrunde liegenden Kompetenzmodelle (Helmke & Hosenfeld 2004) können dadurch auch einen wichtigen Beitrag leisten, Bildungsstandards umzusetzen. Es ist klar, dass zusätzlich zu fachlichen Leistungen auch andere Bildungsziele wichtig sind, insbesondere fachübergreifende Kompetenzen zum autonomen Handeln und zur sozialen Partizipation, Lern- und Problemlösungskompetenzen sowie musische, geisteswissenschaftlich-historische, sozialwissenschaft-
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lich-ökonomische sowie religiös-wertbezogene Bildungsziele (Weinert 2001b). Außerdem gibt es natürlich auch Zielkriterien wie die Verbesserung der Lernfreude oder des Selbstvertrauens, die sich auf erzieherische Wirkungen des Unterrichts beziehen. Ein Problem dabei ist allerdings, dass hierfür bislang noch keine ähnlich gut fundierten Messverfahren zur Verfügung stehen wie dies für die fachlichen Zielkriterien der Fall ist. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang häufig gestellt wird, ist, ob und in welchem Maße diese unterschiedlichen Zielkriterien miteinander vereinbar sind (Helmke & Schrader 1990). Die Forschung hat gezeigt, dass verschiedene Zielkriterien nicht unvereinbar sein müssen (Kunter 2005). Über die Bedingungen, unter denen dies gelingt, gibt es aber noch wenig gesichertes Wissen. Offensichtlich gibt es aber ganz unterschiedliche Möglichkeiten, einen erfolgreichen und lernwirksamen Unterricht zu realisieren.
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Intelligenz und Hochbegabung Detlef H. Rost & Jörn R. Sparfeldt
Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit „Intelligenz“ und „Hochbegabung“, zwei im Zentrum der pädagogisch-psychologischen Diskussion stehende Konzepte. Im ersten Teil werden – ausgehend vom Bedeutungshof des Begriffs „Intelligenz“ und seiner wissenschaftlichen Verwendung – exemplarisch drei Intelligenzmodelle vorgestellt: Spearmans Generalfaktormodell, Thurstones Modell der Primärfähigkeiten und ein hierarchisches Modell als Synthese dieser beiden Ansätze. Nach einer kurzen Erläuterung der Intelligenzentwicklung zeigen wir die Bedeutung der allgemeinen Intelligenz für Schul-, Berufs- und Lebenserfolg auf. Der zweite Teil des Beitrags beschäftigt sich mit „Hochbegabung“: Auch hier beginnen wir mit einer Begriffsklärung und einer Darstellung (und Kritik) ausgewählter Modelle. Anknüpfend an die Ausführungen zur „Intelligenz“ im ersten Teil wird dargelegt, dass und warum es sinnvoll ist, „Hochbegabung“ als hohe Ausprägung der allgemeinen Intelligenz zu verstehen. Überlegungen zur Diagnostik und Identifikation schließen sich an: Nach bisherigem Wissensstand stellen Intelligenztests die Methode der Wahl bei der Hochbegabungsdiagnostik dar; diagnostische Urteile von Lehrkräften, Eltern und Peers sind weniger geeignet. Anders als häufig vermutet, unterscheiden sich Hochbegabte von durchschnittlich Begabten in vielen psychologischen Merkmalen kaum – und wenn (in der Regel kleine) Unterschiede zu beobachten sind, dann häufig zugunsten der Hochbegabten. Der Beitrag schließt mit einer Übersicht über vielfältige Maßnahmen zur Förderung (Hoch-)Begabter.
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Intelligenz
1.1 Intelligenzbegriff „Intelligenz“ (lat. intelligentia = Einsicht) und (intellektuelle) „Begabung“ (diese beiden Begriffe werden in der psychologischen Literatur – wie auch hier – überwiegend synonym verwendet) charakterisieren die aufgrund von Anlage und Umwelt sowie der Interaktion „Gene × Umwelt“ resultierende kognitive Leistungsfähigkeit.
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Detlef H. Rost & Jörn R. Sparfeldt
Laien haben unterschiedliche, aber nicht extrem divergierende Vorstellungen von „intelligentem“ Verhalten, bezüglich der zentralen Aspekte (wie logischschlussfolgerndes Denken, Problemlösen) herrscht eine hohe Übereinstimmung. In der konnotativen Bedeutung weicht „Intelligenz“ etwas von „intelligent“ ab (Hofstätter 1971, vgl. Tab. 1). In den 1960er Jahren schwangen offenbar Geschlechtsrollenstereotype von „Frau“ und „Mann“ stärker in „Intelligenz“ als in „intelligent“ mit. Das scheint auch heute noch in abgeschwächter Form zu gelten. Aus Tabelle 1 ist auch zu entnehmen, dass der Definitionsvorschlag von Anastasi und Foley (1949), als „Intelligenz“ das zu bezeichnen, was den Erfolgreichen in einer Gesellschaft gemeinsam ist, durchaus den Bedeutungshof von „intelligent“ bzw. „Intelligenz“ trifft. Wie wird „Intelligenz“ von wissenschaftlich arbeitenden Psychologen verstanden? Für Rohracher (1965: 325) ist „Intelligenz“ der „Leistungsgrad der psychischen Funktion bei ihrem Zusammenwirken in der Bewältigung neuer Situationen“, für Wechsler (1958: 7) die Fähigkeit, „zweckvoll zu handeln und sich mit seiner Umwelt effektiv auseinanderzusetzen“. Hofstätter (1971) versteht Intelligenz als Fähigkeit, Ordnung/Regelhaftigkeit zu erkennen und Probleme zu lösen. Er differenziert zwischen Intelligenz 1. Art (existierende Ordnungsprinzipien/ Regeln werden erkannt) und Intelligenz 2. Art (Zufall wird auch als Zufall erkannt). Andere Forscher verstehen Intelligenz als Lernfähigkeit. Globale Definitionsversuche umfassen übereinstimmend zumeist Problemlöse- und Anpassungsstrategien, die auf einem hohen Abstraktionsniveau verbal umschrieben werden. Tabelle 1: Konnotative Bedeutungen von „intelligent“ und „Intelligenz“: Affinitäten q zu ausgewählten Begriffen (aus Hofstätter 1971: 178) „intelligent“ geschickt aufwärtsstrebend fortschrittlich männlich eitel
.89 .80 .77 .76 -.14
praktisch tapfer wohlhabend weiblich rückständig
.82 .79 .76 .54 -.53
„Intelligenz“ Persönlichkeit Erfolg Gesundheit Grausamkeit Frau
.91 .89 .81 .50 -.16
Fortschritt Mann Reichtum Zerstörung Langeweile
.90 .85 .77 .44 -.69
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Pawlik konstatierte 1968 (334), es gäbe keine allgemeine Intelligenzdefinition, welche die „ungeteilte Zustimmung einer größeren Zahl der an der Intelligenzforschung beteiligten Psychologen finden würde“. Das stimmt aber nur eingeschränkt für das Verständnis zentraler Komponenten. Snynderman und Rothman (1987) befragten 615 Erziehungswissenschaftler, Psychologen, Kognitionsforscher etc. u. a. zu 13 möglichen Intelligenzfacetten. Angegeben werden sollte, ob die jeweilige Facette ein „wichtiger“ Bestandteil des Konstrukts sei und ob diese Facette mit üblichen Tests „adäquat messbar“ sei. Die Antworten dokumentieren, dass – jenseits aller Unkenrufe über die Unschärfe und Beliebigkeit des Intelligenzbegriffs – bei denjenigen, die sich in der einschlägigen Forschung auskennen, sehr wohl ein relativ homogenes Verständnis bestand (Tab. 2): „Abstraktes oder logisches Denken“ (von 99.3 % als „wichtig“ eingestuft), „Problemlösefähigkeit“ (97.7 %) und die „Fähigkeit zum Wissenserwerb“ (96 %) wurden praktisch immer thematisiert; „Gedächtnis“ (80.5 %) „Adaptationsfähigkeit an Umweltbedingungen“ (77.2 %), und „Denkgeschwindigkeit“ (71.7 %) mit großer Mehrheit. Das sind also laut Expertenurteil Kernbestandteile von „Intelligenz“. Ob „Kreativität“ dazugehört, war umstritten; und große Einigkeit herrschte darüber, dass „Zielorientierung“ und „Leistungsmotivation“ nicht unter „Intelligenz“ subsumierbar sind. Die Kernkonzepte bezeichnete man überwiegend als „adäquat“ messbar. Das galt jedoch weniger für nicht-zentrale Elemente – und für Kreativität praktisch gar nicht. Wiederholte man diese Befragung heute, so fielen die Resultate wahrscheinlich sehr ähnlich aus. Tabelle 2: Prozentsatz der Experten, die die jeweilige Facette als „wichtigen“ Bestandteil von „Intelligenz“ und als „adäquat messbar“ bezeichnen (Snyderman & Rothman 1987: 140) Intelligenzfacette Abstraktes oder logisches Denken Problemlösefähigkeit Fähigkeit zur Wissensaneignung Gedächtnis Anpassung an die Umwelt Mentale Geschwindigkeit Linguistische Kompetenz Mathematische Kompetenz Allgemeines Wissen Kreativität Sensorische Schärfe Zielorientierung Leistungsmotivation
für Intelligenz wichtig 99.3% 97.7% 96.0% 80.5% 77.2% 71.7% 71.0% 67.9% 62.4% 59.6% 24.4% 24.0% 18.9%
adäquat messbar 80.1% 72.7% 57.8% 87.3% 24.7% 87.2% 86.0% 87.9% 89.3% 11.7% 42.3% 35.9% 28.3%
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Intelligenz ist nicht direkt beobachtbar, sondern wird aus Leistungen in Intelligenztests, die den üblichen psychometrischen Kriterien genügen, erschlossen, weshalb Intelligenz operational als das, was ein konkreter Intelligenztest misst, definiert werden kann (Boring 1923). Bei Kenntnis des Intelligenztests steht nämlich nachprüfbar fest, was wie gemessen worden ist. Der resultierende Intelligenzquotient (IQ) informiert darüber, wie weit eine Person über bzw. unter dem Durchschnitt ihrer Bezugsgruppe – das sind Personen gleichen Alters oder gleicher Klassenstufe etc. – liegt (M = 100; S = 15; Wechsler-Skalierung).
1.2 Intelligenztheorien Die diversen Intelligenztheorien lassen sich grob in zwei Gruppen aufteilen: theoretisch konzipierte a priori Theorien (z. B. Revesz 1952; Wenzl 1957) und empirisch entwickelte a posteriori Konzeptionen (z. B. Spearman 1904; Thurstone 1938; Carroll 1993).
1.2.1 Wenzls „Theorie der Begabung“ Die „Theorie der Begabung“ von Wenzl (1957) ist ein typisches Beispiel für einen a priori Ansatz. Der Autor sieht „Begabung“ als Fähigkeit zur Erfassung und Herstellung von Bedeutungen, Beziehungen und Zusammenhängen an, als ein einheitliches intellektuelles Phänomen, welches unter drei Aspekten beschreibbar ist: (a) eine Tiefendimension (das Zentrale, Wesentliche aus Intuition und Anschauung zu erfassen), (b) eine Höhendimension (individuelle Abstraktionsfähigkeit, logisch-wissenschaftliches Denken) und (c) eine Breitendimension (intellektuelle Kapazität als Vielfalt der bedachten Sachverhalte). Dazu gesellen sich noch Intelligenztemperamente, durch die sich die Individuen in ihrer Schnelligkeit im Denken, in seelischer Spontaneität und in ihrer intellektuellen Ansprechbarkeit unterscheiden. In der Wenzlschen Begabungskonzeption findet man Komponenten, die in empirisch gewonnenen Strukturmodellen wieder auftauchen.
1.2.2 Spearmans Generalfaktor Anhand von Schulzensuren erkannte Spearman (1904), dass Aufgaben, zu deren Bewältigung intellektuelle Fähigkeiten erforderlich sind, stets positiv miteinander korrelieren. Er erklärte dies mit seiner „Zwei-Faktoren-Theorie“ (treffender:
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„Ein-Faktor-und-viele-Faktoren-Theorie“), nach der allen intellektuellen Leistungen eine gemeinsame, die Interkorrelationen stiftende allgemeine Intelligenz „g“ zugrunde liegt; zusätzlich existiert für jede Leistung ein spezifischer Anteil „s“, mit anderen Leistungen unkorreliert. „g“ stellt die Zusammenfassung der psychischen Leistungsfähigkeit über unterschiedliche Situationen hinweg dar („geistige Energie“). Die Erforschung von „g“ ist auch heute noch hochaktuell (vgl. Brand 1996; Jensen 1998; vgl. dazu die regelmä0ig zur allgemeinen Intelligenz erscheinenden Beiträge in der Fachzeitschrift Intelligence).
1.2.3 Thurstones Primärfaktoren Rund 30 Jahre nach Spearman untersuchte Thurstone (1938; vgl. Thurstone & Thurstone 1941) Studenten mit 56 Tests – nach der Augenscheinvalidität bezüglich verschiedener kognitiver Leistungen ausgewählt – und identifizierte 13 Faktoren, von denen sich sieben psychologisch als „primary mental abilities“ (PMA) interpretieren ließen: V („verbal comprehension“; „sprachliches Verständnis“), W („word fluency“; „Wortflüssigkeit“), N („number“; „Rechenfertigkeit“), P („perceptual speed“; „Wahrnehmungsgeschwindigkeit“), S („space“; „Raumvorstellung“), M („memory“; „Gedächtnis“) und, besonders bedeutsam, R („reasoning“; „schlussfolgerndes Denken“). Eysenck (1939) reanalysierte die Thurstonesche Korrelationsmatrix und konnte zusätzlich zu den PMA-Gruppenfaktoren einen varianzstarken Generalfaktor „g“ identifizieren.
1.2.4 Hierarchische Ansätze Thurstones PMA korrelieren untereinander positiv – ein Beleg für „g“. Folgerichtig hat sich eine Kombination der Modelle von Spearman und Thurstone durchgesetzt: Alle ernstzunehmenden neueren Intelligenzmodelle sehen – im Sinne einer Integration dieser beiden Theorien – ein hierarchisch organisiertes System vor. Dabei steht „g“ an der Spitze (z. B. Vernon 1971; Carroll 1993; Jäger 1994) oder es gibt zwei breite korrelierte Faktoren („gf“: allgemeine fluide Intelligenz; „gc“: allgemeine kristallisierte Intelligenz; Cattell 1987) und darunter angeordnete Gruppenfaktoren. Alternative, bei Laien populäre Ansätze –, z. B. „emotionale Intelligenz“ (Goleman 1997) oder voneinander unabhängige „multiple Intelligenzen“ (Gardner 2001) – sind eher spekulativ, wissenschaftlich problematisch und empirisch nicht (hinreichend) belegt. Das, was von Gardners „multiplen Intelligenzen“ empirisch gesichert ist, ist weder neu noch originell: Es sind die bekannten korrelierten Thurstoneschen Gruppenfaktoren R, V und S.
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1.3 Intelligenzentwicklung Die Intelligenz nimmt vom Säuglings- zum Erwachsenenalter negativ akzeleriert zu: Zuerst entwickelt sie sich rapide, im Schul- und Jugendalter wird die Wachstumskurve zunehmend flacher, im frühen Erwachsenenalter geht sie schließlich in ein Plateau über (Bloom 1971); in höherem Alter fällt sie dann ab. Im Verlauf des Entwicklungsprozesses gibt es allerdings nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Veränderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Piaget (1948) hat sie beispielsweise im Sinne eines gestuften Entwicklungsmodells zu beschreiben und zu erklären versucht. Die Überprüfung der schon früh aufgestellten (z. B. Garrett 1946) entwicklungspsychologisch plausiblen Hypothese, die kognitive Leistungsfähigkeit – wie sie mit den üblichen Intelligenztests gemessen wird – verändere sich strukturell mit zunehmendem Alter und/oder mit zunehmender Intelligenzhöhe (die durchschnittlichen Interkorrelation von Intelligenz[sub]tests nimmt im Entwicklungsverlauf bzw. mit ansteigender Intelligenz ab; vgl. zusammenfassend Mandl & Zimmermann 1976), gestaltet sich aus statistisch-methodischen und inhaltlichen Gründen als schwierig (Merz & Kalveram 1965; Oerter, Mandl & Zimmermann 1974). Außerdem ist die Forschungslage uneinheitlich: In verschiedenen empirischen Untersuchungen konnte die Altersdifferenzierungshypothese nicht bestätigt werden, in diversen anderen dagegen wohl. Ein Grund mag auch darin liegen, dass eine intellektuelle Ausdifferenzierung nach Kontrolle der in späteren Altersstufen eingeschränkten Varianz nur schwer nachweisbar ist. Analoge Probleme ergeben sich bei der Überprüfung der sog. Dedifferenzierungshypothese, nach der im hohen Alter die Bedeutung der allgemeinen Intelligenz „g“ zuungunsten anderer Faktoren der kognitiven Leistungsfähigkeit wieder zunehmen soll (vgl. z. B. Juan-Espinosa, Garcia, Escorial, Rebello, Colom & Abad 2002). Neuere Studien legen aber nahe, dass es sich bei den Befunden zu diesen Hypothesen nicht nur um statistisch-methodische Artefakte zu handeln scheint (Deary, Egan, Gibson, Austin, Brand & Kellaghan 1996; Abad, Colom, Juan-Espinosa & Garcia 2003). Die Untersuchung dieser und ähnlicher Phänomene wird auch dadurch erschwert, dass nach dem Augenschein gleichartige oder ähnliche Intelligenztestaufgaben auf verschiedenen Entwicklungsstufen und in Abhängigkeit von der Intelligenzhöhe unterschiedliche Fähigkeiten erfassen können („instrumentelle Validitätsveränderung“). Berichtete Entwicklungsverläufe der allgemeinen Intelligenz „g“ stellen also eine Aggregation mehrerer einander überlagernder Wachstumskurven dar. Die Intelligenzentwicklung wird neben endogenen Faktoren auch stark von kulturellen Einflüssen beeinflusst. Fasst man die einschlägige Forschung zusammen, ergibt sich für die weniger bildungsabhängige Grundintelligenz („gf“)
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ein Anstieg bis etwa zum 18. Lebensjahr. Dann folgt ein deutlicher, über die Jahre hinweg progressiv zunehmender, Abfall. Bei der stärker bildungsbezogenen Intelligenz („gc“) ist über Jahrzehnte kein oder nur ein geringer Altersabbau, manchmal – bei steter intellektueller Tätigkeit – sogar noch ein Zuwachs, feststellbar. Zunehmende Reife und Lebenserfahrung („Weisheit“) vermögen lange Zeit, biologisch bedingte Abbauprozesse zu kompensieren (Baltes & Staudinger 1998). Wegen der raschen inter- und intraindividuellen Veränderungen ist bis zum Ende der Kindergartenzeit noch keine längerfristig zuverlässige Prognose des Intelligenzstatus’ möglich, im Grundschulalter schon besser, und ab ca. 12/13 Jahren lässt sich die Erwachsenenintelligenz im Rahmen des unvermeidlichen Messfehlers praktisch perfekt vorhersagen. Wenn in Einzelfällen größere Verschiebungen beobachtet werden, dann sind sie zumeist durch Krankheitsprozesse, Unfälle, akute emotionale Belastungen oder unzureichende Diagnostik bedingt. Bei Kindern, die in anregungsarmen Umwelten aufwachsen, sinkt der Intelligenzquotient ab. Diese relative Verschlechterung mit dem Alter (absolut gesehen, steigen Wissen und Intelligenz an, aber nicht so schnell wie bei der Bezugsgruppe, weshalb der IQ sinkt,) ist einem Mangel an umfassenden intellektuellen Anregungen geschuldet. Als fördernde Faktoren für die Intelligenzentwicklung sind vor allem zu nennen: von Geburt an Unterstützung, Verstärkung und Förderung von Neugierde und Explorationsverhalten, ein guter affektiver Kontakt zu signifikanten Bezugspersonen und emotionale Geborgenheit in der frühen Kindheit, differenzierte Spielmöglichkeiten, eine anregungsreiche vorschulische Umwelt, und vor allem das in Schule und Hochschule erfolgende umfassende und kontinuierliche Training intellektueller Fähigkeiten (Merz, Remer & Ehlers 1985; Ceci 1991; Ceci & Williams 1997).
1.4 Relevanz von „g“ Die überragende Bedeutung der allgemeinen Intelligenz „g“ ergibt sich aus ihrer Relevanz für das Aufwachsen und die Bewährung in industrialisierten Gesellschaften. Keine andere singuläre psychologische oder soziologische Variable beeinflusst in vergleichbarer Weise den Lebenserfolg einer Person und den Wohlstand von Nationen (Lynn & Vanhanen 2006). „g“ ist, wie vielfach belegt, nicht nur der beste Einzelprädiktor für den Erfolg in Schule, Hochschule, Ausbildung und Beruf – und für das damit korrelierte Einkommen –, sondern auch für Gesundheit, Kriminalitätsrate und vieles mehr (vgl. z. B. Sternberg, Grigorenko & Bundy 2001; Gottfredson 2002; Schmidt & Hunter 2004). Bei statistischer Kon-
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stanthaltung des sozio-ökonomischen Status’ ist „g“ bei vielen psychologischen, soziologischen und ökonomischen Variablen prädiktiver als es der sozioökonomische Status bei Konstanthaltung von „g“ ist (Herrnstein & Murray 1994). Aus der Vielzahl der Studien zur Validität von „g“ sind einige pädago gisch relevante Korrelationen in Tabelle 3 angeführt. Die Befundlage hat sich seit der Publikation dieser Tabelle praktisch nicht verändert – um ein aktuelles schulisches Beispiel zu erwähnen: Deary, Strand, Smith und Fernandes (2007) konnten bei rund 70000 englischen Schülern aus einem Intelligenztest die rund fünf Jahre später (Alter: 15/16 Jahre) erbrachten Leistungen in einer landesweit eingesetzten Schulleistungstestbatterie sehr gut vorhersagen (r = .69; latente, messfehlerfreie Korrelation des Intelligenz- und Schulleistungsgeneralfaktors: r = .81). Mit den Fachtestleistungen korrelierte der Intelligenzgeneralfaktor zwischen r = .77 (Mathematik), r = .67 (Englisch) und r = .43 (Kunst). Tabelle 3: Prädiktive Validitäten des Intelligenzquotienten (IQ) oder Korrelationen des IQ mit verschiedenen pädagogisch relevanten Kriterien (nach Jensen 1981: 31) Untersuchtes Kriterium Schulleistungen (Grundschule, diverse Fächer) Vorhersage des IQs im 6. Schuljahr durch den IQ im 4. Schuljahr Lesereifetests („reading readiness“) Lautes Lesen Leseverständnis Einschätzung der Schülerintelligenz durch Lehrkräfte Leistungsrangplatz in der Abschlussklasse der high-school Leistung im Studieneingangsjahr Durchschnittszensur (GPA) in diversen Colleges Median der Durchschnittszensur (GPA) in 48 Colleges Abschlusszensur bei Jurastudenten („law school“) Höchster erreichter Bildungsstand im Alter von 40 Jahren
2
Korrelation r 0.56–0.71 0.75 0.84 0.62 0.68 0.60–0.68 0.62 0.44 0.30–0.70 0.40 0.30 0.50–0.58
Hochbegabung
2.1 Hochbegabungsbegriff Während – wie erwähnt – „Begabung“ und „Intelligenz“ in der psychologischen Literatur nahezu synonym gebraucht werden (vgl. z. B. Heller 1976: 7), ist die Verwendung von „Begabung“ innerhalb der pädagogischen Literatur unein-
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heitlicher (vgl. Im 1975; Helbig 1988). In dieser Unschärfe liegt die Unschärfe von „Hochbegabung“ begründet. Folgende Differenzierungen von „Begabung“ sind verbreitet (vgl. Rost & Schilling 2006):
statisch (eher angeborene Leistungsdisposition) vs. pädagogisch-dynamisch (eher kulturell vermittelt), intellektuell (z. B. Denkfähigkeit, Sprachverständnis) vs. nicht-intellektuell (z. B. musisch, künstlerisch), allgemeine Begabung (im Sinne von „g“) vs. Spezialbegabungen oder multiple Begabungen, konvergentes vs. divergentes Denken, bereits in Leistung umgesetzte Begabung (Performanz) vs. noch nicht umgesetzte Begabung (Potential).
Im Gegensatz zu diesen Unterschiedlichkeiten des Begabungsbegriffs ist der Zusatz „hoch“ eindeutiger, da er sich auf eine hohe – also quantitativ hinreichend über dem Mittelwert liegende – Ausprägung der zu spezifizierenden „Begabung“ bezieht; nur der Grenzwert bleibt festzusetzen. Die unterschiedlichsten Hochbegabungsdefinitionen versuchte Lucito (1964; zit. n. Feger & Prado 1998: 30-31) u. a. zu folgenden fünf Klassen zusammenzufassen:
post-hoc Definition: Gezeigte exzellente Leistung qualifiziert als „hochbegabt“. IQ-Definition: Ab einem bestimmten IQ (z. B. IQ t 130) ist eine Person „hochbegabt“. Prozentsatz-Definition: „Hochbegabt“ ist, wer in einem noch genauer zu spezifizierenden Bereich zu den oberen „x-Prozent“ gehört. Kreativitäts-Definition: Eine bestimmte (Mindest-)Ausprägung an Kreativität zeichnet als „hochbegabt“ aus. Soziale Definition: Wer fähig zu sozial als wertvoll bewerteten Handlungen ist, gilt als „hochbegabt“.
Die zweite und – fasst man Kreativität als dimensionales Merkmal auf – vierte Klasse lassen sich in die dritte Klasse einordnen, wobei das entsprechende Merkmal genauer spezifiziert ist. Trotz weltweit intensiver Forschungsarbeit konnten bisher keine qualitativen Unterschiede in den intellektuellen Prozessen „Hochbegabter“ und „NichtHochbegabter“ gefunden werden (vgl. z. B. Rost 2000); daher erfolgt in der Regel eine quantitative Abgrenzung. Weiterhin können Hochbegabungskonzeptionen, die eine hohe Ausprägung in einer Variablen verlangen (z. B. Intelligenz;
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unidimensionaler Ansatz), von Ansätzen unterschieden werden, die eine gewisse (Mindest-)Ausprägung in mehreren Variablen fordern (z. B. Intelligenz und Kreativität). Aus guten Gründen vertritt inzwischen die Mehrzahl der Forscher, national wie international, die unidimensionale und intelligenzbasierte Konzeption von „Hochbegabung“. (Im Zusammenhang mit Hochbegabungsmodellen und der Identifikation Hochbegabter werden wir noch genauer darauf eingehen.) In diesem Sinne definiert Rost (2004: 43): „Eine Person ist intellektuell ,hochbegabt’, wenn sie (a) sich schnell und effektiv deklaratives und prozedurales Wissen aneignen kann, (b) dieses Wissen in variierenden Situationen zur Lösung individuell neuer Probleme adäquat einsetzt, (c) rasch aus den dabei gemachten Erfahrungen lernt und (d) erkennt, auf welche neuen Situationen bzw. Problemstellungen die gewonnenen Erkenntnisse transferierbar sind (Generalisierung) und auf welche nicht (Differenzierung)“. Der Grenzwert, der „schnell“, „effektiv“ etc. quantifiziert, ist selbstverständlich noch festzulegen (z. B. Prozentrang 98). Wie jede Grenzsetzung bei einem quantitativen Merkmal ist auch diese mehr oder weniger beliebig; als Standard hat sich in vielen Forschungsprojekten und bei nahezu allen Beratungsanliegen ein Intelligenzgrenzwert eingebürgert, der mindestens zwei Standardabweichungen über dem Mittelwert liegt (also IQ t 130 bzw. Intelligenz-Prozentrang t 98). Als Konsequenz dieser (und analoger) Hochbegabungsdefinitionen folgt, dass damit der Anteil Hochbegabter in der Bevölkerung festgelegt ist (eben im Falle von „IQ t 130“ die rund 2 % Intelligenzbesten). „Schätzungen“ über den Anteil Hochbegabter sind damit sinnlos; bei bekannter Grenzsetzung steht der Anteil Hochbegabter bei Kenntnis der Verteilung – wenn keine Vorselektion vorliegt – fest.
2.2 Hochbegabungsmodelle Hochbegabungsmodelle und Hochbegabungsdefinitionen sind an ihrer Nützlichkeit zu messen (vgl. Sternberg & Davidson 1986). Deshalb sollte der Grenzwert, ab dem Personen bei der Auswahl für ein Förderprogramm als „geeignet“ beurteilt werden, in Abhängigkeit von der Zielsetzung und dem Anspruchsniveau der konkreten Intervention bestimmt werden, und man sollte deshalb nicht in allen Fällen an beispielsweise IQ t 130 festhalten. (Selbstverständlich sind alphaFehler – d. h. ein „tatsächlich“ nicht-hochbegabtes Individuum wird für hochbegabt gehalten; falsch-positive Entscheidung – und beta-Fehler – d. h. ein „tatsächlich“ hochbegabtes Individuum wird für nicht-hochbegabt befunden; falschnegative Entscheidung – in ihren Auswirkungen zu reflektieren.)
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Bei Leistungsmodellen (im Sinne einer post-hoc Definition; s. o.) ist ausschließlich die Vorhersagevalidität für ein zu spezifizierendes Kriterium entscheidend. Berücksichtigt man die erwähnte Unterscheidung zwischen Performanz und Potential nicht, verliert außerdem das theoretisch und pädagogischpsychologisch bedeutsame Phänomen „erwartungswidriger Leistungen“ an Bedeutung. Eine gezeigte Leistung kann in zwei Richtungen von der erwarteten abweichen: Bei Underachievern ist die Leistung deutlich geringer als aufgrund ihrer Intelligenz zu erwarten wäre; Overachiever leisten deutlich besser, als aufgrund ihrer Intelligenz zu erwarten wäre (vgl. Sparfeldt & Schilling 2006). Des Weiteren stellt sich neben der Frage der Operationalisierung bzw. Messbarkeit der einen Variablen (bei unidimensionalen Modellen) bzw. mehreren Variablen (bei mehrdimensionalen Modellen) die relevante Frage der Verknüpfung zwischen den verschiedenen Variablen. Die (funktionalen) Beziehungen zwischen den Teilaspekten des Modells sollten spezifiziert und quantifiziert werden. Außerdem nimmt mit der Anzahl für relevant erachteter Merkmale (sowie deren Verknüpfungsregel, z. B. und-Verknüpfung, oder-Verknüpfung), deren zunehmender Interkorrelationshöhe und strengerer Grenzwertsetzung der Anteil Hochbegabter dramatisch ab, wie Tabelle 3 zeigt (vgl. Hanses & Rost 1998a; Bélanger & Gagné 2006). So benötigt man bei einer (nur moderaten) Korrelation der drei für relevant erachteten Merkmale und einer Grenzwertsetzung „obere 5 %“ in jedem der drei Merkmale eine extrem große Ausgangsstichprobe von 28918 Personen, um eine Zielgruppe von 50 Hochbegabten zu erhalten. Konsequenz aus einem derartigen mehrdimensionalen Modell für die schulische Alltagspraxis wäre, dass man als Lehrkraft kaum jemals auch nur einem hochbegabten Schüler begegnet. Tabelle 4: A priori abschätzbarer Umfang der Ausgangsstichprobe, die benötigt wird, um bei einem oder mehreren Merkmalen (Korrelation von r = .30) eine Zielgruppe der Größe von N=50 zu erhalten (aus Hanses & Rost 1998a)
Selektion je Merkmal obere 2 % obere 5 % obere 10 % obere 20 % obere 30 % obere 40 %
Umfang der benötigten Ausgangsstichprobe bei einem zwei drei vier fünf Merkmal Merkmalen Merkmalen Merkmalen Merkmalen 2500 30048 179211 708516 2347748 1000 7008 28918 87246 224627 500 2313 7198 17626 37477 250 756 1748 3427 6036 167 390 752 1283 2015 125 243 409 628 906
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Aus der Vielzahl vorgeschlagener Modelle präsentieren wir nachfolgend ein mehrdimensionales Modell, das „Drei-Ringe-Modell“ von Renzulli (1978) und seine Erweiterung zum „Triadischen Interdependenzmodell“ von Mönks (z. B. 1985), sowie den unidimensionalen intelligenzbasierten Ansatz.
2.2.1 „Drei-Ringe-Modell“ und „Triadisches Interdependenzmodell“ Das bei Eltern und Lehrkräften populäre „Drei-Ringe-Modell“ von Renzulli (1978) sieht als notwendige Bestandteile von „Hochbegabung“ hohe Intelligenz und hohe Kreativität und hohe (leistungsorientierte) Arbeitshaltung („task commitment“) an. In der graphischen Veranschaulichung (Abbildung 1) entspricht „Hochbegabung“ der Schnittmenge der drei Kreise („Ringe“). Mönks erweiterte dieses „Modell“, indem er um die drei Kreise ein Dreieck zeichnete und in die Ecken „Schule“, „Familie“ und „Peergruppe“ (als relevante soziale Bezugsräume) schrieb. Später ersetzte er „task commitment“ durch „Motivation“. Dieser Erweiterung zufolge bilde sich „Hochbegabung“ nur dann aus, wenn – zusätzlich zu den problematischen Annahmen von Renzulli – diese drei „primären Sozialbereiche“ besonders gute Entwicklungsanregungen bereitstellten. Einige zentrale Kritikpunkte seien kurz zusammengefasst (vgl. z. B. Rost 1991a, b); sie gelten insbesondere für diese beiden „Modelle“, weitgehend aber auch für viele andere mehrdimensionale Hochbegabungskonzeptionen:
Weder bei Renzulli noch bei Mönks sind die (funktionalen) Beziehungen zwischen den Variablen bezüglich Wirkrichtung und Stärke spezifiziert. Auch die Verknüpfungsregeln der Variablen (und deren zeitliche Stabilität) sind bei Renzulli nur angedeutet, bei der Erweiterung von Mönks fehlen sie völlig. So muss ein Schüler, um als „hochbegabt“ beurteilt zu werden, bei Renzulli hohe Intelligenz, hohe Kreativität und hohe Motivation aufweisen, bei Mönks auch noch eine gute Schule besuchen, aus einem entwicklungsförderlichen Elternhaus kommen und positive peer-Kontakte haben. Was ist, wenn sich beispielsweise (eventuell auch nur temporär) die peer-Kontakte verschlechtern – Ist der Schüler dann nicht mehr „hochbegabt“? Beide Modelle unterscheiden nicht zwischen Begabung als Potential, das sich unter günstigen Bedingungen entfalten kann, und exzellenter (beobachtbarer) Leistung. Beide Modelle beziehen „Kreativität“ und „Motivation“ ein. Kreativität ist ein besonders instabiles Konzept, dessen theoretische Konzeptualisierung und Messbarkeit weit hinter der der Intelligenz zurücksteht. Mit Motivation sieht es nicht viel besser aus. Zudem ist „Motivation“ in aller Regel auf be-
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stimmte Aufgaben, Inhalte oder Tätigkeiten bezogen, also relativ bereichsspezifisch. Hinzu kommen recht erhebliche Motivationsschwankungen in der Individualentwicklung. Dies alles verhindert eine auf diesen „Modellen“ fußende und zufriedenstellende Hochbegabungsdiagnostik. Die Erweiterung von Mönks um die drei „Sozialbereiche“ ist in keinster Weise hochbegabungsspezifisch; Schule, Peergruppe und Familie sind für fast alle pädagogischen und psychologischen Fragestellungen relevant. Damit mutiert die Erweiterung zur Leerformel.
Erwähnenswert ist noch, dass solide empirische Untersuchungen zu beiden Modellen fehlen. So folgte Mönks in eigenen Studien dem Modell nicht und griff auf die unidimensionale intelligenzbasierte Hochbegabungskonzeption zurück (vgl. Mönks, van Boxtel, Roelofs & Sanders 1985: 54). Abbildung 1:
„Triarchisches Interdependenzmodell” der Hochbegabung (nach Mönks 1991: 235)
2.2.2 Hochbegabung als hohe Ausprägung von „g“ Für eine einfache, aber klare Konzeptualisierung intellektueller Hochbegabung als hohe Ausprägung der allgemeinen Intelligenz im Sinne des Spearmanschen Generalfaktors „g“ sprechen – neben den bereits erwähnten Argumenten zur Validität und Relevanz von „g“ – einige nachfolgend exemplarisch angeführte Gründe. Diese belegen die Überlegenheit dieser Konzeption.
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Inhaltlich-psychologische Gründe Es finden sich regelmäßig sehr enge Zusammenhänge von „g“ mit dem Arbeitsgedächtnis (z. B. .74 r .93 bei Kyllonen & Christal [1990]; Bühner, Krumm & Pick [2005] konnten auf latenter Ebene 95 % der Intelligenzvarianz durch Arbeitsgedächtnisfacetten aufklären) und der Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen (z. B. r > .60 bei Kröner, Plass & Leutner [2005]). Talentierte – so werden gelegentlich Personen bezeichnet, die in einem spezifischen Bereich (z. B. Musik, Kunst) herausragen – liegen in ihrer allgemeinen Intelligenz „g“ ebenfalls deutlich über dem Durchschnitt; es dürfte beispielsweise unmöglich sein, exzellente Musiker oder Künstler mit deutlich unterdurchschnittlicher Intelligenz zu finden. Mathematisch Hochleistende liegen – entgegen anderslautenden Äußerungen – in weiteren Bereichen, insbesondere auch in der verbalen Leistungsfähigkeit, im überdurchschnittlichen Bereich (z. B. hatten die ausschließlich nach mathematischem Potential ausgewählten Schüler der sechsten Jahrgangsstufe eines Hamburger Förderprogramms eine durchschnittliche Intelligenz von IQ = 145, „wobei sich insbesondere auch im verbalen Bereich sehr hohe Testleistungen zeigten“; Wagner, Zimmermann & Stüven 1986: 248; vgl. Birx 1988). „Intelligentere sind im Vergleich zu weniger intelligenten Menschen besser in der Lage, sich auf neue Aufgaben einzustellen, effektive Problemlösungsstrategien zu entwickeln und lösungsrelevante Regeln zu erkennen. Intelligentere haben im Vergleich zu weniger intelligenten Menschen in kumulativen Lernsequenzen unter vergleichbaren Zeit- und Instruktionsbedingungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Vergangenheit mehr und intelligenter organisiertes (tiefer verstandenes, vernetztes, multipel repräsentiertes und flexibel nutzbares) Wissen erworben. Diese bereichsspezifischen Vorkenntnisse erleichtern die darauf aufbauenden weiteren Lernprozesse“ (Helmke & Weinert 1997: 106). Methodische und erfassungspraktische Gründe Die allgemeine Intelligenz „g“ gehört zu den besonders gut erforschten und am besten erfassbaren psychologischen Konzepten. Es liegen bewährte Verfahren vor, deren psychometrische Qualität bekannt und mindestens gut ist. Ab dem Grundschulalter sind vernünftige Vorhersagen möglich. Die mit unterschiedlichen Intelligenztests bzw. Testbatterien erfasste generelle Intelligenz hängt sehr eng bzw. latent nahezu perfekt zusammen (r t .99 zwischen verschiedenen testbatteriespezifischen Generalfaktoren bei Johnson, Bouchard, Krueger, McGue & Gottesman [2004]).
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2.3 Diagnostik von Hochbegabung Für die hochbegabungsdiagnostische Praxis spielen mehrdimensionale Modelle im Allgemeinen keine Rolle, der unidimensionale und intelligenzbasierte Ansatz wird weltweit favorisiert. Für eine konkrete Fragestellung sind jeweils der Grenzwert sowie die Auswirkungen der beiden Fehlerarten zu berücksichtigen („alpha-Fehler“: falsch-positive Entscheidung, „beta-Fehler“: falsch-negative Entscheidung). Beide Fehler können nämlich nicht gleichzeitig minimiert werden; verringert sich der eine, erhöht sich der andere. Außerdem sind die eventuellen Kosten beider potentiell resultierenden Fehlentscheidungen zu beachten; in der Individualdiagnostik stehen häufig eher psychische Kosten für das Individuum im Zentrum der Aufmerksamkeit – wie eine mögliche Überforderung eines nicht-hochbegabten Kindes in einem (zu anspruchsvollen) Förderprogramm bzw. eine längere Unterforderung eines hochbegabten Kindes im Falle einer Zurückweisung. Außerdem sind Diagnoseinstrumente noch hinsichtlich ihrer Effektivität (Anteil der durch ein Diagnoseinstrument als hochbegabt Identifizierten an der Gesamtpopulation untersuchter Hochbegabter) und Effizienz (Anteil an „wirklich“ Hochbegabten innerhalb der Gesamtgruppe der Personen, die für hochbegabt befunden wurden) zu beurteilen. Selbstredend sollten die Hauptgütekriterien „Objektivität“, „Reliabilität“ und „Validität“, aber auch eine zeitnahe Normierung, gegeben sein. Als Alternativen zur Intelligenztestung wurden gelegentlich Identifikationen durch Lehrkräfte, Eltern oder Mitschüler (Peers), die jeweils spezifische Erfahrungen in der Interaktion haben, vorgeschlagen. Ein direkter Vergleich weist, wie anschließend dargestellt, die Identifikationsquellen „Lehrer“, „Eltern“ und „Peers“ gegenüber Intelligenztests als unterlegen aus. Lehrkräfte. Zur Frage der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften liegt u. a. eine aktuelle Studie von Spinath (2005) vor, in der sie die Intelligenztestergebnisse von Grundschülern mit entsprechenden Einschätzungen ihrer Lehrkräfte verglich. Die Lehrkräfte schätzten das Niveau der Intelligenz der Schüler ihrer Klasse (d. h. die Tendenz der Lehrkräfte, die „tatsächliche“ Intelligenz zu überoder unterschätzen) im Allgemeinen ganz gut ein, die Streuung der IQ-Werte wurde leicht unterschätzt. Der Median der (klassenweise berechneten) Rangkorrelationen zwischen lehrereingeschätzter und gemessener Intelligenz betrug r = .40, wobei sich Lehrkräfte deutlich in der Beurteilungsgenauigkeit unterschieden. In weiteren Studien wurden nur geringe bis mittelhohe Übereinstimmungen zwischen Lehrernominierungen bzw. Lehrereinschätzungen und Intelligenztestergebnissen gefunden (z. B. Schrader 2006). Spezifischer auf „Hochbegabung“ bezogen, ermittelte Wild (1991) an der umfangreichen Stichprobe des Marburger Hochbegabtenprojekts (rund 7000
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Schüler) bei einer – außergewöhnlich großzügigen – Nominierungsquote (Anteil der Personen der Gesamtpopulation, die als „hochbegabt“ nominiert werden) von rund 25 % eine Effektivität bezüglich des Kriteriums „hochbegabt: IQ t 130“ von 85.1 % – rund 15 % der Hochbegabten blieben also unerkannt. Die Effizienz lag bei nur 7 %. Im Falle einer (realistischeren) Nominierungsquote von 4.3 % lagen Effektivität bzw. Effizienz bei nur 35 % bzw. 16.4 %. Außerdem pflegen sich Lehrkräfte bei der Begabungseinschätzung eher nach bereits gezeigter schulischer Leistung als nach dem, was ein Kind leisten könnte, zu richten (Rost & Hanses 1997). Das führt dazu, dass Hochbegabte mit schlechten Schulleistungen von den Lehrkräften häufig übersehen werden. Auch sogenannte Checklisten, in denen vermeintliche Charakteristika Hochbegabter zusammengefasst sind und die Lehrkräften als Hilfsmittel an die Hand gegeben werden, verbessern die diagnostische Kompetenz – so die wenigen Befunde – nicht. Dies wiederum verwundert kaum, wenn man sich die Aussagen entsprechender Checklisten anschaut, da zumeist recht allgemeine Inhalte thematisiert werden, die auf viele aufgewecktere Kinder zutreffen (z. B. „zeigt sehr hohes Detailwissen in einzelnen Bereichen“, „kann gut Rechenaufgaben lösen“; so in einem „Leitfaden für Lehrer/innen und Eltern“ des Saarländischen Ministeriums für Bildung, Kultur und Wissenschaften 2003). Wegen der theoriearmen Konzeption, des großen Interpretationsspielraumes, der geringen Erfahrungsbasis von Lehrern mit Hochbegabten sowie der geringen Effektivität kann beim gegenwärtigen Wissensstand ein Einsatz von Checklisten nicht empfohlen werden. Eltern. Auf Eltern wird – zumindest bei Schulkindern – eher selten zur Identifikation Hochbegabter zurückgegriffen. (Im Kindergartenalter stellen Eltern häufig die alleinige Informationsquelle dar.) Man vermutet, Eltern seien befangen und voreingenommen. Die empirische Basis ist derzeit zu schmal, um sich auf die Begabungseinschätzung von Eltern zu verlassen. Für ElternChecklisten gilt das bei Lehrer-Checklisten bereits Gesagte; hinzu kommt, dass erstens in Eltern-Checklisten häufig lange zurückliegende Charakteristika erfragt werden und dass zweitens Eltern in der Regel das entwicklungspsychologische Wissen und eine breitere Vergleichsbasis zur qualifizierten Beurteilung fehlen. Peers. Für eine optimistische Einschätzung der Leistungsfähigkeit von Nominierungen Hochbegabter durch Peers fehlen stichhaltige empirische Belege. Peers orientieren sich schwerpunktmäßig an in der Vergangenheit gezeigten Leistungen. Wild (1991) ermittelte an der Stichprobe des Marburger Hochbegabtenprojekts bei einem „Hochbegabungskriterium: IQ 130“ eine Effektivität – fordert man, dass ein Schüler von mindestens 75 % (50 %) seiner Klasse nominiert wird – von 33.1 % (60.4 %) und eine Effizienz von 14.5 % (11.2 %). Die klassenübergreifende Korrelation zwischen dem globalen Intelligenzmaß und der Schülernomination betrug r = .43 (Median der klasseninternen Korrelationen: r =
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.50). Sollten die untersuchten Kinder angeben, wen aus ihrer Klasse sie für den begabungsmäßig Besten/Zweitbesten/Drittbesten halten, nannten sich knapp 12 % auf Rangplatz 1 (Rangplatz 1 und 2: 22.5 %, Rangplatz 1, 2, 3: 34.9 %), wobei sich Jungen deutlich häufiger als Mädchen auf die ersten Rangplätze setzten. Es gab sogar Klassen, in denen sich jedes Kind als Erst-, Zweit- oder Drittbester beurteilte.
2.4 Eigenschaften Hochbegabter Mythen über Hochbegabte sind weit verbreitet. Sie fußen häufig auf unzulässigen Generalisierungen von Einzelfällen. Unterschiede zwischen Hochbegabten und durchschnittlich Begabten in der intellektuellen Leistungsfähigkeit sind trivial. In der methodisch soliden Literatur werden übereinstimmend in manchen Variablen positivere Ausprägungen bei Hochbegabten als bei durchschnittlich Begabten berichtet, in vielen Personvariablen ließen sich keine systematischen Gruppenunterschiede nachweisen. Im Marburger Projekt konnten diese Befunde sowohl für das Grundschulalter (vgl. Rost 1993) als auch für das Jugendalter, wie im Folgenden zusammengefasst, objektiviert werden. So hatten hochbegabte Jugendliche positivere schulische Selbstkonzepte als durchschnittlich begabte (Rost & Hanses 2000), in den meisten nicht-akademischen Selbstkonzeptfacetten zeigten sich vergleichbare Werte. In der selbstbeurteilten Persönlichkeit dokumentierte Freund-Braier (2001) in fünf der zwölf betrachteten Skalen systematische Gruppendifferenzen: Hochbegabte berichteten höheren schulischen Ehrgeiz, durchschnittlich Begabte mehr Prüfungsangst, eine geringere Kontaktbereitschaft, mehr Gehorsam gegenüber Erwachsenen und maskulinere Einstellungen. Hochbegabte Jugendliche hatten, insgesamt gesehen, günstigere Kontrollüberzeugungen (Schütz 2004). Die Peer-Beziehungen Hochbegabter und durchschnittlich Begabter im Jugendalter waren sich sehr ähnlich (Schilling 2002). In der Grundschule und im Jugendalter ließen sich in den Familienbeziehungen kaum systematische Gruppenunterschiede nachweisen (Tettenborn 1996; Schilling, Sparfeldt & Rost 2003). In den Interessen unterschieden sich, so Pruisken (2005), hoch- und durchschnittlich begabte Grundschulkinder ebenfalls wenig – lediglich im mathematischen Interesse und im Leseinteresse zeigten Hochbegabte höhere Ausprägungen. Auch in den Berufsinteressen der Jugendlichen dokumentierten sich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, bei Hochbegabten waren erwartungsgemäß akademisch-intellektuelle Interessen etwas stärker ausgeprägt (Sparfeldt 2006). Eine Subgruppe der Hochbegabten wird in der Literatur als besonders problembehaftet angesehen (vgl. Sparfeldt & Schilling 2006): Hochbegabte Under-
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achiever stellen sich nämlich in verschiedensten Aspekten ungünstiger dar als sowohl Hochbegabte mit sehr guten Schulleistungen als auch als durchschnittlich Begabte mit durchschnittlichen Schulleistungen (Hanses & Rost 1998b; Sparfeldt, Schilling & Rost 2006). Der Anteil hochbegabter Underachiever ist jedoch klein. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich gibt es auch Hochbegabte mit Problemen; genau so, wie es durchschnittlich Begabte mit Problemen gibt. Diese Probleme sollten ernst genommen und, soweit möglich, pädagogisch-psychologisch „behandelt“ werden. Doch gibt es nicht mehr hochbegabte Personen mit Problemen als durchschnittlich Begabte mit Problemen. Einen nennenswerten Zusammenhang zwischen „Hochbegabung“ und „Problemen“ zu unterstellen, widerspricht der einschlägigen Literatur.
2.5 Förderung Hochbegabter Leider stehen bei den Fragen, ob und wie Hochbegabte optimal gefördert werden sollen, auch heute noch Meinungen, Einstellungen, Vorurteile und Werthaltungen im Vordergrund, zumeist ohne solide wissenschaftliche Grundlage. Jede Fördermaßnahme ist mit spezifischen Vorzügen und Nachteilen verbunden. Im nachfolgenden Kasten findet sich eine Auswahl unterschiedlichster Fördermaßnahmen, gegliedert nach vier einander überlappenden Bereichen. Obwohl akzelerierende Maßnahmen (schnelleres Durchlaufen eines Curriculums) und Maßnahmen des Enrichment (Anreicherung des regulären Unterrichtsstoffs durch Ergänzung, Erweiterung oder Vertiefung sowie die Behandlung neuer Themen) oft unterschieden werden, wird in der Praxis häufig der „normale“ Unterrichtsstoff zügiger behandelt (Akzeleration), um dann die „eingesparte“ Zeit für eine Vertiefung oder Behandlung neuer Themen zu nutzen (Enrichment). Die meisten Evaluationsstudien (vgl. im Überblick: Vock, Preckel & Holling 2007) wurden, wenn überhaupt, im nicht-deutschen Sprachraum durchgeführt und sind nur eingeschränkt auf die Situation bei uns übertragbar. Daher empfiehlt sich im Einzelfall ein sorgfältiges Abwägen der Alternativen – im günstigsten Fall, indem alle Beteiligten (z. B. Kind/Jugendlicher, Eltern, Lehrer, Schulpsychologe) einbezogen werden.
Intelligenz und Hochbegabung 1.
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Schulische Maßnahmen mit einem Schwerpunkt auf innerer Differenzierung Aufgaben, die dem Stoff vorauseilen oder vertiefen; arbeitsteilige Kleingruppenarbeit; Projektarbeit; Tutorfunktionen für schwächere Mitschüler; anspruchsvollere Hausaufgaben; mehr Freiheiten im Unterricht lassen, solange andere nicht gestört werden usw.
2.
Schulische Maßnahmen mit einem Schwerpunkt auf äußerer Differenzierung Vorzeitige Einschulung; fachbezogener Unterricht in höheren Klassen; Überspringen; Leistungskurse und spezielle Arbeitsgemeinschaften; Auslandsaufenthalte an Partnerschulen; Sonderklassen für maximal zwei Fächer; Hochbegabungsklassen an normalen Schulen (z. B. D-Zug-Klassen); Spezialschulen und Internate für Hochbegabte; Schulen mit fremd- und zweisprachigen Zügen; Gasthörerschaft an Hochschulen; vorzeitige Zulassung zum Studium; Steilkurse im Studium usw.
3.
Außerschulische Maßnahmen Anspruchsvolle Freizeitgestaltung mit Eltern oder Freunden; Ferienkurse; Sommerakademien; Fernunterricht, Internetkurse und Privatunterricht; Nutzung von Spezialräumen der Schulen (Fotolabor, Werkraum) außerhalb der Schulzeit; Nutzung kommunaler kultureller Ressourcen (Planetarium, Museum etc.); Mitgliedschaft in Vereinen und Verbänden (Schachclub, Jugendorchester, „Greenpeace“ etc.); Hospitation und Mitarbeit in Betrieben, Verlagen, Zeitungen usw.; supervidierte Schülerund Studentenfirmen; Wettbewerbsteilnahmen („Jugend forscht“ etc.); finanzielle und ideelle Unterstützung durch Stipendien bzw. Aufnahme in Begabtenförderwerke usw.
4.
Optimierung der Betreuung und Beratung Aus-, Fort- und Weiterbildung für u. a. Lehrer, Psychologen, Ärzte; spezialisierte Beratungslehrer; schulische Klimaverbesserung (Akzeptanzerhöhung für Hochbegabungsfragen); Mentorenprogramme; Einrichtung (hoch-)begabungspsychologischer Beratungsstellen usw.
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Lern- und Leistungsförderung im Unterricht Barbara Moschner
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Einleitung
Internationale Schulleistungsvergleichsstudien wie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study; Baumert et al. 1997) oder PISA (Programme for International Student Assessment; Baumert et. al 2001) haben in der deutschen Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt. Die Ergebnisse dieser Studien verdeutlichen: deutsche Schülerinnen und Schüler zeigen im internationalen Vergleich ein relativ niedriges Leistungsniveau. Ihr Wissen und Können lässt in verschiedenen Bereichen deutlich zu wünschen übrig. Es fällt vielen von ihnen schwer, gelesene Texte zu verstehen oder Gelerntes auf neue Kontexte zu übertragen und anzuwenden. Die Problematik ist gut beschrieben und analysiert. Die Frage, welche Möglichkeiten bestehen, die Leistungsbilanz an deutschen Schulen zu verbessern, ist jedoch nicht einfach zu beantworten. Diskutiert werden strukturelle Veränderungen im Schulsystem (z. B. die Zusammenlegung von Hauptschulen und Realschulen), eine Ausweitung der Lernzeit (z. B. durch Ganztagsunterricht), zentrale Vergleichsprüfungen (z. B. das Zentralabitur) oder mehr Fachunterricht. Aus pädagogischer und pädagogisch-psychologischer Perspektive werden zunehmend Trainingsansätze vorgestellt, die fächerübergreifend geeignet sind, das Lernen zu verbessern und den Lernerfolg nachhaltig zu erhöhen. Einige dieser Ansätze sollen im folgenden Kapitel vorgestellt werden.
2
Förderung des Lernens und des Denkens
Die Entwicklung verschiedener Förder- und Trainingsprogramme zur Verbesserung kognitiver Fähigkeiten und des Lernens hat in der jüngsten Vergangenheit einen großen Boom erlebt. Durch diese Trainings sollen Kinder und Jugendliche lernen, selbstverantwortlich und selbstgesteuert die Qualität ihrer Lernleistungen zu erhöhen und ihre Fähigkeiten besser zu nutzen. Einen guten Überblick über verschiedene Trainingsprogramme zur schulischen Förderung gibt Langfeldt (2003, 2006).
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Zur Beurteilung der Qualität von Trainingsprogrammen schlägt Langfeldt (2006) eine Checkliste mit zehn Kriterien vor, die die Entscheidung für oder gegen den Einsatz eines bestimmten Trainingsprogramms erleichtern soll. Positiv bewertet werden nach dieser Liste Programme wenn, (1) die Ziele klar beschrieben sind, (2) eine theoretische Verankerung hergestellt wird, (3) die Zielgruppe klar definiert ist, (4) die Trainingsmethoden rational begründet sind, (5) die Wirksamkeit des Programmes empirisch überprüft ist, (6) unerwünschte Nebenwirkungen ausgeschlossen werden können, (7) die Materialien adressatengerecht aufbereitet sind, (8) die Trainings eine klare Struktur haben, (9), die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Durchführung beschrieben werden und (10) die Handlungsanweisungen für die Trainierenden klar beschrieben werden. Exemplarisch sollen im Folgenden einige Trainingsprogramme vorgestellt werden, die gut erprobt und überprüft sind.
2.1 Förderung des induktiven Denkens Als induktives Denken wird in Anlehnung an Klauer (2004) das Erkennen von Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten definiert. Dieses Erkennen setzt Vergleiche voraus, die eine Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden oder Gleichheit und Verschiedenheit von Objekten, Merkmalen und Beziehungen beinhalten. Induktivem Denken wird für das Lernen in der Schule aber auch in außerschulischen Lernfeldern eine hohe Bedeutsamkeit zugeschrieben. Die von Klauer entwickelten Trainings zum induktiven Denken wenden sich an fünf- bis dreizehnjährige Kinder (Klauer 1989, 1991) sowie speziell an Jugendliche (Klauer 1993) mit Lern- oder Leistungsschwächen. Die Trainingsprogramme für Kinder können mit begabungsschwachen Kindern, aber auch mit normal begabten Kindern und sogar (entsprechend früher) mit Hochbegabten durchgeführt werden, die ein spezielles Förderprogramm erhalten sollen. Im Rahmen von Trainingssitzungen werden den Adressaten verschiedene Übungsaufgaben (Bilder, Zahlen und Texte) vorgelegt, bei denen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden gesucht werden muss. So sollen in einer Aufgabe Kleinanzeigen für eine Zeitung in verschiedene Kategorien (z. B. Vermietungen und Mietgesuche) eingeordnet werden. Das vollständige Training beinhaltet zehn Lektionen, in denen jeweils 20 Aufgaben bearbeitet werden. Die Übungen können in Einzel- oder Gruppensitzungen durchgeführt werden. Es wird empfohlen, zwei Lektionen pro Woche zu bearbeiten. Die Effekte des Trainings zum induktiven Denken wurden in einer Vielzahl von experimentellen Studien untersucht und überprüft. Die Studien zeigen, dass sich sowohl die Leistung in Intelligenztests als auch die Schulleistungen der
Lern- und Leistungsförderung im Unterricht
329
trainierten Kinder deutlich verbesserten. Dabei sind die schulischen Leistungssteigerungen deutlich höher als die Verbesserungen in Bezug auf die Intelligenz. Die Trainingswirkung ist auch Monate nach Beendigung der Trainings noch nachweisbar und kann durch Auffrischungssitzungen stabilisiert werden (Möller & Appelt 2001; Sonntag 2006). Die langfristig anhaltenden Trainingseffekte und die Leistungssteigerung im schulischen Bereich sprechen nach Klauer und Leutner (2007) deutlich gegen die teilweise geäußerte Kritik, bei den Trainings könnten Coachingeffekte (reine Verbesserung der Testleistung, aber kein Transfer) oder reine Wahrnehmungseffekte (ohne die Verbesserung mentaler Prozesse) trainiert werden. Auch der Einwand, es könne sich um Zuwendungseffekte handeln, kann durch mehrere experimentelle Studien vollständig entkräftet werden.
2.2 Förderung von selbstgesteuertem Lernen und Lernstrategien Planvolles und strategisches Lernverhalten zeichnet besonders erfolgreiche Schülerinnen und Schüler aus (Zimmerman & Martinez-Pons 1990). Der Erwerb von Lernkompetenz wird in der Schule jedoch kaum thematisiert oder geübt. Die Vermittlung von Fachinhalten steht bis heute deutlich im Vordergrund schulischen Lernens. Implizit wird das Wissen über angemessene Lernstrategien und Lerntechniken in der Schule vorausgesetzt. Schon Weinert (1996) fordert jedoch, dass selbstgesteuertes und intentionales Lernen nicht nur als Voraussetzung, sondern auch als Mittel und Ziel von Unterricht zu verstehen. Diese Position wird heute weitgehend geteilt. Der Schule wird ein zentraler Stellenwert bei der Entwicklung von Lernstrategien und Lerntechniken zugeschrieben. Programme, deren Ziel die Förderung selbstregulatorischer Kompetenzen im Schulunterricht ist, werden an vielen Orten entwickelt und publiziert (vgl. z. B. Landmann & Schmitz 2007). In Lehrplänen und in den von der Kultusministerkonferenz der Länder verabschiedeten Bildungsstandards wird die Vermittlung von Lernstrategien im Unterricht gefordert, die Schülerinnen und Schüler sollen das „Lernen lernen“. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass noch nicht alle Grundschulkinder in der Lage sind, metakognitiv ihr Lernen zu planen, zu überwachen und zu kontrollieren. Erst im Alter von etwa zehn Jahren kann bei Kindern eine Zunahme von Tiefenstrategien und metakognitiven Strategien beobachtet werden, diese Strategien werden jedoch häufig nicht von einem Kontext in andere Kontexte übertragen (Artelt 2006). Die mangelnde Generalisierung von bekanntem Wissen auf neue Aufgaben wird in der Literatur als träges Wissen bezeichnet (Renkl 1996). Bei der Förderung von Lernstrategien in der Schule ist deshalb ein besonderes Augenmerk auf den Transfer des Gelernten auf neue Kontexte und Anforderungen zu legen.
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Welche Möglichkeiten haben Lehrerinnen und Lehrer selbstreguliertes Lernen im Unterricht zu fördern? Wie kann die Förderung selbstregulierten Lernens in den Unterrichtsalltag integriert werden? Eine konsequente Förderung selbstregulierten Lernens dürfte in vielen schulischen Kontexten einen Perspektivenwechsel voraussetzen. Nicht mehr die Vermittlung von Wissensinhalten steht beim selbstregulierten Lernen im Vordergrund, sondern die Initiierung, Steuerung und Kontrolle von Lernprozessen wird heute als eine der wesentlichen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern verstanden. Die Rolle der Lehrperson bei der Förderung des selbstregulierten Lernens wird deshalb vor allem in der Ge staltung der Lernumgebung und des Unterrichts, in der Formulierung von Selbstregulation fördernden Aufgabenstellungen und Arbeitsaufträgen und in der Vorbildfunktion gesehen (Hertel 2007). Selbstgesteuertes Lernen kann durch verschiedene Unterrichtsmethoden gefördert werden. Offener Unterricht, Projektunterricht, Stationenlernen oder Gruppenarbeit sind geeignet, selbstgesteuertes Lernen und insbesondere metakognitive Lernstrategien zu fördern, wenn den Kindern Raum gegeben wird, eigene Lernziele zu formulieren, die Aufgabenbearbeitung selbst zu planen und zu gestalten und Möglichkeiten zur Kontrolle und zur Regulation des eigenen Lernens geboten werden (Moschner & Wagener 2006). Zudem ist die Lehrperson ein wichtiges Rollenmodell. Sie kann Lerntechniken oder Lernstrategien zeigen oder eigene Überlegungen und Gedanken laut verbalisiert, um Steuerungsprozesse ihres eigenen Lernens zu verdeutlichen. Auch ältere oder kompetentere Kinder können z. B. im jahrgangsübergreifenden Unterricht Rollenmodelle sein. Lernstrategien sind wesentliche Elemente selbstregulierter Lernformen. Sie werden als Handlungssequenzen zur Erreichung von Lernzielen definiert (Friedrich & Mandl 1992) und stellen komplexe kognitive Operationen dar, die den aufgabenspezifischen Prozeduren übergeordnet sind. Lernstrategien sind bewusst gesteuert und im Gedächtnis als abrufbare Handlungspläne gespeichert. Es wird angenommen, dass es sich bei den verschiedenen Mustern von Lernstrategien um stabile interindividuelle Differenzen handelt, die in unterschiedlichen Bereichen zum Tragen kommen. Lernstrategietrainings kommen schon seit vielen Jahren in schulischen und universitären Kontexten zum Einsatz (Seel 2000). Einen guten Überblick über diese Trainings geben Brunstein und Spörer (2006) sowie Klauer und Leutner (2007). Ziel dieser Verfahren ist es, effektive Lernstrategien bewusst zu machen und zur Reflexion und Exploration des eigenen Lernverhaltens anzuregen. Als ein sehr bekanntes Verfahren zur Verbesserung des Textlernens gilt die von Robinson 1961 publizierte SQ3R-Methode (Survey, Question, Read, Recite, Review). Die Methode beinhaltet metakognitive Strategien, die zur Kontrolle
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und Evaluation der eigenen Lernfortschritte auffordern. Die Effektivität der SQ3R-Methode konnte vielfach belegt werden. Auch die Methode der verbalen Selbstinstruktion von Meichenbaum (1977) zielt auf eine Vermittlung metakognitiver Fertigkeiten ab. Bei dieser Methode wird den Lernenden der Verlauf eines Problemlöseprozesses von einem Trainer durch lautes Denken demonstriert. Demonstriert werden die Ausrichtung der Aufmerksamkeit, das Abwägen verschiedener Lösungsschritte und die Kontrolle der Angemessenheit der gewählten Lösung. Die Lernenden sollen anschließend eine ähnliche Aufgabe bearbeiten und dabei die modellierten Vorgehensweisen übernehmen. Die Anlehnung an das Modell wird dabei die Selbstinstruktion schrittweise ausgeblendet (Kommentare des Trainers, lautes Denken, leises Mitsprechen, verdecktes inneres Sprechen). Auch neuere Trainings zum Aufbau metakognitiver Lernstrategien arbeiten mit ähnlichen Methoden. Das Trainingsprogramm von Zimmerman (1998) zeichnet sich durch eine zyklische Vorgehensweise aus. Es besteht aus vier Teilkomponenten, die auf verschiedene Lernziele (Aufsatz, Mathematikarbeit oder Ähnliches) zugeschnitten werden können. Selbstbeobachtung, die Formulierung konkreter Lernziele, die Auswahl geeigneter Lernstrategien und die Metakognition (Überwachung, Bewertung der Zielerreichung) werden trainiert. Zudem werden Denkprotokolle erstellt, bei denen die Lernenden während der Aufgabenbearbeitung alle Gedanken aussprechen sollen, mit denen sie sich gerade beschäftigen um so einen Einblick in den Lernprozess zu erhalten (Winne & Hadwin 1998). Das Programm „Wir werden Textdetektive“ von Gold, Mokhlesgerami, Rühl und Souvignier (2004) richtet sich an Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klassenstufen und vermittelt sieben Strategien zur Förderung der Lesekompetenz: Wichtiges unterstreichen, Wichtiges zusammenfassen, Überschriften beachten, bildlich vorstellen, Umgang mit Textschwierigkeiten, Verstehen prüfen und Behalten überprüfen. Das Programm lässt sich problemlos im Unterricht einsetzen. Der Leistungszuwachs der Schülerinnen und Schüler ist umso höher, je mehr die Lehrpersonen ihren Unterricht auch in der Folgezeit strategieorientiert durchführen. Schülerinnen und Schüler, die deutliche Leistungszuwächse im Textverstehen nach dem Training haben, zeigen im Anschluss an die Programmdurchführung beim Lösen von Textaufgaben ebenfalls hohe Leistungszuwächse (Mokhlesgerami, Souvignier, Rühl & Gold 2007). Im Rahmen einer Metaanalyse konnten Hattie, Biggs und Purdie bereits 1996 zeigen, dass die Förderung selbstregulierten Lernens gerade bei Grundschulkindern deutlich positive Auswirkungen hat. Ältere Schülerinnen und Schüler profitieren dagegen von solchen Trainings in geringerem Ausmaß. Es kann vermutet werden, dass viele ältere Schülerinnen und Schüler Lernstrategien
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schon spontan anwenden, sodass ihnen ein Teil der trainierten Strategien ohnehin bekannt ist.
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Förderung der Lernmotivation
Während bei den Ansätzen zur Förderung des Lernens und des Denkens kognitive und metakognitive Aspekte des Lernens und des Denkens verbessert werden sollen, stehen bei Trainingsprogrammen zur Förderung der Lernmotivation emotionale und motivationale Komponenten des Lernens im Mittelpunkt. Dahinter steht die Überzeugung: Wer hoch motiviert ist, lernt besser und effizienter. Motivation wird in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Heckhausen (1989) als ein hypothetisches Konstrukt verstanden, mit dem die „Richtung, Dauer und Intensität“ von Verhalten erklärt werden kann. Das Ausmaß der Lernmotivation hat also einen Einfluss darauf, ob jemand überhaupt lernt, wie lange gelernt wird und wie intensiv das Lernen betrieben wird. Die konkreten Beweggründe für gezeigte Lernaktivitäten können jedoch deutlich unterschiedlich sein. Manche Menschen lernen, weil sie gute Noten oder gute Beurteilungen bekommen möchten, andere fürchten sich vor Misserfolgen und lernen deshalb besonders intensiv. Aber auch das Interesse am Thema oder der Spaß am Kompetenzgewinn können wichtige Beweggründe für dauerhaftes und intensives Lernverhalten sein. Im Alltag treten solche Gründe meistens nicht isoliert sondern im Zusammenspiel auf, wenngleich eine bestimmte Form der Motivation häufig im Vordergrund steht. Diese verschiedenen Formen der Motivation werden häufig auch als „intrinsische“ und „extrinsische“ Motivation bezeichnet. Intrinsisch motivierte Handlungen werden durchgeführt, weil sie spannend, interessant oder herausfordernd erscheinen (vgl. Schiefele & Köller 1998). Extrinsisch motivierte Handlungen haben eine instrumentelle Funktion. Sie werden wegen der antizipierten Konsequenzen (Belohnungen oder Bestrafungen) durchgeführt. Motivationsförderprogramme zielen meist darauf ab, überdauernde motivationale Dispositionen zu verändern. Nicht intendiert wird mit diesen Programmen, kurzfristig das Interesse an einem Lerngegenstand zu wecken oder einen Wettbewerb unter den Schülern zu initiieren. Insbesondere die Förderung der Leistungsmotivation steht bei vielen der im Folgenden dargestellten Förderprogramme im Zentrum der Aufmerksamkeit.
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3.1 Förderung der Leistungsmotivation Viele Programme zur Förderung der Leistungsmotivation gehen auf die Bochumer Gruppe um Heckhausen zurück. Heckhausen (1974, 1989) konzipierte in seinem Selbstbewertungsmodell das Leistungsmotiv als dynamisches Konstrukt, das sich aus drei zentralen Teilprozessen zusammensetzt: (1) das Setzen von aufgabenbezogenen Zielen, (2) die Ursachenzuschreibungen bei Erfolg bzw. Misserfolg (Fähigkeit, Anstrengung, Aufgabenschwierigkeit, Pech/Glück) und (3) die daraus resultierenden Selbstbewertungen (insbesondere Stolz vs. Scham). Diese drei Teilprozesse beeinflussen sich gegenseitig und führen dazu, dass die jeweilige Ausprägung des Leistungsmotivs sich selbst verstärkt. Erfolgszuversichtliche Personen bevorzugen mittelschwere Aufgaben, da sie bei diesen Aufgaben einen Zuwachs eigener Kompetenz besonders gut beobachten können. Erfolge werden bei mittelschweren Aufgaben der eigenen Fähigkeit und der eigenen Anstrengung zugeschrieben, Misserfolgen werden vor allem mit mangelnder Anstrengung oder Pech erklärt. Diese Attributionen sind günstig, weil sie eine positive Selbstbewertung nach Erfolg und eine gemäßigt negative Selbstbewertung nach Misserfolg bedingen. Die positive Selbstbewertung hat zur Folge, dass Leistungssituationen insgesamt als angenehm erlebt werden und die Erfolgsorientierung somit gestärkt wird. Misserfolgsängstliche Personen vermeiden dagegen realistische Zielsetzungen. Wenn sie die Wahl haben, entscheiden sie sich für zu leichte oder zu schwierige Aufgaben und verhindern so, dass sie ihre Erfolge oder Misserfolge mit Anstrengung in Verbindung bringen können. Erfolge werden der niedrigen Aufgabenschwierigkeit oder (bei sehr schwierigen Aufgaben) dem Glück zugeschrieben. Misserfolge werden durch hohe Aufgabenschwierigkeit oder durch mangelnde eigene Fähigkeiten erklärt. Motivational sind diese Ursachenzuschreibungen sehr dysfunktional, da eine Erhöhung der Anstrengung nach Misserfolgen nicht als erfolgversprechend angesehen wird. Zudem führt das Attributionsmuster Misserfolgsmotivierter zu einer negativen Selbstbewertung, die dazu beiträgt, die vorhandene Misserfolgsorientierung weiter zu verstärken. Aufbauend auf diesen Modellvorstellungen erprobte die Bochumer Forschungsgruppe um Heckhausen eine Reihe von Motivänderungsprogrammen, deren zentrale Merkmale das Setzen realistischer Ziele, die angemessenen Ursachenerklärungen für Erfolg und Misserfolg und der Aufbau günstiger Selbstbewertungen waren (vgl. Krug 1983; Rheinberg & Krug 2004). Misserfolgsängstliche und leistungsschwache Schülerinnen und Schüler wurden außerhalb des normalen Unterrichts trainiert. In den Kursen wurden zunächst schulferne Aktivitäten (Wurf- und Geschicklichkeitsspiele) eingesetzt, die später von schulnahen Aktivitäten (Rechenspiele und Übungsarbeiten) abgelöst wurden. Viele
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dieser Trainings führten zu positiven Trainingseffekten. Die Teilnehmer fühlten sich im Anschluss an die Trainings erfolgszuversichtlicher, tüchtiger und weniger ängstlich. Diese Effekte ließen sich jedoch nicht auf den normalen Schulalltag übertragen und die erhofften Leistungssteigerungen blieben aus. Krug (1983) führte derartige Misserfolge auf den unrealistischen Trainingskontext zurück. Realistische soziale Vergleiche, wie sie in normalen Schulklassen stattfinden, wurden in den Trainings ausgeblendet, traten aber bei der Rückkehr in den regulären Schulunterricht sofort wieder auf. Inzwischen gibt es jedoch auch Beispiele, wie solche oder ähnliche Programme in den Schulunterricht integriert werden können (Rheinberg & Krug 2004). Auch bei diesen Programmen wurden positive Effekte beobachtet: die Misserfolgsfurcht der Schülerinnen und Schüler ging zurück, ihre Zielsetzungen wurden realistischer und die Prüfungsängstlichkeit nahm ab. Einschränkend muss allerdings angemerkt werden, dass solche Interventionen nur unter bestimmten Rahmenbedingungen möglich sind. Die Lernaufgaben müssen sich in klar abgrenzbare, überschaubare und eindeutig schwierigkeitsgestaffelte Teilaufgaben zerlegen lassen. Erfolg und Misserfolg müssen eindeutig feststellbar sein und das Leistungsergebnis muss tatsächlich durch momentane Anstrengung und punktuelles Üben zu beeinflussen sein (Rheinberg 1995). Lernkontexte dieser Art sind vermutlich in den höheren Klassenstufen immer seltener zu finden, da kumulierte Wissenslücken in höheren Klassenstufen kaum durch punktuelles Üben geschlossen werden können.
3.2 Reattributionstrainings Im Mittelpunkt von Reattributionstrainings stehen Ursachenzuschreibungen von Erfolg und Misserfolg. Den Trainings liegt die Annahme zugrunde, dass die Handlungsfähigkeit einer Person durch die Veränderung ungünstiger selbstbezogener Kognitionen beeinflusst werden kann. Ziegler und Heller (1998) entwickelten ein Reattributionstraining, das im Unterricht eingesetzt werden kann. Die Autoren orientieren sich am Vierfelderschema der Attribution von Weiner (1986) mit den beiden Dimensionen Lokalität und Stabilität. In diesem Modell können in Leistungssituationen Erfolge oder Misserfolge verschiedenen Ursachen zugeschrieben werden: (1) Fähigkeit (internal – stabil), (2) Anstrengung (internal – variabel), (3) Aufgabenschwierigkeit (external – stabil) und (4) Zufall bzw. Glück/Pech (external – variabel). Erfolgs- und Misserfolgserwartungen hängen in diesem Modell von der Stabilitätsdimension ab, während die Selbstbewertung im Wesentlichen von der Lokalitätsdimension beeinflusst wird. Um bei misserfolgsmotivierten Personen
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eine erfolgszuversichtliche Attribution zu erreichen, müssen diese lernen, Erfolge internen Faktoren zuzuschreiben und Misserfolge durch externe oder variable Faktoren zu erklären. In diesem Zusammenhang erhalten Anstrengungsattributionen einen zentralen Stellenwert. Wird nach Misserfolg auf mangelnde Anstrengung attribuiert, dann hat das klare Konsequenzen für das weitere Verhalten: die Anstrengung muss beim nächsten Mal intensiviert werden (Ziegler & Schober 2001). Das Reattributionstraining von Ziegler und Heller (1998) hat – basierend auf den oben ausgeführten Überlegungen – das Ziel, externale Attributionen für Erfolg (Aufgabenleichtigkeit, Glück) und stabile Attributionen für Misserfolg (mangelnde Fähigkeit, Aufgabenschwierigkeit) zu verhindern. Sowohl für Erfolg als auch Misserfolg sollten vor allem Anstrengungsattributionen gefördert werden. Wie schon bei der Förderung des selbstregulierten Lernens kommt auch bei Reattributionstrainings dem Rollenvorbild der Lehrperson eine hohe Bedeutsamkeit zu. Als Techniken haben sich Modellierungs- und Kommentierungstechniken bewährt. Bei der Modellierungstechnik zeigt die Lehrkraft günstige Attributionsstile im Unterricht. Sie attribuiert Misserfolge auf mangelnde Anstrengung. Bei der Kommentierungstechnik werden Leistungsergebnisse im Sinne günstiger Attributionsstile kommentiert oder selektiv verstärkt. Zum Beispiel könnte eine Lehrerin oder ein Lehrer unter eine sehr gute Klassenarbeit schreiben, die Anstrengung beim Lernen habe sich gelohnt. Bei Misserfolgen könnten positive Entwicklungspotentiale signalisiert werden (z. B. „Lies Dir das zu Hause nochmals durch und probiere ein paar Übungsaufgaben. Du wirst sehen, dass Du dann die Aufgaben ohne Schwierigkeiten beherrscht.“). So soll verhindert werden, dass gute Leistungsergebnisse auf Zufall und schlechte Leistungsergebnisse auf mangelnde Fähigkeit zurückgeführt werden. Ziegler und Heller (1998) konnten die Effektivität ihres Reattributionstrainings empirisch gut belegen. Im Rahmen einer groß angelegten Untersuchung wurde am Schuljahresbeginn mit den beteiligten Lehrkräften ein Lehrertraining durchgeführt. Diese erhielten Informationen zur Attributionstheorie und lernten, das durchzuführende Training einzusetzen und zu erproben. Weiterhin wurde ihnen eine Informationsbroschüre und ein sogenannter „Phrasenkatalog für die Kommentierung der Schülerleistungen“ zur Verfügung gestellt. Als Reattributionstechniken in den Schulklassen wurden verbale und schriftliche Kommentierungen im Physikunterricht eingesetzt, die den Schülerinnen und Schülern ein informatives Feedback zu ihrem Leistungsstand geben sollten. Besonderes häufig wurde ein internal-variables Feedback nach Leistungsrückmeldungen gegeben. Zusätzlich zu den Anstrengungsrückmeldungen wurden den Schülerinnen
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und Schülern möglichst konkrete Handlungsanweisungen gegeben, mit welchen Lernstrategien oder Arbeitshaltungen sie einen Erfolg erzielen können. Jungen und Mädchen mit ungünstigen Ausgangsattributionsmustern profitierten gleichermaßen von dem Training. Insbesondere in Erfolgssituationen wurden unerwünschte Attributionsmuster reduziert und günstige Attributionsmuster aufgebaut. Die Schülerinnen und Schüler der Trainingsgruppe wiesen höhere Kontrollerwartungen auf, waren motivierter und interessierter. Zudem konnten die Schulleistungen verbessert werden und der üblicherweise beobachtete Interessenverlust im Schuljahresverlauf abgebremst werden. Arbeitsvermeidungstendenzen wurden reduziert.
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Förderung einer positiven Fehlerkultur
Fehler haben in Lernsituationen eine wichtige Bedeutung. Manchmal kann das Richtige nur in Abgrenzung zum Falschen erkannt werden. Nur durch die Analyse von Fehlern in Lernprozessen können manche Lernsituationen effektiver gestaltet werden. Obwohl diese Erkenntnisse nicht neu sind, lässt sich im schulischen Unterricht häufig eine „Fehlervermeidungskultur“ beobachten. Schülerinnen und Schüler versuchen ängstlich, alle Fehler zu vermeiden (um nicht als dumm oder unbegabt zu erscheinen), Lehrerinnen und Lehrer versuchen über Fehler schnell hinwegzugehen und im Zweifelsfall durch das Aufrufen eines anderen Schülers schnell über eine Fehlersituation hinweg zu kommen. Gefürchtet werden mögliche emotionale Konsequenzen, die bei den Personen, die einen Fehler gemacht haben, zu weiteren Beeinträchtigungen führen könnten. Auf der anderen Seite lässt sich in der aktuellen pädagogischen Literatur inzwischen eine Tendenz zum „Lob des Fehlers“ erkennen. Es zeigt sich, dass Menschen, die sich mit ihren Fehlern im eigenen Lerngeschehen produktiv auseinandersetzen, langfristig höhere Lernleistungen erzielen können. Mit den emotionalen und pädagogischen Konsequenzen von Fehlern haben sich Oser und Spychiger (2005) und Spychiger, Oser, Hascher und Mahler (1999) beschäftigt. Schon der Titel ihres Buches „Lernen ist schmerzhaft“ deutet darauf hin, dass es häufig ein mühsamer und emotional schwieriger Weg ist, durch Fehler und Irrtümer zum Richtigen zu kommen. Die Autoren definieren Wissen und „negatives Wissen“ als zwei Seiten einer Medaille, die bestimmen, wie wir die Welt sehen. Negatives Wissen ist dabei als ebenso bedeutsam angesehen, wie positives Wissen. Unterschieden werden vier Formen negativen Wissens: (1) deklaratives negatives Wissen, (2) prozedurales negatives Wissen, (3) strategisches negatives Wissen und (4) konzeptuelles negatives Wissen. Durch deklaratives negatives Wissen erkennen wir, was etwas nicht ist, durch prozedu-
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rales negatives Wissen wird uns deutlich, wie etwas nicht funktioniert, unser strategisches negatives Wissen zeigt uns, welche Strategien nicht zur Lösung eines Problems führen und das konzeptuelle negative Wissen lässt uns erkennen, welche Zusammenhänge nicht stimmen. Im Lernprozess ist negatives Wissen ebenso bedeutsam wie positives Wissen und darf deshalb nicht verdrängt werden. Erst die Erkenntnis des Falschen oder des Gegensätzlichen setzt Abgrenzungsprozesse in Gang. Negatives Wissen entsteht durch Fehler (Oser und Spychiger meinen damit Erfahrungen negativer Art) und durch Konstruktions- und Abgrenzungsprozesse. Um dieses Wissen aufzubauen ist der richtige und sorgfältige Umgang mit Fehlern von entscheidender Bedeutung. Wer seine Fehler nicht erkennt, kann aus ihnen nicht lernen und sein Verhalten nicht adaptiv ändern. Wichtig ist die Einsicht, dass etwas falsch definiert, falsch abgebildet, falsch entwickelt oder falsch abgelaufen ist. Fehler, Falsches oder Irrtümer müssen deshalb einer Person bewusst werden, um negatives Wissen aufzubauen. Wenn falsches Denken keine Konsequenzen hat, dann ist es auch nicht wirksam und führt nicht zu den notwendigen Lernprozessen. Das falsche Denken setzt sich fort und kann auch nicht als Schutzwissen wirksam werden. Die Frage, wie wir aus unseren Fehlern lernen können und wie aus unseren Fehlern ein Schutzwissen oder ein inneres Warnsystem entsteht, ist jedoch nicht leicht zu beantworten und nur wenige empirische Studien beschäftigen sich mit der Analyse von Fehlersituationen. Oser und Spychiger (2005) heben in diesem Zusammenhang die Bedeutsamkeit der Fehlerkultur, also den subtilen Umgang mit Fehlern deutlich hervor. Nur wenn den Lernenden bewusst gemacht wird, dass sie etwas falsch gemacht haben, können sie aus ihren Fehlern lernen. Zudem müssen sie erkennen können, was stattdessen richtiger gewesen wäre. Ideal sind immer wiederkehrende Situationen, in denen das Richtige geübt werden kann. Von entscheidender Bedeutung ist es zudem, dass Personen, die Fehler machen, nicht beschämt werden. Scham entsteht, wenn Menschen in sozialen Situationen oder in der Öffentlichkeit bloßgestellt werden. Sie verletzt das Ehrgefühl. Die so bloßgestellten Personen entwickeln die Angst, dass sie in Zukunft wieder in so eine Situation kommen könnten. Diese Angst verhindert die Verarbeitung von Fehlerwissen zu Schutzwissen. Die Person ist mehr damit beschäftigt, ihr beschädigtes Selbstwertgefühl zu kitten, als sich mit dem Fehler zu beschäftigen. Es zeigt sich immer wieder, dass selbst erwachsene Personen lange nach dem Ende ihrer Schulzeit sehr genau von unangenehmen Situationen erzählen können, in denen sie wegen eines Fehlers vor der Klasse bloßgestellt wurden. Nicht alle unsere Fehler führen also dazu, dass negatives Wissen generiert wird. Intelligentes Fehlermachen ist nicht immer leicht und das Richtige muss im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten einer Person liegen. Entstehen Fehler in
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Überforderungssituationen, ist die Barriere für das Richtige in dieser Situation zu hoch. Es kann von der Person nicht geleistet werden, deshalb muss dann eher die Situation geändert werden. Schutzwissen entwickelt sich aber nicht nur durch das Lernen aus eigenen Fehlern. Stellvertretend kann auch aus den Fehlern anderer gelernt werden, die dann als negative Modelle wirken. Lernen aus Planspielen oder im Simulator sind weitere Möglichkeiten, um Schutzwissen aufzubauen. Durch das Verstehen der Fehler und die kognitiven und emotionalen Reaktionen bildet sich so das Schutzwissen heraus. Wie können Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht eine positive Fehlerkultur entwickeln? Oser und Spychiger (2005) schlagen zehn Kriterien vor, die in solchen Situationen berücksichtigt werden sollten: Lehrpersonen sollten in Fehlersituationen (1) die Lernenden nicht bloßstellen sondern (2) ermutigend und fürsorglich reagieren. Sie sollten (3) beim Auftreten von Fehlern nicht negativ emotional reagieren, die Mitschüler zu Hilfsbereitschaft, Kooperation, Disziplin und Fürsorge anregen und (5) die Schülerinnen und Schüler nach Fehlern ermuntern, über alternative Lösungswege nachzudenken. (6) Negative emotionale Gefühle wie Angst, Schuld und Scham müssen in Fehlersituationen vermieden werden. (7) Wichtig ist auch, dass die Lehrperson eine hohe Bereitschaft für die Auseinandersetzung mit Fehlern zeigt. Es sollte ihr Spaß machen, den Fehlern auf die Spur zu kommen. Zudem sollte sie eine hohe Fehlertoleranz (8) zeigen; es soll deutlich gemacht werden, dass Fehler erlaubt sind. Da Lehrpersonen immer als Modelle wirken, ist es wichtig, dass sie (9) eigene Fehler nicht vertuschen, sondern als wichtige Lerngelegenheit erkennen. (10) Schließlich ist es wichtig, im Lernprozess genügend Zeit für mögliche Fehler und deren Korrekturen zu reservieren. Übungs- und Repetitionsphasen müssen klar erkennbar sein. Empirische Ergebnisse, die die vermutete positive Wirkung einer so veränderten und verbesserten Fehlerkultur auf das Lernen und die Leistung empirisch belegen können, liegen leider bisher noch nicht vor. Das Thema rückt jedoch zunehmend weiter in den Mittelpunkt und es bleibt abzuwarten, welche kurzund langfristigen Effekte mit einer veränderten Fehlerkultur einhergehen.
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Resümee und Ausblick
In modernen Wissensgesellschaften ist lebenslanges Lernen die einzige Chance, sich unter schnell verändernden Bedingungen zurecht zu finden. Deshalb ist es wichtig, Lernformen zu entwickeln und zu fördern, die geeignet sind, die Anforderungen der Zukunft zu bewältigen. Autonomie und Kooperationsfähigkeit, hohe Motivation und Flexibilität werden neben dem Fachwissen immer mehr an
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Bedeutung gewinnen. Selbstgesteuertem Lernen und die Aufrechterhaltung einer hohen Lernmotivation können die notwendigen Lern- und Bildungsprozesse unterstützen und flankieren. Konstruktivistische Lernansätze, die Probleme in ihrer Komplexität aufgreifen und Bezüge zur Alltagswelt herstellen, sind in besonderer Weise geeignet, solchen zukünftigen Anforderungen zu begegnen. In modernen Gesellschaften wird es aber auch zunehmend wichtiger, mit Unsicherheiten zu leben, Ungewissheiten zu ertragen und sich auch in neuen Situationen zurecht zu finden. Wissensbestände ändern sich so schnell, dass der Rückgriff auf bisher Bekanntes nicht immer weiterführend ist. In solchen Gesellschaften haben Menschen mit einer höheren Ambiguitätstoleranz Vorteile, weil sie mit Unsicherheiten umgehen können. Sie sind allem Neuen gegenüber aufgeschlossen und sind ständig bestrebt, neue Erkenntnisse zu gewinnen und sich weiterzuentwickeln. Eine positive Fehlerkultur kann diese Ambiguitätstoleranz fördern. Nur wer keine Angst davor hat, Fehler zu machen, neue Wege auszuprobieren und verschiedene Optionen gegeneinander zu testen, wird mit diesen neuartigen Situationen gut umgehen können. Schon heute kommen wir nicht mehr ohne selbstgesteuertes und selbstmotiviertes lebenslanges Lernen aus. Wer davon ausgeht, dass jeder Fehler ein Ausdruck mangelnder Intelligenz oder mangelnder Begabung ist, wird es deshalb schwer haben. In Kindergarten, Schule und Hochschule ist es wichtig, auf dieses lebenslange Lernen vorzubereiten und dabei Fehler, Misserfolge aber vielleicht auch persönliche Krisen als wichtige Lerngelegenheiten wertzuschätzen, die geeignet sind, für zukünftige Situationen Schutzwissen bereit zu stellen.
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Umgang mit ängstlichen Schülern Tatiana Czeschlik
Lehrer haben in ihren Schulklassen häufig Kinder und Jugendliche, die sowohl in ihren Schulleistungen wie in der sozialen Interaktion mit ihren Mitschülern und Lehrern problematisch sind. In der Regel stellt in diesem Zusammenhang Aggressivität das größere Problem dar, jedoch wird häufig übersehen, dass Ängstlichkeit, obwohl sie nicht so augenfällig wie aggressives Verhalten ist, bei ca. 10 % der Schüler zu Leidensdruck und „underachievement“ führt. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über Symptome der Ängstlichkeit, diagnostische Möglichkeiten, Geschlechtsunterschiede, Konsequenzen für den Schulalltag, Angstarten (Schüchternheit, Prüfungsangst und Schulangst) und Lehrerstrategien für den Umgang mit ängstlichen Kindern. Ängstlichkeit / Angst bei Kindern und Jugendlichen wird seit Jahrzehnten in der pädagogisch-psychologischen Forschung thematisiert. Der folgende Beitrag möchte die Ängstlichkeit unter schulpsychologischer Perspektive darstellen und dabei zu handlungsrelevanten Einsichten verhelfen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Ängste der Kinder und der Jugendlichen die Schule betreffen: Die Schule bildet nach der Familie (wenn nicht in manchen Fällen sogar vor ihr) den Mittelpunkt für soziale Aktivitäten und ist ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche ein Großteil ihrer Zeit verbringen und häufig schulischen Leistungsdruck erfahren. Gleich vorweg eine begriffliche Unterscheidung: „Angst“ bezieht sich auf eine emotionale Reaktion in einer konkreten Situation (Zustand, „state“), während man mit „Ängstlichkeit“ die Eigenschaft einer Person bezeichnet, über einen längeren Zeitraum (Monate, Jahre, ja, sogar über mehrere Lebensphasen hinweg) in verschiedenen Situationen eher und schneller mit Angst zu reagieren (Disposition, „trait“). Angst wird als „ein phylogenetisch wie ontogenetisch früh auftretender Spezialfall eines Erregungszustandes und Spannungszustandes mit spezifischen somatischen, psychischen und behavioralen Reaktionen und Empfindungen“ (Rost & Schermer 2006) definiert, bzw. als ein „unangenehmes Gefühl, das in Situationen auftritt, die als bedrohlich eingeschätzt werden“ (Schwarzer 1993: 88) bezeichnet. Angst kann sehr unterschiedliche Auslöser haben. Deswegen wird Angst üblicherweise nach den Auslösesituationen klassifiziert. Gemeinsam ist diesen Auslösesituationen, dass sie als bedrohlich wahr-
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genommen werden. Sie stellen eine Bedrohung für die physische Unversehrtheit, wie z. B. Angst vor dem Ertrinken, „Höhenangst“ (am Rande eines Abgrundes stehen), Existenzangst und / oder für das Selbstwertgefühl (z. B. sich vor anderen blamieren) dar. Angstgefühle müssen nicht auf die reale angstauslösende Situation beschränkt sein. Bereits das Erinnern an oder die Erwartung eine(r) bedrohliche(n) Situation, selbst wenn diese nur eingebildet ist, kann Angstgefühle hervorrufen. Angst existiert in der subjektiven Wahrnehmung, d. h., dass eine bestimmte (angstauslösende) Situation nicht zwangsläufig bei allen Personen die gleichen (Angst-) Reaktionen hervorruft, „sondern bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Erfahrungen des Individuums sind dafür verantwortlich zu machen, ob ein Angstreiz überhaupt wahrgenommen und wie er schließlich verarbeitet wird“ (Jacobs & Strittmatter 1979: 43). Folgende Aspekte der Ängstlichkeit sind für den pädagogischen Alltag relevant:
Angstsymptome, Konsequenzen der Angst: Relevanz für den schulischen Kontext, Angstauslöser, Abbau von Ängstlichkeit: Verhaltensmodifikation.
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Angstsymptome: Woran erkennt man ängstliche Schüler?
1.1 Angstsymptome In jeder Schulklasse trifft man ängstliche Kinder an: manche zeigen Angstsymptome nur, wenn eine Prüfung ansteht, andere dagegen scheinen täglich unter dem Druck zu leiden, der für sie aus den sozialen Interaktionen mit Mitschülern und Lehrern entsteht. Ängstliche Kinder und Jugendliche fallen durch folgende Verhaltenweisen auf (s. u. a. Crozier 1997; Kagan 1994; Dautermann, Schneider & Krumpholz, 1988; Stöckli 2004): Sie reden kaum, sie nehmen selten am Unterricht aktiv teil und wenn sie es tun (müssen), ist ihre Stimme leise und evtl. auch zittrig. Sie vermeiden dabei häufig den Blickkontakt, sind motorisch nervös, zappelig, zupfen z. B. dauernd an ihrer Kleidung herum oder bewegen nervös die Finger / Hände. Lesen sie etwas vor, sind sie schlecht zu verstehen, sie verhaspeln sich. Müssen sie Leistung in Anwesenheit der Gruppe bringen, erröten sie. Sie möchten die für sie unangenehme Situation, wenn sie sich schon nicht ganz vermeiden lässt, so schnell wie möglich beenden. Nicht selten sind sie den Tränen nahe. Diese äuße-
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ren Merkmale der Angst, durch die Umgebung wahrnehmbar, werden bei ängstlichen Kindern und Jugendlichen von körperlichen (z. B. Herzklopfen, schwitzende Hände, Harndrang) und kognitiv-emotionalen Symptomen (Denkblockade, Angstgefühle, negative Gedanken, Unwohlsein) begleitet. Ängstliche sind vorsichtiger, weniger risikobereit, gehemmt. Bei Angst, wie bei jeder anderen Emotion, lassen sich demnach Symptome in jeweils verschiedener Ausprägung auf drei Ebenen feststellen:
körperliche Ebene (Physiologie, Hormone), kognitive Ebene (Gedanken), Verhaltensebene (nervöses Herumhantieren; Meidung einer Situation).
Diese Symptome korrelieren mit anderen Persönlichkeitsvariablen. Strittmatter (1993: 12) beschreibt die „schulängstliche Schülerpersönlichkeit“ folgendermaßen: „Schulängstliche Schüler sind ... davon überzeugt, dass Anstrengung sich nicht auszahlt, sie halten sich für ausgemachte „Pechvögel“; sie schätzen ihre eigene Leistungsfähigkeit – oft über den schulischen Bereich hinaus – generell negativ ein; sie machen sich ein negatives Bild von sich selbst und glauben, dass auch ihre Mitmenschen nicht viel von ihnen halten; hinzu kommen ein geringes Interesse an der Schule und ungünstige häusliche Arbeitsbedingungen.“
Für ängstliche Kinder und Jugendliche sind außerdem folgende Eigenschaften festgestellt worden (s. z. B. Haferkamp & Rost 1980; Hembree 1988, Jacobs & Strittmatter 1979):
Sie weisen tendenziell niedrigere Intelligenzwerte auf. Sie erzielen schlechtere Schulnoten. Sie haben eine schlechtere Meinung über sich selbst (niedrige Werte im Selbstkonzept, mangelndes Selbstvertrauen, erhöhte Bereitschaft, sich selbst zu kritisieren). Sie fehlen häufiger, sind häufiger krank, sie neigen wahrscheinlich eher dazu, psychosomatische Beschwerden zu entwickeln.
Diese Korrelate sind jedoch als solche zu verstehen: Sie kovariieren mit Ängstlichkeit, dürfen aber nicht ohne weiteres als Ursache interpretiert werden. Angst erlebt jeder einmal – aber es gibt offensichtlich Individuen, die dazu neigen, in vielen Situationen fast immer mit Angst zu reagieren. Diese „ängstliche“
346
Tatiana Czeschlik
Gruppe ist aber nicht einheitlich: Sie kann sich nach der Intensität der erlebten Angst unterscheiden. Es gibt also auf der einen Seite Personen, die selten Angst haben, und andererseits gibt es Menschen, die häufig Angst erleben. Bei beiden Gruppen kann die Angst, wenn sie auftritt, unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Eine völlig angstfreie Kindheit und Jugend zu durchlaufen, wäre ein „anomaler“ Entwicklungsverlauf. Andererseits kann eine hohe Angstausprägung Kinder und Jugendliche daran hindern, die für eine gesunde Entwicklung notwendigen Erfolgserlebnisse im sozialen oder im Schulleistungsbereich zu erfahren und sie kann mitunter eine starke psychische Belastung darstellen. Eine extreme Ausprägung kann in Angstformen wie Phobien (unangemessene Angstreaktionen auf bestimmte Auslöser) und Panik münden. Tonge (1988, nach Schellhaas 1993) unterscheidet in diesem Sinne zwischen der „normativen Ängstlichkeit“, die als normal angesehen wird, insofern sie Ausdruck von kultur- und entwicklungsbedingten Veränderungen ist, und der „klinischen Ängstlichkeit“, die auftritt, wenn notwendige Entwicklungs- und Anpassungsleistungen mit ihren angstregulierenden Effekten vom Individuum nicht erbracht werden. Dann können sich Ängste auf einem hohen Niveau über einen langen Zeitraum stabilisieren (z. B. soziale Phobie). Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Angst nicht prinzipiell als eine unerwünschte Reaktion anzusehen ist, denn sie erfüllt auch eine natürliche lebenserhaltende Funktion (z. B. in Gefahrensituationen durch Flucht oder Aktivierung der Verteidigung). Angst / Ängstlichkeit kann man aus zwei Perspektiven betrachten: die des Erlebenden und die des Beobachters. Wenn man die Ergebnisse von Untersuchungen, die sowohl Kinder, wie auch Personen, mit denen sie häufig interagieren (Eltern, Erzieher, Lehrer), befragt haben, zusammenfasst, ergibt sich, dass 5 % – 15 % der Kinder so ängstlich sind, dass sie darunter leiden und ihre Umwelt die Anzeichen ihrer Ängstlichkeit erkennen kann. Remschmidt und Walter (1990: 245-249, nach Schnabel 1998: 7) berichten, dass ca. 5 % der Kinder und Jugendlichen an Angstsymptomen leiden. Bei diesen Angaben ist zu berücksichtigen, dass Eltern oder Lehrer häufig die Ausprägung von Ängstlichkeit unterschätzen (Spinath 2005, Spooner et al. 2005).
1.2 Geschlechtsunterschiede Wie zahlreiche Studien belegen, erreichen weibliche Teilnehmer im Durchschnitt höhere Ängstlichkeitswerte als Jungen / Männer. Ob das daran liegt, dass Frauen ängstlicher sind, oder daran, dass sie eher bereit sind, ihre Angst zuzu-
Umgang mit ängstlichen Schülern
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geben (schließlich erreichen Jungen höhere Werte in Fragen zur Angstabwehr), ist noch nicht geklärt. Rost und Schermer (2007) verglichen weibliche und männliche Teilnehmer mehrerer ihrer Studien (umfangreiche Stichproben aus Klassen der 8. bis 13. Jahrgangsstufe von Gymnasien) in den 12 Skalen ihres Angstinventars (siehe 3.2). Nur in der Skala „Situationskontrolle“ gab es keinen Unterschied, in allen anderen erzielten die Mädchen höhere Werte als die Jungen (im Mittel Effektstärke d = .34). In eigenen Untersuchungen an Viertkläßlern (N = 356) gaben die Mädchen im Mittel an, schüchterner zu sein (Effektstärke d = .24). Die Studien von Haferkamp und Rost (1980) an süddeutschen Grundschulkindern und von Eder (1995) an österreichischen Schülern aus verschiedenen Schulformen berichten von Geschlechtsunterschieden in einer ähnlichen Größenordnung. Schellhaas (1993) konnte in einer Längsschnittstudie an 121 isländischen Kindern feststellen, dass Ängstlichkeit äußerst stabil ist (siehe auch Kagan 1994). Dabei nahm die Existenzängstlichkeit bei den Mädchen mit dem Alter kontinuierlich zu, während bei den Jungen beim Schuleintritt und zu Beginn der Pubertät die höchste Ängstlichkeit auftrat. Die Verlust- oder Trennungsängstlichkeit (siehe 3.3) verliert für die Jungen mit zunehmendem Alter an Bedeutung, bei den Mädchen ändert sie sich wenig.
2
Konsequenzen der Ängstlichkeit: Relevanz für den schulischen Kontext
Welche Folgen kann Ängstlichkeit im schulischen Milieu haben?
Sie beeinflusst die sozialen Interaktionen mit Mitschülern und Lehrern. Sie beeinflusst den Leistungs- und damit den Schulerfolg der Kinder (Einfluss auf schulischen Lernfortschritt). Allerdings scheint dieser Effekt nicht sehr stark zu sein: umfangreiche Metaanalysen zum Zusammenhang von Leistung und Ängstlichkeit von Hembree (1988) und Seipp und Schwarzer (1991) ergaben eine mittlere Effektstärke von 0.22.
3
Angstarten
Im ökologischen Kontext der Kindheit und Jugend (Familie, Schule) sind – je nach Angstauslöser – folgende Angstarten relevant:
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Tatiana Czeschlik soziale Ängstlichkeit, Prüfungs- bzw. Leistungsängstlichkeit, Trennungsangst.
3.1 Schüchternheit bzw. soziale Ängstlichkeit Der schulische Alltag wird stark von den sozialen Interaktionen des Schülers zu den Lehrern und Mitschülern geprägt. Sie wirken sich sowohl auf das emotionale Wohlbefinden wie auch auf die Leistungsfähigkeit aus: Zufriedenstellenden sozialen Interaktionen unter den Schülern und zwischen Schülern und Lehrern kommt daher ein hoher Stellenwert zu. Ungefähr 10 % bis 15 % der Kinder jeder Altersstufe neigen dazu, ihre Interaktionen in der Schule als belastend, angsteinflößend zu erleben (Kagan 1994; Cranach, Hüffner, Marte & Pelka 1976; Czeschlik 2004). Diese Kinder nehmen viel häufiger als ihre Klassenkameraden bestimmte Situationen als bedrohlich war (Creswell et al. 2005) und zeigen die eingangs erwähnte Symptomatik: mit anderen Worten, sie sind schüchtern (scheu, sozial ängstlich, gehemmt; siehe auch Stöckli 2007). Nicht selten haben schüchterne Kinder wenig Freunde, sie können sich isoliert und einsam fühlen (Erath et al. 2007; Henricsson & Rydell 2006; Rubin et al. 1997). Allerdings fallen sie auch nicht negativ auf: im Gegensatz z. B. zu aggressiven Kindern, sind sie nicht unbeliebt (Stöckli 2004). In einer eigenen Studie wurde eine Gruppe von sehr schüchternen Grundschülern (N = 50) mit einer Gruppe von nicht-schüchternen (KG1, N = 50) und einer Gruppe von sehr sozialen (KG2, N = 50) Mitschülern in ihrem soziometrischen Status (die Summe der positiven und negativen Wahlstimmen, die jedes Kind in der Klasse erhält) verglichen: von den Schüchternen konnten 34 % in die Kategorien „durchschnittlich beliebt“ bzw. „sehr beliebt“ (KG1: 50 %, KG2: 48 %), 20 % in die Kategorien „abgelehnt“ bzw. „kontrovers“ (KG1: 24 %; KG2: 28 %), und 26 % in die Kategorie „vernachlässigt“ (d. h., erhält keine Wahlstimmen, weder positive, noch negative; KG1:12 %; KG2: 14 %) eingeordnet werden (je nach Gruppe konnten 12 % bis 20 % nicht in dieses Klassifikationsschema eingeordnet werden). Die nicht selten beobachtbare Zurückgezogenheit und Wortkargheit der Schüchternen darf nicht mit ähnlichen Verhaltensweisen von „Ungeselligen“ verwechselt werden: während Schüchterne soziale Kontakte haben möchten, sich aber häufig in sozialen Situationen, die sie überfordern, unwohl fühlen, und sich gehemmt verhalten, haben Ungesellige kein ausgeprägtes Bedürfnis nach sozialen Kontakten, und wenn sie sozial interagieren (müssen), verhalten sie sich sozial
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kompetent, erleben keine Angstgefühle und zeigen auch keine Angstsymptome (Czeschlik & Nürk 1995). Die Ursachen für Schüchternheit sind in den meisten Fällen in bestimmten Temperamentseigenschaften des Kindes zu finden (Czeschlik 2006; Kagan 1994, Zentner 1998). Der Begriff Temperament bezieht sich auf stabile interindividuelle Unterschiede im Verhaltensstil, d. h. in den charakteristischen dynamischen und zeitlichen Merkmalen des Verhaltens. Diese werden auf biologische Eigenschaften des Organismus zurückgeführt. So sind manche Temperamentsmerkmale, wie z. B. Irritabilität, schon kurz nach der Geburt feststellbar. Die Begründer der modernen Temperamentsforschung, die Kinderpsychiater Alexander Thomas und Stella Chess führten eine über mehrere Jahrzehnte laufende Längsschnittstudie zum Zusammenhang zwischen individuellen Temperamentsmerkmalen und Lebensentwicklung (New York Longitudinal Study, NYLS) durch. Aufgrund ihrer Beobachtungen prägten Thomas und Chess (1980) ein für Erziehung und Unterricht wichtiges Konzept, das der Passung bzw. Güte der Übereinstimmung (goodness of fit) zwischen Temperamentsmerkmalen des Kindes und der erzieherischen Umwelt, d. h. den Verhaltenserwartungen, die an das Kind (von Eltern, Lehrern und Peers) gestellt werden. Eine Prädisposition für schüchternes Verhalten erfordert demnach von Eltern und Lehrern einen anderen Erziehungsstil, der auf die Besonderheiten dieser Kinder eingeht. Nach Kagan (1994) fallen extrem schüchterne Kinder im Vergleich zu Kindern, die überhaupt nicht schüchtern sind, dadurch auf, dass insbesonders neue Situationen sie verunsichern (fear of novelty). Kagan und Mitarbeiter führten eine Längsschnittstudie von der frühen Kindheit bis zur Adoleszenz durch. Die Kinder wurden in regelmäßigen Abständen im Forschungslabor, zu Hause und in der Schule untersucht: Ihr Verhalten in verschiedenen Situationen wurde beobachtet, und es wurden eine Reihe von physiologischen und endokrinologischen Variablen miterhoben. Der Vergleich der beiden Extremgruppen „schüchtern“ und „nicht-schüchtern“ in Verhaltens– und biologischen Merkmalen ergab interessante Unterschiede:
Tabelle 1: Merkmale von hoch-schüchternen im Vergleich zu niedrigschüchternen Kindern (nach Kagan 1994: 165)
Meiden von spontanen Kommentaren in Anwesenheit von fremden Kindern oder Erwachsenen Fehlen spontanen Lächelns in Anwesenheit von Fremden Braucht lange Zeit, um sich an neue Situationen anzupassen Schlechtere Gedächtnisleistungen in Stresssituationen
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Tatiana Czeschlik Vorsichtiges Verhalten in Entscheidungssituationen, niedrige Risikobereitschaft Häufiger ungewöhnliche Ängste und Phobien Größere Zunahmen in der Herzfrequenz und im diastolischem Blutdruck Größere Pupillen, höhere Kortisol- und Katecholaminausschüttung in Stresssituationen Höhere Muskelanspannung (u. a. Stimmbänder: Auswirkung auf Stimmqualität) Vermehrt atopische Allergien Häufiger ektomorpher Körpertypus, schmales Gesicht, hellblaue Augen
Mittels Fragebogen kann man die Kinder / Jugendlichen befragen, damit sie Auskunft geben über Vorkommen, Intensität und Auslöser von sozial ängstlichem / schüchternem Verhalten (SASC-R-D: Melfsen & Florin 1997; Skalen für Schüchternheit und Geselligkeit: Czeschlik 2004). Aber auch Eltern oder Lehrer können einzelne Kinder auf Fragebogenskalen einschätzen: dies beinhaltet sozusagen die Zusammenfassung von Beobachtungen in vielen Situationen über einen längeren Zeitraum, der zu einem „Eindruck“ führt (Skalen aus diversen Temperamentsfragebogen: z. B. Middle Childhood Temperament Questionnaire MCTQ, Teacher Temperament Questionnaire, TTQ, siehe Czeschlik 1993a, b). Eine systematische Verhaltensbeobachtung, ein aufwendiges Verfahren zur Identifizierung von schüchternem Verhalten, wird eher für Forschungszwecke eingesetzt (sowohl in künstlichen, experimentellen Laborsituation wie auch im schulischen – z. B. Pause – und häuslichem Milieu). Lugt-Tappeser und Schneider (1987) konnten in einer Verhaltensbeobachtungsstudie an 3- bis 7jährigen Kindern zeigen, dass Ängstlichkeit das Ausmaß der direkten Objektmanipulation hemmt, nicht aber die visuelle Erkundung (siehe auch Asendorpf 1989). In der Regel sollte es möglich sein, extrem schüchternes Verhalten durch erprobte Techniken der Verhaltensmodifikation (vgl. Rost, 1982) zu mildern. Dies kann am besten mit Hilfe von Programmpaketen, die unter der Bezeichnung „Soziales Kompetenztraining“ (bzw. „Social Skills Training“) bekannt sind, erfolgen (z. B. Petermann & Petermann 2003; siehe auch Schneider & Borer 2007). Trainingsprogramme dieser Art bestehen aus verschiedenen Bausteinen, wie der Vorstellung einer bestimmten Konfliktsituation aus dem Alltag der Kinder, der Diskussion möglicher Handlungsalternativen (Analyse der Situation, der Komponenten, der Ursachen und Wirkungen), Rollenspiel. Ein wichtiger Bestandteil der Verhaltensmodifikationstechniken ist die Belohnung erwünschter Verhaltensweisen (verbal, emotional, materiell). Den Kindern werden häufig „Hausaufgaben“ auf-
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gegeben, und die Einbeziehung der Eltern in die Trainingsmaßen ist sehr wünschenswert. Obwohl diese Programme nicht speziell für Lehrer entwickelt wurden, enthalten sie dennoch wertvolle Anregungen für den Umgang mit schüchternen Kindern in der Schule. Im wesentlichen bestehen die Möglichkeiten von Lehrern, schüchternen Kinder zu helfen, darin, immer zu berücksichtigen, dass sie auf sozial-evaluative Situationen (z. B. an die Tafel gehen, Vorlesen, im Sportunterricht von anderen beobachtet werden) besonders empfindsam reagieren, dass sie mitunter nicht sozial-evaluative Situationen doch als solche interpretieren (z. B. den zufällig auf sie gerichteten Blick des Lehrers). Diese Kinder brauchen viel mehr Zeit, um solche Situationen zu bewältigen, und positive Verstärkung jedes kleinen Schrittes in die gewünschte Richtung. Situationen, die von diesen Kindern als misserfolgsträchtig interpretiert werden könnten, sind zu vermeiden. Ähnlich wie bei der Behandlung einer Allergie müssen diese Kinder mit sehr kleinen „Dosen“ desensibilisiert werden, insbesonders bei größeren Änderungen, wie Schuleintritt, Lehrer- / Klassen- / Schulwechsel.
3.2 Prüfungs- bzw. Leistungsängstlichkeit Für die meisten Schüler stellen Situationen, in denen ihr schulisches Wissen und Können überprüft werden soll, eine starke Belastung dar und können Prüfungsbzw. Leistungsängstlichkeit auslösen. Die Leistungsanforderungen werden als selbstbedrohend wahrgenommen, und Misserfolg und Versagen werden antizipiert. Ein Versagen in Form von schlechten Leistungen bzw. schlechten Noten hat in der Regel negative Konsequenzen für das Selbstwertgefühl, und / oder bringt Ärger mit den Eltern ein. Die Ursachen für schlechte Leistung können ganz unterschiedlich sein:
Zum einen mag schlechte Leistung daran liegen, dass der Stoff nicht beherrscht wird, sei es, weil der Schüler nicht gelernt hat, sei es, weil er seine intellektuellen Fähigkeiten überfordert. Zum anderen mag schlechte Leistung daran liegen, dass die Wiedergabe des Gelernten durch negative emotionale Merkmale der Situation (Schul- und Klassenklima) erschwert wird. Dispositionell ängstliche Kinder reagieren besonders empfindlich auf das Lehrerverhalten (autoritär, spöttisch), auf Druck der Mitschüler, der Eltern und im Allgemeinen auf sozial-evaluative Situationen. Ängstliche fallen, insbesonders mit steigender Aufgabenschwierigkeit, durch aufgabenirrelevante kognitive Aktivitäten auf, die von aufgabenorientierten Denk- und Handlungsweisen, die für die Bewältigung
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Tatiana Czeschlik der gestellten Aufgaben notwendig sind, ablenken. Nach Hasselhorn (1995) beanspruchen diese aufgabenirrelevanten Kognitionen die Informationsverarbeitungssysteme und führen damit zu einem Kapazitätsdefizit. Der Zusammenhang zwischen Ängstlichkeit und Lern- und Gedächtnisleistungen ist nach Hasselhorn (1995) und anderen Autoren extensiv untersucht worden. Schnabel (1998) ging der Frage nach, ob Prüfungsängstlichkeit nur das Erbringen von Testleistungen, oder ob sie auch den Lernprozess selbst stört.
Auftreten und Intensität von Prüfungsangst können auch durch Faktoren bedingt sein, wie „Ehrgeiz des Schülers“ (wie schlimm ist es für das Selbstwertgefühl, nicht die sich selbst gesetzten kurzfristigen und langfristigen Leistungsziele zu erreichen?), „Druck von (ehrgeizigen) Eltern“, ein „Klassenklima“, das schlechte Leistungen besonders betont (Lehrer können das soziale Ansehen einzelner Kinder mit wenigen Kommentaren stark beeinflussen). Mehrere Jahrzehnte Prüfungsangstforschung haben gezeigt, dass Ängstlichkeit ein multidimensionales Phänomen ist, d. h., dass Fragebogen, die als Ergebnis nur einen Angstwert festzustellen erlauben oder nur zwei unterschiedliche Aspekte der Angst differenzieren (z. B. Besorgtheit bzw. Aufgeregtheit), nicht hinreichen. In der Regel stellen sie bloß fest, ob jemand prüfungsängstlich ist und vielleicht noch, wie sehr im Vergleich zu Mitschülern, aber nicht warum. Rost und Schermer publizierten kürzlich (2007) eine Fragebogenserie („Differentielle Leistungsangst Inventar DAI“), die es erlaubt, nach (a) vier Auslösefaktoren, (b) drei Symptombereiche, (c) drei Bewältigungsstrategien und (d) zwei Faktoren, die die Angst aufrechterhalten, zu differenzieren. Der DAI dürfte im deutschsprachigen Raum das geeignetste diagnostische Instrument sein, er ist jedoch nicht für das Grundschulalter vorgesehen. Die Komponenten des Angstmodells sind bei Rost und Schermer (2006, 2007) anschaulich dargestellt. Allerdings hat bislang die Testangstforschung die Prüfungssituation selbst nicht hinreichend differenziert. Aus der Sicht der Schüchternheitsforschung ist diese Unterscheidung aber nahe liegend: mündliche Leistungssituationen stellen für Schüchterne eine akute selbstwertbedrohende Situation dar; schriftliche Leistungssituationen dagegen werden nicht in aller Öffentlichkeit abgelegt. Obwohl mündliche und schriftliche Prüfungen auch Gemeinsamkeiten haben (beide fragen das vorhandene Wissen ab, bei beiden wird die Leistung bewertet), ist die Varianzüberlappung zwischen „mündlicher Prüfungsangst“ und „schriftlicher Prüfungsangst“ nicht sehr groß (Busse 1997; Czeschlik 2004). Schüchternheit und mündliche Prüfungsangst dagegen zeigen einen engeren Zusammenhang als Schüchternheit und schriftliche Prüfungsangst.
Umgang mit ängstlichen Schülern Abbildung 1:
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Prozentuale Verteilung der mündlichen und schriftlichen Prüfungsangst bei Viertkläßlern (MPA = mündliche Prüfungsangst, SPA = schriftliche Prüfungsangst, nicht PA = nicht prüfungsängstlich). SPA
MPA 5%
5%
9%
MPA & SPA
81%
81,10
8,90
4,90
nicht PA
5,10
Viele bisherige Fragebogen, die zur Diagnostik der Prüfungsängstlichkeit herangezogen werden, sind bezüglich des Auslösers „Prüfungssituation“ konfundiert, weil sie Fragen enthalten, die sich auf die Erbringung von Leistung sowohl in schriftlichen („Ich habe Angst vor Klassenarbeiten“) wie in mündlichen Situationen („... wenn ich vor der Klasse etwas vortragen soll ...“, „wenn der Lehrer mich aufruft und Fragen stellt ...“) beziehen – mündliche Leistungssituationen sind aber für Schüchterne besonders selbstwertbedrohlich, da sie dabei im sozialen Mittelpunkt stehen. Busse (1997) konnte an einer Stichprobe von Gymnasiasten (N = 405) nachweisen, dass sich nach einer Faktorenanalyse der mündlichen und schriftlichen Angstmanifestations-Items des DAI die jeweils drei a priori Skalen in je zwei Komponenten gruppierten: eine physiologische und eine emotional-kognitive. Die Varianzüberlappung zwischen den Skalen „mündlich, emotional-kognitive Komponente“ und „schriftlich, emotional-kognitive Komponente“ betrug 34 % (r = .58). Das spricht für eine Unterscheidung beider Prüfungssituationen, da beide einen nennenswerten Anteil an spezifischer Varianz besitzen. Mittels der beiden physiologischen Komponenten gelang es nicht zwischen Schülern mit mündlicher bzw. schriftlicher Prüfungsangst zu unterscheiden. Eine eigene Befragung von N = 370 Viertklässlern über die Häufigkeit, mit der sie Prüfungsangst in mündlichen bzw. schriftlichen Leistungssituationen erleben, ergab, dass etwa 20 % insgesamt prüfungsängstlich ist – davon 25 % nur in mündlichen Leistungssituationen: Nach Rost und Schermer (2006) sollte eine Verhaltensmodifikation bzw. Intervention auf 3 Ebenen geschehen (siehe auch Strittmatter 1993):
354
Tatiana Czeschlik Schule und Unterricht Individuum (Desensibilisierung) Elternhaus
3.3 Schulangst: Trennungangst Schulangst wird in verschiedenen Bedeutungen verwendet. Im weitesten Sinne bezieht sie sich auf die Gefühle der Angst, die manche Schüler mit dem Schulbesuch verbinden. Dabei kann die Ursache hierfür sehr unterschiedlich sein: Angst vor Leistungsversagen, Angst vor bestimmten Mitschülern, Angst vor einem Lehrer, Angst vor dem Schulweg (Angriff von Schülern), Angst vor der Trennung von den Eltern, usw. Die Schulangst in engerem Sinne bezieht sich auf Angst vor der Schule als neuer Aufenthaltsort, als neue Situation (z. B. bei der Einschulung). Die Schulphobie als extreme Ausprägung der Schulangst und die Schulverweigerung (die andere Gründe als Trennungsangst haben kann) kommen nicht sehr häufig vor, haben aber weit reichende negative Konsequenzen (Petersen 1998). Die Verweigerung des Schulbesuches führt nach Schermer (1982: 285) „in Schule und Familie zu einer kritischen Lage, die sehr schnell in einer Sackgasse enden kann, wenn das Problem nicht rechtzeitig und angemessen angegangen wird.“ Schermer (1982; in Anlehnung an Hersov 1977) führt drei Alterstufen mit einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit dieses Problems auf:
Einschulungsalter (5-7 Jahre): Die Schulverweigerung steht häufig im Zusammenhang mit Trennungsängsten. Nach Schul(form)wechsel nach der Grundschule (Wechsel auf weiterführende Schulen) mit ca. 11 Jahren: Eine Veränderung in der Schulsituation steht im Vordergrund. 14 oder mehr Jahre: Die Verweigerung kann im Zusammenhang mit psychopathologischen Störungen stehen.
Bei der Einschulung kann die Sorge vor dem Verlassenwerden oder die Angst vor dem Verlust einer nahen Bezugsperson übermäßige Trennungsangst hervorrufen. In solchen Fällen müssen die Kinder behutsam daran gewöhnt werden, längere Zeit von der Mutter oder anderen Bezugspersonen getrennt zu sein. Schulwechsel, sei es durch Übergang auf weiterführende Schulen, sei es durch Umzug, kann in dieser Altersstufe zu einer großen Belastung im sozialen wie im Leistungsbereich führen. In solchen Fällen müssen die belastenden Faktoren identifiziert werden, bevor geeignete verhaltensmodifikatorische Strategien
Umgang mit ängstlichen Schülern
355
umgesetzt werden können. Es ist möglich, dass insbesonders dispositionell ängstliche Kinder anfällig für Schulangst im engeren Sinne sind (siehe 3.1). Nach Petersen (2006) werden häufig „Interventionsstrategien propagiert, die in einem umfassenden Sinne individuelle kindliche Aspekte, schulische, familiäre und verhaltensmodifikatorische Gesichtspunkte miteinander verknüpfen.“ Aber nach Petersen (2006) hat es sich auch als förderlich erwiesen, „im schulischen und paraschulischen Bereich abgewogene Wiedereingliederungshilfen“ nach längerer Schulabwesenheit anzubieten, z. B. eine Begleitung des Kindes im Unterricht.
4
Fazit: Der Umgang mit ängstlichen Schülern
Lehrer haben täglich mit den Lern- und Verhaltensschwierigkeiten ihrer Schüler zu tun: Was können Lehrer machen, wenn sie ängstliche Kinder (Jugendliche) in der Klasse bemerken? Für die Behandlung von schwierigeren Fällen müssen von Eltern und Lehrern fachkompetente Kräfte herangezogen werden (z. B. Schulpsychologen); in milderen Fällen von Überängstlichkeit können Lehrer, unter Berücksichtigung der Grundprinzipien der Verhaltensmodifikation, zu einem Abbau beitragen. Wichtig ist auch, gerade bei ängstlichen Kindern, das Vorhandensein einer guten Vertrauensbasis zum Lehrer (Schweer 2000). Vor Klassenarbeiten durchgeführte kurze Entspannungsübungen können der ganzen Klasse zugute kommen. Im Einzelfall sollte der erste Schritt eine genauere Diagnose sein. Hier ist eine Vorgehensweise in Anlehnung an dem Grundgedanken des „Differentiellen Angst Inventars, DAI“ von Rost und Schermer (2006) empfehlenswert:
Welche Symptome zeigt der ängstliche Schüler? Welche Auslöser erzeugen beim Schüler Angst? Verfügt der Schüler über geeignete Strategien, um mit der angsterzeugenden Situation umzugehen? Welche Umstände tragen zur Aufrechterhaltung der Angst bei?
Allerdings scheinen Lehrer sozial ängstliche Kinder teilweise zu übersehen, wie eine Studie von Spooner et al. (2005) zeigt (siehe auch Spinath 2005). Oder sie verwechseln soziale Ängstlichkeit mit sozialem Desinteresse (Coplan et al. 2004). Im Anschluss bietet es sich an, geeignete Maßnahmen zu finden, um die Angst des Schülers schrittweise zu reduzieren. Eine Veränderungsstrategie für
356
Tatiana Czeschlik
Schüler mit einem gestörten Arbeitsverhalten benötigt eine andersgeartete Zuwendung als z. B. sozial ängstliche Schüler. So sind nach Helmke (1983: 196) folgende Maßnahmen günstig bei Personen mit allgemeiner Angst vor negativer sozialer Bewertung: positives Feedback geben, „… wenn es bei der Aufgabe erkennbar nicht um sozialen Vergleich und soziale Bewertung gehen soll, wenn keine Zuhörer (insbesondere keine Erwachsenen) anwesend sind;…“. Diese Vorgehensweise dürfte aber kaum geeignet sein für einen Schüler, der in Leistungssituationen ängstlich ist, weil er falsche Lerngewohnheiten hat. Wenn ein Schüler sich bedroht fühlt, und über keine geeigneten Strategien oder Maßnahmen verfügt, die Bedrohung zu beseitigen, dann bleiben nach Strittmatter (1993) nur noch relativ ziellose, ineffektive oder realitätsunangepasste Abwehrversuche übrig. Das Saarbrücker „Schulangst“-Projekt von Strittmatter (1993) hatte als Ziel, praktikable Vorschläge für Lehrer und Schüler zu entwickeln, um ihnen zu ermöglichen, Angst zu reduzieren, bzw. mit ihr umgehen zu lernen. Zu diesem Zweck wurde ein Programm (genauer nachzulesen in Strittmatter 1993: „Schulangstreduktion“) mit vier Bausteinen entworfen (I: LehrerSchüler-Interaktion; II: Unterrichtseinheit „Angst und Angstabbau“; III: Angstabbau durch Veränderungen im Leistungsbewertungsprozess; IV: Schülerprogramm). Dabei soll auf zwei unterschiedlichen Wegen die Angst der Schüler vor und in der Schule reduziert werden: 1.
2.
Abbau der Bedrohlichkeit von schulischen Leistungssituationen: die Interventionsbemühungen betreffen hauptsächlich Lehrereinstellungen und Verhaltensweisen. Verbesserung der Fähigkeit von Schülern, subjektiv bedrohlichen Situationen adäquat zu begegnen bzw. diese zu verarbeiten.
Auch Rost und Haferkamp (1981; siehe aber auch Cresswell et al. 2005; Hembree 1988; Masia Warner et al. 2007; Petermann & Petermann 2003) diskutieren differenzierter mögliche Maßnahmen für die Prävention bzw. Reduktion von Schulangst:
angstfreie Gestaltung des Unterrichts angstfreie Ausrichtung von Leistungsbewertung und Prüfungssituationen besondere Maßnahmen für kritische Zeitpunkte in der Schullaufbahn (Einschulung und Übergang auf weiterführende Schulen) Einbeziehen der Eltern
Umgang mit ängstlichen Schülern
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Tatiana Czeschlik
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Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer Eberhard Todt
1
Einleitung
Unter auffälligem Verhalten in der Klasse wird im Allgemeinen Verhalten von Schüler/innen verstanden, das den geordneten und erfolgreichen Ablauf des Unterrichts stört und das soziale Klima in der Klasse beeinträchtigt. Dieses sozial-emotional auffällige Verhalten von Schüler/innen steht auch im Mittelpunkt dieses Kapitels. Zunächst wird versucht, dieses auffällige Verhalten abzugrenzen. Es wird dann über Klassifikationsvorschläge dieses Verhaltens berichtet. Obwohl die Datenlage recht unübersichtlich ist, wird dann auch über Befunde zur Häufigkeit des Auftretens auffälliger Verhaltensweisen sowie über Belastungsreaktionen von Lehrer/innen berichtet. Einen breiteren Rahmen nimmt die Darstellung allgemeiner Präventions- und Interventionsansätze ein, die anschließend theoretischen (Erklärungs-) Ansätzen zugeordnet werden.
2
Abgrenzung von Verhaltensauffälligkeiten
In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Definitionen und Alternativbegriffen für „auffälliges Verhalten“. Häufig werden die Begriffe Verhaltensauffälligkeit und Verhaltensstörung unterschiedslos verwendet. Da sich Vertreter verschiedener Disziplinen (Psychologen, (Heil-)Pädagogen, Mediziner) mit dieser Problematik beschäftigen, existieren auch mehrere Alternativbegriffe in der Literatur.
362 Abbildung 1:
Eberhardt Todt Definitionen von Verhaltensauffälligkeiten
x „… ein Kind weicht in seinem Verhalten von den Erwartungen und Normen seines Lehrers ab, es fällt auf; die Abweichung wird zu einem Attribut des Schülers, er wird „verhaltensauffällig“.“ (Tornow 1977: 1) x „Als verhaltensauffällig wird ein Kind immer dann bezeichnet, wenn es sich oft erheblich anders verhält als die meisten Kinder seines Alters in gleichen oder ähnlichen Situationen.“ (www.google.de: Suchbegriff „Verhaltensauffälligkeit“) x „Als Verhaltensauffälligkeiten bezeichnet man relativ verfestigte Verhaltens- und Erlebnisweisen, die zu erheblichen Belastungen in den sozialen Beziehungen führen und auch Auswirkungen auf das Lernen haben können.“ (www.google.de: Suchbegriff „Schulpsychologie: Verhaltensauffälligkeiten“) x „Unter Verhaltensauffälligkeiten bzw. einer Verhaltensstörung versteht man Verhalten von Personen, oder auch Tieren, die etwa besonders aggressiv, unruhig, depressiv oder zurückgezogen sind oder durch Konzentrations-, Ess-, Schlafstörungen und dergleichen Probleme haben …“ (www.wikipedia.de Suchbegriff „Verhaltensauffälligkeit“) Abbildung 2:
Alternativbegriffe für Verhaltensauffälligkeiten, z. T. in Abhängigkeit von Hypothesen über Ursachen des auffälligen Verhaltens Aspekte
x entwicklungsgestörte Kinder x entwicklungsgehemmte Kinder
biologisch
x schwererziehbare Kinder x gemeinschaftsschwierige Kinder
pädagogisch
x verhaltensgestörte Kinder x emotional gestörte Kinder
medizinisch
(z. T. nach Tornow 1977: 5)
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
363
In diesem Kapitel taucht der Begriff „Verhaltensstörung“ zwar (in Zitaten) ab und zu auf. Der Schwerpunkt liegt aber auf dem Begriff „Verhaltensauffälligkeit“. Verhaltensstörung wird für überdauernde, intensive Verhaltensauffälligkeiten reserviert, die Krankheitswert haben und der Therapie bedürfen. Unter Verhaltensauffälligkeit wird hier verstanden: Abbildung 3:
Definitionsvorschlag für „Verhaltensauffälligkeit“
Verhaltensauffälligkeiten sind Verhaltensweisen, die … x den z. T. kulturbedingten bzw. situationsbezogenen alters- und geschlechtsbezogenen Erwartungen bzw. Normvorstellungen von Erzieher/innen bzw. Lehrer/innen nicht entsprechen. x relativ spezifisch oder relativ generalisiert sein können. x eher vorübergehend oder relativ überdauernd sein können. x geringere Intensitätsgrade aufweisen und daher von Verhaltensstörungen abzugrenzen sind, die Krankheitswert haben und therapiebedürftig sind. x sich negativ auf das Lernen bzw. die Leistung oder auf die soziale Interaktion bzw. auf die weitere Entwicklung auffälliger Schüler/innen auswirken können. x in einzelnen (im Allgemeinen selten thematisierten) Fällen auch positiv von den Normvorstellungen abweichen können (z. B. Hochbegabungen, bes. soziale und emotionale Kompetenz). x unterschiedliche Ursachen haben können und unterschiedliche Maßnahmen der Prävention bzw. der Intervention erforderlich machen können. Unter Verhaltensauffälligkeiten in der Klasse werden vor allem Auffälligkeiten behandelt, die in der Literatur als
bzw. als
x x
Unterrichtsstörungen bzw. Disziplinprobleme Mobbing bzw. Bullying bzw. Aggression
behandelt werden.
364
Eberhardt Todt
Nur auf diese sozial-emotionalen Verhaltensauffälligkeiten kann hier eingegangen werden. Lern- bzw. leistungsbezogene Verhaltensauffälligkeiten wie LeseRechtschreibschwierigkeiten, Rechenschwierigkeiten, Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität und Sonderbegabungen können hier nicht behandelt werden.
3
Klassifikationen von Verhaltensauffälligkeiten
Welches Verhalten betrachten Grundschullehrer/innen als auffällig und unterrichtsstörend? Diese Frage beantworteten 106 von uns (im Rahmen von Staatsexamensarbeiten) befragte Grundschullehrer/innen folgendermaßen: Abbildung 4:
Auffälliges Verhalten von Grundschüler/innen in der Sicht ihrer Lehrer/innen
Schülerverhalten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
Schwätzen Streitigkeiten, Rangeleien Ablenkung Missachtung von Gesprächsregeln Nichteinhalten von Klassenregeln Allgemeine Unruhe Beschäftigung mit anderen Dingen Bestehen auf sofortiger Bedürfnisbefriedigung Im Unterricht in die Klasse rufen Handgreifliche Auseinandersetzungen Provozieren des Lehrers/der Lehrerin Weigerung, sich in die Gruppe einzuordnen Herumhampeln Verbale Angriffe (Fäkalsprache, sexuelle Anspielungen) Kaspern, Clownerien Abschalten, demonstratives Desinteresse Egoismus, unsoziales Verhalten
Fortsetzung nächste Seite
Antworten: Das betrachte ich als Unterrichtsstörung (in % der Befragten)
99 % 99 % 99 % 98 % 98 % 97 % 97 % 97 % 96 % 96 % 96 % 96 % 95 % 95 % 94 % 94 % 94 %
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
365
Fortsetzung
18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.
Laut sein (direkt nach Erledigung einer Aufgabe) Unaufmerksamkeit/mangelnde Konzentration Fehlendes Arbeitsmaterial Spielen im Unterricht Andauerndes Nachfragen Streit, der aus der Pause mitgebracht wird Auseinandersetzungen zwischen Jungen und Mädchen Herumkramen in der Schultasche Zur Toilette gehen (direkt nach der Pause) Cool sein, Eindruck auf andere machen wollen Kippeln mit dem Stuhl Nichterledigen von Hausaufgaben Im Unterricht durch die Klasse laufen
92 % 89 % 89 % 89 % 88 % 88 % 88 % 87 % 86 % 84 % 83 % 80 % 77 %
Damit ist die Liste möglicher Unterrichtsstörungen im Grundschulunterricht natürlich noch nicht erschöpft. Für Psychologen gehen Verhaltensauffälligkeiten von Schüler/innen über direkte Unterrichtsstörungen hinaus – wie die beiden folgenden Klassifikationen zeigen. Für sie sind auch Verhaltensauffälligkeiten bedeutsam, die den Unterrichtsverlauf im Allgemeinen weniger stören, die aber ein Hemmnis für die normale Entwicklung von Kindern darstellen können (z. B. Rückzug, Mangel an Selbständigkeit, ängstliches Verhalten). Graefe (1956: 6f.), der nicht zwischen Auffälligkeit und Störung unterschied, schlug folgende Klassifikation kindlicher Verhaltensstörungen vor: Abbildung 5: 1. 2. 3. 4. 5.
Klassifikation von Verhaltensstörungen nach Graefe
Funktionsstörungen innerhalb der Körpersphäre z. B. allgemeine motorische Unruhe, Tics, Sprechstörungen Abnorme Gewohnheiten innerhalb der Körpersphäre z. B. Nägelknabbern, Zähneknirschen Störungen der Ich-Gefühle und der Grundstimmung z. B. allgemeine Ängstlichkeit, Wehleidigkeit, Depressionen Soziale Störungen z. B. Trotz, emotionale Bindungsschwäche, Streitsucht Störungen im Tätigkeits- und Leistungsbereich z.B. Interessenmangel, Langsamkeit, Pedanterie
366
Eberhardt Todt
Tornow (1977: 74ff.) reduzierte zunächst etwa 200 auffällige Verhaltensweisen, die er der Literatur entnommen hatte, auf 20 Verhaltensweisen, die er von 106 Grundschullehrer/innen danach einschätzen ließ, welcher Ausprägungsgrad ihrer Erfahrung entsprach (5 Abstufungen). Die Korrelations- und die Faktorenanalyse dieser Einschätzungen führte zu folgenden fünf Faktoren von Verhaltensauffälligkeiten: Abbildung 6: 1. 2. 3. 4. 5.
4
Klassifikation von Verhaltensauffälligkeiten von Tornow
Leistungsstörungen durch mangelnde Aktivität z. B. ermüdbar, unselbständig, verträumt Regressives Verhalten z. B. empfindlich, zurückgezogen, ängstlich Dissoziales Verhalten z. B. aggressiv, widersetzlich, unehrlich Unzuverlässigkeit/Schlampigkeit z. B. vergesslich, unzuverlässig, unordentlich Störungen des Unterrichts durch Hyperaktivität z. B. albern, ablenkbar, unruhig
Prävalenz von Verhaltensauffälligkeiten
Die Häufigkeit des von Lehrer/innen eingeschätzten auffälligen Verhaltens variiert von Untersuchung zu Untersuchung. Verallgemeinerungen sind daher nicht möglich. Übersichten finden sich bei Havers (1978), Shepherd et al. (1973), Thalmann (1971) und Tornow (1977). Als Beispiel für die Ergebnisse solcher Erhebungen (Einschätzungen von Lehrer/innen) können die Befunde von Bach et al. (1984) und Berg et al. (1998) dienen. Bach et al. berichten über Ergebnisse aus 1406 Schulen in Rheinland-Pfalz. In diesen Schulen wurden Angaben des Schulleiters bzw. der Schulleiterin, einer Klassenlehrer/in und einer Fachlehrer/in erhoben. Die Ergebnisse zeigt folgende Tabelle.
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer Abbildung 7:
Relative Anzahl von verhaltensauffälligen Schüler/innen in Rheinland-Pfalz; nach Bach et al. (1984)
Rangfolge der Nennungen von Auffälligkeiten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
367
Unkonzentriertheit Ungenauigkeit Faulheit Motorische Unruhe Mangelndes Interesse Verbale Aggression Mangelndes Selbstvertrauen Physische Aggression Ungehorsam Kontaktprobleme
Zahl verhaltensauffälliger Schüler/innen unter 100 beurteilten Schüler/innen 22,4 % 21,8 % 16,3 % 15,2 % 14,7 % 9,1 % 8,6 % 5,6 % 5,5 % 4,9 %
usw.
Berg et al. (1998) befragten Grundschullehrer/innen von insgesamt 3665 Grundschulkindern nach ausgeprägten Auffälligkeiten (Angaben „stark auffällig“). Ihre Befunde zeigt die folgende Tabelle: Abbildung 8:
Relative Anzahl von Verhaltensauffälligkeiten nach Berg et al. (1998)
Rangfolge der Nennungen von Auffälligkeiten 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Unkonzentriertheit Ungenauigkeit Motorische Unruhe Leistungsstörungen Mangelnde Leistungsmotivation Fordern von Aufmerksamkeit
Fortsetzung nächste Seite
Einschätzungen „stark auffällig“ in % 13,9 % 10,7 % 9,2 % 8,2 % 7,7 % 7,2 %
368
Eberhardt Todt
Fortsetzung
Rangfolge der Nennungen von Auffälligkeiten 7. 8. 9. 10,5 10,5
Ungehorsam Mangelndes Selbstvertrauen Aggressives Verhalten Überempfindlichkeit Wutausbrüche
Einschätzungen „stark auffällig“ in % 5,9 % 5,6 % 5,5 % 4,6 % 4,6 %
usw.
Aus dem Vergleich dieser Tabellen darf man nicht darauf schließen, dass sich das (relative) Ausmaß an schulbezogenen Verhaltensauffälligkeiten im Laufe der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts systematisch verändert hätte. Solche Erhebungen sind aus den verschiedensten Gründen nicht direkt vergleichbar. Auffällige Verhaltensweisen (Mobbing im weiteren Sinn) im Bereich der Schule zeigen nach einer Retrospektivbefragung von 168 Student/innen aus Lehramtsstudiengängen im Laufe der Sekundarstufe I offensichtlich verschiedene Alterstrends: Abbildung 9:
Alterstrends von auffälligem sozialen Verhalten (Mobbing u. a.) im Verlauf der Sekundarstufe I
x Von der 5. bis zur 10. Jahrgangsstufe scheint die Häufigkeit folgender Verhaltensweisen systematisch abzunehmen: - die Dominanz älterer (größerer) Schüler in Pausen und auf dem Schuweg - Rangeleien um Plätze im Bus - Raufereien, Kräfte messen, Spaßkämpfe - Petzereien - Fordern von Mutproben - Konflikte zwischen Jungen und Mädchen u. a. x Von der 5. bis zur 10. Jahrgangsstufe scheint die Häufigkeit folgender Verhaltensweisen systematisch zuzunehmen: - Konflikte um „Pärchenbildung“ (Eifersucht) - Konkurrenz um gutes Aussehen - Konkurrenz um Klamotten, teure bzw. coole Besitzgegenstände Fortsetzung nächste Seite
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
369
Fortsetzung
x Zunächst eine Zunahme (von Jahrgangsstufe 5 bis 7 bzw. 8) und dann eine Abnahme (Jahrgangsstufe 9 bzw. 10) scheint die Häufigkeit folgender Verhaltensweisen zu zeigen: - Ausgrenzen einzelner Schüler bzw. Abgrenzungen zwischen bestimmten Gruppen (z. B. coole vs. uncoole) - Hänseleien wegen Kleidung, Körperfülle u. a. - Gruppenzwang - Provokationen - Hänseln von „Strebern“ Dan Olweus (19962: 29, 30), der seit Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in Norwegen Mobbing in der Schule untersuchte, fand allgemeine Alterstrends: Abbildung 10: Relativer Anteil an Mobbing-Opfer in den Jahrgangsstufen 2-9 (Norwegen) Jahrgangsstufe
2
3
4
5
6
7
8
9
Jungen (%)
17,5
14,5
13,0
10,6
8,4
8,0
7,7
6,4
Mädchen (%)
16,0
12,2
11,5
8,6
5,5
3,3
3,5
3,0
Abbildung 11: Relativer Anteil an Mobbing-Tätern bzw. Täterinnen in den Jahrgangsstufen 2-9 (Norwegen) Jahrgangsstufe
2
3
4
5
6
7
8
9
Jungen (%)
9,8
9,9
9,7
11,7
11,7
8,1
12,8
12,7
Mädchen (%)
5,2
4,6
3,7
3,4
3,1
2,2
3,0
2,1
Als Opfer von Mobbing bezeichnet Olweus Schüler/innen, die wiederholt und über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer Schüler/ innen (auch „Bullys“ genannt) ausgesetzt sind. Die Frage, ob Mobbing (bzw. Bullying) in Schulen in den letzten ca. 15 Jahren zugenommen hat oder nicht, ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Auch Olweus ist da nicht ganz sicher, obwohl er über 30 Jahre lang systematische Untersuchungen durchgeführt hat. Für diese Unsicherheit gibt es verschiedene Gründe: Wechsel der Erhebungsmethoden, nicht vergleichbare Stichproben
370
Eberhardt Todt
von Schüler/innen, Medieneinflüsse, verstärkte Aufmerksamkeit für Mobbing u. a. Es ist aber nicht zu übersehen, dass Schulleitungen und Lehrer/innen nicht selten den Eindruck haben, dass dieses Verhalten stetig zugenommen hat. In unseren eigenen Untersuchungen über fast 15 Jahre haben wir keine systematische Zunahme des Mobbing in der Sekundarstufe beobachten können. Vielleicht lässt sich aber der Eindruck der Zunahme des Mobbing z. T. dadurch erklären, dass das Ausmaß an Beteiligung am Mobbing unter Schüler/innen extrem schief verteilt ist. Nur etwa 3 bis 5 % der Gesamtheit der Schüler/innen (allerdings ungleich verteilt über die verschiedenen Schularten) sind für die gravierenden (Intensivitäter) und häufiger auftretenden (Mehrfachtäter) Aggressionen verantwortlich. In einer Schule von 1000 Schüler/innen kann eine andauernd gravierend auffallende Gruppe von 30-50 Schüler/innen (die auch einmal auf 55 oder 60 anwachsen kann) eine unerträgliche Belastung darstellen und das Gefühl der Hilflosigkeit aufkommen lassen. Unter diesen Bedingungen dürfte es kaum entlastend wirken, dass u. U. mehr als 95 % der Schüler/innen nur manchmal auffällig sind, denn auch diese Auffälligkeiten, die „normal“ und altersgemäß sein dürften, summieren sich. Solange aber Schulen, die unter vergleichbaren sozialen (Einzugsgebiet der Schüler/innen, Zusammensetzung der Schülerschaft) und materiellen (räumliche und sachliche Ausstattung, Schüler-Lehrer-Proportion) Bedingungen zu arbeiten haben, große Unterschiede aufweisen beim erfolgreichen Umgang mit Mobbing u. ä. Verhaltensauffälligkeiten, erscheint es angeraten, dass weniger erfolgreiche Schulen von erfolgreichen zu lernen versuchen.
5
Belastungsreaktionen von Lehrer/innen bei Verhaltensauffälligkeiten von Schüler/innen
Inwieweit fühlen sich Lehrer/innen durch auffälliges, den Unterricht störendes Verhalten von Schüler/innen belastet? Döbrich et al. (1999) befragten dazu 1027 Lehrer/innen an 21 hessischen Schulen der Sekundarstufe I. Auf die Frage, inwieweit schwierige Schüler ein Problem an ihrer Schule seien, antworteten 65,1 % der Lehrer/innen mit „das trifft eher zu“ bzw. „das trifft voll zu“. Auffälliges Verhalten von Schüler/innen ist allerdings nicht die einzige Belastungsquelle von Lehrer/innen. Rudow (1994: 86) berichtet aus einer Diplom-
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
371
arbeit, in deren Rahmen 48 Lehrer interviewt wurden. Als belastende Tätigkeitsmerkmale stellten diese Lehrer folgende Probleme dar: Abbildung 12: Belastende Tätigkeitsmerkmale im Lehrerberuf
Rang
1 2 3,5 3,5 5,5 5,5 7 8 9 10 11
Tätigkeitsmerkmale Unzufriedenheit mit Führungsstil der Schulleitung bzw. akute Konflikte mit der Leitung eingeschränkter Entscheidungs- und Handlungsspielraum zeitweise Überforderung durch Häufung von Anforderungen in bestimmten Zeitabschnitten des Schuljahres keine Identifikation mit einzelnen Anforderungen im außerunterrichtlichen Bereich fehlende bzw. unzureichende soziale Hilfe hektisches und störungsvolles Arbeitsklima an der Schule Überforderung durch lang andauernde psychomentale Belastung Angreifbarkeit und Rechtfertigungspflicht hinsichtlich getroffener Entscheidungen unzureichende Wertschätzung der eigenen Tätigkeit Selbstwertbedrohung durch Schülerverhalten Verantwortungsdruck
Kennzeichnung der Berufsmerkmale als Belastung (in %) 78,3 % 75,0 % 70,0 % 70,0 % 66,6 % 66,6 % 63,6 % 56,6 % 50,0 % 48,3 % 46,6 %
Über solche Belastungen kann wohl jeder Lehrer bzw. jede Lehrerin berichten. Belastungen durch auffällige Schüler/innen stehen hier aber nicht im Vordergrund. Allerdings kann die Rangfolge der Belastungsreaktionen von Schule zu Schule und von Individuum zu Individuum variieren. Solche Angaben über Belastungsquellen dürfen allerdings nicht überbewertet werden.
372
Eberhardt Todt
In der Befragung von Döbrich et al. (1999) äußerten die Lehrer/innen sehr oft ihre Zufriedenheit mit dem Beruf des Lehrers bzw. der Lehrerin: Abbildung 13: Aspekte der Berufszufriedenheit von Lehrer/innen
Aspekte der Berufszufriedenheit x Ich stelle mich gern den Herausforderungen meines Berufs. x Ich bin zufrieden mit meinem Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern. x Meine Arbeit ist sehr interessant und abwechslungsreich. x Ich bin insgesamt mit meiner Unterrichtstätigkeit zufrieden. x Mit meiner beruflichen Situation bin ich insgesamt zufrieden. usw.
Antworten: „trifft eher zu“ und „trifft voll zu“ in % 90,1 % 88,4 % 86,4 % 82,5 % 74,6 %
Wenn sich die Schulleitungen und die Kollegien der ca. 25 % weniger zufriedenen Lehrer/innen stärker annehmen, wird das diesen und den Schüler/innen zugute kommen.
6
Prävention und Intervention
Wenn man noch wenig Erfahrung hat mit der Prävention auffälliger, den Unterricht störender Verhaltensweisen, kann es hilfreich sein, wenn man sich zunächst einmal an den Erfahrungen von Kolleg/innen orientiert, die schon länger im Dienst sind. Die von uns befragten 106 Grundschullehrer/innen äußerten u. a. folgende Erfahrungen (Zitate):
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
373
Abbildung 14: Erfahrungen von Grundschullehrer/innen in Bezug auf erfolgreiche Präventionsstrategien (Zitate) Damit in der Schulklasse nur wenige Unterrichtsstörungen auftreten, ist es vor allem wichtig, dass man … x keine Leerlaufzeiten hat und den Unterricht differenziert gestaltet. x eine authentische Bezugsperson für die Kinder darstellt, sie als Individuen wahrnimmt und an der Unterrichtsgestaltung beteiligt. x den Unterricht gut strukturiert, sachlogisch aufbaut, schülerangemessen unterrichtet, das Handeln in den Unterricht einbezieht und verschiedene Methoden verwendet. x wenige, aber geeignete (umsetzbare) Regeln aufstellt, die eingehalten werden, bzw. bei Nichteinhaltung bzw. Zuwiderhandlung Maßnahmen erfolgen. x die Schüler sinnvoll beschäftigt, ihren individuellen Leistungsfähigkeiten gerecht wird. x Unterrichtsstörungen nonverbal Einhalt gebietet. x alle Schüler von der Thematik begeistert, dass man in Sachkunde z. B. möglichst viele Versuche aufbaut und dass man alle Schüler in irgendeiner Form beschäftigt. x selbst Ruhe ausstrahlt und den Unterricht schülerorientiert gestaltet. x Regeln mit Kindern bespricht und Einsicht in die Notwendigkeit erarbeitet, Rituale einführt und an Rücksichtnahme appelliert. x ein ruhiges Umfeld schafft, in dem konzentriert und motiviert gearbeitet werden kann. x eine breite Methodenvielfalt anwendet. x alle Kinder dort abholt, wo sie stehen. Manche Maßnahmen sind aber beliebter als andere. Die von uns befragten 106 Grundschullehrer/innen berichteten mehrheitlich, dass sie folgende Maßnahmen anwendeten, um Unterrichtsstörungen vorzubeugen bzw. um diese zu beendigen:
374
Eberhardt Todt
Abbildung 15: Von Grundschullehrer/innen bevorzugte Maßnahmen zur Prävention von Unterrichtsstörungen Wie häufig wenden Sie die folgenden Maßnahmen zur Vorbeugung bzw. zur Beendigung von Unterrichtsstörungen an?
Antworten: „sehr oft“ bzw. „oft“ (in %)
x Verstärken (z. B. loben, anerkennen) von prosozialem Verhalten
79 %
x Vereinbarung von Verhaltensregeln
77 %
x Ruhezeichen benutzen
75 %
x Unterrichtsstörungen nicht als Angriff auf die eigene Person bewerten
74 %
x Rituale einsetzen
69 %
x Methodenwechsel
68 %
x Möglichst alle Kinder in gleicher Weise fordern (d. h. Leerlauf bei einzelnen Kindern vermeiden)
67 %
x Bei Unterrichtsstörungen selbst Ruhe bewahren
67 %
x Durch Gestik bzw. Mimik Kinder auf ihr störendes Verhalten aufmerksam machen
65 %
x Einzelgespräche mit störenden Kindern
61 %
x Störende Kinder an Regeln erinnern
59 %
x Eltern über gravierende Unterrichtsstörungen informieren
58 %
x Mich in die Nähe eines störenden Kindes begeben
54 %
Relativ wenige (< 20 %) der Lehrer/innen berichten, dass sie häufig strafen mit Maßnahmen wie: Pausenverbot, zum Schulleiter schicken, Strafarbeit (mit Steigerung bei wiederholter Störung), Ausschluss aus Klassenaktivitäten (Auszeit) usw.
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
375
In der Retrospektive berichteten Studierende, die sich auf ein Lehramt vorbereiteten, über folgendes Verhalten, das sie bei Lehrer/innen beobachteten, die in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 gut mit Unterrichtsstörungen fertig wurden: Abbildung 16: Berichte von Studierenden über das Verhalten von Lehrer/innen, die mit auffälligem Verhalten im Grundschulalter erfolgreich umgingen Der Lehrer/die Lehrerin … x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x
hatte Interesse an jedem einzelnen Schüler nahm die Schüler ernst setzte klare Grenzen hielt sich an Abmachungen (z. B. Drohungen wurden auch wahr gemacht) stellte Regeln in der Klasse auf führte Rituale ein gab den Kindern – nach längeren Konzentrationsphasen – die Möglichkeit, sich zwischendurch zu entspannen tauschte die Sitzplätze von Kindern, die sich gegenseitig ablenkten sagt nichts, bis alle Kinder still waren gab Zusatzaufgaben (bei regelwidrigem Verhalten) führte viele Gespräche mit Eltern und Kindern gestaltete einen abwechslungsreichen Unterricht gestaltete den Unterricht so, dass alle Kinder konzentriert mitarbeiten wollten war den Kindern gegenüber freundlich rügte kleinere Probleme mit Humor verhielt sich fair – wenn auch „sinnvoll“ streng blieb ruhig und verschaffte sich so Respekt trat von Anfang an selbstbewusst auf ignorierte Unterrichtsstörungen (wenn sie nicht gravierend waren) stimmte seine/ihre Maßnahmen mit den anderen Lehrer/innen der Klasse ab
Die bisher für die Grundschulzeit berichteten Erfahrungen bzw. Empfehlungen lassen sich mit wenigen Ausnahmen auch auf die anschließende Schulzeit (Sekundarstufe I) übertragen. Da auffälliges Verhalten im Unterricht keinesfalls ein neues Problem ist – es existiert seit es schulischen Unterricht gibt – sollte man klassische Ansätze nicht ignorieren. Zu solchen Ansätzen gehören diejenigen von Anderson, von
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Tausch, von Kounin und von Dreikurs. Alle diese Ansätze beschreiben Lehrerverhalten, das – auf Grund der systematischen Beobachtung durch die Autoren – auffälligem Verhalten im Unterricht vorbeugen kann. Anderson (zit. nach Weber 19712): Anderson beobachtete in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts Kinder in Kindergartengruppen und in Grundschulklassen. Auf Grund dieser Beobachtungen unterschied er zwei typische Verhaltensstile von Erzieher/innen bzw. Lehrer Innen: Abbildung 17: Verhaltensstile von Erzieher/innen und Lehrer/innen (nach Anderson) Der dominative Verhaltensstil: Der Lehrer … x verwendet häufig Befehle und Aufforderungen x setzt Anordnungen häufig mit Zwang durch x neigt zu Tadel, Drohungen, Beschämungen x hält an seinen Zielen rigoros fest x bezieht Schülervorschläge nicht mit ein usw. Der integrative Verhaltensstil Der Lehrer … x nimmt die Kinder als Personen mit eigenen Gedanken und eigenem Willen ernst x ist höflich – auch in schwierigen Situationen x äußert Anerkennung, Lob, Ermutigung x kritisiert sachlich und konstruktiv usw. Nach Andersons Beobachtung zeigt sich auffälliges bzw. störendes Verhalten bei Kindern am seltensten, wenn es dem Lehrer bzw. der Lehrerin gelingt, zwei Anteile integrativer Verhaltensweisen und nur einen Anteil dominativer Verhaltensweisen zu zeigen.
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Kounin (1976): Kounin beobachtete Unterrichtsverhalten von Lehrer/innen und Unterrichtsbeteiligung von Schüler/innen sowie das Ausmaß an Störungen des Unterrichts durch Schüler/innen. Aus seinen Beobachtungen destillierte er folgende neun Merkmale von Lehrer/innen heraus, die wenig mit Disziplinproblemen zu tun hatten und eine hohe Arbeitsbereitschaft ihrer Schüler/innen provozierten: Abbildung 18: Kounins Merkmale von Lehrer/innen, die ihre Schüler/innen erfolgreich motivierten und die relativ selten mit Unterrichtsstörungen konfrontiert wurden Lehrer/innen, die ihre Schüler/innen in besonderem Maße motivierten und wenig mit Unterrichtsstörungen zu kämpfen hatten, zeigten folgende Merkmale: x Allgegenwärtigkeit: Sie unterbanden frühzeitig kleinere Störungen und zeigten so, dass sie mitbekommen, was in der Klasse „läuft“. x Überlappung: Sie konnten ihre Aufmerksamkeit gleichzeitig auf mehrere Abläufe ausrichten und diese regulieren. x Reibungslosigkeit: Sie sorgten für einen reibungslosen Unterrichtsablauf und ließen sich nicht von Nebensächlichkeiten ablenken. x Schwung: Bei ihnen ging der Unterricht voran, sie hielten sich nicht mit überflüssigen Wiederholungen oder unwichtigen Einzelheiten auf. x Gruppenmobilisierung: Ihnen gelang es, alle Schüler/innen der Klasse zu motivieren. x Rechenschaftsbericht: Sie kontrollierten die Arbeit der Schüler/innen und zeigten ihnen so, dass sie Sorgfalt und verantwortliches Handeln von ihnen erwarteten. x Beschäftigungsradius: Sie sorgten dafür, dass alle Schüler/innen aktiv beteiligt sind und niemand wartend bzw. gelangweilt herumsaß. x Anreize: Sie versuchten, ihre Schüler/innen für ein neues Thema zu begeistern und ihre Lernbereitschaft durch Anmerkungen über die Bedeutung des Themas zu wecken. x Abwechslung: Sie sorgten für Abwechslung, z. B. durch häufigeres Wechseln der Lernaktivitäten bzw. der Lehrmethoden.
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Eberhardt Todt
Tausch & Tausch: Orientiert an der humanistischen Psychologie von Carl Rogers hat sich das Ehepaar Tausch die Frage gestellt „Welche Haltungen und Aktivitäten von Personen fördern und erleichtern in zwischenmenschlichen Beziehungen bei anderen bedeutsame seelische Vorgänge und ihre konstruktive Persönlichkeitsentwicklung?“ (Tausch & Tausch 199811: 101). Auf die Schule bezogen kann man auch formulieren: Welches Lehrerverhalten unterstützt lernförderndes Verhalten von Schüler/innen und reduziert auffälliges Verhalten am besten? Von Carl Rogers übernahm das Ehepaar Tausch die Haltungs- bzw. Verhaltensdimensionen: x Achtung – Wärme x einfühlendes Verstehen der inneren Welt des anderen x Echtheit - Aufrichtigkeit und ergänzte diese Dimensionen durch x fördernde nicht-dirigierende Einzel-Tätigkeiten und x Lenkung (die eine untergeordnete Rolle spielen soll). Die zuerst genannten vier Dimensionen entsprächen auch weitgehend dem Verhalten, das sich Kinder und Jugendliche von ihren Eltern, Lehrern und Erziehern wünschten. Im Einzelnen kennzeichnen die Autoren die genannten Dimensionen durch folgende Merkmale: Abbildung 19: Merkmale der von Tausch & Tausch postulierten Verhaltensdimensionen Dimension: Achtung – Wärme (Tausch & Tausch 199811: 120) Merkmale: x den anderen wertschätzen x ihn anerkennen x ihn freundlich, rücksichtsvoll behandeln x ihn ermutigen u. a. m.
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Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
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Fortsetzung
Dimension: Einfühlendes Verstehen (Tausch & Tausch 199811: 181) Merkmale:
x x
den anderen so verstehen, wie dieser sich gerade selbst sieht dem anderen mitteilen, was man von seiner inneren Welt verstanden hat x dem Erleben des anderen entsprechend handeln u. a. m.
Dimension: Echtheit - Aufrichtigkeit (Tausch & Tausch 199811: 215) Merkmale:
x sich so geben, wie man wirklich ist x sagen, was man denkt und fühlt x sich anderen gegenüber offenbaren – keine „Rolle“ spielen u. a. m.
Dimension: Fördernde nicht-dirigierende Tätigkeiten (Tausch & Tausch 199811: 247) Merkmale:
x x x
dem anderen Anregungen geben dem anderen klärende Rückmeldungen geben mit dem anderen gemeinsam lernen, ihn aber nicht dirigieren oder dominieren u. a. m.
Dimension: Lenkung (Tausch & Tausch 199811: 333) Merkmale:
x den anderen belehren, ihn überreden x selbst viel reden, monologisieren x anordnen, kontrollieren, vorschreiben u. a. m.
Es ist nachvollziehbar, dass der Tausch’schen Konzeption eher der Verzicht auf Lenkung entspricht, nämlich: dem anderen Selbstbestimmung zugestehen, nicht ausfragen oder überprüfen, nicht befehlen oder anordnen. Aber die Autoren sind sich – wie Anderson – auch darüber im Klaren, dass ein gewisses Maß an Lenkung im Lehr- und Erziehungsprozess unumgänglich ist. Dreikurs (Dreikurs et al. 19958) Dreikurs, ein Schüler Alfred Adlers, geht davon aus, dass Kinder bzw. Jugendliche ihren Platz in der Familie, in der Schule und in der Welt finden wollen. Wenn sie sich bei diesem Suchen „falsch“ verhielten, hätten sie irrige Vorstellungen darüber entwickelt, wie sie dieses Ziel erreichen können. Also: Jedes Verhalten – auch das auffällige, unangepasste – sei motiviert, habe ein Ziel.
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Eberhardt Todt
Bei auffälligem, störendem, unerwünschtem Verhalten postulierte Dreikurs vier mögliche (Nah-)Ziele zur Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Anerkennung und sozialer Zugehörigkeit: Abbildung 20: Mögliche Ziele auffälligen Verhaltens (nach Dreikurs et al. 19958) Das Kind bzw. der Jugendliche verfolgt mit seinem auffälligen Verhalten eines (oder mehrere) der folgenden (Nah-)Ziele: x x x x
Aufmerksamkeit erreichen Macht, Überlegenheit erlangen Rache, Vergeltung üben Unfähigkeit zur Schau stellen
Auf Grund welcher Beobachtungen man die Ziele auffälliger Schüler/innen erschließen kann und mit welchen Maßnahmen man die Schüler/innen zu sozial akzeptierter, konstruktiver Zielerreichung (Integration in die Gemeinschaft) bringen kann, stellen die Autoren in ihrem Buch im Detail dar. Das Konstanzer-Trainings-Modell (KTM) Das Konstanzer-Trainings-Modell (KTM) ist ein neuerer Trainingsansatz, durch den Lehrer/innen mit Hilfe eines Trainingspartners (Tandem-Modell) lernen können, auffälliges Schülerverhalten – vor allem aggressives und störendes Verhalten – neu zu bewerten und flexibel zu beantworten (Humpert & Dann 2001). Auf das Training selbst soll hier nicht im Detail eingegangen werden. Allerdings sollen zentrale Trainingsziele kurz dargestellt werden: Einerseits sollen Lehrer/innen lernen, problematische Situationen im Unterricht, in Pausen und bei anderen Gelegenheiten in der Schule reflektierter wahrzunehmen und zu interpretieren. Diesen Teil des Trainings nennen die Autoren „Situationsauffassung“.
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Abbildung 21: Lernziele der Situationsauffassung im KTM Situationsauffassung Lernziele:
x Veränderung der Wahrnehmungsstrategie: „Wann und woran erkenne ich eine Störung oder Aggression?“ x Veränderung der Erklärungsmuster: „Wie erkläre ich mir das Zustandekommen?“ x Veränderung der Zuordnungsstrategien von Situationskategorien zu störendem, aggressivem Schülerverhalten: „Welche Störungs- oder Aggressionsarten unterscheide ich?“ x Veränderung der Zielvorstellungen: „Welche Ziele setze ich mir?“
Andererseits werden den Lehrer/innen 27 Handlungsempfehlungen gegeben, die sie flexibler werden lassen bei ihren Reaktionen in problematischen Situationen. Abbildung 22: Handlungsempfehlungen für Lehrer/innen (im Rahmen des KTM) Handlungsempfehlungen x Unerwünschtes Verhalten hemmen (als kurzfristige Strategie) Ziel: Entzug von Verstärkung, d. h. Verhinderung von Erfolgserlebnissen z. B. Ignorieren des auffälligen Verhaltens Entzug von Vergünstigungen x Negative Anregungen vermindern (als präventive Strategie) Ziel: Anreize für auffälliges Verhalten vermeiden bzw. aus dem Wege räumen z. B. Als Lehrer nicht selbst aggressives Verhalten zeigen. Keine Unterrichtsmaterialien benutzen, die Unfug provozieren könnten. x Positive Anregungen anbieten (als kurzfristige präventive Strategie) Ziel: Schülerverhalten anregen, das unvereinbar ist mit auffälligem, störendem Verhalten z. B. Abwechslung in Inhalten und Methoden bieten. Unterricht klar strukturieren und durchschaubar gestalten.
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Eberhardt Todt Handlungsempfehlungen
x Persönliche Bewertungen verändern (als längerfristige Strategie) Ziel: Einstellungsänderung im Hinblick auf die Bewertung und auf den Umgang mit auffälligem Verhalten z. B. Störungen entdramatisieren (evtl. durch Humor). Schuldzuschreibungen vermeiden. x Erwünschtes Verhalten fördern (als längerfristige Strategie) Ziel: Verstärkung von kooperativem und diszipliniertem Verhalten z. B. Klassenregeln vereinbaren. Kooperative Konfliktlösungen üben. Dan Olweus (19622) Dan Olweus hat sich seit Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in Schweden und vor allem in Norwegen intensiv und umfassend mit aggressivem Verhalten von Schüler/innen der Jahrgangsstufen 2 bis 9 beschäftigt. Auf Grund seiner Erfahrungen hat er ein detailliertes Interventionsprogramm entwickelt, das zum Beispiel folgende Maßnahmen umfasst (Olweus 19962: 69/70). Abbildung 23: Interventionsmaßnahmen von Dan Olweus Maßnahmen auf Schulebene z. B.
z. B.
z. B.
Gestaltung des Schulhofes Bessere Pausenaufsicht Verabschiedung eines Schulprogramms zur Gewaltprävention Maßnahmen auf Klassenebene Klassenregeln Rollenspiele gemeinsame positive Klassenaktivitäten Maßnahmen auf persönlicher Ebene Gespräche mit Gewalttätern und –opfern Hilfe von „neutralen“ Schülern Gespräche mit den Eltern beteiligter Schüler
Für jede der von Olweus unterschiedenen Ebenen soll nun ein konkretes Beispiel angeführt werden.
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
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Schulebene: Vor einigen Jahren entwarfen wir mit Gremienvertretern einer Gesamtschule den Rahmen für eine Schulordnung, die im Detail dann durch Mitwirkung der Schüler ausgeführt wurde: Abbildung 24: Vereinbarung zum Schulleben einer Gesamtschule
Vereinbarungen zum Schulleben Wir alle, die zur …-Schule gehören, wollen -
in unserer Schule lernen können und Lernen ermöglichen, uns gegenseitig achten und respektieren, eine Schule, in der jeder Verantwortung trägt, eine Schule, in der wir uns wohlfühlen.
Damit wir alle lernen können und uns wohlfühlen, -
bemühen wir uns um einen ungestörten Unterricht, vermeiden oder schlichten wir Streitereien, gehen wir freundlich miteinander um und beleidigen und provozieren niemanden, besprechen wir Probleme miteinander, versuchen wir, die Besonderheiten anderer zu verstehen und zu akzeptieren, lassen wir andere zu Wort kommen und auch ausreden.
Zum alltäglichen Zusammenleben gehört auch, dass alle -
sich verpflichten, nichts in die Schule mitzubringen, wodurch andere bedroht oder belästigt werden könnten, sich so in der Schule bewegen, dass niemand gestört und gefährdet wird, sich in der Cafeteria zum Kauf von Speisen und Getränken in einer Reihe anstellen und die Reihenfolge einhalten, beachten, dass in der Zeit von 12.00 bis 13.30 Uhr sich nur die in der Cafeteria aufhalten, die dort essen, sich verpflichten, die Toiletten nur ihrem Zweck entsprechend zu nutzen, das Rauchverbot für Schülerinnen und Schüler beachten, den Bereich der abgestellten Fahrräder meiden, darauf achten, dass niemand etwas auf den Boden wirft, spuckt, Wände oder Möbel beschmiert oder etwas zerstört darauf achten, dass jede Gruppe für den Raum, den sie verlässt, verantwortlich ist.
Wir dulden nicht, dass in unserer Schule jemand in seinen Rechten beeinträchtigt wird.
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Klassenebene: Regeln und Rituale sind Maßnahmen, die in Grundschulen weit verbreitet sind, sie sind aber auch in der Sekundarstufe I möglich (Petersen 2001). Die Regeln sollten eindeutig zu verstehen sein, die Anzahl der Regeln, die in einer Klasse vereinbart werden, sollte begrenzt sein. Beispiele für Regeln, die eine Klasse vereinbarte, sind etwa: Abbildung 25: Beispiele für Klassenregeln Verhaltensregeln einer Klasse der Jahrgangsstufe 5 x x x x x
x
Wir lösen Konflikte friedlich (durch Gespräche) und nicht durch Raufereien. Wir achten und beschützen andere, besonders wenn sie schwächer sind als wir. Wir ärgern einander nicht, sondern helfen einander. Wir schreien einander nicht an. Wir sorgen dafür, dass unser Klassenzimmer so gestaltet ist, dass wir uns darin wohl fühlen. Wir bemühen uns um Höflichkeit.
Regeln sind nutzlos, wenn nicht konsequent auf ihre Einhaltung geachtet wird und wenn Regelverletzungen keine Konsequenzen haben. Solche Konsequenzen sollten aber auch mit den Schüler/innen vereinbart werden. Möglichkeiten solcher Konsequenzen sind z. B.: Abbildung 26: Mögliche Konsequenzen bei Regelverletzungen Mögliche Konsequenzen bei Regelverletzungen y
Der Lehrer/die Lehrerin schreibt (kommentarlos) den Namen des Regelverletzers an die Tafel.
yy
Bei wiederholter Regelverletzung ergänzt der Lehrer/die Lehrerin den Namen an der Tafel mit einem Strich (bzw. mit mehreren Strichen).
yyy
Bei Kindern, die sich mehrfach bzw. systematisch den Regeln widersetzen, informiert der Lehrer/die Lehrerin die Eltern.
Es gibt aber auch andere Möglichkeiten.
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
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Persönliche Ebene: Handelt es sich bei der Verhaltensauffälligkeit um einen ernsthaften Konflikt zwischen zwei oder mehr Schüler/innen, dann kann man eine Streitschlichtungsmaßnahme ins Auge fassen. Bei der Streitschlichtung handelt es sich um ein ritualisiertes Verfahren, zu dessen Handhabung geeignet erscheinende („neutrale“) Schüler/innen ausgebildet werden. Karin Jefferys-Duden (1999) hat ein Programm für die Ausbildung von Mediatoren (Jahrgangsstufe 3 bis 6) und für die Durchführung der Streitschlichtung dargestellt. Das Ritual der Schlichtung läuft etwa so ab: Abbildung 27: Ritueller Ablauf einer Schlichtung Ablauf der Schlichtung 1. Stufe:
Die freiwillig zur Schlichtung erschienen Schüler/innen (Konfliktparteien) werden von dem Mediator/der Mediatorin mit den Regeln der Schlichtung vertraut gemacht. Diese Regeln müssen sie anerkennen. Regeln sind z. B. einander ausreden lassen, höflich sein usw.
2. Stufe:
Hier beschreiben die Konfliktparteien nacheinander ihre Sicht des Ablaufes des Streits.
3. Stufe:
Hier werden die Konfliktparteien aufgefordert, Lösungsmöglichkeiten für den Konflikt zu suchen.
4. Stufe:
Hier wird (schriftlich) ein Abkommen getroffen, in dem sich die Konfliktparteien verpflichten, die gemeinsam vereinbarte Konfliktlösung auch umzusetzen.
Es gibt inzwischen auch zahlreiche Projekte, die sich spezifischere oder allgemeinere Präventionsziele gesetzt haben. Ein Beispiel stellt das Projekt „Das kleine ich bin ich“ dar. Im Rahmen eines Projektes, das sich über 14 Wochen (je Woche zwei Unterrichtsstunden) erstreckt, unterstützte die Techniker Krankenkasse einen Präventionsansatz, mit dessen Hilfe Grundschulen auffälligem Verhalten (Aggression, Suchtverhalten) frühzeitig und überdauernd entgegenwirken können. Im Mittelpunkt des Projektes stehen Übungen zur Stärkung der Selbstsicherheit, zur Förderung der Kommunikationsfähigkeit und der Identitätsfindung der Kinder (Techniker Krankenkasse 1999).
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Die Themen (mit entsprechenden Bearbeitungsanleitungen) sind im Einzelnen: Abbildung 28: Themen des Grundschulprojektes „Das kleine ich bin ich“ Themen des Grundschulprojektes „Das kleine ich bin ich“: 1. Kennenlernen – Vertrauen schaffen 2. Intensivierung der Kontaktaufnahme 3. Einführung in den Gefühlsbereich 4. Eigene Identität – Gruppenidentität 5. Gefühle allgemein benennen 6. Verbalisieren und körperliches Ausdrücken des Gefühlszustandes Freude 7. Verbaler und körperlicher Ausdruck von Trauer und Erarbeiten von Bewältigungsmöglichkeiten 8. Verbaler und körperlicher Ausdruck von Ärger 9. Vertiefung des Themas: Das Gefühl Ärger und Erarbeiten von Bewältigungsstrategien 10. Verbaler und körperlicher Ausdruck von Liebe 11. Entspannungsübung zum Gefühlszustand Angst 12. Vertiefung des Themas: Das Gefühl Angst und Erarbeiten von Bewältigungsstrategien 13. Verbaler und körperlicher Ausdruck von Langeweile und Bewältigungsmöglichkeiten 14. Abschlusssitzung (Evaluation)
7
Erklärungsansätze für auffälliges Verhalten von Schüler/innen
Wie erklären sich Grundschullehrer/innen auffälliges, den Unterricht störendes Verhalten von Grundschüler/innen? Auf diese Frage antworteten uns – im Rahmen von Befragungen durch mehrere Lehramtsstudierende – insgesamt 106 Grundschullehrer/innen Folgendes:
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
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Abbildung 29: Erklärungen von Grundschullehrer/innen für auffälliges Schülerverhalten
Meiner Meinung nach sind Unterrichtsstörungen in der Grundschule zu erklären als …
Antworten „oft“ bzw. „sehr oft“ in % (N = 106) Angenommene Verhaltensursachen bei Jungen Mädchen
Reaktion auf elterliche Erziehung, die auf das Setzen von Grenzen verzichtete
69 %
50 %
Reaktion auf inkonsequente Erziehung im Elternhaus
68 %
49 %
Reaktion des Kindes auf außerschulische Ablenkungen (z. B. PC-Spiele, TV, Video)
61 %
33 %
Reaktion des Kindes auf außerschulische (bes. familiäre) Probleme
59 %
51 %
Reaktion auf Bewegungsmangel
42 %
21 %
Reaktion auf Überreizung im außerschulischen Bereich (z. B. verplante Freizeit)
39 %
31 %
Reaktion auf Überforderung (Hilflosigkeit, Selbstwertprobleme)
36 %
26 %
Reaktion auf Ablenkung durch andere, durch Lärm, durch attraktive Alternativen zum Unterricht
34 %
24 %
Reaktion auf allgemeine Erregung und Mangel an Impulssteuerung
31 %
11 %
Reaktion auf unterschiedliche Auffassungen von Eltern und LehrerIn über diszipliniertes Verhalten
28 %
18 %
Reaktion auf Ablehnung bzw. Nichtakzeptieren von Regeln
26 %
12 %
Reaktion auf Schlafmangel
24 %
17 %
Reaktion auf Mangel an Aufmerksamkeit durch Lehrer/in oder Mitschüler/innen
22 %
17 %
Reaktion auf uninteressanten Unterricht (Langeweile)
21 %
14 %
usw.
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Eberhardt Todt
Alle diese Erklärungsansätze sind plausibel. Alle diese möglichen Ursachen von auffälligem Verhalten von Kindern und Jugendlichen werden auch in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen diskutiert. Nachvollziehbar ist auch, dass die angenommenen Ursachen seltener bei Mädchen als bei Jungen genannt werden. Jungen zeigen ja häufiger Auffälligkeiten im Leistungsbereich und im Bereich beobachtbaren sozialen Verhaltens als Mädchen. Orientiert man sich an den Erklärungen der Lehrer/innen, dann scheinen sie wenige Möglichkeiten zu haben, mit Unterrichtsstörungen bzw. mit auffälligem Schülerverhalten umzugehen. Sie haben ja wenig Einfluss auf … x x x x x
das Erziehungsverhalten von Eltern konzentrationsunfähige Schüler/innen häusliche Probleme ihrer Schüler/innen den Fernseh-, Video-Konsum der Schüler/innen den Autoritätsverlust der Institution Schule.
Nimmt man aber die Beobachtung ernst, dass verschiedene Lehrer/innen unter vergleichbaren Bedingungen ganz unterschiedliche Erfahrungen mit der Häufigkeit und der Art von Verhaltensauffälligkeiten machen, dann fragt man sich allerdings, ob nicht vieles an auffälligem Verhalten durch beeinflussbare schulische Bedingungen provoziert sein könnte. Bellebaum (1990: 124) berichtet über eine Befragung schweizerischer Schüler/ innen. Bei dieser Frage ging es darum, wie die befragten Schüler/innen im Allgemeinen mit Langeweile im Unterricht umgehen. Ihre Antworten: Abbildung 30: Reaktion schweizerischer Schüler/innen auf langweiligen Unterricht Umgang mit Langeweile in der Schule x x x x x x
vor sich hindösen Luftschlösser bauen Lehrer (leise) auslachen Hände begutachten Mädchen zum Erröten bringen blöde Sprüche schreiben
x Brieflein herumschicken x schwatzen x blöde Fragen stellen x mit den Stühlen quietschen x querulieren x Papierkügelchen schmeißen x Tinte spritzen usw.
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
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Für die betroffenen Lehrer/innen dürften das alles Anzeichen sein für mangelnde Konzentrationsfähigkeit, für Mangel an Motivation, für Undiszipliniertheit – also für von außen bedingte Verhaltensauffälligkeiten. Noch etwas detaillierter beschrieben uns ehemalige Schüler/innen (d. h. Lehramtskandidat/innen) ihre Befindlichkeit und ihr Verhalten in langweiligen Unterrichtsveranstaltungen (der Schule und der Universität): Abbildung 31: Berichte von Studierenden bzw. ehemaligen Schüler/innen über ihre Befindlichkeit und ihr Verhalten in langweiligen Unterrichtsveranstaltungen Was denke ich?
Was fühle ich?
Was tue ich?
bei langweiligem Unterricht x
hoffentlich ist das bald zu Ende
x
Unruhe, Bewegungsdrang
x
ich beschäftige mich mit anderen Dingen
x
damit kann man nichts anfangen: Es ist egal, ob ich es weiß oder nicht.
x
Müdigkeit, Konzentrationsschwäche
x
ich spiele z. B. Schiffe versenken
x
geistige Leere
x
ich gehe zur Toilette
x
Ärger/Zorn über die Vergeudung meiner Zeit
x
ich mache Quatsch
x
x
Unmut, Unzufriedenheit
ich unterhalte mich mit dem Nachbarn
x
ich fühle mich unwohl, deplaziert
x
ich schreibe Briefe, mache Hausaufgaben
x
meine Gedanken schweifen ab
x
in der Zeit hätte ich etwas Sinnvolleres tun können
x
mit was kann ich mich beschäftigen, damit ich mich nicht langweile?
x
ich bin enttäuscht, frustriert
x
ich hantiere mit Stiften u. a. herum
x
ich fühle mich genervt/gereizt
x
ich denke an persönliche Probleme, Pläne etc.
x
ich fühle mich unteroder überfordert
ich schaue auf die Uhr, zähle die Minuten
x
ich kritzele, zeichne
x
x
ich denke über schöne Geschehnisse nach (Urlaub, Reisen …)
usw.
usw.
usw.
Wenn der Mangel an Motivation zumindest teilweise die Voraussetzung für auffälliges Verhalten von Schüler/innen ist und wenn der Zustand der Motivation
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Eberhardt Todt
beeinflussbar ist, wodurch unterscheiden sich dann Lehrer/innen, die motivieren können von solchen, denen das weniger gelingt? Unsere Student/innen berichteten hier folgende Erfahrungen: Abbildung 32: Verhalten von Lehrer/innen, die in der Lage waren (bzw. nicht in der Lage waren), ihre Schüler/innen zu motivieren Was taten Lehrer/innen, die … motivieren konnten? nicht motivieren konnten? x
sie nahmen die Interessen und die Persönlichkeit der Schüler/innen ernst
x
sie waren selbst von ihrer Sache überzeugt
x
sie hatten ein positives Bild von Schüler/innen
x
sie wählten aktuelle, interessante Themen aus
x
sie zeigten Humor: sie machten z.B. Witze über manche Probleme, ohne jemanden zu beleidigen
x
sie zogen ihren Stoff durch – ohne Rücksicht auf Schülerbedürfnisse
x
sie hatten ein negatives Bild von Schüler/innen
x
sie wirkten selbst unmotiviert
x
sie versuchten nicht, sich in die Lage der Schüler/innen zu versetzen
x
sie redeten einschläfernd
x
sie behandelten die Themen zu kurz oder zu lang
x
sie brüllten herum
x
sie redeten mit Schüler/innen, machten ihnen Mut
x
sie bezeichneten Schüler/innen als Versager bzw. als Faulpelze
x
sie boten Schüler/innen Hilfe an
x
x
sie erklärten den Stoff gut
sie demotivierten mit dummen Sprüchen
x
sie lobten, wenn Schüler/innen etwas wussten
x
sie waren schlecht vorbereitet
x
sie zeigten ein autoritäres Verhalten
x
sie hatten einen guten Kontakt zu Schüler/innen
usw.
usw.
Bei der Umschreibung von Verhaltensauffälligkeiten spielt die Diskrepanz zwischen Lehrererwartung und Schülerverhalten eine zentrale Rolle. Aber auch Schüler/innen haben Erwartungen an das Verhalten ihrer Lehrer/ innen. Diskrepanzen zwischen diesen Erwartungen und beobachtetem Lehrerverhalten können zumindest Anlass, wenn nicht Ursache für auffälliges Verhalten von Schüler/innen darstellen.
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
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Bei einer Befragung von 111 Student/innen, die sich auf ein Lehramt vorbereiteten, wurden uns u. a. folgende Diskrepanzen berichtet: Abbildung 33: Diskrepanzen zwischen erwartetem und beobachtetem Lehrerverhalten (Angaben von Studierenden) Wie häufig beobachteten Sie (in Ihrer Schulzeit) die folgenden Verhaltensweisen von Lehrer/innen und wie wichtig waren die einzelnen Verhaltensweisen dafür, dass Sie sich im Unterricht wohl fühlten und interessiert und gut lernten?
Antworten (in %) Das erlebte ich oft bzw. sehr oft
Das war für mich wichtig bzw. sehr wichtig
Der Lehrer behandelte die Schüler fair (gerecht).
12 %
96 %
Der Lehrer bot den Stoff klar und verständlich dar.
15 %
88 %
Der Lehrer ging auf Fragen, Aussagen, Probleme von Schülern ein.
17 %
88 %
Es herrschte ein freundlicher Umgangston.
26 %
88 %
Die Schüler fühlten sich (als Menschen) ernst genommen .
19 %
86 %
Der Lehrer erkannte gute Leistungen an.
36 %
86 %
Die Erklärungen von auffälligem Verhalten und Extremformen dieses Verhaltens, also von Verhaltensstörungen variieren je nach der beruflichen Orientierung (Mediziner, Pädagogen, Psychologen), nach betrachtetem Verhaltenssyndrom und nach dem „Mainstream“ der öffentlichen Diskussion. In mehr oder minder reiner Form (oder in verschiedenen Kombinationen) liegen u. a. folgende Theorien den vorgeschlagenen Präventions- und Interventionskonzeptionen zugrunde:
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Abbildung 34: Theoretische Konzeptionen, die zur Erklärung von Verhaltensauffälligkeiten bzw. bei Maßnahmen zur Reduzierung dieser Auffälligkeiten herangezogen wurden. x Behavioristische Konzeptionen: Das Konstanzer Trainingsmodell (KTM) empfiehlt vor allem verhaltens- bzw. lerntheoretisch begründete Maßnahmen zur Beeinflussung des Schülerverhaltens: Ignorieren unerwünschten Verhaltens, Verstärkung erwünschten Verhaltens, Eliminierung von Anreizen für unerwünschtes Verhalten. Aber auch kognitive Ansätze werden empfohlen: Wahrnehmungs- bzw. Bewertungsumstrukturierung.
x Humanistische Konzeptionen: Das Ehepaar Tausch orientiert sich bei seinen Empfehlungen vor allem an der humanistischen Psychologie: Im Mittelpunkt stehen Maßnahmen zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder bzw. der Jugendlichen. Ein solcher Ansatz wird auch von Gordon (1981) mit seiner „Lehrer-Schüler-Konferenz“ vertreten.
x Pragmatische Konzeptionen: Anderson und Kounin gehen eher pragmatisch vor: Sie leiten ihre Vorschläge von Verhaltensweisen ab, die sie bei Lehrer/innen beobachteten, die erfolgreich mit Verhaltensauffälligkeiten umgehen konnten. Auch hier könnte man nach theoretischen Orientierungen suchen, die die Beobachtung der Autoren geleitet haben könnten – aber das ist eher von „akademischem“ Interesse.
x Tiefenpsychologische Konzeptionen Dreikurs postulierte im Rahmen seiner individualpsychologischen Konzeption im Wesentlichen vier (Nah-)Ziele, die auffällige Schüler/innen zu wählen scheinen, wenn sie auf andere (sozial akzeptierte) Weise ihr Ziel der Integration in die Gruppe nicht erreichen können (nach Adler ein zentrales Motiv jedes Menschen). Redl & Wineman (1976) orientierten sich an Freuds psychoanalytischer Konzeption und postulierten bei den von ihnen betreuten schwer verhaltensgestörten Jungen einen Kontrollverlust des Ich und experimentierten mit verschiedenen (auch behavioristischen) Maßnahmen mit dem Ziel, diese Kontrolle durch das Ich wieder herzustellen.
x Sozialpsychologische Konzeptionen Tornow (1977: 20), orientiert am sog. Labeling-Ansatz (Stigmatisierungsansatz), postulierte u. a.: „Verhaltensauffälligkeit ist kein dem Schüler inhärentes Merkmal. Verhaltensauffälligkeit liegt dann vor, wenn Schülerverhalten von Lehrern … definiert wird.“ Verhaltensauffälligkeit sei die Individualisierung gesellschaftlicher Phänomene. Schüler würden so typisiert und reagierten dann wieder auf diese Vorurteile.
Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer
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Aggressives Verhalten im Unterricht Franz Petermann & Johanna Helmsen
1
Einleitung
Aggressives und oppositionelles Verhalten bildet ein im Kindes- und Jugendalter viel beachtetes Problem. Dieses Interesse resultiert aus den negativen Folgen von stabilem aggressiven Verhalten sowohl für das aggressive Kind selbst als auch für seine Umwelt. So begünstigt aggressives Verhalten Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen und kann zu aggressiv-dissozialem Verhalten im Jugendalter führen (Fergusson, Horwood & Ridder 2005; vgl. Seitz, Koglin & Petermann 2006). Darüber hinaus sind die Folgen für die Personen im Umfeld des aggressiven Kindes zu beachten, insbesondere das Opfer aggressiven Verhaltens, die Familie, Mitschüler und der Lehrer. Die Interaktion zwischen einem aggressiven Kind oder Jugendlichen und seinen Eltern oder Lehrern zeichnet sich häufig durch Konflikte und wenig Vertrauen aus (z. B. Hughes & Kwok 2006). Aus diesen Gründen sind in den letzten Jahrzehnten vermehrt Ansätze zur Prävention und Intervention von aggressivem Verhalten in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Besonders Präventionen, die vom Klassenlehrer durchgeführt werden, haben sich dabei als effektiv erwiesen (Wilson, Lipsey & Derzon 2003).
2
Aggressives Verhalten von Kindern und Jugendlichen
2.1 Was versteht man unter aggressivem Verhalten? Im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten werden zahlreiche Begriffe verwendet, die jedoch verschiedene Bedeutungen besitzen und folglich voneinander abgegrenzt werden müssen. Unter Aggression wird im Allgemeinen ein zielgerichtetes Verhalten mit Schädigungsabsicht verstanden (vgl. Coie & Dodge 1998). Neben körperlichen Schädigungen werden auch jene Verhaltensweisen als aggressiv definiert, die seelische Schädigungen zum Ziel haben wie das bösartige Lästern über ein anderes Kind. Handelt es sich um störendes, impulsives und möglicherweise schädigendes Verhalten, das unbeabsichtigt erfolgt, handelt es sich um hyperaktives Verhalten (Döpfner 2002).
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
Von aggressivem Verhalten kann gewalttätiges Verhalten unterschieden werden, das sich auf schwerwiegendere und ausschließlich körperliche Schädigungen anderer Personen bezieht und folglich eine Sonderform des aggressiven Verhaltens darstellt. Bullying hängt eng mit gewalttätigem Verhalten zusammen, bezieht sich aber nur auf jene Gewalthandlungen, die wiederholt über einen längeren Zeitraum hinweg stattfinden. Delinquentes Verhalten hingegen beschreibt Gesetzesverstöße wie Von-zu-Hause-Weglaufen, Brandstiftung, Diebstahl, Schuleschwänzen, Alkohol- und Drogenmissbrauch und Vandalismus. Um den verschiedenen Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens gerecht zu werden, kann der Begriff aggressiv-dissoziales Verhalten verwendet werden. Beispiele für in der Schule häufig auftretende aggressiv-dissoziale Verhaltensweisen gibt Tabelle 1. Tabelle 1: Beispiele aggressiv-dissozialen Verhaltens im Schulsetting Bereich aggressiv-dissozialen Verhaltens
Beispiele
1. Aggressives Verhalten im Sinne der Verletzung oder Schädigung von Personen oder Sachen
schlagen, treten, schikanieren, drohen/ einschüchtern, Gerüchte verbreiten, lästern, Schulmaterial oder -eigentum beschädigen, „happy slapping“ (Prügelorgien, die mit dem Handy gefilmt und anschließend verbreitet werden)
2. Wegnahme/Aneignung von fremdem Besitz oder Verschaffen von eigenem Vorteil zu ungunsten Anderer
klauen, Mitschüler „abziehen“ (mehrere Täter rauben ein Opfer aus), fremde Schularbeit als eigene ausgeben
3. Nicht-Einhalten sozialer Regeln, ohne dass damit Anderen direkt Schaden zugefügt wird
nicht ausreden lassen, unaufgefordert dazwischenreden, andere auslachen
4. Opposition gegen Autoritäten und Regeln
auf dem Schulhof rauchen oder Drogen nehmen, Schulhof während der Pause verlassen, Handy im Unterricht benutzen
Aggressives Verhalten im Unterricht
397
2.2 Formen aggressiven Verhaltens Häufig wird Aggression in Subtypen unterteilt. Neben der geläufigen Unterscheidung zwischen verbaler Aggression (z. B. Beschimpfungen und Beleidigungen) und körperlicher Aggression (z. B. Schlagen und Treten) lassen sich auch andere Formen anführen (vgl. Petermann & Petermann 2005).
2.2.1 Reaktive vs. proaktive Aggression Bereits 1987 publizierten Dodge und Coie eine Arbeit, in der sie im Rahmen der sozial-kognitiven Informationsverarbeitungstheorie zwischen reaktiver und proaktiver Aggression unterschieden. Bei der reaktiven Form steht eine vermutete (wahrgenommene) Provokation und/oder Bedrohung im Vordergrund (Anderson & Bushman 2002). Diesen vermeintlichen oder realen Angriff oder eine Frustration bewältigt das Kind durch eine impulsive („heißblütige“; McAdams 2002) aggressive Handlung. Bei der reaktiven Aggressionsform steht also nicht die Angriffs- oder Erpresserkomponente im Mittelpunkt, sondern sie kann als ein „ungeschickter“ Versuch angesehen werden, die eigenen Emotionen zu regulieren. Dementsprechend sind bei reaktiver Aggression physiologische Anzeichen von Ärger sowie ein starker nonverbaler Ärgerausdruck zu beobachten (Hubbard et al. 2002). Diese Aggressionsform resultiert häufig aus frühen negativen Erfahrungen (Missbrauch, Misshandlung, familiärer Stress) eines Kindes (vgl. auch Petermann & Wiedebusch 2003). Zusätzlich zu den negativen Erfahrungen in der Familie werden reaktiv aggressive Schüler besonders häufig von ihren Klassenkameraden abgelehnt und schikaniert, was wiederum zu einer Verstärkung der reaktiven Aggressionen führt (Dodge et al. 2003; Prinstein & Cillessen 2003). Bei der proaktiven Aggressionsform handelt es sich um ein geplantes („kaltblütiges“; McAdams 2002) Verhalten, bei dem ein erkennbares Ziel erreicht werden soll, wobei die emotionale Betroffenheit als Motiv eine untergeordnete Rolle spielt (Anderson & Bushman 2002). Diese Form gilt als vergleichsweise schwereres aggressives Verhalten (McAdams 2002) und hat sich als Risikofaktor für späteres gewalttätiges und aggressiv-dissoziales Verhalten erwiesen (Brendgen, Vitaro, Tremblay & Lavoie 2001; Raine et al. 2006). Dodge und Coie (1987) konnten bei Kindern zwei Formen der proaktiven Aggression feststellen: eine instrumentelle und eine feindselige. Die instrumentelle Form wird durch Verstärkungsprinzipien initiiert und aufrechterhalten, das heißt der Aggressor verspricht sich einen sichtbaren Gewinn (z. B. durch eine Erpressung/Nötigung). Ein feindselig-aggressives Verhalten liegt vor, wenn ein Schüler seine Mitschüler dominieren will und diese deshalb massiv einschüchtert.
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Reaktive und proaktive Aggressionen sind somit zwei verschiedene, klar voneinander abgrenzbare Aggressionsformen, die aus unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen resultieren (Brendgen, Vitaro, Boivin, Dionne & Pérusse 2006; Poulin & Boivin 2000). Dennoch weisen Studien darauf hin, dass beide Aggressionsformen häufig gemeinsam auftreten (Vitaro, Brendgen & Tremblay 2002). So stellten Barker, Tremblay, Nagin, Vitaro und Lacourse (2006) in ihrer Studie fest, dass männliche Jugendliche zu etwa 95 %iger Wahrscheinlichkeit sowohl stark ausgeprägte proaktive Aggressionen als auch starke reaktive aggressive Verhaltensweisen aufwiesen. Diese Jugendlichen waren – im Gegensatz zu Jugendlichen, deren reaktives und proaktives aggressive Verhalten nur mittelmäßig stark ausgeprägt war – besonders häufig Mitglied in einer Gang. Der Anteil proaktiver Aggressionen hat in den letzten zwei Jahrzehnten im Vergleich zu reaktiven aggressiven Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen stark zugenommen. In einer Studie von McAdams (2002) mit Daten aus dem Jahr 2000 war ein Drittel der aggressiven Handlungen proaktiver Art.
2.2.2 Relationale Aggression Neben den bereits erwähnten Subtypen aggressiven Verhaltens kommt der sogenannten relationalen Aggression oder Beziehungsaggression eine zunehmende Bedeutung zu. Besonders im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten bei Mädchen wird häufig von relationaler Aggression gesprochen. Darunter wird ein Verhalten verstanden, durch das andere Schaden nehmen, indem Beziehungen, Freundschaften, eine Gruppenzugehörigkeit oder ein Gefühl der Akzeptanz zerstört werden oder eine solche Zerstörung angedroht wird (Crick 1996). Dies geschieht beispielsweise durch Diffamierung, Verbreitung von Gerüchten oder Ausschluss aus der Gruppe. Relational aggressives Verhalten kann nicht nur indirekter Art sein (z. B. Gerüchte verbreiten), sondern es kann auch direkt erfolgen, beispielsweise, indem ein Kind in Gegenwart seiner Freunde gedemütigt wird (Hart et al. 2000; Werner, Bigbee & Crick 1999). Viele Befunde deuten darauf hin, dass Jungen besonders offene und körperliche Formen von Aggression aufweisen, Mädchen hingegen vorwiegend verbale und relationale Aggression zeigen, die Beziehungen zu Gleichaltrigen beschädigen sollen (Petermann & Petermann 2000). In einer Studie an 491 Dritt- bis Sechstklässlern von Crick und Grotpeter (1995) zeigten signifikant mehr Jungen als Mädchen offen aggressive Verhaltensweisen, während signifikant mehr Mädchen als relational aggressiv beurteilt wurden. Im Vergleich zu den nicht relational aggressiven Gleichaltrigen wurden relational aggressive Kinder häufiger durch ihre Gleichaltrigen abgelehnt und sie besaßen ein größeres Risiko für die
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Entwicklung von schwerwiegenden Anpassungsschwierigkeiten wie Einsamkeit, Depression und negative Selbstwahrnehmungen.
2.2.3 Bullying Zu den aggressiven Verhaltensstörungen, denen in der Schule eine entscheidende Bedeutung zukommt, zählt das so genannte Bullying. Im deutschen Sprachgebrauch wird das englische Wort Bullying meist mit schikanieren übersetzt (Schäfer 1997). Es wird als eine Form der Aggression bezeichnet, bei der ein Schüler absichtlich, wiederholt und mindestens drei Monate lang den negativen Handlungen eines oder mehrerer Schüler ausgesetzt ist (Solberg & Olweus 2003). Dabei besteht ein psychisches oder physisches Ungleichgewicht zwischen den Schülern, die andere schikanieren (Bully) und denen, die viktimisiert werden (Victim) (Nansel, Overpeck, Pilla, Ruan, Simons-Morton & Scheidt 2001). Bullying tritt zumeist im Rahmen einer relativ stabilen Gruppe (z. B. in der Klasse oder der Schule) zwischen einander nicht unbekannten Personen auf. Zum einen werden damit die Rollen der am Bullying beteiligten Schüler bedeutsam, zum anderen bleibt festzuhalten, dass das Opfer nur sehr bedingt Möglichkeiten besitzt, sich der Viktimisierungen zu entziehen (vgl. Wolke & Stanford 1999). Demnach ist Bullying ein soziales Phänomen, welches gruppendynamische Prozesse in spezifischen Gruppen beleuchtet. Von Bullying abzugrenzen sind so genannte Tobspiele, bei denen in etwa gleich starke Kinder in spielerischer Art Verhaltensweisen zeigen, die fälschlicherweise als Aggression oder Bullying gedeutet werden können. Während Erwachsene (z. B. Lehrer, Eltern) zuweilen Schwierigkeiten haben, dies zu unterscheiden (Schäfer & Smith 1996), können die meisten Kinder diese schon im Alter von acht Jahren zuverlässig trennen. Innerhalb entwicklungspsychologischer Studien werden Tobspiele unter anderem mit dem Erwerb wichtiger sozialer Kompetenzen in Verbindung gebracht (Oswald 1997; vgl. Scheithauer, Hayer & Petermann 2003). Wie beim aggressiven Verhalten auch kann Bullying sowohl in direkter (z. B. schlagen, beschimpfen, einsperren) als auch indirekter Form (z. B. aus einer Gruppe ausschließen, Gerüchte verbreiten) vorliegen und sowohl reaktiv als auch proaktiv erfolgen. In einer Studie von Camodeca, Goossens, Meerum Terwogt und Schuengel (2002) konnte bei sieben- bis achtjährigen Grundschülern, die andere Kinder laut Angaben ihrer Lehrer tyrannisierten und schikanierten, sowohl reaktive als auch proaktive Aggression beobachtet werden. Die Opfer dieser aggressiven Verhaltensweisen neigten hingegen nur zu reaktiv-aggressivem Verhalten. Beim Bullying zeigen sich ähnliche Geschlechtsunterschie-
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de wie beim aggressiven Verhalten. So sind bei Jungen häufiger direkte/physische Formen von Bullying zu beobachten, während Mädchen in stärkerem Maße indirektes Bullying ausüben (vgl. Scheithauer et al. 2003). Kasten 1:
Aspekte, die Bullying ausmachen (vgl. Wolke & Stanford 1999)
1. Aggressive Verhaltensweisen, die eine aktive, zielgerichtete Schädigungs-/ Verletzungshandlung, inklusive zielgerichteten Schädigungsversuchen bzw. Versuchen, anderen Personen Unannehmlichkeiten zu bereiten, umfassen. 2. Ein ungleiches, asymmetrisches Kräfte- bzw. Machtverhältnis innerhalb einer interpersonalen Beziehung zwischen mindestens zwei Schülern, wobei 3. das hilflose Opfer subjektiv nicht die Möglichkeit sieht, sich zu verteidigen (oder objektiv über keine Möglichkeiten verfügt) und 4. die Übergriffe wiederholt erfolgen. 5. Bullying kann sich in unterschiedlichen Äußerungsformen manifestieren (z. B. körperlich, verbal, relational). 6. Bezugnahme auf den Ort und somit auf die Beteiligten des Geschehens, nämlich der Schule als sozialen Lernort und Lebensraum von Jugendlichen.
2.3 Entwicklungsverlauf Der Verlauf aggressiven Verhaltens weist eine hohe Stabilität auf. Bei zwischen 32 % und 81 % der Kinder, die eine solche Störung aufwiesen, konnte aggressives Verhalten auch im Jugendalter diagnostiziert werden (Offord et al. 1992). Kinder mit einem durchgängig negativen Störungsverlauf haben, wenn sie älter werden, ein hohes Risiko für Fehlentwicklungen und Probleme in zahlreichen Lebensbereichen. Diese Schwierigkeiten umfassen schulische und berufliche Misserfolge, labile zwischenmenschliche Beziehungen, psychische Störungen (z. B. depressive und Angststörung, Suizidversuche), kriminelle Delikte und Substanzmissbrauch (Fergusson et al. 2005). Darüber hinaus geht aggressives Verhalten im Kindes- oder Jugendalter besonders häufig mit Symptomen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter einher. So zeigten in einer Studie von Zoccolillo, Pickles, Quinton und Rutter (1992) 40 % der Männer und 35 % der Frauen, die in der Kindheit aggressiv-dissoziales Verhalten aufwiesen, eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. Besonders Kinder, bei denen
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401
das aggressive Verhalten häufig, intensiv, situations- bzw. personenunabhängig und komorbid mit weiteren Störungen (z. B. ADHS) auftritt, haben ein hohes Risiko für psychische Auffälligkeiten im Erwachsenenalter (Loeber 1990). Auf der Basis der unterschiedlichen Ergebnisse zum Verlauf aggressiven Verhaltens sind verschiedene Entwicklungsmodelle entwickelt worden. Eine besondere Stellung nimmt das Modell von Moffitt (1993) ein. In diesem Modell werden Personen nach ähnlichen Entwicklungsmustern gruppiert. Mittels typischer Entwicklungsverläufe lassen sich günstige und ungünstige Entwicklungsprognosen unterscheiden. Moffitt (1993) belegte zwei Entwicklungsverläufe aggressiven Verhaltens:
den über den Lebenslauf stabilen Entwicklungspfad (life-course persistent path) und den auf das Jugendalter begrenzten Entwicklungspfad (adolescent-limited path).
Die erste Verlaufsform, die bei etwa 5 % aller Jungen identifiziert werden kann, zeichnet sich durch eine hohe Kontinuität aggressiv-dissozialen Verhaltens im Lebenslauf aus, das bereits in der frühen Kindheit einsetzt. Dabei ändert sich mit zunehmendem Alter und folglich zunehmenden Handlungsmöglichkeiten und -gelegenheiten die Ausdrucksform des aggressiven Verhaltens (z. B. Schlagen mit 4, Diebstahl und Schuleschwänzen mit 10, Drogenverkauf mit 16, Raubüberfall mit 22 Jahren). Für den frühen Beginn aggressiv-dissozialen Verhaltens in der Kindheit macht Moffitt die Wechselwirkungen zwischen neuropsychologischen Defiziten (z. B. entstanden durch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen), Temperamentsmerkmalen des Kindes und ungünstigen Umweltbedingungen verantwortlich. Der auf das Jugendalter begrenzte Entwicklungspfad stellt hingegen ein diskontinuierliches, entwicklungsbedingtes Phänomen dar. Erste Anzeichen delinquenten Verhaltens treten erst in der Adoleszenz bzw. ab der Pubertät auf und werden mit hoher Wahrscheinlichkeit im frühen Erwachsenenalter wieder aufgegeben. Moffitt (1993) sieht eine wesentliche Ursache für das auf das Jugendalter begrenzte delinquente Verhalten in der großen Lücke zwischen früher biologischer Reife und später sozialer Verantwortung aufgrund immer längerer Ausbildungszeiten. Das delinquente Verhalten der Jugendlichen kann demnach als ein Zugang zu den Privilegien des Erwachsenenalters angesehen werden. In delinquenten Peergruppen können die Jugendlichen ihre Bedürfnisse nach Autonomie, Abenteuer und Statussymbolen ausleben. Nach Silverthorn und Frick (1999) trifft das zweipfadige Entwicklungsmodell von Moffitt (1993) nur für Jungen, nicht aber für Mädchen zu. Stattdessen gehen sie davon aus, dass Mädchen nur einen verzögerten („delayed-onset“)
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Entwicklungspfad durchlaufen, der zwar in vielen Aspekten dem über den Lebenslauf stabilen Pfad der Jungen gleicht – ähnliche Risikofaktoren wie neuropsychologische Defizite, negative familiäre Bedingungen, schwieriges Temperament –, jedoch erst während der Adoleszenz beginnt. Unterschiedliche Sozialisations- und Erziehungspraktiken der Eltern im Sinne des Geschlechtsstereotyps können erklären, warum das offen aggressiv-dissoziale Verhalten der Mädchen in der mittleren Kindheit unterdrückt, das der Jungen dagegen verstärkt wird.
2.4 Risikofaktoren In Verbindung mit der Entstehung und dem Verlauf von psychischen Störungen ist die Erforschung von Faktoren von besonderem Interesse, die das Risiko für die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen erhöhen (Risikofaktoren; Niebank & Petermann 2002). Zu den Risikofaktoren auf Seiten des Kindes zählen biologische Faktoren wie prä-, peri- und postnatale Bedingungen (z. B. Frühgeburt, Geburtskomplikationen, frühes Schädel-Hirn-Trauma), die genetische Ausstattung, hormonelle Besonderheiten (z. B. erhöhter Testosteronspiegel) sowie Besonderheiten in den autonomen Funktionen (z. B. geringe Herzrate). Auch strukturelle und funktionelle Defizite im präfrontalen Kortex werden mit der Entwicklung aggressiven Verhaltens in Verbindung gebracht (vgl. Übersicht bei Raine 2002). Darüber hinaus haben sich ein schwieriges Temperament, geringe emotionale Kompetenzen sowie Defizite in der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung als Risiken für die Entwicklung aggressiven Verhaltens erwiesen. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist das Modell der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung der Arbeitsgruppe um Dodge (z. B. Crick & Dodge 1994), das in Abschnitt 3.4.2 ausführlicher beschrieben wird. Zusätzlich zu den Risikofaktoren auf Seiten des Kindes scheinen besonders soziale Risiken die Auftretenswahrscheinlichkeit aggressiven Verhaltens zu erhöhen. Dazu zählen sowohl Faktoren im familiären Kontext wie restriktives, inkonsistentes Erziehungsverhalten der Eltern, Ehekonflikte und ein niedriger sozioökonomischer Status als auch Faktoren im weiteren Umfeld des Kindes (z. B. negative Nachbarschaftskonflikte; vgl. Übersicht in Petermann & Petermann 2005). Eine Übersicht über die wesentlichen Risikofaktoren aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter bietet Tabelle 2.
Aggressives Verhalten im Unterricht
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Tabelle 2: Wesentliche Risikofaktoren aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter (Petermann & Koglin, 2006: 117) Kindbezogene Faktoren
Familiärbezogene Faktoren
Umfeldbezogene Faktoren
Biologische Faktoren wie prä-, peri- und postnatale Faktoren (z. B. Frühgeburt); psychophysiologische und biochemische Auffälligkeiten (z. B. niedriges Aktivitätsniveau)
Beeinträchtigte ElternKind-Beziehung; negatives Erziehungsverhalten (z. B. harsch und inkonsistent)
Geringe Integration in die Gleichaltrigengruppe
Schwieriges Temperament
Ehe- oder Partnerkonflikte
Ablehnung durch Gleichaltrige
Negative Bindungserfahrungen des Kindes
Psychische Störung der Eltern (wie Depression der Mutter)
Negative Schulerfahrung; geringe Anbindung an die Schule
Geringe emotionale Kompetenz (z. B. mangelnde Emotionsregulation)
Geringes Bildungsniveau der Eltern
Geringe Qualität der Nachbarschaft, Kriminalität und Gewalt in der Wohnumgebung
Defizite in der kognitiven Entwicklung sowie der sozialkognitiven Informationsverarbeitung
Finanzielle Probleme
Neben familiären Einflussfaktoren kommt der Schulklasse und den Gleichaltrigenbeziehungen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des aggressiven Schülerverhaltens zu. Beispielsweise tritt Bullying besonders häufig in großen Klassen auf, in denen eine größere Anonymität unter den Schülern vorherrscht und in denen der Lehrer weniger Möglichkeit hat, jeden Schüler zu beaufsichtigen. Auch ein hoher Anteil an männlichen Schülern in einer Klasse geht mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von Bullying einher (vgl. Scheithauer, Hayer, Petermann & Jugert 2006).
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
Als entscheidender Faktor in der Schule, der das Risiko für die Entwicklung aggressiven Schülerverhaltens erhöht, hat sich Aggressivität in der Schulklasse erwiesen. Studien deuten darauf hin, dass ein Schüler umso häufiger aggressives Verhalten zeigt, je mehr Mitschüler in seiner Klasse ebenfalls aggressive Verhaltensauffälligkeiten aufweisen (Barth, Dunlap, Dane, Lochman & Wells 2004; Thomas & Bierman 2006). In einer Studie von Kellam, Xiange, Mersica, Brown und Ialongo (1998) hatte die Aggressivität in der Schulklasse – das heißt ein hoher Anteil an aggressiven Schülern – einen entscheidenden Einfluss darauf, ob aggressive Erstklässler auch in späteren Jahren noch aggressive Verhaltensprobleme aufweisen. So zeigten nur jene aggressiven Schüler in der sechsten Klasse stark ausgeprägtes aggressives Verhalten, wenn sie in der ersten Klasse viele aggressive Mitschüler hatten. Erstklässler hingegen, die in einer nicht-aggressiven ersten Klasse unterrichtet wurden, zeigten fünf Jahre später seltener aggressive Verhaltensprobleme. Für den Einfluss des Klassenklimas auf das aggressive Schülerverhalten können folgende Erklärungsansätze angeführt werden: 1.
2.
3.
Soziale Lernmechanismen. Gleichaltrige dienen als Verstärker und Modelle des Verhaltens, das von anderen nachgeahmt wird. Folglich werden unangemessene Verhaltensweisen wie Aggressivität eher zunehmen, wenn sich in der Klasse viele Schüler befinden, die diese Auffälligkeiten zeigen und die dieses Verhalten bei anderen Schülern verstärken (z. B. durch unterstützendes Lachen). Umgekehrt wird in Klassen mit einer großen Anzahl von sozial kompetenten und leistungsorientierten Schülern positives Sozialverhalten aufrechterhalten (Barth et al. 2004). Klassennormen. Die in einer Klasse geltenden Normen hinsichtlich der Toleranz von Aggressivität können dazu führen, dass aggressives Schülerverhalten in größerem oder geringerem Umfang auftritt. So konnten Henry, Guerra, Huesmann, Tolan, VanAcker und Eron (2000) zeigen, dass besonders dann wenige Grundschüler zu aggressivem Verhalten neigten, wenn in der Klasse die Norm galt, dass Aggressivität eine inakzeptable Konfliktlösungsstrategie darstellt und wenn aggressives Verhalten von den Lehrern und den Mitschülern offen sanktioniert wurde. Umgekehrt kann davon ausgegangen werden, dass in einer Klasse mit einer großen Anzahl von aggressiven Schülern Aggressivität toleriert wird und folglich mehr Schüler unangemessenes Verhalten entwickeln. Lehrerverhalten. Ein aggressives Klassenklima kann sich indirekt – das heißt vermittelt über das Lehrerverhalten – auf das Verhalten eines Schülers auswirken. Beispielsweise kann eine Klasse mit vielen aggressiven Schülern dazu führen, dass der Lehrer mehr bestrafende und harsche Bestra-
Aggressives Verhalten im Unterricht
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fungsstrategien anwendet, was wiederum zu einer Zunahme aggressiven Schülerverhaltens führt, da keine positiven Modelle mehr zur Verfügung stehen (Barth et al. 2004). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass zwischen den Risikofaktoren auf biologischer, psychischer und sozialer Ebene zahlreiche Wechselwirkungen bestehen. Beispielsweise kann ein Schüler mit einem schwierigen Temperament negative Verhaltensweisen der Mitschüler hervorrufen (z. B. Ablehnung), was wiederum die aggressiven Verhaltensprobleme des Kindes verstärken kann. Das Verhalten der Mitschüler wiederum wird durch den soziokulturellen Kontext beeinflusst, beispielsweise durch das Klassenklima. Mentale Prozesse des Schülers wie die sozial-kognitive Informationsverarbeitung, die von biologischen und Umweltfaktoren beeinflusst werden, tragen unmittelbar zum aggressiven Verhalten eines Kindes bei (Dodge & Pettit 2003). Abbildung 1 gibt vereinfacht den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Risikofaktoren wieder. Abbildung 1:
Biopsychosoziales Modell zur Entwicklung aggressivdissozialen Verhaltens (nach Dodge & Pettit 2003) Biologische Prädisposition
Erziehungsstil
Mitschüler
Mentale Prozesse
Soziokultureller Kontext
Aggressiv-dissoziales Verhalten
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Franz Petermann & Johanna Helmsen Auswirkungen aggressiven Verhaltens auf den Unterricht
3.1 Auswirkungen auf die Schulleistungen Studien zu den Auswirkungen kindlicher Aggression, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Schulsettings, verdeutlichen die Schwere des Problems. Aggressives Verhalten bei Kindern und Jugendlichen beeinträchtigt die Entwicklung im sozialen, emotionalen und schulischen Bereich. Für den Bereich der Schule konnte gezeigt werden, dass aggressiv-dissoziale Schüler häufiger vorzeitig die Schule abbrechen (z. B. French & Conrad 2001; Kokko, Tremblay, Lacourse, Nagin & Vitaro 2006) und schlechtere Schulleistungen erzielen (Masten et al. 2005; Risi, Gerhardstein & Kistner 2003), was das Risiko für einen negativen Entwicklungsverlauf erhöht. So führen schlechte Schulleistungen und ein vorzeitiger Schulabbruch häufiger zu Arbeitslosigkeit im Erwachsenenleben (Kokko & Pulkkinen 2000) und zur Entwicklung von Angst und Depressionen (Masten et al. 2005). Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der Prävention von aggressivdissozialem Verhalten in einem möglichst frühen Alter, um weitere Folgen vermeiden zu können. Unklar ist bislang, wie Schulleistung und Verhaltensprobleme zusammenhängen. Drei mögliche Erklärungen werden diskutiert (Masten et al. 2005): 1.
Aggressiv-dissoziales Verhalten beeinträchtigt die Schulleistung. Aggressives Verhalten beeinträchtigt konzentriertes Lernen im Klassenraum, da der Schüler seine Aufmerksamkeit weniger auf den Schulstoff richtet. Dies führt zu einem erhöhten Risiko für ein schlechtes Abschneiden in den Schularbeiten. Aggressives Schülerverhalten trägt darüber hinaus häufig zu einer konfliktreichen Schüler-Lehrer-Interaktion und zu einer negativen Einschätzung des Lehrers bei, was – möglicherweise aufgrund der Voreingenommenheit des Lehrers oder einer mangelnden Förderung – zu schlechten Schulleistungen und zu einem höheren Schulabbruchrisiko beitragen kann (Demaray & Malecki 2003). In Studien konnte gezeigt werden, dass aggressive Schüler das Verhalten des Lehrers und die Schulregeln als besonders unfair wahrnehmen (Kuperminc, Leadbeater & Blatt 2000). So hängen Bestrafungen ihrer Meinung nach von dem betreffenden Schüler ab. Wenn die Umwelt als feindseliger betrachtet wird, wird die Loslösung von der Schule zu einer attraktiveren Alternative. Eine wenig unterstützende Umwelt kann die Motivation verringern, in der Schule gut abschneiden zu wollen, was schließlich zu schlechteren Schulleistungen führt (Graham, Bellmore & Mize 2006).
Aggressives Verhalten im Unterricht 2.
3.
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Schulleistungsprobleme tragen zur Entwicklung von aggressiv-dissozialem Verhalten bei. Die schulische Ausbildung stellt eine entscheidende Entwicklungsaufgabe dar, deren Bewältigung von der Gesellschaft, anderen Personen und dem Schüler selbst bewertet wird. Mangelnde Schulleistungen können zu einem negativen Selbstbild des Schülers und zu einer negativen Einschätzung und Ablehnung durch Mitschüler führen, was das Risiko für die Entwicklung von emotionalen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten erhöht (vgl. Dodge & Pettit 2003; Roeser & Eccles 2000). Umgekehrt können gute schulische Leistungen das Risiko für das Auftreten aggressiven Verhaltens verringern (Elder & Conger 2000; Thornberry, Lizotte, Krohn, Smith & Porter 2003). Schulleistung und Verhaltensprobleme gehen auf einen gemeinsamen ursächlichen Faktor zurück. Das gemeinsame Auftreten von aggressiven Verhaltensproblemen und schwachen Schulleistungen kann auf gemeinsame ursächliche Faktoren wie ein geringer IQ, ein harscher Erziehungsstil oder mangelnde Emotionsregulationsfähigkeiten zurückgeführt werden. Aggressive Verhaltensauffälligkeiten und Schulprobleme müssen in diesem Fall nicht notwendigerweise ursächlich zusammenhängen, sondern können aus ähnlichen Risikofaktoren resultieren (Hinshaw 1992; Masten & Curtis 2000).
Auch wenn der genaue Zusammenhang zwischen Schulleistung und aggressivdissozialem Verhalten bislang ungeklärt ist, kann davon ausgegangen werden, dass komplexe Wechselwirkungen zwischen schulischer Leistung und dem Sozialverhalten bestehen (Welsh, Parke, Widaman & O´Neil 2001). So zeigte sich in einer Längsschnittstudie von Trzesniewski, Moffitt, Caspi, Taylor und Maughan (2006), dass aggressiv-dissoziales Verhalten bei fünfjährigen Jungen zu einer geringeren Leseleistung im Schulalter führte, umgekehrt aber auch Lesedefizite das aggressive Verhalten verstärkten. Schüler, die schulische Misserfolge erleben, werden zunehmend frustrierter, wodurch ihre aggressiven Verhaltensweisen verstärkt werden. Diese wiederum behindern Schüler beim Lernen in der Klasse und führen zu größeren Leistungsrückständen gegenüber den Klassenkameraden, was wiederum das Risiko für aggressive Verhaltensprobleme erhöht. In einer Studie von Woods und Wolke (2004), in der der Zusammenhang zwischen schulischer Leistung und Bullying untersucht wurde, zeigte sich – im Gegensatz zu den bereits dargestellten Studien –, dass gute Schulleistungen im Alter zwischen sechs und sieben Jahren die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Schüler zwei Jahre später anderen Schülern gegenüber schikanierendes Verhalten zeigt. Dies traf jedoch nur für relationales Bullying (z. B. sozialer Ausschluss) im Gegensatz zu direktem Bullying zu. Die Autoren weisen darauf hin,
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
dass Bullying, insbesondere relationales Bullying, bei dem andere Schüler sozial manipuliert werden, Intelligenz und bestimmte Fähigkeiten erfordert, die für das gekonnte Manipulieren prädestinieren. Dieser Befund stützt die Annahme von Sutton, Smith und Swettenham (1999), nach der Bullys zielorientiert und kalkulierend vorgehen und besonders gut in der Lage sind, den Standpunkt des Gegenübers einzunehmen.
3.2 Auswirkungen auf die Beziehungen zu Mitschülern Der Aufbau von Freundschaftsbeziehungen stellt im Schulalter eine zentrale Entwicklungsaufgabe dar, die beim Scheitern zu einem negativen Entwicklungsverlauf führen kann, beispielsweise zur Entwicklung aggressiven Verhaltens. Aber auch aggressives Verhalten wirkt sich nachhaltig auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen aus. Den möglichen Zusammenhang zwischen Gleichaltrigenbeziehungen und der Entwicklung bzw. der Stabilität aggressiven Verhaltens gibt Abbildung 2 wieder (Dishion, French & Patterson 1995). In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass das Risiko für die Entwicklung aggressiven Verhaltens aufgrund von negativen, konfliktreichen Gleichaltrigenbeziehungen und sozialer Zurückweisung erhöht ist. Das aggressive Verhalten wiederum kann zur sozialen Zurückweisung durch sozial kompetente Mitschüler führen, die dazu beiträgt, dass sich der aggressive Schüler vermehrt ähnlich auffälligen, aggressiv-dissozialen Mitschülern zuwendet. Nach Poulin und Boivin (2000) scheinen besonders proaktiv aggressive Jungen sich selektiv solche Mitschüler als Freunde zu wählen, die ebenfalls proaktive Aggressionen aufweisen. Die Cliquenbildung von aggressiven, sozial-isolierten Schülern führt zu einer Aufrechterhaltung und gegenseitigen Verstärkung aggressiven Verhaltens. Je stärker wiederum das aggressive Verhalten in der Clique ist, desto größer ist die Ablehnung und Isolation durch die unauffälligen Gleichaltrigen („Teufelskreis“). Darüber hinaus können von den aggressiven Schülern nur noch mühsam differenzierte soziale Fertigkeiten erworben werden, da positive Interaktionen zwischen Gleichaltrigen fehlen (Dishion et al. 1995). Der Zusammenhang zwischen sozialer Ablehnung bzw. Unbeliebtheit und aggressivem oder schikanierendem Verhalten konnte in zahlreichen Studien belegt werden (z. B. Prinstein & Cillessen 2003; Veenstra et al. 2005). Dabei scheinen aggressive Schüler besonders dann unbeliebt bei ihren Mitschülern zu sein, wenn sich in der Klasse wenige Schüler befinden, die ähnliche Verhaltensauffälligkeiten zeigen (Stormshak, Bierman, Bruschi, Dodge & Coie 1999). Trotz dieser Unbeliebtheit deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass Schüler
Aggressives Verhalten im Unterricht Abbildung 2:
409
Aggressives Verhalten im Kontext der Sozialentwicklung
Schwieriges Temperament
Geringe soziale Kompetenz
Erhöhte Wahrscheinlichkeit für soziale Zurückweisung
Negative Gleichaltrigenbeziehungen
Aggressives Verhalten
Soziale Zurückweisung von Gleichaltrigen mit positivem Sozialverhalten
Soziale Isolation aggressiver Kinder
Cliquenbildung von aggressiven, sozial-isolierten Kindern
Massiveres aggressives Verhalten in der Clique
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
mit aggressiv-dissozialem Verhalten in der Einschätzung ihrer Mitschüler häufig einen hohen Sozialstatus in der Gruppe belegen. Dies stellt jedoch nur einen scheinbaren Widerspruch zu der bereits diskutierten häufigen Ablehnung und Unbeliebtheit aggressiver Schüler dar. So weisen Prinstein und Cillessen (2003) darauf hin, dass zwischen einem hohen Status in der Gruppe und Beliebtheit im Sinne von Akzeptanz unterschieden werden sollte. So verfügen aggressive Jugendliche nach Ansicht ihrer Klassenkameraden zwar häufig über einen hohen Status in der Gruppe, was auf dominantes Verhalten und Prestige schließen lässt, sie werden aber nur selten genannt, wenn es darum geht, mit welchem Jugendlichen gerne Zeit verbracht wird. Dies deutet darauf hin, dass aggressive Schüler von ihren Mitschülern als „cool“ wahrgenommen und in gewisser Weise bewundert werden. Da eine wichtige Entwicklungsaufgabe im Jugendalter die Suche nach Autonomie und Unabhängigkeit darstellt, kann das rebellische Auftreten und die Nonkonformität aggressiver Jugendlicher eine privilegierte – wenn auch von kurzer Dauer – Position in der Hierarchie verschaffen (Graham, Bellmore & Mize 2006; Juvonen, Graham & Schuster 2003). Dies bedeutet jedoch nicht, dass aggressive Jugendliche stärker akzeptiert und als Freunde gewählt werden.
3.3 Auswirkungen auf das Opfer Auch für die Mitschüler in der Klasse besitzt aggressives Verhalten negative Folgen. Laut der National Youth Risk Behaviour Study (2005) fühlen sich zwischen 3 % und 9,4 % aller Schüler in der Schule nicht sicher, entweder aufgrund von Gewalt in der Schule oder auf dem Schulweg (Centers for Disease Control and Prevention 2005). Darüber hinaus ereignen sich in Schulen Vorfälle wie Amokläufe und schwere Formen von Bullying. Auch wenn extreme Vorfälle eher die Ausnahme darstellen, haben sie dennoch nachhaltige Effekte auf die Wahrnehmungen der Schüler. Besonders Opfer von Bullying leiden unter vielfältigen Beeinträchtigungen. So lassen sich bei den Opfern als Folge des Bullyings Symptome wie Depressionen, Ängstlichkeit, Einsamkeit und ein niedriges Selbstwertgefühl ermitteln (vgl. Juvonen & Graham 2001). Im Gegensatz zu ihren Klassenkameraden haben Opfer darüber hinaus weniger Freunde und werden häufiger von ihren Mitschülern abgelehnt (Solberg & Olweus 2003). Andere Schüler meiden Opfer, möglicherweise weil sie befürchten, selbst Opfer des Bullys zu werden oder aus Angst, ihren Sozialstatus unter ihren Klassenkameraden zu verlieren (Nansel et al. 2001). Verhaltensauffälligkeiten wie Angst und Depression können nicht nur die Folge einer Opfererfahrung darstellen, sondern können an sich auch das Risiko
Aggressives Verhalten im Unterricht
411
erhöhen, Opfer eines Bullys zu werden. So zeigte sich, dass besonders häufig unsichere, einsame und sensible Schüler Opfer von Bullying werden (Olweus 2006). Möglicherweise stellen unsichere Schüler für Bullys eine besonders leichte „Beute“ dar. Einige Opfer entwickeln ebenfalls Verhaltensweisen, die als schikanierend und drangsalierend bezeichnet werden können. In diesem Fall spricht man von Bully/Victims und meint damit Schüler, die sowohl Täter als auch selbst Opfer von schikanierendem Verhalten sind. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von aktiven Opfern gesprochen, die im Gegensatz zu passiven oder wehrlosen Opfern zusätzlich aggressiv-reaktive Verhaltensweisen aufweisen (Schwarz, Dodge & Coie 1997; Olweus 2006). Hierfür werden folgende Erklärungsansätze diskutiert:
Lernen durch positive Verstärkung bzw. Modelllernen. Opfer erfahren, dass Täter nicht bestraft werden und eignen sich deren Verhalten an („soziale Ansteckung“). Ein unangemessener Umgang mit den Tätern (z. B. reagieren Erwachsene, indem sie zuschlagen) übt zudem eine negative Modellwirkung aus. Gruppendynamische Aspekte. Da Opfer oft ausgeschlossen werden, hegen sie den Wunsch, einer bestimmten Gruppe anzugehören. Um sich den Gruppenmitgliedern anzunähern, nehmen diese Schüler auch dauerhaft aggressive und andere negative Verhaltensweisen innerhalb der Gruppe hin und üben diese selbst aus. Unangemessene Bewältigungsstrategien. Die Opfer neigen zu einem unangemessenen Umgang mit den Opfererfahrungen, der sich beispielsweise in Form von Vergeltungsmaßnahmen oder durch das Auslassen ihrer Frustration an jüngeren, wehrlosen Kindern äußert.
Studien deuten darauf hin, dass Bully/Victims mehr Verhaltensprobleme (z. B. Depression, aggressiv-dissoziales Verhalten), eine geringere Selbstkontrolle und schlechtere Schulleistungen aufweisen als Schüler, die nur der Bully- oder Victim-Gruppe zugeordnet werden können (Graham, Bellmore & Mize 2006; Hanish & Guerra 2004; Haynie et al. 2001). Darüber hinaus zählen sie zu den unbeliebtesten und am häufigsten abgelehnten Schülern der Klasse (Juvonen et al. 2003; Schwartz 2000).
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
3.4 Auswirkungen auf die Lehrer-Schüler-Interaktion
3.4.1 Begriffsklärung Soziale Interaktion bezeichnet allgemein das sich aufeinander bezogene Handeln von mindestens zwei Menschen, unabhängig davon, ob sie dabei eine Wirkung erzielen. Soziale Interaktionen, die sich in erzieherischen Situationen abspielen (z. B. in der Schule) werden als pädagogische Interaktionen bezeichnet. Eine pädagogische Interaktion zeichnet sich vor allem durch seine Asymmetrie und Rigidität aus, das heißt der Lehrer versucht, auf den Schüler erzieherischen Einfluss zu nehmen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Hierbei kann von einer Paradoxie der Erziehung gesprochen werden, da das pädagogische Ziel der Selbststeuerung und Selbstverantwortlichkeit des Kindes mittels eines asymmetrischen sozialen Prozesses erreicht werden soll. Aus diesem Grund wird die pädagogische Interaktion zunehmend als dynamischer Prozess angesehen, in dem sich Lehrer und Schüler wechselseitig beeinflussen.
3.4.2 Interaktion zwischen Lehrern und aggressiven Schülern Es gibt zahlreiche Faktoren, die die Lehrer-Schüler-Interaktion beeinflussen können, beispielsweise die ethnische Zugehörigkeit (Saft & Pianta 2001) oder das Geschlecht der Interaktionspartner. So berichten Lehrer in verschiedene Studien über vertrauensvollere und weniger konfliktreiche Beziehungen zu Mädchen im Gegensatz zu Jungen (Baker 2006; Murray & Murray 2004). Zu den Eigenschaften des Schülers, die maßgeblich die Schüler-LehrerInteraktion beeinflussen, zählt auffälliges Sozialverhalten wie Aggressivität und Hyperaktivität. Übereinstimmend berichten Studien, dass die Beziehung zwischen Lehrern und aggressiven Schülern negativer ist als die Beziehung zu unauffälligen Mitschülern. Diese Ergebnisse stützen sich vorwiegend auf die Einschätzung des Lehrers (z. B. Howes, Phillipsen & Peisner-Feinberg 2000; Murray & Murray 2004). Aber auch die wenigen Studien, in denen die Schüler nach ihrer Beziehung zum Lehrer befragt wurden, deuten darauf hin, dass die Beziehung zwischen Lehrern und verhaltensauffälligen Schülern als besonders konfliktreich wahrgenommen wird (Henriccson & Rydell 2004; Murray & Greenberg 2000). Nelson und Roberts (2000) sind eine der wenigen Forscher, die die LehrerSchüler-Interaktion direkt im Klassenraum beobachtet haben. Dabei untersuchten sie, wie sich die Interaktion zwischen Lehrern und verhaltensauffälligen im
Aggressives Verhalten im Unterricht
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Vergleich zu unauffälligen Schülern unterschied. Es zeigte sich, dass Lehrer auf störendes Schülerverhalten am häufigsten mit einer Aufforderung (z. B. „Bitte sei leise!“) oder Maßregelung (z. B. „Hör auf, dazwischen zu reden!“) reagierten. Das Stellen eines Ultimatums oder die Aufforderung den Raum zu verlassen, kamen in den seltensten Fällen vor. Interessanterweise unterschieden sich die bevorzugten Reaktionen der Lehrer zwischen den beiden Schülergruppen. Während die Lehrer bei störendem Verhalten unauffälliger Schüler häufiger mit einer Aufforderung reagierten, wurden auffällige Schüler bei störendem Verhalten häufiger gemaßregelt. Dieser „unangemessenere“ Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern muss innerhalb des wechselseitigen Interaktionsprozesses betrachtet und bewertet werden. So zeigen Schüler mit aggressivem Verhalten häufig Verhaltensweisen, die den Interaktionspartner angreifen, was beim Lehrer die Anwendung von Maßregelungen hervorrufen kann. Bei Betrachtung des Schülerverhaltens wurde deutlich, dass verhaltensauffällige Schüler Aufforderungen des Lehrers häufiger nicht befolgten und auf negative Weise darauf reagierten (z. B. verbaler oder physischer Ärgerausdruck). Je länger eine Interaktion zwischen dem Lehrer und seinem aggressiven Schüler andauerte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass der Schüler mit körperlich aggressiven Verhaltensweisen reagierte oder dass er unerlaubt den Klassenraum verließ. Da unauffällige Schüler die Aufforderungen des Lehrers befolgten und ihr störendes Verhalten sofort beendeten, waren die Interaktionen zwischen dem Lehrer und unauffälligen Schülern insgesamt von einer kürzeren Dauer (Nelson & Roberts 2000). In einer weiteren Beobachtungsstudie (Henricsson & Rydell 2004) konnte ebenfalls eine besonders konfliktreiche Interaktion zwischen Lehrern und aggressiven Schülern festgestellt werden. Dies äußerte sich durch häufige Ermahnungen, Maßregelungen und Ärger auf Seiten des Lehrers und häufiges störendes Verhalten durch den verhaltensauffälligen Schüler (z. B. dazwischenreden, nicht still sitzen, nicht gehorchen). Verhaltensauffällige Schüler, bei denen der Lehrer häufig Ärgerreaktionen zeigte, berichteten häufiger über eine negative Beziehung zum Lehrer und über ein negatives Selbstbild. Eine negative Lehrer-Schüler-Beziehung bzw. -Interaktion zeichnet sich zusammenfassend durch folgende Merkmale aus:
Beidseitiger respektloser Umgang, häufige Ermahnungen, Aufforderungen und Maßregelungen des Lehrers, häufiges Nichtbefolgen der Aufforderungen durch den Schüler, wenig Vertrauen und Offenheit (z. B. Schüler teilt dem Lehrer nicht seine Gefühle mit, richtet sich mit seinen Sorgen nicht an den Lehrer) und häufiger Ausdruck negativer Gefühle (Ärger, Zorn).
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
Insgesamt scheinen die Interaktionen zwischen aggressiv-dissozialen Schülern und ihren Lehrern besonders konfliktreich zu sein, was die Entwicklung einer gestörten Beziehung wahrscheinlich macht. Dies stellt deshalb ein Problem dar, weil besonders verhaltensauffällige Schüler von einer unterstützenden Beziehung zum Lehrer profitieren würden. So stellte Baker (2006) fest, dass aggressive Schüler dann bessere Schulleistungen erzielten, wenn sie eine vertrauensvolle und weniger konfliktreiche Beziehung zu ihrem Lehrer aufwiesen. Aggressive Schüler mit schlechten Beziehungen zu ihren Lehrern hingegen hatten in der Schule mehr Probleme. Möglicherweise trägt eine positive Beziehung zum Lehrer dazu bei, dass der aggressive Schüler motivierter am Unterricht teilnimmt und infolgedessen bessere Schulleistungen erbringt (Hughes & Kwok 2006). Nach Baker (2006) kann eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung die negativen Folgen von Verhaltensproblemen auf die Schulleistung zum Teil kompensieren. Auch wenn das aggressive Schülerverhalten im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, so sollte dennoch erwähnt werden, dass auch Lehrer schikanierendes Verhalten gegenüber Schülern zeigen können, das die Interaktion zum Schüler negativ beeinflusst (z. B. höhnisches Grinsen bei Rückgabe einer schlechten Schularbeit, verbale Beleidigungen). Bislang existieren jedoch nur wenige Studien, die das Phänomen Lehrer als Bully untersucht haben (z. B. Krumm, LambergerBaumann & Haider 1997). Wodurch zeichnet sich die Interaktion zwischen Lehrern und aggressiven Schülern aus? Welche Faktoren tragen dazu bei, dass sich die Beziehung derart konfliktreich und negativ gestaltet? Im Folgenden sollen einige Determinanten aufgeführt werden, die als Erklärung für die negative Interaktion herangezogen werden können. Kognitive Einflüsse. Das Modell der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung von Crick und Dodge (1994), das vielfach empirisch überprüft wurde, kann maßgeblich zum Verständnis und zur Erklärung des Interaktionsgeschehens beitragen. In dem Modell wird davon ausgegangen, dass das Verstehen und Interpretieren von sozialen Situationen direkt zur Auswahl einer bestimmten Handlung führt. Der Urteilsprozess, der im Alltag ständig und weitgehend automatisch abläuft, besteht aus fünf verschiedenen Stufen, die im Folgenden näher erläutert werden (s. Abb. 3). Die ersten beiden Stufen des Modells beziehen sich auf die Wahrnehmung und Interpretation von Reizen, die in einer sozialen Situation auftreten. Hier versucht das Kind, die Absichten der anderen Person zu deuten. Auf der dritten Stufe (Zielklärung) legt das Kind seine Ziele für die Situation fest, zum Beispiel das Ziel, die Matheaufgabe nicht alleine zu rechnen. Nach der Zielklärung geht es um die Antwortsuche bzw. die Suche nach Handlungsal-
Aggressives Verhalten im Unterricht
415
ternativen (z. B. die Lehrerin um Hilfe fragen, sich verweigern, beim anderen Kind abschreiben). Die Handlungsalternative, die am ehesten Erfolg versprechend erscheint und mit den Zielen aus der dritten Phase übereinstimmt, wird gewählt (5. Stufe) und anschließend im Verhalten umgesetzt (6. Stufe). Jede Stufe dieses Modells interagiert dabei mit der Datenbasis einer Person, die unter anderem aus einem Erinnerungsspeicher vergangener sozialer Erfahrungen, insbesondere diejenigen, bei denen einer Person Schaden zugefügt wurde, und dem Wissen über soziale Regeln besteht.
Abbildung 3:
Vereinfachtes Modell der sozialen Informationsverarbeitung nach Crick und Dodge (1994)
4. Handlungsalternativen suchen
5. Handlungsauswahl und -bewertung
Datenbasis 3. Zielklärung
• • • •
2. Interpretation
Gedächtnis erlernte Regeln soziale Schemata soziales Wissen
6. Ausführung des Verhaltens
1. Wahrnehmung von Reizen
Das Modell wurde von Lemerise und Arsenio (2000) weiterentwickelt, indem sie stärker den Einfluss von Emotionen und der Emotionsregulation berücksichtigten. So weisen sie darauf hin, dass jede Stufe der sozialen Informationsverarbeitung dadurch beeinflusst wird, in welcher emotionalen Stimmung sich das Kind befindet und wie gut es in der Lage ist, seine Emotionen zu regulieren. Beispielsweise wird ein wütendes Kind, das nur schlecht in der Lage ist, mit seinen Gefühlen umzugehen, eher ein aggressives Ziel wählen und mehr aggressive Handlungsalternativen produzieren als ein fröhliches Kind. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass aggressive Schüler Defizite auf allen Stufen der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung aufweisen
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
(vgl. Crick & Dodge 1994; Seitz, Koglin & Petermann 2006). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass aggressive Schüler
weniger soziale Hinweisreize erkennen oder selektiver auf solche reagieren, die sie als bedrohlich oder feindselig interpretieren (1. Stufe in Abb. 2), bei mehrdeutigen Handlungen dem Interaktionspartner häufig feindselige Absichten unterstellen (2. Stufe), aggressive Verhaltensweisen positiver beurteilen (3. Stufe), in Konfliktsituationen über weniger positive oder effektive Problemlösestrategien verfügen (4. Stufe), zur Wahl aggressiver und feindseliger Reaktionsmöglichkeiten tendieren (5. Stufe) und weniger verbal kommunizieren, sondern eher körperlich aggressiv reagieren, wobei sie sich davon mehr Bestätigung von den Gleichaltrigen erhoffen (6. Stufe).
Wyatt und Haskett (2001) untersuchten die sozial-kognitive Informationsverarbeitung aggressiver und unauffälliger Schüler, indem sie ihnen Fragen zu möglichen Lehrer-Schüler-Interaktionen stellten. Es zeigte sich, dass sich aggressive Schüler von ihren unauffälligen Klassenkameraden deutlich in ihrer sozialkognitiven Informationsverarbeitung unterschieden. Handelte es sich in der Situation um eine mehrdeutige Absicht des Lehrers, interpretierten aggressive Schüler im Vergleich zu ihren unauffälligen Mitschülern diese Absichten des Lehrers häufiger als feindselig, schoben die Schuld für negative Folgen häufiger dem Lehrer zu und berichteten häufiger über das Empfinden von Ärger. Bei wohlwollenden Absichten des Lehrers bestanden keine Unterschiede zwischen aggressiven und unauffälligen Schülern bei der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung (Wyatt & Haskett 2001). Diese Studie verdeutlicht, dass aggressive Schüler häufig selektiv aversive Reize des Lehrers wahrnehmen, diese aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit Lehrern und Erwachsenen (z. B. häufige Ablehnung, harte Bestrafungen) als feindselig interpretieren und folglich das Ziel verfolgen, es dem Lehrer „heimzuzahlen“. Der Schüler überlegt sich mögliche Handlungsalternativen (z. B. den Lehrer beleidigen, im Unterricht stören) und entscheidet sich für die Alternative, die ohne großen Aufwand zu seinem Ziel führt. Insgesamt scheinen Schüler, die aggressives und schikanierendes Verhalten gegenüber ihren Mitschülern zeigen, aggressives Verhalten als angemessene Strategie bei der Lösung von sozialen Konflikten zu betrachten (Marini, Dane, Bosacki & YLC-CURA 2006). Die Tatsache, dass bei positiven Absichten des Lehrers keine Unterschiede zwischen auffälligen Schülern und ihren unauffälligen Mitschülern bestanden,
Aggressives Verhalten im Unterricht
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deutet darauf hin, dass aggressive Jugendliche nicht per se jedes Lehrerverhalten als feindselig wahrnehmen und dass sie erkennen, dass Lehrer auch hilfsbereit sein können (Wyatt & Haskett 2001). Diese Befunde können Lehrer motivieren, häufiger hilfsbereites Verhalten gegenüber aggressiven Schülern zu zeigen, um die Wahrscheinlichkeit für eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung zu erhöhen. Wie aus Abbildung 3 hervorgeht, werden die sozial-kognitive Informationsverarbeitung und das Handeln auch von den sozialen Schemata beeinflusst, das heißt von den konsistenten Überzeugungen und Vorannahmen. Nach Hargreaves (1982) betrachten Lehrer jene Schüler als „gut“, die interessiert, enthusiastisch, aufmerksam und fleißig sowie respektvoll, höflich und kooperativ sind, was insgesamt zu einer größeren Beliebtheit beim Lehrer führt (Nesdale & Pickering 2006). Als „schlecht“ werden hingegen jene Schüler wahrgenommen, die entgegengesetzte Eigenschaften und Verhaltensweisen zeigen. So weisen Lehrer negativere Gefühle und Einstellungen gegenüber Bullys und eine größere Sympathie für die Opfer auf (Boulton 1997). Darüber hinaus geht aggressives Schülerverhalten häufig mit dem Erleben von Stress und Burnout auf Seiten des Lehrers einher (Friedman 2006; Hastings & Bham 2003). All diese Aspekte – Aggressivität als eine „schlechte“ Schülereigenschaft, Ablehnung des Schülers und das Erleben von Stress, Ärger- und Burnoutgefühlen – erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer negativen Lehrer-Schüler-Interaktion (Yoon 2002) und der Anwendung von unangemessene Bestrafungsmethoden durch den Lehrer (Bibou-Nakou, Stogiannidou & Kiosseoglou 1999), was sich wiederum verstärkend auf das aggressive Verhalten des Schülers auswirken kann. Verhaltensbezogene Einflüsse. Zu den Faktoren, die eine pädagogische Interaktion zwischen Lehrer und Schüler beeinflussen können, zählen – basierend auf dem verhaltenstheoretischen Modell – Verstärkung, Bestrafung und Löschung. Lehrer, die dem aggressiven Verhalten des Schülers große Aufmerksamkeit schenken (positive Verstärkung), hingegen positives Sozialverhalten nicht beachten (Löschung) oder unangemessene Bestrafungsmethoden verwenden, können (unbeabsichtigt) zu einer Verstärkung der Aggressionsproblematik beitragen (Petermann & Petermann 2005). In Studien konnte gezeigt werden, dass Lehrer gute schulische Leistungen von aggressiven Grundschülern seltener positiv verstärken (z. B. loben) als die von unauffälligen Klassenkameraden (Van Acker, Grant & Henry 1996). Darüber hinaus geben Lehrer aggressiven Schülern seltener Feedback über ihre Schulleistungen (Gorman-Smith 2003). Der aggressive Schüler zeigt mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder dieses Verhalten, wenn er dadurch zum Beispiel einen erwünschten Gegenstand oder Aufmerksamkeit erhält (positive Verstärkung), und wenn er durch sein aggressives Verhalten einen unangenehmen Zustand vermeiden kann (negative Verstärkung). Diese Lernme-
418
Franz Petermann & Johanna Helmsen
chanismen findet man im erpresserischen Modell der Interaktionen, wie sie die Arbeitsgruppe um Patterson beschrieben hat (z. B. Patterson, Reid & Dishion 1992). Dieses Modell, das sich ursprünglich auf die Interaktion zwischen Eltern und dem aggressiven Kind bezieht, kann auch auf den Schulkontext angewendet werden (s. Abb. 4). Abbildung 4:
Lehrer
Schüler
Prozess der erpresserischen Interaktion nach Patterson et al. (1992) Aufforderung (soll an die Tafel gehen)
Gegenforderung (lass mich in Ruhe) und aggressives Verhalten (Wutausbruch)
Aufgabe der eigenen Forderung
Negative Verstärkung (muss nicht mehr an die Tafel gehen)
Negative Verstärkung (Ende des Wutausbruchs)
Beendigung des aggressiven Verhaltens
Zu Beginn dieses negativen Kreislaufs steht die Aufforderung des Lehrers an den Schüler (z. B. an der Tafel eine Aufgabe zu rechnen). Der Schüler reagiert daraufhin mit einer Gegenforderung (er möchte vom Lehrer in Ruhe gelassen werden) und mit aggressivem Verhalten. Dies führt häufig dazu, dass der Lehrer seine Forderung aufgibt (er bittet einen anderen Schüler an die Tafel). Dieses Lehrerverhalten führt zu einer negativen Verstärkung des aggressiven Verhaltens, das heißt der Schüler wird mit großer Wahrscheinlichkeit in einer ähnlichen Situation wieder dieses Verhalten zeigen, da er erfahren hat, dass er nicht an die Tafel gehen muss, wenn er wütend wird. Die Beendigung des aggressiven Schülerverhaltens wiederum verstärkt das Verhalten des Lehrers (Aufgabe der Forderung), da diese dazu geführt hat, dass der Schüler seinen Wutausbruch beendet. Aufgrund der großen Bedeutung, die Verstärkern innerhalb des Schulsettings zukommt und der Möglichkeit des systematischen Einsatzes zum Abbau
Aggressives Verhalten im Unterricht
419
ungünstigen Schülerverhaltens, werden die Verstärker in Abschnitt 4.1 erneut aufgegriffen und näher erläutert.
4
Schulbasierte Prävention aggressiven Verhaltens
In Anbetracht der großen Verbreitung aggressiven Verhaltens, der Stabilität und der negativen Folgen wurde in den letzten Jahren der Prävention verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Möglichkeit, aggressives Verhalten zu verhindern oder zu vermindern, stellt der Einsatz von schulischen Präventionsprogrammen dar. Bevor einzelne schulbasierte Präventionsprogramme beschrieben werden, soll auf Managementstrategien eingegangen werden, die von Lehrern in der Schulklasse eingesetzt werden können, um problematisches Verhalten von Schülern abzubauen.
4.1 Positives Lehrerverhalten im Kontext gelungener Klassenmanagementstrategien Aufgrund der großen Bedeutung des Lehrerverhaltens für die Verhaltensentwicklung der Schüler sollen im Folgenden einige Klassenmanagementstrategien beschrieben werden, mit denen Lehrer Problemverhalten der Schüler begegnen können. Die Vermittlung dieser Strategien kann als Bestandteil eines multimodalen Präventionsprogramms erfolgen oder aber in Form eines separaten Lehrertrainings. Auf der Grundlage von umfangreichen Videoaufzeichnungen in Klassenzimmern formulierte Kounin (2006) Techniken der Klassenführung, die dazu führen, dass Schüler eher ihr störendes Verhalten aufgeben und im Unterricht mitarbeiten. Die Prinzipien der Klassenführung lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1.
Allgegenwärtigkeit und Überlappung. Der Lehrer sollte den Eindruck vermitteln, dass er den gesamten Klassenraum im Blick hat und ihm nichts entgeht, beispielsweise indem er sich gelegentlich durch den Raum bewegt oder beim Schreiben an der Tafel immer wieder zur Klasse blickt (Allgegenwärtigkeit). Darüber hinaus sollte er in der Lage sein, mehrere Sachverhalte gleichzeitig wahrzunehmen (Überlappung). So sollte er zum Beispiel beim Entgegennehmen von Schülerbeiträgen auch den Blick in der Klasse wandern lassen oder das Gespräch mit den Schülern fortführen, während er den Overheadprojektor bedient.
420 2.
3.
4.
Franz Petermann & Johanna Helmsen Reibungslosigkeit und Schwung. Nach Kounin (2006) kommt es im Unterricht wesentlich darauf an, Reibungslosigkeit und Schwung aufrechtzuerhalten bzw. Sprunghaftigkeit und Verzögerungen zu vermeiden. So sollten zum Beispiel Wartezeiten zwischen verschiedenen Aktivitäten vermieden werden (z. B. kein langes Suchen im Buch) und der Unterricht nicht durch Nebensächlichkeiten unterbrochen werden. Geringfügige Schülerstörungen sollten nicht in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern möglichst ignoriert oder schnell durch Mimik und Gestik beendet werden (z. B. Stoppsignale durch Blickkontakt, dämpfende Handbewegungen). Aufrechterhaltung des Gruppenfokus. Stets sollten möglichst viele Schüler der Klasse aktiviert werden. Das Erzeugen von breiter Aufmerksamkeit ist zum Beispiel möglich, indem der Lehrer seine Fragen an alle Schüler adressiert, seinen Blick wandern lässt und die Schüler abwechselnd aufruft. Neben dieser Gruppenmobilisierung sollte der Lehrer dem Prinzip der breiten Leistungskontrolle folgen. Demzufolge müssen alle Schüler damit rechnen, in den kommenden Sekunden oder Minuten dranzukommen, um Mitarbeit und Verständnis unter Beweis zu stellen. Überdrussvermeidung. Der Unterricht sollte einen hohen Aufforderungscharakter haben, also anregend, herausfordernd und abwechslungsreich gestaltet sein. Das Interesse der Schüler lässt sich beispielsweise durch die Ankündigung interessanter Problemstellungen, durch einen größeren Alltagsbezug und durch überraschende Einsichten fördern.
Neben den von Kounin (2006) formulierten Prinzipien einer gelungenen Klassenführung kann aggressivem Verhalten dadurch begegnet werden, dass Problemverhalten gemanagt und angemessenes Sozialverhalten gefördert werden (Kavale, Forness & Walker 1999). Beide Strategien können vom Lehrer im Klassenzimmer realisiert werden. In diesem Zusammenhang haben sich operante Methoden (Verstärkung, Bestrafung), Modelllernen und kognitive Methoden, die auf dem kognitiv-behavioralen Ansatz basieren (Petermann & Petermann 2006), als wirksame Maßnahmen erwiesen (s. Kasten 2).
Aggressives Verhalten im Unterricht Kasten 2:
x
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Lernpsychologische Ansätze im Kontext einer gelungenen Klassenführung
Operante Ansätze In der operanten Konditionierung werden unter Verstärker jene Verhaltenskonsequenzen bezeichnet, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein gezeigtes Verhalten wiederholt geäußert wird (Petermann & Petermann 2006). Von positiver Verstärkung spricht man, wenn unmittelbar (kontingent) nach dem Verhalten eine positive Reaktion folgt. Es lassen sich drei verschiedene Verstärkerarten unterscheiden (Petermann & Petermann 2006): 1. Materielle Verstärker: Hierzu zählen Verstärker, die aus einem Material bestehen, zum Beispiel Geld, Süßigkeiten, Spielsachen. 2. Soziale Verstärker: Es handelt sich um Verstärker, die in einem angenehmen zwischenmenschlichen Kontakt bestehen; zum Beispiel Zuwendung, Lob, ermunterndes Nicken. 3. Handlungsverstärker: Sie bestehen darin, eine angenehme Handlung durchzuführen; zum Beispiel spielen, lesen. Häufig werden für positive Verstärkungen so genannte Token vergeben, die später gegen andere Dinge oder Handlungen eingetauscht werden können. In Studien konnte gezeigt werden, dass ein kontingenter Einsatz von Lob durch den Lehrer das Verhalten von verhaltensauffälligen Kindern positiv beeinflussen kann. Besonders verhaltensspezifisches Lob (z. B. statt „Toll!“: „Ich finde es toll, wie gut ihr beide zusammenarbeitet!“) hat sich dabei als effektive Strategie im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern erwiesen (Sutherland, Wehby & Copeland 2000). Von negativer Verstärkung spricht man, wenn unmittelbar nach dem Verhalten ein unangenehmes Ereignis beendet wird (z. B. nach einem Wutanfall keine Hausaufgaben mehr machen müssen). Im Gegensatz zur Verstärkung, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöht, reduziert Bestrafung unangemessenes Verhalten. Zu einer leichten Form von Bestrafung, die im Schulsetting von Lehrern
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Franz Petermann & Johanna Helmsen
Fortsetzung
eingesetzt werden kann, zählt das Response-Cost-Verfahren. Hierbei werden dem Schüler zuvor erhaltene positive Verstärker wieder entzogen. Eine weitere Bestrafung stellt die time-out-Technik dar, das heißt ein kurzes Ausgeschlossenwerden von Aktivitäten in der sozialen Umwelt. Entscheidend ist, dass die time-out-Maßnahme geplant und nur bei stark ausgeprägten Verhaltensproblemen angewendet wird. So sollte das time-out dem Schüler vorher angekündigt werden und zeitlich begrenzt sein (ein bis zwei Minuten pro Lebensjahr eines Kindes). Ein drittes Prinzip des operanten Ansatzes bildet die Löschung. Eine Nichtbeachtung unerwünschten Verhaltens reduziert im Laufe der Zeit die Auftretenswahrscheinlichkeit diesen Verhaltens (Petermann & Petermann 2006). x
Modelllernen Ein weiteres psychologisches Mittel, mit dem der Lehrer Einfluss auf die Interaktion mit dem Schüler nehmen kann, stellt das Modelllernen (Beobachtungslernen) dar. Der Lehrer fungiert für die Schüler als Modell, das von den Schülern unter gewissen Bedingungen – z. B. der Schüler ist aufmerksam und motiviert – nachgeahmt wird. So kann auch negatives Lehrerverhalten zu Nachahmungen bei den Schülern führen (Petermann & Petermann 2006).
x
Kognitive Ansätze Kognitive Ansätze können neben den beschriebenen Methoden als Mittel zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden. Mittels kognitiver Methoden wie dem Wecken von Einsicht, Überzeugungsdialoge und der Förderung von Selbstinstruktionen wird der Schüler dazu motiviert, eine andere Perspektive einzunehmen, das Problem differenziert wahrzunehmen und seine Impulse zu regulieren (Petermann, Natzke, Gerken & Walter 2006).
Unabhängig von den durchzuführenden Maßnahmen ist es von besonderer Bedeutung, dass die Institution Schule selbst formulierte sowie von allen Mitgliedern (z. B. Lehrer, Schulpersonal, Schüler) getragene und akzeptierte Regeln, Werte und Normen aufstellt, die es als Bezugsrahmen erleichtern, bei Regelüberschreitungen gegen aggressives Verhalten oder Bullying vorzugehen. Lehrer sollten eine eindeutige und konsequente Haltung gegenüber aggressivem Verhalten zeigen.
Aggressives Verhalten im Unterricht
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Im Zusammenhang mit Bullying an Schulen führt Boulton (1994) einige Grundprinzipien präventiver Maßnahmen durch Lehrer und Schulpersonal auf dem Schulhof an:
Überwachung von Hot Spots (Orte, an denen Bullying besonders häufig auftritt), die besondere Beobachtung von Schülern, die in der Vergangenheit als Bullies oder Victims in Erscheinung getreten sind und aufmerksam nach einsamen und isolierten Schülern Ausschau halten, die aktive Suche von Gesprächen mit Schülern, die bei Bullying-Vorfällen beteiligt waren und das Zeigen einer eindeutigen und konsequenten Haltung gegenüber Bullying.
4.2 Schulbasierte Präventionsprogramme Viele Programme zur Prävention aggressiven Verhaltens finden im Schulsetting statt. Der Vorteil liegt in der direkten Umsetzung durch den Lehrer, der seine Schüler kennt und der nach Beendigung des Programms einzelne Trainingsinhalte in den Unterricht integrieren kann (Petermann et al. 2006). Der Nachteil besteht in der Abhängigkeit des Trainingserfolges von den Fähigkeiten des Lehrers sowie von der verfügbaren Zeit für die Implementierung nichtschulischen Inhalts. Aus diesem Grund ist es von besonderer Bedeutung, dem Lehrer wichtige lerntheoretische Grundlagen und Strategien zu vermitteln, wie problematisches Schülerverhalten effektiv reduziert und positives Sozialverhalten aufgebaut werden können. Die Konzeption präventiver Maßnahmen orientiert sich an den empirisch untersuchten kindbezogenen und umgebungsbezogenen Risiko- und Schutzfaktoren aggressiven Verhaltens (Cicchetti & Hinshaw 2002; s. Abschnitt 2.4). Dabei lassen sich personenorientierte Präventionsansätze, in denen das Kind oder der Jugendliche im Mittelpunkt der Förderung steht, von kontextorientierten Ansätzen unterscheiden, in denen explizit die Erziehungskompetenz der Eltern und/oder Lehrer positiv beeinflusst werden soll (vgl. Petermann & Koglin 2006). Als besonders effektiv haben sich dabei multimodale Präventionsmaßnahmen erwiesen, die sich nicht nur an das aggressive Kind selbst richten, sondern zudem in Form von Eltern- und Lehrerkursen das Verhalten der Bezugspersonen des aggressiven Kindes positiv beeinflussen wollen (Webster-Stratton, Reid & Hammond 2001). Nur wenn sowohl Lehrer als auch Schüler bei der Prävention
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einbezogen werden, können positive Interaktionen zwischen dem Lehrer und aggressiven Schülern gefördert werden (Murray & Murray 2004). Präventionsansätze lassen sich in Abhängigkeit von ihrer Zielgruppe und dem Intensitätsgrad der Intervention in drei Vorgehensweisen untergliedern:
Universelle Präventionsmaßnahmen zielen zum Beispiel auf alle Eltern oder alle Schüler einer Schulklasse, unabhängig davon, ob Verhaltensauffälligkeiten bestehen. Selektive Prävention richtet sich an Problemschüler und -familien, die ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer bestimmten Störung aufweisen. Indizierte Prävention zielt auf Personen, die Vorläuferprobleme oder geringe Ausprägungen eines Problems aufweisen (z. B. Training mit aggressiven Kindern; Petermann & Petermann 2005).
Insgesamt konnte gezeigt werden, dass Präventionsprogramme effektiver eine langfristige positive Veränderung bewirken können, wenn sie möglichst in frühen Schuljahren stattfinden, über einen längeren Zeitraum und vom Klassenlehrer durchgeführt werden (Scheithauer & Petermann 2002; Wilson, Lipsey & Derzon 2003). Aus diesem Grund stellt das Grundschulalter einen geeigneten Zeitpunkt für den Einsatz eines Präventionsprogramms dar. Insgesamt haben sich kognitiv-behaviorale Interventionen als die wirksamsten Ansätze zur Prävention aggressiven Verhaltens erwiesen (Webster-Stratton & Reid 2006). Zu den schulbasierten Präventionsprogrammen im deutschen Sprachraum zählt das kognitiv-behaviorale Verhaltenstraining für Schulanfänger (Petermann et al. 2006). Hierbei handelt es sich um ein universelles Präventionsprogramm, das sich an Erst- und Zweitklässler richtet und das vom Klassenlehrer durchgeführt wird. Dem Lehrer werden lernpsychologische Grundlagen und Strategien zum Abbau dysfunktionalen Schülerverhaltens und zum Aufbau eines positiven Sozialverhaltens sowie eines angemessenen Klassenklimas vermittelt. Neben den Zielen auf der Lehrerebene werden mit dem Training folgende Ziele auf Seiten des Schülers verfolgt:
Steigerung der Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsfähigkeit, Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen wie Einfühlungsvermögen, Hilfeverhalten und Kooperation, Förderung der Konflikt- und Problemlösefertigkeiten (angemessene Selbstbehauptung, verbesserte Selbstkontrolle, angemessener Umgang mit Kritik) und
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Förderung emotionaler Kompetenzen (Erkennen und Benennen von Gefühlen, Entwicklung von Emotionsregulationsstrategien).
Insgesamt umfasst das Verhaltenstraining für Schulanfänger 26 Einheiten, die zweimal pro Woche (je 45 Minuten) durchgeführt werden sollen. Jede Einheit folgt dabei einem festgelegten Ablaufplan, der den Schülern Sicherheit und Orientierung bietet. Nach einer Begrüßung durch die Chamäleonhandpuppe, die als Leitfigur dient, erfolgt ein Ruheritual. Die anschließend stattfindende Trainingsaufgabe ist spielerisch und phantasievoll gestaltet und in eine Schatzsuche als Rahmenhandlung eingebettet. Nach einer kurzen Reflexion der Sitzung erfolgt die Tokenvergabe, das heißt eine Belohnung durch die Chamäleonhandpuppe. Zu den kognitiv-behavioralen Methoden, die in dem Training angewendet werden, zählen gezielte Verstärkung positiver Verhaltensweisen, Entspannungstechniken, Selbstinstruktionen und Rollenspiele. Der folgenden Übersicht können weitere deutsche wie auch international bekannte schulische Präventionsprogramme entnommen werden. Alle aufgeführten Programme haben das Ziel, aggressives Verhalten zu reduzieren sowie sozial-emotionale Kompetenzen des Schülers (z. B. Problemlösefähigkeiten, Einfühlungsvermögen) zu fördern. Diese sind für eine positive Lehrer-SchülerInteraktion und für die Entwicklung von kompetenten Beziehungen zu den Klassenkameraden von besonderer Bedeutung. Tabelle 3: Universelle Maßnahmen zur Prävention aggressiv-dissozialen Verhaltens im Schulalter Autor Verhaltenstraining für Schulanfänger (Petermann, Natzke, Gerken & Walter 2006) Faustlos (Cierpka 2005) Good Behavior Game (Kellam et al. 1998)
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Alter/ Zielgruppe 6-7 Kind
Dauer
Fokus
26 Sitzungen innerhalb eines halben Schuljahres
Training sozialemotionaler Fertigkeiten
6-8 Kind
51 Lektionen über 3 Schuljahre 10 Min. 3 Tage/Woche während 1. und 2. Klasse
Training sozialemotionaler Fertigkeiten Schulleistungen und Training sozialer Fertigkeiten (behavioral)
6-7 Kind
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Fortsetzung
PATHS (Greenberg, Kusche, Cook & Quamma 1995)
6-8 Lehrer
131 Lektionen über 5 Jahre
FAST Track (CPPRG 2002)
6-12 Kind
Laufend
Incredible Years Teacher Training (Webster-Stratton 2001)
4-8 Lehrer und Eltern
36 - 50 Stunden
Lehrertraining und wöchentliche Konsultationen (sozialkognitiv) Training sozialer Fertigkeiten (sozial-kognitiv) Lehrertraining (sozial kognitiv; soziale und emotionale Kompetenzen, Beziehungsaufbau)
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Konflikte und Konfliktbewältigung im Unterricht Walter Neubauer
„Nahezu jede Schulgeschichte ist eine Mobbing-Geschichte; jede gute Schulgeschichte sowieso. Da wird der Schüler Basini gemobbt von seinem Klassenkameraden Törless, der Lehrer Lempel von seinen Zöglingen Max und Moritz, der Lehrer Bömmel vom Gymnasiasten Pfeiffer (mit drei f) und der Schüler Hanno Buddenbrook von dem ganzen schikanösen System auf einmal“ (Etzold 1998: 63).
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Einleitung
In den letzten Jahren wurde in den Medien immer häufiger über zunehmende Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen berichtet, oft verbunden mit der Erwartung, dass es vor allem eine Aufgabe der Schule sei, durch gezielte Erziehungsmaßnahmen einer solchen gesellschaftlich unerwünschten Entwicklung wirkungsvoll zu begegnen. Derartige Behauptungen werden häufig mit drastischen Fallstudien untermauert, die in der Öffentlichkeit ein entsprechendes Echo auslösen. Häufig werden dann auch Gesetzesinitiativen und staatliche Programme gefordert, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Besonders deutlich lässt sich dieser Trend in den USA beobachten. Beispielsweise wurden in Kalifornien im Jahr 1994 zur Erhöhung der Sicherheit in Schulen Gesetze erlassen, die es unter Strafe stellen, innerhalb eines Umkreises von 1000 Yards um die Schule eine Feuerwaffe zu tragen und es der Schulleitung erlauben, Schüler von der Schule zu verweisen, die andere Schüler belästigen, bedrohen oder Furcht einflößen und somit zu einer feindlichen Schulumgebung beitragen. Gleichzeitig wurde 1 Million $ zur Installation von Metall-Detektoren in Schulen zur Verfügung gestellt, um das Mitbringen von Waffen zu unterbinden. Außerdem erhielten die Schulen die Erlaubnis, zusätzlich zur bezahlten (bewaffneten) Schulpolizei freiwillige Polizei-Corps zu bilden (Furlong et al. 1995). Auch wenn man mit solchen Methoden eine gewisse äußere Kontrolle der Situation erreichen kann, greifen diese Maßnahmen aus erziehungspsychologischer Sicht viel zu kurz (Noguera 1995).
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Es stellt sich daher die Frage, wie man am besten mit solchen Konflikten im Schulbereich umgehen sollte. Gewiss verbieten sich hier vorschnelle Urteile. Ausgangspunkt der Überlegungen ist zunächst eine Analyse von Untersuchungen zur Häufigkeit von Unterrichtsstörungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Schülern sowie von Befunden zu Tätern und Opfern bei Schülern. In einem weiteren Schritt werden dann erfolgversprechende Maßnahmen der Intervention bei Konflikten diskutiert. Darüber hinaus gehende Felder möglicher interpersonaler Konflikte etwa zwischen Lehrern und Eltern werden dabei bewusst ausgeklammert.
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Konflikte im Unterricht und im Schulhof
Bloße Meinungsverschiedenheiten zwischen Personen oder Gruppen stellen noch keinen Konflikt dar. Ein interpersonaler Konflikt liegt dann vor, wenn die Konfliktparteien unvereinbare Ziele anstreben und das Verhalten der einen Partei das Verhalten der anderen behindert, blockiert, stört oder weniger wirksam macht (Neubauer et al. 1999). Da die Behinderung oder Blockierung eines zielorientierten Verhaltens in der Regel zu einer Intensivierung der Bemühungen führt, um das eigene Ziel trotzdem zu realisieren, ist es naheliegend, dass bei interpersonalen Konflikten grundsätzlich die Gefahr der Eskalation besteht. Je attraktiver das angestrebte Ziel für die betreffende Person ist – und dies gilt für Lehrer und Schüler gleichermaßen –, umso intensiver wird dann auch die entstehende emotionale Erregung sein, die beispielsweise von Ärger über die andere Person bis zu Wut oder ähnlichen negativen Gefühlen reichen kann. Aus diesem Grund ist es naheliegend, dass Konflikte vor allem bei Kindern und Jugendlichen rasch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen führen, bei denen versucht wird, das eigene Ziel auch gegen den Widerstand des anderen gewaltsam durchzusetzen. Gelingt dies, dann besteht für den Gewinner der Auseinandersetzung keine Veranlassung, andere Formen des Konfliktverhaltens zu praktizieren. Anhand solcher Erfahrungen entsteht dann bei den beteiligten Personen meist im Laufe der Zeit die subjektive Überzeugung, sich mit einer solchen Strategie durchsetzen zu können. So wurde in verschiedenen empirischen Untersuchungen nachgewiesen, dass die Gewaltausübung der Eltern gegenüber ihren Kindern, hier vor allem des Vaters, die Wahrscheinlichkeit von Gewaltanwendung bei Jugendlichen erhöht (Kuntsche & Wicki 2004; Uslucan et al. 2003; Uslucan & Fuhrer 2004). Ferner fand sich bei Scheidungskindern im Vergleich zu Jugendlichen aus Kernfamilien eine höhere Wahrscheinlichkeit zu Gewaltmittäterschaft und -opferschaft (Uslucan et al. 2003).
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Ziel von pädagogischen Maßnahmen der Prävention und Intervention muss es daher sein, die Häufigkeit des Auftretens aggressiver Verhaltensweisen der Auseinandersetzung zu reduzieren und nicht-aggressive Verhaltensweisen der Konfliktregelung systematisch aufzubauen (vgl. Holtappels et al. 2004).
2.1 Lehrer-Schüler-Konflikte Empirische Untersuchungen zu Formen und Häufigkeit von Konflikten im Unterricht stützen sich in der Regel auf Fragebogenerhebungen. Abgesehen von der Problematik der Rücklaufquote, die zu Selbstselektions-Effekten führen kann, ist es auch fraglich, ob die Angaben von Lehrkräften über verschiedene Schularten hinweg, aber auch von Schülern, ohne weiteres miteinander verglichen werden können. Denn wieweit ein Ereignis als Konflikt wahrgenommen wird, hängt maßgeblich von der Toleranzschwelle einer Person ab, wobei die Toleranzschwelle ganz wesentlich von bisherigen Erfahrungen beeinflusst wird. Lissmann (1995) legte dazu eine differenzierte Studie vor, deren Befunde als repräsentativ gelten können. Befragt wurden insgesamt 283 Lehrkräfte der Sekundarstufen I und II aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Kriterium für die Relevanz von Konfliktbereichen war vor allem die emotionale Betroffenheit der Lehrkräfte, die offensichtlich mit dem Grad der Unterrichtsbeeinträchtigung zusammenhängt (durchschnittlich r = .62). Mit Abstand am schwächsten war die emotionale Betroffenheit bei den Konfliktbereichen Lernschwierigkeiten und Leistungsmessung, aber relativ stark ausgeprägt bei den Konfliktbereichen Suchtmittel, Ausländerprobleme und Schülerangriffe auf den Lehrer. Die übrigen Konfliktbereiche Diebstahl, Disziplin, Hausaufgaben, Pausenbereich, Regelübertritte, Sachbeschädigungen, Schülerabsprachen, Schülerängste, Schulunlust und Sexualität lagen zwischen den genannten Extremkategorien. Die Auswertung ergab ferner, dass Lehrer-Schüler-Konflikte über alle Konfliktbereiche hinweg recht selten auftreten. Äußerst selten kommen nach Aussagen der Lehrkräfte Schülerangriffe auf den Lehrer, gemeinsame Absprachen der Schüler und Sachbeschädigungen vor, relativ häufiger dagegen Konflikte wegen Lernschwierigkeiten, Disziplin, Hausaufgaben und Problemen im Pausenbereich. Aufschlussreich sind aber auch Befragungen von Schülern zu ihrem Verhalten im Unterricht. Hierbei zeigen sich klare Zusammenhänge mit dem Geschlecht und dem Alter. Todt & Busch (1997) erfassten bei der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts „Schule ohne Gewalt“ in Hessen auch Angaben der Schüler zur Häufigkeit von „Disziplinlosigkeit“, die durch folgende Verhaltensweisen operationalisiert war: andere im Unterricht geärgert, beworfen
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oder beschossen; einen Lehrer oder eine Lehrerin geärgert oder provoziert; den Unterricht absichtlich gestört. Die Daten der folgenden Tabelle stützen sich auf die Befragung von 700 Jungen und 797 Mädchen der Klassen 5 bis 9 im Jahr 1993. Abbildung 1:
Relative Häufigkeit von selbstberichteter Disziplinlosigkeit im Unterricht nach Geschlecht und Schulklasse in Prozent (Todt & Busch 1997) Jungen (Häufigkeit in %)
Mädchen (Häufigkeit in %)
Klasse 5
1,27
0,00
Klasse 6
5,52
1,66
Klasse 7
12,75
3,37
Klasse 8
13,10
5,44
Klasse 9
21,71
2,29
Bei den Prozentangaben sind die Antwortkategorien „sehr oft“ und „oft“ zusammengefasst.
Hierbei ist zum einen erkennbar, dass das Störverhalten im Unterricht bei Mädchen wesentlich seltener vorkommt als bei Jungen. Zum anderen sprechen die Befunde dafür, dass die Pubertät bei den Jungen später einsetzt. Ähnliche Zusammenhänge mit Alter und Geschlecht werden auch bei Untersuchungen zur Häufigkeit von aggressiven Verhaltensweisen berichtet (Meier 1997). Weiterhin bestehen offensichtlich hinsichtlich der Häufigkeit von LehrerSchüler-Konflikten Unterschiede zwischen den Schularten, wobei im allgemeinen Sonderschule und Hauptschule negativ auffallen. Bach et al. (1984) sprechen sogar von schulartspezifischen „Konfliktprofilen“. Faulheit wurde in der Hauptschule am meisten genannt. Die „fünf Standardsymptome“ Unkonzentriertheit, Ungenauigkeit, Faulheit, motorische Unruhe und Interessenlosigkeit sind offensichtlich besonders für die Sonderschule, aber etwas weniger auch für die Hauptschule typisch. Während sich bei amerikanischen Untersuchungen häufig auch Zusammenhänge mit Gemeindegröße und bestimmten Stadtteilen fanden (Astor et al. 1997; Furlong et al. 1996), gibt es bei deutschen Studien keinen systematischen Zusammenhang (Busch 1998; Schlöder 1996). Vielmehr verweisen die verschiedenen Befunde auf die Bedeutsamkeit spezifischer Rahmenbedingungen.
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Als Zwischenergebnis kann zunächst festgehalten werden: Obwohl im alltäglichen Unterricht Lehrer-Schüler-Konflikte relativ selten vorkommen, stellen sie – je nach Konfliktbereich im unterschiedlichen Ausmaß – eine Störung dar, die zu einer erheblichen Belastung der Lehrkräfte führen können. Allerdings ist der Kritik von Busch (1998) zuzustimmen, dass die bisherigen Untersuchungen meist nur deskriptive Befunde liefern, ohne dass die vermuteten Kausalbeziehungen überprüft werden.
2.2 Schüler-Schüler-Konflikte Auseinandersetzungen zwischen Schülern gab es schon immer, jedoch wurde das Thema „Gewalt in der Schule“ seit Beginn der 90er Jahre vor allem in Verbindung mit ausländerfeindlichen Gewalttaten vermehrt aufgegriffen (Busch & Todt 1998). Inzwischen liegen eine Vielzahl von Studien vor, die allerdings insbesondere aus folgenden zwei Gründen nur schwer miteinander verglichen werden können: 1. Begrifflichkeit Unter dem Begriff „Gewalt“ werden in der Literatur die verschiedensten Verhaltensweisen zusammengefasst, die von Beschimpfungen, Bedrohungen, Raufereien, Schlägereien, Diebstahl, Sachbeschädigungen und Vandalismus bis zur Fremdenfeindlichkeit reichen. Außerdem werden die Begriffe „Gewalt“ und „Aggression“ häufig als austauschbare Begriffe verwendet. Dies ist jedoch nicht korrekt und führt zu Ungenauigkeiten. Von der wissenschaftlichen Tradition her ist der Aggressionsbegriff dem Gewaltbegriff übergeordnet. Aggression wird dabei in der Regel verstanden als eine Handlung, die mit der Absicht ausgeführt wird, eine Schädigung oder Verletzung zu bewirken (Selg et al. 1997). Im Sinne dieser Forschungstradition wird unter „Gewalt“ eine körperliche Aggression verstanden, „bei der ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels physischer Stärke zufügt“ (Hurrelmann & Palentien 1995: 15). Körperliche Gewalt ist daher eine Teilmenge von Aggression. 2. Erhebungsmethoden Die Polizeiliche Kriminalstatistik stützt sich im Allgemeinen auf die Häufigkeitszahl bestimmter, gemeldeter Delikte (leichte vorsätzliche Körperverletzung, schwere Körperverletzung u. a.). Hierbei lässt sich in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der jugendlichen Gewalttaten beobachten (Schwind & Baumann 1990). Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass der Anstieg durch eine Veränderung des Anzeigeverhaltens oder der Verfolgungsintensität der Polizei zustan-
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de kommt. Möglicherweise sind es die Massenmedien, die diesen Bereich erst zu einem öffentlichen Thema gemacht haben („Agenda-setting“-Theorie), mit der Folge, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit gezielt darauf richtet. Es werden mehr Interviews, Umfragen und empirische Untersuchungen durchgeführt, außerdem werden diese Vorfälle eher aktenkundig gemacht. Auch die Methode der Datengewinnung durch persönliches Interview oder in schriftlicher Form durch Fragebogen ist nicht unproblematisch. Auf die Problematik von Selbstaussagen wurde bereits hingewiesen. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, dass es strittig ist, ob die Häufigkeit und Intensität der Gewalttätigkeiten unter Kindern und Jugendlichen tatsächlich zugenommen haben (Hurrelmann 1992). Historisch gesehen lässt sich insgesamt ein Rückgang der physischen Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen feststellen (Hurrelmann & Palentien 1995; Noguera 1995; Kuntsche & Wicki 2004). Fasst man die Befunde der bisherigen Untersuchungen zur Einschätzung durch Schulleiter und Lehrer zusammen, so geht die Tendenz dahin, dass eine Mehrheit der Lehrer keine Veränderung der Situation gegenüber früher feststellen kann. Von denjenigen, die eine Veränderung annehmen, sind jene in der Überzahl, die eine Zunahme aggressiven Verhaltens wahrnehmen (Busch 1998). Bahnbrechende Forschungsarbeiten zum aggressiven Verhalten zwischen Schülern erfolgten vor allem durch Olweus (1978; 1996), der großangelegte Erhebungen in Norwegen und Schweden durchführte. Gegenstand seiner Untersuchungen ist die Gewalttätigkeit zwischen Schülern als Täter und Opfer. In Skandinavien verwendet man dafür den Begriff „Mobbing“, der mittlerweile auch bei uns geläufig ist. Olweus (1996: 22) definiert Gewalttätigkeit (oder Mobben) wie folgt: „Ein Schüler oder eine Schülerin ist Gewalt ausgesetzt oder wird gemobbt, wenn er oder sie wiederholt und über längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer Schüler oder Schülerinnen ausgesetzt ist“. Zu beachten ist, dass Olweus mit dieser Definition nur eine spezifische Täter-Opfer-Beziehung erfasst. Ausgeschlossen sind hierbei Sachbeschädigungen (Vandalismus), ebenso aber auch gelegentliche Bagatellereignisse wie Rangeleien oder handfeste Meinungsverschiedenheiten, wenn sie nicht die gleichen Schüler wiederholt und über längere Zeit hinweg betreffen. Negative Handlungen umfassen körperliche Übergriffe (Schlagen, Stoßen, Kneifen u. a.), verbale Angriffe (Drohen, Spotten, Hänseln, Beschimpfen) und herabsetzende Gesten, aber auch indirekte Angriffe in Form von Ausgrenzung oder Isolierung des Opfers. Der Begriff Gewalt sollte nach Olweus nicht gebraucht werden, wenn zwei Schüler oder Schülerinnen, die etwa gleich stark sind, miteinander streiten oder kämpfen, es muss also ein Ungleichgewicht der Kräfte vorliegen. Allerdings
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wird diese Unterscheidung nicht in allen Untersuchungen durchgehalten (Landscheidt 1997). Für diese spezielle Form der Täter-Opfer-Beziehung in der Schule hat sich der anglo-amerikanische Begriff „Bullying“ durchgesetzt (Schäfer 1996, 1998), der in der deutschsprachgen Literatur oft mit „Schikane“ oder „Schikanieren“ übersetzt wird (Schäfer & Albrecht 2004). In umfangreichen Längsschnittstudien untersuchte nun Olweus (1996), unter welchen Erziehungsbedingungen Kinder, insbesondere Jungen, aggressiv, d. h. „Täter“, werden. Es fanden sich im Wesentlichen folgende Faktoren:
Sehr wichtig ist die emotionale Grundeinstellung der Eltern, hauptsächlich der Mutter. Fehlende Wärme und Anteilnahme erhöhen deutlich das Risiko, dass sich das Kind gegenüber anderen als aggressiv und feindlich entwickeln wird. Wenn die Bezugsperson freizügig und „tolerant“ ist, ohne dem aggressiven Verhalten gegenüber Gleichaltrigen, Geschwistern und Erwachsenen Grenzen zu setzen, nimmt das aggressive Verhalten zu. Anwendung „machtbetonter“ Erziehungsmethoden durch die Eltern (z. B. körperliche Züchtigung und heftige Gefühlsausbrüche). „Es ist wichtig, dem Verhalten des Kindes klare Grenzen zu setzen und ihm bestimmte Regeln aufzuerlegen, aber das sollte nicht mit Anwendung körperlicher Züchtigung und ähnlichem geschehen“ (Olweus 1996: 49). Denn „Gewalt erzeugt Gewalt!“ Das Temperament des Kindes spielt eine Rolle. Aktive, „hitzköpfige“ Kinder entwickeln sich eher zu einem aggressiven Jugendlichen. Die Auswirkung dieses Faktors ist im Vergleich zu den beiden ersten relativ klein. Ergänzend dazu stellten Bayer & Schmidt-Rathjens (2004) fest, dass Täter ihren eigenen Angaben zufolge auf Gewalt häufiger mit direkten körperlichen Angriffen reagieren und höhere Ausprägungen bei den Persönlichkeitsmerkmalen Ich-Durchsetzung, fehlende Willenskontrolle und Selbstüberzeugung aufwiesen. Ein hohes Selbstwertempfinden fanden auch Greve & Wilmers (2004) für Täter im Vergleich mit den Opfern.
In Untersuchungen wurde ferner überprüft, ob sich für Opfer von Gewalt (sog. whipping boys = Prügelknaben) bestimmte Merkmale finden lassen. Fasst man die Befunde zusammen, so lassen sich folgende Merkmale nennen (Furlong et al. 1995; Olweus 1996; Greve & Wilmers 2003):
Körperlich schwächer als die Altersgenossen (besonders bei Jungen). Schlechte Körperbeherrschung, untüchtig bei Spielen und Sport (besonders bei Jungen); werden bei Mannschaftsspielen als letzte ausgewählt.
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Walter Neubauer Sie sind vorsichtig, empfindsam, still, passiv, brechen leicht in Tränen aus. Negatives Selbstwertgefühl, zuweilen Leistungseinbruch. Sie haben Mühe, sich in einer Gruppe von Gleichaltrigen durchzusetzen, sind oft allein und von der Gruppe ausgeschlossen. Sie haben ein geringeres Zugehörigkeitsgefühl zur Schule. Sie suchen weniger persönlichen Kontakt zum Lehrer, halten sich aber in Pausen in der Nähe von Lehrern oder Erwachsenen auf.
In einer Schulklasse kommt es insbesondere dann zu einer solchen relativ dauerhaften Täter-Opfer-Beziehung, wenn sowohl ein typischer Bully als auch ein Prügelknabe vorhanden sind. „Durch den Bully werden der Umgangston und die Spiele rauher und aggressiver. Kleinere Streitigkeiten eskalieren häufiger zu ernsten Auseinandersetzungen. Früher oder später wird der Bully den typischen Prügelknaben entdecken. Der Bully wird in der Folge einige Mitläufer anstiften, den Prügelknaben ebenfalls zu schikanieren“ (Busch & Todt 1998). Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass Gruppennormen und Gruppenzwang eine wichtige Rolle für die Entwicklung solcher Mobbing-Beziehungen spielen (Schäfer 1998). So ist es auch zu erklären, dass sich über die Hälfte der Opfer nicht an die Eltern oder die Lehrer wenden (Olweus 1996). Die referierten Befunde könnten nun zu der Annahme verleiten, dass es sich bei Tätern um einen fest umrissenen Typ mit bestimmten Merkmalen handelt, der relativ leicht diagnostisch zu ermitteln ist, um von Seiten der Schule entsprechende Interventionsmaßnahmen zu realisieren. Zu dieser Frage wurden von Todt & Busch (1997) bemerkenswerte Ergebnisse vorlegt. Unter Bezug auf Olweus (1996) überprüften sie eine Gruppe von Schülern, die aufgrund der erfassten Merkmale als „Bullies“ bezeichnet werden können. Diese Merkmale trafen auf 51 von 750 befragten Schülern der Jahrgangsstufen 5 bis 9 zu. Die Clusteranalyse erbrachte vier unterschiedliche Gruppen, die sich auf den zwei Dimensionen „proaktiv – reaktiv“ und „hohe Problembelastung – niedere Problembelastung“ abbilden lassen. Die Gruppen lassen sich wie folgt beschreiben: Gruppe 1 Insgesamt eher niedrige Problembelastung, aber auch geringe Angstwerte und Suche nach Nervenkitzel. Schule und Schulunterricht finden sie eher langweilig (wenig abwechslungsreich). Aggressive Auseinandersetzungen werden von diesen Schülern weniger negativ beurteilt, sie dienen zur Verbesserung der eigenen Stimmung. Vermutlich sind diese Schüler durchaus normal in den Klassenverband integriert und fühlen sich wohl in der Schule. Diese Gruppe ähnelt den von Olweus beschriebenen typischen Bullies, sie sind aber im Vergleich zu Gruppe 4 eine leichtere Form typischer Bullies.
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Gruppe 2 Diese Schüler weisen insgesamt die geringste Problembelastung auf. Das Verhältnis zur Familie, aber auch zu den Lehrern und die Beurteilung des Unterrichts entsprechen dem Durchschnitt aller Schüler. Charakteristisch ist aber eine hohe Ausprägung von Prüfungsangst und eine im Vergleich mit den Gruppen 1 und 4 gering ausgeprägte Suche nach Anregung. Diese Schüler halten sich für weniger beliebt bei den anderen und fühlen sich in der Schule insgesamt weniger wohl. Aggressives Verhalten ist hier eher eine Reaktion auf Belastungssituationen und Provokationen (d. h. es handelt sich um eine reaktive Aggression). Gruppe 3 Große Problembelastung besonders in der Beziehung zu den Eltern. Den sehr häufigen Konflikten mit den Eltern steht ein geringes Interesse der Eltern am Schüler gegenüber. Auch Lehrer und Unterricht werden von dieser Schülergruppe eher negativ bewertet, so dass Schule als Belastung (Hausaufgaben, Prüfungen) empfunden wird. Darüber hinaus sind diese Schüler eher ängstlich und wenig sozial kompetent, es liegen Defizite in der Anwendung prosozialer Konfliktlösungsstrategien vor. Aggressives Verhalten ist hier also offensichtlich eher ein Versuch der subjektiven Bewältigung dieser Problemsituationen. Gruppe 4 Kennzeichen dieser Gruppe ist einerseits eine hohe Problembelastung, andererseits geringe Angst in Verbindung mit der Neigung zu riskanten Aktivitäten. Schüler dieser Gruppe zeigen eine große Distanz sowohl zu den Eltern als auch zu Lehrern und Schule. „Schule wird als langweilig und belastend erlebt. Aggression wird als Kavaliersdelikt eingestuft, aktiv als Spaß initiiert und zur Verbesserung der eigenen Stimmung eingesetzt“ (Todt & Busch 1997: 157). Hier handelt es sich im Sinne von Olweus um typische Bullies, aber ausgeprägter als Gruppe 1. Aus diesen Befunden ist abzuleiten, dass diese Gruppen unterschiedliche Interventionsmaßnahmen erforderlich machen. Bei den Gruppen 1 und 4 geht es in erster Linie darum, die innere Kontrolle zu fördern und prosoziale Handlungstendenzen aufzubauen. Demgegenüber benötigen die Täter der Gruppen 2 und 3 Hilfen zum Abbau von Angst und Stress. Während die Gruppen mit einer geringeren Problembelastung (Gruppen 1 und 2) durch schulische Maßnahmen prinzipiell erreicht werden können, benötigen die Schüler der Gruppen 3 und 4 eher eine einzelfallorientierte Intervention, die über die Möglichkeiten der Schule weit hinausreichen.
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Walter Neubauer Möglichkeiten der Prävention und Intervention
Ziel von Maßnahmen im Schulbereich wird es sein müssen, eine Verminderung aggressiven Verhaltens zu erreichen, auch wenn eine vollkommen aggressionsfreie Schule sicher eine Illusion bleiben wird (Busch: 1998). Dazu gibt es eine Reihe von Ansatzpunkten, die allerdings aufgrund der vorliegenden Befunde einen unterschiedlichen Erfolg versprechen. In der einschlägigen Literatur findet sich häufig die Forderung nach einer „Null-Toleranz“ bei Gewalt. Die Verwendung dieses Schlagworts lässt jedoch völlig offen, wie ein solches Prinzip konkret gehandhabt wird (Astor et al. 1997). Häufig werden in diesem Zusammenhang Konzepte einer möglichst lückenlosen Kontrolle des Schülerverhaltens vertreten, zumeist verbunden mit der Forderung, schon bei kleinsten Vorfällen sofort ohne Rücksicht auf den Einzelfall mit Strafen zu reagieren. Praktische Erfahrungen zeigen, dass man auf diese Weise zwar aggressive Verhaltenweisen verhindern kann, so lange die Kontrolle besteht, jedoch lernen die Schüler schnell, solche Kontrollmaßnahmen zu unterlaufen (Noguera 1995). Wichtig ist es daher, über die Situationskontrolle hinauszugehen, um mittelfristig die Einstellungen und Verhaltensweisen der Schüler, aber letztlich aller am Schulleben Beteiligten, im Hinblick auf ein gewaltfreies Zusammenleben zu verändern. Der Grundsatz einer Null-Toleranz gilt dann allerdings in dem Sinne, dass aggressives Verhalten nicht „übersehen“ werden darf. Daher empfiehlt beispielweise Olweus (1996), dass in der Pause nicht nur ein Lehrer, sondern zwei Lehrer Aufsicht führen. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens aggressiven Verhaltens kann schon durch eine solche einfache Maßnahme drastisch gesenkt werden. Grundsätzlich sollte man solche Anlässe dahingehend nutzen, gewaltfreie Formen der Auseinandersetzung zu vermitteln und zu trainieren, aber darüber hinaus zu erreichen, dass durch die Erarbeitung und Akzeptanz entsprechender Verhaltensnormen die beteiligten Personen und Gruppen selbst auf die Einhaltung dieser Regeln achten. In den Medien werden zuweilen sehr vereinfachte, häufig ideologisch fundierte Prinzipien diskutiert, deren Realisierung zu einem aggressionsfreien, friedlichen Zusammenleben führen soll. Die Erfahrung lehrt, dass diese meist einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. So fand Sherman (1997) bei einer kritischen Sichtung von über 500 Präventionsprogrammen, dass die meisten nicht effektiv waren. Nach Füllgrabe (2007) sind daher sowohl militärähnlicher Drill als auch Abenteuerpädagogik oder Weltreisen langfristig wenig erfolgreich, weil sowohl der harte Drill als auch der „weiche“ Therapieansatz trotz ihrer Unterschiedlichkeit den gleichen Fehler haben: Sie vermitteln dem Jugendlichen keine Steuerungsfähigkeiten.
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Im Einzelnen werden in der empirisch orientierten Literatur viele Maßnahmen diskutiert (vgl. Klink et al. 1998; Nolting & Knopf 1998; Petermann 1998; Schwind 1998), so dass hier nur einige wichtige allgemeine Ansätze beschrieben werden können.
3.1 Unterrichtsgestaltung Eltern, aber zuweilen auch Pädagogen gehen oft von der Hypothese aus, dass durch eine anregende Unterrichtsgestaltung und durch vielfältige schulische Angebote eine Verminderung aggressiven Schülerverhaltens erzielt werden kann. Häufig beruft man sich dabei auf Befunde soziologischer Untersuchungen, die dafür sprechen, dass bei Kindern und Jugendlichen mangelnde Schulleistung mit Gewaltbereitschaft einhergeht. Dazu passt auch die Beobachtung, dass – wie oben berichtet – Häufigkeit und Art der Konflikte zwischen Sonderschule, Hauptschule bis hin zum Gymnasium variieren, so dass sogar von schulspezifischen Konfliktprofilen gesprochen wird. Aus solchen Befunden wird dann geschlossen, dass über eine Verbesserung der individuellen Schulleistung durch innere Differenzierung, sorgfältige didaktische Aufbereitung des Lehrstoffes oder durch entsprechende Gestaltung des Unterrichts (z. B. Gruppenunterricht, entdeckendes Lernen) eine Verminderung aggressiven Schülerverhaltens zu erreichen ist. Bei der Interpretation von Korrelationen ist nun aber besondere Vorsicht geboten. Denn möglicherweise ist nicht die schlechte Schulleistung eine Ursache für die Gewaltbereitschaft (wie häufig in naiver Anwendung der Frustrations-Aggressions-Hypothese unterstellt wird), sondern umgekehrt das soziale Fehlverhalten eine der Ursachen für schlechte Schulleistungen. Busch (1998) ging der Frage der Bedingungsfaktoren aggressiven Schülerverhaltens nach. Im Rahmen der bereits oben erwähnten Längsschnittuntersuchung (vgl. Todt & Busch 1997) wurden in den Jahren 1993 bis 1996 einmal jährlich alle Schülerinnen und Schüler der Klassen 5-9 an drei Gesamtschulen in Mittelhessen befragt. Nach sorgfältigen statistischen Analysen kommt Busch (1998) zu dem Ergebnis, dass allgemeine schulische Rahmenbedingungen wie das Klassenklima, das allgemeine Wohlbefinden, Unterrichtsinteresse oder die Unterrichtsgestaltung durch die Lehrer, aber auch die Schulleistungen – wenn überhaupt – nur einen geringen Einfluss auf aggressives Verhalten in der Schule haben. Wesentlich wichtiger im Hinblick auf die Anregungsbedingungen aggressiven Verhaltens scheint die individuelle Reaktionsbereitschaft (Reizbarkeit, Spaß am Risiko) zu sein, so dass die Vermittlung von Fähigkeiten der Impulskontrolle als Interventionsmaßnahme zu empfehlen ist (Busch 1998: 237). In die gleiche Richtung verweisen die Befunde von Bayer & Schmidt-Rathjens (2004).
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Walter Neubauer
Sie untersuchten 796 Schüler und Schülerinnen der 7. bis 9. Klassenstufe aus Gymnasien, Real- und Hauptschulen mittels Fragebogen. Hierbei fanden sich bemerkenswerte Unterschiede zwischen Tätern und Opfern. Täter reagieren offensichtlich viel häufiger mit direkten körperlichen Angriffen, wobei die Jugendlichen bei fehlender Willenskontrolle gleichzeitig überzeugt sind, sich gegen andere durchsetzen zu können. Die Erfahrung, dass eigenes aggressives Verhalten erfolgreich ist, führt in der Folgezeit zu einem impulsiven Lebensstil (Füllgrabe 2007) und zu entsprechenden subjektiven Theorien und Einstellungen. In Diskussionen über Gewaltbereitschaft werden oft Armut, Wohnungsprobleme u. a. als Ursachen genannt. Nach Füllgrabe (2007) wird dabei – oft unausgesprochen – gemeint, man müsse nur neue Wohnungen schaffen und die Armut beseitigen, um Gewalt und Kriminalität einzudämmen. Lösel & Bliesener (2003) stellten jedoch fest, dass viele Jugendliche unter ungünstigen Umständen aufgewachsen sind, ohne dass sich daraus Verhaltensprobleme ergaben. Vielmehr zeigte sich, dass solche Jugendliche, die trotz hoher entsprechender Risikowerte sozial kompetent sind, im Vergleich zu auffälligen Jugendlichen mit ähnlichen Risikowerten signifikant weniger impulsiv waren, deutlich weniger zu einer aggressionsorientierten Informationsverarbeitung neigten und wesentlich seltener Drogen nahmen. „Es sind also vor allem Prozesse der Selbstkontrolle, die negative Voraussetzungen im Herkunftsmilieu kompensiert haben“ (Füllgrabe 2007: 24).
3.2 Modellverhalten der Lehrer Konflikte und Disziplinschwierigkeiten im Unterricht stellen für Lehrer eine erhebliche Belastung dar, die vor allem bei fehlender Unterstützung durch die Schulleitung zu Stress und Burnout führen können (Barth 1992; Neuenschwandner 2003). Gerade in solchen Handlungssituationen sollten sich Lehrer immer ihrer Verantwortung bewusst sein, dass sie durch ihr eigenes Verhalten bei Konflikten als positives oder negatives Vorbild auf Schüler wirken. Wenn es darum geht, gewaltfreie Formen der Auseinandersetzung bei Schülern zu fördern, sollte auch der Lehrer grundsätzlich versuchen, Konflikte mit Schülern möglichst ohne Einsatz von Macht-Ressourcen zu lösen. Wie erwähnt, fand Olweus (1996) bei seiner Untersuchung des Erzieherverhaltens bei Eltern von Tätern, dass Gewalt wieder Gewalt erzeugt. Dies lässt sich wohl unschwer auch auf Lehrer-SchülerBeziehungen übertragen. Zu empfehlen ist daher, dass im Gespräch die gegenseitigen Standpunkte und Argumente ausgetauscht werden und man sich dann bemüht, eine Lösung zu finden, die von beiden Konfliktparteien akzeptiert werden kann (vgl. Neubauer et al. 1999). Ein solches Aushandeln erfordert sicher zu-
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nächst mehr Zeit als die Formulierung einer Entscheidung, deren Realisierung durch Positionsmacht durchgesetzt wird. Die Beteiligung des Schülers am Entscheidungsfindungsprozess dient einerseits der Vermittlung von gewaltfreien Problemlösungsstrategien, andererseits erfolgt aber auch eine Partizipation an der Verantwortung für die praktische Umsetzung der Entscheidung, woraus in der Regel ein höherer Grad der Motivation resultiert. Die gemeinsame Bewältigung von Konflikten trägt mit dazu bei, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern aufgebaut wird (vgl. Schweer 1996; 1997; Thies 2005). Unter dieser Voraussetzung werden mehr Informationen ausgetauscht, es kommt schneller zu Problemlösungen, und die Häufigkeit von Konflikten sinkt (Meier 1997).
3.3 Schlichter-Programm für Schüler (Peer Mediation) Wird ein Streit zwischen Schülern durch Eingreifen einer Lehrkraft unterbrochen oder entschieden, so bedeutet dies einerseits eine zeitliche Belastung der Lehrkraft, andererseits haben die Schüler nicht gelernt, in eigener Verantwortung einen Konflikt gewaltfrei zu regeln. Hier setzt das Schlichter-Programm für Schüler an, das in den letzten Jahren zunächst in Schulen der Sekundarstufe und neuerdings auch in der Primarstufe praktiziert wird (Wichterich 1996; 1999). Der Begriff „Schlichtung“ umfasst im deutschsprachigen Bereich zweierlei Ansätze, nämlich Schiedsverfahren und Mediation. Während sich beim Schiedsverfahren die Konfliktparteien der Entscheidung einer unparteiischen dritten Person unterwerfen (Schlichterspruch), kann bei der Mediation die dritte Person eine Konfliktlösung nicht diktieren, sie vermittelt zwischen den Konfliktparteien und hilft ihnen, sich auf eine Lösung zu einigen. Ziel des Schlichter-Programms für Schüler (Peer Mediation) ist es, durch systematische Instruktion und Training Schüler und Schülerinnen dahingehend zu qualifizieren, dass sie als Mediatoren anderen Schülern bei der Konfliktlösung helfen (Knapp et al. 2004). Streitschlichtung ist ein strukturierter Gesprächsverlauf, der sich am Paradigma des Problemlösungsprozesses orientiert. Üblicherweise werden folgende Schritte unterschieden (vgl. Diez & Krabbe 1996):
Einleitung, Vereinbarung der Gesprächs- und Schlichtungsregeln Darstellung des Konflikts aus der Sicht der beteiligten Personen Bearbeitung des Konflikts im Gespräch Erarbeitung der Problemlösung Übereinkunft bezüglich der späteren Umsetzung.
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Streitschlichtung setzt beim Moderator nicht nur die Kenntnis von Phasen und Regeln des Schlichtungsgesprächs voraus, sondern auch besondere Kompetenzen, die als Schlüsselqualifikationen für eine erfolgreiche Durchführung erforderlich sind. Teil des Schlichter-Trainings ist daher insbesondere auch die Förderung der Selbstregulation und des Perspektivenwechsels (Jefferys 1998). Selbstregulation bezieht sich auf die Kontrolle der eigenen Impulse (z. B. Sympathie, Antipathie), relative Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen und das Festhalten an längerfristigen wünschenswerten Zielen auf Kosten kurzfristiger begrenzter Ziele. Selbstregulation bedeutet ferner, dass man die Konsequenzen seines Handelns zu antizipieren vermag. Auf Streit bezogen geht es konkret darum, negative Emotionen und impulsive Handlungen zugunsten besonnener Verhaltensweisen zurückzustellen. Perspektivenwechsel als soziale Kompetenz ermöglicht es, das Verhalten der Anderen zu verstehen, d. h. die egozentrische Sichtweise zu überwinden und sich auch in die Position des Anderen hineinversetzen zu können. Das Trainingsprogramm für die Sekundar-Stufe enthält folgende Schritte (Jefferys & Noack 1995): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Sensibilisieren für Konflikte und deren Ausgänge Toleranz und Empathie erproben und festigen Gefühle besser erkennen und ausdrücken lernen Selbstkontrolle üben und Ermutigung erfahren Sich akzeptabel mitteilen Zuhören und konzentrieren Konfliktlösungen suchen und Kompromisse finden.
Das Programm für die Ausbildung von Schülerinnen und Schülern der Grundschule wurde bewusst schlank gehalten. Es kann durch Übungen zum sozialen Lernen ergänzt werden. Hier lauten die einzelnen Trainings-Schritte (Jefferys 1998): 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Zuhören Paraphrasieren (in eigenen Worten wiedergeben, was der andere gesagt hat) Nonverbal ausgedrückte Gefühle erkennen Konfliktgegenstände und Lösungsmöglichkeiten kennen Den Mediationsablauf beherrschen Mit einem Partner im Schlichtungsgespräch kooperieren.
Wichterich (1999) empfiehlt, für die Einführung der Streit-Schlichtung in einer Schule bestimmte Absprachen zu treffen, die im Schulprogramm verankert werden sollten. Dabei geht es nicht nur darum, die organisatorischen Fragen der
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Schlichterausbildung und den Einsatz der Schlichter zu klären, sondern auch den Bereich „schlichtungswürdigen“ Verhaltens zu definieren. Wichtig ist hier vor allem eine Abgrenzung gegenüber Bagatellfällen auf der einen Seite und gegenüber nicht mehr schlichtungsfähigen Vorkommnissen, die Ordnungsmaßnahmen oder strafrechtliche Konsequenzen erfordern. Problematisch erwies sich in der Praxis die Frage, wie Lehrer-Schüler-Konflikte zu handhaben sind, und welche Schlichtungsinstanz hier tätig werden sollte. Bisher gibt es nur wenige Schulen mit mehrjähriger Erfahrung in Peer Mediation. In der Regel werden positive Erfahrungen berichtet, die jedoch durch systematische empirische Untersuchungen abgesichert werden sollten.
3.4 Mehr-Ebenen-Ansätze Bei der Frage der Einführung des Schlichter-Programms wurde bereits deutlich, dass eine solche Innovationsmaßnahme in der Schule (wie in allen Organisationen) nur dann einen erheblichen Effekt haben wird, wenn sie möglichst auf dem Konsens aller Gruppen beruht und im Schulprogramm verankert ist. Nolting & Knopf (1998) kommen daher bei ihrer kritischen Analyse vorhandener Interventions-Konzepte zu dem Schluss, dass nur Mehr-Ebenen-Ansätze Aussicht auf Erfolg haben. Das Ziel einer nachhaltigen Verminderung aggressiven Schülerverhaltens kann nicht durch bloße Maßnahmen der äußeren Situationskontrolle erreicht werden. Vielmehr ist es notwendig, eine umfassende Organisations-Entwicklung in die Wege zu leiten, welche die Schüler, Eltern und Lehrer gleichermaßen mit einbezieht. Inhaltlich geht es um die Vereinbarung klarer, verständlicher Regeln für das Zusammenleben in der Schule, insbesondere um die Ablehnung von Gewalt, die als Handlungsmaximen Teil der gelebten Schulkultur werden müssen. Sie sind daher für alle verbindlich. Diese Vereinbarungen müssen auch die Grenzen angeben, deren Überschreitung nicht toleriert wird, und die Konsequenzen, die eine Verletzung der Regeln nach sich ziehen. Außerdem muss die gemeinsame Mitverantwortung aller Beteiligten betont werden (Busch 1998; Busch & Todt 1997; Olweus 1996). Wenn es auf diese Weise gelingt, dass sich alle Beteiligten mit ihrer Schule identifizieren, aktiv am Schulleben teilnehmen und stolz auf ihre Schule sind, dann schützen diese Gruppennormen mehr vor Gewalt und deviantem Verhalten als hohe Zäune um den Schulhof (Noguera 1995). Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang das Projekt „Gewalt an Schulen – Eine Untersuchung im Rahmen des Präventionskonzepts ‚Konflikt-Kultur’“ (Glattacker et al. 2002). Dieses Programm setzt auf der präventiven, interventiven und strukturellen Ebene an. Es verknüpft zwei methodische Konzepte, näm-
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lich die Mediation und den Täter-Opfer-Ausgleich. Wichtige Bestandteile des Programms sind die Ausbildung von jährlich ca. 12 Schülern der achten Klassen zu Konfliktmediatoren und die Betreuung dieser Schüler bei ihrer Arbeit, ferner die bedarfsweise Durchführung des Täter-Opfer-Ausgleichs und der Mediation durch ausgebildete Lehrer oder die Programmleiter sowie die Einführung und Einbindung der fünften Klassen in das Programm. Zur Überprüfung der Effizienz erfolgte eine breit angelegte Fragebogenerhebung zu verschiedenen Zeitpunkten. Die Untersuchungsergebnisse belegen die positive Auswirkung des Programms zur Implementierung einer angemessenen „Konflikt-Kultur“ auf allen Ebenen. Die Schülerantworten legen nahe, dass auf der präventiven Ebene das Ziel, Konfliktlösekompetenzen zu fördern, klar erreicht wurde. Die Reduzierung der Gewalthäufigkeit lässt sich – nach Auffassung des Autorenteams – sowohl der präventiven als auch der interventiven Ebene zuordnen. „Für den Erfolg auf struktureller Ebene sprechen einerseits die wahrgenommenen Entlastungen der Lehrer durch das Projekt und andererseits die überwiegend positive Bewertung des Programms und damit dessen Gesamtakzeptanz, was die Voraussetzung für eine weitere Entwicklung und Verankerung im Schulalltag darstellt“ (Glattacker et al. 2002: 148). Wie gut dieses Programm angenommen wurde, belegen folgende Zahlen: Zwischen Juli 1998 und Mitte Juni 1999 wurden insgesamt 70 Konfliktfälle bearbeitet, 33 Schlichtungen von Schülern durchgeführt sowie 37 komplexe Mediationen oder Täter-Opfer-Ausgleiche von Erwachsenen geleitet. Die Autoren verweisen darauf, dass solche kurzfristigen Erfolge möglicherweise als „Hawthorne“-Effekt, d. h. als Strohfeuer, auftreten können. Allerdings sprechen die Befunde auf Verhaltensebene, nämlich die konkrete und konstante Nutzung der Hilfsangebote Mediation und Täter-Opfer-Ausgleich, gegen eine solche Interpretation. Das Autorenteam berichtet, dass das überarbeitete Konzept „KonfliktKultur“ zum Zeitpunkt des Erscheinens der Veröffentlichung (im Jahre 2002) an acht Schulen umgesetzt wird. Bei der Übertragung des Konzepts auf andere Schulen bzw. Schultypen zeigte sich, dass eine auf die jeweilige Schule und ihr individuelles Profil bezogene adaptive Konzeption von Bedeutung ist. Nach den allgemeinen Erfahrungen im Schulbereich und in Wirtschaftsunternehmen (Neubauer 2003) benötigen solche systematischen, grundlegenden Veränderungen der Schulkultur einen Zeitraum von etwa fünf bis acht Jahren, so dass man realistischerweise keine kurzfristigen Erfolge erwarten darf.
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Lehrer-Schüler-Interaktion im Einwanderungsland Georg Auernheimer
Deutschland ist unleugbar zum Einwanderungsland geworden. Das Bildungssystem wird aber strukturbedingt den damit verbundenen Herausforderungen, unter anderem der größeren Heterogenität der Schülerschaft, nicht gerecht, was auch Auswirkungen auf die Lehrer-Schüler-Interaktion hat. Neben den beruflichen Sozialisationseffekten für die Lehrer/innen ergeben sich aus dem System Grenzen pädagogischen Handelns, die nur bedingt durch die interkulturelle Orientierung der Einzelschule überwunden werden können. Die spärlichen empirischen Studien über Einstellungen und Verhaltenstendenzen von Lehrpersonen zeigen ein ambivalentes Bild. Unter normativem Aspekt kommen die Forderungen nach allgemeiner Sozialkompetenz und pädagogischer Professionalität (z. B. Diagnosefähigkeit) vor der Forderung nach interkultureller Kompetenz. Diese darf nicht kulturalistisch verkürzt werden, sondern muss die Sensibilität für Asymmetrien und Erfahrungen von Migranten einschließen.
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Einleitung
Nach dem Mikrozensus 2005 hat ein Fünftel der bundesdeutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund (in Westdeutschland 21,5 %), von den unter 25-Jährigen sogar ein Viertel. Und von den Vorschulkindern kommen 30 Prozent aus Migrantenfamilien. Der Mikrozensus 2005 ist insofern eine beachtenswerte Neuerung in der amtlichen Statistik, weil damit nicht mehr nur die Nationalität zählt, sondern Kategorien wie eigener Geburtsort und Geburtsort der Eltern. So wurden zum ersten Mal das Ausmaß und die Heterogenität der Migration erfasst und ins Blickfeld gerückt. Das signalisiert eine Änderung der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Es lässt sich nicht mehr leugnen, dass Deutschland längst
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ein Einwanderungsland ist, was lange Zeit politisch uneingestanden blieb.1 Es ist sicher kein Zufall, dass die methodische Innovation in der Bevölkerungsstatistik zeitlich etwa mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes zusammenfiel. Es gibt heute – jedenfalls in den alten Bundesländern – fast keine Schule und Klasse ohne Schüler/innen mit Migrationshintergrund (MH). „In Hauptschulen und integrierten Gesamtschulen kann – je nach Einzugsbereich – der Anteil der Schüler mit MH an 80 % und mehr heranreichen … Insgesamt besuchen 11 % aller Schüler der 9. Jahrgangsstufe eine Schule, in der Migranten (hier: Jugendliche mit mindestens einem im Ausland geborenen Elternteil) in der Mehrheit sind“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 162). Überlegungen zur Lehrer-Schüler-Interaktion sollten diesen gesellschaftlichen Kontext berücksichtigen. Zumindest muss man sich der Frage stellen, ob sich daraus spezifische für das pädagogische Handeln bedeutsame Gesichtspunkte ergeben. Spätestens seit den internationalen Schulleistungsvergleichen, die unter den Namen IGLU und PISA von sich reden gemacht haben, ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche mit MH schulisch wenig erfolgreich sind, d. h. nicht ausreichend gefördert werden, wie der internationale Vergleich zeigt. Denn daraus geht hervor, dass es den Bildungssystemen anderer Länder besser gelingt, Chancengleichheit herzustellen. Wo der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird, lässt sich auch das Postulat der Anerkennung schwerlich einlösen. Beide Leitmotive müssen für heutige Gesellschaften mit ihrer Pluralität kultureller Traditionsbestände und Lebensstile, speziell mit sprachlichen und religiösen Minderheiten, Geltung beanspruchen (Benhabib 1999; Habermas 1993; Fraser 2001). Das Problem der multikulturellen Gesellschaft im heutigen Verständnis besteht darin, dass die Ansprüche der „Dominanzkultur“ (Rommelspacher 1995) mit der mangelnden strukturellen und sozialen Integration2 der zugewanderten Minoritäten zusammentreffen. Der Minderheitenstatus wird nicht nur durch die zahlenmäßige Unterlegenheit, sondern auch durch soziale Marginalisierung und geringere Partizipationschancen definiert. Gleichheit und Anerkennung sind für die Interkulturelle Pädagogik zentral. Die Anerkennung zielt auf Werte, Symbole, kulturelle Praxen, die für die einzelnen bedeutsam sind, weil sie sich darüber identifizieren. Bildungssysteme müssen sich daran messen lassen, wie weit sie zur Chancengleichheit beitragen und gegenseitige Anerkennung fördern. Vergleichbare Maßstäbe setzt das Kon1
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Inzwischen ist es möglich, dass auf der Homepage eines Bundesamtes der Satz erscheint: „Deutschland ist von jeher ein Land, das stark von Zuwanderung geprägt ist“ (http:/www.bamf.de/cin_042/nn_566316/DE/Integration/integration-node.html_nnn=true) Strukturelle Integration bemisst sich am Grad der Inklusion in Institutionen und Märkte (spez. Arbeits- und Wohnungsmarkt), soziale Integration an der Häufigkeit und Intensität sozialer Kontakte, z. B. der Mitgliedschaft in Vereinen.
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zept der Integration, verstanden als strukturelle, soziale und kulturelle Integration (Auernheimer 2003: 79f.). Das deutsche Bildungssystem zeigt in dieser Hinsicht, ungeachtet kleiner Unterschiede zwischen den Bundesländern, gravierende Defizite. Die zahlreichen Selektionsmechanismen oder –strategien führen dazu, dass Kinder mit ungünstigen Eingangsvoraussetzungen – und dazu zählen viele Kinder mit MH in mehrfacher Hinsicht – auf der Strecke bleiben. Sie sind doppelt so häufig von Sitzenbleiben und Sonderschulüberweisung betroffen wie ihre Mitschüler/innen. Sie erreichen überproportional häufig nur einen Hauptschulabschluss oder bleiben ohne Abschluss (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006; Auernheimer 2006). Die Lehrer-Schüler-Beziehungen bleiben von dieser Situation vermutlich nicht unbeeinflusst; denn es ist anzunehmen, dass die Schüler/innen und ihre Eltern mit entsprechenden Erwartungen, Befürchtungen, Stereotypisierungen den Lehrpersonen begegnen, wie umgekehrt diese zu generalisierenden Vorstellungsmustern über Schüler/innen mit MH, deren Leistungsfähigkeit etc., tendieren dürften, sofern sie nicht zu reflektieren gelernt haben, wodurch das häufige Schulversagen bedingt ist.3 Es wäre verfehlt, die Lehrpersonen für die statistisch hohe Misserfolgsquote haftbar zu machen, so gewiss sie im Einzelfall nicht von ihrer Verantwortung freizusprechen sind. Aber das überdurchschnittlich schlechte Abschneiden der Schüler/innen mit MH, speziell einiger Herkunftsgruppen – manche Migrantengruppen sind schulisch sehr erfolgreich (Weiss 2006) – ist primär dem System anzulasten. Allerdings ist es auch plausibel anzunehmen, dass dieses System berufliche Sozialisationseffekte zeitigt. Konkret: In einem Schulsystem, das vielfältige Mechanismen bietet, mit denen ich mich als Lehrperson entlasten kann, indem ich Schüler/innen mit ungünstigen oder ungewöhnlichen Lernvoraussetzungen nicht versetze, auf eine Sonderschule überweise etc., in einem solchen System werde ich kaum veranlasst, Schüler/innen individuell zu fördern, und der Umgang mit heterogenen Lerngruppen wird kaum gelernt. Im Folgenden soll der Umgang mit interkulturellen oder interkulturell bedeutsamen Situationen in der Schule im Brennpunkt stehen.
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„Interkulturelle Situationen“, ihre Interpretationsbedürftigkeit, verschiedene schulische Kontexte
Wann sind Lehrer/innen mit interkulturellen Situationen konfrontiert? In allen Klassen, zu denen Schüler/innen mit MH gehören, ist der interkulturelle Bezie3
Lehrer/innen wissen häufig zu wenig über die familiäre Situation ihrer Schüler/innen und Eltern zu wenig über die Schule ihrer Kinder (vgl. Reetz 2007 in Fallstudien über italienische Schüler).
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hungsaspekt zumindest latent stets vorhanden, wobei der Minderheitenstatus der Schüler/innen mit den oben angedeuteten nicht bloß kulturellen, sondern auch sozialen Aspekten relevant ist. Für Kinder aus Ausländer- und insbesondere aus Flüchtlingsfamilien ist nicht zuletzt der rechtliche Status von existentieller Bedeutung. Aktuell bedeutsam werden solche Aspekte aber nur in bestimmten Situationen, dann z. B. wenn eine Schülerin unter Hinweis auf religiöse Gebote nicht am Schwimmunterricht teilnehmen soll oder wenn sich die Frage stellt, wie der Lehrer einen internationalen Konflikt behandeln soll, in den seine Schüler bzw. deren Eltern qua Herkunft involviert sind (Beisp.: Irak). Nicht jede Situation, die auf den ersten Blick als ein interkultureller Kontakt oder Konflikt gedeutet wird, hat etwas mit Kulturdifferenz oder Minderheitenstatus zu tun. Als interkulturell bedeutsam sind aber auf jeden Fall Situationen einzustufen, in denen Schüler/innen massive Vorurteile gegenüber Mitschülern äußern, speziell wenn „deutsche“ Schüler/ innen rassistische Äußerungen machen oder zum Beispiel rassistische Medien (z. B. Musik-CDs) mitbringen.4 Wenn man über Lehrer-Schüler-Interaktion unter interkulturellem Aspekt diskutiert, so sind äußerst unterschiedliche schulische Konstellationen ins Auge zu fassen (vgl. Kiper 2005). Zur Verdeutlichung sollen exemplarisch zwei Extreme herangezogen werden, zum einen Schulen oder Klassen, in denen Schüler/innen mit MH in der absoluten Minderheit sind (Typ A), zum anderen Schulen, in denen umgekehrt die einheimischen Schüler/innen eine verschwindende Minderheit bilden (Typ B). Mit diesen Zahlenverhältnissen sind meist vielfältige situative Besonderheiten oder Variablen verknüpft. Typ A findet man, wenn man von den neuen Bundesländern mit äußerst geringen Ausländeranteilen absieht, am ehesten an Gymnasien. Solche Schulen sehen sich aufgrund des geringen Schüleranteils mit MH in der Regel nicht zu einer interkulturellen Orientierung im Schulprogramm veranlasst. Schüler/innen mit MH sind dort einem mehr oder weniger starken Assimilationsdruck ausgesetzt (Hummrich 2002; Weber 2003). Sie bemühen sich in der Regel, den Normalitätserwartungen der Mitschüler und Lehrer zu entsprechen und nicht aufzufallen. Wollte hier eine Lehrperson ethnische Zugehörigkeit oder kulturelle Besonderheiten ansprechen, und sei es noch so gut gemeint, so kann das von den Minderheitenschülern als bedrohlich oder zumindest als lästig und ärgerlich empfunden werden. Eine Thematisierung von kulturellen Differenzen oder von Problemen, die mit dem Minderheitenstatus verbunden sind, wäre nur dann angebracht, wenn sie sich aus dem Unterricht heraus ergibt oder aufgrund von Vorfällen in der Klasse oder Schule aufdrängt. 4
In der heutigen Migrationssituation sind die Kategorien „deutsch“ und „ausländisch“ problematisch. Denn die deutsche Staatsbürgerschaft können auch Migranten haben. Aber auch die Kategorien „autochthone“ und „allochthone“ versagen im Grunde; denn wer kann oder muss als „einheimisch“ gelten?
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Sie verlangt Sensibilität, um die Minderheitenschüler nicht zu exponieren. Oft empfiehlt sich eine indirekte, unpersönliche Thematisierung durch die Planung einer entsprechenden Unterrichtseinheit. Konflikte, die sich als interkulturelle interpretieren lassen, in denen zum Beispiel ethnische Zuschreibungen im Spiel sind, müssen dagegen in jedem Fall aufgegriffen werden. Hier ist pädagogische Scheu fehl am Platz. Dem Typ B sind Hauptschulklassen in städtischen Quartieren mit einer hohen Wohnkonzentration von Migranten zuzurechnen. In den meisten Fällen sind solche Viertel mit vielen sozialen Problemen, vor allem hoher Arbeitslosigkeit mit ihren Folgeproblemen, belastet. Eine erfolgreiche Bildungsarbeit setzt ein Mindestmaß an Offenheit und Bereitschaft seitens der Lernenden voraussetzt. – In der Sozialarbeit spricht man von „Koproduktion“ (Schaarschuch 1999). Die Voraussetzungen dafür werden umso weniger gegeben sein, je mehr Schüler Erfahrungen der Diskriminierung und Ausgrenzung gemacht haben und je weniger sie Zukunftsperspektiven für sich sehen. Einen pädagogischen Bezug zur Schülermehrheit können Lehrer/innen nur herstellen, wenn die Schüler/innen merken, dass ihre soziale Lage wahrgenommen wird und dass die Lehrperson sich nach Kräften für sie einsetzt. Ihre eigenkulturellen Bezüge verschaffen sich die Schüler/innen meist über ethnische oder religiöse Vereine, soweit sie nicht subkulturelle Szenen als „dritte Sphäre“ zwischen Familienkultur und Aufnahmegesellschaft (Nohl 2001) vorziehen. In Schulen vom Typ B entspricht die Rangordnung in den Klassen meist nicht den gesellschaftlichen Dominanzverhältnissen (Fechler 2003). Hier ist es der einzelnen Lehrperson kaum möglich, im Sinn der interkulturellen Programmatik zu wirken, wenn sich nicht die Schule auf ein entsprechendes Programm verständigt. Unabdingbar sind hier der Kontakt zu Migrantenvereinen und die Kooperation mit anderen pädagogischen und sozialen Einrichtungen im Quartier. Wenn auch die Dringlichkeit der interkulturellen Öffnung bei Schulen vom Typ B besonders groß ist, so gilt doch heute für alle Schulen, dass ihr Schulprogramm interkulturell orientiert sein sollte. Dazu gehören neben der angeführten Kontaktaufnahme zu Migrantenvereinen, vor allem zu Multiplikatoren oder Multiplikatorinnen aus den Migranten-Communities, eine Überprüfung der internen Kooperation, was besonders die Einbindung der Muttersprachlehrer/innen oder auch von Förderlehrern betrifft, Maßnahmen zur Sprachförderung, und zwar nicht beschränkt auf Sondermaßnahmen, sondern als Querschnittsaufgabe verstanden, mit den fachlichen Anforderungen und der kognitiven Entwicklung verschränkt, innovative Formen der Elternarbeit und -mitwirkung, eine Überprüfung der Lerndiagnose und der Auslesemechanismen (an Grundschulen z. B. der Übergangsempfehlungen für Kinder mit MH). Dass die interkulturelle Orientierung curriculare Konsequenzen haben muss, ist selbstverständlich. Das betrifft
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vor allem Formen, in denen Mehrsprachigkeit berücksichtigt und gefördert werden kann, den interreligiösen Dialog und das soziale Lernen.
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Empirische Studien zum pädagogischen Umgang mit interkulturellen Situationen
Die spärlichen empirischen Untersuchungen zum Umgang von Lehrpersonen mit interkulturellen Situationen zeigen folgendes: Äußerungen von Ausländerfeindlichkeit finden Lehrer/innen alarmierend, kulturelle Differenzen scheinen sie dagegen gelassen hinzunehmen, was aber nicht unbedingt einen pädagogisch angemessenen Umgang impliziert. Wagner u. a. (2000, 2001) haben in einer Fragebogenerhebung Lehrpersonen verschiedener Schulen in Hessen und Nordrhein-Westfalen mehrere knapp skizzierte Situationen vorgelegt und sie danach gefragt, wie oft sie jeweils eine solche Situation erlebt hätten, wie bedrohlich sie die Situation empfänden, wie sehr sie sich zu einer pädagogischen Reaktion veranlasst sähen und welche Maßnahme sie ergreifen würden.5 Ausländerfeindliche Schüleräußerungen oder Zeichen von Ausländerfeindlichkeit (z. B. Kursieren von Flugblättern in der Klasse), Situationen, die von der Hälfte bzw. einem Drittel der Befragten schon erlebt worden waren, wurden als ziemlich bedrohlich eingeschätzt und veranlassten die Befragten in höchstem Maß zur pädagogischen Bearbeitung6, und zwar überwiegend in irgendeiner Form der unterrichtlichen Thematisierung. Die Konfrontation mit interkulturellen Differenzen (Schülerin trägt ein Kopftuch, Schülerin darf nicht am Sexualkunde- oder Schwimmunterricht teilnehmen), von den Befragten häufig erlebt (58 % bzw. 32 %), wurde demgegenüber als sehr wenig bedrohlich empfunden. Nur bei der verweigerten Teilnahme am Sexualkunde- oder Schwimmunterricht, die vermutlich das pädagogische Selbstverständnis in Frage stellt, sahen sich viele Befragte zu Reaktionen veranlasst (Wahrscheinlichkeit einer Bearbeitung 4,19). Nach einigen qualitativen Studien zu urteilen, sind jedoch in Bezug auf den Umgang mit Differenz pädagogische Haltungen verbreitet, die für interkulturelles Lernen wenig förderlich sind. Drei der von mir herangezogenen Untersuchungen stützen sich auf Gruppendiskussionen oder Interviews mit Lehrperso5
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Hier konnten die Befragten wählen zwischen mehreren Formen der Thematisierung im Unterricht, direkten Sanktionen, der Meldung bei der Schulleitung oder dem Schulamt, der Besprechung des Falls im Kollegium, dem Gespräch mit den Eltern und der Inanspruchnahme der Schulpsychologie, vereinfacht ausgedrückt zwischen Formen der Thematisierung und administrativen Maßnahmen. Auf einer Skala von 1 bis 6 waren die Durchschnittswerte für die Bedrohlichkeit von zwei Situationen 4,38 und 4,64, für die Wahrscheinlichkeit einer Bearbeitung der Situation 5,87 und 5,83.
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nen. Die Zahl der Dienstjahre reichte dabei von eins bis dreißig. Die Schulfallstudie von Auernheimer u. a. (1996) basiert auf teilnehmender Beobachtung und Gesprächen. In der Studie von Auernheimer u. a. (1998) wurden die Kommentare zu dem oben angeführten standardisierten Lehrerfragebogen ausgewertet. Die Befragten konnten Items, mit denen ihr bevorzugter Umgang mit vorgegebenen interkulturellen Situationen erfragt werden sollte, kommentieren. Den fünf qualitativ angelegten Untersuchungen lassen sich deutliche Hinweise entnehmen, welche pädagogischen Haltungen oder Umgangsweisen mit interkulturellen Situationen verbreitet sind. Über den Grad der Verbreitung sagen sie zwar nichts aus, weil es sich nicht um statistische Analysen handelt. Aber dessen ungeachtet können sie als ein Spiegel dienen, in dem man sich als Pädagogin oder Pädagoge betrachten und kritisch prüfen kann. Die Übereinstimmung zwischen den Untersuchungen ist im Übrigen frappierend. In jeweils mehreren Untersuchungen wurden in Lehreräußerungen entdeckt:
die Fixierung auf fremde „Mentalitäten“ oder „Sitten“ (Auernheimer u. a. 1996; Auernheimer u. a 1998), Differenzblindheit (Auernheimer u. a. 1996; Marburger u. a. 1997), generalisierende Erklärungen für fremdartiges Verhalten (Auernheimer u. a. 1998; Auernheimer u. a. 2001; Bender-Szymanski 2001), pauschaler Fundamentalismus-Verdacht (Auernheimer u. a. 2001), Infantilisierung (Marburger u. a. 1997); Paternalismus, Mitleid (Marburger u. a. 1997; Auernheimer u. a. 2001), folgenlose bzw. ausgrenzende „Toleranz“ (Auernheimer u. a. 1998; Auernheimer u. a. 2001; Bender-Szymanski 2001), die barsche Forderung nach Assimilation (Auernheimer u. a. 1998; Auernheimer u. a. 2001; Bender-Szymanski 2001), die Tendenz zur zivilisatorischen Mission (Auernheimer u. a. 1996; Marburger u. a. 1997; Auernheimer u. a. 2001), kein Infragestellen eigener Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster (Auernheimer u. a. 2001; Bender-Szymanski 2001), kein Eingeständnis eigenen Befremdens (Auernheimer u. a. 1998; Auernheimer u. a. 2001; Bender-Szymanski 2001).
Die Blindheit nicht nur für kulturelle Differenzen im engeren Sinn, sondern zum Teil auch für unterschiedliche Erfahrungshintergründe aufgrund von Migration etc. verdankt sich meist einem falsch verstandenen und etwas trivialen Universalismus. „Ich nehme jeden so, wie er ist. Ich mache da keinen Unterschied, weil Kinder sind Kinder, grundsätzlich“ (Marburger u. a. 1997: 43). „Diese Aussage steht exemplarisch für die Aussagen der meisten Befragten“, so die Autorinnen.
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Die Handlungsmaxime „Wir behandeln alle gleich“ ist völlig richtig. Sie kann sich aber ins Gegenteil verkehren, wenn andere Wertvorstellungen und Lernzugänge nicht beachtet werden. In ihren Feldstudien an Schulen sind Auernheimer u. a. (1996) fast durchweg auf eine in dieser Hinsicht problematische Schulphilosophie gestoßen. Dieser normative Überbau kann dazu führen, dass man sich tief sitzende Stereotypen nicht eingesteht und daher nicht bearbeitet. Deshalb kommt es durchaus vor, dass ein und dieselbe Person, die ganz universalistisch argumentiert, in Gesprächen zwischen Tür und Angel von fremden Mentalitäten redet (Auernheimer u. a. 1996; vgl. Feil/Schönhammer 1983). Differenzblindheit und Stereotypisierung scheinen sich nur auf den ersten Blick auszuschließen. Aber gerade weil man starre Vorstellungen von Differenz hat, will man oft gar keine Differenz wahrhaben. Die Rede von Mentalitäten verrät meist ein kulturdeterministisches Weltbild. Zur Illustration einige Stimmen von Referendaren bei Bender-Szymanski: „Mentalität prägt die Wertmuster, das Denken, den Erwartungshorizont des Einzelnen.“ „Man kann aus den Traditionen ... nicht ausbrechen“ (2001: 88). Daraus ergeben sich auch generalisierende Erklärungen für fremdartiges Verhalten und entsprechende Prognosen wie „Veränderungen sind nur über Generationen möglich“ (Bender-Szymanski 2001: 89). Es werden verallgemeinernd Zusammenhänge der Art hergestellt, dass zum Beispiel bei Schülerinnen mit Kopftuch auch die Familienstrukturen traditionell und von Zwang bestimmt seien. So äußerten sich mehrere Teilnehmer/innen an zwei Gruppendiskussionen (Auernheimer 2001). Ganz nahe liegt dann auch schon der pauschale Fundamentalismus-Verdacht (ebd.). Damit kann man, wie schon gesagt, unterschiedlich umgehen. Die Variante Zwang sei nochmals durch ein Zitat aus den Gruppendiskussionen von Marburger u. a. illustriert: „Es ist durchaus notwendig, dass man diesen Eltern mal ganz rabiat bewusst macht, rabiat in Anführungszeichen, was ich von ihnen erwarte, was sie gefälligst zu tun haben, was ihre Pflicht ist“ (1997: 48). Man hört da deutlich den Schulmeister. Marburger u. a. sprechen von einer „infantilisierenden Sicht- und Umgangsweise“ mit Migranteneltern (52). Der entsprechende Paternalismus, kann auch in einer freundlichen, wohlwollenden Variante auftreten. Aber gleich, ob barsche Anpassungsforderungen formuliert werden oder mehr für ein Vorgehen mit „Fingerspitzengefühl“ plädiert wird, nach Marburger u. a. dokumentiert sich in vielen Äußerungen ihrer Gesprächspartner „die Einschätzung von nichtdeutschen Eltern als defizitär, rückständig und unmündig“ (1997: 51). Die Tendenz zum Paternalismus schließt nicht selten das Mitleid ein mit den ach so unterdrückten Mädchen und Frauen. Konsequenterweise fühlt man dann den Auftrag zur zivilisatorischen Mission in sich.
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Die Toleranz, die ein Teil der Lehrer/innen propagiert, bleibt folgenlos im Sinn praktischer Anerkennung, letztlich kann sie sogar ausgrenzend wirken, wenn zum Beispiel auf die Frage „Ausländische Schülerin darf von Seiten der Eltern nicht am Sexualkunde- oder Schwimmunterricht teilnehmen“ – Was würden Sie tun? nur lapidar geschrieben wird „Akzeptieren anderer Sitten“, „Respektieren anderer Traditionen“ u. ä., ohne Gespräche mit den Eltern oder Alternativen, etwa getrennten Schwimmunterricht, auch nur in Erwägung zu ziehen (Auernheimer u. a. 1998). Gerade bei Geschlechterrollen und der Sexualthematik scheinen Lehrer/innen geneigt zu sein, entweder mit Zwang und strikten Anpassungsforderungen zu reagieren oder aber einfach darüber hinweg zu sehen. Stoßen sie auf Kulturmuster, die sich mit den eigenen Wert- und Normvorstellungen nicht vertragen, so sind Verständigungsversuche mit dem Bemühen um eine dritte Lösung anscheinend selten. Für den Schwimmunterrricht könnte diese eben darin bestehen, dass für Schülerinnen ein eigenes Angebot gemacht wird. Häufig sind hier lebensgeschichtlich bedeutsame Auseinandersetzungen unbewusst mit im Spiel. Wenn jemand sich mit einiger Mühe von einer beengenden Moral und beengenden Geschlechterstereotypen freigekämpft hat, dann möchte er diese Errungenschaften eben nicht in Frage gestellt sehen. Dann sind barsche Reaktionen wie: (gemeinsamer Schwimmunterricht) „ist Pflicht. Punkt!“ verständlich (Lehrer in einer Gruppendiskussion, Auernheimer u. a. 2001). Die entgegen gesetzte Möglichkeit der Indifferenz kann durch das Selbst(miss)verständnis motiviert sein, als toleranter Mensch dürfe man Andersheit gar nicht zum Thema machen. Eine fragwürdige Form von „Toleranz“ korreliert oft mit einem Weltbild, in dem Kulturen als klar gegeneinander abgegrenzte, im Grunde unvereinbare Welten erscheinen. Mit einem solchen Weltbild wird man über Differenzen hinweggehen nach dem Motto „Akzeptieren anderer Sitten“, so eine der Antworten in einer Lehrerbefragung (Auernheimer u. a. 1998), sofern man nicht eine partielle Anpassung an das institutionelle Regelsystem fordert. Für jede Art von Kulturdeterminismus ist nämlich ein Dialog unsinnig (vgl. BenderSzymanski 2001). Wenn etwas den Unterricht nicht beeinträchtigt wie zum Beispiel das Tragen von Kopftüchern, sagt mancher Lehrer „Na und?“ (Auernheimer u. a. 1998). Anders ist das, wenn die institutionelle Ordnung und das Selbstverständnis der Schule in Frage gestellt werden, wie das bei Teilnahmeverweigerungen der Fall ist. In der Regel ist damit auch das eigene pädagogische Selbstverständnis betroffen. Dann werden, soweit nicht die Kenntnis einschlägiger Gerichtsurteile Vorsicht nahe legt, Vorschriften und institutionelle Zwänge ins Feld geführt. „Die Regeln sind nun mal da und stehen überhaupt nicht zur Diskussion“, so ein Referendar bei Bender-Szymanski (2001: 85). Eine solche Auffassung enthebt einen der Mühe zu verstehen und beiderseits akzeptable Lösungen auszuhandeln.
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In unserem deutschen System fühlen sich die Lehrer/innen ohnehin weniger aufgefordert, auf Schüler einzugehen, denn durch die starke äußere Differenzierung wird eine entsprechende pädagogische Kultur verhindert. Einen interessanten Einblick in eine spezifisch deutsche Schwierigkeit im Umgang mit kultureller Differenz liefert die ethnographisch angelegte europäische Vergleichstudie von Schiffauer u. a. (2002). Die Grenze zwischen der öffentlichen Institution Schule und der familiären Lebenswelt erlebten die Ethnologen als vergleichsweise diffus. Es gebe weder die positive Anerkennung der communities und ihrer Kulturen wie in der englischen Schule noch die klare Abgrenzung der republikanischen Einrichtung gegen die Außenwelt wie in Frankreich. Daher seien die normativen Erwartungen an der untersuchten Berliner Schule durch Intransparenz und Inkonsequenz gekennzeichnet gewesen (vgl. z. B. S. 184).7 An einem Interviewausschnitt wird der unterdrückte Unwille über die „orientalischen Schülerinnen und Schüler“ deutlich (S. 193). Offen hat man sich anscheinend nie mit deren angeblichen Verhaltensdefiziten auseinander gesetzt. Der entscheidende Punkt bei den meisten Untersuchungspersonen ist, dass sie die eigenen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata selten in Frage stellen und dass sie sich ihr Befremden fast nie eingestehen (Auernheimer u. a. 2001). Das Gebot der Vorurteilslosigkeit hindert vermutlich gerade Pädagog(inn)en daran. Diese Verleugnung behindert aber den Lernfortschritt. Die Gelassenheit gegenüber andersartigen Normvorstellungen und Verhaltensmustern ist häufig aufgesetzt bzw. beruht auf Selbsttäuschung. Wenn sich ein Pädagoge aber mit der Toleranz schwer tut, wird das in der Kommunikation spürbar, und zwar in einer Gruppe nicht nur für die Betroffenen (Auernheimer u. a. 1996). Oft hält sicherlich auch Überlastung von einem dialogischen Umgang mit Differenzen ab. Man kann es nicht einfach als Entlastungsargument wegwischen, wenn der Leiter einer Hauptschule in einer Gruppendiskussion über das Kopftuchtragen darauf hinweist, dass man „ganz andere Probleme habe“ (Auernheimer u. a. 2001: 53). In der selben Diskussion wiesen Teilnehmer/innen auch auf die eigene Unsicherheit hin, die sie davon abhalte, zum Beispiel mit Schülerinnen einmal über das Kopftuch zu sprechen (ebd.). Auf einem anderen Blatt steht, ob dabei nicht möglicherweise der Stellenwert von Kulturwissen überschätzt wird. Abschließend sei nochmals betont, dass nicht nur der Umgang mit kulturellen Differenzen als Maßstab zu gelten hat. Insofern ist hervorhebenswert, dass Lehrer/innen sich durch Zeichen von Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus in hohem Grad herausgefordert sehen. Allerdings gilt ihre Aufmerksamkeit eher 7
Der Mediationsexperte Fechler behauptet aufgrund seiner Erfahrungen ein „für deutsche Schulen charakteristisches… ‚Autoritätsvakuum’“ (2003: 115).
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dem, was im Englischen „blatant racism“ genannt wird. Der strukturelle Rassismus, m. a. W. die institutionelle Diskriminierung, vor allem im eigenen Handlungsfeld und Verantwortungsbereich bleibt eher außerhalb des Horizonts bzw. wird unterschätzt. Um ihre Einschätzung gebeten, wie stark Ausländer in verschiedenen Bereichen (Arbeitsmarkt etc.) benachteiligt seien, wollten nur vergleichsweise wenige Lehrer/innen (42,2 % von 486 Befragten) eine Benachteiligung im Bildungsbereich sehen (Auernheimer u. a. 1998: 610f.).8
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Grundvoraussetzungen: Sozialkompetenz und pädagogische Professionalität
Zusammen mit der interkulturellen Orientierung der Schule bilden eine allgemeine Sozialkompetenz und pädagogische Professionalität auch für die LehrerSchüler-Interaktion in der Einwanderungsgesellschaft die Grundvoraussetzungen. Als zentrale Elemente von Sozialkompetenz können gelten: erstens die Fähigkeit zur Dezentrierung, d. h. die Fähigkeit, andere Sichtweisen oder Perspektiven zu übernehmen, nicht nur beschränkt auf Empathie, damit verbunden zweitens Offenheit und Neugier, drittens Kooperations- und Konfliktfähigkeit. Ledoux u. a. haben zusammen mit Lehrerinnen und Lehrern pädagogische Grundhaltungen erarbeitet, die nicht nur, aber vor allem auch in multikulturellen Klassen bedeutsam sind:
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als Lehrer zeigen, dass man anderen Menschen im Prinzip mit Wertschätzung und Respekt gegenüber tritt, Interesse an persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen bekunden, etwas von sich selbst erkennen lassen, Aspekte der eigenen Lebensgeschichte, eigene Erfahrungen einbringen, nicht normierend auftreten, niemanden zur Preisgabe von Persönlichem zwingen, deutlich machen, dass Persönliches nicht lachhaft ist, Raum geben für andere Sichtweisen, Äußerungsformen, Lernstile und für Zeit (2001: 192).
Es mag sein, dass die Schulleistungsvergleiche der letzten Jahre und die öffentlichen Debatten darüber inzwischen die Vorstellungen verändert haben.
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Durch solche Lehrerhaltungen soll ein Klima des Vertrauens geschaffen werden, das überhaupt erst interkulturelle Bildung ermöglicht.9 Die genannten Haltungen sind nicht selbstverständlich, auch wenn man von Lehreräußerungen absieht, mit denen Schülerinnen mit MH direkt Missachtung bekundet wird, so berichtet in Fallstudien von Martina Weber (2003). Der kulturelle Habitus (Bourdieu) verleitet Lehrer/innen dazu, Interesse nur für Schülererfahrungen aufzubringen, die innerhalb des eigenen Erlebnishorizonts bedeutsam erscheinen. So berichtet Iris Jäger (1997) von sublimen, den Lehrpersonen nicht bewussten Diskriminierungen in einer Klasse, deren Interaktionsstrukturen über längere Zeit beobachtet wurden. Erstens hatten die Beobachterinnen den Eindruck, dass die Lehrerinnen sich im Unterricht stärker und häufiger Tischen mit überwiegend einheimischen Kindern zuwandten. Zweitens durften manche Schüler/innen, die guten Leser, häufig vorlesen, andere überhaupt nicht, was eine Lehrerin mit der Zeitökonomie begründete. Besonders aufschlussreich ist drittens eine Situation, in der die Lehrperson Aufmerksamkeit und Interesse sehr unterschiedlich verteilt. Sie fragt die Schüler nach ihren Ferienerlebnissen. Dabei wendet sie sich zuerst einer auch sonst bevorzugten Gruppe zu. Ihre Reaktionen auf die Schülererzählungen signalisieren unterschiedliche Grade von Interesse und ihre implizite Bewertung. Ihr Frageverhalten ermuntert oder entmutigt die Schüler/innen (S. 139ff.). Hier zeigt sich, wie wenig selbstverständlich und wichtig die Forderung von Quehl (2003) ist, die Lehrperson müsse die Schülerbeiträge gleichermaßen beachten und würdigen und gerade in multikulturellen Klassen in dieser Hinsicht sich selbst kontrollieren. Ganz wichtig für die pädagogische Arbeit ist das, was die Kommunikationspsychologie eine „systemische“ Betrachtung von Kommunikationsprozessen nennt (Schulz von Thun 1981). Dem entspricht die Wahrnehmung des eigenen Anteils an der Interaktion. Die Lehrperson sieht sich dann für Kommunikationsstörungen mitverantwortlich. Das ist gerade für den Umgang mit Schülern, die einen ganz anderen Erfahrungshintergrund haben, sehr bedeutsam. Die Reflexion und Kontrolle eigener Bewertungsschemata und Stereotypisierungstendenzen kann als eine Dimension pädagogischer Professionalität gelten. Eine zweite in unserem Zusammenhang besonders wichtige Lehrerkompetenz ist die Fähigkeit, Lernangebote oder Aufgaben zu individualisieren. Das setzt drittens diagnostische Kompetenz voraus. Als viertes Element pädagogischer Professionalität ist die Fähigkeit zur Konfliktbearbeitung zu nennen. Seit der bekannten Studie über den so genannten „Pygmalion-Effekt“ von Rosenthal und Jacobson (1968) ist durch viele Folgestudien bestätigt worden, dass Lehrererwartungen die Schülerleistungen beeinflussen, weil sie unter ande9
Siehe dazu die Beiträge über Vertrauen und Klassenklima von Schweer und v. Saldern in diesem Band!
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rem die Anstrengungsbereitschaft, die Aufmerksamkeit und die Beteiligung der Schüler beeinflussen (Alexander & Schofield 2006: 57). Vier Variablen des Lehrerverhaltens lassen sich identifizieren: (a) die generell negative oder positive Haltung gegenüber einem Schüler, (b) Lob und Kritik, das Ignorieren von Beiträgen, (c) die Vergabe herausfordernder und/oder zusätzlicher Aufgaben, (d) Möglichkeiten zur Beteiligung für den Schüler (Alexander & Schofield 2006: 58). Helsper & Wiezorek (2006) haben die „Anerkennungsverhältnisse“ in Hauptschulklassen untersucht. Die von ihnen geschilderten Unterrichtssequenzen demonstrieren, wie Lehrer Schüler stärken können, indem sie diese ermuntern, sich einer Aufgabe zu stellen, indem sie Ansprüche aufrecht erhalten, ohne die Schüler zu überfordern. Ein Scheitern an der Aufgabe gilt nicht als Blamage. Leistungsforderung und Fürsorge halten sich die Waage. Dementsprechend gibt der Lehrer in einer Sequenz Hilfestellung bei der Meisterung der Aufgabe im Sinn dessen, was im Englischen „scaffolding“ genannt wird (Slavin 2006: 248f.). Alexander & Schofield halten es für wichtig, dass die Lehrperson bei hohem Anspruchsniveau Zuversicht in die Fähigkeiten der Schüler zeigt. Nachgewiesen ist, dass Schüler negative Stereotype bei Lehrern spüren und darauf in der Weise reagieren, dass ihre Lernleistungen beeinträchtigt werden (Schofield 2006), was bei Schülern und Schülerinnen mit MH besonders relevant ist. Lehrer/innen müssten bei den Schülern die Vorstellung abbauen, so eine Empfehlung von Schofield, Intelligenz sei eine unbeeinflussbare Größe. Die Inhaltsanalyse von Verbalbeurteilungen, die Haußer (1991) durchgeführt hat, stärkt leider die Annahme, dass in der Regel das Gegenteil der Fall ist. Die Zeugnisse enthielten nämlich überwiegend feste Eigenschaftszuschreibungen. Die nahe liegende Empfehlung, Lehrer/innen sollten ihre eigenen Stereotypisierungstendenzen und schichtspezifischen Bewertungsschemata reflektieren, ist nach Schofield (2006) wenig hilfreich, weil in der Regel Rationalisierungsstrategien etc. ein Eingeständnis verhinderten. Für Erfolg versprechender hält die Autorin gegenseitige Hospitationen, um problematische Verhaltensmuster zu identifizieren.10 Eine Alternative dazu oder auch Ergänzung wäre die kollegiale Fallberatung (dazu Gudjons 1987). Mit zunehmender Heterogenität der Lerngruppen gewinnt die Individualisierung des Unterrichts an Bedeutung. Nach Schwippert (2004: 21) ist augenfällig, dass bei dem internationalen Leistungsvergleich der Grundschulen (IGLU), was die Lesekompetenz betrifft, die Schulsysteme am erfolgreichsten waren, bei denen in erheblich höheren Maß als in unseren Schulen individualisierte Lesematerialien eingesetzt werden. An deutschen Grundschulen wird nach der Erhebung lediglich durch unterschiedliche Zeitvorgaben differenziert. Das beleuchtet 10
Zu gegenseitigen Hospitationen haben Lehrer/innen allerdings nach einer Studie von Mühlhausen (1991) ein ambivalentes Verhältnis.
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beispielhaft die Effekte einer Individualisierung der Aufgaben für den Bildungserfolg und damit für das Selbstkonzept der Schüler. Individualisierung setzt allerdings diagnostische Kompetenz der Lehrer/innen voraus. Diese ist nach IGLU und PISA verbesserungsbedürftig. Auch Haußer attestiert Lehrpersonen in einem Untersuchungsbericht in dieser Hinsicht eine „Professionalitätslücke“ (1991: 358). Lernberichte werden den in sie gesetzten Erwartungen häufig nicht gerecht. Nur ein Teil von ihnen enthält Entwicklungsbeschreibungen und daraus folgende Förderempfehlungen (Haußer 1991; Valtin 2002). Deutsche Lehrer/innen scheinen auch selten das Bedürfnis nach differenzierteren Beurteilungsinstrumenten zu haben, so der Eindruck aus einer kleinen, nicht repräsentativen Studie von Allemann-Ghionda u. a. (2006)11, was sich damit erklären ließe, dass das deutsche Schulsystem mit seinen Selektionsmechanismen keine entsprechenden Anforderungen setzt. Optimal wäre besonders für schwache Schüler eine „kommunikative Lerndiagnose“ (Haußer & Kreuzer 1994).12 Portfolios oder Lerntagebücher ergeben gerade bei zurückhaltenden, im Deutschen weniger versierten Schülern eine bessere Basis für die Beurteilung als die übliche Praxis. Lehrer/innen müssten zumindest über die soziale Lage und die Familiensprachen ihrer Schüler Erkundigungen einholen. Oft besitzen sie darüber kaum Kenntnis (Allemann-Ghionda u. a. 2006; Auernheimer u. a. 2006). Schließlich ist Konfliktmanagement in der heutigen Schule zu einem Element pädagogischer Professionalität geworden. Zum einen bedingen die sozialstrukturellen Verwerfungen, die Verschärfung sozialer Disparitäten und die Auflösung traditioneller Milieus eine Zunahme von Konflikten. Zum anderen bringt die Immigration teilweise kompliziertere Konfliktlagen mit sich. Entscheidend ist zunächst, dass Konflikte nicht tabuisiert, unter den Teppich gekehrt werden. Hilfreich dafür sind Rituale wie der Morgenkreis oder fest eingeplante Stunden zur Aussprache am Ende der Woche. Zur Konfliktbearbeitung gibt es an manchen Schulen Mediationsprogramme, die aber nachweislich nur dann ihrem Anspruch gerecht werden, wenn das Kollegium mehrheitlich dahinter steht. In jedem Fall sind Lehrer/innen immer wieder selbst als Konfliktschlichter/innen gefordert. Dabei muss die Lehrperson im ersten Schritt der Konfliktanalyse fähig sein herauszufinden, was den Konflikt ausmacht, ob es sich um einen Verteilungskonflikt, einen Wertekonflikt oder Anerkennungskonflikt handelt (Heidari 11 12
Dagegen Matthes 2002. Der Vf. sagt nichts über die Auswahlkriterien für die Beteiligung an der Studie. Haußer & Kreuzer schreiben: „Warum sollte es als attraktive Alternative (zu Noten, G. A.) nicht möglich sein, dass die Selbstbeurteilungsmodi der Kinder wahrgenommen und im Gespräch mit den Kindern und Eltern weiterentwickelt, differenziert oder auch modifiziert werden?“ (1994: 479). Der von Allemann-Ghionda u. a. entwickelte Selbsteinschätzungsbogen für Grundschüler könnte zusammen mit dem Beobachtungsbogen für die Lehrer/innen die Voraussetzung dafür abgeben.
Lehrer-Schüler-Interaktion im Einwanderungsland
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2005). Wichtig ist vor allem zu wissen, dass Konflikte häufig ethnisiert werden. Der Streit um die Tischtennisplatte im Pausenhof gerät schnell zum Kampf zwischen „Türken“ und „Russen“. Hier muss den Konfliktparteien der wahre Charakter ihres Konflikts verdeutlicht werden. Andererseits gibt es neben der Diskriminierung von Schülern mit MH durch deutsche Schüler tatsächlich, vor allem im Jugendalter, Rivalitäten zwischen Migrantengruppen.13 Manche Konflikte ließen sich als Zugehörigkeits- oder Mitgliedschaftskonflikte bezeichnen (Ist Dimitri ein Deutscher?). Anerkennungskonflikte entstehen, wenn identitätsrelevante kulturelle Praktiken oder Symbole entwertet werden. Nach der Konfliktanalyse und -interpretation ist für ein konstruktives Konfliktmanagement die Wahl der richtigen Intervention entscheidend – z. B. Gespräch mit den Konfliktparteien, Thematisierung im Unterricht, Einbeziehung des Kollegiums? Konflikte zwischen Lehrern und Schülern stellen aufgrund der eigenen Involviertheit noch höhere Anforderungen an die Professionalität. Oft würde sich hier eine kollegiale Fallberatung empfehlen, um die nötige Distanz zu gewinnen. Abgesehen von banalen Interessenkonflikten (z. B. Streit über eine Note) kann es sich um das – zunächst oft unmerkliche – Aufeinanderprallen von Wertvorstellungen oder um Diskriminierungsvorwürfe von Schülern handeln. So gewiss diese taktisch eingesetzt werden können, sollte man sich in jedem Fall zur Selbstprüfung veranlasst sehen.
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Interkulturelle Kompetenz im Praxisfeld Schule
Interkulturelle Kompetenz kann man als Ergänzung oder Spezifikation pädagogischer Professionalität betrachten. Die gängigen Konzeptionen sind jedoch noch zu sehr von dem Verständnis von Cross-Cultural-Communication-Competence beeinflusst, wie es für die US-amerikanische Literatur zum Thema bestimmend ist. Der überwiegende Teil der dortigen Beiträge ist auf die Differenz von Kulturmustern und die dadurch bedingten Irritationen und Verständigungsschwierigkeiten fixiert, wobei allerdings ein sehr weiter Begriff von Cross-CulturCommunication vorherrscht. Die Differenz sexueller Orientierungen wird ebenso berücksichtigt wie die Differenz zwischen einem Leben mit und ohne Behinderungen. Die in den Lehr- und Übungsbüchern herangezogenen „Critical Incidents“ sind vielfältig. Der kulturalistische Bias in der US-Forschung ist dem praktischen Verwendungszusammenhang geschuldet, aus dem heraus diese Forschung angestoßen wurde. Das waren die wirtschaftlichen Unternehmungen und militärischen Operationen auf anderen Kontinenten oder auch die Peace-Corps13
Teilweise sind solche Konflikte das Ergebnis von Konfliktimport, z. B. aus Bürgerkriegsregionen.
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Einsätze seit den 1960er Jahren. Erst allmählich richtete sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auch auf interkulturelle Situationen innerhalb der eigenen Gesellschaft. Einige Autor(inn)en, bezeichnenderweise vor allem Expert(inn)en für Social Work, sind sich dabei auch der Beeinträchtigung der Kommunikation durch rassistische Strukturen bewusst geworden (Auernheimer 2002). Sie haben aber den Forschungszweig zur interkulturellen Kompetenz und die Praxis interkultureller Trainings bisher kaum beeinflusst. Für die pädagogische Praxis in der Einwanderungsgesellschaft sind die üblichen Vorstellungen von interkultureller Kompetenz wenig hilfreich, wenn man von sehr allgemeinen Persönlichkeitseigenschaften absieht, die teilweise in der US-Literatur genannt werden, so zum Beispiel die Fähigkeit zum Umgang mit mehrdeutigen Situationen.14 Die Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation ergeben sich, darin hat die Cross-Cultural-Psychology Recht, aus Erwartungsdivergenzen. Diese aber sind – vor allem innerhalb von Einwanderungsgesellschaften – weniger durch tatsächliche Kulturunterschiede, sondern mehr durch Fremdstereotype, Asymmetrie der Beziehung und kollektive Erfahrungen miteinander bestimmt. Die Soziolinguistik liefert uns den Begriff des „Rahmens“ (frame). Dieser Rahmen interkultureller Kontakte ist mehrdimensional. Eine entscheidende Dimension ist die Asymmetrie, zum Beispiel zwischen In- und Ausländer. Alexander Thomas, Begründer der „Austauschforschung“, der deutschsprachigen Variante der Cross-Cultural-Psychology, konzediert: „Asymmetrische Interaktionsbeziehungen sind häufig in interkulturellen Begegnungssituationen zu beobachten“ (2003: 148). Radikaler formuliert Mecheril: „Das Feld interkultureller Interaktion ist ein Feld der Ungleichheit und Imagination“ (1998: 291). Die Imagination speist sich aus den meist gesellschaftlich vermittelten Fremdbildern. Nach Fechler, einem Fachmann für Mediation, „deutet vieles darauf hin, dass die Brisanz ,interkultureller Konflikte’ auf die strukturelle Machtasymmetrie … zurückzuführen ist“ (2003: 135f.).15 Und Elaine Pinderhughes von der Boston School of Social Work weiß speziell mit Blick auf die Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen in den USA: „Menschen werden nicht nur dadurch verstanden, wie sie ihre Kultur symbolisieren, sondern auch durch den Status der Gruppe, zu der sie gehören“ (1998: 135). Der Status der Gruppe bedingt nicht nur Vorurteile seitens der anderen, sondern auch individuelle und kollektive Erfahrungen, für Schwarze zum Beispiel Diskriminierungser14 15
In der interaktionistischen Rollentheorie wird bekanntlich von Ambiguitätstoleranz gesprochen. Der Vf. setzt „interkulturelle Konflikte“ deshalb in Anführungszeichen, weil er davon ausgeht, dass viele Konflikte bloß ethnisiert werden. Zitiert seien hier noch zwei Autoren, die selbst MH haben. Alan Murray & Ranjit Sondhi schreiben den euroamerikanischen Kommunikationsforschern ins Stammbuch: „…relations of power, rather than relations of culture, are the crucial factor“ (1987).
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fahrungen, die sie selbst gemacht haben oder von anderen Schwarzen kennen. Solche Erfahrungen beeinflussen wiederum ihre Reaktionen – Pinderhughes nennt verschiedene Varianten – was wiederum zu Irritationen und problematischen Reaktionen auf der Gegenseite, seitens weißer Pädagog(inn)en führt, wenn diese den Mechanismus nicht durchschauen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen habe ich ein vierdimensionales heuristisches Schema für die Interpretation interkultureller oder interkulturell erscheinender Interaktionssituationen entwickelt. Die Grundannahme ist, dass die Schwierigkeiten solcher Situationen speziell aus dem Zusammen von Kulturdifferenz und Machtasymmetrie resultieren. Aus der strukturellen Asymmetrie entspringen problematische Erfahrungen der unterlegenen Gruppe und entsprechende Reaktionsweisen in der Kommunikation, wodurch sich wiederum der oder die Partner oft in ihren Stereotypen bestätigt sehen. Nehmen wir als Beispiel einen Lehrer, der einem Vater italienischer Herkunft mitzuteilen hat, dass für den Sohn eine Sonderschulüberweisung vorgesehen ist. Falls der Vater vor dem Hintergrund von Erfahrungen, die er oder Verwandte, Bekannte mit deutschen Institutionen gemacht haben, ungehalten, verärgert bis aggressiv reagieren sollte, dürfte mancher Lehrer dazu neigen, dies der „Mentalität“ zuzuschreiben. Wir müssen also, um kompetent mit solchen Situationen umzugehen, einen mindestens vierdimensionalen Rahmen berücksichtigen, nämlich Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und Kulturdifferenzen. Machtasymmetrien ergeben sich aus dem Gegenüber von Dominanz- und Minderheitenkultur, von In- und Ausländerstatus, aus dem unterschiedlichen Grad von Sozialkontakten, aus umstrittener Zugehörigkeit und mangelnder struktureller Einbindung (in den Arbeitsmarkt vor allem), kurz aus dem Unterschied an verfügbaren Ressourcen und Einflussmöglichkeiten. Die Erwartungen und Verhaltensweisen in der Kommunikation werden selbstverständlich nicht nur von kollektiven, sondern auch von individuellen Erfahrungen bestimmt. Aber der Einfluss der Kollektiverfahrungen ist typisch für interkulturelle Kontakte, bei denen man sich gegenseitig als Mitglied einer Out-group oder Fremdgruppe wahrnimmt. Differente Kulturmuster tragen innerhalb der Einwanderungsgesellschaft vermutlich weniger zu Missverständnissen bei als bei Auslandskontakten; denn bei Einheimischen wie Zugewanderten lassen sich gewisse Kenntnisse übereinander voraussetzen. Dazu kommen Anpassungsprozesse und kulturelle Transformationen in Richtung dessen, was als Mischkultur, Transkulturalität oder Hybridität bezeichnet wird. Andererseits führen gerade solche Veränderungen oft zu falschen Zuschreibungen. Außerdem bleiben selbst nach jahrelanger Koexistenz teilweise differente Kulturmuster erhalten, die den Beteiligten gar nicht bewusst sind. Das können etwa unterschiedliche Kommunikationsstile, Vorstellungen über angemessene Konfliktlösungsstrategien sein, über Höflichkeit oder über die Aufgabe
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von Schule. Interkulturelle Kompetenz verlangt also Wissen über und Sensibilität für Machasymmetrien, Kollektiverfahrungen von Migranten, eigene Fremdbilder und mögliche Kulturdifferenzen. Ein Forscherteam in den USA unterscheidet drei für interkulturelle Kommunikation maßgebliche Dimensionen: 1. „intergroup/interpersonal features“, viz. „history relations between their cultural groups (of the interactants, G.A.), which may include rivalry, conflict, and social inequality und almost always involve some degree of prejudice“; 2. “different and perhaps incompatible values, different relationship styles, and different communication styles and rules”; 3. “the sociostructural context – a) the immediate social context, e. g. the degree of formality/ informality, the cooperative structure, b) status of a group, institutional support, demographic factors (e. g., number of the group …)” (Gallois et al. 1995). Unschwer erkennt man hier die vier Dimensionen meines heuristischen Modells wieder, allerdings ergänzt um einen Gesichtspunkt, der gerade im schulischen Kontext von Interesse ist; denn hier haben wir es mit einem gewissen Grad an Formalität der Kommunikation zu tun, wenn auch nicht so stark wie in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen außerhalb des Privaten (Verwaltung, Markt). Schule bildet bekanntlich eine Übergangssphäre von der Familie in den öffentlichen Raum. Eine formalisierte Kommunikation könnte, wenn die Regeln der Institution allen Beteiligten bekannt sind, interkulturelle Missverständnisse vermeiden helfen oder seltener machen. Die Regeln der Lehrer-Schüler-Interaktion scheinen universell zu sein. Aber das ist nur bedingt richtig. Lehrer/innen berichten, dass neu zugewanderte Schüler, so genannte Seiteneinsteiger, gelegentlich den vergleichsweise lockeren Umgangsstil, bei dem Autoritätsbeziehungen ohne rituelle Bestätigung (z. B. Aufstehen) auskommen, als Disziplinlosigkeit missdeuten und sich dann entsprechend daneben benehmen. Die Rollenerwartungen an Lehrer/innen sind keineswegs international einheitlich, wie man weiß. Möglicherweise wird die Mehrdeutigkeit des Lehrerverhaltens dadurch verschärft, dass es zumindest in der Grundschule entsprechend der Brückenfunktion zwischen den Sozialisationsinstanzen teilweise noch Züge elterlicher Zuwendung an sich hat. Bender-Szymanski hat Referendarinnen und Referendare nach selbst erlebten interkulturellen Situationen, ihrem Umgang damit und ihren Überlegungen dazu befragt. Sie unterscheidet problematische und produktive, „synergieorientierte Verarbeitungsmodi“, so ihr Terminus. Als „synergieorientiert“ wertet sie:
das Bemühen, die Ursachen/Motive für unerwartetes Verhalten zu ergründen, den Verständnishorizont der Schüler/innen mit MH erfassen,
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die individualisierende Motivsuche bei der Interpretation des fremden Verhaltens, die Vorsicht bei Generalisierungen bzw. die Vermeidung von Generalisierungen durch die Differenzierung nach Person und Situation, die wertneutrale Verwendung kulturspezifischen Wissens zur Verhaltensinterpretation, die Wahrnehmung des eigenen Anteils an der Interaktion, die Relativierung eigener Deutungsmuster und Wertvorstellungen, die Bereitschaft, sich selbst „in die Position einer Lernenden zu begeben“ und „zuzuhören“ (Zitat einer Referendarin), die Problematisierung eigenen Verhaltens, die Suche nach neuen Handlungsstrategien, die Erweiterung des Verhaltensrepertoires, die Vermeidung von Erwartungen, die vom anderen nicht erfüllt werden können, aber ohne resignativen Umgang mit kulturellen Differenzen.
Neben der Relativierung eigener Deutungsmuster und Wertvorstellungen hilft die Wahrnehmung des eigenen Anteils an der Interaktion „Teufelskreise“, zum Beispiel den circulus vitiosus von missionarischem Gestus, Widerstand und verstärkter Bevormundung zu vermeiden. In der Bereitschaft, sich in die Position einer oder eines Lernenden zu begeben, kommt die Anerkennung von Andersheit zum Ausdruck. Diese Anerkennung impliziert nicht Resignation angesichts kultureller Differenzen. Wenn es sich um persönlich bedeutsame normative Differenzen handelt, zum Beispiel über Geschlechterverhältnisse, sollte man den interkulturellen Dialog suchen, auch um für die Schüler ein positives Modell dafür abzugeben. Gerade der Dialog verlangt Sensibilität für Asymmetrien und Diskriminierungserfahrungen. Erfolgreich kann er nur sein, wenn er, soweit möglich, auf gleicher Augenhöhe geführt wird und wenn die Person ungeachtet der Ablehnung ihrer Position geachtet wird. Dem Postulat der Anerkennung ist in der Schule letztlich inhaltlich Rechnung zu tragen, und zwar durch die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit, von Minderheitensprachen und -religionen im Curriculum. Generelle curriculare Innovationen, zum Beispiel die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts, haben zwar den Nachteil, dass sie Individuallagen vernachlässigen müssen, aber auch den Vorteil, dass kein Schüler sich durch ein auf ihn zugeschnittenes Unterrichtsprogramm exponiert sieht. Für Mecheril ist das Postulat der Anerkennung eine „paradoxe Handlungsorientierung“ oder -anforderung an Pädagogen. Denn sie gründe auf der Annahme, dass das Individuum zur Selbstverwirklichung seiner kulturellen Ressourcen bedarf. Zugleich berge aber das Bemühen um Anerkennung die Gefahr von Zuschreibungen in sich, die die Ent-
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faltung des Subjekts gerade behindern (2005: 325). Dieser Gefahr können Lehrer/innen nur entgehen, wenn sie sich klar machen, dass ethnische Differenzen hierzulande unter Dominanzverhältnissen gelebt werden, was auch auf die Minderheiten-Communities nicht ohne Einfluss bleibt. Die Schüler/innen sollten – anders als in der Gesellschaft – nicht zu Selbstzuordnungen gedrängt werden. Schule muss eine unbefangene Identitätsdarstellung ermöglichen. Das heißt: Lehrer/innen müssen für ein Klassenklima sorgen, in dem sich jede/r unbefangen gemäß ihrem/seinem Selbstverständnis und mit ihren/seinen Eigenheiten darstellen kann (Auernheimer 2007). Die Lehrpersonen selbst müssen gegenüber eigenen Stereotypisierungen, versteckten Zuschreibungen und Abwertungen wachsam sein.
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Geschlechtsrollenidentität und unterrichtliches Handeln Marianne Horstkemper
Wenn Schule als Instanz von Wissensvermittlung, vor allem aber auch als soziales Erfahrungsfeld für Kinder und Jugendliche untersucht wird, dann stehen Kommunikations- und Interaktionsprozesse im Zentrum der Analyse (vgl. Ulich 1991: 385f.). Hierbei spielt in doppelter Weise die Kategorie Geschlecht eine Rolle: In diesem Feld handeln Lehrerinnen und Lehrer, sie kommunizieren und interagieren mit Schülerinnen und Schülern. Diese wiederum bringen sich als Mädchen und Jungen in das Unterrichtsgeschehen und die sozialen Beziehungen ein. Welche Bedeutung hat für Lehrende wie Lernende die Geschlechtszugehörigkeit in diesem komplexen Prozess? Ist sie – auf der Seite der Lehrkräfte – folgenreich für die Ausgestaltung der Berufsrolle? Beeinflusst sie – aus der Perspektive der Lernenden betrachtet – den Prozess des Wissenserwerbs und der Persönlichkeitsentwicklung? Oder schaltet das Gleichheitsprinzip, dem Schule normativ verpflichtet ist, die Wirksamkeit geschlechtstypischer Orientierungen und Erfahrungen weitgehend aus? So nahe liegend diese Fragen erscheinen mögen – in Theoriebildung und Forschung der psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung haben sie erst in den beiden letzten Jahrzehnten verstärkt Beachtung gefunden. Es waren vor allem feministische Schulforscherinnen, die ihre Kritik an den vorhandenen Bildungsinstitutionen formulierten und Veränderungen forderten, damit nicht unter der Decke formaler Gleichheit unterschwellige Benachteiligungen von Mädchen und Frauen festgeschrieben werden (vgl. dazu Nyssen & Schön 1992). Gleichzeitig kamen dabei aber auch Probleme und Schwierigkeiten männlicher Sozialisation zur Sprache, deren Ambivalenzen und Risiken für erfolgreiche Schulkarrieren schon Jürgen Zinnecker (1970) angedeutet hatte, die nun zunehmend intensiver analysiert wurden (vgl. Enders-Dragässer & Fuchs 1988; Boehnisch & Winter 1993). Inzwischen ist diese Debatte um geschlechtsspezifische Effekte im pädagogischen Feld deutlich ausgeweitet worden. Sie ist nicht nur in die interessierte Öffentlichkeit getragen worden, wie das starke publizistische Echo in Zeitschriften wie „Spiegel“, „stern“ oder „Die Zeit“ belegt. Auch in einer Vielzahl von Fernseh- und Rundfunkbeiträgen oder in populärwissenschaftlich aufbereiteter Ratgeberliteratur werden Fragen des Umgangs der
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Geschlechter – gerade im Bereich Schule und Unterricht – häufig thematisiert. Aber auch im wissenschaftlichen Diskurs gilt die Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht inzwischen längst nicht mehr als eher randständige Erscheinung oder Minderheitenposition, wenngleich die Integration theoretischer Ansätze und empirischer Forschungsstrategien in den wissenschaftlichen Mainstream erst in den Anfängen steckt (vgl. Horstkemper 1998). Dennoch lässt sich feststellen, dass eine ganze Reihe von Schulforscher/innen theoretisch gut begründete und zunehmend auch empirisch klar belegte Analysen der Prozesse schulischer Sozialisation und Wissensvermittlung unter Einbeziehung der Dimension vorgelegt haben (vgl. z. B. die hervorragenden Übersichten in Stürzer u. a. 2003; Cornelißen 2004; Ludwig & Ludwig 2007). Das ist auch dringend nötig, denn mit Recht wurde in früheren Jahren kritisiert, dass gerade die empirische Basis der oben angesprochenen Schulkritik eher schmal und methodisch nicht immer unanfechtbar ist (vgl. Breitenbach 1994; Tzankoff 1996). Immerhin bedeutet sie aber einen deutlichen Fortschritt gegenüber dem Forschungsstand etwa der siebziger und auch noch der achtziger Jahre. Damals wurde eine Differenzierung nach Geschlecht in vielen Bereichen der Schul- und Interaktionsforschung entweder gar nicht vorgenommen (vgl. z. B. Weidenmann & Krapp 1986: 361ff.), oder aber sie stellte sich den Autor/innen als nicht erwartetes Ergebnis dar, das Interpretationsschwierigkeiten aufwarf (vgl. Fend u. a. 1976: 415). Kritisch angemerkt wurde zuweilen, dass die Sachebene gewöhnlich weitgehend ausgeblendet werde, wenn das Interaktionsgeschehen beleuchtet wird, obwohl diese keineswegs ohne Einfluss darauf sei (vgl. Piontkowski 1982), seltener dagegen die Vernachlässigung der Dimension Geschlecht. Ulich (1983: 84f.) resümierte für den damaligen Zeitpunkt: „Die Frage nach möglichen Unterschieden im Verhalten von Lehrern/Lehrerinnen gegenüber Schülern/Schülerinnen ist von der pädagogisch-psychologischen Forschung hierzulande bisher sehr stark vernachlässigt worden. Wir können aber, vor allem nach amerikanischen Untersuchungsergebnissen, und sollten auch davon ausgehen, dass solche Unterschiede tatsächlich sehr massiv auftreten, und dass dabei weniger die Geschlechtszugehörigkeit der Lehrpersonen, dafür jedoch umso mehr das Geschlecht der Lernenden relevant ist.“ Er greift damit ein vielfach bestätigtes Ergebnis auf, wonach sich insgesamt betrachtet kaum Unterschiede zwischen Lehrerinnen und Lehrern zeigen, z. B. in der Höhe der Leistungserwartungen, bei bevorzugten Fragestilen oder bei der Beurteilung von Kindern und Jugendlichen. Die meisten Unterschiede ergeben sich tatsächlich aus dem Geschlecht der Lernenden: Jungen werden anders wahrgenommen und behandelt als Mädchen – von Lehrerinnen wie von Lehrern, ohne dass diesen das in der Regel bewusst ist. Solche Ergebnisse liegen sowohl
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aus der deutschen, der anglo-amerikanischen und auch der skandinavischen Forschung für unterschiedliche Schulstufen und -fächer vor. Sie müssen allerdings – auch hinsichtlich der Frage nach der Übertragbarkeit zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten – durchaus kritisch diskutiert werden (vgl. dazu Breitenbach 1994; Kelly 1988; Bjerrum-Nielsen 1997). Lässt sich daraus nun schließen, dass in der Tat das Geschlecht der Lehrkräfte für das Interaktionsgeschehen nicht relevant ist? Eben dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden, um damit ein weitgehend vernachlässigtes Forschungsfeld in groben Umrissen zu skizzieren. In einem ersten Schritt sichte ich dabei die wenigen bislang vorliegenden Erkenntnisse zur differentiellen Interpretation der eigenen Rolle im Lehrberuf durch Männer und Frauen. Dabei soll sowohl nach Gemeinsamkeiten als auch nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern, aber auch innerhalb der Geschlechtsgruppen gefahndet werden. Inwieweit die dabei zutage tretenden Differenzen jedoch das interaktionelle Geschehen im Klassenzimmer tatsächlich bestimmen, darüber kann überwiegend nur spekuliert werden. Methodisch kontrollierte Beobachtungsstudien auf breiter Basis liegen dazu bislang kaum vor, häufig wird deshalb auf Erfahrungsberichte oder Studien mit Pilotcharakter zurückgegriffen. Gelegentlich werden auch selbstberichtete Praktiken von Lehrerinnen und Lehrer schon als Beschreibungen von Interaktionen gewertet (Worrall & Tsarna 1987). Die komplexen Zusammenhänge des Unterrichtsalltags werden damit aber nicht hinreichend erfasst. Im zweiten Schritt stelle ich deshalb Ergebnisse aus einem eigenen Forschungsprojekt vor, das sich auf die fünfjährige Zusammenarbeit mit rheinland-pfälzischen Lehrkräften bezieht. Dabei beschränke ich mich auf eine sehr spezifische Betrachtung unterrichtlicher Interaktionen in zwei Lerngruppen des 9. Jahrgangs eines Gymnasiums und einer Gesamtschule. Das Thema der beobachteten Stunden bezieht sich jeweils explizit auf Interaktionen zwischen den Geschlechtern. Exemplarisch soll an diesen Beispielen der komplexe Zusammenhang von Interaktionsklima, Inhalten und Geschlechtsrollenorientierungen in einem ersten Zugriff beleuchtet werden. In einem kurzen Fazit soll dann vor allem die Frage nach der Konsequenz für die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern und für künftige Forschungsperspektiven erörtert werden.
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Männliche und weibliche Interpretationen der Lehrerrolle
Noch Anfang der neunziger Jahre stellte Gundel Schümer (1992: 656) fest, es sei auf der Grundlage bis dahin vorliegender empirischer Untersuchungen keine
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Aussage darüber möglich, ob es eine spezifisch weibliche Form der Berufsausübung im Lehrberuf gebe. Erst recht sei nicht entscheidbar, ob die häufig behauptete Angleichung der Lehrerrolle an die weibliche Geschlechtsrolle tatsächlich stattfinde. Berufliche Aufgabenbewältigung und Spezifika der Unterrichtstätigkeit als Kern des beruflichen Handelns wurden unter der Geschlechterperspektive kaum thematisiert. Mit einem sekundäranalytischen Zugriff untersuchte sie deshalb einen vorliegenden Datensatz, der die Ergebnisse einer Befragung aus dem Jahr 1988 von rund 4.000 Lehrkräften umfasst.1 Ihre zentralen Ergebnisse sollen zunächst knapp skizziert werden. Es handelt sich dabei um Selbstbeschreibungen des Handlungsrepertoires und subjektiver Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern. Die Autorin widmet sich zunächst der Frage nach möglichen geschlechtstypischen Unterschieden bei didaktischen Vorlieben und Strategien. Sie kommt dabei zu folgender Einschätzung: Frauen sind unter den Lehrkräften überrepräsentiert, die ihren Unterricht lebendig und abwechslungsreich gestalten und sich bemühen, die Schülerinnen und Schüler zu motivieren und zu selbständigem Lernen anzuregen. Sie lassen zum Beispiel im Sprachunterricht eigene Textsammlungen, Wörter- und Merkhefte anlegen, setzen Lernspiele oder andere selbst entwickelte Medien im Mathematikunterricht ein oder organisieren Projekte, experimentieren mit Rollenspielen, Erkundungen, Einsatz von Quellen. Männer geben sich dagegen sehr viel stärker mit dem Lehrbuch zufrieden, setzen es verhältnismäßig häufig im Unterricht zu Übungszuwecken ein und richten die Hausaufgaben danach aus. In allen Altersgruppen und auch schulformunabhängig ließ sich dieses Bestreben um Aktivierung der Kinder und die Bevorzugung vielfältiger, auch spielerischer Lernformen durch Lehrerinnen beobachten (vgl. Schümer 1992: 666ff.). Die Autorin interpretiert das als Indiz für die Höherbewertung sozialer und emotionaler Komponenten des Lernprozesses. Dem korrespondiert eine stärkere Betonung sozialer Bezüge auf der Ebene der Zusammenarbeit im Kollegium: Frauen kooperieren nach eigenen Angaben in allen Bundesländern und Schulformen wesentlich intensiver als Männer mit anderen Kolleginnen und Kollegen. Sie beraten sich gegenseitig, tauschen Lehrund Lernmittel aus, auch Unterrichtsvorbereitungen oder Tests oder entwickeln 1
Beteiligt waren daran Lehrkräfte aus Grundschulen und allen Regelschulen der Sekundarstufe I aus vier Bundesländern (Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen) mit den Unterrichtsfächern Deutsch, Englisch, Mathematik und Sachkunde. Es handelte sich um eine nach Bundesländern und Schularten geschichtete Zufallsstichprobe, die gemessen an der Alters- und Geschlechterverteilung repräsentativ für die jeweiligen Lehrerpopulationen war. Ursprüngliches Ziel der Studie war vor allem die Ermittlung didaktischer Strategien vor allem im Umgang mit Medien.
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gemeinsam solche Materialien, Medien und differenzierende Aufgaben. Am stärksten ist der Geschlechtsunterschied in dieser Hinsicht in der Grundschule ausgeprägt, in der Sekundarstufe wird er stark überlagert von der Schulform. In Gymnasien wird dabei am wenigsten, in Gesamtschulen am meisten kooperiert. Solche Kooperationsformen schließen auch effektive Strategien ein, sich soziale Unterstützung und emotionale Entlastung zu beschaffen. Diese Ergebnisse fügen sich nahtlos ein in die immer wieder angesprochene Betonung der Bedeutung sozialer Prozesse in der Institution Schule durch Frauen. In einer eigenen Befragung von rheinland-pfälzischen Lehrkräften an Gymnasien wichteten die Lehrerinnen die Erziehungsarbeit für die Vermittlung sozialer Kompetenzen signifikant stärker als Bestandteil der Lehrerrolle, als ihre männlichen Kollegen dies taten (vgl. Horstkemper & Kraul 1998: 170). In ihrem professionellen Selbstverständnis geht damit das „Mandat des Lehrers“ (Terhart 1996: 454) deutlich über die Funktion der Wissens- und Kompetenzvermittlung hinaus. Für die Gestaltung der Interaktionsbeziehungen dürften solch unterschiedliche Sichtweisen nicht folgenlos bleiben. Eine relativierende Anmerkung scheint mir an dieser Stelle allerdings notwendig: Die hier vorgenommene Kontrastierung ist nicht zu verstehen als Hinweis auf polare Gegensätze im Sinne je spezifischer stabiler Eigenschaften oder gar „Geschlechtscharaktere“, die allen Angehörigen des jeweiligen Geschlechts zuzuordnen sind. Die Varianz innerhalb der Frauen- bzw. Männergruppe ist hoch, Einstellungs- und Verhaltensbereiche überlappen sich zu weiten Teilen. Alterseffekte erwiesen sich häufig als stärker im Vergleich zu Geschlechtsunterschieden. Dennoch lassen sich aber die hier berichteten Unterschiede zwischen Männern und Frauen als idealtypische Skizzierung festhalten. Nun stoßen quantitativ ausgerichtete standardisierte Befragungen rasch an Grenzen, wenn es um die Ermittlung interaktionsrelevanter Sichtweisen von Lehrkräften geht. Mit einem anderen methodischen Zugriff hat Karin Flaake (1989a und b) sich dieser Frage zugewandt. Sie wertete Interviews mit insgesamt 200 hessischen Lehrerinnen und Lehrern aus Gymnasien und Hauptschulen aus und verweist zunächst einmal auf die hohe Bedeutung der Interaktionsbeziehungen für die Interpretation beruflicher Anforderungen und Rollenzumutungen für beide Geschlechter: Zentrale Quelle von Beanspruchung und Leiden im Beruf, aber auch von Zufriedenheit und Selbstbestätigung, bildet der Umgang mit den Schülerinnen und Schülern. Er steht im Mittelpunkt dessen, was am Beruf geschätzt wird, aber auch im Vordergrund der als belastend empfundenen Seiten. Das gilt für Lehrkräfte insgesamt – quer durch alle Gruppierungen nach Alter, Geschlecht oder Schulform. Im Lehrberuf ist das Gelingen oder Scheitern per-
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sönlicher Beziehungen zugleich Voraussetzung und Folge erfolgreichen Berufshandelns: „Beziehungsarbeit“ – in unserem Geschlechtersystem als weibliche Domäne vorrangig im Reproduktionsbereich angesiedelt – wird zur Erwerbsarbeit. Typischerweise wird die Beziehungsdimension jedoch von beiden Geschlechtern – vor dem Hintergrund der hier skizzierten Gemeinsamkeit – offensichtlich unterschiedlich interpretiert und gewichtet. Männliche Lehrer vertreten eindeutiger und ungebrochener als ihre Kolleginnen die offiziellen schulischen Strukturen mit ihrem leistungs- und konkurrenzorientierten Charakter. Sie betonen häufiger institutionelle Erfordernisse und beziehen Stabilität aus ihrer institutionell abgesicherten Dominanzposition, die mit einer gewissen Distanz zu Schülern verbunden ist. Für Lehrerinnen ist dagegen eine stark beziehungsorientierte, auf persönlichem Engagement beruhende Ausgestaltung des Unterrichts und der Arbeit in der Schule kennzeichnend. Zu sehen sind diese von Flaake (1989b: 114f.) prägnant zusammengefassten geschlechtsspezifischen Ausdeutungen der Berufsrolle als unterschiedliche Umgangsweisen mit einer nicht zu übersehenden Besonderheit des Lehrberufs: Er ist persönlich schon deshalb stark beanspruchend, weil sich die konkrete Tätigkeit in potentiell konfliktträchtigen, asymmetrischen Beziehungen vollzieht. Eine ungebrochene Identifikation mit der institutionell abgesicherten Dominanzposition lässt Nähe nicht zu, kann zu aggressiver Abschottung führen. Die einseitige Betonung von Wünschen nach emotionaler Nähe und Verbundenheit führt dagegen oft dazu, dass institutionelle Ansprüche (z. B. Leistungsstandards, Disziplinforderungen) nicht klar formuliert und offen vertreten werden, letztlich aber trotzdem durchschlagen. Zwischen diesen Extremen, die sich als zugespitzte Typisierung männlicher und weiblicher Verarbeitungsformen kennzeichnen lassen, stellt sich die Frage nach einer gelungenen Ausbalancierung der Bedürfnisse nach Nähe und Distanz, nach eigener Abgrenzung und einfühlendem Verständnis. Am ehesten verwirklicht sieht die Autorin dies in einem Beziehungsmuster, dass sie vor allem in der Gruppe der älteren Lehrerinnen identifiziert hat und als „abgegrenzte Mütterlichkeit“ bezeichnet (Flaake 1989b: 120): Ältere Lehrerinnen (= 50 Jahre und älter) legen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen eine stärkere Haltung prinzipieller Einfühlungs- und Verständnisbereitschaft gegenüber den Schülerinnen und Schülern an den Tag. Anders als die jüngeren Lehrerinnen (= unter 40 Jahre) verbinden sie fürsorgliche Seiten jedoch mit ihrer institutionellen Rolle als Lehrerin. Verständnis und Strenge oder Autorität werden von ihnen nicht als Widerspruch empfunden. Die Erklärung für diese nochmals differierenden weiblichen Weisen der Ausgestaltung ihrer Arbeit in der Schule sieht die Autorin in einer veränderten
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biografischen Bedeutung des Lehrberufs in den beiden Frauengenerationen. Die jüngeren Lehrerinnen beschrieben ihre Berufswahl häufig als eher passive Einmündung in denjenigen akademischen Beruf, den sie sich noch am ehesten zutrauten und der ihnen hinsichtlich Ausbildungsdauer und der Verbindung von Beruf und Familie am ehesten entgegenkam. Die älteren Kolleginnen hatten dagegen mit ihrer Berufswahl noch viel aktiver eigene Planungen durchsetzen und sich gegen die für ihre Generation noch deutlich rigider formulierte Festlegung auf Ehe und Familie wenden müssen: „Diese Frauen scheinen ihren eigenen Weg gegangen zu sein: jenseits der für Frauen vorgegebenen Muster, aber doch nicht wie die Männer. Sie scheinen versucht zu haben, die als weiblich und männlich angesehenen Seiten in sich zu integrieren und Momente von beidem zu leben“ (Flaake 1989a: 228). In dieser auf Abgrenzung basierenden Beziehungsorientierung sieht sie ein produktives Potential, das die Basis abgeben kann für einen verständnisvollen Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Es ermöglicht ein Klima, in dem nicht nur kognitive Entwicklungen und Leistungen Raum haben, sondern auch affektive Prozesse und Probleme angemessen in den Blick genommen werden. Die Gefahr einer einseitigen Überbetonung der Beziehungsdimension sieht sie vor allem darin, in eine Situation permanenter Belastung und Selbstüberforderung zu geraten. Die Sehnsucht nach emotionaler Nähe verlocke dazu, die Illusion ständiger Verfügbarkeit aufzubauen (vgl. Buchen 1991) und sich gleichzeitig in omnipotente Vorstellungen zu verstricken, über persönlichen Einsatz alles zum Guten wenden zu können. Damit rücken die Ambivalenzen solcher vor allem von Frauen vertretenen Orientierungen in den Blick und lassen sowohl ihr kritisch-produktives Potential erkennen als auch die sich dahinter verbergenden Fallstricke. Das ist nicht als Abwertung weiblicher Kompetenzen gemeint, sondern richtet sich gegen die Gefahr, traditionell als weiblich geltende Eigenschaften und Qualifikationen durch schlichte Umbewertung positiv setzen zu wollen und Geschlechterdifferenzen damit gleichzeitig zu akzeptieren und festzuschreiben. Was ist aus diesem Durchgang durch empirische Hinweise auf geschlechterdifferente berufliche Orientierungen nun zu bilanzieren? Ich habe anfangs bereits darauf hingewiesen: Es lassen sich keineswegs durchgängige, gar dramatische Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Sinne polarer Gegensätze (z. B. Sach- versus Beziehungsorientierung, Vermittlungskompetenz versus Erziehungsinteresse etc.) aufzeigen. Konstatieren lassen sich aber graduelle Unterschiede, die insgesamt auf eine Erweiterung des Berufsverständnisses hindeuten, wenn die von Frauen stärker betonten Aspekte integriert werden können. Sie zentrieren sich vor allem um eine stärkere Ausrichtung an den emotionalen Bedürfnissen und den Entwicklungsvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen
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sowie um die Ebene kommunikativer und kooperativer Verständigung im Kollegium. Diese Bereitschaft, sich auf Interaktionsbeziehungen einzulassen, sich sensibel und empathisch jeweils in die Perspektive des jeweiligen Partners oder der Partnerin einzufühlen, stellt ein gehöriges Potential zu einer humanen Gestaltung von Schule dar. Seine Kehrseite kann jedoch bestehen in einer permanenten Selbstüberforderung, wenn nicht die schulischen Rahmenbedingungen als institutionell vordefinierte Kommunikationsbedingungen realistisch in Rechnung gestellt werden. Die Ausbalancierung von Nähe und Distanz in der Gestaltung von Interaktionsbeziehungen wird somit an Lehrerinnen wie Lehrer als zentrale berufliche Anforderung gestellt, vor dem Hintergrund geschlechtstypischer Sozialisationserfahrungen löst dies aber offenbar je spezifische Bewältigungsstrategien aus.
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Geschlechtsrollenorientierungen und Interaktionsbeziehungen als Unterrichtsgegenstand
Im zweiten Teil begebe ich mich nun in die Mikroanalyse unterrichtlichen Interaktionsgeschehens, wobei die zu erarbeitende „Sache“ explizit in der Analyse von Interaktionsbeziehungen zwischen den Geschlechtern besteht: Es geht um Textanalyse und Textinterpretation im Deutschunterricht des 9. Jahrgangs. Dazu ziehe ich Beobachtungsmaterial aus der bereits erwähnten eigenen Längsschnittstudie (Horstkemper & Kraul 1998) heran, in der über fünf Jahre hinweg gemeinsam mit Lehrerinnen und Lehrern an vier rheinland-pfälzischen Schulen Strategien der Verwirklichung einer geschlechterbewussten Pädagogik entwickelt und von uns wissenschaftlich begleitet wurden. Ich konzentriere mich im Folgenden auf eine von einer männlichen und eine von einer weiblichen Lehrkraft ganz zu Beginn unserer Arbeit gehaltene Unterrichtsstunde. Auch hier möchte ich eine relativierende Bemerkung voranstellen: Mit diesen beiden Beispielen soll nicht etwa suggeriert werden, es handle sich hier um prototypisch „männliches“ bzw. „weibliches“ Unterrichtsverhalten. Dennoch lässt sich der Verlauf dieser Stunden daraufhin abklopfen, ob sich die im ersten Teil herausgearbeiteten differentiellen Unterschiede zwischen Lehrerinnen und Lehrern dort aufscheinen, wie diese das Interaktionsgeschehen in der Lerngruppe beeinflussen und in welcher Weise schließlich die Erarbeitung der „Sache“ davon tangiert wird.
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2.1 Was macht Frau Möbius-Rose falsch? Unser erstes Beispiel ist eine Deutschstunde im 9. Jahrgang eines Gymnasiums. Dort wurde die Komödie von Dürrenmatt „Die Physiker“ gelesen. In der ausgewählten Stunde soll das Ende des ersten Aktes erarbeitet werden. Anhand der in dieser zunächst mit verteilten Rollen gelesenen Szene sollen die Mädchen und Jungen sich mit den hinter der satirisch-verfremdet dargestellten Familiensituation sichtbar werdenden Rollenauffassungen beschäftigen. Der erste Arbeitsauftrag richtet sich auf die Identifizierung stilistischer Elemente, die Komik erzeugen. Dazu äußern sich im Anschluss an die Lesung sehr rege Mädchen und Jungen. Der Lehrer bemüht sich, alle in der Reihenfolge der Meldungen dranzunehmen. Jeder Beitrag wird von ihm kurz kommentiert, bestätigt oder mit einer Nachfrage versehen. Das Unterrichtsgespräch wird straff geführt und zielbewusst vom Lehrer gelenkt. Den Übergang zu seiner Absicht, Rollenvorstellungen zu reflektieren, findet er, indem er an den Beitrag einer Schülerin anknüpft: L.:
Wir sollten mal diese Familie Möbius-Rose ... ansehen und sollten mal überlegen, aus der Sicht von der Frau Rose, was denn so die Aufgaben der einzelnen Familienmitglieder sind. Was ist die Aufgabe der Frau in der Familie, was ist die Aufgabe des Mannes ... wie muss so’n Familienleben aussehen?
Dazu schaltet der Lehrer nun eine zweiminütige „Murmelphase“ ein, in der die Jugendlichen sich mit ihrem Nachbarn bzw. der Nachbarin austauschen sollen, um die Beiträge anschließend zu sammeln. In dieser Sammlungsphase beteiligen sich deutlich stärker die Mädchen: Alle Beiträge waren schülerinitiiert, der Lehrer steuerte durch sein Aufrufverhalten. Sein methodisches Vorgehen lässt sich als stark lehrerzentriertes fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch einordnen. Der Impuls des Lehrers, der die Sammlungsphase vorbereitet, enthält eine nicht näher explizierte normative Komponente hinsichtlich der Gestaltung von Interaktionsbeziehungen („Wie muss so’n Familienleben aussehen?“), die von den Schülerinnen und Schülern auch erkannt wird. Sie wird aber nicht offengelegt und diskursiv verhandelt, sondern eher implizit eingekreist. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie dominant Frauen sein dürfen. Mehrere Mädchen binden Dominanz an die Versorger(innen)-Rolle, die in diesem Stück von Frau Rose übernommen wird und definieren dies als Ausnahmezustand. Während ein Mädchen die Auffassung vertritt, es sei doch „normal“, wenn auch Frauen die Rolle der Versorgerin übernähmen, sieht ein Junge dies als unangemessene Umkehrung der in seinen Augen offensichtlich nicht hinterfragbaren Geschlechterhierarchie: „Sie unterdrückt die Männer, weil sie auch arbeiten geht.“ Solche Aussagen stehen weitgehend unkommentiert im Raum. Gerichtet werden die Statements jeweils an den Lehrer, zwischen den Schülerinnen und Schülerinnen gibt es weder direkten Meinungsaustausch, noch Nachfragen oder Bezugnahmen auf
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vorangegangene Äußerungen, auch dann nicht, wenn konträre Positionen geäußert werden. Der Lehrer hält in seinen Worten im Tafelbild fest, was er als wichtige Erkenntnis sichern möchte: Was macht Frau Möbius-Rose falsch? ernährt die Familie, opfert sich auf dominiert die Familie gibt Befehle, redet dazwischen behandelt wie unmündige Kinder (verniedlicht, verharmlost) Dieser Tafelanschrieb wird von den Schüler/innen auch in eben dieser Form sorgfältig notiert. Zum Teil war der Lehrer aber erheblich von den vorher getroffenen Aussagen abgewichen, hatte sie in seinem normativen Bezugssystem so umgedeutet, dass implizit sein klares Leitbild einer patriarchalisch verfassten Familie als zu sichernde Erkenntnis im Stundenprotokoll der Schülerinnen und Schüler festgehalten wurde.2 Offenen Widerspruch gegen solche Akzentverschiebungen gab es an keiner Stelle, die dominante Position des Lehrers setzte sich jeweils unbefragt durch. Im Vorgespräch hatte uns der Lehrer seine Planung und seine Absichten kurz erläutert. Bezogen auf die Reflexion von Familienkonstellationen und damit auch Geschlechtsrollen wolle er die Jugendlichen selbst ihre Positionen entwickeln lassen. Es habe ja keinen Zweck, ihnen immer zu predigen, wie es sein solle. Das bringe sie eher zu Abwehr und Unlust. Seine Erarbeitungsphasen werden von den Jugendlichen auch rege genutzt. Die Wortmeldungen kommen reichlich, die Kommunikation wirkt eingespielt zwischen Fragendem und Antwortenden. Die Lehrerzentrierung ist unübersehbar, Nachfragen, Anknüpfungen an vorher Gesagtes, Widerspruch oder Bekräftigung, Differenzierung von Beiträgen anderer Partner/innen des Unterrichtsgesprächs kommen so gut wie nicht vor. Gesteuert wird das Gespräch von den Impulsen des Lehrers, seine normativen Orientierungen vermitteln sich zwar nicht in Form einer Predigt, sehr wohl aber in diesen Steuerungsaktivitäten. In der Frage „... wie muss so’n Familienleben aussehen?“ wird vorausgesetzt, dass es gültige 2
In der gebotenen Kürze dieses Beitrags können solche Strategien nicht ausführlich belegt werden. Als ein illustratives Beispiel soll hier kurz die „Geschichte“ der Leitfrage des Tafelbildes „Was macht Frau Möbius-Rose falsch?“ skizziert werden. Sie stellte die Umformulierung einer längeren Schülerinnen-Äußerung dar, die sich auf das unangemessene Verhalten des Ehemannes bezog: Er habe sich seiner Verpflichtung und Verantwortung für die Familie entzogen. Das sei keinesfalls in Ordnung. Dieses Statement wurde vom Lehrer folgendermaßen kommentiert: „Richtig. Was macht die Frau hier falsch?“ Nonverbal reagierte die Schülerin darauf mit Verblüffung – ebenso wie beide Beobachterinnen. Gegen die Ummünzung der Kritik männlichen Verhaltens in die in der Leitfrage herausgeforderte Kritik weiblichen Verhaltens gab es aber keinen Protest.
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Normen dafür gibt. Keinesfalls verträglich damit – so wird in der anschließenden Diskussion herausgestellt – ist weibliche Dominanz. Befehle geben, dazwischen reden, Männer wie unmündige Kinder behandeln, das wird an der Tafel als „falsch“ für Frauen und Mädchen ausgewiesen. Solches Verhalten führt jedenfalls nicht zu einem „vernünftigen Familienleben“. Dieses hier deutlich negativ akzentuierte Frauenbild wird von ihm explizit in provokativer Absicht als „modernes Leitbild“ angeboten. Aber weder Mädchen noch Jungen steigen darauf ein. Es wird nicht hinterfragt, warum eine Frau die Familie nicht dominieren darf, warum sie weder Befehle geben noch dazwischen reden soll. Es wird nicht diskutiert, wodurch aus Fürsorge für andere Unterdrückung wird oder werden kann. Es wird überhaupt nicht zum Thema, ob es so etwas wie ein Leitbild für „moderne Frauen“ gibt, und wie dies aussehen könnte. Beziehen die Mädchen die vor ihren Augen an der Tafel stehenden weiblichen „Sünden“ (dominieren, dazwischen reden, befehlen) auch auf sich und ihre schulische Situation? Männliches Verhalten kam in dieser Stunde kaum in den Blick. Der Versuch, die Strategie des früheren Ehemannes – sich jeweils aushalten lassen und befürsorgen zu lassen – zum Gegenstand der Kritik zu machen, scheiterte zweimal an einer Intervention des Lehrers. In dem Nachgespräch der von uns beobachteten Unterrichtsstunde zeigte sich dieser durchaus zufrieden mit ihrem Verlauf. Stärkeren diskursiven Austausch zwischen den Jugendlichen hatte er nicht erwartet, hielt ihn auch nicht so sehr für wünschenswert. Man müsse schließlich dafür sorgen, dass man vorankomme und sich nicht in „Gerede“ verliere. Für gelungenen Unterricht sei wichtig, dass am Ende der Stunde etwas im Heft stehe. Nach der hier auszugsweise präsentierten Unterrichtsstunde waren beide Beobachterinnen dagegen unsicher, ob die Jugendlichen sich tatsächlich intensiv mit Geschlechtsrollenvorstellungen auseinandergesetzt haben. Emotionslos und routiniert wurden hier Fragen abgearbeitet, egal ob es dabei um die stilistische Wirkung von Diminutiven, das moderne Frauenbild oder den Verlauf eines Promotionsverfahrens ging. Was Gegenstand von Lehrerfragen sein kann, wurde hier willig als Lerngegenstand akzeptiert – eben auch Fragen von Interaktionsbeziehungen, dass dies alles auch zum individuell bedeutsamen Erkenntnisgegenstand wird, ist damit aber wohl noch nicht gesichert. Mir erscheint dieses Beispiel insofern anregend, als hier augenfällig wird, dass gerade die hierarchisch angelegte Lehrer-Schüler-Interaktion eigene Erkenntnis geradezu verunmöglichen kann: Kinder und Jugendliche trainieren in unseren Schulen sehr stark die Fähigkeit, die Intentionen ihrer Lehrkräfte herauszufinden: In welche Richtung zielen ihre Fragen? Was wollen sie hören? Was ist vermutlich die „richtige“ Antwort? Bereitwillig wird geliefert, was „gut klingt“, wenn es aufgeschrieben wird. Der subjektive Sinn wird nachrangig im
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Vergleich zum Verwertungsinteresse an guten Noten und Abschlüssen. Im Vergleich zu anderen Arbeits- und Sozialformen erscheint vielen Lehrkräften die lehrerzentrierte Vermittlung immer noch als die zeitökonomischste. Empirische Belege für die Effektivität oder Überlegenheit dieser Methode gibt es freilich nicht (vgl. Meyer 1987: 187ff.). Was bei dieser Methode jedoch offensichtlich wird, ist das starke Hierarchiegefälle in der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden. Die Lehrenden sind dabei legitimiert durch Professionalität und institutionelle Vorgaben, auf die sie sich berufen können. Inwieweit sie individuelle Bedürfnisse der Lernenden dabei mit in den Blick nehmen, kann sich höchst unterschiedlich darstellen. Man muss sich in solchen Unterrichtssequenzen auch keineswegs als Person mit eigenen Positionen einbringen, an denen sich Schülerinnen und Schüler abarbeiten können. Wir haben in diesem Unterrichtsbeispiel gesehen wir, wie leicht es für Lehrkräfte ist, eigene Orientierungen über indirekte Steuerungsaktivitäten sehr effektiv zu vermitteln. Man kann nun sicherlich nicht durchgängig feststellen, dass vor allem männliche Lehrkräfte solche lehrerzentrierten Unterrichts- und Interaktionsformen präferieren, unterschiedliche Fachkulturen haben dabei einen nicht zu unterschätzenden modifizierenden Einfluss. Dennoch fanden sich im Rahmen unserer Projektarbeit deutliche Hinweise darauf, dass weibliche Lehrkräfte – sowohl in geistes- als auch in naturwissenschaftlichen Fächern – in besonderer Weise aufgeschlossen waren für didaktische Arrangements, wie sie in der vorn zitierten Studie von Schümer (1992) skizziert wurden: Schüleraktivierende Methoden und Interaktionsformen, die stärker auf symmetrische Kommunikation zielten, standen bei Lehrerinnen deutlich höher im Kurs als stark lehrerzentriertes Vorgehen. Das folgende Unterrichtsbeispiel aus dem Deutschunterricht des 9. Jahrgangs einer Gesamtschule vermag dies zu verdeutlichen.
2.2 Ein Bombenjob für eine Frau? Politische Lyrik ist das Rahmenthema der Unterrichtseinheit. Behandelt worden war bisher das Brecht-Gedicht „Mein Bruder war ein Flieger“. Es endet mit der Feststellung, der vom Bruder eroberte Raum sei gerade groß genug für einen Sarg. Die Themen Krieg, Frieden, Eroberung und Schutz vor Angriffen waren dabei angesprochen worden. Zu Beginn der Stunde stellen einige Schülerinnen und Schüler ihre anhand von Leitfragen erstellten Interpretationen vor. Danach wird ein Stern-Artikel vorgelesen, in dem „ein Bombenjob für eine Frau“ vorgestellt wird – die erste Frau, die einen Kampfjet der US-Army fliegen darf.
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Nachdem einige Verständnisfragen geklärt worden sind, setzt die Lehrerin einen Diskussions-Impuls und bittet um Meinungsäußerungen: L.:
... also ich bitte euch jetzt, äußert euch dazu: Findest Du es richtig, dass eine Frau auch als Bomberpilotin arbeiten darf? Überlegt’s euch ‘n bisschen, überfliegt den Text nochmal (...) nicht so kurz nur mit ja oder nein, ein bisschen fundierter.
Es entspinnt sich ein dichtes Unterrichtsgespräch, an dem sich Mädchen wie Jungen gleichermaßen engagiert beteiligen, obwohl es sich um die 9. und damit letzte Nachmittagsstunde am Montag handelt. Auch hier lenkt die Lehrerin in dieser Phase das Geschehen, sie ruft auf, kommentiert den Inhalt der Äußerungen aber nicht. Zuweilen erbittet sie Begründungen oder lenkt die Aufmerksamkeit auf den Text, um die Perspektive der dort porträtierten Protagonistin genauer nachzeichnen zu lassen, ihre Motive herauszuarbeiten. Mädchen wie Jungen sind sich einig: Auch Frauen stünde das Recht zu, als Bomberpilotin zu arbeiten, das fordere schon der Gleichberechtigungsgrundsatz. Jeder und jede müsse individuelle Entscheidungen treffen können, grundsätzlich seien Frauen durchaus fähig zu allen Berufen. Nachdem dies in mehreren Variationen vertreten wurde und sich rasch als Konsens abzeichnet, formuliert die Lehrerin explizit eine Gegenposition – allerdings vorsichtig in Frageform gekleidet. L.:
Gut, und jetzt möchte, will ich mal so als Gegenanstoß sagen: Ist das Aufgabe der Frau, die ja dazu in der Lage ist, Leben zu schenken, auch Leben vernichten zu können, Leben bewusst töten zu können? Passt das mit der Rolle der Frau zusammen, mit der Aufgabe der Frau?
Auch dieser Impuls löst lebhafte Reaktionen aus. Von der implizit darin angesprochenen Geschlechterpolarität sind weder Mädchen noch Jungen überzeugt. Frauen seien schließlich auch zu Mord fähig, nicht nur zur Weitergabe von Leben. Und Männer seien an der Entstehung von Leben ja nicht unbeteiligt. Auch hier wird wieder mit dem Gleichberechtigungsgrundsatz argumentiert. Individuelle Entscheidungen wollen die Jugendlichen nicht durch geschlechtstypische Zuschreibungen beschränkt wissen. Nach dieser mündlichen Runde stellt die Lehrerin drei schriftlich zu bearbeitende Aufgaben zur Wahl: Die Jugendlichen sollen entweder einen Brief an die Pilotin selbst schreiben, einen Leserbrief an den Stern verfassen oder einen Artikel für die Schülerzeitung formulieren. In jedem Fall soll es um eine begründete Stellungnahme zu der Frage gehen, ob man diese Berufsperspektive für eine Frau positiv oder negativ bewertet. Daraufhin gibt es eine Phase konzentrierter Stillarbeit, in der die Lehrerin von Tisch zu Tisch geht und sich über den Stand der Arbeit informiert, kurz mit fast jedem Schüler und jeder Schülerin spricht. Die Schreibaufträge werden in der nächsten Stunde fortgesetzt, die Briefe sollen auch wirklich abgeschickt werden. Geplant ist ein kollektives Produkt, in dem die verschiedenen Meinungen dokumentiert
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sind. Die Arbeitsatmosphäre ist ausgesprochen konzentriert und kooperativ. Mehrfach ist zu beobachten, dass Jugendliche sich gegenseitig unterstützen, Sachen ausleihen, Informationen austauschen, sich über unterschiedliche Standpunkte verständigen. Das Lernklima in diesem Kurs wird von der Lehrerin als ausgesprochen angenehm eingeschätzt. Die Jugendlichen seien an den Wechsel zwischen unterschiedlichen Arbeitsformen gewöhnt und hätten eine gute Gesprächskultur entwickelt. In der Nachbesprechung zeigte sich die Lehrerin über den inhaltlichen Diskussionsverlauf überrascht. Dass keinerlei Gegenmeinung geäußert würde, hatte sie nicht erwartet. Ihr sei zwar schon häufig aufgefallen, dass von Jugendlichen ein sehr formaler Standpunkt abstrakter Gleichberechtigung vertreten werde. Die hier von Mädchen wie Jungen demonstrierte Einmütigkeit finde sie jedoch verblüffend und für sie selbst Anlass, über Veränderungsprozesse zwischen den Generationen nachzudenken. In der Situation selbst hatte die Lehrerin einmal zwar klar Position bezogen, hatte sich aber ansonsten strikt auf die Rolle der Moderatorin konzentriert, die möglichst vielfältige Meinungen zu Wort kommen lässt. Ganz offensichtlich fühlten sich die Jugendlichen auch nicht normativ in eine bestimmte Richtung gedrängt. Sie widersprachen klar der Auffassung ihrer Lehrerin, Frauen zeigten in der Regel schon aufgrund ihrer biologischen Funktion und der daraus resultierenden größeren Nähe zu Fürsorge und Versorgungsaufgaben eher friedfertiges Verhalten. Die Abfassung der Briefe motivierte sie zur Ausarbeitung einer je individuellen differenzierten Argumentation, in der sie ihre Position kritisch abwägend begründeten. Aufzeigen lässt sich an diesem Beispiel, dass die Etablierung kooperativer Arbeitsformen und einer gemeinsamen Gesprächskultur offenbar in zweifacher Hinsicht ausgesprochen günstige Bedingungen für die Reflexion von Einstellungen – in diesem Fall Geschlechtsrollenorientierungen – bietet. Zum einen wird in einer Atmosphäre gegenseitiger Solidarität und Unterstützung offensichtlich wesentlich weniger Widerstand und Abwehr mobilisiert. Kommunikationstheoretisch betrachtet meint das: Wenn die Beziehungsebene störungsfrei ist, kann sich eine Lerngruppe auf der Inhaltsebene auch kontroversen Themen, die persönlich betroffen machen, leichter zuwenden.3 Zum anderen ist die Bereitschaft, möglichst viele Meinungen zum Zuge kommen zu lassen, Gegenmeinungen zu formulieren, ohne die andere Position abzuwerten, die eigene aber auch in Abgrenzung von der Lehrperson aufrechtzuerhalten, in einem solchen Kommunikationsklima ganz offensichtlich hoch. Die Schülerinnen und Schüler vermittelten 3
Wir fanden in unserer Studie auch Lerngruppen vor, die durch deutliche Jungendominanz und teils heftige Konflikte innerhalb der Klasse gekennzeichnet waren. Dort wurden gelegentlich heftige Kontroversen ausgetragen, wenn Geschlechterverhältnisse thematisiert wurden, zuweilen wurde auch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen verweigert.
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nicht den Eindruck, sich „runtergemacht“ zu fühlen, weil ihre Einschätzung nicht als „political correct“ angesehen wurde. Nachdenklichkeit und Offenheit für die Überprüfung der eigenen Position dürften in einer solchen Atmosphäre gute Chancen haben.
2.3 Gibt es „männliche“ und „weibliche“ Interaktionsmuster? Vergleicht man die beiden hier nur sehr knapp skizzierten Unterrichtsbeispiele, dann scheint darin die in Kapitel 1 skizzierte Diskussion um geschlechtstypisch unterschiedliche Ausdeutungen der Berufsrolle wieder auf. Die Ausbalancierung von Beziehungs-, Sach- und institutioneller Orientierung von Männern und Frauen – so wurde dort argumentiert – wird typischerweise mit unterschiedlichen Akzentsetzungen vorgenommen. Das erste hier vorgestellte Beispiel illustriert sehr klar das von Karin Flaake (1989a) herausgearbeitete männliche Muster, wobei dies keinesfalls als durchgängig für „die“ männlichen Lehrer gültig behauptet werden soll.4 In den höheren Jahrgängen gymnasialer Bildung scheint es mir eher ein recht verbreitetes Bild von Unterrichtswirklichkeit zu zeichnen. Wenn aber Schule ein Ort sein soll, in dem Interaktions- und Kommunikationskompetenzen erworben werden sollen, die nicht lediglich auf Anpassung und Einordnungsbereitschaft zielen, sondern auf aktive Gestaltung des eigenen Lebens, dann muss das dort ablaufende Interaktionsgeschehen dazu auch Gelegenheiten bieten. Das zweite Beispiel illustriert dagegen eher das von vielen weiblichen Lehrerinnen bevorzugte Interaktionsmuster, sich in einer Sachdebatte als Person erkennbar einzubringen und die Schülerinnen und Schüler als GesprächspartnerInnen ernst zu nehmen, sie zur Argumentation und Reflexion aktiv zu ermuntern. Dem liegt eine deutlich andere Beziehungsdefinition zugrunde als einem Unterrichtsstil, in dem Fragen nicht wirklich die Position des jeweiligen Gegenübers erkunden, sondern auf ein vorgedachtes Erkenntnisziel hinlenken wollen. Auf die Etablierung einer befriedigenden Kommunikations- und Kooperationskultur legen Frauen häufig stärkeren Wert als ihre männlichen Kollegen, sie investieren dafür Zeit und Energie, entwickeln beachtliche didaktische Phantasie und experimentieren dabei auch mit veränderten Anforderungen an die eigene Rolle. Dies erweist sich nicht nur als förderlich für das Unterrichtsklima,
4
Wichtig ist mir an dieser Stelle im Übrigen der Hinweis, dass auch intra-individuell durchaus beträchtliche Varianz im Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern vorliegt. Wir haben im weiteren Verlauf der Projektarbeit bei demselben Lehrer auch sehr andere Interaktionsabläufe gesehen, beispielsweise beim Experimentieren mit anderen didaktischen Strategien wie Produktion eigener Gedichte durch die Jugendlichen.
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es schafft auch größere Freiräume für selbst bestimmtes Lernen. Solche Ansätze sollten daher bei Lehrern wie bei Lehrerinnen gestützt und gefördert werden.
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Fazit
Was ergeben sich aus unseren beiden Annäherungen an das Thema Geschlechtsrollenidentität und unterrichtliches Handeln für Konsequenzen für die Gestaltung von Schule und Unterricht - wie kann und sollte dies durch Lehre und Forschung flankiert und gestützt werden? Dies soll abschließend nur sehr kurz angedeutet werden. Anknüpfen lässt sich dabei an die eingangs angesprochene Entwicklung, wonach die Integration der Frage nach Geschlechterdifferenzen in erziehungswissenschaftliche oder auch pädagogisch-psychologische Forschung inzwischen ein gehöriges Stück vorangekommen ist. Gleichzeitig ist gerade durch diese Diskussion die Bedeutung der Interaktionsdimension im schulischen Geschehen verstärkt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Für die in Schule Handelnden bedeutet das die Notwendigkeit, sich mit eigenen Geschlechtsrollenvorstellungen auseinanderzusetzen und sensibel zu werden für die im Schulalltag weitgehend unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufenden Prozesse von Ungleichbehandlung, Stereotypisierung und vordefinierten Wahrnehmungen. Dafür muss die Ausbildung künftiger Lehrerinnen und Lehrer und vor allem die Fort- und Weiterbildung qualifizieren; denn die wenigsten der heute beschäftigten Lehrkräfte sind in ihrer gewöhnlich weit zurückliegenden Ausbildung mit solchen Inhalten jemals konfrontiert worden. Bei beiden Gruppen – Studierenden wie bereits in der Praxis Tätigen – gilt es dabei zunächst, vorsichtig um Interesse zu werben und Widerstände zu überwinden. Das eigene Interaktions- und Kommunikationsverhalten selbstkritisch zu überprüfen geht schon recht nah an die Identitätsbalance – zumal wenn die Reflexion der Geschlechtsidentität mit einbezogen ist. Trotzdem ist dieser Schritt notwendig. Wer eigene Befangenheiten und Voreingenommenheiten kennt, ist sie zwar noch nicht gleichsam automatisch los, hat aber zumindest die Chance, damit einen professionellen Umgang zu entwickeln. Ein Austausch über solch wichtige Erziehungsvorstellungen fördert zudem die pädagogische Diskussion im Kollegium und kann über diesen Mechanismus die Konsensbildung und damit die Schulqualität nachhaltig prägen. Allerdings erfordert eine solche Arbeit planmäßige Anleitung – etwa im Rahmen schulinterner Lehrerfortbildung – und braucht Stützsysteme, z. B. Supervision. Sie wird auch vor allem auf freiwilliger Basis erfolgen müssen – die Reflexion eigener Identität kann nicht erzwungen werden.
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Zur Fundierung und Evaluierung solcher Aktivitäten bedarf es theoretischer Konzepte und empirisch gesicherter Erkenntnisse. Unter professionalisierungsund schulentwicklungstheoretischen Gesichtspunkten eröffnen sich somit eine Fülle von Forschungsaufgaben. Terhart (1996) hat darauf hingewiesen, dass in der deutschen erziehungswissenschaftlichen Forschung bislang vor allem lebenslauftheoretische und biographieorientierte Ansätze unterrepräsentiert sind. Wie entwickeln und verfeinern Lehrerinnen und Lehrer im Laufe ihrer Ausbildung und ihres Berufslebens ihr Wissen und ihr Handlungsrepertoire? Definieren Sie ihr Mandat als Lehrer oder Lehrerin zu verschiedenen berufsbiographischen Zeitpunkten je spezifisch? Wie verändern sich im Laufe ihrer beruflichen Sozialisation Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster in Bezug auf die Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern – zeigen sich auch dabei Unterschiede zwischen Männern und Frauen? In ähnlicher Weise wäre aber auch aus der Sicht der Unterrichtsforschung etwa die vorn auf eher schmaler Basis berichteten geschlechtstypischen Vorlieben im methodisch-didaktischen Bereich näher zu untersuchen und – wie in unserem Unterrichtsbeispiel angedeutet – in Beziehung zu den Interaktionsabläufen im Unterrichtsgeschehen zu setzen. Dieses Defizit wird auch in den inzwischen vorgelegten vorgelegten Untersuchungen noch nicht hinreichend geschlossen, die auf der Basis konstruktivistischer Überlegungen mit qualitativen Verfahren sehr sorgfältige Beobachtungen des „Doing gender“ im Schulalltag vornehmen (vgl. z. B. Faulstich-Wieland u. a. 2004; Weber 2003). Den Gewinn solcher Forschung sehe ich vor allem darin, den künftig oder schon gegenwärtig in der Schulpraxis Agierenden Konzepte und analytisches Wissen vermitteln zu können, vor dessen Hintergrund sie ihre eigene Praxis reflektieren und Alternativen selbst entwickeln können. Eine auf intensive Kommunikation mit der Praxis hin ausgelegte Form wissenschaftlicher Begleitung von Reformaktivitäten kann solche Prozesse wirksam unterstützen. Noch stärker wird die Verklammerung von Theorie und Praxis, wenn sich im Rahmen handlungstheoretischer Modelle Betroffene selbst als forschende Lehrkräfte um die Aufklärung ihrer eigenen Praxis bemühen und dabei mit WissenschaftlerInnen zusammenarbeiten, die als „kritische Freunde“ einen solchen Prozess mit vorantreiben. Gerade bei der Frage nach der Gestaltung von Interaktionsbeziehungen ist die aktive Beteiligung der Subjekte an der Erarbeitung von Erkenntnissen und der Entwicklung von Problemlösungen zwingend notwendig. Technologisch orientierte Verhaltenstrainings bewirken hier in der Regel wenig bis nichts, jedenfalls steigern sie nicht hinreichend die Fähigkeit, Interaktionsstrukturen und -probleme (selbst-)kritisch analysieren und situationsspezifisch interpretieren zu können. Genau dies ist der Anspruch von Handlungsforschungsprojekten, die auf Selbstaufklärung des eigenen Handlungsfeldes zielen. Solche
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Forschungsansätze sind aufwendig, was im Zeitalter knapper Ressourcen erklärt, weshalb die empirische Basis immer noch so schmal ist. Zur Verbesserung des Unterrichts und der Schulkultur wären sie aber dringend notwendig. Weiteren Auftrieb könnten sowohl Forschung als auch Umsetzung und Erprobung konkreter Entwicklungsmaßnahmen in der Schule erhalten durch die Diskussionen im Rahmen der Gender Mainstreaming-Debatte, deren Chancen und Möglichkeiten derzeit jedoch noch schwer abschätzbar sind (vgl. Schaufler 2004). Als klarer Erfolg ist jedoch die Einsicht in die Bedeutung einer Sensibilisierung für die Wirksamkeit der Dimension Geschlecht in Professionalisierungsprozessen allgemein und vor allem in erziehungswissenschaftlichen Berufsfeldern zu sehen.
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Gesundheitsförderung im Unterricht Arnold Lohaus, Holger Domsch und Johannes Klein-Heßling
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Einführung
In diesem Beitrag geht es darum, ein breites Spektrum möglicher Ansätze zur Gesundheitsförderung in der Schule vorzustellen. Zunächst werden die zentralen Begriffe erläutert. Dabei kommt der Definition von Gesundheit eine entscheidende Bedeutung zu, da Gesundheit das Ziel ist, das durch Maßnahmen der Gesundheitsförderung erreicht werden soll. Im Anschluss wird verdeutlicht, warum gerade die Schule ein besonders geeignetes Setting für die Gesundheitsförderung ist, wobei auch herausgearbeitet wird, welche Probleme mit diesem Setting verbunden sind. Es folgt eine Übersicht zu den verschiedenen Maßnahmen, die man im Bereich der Gesundheitsförderung unterscheiden kann, wobei vor allem die Differenzierung zwischen Maßnahmen auf der individuellen und der organisatorischen Ebene eine zentrale Stellung einnimmt. In einem weiteren Abschnitt über die Ziele von Gesundheitsfördermaßnahmen werden die Unterschiede zwischen den Zielen einer Krankheitsprävention und einer Gesundheitsförderung herausgestellt. Der nachfolgende Abschnitt diskutiert die Notwendigkeit und auch die besonderen Probleme der Evaluation von Gesundheitsfördermaßnahmen. Es folgen drei Beispiele für Gesundheitsfördermaßnahmen für das Setting Schule. In dem abschließenden Ausblick wird eine stärkere Verankerung der Gesundheitsförderung in schulischen Curricula sowie in der Lehrerausbildung gefordert.
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Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
In der Fachwelt wird eine reine Negativdefinition von Gesundheit, die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit ansieht, heute kaum noch vertreten. Schon 1946 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Definition geprägt, die den Gesundheitsbegriff nachhaltig veränderte. Nach dieser Definition ist Gesundheit „ein Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (Präambel der Verfassung der WHO 1946). Die Definition betont neben der physischen auch die psychische und die soziale Dimension der Gesundheit. Gesundheit wird dementsprechend heute als ein mehrdimensionales Konstrukt
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verstanden, das verschiedene Ebenen des Wohlbefindens einschließt. Eine Erweiterung dieser Definition stammt von Hurrelmann (1990: 62). Er fasst Gesundheit auf als „Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet“. Diese Definition ist insofern zu präferieren, als sie nicht nur auf das subjektive Befinden abhebt, sondern auch den objektiven Befund einbezieht, da beides durchaus diskrepant sein kann. Weiterhin wird deutlich, dass ein vollkommenes Wohlbefinden, wie von der WHO-Definition postuliert, nicht für jeden erreichbar ist, da die eigenen Möglichkeiten und die äußeren Lebensbedingungen dies nicht immer erlauben. Wohlbefinden sollte also relativ und nicht absolut gesehen werden. Die Auffassung, was Gesundheit ist, bestimmt maßgeblich die möglichen Maßnahmen ihrer Aufrechterhaltung oder Verbesserung. Wird Gesundheit gleichgesetzt mit der Abwesenheit von Krankheiten, müssen Maßnahmen darauf abzielen, den Ausbruch von Erkrankungen zu verhindern. Der Schwerpunkt liegt dann in der Krankheitsprävention. Gesundheitsdefinitionen wie die WHODefinition legen es nahe, verschiedene Ebenen der Gesundheit ins Blickfeld zu nehmen. Gesundheitsförderung muss danach stattfinden auf der physischen, psychischen und sozialen Ebene. Die Gesundheitsförderung bezieht sich dabei auf das gesamte Spektrum an Maßnahmen zur Verbesserung des objektiven und subjektiven Befindens einer Person. In Abgrenzung dazu ist Gesundheitserziehung die zielgerichtete Beeinflussung des Verhaltens durch pädagogische Maßnahmen. Gesundheitsförderung ist also im Verhältnis zur Gesundheitserziehung der weitere Begriff. Aus der Präventionsforschung stammt die Unterscheidung zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention (Caplan 1964), die auch heute noch vielfach Verwendung findet. Mit primärer Prävention sind Maßnahmen gemeint, mit denen das Auftreten von Erkrankungen und somit Beeinträchtigungen des Befindens verhindert werden soll. Hier können sowohl Maßnahmen der Krankheitsprävention als auch der Gesundheitsförderung in Frage kommen. Liegen dagegen bereits Beschwerden bzw. Beinträchtigungen vor, kommt es im Rahmen der sekundären Prävention darauf an, Maßnahmen zu ergreifen, um den ursprünglichen Befindenszustand wiederherzustellen. Tertiäre Prävention zielt dagegen auf die Beeinflussung der Folgen von gesundheitsbezogenen Beeinträchtigungen, indem versucht wird, zusätzliche Belastungen durch negative Folgezustände zu vermeiden (z. B. durch Rehabilitationsmaßnahmen). Bei schulischen Maßnahmen zur Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung steht in der Regel die primäre Prävention im Vordergrund, wobei in speziellen Situatio-
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nen sicherlich auch die beiden anderen Präventionsformen von Bedeutung sein können.
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Schule als Setting für Gesundheitsförderung
Die Schule ist insofern ein geeignetes Setting für Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, als hier nahezu alle Schüler erreicht werden können. Es findet beispielsweise keine Selektion aufgrund der sozialen Herkunft oder der Teilnahmemotivation statt. Betrachtet man im Verhältnis dazu Angebote im Freizeitbereich (über Jugendzentren, Vereine etc.), so ist zu konstatieren, dass dort immer nur eine privilegierte Teilgruppe von Kindern und Jugendlichen erreicht wird, die diese Angebote nutzen kann oder will. Kinder und Jugendliche mit einem sozial-ökonomisch ungünstigeren Hintergrund sind dagegen schwerer erreichbar, da die Nutzung von Angeboten im Freizeitbereich vielfach mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Die breite Erreichbarkeit der Zielgruppe spricht also für die Implementierung gesundheitsfördernder Maßnahmen im Setting Schule. Dem ist entgegenzusetzen, dass die Schule für Kinder und Jugendliche vielfach mit negativen Konnotationen besetzt ist. Insofern ist von der physischen Erreichbarkeit die psychische Erreichbarkeit der Schüler abzugrenzen: Obwohl die Schüler physisch anwesend sind, können sie sich innerlich von der Schule und Aktivitäten in der Schule distanziert haben. Die tatsächliche Erreichbarkeit aller Schüler kann dadurch erheblich eingeschränkt sein. Daraus folgt die Konsequenz, dass Maßnahmen zur Gesundheitsförderung (auch) in der Schule so gestaltet sein müssen, dass sie Schüler zur aktiven Teilnahme motivieren und es ihnen darüber hinaus gelingt, diese Motivation während der Maßnahme aufrechtzuerhalten. Bei Maßnahmen im Setting Schule stellt sich weiterhin die Frage, wer die Vermittlung an die Schüler übernimmt. Im Rahmen einer Bedarfsanalyse zur Implementierung eines Stresspräventionstrainings für Jugendliche wurden die beteiligten Schüler explizit gefragt, wen sie als Mediator des Trainings präferieren. Hier zeigte sich, dass ein externer Experte am ehesten gewünscht wurde. Einen relativ hohen Stellenwert hatte auch eine Vermittlung durch gleichaltrige Jugendliche. Deutlich weniger Zuspruch fand die Vermittlung durch Lehrer oder Eltern (Klein-Heßling, Lohaus & Beyer 2003). Bei Lehrern als Mediatoren muss damit gerechnet werden, dass sie – ebenso wie die Schule als Institution – bei den Schülern mit negativen Konnotationen verknüpft sind. Als Konsequenz ergibt sich, dass Gesundheitsförderung in der Schule möglichst andere Vermittlungsmodelle wählt als der traditionelle Schulunterricht.
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Bei der Planung von Maßnahmen im Setting Schule ist weiterhin daran zu denken, die kognitiven und sozialen Entwicklungsvoraussetzungen der Schüler zu beachten. Für Phasen der Wissensvermittlung sind beispielsweise die kognitiven Voraussetzungen der Schüler zu berücksichtigen und dabei sowohl Unterschiede zwischen als auch innerhalb von Altersgruppen und Klassenstufen. Ein besonderes Thema stellen in diesem Fall geschlechtsbezogene Besonderheiten dar, die – je nach angezieltem Inhaltsbereich – die Frage nach geschlechtshomogener oder geschlechtsgetrennter Unterrichtung aufwerfen. So ist es bei vielen gesundheitsbezogenen Thematiken (wie beispielsweise Sexualität oder Ernährung) sinnvoll, zeitweise oder über eine gesamte Maßnahme hinweg geschlechtsgetrennt zu arbeiten.
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Gesundheitsförderungskonzepte
Zur Gesundheitsförderung bietet sich ein breites Spektrum verschiedener Maßnahmen an, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Der Großteil der Maßnahmen setzt auf der individuellen Ebene an und sieht die einzelnen Schüler als Zielgruppe. Davon abzugrenzen sind Maßnahmen auf der organisatorischen Ebene, die eine Organisation oder Teile einer Organisation als Zielgruppe sehen und über Änderungen auf der Organisationsebene die einzelnen Mitglieder der Organisation erreichen wollen.
4.1 Individuelle Ebene Zu den historisch ältesten Versuchen, das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen zu beeinflussen, gehört die Erzeugung negativer Emotionen, indem zur Abschreckung die Risiken eines negativen Gesundheitsverhaltens (wie beispielsweise des Rauchens) thematisiert werden. Obwohl diese Herangehensweise intuitiv plausibel zu sein scheint, hat sie sich in der Praxis wenig bewährt, da die bedrohlich wirkende Information von der Zielgruppe vielfach ignoriert wird und darüber hinaus keine Handlungsalternativen zu dem unangemessenen Gesundheitsverhalten aufgezeigt werden (Finke 1985; Lohaus 1993). Eine Alternative stellt die Erzeugung positiver Emotionen dar. Hier sind insbesondere Maßnahmen zur Selbstwertsteigerung gemeint, wodurch das Bedürfnis gesenkt werden soll, das eigene Selbstwertgefühl durch die Suche nach Anerkennung in der Peergruppe zu erhöhen. Da eine Anerkennung in der Peergruppe vielfach durch auffälliges und risikoreiches Verhalten erreicht wird (wie Alkohol- und Drogenkonsum, risikoreiches Verhalten im Straßenverkehr etc.), besteht die Annahme,
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dass diese Verhaltensweisen reduziert werden, wenn auf anderem Wege bereits ein hohes Selbstwertgefühl aufgebaut wurde. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob extern induzierte Maßnahmen zur Selbstwerterhöhung auf die Dauer gesehen wirksam sein können, wenn sie nicht durch Maßnahmen ergänzt werden, die es dem Jugendlichen ermöglichen, durch eigenes (angemessenes) Verhalten zur eigenen Selbstwerterhöhung beizutragen. Von den emotional orientierten lassen sich kognitiv orientierte Maßnahmen zur Gesundheitsförderung abgrenzen. Im Schulkontext ist hier insbesondere die Wissensvermittlung zu nennen. Hier geht es darum, zu einzelnen Themenbereichen (wie beispielsweise Nichtrauchen oder gesunde Ernährung) ein gesundheitsbezogenes Basiswissen zu vermitteln, um dadurch ein positives Gesundheitsverhalten zu fördern. Es zeigen sich allerdings in der Regel nur geringe Korrelationen zwischen gesundheitsbezogenem Wissen und gesundheitsbezogenem Handeln, so dass die Schlussfolgerung berechtigt ist, dass gesundheitsbezogenes Wissen zwar in vielen Präventionsbereichen ein notwendiger, aber kein hinreichender Prädiktor für gesundheitsbezogenes Handeln ist (Larisch & Lohaus 1992). So muss man sicherlich wissen, was zu einer gesunden Mahlzeit gehört, um sich gesundheitsbewusst ernähren zu können. Aus dem Vorhandensein dieses Wissens folgt jedoch nicht zwingend, dass dies auch in die Realität umgesetzt wird. Im schulischen Kontext ebenfalls von Bedeutung sind Maßnahmen zur Einstellungsänderung bei Kindern und Jugendlichen (z. B. Einstellungen zu positivem und negativem Gesundheitsverhalten). Ebenfalls der kognitiven Ebene zugeschrieben wird die Herausarbeitung der Funktionen, die mit einem negativen Gesundheitsverhalten erreicht werden sollen. Wenn beispielsweise Alkohol oder Drogen in der Funktion genutzt werden, eigene Probleme auszublenden, kann es wichtig sein, diese Funktion zu verdeutlichen, um nach alternativen Problemlösungen suchen zu können. Auch hier stellt sich allerdings die Frage, ob ein ausschließlich kognitiv orientierter Ansatz hinreichend ist, um Veränderungen auf der Verhaltensebene zu erreichen. Da letztlich das eigene Verhalten entscheidend ist, um den persönlichen Gesundheitszustand zu beeinflussen, wird in der Regel weder eine ausschließliche Fokussierung auf Emotionen noch auf Kognitionen hinreichend für eine erfolgreiche Präventionsarbeit sein. Erfolg versprechend ist eine Kombination mit Maßnahmen, die auf der Verhaltensebene ansetzen. Die Schule kann beispielsweise dazu beitragen, dass ein Gesundheitsverhalten bereits frühzeitig im Entwicklungsverlauf aufgebaut wird, da schon früh Gewohnheiten und Handlungsroutinen eingeübt und stabilisiert werden können, die als Basis späteren Handelns im Gesundheitsbereich dienen können. Als Beispiele seien hier Bereiche wie Zahn- und Körperpflege oder Ernährung genannt, die, in jungen Jahren ausgebildet, auch in späteren Lebensabschnitten vielfach beibehalten werden. Dem-
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entsprechend ist die frühzeitige Durchführung gesundheitsbezogenen Handelns ein guter Prädiktor späteren gesundheitlichen Verhaltens (Kegeles & Lund 1982). Ein handlungsorientierter Unterricht, der die Umsetzung vermittelten Wissens in konkretes Handeln fördert (z. B. durch Rollenspiele, gemeinsames Kochen, förderliche Rituale etc.), kann nachhaltig dazu beitragen, den Aufbau angemessener Verhaltensweisen zu unterstützen. Viele der bisher aufgeführten Maßnahmen werden typischerweise in der Praxis auf spezifische Präventionsthematiken ausgerichtet. Wenn eine Wissensvermittlung stattfindet, dann richtet sie sich auf spezifische Gesundheitsthemen (wie beispielsweise Ernährung, Bewegung, Drogenkonsum). Ein anderer Ansatz ist die Vermittlung allgemeiner bereichsübergreifender Kompetenzen, von denen Effekte in verschiedenen Gesundheitsbereichen erwartet werden. Unter diese Rubrik fallen Stressbewältigungs-, Problemlöse-, Soziale Kompetenz- und Lebenskompetenztrainings. Der Wirkmechanismus, der diesem Ansatz zugrunde liegt, lässt sich am Beispiel von Lebenskompetenztrainings erläutern. Diese Trainings sollen die Fähigkeit verbessern, schwierige Anforderungen zu bewältigen, und dadurch gleichzeitig das Selbstwertgefühl stärken. In schwierigen Problemlagen kann auf diese Kompetenzen zurückgegriffen werden, so dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, unangemessene Wege der Problemlösung (z. B. durch Drogenkonsum) zu nutzen. Die verbesserten Lebenskompetenzen und das gesteigerte Selbstwertgefühl tragen weiterhin dazu bei, dass sozialen Einflussnahmeversuchen (z. B. durch die Peer-Gruppe) effektiver begegnet werden kann. Da ungünstige Gesundheitsverhaltensweisen (wie z. B. die Bereitschaft zu riskantem Verhalten) vielfach durch die Peer-Gruppe gebahnt werden, sinkt die Wahrscheinlichkeit, diesen Einflussnahmeversuchen zu erliegen. Die meisten dieser Maßnahmen sind stark verhaltensorientiert ausgerichtet, integrieren jedoch auch emotionale bzw. kognitiv orientierte Elemente (zu Lebenskompetenztrainings s. ausführlicher Botvin 1998).
4.2 Organisatorische Ebene Die bisher beschriebenen Maßnahmen setzen unmittelbar am Verhalten und Erleben von Schülern an. Davon abzugrenzen sind Maßnahmen, die die Klasse oder die gesamte Schule als Zielgruppe von Gesundheitsfördermaßnahmen sehen. Betrachtet man zunächst die Klassenebene, so kann beispielsweise das Klassenklima eine zentrale Zielgröße sein. In der internationalen HBSC-Studie konnte unter anderem gezeigt werden, dass die Schulzufriedenheit mit der allgemeinen Lebenszufriedenheit und der wahrgenommenen Gesundheit zusammenhängt, wobei allerdings die Richtung dieses Zusammenhangs aufgrund des
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Designs der Untersuchung offen bleibt (Ravens-Sieberer, Kökönyei & Thomas 2004). Innerhalb der Klasse kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Art der Interaktion zwischen den Schülern als auch die Lehrer-SchülerInteraktion zu diesem Zusammenhang beiträgt. Bei der Schüler-SchülerInteraktion sind vor allem eine fehlende Akzeptanz und Ablehnungsverhalten entscheidende Parameter, die negative Effekte auf die wahrgenommene Gesundheit und das Risikoverhalten haben (Seiffge-Krenke et al. 2001). In der LehrerSchüler-Interaktion sind vor allem Lehrerverhaltensweisen zu nennen, die den Leistungsdruck erhöhen und stärker die Konkurrenz unter den Schülern als die Kooperation fördern. Wie wichtig eine positive Lehrer-Schüler-Interaktion ist, lassen beispielsweise Ergebnisse aus der Mannheimer Längsschnittstudie erkennen. So galt für Jungen mit einer Teilleistungsstörung eine positive Beziehung zu einem Lehrer als Schutzfaktor gegen das Auftreten sekundärer Begleitstörungen (Esser & Schmidt 1990). Weiterhin geht ein positives Klassenklima mit geringeren Belastungen wie Schulangst oder Stress und einem höheren Selbstwertgefühl einher (Eder 2006). Maßnahmen zur Verbesserung des Klassenklimas können unter anderem darin bestehen, verstärkt Lernformen einzusetzen, die die Kooperation unter den Schülern fördern (Jerusalem & Klein-Heßling 2002). Weitere Maßnahmen können sich auch auf die Reduktion begünstigender Faktoren von aggressivem Verhalten unter den Schülern richten. Auf der Schulebene lassen sich Maßnahmen ansiedeln, die (a) der Verbesserung des Schulklimas dienen und damit indirekt Wirkungen auf das gesundheitliche Befinden haben (Eder 1998) und die (b) unmittelbar auf die Gesundheitsförderung ausgerichtet sind. Maßnahmen zur Verbesserung des Schulklimas können beispielsweise darin bestehen, eine vermehrte Partizipation von Schülern bei schulbezogenen Entscheidungen zu ermöglichen oder verstärkt Möglichkeiten zu sozialer Unterstützung zu schaffen. Unmittelbar auf die Gesundheitsförderung ausgerichtete Maßnahmen können darin bestehen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Wahrscheinlichkeit eines positiven Gesundheitsverhaltens erhöhen (beispielsweise durch gesundheitsorientierte Mahlzeiten in der Schulmensa). Maßnahmen auf der Schulebene können sich auch günstig auf die Lehrergesundheit auswirken. So kann eine stärkere Involvierung von Lehrern im Sinne eines Empowerment Symptome des Lehrerburnout reduzieren (Schmitz 2001). Neben verhaltensorientierten Maßnahmen gibt es also auch verhältnisorientierte Maßnahmen. Während der verhaltensorientierte Ansatz darauf gerichtet ist, das individuelle Verhalten und Erleben von Personen bzw. Gruppen zu verändern, zielt der verhältnisorientierte Ansatz darauf ab, die Lebensumstände und Umweltbedingungen zu verändern, in denen Personen bzw. Gruppen leben. Durch Veränderung der Verhältnisse soll mittelbar eine Verhaltensänderung erreicht werden. Ein Beispiel für die Wirkung verhältnisorientierter Maßnahmen
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zur Gesundheitsförderung bzw. Krankheitsprävention ist die Preiserhöhung für Tabakwaren. Durch die gezielte Verteuerung von Zigaretten lässt sich sowohl die Rate der Neueinsteiger als auch die Quantität des Zigarettenkonsums bei bereits rauchenden Jugendlichen reduzieren (Bilgen, Brennan, Foster & Holder 2004). Verhältnisorientierte Maßnahmen können sehr effektiv sein, da sie nicht zwingend ein Interesse oder eine Motivation der Beteiligten voraussetzen. Beispielsweise kann eine neue rückenschonende Bestuhlung in der Schule eine breite Wirkung bei den Schülern erzielen, ohne dass ein Eigenengagement seitens der Schüler erforderlich wäre. Ebenenübergreifende ganzheitlich orientierte Ansätze der Gesundheitsförderung bieten den Vorteil, dass nicht nur die Schüler im Blickfeld sind. Maßnahmen auf der Klassenebene und (insbesondere) auf der Schulebene implizieren in der Regel, dass alle an der Schule Beteiligten (also neben den Schülern auch die Lehrer und Eltern) involviert sind. Gesundheitsförderung ist in diesem Fall nicht nur ein Thema für die Schüler, sondern auch für andere Akteure. Dabei ist insbesondere daran zu denken, dass die positiven Effekte, die sich aufgrund eines verbesserten Schulklimas bei den Schülern ergeben, auf die Lehrer und Eltern zurückwirken: Wenn Gesundheitsprobleme auf der Schülerseite abnehmen und Ressourcen gestärkt werden, profitieren davon auch Lehrer und Eltern. Durch die abnehmende Problembelastung sollten sich daher im gesamten System positive Effekte auf die Gesundheit ergeben. Hinzu kommt, dass Gesundheitsfördermaßnahmen Lehrer oder Eltern nicht nur indirekt beeinflussen können, sondern sich explizit an Lehrer oder Eltern als Zielgruppe wenden können. Dies gilt sowohl für verhältnis- als auch für verhaltensorientierte Maßnahmen: So kann es sinnvoll sein, Stressbewältigungsmaßnahmen nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrer oder Eltern anzubieten. Erst wenn alle Beteiligten gelernt haben, effektiv mit Stress umzugehen, sind umfangreiche Rückkopplungseffekte zu erwarten, die das Stressniveau im gesamten System sinken lassen. Da es viele mögliche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung auf unterschiedlichen Systemebenen gibt, setzt die Implementierung insbesondere bei ebenenübergreifenden Ansätzen eine sorgfältige Planung voraus. Daher muss zunächst eine Diagnose des Ist-Zustandes erstellt werden, um darauf aufbauend realistische und erreichbare Ziele als Soll-Zustand festzulegen. In der Folge können dann adäquate Maßnahmen zur Erreichung des Soll-Zustandes geplant werden. Die Planung konkreter Maßnahmen setzt also zunächst einen Reflexionsprozess auf der Meta-Ebene voraus, an dem möglichst viele Akteure beteiligt sein sollten, um einen hohen subjektiven Verpflichtungsgrad für alle Beteiligten zu erreichen. Zur Gestaltung derartiger Reflexionsprozesse lassen sich Modelle zur Maßnahmenplanung (wie beispielsweise das Precede-Procede-Modell, s. Gielen & McDonald 2002) nutzen.
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Ziele von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
Ein potentielles Ziel von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung kann die Minimierung von Krankheitsrisiken sein. Dies bedeutet, dass die Wirkung von Risikofaktoren, von denen bekannt ist, dass sie die Wahrscheinlichkeit eines Auftretens von Erkrankungen erhöhen, verringert wird. Da beispielsweise bekannt ist, dass Bewegungsmangel die Wahrscheinlichkeit kardiovaskulärer Erkrankungen erhöht, könnte mit Maßnahmen zur Bewegungsförderung versucht werden, das Erkrankungsrisiko zu senken. Unter Risikofaktoren versteht man nach Holtmann und Schmidt (2004) krankheitsbegünstigende, risikoerhöhende und entwicklungshemmende Merkmale, von denen potentiell eine Gefährdung der gesunden Entwicklung des Kindes ausgeht. Dabei geht es in erster Linie darum, Faktoren zu identifizieren, die die Wahrscheinlichkeit einer Störung in einer Risikogruppe im Vergleich zu einer nicht risikobelasteten Gruppe erhöhen (Petermann, Niebank & Scheithauer 2004). Risikofaktoren sind allerdings nicht hinreichend für die Entwicklung gesundheitlicher Beeinträchtigungen oder Beschwerden. Forschungen zur Resilienz bzw. Widerstandsfähigkeit haben gezeigt, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die sich trotz erheblicher psychischer, sozialer oder gesundheitlicher Gefährdungen positiv entwickeln (Jerusalem 2006; Ball & Peters 2007). Für die positive Entwicklung trotz widriger Umstände werden Resilienz- oder Schutzfaktoren verantwortlich gemacht, die diesen Kindern und Jugendlichen als Ressource zur Verfügung stehen. Nach Jerusalem (2006) neigen Kinder und Jugendliche mit starken sozialen Ressourcen (z. B. soziale Unterstützung, gute Beziehungsqualität zu Gleichaltrigen) und mit umfangreichen persönlichen Ressourcen (z. B. positives Selbstkonzept, Selbstsicherheit) weniger zu gesundheitlichen Risikoverhaltensweisen, entwickeln seltener psychosoziale Störungsbilder und kommen auch mit chronischen Erkrankungen besser zurecht. Daraus folgt, dass zu den Zielen von Gesundheitsfördermaßnahmen nicht nur die Reduktion von Risiken, sondern auch die Stärkung von Ressourcen gehören muss, auf die in Problemsituationen zurückgegriffen werden kann. Hierzu gehören unter anderem die allgemeinen Kompetenzen zur Lebensbewältigung. Diese Fähigkeiten, die beispielsweise in Stressbewältigungs- oder Lebenskompetenztrainings gefördert werden, erhöhen die Widerstandsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Diese Ressourcen im Rahmen von Gesundheitsförderung zu stärken, wird als „Empowerment“ bezeichnet und dient der Befähigung zu selbstbestimmtem und verantwortlichem Handeln im Gesundheitskontext. Gesundheitsförderung bedeutet somit mehr als die Minimierung von Krankheitsrisiken. In Übereinstimmung mit der Gesundheitsdefinition der WHO trägt
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ebenso eine Ressourcensteigerung, die zu einem positiven physischen, psychischen und sozialen Befinden führt, zur Gesundheit bei.
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Evaluation von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
Die Implementation gesundheitsfördernder Maßnahmen sollte durch eine Evaluation der damit erzielten Effekte begleitet werden. Dies ist wichtig, um Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen und Optimierungen bei den eingesetzten Maßnahmen vornehmen zu können. Darüber hinaus sind nachgewiesener Nutzen und Wirtschaftlichkeit in der Regel Voraussetzung für die Implementation von Maßnahmen über ein Projektstadium hinaus. Unterschieden wird dabei zwischen prozess- und ergebnisorientierten Evaluationen. Bei der prozessorientierten Evaluation geht es darum, die Umsetzung einer gesundheitsfördernden Maßnahme zu begleiten und auftretende Probleme zu dokumentieren. Bei der ergebnisorientierten Evaluation geht es um die Dokumentation der Ergebnisse, die mit einer Gesundheitsfördermaßnahme erzielt werden konnten (z. B. Rückgang der Gewalt in der Schule, Steigerung der körperlichen Bewegung, Abnahme von physischen Symptomatiken etc.). Bei der ergebnisorientierten Evaluation ist es erforderlich, vor Beginn der Maßnahme eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, um die durch die Maßnahme erzielten Veränderungen feststellen zu können. Idealerweise sollte der Vergleich mit einer Kontrollgruppe möglich sein, damit die eingetretenen Veränderungen zweifelsfrei auf die durchgeführte Maßnahme zurückgeführt werden können. Ohne Kontrollgruppe ist diese Schlussfolgerung nicht zwingend, könnte doch zwischenzeitlich auch etwas anderes als die durchgeführte Maßnahme eingetreten sein, das zu den beobachteten Effekten geführt hat (s. ausführlicher Mittag 2006). Eine Evaluation ist umso aufwendiger, je komplexer eine Gesundheitsförderungsmaßnahme angelegt ist. Schon bei einem einzelnen Förderprogramm, das über mehrere Sitzungen zum Einsatz gelangt, ist es vielfach schwierig, spezifische Effekte zu erfassen, um das Programm optimieren zu können. Noch um ein Vielfaches schwieriger ist dies bei komplexen Förderansätzen (wie beispielsweise ebenenübergreifenden Ansätzen, die die gesamte Schule einbeziehen), da hier eine Vielzahl von Komponenten auf unterschiedlichen Systemebenen wirken kann, so dass die Effekte kaum mehr auf spezifische Wirkfaktoren zurückzuführen sind. Um der Komplexität der Maßnahmen Rechnung zu tragen, sind hier entsprechend differenzierte Evaluationskonzepte, die neben quantitativen auch qualitative Elemente (wie Intensivinterviews, Gruppendiskussionen etc.) enthalten, erforderlich.
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Eine besondere Problematik ist mit der Evaluation primärpräventiv orientierter Gesundheitsförderansätze verbunden, da hier im Vorfeld gearbeitet wird, um das spätere Auftreten von Problemen zu vermeiden. Dies bedeutet, dass die Teilnehmer primärpräventiver Maßnahmen (im Gegensatz beispielsweise zu klinischen Stichproben) in der Regel noch keine Problem- oder Symptombelastung aufweisen, so dass Erfolge nicht durch eine Reduktion ungünstiger Ausgangswerte indiziert werden. Weiterhin ist auch der Leidensdruck in der Zielgruppe nicht hoch, die Motivation zu Veränderungen (z. B. auf der Verhaltensebene) damit eher gering. Messbare Veränderungseffekte sind bei einer primärpräventiven Zielsetzung also vielfach nur schwach oder überhaupt nicht vorhanden. Wenn sich Effekte zeigen, dann erst mit größerer zeitlicher Verzögerung. Dies lässt sich am Beispiel des Rauchens verdeutlichen: Wenn in der Grundschule ein primärpräventives Programm eingesetzt wird, um Schüler frühzeitig am Beginn des Rauchens zu hindern, so wird sich der Erfolg des Programms nicht unmittelbar in einer Veränderung der Raucherprävalenzen zeigen. Der Anteil der Raucher wird sich am Ende der Präventionsmaßnahme kaum vom Anteil der Raucher zu Beginn der Maßnahme unterscheiden. Ein Effekt auf die Raucherprävalenzen kann bestenfalls mit hinreichender zeitlicher Verzögerung eintreten, nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem Schüler typischerweise mit dem Rauchen beginnen. Wenn man die Frage beantworten möchte, durch welche Charakteristika erfolgreiche Gesundheitsförderprogramme gekennzeichnet sind, dann kann man nach Bond und Hauf (2004) die folgenden zehn Merkmale nennen: a.
b. c.
d.
e. f.
Theorie- und Forschungsbasierung bei der Entwicklung der Maßnahmeninhalte, der Maßnahmenstruktur und der Implementation sowie eindeutige Definition der Programmziele; Eindeutige und realistische Zielformulierung, die bei den beteiligten Interessenvertretern auf breite Zustimmung stößt; System- und ebenenübergreifende Perspektive mit Berücksichtigung vielfältiger Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklung und vielfältiger potentieller Entwicklungswege; Angemessene Dosierung bei der Herangehensweise mit Berücksichtigung von Erinnerungen an die Maßnahmeninhalte in gewissen Zeitabständen (z. B. durch „Booster sessions“), um die erwünschten Ergebnisse zu erreichen und auch aufrechtzuerhalten; Berücksichtigung der vorhandenen Stärken, Kompetenzen und protektiven Faktoren ebenso wie der Risiken und Schwierigkeiten, Sensitivität für die besonderen Belange der Zielgruppe bei den Maßnahmeninhalten, der Maßnahmenstruktur und der Implementation;
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Arnold Lohaus, Holger Domsch & Johannes Klein-Heßling Qualitativ anspruchvolle Evaluation (mit Berücksichtigung erwünschter und unerwünschter Effekte) und laufende Überwachung der Maßnahmenumsetzung; Umfangreiche Maßnahmendokumentation zur Nutzbarmachung in verschiedenen Kontexten und durch verschiedene Mediatoren, Berücksichtigung der (nicht nur finanziellen) Ressourcen, die zur Maßnahmenumsetzung erforderlich sind; Berücksichtigung des sozio-politischen Kontextes, in dem eine Maßnahme zum Einsatz kommen soll.
Auch wenn es sicherlich nicht einfach ist, diese Charakteristika bei jeder Implementation einer Gesundheitsförderungsmaßnahme in vollem Umfang zu berücksichtigen, zeigen sie dennoch mögliche Wege zu einer Steigerung der Maßnahmeneffektivität.
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Beispiele für schulbasierte Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
Im Folgenden werden drei Maßnahmen zur Gesundheitsförderung in der Schule vorgestellt, die sehr unterschiedliche Ansätze verfolgen. Es handelt sich zunächst um ein Stressbewältigungstraining für Jugendliche, das als Beispiel für ein LifeSkills-Training dargestellt wird. Danach wird ein Programm vorgestellt, mit dem Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung als bedeutsame gesundheitsbezogene Ressourcen durch geeignete Methoden im Fachunterricht gefördert werden. Mit dem Konzept der Gesundheitsfördernden Schule wird schließlich ein Beispiel für eine organisationsübergreifende Maßnahme vorgestellt. Das Stressbewältigungstraining für Jugendliche (Beyer & Lohaus 2006) richtet sich an Schüler der Klassen 5 bis 7 und ist modular aufgebaut: Kernstück des Programms ist die Vermittlung eines Problemlöseansatzes, der eine übergeordnete Form der Stressbewältigung darstellt. Im Training werden fünf Problemlöseschritte anhand des Modells der Stressschlange „SNAKE“ erarbeitet, die dem Programm gleichzeitig den Namen gibt. Der Problemlöseansatz wird durch eine von drei optionalen Trainingseinheiten zu den Themen „Gedanken und Stress“, „Soziale Unterstützung“ oder „Entspannung und Zeitmanagement“ ergänzt. In dem optionalen Modul zu Gedanken und Stress geht es darum, stressauslösende Gedanken kennen zu lernen, alternative Gedanken zu entwickeln und das Selbstwertgefühl zu steigern, da dadurch eine positivere Sicht auf potentiell stresserzeugende Ereignisse erreicht werden kann. In dem Modul zur sozialen Unterstützung steht die Suche nach sozialer Unterstützung im sozialen Umfeld im Vordergrund, wobei auch institu-
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tionelle Unterstützung thematisiert wird. Zusätzlich erfolgt eine Förderung sozialer Kompetenzen, da auch dadurch die Inanspruchnahme sozialer Unterstützung erleichtert wird. In dem Modul zu Entspannung und Zeitmanagement erfolgt die Vermittlung einer systematischen Entspannungsmethode (die Progressive Muskelrelaxation). Darüber hinaus werden Formen der unsystematischen Entspannung sowie Möglichkeiten zur Verbesserung des Zeitmanagements thematisiert. Die Auswahl der optionalen Module richtet sich nach den Bedürfnissen und Interessen der Teilnehmer. Das Grundmodul sowie die optionalen Module umfassen jeweils vier Doppelstunden, so dass durch die Kombination des Basismoduls mit einem der Zusatzmodule ein Gesamtumfang von acht Sitzungen entsteht. Trainingsbegleitend steht eine Internetseite zur Verfügung. Zur Evaluation wurde ein quasi-experimentelles Design mit Prä- und Posttest sowie einer Follow up-Erhebung nach drei Monaten realisiert, wobei die Effekte verschiedener Modulkombinationen mit einer Kontrollgruppe ohne Intervention verglichen wurden. An der Evaluationsstudie nahmen 18 Trainingsund 14 Kontrollklassen mit insgesamt 800 Jugendlichen teil. Um ein intensiveres Arbeiten mit den Schülern zu ermöglichen, wurden die Trainingsklassen jeweils in zwei Gruppen aufgeteilt, so dass insgesamt 36 Trainingsgruppen resultierten. Wie die Evaluationsergebnisse zeigen, führt das Programm zu Wissenszuwächsen und zu Veränderungen der Anforderungsbewertung. Es zeigte sich weiterhin eine Zunahme funktionaler Copingstrategien und eine (allerdings vergleichsweise geringere) Abnahme dysfunktionaler Strategien. Die Programmwirkungen bleiben bei der Follow-Up Erhebung weitgehend bestehen. Bei der Evaluation der Modulkombinationen zeigen sich Unterschiede in der Art, dass sich bei der Kombination des Problemlösetrainings mit den Modulen zur kognitiven Umstrukturierung und zur sozialen Unterstützung günstigere Effekte erzielen lassen als mit dem Modul zu Entspannung und Zeitmanagement. Mit dem Training werden allerdings insgesamt nur kleine bis mittlere Effektstärken erreicht. Wie in anderen Studien auch bestätigt sich daher, dass es schwierig ist, in primärpräventiven Kontexten ausgeprägte Effekte zu erzielen. Während ein Stressbewältigungsprogramm als Einzelmaßnahme innerhalb des Schulsettings zu verstehen ist, geht das nachfolgend vorgestellte Programm zur Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht von einer kontinuierlichen Ressourcenstärkung im Fachunterricht aus (FOSS-Projekt; s. zusammenfassend Droessler, Röder & Jerusalem 2007). Gesundheitsförderung ist hier keine extracurriculare Zusatzmaßnahme, sondern wird in den regulären Fachunterricht (beispielsweise den Mathematik oder den Englischunterricht) integriert. Im Rahmen des Programms nehmen Lehrerinnen und Lehrer über mehrere Schuljahre an Fortbildungen teil. In Workshops erarbeiten sie Strategien, die sie
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in ihren Unterricht integrieren können und die allgemein auf die Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung abzielen. Der Schwerpunkt des Programms liegt in der begleitenden Unterstützung und Kontrolle der Implementation in den Unterricht, so dass die Langfristigkeit und Kontinuität bei der Umsetzung der Maßnahmen sichergestellt wird. Die Maßnahmen, die im Rahmen des FOSS-Programmes von den Lehrerinnen und Lehrern umgesetzt werden, zielen u. a. darauf ab, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht mehr Möglichkeiten erhalten, Erfolge zu erleben und sich kompetent und selbstbestimmt zu fühlen (z. B. durch Transparenz der Leistungsanforderungen, eine individuelle Bezugsnormorientierung bei der Leistungsbewertung und die Schaffung von Wahlmöglichkeiten im Unterricht). Ziel ist es auch, dass die Schüler in einem sozialen Umfeld agieren, das durch günstige Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern sowie innerhalb der Schülerschaft charakterisiert ist (z. B. durch den Einsatz geeigneter Methoden kooperativen Lernens oder die Delegation verantwortungsvoller Aufgaben an die Schüler). Erste Evaluationsergebnisse zeigen, dass eine erfolgreiche Implementation der Methoden u. a. mit einer Verbesserung sozialer Kompetenzen, einer Steigerung des schulischen Kompetenzerlebens und einer Förderung das Klassenklimas verbunden ist (Droessler et al. 2007, Röder & Jerusalem 2007). Das dritte Beispiel schulbasierter Maßnahmen zur Gesundheitsförderung ist das Konzept der Gesundheitsfördernden Schule. Es ist ein systemisch-ganzheitlicher Ansatz, der die physischen, psychischen und sozialen Dimensionen von Gesundheit berücksichtigt und Gesundheit in Abhängigkeit von komplexen Lebensbedingungen versteht (Barkholz & Paulus 1998). Es handelt sich um einen Organisationsentwicklungsansatz, der das System Schule in die Richtung einer zunehmenden Fokussierung auf Gesundheitsförderung verändert. Es geht dabei um die Schaffung eines positiven sozialen Klimas, das Partizipation, Verantwortung, Bestätigung, soziale Unterstützung und Zufriedenheit aller Schulmitglieder ermöglicht. Weiterhin sollen auch verhältnisorientierte Maßnahmen integriert werden, die die Schaffung eines gesunden Raum- und Gebäudeklimas ermöglichen, um damit den unterschiedlichen Bedürfnissen nach Kommunikation, Konzentration, Entspannung und Bewegung entgegenzukommen, wobei gleichzeitig ökologische, ergonomische und ästhetische Aspekte berücksichtigt werden sollen. Weitere Maßnahmen sind die Entwicklung und Erprobung neuer Formen des Unterrichts, eine Öffnung der Schulen nach außen in die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, eine intensive Kooperation mit den Eltern und die Nutzung der lokalen Ressourcen in der Gesundheitsförderung, wie sie Krankenkassen oder öffentliche Gesundheitsdienste anbieten (s. Paulus 1995; Johannsen 2003). Die konkrete Maßnahmengestaltung erfolgt partizipativ durch alle an der Schule Beteiligten. Schulen, die sich dem Ansatz der Gesund-
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heitsfördernden Schule angeschlossen haben, bilden Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung bei der Organisationsentwicklung. Wie schon weiter oben aufgeführt, ist eine zufrieden stellende Evaluation komplexer Interventionen, wie sie mit dem Konzept der Gesundheitsfördernden Schule verfolgt werden, äußerst aufwendig. Problematisch ist neben der hohen Komplexität weiterhin der geringe Standardisierungsgrad, da jede Schule das Konzept nach ihren Bedürfnissen ausgestaltet. Hinzu kommt, dass das System Schule eine Dynamik entfaltet und die konkrete Ausgestaltung Veränderungen über die Zeit hinweg unterliegt. Es verwundert daher nicht, dass zum Konzept der Gesundheitsfördernden Schule zwar viele Erfahrungsberichte, aber keine überzeugenden Evaluationsergebnisse vorliegen. Vom Ansatz her ist das Konzept jedoch erfolgversprechend, da eine nachhaltige Wirkung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung durch die Einbettung in einen breiteren Kontext sicherlich eher zu gewährleisten ist.
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Ausblick
Insgesamt ist zu konstatieren, dass das Thema Gesundheitsförderung noch immer einen zu geringen Stellenwert in Schulcurricula einnimmt. Wenn Gesundheit thematisiert wird, dann steht heute die physische Gesundheit im Vordergrund, während die psychischen und sozialen Dimensionen, die in der WHODefinition gleichrangig genannt sind, vernachlässigt werden. Aufgrund der PISA-Debatte ist zu vermuten, dass der Druck in Richtung einer Vermittlung klassischen Schulwissens eher zunehmen wird, wobei nicht bedacht wird, dass mit einem physischen, psychischen und sozialen Wohlbefinden wesentliche Grundlagen für eine Leistungsbereitschaft in der Schule geschaffen werden. Gesundheitsförderung und die Förderung der schulischen Leistungsfähigkeit schließen sich nicht aus. Im Gegenteil, sie bedingen sich gegenseitig: Gesundheit und Bildung sind zwei Seiten einer Medaille. Ohne Bildung gibt es keine Gesundheit und umgekehrt. Viele (insbesondere verhaltensorientierte) Gesundheitsfördermaßnahmen setzen eine entsprechende Lernfähigkeit und -bereitschaft voraus. Auf der anderen Seite be- oder verhindern körperliche und psychische Erkrankungen die Entfaltung intellektueller Potenziale. Gesundheit und Bildung stehen also in einer wechselseitig förderlichen Beziehung zueinander. Um eine stärkere Integration von Gesundheitsförderung in der Schule zu erreichen, ist es daher wesentlich, Themen der Gesundheitsförderung stärker in die Lehrerausbildung zu integrieren. Gegenwärtig hängt es von den zufälligen Präferenzen der Ausbildenden an den Hochschulen ab, ob Lehramtsstudenten während ihrer Ausbildung mit Themen der Gesundheitsförderung in Berührung kom-
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men oder nicht. Wegen des hohen Stellenwerts, der einer breit aufgefassten Gesundheitsförderung in der Schule zukommt, wäre eine systematischere Vermittlung eines Basiswissens in diesem Bereich angemessen. Maßnahmen der Gesundheitsförderung müssen ihren Nutzen und zunehmend auch ihre Wirtschaftlichkeit unter Beweis stellen, um nach Pilot- und Projektphasen möglichst breit eingesetzt zu werden. Dazu sind aussagekräftige Evaluationsstudien zwingend erforderlich. In einem ersten Schritt wird es dabei darauf ankommen, wirksame Einzelmaßnahmen (wie Lebenskompetenztraining) und Module größerer Programme zu identifizieren, bevor diese zu komplexen, ganzheitlichen Maßnahmen zusammengesetzt werden, die sich kaum mehr sinnvoll untersuchen lassen. Darüber hinaus werden neben komplexen Programmen auch zukünftig spezifische Trainings und Maßnahmen gebraucht, die gezielt für bestimmte Risikogruppen eingesetzt werden können.
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Medieneinsatz im Unterricht Bardo Herzig
Abstract Medien sind ein konstitutiver Bestandteil von Unterricht und stellen eine Erfahrungsform dar, in der in schulischen Lehr- und Lernprozessen eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Sachverhalten erfolgt. Gerade in der jüngeren Vergangenheit sind an digitale Medien hohe Erwartungen im Hinblick auf erfolgreiches und motiviertes Lernen gestellt worden. Im vorliegenden Beitrag wird die Frage aufgenommen, welche Eigenschaften von Medien lernförderlich wirken können, wie sich dies aus empirischer Sicht darstellt und welche Anforderungen an einen Unterricht gestellt werden sollten, der Medien in lernförderlicher Weise integriert. Zudem wird der Fokus auf die Lehrpersonen und ihre Kompetenzen zur Vorbereitung und Durchführung eines solchen Unterrichts gerichtet. Da sich im technischen Bereich die Medienlandschaft sehr schnell weiterentwickelt, werden auch zukünftige Formen medienunterstützten Lehrens und Lernens beleuchtet.
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Medienbegriff
Im Alltagssprachgebrauch wird der Begriff Medium heute in vielen Bedeutungsvarianten verwendet, z. B. als Bezeichnung einer Institution, eines technischen Gerätes, als Kennzeichnung eines physikalischen Trägermediums oder auch als Beschreibung von Personen, die Fähigkeiten der Verbindung zum Übersinnlichen aufweisen. Es ist daher sinnvoll und notwendig, den Medienbegriff im pädagogischen Kontext einzugrenzen. Einen Zugang zu einem (medien-)pädagogisch sinnvollen Medienbegriff ermöglichen die Erfahrungsformen. Alle Inhalte oder Sachverhalte unserer Umwelt, mit denen wir in Beziehung treten, weisen eine formbezogene Komponente auf. Analytisch lassen sich die folgenden Formen unterscheiden:
reale Form, diese ist z. B. beim Handeln oder bei Beobachtungen in der Wirklichkeit, bei der personalen Begegnung mit Menschen oder beim realen Umgang mit Sachen gegeben,
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Bardo Herzig modellhafte Form, diese liegt z. B. beim Umgang mit Modellen oder beim simulierten Handeln im Rollenspiel und entsprechenden Beobachtungen vor, abbildhafte Form, diese ergibt sich z. B. bei der Information mit Hilfe realgetreuer oder schematischer bzw. typisierender Darstellungen, symbolische Form, diese besteht z. B. in der Aufnahme von Informationen aus verbalen Darstellungen oder nicht-verbalen Zeichen.
Manchmal werden die Erfahrungsformen selbst – weil sie einen vermittelnden Charakter haben – als Medien bezeichnet. Aus medienpädagogischer Sicht ist dazu zunächst festzustellen, dass es zweifellos wichtig ist, bei der Betrachtung der Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt alle Erfahrungsformen – von der realen bis zur symbolischen – im Blick zu behalten. Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass der wissenschaftliche Medienbegriff alle Erfahrungsformen umfassen müsste. Für die Medienpädagogik erscheint es zweckmäßiger, den Medienbegriff auf technisch vermittelte Erfahrungsformen einzugrenzen. Dies eröffnet in besonderer Weise die Möglichkeit, die Merkmale technisch vermittelter Erfahrungen und Inhalte zu untersuchen und wissenschaftliche Aussagen dazu zu formulieren. Gleichzeitig können und sollen dabei andere Formen der Erfahrung – in Abgrenzung und im Vergleich zu technisch vermittelten Erfahrungen – im Blick bleiben und in die Betrachtung einbezogen werden. Eine Eingrenzung des Medienbegriffs bietet sich auch aus historischer Perspektive an: Die Begriffe „Medien“ und „Medienpädagogik“ sind erst im Kontext der sich ausbreitenden technischen Vermittlungsmöglichkeiten von Inhalten durch Film, Radio und Fernsehen entstanden und entwickelt worden (vgl. z. B. Hagemann 2001). Bei dem – zu wissenschaftlichen Zwecken eingegrenzten – Medienbegriff werden Medien als Mittler verstanden, durch die in kommunikativen Zusammenhängen potenzielle Zeichen1 mit technischer Unterstützung übertragen, gespeichert, wiedergegeben, arrangiert oder verarbeitet und in abbildhafter oder symbolischer Form präsentiert werden. Im Vorgang der Kommunikation werden potenziellen Zeichen Bedeutungen von den an der Kommunikation beteiligten Personen zugewiesen (vgl. dazu auch Herzig 2001: 129). Beispiele für Medien in diesem Sinne sind Buch, Zeitung und Illustrierte, Arbeits- und Diaprojektion, Film und Fernsehen, Radio und andere Tonmedien, Video und weitere Bildmedien sowie Computer.
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Die Charakterisierung als potenzielle Zeichen ist dem semiotischen Umstand geschuldet, dass ein Zeichen erst dann zum Zeichen wird, wenn es von einem interpretierenden Bewusstsein als solches erkannt und gedeutet wird.
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Ein solcher Medienbegriff umfasst sowohl die Geräte bzw. Einrichtungen zur Übertragung, Speicherung, Wiedergabe oder Verarbeitung von Zeichen als auch die dazugehörigen Materialien bzw. die Software sowie deren technisches und funktionales Zusammenwirken bei der Kommunikation (vgl. Tulodziecki 1997: 37). Der Medienbegriff kann dabei sowohl das jeweilige „Gesamtmedium“, z. B. das Fernsehen oder den Computer, meinen als auch bestimmte „Medienarten“, z. B. Fernsehmagazin oder Lernsoftware, sowie auch „Einzelmedien“, z. B. eine bestimmte Fernsehsendung oder eine bestimmte Computersoftware. Im Hinblick auf die Erfahrungsformen sind (technische) Medien auf abbildhafte und symbolische Formen festgelegt. Deshalb gelten für sie generell die oben angesprochenen Möglichkeiten und Grenzen dieser Erfahrungsformen. Bezogen auf technische Medien werden die Erfahrungsformen auch als Codierungsarten bezeichnet, da die Inhalte immer nur in einer verschlüsselten Form vorliegen. Neben den Erfahrungsformen bzw. Codierungsarten ist zur Charakterisierung von Medienangeboten die Frage der durch das Angebot angesprochenen Sinnesmodalitäten – auditiv oder visuell – bedeutsam. Durch die Verbindung von Codierungsarten und Sinnesmodalitäten ergeben sich bestimmte Darstellungsformen (vgl. Darstellung 1). Abbildung 1:
Übersicht über verschiedene Darstellungsformen
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Bardo Herzig
Neben den Erfahrungsformen bzw. Codierungsarten und den Sinnesmodalitäten können die Gestaltungstechniken bei der einzelnen Darstellungsform sehr wichtig für das Lernen sein. Als Gestaltungstechniken kann man beispielsweise beim Film die Einstellungsgröße, die Einstellungsperspektive, die Kamerabewegung, den Zoom, die Montage und die Tongestaltung nennen, beim Hörfunk sind es u. a. die Regulierung der Lautstärke, Bass- und Höhenkontrolle, die Tonmischung, Multi-Play, Trickeffekte oder Blenden und Schnitt, bei Computersoftware z. B. Fenstertechnik und Steuerleisten. Außer den besprochenen Medienmerkmalen sind – angesichts der Entwicklungen im Bereich der Informationsund Kommunikationstechnologien – die jeweiligen Ablaufmöglichkeiten bei der Mediennutzung als Medienmerkmal wichtig. Während beispielsweise eine Präsentationsfolie ruhend bzw. punktuell präsentiert wird, haben Film und Hörspiel oder Animationen eine flüchtige bzw. lineare Ablaufstruktur, wobei der Nutzer den Ablauf durch Start und Stop, durch Vor- und Rücklauf steuern kann. Durch die computerbasierten Medien sind neue Ablaufstrukturen hinzugekommen, z. B. adaptive und responsive. Adaptive Ablaufstrukturen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Darbietung, z. B. bei einem computerpräsentierten Lernprogramm, auf Grund vorheriger Eingaben oder Aufgabenlösungen eines Nutzers vom Medium gesteuert wird. Beispielsweise können bei einem entsprechenden Programm Anzahl und Art von Übungsaufgaben an den – mit einem Test ermittelten – Leistungsstand des Nutzers angepasst werden. Eine responsive Ablaufstruktur ist gegeben, wenn Nutzer über geeignete Schnittstellen bzw. Steuerungsmöglichkeiten den Ablauf des medialen Angebots bzw. des Programms durch eigene Aktionen bestimmen. Dabei werden in der Regel auch Querverweise – so genannte Hyperlinks – angeboten, durch die der Nutzer Zusammenhänge zwischen verschiedenen Inhaltselementen in selbst gesteuerter Form erarbeiten kann. Dies ist z. B. bei vielen CD-ROMs der Fall. Des Weiteren sind noch kommunikative Ablaufstrukturen zu erwähnen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass Nutzer mit Hilfe eines Medienangebots mit einem oder mehreren weiteren Nutzern kommunizieren. Dies kann synchron erfolgen, z. B. mit Hilfe von E-Mail, oder synchron, z. B. bei einer Videokonferenz oder beim Chat. Schließlich können als Medienmerkmal die Gestaltungsformen genannt werden. Diese beeinflussen u. a. die Wahrnehmung der Medienangebote insgesamt. Beispielsweise wird man medialen Angeboten, die als Nachrichten oder Dokumentationen präsentiert und wahrgenommen werden, einen höheren Realitätsgehalt zumessen als Spielszenen oder der Werbung. Bei den Gestaltungsformen können so z. B. unterschieden werden: Nachrichten, Berichte, Dokumentationen, Kommentare, Spielszenen, Moderationen, Übersichten (Menüs), Lehrtexte, Magazine und Werbespots.
Medieneinsatz im Unterricht
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Die obigen Merkmale erlauben es, Medien bzw. Medienarten nach ihren Gestaltungsmerkmalen und einzelne Medienangebote nach den jeweils gewählten Möglichkeiten zu charakterisieren. Eine solche Kennzeichnung vermittelt eine erste Übersicht über formale Merkmale von Medienangeboten. Sie kann – in Verbindung mit inhaltlichen Aspekten – als Hilfe für unterrichtliche Verwendungsentscheidungen dienen (vgl. Abschnitt 7). Im Folgenden werden aus der Palette der Gesamtmedien die digitalen Medien fokussiert. Dies geschieht zum einen aufgrund der hohen Bedeutsamkeit dieser Medien, zum anderen aufgrund der zunehmenden Konvergenz der Gesamtmedien im Sinne einer Zusammenführung auf eine gemeinsame technische Plattform. Die grundsätzlichen Überlegungen insbesondere zur Unterrichtsgestaltung mit Medien lassen sich aber auch auf „klassische“ Medien übertragen.
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Lernförderliche Potenziale
Digitale Medien heben sich von anderen Medien durch das Alleinstellungsmerkmal ab, dass sie auch die Funktion der Verarbeitung wahrnehmen können. Im Kontext von Lehren und Lernen sind folgende Typen digitaler Medien bedeutsam (vgl. Tulodziecki & Herzig 2004: 64ff.):
Lehrprogramme, mit denen ein Nutzer neue Inhalte in einem bestimmten Themenbereich mit vorgegebener Steuerung durch das Programm erarbeiten kann, Übungsprogramme, mit deren Hilfe bereits erarbeitete Lerninhalte in individueller Weise – zum Teil mit spielerischen Elementen – geübt, gefestigt und automatisiert werden können, offene Lehrsysteme, durch die didaktisch und hypermedial aufbereitete Inhalte zu einem spezifischen Themengebiet – häufig mit einzelnen Werkzeugen versehen – bereitgestellt werden, Datenbestände, durch die Informationssammlungen – in der Regel mit Suchwerkzeugen und Verweisstrukturen – z. B. in enzyklopädischer Form zur Verfügung gestellt werden, Lernspiele, die pädagogisch entworfene Situationen präsentieren, in denen die Lernenden in bestimmten Handlungsräumen mit verschiedenen Handlungsalternativen agieren können und dabei bestimmte Situationen gestalten oder verbessern sollen, Werkzeuge, die als themenunabhängige Programme die Erzeugung und Gestaltung sowie Be- und Verarbeitung visueller, auditiver und audiovisuel-
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Bardo Herzig ler Produkte in abbildhafter oder symbolischer Form sowie deren Austausch ermöglichen, Experimentier- und Simulationsumgebungen, in denen auf der Grundlage vorgegebener oder zu entwickelnder Modellvorstellungen Prozesse simuliert werden können, wobei mit dem Einfluss verschiedener Parameter auf die jeweils modellierten Prozesse experimentiert werden kann, Kommunikations- und Kooperationsumgebungen, durch die eine Infrastruktur für den Erfahrungs- und Meinungsaustausch sowie für die gemeinsame Erarbeitung von Produkten bereitgestellt wird.
An diese Typen digitaler Medien werden in der Regel hohe Erwartungen geknüpft, die sich zum Großteil auf Annahmen zu Wechselwirkungen zwischen bestimmten Medienmerkmalen und Eigenschaften des Nutzers sowie Kontextmerkmalen der Nutzungssituationen beziehen. Zusammenfassend lassen sich daraus folgende lernförderliche Potenziale bzw. Eigenschaften benennen:
Dezentralisierung und Deregulierung von Lernorten: Mit Hilfe digitaler Medien ist der rasche Zugriff auf Arbeitsmaterialien unabhängig von Orten ihrer physikalischen Speicherung und unabhängig von der lokalen Repräsentanz des Lernenden möglich. Darüber hinaus wird der Zugriff zunehmend nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Institutionen oder Organisationen sowie durch zeitliche Restriktionen reguliert. Multicodalität und Multimodalität: Multimediale Angebote sind in verschiedenen Zeichensystemen codiert und sprechen unterschiedliche Sinnesmodalitäten an; die Angebote umfassen unterschiedliche mediale Formen, z. B. Texte, Grafiken, Bilder, Tondokumente, Videofilme, Programme. Information on demand und just in time: Informationen können situationsgerecht dann abgerufen werden, wenn sie benötigt werden. Mit Hilfe von Breitbandtechnologien können auch in komplexen Arbeits- und Lernumgebungen in Echtzeit große Datenmengen übertragen und verarbeitet werden. Adaptivität: Digitale Medien sind in gewissen Graden anpassungsfähig an die Lernvoraussetzungen der Benutzer. Dies geschieht z. B. durch die Möglichkeit, bedürfnis- und kenntnisorientiert eigene Lernwege festzulegen und Lernmaterialien auszuwählen oder durch die Auswertung von Benutzereingaben mit Hilfe einer wissensbasierten Datenbank, die dann zur Bereitstellung angemessener Aufgaben, Erläuterungen etc. führt. Interaktivität: Multimedia-Angebote ermöglichen die Bearbeitung und kreative Umgestaltung vorhandener Materialien als Manipulation symbolischer Objekte (z. B. Bildbearbeitung) sowie die Exploration von symbolischen In-
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teraktionsräumen und die Manipulation von darin befindlichen Objekten. Die verschiedenen Interaktionsformen erlauben auch die Erweiterung der Lernumgebung z. B. durch das Annotieren von Materialien, durch Einfügen zusätzlicher Materialien, durch Umstrukturierungen oder durch den Aufbau und die Veränderung von Verweisstrukturen. Feed-back: Manipulationen von symbolischen Strukturen, z. B. die Eingabe von Texten, Drag-and-Drop-Aktionen, das Ausfüllen von Skripts o. ä. führen zu Rückmeldungen des Systems, die den Lernenden Entscheidungshilfen für weitere Lernaktivitäten (z. B. in einem Planspiel) oder Aufschluss über den Stand ihrer Kenntnisse geben können. Kommunikation und Kooperation: Computerbasierte Anwendungen bieten die Möglichkeit, z. B. über bestimmte Internet-Dienste, mit Anderen in Verbindung zu treten, zu kommunizieren (z. B. Email, Chat, Newsgroup, Blog, Wiki, Videokonferenz) oder gemeinsam an bestimmten Aufgaben zu arbeiten (z. B. CSCW – Computer Supported Cooperative Work). Entlastung von Routinetätigkeiten: Computerbasierte Angebote tragen insbesondere in ihrer Funktion als Werkzeug zur Entlastung solcher Routinetätigkeiten bei, die für den Lehr- und Lernprozess irrelevant sind. Sanktionsfreie Räume: Mit Hilfe digitaler Lern- und Arbeitsumgebungen lassen sich virtuelle Räume schaffen, in denen Manipulationen an symbolischen Objekten vorgenommen werden können, ohne das Risiko problematischer Auswirkungen solcher Handlungen an originalen Objekten und mögliche Sanktionen in Kauf nehmen zu müssen. Dies gilt z. B. für virtuelle Laboratorien und Experimentierumgebungen.
Die genannten Potenziale beschreiben zunächst Möglichkeiten digitaler Medien, die für eine unterrichtliche Nutzung fruchtbar gemacht werden können. Dabei ist zu beachten, dass nicht jedes Medienangebot alle genannten Eigenschaften aufweist bzw. alle Potenziale birgt und dass lernförderliche Wirkungen erst aus einer Wechselwirkung von Medieneigenschaften, Lernvoraussetzungen der Nutzenden und Nutzungssituation entstehen. In der öffentlichen Diskussion um digitale Medien sind zum Teil recht pauschale Annahmen zum Lernen mit digitalen Medien zu finden, insbesondere im Hinblick auf effzientere, schnellere, motivierendere oder nachhaltigere Lernerfolge. Inwieweit solche Annahmen auch aus empirischer Sicht berechtigt sind und inwiefern überhaupt eine entsprechende Mediennutzung im Unterricht stattfindet, wird im Folgenden diskutiert.
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Bardo Herzig Empirische Ergebnisse zur Medienverwendung im Unterricht
3.1 Medienausstattung und Mediennutzung Rein quantitativ gesehen, ist die Ausstattung der Schulen mit Computern in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Das Verhältnis Schüler zu Computer hat sich von 17:1 im Jahr 2002 inzwischen auf 11:1 in 2005 verbessert. Dies gilt für stationäre Rechner, mobile Technologien spielen derzeit rein zahlenmäßig noch eine untergeordnete Rolle, die Zuwachsraten sind jedoch beträchtlich. Differenziert man nach Schularten, so ist die Ausstattung der Grundschulen etwas ungünstiger als die der Sekundarschulen, am besten schneiden die Berufsschulen ab (vgl. BMBF 2005). Wenn auch inzwischen 99 % der deutschen Schulen mit Computern ausgestattet sind, so sind eine Vernetzung und eine Anbindung aller an den Schulen vorhandenen Rechner an das Internet noch keine Selbstverständlichkeit. Die Anbindung der Schulen wurde bisher in der Regel über ISDNAnschlüsse realisiert. Hier setzen sich in den letzten vier bis 5 Jahren kontinuierlich verstärkt Breitband-Anschlüsse durch (xDSL), so dass im Jahr 2005 nahezu ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen beiden Anbindungsarten besteht (vgl. ebd.: 51). Die Ausstattung an deutschen Schulen mit digitalen Medien konnte in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert werden, so dass inzwischen auch gewisse Mindeststandards der EU von allen Schulformen erreicht sind. Dennoch liegt Deutschland im internationalen Vergleich noch weit zurück, OECD-Studien zufolge im Jahr 2003 auf den hintersten Rängen. Deutlich über dem OECD-Durchschnitt liegt die häusliche Verfügbarkeit von Computern. 83 % der Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren hatten im Jahr 2005 Zugriff auf einen Computer zuhause, für Jugendliche liegt der Prozentsatz bei 98 %. Während durchschnittlich 12 % der Kinder im Jahr 2005 bereits einen eigenen Computer besitzen, trifft dies für 57 % aller Jugendlichen zu, wobei die Chance auf ein eigenes Gerät vom sozioökonomischen Hintergrund beeinflusst wird (vgl. mpfs 2005, 2006; OECD 2006). Gemessen am Stand der Technik und an der für eine unterrichtliche Integration wünschenswerten Infrastruktur, stellt sich die Situation an deutschen Schulen insgesamt nicht überzeugend dar. Dennoch besteht eine vergleichsweise hohe Zufriedenheit der Lehrpersonen mit der Ausstattung. Qualitative Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Einschätzungen vermutlich darauf zurückzuführen sind, dass viele Lehrpersonen sich die Nutzung einer umfangreicheren Ausstattung aufgrund ihrer mediendidaktischen und medienpädagogischen Kompeten-
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zen (noch) nicht zutrauen oder aufgrund von organisatorischen und zeitlichen Schwierigkeiten davon absehen. Entsprechend gehen Wünsche weniger in Richtung Ausstattung, sondern in Richtung Fortbildung (vgl. z. B. IT works 2006). In Bezug auf die Nutzung von Computer und Internet im Unterricht kann insgesamt auch noch von keiner selbstverständlichen Integration digitaler Medien in den Unterricht gesprochen werden, wenngleich auch hier die Nutzungsdaten in den letzten Jahren zunehmen (vgl. BMBF 2005). In den Grundschulen erfolgt ein häufiger Computereinsatz vor allem in den Fächern Deutsch und Mathematik sowie in Arbeitsgemeinschaften, wobei vorrangig Lernsoftware und multimediale Nachschlagewerke zum Einsatz kommen. In den Sekundarstufen I und II ist ein häufiger Einsatz digitaler Medien vor allem im Fach Informatik und in Arbeitsgemeinschaften zu finden, gefolgt von technischen, naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fächern. Die Internetnutzung ist im Vergleich zur Computernutzung in der Grundschule noch geringer. Häufiger Einsatz erfolgt im Sachunterricht und in Arbeitsgemeinschaften, gefolgt von den Fächern Deutsch und Mathematik. Etwa drei Viertel der Sekundarschulen nutzen das Internet häufig oder gelegentlich in den Naturwissenschaften, in Informatik, in den Gesellschaftswissenschaften und in Arbeitsgemeinschaften. Auch hier überwiegt die Nutzung des Computers gegenüber der Internetnutzung. In den berufsbildenden Schulen ist die Rangfolge der Fächer, in denen häufig oder gelegentlich Computer oder Internet eingesetzt werden, jeweils gleich. Relativ ähnlich hohe Anteile von Schulen geben an, in den Fächern Informatik und Deutsch sowie in den Gesellschaftswissenschaften und in den Fremdsprachen Computer bzw. Internet einzusetzen. Im Zeitraum von 2003 bis 2005 ist die Computernutzung in den Schulen insgesamt in allen Fächern gestiegen, in den Naturwissenschaften und in den Fremdsprachen konstant geblieben. Die Internetnutzung hat – über alle Schulen gesehen – in allen Fächern zugenommen (vgl. ebd.). Mit Blick auf die Lehrpersonen stellt sich die Verwendung digitaler Medien im Unterricht so dar, dass im Jahr 2003 insgesamt knapp die Hälfte der Lehrpersonen Computer häufig oder gelegentlich im Unterricht einsetzen, das Internet verwendet ein Drittel der Lehrerschaft an allgemeinbildenden Schulen häufig oder gelegentlich. Allerdings geben die Lehrpersonen an, in Zukunft Medien verstärkt einsetzen zu wollen (vgl. mpfs 2003). 72 % wollen häufiger mit dem Internet arbeiten, 68 % mit dem PC. Dennoch beläuft sich der Anteil der Lehrerinnen und Lehrer, die z.B. digitale Medien im Fachunterricht noch gar nicht eingesetzt haben, auf bis zu 50 % (vgl. z. B. Bofinger 2004). Neben schul- und bundeslandspezifischen Unterschieden muss allerdings bei solchen Daten beachtet werden, dass es in vielen Fällen keine genauen Festlegungen für eine häufige oder seltene Nutzung gibt. In der Tendenz zeigen die empirischen Daten, dass je
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nach Schulart eine Kerngruppe im Umfang von 10 % bis 30 % der Lehrpersonen zu den regelmäßigen Anwendern digitaler Medien im Unterricht gehört. Solche Gruppen stellen auch die hauptsächlichen Nutzer von Online-Angeboten für Lehrer dar. Über 90 % von ihnen nutzen den Computer aufgrund der damit verbundenen Vorteile täglich oder mehrmals pro Woche für die Vor- und Nachbereitung von Unterricht und über die Hälfte setzt den Computer auch täglich oder mehrmals pro Woche im Unterricht ein (vgl. Creß, Hron & Neudert 2006). Einer in der Breite insgesamt noch geringen Nutzung digitaler Medien im Unterricht steht eine bei Kindern und Jugendlichen häufige Computernutzung zuhause gegenüber. In der Altersgruppe zwischen 6 und 13 Jahren nutzen im Jahr 2005 38 % den Computer regelmäßig (mindestens einmal pro Woche) in der Schule, 86 % arbeiteten mit dem Computer regelmäßig zuhause (vgl. mpfs 2005). Bei den Jugendlichen nutzen 17 % den Computer täglich oder mehrmals pro Woche in der Schule, 76 % tun dies mit der gleichen Häufigkeit zuhause. Allerdings ist die häusliche Nutzung nicht auf außerschulische Belange beschränkt, sondern schließt Lernaktivitäten für den Unterricht mit ein (vgl. mpfs 2006). Die Befunde aus nationalen Studien werden durch internationale Untersuchungen mit deutscher Beteiligung gestützt. Nimmt man die regelmäßige schulische Nutzung (d. h. meist jeden Tag oder einige Male pro Woche) als Kriterium, dann liegt Deutschland bei der Gruppe der 15-Jährigen im OECD-Vergleich auf dem letzten Rang. Mit einer im Vergleich zu den übrigen OECD-Staaten überdurchschnittlich häufigen häuslichen Nutzung weist die Bundesrepublik zudem die OECD-weit größte Differenz zwischen schulischer und häuslicher Nutzung auf (vgl. OECD 2006: 37, 102).
3.2 Medienwirkungen Wirkungen digitaler Medien mit Bezug zur Schule sind in verschiedenen Bereichen untersucht worden. Vor dem Hintergrund des derzeitigen Forschungsstandes erscheint eine Differenzierung entsprechender Studien im Hinblick auf Wirkungen im fachlichen Bereich, im überfachlichen Bereich und in der Unterrichtsbzw. Lehr-Lernkultur sinnvoll. Insgesamt erweist es sich allerdings als schwierig, die Forschungslage in ihren Ergebnissen zusammenzufassen, da die vorliegenden Studien sehr unterschiedlich sind – sowohl im Hinblick auf die methodische Anlage als auch in Bezug auf die zugrunde liegenden Stichproben (zur Übersicht vgl. Herzig & Grafe 2006). Zusammenhänge zwischen Fachleistungen und Computernutzung wurden gerade in jüngerer Vergangenheit in Schulleistungsstudien in Form von Korrelationen diskutiert. Dabei gehen beispielsweise höhere PISA-Testwerte in Mathe-
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matik einher mit hoher Computererfahrung, einem mäßigen Nutzungsumfang in der Schule oder einer häufigen häuslichen Nutzung (vgl. OECD 2006: 65, 117, 120). Aus pädagogischer Sicht sind solche Zusammenhänge im Sinne von Wirkungen vorsichtig zu interpretieren:
Die berechneten Zusammenhänge sind korrelativ, d. h. sie lassen keine Aussagen über Ursachen und Wirkungen zu. Die Zusammenhänge beruhen i. d. R. auf der Analyse von bivariaten Zusammenhängen, die sich durchaus anders darstellen können, wenn weitere Einflussfaktoren berücksichtigt werden (vgl. dazu Fuchs & Wößmann 2004, 2005). Aus pädagogischer bzw. didaktischer Sicht ist es von geringem Wert, wenn repräsentative Aussagen über z. B. Nutzungshäufigkeiten und in Verbindung damit auftretende Fachleistungen getroffen werden, ohne dass etwas über die damit verbundenen Lernaktivitäten und -prozesse bekannt ist.
Nicht repräsentativ, aber stärker auf die unterrichtlichen Prozesse bezogen sind Studien, die konkrete Unterrichtsprojekte evaluieren. So konnten beispielsweise im Kontext des Lernens mit Notebooks in verschiedenen Studien Effekte in Bezug auf die Verbesserung von Aufsatzleistungen oder mathematischen Kompetenzen nachgewiesen werden (vgl. Schaumburg & Issing 2002; Schaumburg 2006; Reinmann & Häuptle 2006). In vielen anderen Studien lassen Selbsteinschätzungen erkennen, dass Lernerfolge grundsätzlich wahrgenommen werden, aber in noch unspezifischer Weise. Diese Studien deuten darauf hin, dass weitere Forschungen im Bereich des Lehrens und Lernens mit digitalen Medien erforderlich sind, um spezifische fachliche Wirkungen erfassen zu können. Berücksichtigt werden muss bei der Einschätzung des fachlichen Lernerfolgs allerdings auch, dass der Einsatz digitaler Medien im Fachunterricht bisher immer noch relativ gering ist (s. u.). Im Hinblick auf fächerübergreifende Kompetenzen lassen sich der überwiegenden Mehrheit von Studien Hinweise auf Effekte im Bereich von Selbststeuerung und Lernstrategien, von Motivation und Lernfreude, von Computerkompetenz und von Kooperationsfähigkeit finden (vgl. Herzig & Grafe 2006, 60 ff.). In der Regel handelt es sich hierbei allerdings nicht um Kompetenzmessungen im psychometrischen Sinne, sondern um Einschätzungen von Lehrkräften oder um Selbstauskünfte von Lernenden. Die Befunde decken sich auch mit Ergebnissen aus internationalen Studien (vgl. z. B. Schulz-Zander 2005). Das Lernen mit digitalen Medien geht in vielen Fällen einher mit einer Veränderung der Unterrichtskultur und der damit verbundenen Handlungsmuster der Lehrpersonen im Unterricht. Am besten gelingt eine gewinnbringende – d. h.
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lernförderliche – Integration in den Unterricht den Lehrpersonen, die mit ihrem Unterrichtsstil dem Zusammenhang von Medium, Lernvoraussetzungen, Inhalt und Sozialform Rechnung tragen. Dies bedeutet, dass die Integration digitaler Medien in den Unterricht auch eine Veränderung der Handlungsmuster von Lehrpersonen erfordert, insbesondere dann, wenn diese bisher einen eher lehrerzentrierten Unterricht durchgeführt haben. Qualitative Veränderungen bzw. Wirkungen werden insbesondere in Form einer höheren Anschaulichkeit, einer höheren Schülerzentrierung und einer höheren Motivation und Lernfreude wahrgenommen (vgl. Herzig & Grafe 2006: 65ff.). Wertet man darüber hinaus die mediendidaktische Forschung zu generellen Medieneffekten und zu Wirkungen spezifischer Medienmerkmale aus, so wird deutlich, dass z. B. neben der Wahl von Codierungsarten oder Gestaltungsformen insbesondere der Wahl des Lehrkonzepts eine besondere Bedeutung zukommt. Aber auch für das jeweilige Lehrkonzept gilt, dass es in seiner Wirkung – wie die Medienmerkmale und inhaltliche Aspekte des Medienangebots – in Wechselbeziehung zu den Merkmalen des Lernenden, insbesondere seinen Lernvoraussetzungen, zu sehen ist (vgl. Tulodziecki & Herzig 2004: 76ff.). Für die zukünftige Forschung bedeutet dies, dass für die Einschätzung des Lernerfolgs in medienunterstützten Lernarrangements eine Form der Auseinandersetzung notwendig ist, die noch stärker den Lernprozessen, den relevanten Lehr- und Lernhandlungen und den spezifischen Kontexten der Lernsituation Rechnung trägt. Die empirische Betrachtung lernförderlicher Wirkungen digitaler Medien zeigt, dass bestimmte Handlungsformen der Lehrpersonen und eine spezifische Art der Unterrichtsgestaltung wichtige Voraussetzungen für das Eintreten entsprechender Effekte darstellen.
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Medien als konstitutiver Bestandteil von Unterricht
Medienverwendung steht, wie bereits angedeutet, im Zusammenhang und in Wechselwirkung mit verschiedenen Komponenten von Lehr-Lernprozessen. Wird Unterricht grundsätzlich als lernförderliche Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden verstanden, dann lassen sich wichtige Komponenten von Unterricht modellartig wie folgt beschreiben (vgl. Tulodziecki, Herzig & Blömeke 2004: 130): Die Lernenden kommen mit bestimmten Lernvoraussetzungen in den Unterricht und führen dort bestimmte Lernaktivitäten durch, die gewisse Lerneffekte haben. Der Lehrende hat bestimmte Zielvorstellungen, führt entsprechende Lehrhandlungen aus und bildet auf Grund der Lernaktivitäten der Lernenden gewisse Annahmen zum Lernerfolg, die zu einer Modifizierung der Lehrhandlungen füh-
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ren können. Lernaktivitäten und Lehrhandlungen sind dabei immer mit bestimmten Inhalten, Erfahrungsformen bzw. Medien und Sozialformen verbunden und stehen im Kontext von Lerngruppe, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen. Diese Modellvorstellung lässt sich grafisch gemäß Abbildung 2 darstellen. Abbildung 2:
Modellvorstellung von Unterricht
Die Erfahrungsformen stellen wie Lernvoraussetzungen, Lernaktivitäten, Zielvorstellungen, Lehrhandlungen, Inhalte und Sozialformen eine konstitutive Komponente von Lehr-Lernveranstaltungen dar. Grundsätzlich können die Erfahrungsformen real, modellhaft, abbildhaft oder symbolisch sein (s. o.). Im Falle abbildhafter oder symbolischer bzw. technisch gestützter Erfahrungsformen treten die Medien in die Funktion dieser konstitutiven Komponente ein. Das bedeutet zugleich, dass die Erfahrungsformen bzw. Medien in einer Wechselbeziehung zu den anderen Komponenten von Unterricht stehen. Auch die dargestellten empirischen Ergebnisse zeigen die wechselseitigen Zusammenhänge und die Bedeutung der einzelnen Komponenten von Unterricht, z. B. die Lernvoraussetzungen, die Sozialformen oder verschiedene Merkmale von Medien, wie Sin-
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nesmodalitäten oder Codierungsformen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die didaktische Gestaltung des Unterrichts eine bedeutsame Rolle spielt.
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Didaktische Anforderungen an einen Unterricht mit Medien
Wertet man die didaktische und pädagogisch-psychologische Literatur unter der Frage aus, welche Grundsätze für Unterricht generell – und damit auch für Unterricht mit Computer und Internet – gelten sollen, so lassen sich folgende Forderungen formulieren (vgl. Tulodziecki, Herzig & Blömeke 2004: 77ff.): 1.
2.
3.
4.
Unterricht soll jeweils von einer – für die Lernenden bedeutsamen – Aufgabe ausgehen. Solche Aufgaben können Probleme, Entscheidungsfälle, Gestaltungs- und Beurteilungsaufgaben sein. Ein Problem kann z. B. in der Aufgabe bestehen, eine Verpackung zu entwickeln, die ein möglichst großes Fassungsvermögen aufweist und möglichst wenig Material bzw. Rohstoffe in der Herstellung benötigt. Ein Entscheidungsfall ist z. B. gegeben, wenn Jugendliche sich in die Rolle der Geschäftsleitung eines Betriebes versetzen sollen, in dem verschiedene Maßnahmen zu beschließen sind, um die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze zu sichern. Eine Gestaltungsaufgabe liegt z. B. vor, wenn sich eine Schülergruppe entschließt, eine Schülerzeitung zu produzieren. Eine Beurteilungsaufgabe besteht z. B. darin, einen Spielfilm zu analysieren und nach inhaltlichen und formalen Kriterien zu bewerten. Unterricht soll darauf gerichtet sein, vorhandene Kenntnisse oder Fertigkeiten zu einem Themengebiet zu aktivieren und – von dort ausgehend – eine Korrektur, Erweiterung, Ausdifferenzierung oder Integration von Kenntnissen und Vorstellungen zu erreichen. Unterricht soll eine aktive und kooperative Auseinandersetzung der Lernenden mit einer Aufgabe ermöglichen, indem – auf der Basis geeigneter Informationen – selbstständig Lösungswege entwickelt und erprobt werden. Unterricht soll den Vergleich unterschiedlicher Lösungen ermöglichen sowie eine Systematisierung und Anwendung angemessener Kenntnisse und Vorgehensweisen sowie deren Weiterführung und Reflexion.
Auf der Basis dieser Forderungen bietet sich folgende idealtypische Strukturierung des Unterrichts an (vgl. ebd.: 101ff.): Aufgabenstellung, Sammeln und Problematisieren spontaner Lösungsvermutungen, Zielvereinbarung,
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Verständigung über das Vorgehen, Erarbeitung von Grundlagen für die Aufgabenlösung, Durchführung der Aufgabenlösung, Vergleich von Lösungen und Zusammenfassung des Gelernten, Einführen von Anwendungsaufgaben und deren Bearbeitung, Weiterführung und Reflexion des Gelernten und der Lernwege.
Es stellt sich die Frage, an welchen Stellen in solchen Lehr- Lernprozessen computerbasierte Angebote eine anregende bzw. unterstützende Funktion wahrnehmen können. Bei den nachstehenden Überlegungen wird unterstellt, dass für den Unterricht hinreichend computerbasierte Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, die in ein Netz eingebunden sind. Unter dieser Bedingung lassen sich die einzelnen Phasen in einem unterrichtlichen Ablauf z. B. folgendermaßen gestalten: In der Phase der Aufgabenstellung können durch Rückgriff auf Filme, Bilder, Tonteile, Texte oder Simulationsprogramme, z. B. von einer CD-ROM, interessante Probleme, Entscheidungsfälle, Gestaltungs- oder Beurteilungsaufgaben eingeführt werden. Von solchen Präsentationen ausgehend, sollten dann im personal geführten Gespräch in der jeweiligen Lerngruppe spontane Lösungsvermutungen gesammelt und im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen Fragen problematisiert werden. In der Phase der Zielvereinbarung sollten die Ziele der Unterrichtseinheit oder des Projekts im personal geführten Gespräch festgelegt und ihre gegenwärtige oder zukünftige Bedeutung bedacht werden. Wenn es sich als sinnvoll erweist, können die Ziele in geeigneter Weise festgehalten werden. Die Phase der Verständigung über das Vorgehen sollte dem personal geführten Gespräch in der Lerngruppe vorbehalten bleiben. Dabei geht es darum, Fragen zusammenzutragen, die für die Bearbeitung der Aufgabe wichtig sind, und geeignete Vorgehensweisen abzustimmen. Der Vorgehensplan lässt sich dann – die Planungsphase abschließend – speichern, sodass sich alle Beteiligten über die Arbeitsschritte und von ihnen übernommene Aktivitäten jederzeit wieder informieren können. Dies ist besonders bei projektorientiertem Lernen – wie etwa der Erstellung einer Schülerzeitung – wichtig. In der Phase der Erarbeitung von Grundlagen für die Aufgabenlösung können über computerbasierte Arbeitsplätze Informationen abgerufen bzw. erarbeitet werden. Als Informationsquellen oder Lernhilfen lassen sich z. B. Filme, Bilder, Tonteile, Texte oder Werkzeuge verwenden. Die erarbeiteten Informationen können dann – als Grundlagen für die Aufgabenlösung – gespeichert und für alle Nutzer verfügbar gehalten werden.
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In der Phase der Aufgabenlösung geht es um das selbstständige Umdenken der erarbeiteten Informationen auf die eingangs gestellte Aufgabe. Dies kann in Einzel-, in Partner- oder in Kleingruppenarbeit geschehen. Dabei können u. U. computerbasierte Werkzeuge oder Präsentationshilfen verwendet werden. Wichtig ist in dieser Phase, dass die Computerprogramme nur Werkzeugfunktion übernehmen und Präsentationen nur als Gegenstand der Analyse dienen, sodass die eigentlichen Aufgabenlösungen selbstständig erarbeitet werden. Diese sollten dann dokumentiert und für die Präsentation aufgearbeitet werden. In der Phase des Vergleichs und der Zusammenfassung sollten die dokumentierten Aufgabenlösungen den anderen Mitgliedern der Lerngruppe zunächst präsentiert und dann personal kommentiert werden. Für den Vergleich und die Zusammenfassung ist das personal geführte Gespräch in der Lerngruppe sinnvoll und wünschenswert. Zusammenfassende Aussagen lassen sich abschließend in computergestützter Form festhalten bzw. für alle dokumentieren. In der Phase der Anwendung können – ähnlich wie in der Phase der Aufgabenstellung – interessante Anwendungsaufgaben mit Hilfe von Filmen, Bildern, Tonteilen, Texten oder Simulationsprogrammen, die sich über computerbasierte Arbeitsplätze abrufen lassen, eingeführt werden. Die Bearbeitung der Aufgaben muss dann allerdings selbstständig durch die Lernenden geleistet werden, wobei Computerprogramme und Präsentationshilfen wieder als Werkzeuge oder als Gegenstand der Analyse dienen können. Rückmeldungen zu den Aufgabenlösungen können im personal geführten Gespräch erfolgen. In der Phase der Weiterführung und Bewertung sind zunächst im personal geführten Gespräch Fragen zusammenzustellen, welche die Lernenden im Zusammenhang des Themas noch interessieren. Gegebenenfalls können zu den Fragen Informationen über computerbasierte Arbeitsplätze abgerufen werden. Ansonsten ist die personal geführte Diskussion für weiterführende Fragen wünschenswert. Die abschließende Reflexion und Bewertung des Gelernten und des Lernweges sollten dem personal geführten Gespräch überlassen bleiben. Dabei sollte auch die Verwendung computerbasierter Angebote selbst zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Die obigen Überlegungen beziehen sich auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen in einer bestimmten Lerngruppe. Durch die Internetverbindung mit anderen Schulen, Personengruppen oder Institutionen ergeben sich zusätzliche Möglichkeiten der Information und des Austausches. Diese können in verschiedenen Lern- und Arbeitsformen genutzt werden und unterschiedlichen Zwecken dienen, z. B.: a.
Präsentation von Arbeitsergebnissen: Eine Schulklasse kann z. B. das Ergebnis der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema, etwa mit der
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b.
c.
d.
e.
f.
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Frage der angeblichen Politikverdrossenheit von Jugendlichen, ins Netz stellen. Allgemeiner Informationsaustausch: Zwei oder mehr Lerngruppen oder Schulen können einen allgemeinen Informationsaustausch vereinbaren und pflegen, z. B. eine deutsche und eine französische Schulklasse. Gezielte Informationshilfe: Wird bei der Bearbeitung eines Themas vermutet, dass eine Partnerklasse, andere Personengruppen oder Institutionen zu diesem Thema wichtige Informationen geben können, lässt sich über das Internet gezielt um solche Informationen bitten, z. B. könnte eine französische Schulklasse um Informationen zum französischen Schulsystem gebeten werden. Parallel-vergleichende Bearbeitung eines Themas: Zwei oder mehr Lerngruppen können sich auf eine Aufgabe einigen, dazu parallel Informationen zusammentragen und Lösungen erarbeiten, die dann gegenseitig vorgestellt und im Vergleich diskutiert werden, z. B. die Beurteilung der Architektur in zwei verschiedenen Städten. Gemeinsame Bearbeitung eines Themas: Zwei oder mehr Lerngruppen können mit Hilfe von Telekommunikationsnetzen eine Aufgabe gemeinsam bearbeiten, z. B. die Bedeutung der Einführung des Euro für die europäische Wirtschaft. Gemeinsame Gestaltung eines Produkts oder einer Aktion: Zwei oder mehr Lerngruppen verständigen sich auf die gemeinsame Gestaltung eines Produkts oder einer Aktion und realisieren die Planung und/oder die Durchführung mit Hilfe des Internet, z. B. die gemeinsame Herausgabe einer Schülerzeitung.
Mit diesen Hinweisen sollten verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung von Unterricht durch computerbasierte Angebote aufgezeigt werden. Dabei sind in den Beispielen zum Aufweis der Möglichkeiten besonders viele Funktionen benannt worden, die prinzipiell von computerbasierten Angeboten übernommen werden könnten. Solche Funktionen sind:
Lernanregung und Lernhilfe, Informationsquelle, Werkzeug für die Erschließung von Informationen, Werkzeug für die Be- und Verarbeitung von Daten, Gegenstand von Analysen, Bereitstellung von Materialien für die eigenständige Bearbeitung, Instrument der Kommunikation und Kooperation, Instrument der Speicherung und der Präsentation von Arbeitsergebnissen.
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Der Aufweis verschiedener Funktionen von Medien in Lehr-Lernprozessen soll jedoch nicht besagen, dass alle diese Funktionen im einzelnen Lernprozess auch von computerbasierten Angeboten übernommen werden müssten bzw. sollten. Im konkreten Fall sollte die Medienverwendung von den jeweiligen Zielen, Inhalten und Lernvoraussetzungen abhängig gemacht werden. Dabei wird es zum Teil große Unterschiede zwischen der Medienverwendung in der Grundschule, der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II geben. Vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen lässt sich zusammenfassend formulieren: Computerbasierte Angebote können zur Verbesserung schulischen Lehrens und Lernens beitragen, wenn sie im Sinne problem-, entscheidungs-, gestaltungsund beurteilungsorientierter Unterrichtsprozesse gestaltet und verwendet werden. Eine lern- und entwicklungsfördernde Gestaltung ist dadurch gekennzeichnet, dass computerbasierte Beiträge – unter Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen – möglichst mehrere der folgenden Elemente enthalten:
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bedeutsame Aufgaben in Form von Problemstellungen, Entscheidungsfällen, Gestaltungs- und Beurteilungsaufgaben mit der Möglichkeit, diese in geeigneten Varianten zu präsentieren, aufgabenrelevante Informationsquellen, unter Umständen verbunden mit einzelnen Lernhilfen und Werkzeugen für die Erschließung von Informationen, Werkzeuge bzw. Instrumente zur Unterstützung bei Aufgabenlösungsprozessen, Material, das – insbesondere bei Beurteilungsaufgaben – als Analysegegenstand geeignet ist, Werkzeuge bzw. Instrumente, welche die Kommunikation und Kooperation unterstützen, Werkzeuge bzw. Instrumente, welche die Speicherung und die Präsentation von Ergebnissen ermöglichen, Aufgaben und Materialien, welche die Anwendung und Weiterführung von Lerninhalten anregen und unterstützen.
Aspekte der Unterrichtsvorbereitung mit Medien
Für die Vorbereitung eines Unterrichts mit der Verwendung vorhandener, nicht selbst erstellter, Medienangebote ist zunächst eine geeignete Vorauswahl zu treffen.
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Dazu können zwei Fragen eine erste Orientierung geben: 1.
2.
Welche Eigenschaften, insbesondere welche Darstellungsformen, Ablaufstrukturen und Gestaltungsformen, sollte das zu verwendende Medienangebot im Aspekt der unterrichtlichen Ziele und Inhalte sowie der anzunehmenden Lernvoraussetzungen haben? Welche Medienarten kommen demnach für die unterrichtliche Verwendung in Betracht?
Wenn ein geeignet erscheinendes Medienangebot vor-ausgewählt wurde, ist eine genauere Prüfung zu empfehlen. Diese kann an folgenden Analyse-, Entscheidungs- und Beurteilungsfragen orientiert sein: Analysefragen: 1. Welche Inhalte werden durch das mediale Angebot im Detail präsentiert? 2. Welche Gestaltungsmöglichkeiten werden im Einzelnen verwendet (Codierungsarten/ Sinnesmodalitäten/ Darstellungsformen/ Gestaltungstechniken/ Ablaufstruktur/ Gestaltungsformen)? 3. Welche Lernvoraussetzungen müssen für ein angemessenes Verständnis gegeben sein? 4. Welche Zielvorstellungen sind mit dem medialen Angebot verbunden? Entscheidungsfragen: 5. Für welche Phase des Unterrichts eignet sich das mediale Angebot bzw. eignen sich Teile davon – unter Berücksichtigung der Überlegungen in Abschnitt 5? 6. In welcher Sozialform soll das mediale Angebot verwendet werden? 7. Wie sollte der Unterricht insgesamt gestaltet werden? 8. An welchen Stellen sollte die Medienverwendung mit den Schülerinnen und Schülern reflektiert werden? Beurteilungsfragen: 9. Welche Einflüsse (und Nebenwirkungen) sind von der Medienverwendung in Bezug auf den Lernprozess und das Lernergebnis zu erwarten? 10. Wie sind die Einflüsse (und mögliche Nebenwirkungen) zu bewerten unter dem Aspekt themenspezifischer Zielvorstellungen? unter dem Aspekt übergreifender Zielvorstellungen? Auf der Basis von Überlegungen zu solchen Analyse-, Entscheidungs- und Beurteilungsfragen kann die Lehrperson eine sinnvolle Integration von vorhandenen
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Medienangeboten in den Unterricht vornehmen. Unter Umständen erweist es sich auch als sinnvoll, einzelne der obigen Fragen auszudifferenzieren oder umfangreichere Analyse- und Beurteilungsraster zu Hilfe zu nehmen (vgl. dazu z. B. Leufen 1996). Wählen Schülerinnen und Schüler für eigene Beiträge, z. B. Referate, vorhandene Medienangebote aus, sollten sie ebenfalls zu vorherigen Analysen – vor allem im Sinne der Fragen (1) bis (4) – angeregt werden, um auf dieser Grundlage sinnvolle Entscheidungen zur Einbettung der ausgewählten Medienangebote in ihre Beiträge treffen zu können. Die empirischen Daten zeigen, dass die Potenziale digitaler Medien im Unterricht noch nicht in jedem Fall und in jeder Hinsicht ausgeschöpft werden. Insofern klafft eine Lücke zwischen dem Stand der technischen Entwicklung, den vorhandenen Angeboten und Möglichkeiten und der Realisierung der Potenziale im Unterricht. Dies hängt mit einer gewissen Trägheit des Bildungssystems zusammen, in dem sich Reformbemühungen nur langsam etablieren. Neben bildungspolitischen Rahmenbedingungen, auch im Zusammenhang des föderalistischen Systems, oder finanziellen Einschränkungen ist auch die Ausbildung der Lehrpersonen eine wichtige Determinante in solchen Reformprozessen. Bis Ausund Weiterbildungssysteme auf die „Vermittlung“ entsprechender Kompetenzen zur angemessen und gewinnbringenden Integration digitaler Medien in Lehr- und Lernprozesse eingestellt sind, gilt es bereits wieder neue Entwicklungen zu berücksichtigen. Abschließend werden daher zukünftige Formen des medienunterstützten Lernens und die Anforderungen an Kompetenzen der Lehrpersonen in den Blick genommen.
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Zukünftige Formen medienbasierten Lernens
Das Lernen mit Medien wird in der jüngeren Vergangenheit verstärkt unter dem Begriff des mobilen Lernens diskutiert. Gemeint ist damit in der Regel die Verwendung mobiler Endgeräte, wie z. B. Notebooks, PDAs, Tablet-PCs oder Handys im Kontext von Lehr- und Lernprozessen. Das entscheidende Veränderungspotenzial solcher mobiler Technologien dürfte darin liegen, dass Lernende nun die Möglichkeit haben, individuelle und kollektive Lernumgebungen aufzubauen und zu nutzen, in denen sie sich „passend“ zu ihrer jeweiligen Lern- und Arbeitssituation „bewegen“ und dass Lernprozesse nun verstärkt auch außerhalb instutitionalisierter Orte stattfinden und mit der individuellen bzw. kollektiven Lernumgebung ver-
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bunden werden können (im Sinne der Verbindung von formellem und informellem Lernen). Insgesamt bezieht sich der Begriff des mobilen Lernens also vorrangig auf die mobilen technischen Artefakte, weniger auf das Lernen an sich. Lernen ist ohnehin schon immer „mobil“ gewesen und nicht an bestimmte Orte oder Zeiten gebunden (wenngleich es häufig an bestimmten Orten stattfindet). Allerdings verändern sich mit mobilen Technologien die Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Sachverhalten sowie mit anderen Menschen und die Möglichkeiten der Verarbeitung solcher Erfahrungen. Ob Medien Lernprozesse in sinnvoller und effektiver Weise unterstützen können, hängt im Wesentlichen auch davon ab, welche Lernaktivitäten damit angesprochen werden (s. o.). Motiviert werden kann eine Lernaktivität durch lernprozessanregende Aufgaben im Unterricht, durch individuelle Interessen oder durch situations- und bedürfnisbedingte Aktivitäten des Lernenden, z. B. beim informellen Lernen außerhalb der Schule. Eine – mit mobilen Technologien unterstütze – Lernaktivität besteht z. B. im Lesen eines Textes, im Annotieren eines Bildes, im Anhören eines Podcasts, im Beteiligen an einem Chat, im Einpflegen eines Artikels in die persönliche Lernumgebung, im Visualisieren eines Wissensnetzes, im Reflektieren über eine Problemlösung, in der Diskussion in einer Lerngruppe usw. (vgl. z. B. Conole et al. 2005). Lernende sind mit mobilen Endgeräten in solchen Lernaktivitäten nicht mehr eingeschränkt, sie können mit ihrer persönlichen – virtuellen – Lernumgebung ubiquitär interagieren, im Unterricht ebenso wie in der Freizeit. Dies setzt allerdings voraus, dass jeder Lernende eine Infrastruktur zur Verfügung hat, die ihm die Organisation, die Speicherung und Verarbeitung seiner Daten – in der Regel über drahtlose Netzwerke – erlaubt, z. B. auch unter Verwendung von Content- und LearningManagement-Systemen (vgl. Sharples et al. 2002: 17ff.). Mobile Technologien können vor allem helfen, Medienbrüche erfolgreich zu überwinden und damit Lernaktivitäten positiv beeinflussen. Wenn beispielsweise ein Schüler in der Natur eine Beobachtung macht, diese mit der Kamera fotografiert, das Bild dann auf einen PC überspielt und anschließend bearbeitet, so erzeugt dies Medienbrüche, die sich durch die Verwendung eines PDA mit integrierter Kamera und Funktelefon zur Verbindung mit der eigenen Lernumgebung umgehen lassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die Kooperation und Kollaboration mit anderen Lernenden, die über mobile Endgeräte ebenfalls jederzeit möglich ist. Derartige Szenarien ließen sich weitere denken und sie machen deutlich, dass sie auch für das lebenslange Lernen außerhalb bestimmter Bildungsgänge von besonderem Wert sind (vgl. Vavoula 2004). In der realen
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Umsetzung stehen diesen Szenarien allerdings häufig verschiedene Aspekte entgegen (vgl. z. B. McLean 2003), z. B.
begrenzte Speicherkapazitäten, zu kleine Bildschirme, fehlende dauerhafte Netzanbindung, keine interoperablen Lösungen (d. h. Unabhängigkeit von Betriebssystemen u. ä.), noch unzureichend entwickelte Lernumgebungen und LernmanagementSysteme, zu hohe (Verbindungs-)Kosten, ungeklärte Sicherheitsaspekte.
Ein permanenter Zugriff auf eine persönliche Lernumgebung, die jederzeitige Verbindung über Kommunikationsschnittstellen und die allerortige Verfügbarkeit von Lernressourcen sind für Lernprozesse Heranwachsender allerdings erst dann gewinnbringend, wenn Ressourcen auch für Lernende auffindbar und einschätzbar sind. Mobile Kommunikation entlastet nicht von der Fähigkeit, Informationen auswählen und – im Hinblick auf die eigenen Lernvoraussetzungen, Lernziele oder Lernbedürfnisse – beurteilen zu können. Da diese Kompetenz bei Schülerinnen und Schülern nicht vorausgesetzt werden kann, sondern sukzessive zu entwickeln ist, müssen Lernressourcen als solche mit relevanten Hinweisen gekennzeichnet werden. Solche Lernobjekte sind digitale Materialien, die mit Hilfe von Metadaten (LOMs – Learning Object Metadates) kategorisiert werden, z. B. zu inhaltlichen Aspekten, zum Interaktionsgrad, zur Schwierigkeit, zur erforderlichen Lernzeit oder zur Art des Objektes (z. B. Übung, Test, Experiment, …; vgl. z. B. Wiley 2000; Koper 2004). Lernobjekte sind neben ihrer Wiederverwendbarkeit insbesondere durch ihre Granularität ausgezeichnet, d. h. sie sind nur wenig komplex und daher grundsätzlich auch für mobile Anwendungen gut geeignet. Allerdings gibt es bisher noch keine hinreichend praktikable Standardlösung für Metadaten. Ob mobile Technologien im Unterricht und im außerschulischen Bereich zur Erprobung kommen und welche Erfahrungen dabei gesammelt werden können, ist nicht zuletzt auch von den Lehrpersonen abhängig. Szenarien wie die oben skizzierten sind mit einer Vorstellung von Lernen als einem eigenaktiven und konstruktiven Prozess verbunden, in dem Lernende Anregungen aus der Umwelt aufnehmen, vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungen und Kenntnisse verarbeiten und in vorhandene Strukturen integrieren oder neue Strukturen entwickeln. Diese Auffassung vom Lernen ist mit der Verwendung mobiler Technologien gut vereinbar, der alltäglichen Unterrichtskultur entspricht
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sie allerdings noch nicht. Wenn Schülerinnen und Schüler mit mobilen Technologien ihre Lernprozesse zunehmend selbst organisieren, Lernergebnisse selbst verwalten und Medien als Denkwerkzeuge nutzen, dann müssen Lehrpersonen medienpädagogisch ausgebildet sein – und dies ist in Deutschland ebenso wie in anderen Staaten alles andere als gängige Praxis (vgl. z. B. Timmis et al. 2004; Herzig 2007).
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Anforderungen an Lehrpersonen: medienpädagogische Kompetenz
Inwieweit die Entwicklung von Medienkompetenz in der Schule gelingt, hängt in besonderer Weise von den medienpädagogischen Kompetenzen der Lehrpersonen ab. Die Entwicklung solcher Kompetenzen geschieht vor dem Hintergrund folgender medienbezogener Zielvorstellungen in der Lehrerbildung:
Stärkung der Medienkompetenz einschließlich der technischen Handhabung von Medien und Informationstechnologien, Erwerb von Kenntnissen zur und Sensibilität für die Bedeutung von Medien für Kinder und Jugendliche, Befähigung zur reflektierten Nutzung von Medien und Informationstechnologien für Lehren und Lernen, Befähigung zur Wahrnehmung von Erziehungs- und Bildungsaufgaben im Bereich von Medien und Informationstechnologien, Befähigung zur Mitwirkung an der Gestaltung medienpädagogischer Konzepte in der Schule.
Auf dieser Basis lassen sich folgende Kompetenzbereiche unterscheiden (vgl. z. B. Blömeke 2000; MSWWF 2000: Abbildung 3).
Eigene Medienkompetenz: Als eine grundlegende Voraussetzung medienpädagogischen Handelns kann die eigene Medienkompetenz betrachtet werden, d. h. die Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. Kompetenzaspekte in den verschiedenen Aufgabenbereichen Auswählen und Nutzen von Medienangeboten, Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge, Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen, Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen, Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung.
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Bardo Herzig Dies ergibt sich schon deshalb, weil auch Lehrpersonen zunächst einmal Mediennutzer sind und davon auszugehen ist, dass ihr Nutzungsverhalten und ihre subjektiven Theorien über verschiedene Aspekte von Medien nicht ohne Einfluss auf die unterrichtliche Verwendung von bzw. auf die Auseinandersetzung mit Medien bleiben. Sozialisationsbezogene Kompetenz im Medienzusammenhang: Für kompetentes medienpädagogisches Handeln ist es wichtig, die Bedeutung der Medien für die Kinder und Jugendlichen im Sinne ihrer sozialisatorischen Wirkung zu kennen und einschätzen zu können. Diese Fähigkeit ist nicht zuletzt deshalb so bedeutsam, weil Kinder und Jugendliche einen beträchtlichen Teil ihres „Weltwissens“ – d. h. ihrer Vorstelllungen über verschiedene Wirklichkeitsbereiche oder ihrer Verhaltens- und Wertorientierungen – nicht durch unmittelbare, sondern über mittelbare, mediale Erfahrungen erwerben und entwickeln. Diese Vorstellungen, Erfahrungen und Orientierungen gehen im Sinne einer Lernvoraussetzung in schulische Lernprozesse ein und bedürfen einer entsprechenden Berücksichtigung durch die Lehrperson. Die Kenntnis der Medienausstattung von Kindern und Jugendlichen, die Öffnung für ihre Medienwelt und ihr Medienerleben sowie die Kenntnis ihres Nutzungsverhalten und die damit verbundenen Bedürfnisse stellen eine wichtige Voraussetzung erfolgreichen medienpädagogischen Handelns dar. Ebenso ist es wichtig, Ergebnisse der Medienwirkungsforschung zu kennen und in ihrer Aussagekraft für verschiedene Problemlagen bei der Mediennutzung einschätzen zu können. Daneben gilt es, geschlechtsspezifische oder sozial bedingte Nutzungsmuster und ggf. vorhandene Spannungsverhältnisse zwischen außerschulischem Medienkonsum und Schule zu berücksichtigen. Mediendidaktische Kompetenz: Lehrerinnen und Lehrer müssen außerdem in der Lage sein, Medienangebote in reflektierter Weise in ihrem Unterricht zu verwenden. Dieser mediendidaktische Kompetenzaspekt umfasst die Fähigkeiten, Medienangebote nach lernrelevanten Kriterien zu analysieren, zu bewerten und auszuwählen. Dazu ist es notwendig, über entsprechende Analyse- und Bewertungskriterien zu verfügen, lehr- und lerntheoretische Ansätze und ihre Bedeutung für die Gestaltung von medienunterstützten Unterrichtsprozessen zu kennen und einschätzen zu können sowie Forschungsergebnisse aus der empirischen Medienforschung zu rezipieren, auswerten zu können und bei der Gestaltung von Lehr- und Lernsituationen zu berücksichtigen. Dies schließt ein, Medienangebote in ihren Funktionen und den damit verbundenen lernförderlichen Potenzialen zu reflektieren und für die Gestaltung zeitgemäßer Lern- und Arbeitsformen in angemessener Weise zu nutzen (vgl. Tulodziecki & Herzig 2002: 58-71).
Medieneinsatz im Unterricht Abbildung 3:
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Medienpädagogische Kompetenz
Medienerzieherische Kompetenz: Unter medienerzieherischer Kompetenz wird die Fähigkeit verstanden, Medienthemen in angemessener Weise im Unterricht zu behandeln, d. h. die Bedeutung von Medien für inhaltliche und methodische, fachliche und fächerübergreifende Fragen zu bedenken sowie Lernprozesse im Sinne von Erziehungs- und Bildungsaufgaben im Medienbereich bei den Schülerinnen und Schülern zu initiieren und zu begleiten. Zur Wahrnehmung von Erziehungs- und Bildungsaufgaben im Medienbereich ist es wichtig, Leitideen und Konzepte der Medienerziehung in ihren historischen und systematischen Dimensionen zu kennen und einschätzen zu können, ebenso wie konzeptionelle Überlegungen zur informations- und kommunikationstechnologischen Grundbildung. Hinzu kommt die Bereitschaft, aktuelle bildungspolitische Entwicklungen und curriculare Entwürfe zu rezipieren und in ihrem Stellenwert für die Umsetzung me-
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Bardo Herzig dienerzieherischer Aktivitäten in den eigenen Fächern auszuwerten. Das bedeutet auch, die Veränderung von Fachinhalten aufgrund der Medienentwicklung zu erfassen und angemessen in die Gestaltung von Unterricht aufzunehmen (vgl. ebd. 122-159). Schulentwicklungsbezogene Kompetenz: Da Medienpädagogik in der Schule keinen eigenständigen Lernbereich darstellt, müssen medienpädagogische Aktivitäten entweder im Kontext des Fachunterrichts oder in gesonderten Organisationsformen, z. B. an Projekttagen oder in Projektwochen, durchgeführt werden. Damit diese Aktivitäten aber keine singulären und einmaligen Aktivitäten bleiben, ist es erforderlich, medienpädagogische Aktivitäten in ein schulbezogenes medienpädagogisches Konzept einzubetten und dauerhaft curricular zu verankern. Erst auf diese Weise kann es gelingen, Schülerinnen und Schülern den Erwerb einer umfassenden Medienbildung in Auseinandersetzung mit Fragestellungen der verschiedenen Inhalts- und Aufgabenbereiche und mit verschiedenen – traditionellen und computerbasierten – Medien zu ermöglichen. Damit ist eine schulentwicklungsbezogene Kompetenz angesprochen, personale und institutionelle Bedingungen für medienpädagogische Umsetzungen in der Schule zu durchschauen, d. h. die Bedeutung der Medien für Fragen der Professionalität des Lehrberufs zu reflektieren, schulische Bedingungen der Medienverwendung sowie Medienerziehung bzw. Medienbildung zu bedenken und Ideen für die schulische Umsetzung zu entwickeln und zu realisieren. Dies schließt ein, die eigene Rolle als Lehrperson im Kontext der Medienentwicklung und damit verbundener Veränderungen auf der Ebene von Schule und Unterricht zu reflektieren (vgl. ebd. 160-189).
Die Skizze der medienpädagogischen Kompetenzen zeigt auch, dass die Verwendung von Medien im Unterricht – die im Fokus dieses Beitrags steht – nur einen Teil der medienpädagogischen Ausbildung von Lehrpersonen ausmacht und insgesamt in einem breiteren Kontext zu diskutieren ist (zu Fragen der Medienerziehung vgl. z. B. Tulodziecki 1997, Spanhel 2006).
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Bardo Herzig
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Medieneinsatz im Unterricht
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Vertrauen im Klassenzimmer Martin K.W. Schweer
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Einleitung
„Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt.“ (Franz Kafka) Vertrauen ist ein jedem Menschen vertrautes und erfahrbares Phänomen, dennoch ist die Frage nach dem Kern, dem Wesen des Vertrauens wissenschaftlich nicht leicht zu beantworten. Konsens besteht allerdings dahingehend, dass Vertrauen eine soziale und personale Ressource darstellt und sich positiv auf das Gelingen zwischenmenschlicher Interaktionen auswirkt. Aus psychologischer Perspektive ist Vertrauen darüber hinaus eng mit Aspekten der sozialen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung verbunden und befriedigt zentrale Sicherheits- und Kontrollbedürfnisse (s. zusammenfassend Schweer & Thies 2004). Dies gilt auch für pädagogische Beziehungen: Seit den Anfängen der Pädagogik hat es immer wieder Positionen gegeben, die Erziehung ohne Vertrauen als zum Scheitern verurteilt sehen. Wenn auch mit geringerer Intensität, so finden sich dennoch Auffassungen, die im Vertrauen ein Gefährdungspotential für die kindliche Autonomie sehen. Betrachtet man allerdings die inzwischen zahlreich vorliegenden Befunde zum Vertrauen von Schülern, zeigen sich überwiegend positive Korrelate von Vertrauen: Vertrauen stellt ein wesentliches Merkmal für die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung dar, darüber hinaus hat Vertrauen einen angstmindernden und leistungsförderlichen Effekt. In diesem Beitrag werden, ausgehend von der interdisziplinären Vertrauensforschung, wesentliche Grundannahmen zur Relevanz von Vertrauen in seiner gesellschaftsstrukturierenden Funktion erörtert. Darauf aufbauend folgen im Rahmen eines kurzen historischen Abrisses Einlassungen zur pädagogischen Beziehung. Im Hauptteil werden sodann auf der Basis der differentiellen Vertrauenstheorie zentrale vertrauensrelevante Grundannahmen ebenso erörtert wie empirische Befunde dargestellt, die zusammengenommen zeigen, dass es sich lohnt, das Wagnis des Vertrauens einzugehen.
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Martin K.W. Schweer Vertrauen als Fundament sozialer Beziehungen
Mit Niklas Luhmann (1989) lässt sich als zentrale Funktion erlebten Vertrauens die Komplexitätsreduktion ausmachen: In der heutigen vielschichtigen und zum Teil unüberschaubaren Welt sind Mechanismen erforderlich, um Komplexität zu vermindern - dies gilt auf der personalen Ebene vor allem deshalb, da Individuen bei einem zu hohen Komplexitätsgrad und den damit verbundenen widersprüchlichen Optionen ihre Handlungsfähigkeit verlieren. Vertrauen reduziert auf diese Weise die Komplexität sozialer Wirklichkeit und fungiert als eine Art Wahrnehmungsfilter: „Wo es Vertrauen gibt, gibt es mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, steigt die Komplexität des sozialen Systems, also die Zahl der Möglichkeiten, die er mit seiner Struktur vereinbaren kann, weil im Vertrauen eine wirksame Form der Reduktion von Komplexität zur Verfügung steht.” (Luhmann 1989: 7f.)
Ähnlich beschreibt auch Geramanis (2002) Vertrauen als (soziale) Ressource bzw. als Kapital, das Handeln durch Komplexitätsreduzierung der Umwelt ermöglicht. Vertrauen ist hierbei insofern problematisch, als das Gewähren von Vertrauen mit einer Art Vorleistung verbunden ist, die Erwartungen und Hoffnungen auf eine Gegenleistung in der Zukunft erzeugt. Beide Akteure gewähren sich also auf dieser Basis Kredit, so schaffen und erhalten sie soziales Kapital. Uslaner (2002) konzipiert Vertrauen als einen gesellschaftlich-moralischen Wert („moralistic trust“), welcher das Funktionieren einer Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Ihm geht es speziell um das Vertrauen in Mitmenschen außerhalb des sozialen Nahraums, ein solches Grundvertrauen („generalized trust“) ist deshalb möglich, da diese anderen ähnliche Werte teilen wie man selbst, darauf fußt letztendlich das Vertrauen. Ein solches Grundvertrauen nimmt allerdings bei wahrgenommener ökonomischer Ungleichheit ab, darüber hinaus kann dieses Vertrauen sehr spezifisch auf die eigene Gruppe bezogen sein („particularized trust“). Dies gilt nach Uslaner vor allem in gesellschaftlich benachteiligten Gruppen (so etwa innerhalb der schwarzen Bevölkerung der USA). Cocard (2003) kommt im Rahmen einer Sekundäranalyse eines Forschungsprojekts zu den Zukunftsvorstellungen von Jugendlichen und Heranwachsenden zu dem Schluss, dass der Wunsch nach vertrauensvollen Beziehungen letztendlich ein Grundbedürfnis darstellt, das sich positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt. Vertrauen lässt sich ferner als soziale Einstellung begreifen, die aus den vergangenen Sozialisationserfahrungen resultiert (u. a. Lewis & Weigert 1985; Narowski 1974; Rotter 1981). Vertrauen beinhaltet insofern stets eine kognitive, eine emotionale und eine behaviorale Komponente: Die kognitive Komponente
Vertrauen im Klassenzimmer
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umfasst das Wissen bzw. Quasi-Wissen über den Interaktionspartner, die emotionale Komponente bezieht sich auf die Gefühle und Empfindungen, welche dem Interaktionspartner entgegengebracht werden, die behaviorale Komponente meint schließlich das offene Verhalten, das ihm gegenüber gezeigt wird. Zusätzlich zu der rein kognitiven Bewertung ist Vertrauen also immer auch mit einer affektiven bzw. evaluativen Komponente verknüpft, die zu einer positiven Bewertung des Vertrauensobjekts führt; McAllister (1995) etwa unterscheidet in dieser Hinsicht explizit zwischen kognitivem und affektivem Vertrauen. Dadurch, dass eine Person einem Interaktionspartner Vertrauen entgegenbringt, wird dessen Verhalten subjektiv vorhersehbar. So „weiß” beispielsweise der vertrauende Schüler, dass seine Lehrerin ihn gerecht beurteilen wird, der vertrauende Lehrer „weiß”, dass seine Schülerin ihn nicht belügen wird, die vertrauende Schulleiterin „weiß”, dass ihre Kolleginnen und Kollegen ihren pädagogischen Verpflichtungen gewissenhaft nachgehen. Durch das Erleben von Vertrauen kommen somit subjektiv nur ganz bestimmte Verhaltensalternativen und Handlungsausgänge in Frage, andere werden folgerichtig als nicht wahrscheinlich von der eigenen Planung ausgeschlossen. Vertrauen ist dabei natürlich immer mit einem Risiko verbunden, investiertes Vertrauen kann prinzipiell enttäuscht werden (u. a. Boon & Holmes 1991), Vertrauen ist eine Entscheidung gegen Kontrolle (Plötner 1995). Nach Ripperger (1998) impliziert Vertrauen endogene (also durch den Interaktionspartner verursachte) Risiken. Solche endogenen Risiken liegen in der mangelnden Kompetenz des Interaktionspartners oder aber auch in der potentiellen Intention, schädigendes Verhalten zu realisieren. Nach Ripperger vertraut man also darauf, dass der Interaktionspartner eben kein solches Verhalten zeigen wird. Schließlich gründet sich Vertrauen auf Reziprozität; investiert ein Individuum Vertrauen, ist dies mit der Erwartung verbunden, dass der entsprechende Interaktionspartner ebenfalls Vertrauen investiert („Norm der Reziprozität“, s. a. Gouldner 1984). Die entsprechende Dekodierung bzw. Entschlüsselung von Vertrauen, also das Erkennen, dass der Interaktionspartner ebenfalls Vertrauen investiert, kann auf der interaktionalen Ebene letztendlich nur über realisierte Vertrauenshandlungen erfolgen: Wenn der Interaktionspartner beispielsweise persönliche Dinge preisgibt, die ihm Schaden zufügen könnten, lässt sich dies als Vertrauenshandlung auffassen, anhand derer man das Vertrauen des anderen erkennt. In so genannten symmetrischen Beziehungen (etwa Partner- oder Freundschaften) wird Vertrauen vielfach über Vertrauenshandlungen realisiert und gefestigt, auf professionelle Beziehungen lässt sich dies allerdings nicht direkt übertragen: So zeigen empirische Befunde zur asymmetrischen Lehrer-Schüler-Beziehung, dass hier vielfach Dekodierungsprobleme dahingehend entstehen, dass ein großer Teil der Schüler nicht erkennt, ob der Lehrer Vertrauen investiert. Aber Lehrer verkennen oftmals
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Martin K.W. Schweer
ebenfalls das Vertrauen ihrer Schüler: Zum einen unterliegt ein vertrauender Schüler, der aufgrund des erlebten Vertrauens eine Vertrauenshandlung realisiert, oftmals dem Strategieverdacht (s. a. Schweer 1996), zum anderen realisieren auch vertrauende Interaktionspartner nur dann eine Vertrauenshandlung, wenn hierzu ein konkreter Anlass besteht (etwa das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen; die Notwendigkeit, jemanden um Hilfe zu bitten usw.). Von daher wird das wahrgenommene Vertrauen eines Interaktionspartners der Intensität des eigenen Vertrauenserlebens angeglichen, die tatsächlichen Vertrauensintensitäten beider Personen divergieren allerdings oftmals erheblich (u. a. Thies 2002a). Eine nähere Betrachtung des Merkmals Reziprozität weist ferner auf die Bedeutung eines weiteren terminologischen Unterschiedes hin, nämlich der Abgrenzung von personalem und systemischem Vertrauen (s. a. Schweer & Thies 2003): Im Gegensatz zum personalen Vertrauen, also dem Vertrauen in einen konkreten Interaktionspartner, ist im Falle des systemischen Vertrauens, also des Vertrauens in eine Organisation oder Institution (z. B. eine Partei, die Gesellschaft, die Kirche), der Faktor Reziprozität deutlich schwerer zu realisieren, da eine Organisation oder Institution nur schwerlich eine Vertrauenshandlung gegenüber einer einzelnen Person realisieren kann (in der Regel kann dies ja nur über vertrauenswürdige Repräsentanten gelingen).
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Vertrauen in Erziehung und Unterricht
3.1 Vertrauen als Fundament pädagogischer Beziehungen – ein kurzer historischer Abriss Bereits seit der Antike gilt Vertrauen zwischen Erzieher und Zögling als zentrales Fundament von Erziehung und Bildung (für einen Überblick über pädagogische Zugänge zur Lehrer-Schüler-Beziehung s. Giesecke 1997). Dies gilt vor allem für normative Pädagogiken, wie sie etwa bei Pestalozzi oder auch in der Reformpädagogik, insbesondere bei Nohl, zu finden sind: Bereits im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wurde die Bedeutung der persönlichen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler für den pädagogischen Erfolg fokussiert; im Mittelpunkt jeglicher pädagogischer Intervention steht der Zu-Erziehende mit seiner individuellen Persönlichkeit, vorrangig vor den zu vermittelnden Wissensinhalten. Als Fundament von Erziehung und Bildung wurde vor diesem Hintergrund der Pädagogische Bezug betrachtet:
Vertrauen im Klassenzimmer
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„Die Grundlage der Erziehung ist [...] das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und seiner Form komme.” (Nohl 1988: 166)
Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist hierbei durch gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet, sie wird von beiden Seiten gleichermaßen aktiv (mit)gestaltet. Diese Grundannahme früher geisteswissenschaftlicher Pädagogen wurde in den 1970er Jahren wieder von Vertretern der kommunikativen Didaktik aufgegriffen (u. a. Schäfer & Schaller 1976; Schaller 1978) – Erziehung und Bildung ist nur in einem pädagogischen Klima möglich, das sich durch gegenseitiges Vertrauen auszeichnet; hierfür ist die Achtung der Persönlichkeit des Anderen notwendige Voraussetzung. In der wissenschaftlichen Diskussion gab und gibt es aber auch immer kritische Stimmen zum Vertrauen: Vertrauen habe einen stark affektiven Charakter, lasse deshalb professionelles Handeln nicht zu und ersticke folglich die Autonomiebestrebungen von Zu-Erziehenden im Keim. Gerade im Rahmen der Professionalisierungsdebatte standen viele Pädagogen dem Vertrauen äußerst skeptisch gegenüber (s. zusammenfassend Uhle 1997). Grasshoff, Höblich, Stelmaszyk & Ullrich (2006) verweisen etwa auf Probleme, zu denen eine (zu) enge LehrerSchüler-Beziehung führen kann, mögliche Risiken sehen sie in einer Intimisierung und Entgrenzung des pädagogischen Verhältnisses. Prinzipiell besteht die Gefahr, dass Schüler unbewusst für die Erfüllung der persönlichen Ambitionen und Nähe-Bedürfnisse des Lehrers instrumentalisiert und dadurch in ihren eigenen adoleszenten Ablösungsprozessen behindert werden könnten. Jedoch betonen die Autoren auch die Chancen, die in einer gelungenen Lehrer-Schüler-Beziehung liegen: Die Lehrperson eröffnet dem Schüler einen entwicklungsproduktiven Raum emotionaler, kognitiver und sozialer Anerkennung. Durch haltgebende Unterstützung lassen sich dann idealiter auch außerschulische Probleme und familiäre Defizite bearbeiten, aber auch besondere künstlerische und intellektuelle Herausforderungen sowie zusätzliche Entwicklungsimpulse können ausgelöst werden. In jüngerer Zeit betonen Pädagogen, vor allem solche, die sich in humanistischer Tradition begreifen, wieder vermehrt die Relevanz von Vertrauen für Erziehung und Bildung (u. a. Potschka 1988, 1996; Weinhold 1998). Auch Erkenntnisse aus der Social-Support-Forschung unterstützen die Forderung nach Vertrauen als Basisvariable der Lehrer-Schüler-Beziehung dergestalt, dass die pädagogische Unterstützung als eine Form des Social Support die Selbstachtung steigert (Colarossi & Eccles 2003). Vertrauen und Selbstvertrauen können demnach auch in Lehr-Lern-Prozessen gefördert werden. Darüber hinaus haben vertrauensvolle Beziehungen positive Auswirkungen auf das Gelingen präventiver
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und intervenierender Maßnahmen. Dies betrifft sowohl nicht-intendiertes Vorbildverhalten des Lehrers als auch gezielte Strategien, etwa zur Verhinderung aggressiven Verhaltens unter Schülern. Solche Maßnahmen können allerdings nur dann gelingen, wenn die Schüler überzeugt sind, dass sie zum Wohle aller erfolgen (Schweer & Padberg 2002).
3.2 Kernannahmen der differentiellen Vertrauenstheorie Die im wissenschaftlichen Diskurs vorliegenden zentralen Vertrauenstheorien lassen sich dahingehend unterscheiden, ob sie Vertrauen als personale Variable im Sinne einer situationsübergreifenden und zeitlich stabilen Persönlichkeitsdisposition begreifen (vor allem Rotter 1971, 1981; für eine psychodynamische Position s. u. a. Erikson 1966), oder aber situativ konzipieren (Deutsch 1958), so dass Vertrauen durch Aspekte der Interaktionssituation evoziert wird und zu kooperativem Verhalten führen kann. Zusammenfassend sind solche theoretischen Konzeptionen deswegen aus heutiger Sicht kritisch zu betrachten, da sich Vertrauen immer aus personalen und situativen Variablen sowie deren Verschränkung speist. Vertrauen besitzt eine der Beziehung immanente Dynamik, Intensitäten können sich intensivieren oder auch abschwächen (s. a. das Konzept der progressiven vs. retrogressiven Vertrauensentwicklung, Schweer 1996). Diesem Umstand trägt die differentielle Vertrauenstheorie Rechnung (Schweer 1996, 1997a) – betrachtet man die Entwicklung von Vertrauen als Ergebnis des Wechselspiels personaler und situationaler Faktoren, wird hierdurch impliziert, dass sich die Entwicklung resp. Nicht-Entwicklung von Vertrauen nur unter Kenntnis der spezifischen Bedingungskonstellation zuverlässig prognostizieren lässt (Schweer 1997a). D. h. Vertrauen entwickelt, stabilisiert oder verändert sich niemals losgelöst von dem spezifischen situativen Kontext (s. bereits Lewin 1935): Ver = f (P,S). Im Rahmen der Differentiellen Vertrauenstheorie spielen demnach situationale Rahmenbedingungen ebenso eine Rolle wie personale Antezedenzien (s. Abb. 1).
3.2.1 Situative Rahmenbedingungen Als besonders bedeutsame Komponenten des situativen Kontexts lassen sich die Freiwilligkeit und Machtverteilung innerhalb von Beziehungen benennen: Bei der Lehrer-Schüler-Beziehung handelt es sich zunächst um eine nicht freiwillige Beziehungsform, denn beide Seiten können ja nicht entscheiden, ob sie miteinander in Kontakt treten wollen oder nicht. Solche Beziehungen sind oftmals
Vertrauen im Klassenzimmer Abbildung 1:
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Kernmerkmale der differentiellen Vertrauenstheorie
Situative Rahmenbedingungen: (u. a. Asymmetrie der Beziehungsstruktur, mangelnde Freiwilligkeit der Beziehung, formal reglementierte Kommunikationskanäle, zeitliche Begrenztheit) Personale Faktoren: implizite Vertrauenstheorie
individuelle Vertrauenstheorie
Qualität des Anfangskontakts (Sympathie / Antipathie)
Vertrauensdiskordanz
retrogressive Vertrauensentwicklung
Vertrauenskonkordanz
progressive Vertrauensentwicklung
(wirkt auf) (positive bzw. negative Wahrnehmungsverschiebungen durch subjektive Informationsverarbeitungsprozesse) durch ein formales Machtgefälle gekennzeichnet, d. h. eine Seite (in diesem Fall der Lehrer) verfügt über ein größeres Machtpotential. Die Freizeitbeziehungen in
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Martin K.W. Schweer
einem Sportverein sind hingegen freiwilliger Natur – beide Seiten können prinzipiell jederzeit den Kontakt zum Interaktionspartner abbrechen. Für die Frage des Vertrauens zwischen den Interaktionspartnern spielt der Aspekt der Freiwilligkeit eine wesentliche Rolle: Während nämlich in einer freiwilligen Beziehung das Risiko zu vertrauen für beide Seiten gleich ist, verschieben sich die Verhältnisse bei bestehender Machtungleichheit – hier ist das Risiko für die rangniedrigere Person größer (Schweer 1998). Von daher sollten einseitige Vorleistungen, die erforderlich sind, um den Vertrauensprozess in Gang zu bringen, zunächst von Seiten der ranghöheren Person ausgehen (Schweer 1997a). In diesem Sinn sollte also zunächst der Lehrer mit einer Vertrauensvorleistung (z. B. Verzicht auf Kontrolle, Übertragung von Verantwortung) auf seine Schüler zugehen. Eine weitere Gefahr bei ungleichen Machtverhältnissen besteht in der Wahrnehmung des Interaktionspartners. Die Person mit größeren Machtmitteln ist eher geneigt, „auf-den-ersten-Blick-vertrauenswürdiges Handeln” als strategisch zur Erlangung eines Vorteils zu interpretieren (Jones & Pittman 1982). Insofern wird dem Interaktionspartner (obwohl oftmals positiv intendiert) eine negative Absicht zugeschrieben; Vertrauen wird dann natürlich nicht gefördert, eher das Gegenteil wird der Fall sein. Schließlich: Hat sich erst einmal in einer nicht-freiwilligen Beziehung Vertrauen etabliert, wird sich längerfristig ein positiver Kreislauf stabilisieren. Im umgekehrten Fall jedoch besteht keinerlei Möglichkeit, die Interaktionsbeziehung zu beenden. Für die Lehrer-Schüler-Beziehung bedeutet dies: Der Schüler kann sich ebenso wenig einen neuen Lehrer aussuchen wie der Lehrer seine Klasse abgeben kann. An die Stelle von Vertrauen kann hier sehr schnell ein durch Misstrauen geprägtes Klima treten, ohne dass man der Situation entfliehen kann; aggressive Handlungstendenzen oder aber nach innen gerichtete Reaktionen (u. a. innere Kündigung, Frustration, Resignation) sind dann mögliche Kompensationsversuche (Neubauer 1997). Eine weitere zentrale situative Variable ist die zeitliche Dauer der Beziehung: Vertrauen zwischen zwei Personen entwickelt sich i. d. R. über die Zeit (Petermann 1997; Schwab 1997); von daher ist für den Vertrauensprozess zu unterscheiden, ob die Beziehung auf einen längeren Zeitraum (z. B. Vorgesetzten-Mitarbeiter-Beziehung) oder aber nur relativ kurzfristig (z. B. FachlehrerFachschüler-Beziehung) angelegt ist. Für den schulischen Bereich sind je nach konkretem Einzelfall beide Varianten denkbar. Natürlich bedeutet diese Vorbedingung nicht, dass sich nicht auch in kurzfristigen Konstellationen intensive Vertrauensverhältnisse etablieren können; eine größere Chance bietet sich hierfür aber in zeitlich längerfristigen Beziehungen.
Vertrauen im Klassenzimmer
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Last but not least ist das organisationales Umfeld bei der Analyse und Förderung von Vertrauensbeziehungen zu beachten: Die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter ist in ein konkretes Unternehmensumfeld eingebettet, die Beziehung zwischen Arzt und Patient vollzieht sich z. B. unter den Rahmenbedingungen einer konkreten Krankenhausstruktur, die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler findet unter den Rahmenbedingungen eines konkreten schulischen Umfeldes und damit verbundenen Schulprofils und -klimas statt. Zu einem bestimmten Grad werden demnach aufgrund der jeweiligen Spezifika des organisationalen Umfeldes die Interaktionssequenzen prädeterminiert (s. u. a. Pekrun 1994), wodurch wiederum der Prozess der Vertrauensentwicklung modifiziert wird. So können etwa Lehrer und Schüler nicht darüber diskutieren, ob die Schüler benotet werden sollen oder aber wie viele Unterrichtsstunden absolviert werden müssen – diese Entscheidungen sind von außen festgelegt, sie entziehen sich der Kontrolle der Interaktionspartner. Gleiches gilt für die Verteilung der formalen Machtmittel innerhalb der Interaktionsbeziehung. Wie nun aber bereits erwähnt, sind dies sehr wichtige Faktoren im Zuge des Vertrauensprozesses, denn ein adäquates Verständnis konkreter Vertrauensbeziehungen sowie insbesondere auch Überlegungen hinsichtlich möglicher Interventionsmaßnahmen setzen stets die Berücksichtigung des organisationalen Umfeldes voraus.
3.2.2 Personale Antezedenzien Vor dem Hintergrund der persönlichen Lebensgeschichte unterscheiden sich die Interaktionspartner hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Überzeugung, inwieweit Vertrauen zu einer anderen Person überhaupt möglich ist, diese individuelle Vertrauenstendenz variiert zudem über verschiedene Lebensbereiche (Familie, Schule, Freunde usw.). Als Teil des individuellen kognitiven Systems verfügen die Interaktionspartner über konkrete normative Erwartungen dahingehend, welche Attribute eine vertrauenswürdige Person auszeichnen. Diese impliziten Vertrauenstheorien variieren ebenfalls über verschiedene Lebensbereiche. Die individuellen Wahrnehmungsmuster der Interaktionspartner prädeterminieren schließlich die Qualität des Anfangskontaktes zwischen beiden. In der konkreten ersten Interaktionssituation werden nun die wahrgenommenen Verhaltensweisen eines Interaktionspartners mit den eigenen impliziten Vertrauenstheorien abgeglichen. Je positiver dieser Vergleich ausfällt, umso wahrscheinlicher wird eine progressive Vertrauensentwicklung, je negativer der Vergleich ausfällt, um so wahrscheinlicher wird ein negativer Beziehungsverlauf. Beidseitig befriedigende Vertrauensentwicklungen sind demnach davon abhängig,
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Martin K.W. Schweer wie positiv die Vertrauenstendenzen bei den Interaktionspartnern ausgeprägt sind, wie kompatibel die impliziten Vertrauenstheorien mit dem wahrgenommenen Verhalten des Interaktionspartners sind und inwieweit sich als Ergebnis des Anfangskontaktes eine positive Grundeinstellung (Sympathie) zum Interaktionspartner ergeben hat.
Der Grad erlebten Vertrauens steht in Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Gesamtsituation; es werden bevorzugt solche Informationen beachtet, welche das einmal etablierte positive bzw. negative „Vertrauensbild” bestätigen. Unter der hier verfolgten psychologischen Perspektive ist also stets die individuelle und folgerichtig subjektive Informationsverarbeitung für die Vertrauensgenese entscheidend. Lewicki & Buncker (1996: 132) pointieren die Relevanz der subjektiven Informationsverarbeitung in Bezug auf Vertrauensverluste wie folgt: „If trust has been broken in the eye of the beholder, it has been broken“.
Seit einigen Jahren widmen sich empirische Studien vermehrt dem Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern; der Schwerpunkt liegt hierbei hauptsächlich auf der Schülerperspektive, also bei deren Vertrauenserleben. Grundsätzlich können sich Schüler durchaus vorstellen, Vertrauen zu ihren Lehrern aufzubauen; jedoch wird dem Lehrer als Vertrauensperson eine weitaus geringere Chance eingeräumt, als dies bei Personen aus dem sozialen Nahraum der Jugendlichen (insbesondere Familie und Freunde) der Fall ist. Auf der anderen Seite betonen Schüler, dass ein positives Vertrauensverhältnis zum Lehrer keinesfalls die Regel, sondern eher die Ausnahme im Rahmen der Lehrer-Schüler-Interaktion darstellt (Schweer 1997b), allerdings verfügen die meisten Schüler über zumindest einen Lehrer, dem sie vertrauen (Thies 2002b). Was zeichnet nun den vertrauenswürdigen Lehrer aus? Als relevante Verhaltensdimensionen werden von Schülern in dieser Hinsicht vor allem Unterstützung, Zugänglichkeit, Respekt und Aufrichtigkeit genannt: Schüler erwarten von dem Lehrer gleichermaßen fachliche Hilfe, aber auch persönliche Zuwendung bei auftretenden Problemen. Sie wollen sich auf seine Aussagen verlassen können und sich sicher sein, dass dieser ihnen nicht etwas „vorspielt”. Schließlich sollte ein Lehrer – um das Vertrauen seiner Schüler gewinnen zu können – ihnen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen sein und den Schülern das Gefühl geben, als Person akzeptiert und ernst genommen zu werden. Vor allem der Aspekt der Unterstützung wird von Schülern in deutlich höherem Maße bei solchen Lehrern als realisiert erlebt, zu denen positive Vertrauensbeziehungen bestehen (Schweer 1997b).
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Bei diesem Bewertungsprozess wird nun die Bedeutung der personalen Antezedenz-Bedingungen evident: Während nämlich Schüler mit einer positiven Vertrauenstendenz (aufgrund ihrer bisherigen schulischen Sozialisation) die sie unterrichtenden Lehrer auf den vertrauensrelevanten Verhaltensdimensionen vergleichsweise günstig bewerten, erleben Schüler mit einer negativen Vertrauenstendenz verstärkt Indikatoren für ihre skeptische Überzeugung. Im Sinne einer „self-fulfilling prophecy“ (s. bereits Rosenthal & Jacobsen 1971) verursachen die Schüler von daher zu einem nicht unerheblichen Teil selbst, ob ein konkreter Lehrer ihrem Schema vom vertrauenswürdigen Lehrer entspricht oder nicht. Aber auch die individuellen Erwartungen an einen vertrauenswürdigen Lehrer sind – trotz der o. g. Verhaltensdimensionen – bei den Schülern keineswegs einheitlich: Konkretes Lehrerverhalten, das bei einem bestimmten Schüler für den Vertrauensaufbau sehr wichtig ist, kann bei einem anderen Schüler hinsichtlich der Vertrauensentwicklung lediglich eine untergeordnete Rolle spielen oder sogar den Vertrauensprozess hemmen. Ein typisches Beispiel ist in diesem Zusammenhang das gewünschte Ausmaß an persönlicher Zuwendung seitens des Lehrers. Derartige Unterschiede in den Erwartungssystemen von Schülern sind angesichts ihrer spezifischen Persönlichkeitseigenschaften und individuellen Sozialisationserfahrungen nicht überraschend (s. a. Schweer 1997c). Für den Vertrauensprozess ist jedoch stets die Kompatibilität des wahrgenommenen Lehrerverhaltens mit dem individuellen Erwartungssystem des Schülers ausschlaggebend: Vertrauen wird umso intensiver erlebt, je größer die diesbezügliche Übereinstimmung subjektiv ausfällt. Interessanterweise scheint in diesem Zusammenhang auch für die pädagogische Beziehung die Norm der Reziprozität zu gelten: Je positiver nämlich bei einem Schüler das Vertrauen zum Lehrer ausgeprägt ist, umso überzeugter ist er, dass ihm seitens des Lehrers ebenfalls Vertrauen entgegengebracht wird.
3.3 Korrelate erlebten Vertrauens Wie günstig oder ungünstig die eigene Ausbildungssituation insgesamt erlebt wird, steht in einem signifikanten Zusammenhang zum erlebten Vertrauen: Bei einem positiven Vertrauensverhältnis wird die Unterrichtsgestaltung des Lehrers positiver beurteilt, die Schüler engagieren sich im Unterricht stärker, sie sind mit mehr Spaß bei der Sache und schätzen auch ihren persönlichen Lernerfolg höher ein (Schweer 1997b). Spätestens an dieser Stelle wird erkennbar, dass Vertrauen im Klassenzimmer sicherlich nicht „nur” eine Beziehungs-, sondern eben auch eine Leistungsvariable darstellt. Vertrauen führt natürlich nicht zwangsläufig zu Bestleistungen, kann aber zu einem optimalen Lehr-Lern-Klima dahingehend
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beitragen, das zumindest individuelle Leistungssteigerungen im Rahmen des jeweils vorhandenen Potentials (also der Fähigkeitskomponente von Leistung) hervorgebracht werden können, Vertrauen wird sich demnach insbesondere motivational auswirken (Anstrengungskomponente). Darüber hinaus kann erlebtes Vertrauen zu einer Interessensteigerung führen und ist mit höherer Angstfreiheit der Schüler verbunden (Thies 2002b). Bisher zeigt im Übrigen keine vorliegende Untersuchung, dass vertrauende Schüler weniger Leistungen zeigen, da sie z. B. auf die Milde des Lehrers setzen – gleichwohl sind einzelne Lehrer von diesem pädagogisch ungünstigen Zusammenhang überzeugt und handeln entsprechend (Thies 2002b). Eine dyadische Analyse vertrauensvoller Beziehungen (also je ein Lehrer und ein Schüler) zeigt für wechselseitig gelungene Vertrauensbeziehungen (in denen also sowohl der Lehrer als auch der Schüler ein hohes Maß an Vertrauen in den jeweils anderen investieren), dass die Schüler sich selbst als leistungsstark erleben und auch eine entsprechend günstige Lehrerbeurteilung erhalten. In wechselseitig misslungenen Vertrauensbeziehungen hingegen beschreiben die Lehrer die Schüler als leistungsschwach und häufig störend (Thies 2005). Möglicherweise ist das Vertrauenserleben der Lehrer also nicht unabhängig von der wahrgenommenen Leistungsfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft ihrer Schüler. In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen fordern Gebauer, Krause & Fittkau (2006), dass Lernstätten immer auch Orte des Vertrauens sein müssen, an denen Kinder sich wohl fühlen, Respekt und Anregungen bekommen und ihre Persönlichkeit entfalten können; nur so sind nach Ansicht der Autoren Lernangebote überhaupt nutzbar (s. a. Raider-Roth 2005). Auch Hart & Hodson (2006) führen emotionale Sicherheit und den damit verbundenen Aufbau von Vertrauen als wesentlichen Faktor zur Steigerung des Lernerfolges an – sie gehen davon aus, dass dieser mit dem Grad realisierter Empathie korreliert. Die Bedeutung von Vertrauen für den Schulerfolg untermauert ebenfalls eine Studie an ländlichen Schulen, in der etwa 2.500 Schüler untersucht wurden (Goddard 2001). Hier konnten erhebliche Unterschiede zwischen den beteiligten Schulen festgestellt werden, die analog zu den Befunden internationaler Schulleistungsstudien (zusammenfassend s. Helmke 2004) stark mit dem sozioökonomischen Status der jeweiligen Schulen bzw. Schülern zusammenhingen. Neben allen untersuchten Faktoren jedoch stach das Vertrauen als wichtigste, positive Einflussgröße zur Erklärung der vorhandenen Unterschiede in den Schülerleistungen hervor. Inwiefern in Bezug auf das Vertrauensphänomen geschlechtstypische Aspekte zu berücksichtigen sind, ist noch nicht hinreichend untersucht worden, allerdings deuten Untersuchungen zur Lehrer-Schüler-Interaktion auf verhaltenswirksame Geschlechtsrollenstereotypen hin, die vermutlich auch für den Vertrauensprozess relevant sind (u. a. Ulich 2001; s. a. Beaman, Wheldall &
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Kemp 2006). Khine & Darell (2003) berichten, dass das Führungsverhalten der Lehrer von Schülerinnen positiver bewertet wird, auch wird Verständnis, freundliches und unterstützendes Lehrerverhalten von diesen eher wahrgenommen – um mit dem Konzept der impliziten Vertrauenstheorien zu argumentieren tragen Mädchen vermutlich verstärkt sozio-emotionale Erwartungen an vertrauenswürdige Lehrkräfte heran. Duffy, Warren & Walsh (2001) können zeigen, dass Lehrkräfte mit männlichen Schülern häufiger interagieren bzw. mehr Zeit für sie aufwenden. She (2000) sieht diese geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung schon in den impliziten Auffassungen der Lehrkräfte über das Lernverhalten von Jungen und Mädchen begründet; sie berichtet in ihrer Arbeit über Symptome wie ungleiche Verteilung direkter Fragen, Ermutigungen, Feedback und restriktive Eingriffe in Abhängigkeit vom Geschlecht der Schüler. Angesichts der insgesamt jedoch noch inkonsistenten Befundlage, wäre in diesem Zusammenhang eine systematische Analyse von gleichgeschlechtlichen und gemischtgeschlechtlichen Dyaden unter der Vertrauensperspektive wünschenswert. Betrachtet man nun die Lehrerperspektive, so werden auch hier positive Effekte zufriedenstellender Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern ersichtlich, darüber hinaus lassen die im folgenden skizzierten Befunde indirekt auf die Relevanz des Vertrauens für die Lehrer schließen: Studien zur Arbeitszufriedenheit von Lehrern zeigen wiederholt, dass die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung die Hauptdeterminante der Arbeitszufriedenheit von Lehrern darstellt (u. a. Rudow 1994). Der direkte negative Zusammenhang ergibt sich aus der Betrachtung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Burn-Out bei Lehrern. Das Burn-OutSyndrom manifestiert sich im Laufe mehrerer Jahre und umschreibt die primär beruflich bedingte psychische Verfassung des „Ausgebranntseins“. Als Hauptaspekte des Burn-Out-Syndroms werden beschrieben: Dehumanisierung (Schüler werden zunehmend als Objekte wahrgenommen und behandelt), subjektiv reduzierte Leistungsfähigkeit und emotionale Erschöpfung (Barth 1997). Eine negative Beziehung zu den eigenen Schülern gilt als stärkster Prädiktor für die Entstehung des Burn-Out-Syndroms; in dieser Hinsicht resümiert Barth (1997: 232): „Die Belastung durch die Schüler trägt eindeutig am meisten zum Ausbrennen von Lehrern bei.“
Auch die Arbeit von Klippert (2006) verweist auf die Bedeutung der pädagogischen Beziehungsqualität für die Lehrkraft selbst: Als zentrale Stressoren zeigt Klippert Skepsis, Unsicherheiten und Ängste von Lehrern auf, die auf den Befürchtungen beruhen, dass Schüler die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, ob nun die Leistungsebene oder das Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten betreffend. Als Effekte des fehlenden Zutrauens in ihre Schüler reagieren Lehrer
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mit der Intensivierung von Kontrolle und Interventionen sowie auf der persönlichen Ebene mit Anspannung und Aufregung. Hieraus resultiert eine gesteigerte Arbeitsbelastung der Lehrer, die wiederum das subjektive Kontrollbedürfnis intensiviert.
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Implikationen für das Lehrerhandeln
Die bisher vorliegenden empirischen Befunde weisen eindeutig darauf hin, dass sowohl Lehrer wie auch Schüler dem Vertrauensaufbau in der pädagogischen Beziehung einen hohen Stellenwert für den Erfolg schulischer Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen beimessen; sie sprechen gleichermaßen für die Etablierung von Vertrauen als pädagogisch relevantes Ziel. Wie jedoch aus anderen Studien zum Lehrerberuf und zur Lehrerpersönlichkeit bekannt (u. a. Rudow 1994; Ulich 1996), sind bei den Lehrern strukturelle Probleme wie zu große Klassen, zu wenig Zeit für außerschulische Aktivitäten sowie eine einseitige Akzentuierung des Fachlichen durch den Lehrplan vielfach mit einem Gefühl der Überlastung verbunden. Insofern kommt es in erster Linie auf das Rollenverständnis des Lehrers an, inwieweit er angesichts dieser wahrgenommenen Belastungen überhaupt bereit ist, sich zu engagieren und mit entsprechenden Handlungen vertrauensfördernde Impulse bei seinen Schülern zu setzen. Vor dem Hintergrund, dass im Rahmen pädagogischer Anstrengungen neben dem Wissenszuwachs auch die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und gesellschaftlich relevanten Werten und Normen einen elementaren Erziehungsauftrag darstellen, wird nämlich Vertrauen zu einer zentralen Komponente des Interaktionsgeschehens, um eine tragfähige Beziehung zwischen Lehrer und Schülern zu realisieren. Hierbei bieten die vorliegenden Untersuchungsergebnisse zu den vertrauensfördernden Dimensionen des Lehrverhaltens wichtige Hinweise für Lehrer, auf welche Weise sie positiven Einfluss auf den Vertrauensprozess nehmen können. Terry (2002) beispielsweise identifiziert unter einer konstruktivistischen Perspektive vier grundlegende Elemente, die zum Aufbau und Erhalt von Vertrauen nötig sind – Fürsorge, Respekt, Kommunikation und Kooperation. Sind diese Faktoren entsprechend ausgeprägt, entsteht eine Vertrauensbasis, die auch Meinungsverschiedenheiten, Konflikte und Risiken tragen kann. Darüber hinaus ist natürlich mindestens ebenso wichtig, sich mit der eigenen Person und den Schülern auseinanderzusetzen sowie sich letztlich auch Schwächen in der eigenen Arbeit einzugestehen. All dies setzt natürlich mangelhafte Rahmenbedingungen der Organisation Schule nicht außer Kraft – für die
Vertrauen im Klassenzimmer
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Lehrer sollte dies jedoch nicht als (manchmal durchaus bequemer) „Bremsklotz” für ihr Verhalten im Klassenzimmer fungieren, vielmehr gilt es, gerade deshalb den vorhandenen persönlichen Spielraum umso intensiver zu nutzen, um dem pädagogischen Auftrag möglichst optimal gerecht werden zu können. Natürlich darf man nicht verkennen, dass sich für den Lehrer nicht einfach allgemeine Handlungsstrategien oder Verhaltensstile ableiten lassen, die sich für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung im Klassenzimmer als besonders geeignet ausweisen; derartige Hoffnungen erinnern an bereits fehlgeschlagene Annahmen der klassischen Erziehungsstilforschung (s. Lewin 1968; Weber 1986). Wie sich aber bereits ungeachtet dessen auch im Rahmen dieser Forschungstradition Hinweise auf individualisierendes Lehrverhalten ergeben haben, resultiert aus der vorliegenden Befundlage für die Initiierung einer vertrauensvollen Beziehung, dass der Lehrer sich auf die einzelnen Schüler einstellen muss, um auf deren Erwartungen eingehen und daraufhin sein eigenes Verhalten regulieren zu können. Ein solches Unterfangen setzt aber voraus, dass der Lehrer überhaupt daran interessiert ist, dass seine Schüler ihm vertrauen bzw. dass er selbst die Etablierung einer vertrauensvollen Beziehung als pädagogisch relevant und möglich erachtet. Nur auf dieser Grundlage wird eine beidseitig zufriedenstellende vertrauensvolle Beziehung bestehen können.
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Unterrichtsklima, Partizipation und soziale Interaktion Matthias von Saldern
1
Einleitung
Ein wesentliches Merkmal der sozialen Interaktion zwischen Lehrkräften und Schülerinnen bzw. Schülern ist deren partizipative Charakter. Die Allgemeine Didaktik in ihrer Breite, einzelne didaktische Theorien im Besonderen sowie spezifische Unterrichtsmethoden thematisieren – wenn auch auf unterschiedlichem theoretischen und praktischen Niveau – die Rolle der Mitbestimmung im Unterricht. Dieses Merkmal scheint zusammenzuhängen mit dem sozialen Klima im Unterricht. Je nach Sichtweise ist Partizipation ein Merkmal des Unterrichtsklimas oder es steht außerhalb dieses Konstruktes und steht in Beziehung zu diesem. Im Folgenden wird erläutert, was Unterrichtsklima ist, welche Bedeutung die Partizipation im Unterricht spielt und wie beide Konzepte – auch über Erkenntnisse der Arbeits- und Organisationspsychologie – zusammengeführt werden können. Vor dem Hintergrund der empirischen Forschung über beide Konzepte wird deutlich, dass die Erfahrungen aus der Betriebs- und Organisationspsychologie für die Untersuchung der Lehrer-Schüler-Interaktion zumindest für den diskutierten Rahmen sinnvoll erscheint. Dieser Bezug auf Erkenntnisse der Führungspsychologie des Betriebes hat keinen Selbstzweck. Er zeigt sehr deutlich auf, dass die Lehrer-Schüler-Interaktion und deren Erforschung theoretische und empirische Erkenntnisse aus Betrieb und Organisation mit einbeziehen muss. Dass Partizipation in der Schuldidaktik und Unterrichtsmethodologie bereits mehrfach integriert ist, hat offenbar nicht zu den entsprechenden empirischen Untersuchungen geführt.
2
Unterrichtsklima
Unterrichtsklima ist eine spezifische Form des Sozialklimas. In der Literatur wird Sozialklima wie folgt beschrieben:
Das Sozialklima beschreibt die Stimmung in einer Gruppe,
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Matthias von Saldern es hat einen Bezugsrahmen (Schulklasse, Schule, Familie, Unterricht etc.), es hat relative Kontinuität über die Zeit (es ist nicht völlig stabil), es ist mehrdimensional (beschreibt also verschiedene Aspekte in der Gruppe gleichzeitig).
Unterrichtsklima ist bezogen auf eine bestimmte didaktische Situation, genannt Unterricht (und eben nicht nur bezogen auf Schulklasse oder gar Schule; zu anderen Deutungsmöglichkeiten des Begriffes (s. Eder 1998), sie werden hier bewusst außer Acht gelassen). Eine derartige Beschreibung ist allerdings rein formal. Es ist damit noch nicht gesagt, welche Inhalte damit verbunden sind. Es gibt eine Fülle von Theorien zum Unterrichtsklima, die hier nicht diskutiert werden sollen (s. zusammenfassend v. Saldern 1987). Grundsätzlich arbeitet man in der Erforschung des Unterrichtsklimas mit mehreren theoretischen Annahmen, die als weitgehend bestätigt gelten können:
Jeder Mensch hat ein Urteil über seine Umwelt, hier also: über seinen/ihren Unterricht. Sozialklima basiert auf der Mehrheit der Mitglieder einer Gruppe. Kommen nahezu alle Mitglieder einer Gruppe zu einem ähnlich positiven Urteil, dann ist das Sozialklima auch positiv. Personen mit viel Macht (wie z. B. Lehrkraft) können das Sozialklima allerdings durch unbeliebte Entscheidungen oder unsachgemäßes Verhalten empfindlich stören. Es handelt sich um überdauernde und typische Wahrnehmungen. Es ist eine Aggregation über Zeit und verschiedene Situationen, erstellt aus Inferenzen gespeicherter situativer Einzeleindrücke. Somit ist es so etwas wie die „Persönlichkeit” einer sozialen Situation. Der kollektive Charakter von Einzelwahrnehmungen wird über den Mittelwert erfasst. Es ist bis heute noch weitgehend ungeklärt, welchen Realitätsstatus der Mittelwert hat.
Um den Stellenwert der Klimaforschung heute einzuordnen, hilft ein Blick zurück: Die Entwicklung eines ehemals innovativen empirischen Forschungszweiges umfasst zu Beginn häufig die folgenden drei Phasen:
Entwurf einer theoretischen bzw. technologischen Programmatik; Entwicklung geeigneter Erhebungsinstrumente; Nachweis der Bedeutsamkeit des Forschungsfeldes anhand der Analyse von relevanten Außenzusammenhängen.
Unterrichtsklima, Partizipation und soziale Interaktion
567
Diese drei Arbeitsschritte kennzeichnen auch die Entwicklung der Klimaforschung seit Beginn der 50er Jahre: Im Vordergrund standen zunächst programmatische und rahmentheoretische Überlegungen sowie die Entwicklung von Messinstrumenten; anschließend wurde jeweils versucht, Zusammenhänge vor allem mit Schülerkriterien (Leistung, Persönlichkeit, Befinden) nachzuweisen. Allerdings liefen diese Schritte nur innerhalb einzelner Arbeitsgruppen tatsächlich zeitlich sequentiell: Seit der Jahrhundertmitte ist jedes größere Forschungsprogramm innerhalb der Sozialklimaforschung durch jeweilige Bemühungen in allen drei Bereichen gekennzeichnet.
3
Partizipation
Dem Begriff und Thema Partizipation kann man sich über drei Zugänge nähern: politisch, organisationspsychologisch und pädagogisch.
3.1 Der politische Zugang Behrmann (1974: 307f.) definiert Partizipation als Handeln, „mit dem jene, die formell nicht zu verbindlichen politischen Entscheidungen ermächtigt sind, versuchen, Entscheidungsprozesse zu beeinflussen.” Die gängigen Kriterien für Partizipation wurden bereits von Habermas (1974: 138) wie folgt umschrieben: Aktivität, Informiertheit und Sachverständnis und affektive Bindung an das Geschehen. Die tiefstgehende Analyse lieferte bisher Freitag (2006). Das National Council for the Social Studies hat schon 1962 als Untergruppierung des nordamerikanischen Lehrerverbandes Partizipation als Teilgebiet der Social Studies gefasst. Dazu gehören folgende Lernziele (Ackermann 1974: 167f):
Verschiedene Rollen innerhalb der Gruppe annehmen, die für den Fortschritt der Gruppe verantwortlich sind, wie z. B. die Rolle des ständigen störenden Fragers oder dessen, der die Diskussion zusammenfasst. Parlamentarische Verfahrensweisen effektiv einsetzen. Differenzen innerhalb der Gruppe überwinden helfen. Kriterien und Verfahren zur Beurteilung des Gruppenprozesses vorschlagen und anwenden.
Partizipation im Klassensaal setzt voraus, dass die Kinder und Jugendlichen eine positive Beziehung zu diesem Konzept haben. In der Shell Jugendstudie 1997
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Matthias von Saldern
wurde Antwort auf folgendes Statement erfragt: Mit dem Begriff „Demokratie“ verbinde ich eigentlich keine besondere Bedeutung. Durchschnittlich stimmten die Befragten weniger zu, wobei sich die Geschlechter nicht unterschieden. Je höher das Alter und je höher der Schulabschluss, desto geringer die Zustimmung. Dies ist an sich eine gute Ausgangslage, wenn man einmal von den Haupt- und Realschülern absieht, die zwischen „weniger Zustimmung” und „Zustimmung” liegen. Bei dem Statement Demokratie ist eine gute Staatsform, aber in Krisenzeiten ist sie nicht sehr effektiv liegen die Befragten aller Gruppen zwischen „weniger Zustimmung” und „Zustimmung”. Diese skeptische Haltung findet sich bei dem Statement Demokratie ist das beste politische Modell, das es für einen Staat gibt nicht wieder: Alle Befragten im Durchschnitt ebenfalls über alle Gruppen stimmen zu. Trotz der manchmal skeptischen Haltung der Erwachsenen gegenüber den Jugendlichen scheinen diese der Demokratie im Makrosystem Gesellschaft näher zu stehen als oft angenommen. Insbesondere die Bereitschaft zum Engagement ist nach der Shell-Jugendstudie 2006 stark ausgeprägt. Dies kann man als günstige Voraussetzung werten, auch im Mikrosystem Schule partizipative Strukturen vorzufinden bzw. anzustreben.
3.2 Der organisationspsychologische Zugang Im Bereich der ABO-Psychologie wird Partizipation als besonders deutliches Merkmal der Ansätze der human-relations-Bewegung erkannt (Niederberger, 1991). Damit verbunden ist die Hinwendung zu mehr partizipativen und kooperativen Führungsstrukturen (v. Saldern 1998). Der Begriff Partizipation wird dort durch Kooperation gefasst. Wunderer fasst die acht Merkmale kooperativer Führung (Wunderer 1995: 1372) wie folgt zusammen:
Ziel- und Leistungsorientierung; funktionale Rollendifferenzierung und Sachautorität; multilaterale Informations- und Kommunikationsbeziehungen; gemeinsame Einflussausübung; Konfliktregelung durch Aushandeln und Verhandeln; Gruppenorientierung, partnerschaftliche Zusammenarbeit; Vertrauen als Grundlage der Zusammenarbeit; Organisations- und Personalentwicklung.
Unterrichtsklima, Partizipation und soziale Interaktion
569
Die sich daraus ergebenen Dimensionen der Kooperativen Führung hat Wunderer wie folgt zusammengestellt (die beiden folgenden Tabellen sind im Original belassen, da der Bezug zur Schule dem Leser unmittelbar deutlich werden wird): Tabelle 1: Dimensionen kooperativer Führung (Wunderer 1995: 1372) Ziel-Leistungs-Aspekt
Zielorientierte soziale Einflußnahme
Führung in Organisationen
zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben in/mit einer strukturierten
Organisations-Aspekt
Arbeitssituation
(Situationsgestaltung)
unter wechselseitiger, tendenziell
partizipativer Aspekt
Qualität kooperativer Füh-
symmetrischer Einflußausübung
(Machtgestaltung)
rung
und konsensfähiger Gestaltung der
prosozialer Aspekt
Arbeits- und Sozialbeziehungen
(Beziehungsgestaltung)
Wunderer unterscheidet zusätzlich noch die partizipative und prosoziale Dimension, die sich wie folgt unterscheiden: Tabelle 2: Dimensionen kooperativer Führung (Wunderer 1995: 1378) Dimensionen Kooperativer Führung Partizipative Dimension
Prosoziale Dimension
(interpositionale Machtgestaltung)
(interpositionale Beziehungsgestaltung)
Teilhabe
Teilnahme
Informationsrechte/-pflichten
Kommunikation
Konsultationsrechte/-pflichten
Offenheit, Vertrauen
Begründungsrechte/-pflichten
Verständnis, Akzeptanz, Toleranz
Vorschlagsrecht
Zwischenmenschliche Orientierung
Mitentscheidung
Helfendes, solidarisches Verhalten
Kollegiale Entscheidung
Wechselseitigkeit
Vetorecht
Konstruktive Konfliktregelung Kompromiß- und Konsensfähigkeit
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Der Definitionsansatz von Wunderer gilt derzeit als der elaborierteste. Dennoch stellt sich die Frage, wie Führung noch geschieht: Kooperative Führung muss – so die weitere Diskussion – vielfach über Symbole erfolgen. Führung durch Symbole ist entpersonalisierte Führung. Sie ist in folgenden Situationen besonders wichtig (nach Weibler 1995: 2022):
Unsicherheit über das zu Erreichende; Zweifel bei der Bewertung von Zielen; niedrige Akzeptanz; Mitarbeiter inhaltlich von Vorgesetzten kaum noch zu steuern; fraglich, ob ethische Prinzipien das betriebliche Handeln legitimieren; Wunsch nach Veränderung der Identität der Organisation; Wunsch nach Änderung von Ansichten, Bedeutungen, Zielen; verminderter Kontakt zwischen Führer und Geführten; Wunsch nach Selbststeuerung des Geführten; Loyalität und Konsens wichtiger als Fachkenntnis; Ansprache an Kollektive, weniger an Einzelne.
Das Erstaunliche ist, dass derartige Führungsansätze im schulischen Bereich noch keinen Anklang gefunden haben. Zwar werden in der laufenden Diskussion zur Schulentwicklung andere Führungskonzepte diskutiert, sie erreichen aber in letzter Konsequenz weder kooperative noch die damit verbundene symbolische Führung. Dies, obwohl die genannte Beschreibung von Weibler ja durchaus auch in Schulen zu beobachten ist.
3.3 Der pädagogische Zugang Man wird die Frage stellen müssen, warum gerade Partizipation hier so besonders hervorgehoben wird, denn für die Erziehungswissenschaft ist Partizipation nur einer von vielen Werten. Neben den genannten theoretischen Konzeptionen stellt sich zudem natürlich die Frage, ob und inwieweit Partizipation in Unterrichtskonzeptionen Berücksichtigung findet. Ausgangspunkt der Analyse kann hier die Aufgabenstellung von Unterricht sein: Im Unterricht sollen Schüler lernen, Situationen durch Sinn zu bewältigen. Diese Aufgabe führte innerhalb der Didaktik zu einigen Kriterien eines guten Unterrichts, die man inzwischen durchaus als zeitlos ansehen kann:
Situations-/Lebensbezogenheit; Handlungsorientierung;
Unterrichtsklima, Partizipation und soziale Interaktion
571
Wissenschaftsorientierung; Prinzip des Exemplarischen; Prinzip der Struktur.
Gerade der erste Punkt (Situations-/Lebensbezogenheit) führt in unserer Gesellschaft zwangsläufig zur Berücksichtigung von Formen der Partizipation im Unterricht. Dies hat zum einen Gründe im politischen System (Mitbestimmung durch Wahl), aber auch durch rechtliche Rahmenbedingungen im Arbeitsalltag (Mitbestimmungsrechte). Aber auch die Wissenschaftsorientierung, die sich in der didaktischen Diskussion ursprünglich auf die Richtigkeit von Fachinhalten bezog, spielt im Falle der Partizipation eine verstärkte Rolle: Wenn man die Wissenschaftsorientierung von dem reinen Fachwissen erweitert auf Methodenund Sozialkompetenzen, dann wird damit die didaktische Begründung für die Partizipation untermauert. Wenn man sich die Qualitätskriterien des guten offenen Unterrichts ansieht, dann gehören dazu: die Variabililität der gewählten Methoden, die Möglichkeit sich unkontrolliert zu bewegen und zu verhalten, der gegenseitige Respekt, die Moderation von Lernprozessen, die Sprachkultur und die Gestaltung der Umwelt. Partizipation wurde auf der Ebene einzelner didaktischer Theorien neben anderen Ansätzen besonders eingebettet in Wolfgang Klafkis kritisch-konstruktive Didaktik. Die Bezeichnung seiner Didaktik begründet der Autor durch das Ziel einer wachsenden Mitbestimmung und den engen Bezug zur Praxis. Klafki führt dazu noch den Emanzipationsbegriff der Frankfurter Schule mit ein: Emanzipation sei nur zu erreichen durch selbstbestimmtes exemplarisches Lernen. Und tatsächlich wird heute in dem typischen Unterrichtsdreieck (Lehrkraft, Schüler, Gegenstand) der schülerorientierte Unterricht wie in Abbildung 1 zu sehen verordnet. Der schülerrorientierte Unterricht geht letztlich auf das Ziel zurück, die Schülerinnen und Schüler zu demokratischen Verhaltensweisen zu erziehen. Die Rechtfertigung dazu liegt in den älteren Forschungen zum Erziehungsstil (zusammenfassend Brunner 1998). Die Rolle der Partizipation in der Schulpädagogik wird heute allerdings unabhängig von allen theoretischen Konzeptionen in der Diskussion um den Offenen Unterricht in dem Mittelpunkt gestellt. Partizipation ist das Hauptanliegen dieser Unterrichtsform. Allerdings wird in der Diskussion die Frage deutlich, was Offenheit und Partizipation eigentlich bedeuten soll. Auch in Betrieben und Organisationen, die offene Führungsstile anstreben, wird ja keineswegs in allen Bereichen offen geführt. So stellt sich auch hier die Frage, was denn beim Offenen Unterricht eigentlich offen sein soll. Betrachtet man Unterricht ganz generell, dann ist Partizipation möglich bei Unterrichtsmethoden und
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Matthias von Saldern
-organisation, bei curricularen Fragen, bei dem Lehrer-Schüler-Verhältnis generell sowie bei der Gestaltung der Gesamtorganisation, in diesem Falle die Schule. Insofern ist Offenheit ein unscharfer Begriff, der einer Eingrenzung auf das bedarf, was offen sein soll. Dies gilt aber nun auch für die Partizipation: Worin und wobei sollen die Schülerinnen und Schüler mitbestimmen?
Abbildung 4:
Unterrichtsformen im Dreieck Lehrkraft, Schüler und Gegenstand
Lehrer Projektunterricht lehrerzentierter Unterricht programmierter Unterricht
differenzierter Unterricht
lernzielorientierter Unterricht
Schüler
Gegenstand schülerorientierter Unterricht
wissenschaftsorientierter Unterricht
Es tun sich also eine Reihe von Fragen auf: Können die Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer Kenntnisse über Unterricht überhaupt in all diesen Dingen mitbestimmen? Ist der Mensch überhaupt in dem Maße an Mitbestimmung interessiert, wie hier unterstellt wird? Ist Partizipation in der Schule in ihrer ganzen Breite möglich und rechtlich zulässig? Partizipation erzwingt neue Kooperationsformen (wie Offenen Unterricht) – zieht dies nicht eine verstärkte Bürokrati-
Unterrichtsklima, Partizipation und soziale Interaktion
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sierung nach sich? Inwieweit wird das notwendige Eigeninteresse mit den Zielen der Organisation Schule in Einklang gebracht?
4
Unterrichtsklima und Partizipation
4.1 Partizipation als Teil des Unterrichtsklimas Wie deutlich wurde, ist Partizipation neben den politischen und organisationspsychologischen Zugängen ein wesentlicher Bestandteil der pädagogischen Diskussion in Didaktik und Unterrichtsmethodologie. Man muss nun fragen, ob ein solches Kernelement von Unterricht Einzug in die Unterrichtsklimaforschung gefunden hat. Ein Weg zur Beantwortung dieser Frage ist die Analyse von den bisher konstruierten Fragebögen zum Unterrichtsklima. Die US-amerikanischen Entwicklungen waren ursprünglich wegweisend auf dem Gebiet der Sozialklimaforschung gewesen. In den amerikanischen Verfahren wurde Partizipation, wenn auch nicht immer unter diesem Begriff, als wesentlicher Bestandteil des Unterrichtsklimas verstanden. Bereits im Learning Environment Inventory (LEI; Anderson 1973; Vorläufer: Classroom Climate Questionnaire; CCQ; Walberg 1968) wurde eine Skala Democratic (Demokratische Entscheidungsfindung und Einflussstruktur) konstruiert. In der Classroom Environment Scale (CES; Moos & Trickett 1974) näherte man sich der Partizipation durch deren Gegenteil: die Skala Teacher Control soll das Ausmaß erfassen, in dem Schüleraktivitäten begrenzt werden. Aus der Kritik am CES und dem LEI entstand der Individualized Classroom Environment Questionnaire (ICEQ; Rentoul & Fraser 1979). Hier lautet die entsprechende Skala Independence (Möglichkeiten der Schüler, über ihr Verhalten selbst zu entscheiden). Bei der Analyse englischsprachiger Fragebögen muss man allerdings Vorsicht walten lassen, weil participation oft nur die Mitarbeit im Unterricht meint und nicht die demokratische Beteiligung an alle Schul- und Unterrichtsentscheidungen. Derzeit allerdings scheint die amerikanische Forschung eher zu stagnieren, vorwiegend aus Gründen fehlender theoretischer Konzeptionen. Neuere Entwicklungen liegen dagegen für den deutschsprachigen Raum vor. Die Fragebögen, die im deutschsprachigen Raum entstanden sind, orientierten sich in der Anfangsphase an der US-amerikanischen Untersuchungen, wobei Partizipation nicht immer Berücksichtigung gefunden hat (z. B. beim Lernsituationstest von Kahl, Buchmann & Witte 1977). In den Konstanzer Schuluntersuchungen (Arbeitsgruppe um Fend) ergeben sich die folgenden Dimensionen: Inhaltsbereich (Selbstständigkeitserwartungen, Leistungsdruck, Disziplindruck), Regulierungs-
574
Matthias von Saldern
bereich (Kontrollformen, Mitbestimmung), Beziehungsdimensionen (Engagement-Gleichgültigkeit, Vertrauen, Anonymität). Es ist also der Mitbestimmung ein klarer Platz zugewiesen. Im Fragebogen zum Unterrichtsklima (FUK; Dreesmann 1980) heißt die entsprechende Skala Kooperation im Unterricht. Der Fragebogen ist nicht publiziert, aber es liegen einige Veröffentlichungen zu Untersuchungsergebnissen vor. Die Landauer Skalen zum Sozialklima (Lasso) sind als Testverfahren publiziert (v. Saldern & Littig 1987, und liegen inzwischen als völlig neue überarbeitete Version vor: LASSO-X, v. Saldern 2006). Bei diesem Instrument ist Partizipation erfasst mit der Skala Autoritärer Führungstil des Lehrers. In den Münchner Skalen zum Klassenklima (Pekrun 1983) findet sich keine direkte Skala für Partizipation. Auf Itemebene entdeckt man den partizipativen Gedanken allerdings in den Skalen Unterstützung von Lehrerseite und Kooperation. Im Linzer Fragebogen zum Schul- und Klassenklima (Eder 1990, 1998) ist es schließlich die Skala Mitsprache. Es wird also deutlich, dass Partizipation offenbar von den meisten Fragebogenkonstrukteuren berücksichtigt wurde.
4.2 Befunde und Interpretationsprobleme Eine Übersicht über die Publikationen zum Unterrichtsklima kann hier nicht geleistet werden. Die folgenden durchaus nicht unabhängigen Bereiche spiegeln in etwa die Forschungsfragen wieder:
Einflüsse von Kultur, Epoche, Gesellschaft; Einflüsse von Schulsystem und Schulart; Einflüsse der Binnenorganisation von Schulen und Klassen (Klassenstufe, Schul- und Klassengröße, Schulfächer); Einflüsse der objektiven innerschulischen Umwelt (materielle Umwelt, Lehrermerkmale, Schülermerkmale, Interaktionsverhältnisse); Beziehungen zu anderen Umwelten von Schulmitgliedern (z. B. Familie); Schulklimawahrnehmungen: Prozesse, Inhalte, Strukturen; Einflüsse von Schulklima auf Schülerleistungen; Einflüsse von Schulklima auf Schülerpersönlichkeit und Befinden.
Die Befunde sind daher schwer zu integrieren. Dies liegt einmal an der Vielfalt der Dimensionierungen, was ja schon bei der Vorstellung der Fragebogen (s. o.) deutlich wurde. Den meisten Untersuchungen ist sicher der Themenkreis „Leistung und Partizipation” gemeinsam. Da aber die Unterrichtsmethoden und die damit einbezogenen Mitbestimmungsmöglichkeiten bei den meisten Untersu-
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575
chungen fehlen, ist derzeit noch keine Aussage darüber möglich, inwieweit Partizipation z. B. Leistung beeinflusst. Hier sind die Erforschungen in Betrieben z. B. im Rahmen der Arbeitszufriedenheitsforschung weiter. Aber es gibt noch zwei weitere Gründe, warum die Ergebnisse zur Erforschung des Unterrichtsklimas schwer zu interpretieren sind. Zum einen sind die meist eingesetzten Fragebögen zwar ökonomisch und reliabel, sie bilden aber individuelle Kognitionen nicht ab. Zum anderen ist nicht deutlich, wie z. B. Zusammenhangsmaße in der Unterrichtsklimaforschung zu interpretieren sind. Als Beispiel sei die Klimaskala Partizipation und die Zufriedenheit mit dem Unterricht herangezogen. Es sind bei Zusammenhangsstudien die Interpretation möglich, die in Abbildung 2 wiedergegeben sind. Abbildung 2:
Mögliche Zusammenhänge
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Klimakognition Partizipation
2
Klimakognition Partizipation
Zufriedenheit Partizipation
Klimakognition Zufriedenheit
3 Zufriedenheit 4 Zufriedenheit 5 Partizipation
Zufriedenheit
Partizipation
Zufriedenheit Klimakognition Partizipation
6 Antwortsets
Klimakognition Partizipation Zufriedenheit Klimakognition Partizipation
Zwar sind querschnittliche Zusammenhangsbefunde kausaler Interpretation gegenüber bekanntlich immer offen. Für zeitlich nicht gereihte Zusammenhänge von Klimakognitionen und anderen Größen aber stellt sich dieses Problem in schärferer Form als für andere pädagogisch relevante Zusammenhänge. Die folgenden Möglichkeiten der Interpretation eines Zusammenhangs zwischen einer Sozialklima- und einer Außenvariable sind zu unterscheiden (s. a. Dreesmann et al. 1992: 671):
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Matthias von Saldern Die jeweilige Klimakognition wirkt direkt auf die jeweilige Bezugsvariable ein (Beispiel: Klimakognitionen von Partizipation bedingen Zufriedenheit). Die Klimakognition wirkt indirekt auf die Bezugsvariable ein (Wahrnehmungen von Partizipation führen zur tatsächlichem Partizipation; diese erzeugt Zufriedenheit). Die Bezugsvariable wirkt direkt auf die Klimakognition ein (Beispiel: zufriedene Schüler nehmen mehr Partizipation wahr). Die Bezugsvariable wirkt indirekt auf die Klimakognition ein (Beispiel: Zufriedenheit führt zu Partizipation, diese wird wahrgenommen). Die der Klimakognition zu Grunde liegende Realität wirkt unabhängig voneinander sowohl auf die Klimakognition wie auf die Bezugsvariable ein (Beispiel: Partizipation führt zu kollektiven Partizipationswahrnehmungen und unabhängig davon zu individueller Zufriedenheit). Die Erhebungen von Sozialklima und Bezugsvariable kovariieren aufgrund von Methodenvarianz (Beispiel: gemeinsame Antwortsets in Befragungen zu wahrgenommenem Partizipation und Zufriedenheit).
Eine Schwäche der bisherigen Unterrichtsklimaforschung und damit ein Grund für manches Unbehagen liegt darin, zwischen solchen Interpretationsmöglichkeiten nicht systematisch differenziert zu haben. So ist es heute z. B. verfrüht, aus Korrelationen von Klimawerten und schulischen Leistungen (vgl. Haertel, Walberg & Haertel 1979) zu folgern, Sozialklima bedinge Leistung (und zwar selbst dann, wenn die jeweiligen pretest scores auspartialisiert wurden): Im Sinne der obigen Interpretation Nr. 5 nämlich muss sich dem außen stehenden Beobachter sofort die Annahme aufdrängen, dass faktische Unterrichtsprozesse der Leistung kausal zu Grunde liegen, woraus folgt, dass Korrelationen von Prozesswahrnehmungen und Leistung nur als Nebenprodukte solcher Effekte anzusehen wären. Unterrichtsklima käme in einem solchen Falle kein kausaler Stellenwert zu, sondern eher der Status eines Epiphänomens. Da die Pädagogische Psychologie auch an Schülereffekten interessiert sein muss, wurde dennoch in der Regel die Interpretation Nr. 1 (Sozialklimaeffekte auf den Schüler) bevorzugt (z. B. Helmke 1982; Pekrun 1983). Seltener findet sich Interpretation Nr. 3 (Persönlichkeitseffekte auf Sozialklimawahrnehmungen; z. B. Littig & v. Saldern 1986). Die nahe liegenden Interpretationsmöglichkeiten 4 und 5 (Sozialklima als Epiphänomen) hingegen wurden aus Gründen, die auf der Hand liegen, kaum beachtet. Eder (1990) könnte als Beispiel für Interpretation Nr. 4 genommen werden: Schüler/Lehrer mit bestimmten Persönlichkeitsorientierungen „erzeugen“ Sozial- und Leistungsdruck. Solange aber nicht (a) die betreffenden Daten zeitlich gereiht sind und (b) zur Ausschaltung der Interpretationen 2, 4 und 5 Daten zu den Bedingungen des
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Unterrichtsklimas nicht nur erfragt werden (also z. B. Beobachtungsdaten zu schulischen Interaktionen), handelt es sich hier bei Effektinterpretationen von Zusammenhangsdaten systematisch um Überinterpretationen. Daten zu Leistungs-, Persönlichkeits- und Befindenskorrelaten von Unterrichtsklima werten können damit vorläufig nicht als hinreichender Beleg für die Relevanz des Forschungsbereichs herhalten. Der Stellenwert der Klimaforschung aber müsste sich daran zeigen, dass Klimakognitionen Wirkungen auf Leistung, Persönlichkeit und Befinden zeitigen, und zwar Wirkungen, die über direkte Effekte der faktisch vorhandenen Umweltverhältnisse hinausgehen. Zumindest müsste in diesem Sinne nachgewiesen werden, dass Klimakognitionen als Mediatoren von Wirkungen faktischer Umwelt anzusehen sind. Ein solcher, für die Relevanz dieses Forschungsfeldes existentieller Nachweis ist bisher nicht erbracht worden. Wie stellt sich aber demgegenüber die Entwicklung der letzten 20 Jahre dar? Die Forschungen um das soziale Klima in Schulen, Klassen und im Unterricht verleiteten trotz der konzeptuellen Probleme fast zur Euphorie:
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Für die humanistisch gestimmten Psychologen erschloss sich mit dem Klimakonzept und den entsprechenden Instrumenten die Möglichkeit zu erfahren, was die Schüler über den Unterricht denken, um dann darauf eingehen zu können. Mit dem subjektiven Erleben als theoretische Basis schloss das Klimakonzept unmittelbar an die „kognitive Wende” in der Psychologie an, indem es die individuelle und kollektive Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltbedingungen in den Mittelpunkt rückte. Als erlebte Schulumwelt bot das Klimakonzept die Chance, den Trend zur Ökologie des Lernens theoretisch und praktisch umzusetzen und die schulischen Umfeldbedingungen in Modelle zur Erklärung schulischen Verhaltens, etwa der Schulleistung der Schulangst oder motivationaler Variablen, einbeziehen zu können.
Die Erweiterung auf Kulturforschung
Es darf allerdings bei allen Einschränkungen nicht übersehen werden, dass sich in den letzten Jahren sowohl bedeutsame theoretische Weiterentwicklungen als auch wichtige praktische Anwendungsversuche ergeben haben. Die Praxisrelevanz des Unterrichtsklimas ist ungebrochen: Die Fragebögen werden nach wie vor als Evaluationsinstrumente für pädagogische Interventionen benutzt. Die Ergebnisse bieten Hilfe bei schulischer Organisationsentwicklung und als Rück-
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meldeinstrumentarium für Lehrkräfte. Dennoch scheint die theoretische Weiterentwicklung mehr Früchte zu tragen: Hier wurde der Begriff des Sozialklimas zu dem der Schulkultur weiterentwickelt (Hargreaves 1995) und handlungstheoretisch interpretiert, was an der Definition von Schulkultur deutlich wird: Die Schulkultur ist die Gesamtheit der gewachsenen und durch die aktuelle Situation beeinflussten Wertvorstellungen, Verhaltensweisen und -routinen, Überzeugungen und Meinungen sowie Ordnungssysteme, Potentiale, Beziehungen und Gegebenheiten innerhalb einer Schule. Schulförmige Lebenswelt heute in ihrer schlechtesten Ausprägung kann wie folgt beschrieben werden: Standardisierung und Ökonomie des Raumes, Zeitökonomie (Tag, Woche, Jahr), Standardisierung der Lerninhalte, Kontrollcharakter, Praxisferne, ungewohnte Rituale, Mediatisierung und hierarchische Struktur. Die Diskussion um die Schulkultur trat die handlungsgeleitete und interpretative Bearbeitung und Verarbeitung der institutionell vorstrukturierten Aufgabe des „Schulehaltens“ auf Schulebene (jenseits von System- und EinzellehrerEbene) in den Vordergrund. Auf diese Weise konnte auch an die Tradition der Reformpädagogik wieder angeknüpft werden, in der Gestaltung des Gemeinschaftslebens, die Pflege des Schullebens und die Schaffung eines jugendspezifischen Lebensraumes schon einmal eine große Rolle gespielt haben, um der genannten schulförmigen Lebenswelt entgegenzutreten. Sie konnte aber durch neuere Entwicklungen auf dem Gebiet des kooperativen, partizipativen Führungsstils, der Personalvertretungsrechte, der Organisationskulturen in der Wirtschaft so weiterentwickelt werden, dass die Unterschiede zu unattraktiven Lernfabriken ohne Zielperspektiven mit ödem sozialen Leben, der ausschließlichen Konzentration auf korrekte Verwaltungsabläufe und minimalen Kommunikationsstrukturen deutlich in den Vordergrund traten und begrifflich fassbar wurden. Als zentrale Bedingungsgröße für eine gelungene Schulkultur, die vor allem von einem hohen Motivationsniveau charakterisiert ist, das eine proaktive und keine abwehrende Problembewältigungshaltung impliziert, hat sich dabei die Mentalität und pädagogische Grundhaltung der Lehrerschaft herauskristallisiert. In der praktischen Anwendung haben gerade in den letzten Jahren vielen gelungene Bemühungen gesehen, den schulischen Lebensraum zu gestalten, so dass sogar von einer gewissen schulpädagogischen Renaissance gesprochen werden kann. Dies ist aber auch unbedingt notwendig, wenn man die Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schüler betrachtet, die deviantes Verhalten zeigen. Dazu gehört die destruktive sekundäre Anpassung (Zerstörung, Provokation, Schwänzen, Lernverweigerung, Flucht, Rückzug, usw.) ebenso wie die gemäßigte sekundäre Anpassung (Mogeln, Abschreiben, Schwindeln, geheucheltes Interesse, Streiche, Blödeleien, Nebenengagement, usw.). Ziel muss es also sein, partizipative Strukturen als Teil der Gruppenkultur zu implementieren. Eine Gruppenkultur ist ein
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Muster gemeinsamer Grundprämissen, das die Gruppe bei der Bewältigung ihrer Probleme externer Anpassung und interner Integration erlernt hat, das sich bewährt hat und somit als bindend gilt und das daher an neue Mitglieder als rational und emotional korrekter Ansatz für den Umgang mit diesen Problemen weitergegeben wird. Die Frage ist nun, wie man die Erforschung des Unterrichtsklimas unter besonderer Berücksichtigung partizipativer Strukturen durch eine Kulturforschung auffangen und weiterführen kann. Ausgangspunkt weiterer empirischer Untersuchungen können die Merkmale zur Beurteilung von Kulturen sein:
Prägnanz: Wie klar sind Orientierungsmuster und Werthaltungen? Starke Organisationskulturen zeichnen sich durch klare Vorstellungen darüber aus, was erwünscht ist und was nicht. Werte, Standards und Symbolsysteme sind relativ konsistent. Weiter sind die kulturellen Orientierungsmuster relativ umfassend angelegt, um in vielen Situationen den Maßstab setzen zu können. Der Kulturinhalt (anspruchsvoll, trivial, un-/ moralisch) selbst spielt für die Beurteilung der Stärke keine Rolle. Verbreitungsgrad: Ausmaß, in dem die Beteiligten die Kultur teilen. Starke Organisationskulturen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Homogenität aus. Verankerungstiefe: Sie stellt darauf ab, inwieweit die kulturellen Muster internalisiert, also zum selbstverständlichen Bestandteil des täglichen Handelns geworden sind. Persistenz: Sie ist als weiteres Merkmal eng mit der Verankerungstiefe verbunden. Darunter versteht man die Stabilität der kulturellen Gestalt über längere Zeit hinweg. Neben diesen Merkmalen einer (partizipativen) Kultur gibt es im Bereich der Lehrer-Schüler-Interaktion ein bestimmtes Kommunikationsverhalten, dass typisch ist für den partizipativen Führungsstils der Lehrkraft: die Absprache (s. Abb. 3).
Wie in Abbildung 3 deutlich wird, sind Absprachen nicht nur zwingend notwendig im Sinn einer Regelfindung in der Schulklasse, sondern auch für die Gestaltung eines guten Unterrichtsklima. Absprachen sparen Nerven und ersetzen unausgesprochene Erwartungen. Zu den wesentlichen Merkmalen von Absprachen gehört, dass Zugeständnisse immer und leicht erfüllbar sein müssen und dass die Überprüfung gemeinsam stattfindet (zu Regeln der Führung durch Gespräche s. v. Saldern 1998a). Wenn man diesen Weg weiter denkt, dann kommt man zwangsläufig zu Studien, die in Betrieben und Organisationen durchgeführt wurden.
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Abbildung 3:
Absprachen zwischen Lehrkraft und Schüler
Akzeptanz
Sicherheit
Zufriedenheit
Erleichterung Zutrauen Lehrkraft
Schüler Absprache über Erwartung
Vertrauen
Literatur Ackermann, P. (1974, Hrsg.): Politische Sozialisation. Opladen. Anderson, G.J. (1973): The assessments for learning environment: A manual for the Learning Environment Inventory and the My Class Inventory. Halifax. Behrmann, G.C. (1974): Bedingungen politischer Partizipation und die Grenzen politischer Bildung. In: Ackermann, P. (Hrsg.): Politische Sozialisation, 304-323. Opladen. Brunner, E.J. (1998): Lehrer-Schüler-Interaktion. In: Rost, D.H. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, 282-287. Weinheim. Dreesmann, H. (1980): FUK – Fragebogen zum Unterrichtsklima. Landau. Unveröffentlichtes Manuskript. Dreesmann, H./Eder, F./Fend, H./Pekrun, R./v. Saldern, M./Wolf, B. (1992): Schulklima. In: Ingenkamp, K./Jäger, R. S./Petillon, H./Wolf, B. (Hrsg.): Empirische Pädagogik, 1970-1990. Weinheim. Eder, F. (1990): Der Linzer Fragebogen zum Sozialklima (LFSK) Linz. Unveröffentlichtes Manuskript. Eder, F. (1998): Schul- und Klassenklima. In: Rost, D. H. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, 424-430. Weinheim. Habermas, J. (1974): Politische Beteiligung, ein Wert „an sich”. In: Ackermann, P. (Hrsg.): Politische Sozialisation, 138-142. Opladen. Haertel, G.D./Walberg, H.J./Haertel, E.H. (1979): Social – psychological environments and learning: A quantitative synthesis. San Francisco. Hargreaves, D.H. (1995): School culture, school effectiveness and school improvement. In: School Effectiveness and School Improvement, 6, 23-46. Helmke, A. (1982). Schulische Leistungsangst: Erscheinungsformen und Entstehungsbedingungen. Konstanz.
Unterrichtsklima, Partizipation und soziale Interaktion
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Lehrer-Schüler-Interaktion im Kontext von Schulentwicklung Karl-Oswald Bauer
1
Einleitung
Das hier behandelte Thema muss notwendig interdisziplinär bearbeitet werden. Der Interaktionsbegriff ist sozialwissenschaftlich und psychologisch abzuleiten, als Elemente pädagogischer Prozesse sind Interaktionen zwischen Lehrkräften und Lernenden, aber auch schulpädagogisch und unterrichtstheoretisch sowie sogar bildungshistorisch zu fassen. Schulentwicklung als gezielte Veränderung der Einzelschule ist zudem Gegenstand einer per se multidisziplinär ausgerichteten Organisationsforschung. Zunächst wird herausgearbeitet, dass Schulentwicklung ein implizites Programm zur Veränderung der Lehrer-Schüler-Interaktion mitbringt, dessen Einlösung empirisch überprüft werden kann. In diesem Zusammenhang wird auch geklärt, ob humane Werte und Leistungswerte durch die Wahl entsprechender Interaktionsformen miteinander vereinbar sind. Lehr-LernProzesse können so modelliert werden, dass die Lehrer-Schüler-Interaktion als Prozessvariable, als Qualitätsmerkmal und auch als ausschließlich quantitativ kaum fassbares Geschehen betrachtet werden kann. Kausale Modelle sind hier durchaus hilfreich, sie stoßen aber an ihre Grenzen, wenn es um den subjektiven Umgang von Lernenden mit Interaktionsangeboten geht. Auch ein qualitativ hochwertiges Unterrichtsangebot kann scheitern, wenn die Interaktion mit den Lernenden misslingt. Für die Zukunft ergibt sich daraus die Notwendigkeit, außer der Angebots- auch die Nutzungsseite verstärkt zu berücksichtigen und folglich Interpretationsprozesse und in der polyadischen Interaktionssituation getroffene Entscheidungen einzubeziehen. Es bleibt die Aufgabe, Zusammenhänge zwischen Kompetenzzuwachs und Interaktionsklima möglichst mehrebenenanalytisch zu erforschen. Die historische Perspektive erweist sich als durchaus nützlich, wenn es darum geht, tief reichende strukturelle Defizite in der LehrerSchüler-Interaktion aufzudecken und Lösungen wieder zu finden, die in der langen Geschichte der Institution Schule für die Bearbeitung der antinomischen Struktur der Lehrer-Schüler-Beziehung entwickelt wurden. Und schließlich ist Schulentwicklungsberatern zu empfehlen, verstärkt mit interaktionistischen und mehrperspektivischen Modellen zu arbeiten. Schulentwicklung wiederum ist als
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Karl-Oswald Bauer
Prozess zu modellieren, der sich auf mehreren deutlich voneinander getrennten Ebenen abspielt, der Schulstrukturebene, der Schulebene, der Fachgruppen- und Lerngruppenebene und schließlich auf der Ebene dyadischer Interaktionen.
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Schulentwicklung und Lehrer-Schüler-Interaktion
Schulentwicklung als Forschungsfeld und zugleich Praxisfeld für Berater, Schulaufsichtsbeamte, Schulleitungsmitglieder und Lehrkräfte lässt sich historisch zurückführen auf Versuche in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, Modelle der Organisationsentwicklung auf die Schule zu übertragen. (Rolff, Buhren, Lindau-Bank & Müller 1998, Bauer & Rolff 1978, Bauer 1980, Bauer & Pardon 1981) Zwei Ziele standen dabei von Anfang an im Mittelpunkt, die Steigerung der pädagogischen Effektivität der Schule und mehr Menschlichkeit in der Schule. Der Begriff der Menschlichkeit, also der humanen Qualität von institutionalisierter Bildung, lässt sich durch einige Kriterien genauer fassen, die zugleich Kriterien zur Beurteilung der Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schülern sind. Hierzu gehören gute und vertrauensvolle Lehrer-SchülerBeziehungen, ein durch Akzeptanz und Wertschätzung geprägtes Klima, Fairness und Gerechtigkeit sowie unterstützende und fördernde Interaktionsformen vor allem gegenüber schwächeren und benachteiligten Schülern. Diese Kriterien lassen sich aus Grundprinzipien der Humanistischen Psychologie ebenso herleiten wie aus dem Ideengut der Reformpädagogik, aber auch aus der bildungstheoretischen Diskussion seit ihren antiken Anfängen. Die ihnen entsprechenden Ziele liefern den Bemühungen um Schulentwicklung eine Legitimationsbasis, die weit über Konzepte wie Effizienz und Leistung hinausreicht. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang lautet: Lässt sich die Leistung der Schule im Hinblick auf die Vermittlung von Basiskompetenzen steigern, ohne dass dies auf Kosten der menschlichen Qualität von Interaktionsprozessen geht? Lässt sich Unterricht beispielsweise so optimieren, dass mehr gelernt wird, also ein höheres Kompetenzniveau erreicht wird, und zugleich die humane Qualität verbessert wird? Schulentwicklung i. e. S. wird heute als komplexer Prozess gesehen, in dem drei Faktorenbündel miteinander vernetzt wirken: Entwicklung des professionellen Selbst der Lehrkräfte (Bauer 2005), Unterrichtsentwicklung (Horster & Rolff 2001, Bauer & Kanders 2000) und Organisationsentwicklung vor allem auf der Ebene der einzelnen zunehmend autonom agierenden Schule. (Rolff 2001) Insbesondere in der Dimension der Unterrichtsentwicklung, aber auch bei der Entwicklung des Schullebens kommt die Lehrer-Schüler-Interaktion ins Spiel.
Lehrer-Schüler-Interaktion im Kontext von Schulentwicklung
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Dabei kann der Blick eher auf die handelnden Individuen oder eher auf die sozialen Systeme gerichtet werden. Daher lässt sich die Qualität der Lehrer-SchülerInteraktion sowohl als Kontextmerkmal betrachten als auch als Merkmal individuellen Handelns in konkreten unterrichtlichen oder auch außerunterrichtlichen Situationen. Schulentwicklung kann aber auch als Prozess auf der Meso- und Makrobene der Gesellschaft betrachtet werden und im historischen Kontext erforscht werden. Hier stellt sich die Frage, wie bestimmte Grundmuster der Lehrer-SchülerInteraktion sich innerhalb größerer Zeiträume verändert haben, also etwa von der Antike zum Mittelalter, vom Mittelalter zur Neuzeit, oder beispielsweise von den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Besondere Problemfelder der Schulentwicklung und Unterrichtsentwicklung sind im Hinblick auf die Lehrer-Schüler-Interaktion das Verhältnis von Interaktionsqualität und Leistungsanforderungen, Disziplin und Gewalt in der Schule, Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern und die sich entwickelnden Interaktionsformen im Wechsel von Instruktion und erweiterten Lernformen. Diese Problemfelder werden im vierten Abschnitt ausführlich behandelt. Zuvor sind jedoch theoretische Modelle darzustellen, die den Rahmen für die Untersuchung von Lehrer-Schüler-Interaktionen im Kontext der sich entwickelnden Schule liefern können.
3
Modelle
Lehrer-Schüler-Interaktion im Rahmen von Schulentwicklung als gezielter Verbesserung der Einzelschule im Kontext des Systems lässt sich in Abhängigkeit von methodologischen und inhaltlichen Parametern unterschiedlich modellieren. Zwei Modelle, die sich eher am nomothetischen Paradigma orientieren, sollen hier kurz dargestellt werden. Anschließend wird auf idiographisch bzw. qualitativ orientierte Ansätze sowie strukturanalytische und historische Perspektiven eingegangen.
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Abbildung 1:
Prozess-Produkt-Modell
Kontext: Gemeinde, soziökonomische Struktur, Schulform, Rahmenbedingungen der Schule
Input: Schülerund Lehrermerkmale
Prozess: Schulleben, Unterricht
Output: Kompetenzen, Einstellungen, moralische Orientierungen
Nach dem Prozess-Produkt-Modell (vgl. Abbildung 1) sind Interaktionen Teil des Prozesses, der Schulleben und Unterricht ausmacht. Dieser wiederum hängt vom Input, also den Merkmalen von Lehrkräften und Schülern, und vom Kontext, also der lokalen und regionalen Einbettung der Schule, aber auch ihrer eigenen überindividuellen Struktur ab. Interaktionen bedingen ihrerseits den Kompetenzerwerb und den Aufbau von moralischen Orientierungen. Im Rahmen des nomothetischen Paradigmas können Interaktionen klassifiziert und gemessen werden. Dies geschieht durch standardisierte Beobachtungen oder mithilfe von Einschätzungsskalen, die in Lehrer- und Schülerbefragungen eingesetzt werden. Das Angebots-Nutzungsmodell (vgl. Abbildung 2) räumt den Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schülern einen noch höheren Stellenwert ein. Im Rahmen dieses Modells entscheiden die Schüler durch ihre Wahrnehmungen und Interpretationen des Unterrichtsangebots über dessen tatsächliche Nutzung und damit auch über die Ergebnisse. Der Output ist also in hohem Maße von Interaktionen abhängig, die nicht zum Unterrichtsangebot zu rechnen sind, sondern erst in der Lehr-Lern-Situation neu entstehen. Dieses Modell ist weniger mechanistisch als das Prozess-Produkt-Modell, allerdings auch weniger gut für exakte Prognosen über den Output geeignet.
Lehrer-Schüler-Interaktion im Kontext von Schulentwicklung Abbildung 2:
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Angebots-Nutzungsmodell (nach Helmke 2003, modifiziert)
Professionelles Selbst der Lehrkräfte
Unterricht (Angebot)
Schülermerkmale: sozioöko-
Basiskompetenzen, Werte und Ziele, Berufsethos, Subjektive Theorien, Berufliche Selbstwirksamkeit, Pädagogischer Optimismus
Qualität:
Wahrnehmung und Lernaktivitäten:
Strukturierung, effiziente Klassenführung, methodische Stimmigkeit, Unterstützung aktiver Lernprozesse, pädagogisches Klima
nomischer Status, kognitive Fähigkeit, Motivation
Interpretation des Angebots, aktive Lernzeit, Aufmerksamkeit und Mitarbeit
Wirkungen Fachliche Kompetenzen, Überfachliche Kompetenzen, Erziehungseffekte
Kontextmerkmale: Gemeinde, Schule, Klasse
3.1 Symbolischer Interaktionismus und Lehrer-Schüler-Interaktion Gegen beide Modelle sind aus der Sicht des Symbolischen Interaktionismus und verwandter Konzepte grundsätzliche Einwände vorgebracht worden, die methodologische und inhaltliche Argumente umfassen. Inhaltlich lässt sich einwenden, dass Interaktionen hier nur kategorial erfasst werden, während ihr Sinn im jeweiligen Handlungskontext verborgen bleibt. Außerdem ist immer wieder vorgebracht worden, Interaktionskategoriensysteme in der pädagogischen Forschung seien zu stark am Lehrerhandeln ausgerichtet. Schülerhandeln werde eher als Reaktion denn als eigenständige Handlung modelliert. Methodologisch lässt sich
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einwenden, dass Interaktionen sich nur auf der Grundlage teilnehmender Beobachtungen erfassen und rekonstruieren lassen, die zu sorgfältig dokumentierten Handlungsabfolgen führen, die letztlich nicht standardisierbar sind (Naujok u. a. 2004). Gegen die inhaltlichen Einwände lässt sich nun wiederum ins Feld führen, dass die empirische Schul- und Unterrichtsforschung in vielen Fällen sowohl Lehrer- als auch Schülerperspektiven erhoben hat und gerade in den letzten fünfzehn Jahren die Schülerperspektive oft in den Mittelpunkt gerückt wurde. Gegen das schwerer wiegende methodologische Grundsatzargument lässt sich sagen: Es geht gerade darum, Regelmäßigkeiten und Muster zu entdecken, wozu standardisierte Verfahren und statistische Analysen einen gangbaren Weg (gewiss nicht den einzigen) darstellen. Nun fehlt es auch keineswegs an Studien, mit denen etwa seit 1979 versucht wurde, die Engpässe einer rein quantitativen Betrachtungsweise zu überwinden. Im engeren Sinn interaktionistische Modelle orientieren sich eher am Paradigma qualitativer Forschung und beruhen meist auf dem symbolisch-interaktionistischen Ansatz. Allerdings sind diese Untersuchungen eher auf der Mikroebene unterrichtlicher Prozesse angesiedelt, weniger auf der Mesoebene der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Hier wurde herausgearbeitet, dass die Unterscheidung zwischen einer kommunikativen und einer interpretativen Kompetenz hilfreich ist. Diese beiden Kompetenzen werden neben den fachlichen Kompetenzen im Unterrichtsprozess aufgebaut und bleiben teilweise implizit. (Mehan 1979, Naujok u. a. 2004). Schüler lernen also nicht nur durch Interaktion, sie lernen auch auf besondere Weise interagieren. Diese Interaktionskompetenz hat fachliche und überfachliche Bezüge.
3.2 Strukturelle und tiefenpsychologische Analyse der Lehrer-SchülerInteraktion Eine strukturelle Betrachtung der Lehrer-Schüler-Interaktion geht nicht von empirischen Daten aus, sondern versucht die Logik der Lehrer-Schüler-Beziehung aus den strukturellen Vorgaben des Handlungszusammenhangs herzuleiten oder zu rekonstruieren. Dieser Ansatz bezieht sich auf sozialwissenschaftliche (Oevermann 1997) oder auch auf tiefenpsychologische Deutungen (Schmitz 2005) des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Oevermanns professionstheoretischer Ansatz arbeitet die Professionalisierungsbedürftigkeit der Lehrer-Schüler-Beziehung und ihre Professionalisierungschancen sorgfältig heraus. Zunächst widmet Oevermann sich dem Vergleich zwischen Beziehungsmustern in der Familie und in der Schule. Während in der Familie die Beziehung diffus und nicht-universalistisch strukturiert ist, ist
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die Lehrer-Schüler-Beziehung durch eine Mischung diffuser und spezifischer Anteile gekennzeichnet. Diffuse Beziehungen sind Beziehungen zwischen „ganzen Menschen“, etwa zwischen Liebenden oder zwischen Eltern und ihren Kindern, spezifische oder rollenförmige Beziehungen sind dadurch charakterisiert, dass sie auf bestimmte Ziele hin organisiert und zeitlich, räumlich und sächlich begrenzt werden. Eine Besonderheit pädagogischer Beziehungen sieht Oevermann darin, dass sie zwar spezifisch sind, aber innerhalb der rollenförmigen Konstellation diffuse Anteile nicht nur residual, sondern für den pädagogischen Erfolg notwendig sind. Schüler müssen gleich behandelt und nach gleichen Maßstäben beurteilt werden. Die zu erreichenden Ziele sind unabhängig von persönlichen Bindungen definiert. Und die emotionale Beziehung ist durch die professionelle Rolle der Lehrkraft begrenzt. Lehrer sollten ihre Schüler akzeptieren, lieben müssen sie sie nicht. Insofern ist die Schule als Institution universalistisch orientiert. Und doch ist für die Wahrnehmung von Erziehungsaufgaben eine besondere emotionale Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung unerlässlich. Oevermann plädiert für eine mäeutische Pädagogik, die auf der Grundlage einer stellvertretenden Deutung des latenten Sinns von Interaktionen seitens der Lehrperson praktiziert wird. Dies gilt sowohl für Widerstände seitens des Schülers gegen Zumutungen der Schule und des Lehrers als auch für kognitive Probleme des Schülers beim Zugang zu Lerninhalten. Mit dem Verweis auf den latenten Sinn von Interaktionen spricht Oevermann eine therapeutische und prophylaktische Dimension des Lehrerhandelns an. Professionelle Lehrkräfte sollten in der Lage sein, so Oevermann, Interaktionen auf mehreren Ebenen zu deuten, auch im Hinblick auf das Ziel der psychosozialen Normalität der Schülerbiographie. Dieses Konzept der stellvertretenden Deutung impliziert, dass Lehrkräfte in der Lage sind, Schülern zu helfen, den Sinn ihrer eigenen Interaktionen besser zu verstehen. Dieses reflexive Moment im Hinblick auf Interaktionen findet sich auch in anderen Konzepten der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Für Oevermann kommt dem Merkmal „Wahlmöglichkeit“ eine besondere Bedeutung zu. Ein professionelles Arbeitsbündnis hat zur Voraussetzung, dass beide Seiten sich frei entscheiden können, also auch die Möglichkeit haben, nein zu sagen. Damit schwer vereinbar ist nach Oevermann die Schulpflicht, insbesondere, wenn sie Schüler zwingt, ganz bestimmte Lehrkräfte als Interaktionspartner anzunehmen, auch wenn sie zu diesen keine Vertrauensbeziehung und kein Arbeitsbündnis herstellen können oder wollen. Schulentwicklung nach Oevermann setzt eine Erweiterung der Wahlmöglichkeiten für Lernende voraus, die zur Herstellung eines von beiden Seiten akzeptierten Arbeitsbündnisses notwendig wäre. Die Rahmenbedingungen für eine derart professionell gerahmte Lehrer-Schüler-Interaktion sind derzeit am ehesten
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im Bereich der höheren Bildung gegeben, also an Universitäten und Fachhochschulen. Aber auch unter den Bedingungen der allgemeinen Schulpflicht und der Zuweisung von Schülern zu Klassen und Lehrkräften können zumindest Elemente von Vertragsbeziehungen zwischen Lehrkräften und Schülern in den pädagogischen Alltag eingebracht werden. Eine strukturelle Analyse der Lehrer-Schüler-Interaktion kann sich auch an funktionalistischen Schultheorien orientieren. Folgt man Fend (2006), hat das öffentliche Bildungswesen vor allem die Aufgabe, Wissen und kulturelle Standards zu verwalten und an die folgenden Generationen weiterzugeben. Dazu gehört auch die Verfügung über Interaktionsmuster, die im öffentlichen Raum benötigt werden und vermutlich nicht in der Familie erworben werden können. Für die tiefenpsychologische Deutung der Lehrer-Schüler-Interaktion soll exemplarisch ein Denkanstoß von Matthias Schmitz (2005) erwähnt werden. Schmitz vertritt die interessante Hypothese, dass Lehrkräfte wohl nicht deswegen in der Nacht vor dem Schulbeginn nach den Ferien schlecht schlafen, weil sie vielleicht drei Schüler mehr als bisher in der Klasse vorfinden werden, sondern weil sie ihr Selbst bedroht sehen. „Es geht um seine Zweifel, die anstehenden täglichen Interaktionen befriedigend regulieren zu können.“ (Schmitz 2005: 40) Unter Bezug auf Kohut verwendet Schmitz den Begriff Selbstobjektbedürfnis, um den Wunsch nach Hebung und Stärkung des Selbstgefühls in der Interaktion mit anderen, also beispielsweise Schülern, zu bezeichnen. In Lehrer-Schüler-Interaktionen werden also Schmitz zufolge immer auch Ansprüche auf Anerkennung von Selbstwertbedürfnissen in Frage gestellt und verhandelt. Werden solche Bedürfnisse erheblich frustriert, fühlt sich die betroffene Person schwer gekränkt. Opfer solcher Kränkungen sind meist die Schüler, aber es kann auch die Lehrkräfte treffen. Die tiefenpsychologische Deutung zeigt also die emotionale Dimension der Lehrer-Schüler-Interaktion auf und belegt anhand von Fallstudien, wie wichtig sie für die Entwicklung einer stabilen Identität sein kann. Im Hinblick auf Prozesse der Schul- und Unterrichtsentwicklung ist zu fragen, wie Lehrkräfte ihren potenziellen Vorsprung in Form einer geschärften Selbstwahrnehmung nutzen können, um Konflikten vorzubeugen. Kollegiale Beratung und Supervision können solche Prozesse unterstützen.
3.3 Lehrer-Schüler-Interaktion im historischen Prozess Betrachtet man Schule nicht nur als Organisation oder Dienstleistungsbetrieb, sondern als kulturelle Institution, kann die Schulentwicklung in einen größeren historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt werden. Ausgehend von dieser Perspektive lässt sich beispielsweise fragen, wie sich die Lehrer-
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Schüler-Interaktion infolge des Wandels der Schule als gesellschaftlicher Institution verändert. Empirische Daten zur Beantwortung dieser Frage gibt es nicht; aber wir verfügen über eine große Zahl von Texten und archäologischen Funden, die es ermöglichen, den Schulalltag und das Miteinander von Lehrern und Schülern in der Antike zu rekonstruieren (Marrou 2003, Schwenk 1996). Zwei interessante Ergebnisse der historischen Betrachtung sind festzuhalten. Erstens: In der Antike, in der Zeit des Hellenismus und – weniger ausgeprägt – in römischer Zeit folgt auf die Schulbildung eine institutionalisierte Form der Lehrer-Schüler-Beziehung, die entweder als eine Art gymnasialer Oberstufe organisiert ist oder in Gestalt einer formell sehr offen gehaltenen höheren, akademischen Bildung. Zweitens: Die Veränderung der Lehrer-Schüler-Interaktion im Laufe der Geschichte der institutionellen Bildung ist nicht als linearer Prozess der stetigen Verbesserung sondern eher als zyklischer Prozess der zeitweiligen Höherentwicklung mit anschließenden Phasen des Niedergangs oder der Rückkehr zu bereits erprobten Formen zu modellieren. Vorschnell als „modern“ eingestufte Interaktionsformen erweisen sich mitunter als „klassisch“. Die Neuzeit hat nicht nur zivilisiertere und humanere Formen der Lehrer-Schüler-Interaktion hervorgebracht, sondern in vielen Fällen auch das genaue Gegenteil. Fasst man den Begriff „Lehrer“ weiter, als dies die Bedeutung „Schullehrer“ nahe legt (so etwa Castle 1970), dann sind Beziehungen zwischen einem Meister oder Vorreiter und seinen Nachfolgern oder Schützlingen einzurechnen. Die Kultivierung dieser Art von Lehrer-Schüler-Beziehung scheint eine Stärke der antiken Kultur gewesen zu sein, die in späteren Epochen durch kein funktionales Äquivalent ersetzt werden konnte. Durch den Fortfall einer Erzieherpersönlichkeit, die weder Schullehrer noch Elternteil war, sondern ein wohlwollender Repräsentant der (dem Anspruch nach demokratischen) Gesellschaft, ist ein erzieherisches Vakuum entstanden, das wohl auch durch partnerschaftliche Formen der Lehrer-Schüler-Beziehung kaum gefüllt werden kann. Entscheidend ist, dass in diesem Fall die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler von beiden Seiten akzeptiert wird und der Schüler den Lehrer als Förderer und Vorbild wahrnimmt, dem er freiwillig nacheifert. So dürfte etwa das Niveau der Beziehung zwischen Sokrates und Platon, Platon und Aristoteles, Marc Aurel und seinen von ihm namentlich genannten Lehrern in späteren Epochen kaum wieder erreicht worden sein. Man mag diese Beispiele als singulär beiseite schieben oder als Legende ins Reich der Phantasie verbannen, das ändert nichts daran, dass sie einen Standard setzen, an dem man sich orientieren kann. Für die Schulentwicklung wichtiger ist wohl die Einschränkung, dass es sich bei diesen herausragenden Beispielen um Fälle höherer
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Bildung, also Bildung gegen Ende der Adoleszenz handelt. Die elementare Schulbildung genießt auch in der Antike nur ein geringes Ansehen, und die Lehrer-Schüler-Interaktion war zweifellos wenig an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Im Mittelpunkt stand vielmehr das Interesse der Gesellschaft an künftigen Staatsbürgern, Soldaten und Mitgliedern einer funktionalen Elite. Dazu wurden Kompetenzen benötigt, die ohne schulische Bildung kaum zu erwerben waren. Nachdem das öffentliche Schulwesen im Mittelalter nahezu zum Erliegen gekommen war, gibt es in der Neuzeit einen neuen Anfang, der jedoch keineswegs zur Wiederherstellung spätantiker Verhältnisse führte. Die neue staatliche Schule ist grundlegend anders organisiert als ihre antiken Vorläufer; und auch die Lehrer-Schüler-Beziehung wird neu definiert. Das philosophische Fundament für eine Neudefinition der Lehrer-SchülerBeziehung in der Renaissance schufen Humanisten wie Pico della Mirandola oder Leo Battiasta Alberti, für die der Mensch nicht weit unter den Engeln rangierte und als Herr seines eigenen Geschicks galt (Castle 1970: 75f.). Erziehungsziele wie Selbstbeherrschung und Anmut werden wiederentdeckt. Es geht darum, Menschen durch Bildung zu adeln und zu verfeinern, und das erfordert auch besondere Interaktionsmuster. Insbesondere Vittorino (1378-1446) aus Venetien gilt als ein Lehrer und Schulleiter, der diese Ideen in die Praxis umsetzte. Basis für die Lehrer-Schüler-Beziehung ist der gegenseitige Respekt, die Achtung vor dem jeweils anderen (Castle 1970: 78). Vittorino lebte mit seinen Schülern zusammen und teilte mit ihnen die Mahlzeiten. Er begleitete sie bei Spielen, Ausflügen und sportlichen Aktivitäten. Dabei war er geduldig, selbstbeherrscht und konzentriert. Schüler wurden nur selten körperlich bestraft; und wenn das geschah, dann nach reiflicher Überlegung und in ritualisierter Form, also nicht im Affekt (Castle 1979: 79f.). Ein weiteres illustres Beispiel für eine gut geführte Schule in der humanistischen Tradition ist die Schule von Richard Mulcaster (1531-1611), einem Zeitgenossen Shakespeares, der seine bahnbrechenden pädagogischen Ideen wenigstens teilweise in die Schulpraxis übersetzen konnte (Castle 1970: 89ff.). Mulcaster wies bereits auf die unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten bei Schülern hin und warnte davor, zu starken Druck auf die Kinder und Jugendlichen auszuüben. Dabei trat Mulcaster keineswegs für eine permissive Haltung ein; vielmehr war er fasziniert von Möglichkeiten, Ordnung durch regelgeleitetes Handeln herzustellen. Für ihn war die wichtigste Bedingung für eine gelingende LehrerSchüler-Beziehung die professionelle Kompetenz der Lehrkräfte und ihr konsequentes Handeln. Freilich handelt es sich bei den beiden genannten Schulen um seltene und rühmliche Ausnahmen. In der Mehrzahl der Schulen sah es zu Beginn der Neu-
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zeit und in der Renaissance, also vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, viel düsterer aus. Schullehrer gebärdeten sich als Tyrannen und Gefängniswärter; und Martin Luther ging so weit, die Schulen als Kerker und Höllen zu charakterisieren. Zeitgenössische bildliche Darstellungen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit zeigen den Lehrer oder Magister oft mit der Rute, dem Symbol der erzieherischen Gewalt in einem durchaus physischen Sinn (Schiffler & Winkeler 1999). Allerdings blieb die Ausübung dieser Gewalt gegenüber Heranwachsenden auch damals nicht unwidersprochen. Seit Quintilian, also bereits in der Antike, wurde die körperliche Züchtigung der Schüler von Pädagogen und oft auch von betroffenen Eltern kritisiert und aktiv eingeschränkt (Castle 1970: 41). Eine Geschichte der Lehrer-Schüler-Interaktion von den Anfängen bis zur Gegenwart müsste erst noch geschrieben werden. Trotzdem kann jetzt schon festgehalten werden, dass die Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülern zyklischen Veränderungen unterlegen haben und dass bereits in der Antike über ihre Qualität reflektiert wurde. Insbesondere in der höheren Bildung wurde schon in hellenistischer Zeit ein beachtliches Niveau gegenseitiger Akzeptanz und Beeinflussung erreicht. Das frühe Mittelalter ist durch einen allgemeinen Niedergang des öffentlichen Schulwesens in Europa gekennzeichnet. Dieser Niedergang hat die Entwicklung der Zivilisation wohl eher gehemmt als gefördert; und zwar nicht nur, weil wichtige Wissensbestände verloren gingen, sondern auch, weil entsprechende Interaktionsmuster wie beispielsweise die friedliche Beilegung von kleinen Konflikten oder der reflektierte Umgang mit Emotionen insbesondere im Jugendalter nicht mehr eingeübt wurden. In der Neuzeit werden Ansätze aus der Antike wieder aufgenommen, während daneben eher mittelalterlich anmutende Praktiken weiter bestehen. Eine auf Wertschätzung der Schüler durch die Lehrkräfte gründende Form der LehrerSchüler-Interaktion, die Führung durch die Lehrer mit Schülerbeteiligung verbindet, ist an einigen herausragenden Schulen seit der Renaissance nachzuweisen; daneben gibt es das breite Feld der Herrschaft über Schüler durch Strafandrohung und die Ausübung von ritualisierter Gewalt.
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Forschungsergebnisse
Wenn Entwicklungsprozesse einzelner Schulen zu unterschiedlichen Prozessqualitäten führen, dann müssten sich Schulen auch im Hinblick auf Merkmale der Lehrer-Schüler-Interaktion unterscheiden lassen. Ein Teil der Varianz der Lehrer-Schüler-Interaktion müsste also auf den Faktor Schule zurückzuführen sein. Ist das tatsächlich der Fall? Und wenn ja, gibt es Zusammenhänge zwischen
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bestimmten Unterrichtsformen und Lehrerhandlungen und Schülereinstellungen und -erwartungen? Eine frühe Studie zum Zusammenhang zwischen Lehrerhandeln im Unterricht und Erwartungsstrukturen bei Schülern, die Schulvergleiche erlaubt, wurde von Bauer 1980 durchgeführt. Grundlage sind Erhebungen an 79 Sekundarschulen in Hessen, in denen Bauer im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes 11048 Schüler und 1159 Lehrkräfte sowie 79 Schulleitungen mit standardisierten Fragebögen, Tests und leitfadengestützten Interviews untersuchte (Bauer 1980: 98ff.). Eine Analyse der auf Schulebene aggregierten Daten ergab, dass ein Zusammenhang von r(s) = -.39 zwischen lehrerzentriertem Unterricht und Selbstständigkeitswertungen der Schüler besteht (Bauer 1980: 134). Je lehrerzentrierter der Unterricht auf Schulebene ist, desto weniger erwarten Schüler der jeweiligen Schule, dass von ihnen verlangt wird, selbstständig zu arbeiten. Noch bemerkenswerter sind die Zusammenhänge zwischen unabhängig voneinander erhobenen Lehrer- und Schülervariablen, die auf Schulebene aggregiert wurden. Hier ergaben sich Zusammenhänge zwischen r(s) = .24 und .30 zwischen pädagogisch-sozialen Zielorientierungen der Lehrkräfte und Schulangst sowie Selbstständigkeitserwartungen der Schüler auf Schulebene (Bauer 1980: 141). Obwohl diese Rangkorrelationen nicht sehr hoch sind, sind sie auf jeden Fall statistisch bedeutsam und wohl auch praktisch relevant. Die Daten insgesamt belegen, dass emotionales Befinden und für den Bildungsprozess wichtige Erwartungen von Schülern erstens zwischen den Schulen variieren und zweitens zum Teil auf unterschiedliche Einstellungen und Handlungen der Lehrkräfte zurückgeführt werden können. Diese Befunde waren damals ein Ansporn, sich verstärkt um die einzelne Schule als Träger der Schulentwicklung zu bemühen. Vernachlässigt wurden seinerzeit die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Klassen einer Schule, die auf ein hohes Maß an Heterogenität der Interaktionsmuster innerhalb einer Schule schließen lassen. Im Rahmen desselben Projektes wurden auch Unterrichtsbeobachtungen als Element von Fallstudien an ausgewählten Schulen mit dem SIK (Sozioemotionales Kategoriensystem nach Wagner 1976) durchgeführt. Die Autoren resümieren: „Lehrer und Schüler verwenden die Interaktionskategorie ‚Reflektieren, verständnisvolles Wiedergeben’ nur äußerst selten … Ebenso selten tritt die Kategorie ‚Verbalisieren von eigenen Gefühlen und eigenem Verhalten’ auf“ (Bauer & Pardon 1981: 92f.). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Interaktionsformen, die Feedbackprozesse unterstützen, von den Lehrkräften äußerst sparsam eingesetzt werden. Anhand von Untersuchungen an ausgewählten Klassen wiesen sie außerdem nach, dass enge Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit direktiver Lehreräußerungen und Schulangst sowie direktiven Schüleräuße-
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rungen bestehen. Die Korrelationen sind mit r(s) = 0.70 auf Klassenebene beachtlich (Bauer & Pardon 1981: 95f.). Hier wäre angesichts der hohen Korrelationen auf Klassenebene eine Mehrebenenanalyse aufschlussreich gewesen; aber dazu waren die vorhandenen Daten zu unvollständig. Diese Untersuchungen liegen gut 25 Jahre zurück. Wahrscheinlich würden die Häufigkeitsverteilungen der Interaktionsmerkmale heute anders aussehen. Ob dies wirklich so ist, können nur Replikationsstudien klären. An den Zusammenhängen dürfte sich jedoch wenig geändert haben. Wenig dürfte sich auch daran geändert haben, dass ein Teil der Unterschiede auf die Schule zurückführbar ist, ein anderer, größerer Teil, auf die Schulklasse als Faktor. Über die Unterschiede zwischen Lerngruppen bzw. Klassen geben neuere Arbeiten beispielsweise von Ditton, Merz (2000) bzw. Ditton (2002) genauere Auskunft. Ditton u. a. befragten im Jahr 2000 4316 Schüler und 1585 Lehrkräfte an 178 bayerischen Schulen aller Schulformen (Ditton & Merz 2000: 8). Da jeweils komplette Klassen befragt wurden, ist eine Auswertung auf Klassenebene möglich. Untersucht wurden 187 Klassen. Festgestellt wurde, dass der durch die Klasse erklärte Varianzanteil bei der Variablen Positives Sozialklima 25 %, bei der Variablen Positives Verhältnis zur Fachlehrkraft 27 %, bei der Variablen Klassenmanagement 29,4 % beträgt (Ditton & Merz 2000: 19, 29, 31). Es lassen sich auch Unterschiede zwischen den Schulformen statistisch absichern, die meist zuungunsten des Gymnasiums ausfallen. Allerdings sind die schulformbedingten Unterschiede weitaus schwächer als die Unterschiede zwischen den Schulklassen (Ditton & Merz 2000: 29). Aufgrund der Anlage der Untersuchung war es nicht möglich, Mehrebenenanalysen durchzuführen, so dass sich die Varianzen nicht in schulbedingte und klassenbedingte Anteile zerlegen lassen. Als Hilfskonstruktion kann eine Skala zur Bewertung der Schule herangezogen werden, bei der durch Schulunterschiede etwa 20 % der Varianz aufgeklärt werden. Dies ist offenbar ein guter Schätzwert für die Stärke der Schulunterschiede bei Klimavariablen. Interessant ist ein Vergleich der Einschätzungen und Bewertungen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses aus Lehrer- und aus Schülersicht. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird von den Lehrkräften deutlich positiver wahrgenommen als von den Schülern. Auf einer Skala von 1 (volle Ablehnung) bis 4 (volle Zustimmung) erreicht zum Beispiel das Item „Im allgemeinen herrscht hier ein freundlicher Umgangston zwischen Lehrern und Schülern“ einen Wert von 3,4 bei den Lehrkräften, aber nur 2,96 bei den Schülern. „Ich habe hier schon oft erlebt, dass Schüler lächerlich gemacht wurden.“ wird von den Lehrkräften mit 1,71 deutlich abgelehnt, bei den Schülern ist die Ablehnung mit 2,57 weit schwächer ausgeprägt (Ditton & Merz 2000: 17).
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Wichtig im Kontext dieses Artikels ist die Frage, in welchem Grad Lehrer- und Schülerwahrnehmungen in den einzelnen Dimensionen übereinstimmen. Leben Lehrkräfte und Schüler in verschiedenen Welten, was die Einschätzung ihrer Beziehung zueinander angeht? „Die Erwartung der Lehrkräfte bezüglich der Einschätzung des LehrerSchüler-Verhältnisses (gute Beziehung zu den Schülern) korreliert besonders hoch mit der tatsächlichen Kennzeichnung der Lehrer-Schüler-Beziehung durch die Schüler (.471)“ (Ditton & Merz 2000: 35). Es wird von den Autoren als erstaunlich angesehen, dass die Korrelation gerade bei dem eher schwer objektivierbaren Aspekt der Lehrer-Schüler-Beziehung so hoch ausfällt. Für die Schulentwicklung besonders relevant ist die Frage, wovon eine positive Gesamtbewertung der Schule durch die Schüler abhängt. Es zeigt sich: „Signifikant positiver werden diejenigen Schulen bewertet, in denen die Schüler das Verhältnis zu den Lehrkräften positiver wahrnehmen (.728). Einen ähnlich hohen Stellenwert hat für das Urteil der Schüler ein positiv wahrgenommenes Schulgebäude (.660)“ (Ditton & Merz 2000: 19). An erster Stelle steht also mit einer Korrelation von .728 das positive Verhältnis zu den Lehrkräften, das somit noch vor dem ansprechenden Schulgebäude rangiert. Für die Schüler ist eine gute Schule zuallererst eine Schule mit guten Lehrer-Schüler-Beziehungen. Dass die Schüler damit keineswegs eine komfortable Wohlfühlschule meinen, in der keine Anforderungen gestellt werden, geht aus dem Befund hervor, dass auch Ordnung und Disziplin deutlich positiv mit der Bewertung der Schule korrelieren. Rückschlüsse auf die Interaktionsqualität des Unterrichts an Schulen in der Gegenwart lassen auch entsprechende Daten aus der PISA-2003-Studie zu. Baumert u. a. (2004) arbeiten mit einem Sieben-Faktorenmodell der Unterrichtswahrnehmung durch Mathematiklehrkräfte. Diese sieben Faktoren sind: kognitiv herausfordernde Unterrichtsgestaltung; enggeführter Unterricht; erweiterte Lernformen; Individualisierung und Differenzierung; Interaktionstempo; effektive Klassenführung; soziale und persönliche Orientierung. Indikatoren für die soziale und persönliche Orientierung sind personales Vertrauen, die Wichtigkeit persönlicher Anliegen und entsprechende diagnostische Kompetenzen. (Baumert u. a. 2004: 331f.). Aufschlussreich in unserem Zusammenhang ist das Ergebnis ihres Versuches, Optimalunterricht zu modellieren. Optimalunterricht ist ein kognitiv herausfordernder, effizienter und differenzierter Unterricht mit hoher persönlicher Zuwendung (Baumert u. a. 2004: 336).
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4.1 Interaktion und Leistung Für Pädagogen und Schulentwickler ist eine gute Interaktionsqualität kein Selbstzweck. Letztlich soll sie dazu beitragen, dass besser gelernt wird und dass die Lernenden in ihrer persönlichen Entwicklung gefördert werden. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Qualität der Interaktionen im Unterricht Einfluss auf den Grad der Zielerreichung, also auf die pädagogische Effektivität, hat? Auf der Grundlage einer Längsschnittstudie an 4253 Schülerinnen und Schülern in 194 Klassen wurde im Rahmen der PISA-Studie (Deutschland) die Kompetenzentwicklung von der neunten zur zehnten Klasse untersucht. (Prenzel u. a. 2006: 5). Dabei wurden auch Variablen berücksichtigt, die sich unter die Kategorie „Interaktionsqualität“ subsumieren lassen. Interessant ist im hier behandelten Zusammenhang die Frage, welche Beziehungen zwischen Leistung bzw. mathematischem Kompetenzzuwachs innerhalb eines Schuljahres und Merkmalen der Lehrer-Schüler-Interaktion bestehen. Multivariate Analysen zeigen, dass zwei Dimensionen einen signifikanten und relevanten Einfluss auf die Mathematikleistungen in der 10. Klasse haben: das kognitive Potential der Aufgaben im Unterricht und die Klassenführung. Zur Klassenführung gehören die Reduzierung von Störungen im Unterricht, die effiziente Zeitnutzung und die effektive Strukturierung der Unterrichtsprozesse durch die Lehrkraft. (Prenzel u. a. 2006: 11f.) Obwohl der Begriff Interaktion in diesem Zusammenhang von den Autoren nicht verwendet wird, kann man doch davon ausgehen, dass eine effektive Klassenführung auf zielgerichtet gesteuerten Interaktionen beruht, wobei Lehrkräfte und Schüler gut kooperieren, das heißt, zumindest zeitweise gemeinsam ähnliche Ziele verfolgen und gut aufeinander eingespielt sind. Dieses „Gut-aufeinander-eingespielt-sein“ wurde auch in symbolisch-interaktionistisch orientierten Fallstudien zur Lehrerprofessionalität beobachtet (Bauer, Kopka & Brindt 1999: 128-154). Ausgehend von Fallstudien und einer Analyse der Ergebnisse quantitativer Unterrichtsforschung hat Bauer in sein Modell pädagogischer Basiskompetenzen von Lehrkräften eine spezifisch pädagogische Interaktionskompetenz von Lehrkräften aufgenommen (Bauer 2005: 181ff.), die den Aspekt der Steuerung komplexer Interaktionsprozesse besonders hervorhebt. Damit ist nebenbei eine der eingangs gestellten Fragen einer Lösung näher gebracht worden: Hohe kognitive Ansprüche an die Lernenden und eine effiziente Klassenführung vertragen sich offenbar gut mit einer hohen persönlichen und sozialen Orientierung der Lehrkräfte. Pädagogische Effektivität und Menschlichkeit schließen sich nicht aus, sondern fördern einander höchstwahrscheinlich sogar.
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4.2 Disziplin und Gewalt In der langen Geschichte der Schule wird immer wieder von so genannten Disziplinproblemen berichtet. Damit sind unter anderem Konflikte bei der Koordination und Kooperation zwischen Lehrkräften und Schülern gemeint. Auch in der empirischen Gewaltforschung an Schulen wird Gewalt im Kern als ein „Kommunikations- und Interaktionsproblem, das schon mit der Definition des Gewaltbegriffs beginnt“ (Melzer, Schubarth & Ehninger 2004: 103) verstanden. So definieren Schüler den Gewaltbegriff enger als Lehrer. Im Kontext dieses Artikels zentrale Ergebnisse der empirischen Gewaltforschung an Schulen fassen Melzer u. a. wie folgt zusammen: „Aufschlussreich sind die Ergebnisse auch hinsichtlich konflikt- und aggressionshaltiger Lehrer-Schüler-Interaktionen. Fast jeder vierte Schüler beobachtet relativ oft Beschimpfungen oder Beleidigungen von Lehrpersonen. Umgekehrt sind auch die Aggressionen der Lehrer gegenüber den Schülern nicht unbeträchtlich: So sagt jeder dritte Schüler, dass es Lehrer gibt, „die einen vor der ganzen Klasse blamieren.“ 9 % der Befragten geben sogar an, dass Lehrer „auch schon mal handgreiflich werden“. Insbesondere die letzten Ergebnisse zeigen, dass eine Verbesserung der Interaktion zwischen Schülern und Lehrern an einem Teil der Schulen notwendig ist.“ (Melzer u. a. 2004: 108) Im Anschluss an die Erziehungsstilforschung aus den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts referiert Rüedi (2004) empirische Befunde zur (mangelnden) Lenkung von Kindern und Jugendlichen und kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche Lenkung auf der Grundlage einer Vertrauensbeziehung brauchen, um ihre Sozialkompetenz zu entwickeln (Rüedi 2004: 57f.). Auch die Pädagogische Psychologie liefert Befunde, die für die Annahme sprechen, dass die direkte Instruktion mit einem hohen Maß an Lenkung der Schüler durch die Lehrkraft das Selbstvertrauen der Schüler stärkt und ihre Leistungsängstlichkeit reduziert. Aus der entwicklungspsychologischen Forschung gibt es eindeutige Hinweise auf eine Veränderung des Verständnisses von angemessener Lenkung im Übergang von der Kindheit zur frühen Jugend. Gehorsam wird bei Zwölfjährigen zu einer Frage der persönlichen Entscheidung, die situationsabhängig ist (Damon 1989). Jugendliche sind dann bereit zu gehorchen, wenn sie es für sinnvoll und angemessen halten und wenn sie der Person, die ihnen Gehorsam abverlangt, eine entsprechende Kompetenz zuschreiben. Eine Schlüsselrolle im Umgang mit Interaktionen, in denen die Disziplin auf dem Spiel steht, wird von einigen Autoren dem Humor zugeschrieben. Ein Beispiel dazu liefert die folgende Anekdote: „Humor ermöglicht so Souveränität, zum Beispiel jenem Lehrer, der seinen Stuhl nahm, ihn auf den Tisch stellte und sich hinauf setzte, als er beim Betreten
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des Klassenzimmers bemerkte, dass alle Schülerinnen und Schüler ebenfalls oben auf ihren Pulten saßen. „Was machen wir jetzt?“ fragte er die Klasse schmunzelnd, und der Bann war gebrochen“ (Rüedi 2004: 185). Dieser Lehrer, so Rüedi, „reagierte flexibel, heiter, wertschätzend und überraschte zugleich seine Schülerinnen und Schüler“ (Rüedi 2004: 185). Ein humorvoller Umgang mit „störendem“ Schülerverhalten kann auch in eine Strategie des Perspektivwechsels und der Umdeutung auf der Grundlage lösungsorientierter Coachingansätze eingebettet sein. (Glöckel 2000) Beispielsweise können Schüler mit Komplimenten ermutigt werden, ihr „Fehlverhalten“ öfter zu zeigen, weil es bestimmte positive Effekte habe. Diese Vorgehensweise kann bewirken, dass die Kontrolle über die Situation wiedererlangt wird. Lösungsorientiert vorgehende Pädagogen fragen sich angesichts von Interaktionsproblemen: Welchen Nutzen haben die als problematisch wahrgenommenen Interaktionen? Oder: Wozu könnten sie dienen? Dieses Reframing erweitert den Horizont und führt oft zu überraschenden Lösungen. (Mehlmann & Röse 2000, zur Qualifizierung von Pädagogen für derartige Maßnahmen vgl. Pallasch & Petersen 2005). Eine weitere, immer häufiger eingesetzte Form der Störungsprävention besteht darin, dass Schüler und Lehrkräfte schriftliche Verträge miteinander abschließen, die sich auf präzise definierte Verhaltensziele oder Aufgaben beziehen. Wichtig ist dabei, dass beide Seiten dem Inhalt ausdrücklich zustimmen, das Ziel also gemeinsam formulieren, und durch ihre persönliche Unterschrift die Bereitschaft bekräftigen, sich an diesem Ziel zu orientieren. (Rüedi 2004: 220f.) Zu den Möglichkeiten der Schulentwicklung zählt auch die Einrichtung eines Trainingsraums, den Schüler aufsuchen, die den Unterricht mehrfach stören und in dem sie aufgefordert werden, die Konsequenzen ihres Handelns zu reflektieren.
4.3 Vertrauen Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrkräften und Schülern kann als Qualitätsmerkmal einer guten Schule angesehen werden. Vertrauen ist nicht nur Grundlage für eine dauerhafte emotionale Bindung zwischen den Beteiligten, sie ist auch Kennzeichen einer professionellen Ausgestaltung des Arbeitsbündnisses zwischen Lehrkräften und Schülern. Aber wie ausgeprägt ist dieses Qualitätsmerkmal, und welche Wünsche und Erwartungen haben Schüler im Hinblick auf vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Lehrern? Zu dieser Frage hat das Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung Repräsentativbefragungen von Lehrkräften und Schülern durchgeführt. Kanders hat sich in seiner Studie zum
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Bild der Schule vertieft diesem Aspekt gewidmet. Eine methodische Besonderheit dieser Untersuchungen besteht darin, dass hier nicht nur nach der gegenwärtigen Situation, sondern auch nach erwünschten Zuständen gefragt wird, so dass Soll-Ist-Diskrepanzen ermittelt werden können. Nur 11 % der von Kanders 1998 befragten Sekundarschüler stimmten der Aussage „Zu den Lehrern habe ich großes Vertrauen“ zu. 44 % gaben an, dass dies „für einige meiner Lehrer“ zutreffe, 46 % gaben an, dass dies nur für sehr wenige oder keinen Lehrer zutreffe. 63 % der Befragten hingegen erklärten, Vertrauen zu den Lehrern haben zu können, sei für einen guten Lehrer besonders wichtig. Nach der didaktischen Kompetenz und nach der Gleichbehandlung der Schüler durch die Lehrkräfte kommt damit das Vertrauen bzw. die Vertrauenswürdigkeit als Merkmal einer guten Lehrkraft an dritter Stelle (Kanders 2000: 20, 143). Ein Vergleich mit älteren, ebenfalls bundesweit repräsentativen Daten, zeigt dass die Verteilung stabil ist. Das von den Schülern attestierte Vertrauen zu den Lehrkräften hängt von der Schulform und vom Leistungsstatus der Schüler ab. Leistungsschwache Schüler (bezogen auf die Mitschüler derselben Schulform) berichten über weniger Vertrauen. Der Vergleich zwischen den Schulformen zeigt, dass immerhin 14 % der Hauptschüler gegenüber nur 8 % der Gymnasiasten zu den meisten ihrer Lehrer Vertrauen haben. Die Unterschiede zwischen den Schulformen sind stabil (Kanders 2000: 143).
4.4 Plenumsarbeit oder Frontalunterricht Nachdem in der allgemeindidaktischen Diskussion erweitere Lernformen lange Zeit im Unterschied zur tatsächlichen Unterrichtspraxis bevorzugt und oft pauschal positiv bewertet wurden, setzte seit Ende der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf die direkte Instruktion als hochwirksame Lehr-Lernform ein. Diese Neubesinnung wurde durch eine Vielzahl von Forschungsergebnissen der Instruktionspsychologie untermauert. Seitdem findet eine Entideologisierung der Debatte über direkte Instruktion gegenüber erweiterten Lernformen statt. In diesem Zusammenhang werden neuerdings Vorschläge zur Verbindung von lehrerzentrierten Formen des Frontalunterrichts mit schüleraktivierenden, stärker interaktiven Formen gemacht. Dabei ist der Begriff „Plenumsarbeit“ oft besser angebracht als der Begriff Frontalunterricht (Gudjons 2003). Plenumsarbeit ist zwar Arbeit mit der gesamten Lerngruppe und zwangsläufig auf ein Zentrum hin ausgerichtet, aber dieses Zentrum der Aufmerksamkeit kann auch in einer Schülerpräsentation, einem Schülervortrag oder einem inszenierten Streitgespräch bestehen.
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Gudjons referiert Ergebnisse deskriptiv angelegter empirischer Untersuchungen zu den Sozialformen des Unterrichts, aus denen hervorgeht, dass der Frontalunterricht etwa 77 % der Unterrichtszeit beansprucht, gefolgt von der Einzelarbeit mit 10 %, der Gruppenarbeit mit 7 % und anderen Sozialformen mit je etwa 3 % (Gudjons 2003: 39). Die beiden herausragenden Formen des Frontalunterrichts sind das gebundene, fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch und der Lehrervortrag. Schüler wissen diese Interaktionsformen zu schätzen, wenn der Unterricht interessant gestaltet ist und die Lehrkraft über eine hohe Fachkompetenz verfügt. Auch hier gibt es ein großes Optimierungspotenzial. Der Lehrervortrag beispielsweise kann durch nonverbale Kommunikation (Heidemann 1996) und durch eine geschickte Raumregie (Gudjons 2003: 216ff.) wirkungsvoll unterstützt werden. Besonders effektiv wird eine lehrerzentrierte Interaktion in der Plenumsphase durch Blickkontakt zu den Lernenden, aufrechte Körperstellung im statischen oder dynamischen Zentrum der „Bühne“ Klassenraum sowie ausdrucksvolle Mimik und (sparsame) Gestik. Körpersprache gilt als trainierbar und sollte Teil des professionellen Interaktionsrepertoires sein (Gudjons 2003: 231; Bauer 2005: 181ff.). Sie sorgt für die Aufrechterhaltung der Interaktion unterhalb der Ebene der fachlichen Kommunikation und stellt somit die Basis für fachliche Austauschprozesse dar. Gudjons plädiert nachdrücklich für eine Verbindung von guter Plenumsarbeit mit interaktiven Lernformen, die eine hohe Eigenaktivität der Lernenden erfordern. Hierzu gehören beispielsweise das Expertengespräch, bei dem Lernende externe Experten interviewen und befragen können; die amerikanische Debatte, bei der kontroverse Themen nach festgelegten Regeln von Schülern im Plenum diskutiert werden; das Fish-bowl, bei dem die Schüler in einen Innenkreis mit sechs bis acht Teilnehmern und einen Außenkreis mit den Zuschauern aufgeteilt werden; Blitzlicht, Murmelphasen, Partnerinterviews und Bienenkörbe sowie weitere teilweise recht formalisierte Arrangements, durch die Lernende mehr Gelegenheiten bekommen, selbst aktiv zu interagieren (Gudjons 2003: 200ff.).
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Forschungs- und Entwicklungsperspektiven
Im Hinblick auf spezielle Fragestellungen der Schulentwicklungsforschung und der Schulqualitätsforschung ergeben sich besondere methodologische Anforderungen an die künftige Erforschung von Lehrer-Schüler-Interaktionen, die bisher nur selten eingehalten wurden. Für die mit standardisierten Verfahren arbeitende quantitative Schulentwicklungsforschung erweist es sich als unabdingbar, wenn
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möglich mehrebenenanalytisch vorzugehen, um Schuleffekte von Klasseneffekten und individuellen Effekten trennen zu können. Im Rahmen kausaler oder quasikausaler Denkmodelle sind dabei möglichst auch Längsschnittstudien zur Veränderung von Interaktionsmustern notwendig. Für eine methodenpluralistisch eingestellte Schulentwicklungsforschung, die auch an der Entstehung von Bedeutungen und an der Konstruktion von Sinn in Interaktionsprozessen interessiert ist, ergibt sich das Desiderat einer Verknüpfung von Strukturmodellen und symbolisch-interaktionistischen Prozessmodellen. Beispielsweise wäre zu untersuchen, wie objektive Daten, die im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Verbesserung der Schulqualität, kommuniziert werden, tatsächlich wahrgenommen und subjektiv verarbeitet werden. Erst dann kann untersucht werden, welche Handlungsentwürfe daraus entstehen und wie die Interaktionspartner ihr Spiel spielen. Dies erfordert eine sorgfältig aufeinander abgestimmte Kombination von standardisierten und qualitativen Verfahren. Entscheidend für den Nutzen solcher Forschungen wird sein, ob es gelingt, überzeugende Lösungen für das Problem der Validität der eingesetzten qualitativen Analysemethoden zu finden. Zur Klärung der Frage, welche Grundmuster der Interaktion sich verändert haben und in welchem Ausmaß, sind Replikationsstudien notwendig. Denn seit etwa dreißig Jahren sind Lehrer-Schüler-Interaktionen in empirischen Studien zur Unterrichtspraxis mit standardisierten Beobachtungsverfahren untersucht worden. Auch wenn manche dieser Verfahren heute als veraltet gelten, wären Replikationen sinnvoll, um zu prüfen, ob sich die Interaktionsmuster tatsächlich heute anders verteilen als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Ein besonderes Desiderat ist die auf lange Zeiträume und langfristige Entwicklungen ausgerichtete historische Erforschung der Lehrer-Schüler-Interaktion im Kontext einer Entwicklung von Schulstrukturen und Schulformen auf der gesellschaftlichen Makroebene. Wahrscheinlich hatte die Schule eine zentrale Bedeutung für den Prozess der Zivilisation; und wahrscheinlich ist ihre Bedeutung auch auf die Tradierung und Festigung gesellschaftlich benötigter Interaktionsmuster zurückzuführen. Dabei sind erhebliche Diskrepanzen zwischen Pionierschulen und der großen Masse der Schulen festzustellen. Und es ist anzunehmen, dass Entwicklungen teilweise zyklisch, teilweise auch diskontinuierlich verlaufen. Auch tiefenpsychologische und strukturelle Perspektiven sollten nicht von vornherein verworfen werden. Möglicherweise lassen sich Belastungen für Lehrkräfte und Schüler deutlich reduzieren, wenn anerkannt wird, dass Interaktionen in der Schule auch für die Festigung des Selbstwertgefühls und eine stabile Identität sowohl der Schüler als auch der Lehrer wichtig sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient im Kontext der Schulentwicklung die Lehrer-Schüler-Interaktion in Steuergruppen oder anderen partizipativen Grup-
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pen, in denen es nicht um Erziehen und Unterrichten, sondern um Planen, Gestalten und Entwickeln geht. Kinder und Jugendliche sind ja als Steuergruppenmitglieder den Lehrkräften nicht untergeordnet, sondern sozusagen beigeordnet. Wie wird unter solchen Bedingungen interagiert? Perspektiven für eine Unterstützung der pädagogischen Praxis bieten sich auf folgenden Gebieten: Erweiterung der Kompetenzen von Lehrkräften zur Steuerung von Interaktionsprozessen im Unterricht etwa durch die Wahrnehmung von Moderatorenaufgaben oder durch die Fähigkeit, diskursive Formen der Problembearbeitung zu initiieren; Einsatz von speziellen Formen der Gesprächsführung aus Beratung und Coaching zur Förderung lösungsorientierter Interaktionsformen; verstärkter Einsatz von effizienten Feedbackmethoden, um die Wahrnehmung von Unterrichtsprozessen durch Lernende bei der Unterrichtsentwicklung zu berücksichtigen, Optimierung der vorherrschenden Interaktionsformen wie Plenumsarbeit oder Kleingruppenarbeit durch die stärkere Beachtung von Ergebnissen der Instruktions- und Wirkungsforschung. Gerade auf diesem Gebiet kann dem Lehrertraining zusätzlich zu den konventionellen Formen der Lehrerbildung eine hohe Wirksamkeit zugeschrieben werden (Dann & Humpert 2002, Havers & Toepell 2002, Bauer 2005). Schulentwicklung kann sich dabei an folgendem Prozessmodell orientieren (vgl. Abb. 3). Abbildung 3:
Prozessmodell der lösungsorientierten Schulentwicklung Zielklärung in Interaktion mit Schülern, Definition von Standards und Indikatoren
Entwicklung von Lösungen in Interaktion mit Schülern auf Schulebene und Lerngruppenebene
Erprobung von Lösungen auf Schulebene und Lerngruppenebene – ggf. Fortbildung und Training
Evaluation
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Zunächst sind mit Schülern gemeinsam auf Schulebene und/oder auf Lerngruppenebene Ziele für eine Verbesserung der Lehrer-Schüler-Interaktion zu benennen und zu klären. Ziele sollten spezifisch, messbar, erreichbar, realistisch, zeitlich gegliedert und ethisch einwandfrei sein. In einem zweiten Schritt können Lösungen erfunden oder Maßnahmen festgelegt werden, die versuchsweise durchgeführt werden. Erst die anschließende Evaluation, für die Standards und Indikatoren schon in der Zielklärungsphase festgelegt wurden, entscheidet darüber, ob Lösungen beibehalten und institutionalisiert werden oder ob man es auf andere Weise versucht. Dieses rationale Phasenmodell stellt eine wichtige Orientierungshilfe zur Steuerung des Schulentwicklungsprozesses dar, es ist kein deskriptives empirisches Modell für die tatsächlichen Abläufe. Aus den bisherigen Erfahrungen mit Schulentwicklungsprozessen kann der Schluss gezogen werden, dass die Ausrichtung auf einige wenige Entwicklungsziele und die Konzentration auf notwendige Zwischenschritte wichtige Voraussetzungen für den Erfolg sind. Themen der Unterrichts- und Schulentwicklung können sein: Gewaltprävention in der Schule, hochwertige Plenumsarbeit anstelle von Frontalunterricht, Verbesserung der Vertrauensbeziehung zwischen Lehrkräften und Schülern, effiziente Klassenführung und geregeltes Verhalten in der Gruppe, Klärung der Leistungserwartungen und Steigerung der Handlungskompetenz in leistungsthematischen Situationen, Reflexion von Lehrer-Schüler-Interaktionen in der kollegialen Beratung und Supervision. In allen diesen Fällen ist die wechselseitige Wahrnehmung und Beeinflussung von Lehrkräften und Schülern von entscheidender Bedeutung. Und in allen diesen Fällen lassen sich Unterschiede im Niveau der Interaktionsqualität benennen und messen. Und was sich nicht messen lässt, lässt sich zumindest verstehend nachvollziehen.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Auernheimer, Georg Univ.-Prof. Dr. Georg Auernheimer em. Universität zu Köln, Erziehungswissenschaftliche Fakultät Allgemeine Pädagogik, Interkulturelle Pädagogik Gronewaldstr. 2, 50931 Köln E-mail:
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[email protected] Czeschlik, Tatiana PD Dr. Tatiana Czeschlik Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie Pädagogische und Entwicklungspsychologie Gutenbergstraße 18, 35032 Marburg E-Mail:
[email protected] Dalbert, Claudia Univ.-Prof. Dr. Claudia Dalbert Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg Philosophische Fakultät III, Institut für Pädagogik Franckenplatz 1, Haus 5, 06099 Halle (Saale) E-Mail:
[email protected] Dann, Hanns-Dietrich Univ.-Prof. Dr. Hanns-Dietrich Dann em. Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie, Institut für Psychologie II Regensburger Str. 160, 90478 Nürnberg E-Mail:
[email protected] Domsch, Holger Dipl.-Psych. Holger Domsch Universität Bielefeld Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Abteilung für Psychologie Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld E-Mail:
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[email protected] 611 Kelle, Udo Univ.-Prof. Dr. Udo Kelle Philipps-Universität Marburg Fachbereich 03: Philosophie und Gesellschaftswissenschaften Institut für Soziologie Ketzerbach 11, 35032 Marburg E-Mail:
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[email protected] 614 Tausch, Reinhard Univ.-Prof. Dr. Reinhard Tausch em. Universität Hamburg Fakultät 4: Erziehungswissenschat, Psychologie und Bewegungswissenschaft / Fachbereich Psychologie Von-Melle-Park 5, 20146 Hamburg
Thiel, Felicitas Univ.-Prof. Dr. Felicitas Thiel Freie Universität Berlin Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie / Arbeitsbereich Schulpädagogik / Schulentwicklungsforschung Arnimallee 10, 14195 Berlin E-Mail:
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