Rolf Becker (Hrsg.) Lehrbuch der Bildungssoziologie
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Lehrbuch der Bildungssoziologie
Für Caterin...
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Rolf Becker (Hrsg.) Lehrbuch der Bildungssoziologie
Rolf Becker (Hrsg.)
Lehrbuch der Bildungssoziologie
Für Caterina
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14794-9
Vorwort
Allgemeines Zweifelsohne hat die Bildungssoziologie seit Mitte der 1990er Jahre, nachdem sie seit den 1970er Jahren ein recht tristes Mauerblümchendasein in der Soziologie fristete, in der sozialwissenschaftlichen Forschung wieder an Aufmerksamkeit gewonnen. Jedoch mangelt es vor allem im deutschsprachigen Raum an einer umfassenden Darstellung von Theorie, Methoden, zentralen empirischen Befunden der Bildungssoziologie und einer kritischen Würdigung des Erkenntnisstandes in dieser Disziplin. Das vorliegende Lehrbuch soll diese Lücke schließen. Es bietet eine weit gefasste Abhandlung zentraler Themen, Fragestellungen und Forschungsergebnisse der gegenwärtigen Bildungssoziologie. Theorien, Methoden und zentrale empirische Befunde der modernen empirischen Bildungssoziologie stehen deswegen im Vordergrund des Sammelwerkes. Nachdem die Bildungssoziologie als akademische Disziplin diskutiert und der Stellenwert von Bildung aus soziologischer Sicht behandelt wurde, werden individuelles Bildungsverhalten, strukturelles Bildungsangebot und institutionalisierte Bildungsprozesse aus einer soziologischen Perspektive beschrieben und mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Ansätze zu erklären versucht. Im Vordergrund stehen dabei zunächst die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, Bildungsverhalten, Bildungssystem und Arbeitsmarkt. Hierbei geht es um die Rolle von Bildung für die Sozialintegration, für die Sozialstruktur von Lebensverläufen und der Gesellschaft und schließlich für die Systemintegration. Bezug nehmend auf die neuere soziologische Bildungsforschung werden soziale Ungleichheiten von Bildungschancen und dauerhafte Bildungsungleichheiten beleuchtet. Weitere spezifischere Themen sind dann Zusammenhänge von Familie und Bildungschancen, Familie, Schule und Schulklasse als soziales System und Sozialisationsraum, Beschäftigung und Bildung, Bildung und Lebenschancen sowie Bildung, Bildungsinstitutionen und gesellschaftlicher Wandel. Einen besonderen Stellenwert nimmt auch die Frage nach den erwarteten und unerwarteten Folgen der Bildung im Allgemeinen und der Bildungsexpansion im Besonderen ein. Bildungsverweigerung und Ausbildungslosigkeit sind ebenso aktuelle Themen wie Berufs- und Weiterbildung oder der Zusammenhang von Migration und Bildung, die in der bildungssoziologischen Debatte bislang ebenso sträflich vernachlässigt worden sind wie aktuelle Entwicklungen im Hochschulbereich. Im vorliegenden Lehrbuch konnten gewiss nicht alle Lücken geschlossen werden: Es fehlen Diskussionen über die amtliche und akademische Bildungsstatistik und die Bildungspolitik aus sozialwissenschaftlicher Perspektive; es fehlen umfassende historisch und international vergleichende Darstellungen über Bildungsverhalten und Bildungschancen. Und schließlich fehlt ein Kapitel über Sozialstruktur und Berufsverläufe von Lehrpersonen. Diese Lücken sind noch zu schließen.
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Vorwort
Zielsetzung Als Zielsetzung des vorliegenden Lehrbuchs „Bildungssoziologie“ soll vor allem fortgeschrittenen Studierenden (im Bachelor- oder Master-Studiengang), aber auch Dozierenden und an Bildungsfragen interessierte Personen ein breiter Überblick über Bildung, Bildungsprozesse, Bildungssysteme, Bildungsexpansion und Folgen von Bildung für Individuen und Gesellschaft aus soziologischer Perspektive vermittelt werden. Der soziologische Zugriff ergibt sich aus der Betonung sozialer Determinanten, Mechanismen und Prozesse von Bildung wie z.B. die Bildungsbeteiligung im sozialen Wandel, die Ungleichheit von Bildungschancen und ihre sozialen Ursachen, die Rolle von Institutionen und Akteuren im Bildungssystem, der Zusammenhang von Bildung und Lebenslauf. Aus soziologischer Sicht ist neben der Wirkungsweise gesellschaftlicher Institutionen und der Bildungssysteme insbesondere die Entstehung, Dauerhaftigkeit und Veränderung von Bildungsbeteiligung und sozialer Ungleichheit der Bildungschancen von zentraler Bedeutung. Der Aufbau der einzelnen Beiträge ist problemorientiert: Was sind die zentralen Fragen, die sich aus Sicht der Bildungssoziologie für die einzelnen bildungssoziologischen Tatsachen stellen? Gibt es empirische Indikatoren für diese Probleme wie zum Beispiel einfache deskriptive Maße der Ungleichheit wie schichtspezifische Bildungsbeteiligung? Welche Theorien können zur Analyse dieser Probleme herangezogen werden? Welche theoretischen Erklärungen haben sich bewährt und welche nicht? Die einzelnen Beiträge bemühen sich um eine umfassende Darstellung zentraler und aktueller Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung: Welche empirischen Studien und Ergebnisse gibt es für die eingangs skizzierten Fragen? Und schließlich werden sie mit einem Ausblick auf den gegenwärtigen Forschungsstand und ihre gesellschaftliche Relevanz abgeschlossen: Welche Implikationen haben die Ergebnisse für die Bildungssoziologie auf der einen Seite und für die Akteure in Bildungssystemen und in der Bildungspolitik? Welche Fragen sind bislang geklärt und welche noch ungeklärt? Wo besteht weiterer Forschungsbedarf in theoretischer wie empirischer Hinsicht? Danksagung Am Zustandekommen des Lehrbuches haben viele Beteiligte mitgewirkt, denen ich als Herausgeber zu großem Dank verpflichtet bin. Der erste Dank gilt selbstverständlich den Autorinnen und Autoren des Lehrbuches, die hervorragende professionelle Leistungen vollbracht haben, indem sie originelle wie innovative Beiträge in enorm kurzer Zeit geliefert haben. Der zweite Dank geht an Michael Schümann, der den gesamten Text mit größter Sorgfalt, Umsicht und Geduld redigiert hat. Der dritte Dank geht – last, but not least – an den Lektor des VS Verlags für Sozialwissenschaften Frank Engelhardt für sein großes Vertrauen in das Lehrbuchprojekt, dem er sofort zugestimmt und das er immer begeistert begleitet und wohlwollend gefördert hat.
Bern im Frühjahr 2009 Rolf Becker
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Rolf Becker Bildungssoziologie – Was sie ist, was sie will, was sie kann
9
Rolf Becker und Andreas Hadjar Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildungs-, Erwerbsund Einkommenschancen in modernen Gesellschaften
35
Matthias Grundmann Sozialisation – Erziehung – Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung
61
Rolf Becker Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten
85
Susanne von Below Bildungssysteme im historischen und internationalen Vergleich
131
Walter Herzog Schule und Schulklasse als soziale Systeme
155
Andreas Hadjar und Rolf Becker Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion in Deutschland
195
Steffen Hillmert Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf
215
Hartmut Ditton Familie und Schule – eine Bestandsaufnahme der bildungssoziologischen Schuleffektforschung von James S. Coleman bis heute
239
Dirk Konietzka Berufsbildung im sozialen Wandel
259
Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
281
8
Inhaltsverzeichnis
Mareike Weil und Wolfgang Lauterbach Von der Schule in den Beruf
321
Rolf Becker und Anna E. Hecken Berufliche Weiterbildung – theoretische Perspektiven und empirische Befunde
357
Heike Solga Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit in der Bildungs- und Wissensgesellschaft
395
Heike Diefenbach Der Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Schülern ohne Migrationshintergrund
433
Rolf Becker Ausgewählte Klassiker der Bildungssoziologie
459
Autorinnen und Autoren
499
Bildungssoziologie – Was sie ist, was sie will, was sie kann Rolf Becker
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Was ist Bildungssoziologie?
Nicht zuletzt, weil die Bildung auch im 21. Jahrhundert eine soziale Frage ist, hat die Bildungssoziologie (engl.: Sociology of Education) in der sozialwissenschaftlichen Forschung, aber auch in der politisch interessierten Öffentlichkeit, wieder an Aufmerksamkeit gewonnen. Abzulesen ist dies an der Flut von bildungssoziologischen Großprojekten, Detail-Studien und Publikationen, an der gestiegenen Nachfrage nach bildungssoziologischem Expertenwissen in der Politikberatung, an der Einrichtung von Lehrstühlen und Instituten, die sich mit bildungssoziologischen Fragen beschäftigen sollen.1 Dabei ist Bildungssoziologie keine junge Wissenschaft, die sich mit Bildung und dem Bildungswesen beschäftigt, sondern kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Etablierung von Soziologie als eigenständiger Wissenschaft und der Institutionalisierung des Bildungswesen sowie der Massenbildung als zentralem Bestandteil des okzidentalen Projekts der Moderne begann (Karabel und Halsey 1977; Arum und Beattie 2000). Daher könnte man annehmen, dass es sich bei der Bildungssoziologie um ein soziologisches Fachgebiet – einer speziellen Soziologie womöglich – mit einem klar definierten Gegenstand und einem etablierten Kern an Fragestellungen, Theorien und Methoden handelt (Krais 2003). Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Vielmehr ist in der Bildungssoziologie eine Vielfalt unterschiedlicher theoretischer, methodologischer und empirischer Zugänge festzustellen (vgl. Krais 1994). Gegenwärtig ist die moderne Bildungssoziologie ein weites wie unübersichtliches Forschungsgebiet in der Soziologie mit Bezügen zu anderen Sozialwissenschaften. Die moderne Bildungssoziologie weist heutzutage immer noch weder ein kohärentes und eigenständiges Paradigma noch ein eigenständiges Forschungsgebiet auf. Vielmehr ist sie – genauso wie die Soziologie – gekennzeichnet durch einen Pluralismus von unterschiedlichen, nebeneinander existierenden Theorierichtungen oder Wissenschaftsprogrammen sowie durch unterschiedliche methodische Verfahren, mit denen die Gegenstände der Bildungssoziologie untersucht werden. Sie ist Teil der Soziologie und der interdisziplinär ausgerichteten Bildungsforschung, an der andere Wissenschaftsdisziplinen wie etwa die Wirtschaftswissenschaft, die Politikwissenschaft, die Psychologie und natürlich die Erzie1 Es ist erstaunlich, dass in Deutschland und in der Schweiz die Lehrstühle für Bildungssoziologie oder die Institute für sozialwissenschaftliche Bildungsforschung immer noch vornehmlich in der Erziehungswissenschaft angesiedelt sind. Im Falle, dass die Bildungssoziologie doch in einem soziologischen Institut platziert ist, so ist sie entweder explizit als ergänzender Schwerpunkt eines Lehrstuhls vertreten oder wird aus opportunen Gründen mit Bildungssoziologie bezeichnet, obwohl die Lehrstuhlinhaber wenig und – in manchen Fällen einer Neugründung – auch gar nichts mit Bildungssoziologie zu tun haben. Trotz des Aufschwungs der Bildungssoziologie tut sie sich weiterhin mit ihrer eigenen universitären Institutionalisierung in soziologischer Forschung und Lehre schwer.
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hungswissenschaft partizipieren. Bildungssoziologie zählt zu den empirischen, d.h. an der Erfahrung orientierten Sozialwissenschaften. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was denn Bildungssoziologie überhaupt ist. Die Antwort etwa – „Bildungssoziologie ist das, was Bildungssoziologen treiben“ – ist wenig hilfreich, da sich eine Vielzahl bildungssoziologischer Studien nicht mit Bildungsfragen beschäftigt, sondern eher aus dem Bereich der Sozialstrukturanalyse und insbesondere aus der Mobilitäts- und Ungleichheitsforschung stammt (Krais 2003, 1994; Sommerkorn 1993). Vorauszuschicken ist, dass jegliche Definition willkürlich, also weder wahr noch falsch, ist, sondern mehr oder weniger pragmatisch sein kann. Das bedeutet wiederum, dass die hier vorgelegte Definition eine der vielen vorläufigen Möglichkeiten darstellt, Bildungssoziologie als empirische sozialwissenschaftliche Disziplin zu definieren: Die Bildungssoziologie analysiert die ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen (Erziehung, Sozialisation und Bildung) und ihre individuellen und gesellschaftlichen Folgen. Sie legt ihren Schwerpunkt auf die theoretische und empirische Untersuchung von Bildungsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft. Verteilung von Bildung als Zustand und Prozess, Bildungsvorgänge und Bildungssysteme können hierbei als beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen des sozialen, auf Bildung bezogenen Handelns unter bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angesehen werden. Ziel der (empirischen) Bildungssoziologie ist es, Bildungsprozesse und ihre Institutionalisierung im gesellschaftlichen Kontext systematisch zu beschreiben und einschließlich ihrer Folgeerscheinungen für Individuen, Institutionen und Gesellschaft – möglichst vollständig – zu erklären (vgl. Hurrelmann und Mansel 2000). Ausgehend davon, dass Bildung einen gesellschaftlichen Charakter impliziert, und alles, was mit Bildung zu tun hat, sozial konstituiert, konstruiert und definiert ist, schließt die vorliegende Definition von Bildungssoziologie eine akteurs- und prozessorientierte Analyse von Bildung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ein, in der neben gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen und der Institutionen des Bildungswesens auch die wechselseitigen Beziehungen von Bildungssystemen und gesellschaftlichen Ordnungen sowie Einflüsse des Bildungssystems und anderer Einheiten (wie etwa Familie, Firmen, Verbände, Parteien etc.) auf individuelle Bildungsprozesse systematisch untersucht werden. Sie beschränkt sich also nicht ausschließlich auf die theoretische und empirische Erforschung der Erziehungs- und Bildungspraxis sowie des Erziehungs- und Bildungswesens unter soziologischer Fragestellung (vgl. Mangold 1978). Typischerweise ist mit einer solch breiten Definition und einem weitgefassten Selbstverständnis von Bildungssoziologie eine unscharfe Abgrenzung zu anderen Soziologien wie etwa Kultursoziologie, Wissenschaftssoziologie (Hochschulforschung), Mobilitäts- und Ungleichheitsforschung, Soziologie der Kindheit, Jugendforschung oder Familiensoziologie verbunden (Krais 2003: 83). Die Bildungssoziologie ist ähnlich wie die Mobilitäts- und Lebensverlaufsforschung sicherlich eines der bei weitem umfassendsten Forschungsbereiche innerhalb der Soziologie (Mayer 1990; Meulemann 1990; Breen 2004). Sie überschneidet sich mit fast allen soziologischen Bereichen. Wegen der Allgemeinheit von Bildung und Schule einschließlich ihrer Bezüge zu vielen gesellschaftlichen Bereichen ist es schwierig, die an vielen Paradigmen reiche Bildungssoziologie von anderen Soziologien zu trennen (Saha 1997). Die Rolle von Bildung als erklärender und abhängiger Variable in anderen Soziologien wie etwa Sozialstrukturanalyse, Mobilität und soziale Ungleichheit, Kriminalität und abweichendes Verhalten, formale Organisation und Beschäftigung, De-
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mographie und Lebensverlauf, um nur einige zu nennen, zeigt, dass Bildung als kausale Variable und als ‚outcome‘ (Leistung, Erfolg, Performanz, etc.) berücksichtigt wird, und unterstreicht den interdisziplinären Charakter der Bildungssoziologie in der Gegenwart.2 So gesehen ist die heutige Bildungssoziologie nicht bloß eine „Bindestrich-Soziologie“ unter vielen, sondern ihr kommt eine strategische Bedeutung für die soziologische Theorie- und Modellbildung sowie für die empirische Analyse gesellschaftlicher Tatbestände zu. Zu betonen ist deswegen – und das betrifft die Frage, welche Bildungssoziologie wir betreiben wollen –, dass diese vorgeschlagene Definition mit dem Wissenschaftsprogramm des methodologischen Individualismus verbunden ist (Weber 1922; Opp 1979; Esser 1993; Udehn 2002), dem zufolge alle sozialen Tatbestände, für die wir uns in der Soziologie interessieren, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Folge des sozialen Handelns von Akteuren sind (Lindenberg 1977; Boudon 1987; Coleman 1986, 1990). Akteure – das können Menschen aus Fleisch und Blut sein, das können Gruppen sein, das können Organisationen (korporative Akteure) oder der Staat sein. Daher ist sie eng verbunden mit der breiten wie allgemein akzeptierten Definition von Soziologie, die Max Weber in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ vorgelegt hat: „Soziologie (…) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 1980: 1). Demnach ist soziales Handeln das Handeln von Sozialcharakteren, die durch gesellschaftliche Institutionen geprägt werden. Die Gesellschaft wird als Handlungszusammenhang verstanden, d.h. Handeln erfolgt im sozialen Kontext, im sozialen Raum und vor dem Hintergrund sozialer Erfahrungen. Gesellschaften sind daher – wie alle sozialen Tatbestände – das Ergebnis von Wahlhandlungen einzelner Menschen. Soziologische Erklärungen haben im Unterschied zu anderen (vermeintlich „harten“) Wissenschaften als Besonderes das soziale Handeln und seiner Folgen als Gegenstand. Weil ihre „Objekte“ selbst handlungsfähige „Subjekte“ sind, die mit ihrem Handeln einen subjektiven verbinden, ist die soziologische Erklärung ein schwieriges Unterfangen, weil sie im Unterschied zur Naturwissenschaft auch eine „interpretative Dimension“ (die subjektiven Erwartungen und Bewertungen von Akteuren) beinhaltet (Esser 1993; Meulemann 2001).
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Fragestellung und Forschungsgegenstand
Ausgehend von der Weber’schen Fragestellung ergeben sich weitere Fragen: Was sind die Themen der Bildungssoziologie und was sind ihre genuinen Forschungsfelder? Was sind ihre theoretischen Grundlagen? Was sind ihre methodischen und empirischen Grundlagen? Um es vorwegzunehmen: Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach. Aber das 2 Die seinerzeit berechtigte Kritik von Krais (1994), dass die Bildungssoziologie von der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und von der empirischen Schulforschung im Besonderen dominiert werde, dürfte heute nicht mehr zutreffen. Betrachtet man zum einen das Selbstverständnis der Bildungssoziologie und zum anderen die Forschungspraxis, so ist ihre Forderung, dass Bildungsforschung verstärkt die Anbindung an Debatten der Soziologie wie z.B. der sozialen Ungleichheit suchen solle, weitgehend erfüllt.
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passt ja auch zur Soziologie: Sie ist ein schwieriges Unterfangen, ein anspruchvolles Unternehmen, dessen Studium Leidenschaft und Disziplin, Ausdauer und Augenmaß verlangt (Weber 1921). In Orientierung an diesem Verständnis von Soziologie gilt die Bildungssoziologie als Vorreiter für theoretische und methodische Entwicklungen in der modernen Soziologie (vgl. Saha 1997): Wenn wir davon ausgehen, dass Bildungsprozesse als soziales Handeln den hauptsächlichen Forschungsgegenstand der empirischen Bildungssoziologie darstellen, dann können wir davon ausgehen, dass die soziologisch relevanten Aspekte der Bildungsprozesse ein beabsichtigtes oder unbeabsichtigtes Ergebnis des sozialen Handelns von individuellen Akteuren, also Menschen in bestimmten sozialen Kontexten, oder von korporativen Akteuren wie etwa dem Staat oder Bildungsinstitutionen oder Unternehmen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen sind. Diese Begriffsabgrenzung hat meines Erachtens den Vorteil, dass Bildungssoziologie nicht lediglich als eine spezielle Soziologie (Bindestrich-Soziologie) anzusehen ist, sondern als eine allgemeine Soziologie, die eben Bildung oder Bildungsprozesse zum zentralen Gegenstand hat.3 Wenn soziales Handeln von Akteuren und seine gesellschaftlichen Folgen der zentrale Forschungsgegenstand der modernen empirischen Soziologie ist, kann davon ausgegangen werden, dass hierzu auch ein gewisses Maß an Bildung notwendig ist.4 Wenn wir dann etwa Bildungsprozesse als auf Bildung bezogenes soziales Handeln und seine Folgen für die Gesellschaft, ihre Teilbereiche und Mitglieder betrachten, dann scheint es in Anlehnung an die zentrale Fragestellung von Max Weber (Hennis 1987) sinnvoll zu sein, sich dem forschungsleitenden Problem zu stellen, wie gesellschaftliche Verhältnisse bestimmte Bildungsprozesse hervorbringen: Wie prägen Institutionen moderner Gesellschaften – wie etwa Bildung oder das Bildungssystem – den Sozialcharakter des Menschen? Daran anschließend werden folgende Fragen verfolgt: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Bildung und dem Prozess der menschlichen Zivilisation? Wie prägen gesellschaftliche Verhältnisse und Institutionen Bildungsprozesse und welche Folgen haben diese für Individuen und Gesellschaften einschließlich ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Bildung und Sozialstruktur einer Gesellschaft? Wie hängen Bildung und soziale Ungleichheit zusammen?5 3 Mit der hier verfolgten programmatischen Ausrichtung werden die Abgrenzungen zu anderen speziellen Soziologien wie etwa Familiensoziologie, Wissenschaftssoziologie, Kultursoziologie, Mobilitäts- und Ungleichheitsforschung, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Kindheits- und Jugendforschung oder anderen Sozialwissenschaften hinfällig. Denn die unterschiedlichen Aspekte der Bildungsprozesse lassen sich aus dem sozialen Handeln von Akteuren unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen rekonstruieren, die wiederum Folgewirkungen für gesellschaftliche Strukturen und Prozesse haben können. 4 Aus soziologischer Perspektive verstehen wir unter „Bildung“ einen Zustand, den individuellen Besitz von Kultur, und einen Prozess, die individuelle Aneignung von Kultur. Als Zustand ist Bildung ein Merkmal von Individuen, die über entsprechende Wissensbestände, Kompetenzen und Qualifikationen verfügen. Damit sind nicht ausschließlich in der Ausbildung erworbene formale Qualifikationen gemeint, die als Humankapital auf dem Arbeitsmarkt angeboten werden können, sondern auch Wissen über gesellschaftliche Vorgänge und die Kompetenz, gesellschaftliche Vorgaben sinnvoll verarbeiten zu können. Als Prozess verstehen wir die systematische Vermittlung und Aneignung von Kenntnissen, kognitiven und motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten in dafür von Gesellschaften vorgesehenen Einrichtungen wie etwa Schulen. Bildung ist abzugrenzen von Erziehung – der absichtsvollen Vermittlung von Werten, moralischen Prinzipien, Normen und Überzeugungen – und von Sozialisation, dem unsystematischen wie nicht institutionalisierten Lernprozess, der die Denk- und Handlungsmöglichkeiten des Individuums in Bezug auf soziale Erwartungen konstituiert. 5 Ähnliche Fragestellungen verfolgen Scott und Marshall (1998), wenn sie Bildungssoziologie als eine empirische Wissenschaft verstehen, die studiert, wie staatliche Institutionen und individuelle Erfahrungen Bildung und deren
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Abbildung 1:
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Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Bildung
Um ein Beispiel zu geben: Nach Lutz (1983) gibt es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine strukturell-institutionelle Beziehung zwischen dem Bildungssystem und der Sozialstruktur einer Gesellschaft, die der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Bildung dient. So haben Institutionen höherer Bildung eine Doppelfunktion, die über die Elitenreproduktion die Struktur von Bildungsungleichheiten und damit die bestehende Klassenstruktur moderner Gesellschaften auf Dauer stellt (Abbildung 1): Erstens wird die soziale Schichtung durch eine einheitliche, ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Stellung adäquate Erziehung der Gesellschaftsmitglieder reproduziert (Privilegienzuweisung). Zweitens dient sie nach Einführung und Kontrolle der Schulpflicht der Deckung des Arbeitskräftebedarfs – vor allem für leitende Positionen im Staatsapparat und für Dienstleistungen mit hoher gesellschaftlicher Bedeutung (Orientierung auf Spitzenpositionen in der Bürokratie des Staates) (siehe Coleman 1968). Der Zugang zu höherer Bildung ist der historischen Sichtweise von Lutz (1983) zufolge gekennzeichnet durch ein Gleichgewicht zwischen Öffnung und Restriktion. Eine Öffnung ergibt sich, um Qualifikationen aus dem Bürgertum zwecks Bedarfsdeckung im Staatsapparat zu rekrutieren und um die Restriktion beim Zugang zu höherer Bildung durch einen Glauben an mögliche soziale Aufstiege zu legitimieren. Die Balance von Öffnung und Schließung beim Zugang zur höheren Bildung dient auch der sukzessiven Durchsetzung hierarchischer Strukturprinzipien im Bildungssystem und Arbeitsmarkt sowie in der Durchsetzung meritokratischer Beurteilungsmaßstäbe im öffentlichen Dienst und später auch in privatwirtschaftlichen Großbetrieben. Die Symbiose zwischen höherer Bildung und Staatsbeschäftigung auf der einen Seite und die Indifferenz zwischen höherer Bildung und Privatwirtschaft auf der anderen Seite dürften mit dazu beigetragen haben, bestehende Bildungsungleichheiten zu institutionalisieren und zu legitimieren. Auf diese Weise hat sich eine Kongruenz von sozialer Schichtung, Stratifikation des Bildungssystems und der (sozialen) Hierarchie in den betrieblichen Arbeitsmärkten ergeben. In der Legitimation wird sie durch die als gültig angenommene Voraussetzung gespeist, dass „eine Übereinstimmung der Verteilung von Fähigkeiten und der Verteilung nach dem Niveau der sozialen Herkunft“ besteht (Müller und Mayer 1976: 25). Darauf aufbauend wird ein stratifiziertes, segmentiertes und hochselektives Bildungssystem legitimiert, dass dazu dient, Folgen beeinflussen. Daher untersucht sie vornehmlich das öffentliche Schulwesen moderner Industriegesellschaften und die Expansion der Bildungsinstitutionen und der Bildungsbeteiligung.
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scheinbar gerecht die Individuen in unterschiedlichen Soziallagen gemäß ihren (naturgegebenen) Fähigkeiten optimal zu fördern (siehe das Kapitel über Meritokratie von Becker und Hadjar in diesem Band). Für eine soziologische Tiefenerklärung können wir Bildung auch als eine gesellschaftliche Randbedingung ansehen: Welche Rolle spielt Bildung für eine Gesellschaft und ihre Institutionen und Individuen? Was sind die sozialen Mechanismen der Reproduktion oder Veränderung gesellschaftlicher Strukturen durch Bildung bzw. im Bildungswesen? Was sind zentrale Mechanismen des Innenlebens der Bildungsinstitutionen wie etwa Schule, der individuellen Sichtweisen von Personen im Bildungswesen und die Interaktionen der Individuen wie etwa Lehrer und Schüler? Aus bildungssoziologischer Sicht geht es in Bezug auf Bildung und Bildungsinstitutionen um die wissenschaftliche Erforschung von sozialen Tatbeständen, sprich: die Beschreibung und Erklärung von gesellschaftlich relevanten Regelmäßigkeiten, die Produkt des sozialen Handelns von Akteuren sind. Betrachtet man die gegenwärtige soziologische Bildungsforschung, so hat sich die ursprüngliche Aufmerksamkeit von der „reinen“ Institutionenanalyse zur individuenzentrierten Analyse des Bildungserwerbs und dessen Beitrag zur Statusvererbung und sozialer Mobilität verlagert. Daher liegt der Schwerpunkt der bildungssoziologischen Forschung auf den individuellen Bildungsaktivitäten, ihrer Einbettung in soziale Strukturen und ihren Folgen für Individuen, Kollektive, Organisationen und Gesamtgesellschaft. In jüngster Zeit tauchen vor allem im Bereich der historisch und international vergleichenden Bildungssoziologie einflussreiche Arbeiten auf, die in systematischer Weise Institutionen- und Handlungsanalyse aufeinander beziehen (Shavit et al. 2007; Shavit und Müller 1998; Shavit und Blossfeld 1993). Dieser der Fragestellung von Max Weber entsprechenden Sichtweise zufolge stellen Institutionen des Bildungssystems Gelegenheiten und Restriktionen des individuellen Handelns in Bezug auf Bildung dar (Becker und Lauterbach 2008). In der Theoriebildung und empirischen Analyse stehen daher die Wechselwirkungen von Institutionen und des sozialen Handelns im Vordergrund. Analytische Ebenen der bildungssoziologischen Analyse Aus bildungssoziologischer Sicht geht es in Bezug auf Bildung und Bildungsinstitutionen um die wissenschaftliche Erforschung von sozialen Tatbeständen, von gesellschaftlich relevanten Regelmäßigkeiten, die Produkt des sozialen Handelns von Akteuren sind. Hierbei können wir auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen unterschiedliche Fragestellungen verfolgen – etwa zum „Bildungsgeschehen im gesamten Bildungssystem vom Kindergarten über die allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, zu den wissenschaftlichen Hochschulen bis hin zu den Einrichtungen der Erwachsenenbildung“ (Sommerkorn 1993: 33; vgl. Allmendinger und Aisenbrey 2002; Bidwell und Friedkin 1988; Floud 1964).6 Für die Theorie- und Modellbildung, die Antworten auf diese Fragestellung liefern soll, ist es in Anlehnung an McClelland (1967), Lindenberg (1977), Coleman (1986, 1990) und Esser (1993) sinnvoll, davon auszugehen, dass die zu erklärenden Tatbestände (Aggregatmerkmal) aggregierte Folgen des sozialen Handelns vieler individueller Akteure sind 6 Die folgenden Aufteilungen der analytischen Ebenen der Bildungssoziologie folgt dem Vorschlag von Floud und Halsey (1958: 170): Auf der ‚macrocosmic level‘ wird das Bildungssystem in Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Systemen wie Wirtschaft, Demographie, Wertesystem und Schichtung analysiert (Mayer 1990, 1994, 1996); auf dem ‚general level‘ ist die so genannte Soziologie der Bildungsinstitutionen (Lange 2004) angesiedelt und auf dem ‚microcosmic level‘ die Schule und der Klassenraum als soziales Umfeld (Parsons 1964).
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(Individualmerkmal), die von den gesellschaftlichen Kontexten (Kollektivmerkmal) und der individuellen Situation (Akteur) beeinflusst werden. Abbildung 2:
Analytische Ebenen der bildungssoziologischen Analysen
Während bislang in den Sozialwissenschaften auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene keine Kollektivhypothese gefunden werden konnte, die den Zusammenhang von Kollektivmerkmal als erklärender Variable und Aggregatmerkmal als zu erklärender Variable herstellt, liefern Erklärungen über Individualmerkmale mittels Kontext- und Individualhypothese und eine entsprechende Aggregationsregel tiefgehende Antworten auf bildungssoziologische Fragestellungen. a) Makro-Ebene – Betrachtungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene: Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene geht es beispielsweise um den Stellenwert von Bildung im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen, d.h. im Kontext ökonomischer, politischer, kultureller und sozialer Entwicklungen (Meyer und Ramirez 2005). Aber es geht auch um den gesellschaftlichen Ursprung, die Determinanten und Implikationen von Bildungsideen, Bildungstheorien und Bildungspolitik (Weber 1922; Karabel und Halsey 1977): Welche Rolle spielt Bildung im Prozess der menschlichen Zivilisation? Ist sie Voraussetzung für gesellschaftliche Modernisierung oder eher eine Folge von sozialem Wandel? Welche Wechselwirkungen zwischen Bildung und Modernisierung, Rationalisierung, Demokratisierung und Individualisierung gibt es und welche Folgen haben sie für gesellschaftliche Institutionen wie etwa das Bildungssystem selbst oder die politische Ordnung oder das Wirtschaftssystem? Eng verknüpft mit dieser modernisierungstheoretischen Perspektive ist auch die funktionalistische Frage, wozu Bildung dienen soll und wer in den Genuss von Bildung gelangen soll (Solga 2005a). Neben der Integrationsleistung des Bildungssystems geht es um die gesellschaftliche Definition von Bildung als bürgerliches Grundrecht (Dahrendorf 1965)
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und von Funktionen von Bildung als instrumentelle Qualifikation oder als Kulturgut für mündige Bürger oder als Voraussetzung für den Erwerb von wohlfahrtsstaatlichen Anrechten oder als Option für Sozialintegration und Verteilung von knappen Gütern und Positionen (Dahrendorf 1975). In Verbindung mit Demokratisierung und Emanzipation geht es eben um die soziale Legitimation für den sozial ungleichen Zugang zu Bildung und Prinzipien für die Allokation von Bildungserträgen (Allmendinger und Aisenbrey 2002; siehe den Beitrag von Becker und Hadjar über Meritokratie). Darauf aufbauend gibt es unterschiedliche Konsequenzen von Bildung für die Sozialstruktur von Gesellschaften (etwa Bildungsstand der Bevölkerung oder Einfluss von Bildung auf demographische Prozesse der Fertilität, Mortalität und Wanderung) und das Ausmaß von sozialen Ungleichheiten der Bildungsteilhabe. Neuerdings wird der Frage nachgegangen, welche Rolle Bildung für die Emergenz und den sozialen Wandel von Lebensverläufen hat (siehe den Beitrag von Hillmert über Bildung im Lebensverlauf in diesem Band). Die Einführung von Schulpflicht, Massenbildung und Kinderverbot sowie die Verknüpfung von Lebenschancen an erworbene Bildungspatente haben zur Entstehung moderner Lebensläufe mit antizipierbarer Lebenserwartung, wohlfahrtsstaatlich definierten Statuspassungen und institutionalisierter Abfolge von Lebensereignissen beigetragen (Mayer und Müller 1986). Mit dem Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung ist auch die Frage nach den ideologischen Grundlagen für die Struktur und Institutionalisierung von Bildung und Gestaltung von Bildungssystemen verbunden (Meyer und Ramirez 2005; Solga 2005b). Welche Wechselwirkungen gibt es zwischen den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Ordnungen einer Gesellschaft und den Strukturen und Aufgaben von Bildungssystemen und der Produktion von Qualifikationen? Welche Rolle spielen Inter- und Supranationalisierung von Bildungssystemen für die Gesellschaften mit Massenbildung? b) Meso-Ebene – organisationale Ebene der Gesellschaft: Zum Gegenstandsbereich gehören auf der Meso-Ebene die Wechselwirkung von Gesellschaft und Bildungssystem und die konkrete Zuweisung der Aufgaben von Schulen sowie deren Funktionen und Leistungen. Betrachten wir hierzu ein Beispiel von Grimm (1987: 11), die das konflikthafte Zusammenspiel von gesellschaftlichen Teilsystemen wie etwa das Wirtschaftssystem, das politische System und das Bildungssystem im Unterschied zu unserer Auffassung unter einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachtet (Abbildung 3). Aus einer struktur-funktionalistischen Perspektive führt Fend (2006: 35-36) aus, dass diese drei Teilsysteme die Gesellschaft charakterisieren: „Als übergeordnetes System zur Regulierung des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen gilt im Struktur-Funktionalismus das politische System, das Entscheidungsprozesse organisiert und Rahmenbedingungen für andere Subsysteme setzt. Zu Letzteren zählen in erster Linie das ökonomische System und das Bildungssystem. Das Wirtschaftssystem repräsentiert die gesellschaftliche Organisation der Arbeit, durch die lebensnotwendige Güter hergestellt und verteilt werden. In jeder Gesellschaft gibt es nach diesem Modell eine Sozialisationsordnung. In hochentwickelten Gesellschaften organisiert das Bildungssystem die Herstellung von Qualifikationen und mentalen Infrastrukturen“ (Fend 2006: 35). Die zwischen den Teilsystemen bestehenden Austauschprozesse tragen aus dieser theoretischen Sichtweise zum gesellschaftlichen Gleichgewicht und Überleben einer Gesellschaft bei. Für das Setzen von gesetzlichen Rahmenbedingungen schuldet das Bildungssystem dem politischen System normative Loyalität, indem sie über die Erziehung und Bil-
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dung zur Reproduktion von Normen, Werten und Weltanschauungen bei der nachwachsenden Generation und über die Herstellung von Loyalität zur politischen Kultur und zum politischen System zur Demokratisierung beiträgt. Das Wirtschaftssystem liefert dem politischen System finanzielle Werte (etwa Steuern). Von besonderem Interesse in der Bildungssoziologie sind die Austauschprozesse zwischen Wirtschafts- und Bildungssystem. Vor allem Nachfrage von und Angebot an (formalen) Qualifikationen bestimmen die Struktur und das Ausmaß des Austauschs dieser beiden Teilsysteme: Das Bildungssystem vermittelt Fertigkeiten und Kenntnisse (Humankapital) einschließlich ihrer Einübung und dauerhaften Überlieferung und trägt damit zur Produktion des Humankapitals und -vermögens bei, das von der Wirtschaft nachgefragt wird. Zudem übernimmt das Bildungssystem auch die Auswahl von geeigneten Bewerbern von Arbeitsplätzen nach Leistung und über Prüfung. Somit trägt es über die Vergabe von Zertifikaten zur Zuordnung von Arbeitskräften auf Arbeitsplätze nach Zertifikaten sowie zur Verteilung von Individuen auf Statuspositionen bei. Abbildung 3:
Austausch des Bildungssystems mit anderen gesellschaftlichen Ordnungen
Quelle: Grimm (1987: 11) und Fend (2006: 35)
Zwar steht in modernen Gesellschaften das Bildungssystem unter staatlicher Obhut, aber das Wirtschaftssystem (insbesondere das Beschäftigungssystem) und der Staat setzen wichtige Rahmenbedingungen und partizipieren an der Gestaltung des Bildungssystems (z.B. Institutionalisierung und Regulierung der Berufsausbildung) (siehe Beiträge von Below und Konietzka sowie von Weil und Lauterbach in diesem Band). Vor allem die Bildungsökonomie beschäftigt sich mit dem Austausch dieser beiden Teilsysteme (Timmermann 2002; Weiß 2002). Zu Recht kritisiert Fend (2006), dass Grimm (1987) die Austauschprozesse zwischen dem Bildungssystem und der kulturellen Ordnung einer Gesellschaft vernachlässigt. So
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trägt das Bildungssystem zur kulturellen Reproduktion bei. Zum einen vermittelt es Sprache, Schrift und Werte, trägt es zur Sinnvermittlung bei und fördert die Entwicklung von Rationalität und Wissenschaftlichkeit in einer modernen Gesellschaft. Zum anderen sozialisiert sie den individuellen Sozialcharakter über Bewusstseinsbildung und die Vermittlung von Kompetenzen zur Reflexion, eigenständige Urteilsbildung und Entscheidungsfähigkeit. Damit trägt das Bildungssystem zur Sozial- und Systemintegration bei. Weitere Details zu den Funktionen des Bildungssystems selbst finden sich im Beitrag von Herzog in diesem Band. Des Weiteren werden auf dieser analytischen Ebene weitere Fragen verfolgt (siehe auch Lenhardt 2001): Wie kommen Curricula (formale und heimliche Lehrpläne) und spezifische Unterrichtsformen zustande und warum wandeln sie sich? Warum sind sie zwischen Gesellschaften verschieden? Welche Rolle spielt das Bildungssystem als Arbeitsmarkt für Lehrer, Professoren etc.? In Bezug auf die Familie wird der Frage nachgegangen, welche Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule bestehen. Wie werden Aufgabenteilungen zwischen diesen Akteuren vorgenommen? Was geschieht in der Schule? Welche Interaktionen gibt es zwischen Lehrpersonal und Schülerschaft? Welche Rolle hat die Ausstattung der Schulen auf den Unterricht und die Bildungschancen von Schulkindern? c) Mikro-Ebene – die individuelle Ebene der Gesellschaft: Auf der Mikro-Ebene betrachten wir die gesellschaftliche Bedingtheit des individuellen Bildungsverhaltens, also dass, was Menschen als soziales Wesen tun: Wie, warum und wann entscheiden sich Individuen für bestimmte Bildungswege? Welchen Nutzen ziehen sie aus der Bildungsteilhabe? Welche Bildungsvorstellungen entwickeln sie? Welche Rolle spielt die Bildung für die persönliche Entwicklung von Individuen und ihre Lebenschancen? Wie gestaltet sich die soziale Bedingtheit von individuellen Leistungsfähigkeiten und der Möglichkeiten, zu lernen? Welche Rolle spielt Bildung im Lebensverlauf und welche Folgen hat sie für Lebensereignisse wie Zeitpunkt der Heirat und Familienbildung, Anzahl von Kindern, Neigung für Scheidung, politische Partizipationen, Lebenserwartung etc.? Neben der Struktur und Dauer der Bildungsbeteiligung von Individuen beschäftigen sich diese Fragestellungen mit den individuellen Konsequenzen von Bildung und Bildungserfolg. Zum einen dominieren sozialstrukturelle Beschreibungen von Unterschieden der Lebensführung zwischen den Bildungsgruppen. Ein Beispiel wären Bildungsdifferentiale in der Lebenserwartung (Becker 1998). Zum anderen wird davon ausgegangen, dass erworbene Bildung auch ein kausaler Faktor für bestimmte Lebensereignisse, Zustände im Lebensverlauf und Verteilungen von Lebenschancen ist. Beispiele wären Kumulation von Bildung und Ausbildung, bei der erworbene Bildung eine Voraussetzung für die Fähigkeit des selbstbestimmten Lernens ist (Mayer 2000), oder die kognitiven Auswirkungen von Bildung auf die politische Sozialisation, die politischen Einstellungen und politische Partizipation (Hadjar 2008). Weitere Beispiele finden sich im Sammelband über die Folgen der Bildungsexpansion von Hadjar und Becker (2006a; siehe auch Müller 1998). Auf diese, für die bildungssoziologische Analyse bedeutsamste Ebene gehen wir weiter unten im Abschnitt über bildungssoziologische Theorie- und Modellbildung sowie im Kapitel über Bildungsungleichheiten in diesem Band weiter ein.
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d) Verbindung der gesellschaftlichen Ebenen: Die Trennung dieser analytischen Ebenen ist idealtypisch. Selbstverständlich wirken die einzelnen Prozesse auf diesen gesellschaftlichen Ebenen aufeinander ein, und es ist selbstverständlich Aufgabe der Bildungssoziologie, die strukturellen Regelmäßigkeiten dieser Wechselwirkungen in systematischer Weise zu beschreiben und zu erklären. Neuerdings werden diese Fragestellungen nicht nur in historischer, sondern in international vergleichender Perspektive untersucht. Hierbei stehen neben der Analyse der Kongruenz von Bildung bzw. Bildungssystem mit Entwicklung und Struktur der Gesellschaft vor allem der Stellenwert von Erziehung, Sozialisation und Bildung im Zentrum – insbesondere im Hinblick auf Bildung als Prozess der Selbstentfaltung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einer Person und ihrer Bedingung und Voraussetzung für Realisierung von Lebenschancen (Stichwort: Chancenungleichheit) im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen sowie die Interdependenz von Gesellschaft und Bildungssystem (wie etwa Aufgaben der Schulen für Systemintegration; Selektion, Allokation und Qualifikation in Bezug auf Arbeitsmarkt sowie Legitimation und Integration in Bezug auf das politische System). Während in der Vergangenheit eher die Funktionen von Bildung und Bildungssystem fokussiert wurden, wird nunmehr vornehmlich das Verhältnis von Bildung und Berufschancen (soziale Mobilität und Offenheit einer Gesellschaft) untersucht und das Problem verfolgt, inwieweit das Bildungssystem soziale Ungleichheit produziert und reproduziert und in welchem Umfang das Gebot der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit verletzt wird (Bidwell und Friedkin 1988). Des Weiteren werden derzeit folgende Fragen verfolgt (Hadjar und Becker 2006a, 2006b; Müller 1998): Was sind die erwarteten und unerwarteten Folgen der Bildungsexpansion? Hat die Bildungsexpansion zum umfassenden Abbau von sozial ungleichen Bildungschancen geführt? Sind im Zuge der Höherqualifikation in der Bevölkerung Bildungszertifikate entwertet worden und Bildungsrenditen in Form von Einkommen gesunken? Hat sich der Konnex zwischen Bildungs- und Einkommens- bzw. Statuserwerb gelockert? Welche Berufschancen ergaben der Ausbau und die soziale Öffnung des Bildungssystems? Hat sich die Sozialstruktur der Lehrer geändert? An dieser Stelle können auch schon Antworten auf die Frage geliefert werden, warum wir Bildungssoziologie betreiben und warum es ein interessantes wie anspruchsvolles Studienfach ist. Die Antworten ergeben sich alleine schon aus den gesellschaftlichen Tatsachen wie etwa, dass Bildung und Erwerb eines Bildungszertifikats als Voraussetzung für den Zugang zu knappen Gütern und Positionen in der Gesellschaft gilt. Bildung und Erwerb eines Bildungszertifikats werden auch als individuelle und kollektive Bedingung für gesellschaftliche Teilhabe angesehen. Aber die soziale Ungleichheit von Bildungschancen und Bildungserfolgen ist nicht primär durch individuelle Talente, Anstrengungen und Glückssträhnen bedingt. Die Bildungsbeteiligung erfolgt im Lebensverlauf als gesellschaftliche Institution, und Lebensverläufe werden durch Bildung und Bildungsinstitutionen strukturiert. Das Angebot von Bildung und die Nachfrage nach Bildung stellen einen zentralen Tauschmechanismus in modernen Gesellschaften dar. Bildungsinstitutionen sind zentrale Organisationseinheiten moderner Gesellschaften und Bestandteil des okzidentialen Projekts der Moderne. Es stellt sich die Frage, warum es diese gesellschaftlich konstituierten Phänomene gibt.
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Aufgaben der Bildungssoziologie Aus diesen bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, worin zentrale Aufgaben der Bildungssoziologie als empirischer sozialwissenschaftlicher Disziplin liegen. 1. 2. 3.
Aufklärung (Bildungssoziologische Beschreibung und differenzierte Analysen von gesellschaftlichen Verhältnissen) Erkenntnisgewinn (Bildungssoziologische Erklärung gesellschaftlicher Phänomene über systematische Theorie- und Modellbildung) Problemlösungen (Bildungssoziologische Prognose, Sozialtechnologie, Politikberatung)
Ad Aufklärung: Hierbei geht es um die Bereitstellung (bildungs)soziologischen Wissens über gesellschaftliche Verhältnisse und den Wandel gesellschaftlicher Strukturen: Bei der Deskription geht es darum, interessierende soziologische Phänomene möglichst präzise mit objektiven Daten unterstützt zu beschreiben: Was ist Bildungsexpansion und wie sieht diese aus? Die präzise Beschreibung der Bildungspolitik oder der Bildungsbeteiligung in den vergangenen Jahrzehnten kann uns Informationen dafür liefern, ob wir es tatsächlich mit einer Bildungsexpansion zu tun haben oder ob diese statt einer objektiven Tatsache nur eine Fiktion ist, ein Mythos oder ein Legende, die aus welchen Gründen auch immer in die Welt gesetzt wurde. Sollten empirische Daten auf umgesetzte Bildungsreformen (etwa Ausbau des Bildungssystems und Ausweitung des Bildungsangebots) oder auf gestiegene Bildungsbeteiligungen hinweisen, dann könnten wir durchaus eine Bildungsexpansion diagnostizieren. Aber die bloße Beschreibung von gesellschaftlichen Phänomenen ist keine ausreichende Begründung. Somit wäre das Phänomen der Bildungsexpansion an sich noch nicht erklärt und schon gar nicht ihre Folgen. In der Soziologie gibt es eine Tendenz, solche Beschreibungen als Diagnosen zu verwenden (z.B. Beck 1986, 1993; Schimank 2000): Wenn in einer Gesellschaft relevante Lebenschancen von erworbenen Bildungszertifikaten abhängen, dann wird etwa von einer „Bildungsgesellschaft“ (Pongs 1999, 2000) oder „Credential Society“ (Collins 1979) gesprochen. Damit keine Missverständnisse auftreten: Zeitdiagnosen oder Diagnosen in der Soziologie sind keine wissenschaftlichen Erklärungen; sie sind auch keine Aufgabe der Soziologie im Allgemeinen und der Bildungssoziologie im Besonderen, denn in der Regel sind es eher irreführende Etikettierungen, die dem Bedürfnis nach Orientierung – frei nach dem Motto: „Millionen Menschen sehen klar, wo vorher dunkel war“ (Mayer 1987; Mayer und Blossfeld 1990) – entsprechen, als dass sie der wissenschaftlichen Aufklärung dienen. Ad Erklärung sozialer Phänomene, d.h. systematische Erkenntnisse über gesellschaftliche, d.h. soziale, politische, ökonomische und kulturelle Zusammenhänge: Es geht dabei vornehmlich um die Erklärung sozialer Tatsachen, also um die vollständige, soziologisch interessante Antwort auf eine Frage nach dem Warum von Phänomenen: Warum gibt es trotz Bildungsexpansion immer noch soziale Ungleichheit von Bildungschancen? Warum haben Migranten schlechtere Bildungschancen als Einheimische? Warum gibt es soziale Disparitäten von schulischen Leistungen zwischen den Sozialschichten? Es geht aber auch um die Klärung von Prozessen und Mechanismen, welche die zu erklärenden Sachverhalte hervorbringen. Welche Faktoren der Bildungsexpansion fördern persistente Ungleichheiten? Wie beeinflussen Familien und Schulen die Leistungen ihrer Schüler?
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Eine soziologisch relevante Erklärung ist eine empirisch fundierte Antwort auf eine Warum-Frage. Eine Erklärung ist keine sich bloß logisch aus Aussagen ergebende Antwort, sondern sie muss mit der sozialen Wirklichkeit korrespondieren, also de facto beobachtund daher feststellbar, sprich messbar sein. Dieses Vorgehen ist nicht zu verwechseln mit der Suche nach der endgültigen Wahrheit. Es geht bei der Soziologie bzw. Bildungssoziologie als empirischer Wissenschaft nicht alleine um die Wahrheit: „(...) wir suchen nicht einfach nach Wahrheit, sondern nach interessanter und erhellender Wahrheit, nach Theorien, die Lösungen für interessante Probleme bieten. Wenn überhaupt möglich, suchen wir tiefgehende Theorien“ (Popper 1973: 68). Dazu werden in der empirischen Bildungssoziologie neben „guten“ Theorien ebenso „gute“ Daten und aussagekräftigen Statistiken benötigt (Kristen et al. 2005). Wenn wir beispielsweise die Schule als eine Ursache für soziale Disparitäten von Lern- und Bildungserfolgen ansehen, dann benötigen wir eine kausale, die Ursache und Wirkung benennende Erklärung eine Antwort auf eine Frage, die sich auf eine Ursache oder auf mehrere Ursachen bezieht. Ad Sozialpolitische Relevanz des soziologischen Wissens (Prognose, Planung, Sozialtechnologie etc.): Es gibt eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher Analyse und Prognose oder politischer Beratung oder Entwicklung von Sozialtechnologien. Beispielsweise ermöglicht das Wissen über das Zustandekommen von Lernunterschieden zwischen sozialen Gruppen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen – sofern die soziale Disparität von Lernergebnissen als ein sozialpolitisches Problem definiert wird. Wenn wir wissen, wie dieses Phänomen zustande kommt, dann können wir bei bekannten Randbedingungen die Faktoren in der Ursache (Wenn-Komponente einer Erklärung) modifizieren, so dass ein unerwünschtes Ereignis oder ein unerwünschter Zustand nicht (mehr) auftritt (Becker 2007). Es sollen Grundlagen für Problemlösungen in der Gesellschaftspolitik oder Sozialtechnologien und Prognosen erarbeitet und zur Verfügung gestellt werden. Diese Aufgabe kann nur eingelöst werden, wenn wir sowohl über eine realitätsgerechte Beschreibung über soziologische Tatbestände verfügen als auch empirisch fundierte Kausalzusammenhänge und Mechanismen aufgedeckt haben. Für die Beantwortung solcher Fragen benötigen wir nicht nur ausreichende Informationen, also Daten, sondern auch erklärungskräftige Theorien. Fassen wir zusammen: Die Bildungssoziologie analysiert die gesellschaftlichen – die ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialstrukturellen – Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen, die Institutionen im Bildungswesen und ihre individuellen und gesellschaftlichen Folgen. Sie legt ihren Schwerpunkt auf die Theorie- und Modellbildung sowie auf die empirische Untersuchung von Bildungsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft. Ziel der (empirischen) Bildungssoziologie ist es, Bildungsprozesse und ihre Institutionalisierung im gesellschaftlichen Kontext systematisch zu beschreiben und einschließlich ihrer Folgeerscheinungen für Individuen, Institutionen und Gesellschaft – möglichst vollständig – zu erklären. Mit den Daten und Erkenntnissen der Bildungssoziologie werden Grundlagen für bildungspolitische Empfehlungen und die Bildungsplanung gelegt. Bildungsplanung und Bildungspolitik ist nicht Aufgabe der Bildungssoziologie, sondern der Politik und Administration selbst.
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Ausgewählte Theorien der modernen Bildungssoziologie
Welche Theorien liefern tiefgehende, empirisch fundierte Erklärungen für bildungssoziologisch relevante Phänomene wie etwa Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft oder für individuelles Bildungsverhalten? In diesem Abschnitt soll keine Theoriegeschichte – also auch kein „Wiederkäuen“ von Klassikern der Bildungssoziologie (vgl. Karabel und Halsey 1977) – betrieben, sondern lediglich eine kleine Auswahl von derzeit einflussreichen Erklärungsansätzen in der zeitgenössischen Bildungssoziologie geliefert werden. Angesichts dessen, dass sowohl der theoretische Pluralismus von unterschiedlichen, nebeneinander existierenden Theorierichtungen oder Wissenschaftsprogrammen („Schulen“) als auch der methodische Pluralismus – d.h. die Vielfalt methodischer Zugänge und statistischer Verfahren, mit denen die Gegenstände der Bildungssoziologie untersucht werden – charakteristisch für die Bildungssoziologie ist, beschränken wir uns im Folgenden – Weber (1980) sowie Coleman (1990) als Handlungstheoretikern folgend (Lindner 1986) – auf allgemeine Handlungstheorien, die einen nomologischen Kern (bildungs)soziologischer Erklärungen bilden. Sinn und Zweck solcher Handlungstheorien ist – wie zuvor in Abschnitt 2 anhand des methodologischen Individualismus angedeutet – das Streben nach vollständiger Tiefenerklärung über eine Makro-Mikro-Makro-Erklärung, die Auflösung der notorischen Unvollständigkeit makrosoziologischer Erklärungen und schließlich das Aufdecken von ([sozial]psychologischen) Mechanismen, die soziale Prozesse hervorbringen (Kausalerklärungen im Sinne von Hedström und Swedberg 1998). Aus diesen allgemeinen Handlungstheorien werden theoretisch fundierte Hypothesen abgeleitet, die wiederum empirisch überprüft werden können. Dieser Typus von Handlungstheorien, der auch Rational-Choice-Theorien oder ‚Rational Action Theory‘ genannt wird, kann danach klassifiziert werden, ob sie 1.) starke oder schwache Annahmen über die Rationalität des sozialen Handelns von Menschen treffen, 2.) eher die Rationalität der sozialen Situation (substantive rationality), in denen sich die Akteure befinden, oder die Rationalität des Verfahrens (procedural rationality), also dem Wahrnehmungs-, Evaluations- und Entscheidungsprozess, betonen und 3.) ob sie eine allgemeine oder eine spezifische Handlungstheorie beinhalten (Goldthorpe 2000). Der Prozess der individuellen Entscheidung – etwa über die eigene Ausbildung – ist ein Resultat der Anpassung zielorientierter Akteure an äußere situative, von Akteuren subjektiv perzipierte und bewertete Restriktionen (z.B. eingeschränkte Mittel, ungünstige Situationen, fehlende Opportunitäten) (Becker und Hecken 2008). Die Präferenzen werden mit diesen Einschränkungen konfrontiert und die bestmögliche Alternative wird nach einer Kosten-Nutzen-Abwägung unterschiedlicher Alternativen identifiziert. Die Person entscheidet und handelt entsprechend: Es wird in der Regel diejenige Alternative ausgewählt, die der Person als die günstigste erscheint, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Rationale Entscheidungen sind instrumentelle Handlungen aufgrund subjektiv bewerteter Restriktionen wie Kosten, Nutzen und Wahrscheinlichkeit für die Realisierung der ausgewählten Handlung (Meulemann 2001). Die subjektive Abwägung von Kosten und Nutzen ist situations- und kontextspezifisch. Damit ist sowohl das aktuelle als auch das sinnhafte Verstehen im Weber’schen Sinne gemeint, wodurch ein soziales Handeln ursächlich erklärt wird. Ebenso deutlich wurde, dass darunter auch zweckrationales wie wertrationales Handeln fallen, aber auch traditionales und affektives Handeln ohne weiteres in die theoretischen Erklärungen der Rational Choice-Theorie eingefügt werden kann (Esser 2003, 2004, 2006).
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Also: wir haben es mit einer subjektiven Rationalität des Akteurs zu tun, die nicht gleichzusetzen ist mit der objektiven Rationalität. Daher kann für eine Person das Verhalten einer anderen Person irrational erscheinen, aber für den Akteur war sein Handeln rational, d.h. der Situation, wie er sie definiert hatte, angemessen (Esser 2006). Die Theorie subjektiver Werterwartung (Esser 1993) – auch SEU-Theorie genannt: SEU für subjective expected utility – geht davon aus, dass Individuen die Auswahl einer Handlung aus einem Set alternativer Handlung nach folgenden Selektionsregeln vornimmt: Es wird die Handlung ausgewählt, die aus subjektiver Sicht des Akteurs am ehesten zur gewünschten Handlungskonsequenz führt, und es wird in Abhängigkeit von den Restriktionen die Handlung ausgewählt, die den erwarteten Nutzen maximiert. Die entscheidenden Komponenten der Handlungswahl sind 1.) Präferenzen (Vorlieben oder Bedürfnisse, die aufgrund ihrer Vorteile, sprich Nutzen, in eine Rangfolge gebracht werden können), 2.) subjektiv erwarteter Nutzen einer Alternative (individuelle Bewertung von Handlungsalternativen bzw. der Folgen sozialen Handelns nach subjektiven Interessen, Ideen und Präferenzen), 3.) subjektive Erfolgserwartung (subjektive Wahrscheinlichkeit, dass die Alternative erfolgreich zur gewünschten Handlungskonsequenz führt), die ein Ergebnis der vom Individuum bestimmten Wahrscheinlichkeit für gewünschte bzw. unerwünschte Handlungsfolgen ist, und 4.) subjektiv erwartete Kosten (Transaktions-, Opportunitätskosten und andere Kosten). Diese Handlungsauswahl kann in folgender Weise formalisiert werden: SEU(Ai) = pi ⋅ Ui - Ki, wobei SEU(Ai) der subjektiv erwartete Nettonutzen der i-ten Handlungsalternative A, Ai die Handlungsalternativen, Ui der Nutzen der Alternative Ai, pi die erwartete Realisierbarkeit oder Erfolgswahrscheinlichkeit der Alternative Ai und Ki die Kosten der Alternative Ai sind. Soziales Handeln – also auch auf Bildung bezogenes Handeln – wird demnach durch Präferenzen und Restriktionen gesteuert, d.h. soziales Handeln ist zielorientiert, sprich: zweckrational oder intentional (Meulemann 2001): Menschen handeln in einer Weise, die ihre Ziele gemäß ihren subjektiven Überzeugungen über den „Zustand der Welt“ befördert. Menschen wählen ihr Handeln um der erwarteten Folgen willen aus und steuern es hinsichtlich Richtung und Energieaufwand. In Hinblick auf die Definition des sozialen Handelns nach Weber (1980) sind es die subjektiven Intentionen und Erwartungen der Akteure – der Sinn (d.h. Absicht, Ziel, erwartete Folgen) –, den die Individuen mit ihrer sozialen Situation verbinden, in der sie sich befinden: (1) der Sinn, der sich aus der Situationsanalyse oder Situationsdeutung ergibt, und der (2) verbunden ist mit dem Sinn, mit dem Personen ihre Handlungen verfolgen (sprich der subjektive Sinn der Absichten, die die Akteure mit ihrem Handeln verbinden), der auch (3) verbunden sein kann mit dem sozialen Sinn der von verschiedenen Akteuren geteilten sozialen Regeln und Drehbücher des aufeinander abgestimmten Handelns und (4) der objektive Sinn der symbolischen Sinnwelten und kognitiven Konstruktionen sowie der objektive Sinn von sozialen Sachverhalten – sowie eine subjektive wie sinnhafte Reflexion der Handlungsfolgen, der im Zentrum der Handlungstheorie steht (Meulemann 2001).7 7 Im Unterschied zum „Homo oeconomicus“ als Natur des Menschen, der als eigeninteressierter Akteur rational handelt, der seinen eigenen Nutzen maximiert, der auf Restriktionen reagiert, der feststehende Präferenzen hat, und der über (vollständige) Information verfügt (zur Kritik am „resourceful, perfectly informed, stable preferring, maximizing man“: Simon 1955), und zum Menschenbild des „Homo sociologicus“ (Dahrendorf 1959) – dem Mensch als gesellschaftliches Wesen, das gemäß seiner sozialen Rollen (Verhaltenserwartungen nach sozialer Position) handelt, die wiederum von Normen (Muss-, Soll- und Kann-Normen), von Erwartungen und von (beloh-
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Um die Vielzahl von Handlungskonsequenzen einzuschränken, nach denen Menschen streben, schlägt Lindenberg (1989, 1990) in seiner Theorie sozialer Produktionsfunktion vor, dass es gesellschaftlich definierte Oberziele des sozialen Handelns gibt, denen Menschen folgen: Streben nach materiellem Wohlergehen, Streben nach sozialer Anerkennung und Vermeiden von Verlusten. Diese Theorie bietet auch den Schlüssel für das Verständnis der Beziehung einer objektiven Situation und des subjektiven Sinns sozialen (zweckrationalen) Handelns. Wie können Akteure diese Ziele erreichen? Nach Esser (2001) ist soziales Handeln auf die Produktion von Nutzen („Sinn“ nach Weber) über die Herstellung von „primären Zwischengütern“ (d.h. den obersten gesellschaftlich definierten Zielen) gerichtet, die Nutzen wie etwa Wertschätzung oder materielle Unversehrtheit herstellen. In modernen Gesellschaften werden auch die angemessenen Mittel für die Herstellung primärer Zwischengüter definiert (Merton 1968). Institutionalisierte Mittel wie etwa Bildungserwerb oder Einkommenserzielung über legale Beschäftigung sind Beispiele für solche legitimen und legitimierten Wege und stellen so genannte sekundäre Zwischengüter dar, um die gesellschaftlich definierten Oberziele zu realisieren. Andere indirekte Zwischengüter wären etwa Talent oder Anstrengung. Bildung (oder erworbene Bildungszertifikate) sind also Mittel zum Zweck: Bildung dient als sekundäres Zwischengut, um ein primäres Zwischengut zu erreichen, nämlich sozialen Status. Bildung kann das individuelle Streben nach Gütern wie physische Integrität (Einkommen), soziale Anerkennung (Prestige) und Vermeiden von Verlusten (Erhalt des sozialen Status in der Generationenabfolge) befriedigen. Diese Zweckrationalität spiegelt sich in elterlichen Bildungsaspirationen wider (Meulemann 1985). So ist die elterliche Bildungsplanung und Bildungsentscheidung als instrumentelle Entscheidung ausgerichtet, um für ihre Kinder ein Minimum an Chancen für Einkommen, Prestige und Statuserhalt zu sichern. In diesem Falle wäre Bildung als instrumentelles Positionsgut für intergenerationale Reproduktion des sozialen Status anzusehen und Investitionen in die Bildung nachwachsender Generationen dienen diesem Ziel. Bildung als „sekundäres Zwischengut“ bzw. der Erwerb von Bildungspatenten sichert Anrechte für den Zugang zu sozioökonomischen Gütern und Positionen (Voraussetzung für Einkommen und Status); daraus leiten sich materielles Wohlergehen, soziale Anerkennung und Vermeiden von Statusverlust ab. In einigen Fällen ist Bildung auch primäres Zwischengut, weil Bildung als „Wert an sich“ definiert wird, das mit sozialer Anerkennung der Bildungserfolge einhergeht (siehe auch den Beitrag von Becker und Hadjar über Meritokratie in diesem Band). Im ersten Fall entspricht das Bildungsverhalten dem zweckrationalen Handeln und im zweiten Fall in der Regel dem wertrationalen Handeln im Sinne der Typologie sozialen Handelns von Weber (1980). So gesehen kann Bildung als soziales Handeln verstanden werden. Es kann gesellschaftlichen Institutionen (soziale Normen, Geltung, Legitimität, Herrschaft, Sanktion und Sanktionierung) oder als in den Erwartungen der Akteure verankerte und sozial verbindlich geltende Regeln des auf Bildung bezogenen Handelns folgen. nenden, bestrafenden) sozialen Sanktionen anderer (auch: des Rollenträgers selbst) beeinflusst werden (zur Kritik am „socialized and role-playing man“: Esser 1993), wird das Bild des Homo socio-oeconomicus zugrunde gelegt. Dieses Menschenbild wird auch als RREEMM-Modell bezeichnet – REEMM für Resourceful, Restricted, Expecting, Evaluating and Maximizing Men (Esser 1993). Diesem Menschenbild zufolge handeln Akteure (men) nach ihren begrenzten Ressourcen, Fähigkeiten und Möglichkeiten (restricted) findig, kreativ, reflektiert und überlegt (resourceful) und selektieren über subjektive Erwartungen (expectations) einerseits und über subjektive Bewertungen (evaluations) andererseits und folgen bei der Selektion des Handelns aus den Alternativen der Regel der Maximierung, d.h. sie versuchen ihr Handeln so zu maximieren, dass sie mit den gegebenen Ressourcen den größtmöglichen Nutzen für sich erreichen (maximizing).
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Die Institution der gesetzlich verankerten Schulpflicht (und der Berufsausbildung) sind ein Beispiel dafür (Mayer und Müller 1986). Demnach haben Eltern die Pflicht, für die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder zu sorgen. Während der Staat den Eltern diese Pflicht auferlegt hat, bietet er ein staatliches Bildungsangebot, damit diese Pflicht erfüllt werden kann (Meulemann 1985). Vor diesen institutionellen Rahmenbedingungen sind elterliche Bildungsplanungen und Bildungsentscheidungen in eine lebenslaufsbezogene Strategie eingebettet, die dem Motiv des Statuserhalts folgen (Meulemann 1985): materielles Wohlergehen für die Kinder und soziale Anerkennung für die erfolgreiche Familie (Stockè 2007). Langfristige Investitionen in die Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generation werden als eine erfolgversprechende Strategie für den Statuserhalt wahrgenommen und mehr oder weniger hartnäckig verfolgt (Meulemann 1985). Wie gesehen, stellen Institutionen kognitive Orientierungen und selektive Restriktionen des Bildungsverhaltens dar (Mayer et al. 2007). Das individuelle Bildungsverhalten lässt sich als Spezialfall des sozialen Handelns subjektiv rationaler Akteure erklären. Sie richten ihre Bildungsstrategien subjektiv – wie wir noch sehen werden – an den Institutionen des Bildungs- und Arbeitsmarktsystems als zentrale Randbedingung, an individuellen Ideen und Interessen und an ihren individuellen Ressourcen aus (Becker und Hecken 2009). Humankapitaltheorie Ein typischer und in vielen bildungssoziologischen und -ökonomischen Studien angewandter Vertreter der individualistischen Handlungstheorie ist der Humankapitalansatz (Schultz 1961; Mincer 1974; Becker 1975).8 Eine der Kernaussagen des Ansatzes ist, dass die individuelle Produktivität den Wert des Arbeitnehmers auf dem Markt ausmacht. Es wird angenommen, dass die Produktivität eine Funktion individueller Wissensbestände, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen etc. ist, welche das theoretische Postulat eines kausalen Zusammenhangs zwischen formaler Bildung und Lebenseinkommen begründet (siehe auch 8 Er ist ein Sammelsurium lose verknüpfter Modelle als Weiterentwicklung des neoklassischen Modells. Der Ausgangspunkt des neoklassischen Modells ist, dass sich der Arbeitsmarkt wie andere Kapital- und Gütermärkte im Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage befindet. Auf diesem Arbeitsmarkt tauschen nutzenmaximierende rationale, vollständig informierte Akteure mit eindeutig definierten Präferenzen (handlungstheoretischer Kern des ökonomischen Basismodells) Arbeit gegen Einkommen. Zudem wird von einem perfekten Markt mit ausreichend vielen Anbietern und Nachfragern ausgegangen, die unter vollständiger Konkurrenz agieren, und auch davon, dass Arbeit ein homogenes und beliebig teilbares Gut ist, so dass eine Homogenität der Fähigkeiten und Produktivität existiert. Löhne und Preise sind flexibel und sie ändern sich infolge von Veränderungen von Arbeitsnachfrage und -angebot sowie von Löhnen, welche den Preis für die Produktivität des Arbeitnehmers darstellen. Eine weitere Annahme ist, dass Akteure keine Präferenzen für bestimmte Tauschpartner haben und es daher keine Diskriminierung auf den Märkten gibt, die keine institutionellen und kulturellen Beschränkungen aufweisen, so dass die Arbeitsverhältnisse mit Tauschakten ohne Transaktionskosten und Mobilitätsschranken gleichzusetzen sind. Dieses neoklassische Modell blieb nicht ohne Kritik. Beispielsweise stellt sich die Frage, warum es soziale Institutionen, d.h. Regelung des Austauschs, gibt, wenn eine Besserstellung aller Beteiligten dann eher gewährleistet ist, wenn ein freies Spiel der Marktkräfte besteht und auf diesem Wege die Maximierung von Einkommen auch zum Wohle der Allgemeinheit garantiert ist, als wenn eine zentrale Instanz die Verteilung von Gütern vornimmt. Warum gibt es soziale Ungleichheit, Klassenstrukturen, Segmentation von Arbeitsmärkten, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände oder Industrieverbände und ‚Lobbying‘, wenn beim Arbeitsmarkt von einem mehr oder weniger perfekten Markt ohne Machtdifferenzen ausgegangen wird? Warum treffen rationale Akteure ökonomische Fehlentscheidungen und warum dominiert ‚bounded rationality‘, so dass auch konsequenzenreiche Entscheidungen bei suboptimalem Informationsstand aus dem Bauch heraus oder per Daumenregeln als kognitive Heuristiken getroffen werden? Dies widerspricht der Annahme der vollständigen Information aller Akteure und somit der Prämisse, dass der Informationsstand der Akteure optimal ist. Warum gibt es Diskriminierungsprozesse, wenn eine vollständige ökonomische Rationalität im Sinne der Maximierung des monetären Nutzens angenommen wird?
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den Beitrag von Becker und Hadjar über Meritokratie in diesem Band): Je mehr eine Person in ihre Ausbildung sei es in schulische und berufliche Bildung oder in Weiterbildung investiert hat, umso größer ist die Produktivität und desto größer sind die zu erwartenden Renditen in Form von Einkommen. Bildung ist gleichermaßen Konsum- und Investitionsgut: Im Streben, das Einkommen zu maximieren, investiert eine Person so lange in Bildung, wie die Kosten niedriger sind als der erwartende Nutzen. Der Erwerb von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten erfolgt durch vorherige Aufbringung von Kosten, so dass das Bildungsverhalten eine individuelle Investition in die eigene Qualifikation (sprich: Humankapital) zwecks Einkommensmaximierung ist. Wegen der Abschreibungsrate infolge der sukzessiven Veraltung des Humankapitals ist es für ein Individuum notwendig, permanent in das eigene Humankapital zu investieren, um die Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen abzusichern. Neben den Kritikpunkten gegenüber dem neoklassischen Modell des Arbeitsmarktes und der empirisch unrealistischen Annahme, dass die Präferenzinhalte der Akteure in der vollständigen ökonomischen Rationalität (Maximierung des monetären Nutzens) liegen, scheinen Maximierung des Lebenseinkommens und die kausale Verbindung zwischen Produktivität und Einkommen unrealistisch zu sein. So zeigen empirische Analysen, dass dies für Frauen mit anderen Lebensentwürfen – etwa geplante Ausfallzeiten wegen familienbedingter Erwerbsunterbrechungen – nicht zutreffend ist (Schömann 1994). Vor allem bietet zum einen die Produktivitätsannahme Anlass für Kritik am Humankapitalansatz. Beispielsweise ist die Annahme individueller Produktivität (inklusive ihre Korrelation mit Wissen, Fähigkeiten und Information) nicht so ohne weiteres mit dem Humankapitalansatz vereinbar, wenn es um die Spitzenverdienste von einzelnen Personengruppen wie Manager, Popstars oder Sportler geht (Rosen 1981). Zum anderen hat die empirisch kaum haltbare Prämisse der vollständigen Information von Akteuren zur Ausweitung der humankapitaltheoretischen Modelle geführt: Such- und Matching-Theorien berücksichtigen die unvollständige Information von Arbeitnehmern und Beschäftigern vor dem Abschluss eines Arbeitsverhältnisses. Die unvollständige Information während des Arbeitsverhältnisses selbst wird in ‚shirking models‘ und Effizienzlohn- und Senioritätslohn-Modellen berücksichtigt (Schömann 1994). Signal- und Filtertheorie Die Signal- und Filtertheorie (Arrow 1973; Spence 1973; Stiglitz 1975; Weiss 1995) kritisiert die Produktivitätsthese der Humankapitaltheorie dahingehend, dass Bildungserfolg und Wissenserwerb nicht die individuelle Produktivität abbilden, dass Arbeitgeber Probleme haben, die Produktivität von Arbeitsplatzbewerbern zu messen, und dass Arbeitskraftanbieter substantielle Probleme haben, ihre Produktivität einzuschätzen. Anstatt dass Talent und Anstrengung eine Rolle bei der Rekrutierung von Arbeitskräften spielen, wird davon ausgegangen, dass die Rekrutierung und der erfolgreiche Übergang in den Beruf in Abhängigkeit von erworbenen Bildungszertifikaten erfolgen. Diese Bildungszertifikate stellen ein Signal für die gewünschte Bildungsausstattung (Qualifikationen und Kompetenzen) und antizipierte Produktivität dar und sind daher ein Mittel für die Selektion von Arbeitskräften. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass das Bildungszertifikat auch ein Signal für gewünschte informelle Charakteristiken („taste for discrimination“) oder extrafunktionale Qualifikationen („screaming out“) ist (Solga 2005a). Bildungszertifikate stellen für Arbeitgeber einen so genannten „screening device“ dar, um die Auswahl von Bewerbern zu er-
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leichtern (Senkung der Rekrutierungskosten für den Arbeitgeber). Somit liegt eine Funktion des Bildungssystems darin, über Bildungszertifikate vor allem Arbeitskräfte mit überdurchschnittlichem Produktivitätspotential zu filtern. Insgesamt hat aus dieser Sicht erworbene Bildung lediglich eine Selektions- und Signalfunktion, und die Korrelation zwischen Bildung und Einkommen kann nicht als empirischer Beleg für die Humankapitaltheorie interpretiert werden (Timmermann 2002: 88). Theorie des Arbeitskräftewettbewerbs (Labour queue model) Dieser von Thurow (1972, 1975) vorgeschlagene Ansatz stellt eine Verbindung der Signalund Filtertheorie mit der Theorie segmentierter Arbeitsmärkte dar.9 Berufsanfänger konkurrieren untereinander um Eintrittspositionen in spätere Karriereleitern statt um Einkommen. An den so genannten „entry ports“ interner Arbeitsmärkte bilden sich Arbeitskräfteschlangen, die durch Arbeitgeber nach der Arbeitsproduktivität von Bewerbern und ihren Qualifikationsanforderungen (Trainingskosten) sortiert werden, da eine Bindung der Produktivität und Einkommen an den Arbeitsplatz und dessen Anforderungsstruktur besteht. Weil das Bildungszertifikat als Signal und Status für Trainierbarkeit fungiert, haben besser gebildete Bewerber auch bessere Chancen, möglichst weit vorne in der Arbeitskräfteschlange platziert zu werden. Die Wettbewerbschancen in der Warteschlange um Vakanzen werden zu einem signifikanten Teil durch die Bildung bestimmt; schlechter qualifizierte Arbeitskräfte laufen bei einem zunehmenden Wettbewerb um knappe Arbeitsplätze Gefahr, durch besser Qualifizierte verdrängt zu werden. Somit sind individuelle Beschäftigungs- und Einkommenschancen abhängig von der relativen Position in der ‚labour queue‘, von der Verteilung der Vakanzen auf dem Arbeitsmarkt und von den Eigenschaften und Anforderungen vakanter Positionen. Die letztendliche Rekrutierung hängt dann – wie zuvor gesehen – vom ‚Signaling‘ und ‚Filtering‘ sowie von der ideosynkratischen Rekrutierungsstrategie des Betriebs ab. Integrative Theorie- und Modellbildung in der Bildungssoziologie Bildungssoziologie soll meines Erachtens aus einer interdisziplinären und empirisch orientierten Perspektive einen systematischen Beitrag zur integrativen Theorie- und Modellbil9 Die Theorie der segmentierten Arbeitsmärkte (Doeringer und Piore 1971; Blossfeld und Mayer 1988) kritisiert das Arbeitsmarktmodell der neoklassischen Ökonomie dahingehend, dass Angebot und Nachfrage nur in Ausnahmefällen für das Gleichgewicht des Marktes sorgen. Empirisch beobachtet wird eher, dass keine Anpassung der Gehälter an das tatsächliche Produktivitätsniveau im Berufsverlauf erfolgt, dass die Allokation und Entlohnung durch institutionelle Regelungen und Strukturen reguliert wird und dass es eine sozial selektive Rekrutierung von Arbeitskräften gibt. In großen Betrieben und Firmen (Öffentlicher Dienst oder Militär als Prototyp; vgl. Becker 1993) erfolgt die Status- und Einkommensmobilität entlang hierarchischer Karriereleitern und nach Senioritätsprinzipien: In internen Arbeitsmärkten, in denen die neoklassischen Marktgesetze nicht gelten, werden vakante Positionen durch Selektion und Promotion besetzt, um betriebliche Rekrutierungs-, Qualifizierungs- und Fluktuationskosten zu minimieren. Durch Karriereleitern, die sichere Beförderungen in Aussicht stellen, soll die Arbeitsmoral stimuliert werden, und in diesem System werden Arbeitskräfte nicht für den Arbeitsplatz beschäftigt, sondern für eine Karriere im Betrieb, wodurch die Arbeitsmarktmobilität und das flexible Reagieren von Arbeitskräften auf Arbeitsmarktentwicklungen erheblich reduziert werden. In der theoretischen Modellierung wird ein dualer Arbeitsmarkt angenommen, der in ein primäres und in ein sekundäres Segment bzw. interne und externe Arbeitsmärkte unterteilt ist. Das primäre Segment ist durch qualifikationsadäquate Beschäftigung, stabile Beschäftigung, Einkommen und sichere Aufstiegschancen nach Seniorität gekennzeichnet. Das sekundäre Segment, also die externen Arbeitsmärkte, charakterisieren sich durch schlechte Arbeitsbedingungen sowie durch unsichere (befristete) Beschäftigung von niedrig qualifizierten und schlecht bezahlten Arbeitskräften; sie haben weder Aussichten auf berufliche Aufstiege noch Möglichkeiten für kontinuierliche Investitionen in Weiterbildung.
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dung in den Sozialwissenschaften leisten. Beispielsweise lassen sich alle zuvor knapp dargestellten theoretischen Modelle in ein handlungstheoretisches Modell integrieren, das den Übergang von Bildung in den Arbeitsmarkt als einen Spezialfall des ‚Matching Problems‘ sowohl in sparsamer als auch in empirisch überprüfbarer Weise abbildet (Müller et al. 2002). Im institutionellen Kontext des Übergangs vom Bildungs- ins Beschäftigungssystem gibt es eine Wettbewerbssituation auf der Angebots- und Nachfrageseite des Arbeitsmarktes: Einerseits gibt es den Wettbewerb der Berufsanfänger untereinander um knappe Arbeitsplätze, und auf der anderen Seite gibt es wegen eines knappen Angebots an qualifizierten Bewerbern einen Wettbewerb von Arbeitgebern untereinander um Berufsanfänger. Auf der Nachfrageseite existieren subjektive Erwartungen des Arbeitgebers, den Arbeitsplatz mit optimaler Produktivität und geringen Kosten zu besetzen, aber auch gleichzeitig mehr oder weniger große Unsicherheiten bei der Auswahl von Bewerbern. Aber auch auf der Angebotsseite liegen Unsicherheiten bei potentiellen Arbeitnehmern wegen fehlender Berufserfahrung vor, aber auch Unsicherheiten bei Arbeitgebern, weil sie über keine Indikatoren zur vorherigen Arbeitsperformanz von Bewerbern verfügen. Ausgehend von diesen Prämissen kann die Entscheidungsstruktur beim Übergang von Schule in den Beruf in folgender Weise formalisiert werden: li = gpi - tkf - rkf, wobei: li die Lohnkosten für Beschäftigung von Individuum i, gpi die Grenzproduktivität von Individuum i (Erhöhung des Produktionsergebnisses, die aus der Beschäftigung von Individuum i resultiert), tkf die für die Firma f anfallenden Trainingskosten und rkf die Risikokompensation für die Firma f sind. Demnach werden als Entscheidung des Arbeitgebers diejenigen Berufsanfänger rekrutiert, wenn – li gpi - tkf - rkf – die zu erwartenden Lohnkosten nieder sind als die anderen Kostenterme für die Rekrutierung. Dieses sparsame Modell kann ohne weiteres spezifiziert werden, indem zusätzliche Randbedingungen des Arbeitsmarktes kontrolliert werden, und es kann eine Vielzahl von empirisch überprüfbaren Hypothesen abgeleitet werden.
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Bildungssoziologie in Theorie und Empirie
Fassen wir das einleitende Kapitel knapp zusammen: Die empirische Bildungssoziologie beschäftigt sich vornehmlich mit der Beschreibung und Erklärung des Bildungsverhaltens und seiner individuellen wie gesellschaftlichen Konsequenzen. Sie beschreibt und erklärt das auf Bildung bezogene soziale Handeln und die Sozialstruktur von Lebensverläufen in Abhängigkeit von Bildung. Des Weiteren umfasst sie die Beschreibung und Erklärung der Bildungsinstitutionen, des Bildungssystems und der Bildungspolitik aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive. Der institutionalisierte Austausch von Bildungssystem und anderen gesellschaftlichen Ordnungen ist ebenfalls Gegenstand der beschreibenden und erklärenden Bildungssoziologie. Gegenwärtig ist die empirische und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Bildungssoziologie vornehmlich ein zentraler Beitrag zur Sozialstrukturanalyse im weitesten Sinne, aber in Zukunft wird sie zur theoretischen Integration von sozialwissenschaftlichen Theorien bzw. Forschungsparadigmen über Bildung beizutragen versuchen. Hoffnungsvolle Ansätze und Projektvorhaben dazu sind bereits im vollen Gange.
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Auswahlliteratur
Welche Literatur ist für das Studium der Bildungssoziologie zu empfehlen? Die folgende Auswahl ist eine subjektive Empfehlung und ist notorisch unvollständig. Einführungen und Überblicke Allmendinger, Jutta, und Silke Aisenbrey, 2002: Soziologische Bildungsforschung. S. 41-61 in: Rudolf Tippelt (Hg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen: Leske+Budrich. Ballantine, Jeanne H. und Floyd M. Hammack, 2008: The Sociology of Education: A Systematic Analysis. New Jersey: Prentice Hall. Collins, Randall. 1979. The Credential Society: A Historical Sociology of Education and Stratification. NY: Academic Press. Esser, Hartmut, 1993: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main: Campus. Goldthorpe, John H., 2000: On Sociology. Numbers, Narratives, and the Integration of Research and Theory. Oxford: University Press. Grimm, Susanne, 1987: Soziologie der Bildung und Erziehung: Eine Einführung und kritische Bilanz. München: Ehrenwirth. Hadjar, Andreas und Rolf Becker (Hg.), 2006: Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Krais, Beate, 1994: Erziehungs- und Bildungssoziologie. S. 556-576 in: Harald Kerber und Arnold Schmieder (Hg.): Spezielle Soziologie. Reinbek: Rowohlt. Meulemann, Heiner, 2001: Soziologie von Anfang an. Eine Einführung in Themen, Ergebnisse und Literatur. Opladen: Westdeutscher Verlag.
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Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in modernen Gesellschaften Meritokratie
Rolf Becker und Andreas Hadjar
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Einleitung
In modernen Gesellschaften mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung erfolgt die Verteilung von Lebenschancen (Einkommen, wohlfahrtsstaatliche Anrechte etc.) vornehmlich über den Arbeitsmarkt und die berufsmäßige Erwerbstätigkeit im Lebenslauf (Müller und Mayer 1986). Der Erwerb von Bildung und Qualifikationen ist eine essentielle Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt (Blossfeld 1989; Becker 1993; Hillmert und Mayer 2004; Solga 2005). Für die Systemintegration, d.h. das reibungslose Funktionieren der gesellschaftlichen Teilsysteme, sowie für die Sozialintegration, d.h. die Teilhabe an gesellschaftlichen Teilbereichen, spielt daher der Zugang zu Bildung und Erwerb von Bildungszertifikaten ebenso eine bedeutsame Rolle wie der Zugang zum Arbeitsmarkt und der Erwerb von Einkommen (Lockwood 1964; Mayer 1994, 2000). Die Verteilung der Güter und Positionen im Bildungs- und Beschäftigungssystem erfolgt – so die vorherrschende gesellschaftliche Vorstellung – im Sinne von Chancengleichheit nach dem Leistungsprinzip, mit dem das Ausmaß und die Struktur der sozialen Ungleichheit von Bildung, Status und Einkommen legitimiert werden (Hadjar 2008; Mayer 1975).1 Zugang zu Bildung oder Beruf und Erwerb von Bildung und Einkommen sollen demnach ausschließlich über meritokratische 1 Unter formaler Chancengleichheit im Sinne der Meritokratie wird verstanden, dass alle Individuen – entsprechend ihren Fähigkeiten und Leistungen – gleiche Chancen zum Erwerb von Bildungszertifikaten erhalten. Leistungsfremde Kriterien – wie zum Beispiel Geschlecht, soziale Herkunft oder Nationalität – sollen diesem meritokratischen Prinzip entsprechend bei der notwendigen Auslese im Bildungssystem keine Rolle spielen. Das Gebot der Chancengleichheit gilt nicht uneingeschränkt, sondern wiederum nur insoweit, als nicht allgemein annehmbare Gründe eine ungleiche Verteilung von Chancen rechtfertigen. Soziale Positionen müssen zwar grundsätzlich allen Gesellschaftsmitgliedern offenstehen, und alle müssen gleiche Chancen haben, in diese Positionen zu gelangen – allerdings nur insofern, als sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen und entsprechende Leistungen tatsächlich auch erbringen (vgl. Ditton 2008). Chancengleichheit im Sinne des Modells der statistischen Unabhängigkeit hingegen heißt, dass jedes Schulkind unabhängig von dessen sozialer Herkunft die gleiche Startchance im Bildungssystem haben soll. Demnach sollten Kinder „nicht aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft von vornherein ungleiche Chancen haben (...)“ und „Chancengleichheit (wäre) dann erreicht (...), wenn Unterschiede zwischen großen sozialen Gruppen sich nicht mehr in den Bildungs- und Berufschancen von Kindern auswirken würden“ (Müller und Mayer 1976: 27). Das Postulat der Chancengleichheit impliziert nicht die Gleichheit von Bildungserfolgen, aber auch nicht die formale Chancengleichheit, nach der Bildungserfolge nunmehr ausschließlich von den individuellen Fähigkeiten, Anstrengungen, Leistungen und Motivationen abhängen sollen. Da diese jedoch nicht unabhängig von der sozioökonomischen Lage des Elternhauses sind, würde eine formale Chancengleichheit einen hohen Grad an Chancenungleichheit zwischen den sozialen Schichten und ihre dauerhafte Festschreibung bedeuten (Becker 2004).
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Prinzipien als legitimer Mechanismus für die Verteilung von Gütern und des gesellschaftlichen Status erfolgen. Die an Bildung geknüpfte und gesellschaftlich anerkannte Verteilung von Status, Einkommen, Macht und anderen Privilegien wird demzufolge aufgrund individueller Leistung als Indikator von im Wettbewerb erworbenen Verdiensten („contest mobility“) und nicht aufgrund von vererbtem Status etwa nach adliger Herkunft („sponsored mobility“) oder nach anderen askriptiven Merkmalen wie Geschlecht oder Rasse vorgenommen (vgl. Turner 1960). Eine Gesellschaft, die Ämter, Ansehen und Reichtum ausschließlich nach Leistung vergibt, erscheint fairer als eine auf althergebrachten Privilegien beruhende Feudalgesellschaft oder als ein Wohlfahrtsstaat, der bestrebt ist, durch gezielte Eingriffe in die Lebensumstände von Menschen individuelle und kollektive Chancengleichheit herzustellen. In einer meritokratischen Gesellschaft hingegen wird die soziale Schichtung nach sozialer Herkunft scheinbar durch eine soziale Schichtung nach individueller Leistung ersetzt. Das Leistungsprinzip auf der Basis einer Chancengleichheit im Bildungserwerb ist ihr entscheidendes Grundprinzip (Young 1958). Wenn sich aber in dieser Logik individuelle Leistung nicht mehr lohnt und soziale Ungleichheit nicht mehr mit rationalen Kriterien wie Talent, Anstrengung und Leistung legitimiert werden kann, scheinen die System- und Sozialintegration und damit auch der Zusammenhalt von Gesellschaften nicht mehr gewährleistet. Trotz der Bildungsexpansion und der weiterhin bestehenden ungerechtfertigten Bildungsungleichheiten gibt es in modernen Gesellschaften einen ungebrochenen Glauben an einen meritokratischen, herkunftsunabhängigen Zugang zu Bildung in westlichen Gesellschaften (Friedeburg 1992): „Mehr noch, dieser Glaube bzw. die meritokratische Leitfigur sozialer Ungleichheit und der daraus abgeleitete (scheinbar) freie Wettbewerb beim Bildungserwerb leisten einen wichtigen Beitrag für die Stabilität dieser sozial ungleichen Bildungschancen“ (Solga 2005: 21). Demnach ist das individuelle Lebensschicksal nicht mehr Bestandteil des kollektiven Familienschicksals, sondern – frei nach dem Motto: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ ein individuelles, durch Leistung „verdientes“ und bewusst gestaltetes Schicksal (Kreckel 1992): „Das Bildungssystem ist in diesem Sinne die zentrale Rechtfertigungsfabrik sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft. Es verwandelt nach den Maßstäben „individueller Leistung“, individuell zurechenbar und nachvollziehbar, Gleiche in Ungleiche (in Rang, Bezahlung usw.), und zwar so, dass die Benachteiligten in der Geltung des Gleichheitsprinzips ihre Benachteilung akzeptieren (…)“ (Beck 1988: 265). Im Rahmen dieses Kapitels soll zunächst das theoretische Konzept der Meritokratie erläutert werden, um dann aus theoretischer Perspektive zu betrachten, wie sich die Bildungsund Statuserwerbsprozesse im Hinblick auf (bildungsbasierte) Meritokratie über die Bildungsexpansion verändert haben. Daran anschließend werden empirische Evidenzen zur „Meritokratisierung“ von Gesellschaften zusammengetragen und das Ideal meritokratischer Prinzipien mit empirischen Befunden verglichen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund werden abschließend Kritikpunkte zum meritokratischen Prinzip dargestellt.
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Konstitutive Elemente der Meritokratie und der bildungsbasierten Meritokratie
Grundlagen Etymologisch bedeutet „Meritokratie“ (lateinisch: meritum für „das Verdienst“; griechisch: kratein für „herrschen“) eine Herrschaftsordnung nach Maßgabe von Begabung und Leistungsfähigkeit des Einzelnen, bei der Amtsträger – beim Vorherrschen des Leistungsprinzips gegenüber anderen Grundsätzen der Statuszuweisung (etwa nach askriptiven Merkmalen wie soziale Herkunft, Geschlecht etc.) – aufgrund ihrer Verdienste (sprich: intellektuellen Leistungen und Fähigkeiten) ausgewählt werden. Geprägt wurde der Begriff der Meritokratie durch den britischen Soziologen Michael Young (1958) in seiner Gesellschaftssatire „The Rise of Meritocracy“, in der er das zukünftige Großbritannien beschreibt, das sich bis zum Jahre 2034 zu einer Gesellschaft entwickelt, in der die gesellschaftliche Position des Einzelnen durch Intelligenz (gemessen durch den Intelligenzquotienten) und Anstrengung (‚effort‘) bestimmt ist: „Intelligence and effort together make up merit“ (Young 1958: 94).2 Es wird von Young (1958) eine utopische Gesellschaft beschrieben, in der Leistung (Talent und Anstrengung) die wesentliche und ausschließliche Basis der Verteilung von Gütern und Positionen ist: ‚Merit = IQ plus effort‘ (Goldthorpe 1996: 258).3 Diese gesellschaftliche Vorstellung, dass höhere Leistung belohnt werden soll, liegt vielen meritokratischen Argumenten zugrunde. Daneben wird behauptet, dass die Meritokratie Anreiz biete, zum Aufbau einer modernen Leistungsgesellschaft beizutragen, in der Chancen- und Leistungsgerechtigkeit herrsche, und somit die Gesellschaft insgesamt Nutzen aus der leistungsbezogenen Allokation und Mobilität ziehe. Zentrale Grundgedanken dieser Sichtweise finden sich bereits in der amerikanischen Soziologie der 1940er, 1950er und 1960er Jahre wieder, die von der Denkrichtung des Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie verbreitet wurden. So betont Talcott Parsons (1959, 1964, 1967, 1971) die Bedeutsamkeit der Bildung und Ausbreitung der Bildungsbeteiligung für die gesellschaftliche Modernisierung, wonach die „Bildungsrevolution“ genauso wichtig wie die industrielle und demokratische Revolution sei. Die Ausbreitung der Elementarbildung ist demnach ein wichtiger Schritt in Richtung einer Aufklärung der gesamten Bevölkerung, als dann in der Folge die allgemeinbildende Schule der gesam2 Während diese Definition sehr auf biologische und psychologische Dispositionen abzielt, beschreibt Hoffer (2002: 255) das meritokratische Prinzip stärker aus sozialwissenschaftlicher Perspektive: „Individuals are selected for educational opportunities and jobs on the basis of demonstrated performance.“ Begehrte Positionen werden entsprechend auf der Basis von kognitiven Fähigkeiten (Intelligenz, Wissen, Kompetenzen etc.), Bildungserwerb im Sinne von Bildungszertifikaten und Schulleistungen (Noten) sowie generellen Persönlichkeitsmerkmalen (Fleiß, Pflichtbewusstsein) vergeben (Kingston 2006: 112f). Nicht-erworbene, also askriptive Merkmale wie soziale Herkunft (Bildung, Status des Elternhauses), Geschlecht, Ethnie oder Migrationshintergrund dürften nach der Vorstellung der idealen Meritokratie keinen Einfluss auf den Bildungs- und Statuserwerb haben. 3 Ein Ausgangspunkt dieser meritokratischen Gesellschaft ist der empirische Befund, dass Kinder aus höheren Sozialschichten trotz mangelnder Leistungen das gesamte Schul- und Hochschulsystem absolvieren, während höher begabte Kinder aus unteren Sozialschichten schon frühzeitig die Schule verlassen, um Geld zu verdienen: „Die Folge war, dass so manches Kind, das vielleicht die Befähigung für das Amt eines Staatssekretärs gehabt hätte, gezwungen war, mit fünfzehn Jahren von der Schule abzugehen und Briefträger zu werden. ‚Staatssekretäre‘ trugen Briefe aus! – es ist kaum zu glauben. Andere Kinder, die weniger Verstand, aber mehr Protektion hatten, kamen in Eton und Balliol mit Ach und Krach bis zur Reifeprüfung; nach einigen Jahren brachten sie es dennoch zu hohen Stellungen im auswärtigen Dienst. Welche Tragikkomödie: Briefträgertalente stellen diplomatische Noten zu!“ (Young 1961: 23).
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ten Bevölkerung zugänglich war und die Bildung über eine elementare Schulung in Lesen und Schreiben hinausging in Richtung einer kollektiven Höherqualifikation. Zwar hat die Bildungsrevolution zur Ausweitung von Chancengleichheit beigetragen, aber das Bildungssystem ist weiterhin – in Parsons’ Worten: notwendigerweise – selektiv. Die Verteilung von Bildungszertifikaten und daran geknüpfte Auszeichnungen seien nunmehr an individuelle Fähigkeiten, Motivationen und Anstrengungen gebunden: Neue Ungleichheiten sind eben an Meriten gebunden und kollidieren nicht mit der Chancengleichheit. Nach Parsons (1959) trägt die Bildungsrevolution zur wachsenden Bedeutung abstrakter Geistesarbeit und Forschungstätigkeit und auch zum forcierten berufsstrukturellen Wandel in der sozialen Schichtung bei. Die Zuordnung von Personen zu sozialen, politischen und beruflichen Positionen erfolgt nicht mehr über Geburt und soziale Herkunft, sondern über im Wettbewerb erworbene Bildungspatente sowie im Rahmen des Wettbewerbs beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu anderen gesellschaftlichen Bereichen (vgl. Turner 1960). Bei der Zuweisung von Lebenschancen ergänzt sich die „Bildungsrevolution“ mit der demokratischen Revolution: Chancengleichheit geht mit demokratischen und bürgerlichen Freiheiten einher.4 Denn die Allokation im Schichtungssystem erfolgt nicht mehr wie zuvor willkürlich, sondern Individuen werden je nach ihrer Fähigkeit für verantwortliche Rollen ausgewählt und belohnt. Weil Talente und Anstrengungen aber ungleich verteilt sind und deswegen gebotene Chancen ungleich genutzt werden, ergibt sich eine gerechtfertigte Ergebnisungleichheit von Verdiensten und daran geknüpfte Lebenschancen. Der strukturfunktionalistischen Perspektive zufolge ist soziale Ungleichheit von Lebenschancen, die sich in der sozialen Schichtung niederschlägt, ein universelles gesellschaftliches Phänomen. Sie resultiert – Davis und Moore (1945) zufolge – nicht aus der unterschiedlichen Verfügbarkeit von Kapital und Arbeit, wie dies noch Marx (1947) oder Weber (1980) behaupteten, sondern aus ungleichen prestigeträchtigen Belohnungen unterschiedlichster Art, die im Rahmen eines Konkurrenzsystems (sprich: Bildungssystem und Arbeitsmarkt) verteilt werden. Die Verteilung von Meriten drückt sich in sozialer Schichtung aus. In einem Positionssystem herrscht Ungleichheit, wenn einzelne Personen oder Gruppen in unterschiedlicher Weise belohnt werden. Demnach ist eine Gesellschaft immer geschichtet, wenn Ungleichheit vorherrscht. Nach Davis und Moore (1945) besteht die Funktionalität der Schichtung darin, dass eine Gesellschaft Individuen in die Sozialstruktur integrieren und sie mit bestimmten Motivationen und Pflichten versehen muss. Ungleichheit ist eine funktionalistische Notwendigkeit moderner Gesellschaften: Denn jede Gesellschaft ist nach Davis und Moore (1945) darauf angewiesen, ihre begabtesten und fähigsten 4 Im meritokratischen Prinzip werden die Vorstellungen der Leistung und der Gleichheit kombiniert, woraus sich das Ziel der Chancengleichheit ergibt: „Chancengleichheit heißt, dass der Zugang zu Belohnungen und den sie begründenden Leistungspositionen wiederum nur durch eigene Leistung und nicht durch Glück, List oder Herkunft geregelt wird“ (Hondrich 1984: 275). Sowohl der Wert der Gleichheit als auch der Wert der Leistung sind auf die Integration und Stabilität einer sich fortschreitend differenzierenden modernen Gesellschaft gerichtet. „Mit Gleichheit wird gefordert, persönlich nicht zu verantwortende Unterschiede zwischen den Menschen nicht zu einer Grundlage sozial bewerteter Unterschiede zu machen. Mit Leistung wird gefordert, persönlich zu verantwortende Unterschiede zwischen den Menschen zu einer Grundlage sozial bewerteter Unterschiede zu machen“ (Meulemann 1992: 102). Unter dem Eindruck persistenter Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft – ein Befund im Hinblick auf das empirische Konstrukt der Meritokratie – ergibt sich aus den Modi der Leistung und der Chancengleichheit das Credo der Chancengerechtigkeit: „Weil Leistung Ungleichheit rechtfertigt und weil Herkunft und Leistung miteinander zusammenhängen, geht aus der Forderung nach gleichen Chancen die Forderung nach gleichen Chancen bei gleicher Leistung hervor. Aus Chancengleichheit wird Chancengerechtigkeit“ (Meulemann 2004: 120).
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Mitglieder dazu zu motivieren, die gesellschaftlich entscheidenden und überlebenswichtigen Funktionen zu übernehmen. Vor dem Hintergrund einer gegebenen Knappheit an Talenten und Fähigkeiten bedarf es einer Anreizstruktur und legitimer Allokationsmechanismen, um diese Positionen in optimaler Weise zu besetzen. Wie kann eine gesellschaftliche Ordnung Individuen motivieren, ihre Pflichten, den Positionen entsprechend, zu erfüllen? Dies geschieht mit Hilfe eines Belohnungssystems. Da die Aufgaben und Verantwortlichkeiten nach ihrer funktionalen Bedeutung – dem Grad ihrer Einzigartigkeit und Ersetzbarkeit – differieren und Schlüsselpositionen eine besondere differentielle funktionale Bedeutung für die Gesellschaft haben, hohe Anforderungen an Talente und Fähigkeiten stellen und mit anspruchsvollen wie konsequenzenreichen Pflichten verbunden sind, bedarf es eines Systems abgestufter Belohnungen, je weiter die Arbeitsteilung und soziale Differenzierung in einer Gesellschaft vorangeschritten ist. Da Talente knapp und Ausbildungen teuer sind, müssen Positionen in ihrer funktionalen Bedeutung mit unterschiedlichen Belohnungen ausgestattet sein, damit sie eine Anreizwirkung entfalten, damit eine adäquate Besetzung der sozialen Positionen erfolgt. Ungleiche Belohnungen erscheinen funktional, „um Personen je nach ihren Fähigkeiten in ungleiche Positionen zu lenken, über hohes Einkommen und Ansehen also besonders leistungsfähige Leute zu bewegen, schwierige und verantwortliche Positionen anzustreben“ (Hondrich 1984: 292). Belohnungen und ihre ungleiche Verteilung sind damit Bestandteil der Sozialstruktur. Soziale Schichtung ist demnach das institutionelle Ergebnis differentieller Selektions- und Belohnungsprozesse. Wie soll eine Gesellschaft ihre Mitglieder auf Positionen verteilen? Es geht hierbei für die Vertreter des Strukturfunktionalismus wie etwa Davis und Kingsley (1945) um die Frage, wie berufliche Positionen besetzt werden sollen und wie diese Allokation zu legitimieren ist. Die Zuordnung von Bildung zu beruflichen oder anderen gesellschaftlich bedeutsamen Positionen wird über die Verknüpfung von Verdiensten mit individuellen Begabungen und Leistungen legitimiert. In Anlehnung an meritokratische Prinzipien sollen – wie bereits mehrfach gesehen – die entscheidenden verantwortungsvollen Positionen – also Führungspositionen in den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen – durch die Besten und Tüchtigsten eingenommen werden.5 Die gesellschaftliche Festlegung der Funktionalität und Bedeutung unterschiedlicher sozialer Positionen sehen Vertreter des Strukturfunktionalismus darin, dass die Meritokratie klare Prinzipien benennt, wie soziale Ordnung und individuelle Freiheit aufeinander abgestimmt werden. Es geht darum, dass es legitime Regeln gibt, wie Individuen in die gesellschaftlichen Institutionen integriert werden und welche Voraussetzungen von den Individuen mitgebracht werden müssen. Individuelle Anstrengungen und Leistungen, die an erworbenen Bildungszertifikaten abgelesen werden können, bedingen die Teilhabe am Arbeitsmarkt, über den die Verdienste verteilt werden. Die Verteilungsregeln lauten: Je größer die Talente und Leistungen, desto größer die Verdienste. Die Verteilung von knappen Gütern und Positionen in einer Gesellschaft erfolgt nach diesen Regeln, und da sie als legitim anerkannt werden, tragen sie zur Integration einer Gesellschaft bei. Die Integration einer Gesellschaft ist dann gewährleistet, wenn ein allgemeiner Konsens über die Zuweisung von Positionen (Beziehung zwischen Macht, Geld, Prestige
5 Die „Besten“ und „Tüchtigsten“ sind natürlich begabte Personen, die sich einer langen Ausbildung unterziehen. Sie sollen in diese Positionen, die hohes Einkommen, Ansehen und Status beinhalten, gelangen können.
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und Fähigkeiten) und Funktionen (Rolle im System der Arbeitsteilung) in der Gesellschaft und ihren Ordnungen besteht.6 Bildungsbasierte Meritokratie Aus Sicht von Goldthorpe (1996: 255f) liegen der (bildungsbasierten) Meritokratie drei Prämissen zugrunde, die bereits vor der Entstehung des Begriffs im gesellschaftlichen Diskurs von Bedeutung waren und die sich auf die Mehrung und Wahrung gesellschaftlichen Reichtums richten. Das erste Prinzip „la carrière ouverte aux talents“ bezieht sich darauf, dass Verantwortungspositionen einzig nach demonstrierter Kompetenz im Sinne von Fähigkeiten zu besetzen sind. Im Rahmen von Reformen der staatlichen Verwaltungen im 19. Jahrhundert wurde Bildung, Erfolg in kompetitiven Prüfungen und die Absolvierung bestimmter Ausbildungseinheiten eine zunehmende Bedeutung bei der Stellenbesetzung zugeschrieben, während die familiale Einbindung, Beziehungen zu Gönnern oder Korruption zurückgedrängt werden sollten (vgl. Becker 1993). Eine zweite Grundidee unterstellt, dass Chancen auf Bildungserwerb einzig von natürlichen Begabungen abhängen. So ist eine wesentliche Funktion des Bildungssystems in westlichen Industriestaaten die Selektion von begabten Schülerinnen und Schülern für höhere Bildungswege, welche über die natürlichen Ressourcen verfügten, diese auch zu bestehen. Anfang der 1920er Jahre bekam dieser Selektionsmechanismus weiteren Auftrieb durch die Entwicklung von Intelligenz- und Begabungstests, die eine massenhafte zuverlässige Testung ermöglichen. Die dritte Prämisse bezieht sich auf das Leistungskriterium als Basis jeglicher Selektionen in modernen Gesellschaften und damit auf Leistung als Rechtfertigungsargument für soziale Ungleichheiten: „The social inequality (…) can then claim legitimicy – as ascriptive inequality cannot – in that it contributes to the efficient functioning of the society as a whole and in that superior rewards, because they reflect superior achievement, are deserved“ (Goldthorpe 1996: 257). Begründet werden diese Prämissen – wie bereits gesehen – aus der Perspektive der struktur-funktionalistischen Schichtungstheorie (Davis und Moore 1945), dass Ungleichheiten notwendig sind, um Individuen zu (hohen) Leistungen zu motivieren und dadurch gesellschaftlichen Fortschritt zu initiieren, der letztlich dem Wohle aller dient. Die dem meritokratischen Prinzip immanente Leistungsideologie ist in modernen Industriegesellschaften die wichtigste Grundlage zur Legitimation von sozialer Ungleichheit (McClelland 1967).7 Die berufliche und gesellschaftliche Karriere basiert auf individuellen Talenten und Anstrengungen, also auf Leistungen („achievement“). In systematischer Weise kann dieses Prinzip in der meritokratischen Trias von Bildung, Beruf und Einkommen“ (Kreckel 1992: 97) beschrieben werden (Abb. 1). In marktwirtschaftlichen Ordnungen 6
Existiert dieser Konsens nicht oder nur teilweise, entstehen strukturelle Spannungen in der Gesellschaft. So kann vermutet werden, dass die Bedeutungslosigkeit von Bildung und erworbenen Zertifikaten für den Erwerb von Positionen und daran geknüpfte Güter zu sozialen Konflikten oder zum Zusammenbruch führt. Wenn beispielsweise soziale Mobilität – insbesondere soziale Aufstiege trotz individueller Anstrengungen und Investitionen in Bildung – nicht mehr möglich erscheint, dann geraten gesellschaftliche Ordnungen wegen zunehmender Unzufriedenheit in der Bevölkerung in Legitimationsnöte. Mayer und Solga (1994) führen empirische Evidenzen zu den Mobilitätschancen in der DDR an, die plausibel machen, dass Mobilitätsblockaden zur Delegitimation und schließlich zum Zusammenbruch der DDR beigetragen haben. 7 Nach Kreckel (1992: 98) ist die Leistungsideologie deswegen „Ideologie, weil sie sich nicht auf die Forderung nach und die Förderung von sachlicher Leistungsfähigkeit beschränkt, sondern gleichzeitig damit die Ungleichheit von Lebenschancen rechtfertigt“.
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werden individuelle Qualifikationen als Input-Ressource in entsprechende berufliche Positionen konvertiert, die mit Einkommen ausgestattet sein sollen (Output-Ressourcen), die der Qualifikation als Indikator für Leistung (Zertifikat, d.h. durch formale Zeugnisse beglaubigte Leistungsqualifikation) angemessen sind. Dass sich ungleich verteilte Qualifikationen in ungleich verteilte berufliche Stellungen und auf ungleich verteilte Einkommen niederschlagen, wird als gerechtfertig angesehen. Als illegitim gelten Einflüsse auf Bildung, Beruf und Einkommen, die auf kategorialen Zugehörigkeiten (wie etwa soziale Herkunft oder Geschlecht) basieren und daher leistungsfremde Kriterien für Verdienste darstellen. Die Leistungsqualifikation, d.h. die zertifizierte Bildung, gilt demnach als einzig legitime Input-Ressource, während askriptive Input-Ressourcen (soziale Herkunft oder Geschlecht) – in illegitimer Weise – in positiver oder negativer Diskriminierung nach kategorialer Zugehörigkeit zu einer Merkmalsgruppe resultieren (Kreckel 1992: 262). Abbildung 1:
Meritokratische Triade: Legitime und illegitime Ressourcennutzung im meritokratischen Modell der sozialen Ungleichheit (nach Kreckel 1992: 228)
Diese meritokratische Triade von Bildung, Beruf und Einkommen stellt nach Kreckel (1992: 164) einen Mechanismus der leistungsgesellschaftlichen Statuszuteilung und Legitimation sozialer Ungleichheiten dar, der als typisch für „offene“, westliche Gesellschaften gelten kann. Neben der zunehmenden Nutzung von Bildung als Humankapital bzw. als Ressource für das Wirtschaftswachstum gilt die Ausschöpfung der Begabungsreserven als wesentlicher Grund für den Abbau illegitimer Einflüsse auf den Bildungserwerb und für
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den Ausbau von Chancengleichheit im Sinne der bildungsbasierten Meritokratie („education-based meritocracy“), wonach Bildung nicht mehr nur den höheren Sozialschichten vorbehalten sein darf. Zudem definieren sich demokratische Gesellschaften über die (formale) Gleichbehandlung und Gleichberechtigung ihrer Mitglieder und müssen daher „offene“ Gesellschaften sein, in denen sich individuelle Anstrengungen auszahlen. Typischerweise wird das moderne und hochgradig stratifizierte Bildungssystem zur entscheidenden Verteilungsinstanz für soziale und berufliche Positionen.
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Empirische Evidenzen für (bildungsbasierte) Meritokratie
Wenn Leistung das Schlüsselkriterium der sozialen Selektion und der Belohnung ist, wonach auf Leistung bzw. erworbener Bildung basierende Ergebnisungleichheit (Ergebnis einer ungleichen Belohnung verschiedener Berufspositionen je nach ihrer Wichtigkeit und Qualifikation) ist, stellt sich zunächst die Frage, ob de facto alle Individuen – unabhängig von leistungsfremden Kriterien wie etwa soziale Herkunft oder Geschlecht – die gleichen Chancen für den Zugang zu Bildung und den Zugang zu sozialen oder beruflichen Positionen mit attraktiven Belohnungen haben. Im Sinne der Leistungsideologie muss gewährleistet sein, dass jedem Gesellschaftsmitglied die gleichen Möglichkeiten gewährt werden, am Leistungswettbewerb teilzunehmen, wobei in Abhängigkeit von der Leistung nicht alle gleichermaßen gewinnen können, auch wenn sie prinzipiell die gleichen Aussichten auf Erfolg haben müssen. Ungleiche Bildungsresultate und – darauf basierend – ungleicher Zugang zu sozialen oder beruflichen Positionen dürfen nicht durch illegitime leistungsfremde Kriterien bestimmt werden. Macht diese säkulare Kopplung von Bildung und Beschäftigung die Schule zum alleinigen Bestimmungsfaktor sozialer Ungleichheit außerhalb des Bildungssystems oder zur zentralen Institution für die Herstellung gesellschaftlicher Chancengleichheit im Sinne der meritokratischen Prinzipien? Oder gibt es neben dem Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg und von Bildungserfolg und beruflicher Platzierung einen Einfluss der sozialen Herkunft auf den Zugang zu beruflichen Positionen und der darauf basierenden Klassenlage (als Indikator für die soziale Position)? Ein Ausgangspunkt verschiedener empirischer Studien zur Meritokratie ist die „Increased Merit Selection Hypothesis“ (IMS) von Jonsson (1992), in der postuliert wird, dass in modernen Gesellschaften Leistung im Sinne von „merit“ zum einzigen Bestimmungsfaktor des Zugangs zu Bildung und des Bildungsniveaus sowie der Stellung auf dem Arbeitsmarkt und im Erwerbsleben wird. Der Grad an realisierter meritokratischer Allokation ergibt sich aus der Bedeutung von Bildung für die Erreichung sozialer Positionen und ihrer Unabhängigkeit von ‚sponsored mobility in education and allocation‘ (Turner 1960), so dass das Bildungssystem als wichtigste Verteilungsinstanz für soziale und berufliche Positionen operiert (Goldthorpe 1996: 255ff.). Insgesamt müsste die erworbene Bildung auch der entscheidende Indikator für Meriten sein (Jackson et al. 2005: 6). Zunächst müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine Gesellschaft den Prinzipien bildungsbasierter Meritokratie („education-based meritocracy“) entspricht (siehe Abb. 2): 1.) Der Zusammenhang von individueller sozialer Herkunft und dem Bildungserwerb darf nur noch das Niveau von Fähigkeiten wiedergeben, während Faktoren, die diesem Zusammenhang zuwiderlaufen, ausgeschaltet sein müssen (Bildungserwerb nach ‚natürlichen‘ Fähigkeiten). Goldthorpe und Jackson (2003) stellen anhand von Daten der Nati-
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onal Child Development Study zunächst fest, dass diese erste Prämisse für Großbritannien empirisch nicht haltbar ist. Zunächst gibt es – und das bestätigen auch die PISA-Studien für andere Länder (Becker und Schubert 2006) – einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und individuellen Fähigkeiten für die Jugendlichen, die sich in Schullaufbahnen befinden, die zum Universitätsstudium führen. Abbildung 2:
Theorie der bildungsbasierten Meritokratie
Quelle: Goldthorpe 2003: 234 und 238 (siehe auch: Jackson, Goldthorpe und Mills 2005: 5)
Obwohl es Überschneidungen zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen Sozialschichten bezüglich der schulischen Leistungen gibt, sind die Wahrscheinlichkeiten für die Übergänge in die höheren Schullaufbahnen nach sozialer Herkunft sortiert. Auch bei vergleichsweise geringerer akademischer Performanz wechseln Jugendliche aus höheren Sozialschichten eher in die höheren Bildungslaufbahnen. Auch bei gleicher Leistung wechseln Jugendliche aus unteren Sozialschichten eher in die mittleren und unteren Schullaufbahnen. Dieser Zusammenhang hat sich auch für die jüngeren Kohorten nicht verändert. Sowohl primäre Herkunftseffekte – Auswirkungen der sozialen Herkunft auf die individuelle Leistung und den Bildungserfolg – als auch sekundäre Herkunftseffekte – Auswirkungen der sozialen Herkunft auf individuelle Bildungsentscheidungen – widersprechen den meritokratischen Prinzipien (Boudon 1974; Becker 2004). Vor allem die sekundären Herkunftseffekte bestimmen die Übergänge in die höheren Schullaufbahnen: Bei gleicher Leistung entscheiden sich höhere Sozialschichten in der Regel auch für die weiterführenden Bildungswege. Die Verteilung der Bildungsübergänge entspricht nicht ausschließlich der Verteilung der tatsächlichen schulischen Performanz. Diese empirischen Befunde konnten auch für Deutschland bestätigt werden (für einen Überblick siehe: Becker und Schubert 2006, 2009; Becker 2003, 2006). Sie widersprechen eindeutig den Prämissen der ‚education based meritocracy‘.
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2.) Der Zusammenhang zwischen individuellem Bildungserwerb und der Beschäftigung muss verstärkt werden, so dass die notwendige, im Bildungsprozess erworbene Qualifikation das ausschließliche Selektionskriterium der Arbeitgeber ist (Selektion und Zuordnung nach Kompetenzen und Fähigkeiten). Zwar ist – den Befunden von Goldthorpe und Jackson (2003) zufolge – der Zusammenhang zwischen Bildung und Beschäftigung, insbesondere die Klassenlage, enger geworden, aber gleichzeitig auch der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Mobilität. Dies wiederum widerspricht den Prinzipien der bildungsbasierten Meritokratie. Oder anders ausgedrückt: Bildung ist nicht das alleinige und entscheidende Selektionskriterium beim Berufseintritt und der beruflichen Karriere (für Deutschland: Mayer und Blossfeld 1990; Becker 1993). Offensichtlich spielen andere Faktoren, die mit sozialer Herkunft korrelieren, auch heutzutage noch eine besondere Rolle bei der Realisierung von Bildungsrenditen auf dem Arbeitsmarkt. Personen aus höheren Sozialschichten verfügen offenkundig über andere Alternativen, Strategien und Ressourcen, Statuserfolge abzusichern, wenn es aufgrund geringer schulischer Performanz und fehlendem Bildungserfolg nicht über Bildung und Leistung gelingt. Die „sponsored mobility“ ist demnach nicht durch die „contest mobility“ abgelöst worden. Es sind die Arbeitgeber, die bestimmen, was „Meriten“ sind, und deren Definition ist weiter gefasst als die der Sozialwissenschaftler: „Employers will select employees by reference to whatever attributes they believe most relevant to their productive efficiency of their organisations, and there is no guarantee that these attributes will always be ones indicative of merit, whether as defined in terms of educational attainment or indeed in any other plausible way. The liberal dream of an education-based meritocracy that would allow for the reconciliation of efficiency and social justice is one that, in a liberal society, has no easy means of realisation“ (Jackson et al. 2005: 27). Nach der von Spence (1973) und Stiglitz (1975) entwickelten Signaltheorie hat die Bildung selbst keinen Effekt auf die Leistungsfähigkeit bzw. Produktivität der Arbeitskräfte. Der von Arrow (1973) vertretenen Filtertheorie zufolge fungieren erworbene Zertifikate für den Arbeitgeber „nur“ als Signal für die gewünschte Bildungsausstattung und antizipierte Produktivität und stellen somit ein Mittel für die Selektion von Arbeitskräften dar, um eine angemessene Zuordnung von Arbeitskräften zu Arbeitsplätzen mit einem der Bildung entsprechenden Anforderungsprofil zu gewährleisten. Bildungsausstattungen von Bewerbern um Arbeitsplätze werden nicht mehr ausschließlich als individuelles Merkmal für berufliche Produktivität betrachtet, sondern als (stereotypes) Gruppenmerkmal für gewünschte Arbeitsorientierung, Lebensführung, sonstige Verhaltenseigenschaften (z.B. Neigung zu Absentismus, Kontinuität der Beschäftigung, Zuverlässigkeit, Lernfähigkeit, Motivation etc.) sowie Konformität mit Normen und Zielen eines Unternehmens (Weiss 1995). Insbesondere wenn eine Vielzahl von Bewerbern für eine knappe Zahl von Positionen zu Verfügung steht, dann erfolgt die Auswahl nach so genannten extrafunktionalen Kriterien, die mit der sozialen Herkunft korrelieren (etwa Leistungsmotivation oder kultureller Habitus). 3.) Der Zusammenhang zwischen Bildung und Beruf muss für jedes Individuum – unabhängig von seiner sozialen Herkunft – konstant sein und andere herkunftsbezogene Kriterien, die nicht dem Prinzip des bildungsbasierten Meritokratie entsprechen, müssen unberücksichtigt bleiben (Legitimation von sozialer Ungleichheit über Leistung). Dieser Zusammenhang kann für den Eintritt in den Arbeitsmarkt nicht als erfüllt angesehen werden. Alle empirischen Befunde sprechen dafür, dass trotz Bildungsexpansion ein direkter Einfluss von sozialer Herkunft und Klassenlage nachwachsender Generationen besteht. Dem-
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nach ist intergenerationale Statusvererbung trotz „Meritokratisierung“ der Berufschancen immer noch gegeben. Es stellt sich die Frage, ob dieser Zusammenhang mit dem Bildungsniveau variiert, oder anders ausgedrückt: Wird die intergenerationale Statusvererbung schwächer, je höher das erworbene Bildungsniveau ist? So gibt es nach Goldthorpe und Jackson (2003) für Großbritannien empirische Belege, dass der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Statuserwerb für die höheren Bildungsstufen schwächer geworden ist, während in den unteren Bildungsstufen dieser Zusammenhang immer noch sehr stark ist. Allerdings können vorliegende empirische Belege auch dahingehend interpretiert werden, dass der Zusammenhang zwischen Bildung und Statuserwerb für sozial privilegierte Sozialschichten enger geworden ist, da sie beim Bildungserwerb privilegiert sind. Die von Goldthorpe (2003) vorgelegten empirischen Befunde weisen darauf hin, dass bei geringem Bildungsniveau und geringen Qualifikationen die Personen aus höheren Sozialschichten eher wieder selbst einen hohen Sozialstatus erreichen können als dies Personen aus der Arbeiterschicht vermögen. Dieser Zusammenhang ist eher stärker als schwächer geworden, was der ‚education-based meritocracy‘ widerspricht. Demzufolge hängt der Zugang zu privilegierten Klassenlagen nicht nur von erworbener Qualifikation ab, sondern auch von der sozialen Herkunft. Insbesondere diejenigen aus privilegierten Klassenlagen können trotz geringer Bildungserfolge ihren Status erhalten. Qua sozialer Herkunft Privilegierte sind eher in der Lage, in „unverdienter“ Weise zur Klasse der Privilegierten aufzusteigen als diejenigen aus unteren Sozialschichten. Anders ausgedrückt: Trotz alledem müssen sich Personen aus unteren Sozialschichten mehr anstrengen, mehr Leistung an den Tag legen, um in die Klassenposition zu gelangen, als Personen aus oberen Sozialschichten mit vergleichsweise geringeren Leistungen. So gesehen ist Großbritannien wie andere Gesellschaften (etwa Deutschland) noch weit entfernt von einer Meritokratie. Aufgrund der Trägheiten in den Sozialstrukturen ist kaum anzunehmen, dass sich in den nächsten dreißig Jahren, in denen – so Young (1958) – die Meritokratie bereits zu voller Blüte gelangt, noch entscheidende Änderungen ergeben. Nach Goldthorpe (1996, 2003) soll sich bei fortschreitender „Meritokratisierung“ der herkunftsunabhängige Zusammenhang von Bildung und Klassenlage verstärken, während die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Bildungserwerb auf der einen Seite und zwischen sozialer Herkunft und Klassenlage auf der anderen Seite sich abschwächen oder gar gänzlich verschwinden müssten (Jackson et al. 2005). Wenn im Zuge der Bildungsexpansion die formale Bildung für den Zugang zur beruflichen Position aufgewertet wird und der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildung und die Klassenlage gleichermaßen verschwindet, dann müssten Gesellschaften folglich meritokratischer werden. Denn je höher das erreichte Bildungsniveau ist, desto schwächer dürfte dann die Beziehung zwischen sozialer Herkunft und erreichter Klassenlage (Interaktion HK in Abbildung 2) sein. Empirisch eher zutreffend ist folgender Zusammenhang: Je privilegierter die Klassenlage des Elternhauses (soziale Herkunft), desto schwächer ist die Beziehung zwischen Bildung und erreichter Klassenlage (Interaktion BK in Abbildung 2). Wenn Bildung keinen Effekt auf die Klassenlage hätte, dann dürften keine Unterschiede in der erworbenen Klassenlage festzustellen sein. Aber empirisch gibt es bedeutsame Unterschiede bei der intergenerationalen Mobilität (der Vererbung der Klassenlage von einer Generation zur nächsten), die darauf hinweisen, dass Bildung ein wichtiges Allokationskriterium ist. Aber die Differenzierung nach Bildung hat nicht zugenommen, wie es den Prinzipien von bildungsbasierter Meritokratie entsprechen würde, sondern eher abgenommen. D.h. der Zusammenhang zwi-
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schen sozialer Herkunft und erworbener Klassenlage ist enger geworden. Bei geringerer Bildungsdifferenzierung von Bewerbern um eine berufliche Position wird Bildung als Selektionskriterium immer weniger bedeutend, während soziale Herkunft (kultureller Habitus) immer noch bedeutsam für den Berufserfolg und Statuserwerb ist (Becker und Hadjar 2008; Blossfeld und Mayer 1990). Die empirischen Befunde zur meritokratischen Triade aus einer Längsschnittperspektive sind ambivalent. Internationale Befunde aus den 1990er Jahren (Shavit und Blossfeld 1993) weisen darauf hin, dass in allen untersuchten Gesellschaften trotz abnehmender Herkunftsbedingtheit des Bildungsniveaus ein jeweils bestimmtes Maß an Einflüssen sozialer Herkunft erhalten geblieben ist. Nur in den Niederlanden und Schweden scheinen bedeutsamere Tendenzen zur Meritokratie – d.h. einer Entkopplung von sozialer Herkunft und Bildungsniveau – stattgefunden zu haben. Die Metaanalyse von Goldthorpe (1996) weist auf die konträren Ergebnisse verschiedener Studien hin: Während Studien aus den 1960er und 1970er Jahren (Blau und Duncan 1967; Featherman und Hauser 1978; Halsey 1977) für die USA, England und Wales zeigen, dass entsprechend der IMS-Hypothese der Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Status zunimmt und der Einfluss der sozialen Herkunft teilweise abnimmt, weisen neuere Studien für Schweden (Jonsson 1993; Jonsson et al. 1996) sowie England und Wales (Heath et al. 1992; Ganzeboom et al. 1992) auf den gegenteiligen Trend hin, dass die Bedeutung der Bildung für den Statuserwerb abnimmt. Dies bestätigen auch Analysen von Breen und Goldthorpe (2001) sowie Goldthorpe und Mills (2004), die auf eine Stabilität der Verbindung zwischen sozialer Herkunft und Status bzw. erreichter Klassenlage sowie eine abnehmende Beziehung zwischen Bildung und Status in Großbritannien hinweisen. Mayer und Blossfeld (1990) zeigen für Deutschland, dass sich die meritokratische Triade aus sozialer Herkunft (Berufsstatus des Vaters), Bildung und Berufsstatus über die Kohorten hinweg als relativ stabil erweist: Die soziale Herkunft wirkt auf die Schulbildung und damit auf die berufliche Erstplatzierung und den weiteren Karriereverlauf. Kohortenanalysen anhand des ALLBUS 1988 und 1998 (Hadjar und Becker 2006) im Rahmen von Strukturgleichungsmodellen weisen auf die Stabilität der meritokratischen Triade hin, die Verbindung zwischen sozialer Herkunft (Berufsprestige des Vaters) und Bildung hat sich vor allem bei den Nachkriegskohorten (Geburtsjahrgänge 1949-59) etwas verringert, um dann wieder auf ihr Ausgangsniveau zurückzukehren. Die Bedeutung der Bildungszertifikate für das Berufsprestige ist in den jüngsten Kohorten (Geburtsjahrgänge 1959-68) stark gesunken; dieser Befund muss aber unter dem Vorbehalt gesehen werden, dass die jüngeren Kohorten sich noch nicht in dem Maße in ihren Erwerbsverläufen etablieren konnten. Eindeutig hingegen sind aktuelle Befunde von Becker und Hadjar (2008) mit Daten der deutschen Lebensverlaufsstudie (siehe auch Mayer und Blossfeld 1990). Demnach ist die soziale Exklusivität des Erwerbs eines Abiturs in der Abfolge von in der Nachkriegszeit und im Westen Deutschlands geborenen Jahrgängen zurückgegangen (Becker 2006). Jedoch hängt zum Nachteil von Arbeiterkindern der Erwerb höherer Bildung trotz der Bildungsexpansion immer noch deutlich von der sozialen Herkunft ab. Bei Kontrolle von Geschlecht können Becker und Hadjar (2008) belegen, dass es keinen eindeutigen historischen Trend für den Zusammenhang von Bildung und erworbener Klassenlage gibt. Aber es ist offensichtlich, dass für den Zugang zur oberen Dienstklasse bis zum Alter von 30 Jahren die Bildungsselektivität hoch für die zwischen 1929 und 1951 und relativ niedrig für die um 1960 Geborenen war. Für die 1971 Geborenen stieg sie wieder auf das Niveau der um 1930 Gebore-
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nen Männer und Frauen an. Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Zugang zur oberen Dienstklasse bis zum Alter von 30 Jahren hat zwar über die Kohortenabfolge abgenommen, ist aber immer noch sehr bedeutsam. Bei Kontrolle von Geschlecht und erworbener Bildung hatten um 1930 geborene Männer und Frauen aus der oberen Dienstklasse im Vergleich zu Arbeiterkindern eine um 4-Mal höhere Chance, bis zum Alter von 30 Jahren selbst der oberen Dienstklasse anzugehören. Dieses Chancenverhältnis war dann für die 1971 Geborenen nur noch halb so groß. Diese Befunde widersprechen Vermutungen, dass sich Deutschland auf dem Wege zu einer meritokratischen Gesellschaft befindet (Becker und Hadjar 2008). In Transformationsgesellschaften des ehemaligen Ostblocks hat die Bedeutung meritokratischer Prinzipien zwar zugenommen, aber es kann dennoch nicht von Meritokratie – im Sinne der Absenz anderer Faktoren – gesprochen werden: So zeigt Solga (2006), dass in der DDR die soziale Schicht des Elternhauses neben der Geburtskohorte, dem Geschlecht und der Parteizugehörigkeit von besonderer Bedeutung für den Zugang in bestimmte Klassenlagen war, wobei die Bedeutung dieser nicht den meritokratischen Prinzipien entsprechenden Faktoren mit der Privilegiertheit der erreichten Klassenlage zunahm, d.h. der Zugang zur höheren Dienstklasse war besonders von leistungsfremden Faktoren abhängig. Auch die neue Statuszuweisungsstruktur in Ostdeutschland nach 1989 führte zu einer Vererbung von Klassenlagen, denn die „Gewinner“ der DDR-Gesellschaft konnten auf dem Arbeitsmarkt im Hinblick auf das meritokratische Prinzip gefragte Bildungszertifikate und professionelle Fähigkeiten vorweisen, die sie in der DDR erwerben konnten. Ungleichheit und Meritokratie im Bewusstsein der Bevölkerung Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf den (objektiven) Zustand der Meritokratie. Auf der anderen Seite ist jedoch auch die Wahrnehmung und Bewertung des meritokratischen Prinzips in der Bevölkerung von Interesse, denn Meritokratie als Legitimationsprinzip fördert die Akzeptanz der sozialen Ordnung und damit die Stabilität der Gesellschaft (Hadjar 2008). Die Meritokratie gehört aus diesem Blickwinkel zu den ordnungsbezogenen Gerechtigkeitsprinzipien im Sinne von Liebig und Wegener (1999). Eine abstrahierte Abgrenzung des meritokratischen Prinzips findet sich zunächst in der Dichotomie von Linton (1964) im Hinblick auf die Grundlagen von Statuszuweisung und Ungleichheit. Konträre Verteilungsprinzipien sind hier das Prinzip der sozialen Herkunft („ascribed status“) – d.h., dass der spätere Status durch zugeschriebene bzw. sozial vererbte Merkmale bestimmt wird – und das meritokratische Leistungsprinzip, das in der Dimension des durch Leistung erworbenen „achieved status“ zum Ausdruck kommt. Das meritokratische Prinzip findet sich ebenso in der Taxonomie der Gerechtigkeitsprinzipien von Wegener und Liebig (1993; Liebig und Wegener 1995) in der Dimension des Individualismus. Diese bezieht sich auf eine Weltsicht, in der starke Ungleichheiten als legitim erscheinen, wenn die Güterverteilung im Wesentlichen durch den Markt – u.a. in Orientierung am meritokratischen Leistungsprinzip – koordiniert wird. Hingegen wird aus dem Blickwinkel des Egalitarismus die Gleichverteilung der Güter angestrebt, wobei dem Staat eine wesentliche Rolle bei der (Um-)Verteilung zugeschrieben wird. Die Position des Askriptivismus legitimiert in starkem Maße soziale Ungleichheiten; die Zugehörigkeit zu einer über zugeschriebene soziale Merkmale (etwa nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Migrantenstatus) bestimmte Gruppe gilt als legitimer und gerechter Mechanismus der Güterverteilung. Fatalismus beschreibt den Verzicht auf Gerechtigkeitsforderungen. Die Frage nach der Gerechtigkeit wird als
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nicht lösbar angesehen; die Güterverteilung wird nicht der sozialen Welt, sondern der nicht veränderbaren „natürlichen“ oder metaphysischen Welt zugeschrieben. Für marktorientierte Industriegesellschaften wie Deutschland ist zunächst eine ausgeprägte Akzeptanz des meritokratischen Prinzips zu vermuten. Ergebnisse einer klassischen empirischen Studie zur sozialen Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland (Mayer 1975: 109) weisen auf eine überwiegende Wahrnehmung und Akzeptanz des meritokratischen Leistungsprinzips in Westdeutschland hin. Hinsichtlich der Wahrnehmung der Ordnungsprinzipien sozialer Ungleichheit zeigt sich eine starke Wahrnehmung des meritokratischen Prinzips: Persönliche Leistung (87 Prozent), Ausbildung (77 Prozent) und Intelligenz (70 Prozent) wurden danach als wesentliche Erfolgsfaktoren angesehen, während askriptive Merkmale wie Vermögen (38 Prozent), Herkunftsfamilie (21 Prozent) oder Parteizugehörigkeit (8 Prozent) nur von einer Minderheit als Wege zum Erfolg wahrgenommen wurden. Hinsichtlich der Bewertung dieser verschiedenen Verteilungsprinzipien bzw. Erfolgsfaktoren zeigt sich ein sehr positives Bild für die auch besonders häufig wahrgenommenen Dimensionen. Meritokratische Kriterien wie persönliche Leistung (3 Prozent negative Bewertung), Intelligenz (5 Prozent negative Bewertung) und Ausbildung (6 Prozent negative Bewertung) werden grundsätzlich positiver beurteilt als askriptive Merkmale. Das meritokratische Leistungsprinzip wird in den unteren Schichten weniger akzeptiert als in den oberen Schichten. Interessant erscheint der Zusammenhang zwischen Wahrnehmungen und Bewertungen sozialer Ungleichheit. Je nach Schichtzugehörigkeit ist der Korrelationskoeffizient für diesen Zusammenhang – Spearman’s rho – zwischen r = .80 (Untere Unterschicht) und r = .92 (Obere Mittelschicht) angesiedelt. Eine Erklärung für diese Nähe von Wahrnehmung und Bewertung des Prinzips sozialer Ungleichheit liefert die Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger (1957): Offenbar können die Individuen Konsonanz produzieren, indem sie die Ordnung sozialer Ungleichheit, die sie als Realität wahrnehmen, positiv bewerten. Oder sie nehmen ihre Umwelt – d.h. die Ausdrücke und Mechanismen sozialer Ungleichheit – vor dem Hintergrund ihrer Werthaltungen gegenüber Ungleichheit „gefiltert“ wahr. Letztere Argumentation entspricht ebenso den theoretischen Überlegungen zur kognitiven Rahmung von Situationen bzw. zur Definition der sozialen Situation von Esser (1996), in deren Kern die Annahme der Perzeption einer sozialen Realität vor dem Hintergrund erworbener kognitiver Schemata – wie etwa Einstellungen und Werthaltungen – steht. Insbesondere der meritokratischen Leistungsideologie kommt eine wesentliche Funktion bei der Herstellung der Wahrnehmung von Verteilungsgerechtigkeit zu, denn die scheinbare Offenheit der Ordnung sozialer Ungleichheit reduziert Ungerechtigkeitswahrnehmungen bei den sozial Benachteiligten. Gesellschaftsvergleiche aus den 1980er und 1990er Jahren liefern ebenso Hinweise, welche Verteilungsprinzipien wahrgenommen werden. Im Rahmen eines Vergleichs der USA, Ungarns und Westdeutschlands auf Basis des International Social Survey Projects (ISSP) von 1987 (Braun und Uher 1990) zeigt sich, dass in Westdeutschland eine gute Ausbildung als wichtigster Erfolgsfaktor wahrgenommen wird. In den USA sind die Menschen ebenso von der Statusallokationsfunktion der Bildung überzeugt, wobei als Erfolgsfaktoren hier auch Ehrgeiz und harte Arbeit gelten, denen eine gleiche Bedeutung beigemessen wird. In Ungarn werden eher Fähigkeiten und Ehrgeiz als Wege zum Erfolg angesehen, während der Bildung eine geringere Rolle zugewiesen wird. Generell sind die Zustimmungsquoten im Hinblick auf meritokratische Aussagen in den USA, Westdeutschland und Ungarn im Vergleich zu anderen Legitimationsargumentationen hoch. Analysen mit
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ISSP-Daten für 1992 weisen für die Länderauswahl Schweden, Großbritannien sowie für West- und Ostdeutschland darauf hin, dass dem Leistungsmotiv als Gerechtigkeitsprinzip – d.h., dass ungleiche Verteilung die Leistungsmotivation erhöht – im Vergleich zu anderen Motiven (Wachstum der Gesamtgesellschaft, Herrschaftsmotiv als kritische Haltung gegen Ungleichheit) die höchste Zustimmung (um 70 Prozent) zuteil wird (Mau 1997: 54). Im Hinblick auf die Wahrnehmung der Gerechtigkeitsprinzipien zeigt sich ein ähnliches Bild: Leistungskriterien werden im Vergleich zu askriptiven Merkmalen oder sozialem und kulturellem Kapital (Beziehungen, Bildung) als besonders bedeutungsvoll in allen genannten Ländern angesehen (Mau 1997: 57). Die Ergebnisse zeigen, dass überwiegend meritokratische, aber auch strukturelle Ursachen im Bewusstsein der Bevölkerung eine Rolle spielen. Aktuelle Längsschnittanalysen von Hadjar (2008) anhand des kumulierten Datensatzes von ALLBUS weisen schließlich ebenso darauf hin, dass Bildung und Ausbildung als meritokratische Prinzipien als wesentliche Mechanismen des Statuserwerbs bzw. als „Wege zum Erfolg“ wahrgenommen werden, während die soziale Herkunft eher als sekundärer Faktor der Verteilung von Positionen angesehen wird. Diese Wahrnehmung erweist sich über die Kohorten hinweg als relativ stabil. Im Hinblick auf die Bewertung des meritokratischen Prinzips erweisen sich die jüngeren, höher gebildeten Kohorten als kritischer gegenüber der Meritokratie als ältere Kohorten – während offenbar in der Bevölkerung relative Einigkeit herrscht in der Wahrnehmung, variiert die Zustimmung zum meritokratischen Prinzip somit zwischen Bevölkerungsgruppen.
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Kritik an Meritokratie als gesellschaftlichem Leitbild
Meritokratie als Herrschaftsform und meritokratische Prinzipien (einschließlich ihrer Bestandteile wie etwa die Leistungsideologie) waren schon immer und sind immer noch vehementer Kritik ausgesetzt. Die Kritik setzt an verschiedenen Punkten an. Hervorgehoben werden etwa immanente logische Inkonsistenzen der Meritokratie als gesellschaftliche Ideologie und ihrer Prinzipien sowie unerwünschte Folgen von meritokratischer Praxis oder ideologische Rechtfertigungen von gesellschaftlichen Zuständen, die den Ansprüchen der Meritokratie selbst widersprechen. Ebenso wird auf Probleme verwiesen, die sich bei der Umsetzung von Meritokratie in die gesellschaftliche Realität ergeben. Und schließlich werden in der empirischen Sozial- und Bildungsforschung allfällige Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis diskutiert. Insgesamt geht es um die Unterscheidung zwischen der offiziellen Ideologie eines scheinbar fairen Leistungswettbewerbs (Meritokratie) und der Realität sozialer Reproduktion von Ungleichheiten (Bourdieu und Passeron 1971). Logische Inkonsistenzen und Ideologie Aus einer konflikttheoretischen Sicht entlarvt Solga (2005) die Meritokratie als gesellschaftliche Ideologie, die bestehende Ungleichheiten rechtfertigen und den monopolisierten Zugang zu Privilegien über Bildungszertifikate legitimieren soll. Die meritokratische Formel des Leistungsprinzips ist die normative Selbstdefinition moderner Gesellschaften für die Begründung und Legitimation sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in der gesellschaftlichen Stratifikation nach Klasse und Schicht (Solga 2005: 23). Der Legitimationsanspruch, den Bildung, Bildungslaufbahnen und Bildungszer-
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tifikate trotz der faktischen Bildungsungleichheiten genießen, ergibt sich nach Solga (2005) zum einen aus dem Zusammenhang zwischen Bildungszertifikat und Arbeitsmarkterfolg und zum anderen aus der Rolle von Bildung als „Statuszuweiser“ und Sinngeber, welche die alltägliche Sinnkonstruktion und individuelle Handlungsmotivation konstituiert. Für die Rechtfertigung sozialer Ungleichheit sind fünf Charakteristika der meritokratischen Leitfigur essentiell: 1.) Ein erstes Charakteristikum ist die natürliche Fundierung sozialer Ungleichheit. Die Vorstellung, dass Bildungserfolg und Status auf biologischen Intelligenz- und Begabungsunterschieden beruhen, führt zu einer „natürlichen Fundierung“ sozialer Ungleichheit – was für den „common sense“ eine Immunisierung gegen Kritik bedeutet. Aus biologistischer Sicht dürfte Bildung gar nicht als „erworbenes Merkmal“ gelten, wenn es doch gänzlich durch genetische Voraussetzungen determiniert würde. Es stellt sich dann die Frage, warum dann Bildung ein erworbenes Gut ist, das ja nur durch Talent und Anstrengung erworben werden kann. Dann aber wäre – so Solga (2005) – Anstrengung das Platzierungskriterium und nicht die natürliche Begabung. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann es solche natürlichen Kategorisierungen von Bildungszertifikaten in Überstimmung mit der Natur nicht geben, da auch Bildungskategorien und Bildungspatente sozial konstruiert sind. Jedoch gelingt zum einen bei Ausblendung der institutionellen ungleichheitsproduzierenden und -stabilisierenden Bildungshürden die Suggestion, dass „Sieger“ des Bildungswettbewerbs verdientermaßen gewonnen haben, während die „Verlierer“ zwar die gleichen Chancen hatten, diese aber nicht nutzten. Zum anderen rechtfertigt die Betonung von Leistung und Intelligenz für den Bildungserwerb den Mythos, dass diese Begabungen akkurat gemessen werden können. 2.) Ein zweites Charakteristikum ist die Darstellung von Ungleichheit als gesellschaftliches Funktionserfordernis. Sie wird – wie bei Davis und Moore (1945) gesehen – dadurch legitimiert, dass Ergebnisungleichheiten bzw. unterschiedliche Belohnungen Leistung motivieren würden. Die Hierarchisierung von Berufspositionen dient als selektiver Anreiz sowie als Legitimierung von hierarchischen Bildungsstufen und individuellen Bildungsleistungen als Zuteilungsmodus zu diesen Positionen. Wenn eine extrem frühe Aufteilung der Schulkinder in die verschiedenen Laufbahnen der dreigeteilten Sekundarstufe vorgenommen wird, die bekanntermaßen weder einer bestmöglichen Förderung der Talente noch der Erhöhung von Durchlässigkeit und sozialer Chancengleichheit dient, aber mit dem ihr zugrunde liegenden Begabungsparadigma – dass dieser Selektionsmechanismus den individuellen Interessen und Begabungen (scheinbar) entsprechen würde – gerechtfertigt wird, dann wird gleichermaßen formale Chancengleichheit institutionalisiert und institutionalisierte Chancenungerechtigkeit legitimiert. 3.) Das dritte Charakteristikum ist die Notwendigkeit organisierter Bildungsprozesse. Hinter dem Element der „demonstrated competence“ (Goldthorpe 1996: 255) verbirgt sich die Notwendigkeit organisierter Bildungsprozesse und entsprechender Zertifikate als Qualifikations- und Kompetenzsignale. Kompetenznachweise in institutionalisierten und zertifizierten Bildungsprozessen gehen einher mit der Rationalisierung und Legitimierung durch intersubjektiv überprüfbare Kodifizierung in Form von Patenten als Ergebnis bürokratischer Prozeduren: „Insofern geht es nicht um Bildung und Kompetenz per se, sondern um Kompetenznachweise, erworben in institutionalisierten und zugleich zertifizierten Bildungsprozessen“ (Solga 2005: 27). Die im Zuge der Bildungsexpansion gestiegene Bildungsteilhabe nährt den allgemeinen Glauben an die Gleichheit von Bildungschancen, und die rationale Selektion nach Leistung nährt wiederum den Glauben an die Legitimation von scheinbar
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gerechtfertigten Ergebnisungleichheiten (Friedeburg 1992). Die Legitimierung der Leistungserbringung in formalisierten, kodifizierenden und kategorisierenden Bildungsprozessen sichert die Legitimität und Effizienz von Allokation nach Bildung als Proxy für individuelle Leistung, zumal die Legitimation von Ergebnisungleichheit durch den individuellen Blick auf das Bildungsergebnis statt auf die tatsächlichen Prozesse des Bildungserwerbs im Sinne von Chancengerechtigkeit bewerkstelligt wird. Denn erst der Prozess des individuellen Bildungserwerbs liefert Hinweise dafür, ob die erworbenen Bildungszertifikate auf individuellen Leistungen beruhen. Dadurch bleibt die institutionelle Definition von Gelegenheitsstrukturen, die ungerechtfertigte Ungleichheit generieren, verdeckt. 4.) Das vierte Charakteristikum ist die individuelle statt kategoriale Ungleichheitsdefinition. Bestehende Ungleichheiten werden durch universalistische Leistungskriterien statt durch partikularistische Kriterien der Statuszuweisung gerechtfertigt (Müller und Mayer 1976: 15). Die kategorial definierte Ungleichheit nach sozialer Herkunft (Schicht, Klasse oder andere Statusgruppen) wird durch individuell definierte Ungleichheit nach Leistung abgelöst (Bell 1975), d.h. es erfolgen eine Individualisierung von Ungleichheit im Sinne eines individuellen Optimierungsproblems und eine Redefinition der strukturellen Risiken in individuelle Verantwortung und Entscheidungen: „Mit der ihr immanenten Individualisierung und individualisierten Ursachenzuschreibung verdeckt die meritokratische Leitfigur gleichwohl das Potenzial askriptiver Faktoren, sich als ‚erworbene Leistung‘ auszugeben“ (Solga 2005: 28). Denn wenn von Bildungstiteln statt von Leistung gesprochen würde, würden wiederum Merkmale der sozialen Herkunft ins Blickfeld treten. Somit gelingt abermals die individualisierte Ursachenzuschreibung nach dem Motto: „Er hatte die Chance, hat sie aber nicht genutzt!“. Strukturelle Ursachen ungleicher Bildungschancen und sozialer Ungleichheiten werden zugunsten individualisierter Bildungserfolge über Reduktion der Bildungsergebnisse auf Begabungsunterschiede und auf universalistischen Leistungskriterien basierende Bildungszertifikate verdrängt: „Würde hingegen in der meritokratischen Allokationsformel „richtigerweise“ statt von individueller Leistung von Bildung und insbesondere von Bildungstiteln gesprochen werden, so bliebe der Bezug zu kategorialen Ungleichheiten und damit institutionellen Ursachen von Bildungsungleichheiten erhalten“ (Solga 2008: 29). Mit der Individualisierung von Bildungserfolg und vor allem Misserfolg wird die institutionelle Definition von Gelegenheitsstrukturen des Bildungserwerbs verdeckt (Solga 2005: 32). 5.) Das fünfte Charakteristikum ist die Entpersonifizierung von Leistung, die wiederum der Legitimation von Ungleichheiten dient. Leistungsbewertung wird innerhalb des meritokratischen Legitimationsprinzips quasi als natürlich und objektiv definiert. Dadurch, dass Kompetenzen als natürliche Leistungsbewertung gerechtfertigt werden, wird die institutionelle Definitionsmacht von Leistung und Verdiensten (Meriten) durch mächtige Status- und Interessengruppen ausgeblendet. Probleme der Wahrnehmung und Bewertung von Leistung – etwa durch Lehrpersonen – auf Basis bestimmter institutionenspezifischer Vorgaben werden verdeckt. Sozial ungleiche Startchancen beim Bildungswettbewerb sowie die Herkunftsabhängigkeit von bewerteter Leistung und der Bildungsentscheidungen werden ignoriert, aber die Segregation im stratifizierten Bildungssystem gerechtfertigt: „Die weit verbreitete Auswahl nach Leistung trägt damit zugleich zum Erhalt und zur Stärkung des meritokratischen Glaubens bei – und zwar unabhängig davon, inwieweit eine Entkopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg besteht. Bildungsbasierte Ungleichheiten werden
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von daher nicht nur von den ‚Gewinnern des meritokratischen Wettbewerbs‘ akzeptiert, sondern sind auch für dessen ‚Verlierer‘ handlungsrelevant“ (Solga 2005: 31). Insgesamt zeigt sich Bildung in diesen fünf Charakterzügen der Meritokratie als Chance, die jedem gleichermaßenoffen steht. „Dieser Konsensus wird auch von den ‚Untauglichen‘ – in der Begriffswelt der Bildungsgesellschaft: von Geringqualifizierten und Zertifikatlosen – geteilt, und paradoxerweise auch deshalb, weil Leistung bzw. Bildungszertifikate in scheinbar so konsequenter Weise die Statuszuweisung bestimmen“ (Solga 2005: 31). Allerdings wird dabei übersehen, dass die funktionalistische Notwendigkeit von Ungleichheit eine Einschränkung des Marktprinzips und des Wettbewerbs bedeutet. Mit der Akzeptanz eines funktionalistischen Bildungsverständnisses und von Ungleichheit wird „der Schein der Geltung von Leistung aufrechterhalten (…), insoweit die vorangegangene ‚Zuschreibung der Fähigkeit zur Erbringung von Leistungen‘ außer acht gelassen wird“ (Mayer 1975: 116), d.h. primäre Herkunftseffekte werden ignoriert: „Intelligenz und Begabung behaupten sich so hinsichtlich vorhandener sozialer Ungleichheiten als ein legitimierter Mythos – ein Mythos, mit dem zugleich versprochen wird, dass individuelle Begabungen akkurat gemessen werden können“ (Solga 2005: 32). In gegenwärtigen bildungspolitischen Debatten lässt sich das an der hartnäckigen Verschiebung der Schulstrukturfrage zugunsten der Debatte über Standards und Leistungstests ablesen (Solga 2005: 33; Becker 2007; Becker und Schubert 2006). Unerwünschte Konsequenzen der Meritokratie Young (1958) selbst, der keineswegs ein Befürworter der Meritokratie ist, weist eindrücklich auf gesellschaftliche Probleme hin, die mit der Meritokratie verbunden sind: Meritokratie gilt in seinen Augen als ungeeignetes Modell für eine stabile und gerechte Gesellschaftsform. Zum einen ist ein objektives und gerechtes Maß von „Leistung“ oder „Verdienst“ zur Allokation kaum realisierbar. Vielmehr sind – wie dies zum Beispiel aus der DDR-Geschichte bekannt ist (Solga 1995) – Prozesse sozialer Schließung (Parkin 1983) zu erwarten, weil die herrschende Elite dieses Maß derart gestaltet, dass sie sich selbst und ihre Nachkommen legitimieren (Weber 1980). Die meritokratische Gesellschaft entwickelt sich zwangsläufig zu einer Oligarchie, deren herrschende Elite letztendlich wegen der sozialen Schließung nach ‚IQ plus effort‘ nur noch gewaltsam abgesetzt werden kann. Die soziale Schließung der meritokratischen Elite führt dann zwangsläufig zu ungerechtfertigten Ungleichheiten, die den meritokratischen Prinzipien widersprechen.8 Das Kriterium „Gleiche Chancen für alle“, dem zufolge sich die gesellschaftliche Allokation an den Meriten und nicht an der Herkunft orientiert, wird ebenso verletzt wie das Kriterium, dass Leistung das alleinige Allokationskriterium zu sein habe. Betrachten wir die empirischen Befunde der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, dann bleibt festzuhalten, dass Bildung, Talent und Anstrengung, die dann durch entsprechende Zertifikate institutionalisiert werden, nicht zwangsläufig die Produktivität des Individuums anzeigt, die notwendig wäre, um eine verantwortungsvolle Position auszufüllen (Becker und Hecken 2005). 8 Dieses Problem der Meritokratie wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert: „Die ‚Demokratie‘ steht auch der Fachprüfung, wie allen Erscheinungen der von ihr selbst geförderten Bürokratisierung, in zwiespältiger Stellungnahme gegenüber: einerseits bedeutet sie oder scheint sie doch zu bedeuten: ‚Auslese‘ der Qualifizierten aus allen sozialen Schichten an Stelle der Honoratiorenherrschaft. Andererseits fürchtet sie von der Prüfung und dem Bildungspatent eine privilegierte ‚Kaste‘ und kämpft daher dagegen“ (Weber 1980: 576).
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Zum anderen stellt sich die Frage, wenn die intellektuelle bzw. akademische Leistung Voraussetzung für Einkommen, Status und Macht ist, was mit denjenigen Gesellschaftsmitgliedern geschieht, die nicht diese Voraussetzung erfüllen. Sie müssen nach Young (1958) als „Haushaltshilfekorps“ ungelernter Arbeiter einfache Tätigkeiten verrichten, während diejenigen mit etwas Talent für qualifizierte handwerkliche und Facharbeitertätigkeiten als Facharbeiter eine Art „Pionierkorps“ bilden. Des Weiteren laufen in einer Meritokratie die nicht mehr leistungsfähigen Individuen, weil sie älter geworden sind, ebenso wie die „Unterklasse“ Gefahr, nicht mehr in die Gesellschaft integriert, sondern ausgeschlossen zu werden. Diese Polarisierung von Qualifikationen und beruflicher Tätigkeit trägt nach Young (1958) zur Desintegration der meritokratischen Gesellschaft bei. Das Problem der Messung von Meriten In der Kritik an „Meritokratie“ oder meritokratischen Prinzipien tauchen immer wieder folgende Fragen auf, die übrigens nicht an Aktualität eingebüsst haben und in Zusammenhang mit den gegenwärtigen Diskussionen über Bildungsstandards, Qualitätssicherung und Steuerung des Bildungssystems stehen (Becker 2007): Wer setzt denn eigentlich fest, welche Qualifikationen für die Gesellschaft und ihre Ordnungen benötigt werden? Wer definiert Bildungsstandards bestimmter Art und ihre Notwendigkeit? Wer kontrolliert, dass bestimmte Zertifikate erworben werden und wer bewertet die Zertifikate? Wer stellt fest, wem bestimmte Meriten gebühren? Eine Möglichkeit, festzustellen, wer die „verdienten Personen“ sind, so beispielsweise Max Weber (1980) als ein Vertreter der konflikttheoretischen Perspektive in der modernen Soziologie, ist ein institutionalisiertes Prüfungssystem, das im Endeffekt zur sozialen Schließung der privilegierten Elite führt, für die Bildung das Mittel ist, mit dem sie ihre Herrschaftsansprüche legitimieren: „Was die Ahnenprobe als Voraussetzung der Ebenbürtigkeit, Stiftsfähigkeit und, wo immer der Adel sozial mächtig blieb, auch der staatlichen Amtsqualifikation in der Vergangenheit war, wird heute das Bildungspatent. Die Ausgestaltung der Universitäts-, technischen und Handelshochschuldiplome, der Ruf nach Schaffung von Bildungspatenten auf allen Gebieten überhaupt, dienen der Bildung einer privilegierten Schicht in Büro und Kontor. (…) Wenn wir auf allen Gebieten das Verlangen nach der Einführung von geregelten Bildungsgängen und Fachprüfungen laut werden hören, so ist selbstverständlich nicht ein plötzlich erwachender ‚Bildungsdrang‘, sondern das Streben nach Beschränkung des Angebotes für die Stellungen und deren Monopolisierung zugunsten der Besitzer von Bildungspatenten der Grund. Für diese Monopolisierung ist heute die ‚Prüfung‘ das universelle Mittel, deshalb ihr unaufhaltsames Vordringen. Und da der zum Erwerb des Bildungspatents erforderliche Bildungsgang erhebliche Kosten und Karenzzeiten verursacht, so bedeutet jenes Streben zugleich die Zurückdrängung der Begabung (des ‚Charisma‘) zugunsten des Besitzes, – denn die ‚geistigen‘ Kosten der Bildungspatente sind stets geringe und nehmen mit der Massenhaftigkeit nicht zu, sondern ab“ (Weber 1980: 577). Prüfungen, die im damaligen wie heutigen Schul- und Ausbildungssystem zu einem integralen Bestandteil geworden sind, haben sich zu einem umfassenden differenzierten System entwickelt, das über die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen hinausgreift und über Prüfungen, Bewertungen und Bildungszertifikate mit anderen gesellschaftlichen Bereichen verzahnt ist. Hierbei stehen vor allem der Arbeitsmarkt, insbesondere der Staatsdienst und die betriebsinternen Arbeitsmärkte im Vordergrund, wenn es um die Zuordnung von Qualifikationen zu Arbeitsplätzen, denen wiederum Einkommen zugeordnet werden, geht. Prüfungen und Bildungspatente regulieren
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über die Signalisierung von Qualifikationen und erworbenen Anrechten den Zugang zu beruflichen und anderen sozialen Positionen. Über die Bildung und über das Bildungssystem wird nach Weber (1980) wirtschaftliche und politische Macht geregelt und verteilt. Auf diese Weise wird das etablierte Herrschaftssystem stabilisiert und reproduziert. Interessen an Bildung sind gleichzeitig Interessen an Sicherung von Herrschaft und Pfründen. Bildung ist deswegen auch an institutionelle Regelungen und Märkte für die Verteilung von Prestige und Einkommen gekoppelt. An Weber (1980) anknüpfend versucht Randall Collins (1971, 1979) – ein weiterer Vertreter der konflikttheoretischen Perspektive – die euphemistische und bestehende Ungleichheiten legitimierende funktionalistische Theorie zu entlarven, indem er aufzeigt, dass Begabung und Leistung eben nicht zwangsläufig mit Status, Einkommen und Prestige einhergehen. Statt meritokratischer Prinzipien dominieren kredentialistische Prinzipien die Selektion und Allokation von Bildung („Credentialism“). Erworbene Bildungspatente (‚credentials‘) regeln demnach die Zugangsmöglichkeiten zu den höheren und besser bezahlten Berufspositionen und prägen Karriere- und Mobilitätschancen in bedeutsamer Weise. Arbeitsmärkte gestalten sich dann als Systeme geschlossener Positionen (Sørensen 1983), und Bildungspatente sind die notwendigen Eingangsvoraussetzungen zu diesen Positionen (Thurow 1975). Zu Recht wird die meritokratische Ideologie kritisiert, dass Begabung und Leistung zwangsläufig immer auch Erfolg und Karriere mit sich bringen sollen. In modernen Gesellschaften mit hochgradig institutionalisierten Arbeitsmärkten ist Bildung eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Status, Einkommen und Prestige (Becker 1993; Mayer und Müller 1986). Im Hinblick auf den differenzierten Blick von Young (1958) oder Goldthorpe (1996) ergibt sich schließlich die Frage, inwieweit Meritokratie in der Realität umsetzbar ist und inwieweit das theoretische Konzept überhaupt gemessen werden kann: „In other words, not only is ‚meritocracy‘ a sociological concept of doubtful value; it also appears unlikely to fulfil the ideological promise that it has been widely thought to hold“ (Goldthorpe 1996: 260). Die klassische Definition von Meritokratie als „IQ plus Effort“ würde bedingen, dass die Begabung im Sinne von Intelligenz und Fähigkeiten valide abgebildet werden könnte. Eine Annäherung an eine Operationalisierung von Begabung wäre über Intelligenz- und Leistungstests möglich. Der Nachweis von Meritokratie bestände dann darin, zu zeigen, dass die Vergabe von Positionen und Belohnungen (z.B. Einkommen) ausschließlich von der Intelligenz und Fähigkeiten abhängig ist – und nicht von askriptiven Faktoren wie der sozialen Herkunft oder dem Geschlecht. In der Forschungspraxis wird in Ermangelung von Daten zu Intelligenz und Begabung in der Regel das Bildungsniveau als Proxy für den Verdienst („merit“) herangezogen.9 „In fact, the practice that has been almost universally followed is 9
Studien unter Heranziehung von Operationalisierungsversuchen für Begabung („cognitive ability“) zeigen, dass Intelligenz sehr wohl einen Einfluss auf den Bildungserwerb hat (etwa Sewell und Shah 1967); auch hat Begabung – vor allen Dingen im Hinblick auf Operationalisierungen von job skills – in verschiedenen Untersuchungen einen Einfluss auf Einkommen und Status (vgl. Hauser 2002; für Großbritannien Saunders 1997). Eine Metastudie von Faktoren des Statuserwerbs von Kingston (2006) lässt den Schluss zu, dass die Vorstellung von der perfekten Meritokratie nur in Youngs (1958) Universum existiere und durch empirische Ergebnisse nicht gestützt werden kann, andererseits aber die Ergebnisse der Studie das tatsächliche Ausmaß der Meritokratie infolge problematischer Operationalisierungen unterschätzen würden: „meritocratic factors have so much more impact on carriers than ascriptive factors. As a distributional principle, merit is relatively significant; to the extent that the allocation process is rule-governed, meritocratic rules predominate and their impact is consequential“ (Kingston 2006: 126). Es ist davon auszugehen, dass IQ-Tests bzw. Tests professioneller Fähigkeiten wichtiger für den Bildungs- und
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simply to regard merit as being indexed by educational level actually attained – with this being then measured in terms either of time spent in education or of level of qualification reached“ (Goldthorpe 1996: 262). Hinter dieser Vorgehensweise steht die diskussionswürdige Annahme, dass Bildungsinstitutionen in der Lage sind, Begabung zu entdecken. Die Geltung des meritokratischen Prinzips wird dann daran festgemacht, ob einerseits ein starker Zusammenhang zwischen Bildung und Status besteht, und andererseits keine Verbindung zwischen sozialer Herkunft und Status existiert. Auch dürfte in einer meritokratischen Gesellschaft das Bildungsniveau nicht durch die soziale Herkunft bestimmt sein. Ein anderer Grund, warum Bildung der direkten Messung von Intelligenz und Begabung vorgezogen wird und viele Studien zum Statuserwerb (Shavit und Blossfeld 1993; Müller und Shavit 1998) entsprechende Faktoren weitgehend ignorieren, ist die Messproblematik: „Intelligence is a bankrupt concept. Whatever it might mean – and nobody really knows even how to define it – intelligence is so ephemeral that no one can measure it accurately. (…) All that tests really accomplish is to label youngsters, stigmatizing the ones who do not do well and creating a self-fulfilling prophecy that injures the socioeconomically disadvantaged in general and blacks in particular“ (Herrnstein und Murray 1994: 12-13). Daher sieht Hauser (2002) die Zukunftsvision von Young (1958) nicht als Kritik an der Meritokratie, sondern als kritische Bestandsaufnahme der Testpraxis und der „testocracy“ an.
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Zusammenfassung
Die Ausführungen zur Meritokratie haben gezeigt, dass – wie von Goldthorpe (1996: 280) in seinem Resümee formuliert – weder die Hoffnungen, etwa meritokratische Positionszuweisung zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums – noch die Ängste – Desingration von Individuen mit geringerer Leistungsfähigkeit – realisiert worden zu sein scheinen. Die Statuszuweisung verläuft über eine Verbindung askriptiver, kredentialistischer und meritokratischer Prinzipien. Während die Bildungschancen weiterhin stark von der sozialen Herkunft abhängen, haben Bildungszertifikate einen Einfluss auf die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt und den sozialen Status. Diese Parallelität meritokratischer und askriptiver Prinzipien zeigt sich auch in der Wahrnehmung der Verteilungsprinzipien durch die Bevölkerung; auch wenn Bildung als wesentlicher Weg zum Erfolg angesehen wird, besteht auch das Bewusstsein, dass Elternhaus und Familie ebenso eine Rolle spielen (vgl. Hadjar 2008). Ebenso wird im Sinne kredentialistischer Prinzipien die Bedeutung von erworbener Bildung für den Zugang zum Arbeitsmarkt allgemein geteilt (Mayer 2000). Die Vision der Meritokratie ist aber dennoch ein „necessary myth“ (Schaar 1967; Goldthorpe 1996), weil die Akzeptanz des meritokratischen Prinzips in der Gesellschaft zum einen die Heranziehung askriptiver Prinzipien bei der Vergabe von Positionen und Belohnungen verdrängt hat und zum anderen das Prinzip dennoch motivierend wirkt, durch Leistung eine privilegierte Position in der Gesellschaft zu erreichen. Die meritokratische Formel ist lediglich eine normative Selbstdefinition moderner Gesellschaften für die Begründung und Legitimation sozialer Ungleichheiten (Solga 2005: 23).
Statuserwerb geworden sind, aber weil die Herkunftsunterschiede bestehen bleiben, ist dieser Trend nicht gleichzusetzen mit der Durchsetzung einer Meritokratie, in der nur Leistung zählt.
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Rolf Becker und Andreas Hadjar
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Sozialisation – Erziehung – Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung Matthias Grundmann
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Einführung
Die Begriffstriade „Sozialisation – Bildung – Erziehung“ umschreibt ein breites, ineinander verwobenes sozialwissenschaftliches Forschungsfeld, das wissenschaftshistorisch vor allem in Soziologie, Psychologie und Pädagogik verankert ist und ideengeschichtliche Wurzeln in der Philosophie, insbesondere der Philosophie der Aufklärung hat. Die Verwobenheit der Begriffe äußert sich vor allem darin, dass mit ihnen Prozesse der Erfahrungsgenese, des Lernens und der „Kultivierung von Individuen“ umschrieben werden. Es geht also um Vorstellungen darüber, welche Fähigkeiten und Eigenschaften Menschen für ein geordnetes und sinnvolles Zusammenleben erwerben sollten. Zugleich verweisen die Begriffe auf einen anthropologischen Sachverhalt: auf die Vermittlung und Tradierung von Handlungswissen und kulturellen Praktiken in und durch Generationenbeziehungen. Zusammengenommen werden mit der Begriffstriade „Sozialisation – Bildung – Erziehung“ also Prozesse der sozialen Integration von Individuen in die Gesellschaft umschrieben sowie die sich daraus ergebende Aneignung und Weitergabe von kulturellem Wissen und persönlichen Handlungsbefähigungen, die für die gesellschaftliche Teilhabe funktional und für die Entwicklung der Persönlichkeit förderlich sind. In diesem Kapitel geht es vor allem darum, die mit den Begriffen umschriebenen Sachverhalte herauszuarbeiten, die für bildungssoziologische Forschungen relevant sind. Zunächst zielt die vorliegende kritische Begriffsbestimmung darauf, die begrifflichen Unschärfen herauszuarbeiten, die die bildungssoziologische Analyse erschweren. Zu diesem Zweck werden die mit den Begriffen umschriebenen Sachverhalte soweit voneinander abgegrenzt, dass sie für bildungssoziologische Analysen fruchtbar gemacht, mithin operationalisiert werden können. Anschließend werden Analysemodelle vorgestellt, mit denen in der Bildungssoziologie der Zusammenhang von Sozialisation – Erziehung – Bildung modelliert wird. Dabei zeigt sich, dass die Herleitung dieser Analysemodelle und die kritische Interpretation der mit den Modellen gewonnenen empirischen Befunde maßgeblich von einer möglichst präzisen Gegenstandsbestimmung des Forschungsfeldes abhängen. Im Zuge der Begriffsanalyse wird also herausgearbeitet, dass mit den Begriffen durchaus Unterschiedliches erfasst wird: Mit dem Begriff der Sozialisation wird der ganz allgemeine, anthropologisch fundierte Sachverhalt der sozialen Gestaltung von verlässlichen Sozialbeziehungen und der intergenerationalen Tradierung sozialen Handlungswissen umschrieben; mit dem Begriff der Bildung die Kultivierung von Handlungswissen einzelner Individuen und mit dem der Erziehung die Etablierung sozial erwünschter Eigenschaften von Personen durch Bezugspersonen. So gesehen ist mit der Begriffstriade die spezifische Kon-
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Matthias Grundmann
kretisierung eines allgemeinen, d.h. anthropologisch begründeten Prozesses der systematischen Einbindung von Individuen in die Gesellschaft verbunden, der deren mehr oder weniger „reibungsarme“ Reproduktion ermöglicht. Mit Erziehung und Bildung wird also der allgemeine Prozess der Sozialisation inhaltlich zugespitzt. Sie richten sich auf die inhaltliche „Gestaltung“ von Sozialisationsprozessen. Diese äußert sich mitunter in der gezielten Vermittlung von Regeln des Zusammenlebens und sozial erwünschten Eigenschaften und Befähigungen von Personen. Sie tragen auf diese Weise maßgeblich zur Normierung des sozialen Lebens bei. Zugleich befördern sie die Tradierung gesellschaftlich normierter Vorstellungen über sozial erwünschtes Verhalten, indem sie vor allem jene Eigenschaften und Fähigkeiten in den Blick nehmen, die gesellschaftlich wertgeschätzt werden. Diese Normierungsfunktion von Erziehung und Bildung korrespondiert mit einer politisch-ideologischen Instrumentalisierung spezifischer Sozialisationsverhältnisse durch bestimmte Bevölkerungsgruppen (insbesondere die herrschenden Schichten). So werden Erziehungspraxen und Bildungsinstitutionen je nach kulturellem, religiösem, politischem und ökonomischem Blickwinkel gefördert oder verhindert. Mehr noch: Erziehung und Bildung werden zur Selektion und Legitimation ungleicher Lebenschancen herangezogen. Vorstellungen von „gelungener“ Sozialisation, von „richtiger“ Erziehung oder von „erfolgreicher“ Bildung etwa verleihen den Begriffen in semantischer Hinsicht bereits normative Überhänge, die eine objektive wissenschaftliche Analyse erschweren. Gerade die mit solchen Begriffen verbundenen Konnotationen im alltäglichen Miteinander bringen es mit sich, dass Sozialisation, Erziehung und Bildung nicht wertfrei, sondern stets in Hinblick auf ihre Alltagstauglichkeit und gesellschaftliche Verwertbarkeit hin analysiert werden – was per Saldo bereits auf die Existenz strukturfunktionaler Imperative des Erziehungs- und Bildungssystems verweist. Man könnte das auch kritisch formulieren: Mit Erziehung und Bildung sind Teilmengen von Sozialisation benannt, die neben ihrer sozialisatorischen Funktion vor allem eine Selektionsfunktion ausüben. Mit der unkritischen Verwendung der Begriffe Erziehung und Bildung wird daher die Grenze zwischen Sozialisation und Selektion aufgeweicht, was vor allem dann geschieht, wenn die Begriffe als Synonym für Sozialisation verwandt werden. Um solchen Fehlinterpretationen zu begegnen, gilt es im Rahmen einer kritischen Begriffsbestimmung, zunächst jene Prozesse und sozialen Sachverhalte zu bestimmen, die von den genannten Begriffen im engeren Sinne semantisch eingekreist werden, um dann die Spezifik ihrer Codierung (also: Normativität oder Objektivität) in der empirischen Forschung herauszuarbeiten. Folgt man einer solchen Überlegung, so zeigt sich, dass die genannten Begriffe zwischen einer idealisierend-normativen einerseits und einer weitgehend objektivierenden empirisch-analytischen Betrachtungsweise auf der anderen Seite oszillieren. Das hat Auswirkungen auf die empirische Forschung, die sich an den idealisierendnormativen Bedeutungen der Begriffe reibt. Ihre Aufgabe besteht nämlich darin, zwischen Sozialisations- und Selektionseinflüssen zu unterscheiden, die in Erziehung und Bildung angelegt sind, und damit jene Teilmengen herauszuarbeiten, die sich in der alltäglichen Lebenswelt und den systemfunktionalen Strukturen von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen formieren.
Sozialisation – Erziehung – Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung
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Sozialisation: Bestimmung des Forschungsgegenstands
Wenn wir davon ausgehen, dass mit den Begriffen Sozialisation, Erziehung und Bildung kulturelle Praktiken der Vermittlung von Handlungswissen verbunden sind, dann ist der Begriff der Sozialisation für die thematisierte Begriffstriade grundlegend. Mit ihm werden nämlich ganz allgemein Prozesse der Weitergabe von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten von einer Generation zur nächsten umschrieben (Grundmann 2006). Bei genauerer Betrachtung des Begriffs „Sozialisation“ wird offenkundig, dass mit ihm zwei scheinbar gegenläufige Sachverhalte verbunden sind, deren – wie sich zeigen wird – inhaltliche Prägung auch in den Begriffen Erziehung und Bildung angelegt ist: Zum einen ist dies die Notwendigkeit der Sozialintegration (dazu dient Erziehung), zum anderen der Erwerb individueller Handlungsbefähigung (was gemeinhin auch als Bildung bezeichnet wird). Die Aufgabe der Sozialisation bezieht sich also zunächst darauf, soziale Bindungen und Beziehungen zwischen den Generationen herzustellen und zu festigen, mithin eine Basis für Erziehung und Bildung überhaupt zu schaffen. Es verwundert daher nicht, dass die Verwendung des Begriffs Sozialisation in der Soziologie stets mit der Frage verbunden war, wie Akteure mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, Ansichten und Interessen zusammen kooperieren, produzieren und ein stabiles Gemeinwesen etablieren können, aus dem heraus sich spezifische Handlungsanforderungen an die beteiligten Akteure ergeben (Clausen 1968: 4).1 In und durch Sozialisation wird demnach eine zwar gemeinsame, soziokulturell jedoch höchst unterschiedliche Wirklichkeit hervorgebracht, aus der sich erst jene wünschenswerten Eigenschaften ergeben, die sich Heranwachsende im Laufe ihrer kindlichen Entwicklung aneignen sollen und die ihnen durch Erziehung vermittelt werden (Berger und Luckmann 1969). Dabei spielen Prozesse der Persönlichkeitsgenese als aktive Auseinandersetzung mit den sozialen und dinglich-materiellen Lebensbedingungen (Hurrelmann 1986: 14) eine herausragende Rolle. Allerdings leiten sich diese erst aus der grundlegenden Bedeutung von Sozialisation ab, nämlich soziale Praxen des Zusammenlebens erst hervorzubringen, auf die sich die Persönlichkeitsentwicklung dann konkret bezieht.2 Wenn man von diesem als Sozialisation im weiteren Sinne beschreibbaren Sachverhalt ausgeht, dann ist für Sozialisation grundlegend, dass Menschen miteinander interagieren, sich in ihrem Handeln wechselseitig aufeinander beziehen, dass sie ihr Handeln koordinieren und sich über Erfahrungsdifferenzen verständigen. Sozialisation dient demnach vor allem der Lösung potentieller Konflikte im alltäglichen Zusammenleben sowie der Kultivierung von Sozialbeziehungen zum Wohle aller. Man könnte auch sagen: Erst durch Sozialisation wird die Etablierung einer sozialen Praxis des Zusammenlebens möglich, aus der heraus sich Anforderungen an Personen ergeben, die zu vermitteln und anzueignen sind (Burgess 1926), denn: Sozialisationserfahrungen korrespondieren mit sozialen Erkenntnissen, führen zum Erwerb sozialer Handlungskompetenzen und einem pragmatischen Hand1 Sozialisation bringt eben jene sozialen Tatsachen hervor, die Durkheim (1972) auch als Grundlage der Erziehungswissenschaft, ja der Bestimmung von Erziehung beschreibt. In diesem Sinne ist auch seine Bestimmung des Kollektivbewusstseins aufschlussreich. 2 Mit der vor allem in psychologischen Sozialisationstheorien vorherrschenden Reduktion von Sozialisation auf Prozesse der Persönlichkeitsgenese geht daher die Gefahr einher, dass jene sozialen Praxen des Zusammenlebens aus dem Blick geraten, über die sich Individuen sozial aneinander binden und die dazu beitragen, das Menschen überhaupt ihr Handeln koordinieren, sich verständigen und Konflikte im Zusammenleben lösen können (siehe dazu den Diskurs über das Konzept der Selbstsozialisation im Themenheft 2/2002 der ZSE; insbesondere Zinnecker 2000, 2002; Bauer 2002; Hurrelmann 2002).
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lungswissen, das sich erfahrungsbiographisch in der Bildung von Persönlichkeitseigenschaften, mithin in personaler Handlungsbefähigung äußert (Grundmann 2006). In dieser Bindung von Sozialisation an unterschiedliche Erkenntnisse und Lebenserfahrungen sind schließlich aber auch schon jene Selektionsdynamiken angelegt, die letztlich Sozialisationsprozesse überlagern. Das liegt vor allem daran, dass sich nicht alle Erkenntnisse und Erfahrungen gesellschaftlich gleichermaßen verwerten lassen, sie daher unterschiedlich wertgeschätzt werden. Das wiederum korrespondiert mit unterschiedlichen Formen der sozialen Anerkennung und mit der Verfügbarkeit von Handlungsoptionen. Diese Prozesse der Selektion leiten sich daher zwar aus Sozialisationsprozessen her, sind aber im Wesentlichen dem Umstand der individuellen Reflektion des eigenen Handlungserfolgs geschuldet. Erst daraus entstehen unterschiedliche Ein- und Ansichten über sich selbst und über die Lebensverhältnisse, die ihr Leben bestimmen, was von Hurrelmann mit der Formel vom „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekt“ (Hurrelmann, 2002: 93) begrifflich auf den Punkt gebracht wurde.3 So gesehen lässt sich Sozialisation inhaltlich sowohl aus der Perspektive der Individuen (mit ihren Bedürfnissen nach sozialer Bindung und individueller Anerkennung), als auch aus der Perspektive der Bezugsgruppe (mit ihren spezifischen Wertschätzungen für ein bestimmtes Verhalten) und damit aus der Perspektive der Gesellschaft (die auf eine stabile soziale Ordnung angewiesen ist) bestimmen: Bezogen auf die Akteure können mit Sozialisation all jene Prozesse beschrieben werden, durch die der Einzelne über die Beziehung zu seinen Mitmenschen sowie über das Verstehen seiner selbst dauerhaft wirksame Verhaltensweisen erwirbt, die ihn dazu befähigen, am sozialen Leben teilzuhaben und an dessen Entwicklung mitzuwirken. In Hinblick auf die soziale Bezugsgruppe kann festgehalten werden, dass sich Sozialisation im beabsichtigten und unbeabsichtigten Zusammenwirken von Individuen, sozialen Gruppen und Institutionen ausdrückt, die zur sozialen Einbindung des Einzelnen und zum gemeinschaftlichen Wohlergehen beitragen. Aus der Perspektive der Gesellschaft ergibt sich Sozialisation aus der Existenz zwischenmenschlicher Beziehungen sowie dem Willen zu deren Weiterentwicklung. Erst dadurch wird der Einzelne zum Handeln befähigt und das gemeinschaftliche Gestalten der sozialen und natürlichen Umwelt ermöglicht (Grundmann et al. 2000: 18; Grundmann 2006).4 Sozialisation ist demnach sowohl funktional im Sinne des Erhalts sozialer Bezugsgruppen und sozialer Handlungsbezüge (sozialintegrativ) und erkenntnisgenerierend im Sinne der Ausbildung sozialer und personaler Identität (emanzipativ). Insofern fördert sie auf der individuellen Ebene die Selbstbestimmtheit durch Stärkung von Handlungsautonomie und trägt damit auf der gesellschaftlichen Ebene gleichzeitig entscheidend zur Entwicklung menschlicher Wohlfahrt bei. Geht man von einer solchen Definition aus, dann äußert sich Sozialisation zunächst in der Art und Weise, in der Individuen sich wechselseitig in ihrem Handeln beeinflussen, z.B. wie Eltern auf ihre Kinder eingehen und Kinder den Eltern ihre eigenen Bedürfnisse nahebringen (vgl. dazu Gerris und Grundmann 2002) oder wie sich Gleichaltrige im Spiel aufeinander beziehen (vgl. Krappmann 2004). Sozialisationsprozesse lassen sich dabei 3 Diese Formel darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Sozialisation nicht nur in Prozessen der Persönlichkeitsgenese, sondern auch in Praxen des Zusammenlebens äußert. 4 Bereits in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde von Bronfenbrenner (1976, 1979, 1985) ein Modell entwickelt, das die Sozialökologie der menschlichen Entwicklung beschreibt und deutlich macht, wie wir in unserer Persönlichkeitsentwicklung von kulturellen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Gegebenheiten unserer unmittelbaren Umwelt beeinflusst werden (siehe dazu Grundmann und Lüscher 2000).
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jedoch nur indirekt erfassen, denn ob und wie sich Individuen in ihrem Handeln aufeinander beziehen, zeigt sich erst darin, ob sie gemeinsame Handlungsperspektiven und Handlungsbezüge anvisieren und Vorstellungen von sich und den anderen als Bezugspersonen entwickeln. Diese müssen sich zudem in gemeinsamen Handlungsstrukturen niederschlagen, also etwa in gemeinsam verbrachter Zeit, in der gemeinsamen Bewältigung von Alltagsaufgaben oder im Aufbau einer verlässlichen Beziehung (Freundschaft bzw. Partnerschaft) zum Ausdruck kommen (Grundmann 2006). Sozialisation äußert sich daher vor allem in der Ausbildung persönlicher Identität („Wer bin ich? Zu wem gehöre ich?“), in dem Erwerb sozialer Handlungskompetenzen („Was muss ich tun, um anerkannt zu werden?“), in der Bildung von Gruppenidentitäten entlang bestimmter Zugehörigkeitskriterien (Statuskriterien, Übernahme von sozialen Rollen und Funktionen) sowie verlässlichen Bezugsgruppen, zu dessen Aufrechterhaltung letztlich alle Bezugspersonen beitragen.
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Erziehung als sozialisatorische Praxis und als Selektionsinstrument
Im Rahmen dieser Definition von Sozialisation dient Erziehung vor allem dazu, die wechselseitigen Handlungsbezüge, die sich im Sozialisationsprozess verdichten, gezielt zu beeinflussen. Das geschieht in der Regel dadurch, dass dominante Bezugspersonen, insbesondere die Älteren, also Eltern und Lehrer, Heranwachsende mit den Regeln des Zusammenlebens in konkrete Bezugsgruppen (also die Familie, die Schulklasse, den Verein) vertraut machen. Erziehung verweist so gesehen auf die soziale Integration in bestehende gesellschaftliche Strukturen (z.B. die Herkunftsfamilie, das Bildungssystem). Insofern kann Erziehung auch als eine spezifische Form sozialisatorischer Praxis bestimmt werden, die durch spezifische institutionelle Rahmenbedingungen und von außen definierte Handlungsbezüge charakterisierbar ist. Dabei kommt es zu einer latenten Hierarchisierung der in diesem Spannungsfeld angesiedelten Interaktionen, die sich schon durch die Struktur von Generationenbeziehungen ergibt. Sie äußert sich zum einen in den normativen Zuschreibungen von Eigenschaften der beteiligten Akteure (etwa in der Dichotomie von Älterem/Lehrenden/Wissendem auf der einen und Jüngerem/Edukanden/Lernenden auf der anderen Seite); zum anderen in der Wahl der wechselseitigen Handlungsbezüge sowie der Art und Weise der Handlungskoordination durch die Beteiligten, die unter dieser Bedingung nicht frei ausgehandelt werden können. Denn: Was als sozial angemessen gilt und was wertgeschätzt wird, hängt in der Regel von den „Mächtigen“, den Eltern, Lehrern, Etablierten ab. Durch Erziehung wird es daher möglich, Individuen mit Verhaltensregeln, gesellschaftlich relevanten Handlungsfähigkeiten und Wissensbeständen auszustatten, was ihnen ein relativ homogenes Verständnis für die sozialen und gesellschaftlichen Anforderungen und Handlungszusammenhänge vermittelt. Diese planvolle Eingliederung Heranwachsender in die Welt der Erwachsenen findet in allen Kulturen statt und lässt sich auf die anthropologische Notwendigkeit einer „Anleitung zum Erwachsenwerden“ beziehen, die als Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung (Oerter 1992) für Gesellschaft wie Individuum (über)lebensnotwendig ist. In ihr äußert sich aber zugleich auch der Versuch einer Normierung von Individuen sowie der Verpflichtung eines jeden Einzelnen sich (ungeachtet von Geschlecht, Herkunft oder Bildung) an vorgegebenen kulturellen Werten und „Normalbiographien“ zu orientieren und damit abweichendes Verhalten zu verhindern. Gleichzeit gilt
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es aber auch, persönliche Fähigkeiten zu fördern, die ein hohes Maß an individueller Selbstentfaltung ermöglichen. Brezinka (1990) definiert Erziehung dementsprechend als diejenigen Handlungen, „durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Weise dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll erachteten Bestandteile zu erhalten oder die Erhaltung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten“ (Brezinka 1990: 95). Die in dieser Definition enthaltene Zielvorstellung einer Verbesserung bzw. „Verhütung“ von Persönlichkeitseigenschaften von Menschen richtet sich vor allem darauf, das Machbare zu versuchen: die Entfaltung solcher Persönlichkeitsmerkmale, die soziale Handlungsfähigkeit und die Kultivierung des Individuellen gleichermaßen ermöglichen – was ja zusammengenommen Innovation und Reduktion des Unberechenbaren (Kunert 1997) bei gleichzeitiger Festschreibung von Sitte und Moral ermöglicht. Solche Zielvorstellungen sind an kulturelle Leitideen darüber gebunden, was in einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche und in einer bestimmten Kulturlandschaft als angemessen, legitim und sozial erwünscht gilt (vgl. dazu die Zusammenstellung verschiedener Erziehungstheorien seit der Aufklärung in Baumgart 1997 und die begriffsgeschichtliche Herleitung des Erziehungsbegriffs bei Brezinka 1990). In eben diesem Sinne meint Erziehung „Sozialmachung“ (Fend 1969). Dabei wird jedoch das in der Sozialisation angelegte Verhältnis zwischen den Subjekten, aus dem sich Sozialität grundlegend bildet, in ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, ein Verhältnis zwischen Erzieher und Edukand als Objekt der Erziehung also, transformiert. Genau diese Transformation aber verweist – ähnlich wie die Tatsache, dass Erziehung institutionalisierte Vermittlungspraxis kultureller Werte ist – darauf, dass Sozialisationsprozesse durch Erziehung geregelt, kanalisiert und damit letztlich auch eingeschränkt werden: Sie operieren also stets vor dem Hintergrund einer Unterauslastung ihrer potentiellen Möglichkeiten. Erziehung zielt damit genau darauf ab, nicht alle, sondern nur bestimmte Sozialisationspraxen gelten zu lassen und jene zu verhindern, die sich im freien interaktiven Spiel der Individuen, aus ihrem mehr oder weniger zufälligen Zusammenleben und Zusammenwirken ergeben. Erziehung zielt in diesem Sinne (mehr oder weniger bewusst) darauf ab, das im Sinne einer reibungslosen gesellschaftlichen Reproduktion jeweils „Beste“ für die Heranwachsenden und die Bezugsgruppe gleichermaßen zu erreichen, was immer auch bedeutet: die Integration ins bestehende System zu ermöglichen und zu gewährleisten (Durkheim 1972). So gesehen setzt Erziehung auf Einsicht in bestimmte, für den sozialen Zusammenhalt und das Wohlbefinden des Menschen bedeutsame Handlungs- und Entwicklungsziele. Obwohl sie von den Akteuren freiwillig und im Rahmen des alltäglichen Zusammenlebens organisiert wird, ist sie dabei normativ aufgeladen, denn insofern sie institutionell verankert ist, steht sie stets unter dem Diktat gesellschaftlich definierter Ziele und systemfunktionaler – zumeist politisch administrativ, aber etwa auch moralisch abgesicherter – Imperative (Lenzen und Luhmann 1977). Das aber besagt auch: Erziehung ist, mehr noch als Sozialisation, durch institutionelle Rahmenbedingungen beeinflusst (vgl. dazu auch Fuhrer 2005: 35ff.). Gerade diese institutionelle Prägung also zeichnet Erziehung aus. Als planvolle Sozialisation zielt sie primär darauf ab, Heranwachsende so zu gestalten, wie die Gesellschaft sie braucht und stellt damit den Versuch dar, Heranwachwachsende optimal auf gesellschaftlich erwünschte und zeitgemäße Verhaltensweisen und Handlungsanforderungen vorzubereiten (Durkheim 1972). Mit Erziehung wird aber auch ein Prozess in Gang gesetzt, der deutlich über Sozialisation hinausgeht: die Selektion von Individuen nach Kriterien ihrer
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„Befähigung“. Diese Selektion hängt von der gesellschaftlichen Wertschätzung ab, die bestimmten persönlichen Fähigkeiten zugeschrieben werden. Mehr noch: die Zuschreibung ergibt sich nicht aus den konkreten Handlungsbezügen, sondern aus den Verwertungsmöglichkeiten, die mit dem Erwerb von Fähigkeiten verbunden sind. Der Prototyp einer solchen Selektion ist die schulische Bildung, die nicht auf die Vermittlung allgemeinen, sondern spezifischen Handlungswissens abzielt. Daher ist Erziehung, vor allem wenn sie institutionalisiert ist, zwar Teil von Sozialisation, gleichwohl allerdings auch Selektionsmechanismus.5 Bei genauerer Betrachtung wird mit Erziehung demnach vor allem eine funktionale Vereinnahmung von Sozialisation zum Zwecke der Selektion benannt (Vogel 1996). Daraus folgt wiederum, dass Vorstellungen über Erziehungsziele historisch und kulturell variieren und sich die konkreten Erziehungspraxen, selbst innerhalb eines Kulturkreises, oft deutlich voneinander unterscheiden können. Sie hängen nämlich immer auch davon ab, welche persönlichen Fähigkeiten in welchen sozialen Bezugsgruppen vor dem Hintergrund bestimmter Lebensverhältnisse gefordert, erwünscht oder negiert werden (Durkheim 1972; Bourdieu 1985). Trotz der Vielfalt in den konkreten Erziehungspraxen und kulturellen Vorstellungen über eine „gute“ Erziehung erfüllen normative Leitideen von Erziehung eine wichtige – vor allem legitimatorische – Funktion, da mit ihnen Reflexionen über Erziehbarkeit und Erziehungsbedürftigkeit und damit die Rechtfertigung erzieherischer Interventionen einhergehen. Normative Vorstellungen über Erziehung verweisen zudem auf die grundlegende Frage danach, was die Manipulation von Personen zum Zwecke ihrer system-funktionalen „Unterwerfung“ rechtfertigt, was also Erziehung notwendig macht und wohin sie führt. Vor allem im normativen Erziehungsbegriff kommt ja das pädagogische Ideal der Veredelung des Menschen, seiner Kultivierung durch Verpflichtung auf moralisch-ethische oder wie auch immer begründete Handlungsprinzipien zum Vorschein. Solche Handlungsprinzipien lassen sich im Idealfall durch gute Argumente zwar begründen; häufig jedoch sind sie, wie die Geschichte zeigt, interessengeleitet und werden mit Zwang durchgesetzt. Wie auch immer: Zunächst verbinden sich in normativen Erziehungstheorien historische Erfahrungen des guten Lebens, des angemessenen zwischenmenschlichen Umgangs, der Kultivierung von Beziehungen und der sozial verantwortlichen Anwendung von Wissen. So gesehen kann Erziehung – abgesehen von ihrer potentiell ideologischen Vereinnahmbarkeit – auch als Versuch einer sinn- und verantwortungsvollen Handlungsanleitung für ein glückliches Leben verstanden werden. Weil Erziehung jedoch im Alltag weniger an solch normativen Leitbildern orientiert ist, sondern den konkreten Handlungsanforderungen und Gestaltungsprozessen des Zusammenlebens folgt, kann sie nicht als generalisierbarer Optionsraum zur Förderung Heranwachsender verstanden werden. Vielmehr ist stets anzugeben, worin die konkrete Förderungsbedürftigkeit von Menschen besteht, wer oder was die Erziehung des Menschen in welchem Sinne und mit welcher Wirkungsabsicht anleitet und inwieweit dies vor dem Hintergrund der konkreten Lebensverhältnisse für wen funktional ist (Fuhrer 2005a). Diese Funktionalität bemisst sich dann daran, inwieweit die Erziehungspraktiken der Persönlichkeitsentfaltung (vor allem der sozial erwünschten Persönlichkeitseigenschaften) förderlich oder hinderlich sind, ob sie eben jene Handlungsbefähigungen hervorbringt, die zur Bewäl5 In diesem Sinne kann man aber etwa von Schule nicht als einer Sozialisationsinstanz sprechen. In erster Linie nämlich ist sie Erziehungsinstitution und schränkt als solche Sozialisationsprozesse eher ein, als dass sie diese befördert (vgl. dazu Grundmann 2006; Grundmann et al 2006).
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tigung eines Alltags taugen, der spezifischen Interessen und darum auch „Vorgaben“ folgt. In diesem Sinne hat sich auch eine vielfältige Ratgeberliteratur herausgebildet, die über Merkmale „guter“ Erziehung informiert, über Erziehungsideale informiert und zugleich einen Eindruck darüber vermittelt, wie Erziehung in den jeweiligen Kontexten auf ihre Tauglichkeit hin reflektiert und bewertet wurde.6 In diesem Sinne besteht die Aufgabe der empirischen Forschung darin, die unterschiedlichen Vorstellungen und Praktiken von Erziehung herauszuarbeiten. Es gilt, die Grenzen der Erziehung ebenso wie bestimmte Formen der Anerkennung und Gratifikation aufzuzeigen, die Erziehungspraxen zugrunde liegen. Auf diese Weise lassen sich auch die Mechanismen einer instrumentellen Produktion und Reproduktion von sozialer Ungleichheit aufdecken, die in und durch Erziehungspraxen (vor allem in institutionellen Kontexten wie der Schule, in politischen Organisationen oder in Glaubensgemeinschaften) hervorgerufen werden. Mehr noch: Aus der Differenz zwischen normativen Erziehungszielen und sozialer Wirklichkeit lässt sich auch ablesen, wie Erziehung in und durch gesellschaftliche Institutionen instrumentalisiert wird. Beispiel dafür ist die Übertragung der bürgerlichen Erziehungsmoral auf Familien in prekären sozialen Verhältnissen oder die Bewertung familialer Erziehung durch die Brille schulischer Erfolgskriterien (eine gute Erziehung zeichnet sich demnach durch optimale Vorbereitung auf die Schule aus). All dies zeugt auch von der Abhängigkeit der Erziehungsvorstellungen vom jeweiligen Zeitgeist, was sich zum Beispiel im schrittweisen Wandel der Erziehungsvorstellungen von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute zeigt.
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Bildung als Erziehungsideal
Ähnlich wie der Erziehungsbegriff unterliegt auch der Bildungsbegriff einer Funktionalisierung durch gesellschaftliche Institutionen. Auch Bildung kann zum einen als Teilmenge von Sozialisation bestimmt werden. Zum anderen ist Bildung zu einem zentralen Selektionsmechanismus moderner Gesellschaften avanciert – allerdings aus einem anderen Grund als Erziehung. Während sich die Selektionskraft von Erziehung aus ihrer instrumentellen Prägung von Individuen herleitet, ergibt sie sich bei Bildung durch die politischideologische Funktionalisierung ihres kreativen und zugleich emanzipatorischen Potentials im Zuge der Aufklärung. Paradoxerweise befördert Bildung die Etablierung eines Gemeinwesens, das die Einsichten in das Machbare und Wünschenswerte, mithin die Vorstellungen von einer „guten“ Gesellschaft befördert. Stets sind es ja die „gelebten Erfahrungen“, die Menschen bilden; und zugleich bildet sich dabei nicht nur ein Wissen des Menschen über sich selbst (sein personales Selbstverständnis also), sondern auch ein Wissen über Mitmenschen und damit über die natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse heraus, die das soziale Zusammenleben konturieren und bestimmen. Mehr noch: In Bildungsprozessen manifestieren sich zudem auch kulturelle Vorstellungen über das Zusammenleben
6 So finden sich zunächst vor allem Ratgeber, die sich an die Oberschichten, erst den Adel, dann das Bürgertum, später aber auch an die breite Mittelschicht und im Zuge der Wohlfahrtspflege schließlich auch an die Unterschicht richteten, wobei vor allem Kriterien der Sozialhygiene eine Rolle spielten (zur Entwicklung von Vorstellungen der Elternbildung im Sinne der Befähigung zur Erziehung siehe Fuhrer 2005b und das Themenheft 3/2005 der Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie).
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als sinnvolle Formen des Umgangs damit.7 In diesem allgemeinen Sinne meint Bildung Formung und Gestaltung – und zwar nicht nur von personalem Handlungswissen, sondern auch von Handlungsweisen und Wertvorstellungen, von sozialen Beziehungen und von kulturellen Praktiken sowie Organisationsprinzipien von Gemeinwesen. Diese weite Definition von Bildung deckt sich mit dem Begriff der Sozialisation und zwar insofern, als mit beiden Begriffen, Sozialisation ebenso wie Bildung, Prozesse der Formung und Kultivierung sozialen Handelns verbunden sind. Formung allerdings erscheint hier nicht als „Überformung“ durch vorgegebene Handlungsimperative, sondern als „Selbstformung“ in und durch sozialisatorische Praxen. Mit dem Bildungsbegriff wird dieser Sachverhalt konkretisiert: Sozialisationsprozesse manifestieren sich in Bildungsprozessen, indem genau hier kulturspezifische Vorstellungen darüber zum Ausdruck kommen, welche individuellen Kompetenzen in einem kulturellen und sozialen Kontext wertgeschätzt werden und nicht, welche wertgeschätzt werden sollen und müssen. Mit Bildung in dieser Perspektive wird daher vor allem individuell erworbenes Handlungswissen verbunden. Versteht man Bildung als Prozess der Herausbildung von individuellem Handlungswissen durch soziale Austauschprozesse, Erziehung hingegen als gezielte Formung Heranwachsender zum Zweck der sozialen Integration, dann verweisen Bildung und Erziehung auf zwei gegensätzliche Pole des ihnen zugrundeliegenden Sozialisationsprozesses: auf Selbst- und Fremdbezüglichkeit sozialen Handelns. Insofern geht ein so verstandener Bildungsbegriff weit über den Erziehungsbegriff hinaus, weil er mit der Komplexität der individuellen Aneignung und Optimierung von Orientierungs- und Handlungswissen verbunden ist, während mit dem der Erziehung eher der rein reproduktive Aspekt normativer Prägung von Individuen seine Bedeutung erfährt. Die Fokussierung von Bildung auf Prozesse des individuellen Wachstums durch Wissenserwerb verleiht Bildung eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung als Schlüsselqualifikation, die den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Positionen ermöglicht. Bildung befähigt also Individuen, sich gesellschaftlich und politisch im Horizont ihres Wissens zu positionieren. Insofern entfaltet sie ihr emanzipatorisches Potential vor allem immer dann, wenn die individuelle Aneignung einer komplexen Welt durch Wissen über die Welt geschieht – was sich etwa in der Fähigkeit zur kritischen Reflexion des eigenen Lebens im Rahmen bestimmter Verhältnisse äußert. Diese Wissenspotentiale sind es, die Bildung ihre auch politische Bedeutung verleihen. Mit wissensbasierter Bildung geht die Erfahrung von Handlungsautonomie einher, das Erkennen der Möglichkeit, sich selbst und seine Lebensverhältnisse zu verändern. Daher erlebt der sich auf diese Weise Bildende (im Gegensatz zum Zögling) sich auch nicht als Objekt der Verhältnisse: er schöpft, sich gleichsam selbst bildend, aus seinem eigenen Reservoir (von Hentig 1996: 23). Bildung als individuelle Entwicklung personalen Handlungswissens durch Reflexion und Systematisierung von Erfahrungswissen erfüllt damit ein natürliches Bedürfnis des Menschen nach Ausgestaltung der eigenen Lebensverhältnisse und auch des diese überformenden politischen Gemeinwesens. Insofern kommt Bildungsprozessen das bereits in Sozialisationsprozessen angelegte Ideal einer Entwicklung zu Selbstständigkeit und Autonomie, Wissensaneignung und Höherentwicklung zum Ausdruck, dem der Wunsch nach Fortschritt und Freiheit, politischer
7 Dieser sozialisationsrelevante Aspekt von Bildung wird zumeist vernachlässigt, wenn von Bildung die Rede ist, obwohl er zentraler Teil von Bildungsprozessen ist (Grundmann et al. 1994).
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Mündigkeit und Selbstverwirklichung zugrunde liegt, der seit der Aufklärung die Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften kennzeichnet. Die Bewertung von Bildung als politisch bedeutsame, persönliche Handlungsressource geht nun mit einem interessanten Bedeutungswandel der Erziehung einher. Qua Bildung nämlich wird die Fremdbestimmtheit durch Erziehung, die Erfahrung von Unmündigkeit und Unterordnung in Mündigkeit und Subjektivität transformiert. Damit wird aber auch möglich, den Erwerb von Handlungswissen und Handlungsfähigkeiten den Personen selbst zuzuschreiben. Das ist die eine Seite. Die andere ist die, dass es nun ebenso möglich wird, sie für ihre Lebensführung selbst verantwortlich zu machen. So befreit Bildung die Individuen zwar aus einer Form der Unmündigkeit, die ihnen durch Herkunft und Stand aufgezwungen wurde, weist ihnen zugleich aber auch die Verantwortung für ihr Leben zu (Grundmann 1999). Es ist vor allem diese „meritokratische Wende“, die Bildung zum zentralen Selektionsinstrument, zur „Chancenzuteilungsapparatur“ (Schelsky 1957) moderner Gesellschaften macht (Solga 2005). Mit ihr lassen sich nun unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen und Bildungserwerbschancen als Ergebnis individueller Leistung (d.h. Bildungsanstrengung) legitimieren (siehe auch das Kapitel von Becker und Hadjar über Meritokratie in diesem Band). Gleichzeitig lässt sich damit aber auch der gesellschaftliche Wert von Bildung begründen: Bildung eröffnet Handlungsoptionen, nimmt gesellschaftlichen Einfluss und verspricht soziale Anerkennung.8 Die damit einhergehende kulturelle, politische und ökonomische Wertschätzung von Bildung führt dazu, dass Bildung vor allem in westlichen Industrieländern nicht nur zum Erziehungsideal sui generis erhoben wurde; sie ermöglicht darüber hinaus auch jenen zeitgenössischen Paradigmenwechsel, in dessen Verlauf ihre ehemals traditionsbesetzten bildungsbürgerlichen Inhalte einen geradezu rasanten Wandel in Richtung auf die Vermittlung „wissensgesellschaftlicher“ Bildungsinhalte erfahren (Bittlingmayer 2005) – was seinerseits bei Lichte betrachtet eher auf die Implementierung psychosozialer Eigenschaften und Bereitschaften abzielt. All dies wird zum Maßstab für gelungene Erziehung und Sozialisation erhoben – fast wäre man versucht zu formulieren: zu einem universellen, d.h. global anerkannten und anzuerkennenden Gut. Bildung in diesem Sinne ist, im Gegensatz zu Erziehung, argumentativ hervorragend in Dienst genommen worden, lässt sich in Einkommen und Status transformieren und stellt zugleich eine zentrale Humanressource dar, dessen Verfügbarkeit Fortschritt und Wohlstand, ja sogar politische und wirtschaftliche Anerkennung in einer globalisierten, durch ökonomische Imperative gesteuerten Welt verspricht (Meyer 2005).9 Mit der politisch-ökonomischen Funktionalisierung von Bildung korrespondiert die Entwicklung von Bildungsgütern, Bildungsprozessen, Bildungstiteln und Bildungsinhalten, die dem Zweck einer interessegeleiteten Steuerung durch Normierung dienen. Formalisierte und standardisierte Schulbildung ist Ausdruck einer solchen Funktionalisierung, durch die Bildung zu einem ökonomisch-politischen Instrument wird. Damit wird ihr Wert als selbst8 Damit ist ein zentrales Merkmal individualistischer Gesellschaften bezeichnet: das Hervorbringen einer auf individuelle Leistungen und Selbstverwirklichung zielenden Kultur bzw. Gesellschaft von Individuen (Elias 1991). Auf die gesellschaftstheoretische Herleitung von Bildung als zentraler Motor für Modernisierung und Individualisierung gehe ich nicht weiter ein (siehe dazu Lenhardt 1997; zur Funktion von Bildung im Zusammenhang mit der Entwicklung von „Wissensgesellschaften“ siehe Bittlingmayer 2005). 9 So erhebt die OECD Bildung zum Maßstab für gesellschaftlichen, d.h. vor allem ökonomischen und politischen Erfolg (Krücken 2005, Prange 2006) und verbindet damit zugleich Sanktionsmaßnahmen (die durch die Weltbank umgesetzt werden; Sen 2004). Man könnte in diesem Zusammenhang auch von „politischer“ Erziehung – nämlich zu Kapitalismus und Demokratie – durch globale Akteure sprechen.
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bestimmte Aneignung von Wissen durch politische und ökonomische Systemimperative (die das Bildungssystem bestimmen) stark geschmälert. Damit geht eine Einengung des Bildungsbegriffs auf formalisierte Bildung einher, der die gegenwärtige Bildungsdebatte und auch die empirische Bildungsforschung prägt. Mehr noch: Der emanzipative Charakter von Bildung wird durch formale Leistungskriterien überlagert und Bildung zu einem Erziehungsmaßstab erhoben. Sobald von schulischer Bildung die Rede ist, ist in erster Linie Erziehung zur schulischen Leistungsfähigkeit gemeint – was nur eine besondere Form des „heimlichen Lehrplans“ darstellt, da dieser nun in pädagogischen Richtlinien, Inhalts- und Methodenfelder oder Curricula für die einschlägigen Schulformen und Jahrgangsstufen ganz offiziell als an bestimmten Verwertungskriterien ausgerichtete Form der Erziehung Einzug hält.10 Schulische Bildung wird dabei politisch nach wie vor als Erziehung zum mündigen Bürger legitimiert, allerdings werden hier genau jene Kulturtechniken vermittelt, die politisch und ökonomisch gewollt sind. Genau dies dokumentiert das Bestreben moderner Staaten zur Reglementierung von Bildungszugängen und deren Verwertung (Grundmann et al 2006). Bildungsinstitutionen und mit ihnen die Formalisierung und Standardisierung von Bildungszertifikaten sind seit jeher Instrumente politisch und ökonomisch gesteuerter Selektion. Die nach wie vor stabile Ungleichheit von Bildungschancen entlang der sozialen Herkunft ist Ausdruck einer solchen Selektion. Parsons (1968) hat diese Selektionsfunktion von Schule anschaulich beschrieben und verdeutlicht, wie Individuen durch das Erziehungs- und Bildungssystem gesellschaftliche Normen nahegebracht und diese damit auf ihre Funktion im Erwerbs- und Familienleben vorbereitet werden (siehe das Kapitel von Herzog in diesem Band).11
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Sozialisation, Erziehung und Bildung zwischen normativer und empirischer Bestimmung
Betrachtet man die Begriffstriade Sozialisation – Erziehung – Bildung nun, wie in der empirischen Bildungsforschung üblich, aus der Perspektive des Bildungssystems, so sind Sozialisation und Erziehung zwei zentrale Bedingungen für das Funktionieren eben dieses Bildungssystems. Sie dienen vor allem der Vorbereitung Heranwachsender auf ihren Eintritt in die Gesellschaft, informieren über familiale, also lebensweltliche Ressourcen für individuellen Bildungserwerb und über die Kompatibilität der in der Familie vermittelten Handlungs- und Wertorientierungen mit den in der Schule geforderten Eigenschaften und Fähigkeiten (Boudon 1974). Damit ist die Basis einer empirischen Sozialisations-, Erziehungsund Bildungsforschung benannt, die sich bis heute weitgehend an den strukturfunktionalen Bedingungen von Bildungserwerb und Persönlichkeitsgenese orientiert und dabei die Ergebnisse ihrer Analysen vor dem Hintergrund der skizzierten gesellschaftlichen Bewertungslogik interpretiert. In genau diesem Sinne tragen weite Teile der empirischen Bil-
10 In diesem Sinne ist die Rede von schulischer Sozialisation in der Regel auch unpräzise. Die Schule als Institution schränkt Sozialisationsprozesse enorm ein, sodass von wechselseitigem Handlungsbezug als konstitutivem Merkmal von Sozialisation nur bedingt die Rede sein kann. Auch die Kultur der Schule wird nicht von den Akteuren selbst bestimmt (was Merkmal von Sozialisation wäre), sondern ist durch rechtliche Regelungen und institutionelle Strukturen so weit vorbestimmt, dass die Gestaltung von Schulkultur eher behindert als befördert wird. 11 Auch Schelskys Rede von der Schule als „Chancenzuteilungsapparatur“ zielt in diese Richtung.
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dungsforschung zur Reproduktion eines funktionalistischen Bildungsverständnisses bei (siehe dazu die Übersicht in Tippelt 2002). In den bisherigen Überlegungen wurde bereits deutlich, dass vor allem mit den Begriffen Erziehung und Bildung normative Vorstellungen über Prozesse der Sozialintegration, der Vermittlung kultureller Werte und Handlungsorientierungen sowie der Aneignung von persönlichem Handlungswissen verbunden sind. Damit sind letztlich aber gerade jene Aspekte von Bildung und Erziehung benannt, die nicht auf ihre Bindung an Sozialisationsprozesse, sondern an ihre Funktionalisierung für Selektionsprozesse verweisen. Dennoch werden mit diesen Begriffen aber auch die sozialen Praktiken umschrieben, die für Sozialisation typisch sind und die sich in konkreten Lebensverhältnissen und Sozialbeziehungen etablieren. Das wiederum ist den beschriebenen begrifflichen Unschärfen und der Überlagerung von Sozialisationsprozessen durch Selektionsprozesse geschuldet. Übersehen wird, dass Erziehung und Bildung ihre Bedeutung verändern, wenn sie lebensweltlich verankert oder aber institutionell gerahmt sind (Grundmann et al. 2003, 2004, 2006). Davon hängt es ab, ob sie der inhaltlichen Gestaltung von Sozialisationspraxen dienen oder ob sie unter Gesichtspunkten der gesellschaftlichen Verwertung begriffen werden. Diese Differenzierung zwischen Sozialisation und Selektion ist bei der Analyse von Erziehungs- und Bildungsprozessen zu berücksichtigen. Vor allem die systemfunktionale Instrumentalisierung von Bildung und Erziehung erfordert es, zunächst das Bedingungsgefüge gesellschaftlicher Wirklichkeit für Bildung und Erziehung zu erkunden. Gleichwohl sind jene Aspekte von Erziehung und Bildung herauszuarbeiten, die sich nicht aus den funktionalen Imperativen gesellschaftlicher Systeme herleiten lassen, sondern aus den konkreten Interaktions- und Beziehungserfahrungen ergeben, die für Sozialisation typisch sind. Gerade in der Bildungssoziologie fehlt es an einer solchen „systemkritischen“ Analyseperspektive. Darüber hinaus wäre zu erfragen, welche (z.B. lebensweltlich verankerten) Bildungsprozesse durch das Bildungssystem überlagert oder ausgeblendet werden, ob diese nicht ins System selbst wieder rückverlagert werden können und ob es in diesem Sinne keine denkbaren Alternativen zum bestehenden Bildungssystem gibt (von Hentig 1996). Damit ist ein zentrales Problem bei der empirischen Bestimmung von Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozessen benannt: die mangelnde Differenziertheit von Sozialisations- und Selektionsprozessen. So richtet die empirische Bildungsforschung ihr Augenmerk bis heute auf die gesellschaftliche Bewertung von Bildung im Lichte schulischer Bildungsprozesse (vgl. Tippelt 2002). Damit werden jedoch schulische Sozialisationsprozesse zugunsten schulischer Selektionsprozesse ausgeblendet. Mehr noch: Die strukturfunktionale Bewertungslogik von Erziehung und Bildung wird dabei in der Regel nicht kritisch reflektiert. Gleiches gilt im Übrigen für die Analyse von Sozialisationsprozessen und Erziehungspraxen. Dabei wird der schulische Bildungserfolg nicht selten zum Maßstab für die Bewertung familialer Sozialisations- und Erziehungspraxen; bewertet wird also, ob und inwieweit sie auf die Schule vorbereiten, schulische Bildungsprozesse flankieren, ob sich die in der Familie angelegten „Bildungsanlässe“ und die dort vermittelten Einstellungen zur Bildung mit den schulischen Leistungsanforderungen decken, den Bildungserfolg also befördern oder behindern. Beispiele für diese Bewertungslogik sind einzelne, zumeist gesellschaftlich normativ aufgeladene „Outputvariablen“ (hier etwa schulischer Bildungserfolg). Diese „fundieren“ dann Analysen über den Zusammenhang von sozialer Herkunft, elterlichen Erziehungs- und Bildungseinstellungen einerseits und dem Bildungserfolg der Kinder und/oder Jugendlichen auf der anderen Seite. Paradigmatisch dafür ist die Statuser-
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werbsforschung (vgl. Grundmann 1998), die einem strukturfunktionalen Paradigma verpflichtet ist und die intergenerationale Bildungsvererbung über lerntheoretische Modelle zu erklären versucht, denen zufolge Imitation, Anerkennung und Bestrafung sowie personale Selbsteinschätzung der eigenen Handlungen zentrale Kriterien der Vermittlung darstellen. Diese aber werden dabei ausschließlich unter dem Gesichtspunkt interpretiert, ob und inwieweit die elterliche Erziehung den Statuserwerb beeinflusst, der seinerseits an schulischem und beruflichem Erfolg gemessen wird. Die Qualität der elterlichen Erziehung bemisst sich in der Konsequenz dann daran, ob Heranwachsenden eben jene Werte und Fähigkeiten vorgelebt und vermittelt werden, die für „individuellen Erfolg“ in eben diesem Sinne wichtig sind (Fend 1969, 1977). Im Gegensatz zu einer solchen systemimmanenten Analyselogik hat sich insbesondere die schichtspezifische Sozialisationsforschung einer systemkritischen Analyseperspektive zugewandt. Ihr geht es vor allem darum, die sozialstrukturellen Restriktionen in den Lebensverhältnissen von Familien aufzudecken, die dazu führen, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten systematisch in ihren schulischen Bildungsprozessen benachteiligt werden (vgl. Bronfenbrenner 1958; Kohn 1959; Bernstein 1961). Dazu wurden neben Erziehungspraktiken auch familiale Sozialisationsbedingungen, wie zum Beispiel die Kommunikationspraxis, das Familienklima sowie die Wertvorstellungen der Eltern, gemessen, um zu erklären, worin sich die Bedingungen des Aufwachsens in den sozialen Schichten voneinander unterscheiden und wieso diese Bedingungen – etwa im Kontext der Schule – unterschiedlich wertgeschätzt werden. Diese Forschungen fanden schließlich in der sozialökologischen Sozialisationsforschung ihren Niederschlag, in der die unterschiedlichen gesellschaftlichen, regionalen und familialen Rahmenbedingungen sowie die soziokulturellen Ressourcen der Herkunftsfamilie systematisch erfasst wurden; jene Ressourcen also, die Heranwachsende in die Schule mitbringen und die daher – je nach Passung mit den schulischen Leistungsanforderungen – den Bildungserfolg mitbestimmen. Neben der beruflichen Stellung der Eltern wurden regionale Bildungsangebote, milieuspezifische Handlungsanforderungen, die Familienstruktur, die sozialen Beziehungen und Netzwerke der Familie (Nachbarn, Verwandte, Freunde etc.) oder die Verfügbarkeit über und der Umgang mit kulturellen Gütern (Bücher, Theaterbesuche etc.) erfasst. Diese Kriterien finden sich auch in aktuellen Bildungsstudien wieder. Sie werden als Indikatoren für das soziale und kulturelle Kapital einer Familie bezeichnet, mit deren Hilfe spezifische Sozialisations- und Erziehungsbedingungen gemessen und in Zusammenhang mit schulischem Erfolg oder Misserfolg gebracht werden können – freilich ohne das Zustandekommen oder gar die Legitimität der strukturfunktional-normativen Anforderungen selbst zu beleuchten. Obwohl sich die Operationalisierungen und Messungen der Sozialisations- und Erziehungseinflüsse in den Analysen voneinander unterscheiden, folgten beide Forschungsansätze weitgehend einem Basismodell (Abbildung 1). In diesem wurde der hier in Frage gestellte Zusammenhang von Sozialisation, Erziehung und Bildung als kausales Modell figuriert. Sozialisation und Erziehung werden dabei als Bedingungen für den Bildungserfolg gemessen und auf die abhängige Variable Bildungserfolg als Indikator für eine erfolgreiche soziale Integration bezogen. Dabei wird unterstellt, dass die sozialen Lebensverhältnisse der Familie einen Teil des Bildungserfolgs erklären, da Bildungschancen sozial ungleich verteilt sind. Erziehung wird gemäß dieser Definition anhand elterlicher Erziehungsstile, sozialer Handlungsorientierungen sowie der Bildungsaspirationen der Eltern im Horizont ihrer Verfügung über kulturelles Kapital gemessen. Sozialisation wird indirekt über die Zusam-
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mensetzung der Familie, Kommunikations- und Interaktionsstile sowie der Verfügung über soziales Kapital erfasst. Die in den Analysemodellen verwendeten Indikatoren für die Messung familialer Sozialisation und Erziehung entsprechen der Logik gesellschaftlicher Zuschreibungs- und Selektionsprozesse im und durch das Bildungssystem und bilden damit die Funktion von Sozialisation und Erziehung im und für das Bildungssystem ab und vice versa. Diese Modelle berücksichtigen also, dass Sozialisation und Erziehung Bildungsprozessen logisch vorgeschaltet sind und die Analyse von Bildungserwerbsprozessen vor allem eine Analyse von Selektionsprozessen bedeutet. Abbildung 1:
Bildungserwerbsprozess (Basismodell)
Familieneinkommen
Arbeitsbedingungen des Vaters
Bildungsaspirationen der Eltern Schulleistung
Beruf des Vaters
soziale Lage
Familienklima
Bildungserfolg
Bildungspläne
Bildungsniveau Bildung des Vaters/ - der Mutter
HERKUNFT
Geschwisterkonstellation
Erziehungsstile
SOZIALISATION
soziale Orientierung
INTEGRATION
Versuche, Sozialisations- und Bildungsprozesse lebensphasenspezifisch zu bestimmen, führten zur Unterscheidung primärer- und sekundärer Sozialisation, mit der letztlich lebensweltliche, in der Herkunftsfamilie verankerte und systemische, in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen angelegte Erfahrungen abgebildet wurden, die für moderne Bildungssysteme typisch sind. Entsprechend wurden primäre und sekundäre Bildungseffekte (Boudon 1974), wurden Indikatoren familialer und schulischer Bildung als Grobindikatoren für Sozialisations- und Erziehungseinflüsse auf Bildungserwerbsprozesse modelliert. Das Hauptdefizit dieses Forschungszweigs besteht vor allem darin, dass Bildung hier fast ausschließlich als über schulischen Leistungserfolg herstellbar gilt – und nicht über kognitive und sozialkognitive Fähigkeiten oder über zentrale Merkmale personaler Handlungsbefähigung, die allesamt gar nicht erfasst werden. Daher wird Bildung nicht im Sinne von individuellem Kompetenzerwerb, sondern als „Systemvariable“ eingeführt und gemessen. Dies aber führt zu einer Fokussierung der empirischen Forschung auf Outputvariablen, die bereits einer sozialstrukturellen Normierung unterliegen. Von daher verwundert es nicht, wenn sich in den entsprechenden kausalen Analysemodellen zeigt, dass die so erfassten Einflussfaktoren familialer Sozialisationseinflüsse wie Erziehungsstile und -praxen nur wenig zur Erklärung des Bildungsprozesses selbst beitragen. Stattdessen haben hier vor allem solche Indikatoren eine hohe Erklärungskraft, die selbst bildungssystemisch bedingt sind wie z.B. der Bildungshintergrund der Eltern.
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Um diese Defizite aufzuheben, wurden in sozialkonstruktivistischen Studien komplexere Analysemodelle entwickelt, in denen sowohl Informationen über die Individualgenese als auch über den Sozialisations- und Erziehungshintergrund Heranwachsender berücksichtigt wurden. Dabei ging es jedoch nicht primär darum, den Effekt von Sozialisations- und Erziehungseinflüssen zu messen, sondern die Frage zu beantworten, welche Faktoren den Bildungserwerbsprozess selber – möglicherweise auch individuelle Bildungsprozesse, die sich in der Entwicklung kognitiver und sozialkognitiver Kompetenzen äußern – behindern oder befördern. Entsprechend wurden Sozialisationsfaktoren als Risiko oder Ressource modelliert, wobei vor allem das Maß elterlicher Unterstützungsleistungen, die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen sowie die Wert- und Handlungsorientierungen der Eltern berücksichtigt wurden (Grundmann 1998). Der Vorteil eines auf diese Weise erweiterten Sozialisationsmodells (siehe Abbildung 2) besteht vor allem darin, Bildung auch über den Erwerb individuellen Handlungswissens (der intraindividuellen Prozesse von Handlungs- und Wissensgenese also) zu messen, der sich jenseits schulischer Bildungserfahrungen entwickelt (Grundmann 1998: 181). Abbildung 2:
Erweitertes Modell der sozialstrukturellen Sozialisationsforschung
Indikatoren sozialer Selektion
Indikatoren familialer Sozialisation
Bildung der Eltern Einkommen
soziale Lage
Arbeitsbedingungen
restriktive Sozialisationsbedingungen unterstützende Sozialisationsbedingungen
Merkmale der individuellen Entwicklung
Bildungserwerbsprozeßss
kognitive Entwicklung Bildungsziele Schulleistungen
sozial-kognitive Entwicklung
Bildungsniveau
intergenerationale Statusmobilität
Die Ergebnisse dieser Analysen belegen eindrucksvoll, dass zwischen schulischen Leistungs- und individuellen Kompetenzaspekten unterschieden werden muss, wenn Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozesse angemessen erfasst werden sollen. Vor allem die individuellen Kompetenzen sind in geringerem Maße durch Herkunftseffekte, dafür aber in hohem Maße durch Sozialisations- und Erziehungseffekte beeinflusst. Die kognitive und sozialkognitive Entwicklung wird demnach vor allem durch Sozialisationserfahrungen, schulische Leistungen hingegen eher durch Merkmale der sozialen Herkunft und Lage beeinflusst. Allerdings bestätigt sich hier auch, dass die kognitiven und sozialkognitiven Fähigkeiten allein nicht ohne weiteres auch den Bildungserfolg bestimmen; nicht die Fähigkeiten des Kindes nämlich, sondern die Herkunftsbedingungen bestimmen ja letztlich den Schulerfolg. Daraus lässt sich folgern, dass Heranwachsenden in lebensweltlichen
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Erfahrungsräumen ihrer Herkunftsmilieus die zentralen Handlungskompetenzen und Wissensbestände, die dort vorherrschen, zwar vermittelt werden; auch lässt sich annehmen, dass sie dabei die zentralen Erkenntnisse und Handlungskompetenzen erwerben, die eine durchschnittliche (bisweilen sogar überaus positive) kindliche Entwicklung kennzeichnen. Allerdings werden diese Fähigkeiten im Zuge schulischer Bildungserwerbsprozesse von einer Leistungsbewertung konterkariert, die einer expliziten Defizitlogik folgt – und diese auch für die Heranwachsenden folgenreich durchsetzt. Um diesen Zusammenhang genauer herauszuarbeiten, wurden die Einflüsse der Herkunftsfamilie auf die Entwicklung personaler Handlungsbefähigung genauer untersucht (Grundmann et al. 2006). Dazu galt es, verschiedene Bildungsmilieus als herkunftsspezifische Erfahrungswelten der Heranwachsenden zu modellieren und der Frage nachzugehen, ob und inwieweit die in den Milieus vorherrschenden Sozialisationsbedingungen und Erziehungspraxen mit der Ausbildung spezifischer Persönlichkeitseigenschaften korrespondieren. Die Ergebnisse bestätigen zunächst das bereits Geschilderte: Die in den Herkunftsmilieus vorherrschenden lebensweltlichen Erfahrungen werden im Zuge schulischer Bildungserfahrungen von diesen überlagert. Darüber hinaus zeigen die Befunde aber auch, wie selbst hochbegabte Kinder durch Schule systematisch im Horizont einer interessegeleiteten „Kanalisierung“ ihrer Ressourcen in ihrer Entwicklung behindert werden (Stichwort: etwa der Zusammenhang von Hochbegabung und ADS bzw. ADHS). Damit bestätigt sich die Befürchtung, dass das Schulsystem als wichtiger Teil des Bildungssystems systematisch individuelle Leistungsdifferenzen in Leistungsdefizite verwandelt und damit zur Entstehung sozialer Ungleichheit beiträgt, in dem sie als individuelles Erfahrungswissen angeeignete Bildung nach ihren gesellschaftlichen Verwertungskriterien bewertet. Die hier skizzierte, sozialstrukturell orientierte Sozialisationsforschung ist nur eine Perspektive, von der aus der Zusammenhang von Sozialisation, Erziehung und Bildung untersucht werden kann. Tatsächlich finden sich vor allem in der Lebensverlaufs- und Risikofaktorforschung genügend Beispiele dafür, wie der unterschwelligen Normativität empirischer Analysemodelle begegnet werden kann, wenn das Zusammenwirken von Sozialisation, Erziehung und Bildung aus der Perspektive sich entwickelnder Individuen entfaltet wird und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Die Lebensverlaufs- und Risikofaktorforschung richtet ihr Augenmerk nämlich darauf, wie sich bestimmte Sozialisations- und Erziehungsbedingungen auf die Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen und individuelle Lebensführungsoptionen auswirken, wobei zusätzlich die sozialen Kontextbedingungen variiert werden können. Dennoch basieren die Forschungen auch auf der normativen Annahme einer „idealen“ Persönlichkeitsentwicklung, die sich in der Regel an Kriterien einer „erfolgreichen“, d.h. selbstständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung bemessen (Elder 1974). Der damit einhergehenden Gefahr einer implizit normativen Deutung der Befunde wird durch Variation von Kontext und abhängigen Variablen begegnet. Diese Normativität zeichnet jedoch alle sozialwissenschaftlichen Forschungen aus und erfordert eine systematische „kritische“ Analyse, bei der die den Analysen zugrundeliegenden normativen Annahmen ausgewiesen werden. Damit werden die eingangs formulierten Prozesse in den Blick genommen, über die sich Individuen selbst an ihre Bezugsgruppe binden. Mit deren Hilfe nämlich erwerben sie Handlungsbefähigungen, die in ihren spezifischen Lebenswelten gefordert und wertgeschätzt werden und erarbeiten dabei auch durchaus kreative Entwicklungspotentiale. Mehr noch: Die Forschungen ermöglichen es auch, Verwerfungen und Entwicklungshemmnisse aufzudecken, die durch institu-
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tionelle Reglementierungen und sozialstrukturelle Ungleichheiten sowie durch den Wandel von Sozialstrukturen oder durch gesellschaftliche Krisen entstehen. Solche Verwerfungen lassen sich anschaulich an der Debatte über die mangelnde Erziehungskompetenz von Alleinerziehenden bzw. Scheidungseltern verdeutlichen. Vor dem Hintergrund des bis in die 1970er Jahre vorherrschenden bürgerlichen Familienmodells wurde angenommen, dass so genannte „unvollständige“ Familien ihre Erziehungsaufgabe nicht oder nur unzureichend erfüllen können. Folglich wurde postuliert, dass das Aufwachsen in Eineltern- oder gar Scheidungsfamilien die kindliche Entwicklung hemme, wobei das Sozialverhalten und der Bildungserfolg als Beleg für eine solche These angeführt wurden. In empirischen Untersuchungen ließen sich die postulierten Effekte jedoch nicht nachweisen. Zwar ließen sich bisweilen negative Effekte bei Kindern aus den genannten Familien auf das Sozialverhalten und den Bildungserfolg nachweisen, allerdings war dies weitgehend durch andere Einflüsse erklärbar und auch im zeitlichen Verlauf der Familienentwicklung nicht durchgängig zu bestätigen. Vor allem ökonomische Deprivation, der Alleinerziehende und ihre Kinder ausgesetzt sind, Spannungen im Beziehungsgefüge, damit korrespondierende Scheidungsfolgen sowie Diskriminierungen in der Schule stellten sich als Ursache für die emotionale Belastung, das Problemverhalten bzw. die schlechten Schulleistungen der Kinder aus Eineltern- und Scheidungsfamilien heraus (Walper 1997; Brooks-Gunn und Duncan 1997). Die Forschungen zeigen also in toto, dass eine weitaus konkretere Erfassung von Sozialisations- und Erziehungsbedingungen erforderlich ist, wenn Sozialisations- von Selektionseinflüssen im Bildungserwerbsprozess trennscharf erfasst werden sollen. In den Blick kommen müssen dabei aber auch die familialen Kommunikationsmuster, Konfliktlösungskompetenzen, Prozesse der Beziehungsgestaltung und alle Formen der personalen Anerkennung (vgl. dazu Grundmann 2006). Auch elterliche Vorstellungen über die Persönlichkeitseigenschaften, die sie für eine erfolgreiche Lebensführung erachten und die sie ihren Kindern nahebringen wollen, sind Gegenstand der Untersuchung sozialisatorischer Praxen. Dass diese Vorstellungen nach kulturellem und religiösem Hintergrund, nach sozialem Milieu sowie entlang der spezifischen Anforderungen an die alltägliche Lebensbewältigung variieren, ist evident. Die Einsicht in die große Variabilität von Sozialisationspraxen, in die unterschiedlichen Wirkungsweisen von Erziehung und in die Vielfalt der Bildungsprozesse, denen Menschen ausgesetzt sind, würde also durch eine differenzierte Analyse genau jener Prozesse befördert, die sich unter anderem im Rahmen der sozialökologischen Sozialisationsforschung bereits entwickeln konnten (vgl. Grundmann und Lüscher 2000; siehe dazu auch das Themenheft 3/2006 der ZSE). Bislang führte dies bereits zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Lebensverlaufsforschung (Mayer 1990; Moen et al. 1995; Moen 2006) und damit zu Analysemodellen, mit deren Hilfe die personale Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg im Kontext konkreter sozialer Beziehungen untersucht werden konnte (Baltes und Brim 1984; Silbereisen et al. 1986; Silbereisen 2006). Die empirischen Befunde belegen, dass durch die Bindung an Bezugspersonen in konkreten Sozialisationspraxen etwa ökonomische Deprivationen und Trennungserfahrungen bewältigt werden können und dass der Zusammenhang von Sozialisation, Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung (also Bildung) nicht einfach in kausale Analysemodelle überführbar ist. Der Grund dafür liegt in ihrer enormen zeitlichen und strukturellen Dynamik begründet, die dadurch entsteht, dass sich im Laufe der Zeit Bezugspersonen und Beziehungsstrukturen ändern. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich enorme soziokulturelle Variationen
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in den Ausprägungen und den Wirkungsweisen von Sozialisationsbedingungen und Erziehungspraxen nachweisen lassen.12 Die Fruchtbarkeit einer dynamischen Analysestrategie konnte Elder (1974) anhand der Auswertung mehrerer Längsschnittstudien illustrieren, in denen er die unterschiedlichen Einflüsse der Weltwirtschaftskrise auf das Beziehungsklima, auf die familialen Interaktionen und auf den individuellen Lebensverlauf von Eltern und Kindern unterschiedlicher Geburtskohorten und sozialer Schichten untersuchte. Elder erkannte, dass die Möglichkeiten der Bewältigung von Krisen vom jeweiligen Alter sowie von den sozialen Ressourcen der Akteure abhängen und darüber hinaus vom Maß der sozialen Unterstützung durch Bezugspersonen beeinflusst werden. In mehreren Einzeluntersuchungen (zusammenfassend siehe Elder und Caspi 1990) konnte er zudem nachweisen, wie sehr die Einschätzung der konkreten Lebenssituation und der individuellen und sozialen Handlungsmöglichkeiten auch mit gesamtgesellschaftlichen und milieuspezifischen, also nicht allein individuellen Ressourcen korrespondiert – und wie wichtig es dabei gleichwohl ist, die mikrosozialen und persönlichen Ressourcen in die Analyse einzubeziehen. Die dargestellten Kausalmodelle wurden dabei in „Submodelle“ aufgeteilt, mit denen zum einen die konkreten sozialisatorischen Interaktionen in der Familie (etwa zwischen den Eltern, den Eltern und ihren Kindern sowie den Kindern) unter Krisenbedingungen (z.B. Arbeitslosigkeit, Trennung der Eltern, Flucht etc.) untersucht werden können, zum anderen aber auch die situativen Bedeutungen etwa der spezifischen Erziehungspraxen für die Krisenbewältigung sowie darüber hinaus die Konsequenzen, die sich daraus für die Persönlichkeitsentfaltung ergeben und die insofern auch für Bildungsprozesse von Bedeutung sind (vgl. auch Grundmann 1992). Elder konnte auf diese Weise den Nachweis erbringen, dass, obwohl Sozialisation, Erziehung und Bildung in hohem Maße miteinander verwoben sind, sie dennoch häufig sehr eigensinnige Effekte hervorbringen. Auf diese Weise konnte er zeigen, dass jede normative Bewertung von Sozialisations-, Erziehungs-, und Bildungsprozessen unangemessen ist und eine sinnvolle Analyse ihrer Bedeutung für die Betroffenen eine differenzielle Betrachtungsweise erforderlich macht. So stellte sich das Festhalten an Geschlechterrollen und bestimmten Erziehungspraxen in Zeiten ökonomischer Deprivation mitunter als geradezu nachteilig heraus, weil diese eine flexible Umgestaltung der Familienbeziehungen (z.B. die Übernahme einer Erwerbsrolle durch die Mutter) erschwerten. Damit nicht genug: Der Umgang mit den Krisensituationen (als spezielles Merkmal von Sozialisation in der Familie) belastete in vielen Fällen auch das Familienklima und konnte in Folge davon auch zu ungewöhnlichen Erziehungspraxen führen (z.B. zu besonders autoritärem Verhalten der Eltern gegenüber den Kindern oder aber zum Verlust ihrer Autorität). Diese Erziehungspraxen belasteten die Familiensituation zusätzlich mit der Konsequenz, dass die Heranwachsenden verunsichert wurden, was sich wiederum auf ihre individuelle Entwicklung auswirkte und sich mitunter auch in Bildungsbenachteiligungen niederschlagen konnte. Elders Studien zeigen demnach, wie sich spezifische Krisenerfahrungen auf die individuellen Lebensverläufe der Betroffenen auswirken können und wie negative Erfahrungen und ungünstige Entwicklungsbedingungen – z.B. durch Erkenntnisprozesse und den Erwerb von Bildungsabschlüssen – kompensiert oder aber zur lebenslangen Belastung werden können. 12 Besonders deutlich wird das daran, dass – je nach sozialem Kontext – selbst für scheinbar restriktive Bedingungen entwicklungsförderliche Einflüsse und für scheinbar vorteilhafte Bedingungen auch entwicklungshemmende Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung nachgewiesen werden können.
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Als wichtiges Kriterium für die „Wirkung“ von Sozialisationsbedingungen und Erziehungspraxen haben sich mittlerweile in vielen vergleichbaren Untersuchungen die „situative Angemessenheit“, die „personale Akzeptanz“ sowie die „Erfahrung der individuellen Handlungswirksamkeit“ herausgestellt (vgl. Fuhrer 2005). Diese Faktoren sind es, die jenseits der spezifischen Kontextbedingungen die Qualität einer Praxis von Sozialisation und Erziehung ausmachen, die sich in der wechselseitigen Unterstützung und gemeinsamen Lebensbewältigung äußert. Solche Unterstützungen ermöglichen auch eine angemessene, d.h. dem Entwicklungsstand Heranwachsender entsprechende Förderung (Oerter 2002) – etwa, indem Heranwachsende gezielt und ihren persönlichen Entwicklungspotentialen angemessen bei Prozessen der Bewältigung und Leistungserbringung angeleitet und begleitet werden. Damit werden Vorstellungen von Erziehung als Belehrung umgewandelt in solche, die das Prozessieren von Lernen durch Lehren in den Mittelpunkt rücken (Rogoff et al. 1993). Vor allem unter der Bedingung dieses Perspektivenschwenks werden Prozesse des selbstgesteuerten Lernen und der eigenständigen Lebensbewältigung gefördert, die für eine selbstständige Lebensführung, vor allem in individualisierten Gesellschaften, erforderlich sind.
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Ausblick: Zur Entzauberung von Sozialisation, Erziehung und Bildung
Die beschriebene Situation verdeutlicht, wie sehr Sozialisation, Erziehung und Bildung von normativen Vorstellungen über ihren Einfluss auf die Entwicklung von Person und Gesellschaft abhängen. Damit einher geht leider nur zu oft eine gesellschaftliche Funktionalisierung von Bildung, Erziehung und Sozialisation, die in modernen, individualisierten Gesellschaften zu einer Subordination von Sozialisations- und Erziehungsprozessen unter das Diktat eines semantisch seinerseits stark schwankenden Bildungsbegriffs geführt hat. Aufgabe der empirischen Forschung ist es, die hierin verborgenen, implizit normativen Prägungen und Interessen aufzudecken und die differentielle Bedeutung von Sozialisation, Erziehung und Bildung für die individuelle Lebensführung herauszuarbeiten bzw. deren spezifische Qualität für die gesellschaftliche Reproduktion transparent zu machen. Die Aufgabe, die sich stellt, ist, zwischen Sozialisation und Selektion zu unterscheiden und jene Effekte von Erziehung und Bildung herauszuarbeiten, die der sozialisatorischen Interaktion und die den institutionellen, mithin gesellschaftlichen Bewertungskriterien geschuldet sind, die Selektionsprozessen zugrunde liegen. Auf diese Weise, so sollten die Ausführungen gezeigt haben, lassen sich begriffliche Unschärfen aufdecken, die sich durch die synonyme Verwendung der Begriffe Erziehung und Sozialisation bzw. Sozialisation und Bildung ergeben. Zugleich lassen sich die differentiellen Effekte von Erziehung und Bildung als Teil von Sozialisation und als Teil einer gesellschaftlichen Selektionsdynamik identifizieren. Das ist z.B. für die Entschlüsselung der strukturellen Funktion von Bildung und Erziehung und ihrer Bedeutung für die Reproduktion sozialer Ungleichheit bedeutsam; zum anderen lässt sich so, mit Blick auf ihre Ressourcen, ihre Bindekraft für die Aufrechterhaltung der sozialen Wohlfahrt identifizieren. Bei all dem muss die empirische Forschung stets ideologiekritisch verfahren und ihre eigenen Annahmen über die Qualität ihrer Messungen sowie die von ihr erwarteten und erwartbaren „Wirkungsweisen“ der gemessenen Variablen hinterfragen. Diese notwendig
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ideologiekritische Reflexion wird auch deshalb erforderlich sein, weil gerade Sozialisationsbedingungen und Erziehungspraxen eine enorme soziokulturelle und historische Variabilität aufweisen. Daher lassen sich über Qualität und Relevanz der jeweiligen Rahmenbedingungen und Praxen kaum universelle Aussagen machen – außer vielleicht, dass sie immer schon auf eine politisch-weltanschauliche Positionierung verweisen, die leider nur zu oft dem Postulat von Wertfreiheit und Objektivität widerspricht. Dabei unterliegt vor allem die Erziehungs- und Bildungsforschung dem Diktat, die Funktionalität von Erziehung und Bildung, also ihren gesellschaftlichen Wert oder sogar ihr Surplus, als Bedingung ihrer eigenen Existenz aus- und nachzuweisen. Am Beispiel der empirischen Bildungsforschung lässt sich anschaulich illustrieren, wie schwer ihr unter diesen Bedingungen eine kritische Analyse fällt, die zudem ein gerüttelt Maß an Selbstreflexivität für sich reklamieren kann. Von daher darf auch der Suche nach neuen, den gesellschaftlichen Verhältnissen angepassten Erziehungsidealen eine gesunde Skepsis entgegengebracht werden. Dieser Skepsis wird gleichwohl und auch unter dieser schwierigen Voraussetzung vermutlich am ehesten gerecht, wer Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozesse aus der Perspektive sich entwickelnder Individuen und nicht aus einer allein „gesellschaftsförderlichen“ Perspektive analysiert. Die damit einhergehende kritische Bestimmung der Begriffstriade Sozialisation, Erziehung und Bildung ermöglicht es, gesellschaftliche Verwerfungen und Funktionalisierungen aufzudecken, denen jene sozialen Prozesse unterliegen, die mit eben diesen Begriffen beschrieben werden. Auf diesem Pfade könnte die empirische Bildungsforschung neue Einsichten in die Gestaltungsmöglichkeiten schulischer Bildung eröffnen und die Verwerfungen in den individuellen Bildungserwerbsprozessen aufzeigen, die vor allem einer normativ-restriktiven Bildungspolitik geschuldet sind. Auch wenn hieraus resultierende Erkenntnisse nur marginale Chancen auf bildungspolitische Umsetzung haben, so würden sie doch zu einer Verdichtung reformpädagogischen Handlungswissens beitragen, das quasi „von unten“ – also von der konkreten pädagogischen Praxis aus – seine Wirkung entfaltet. Die empirische Sozialisationsforschung deckt gemeinhin Probleme auf, die sich durch gesellschaftliche Krisen, durch ökonomische Deprivationen oder durch Diskriminierung und Exklusion für die Aufrechterhaltung von Sozialbeziehungen ergeben. Sie weist darüber hinaus auch Wege auf, wie sich durch kollektive Bindungen in Familien, Verwandtschaftsnetzen, in Freundes- und Kollegenkreisen, in Vereinen und Nachbarschaftsinitiativen Formen sozialer Unterstützung bilden, die zur Alltagsbewältigung selbst unter widrigen gesellschaftlichen Verhältnissen beitragen. Auch dies ist wichtiger Bestandteil von Bildung. Die Forderung nach Abkehr von einer strukturfunktionalen Orientierung in Bildungsforschung und Bildungspolitik sowie die damit einhergehende Analyse von Ressourcen auf der einen und Verhinderungsursachen und -merkmalen auf der anderen Seite der sozialisatorischen Demarkationslinie würde vermutlich deutlicher noch als bisher den Nachweis dafür erbringen, wie wichtig kollektive Handlungsbezüge für die Identitätsentwicklung und die Aufrechterhaltung menschlicher Wohlfahrt in toto sind. Dass hierzu vor allem die Abkehr von einer undifferenzierten Verwendung der Begriffstriade „Sozialisation – Erziehung – Bildung“ nötig ist, dürften die Ausführungen gezeigt, zumindest aber konturiert haben. Dass in ihrem Kern stets vor allem die sozialisatorische Praxis, das Leben selber also in all seinen Facetten und mit all seinen Höhen und Tiefen, steht, dies sollte dabei niemals übersehen werden. In diesem Sinne lassen sich die vorliegenden Überlegungen gut mit einem Zitat von Rousseau abrunden, in dem die aufgeworfene kritische Begriffsbestimmung bereits angelegt ist: „Nach meiner Meinung ist der am besten erzogen, der die Freunden und Lei-
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den dieses Lebens am besten zu ertragen vermag. Daraus folgt, dass die wahre Erziehung weniger vorschreibt, als praktisch übt“ (Rousseau 1995: 15).
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Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten Rolf Becker
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Soziale Ungleichheit von Bildungschancen und Bildungsungleichheit
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veau der sozialen Herkunft“ (Müller und Mayer 1976: 25). Das Bildungssystem solle hochselektiv sein, um das knappe Gut besonderer Talente (auch in den negativ privilegierten Sozialschichten) optimal zu fördern, aber bei der notwendigen Auslese im Bildungssystem sollten soziale Herkunft, Geschlecht, Religion etc. keinen Ausschlag für den späteren Bildungserfolg geben. Die liberale Sichtweise (z.B. Dahrendorf 1965) geht von einer geringeren Abhängigkeit der Fähigkeiten von der sozialen Herkunft und zudem davon aus, dass Chancengleichheit erreicht werden könne, wenn ökonomische, geographische und institutionelle Barrieren beseitigt werden, welche Arbeiterkinder von der Wahrnehmung höherer Bildung abhalten, und wenn leistungsbezogene Kriterien den Bildungserfolg und die Statuszuweisung nach erworbener Bildung erfolge (Müller und Mayer 1976: 25). Bei diesem Verständnis von formaler Chancengleichheit wird also nicht die ungleiche Verteilung von Bildungsabschlüssen zwischen gesellschaftlichen Großgruppen wie etwa sozialen Schichten, ethnischen Gruppierungen oder Religionsgemeinschaften im Sinne ungleicher Bildungsergebnisse verstanden. Denn ungleiche Bildungsergebnisse müssen nach dem meritokratischen Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nicht unbedingt und in jedem Fall auch ungerecht oder ungerechtfertigt sein, denn nachweisliche Unterschiede in den erbrachten Leistungen sollen zu unterschiedlichem Bildungserfolg führen.2 In der politischliberalen Konzeption wird Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit bereits als gegeben angesehen, wenn gleiche Zugangschancen zum Bildungssystem gewährt werden. Wenn aber gefordert wird, dass jedem Kind ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen seiner Eltern der Bildungsweg offenstehen müsse, der seiner Bildungsfähigkeit entspräche, und dass Bildungserfolge ausschließlich von individuellen Fähigkeiten, Anstrengungen, Leistungen und Motivationen abhängen solle, dann wird – abgesehen davon, dass es überaus schwierig ist, Fähigkeiten und Motivationen als natürliche Begabung sowie Anstrengungen und Leistungen im Bildungssystem zu messen (Müller und Mayer 1976: 26; Solga 2005) – nicht darauf eingegangen, dass Fähigkeiten, Motivationen, Anstrengungen und Leistungen an die soziale Herkunft gekoppelt sind (Becker 2004; Heid 1988; Coleman 1975). Es bleibt unberücksichtigt, ob die Bildungsfähigkeit von der sozialen Herkunft abhängt, und schon zum Eintrittszeitpunkt in die Schule ungleiche Lernvoraussetzungen bestehen, wonach Kinder aus privilegierten Sozialschichten über bessere Startchancen beim Bildungswettbewerb als beispielsweise Arbeiterkinder verfügen. Zu Recht wird auch von Ditton (2008) darauf hingewiesen, dass bei dieser liberal-konservativen Sichtweise von Chancengleichheit unklar ist, ob die Schule überhaupt einen Auftrag hat, bestehende Ungleichheiten von Startchancen auszugleichen (vgl. Coleman 1975). Weil Lernvoraussetzungen und daran gekoppelte Startchancen nicht unabhängig von der sozioökonomischen Lage des Elternhauses sind 2 Daher ist die in der Erziehungswissenschaft oftmals anzutreffende Forderung ungerechtfertigt, repräsentative Chancengleichheit in Form gleicher Bildungsergebnisse herzustellen, wonach unter den erfolglosen Individuen und Gruppen im Bildungswettbewerb die Gesamtbevölkerung und nicht ausschließlich eine spezifische Sozialgruppe repräsentiert wird. Im Bestreben, repräsentative Chancengleichheit durch die Umverteilung oder die repräsentative Quotierung nach der Einteilung in Sozialschichten herzustellen, ändert nichts am Fakt der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen, wenn ein Akademikerkind schulisch und sozial absteigen muss, damit ein Arbeiterkind aufsteigen kann. Denn eine Umverteilung von Privilegien bleibt wiederum eine sozial selektive Verteilung von Privilegien, nur dass eben eine Veränderung der Zusammensetzung von Verteiltem stattfindet, aber am Prinzip – sprich an den Kriterien, Gründen, Bedingungen, Prozessen und Mechanismen der Erzeugung von Ungleichheiten ändert sich nichts, außer dass die die Opfer der Umverteilung für ihre Misere verantwortlich gemacht werden („denen muss geholfen werden, weil sie es sonst nicht selbst schaffen“). Durch diesen Versuch, Chancengleichheit herstellen zu wollen, wird Chancenungerechtigkeit statt fairer Chancen hergestellt (vgl. Heid 1988).
Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten
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(Becker 2004), würde eine formale Chancengleichheit einen hohen Grad an Chancenungleichheit zwischen den sozialen Schichten und ihre dauerhafte Festschreibung bedeuten (Müller und Mayer 1976: 26-27). Eine formale Gleichbehandlung von Schulkindern mit ungleichen Startchancen würde eine weitere Spreizung der Leistungen und der daran gekoppelten Bildungserfolge und damit eine zunehmende Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft mit sich bringen. Da die Merkmale von Individuen im Bildungssystem, auf die sich die universalistischen Selektionskriterien, die sowohl von der liberalen als auch von der konservativen Sicht gefordert werden, mit der sozioökonomischen Lage des Elternhauses korrelieren, ergibt sich nach jeder Selektion bei den einzelnen Übergängen im Bildungssystem eine zunehmende Chancenungleichheit nach sozialer Herkunft. Die Herstellung formaler Chancengleichheiten dürfte zwar zu mehr Bildungschancen und höheren Bildungsbeteiligungen führen, aber nicht zu weniger Ungleichheit im Bildungssystem oder gar Chancengerechtigkeit (siehe Coleman 1968). Eine andere Sichtweise in Bezug auf Chancengleichheit bzw. Chancengerechtigkeit impliziert das Modell der statistischen Unabhängigkeit (Müller und Mayer 1976: 27): Chancengleichheit im Sinne des Modells der statistischen Unabhängigkeit heißt, dass jedes Schulkind unabhängig von dessen sozialer Herkunft die gleiche Startchance im Bildungssystem haben soll. Demnach sollten Kinder „nicht aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft von vornherein ungleiche Chancen haben (...)“ und „Chancengleichheit (wäre) dann erreicht (...), wenn Unterschiede zwischen großen sozialen Gruppen sich nicht mehr in den Bildungs- und Berufschancen von Kindern auswirken würden“ (Müller und Mayer 1976: 27). Hierbei weisen Müller und Mayer (1976) darauf hin, dass das Postulat der Chancengleichheit nicht die Gleichheit von Bildungserfolgen – die Ergebnisgleichheit (Handl 1985) – impliziere, aber auch nicht die formale Chancengleichheit. Im Gegenteil: Erfolg wie Misserfolg im Bildungssystem dürfen nicht von vornherein über die soziale Herkunft vorhersagbar sein. Im Sinne des Prinzips der Chancengerechtigkeit müssen sowohl gleiche Wettbewerbsbedingungen als auch gleiche Erfolgschancen garantiert sein: Bildungsergebnisse können ungleich sein, aber nur sollen sich die Unterschiede nicht von vornherein auf unterschiedliche Herkunftsgruppen beziehen, sondern in gleicher Weise innerhalb von Herkunftsgruppen zum Tragen kommen (Ditton 2008). Statistisch formal gesprochen heißt das: Es soll nicht möglich sein, aufgrund der sozialen Herkunft vorhersagen zu können, ob eine Person beim Bildungszugang und Erwerb von Bildungsabschlüssen erfolgreich ist oder scheitert. Beim inhaltlichen Konzept der Chancengleichheit ist – so Müller und Mayer (1976) – der Prozess des ungleichen Bildungszugangs zu betrachten, über welchen die unterschiedlichen Startchancen und Bildungsergebnisse zustande kommen (Becker 2004; Breen und Jonsson 2005). Es geht also um die Angleichung der tatsächlichen Voraussetzungen für den Bildungserwerb und damit der Möglichkeiten, die gebotenen Bildungschancen wahrnehmen zu können. Da aber – abgesehen von den institutionellen Voraussetzungen formaler Chancengleichheit – die sozioökonomische Ungleichheit ein Faktum ist, kommt Coleman (1975: 29) zum Schluss, dass die (politische) Forderung nach Chancengleichheit utopisch ist und „Equality of educational opportunities“ ein fehlerhaftes wie irreführendes Konzept sei – fehlerhaft, weil es diese Forderung nach Chancengleichheit an gleiche Lerngelegenheiten im Bildungssystem festmache und irreführend, weil Chancengleichheit an sich wegen bestehender Ungleichverteilungen von sozioökonomischen Ressourcen nicht erreichbar sei. Es könne daher nicht um das Streben nach Chancengleichheit, sondern nur um die
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Reduktion von Chancenungleichheiten gehen (Coleman 1968: 21). Wenn es nicht möglich ist, den Kindern gleiche, von sozialer Herkunft unabhängige Chancen zu garantieren, dann müsse die Schule verstärkt in die Pflicht genommen werden, für die schulischen Leistungen und Bildungserfolge zu sorgen, dass bestehende Ungleichheiten von Lernvoraussetzungen ausgeglichen werden (Coleman 1968: 22). Dafür sprechen auch empirische Fakten: Geht man dann von einer interpersonalen Ungleichheit von Lernvoraussetzungen aus, die mit der Kopplung von individuellen Fähigkeiten, Motivationen, Anstrengungen und Leistungen an die soziale Herkunft zusammenhängt, dann verstärken gleiche Lerngelegenheiten im Bildungssystem diese bereits bestehenden Ungleichheiten und tragen somit zur Steigerung sozialer Ungleichheit von Bildungschancen bei (vgl. Coleman et al. 1966; Heid 1988). Sind bei ungleichen Lernvoraussetzungen auch die Lerngelegenheiten ungleich verteilt, dann können ungünstige Lerngelegenheiten bestehende Ungleichheiten bei den Lernvoraussetzungen verstärken, so dass die Verteilung von Bildungsergebnissen dadurch noch ungleicher wird als im Falle gleicher Lerngelegenheiten. Werden keine entsprechenden Maßnahmen getroffen, dann setzen sich die ungleichen Lernvoraussetzungen unmodifiziert in ungleiche Bildungserfolge um. Wird jedoch ein kompensatorischer Unterricht angeboten, der ungleiche Lernvoraussetzungen bei den Schulkindern berücksichtigt, dann kann tendenziell eine weniger ungleiche Verteilung von Bildungsergebnissen erzielt werden (vgl. Downey et al. 2004; Entwisle et al. 1997). So gesehen erzeugen ungleiche Lerngelegenheiten auch ungerechtfertigte, weil nicht auf individuellen Leistungen beruhende Chancenungleichheit und können diese je nach Art der Lerngelegenheiten gar verstärken oder abschwächen. Entscheidend ist nach Heid (1988), dass die Voraussetzungen beim Start des Wettbewerbs ungleich sind und auch die Bedingungen des Wettbewerbs ungleich sein können, die zum problematischen Fall einer ungerechtfertigten und in der Regel illegitimen Chancenungleichheit beitragen. In dieser Hinsicht vertritt Coleman (1968, 1975) die Maxime der Chancengleichheit, die Bedingungen des Lernens in der Schule so zu organisieren, dass alle Schulkinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und anderer (leistungsfremder) Merkmale sind, die gleiche Aussicht auf Bildungserfolge haben, da Bildung kein Selbstzweck ist, sondern Mittel für die Realisierung von individuellen Lebenschancen und gesellschaftlicher Integration. Betrachtet man jedoch die empirischen Befunde zu den Bildungschancen in Deutschland, dann scheinen sich weder die Schulen noch die Hochschulen in Richtung auf das von Coleman (1975) geforderte Ziel bewegt zu haben, soziale Ungleichheit von Bildungschancen zu reduzieren. Noch immer wirken sich die sozioökonomischen Ungleichheiten außerhalb des Bildungswesens weitaus stärker auf individuelle Bildungschancen aus als korrigierende oder kompensierende, von den Bildungsinstitutionen ausgehende Einflüsse (Becker und Schubert 2006; Becker 2006).
2
Gleichzeitigkeit von Bildungsexpansion und sozialer Ungleichheit von Bildungschancen
Wie wird Bildungsungleichheit in der empirischen Bildungssoziologie abgebildet? Die auf die soziale Herkunft bezogene Bildungsungleichheit beschreibt die Schichtabhängigkeit der Beteiligung auf verschiedenen Bildungsinstitutionen und äußert sich als „(…) ungleiche Bildungsbeteiligung, die mit den ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen des Elternhauses einer Person in Zusammenhang steht und als deren konkrete Indikatoren die
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materielle und soziale Lage, Schicht- oder Klassenzugehörigkeit, die sozialen Beziehungsnetze sowie das Bildungsniveau der Eltern betrachtet werden können“ (Müller et al. 1997: 219). Um Bildungsungleichheiten bezogen auf das Ergebnis zu berücksichtigen, verstehen Müller und Haun (1994: 3) unter Bildungsungleichheit „(...) Unterschiede im Bildungsverhalten und in den erzielten Bildungsabschlüssen (beziehungsweise Bildungsgängen) von Kindern, die in unterschiedlichen sozialen Bedingungen und familiären Kontexten aufwachsen“. Die soziale Ungleichheit im Bildungsergebnis, also in den erzielten Bildungsabschlüssen, ist in der empirischen Bildungsforschung deswegen von besonderem Interesse, weil sie indiziert, inwieweit Bildungsungleichheiten zur sozialen Ungleichheit von Berufsund Einkommenschancen nach sozialer Herkunft und zur Reproduktion ungleicher Lebenschancen in der Klassenstruktur beitragen (Müller 1975; Mayer und Blossfeld 1990). In der empirischen Bildungssoziologie wird Bildungsungleichheit eher unter dem Aspekt sozialer Ungleichheit von Bildungschancen (inequality of opportunities) als unter dem Gesichtspunkt sozial ungleicher Bildungsergebnisse (inequality of results) betrachtet, die dann als statistische Randverteilung der Bildungsabschlüsse für bestimmte Sozialgruppen analysiert wird (Breen und Jonsson 2005). Im Folgenden wird der erste Aspekt fokussiert. Die soziale Ungleichheit im Bildungsprozess, die den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistung misst, ist erst in den letzten Jahren im Zuge der international vergleichenden Schulleistungsstudien wie PISA, PIRLS oder TIMSS wieder in den Bereich der empirischen Bildungssoziologie getreten (Becker 2007a; Becker und Schubert 2006; Becker 2004). In diesen und weiterführenden Studien wird gezeigt, dass sowohl der Kompetenzerwerb als auch die schulischen Leistungen mit der sozialen Herkunft korrelieren (Baumert und Schümer 2002; Jungbauer-Gans 2004).3 Betrachten wir für Westdeutschland die Bildungsbeteiligung in den weiterführenden Schullaufbahnen der Sekundarstufe I im Zeitraum von 1952 bis 2004 (Abbildung 1): Die gestiegene Beteiligung an weiterführender und höherer Schulbildung beschreibt den Prozess der Bildungsexpansion in der Nachkriegszeit. Von Anfang der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre ist der Anteil der 13-jährigen Schulkinder, die im Anschluss an die Primarstufe die Hauptschule besucht haben, von 79 auf 66 Prozent gesunken, während der Besuch der Realschule von 6 auf 13 Prozent und der Besuch des Gymnasiums von 12 auf
3
Nicht dass die 15-jährigen Deutschen im internationalen Vergleich von Leseleistungen und anderen Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaften so ungünstig abgeschnitten haben, ist das erstaunliche Ergebnis der internationalen Leistungsvergleichsstudie PISA 2000 und der nachfolgenden Erhebungen in den Jahren 2003 und 2006, sondern die enorme soziale Disparität der Lesekompetenzen bei unterdurchschnittlichen Leseleistungen im Ländervergleich. Demnach gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Verteilung von Lesekompetenzen dergestalt, dass Kinder aus Elternhäusern mit geringen sozioökonomischen Ressourcen eine geringere Performanz als die altersgleichen Kinder aus höheren Sozialschichten aufweisen, wobei sich die Verteilungen individueller Leseleistungen in unterschiedlichen Schulformen überlappen. Den Ergebnissen von PISA 2000 zufolge sind für 15-jährige Jugendliche diese Korrelationen am stärksten für Länder wie Deutschland, Schweiz und Belgien (Baumert und Schümer 2001). Dieser Zusammenhang bleibt übrigens auch dann für diese Länder bestehen, wenn die Kinder von Migranten bzw. mit einem Migrationshintergrund, die zudem weitaus ungünstigere Lesekompetenzen als Einheimische aufweisen, von der Berechnung für Mittelwert und Streuung der Lesekompetenzen ausgeschlossen werden (Baumert und Schümer 2001). Zudem bestehen wie für die Einheimischen auch für die Migranten ähnliche Zusammenhänge von sozialer Herkunft und Lesekompetenzen, wobei die spätere Einschulung in das deutsche Schulwesen und die ungünstigen Lernvoraussetzungen bzw. -bedingungen die Schlechterstellung der Migranten bei den Leseleistungen ausmachen (Ammermüller 2005). Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz ist die „Risikogruppe“ der leistungsschwachen Schulkinder mit prekären Leseleistungen relativ groß.
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16 Prozent gestiegen ist. Bis 1990 ist der Hauptschulbesuch weiter auf 31 Prozent und bis 2004 auf 22 Prozent gesunken. Abbildung 1:
Bildungsbeteiligung im Wandel – 13-jährige Schulkinder in weiterführenden Schullaufbahnen der Sekundarstufe I (Westdeutschland, 1952-2004)
100
90
80
79
70
60
50
Gymnasium
40 33 30
Realschule
26 22
20
10
Hauptschule Gesamtschule
12 9 6 4
2
0 1950
1 1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Sonderschule
2005
Datenbasis: Gesis-ZUMA System sozialer Indikatoren für die Bundesrepublik Deutschland – eigene Darstellung (Becker 2008a)
Hingegen besuchten im Jahre 1990 rund 31 Prozent der 13-Jährigen das Gymnasium und 27 Prozent die Realschule. Während bis 2004 der Gymnasiastenanteil in dieser Altersgruppe weitgehend unverändert geblieben ist, ging der Anteil der Übergänge in die Realschule geringfügig auf 26 Prozent zurück. Deutlich gestiegen ist auch die Bildungsbeteiligung im Gymnasium: In der Zeit von 1971 bis 2000 ist der Anteil der 13-Jährigen, die auf die Gesamtschule gewechselt sind, auf 10 Prozent angestiegen. In der gleichen Zeit ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die ohne Hauptschulabschluss als Mindestqualifikation von der Schule abgegangen sind, von 16 auf 9 Prozent zurückgegangen (zu Details: siehe Solga und Wagner 2001, 2008; Klemm 1991). „Die enorme Bildungsexpansion in den vergangenen Jahrzehnten (…) ist im öffentlichen Bewusstsein weithin als Erfolg durchgesetzter Chancengleichheit verstanden worden“ (Friedeburg 1997: 45). Zu Recht weist Friedeburg (1997) darauf hin, dass diese Deutung der Bildungsexpansion die unterschiedliche Entwicklung relativer Bildungschancen in den einzelnen Bevölkerungsgruppen verkenne. Diese Fehlinterpretation kommt dadurch zustande, dass die prozentualen Randverteilungen für die einzelnen Sozialschichten in den Bildungskategorien betrachtet werden. Da aber Chancengleichheit nicht die Gleichheit von
Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten
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Bildungsergebnissen im Sinne der Gleichverteilung von Bildung meint, kann nach Handl (1985) auch die Chancenungleichheit nicht anhand der Verteilungsungleichheiten in Bildungswegen oder Bildungskategorien beurteilt werden. Vielmehr ist – wie bereits oben gesehen – beim inhaltlichen Konzept der Chancengleichheit der Prozess des ungleichen Bildungszugangs zu betrachten, über welchen die unterschiedlichen Startchancen und Bildungsergebnisse zustande kommen (Handl 1985: 703). In statistischer Hinsicht sind statt des Vergleichs von Prozentsätzen und Prozentsatzdifferenzen die relativen Chancen (odds ratios), gemessen am Verhältnis von Chancen für unterschiedliche Gruppen, zu betrachten. Denn Prozentsätze und ihre Veränderungen reflektieren lediglich die Größenordnungen der Bildungskategorien, und sind nicht vom relativen Verhältnis zweier Gruppen im Zugang zu den Bildungskategorien abhängig. Hingegen berücksichtigen Prozentsatzverhältnisse im Unterschied zu den Prozentsatzdifferenzen „Chancenungleichheiten“ in ihrer reinen Form, da ausschließlich die Allokationsprozesse der betroffenen Personen im Vordergrund stehen (Handl 1985: 709). Aufgrund dieser methodischen Bedenken werden nunmehr die Chancenverhältnisse als Maßzahl für die Größe von sozialen Ungleichheiten von Bildungschancen nach sozialer Herkunft betrachtet.4 So hatten im Jahre 1965 die Beamtenkinder eine 19-mal bessere Chance als die Arbeiterkinder, auf das Gymnasium zu wechseln. Danach verbesserten sich bis zum Jahre 1985 die Bildungschancen zugunsten der Arbeiterkinder. Jedoch hatten im Jahre 1989 die Beamtenkinder immer noch eine rund 12-mal bessere Chance als Arbeiterkinder, das Gymnasium besuchen zu können. In den 1990er Jahren verringerte sich die Bildungsungleichheit weiterhin in geringem Maße (vgl. Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995; SchimplNeimanns 2000). So hatten im Jahre 1995 die Schulkinder aus den Dienstklassen (einschließlich der Beamtenkinder) gegenüber den Kindern aus den Arbeiterschichten eine 9mal und im Jahre 2000 eine 7-mal bessere Chance, ins Gymnasium zu wechseln (Becker 2006).5 4 Um ein konkretes Zahlenbeispiel zu geben: Wenn den Zahlen des Mikrozensus im Jahre 1989 von allen Arbeiterkindern im Alter von 13 und 14 Jahren 11 Prozent die Hauptschule besuchen und der Rest von 89 Prozent eine andere Schule besuchen, dann beträgt der odds für die Arbeiterkinder, ein Gymnasium zu besuchen: 11 : 89 = 0,12. Im gleichen Jahr haben 58 Prozent der altersgleichen Beamtenkinder das Gymnasium und 42 Prozent entweder die Haupt- oder Realschule besucht (Böttcher 1991: 153). Für die Beamtenkinder beträgt der entsprechende Wert für die Chance, das Gymnasium zu besuchen: 58 : 42 = 1,38. Um die relative Chance, dass Beamtenkinder im Vergleich zu Arbeiterkindern das Gymnasium besuchen, zu berechnen, werden die Verhältnisse der Chancen dieser beiden Gruppen berechnet. Daraus resultiert das so genannte Chancenverhältnis, das im Fachjargon „odds ratio“ genannt wird: (58 : 42)/(11 : 89) = 1,38/0,12 = 11,5. Dieser Odds-Ratio-Wert besagt, dass Beamtenkinder eine rund 12-mal bessere Chance haben, das Gymnasium zu besuchen, als Arbeiterkinder. Es ist eine Ironie der Soziologiegeschichte, dass Max Weber (1905) selbst in seiner Protestantismus-Studie kritiklos die Daten aus der Dissertation seines Schülers Martin Offenbacher (1901) über die Bildungsverteilungen im Großherzogtum Baden aus dem Jahre 1870 übernahm. Diese Bildungsverteilungen beschrieben anhand von Zustromprozenten die Zusammensetzung der Bildungsgruppen nach der Konfession. Einerseits korrespondieren diese statistischen Berechnungen der Bildungsverteilung nicht mit seinem eigenen Chancenbegriff, den er bereits zuvor im Jahre 1913 in seinem Kategorienaufsatz publiziert hat. Statt der Abströme aus dem Elternhaus – also der Maßzahl für relative Chancen (odds) – verwendete Weber für die einzelnen Konfessionen die Zuströme nach Bildung. Somit konnte er im Grunde genommen nur Aussagen über die Bildungsheterogenität innerhalb von Konfessionen machen, aber keine Schlussfolgerungen zu ungleichen Bildungschancen von Konfessionen ziehen. Andererseits verglich er die Bildungsverteilungen für die einzelnen Konfessionen mit der Randverteilung für die Konfessionen und diskutierte die Bildungsungleichheiten im Sinne eines Proporzmodells der proportionalen Chancengleichheit (Becker 2007c). 5 Durch Veränderungen von Fragen im Mikrozensus ist es für die Zeit nach 1989 nicht mehr möglich, die soziale Herkunft von Schulkindern nach Ende der Grundschulzeit differenziert für die einzelnen Schullaufbahnen der Sekundarstufe I zu betrachten. Statt der Schullaufbahnen werden nunmehr die Klassenstufen erhoben, die zwar für
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Kurzum: Bei frühen Bildungsübergängen am Ende der Primarschulzeit haben sich zwar im Zuge der Bildungsexpansion die traditionellen Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft moderat reduziert, aber der Bildungszugang ist weiterhin von beträchtlicher Chancenungleichheit geprägt. Weiterführende Analysen belegen, dass vor allem die unteren Mittelschichten von der Bildungsexpansion profitierten (Rodax 1995) wie auch die neuen Mittelschichten, die im Zuge der Bildungsexpansion und Tertiarisierung von Bildung und Berufsstruktur zunehmend an Bedeutung gewonnen haben (Müller 1998; Becker 1993; Blossfeld und Becker 1989; Blossfeld 1985). Zwar verringerte sich beim Zugang zur Realschule generell die Chancenungleichheit nach sozialer Herkunft, aber dagegen hängen die Chancen für den Übergang zum Gymnasium immer noch von der sozialen Herkunft – also von der sozialen Position des Elternhauses und dessen sozioökonomischen Ressourcen – ab. Hat im Zuge der Bildungsexpansion gleichzeitig eine Umverteilung der Bildungschancen zugunsten von Schichten stattgefunden, die beim Bildungszugang im Nachteil waren? Während sich die Bildungschancen von Jungen und Mädchen zugunsten der bislang benachteiligten Mädchen mehr als angeglichen haben (Diefenbach und Klein 2002; Rodax und Rodax 1996), ergaben sich jedoch im letzten Jahrzehnt bei den Relationen für schichtspezifische Bildungsbeteiligungen allenfalls geringfügige Änderungen (Schimpl-Neimanns 2000; Henz und Maas 1995; Müller und Haun 1994).6 So haben Kinder aus unteren Sozialschichten weiterhin ungünstigere Bildungschancen (Becker 2006), während die Geschlechter- sowie Stadt-Land-Unterschiede weitgehend beseitigt wurden (Geißler 2006). Die gestiegene Chancengleichheit beim Zugang zum Gymnasium wurde jedoch mit einem hohen Preis bezahlt. So ist nach Leschinsky und Mayer (1990) zwar die soziale Exklusivität des Gymnasiums gesunken, aber gleichzeitig die sozialstrukturelle Homogenität in der Hauptschule gestiegen. Insbesondere Kinder von un- und angelernten Arbeitern sowie von Ausländern und Migranten sind von dieser nachteiligen Entwicklung betroffen. Als nicht intendierte Folge der Bildungsexpansion stellen Solga und Wagner (2001) eine gewachsene soziale Distanz zwischen den höheren und niedrigeren Bildungsschichten nach dem Übergang in die Sekundarstufen fest (Klemm 1991). Bei frühen Bildungsübergängen haben sich zwar im Zuge der Bildungsexpansion die traditionellen Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft moderat reduziert, aber der Bildungszugang ist weiterhin von beträchtlicher Chancenungleichheit geprägt. Insgesamt erbrachte die Bildungsexpansion einen Zuwachs an Bildungschancen für alle Sozialgruppen, aber keinen umfassenden Abbau der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen (Müller 1998; Meulemann 1995, 1992; Blossfeld 1993). einen internationalen Vergleich herangezogen werden können, aber nicht mehr für die Messung von herkunftsbedingten Bildungschancen (Schimpl-Neimanns und Lüttinger 1993). Daher wurden Daten des Sozio-ökonomischen Panels ausgewertet, um Bildungschancen nach sozialer Herkunft beurteilen zu können (SOEP Group 2001). Soziale Herkunft wurde anhand der EGP-Klassifikation gemessen (Erikson und Goldthorpe 1992). 6 Das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ war die symbolische Kunstfigur für die sozialstrukturelle Beschreibung von Bildungsungleichheiten und für die Initiierung bildungspolitischer Reformbemühungen in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre (Becker 2007c). Vor allem Dahrendorf (1965) verwies im Anschluss an empirische Befunde von Carnap und Edding (1962) in seinem Plädoyer für aktive Bildungspolitik auf die Gruppen der seinerzeit im Bildungssystem besonders Benachteiligten – nämlich „auf die drei großen Gruppen der Landkinder, der Arbeiterkinder und der Mädchen, zu denen mit gewissen Einschränkungen als vierte katholische Kinder kommen“ (Dahrendorf 1965: 48). Auch lange Zeit nach den 1970er Jahren war das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ ein populärer Inbegriff des sich beim Bildungserwerb besonders im Nachteil befindlichen Kindes (Below 1999: 273). In der Bildung von symbolischen Kunstfiguren ist das katholische Arbeitermädchen auf dem Lande vom türkischen Arbeitersohn im Großstadtquartier abgelöst worden (Geißler 2005). Einen Überblick über die Bildungschancen von Migranten liefert Diefenbach (2008) in ihrem Beitrag in diesem Band.
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Tabelle 1: Entwicklung der Bildungschancen in der Generationenabfolge in Westdeutschland (odds ratios) Kohorten Geschlecht Weiblich Männlich Herkunft Arbeiterschicht Mittelschicht Oberschicht Pseudo-R² N Erfolgsquoten
1919-21 MR ABI
1929-31 MR ABI
1939-41 MR ABI
1949-51 MR ABI
1959-61 MR ABI
1971 MR ABI
1 0,5 8*
1 1,7 8*
1 0,8 8
1 1,8 7*
1 0,9 8
1 1,4 6*
1 0,9 1
1 1,6 0*
1 0,6 0*
1 1,0 2
1 0,8 6*
1 0,8 8*
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
2,2 4* 12, 7*
2,2 0* 27, 2*
2,5 5* 17, 2*
7,8 4* 132 *
3,0 5* 23, 5*
6,0 6* 86, 6*
1,8 4* 9,0 0*
2,0 4* 16, 5*
1,9 4* 3,6 9*
2,3 2* 13, 9*
1,6 9* 3,0 7*
3,0 2* 14, 5*
0,119 2429 (19%/10%)
0,155 2352 (10%/7%)
0,143 2040 (13%/8%)
0,086 1944 (16%/13%)
0,076 3425 (25%/26%)
0,055 4524 (36%/30%)
* mindestens p 0.05; MR = Mittlere Reife, ABI = Abitur Datenbasis: Deutsche Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, und CIQLE, Yale University)
Mit aktuellen multivariaten Analysen von Lebensverlaufsdaten der Deutschen Lebensverlaufsstudie (Hillmert 2004; Brückner und Mayer 1998; Mayer 1990) kann auch für jüngere Geburtskohorten gezeigt werden, dass der Erwerb von schulischen Bildungsabschlüssen durch die soziale Herkunft strukturiert wird (Tabelle 1).7 Zum einen zeigen die Kohortenanalysen, dass die Bildungsexpansion nicht mit einer linearen Veränderung der Bildungs-
7 Betrachtet man den unmittelbaren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulabschluss, dann liegt das methodische Problem vor, dass nur der Brutto-Zusammenhang für Chancenungleichheit abgebildet wird. Wie Meulemann (1992) zu Recht betont, bedarf es für die Beurteilung von Chancenungleichheit der Kontrolle schulischer Leistung, um dann den Netto-Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserwerb als Indikator von Chancenungleichheit durch das Bildungswesen zu isolieren. Aber vorliegende Analysen zeigen, dass sich an der Struktur und dem Ausmaß der Bildungsdisparitäten nichts Wesentliches ändert (Becker 2004). Ein weiteres methodisches Problem in der intergenerationalen Transmission von Bildungschancen ist oftmals die fehlende Berücksichtigung aller Kinder, welche ein Elternpaar hat: Sørensen (1986) hat in einer richtungsweisenden, aber offensichtlich zu wenig beachteten Arbeit gezeigt, dass traditionelle Mobilitätsstudien, die so tun, als hätten die Eltern nur ein einziges Kind, Struktur, Ausmaß und Richtung der intergenerationalen Mobilität – in unserem Falle: die Weitergabe von Bildungschancen – sowie damit verbundene soziale Ungleichheiten von Bildungschancen in verzerrter Weise wiedergeben. Daher wird im Folgenden die intergenerationale Transmission von Bildungschancen nicht nur für die in sozialwissenschaftlichen Erhebungen befragten Personen, sondern auch für alle ihre Geschwister berücksichtigt. Zwar sind die Schätzungen der Einflüsse von sozialer Herkunft auf die Bildungschancen der nachwachsenden Generation exakter, aber sie weichen nicht signifikant von den traditionellen Analysen in der empirischen Bildungssoziologie ab (Becker 2006). In den folgenden beiden Tabellen werden die Bildungschancen anhand der mittels logistischer Regression geschätzten odds ratios (Anti-Logarithmus der geschätzten LogitKoeffizienten) dargestellt. Wenn es keinen Zusammenhang zwischen unabhängiger und abhängiger Variable gibt, liegt der Odds-Ratio-Wert bei 1. Größere Werte als 1 indizieren positive Effekte und Werte kleiner als 1 jeweils einen negativen Effekt.
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ungleichheiten einherging (Mayer et al. 2008).8 Beispielsweise hatten bis zur Kohorte der um 1950 Geborenen die Männer bessere Chancen gehabt, ihre Schulbildung mit dem Abitur abzuschließen, während die Frauen in der jüngsten Kohorte 1971 vergleichsweise bessere Chancen haben, das Abitur zu erwerben, als die Männer. Zum anderen scheint nach einem Abschwächen der Herkunftseffekte auf die Bildungschancen der Erwerb des Abiturs restriktiver von der sozioökonomischen Lage des Elternhauses abzuhängen. Tabelle 2: Entwicklung der intergenerationalen Bildungsaufstiege in Westdeutschland (odds ratios) Geburtskohorten Geschlecht Weiblich Männlich Soziale Herkunft Arbeiterschichten Mittelschichten Oberschicht Abitur Geringe/mittlere Schulbildung Pseudo-R² (McFadden) N Aufstiegsquoten
1919-21
1929-31
1939-41
1949-51
1959-61
1971
1 1,02
1 1,20
1 1,09
1 1,22
1 0,82*
1 0,89*
1 2,06* 7,23* 1 3,74* 0,053 2429 21%
1 2,90* 6,15* 1 2,25* 0,035 2352 11%
1 2,74* 5,00* 1 1,46 0,030 2040 13%
1 1,55* 1,62* 1 1,57* 0,009 1994 19%
1 1,83* 2,71* 1 4,80* 0,053 3425 37%
1 1,67* 1,84* 1 5,30* 0,021 4524 44%
* mindestens p 0.05 Datenbasis: Deutsche Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, und CIQLE, Yale University)
Des Weiteren gibt es empirische Anzeichen dafür, dass im Zuge der Bildungsexpansion nicht nur die Bildung an sich wichtiger und die Kopplung von Bildung und Lebenschancen immer enger geworden ist (Blossfeld 1985, 1989; Mayer und Blossfeld 1990; Becker 1993; siehe den Beitrag von Becker und Hadjar über Meritokratie in diesem Band) und daher das Interesse an mittlerer und höherer Bildung gestiegen und deswegen die soziale, an die Klassenlage geknüpfte Selektivität des Bildungsverhaltens zurückgegangen ist. Jedoch dürften vor allem diejenigen Generationen, die von der Bildungsexpansion hinsichtlich Bildungserwerb und Verwertung von Bildung auf dem Arbeitsmarkt und in anderen Lebensbereichen wie etwa dem Partnerschafts- und Heiratsmarkt profitiert haben, ein besonderes Interesse daran (gehabt) haben, ihren Kindern die gleichen, an die Bildung gebundenen Lebenschancen zu gewähren (siehe Becker 2006, 2007b und die Debatte mit Fuchs und Sixt 8 Die Herkunftsabhängigkeit der Bildungschancen in der Kohortenabfolge folgt statt einem linearen Trend der Logik der deutschen Geschichte mit all ihren Strukturbrüchen. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise, des Dritten Reiches, des Zweiten Weltkrieges und der Wirren in der Nachkriegszeit vermochten nur die ohnehin privilegierten Mittel- und Oberschichten, ihren um 1930 und 1940 geborenen Kindern eine höherwertige Schulbildung zu gewähren. So hatten Kinder aus höheren Sozialschichten in der Kohorte 1929-31 eine 132-mal höhere Chance, ein Abitur zu erwerben, als Kinder aus den Unter- und Arbeiterschichten, und auch die Oberschichtkinder in der Kohorte 1939-41 hatte eine 87-mal bessere Chance, ihre Schulbildung mit der Hochschulreife abzuschließen als altersgleiche Kinder aus unteren Sozialschichten. Für die um 1950 und vor allem um 1960 Geborenen nahm die soziale Selektivität, das Abitur zu erwerben, ab. Jedoch stieg sie für die jüngste Kohorte der 1971 Geborenen wieder an.
Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten
95
2007). So gibt es empirische Hinweise dafür, dass seit Anfang der 1980er Jahre eine erneute soziale Schließung der Gymnasien – statt nach sozioökonomischen Ressourcen nunmehr nach Bildung – im Gange ist (Müller und Haun 1994; Schimpl-Neimanns 2000). Diese Entwicklung kann auch anstelle des kategorialen Bildungserwerbs anhand der intergenerationalen Bildungsaufstiege abgebildet werden (siehe Tabelle 2).9 Im Zuge der Bildungsexpansion forcierte sich in der Kohortenabfolge die intergenerationale Reproduktion von Bildungsungleichheiten verstärkt über den erworbenen Bildungsabschluss statt über den sozioökonomischen Status. Die Bildungsexpansion trug offensichtlich dazu bei, dass Bildung bzw. Bildungspatente (wieder) zum zentralen ‚ständebildenden‘ Element der Erwerbs- und Lebenschancen wurden (vgl. Weber 1922: 247-248). Diese Entwicklung entspricht in einiger Hinsicht der Argumentation von Bourdieu (1982: 222), dass infolge der Bildungsexpansion ein sozialer Verdrängungswettbewerb in Gang gesetzt werde, in dem die oberen Sozialschichten zur Wahrung des relativen Seltenheitsgrades ihrer Abschlüsse und damit einhergehend zur Aufrechterhaltung ihrer Position innerhalb der Struktur der Klassen nun doch noch verstärkt im Bildungsbereich investieren. Aufgrund vorliegender Befunde für Deutschland ist davon auszugehen, dass dieser Verdrängungsprozess sich von der Schule in die Hochschule verlagert hat (Mayer et al. 2007; Meulemann 1992). Als Folge davon ist die Ungleichheit nach Schichtzugehörigkeit im Bereich der Realschule deutlich zurückgegangen (Müller und Haun 1994; Schimpl-Neimanns 2000), während gleichzeitig die soziale Homogenität in der Hauptschule drastisch gestiegen ist (Solga und Wagner 2001, 2008) und die soziale Ungleichheit beim Hochschulzugang deutlich zugenommen hat (Mayer et al. 2007; Müller und Pollak 2007). Die Bildungsexpansion fand mit einer zeitlichen Verzögerung auch an den Hochschulen statt und hält bis in die Gegenwart an (Abbildung 2). Betrachten wir die Studienanfängerquote für das Studium an Universitäten (einschließlich pädagogischer und theologischer Hochschulen) und Fachhochschulen – also den relativen Anteil der Studienanfänger an der 18- bis unter 22-jährigen Bevölkerung –, so ist sie von 19 Prozent im Jahre 1980 auf rund 31 Prozent bis Ende der 1980er Jahre gestiegen. Bis dahin blieben die geschlechtsspezifischen Disparitäten der Studienchancen relativ konstant. Nach der deutschen Einheit im Jahre 1990 ist ein Anstieg der Studienanfängerquote von 29 auf 37 Prozent zu verzeichnen. Im Zuge dieser Entwicklung sind die Unterschiede in den Studienchancen nach dem Geschlecht verschwunden. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass sich die Entwicklung der Geschlechterdisparitäten beim Erwerb schulischer Bildungsabschlüsse im Hochschulzugang fortsetzt (Mayer et al. 2007). Worauf diese Entwicklungen basieren, ist bislang weder theoretisch noch empirisch eindeutig geklärt (vgl. Jonsson 1999; Buchmann et al. 2008; Becker und Hecken 2009). 9
Die zentralen Sozialstrukturen der dauerhaften Ungleichheit von Bildungschancen in der deutschen Bildungsgeschichte des 20. Jahrhunderts können auch mit den relativen Chancen für intergenerationale Bildungsaufstiege untermauert werden (Tabelle 2). Je ungünstiger aufgrund historischer Rahmenbedingungen die Möglichkeiten für Bildungsgewinne waren, desto selektiver waren diese Chancen nach der Klassenlage des Elternhauses. Dies war insbesondere für die zwischen 1920 und 1940 Geborenen der Fall, während die Kohorte 1949-51 aufgrund des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit in dieser Hinsicht ein historischer Sonderfall ist. Mit einer zeitlichen Verzögerung von ein bis zwei Generationen konnte fast die Hälfte der um 1960 und 1970 geborenen Jahrgänge intergenerationale Bildungsaufstiege realisieren. Offensichtlich handelt es sich, gemessen an der Schulbildung ihrer Eltern, um „nachgeholte“ Entwicklungen, die ihren um 1930 und 1940 geborenen Eltern wegen der historischen Ereignissen vorenthalten wurden. Obwohl die jüngsten Kohorten relativ günstige Chancen für Bildungsaufstiege hatten, sind Kinder aus den Mittel- und Oberschichten weiterhin besonders privilegiert.
96
Rolf Becker
Abbildung 2:
Studienchancen und Studienbeteiligung (in Prozent) im Wandel, 1970-2003
40 38 37 36
37 35 33
Studienanfängerquote: Männer Studienanfängerquote Studienanfängerquote: Frauen Studierendenquote: Frauen Studierendenquote Studierendenquote: Männer
31
30
29 26 25
25 23 20
19 16
15
15 14 13 11
10
8 6 5
0 1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Datenbasis: Gesis-ZUMA System sozialer Indikatoren für die Bundesrepublik Deutschland – eigene Darstellung (Becker 2008a)
Die Studierendenquote (prozentualer Anteil der Studierenden an der Gesamtbevölkerung im Alter zwischen 20 und 30 Jahren) stieg von 5 Prozent im Jahre 1970 auf über 8 Prozent im Jahre 1980 und schließlich auf rund 10 Prozent im Jahre 1990 und nach der deutschen Einheit auf 14 Prozent im Jahre 2003. Hierbei haben sich im Laufe der Zeit die geschlechtsspezifischen Disparitäten deutlich verringert, so dass die noch Anfang der 1990er Jahre deutlichen Unterschiede bei den Studienchancen zwischen Frauen und Männern bis zum Ende des 20. Jahrhunderts verschwanden. Für die unteren Sozialschichten stellen sowohl der Erwerb der Studienberechtigung als auch der Übergang in das Hochschulstudium eine weitere Hürde im Bildungsverlauf dar (Mayer 2003; Mayer et al. 2007; Becker und Hecken 2007, 2008; Müller und Pollak 2007). Im Westen Deutschlands ist die Abiturientenquote – der prozentuale Anteil der Schulabgänger mit allgemeiner Hochschulreife aus allgemeinbildenden Schulen an der 19- bis 20jährigen Wohnbevölkerung (am Jahresende) – von 6 Prozent im Jahre 1960 auf rund 24 Prozent im Jahre 2000 angestiegen (Abbildung 3). Bis in die Gegenwart hat sich die Abiturientenquote versechsfacht.
Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten
Abbildung 3:
97
Studienchancen im Wandel (Abiturientenquote 1960-2000 und Studienbeginn an Universitäten 1980-2000) – nur Westdeutschland
60
53
Abiturientenquote
50
Studienanfängerquote Beamtenkinder
40
Arbeiterkinder
37 33
30
24 20
13
10
10 7
7
6 4 0 1960
1970
1980
1990
2000
Datenbasis: Gesis-ZUMA System sozialer Indikatoren für die Bundesrepublik Deutschland – eigene Darstellung (Becker 2006)
Gemessen an den gestiegenen Studienchancen von sozial privilegierten Personen, haben sich im Westen Deutschlands die traditionell ungünstigen Studienchancen von Arbeiterkindern seit Anfang der 1980er Jahre kaum verändert. Die relativen Gewinne, welche die Arbeiterkinder im Zuge der Bildungsexpansion zumindest beim Übergang auf weiterführende Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I erzielen konnten, fanden bislang keine Fortsetzung beim Übergang in den immer noch sozial exklusiven Bereich der tertiären Bildung (Mayer et al. 2007). Im Gegenteil haben sich die Abstände bei den relativen Studienchancen zwischen höheren und niedrigeren Sozialschichten weiterhin vergrößert. Vor allem die Arbeiterkinder werden über das Angebot alternativer Ausbildungen vom Studium an den Universitäten „abgelenkt“ (Müller und Pollak 2007; Becker und Hecken 2008). Eine ähnliche Entwicklung liegt bei der Studienanfängerquote für das Universitätsstudium – dem relativen Anteil der Studienanfänger an der 18- bis unter 22-jährigen westdeutschen Bevölkerung, wobei der Studienbeginn an der Fachhochschule unberücksichtigt bleibt – vor.10 In der Zeit von 1980 bis 2000 ist in diesen Altersgruppen der Zugang zu Universitäten deutlich von 13 auf 24 Prozent angestiegen. Wenngleich die Arbeiterschichten ihre Studienanfängerquote von 5 auf 7 Prozent steigern konnten und im gleichen Zeit10
In der Zeit von 1975 bis 2000 ist im Westen Deutschlands die Studierendenquote – der prozentuale Anteil der Studierenden an Universitäten (einschließlich pädagogischer und theologischer Hochschulen) an der 20- bis 30jährigen Bevölkerung – deutlich angestiegen, wobei die Frauen mit den Männern gleichgezogen haben. Während im Jahre 1975 rund 9,5 Prozent der Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren studierten, lag die Studierendenquote bei den Frauen bei 5,6 Prozent. Bis zum Jahre 2000 liegen Männer und Frauen in diesen Alterskategorien mit einer Studierendenquote von rund 15 bzw. 14 Prozent fast gleichauf. Diese Relationen haben sich dann bis 2004 zugunsten der Frauen verschoben.
98
Rolf Becker
raum zwischen 35 (1980) und 53 Prozent (2000) ein Universitätsstudium aufnahmen, so ist in Bezug auf Studienchancen die Bildungsexpansion an den Arbeiterschichten größtenteils vorbeigegangen. Während im Jahre 1980 die Beamtenkinder eine 12-mal bessere Chance als Arbeiterkinder hatten, an einer Universität zu studieren, so stieg diese ungleiche Chancenverteilung bis zum Jahre 2000, in dem die Beamtenkinder eine 15-mal bessere Chance für ein Studium an der Universität hatten als Angehörige der Arbeiterschichten. Somit haben sich im Zuge der Bildungsexpansion die Studienchancen der Beamtenkinder stetig verbessert, während sich die ohnehin ungünstigen Studienchancen der benachteiligten Arbeiterkinder seit Anfang der 1980er Jahre so gut wie nicht verändert haben.11 Die relativen Gewinne, welche die Arbeiterkinder im Zuge der Bildungsexpansion zumindest beim Übergang auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I erzielen konnten, fanden bislang keine Fortsetzung beim Übergang in den immer noch sozial exklusiven Bereich der tertiären Bildung (Klemm und Weegen 2000). Im Gegenteil: Die Abstände zwischen diesen Sozialschichten haben sich deutlich vergrößert. Dieses Faktum ist erklärungsbedürftig. Zu vermuten wäre Müller und Pollak (2008) zufolge, dass noch weitgehende Disparitäten zwischen den Sozialschichten in der Beurteilung des Abiturs als Hochschulberechtigung bestehen. Vor allem untere Sozialschichten bewerten das Abitur als omnipotente Option, die alle Möglichkeiten für eine weiterführende Ausbildung offenhält, während mittlere und höhere Sozialschichten das sofortige Studium als primäres Ziel ansehen (Becker und Hecken 2008; Hillmert und Jacob 2003). Die aufgeführten Statistiken belegen eindrücklich, dass die Bildungsexpansion gemessen an der Bildungsbeteiligung eine Expansion der sekundären und der tertiären Bildung darstellt, aber als Instrument einer Politik der Verminderung von Chancenungleichheit relativ erfolglos war (Meulemann 1992: 123). Zwar haben sich im Zuge der Bildungsexpansion die Bildungschancen für sozial benachteiligte Gruppen in der sekundären Schulausbildung verbessert, aber beim Zugang zur tertiären Bildung sind die Bildungsungleichheiten nicht nur weiterhin groß, sondern für Personen aus den Arbeiterschichten haben sich die Chancen für Hochschulbildung zusehends verschlechtert. Als Fazit lässt sich für die Bundesrepublik Deutschland festhalten: Mit dem Ausbau des Schul- und Hochschulwesens und den institutionellen Reformen seit den 1960er Jahren ist größtenteils erreicht worden, dass institutionelle, ökonomische und geographische Barrieren beim Bildungszugang weitgehend an Bedeutung verloren haben. Bildungsdisparitäten nach sozialstrukturellen Merkmalen haben sich ebenfalls abgeschwächt (Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995; Schimpl-Neimanns 2000). Insbesondere konnten Mädchen ihre Bildungsdefizite gegenüber den Jungen mehr als wettmachen, so dass nunmehr von einer Bildungsungleichheit zuungunsten von Jungen auszugehen ist (Diefenbach und 11
Diese Schlussfolgerung gilt auch dann, wenn man zusätzlich zum Studienbeginn an Universitäten auch den Zugang zu den Fachhochschulen berücksichtigt. Während im Jahre 1970 rund 5 Prozent in der 18- bis unter 22jährigen Bevölkerung ein Studium an den Universitäten oder Fachhochschulen aufnahm, so liegt diese Studienanfängerquote bei 36 Prozent im Jahre 2000. Bis 1982 ist die relative Chance, ein Studium aufzunehmen, 5-mal höher als 12 Jahre zuvor, und von 1982 bis zum Jahre 2000 haben sich diese Chancen nochmals verdoppelt. Zwar stieg bei Berücksichtigung des Studienbeginns an Universitäten und Fachhochschulen für Arbeiterkinder in der Zeit von 1982 bis 2000 die Studienanfängerquote von 9 auf 12 Prozent, aber im gleichen Zeitraum nahm die Studienfängerquote bei den ohnehin sozial privilegierten Beamtenkindern von 46 auf 72 Prozent zu. Da im Jahre 1982 Beamtenkinder eine 9-mal bessere Chance als Arbeiterkinder hatten, an Universitäten oder Fachhochschulen zu studieren, und dieses Chancenverhältnis auf das 19-fache im Jahre 2000 gestiegen ist, ist die Bildungsexpansion beim Hochschulzugang mit einer deutlichen Anhebung sozial ungleicher Studienchancen einhergegangen.
Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten
99
Klein 2002). Im Zuge der Bildungsexpansion gab es zwar deutliche Niveaueffekte, quantitative Zunahmen der Bildungsbeteiligung und Höherqualifikation in der Bevölkerung, aber – gemessen am Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Schulbesuch – geringe Struktureffekte beim Übergang in das Gymnasium (Meulemann 1995): „Die Zielgruppen der Bildungsexpansion, Arbeiterkinder, Kinder von Landwirten, einfachen Beamten und Angestellten, konnten ihre Zugangschancen zum Gymnasium verbessern, aber auch die mittleren und oberen Berufsgruppen haben ihre Zugangschancen erhöht“ (Meulemann 1984: 296).12 Nur für den Besuch der Realschule fand eine relative Angleichung der Bildungschancen zwischen den Sozialschichten statt (Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995; SchimplNeimanns 2000). Dagegen hielt sich in den anderen Bereichen des Bildungssystems die Chancenumverteilung zwischen den Sozialschichten in deutlichen Grenzen (Meulemann 1984: 294). So hängen Chancen für den Übergang in das Gymnasium wie darauf aufbauende Bildungs- und Arbeitsmarktchancen immer noch von der sozialen Herkunft – von der Schichtzugehörigkeit und Klassenlage des Elternhauses – ab (Mayer und Blossfeld 1990; Becker 2000, 2004; Becker und Hecken 2005; Müller und Pollak 2007). Die in Deutschland bereits in den 1950er Jahren einsetzende und bis in die jüngste Gegenwart andauernde Bildungsexpansion hatte zwar zur zunehmenden Bildungsbeteiligung in allen Sozialschichten, aber nicht – wie beispielsweise von Dahrendorf (1965) erwartet – zum umfassenden Abbau sozialer Ungleichheit von Bildungschancen geführt: „Die Bildungsexpansion hat jedenfalls nicht wesentlich zur Verwirklichung der materiellen Chancengleichheit (Dahrendorf) beigetragen, zumindest nicht zum Abbau der Ungleichheit der Bildungsbeteiligung zwischen sozialen Klassen und Schichten“ (Müller 1998: 106). Trotz Bildungsexpansion und verbesserter Übergangschancen hat sich für niedrige wie für höhere Sozialschichten weder die soziale Struktur der Zugangschancen zum Gymnasium noch die soziale Struktur der intergenerationalen Vererbung von Bildungsabschlüssen grundlegend geändert (Rodax 1995). Insgesamt ist anzunehmen, dass (1) steigender Wohlstand in allen Sozialschichten und daher sinkende Beteiligungs- und Opportunitätskosten von Bildungsinvestitionen, (2) Veränderungen im instrumentellen Wert von Bildung und steigende Motivationen für höhere Bildung in allen Sozialschichten und (3) sinkende Bildungserträge und abnehmende Bereitschaft, in Bildung zu investieren, zwar zu Anstiegen in der Bildungsbeteiligung geführt haben, aber nur bedingt zum Abbau von Bildungsungleichheiten beigetragen haben (vgl. Müller und Haun 1994; Blossfeld 1993). Die Frage nach der Persistenz der klassenspezifischen Bildungsungleichheit trotz der erwarteten Folgen der Bildungsungleichheit zu beantworten, ist kein leichtes Unterfangen. Nach Ansicht von Goldthorpe (1996) liegt die Persistenz der klassenspezifischen Bildungsungleichheit trotz Bildungsexpansion und Schulreformen darin begründet, dass die Balance zwischen Nutzen und Kosten für höhere Bildung unter den sozialen Klassen konstant geblieben ist. Dadurch, dass die subjektiv beurteilten Kosten-Nutzen-Relationen von höherer Bildung innerhalb der einzelnen Sozialschichten relativ stabil geblieben sind, blieb auch 12
Die in diesem Zusammenhang von Beck (1983) entlehnte Metapher des „Fahrstuhleffektes der Bildungsexpansion“ ist nicht nur irreführend, sondern schlichtweg empirisch falsch. Nicht alle Sozialschichten konnten in Bezug auf die (höhere) Bildung in den Fahrstuhl einsteigen und ein oder mehrere Etagen nach oben fahren. Die „Kellerkinder der Bildungsexpansion“, denen höhere Bildung vorenthalten wurde, sind, um bei der bildhaften Sprache zu bleiben, erst gar nicht in den Fahrstuhl gelangt, sondern im Untergeschoss der Sozialstruktur verblieben (Klemm 1991). Die soziale Struktur der Zugangschancen zu höherer Schul- und Berufsausbildung hat sich bei verbesserten Übergangschancen für niedrige wie für höhere Sozialschichten nicht grundlegend geändert. Der Bildungszugang ist weiterhin von Chancenungleichheiten geprägt.
100
Rolf Becker
bei einem „Fahrstuhleffekt der Höherqualifizierung“ das Verhältnis zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten unverändert (vgl. Goldthorpe 1996: 492; Breen und Goldthorpe 1997: 294). Berücksichtigt man – wie oben gezeigt – die weiterhin deutlichen sozialen Disparitäten von Bildungschancen nach sozialer Herkunft (Status und Bildungsniveau der Eltern) in der Kohortenabfolge, so zeigt sich aber, dass sich in der Kohortenabfolge die Kinder aus unteren Sozialschichten in ihren Chancen auf höhere Bildung den Kindern aus höheren Sozialschichten annäherten (zu Details: Becker 2006). Auf den ersten Blick wäre dies möglicherweise ein Beleg für die ‚maximally maintained inequality‘-These von Raftery und Hout (1993), wonach Bildungsungleichheiten zurückgehen, wenn die Bildungsnachfrage in den höheren Sozialschichten gesättigt ist, und die sukzessiven Bildungsaufstiege aus den unteren und mittleren Sozialschichten zu einem strukturellen Rückgang in den Bildungsdisparitäten führen. Was bedeutet diese eher „statistische Erklärung“ anhand von Sättigungseffekten der Bildungsbeteiligung (Raftery und Hout 1993), die eine Variante der Theorie sozialer Reproduktion von Bourdieu und Passeron (1971) darstellt? Wenn der Besuch einer bestimmten Bildungsstufe universell wird, dann nimmt der Effekt sozialer Herkunft auf den Übergang auf diese Bildungsstufe ab (Müller und Pollak 2007). Gibt es keine institutionellen Änderungen oder Ausdehnung des Bildungssystems, so wird sich keine Umverteilung der Bildungschancen zwischen den Sozialschichten ergeben. Soziale Ungleichheiten von Bildungschancen werden dann so lange bestehen, bis alle Personen aus höheren Sozialschichten höhere Bildungsniveaus erreicht haben. Auch bei einer Bildungsexpansion werden dann die Bildungsungleichheiten bestehen bleiben, wenn sich die Prozesse sozialer Selektivität – wie sie von Goldthorpe (1996) beschrieben werden – die gleichen Muster aufweisen. Bildungsaufstiege für Arbeiterkinder sind möglich, ohne dass sich die privilegierten Bildungschancen von Personen aus den mittleren und höheren Sozialschichten verschlechtern. Im Unterschied zu Bourdieu und Passeron (1971) gehen Raftery und Hout (1993) davon aus, dass die Sozialschichten nicht in der Aufrechterhaltung von Klassenunterschieden interessiert sind, sondern in der Maximierung ihrer Bildungschancen und Bildungsabschlüsse. Dieses Interesse und das darauf aufbauende rationale Bildungsverhalten führen im Endeffekt zur Persistenz von Bildungsungleichheiten. Tabelle 3: Konstante Bildungsungleichheiten bei gleichzeitigen Zuwächsen des Bildungserwerbs nach Klassenlage (Abstromprozente) Jahr Bildungsniveau Klassenlage Mittelklasse Arbeiterklasse Odds Ratio
Hoch
1925 Niedrig
A: 40 % C: 20 %
B: 60 % D: 80 % 2,7
Hoch
1950 Niedrig
60 36
40 64 2,7
Hoch
1975 Niedrig
80 60
20 40 2,7
Quelle: Breen (2005: 61)
Empirische Evidenzen hierfür liefert Breen (2005) in einem Gedankenexperiment (Tabelle 3). Angenommen wird, dass im Jahre 1925 von allen Mitgliedern der Mittelklasse 40 Prozent einen hohen und 60 Prozent einen niedrigen Bildungsabschluss erworben hatten, während „nur“ 20 Prozent aller Mitglieder der Arbeiterklasse über ein hohes und 80 Prozent ein niedriges Bildungsniveau verfügten. Die Mittelklasse hatte demnach eine 2,7-mal bessere Chance, einen höheren Bildungsabschluss zu erwerben als Mitglieder in der Arbeiterklas-
Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheiten
101
se.13 Trotz der darauffolgenden Bildungsexpansion und der überproportionalen Steigerung von Bildungsanstrengungen der Arbeiter- gegenüber der Mittelklasse ist die anhand von Chancenverhältnissen bemessene soziale Ungleichheit von Bildungschancen für alle Beobachtungszeitpunkte im 20. Jahrhundert identisch. Auch wenn sich für die Arbeiterklasse die Übergänge zur höheren Bildung verdreifacht und für die Mittelklasse nur verdoppelt haben, ergaben sich keine Änderungen in den relativen Bildungschancen. Setzt man dieses Gedankenexperiment fort, und wir können die historischen Referenzzeitpunkte ohne Weiteres durch Geburtskohorten ersetzen, dann ergeben sich – wenn die Arbeiterklasse ihre Bildungserfolge um ein Viertel und die Mittelklasse ihre um ein Fünftel steigern können – gar ansteigende Disparitäten von Bildungsungleichheiten, die wir gegenwärtig in Deutschland beim Zugang zu Universitäten beobachten können (Tabelle 4).14 Erst wenn die Mittelklasse ihre Bildungsnachfrage gesättigt hat, verringern sich die sozial disparaten Ungleichheiten von Bildungschancen dadurch, dass die Arbeiterklasse weiterhin die höhere Bildung nachfragt. Wohlgemerkt – es handelt sich hier um hypothetische Zahlenbeispiele und nicht um empirische Fakten. Tabelle 4: Veränderung der Bildungsungleichheiten (Abstromprozente) Jahr Bildungsniveau Klassenlage Mittelklasse Arbeiterklasse Odds Ratio
2000
2025
2050
Hoch
Niedrig
Hoch
Niedrig
Hoch
Niedrig
95 76
5 24
95 92
5 8
95 95
5 5
6,0
1,7
1,0
Aber dieses fiktive Simulationsbeispiel zeigt, dass die gegebene Ausgangssituation einer sozialen Ungleichheit von Lebenschancen, die sich anhand von Einkommensverteilungen oder der Klassenstruktur ablesen lässt, zur Persistenz von Bildungsungleichheiten beitragen. Erikson (1996) konnte für Schweden und Becker (2006) für Deutschland zeigen, dass die Ausprägung der sozialen Schichtung und der daran gekoppelten Lebensführung, die Ausgeprägtheit von Klassenstrukturen, die mit einem spezifischen sozioökonomischen Interesse auch an Bildung einhergeht, und die soziale Ungleichheit von sozioökonomischen Ressourcen, die für die Investition der Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generation mobilisiert werden kann, erheblich zur Persistenz von sozialen Bildungsungleichheiten beitragen (vgl. Coleman 1975). Erikson und Jonsson (1996) verdeutlichen, dass bei gegebenem Bildungsangebot und Strukturen des Bildungssystems die Ausprägung der Sozialstruktur und die soziale Ungleichheit der Lebensbedingungen eine große Rolle für Entstehung, Struktur und das Ausmaß von Bildungsungleichheiten haben. Die gesellschaftliche Verteilung über verfügbare Ressourcen für Bildungsinvestitionen und selektive Anreize für Bildungsaspirationen prägen Bildungschancen. Allerdings fehlt bei geringen Einkommensunterschieden der selekti13 Die odds ratios berechnen sich in folgender Weise: OR = (A:B)/(C:D). Für das Jahr 1925 beispielsweise ergibt sich folgender Wert für das odds ratio: (40% : 60%)/(20% : 80%) = 2,7. 14 Der im Zuge der Bildungsexpansion erfolgte Abbau von sozialer Selektivität in den unteren Stufen des Bildungswesens wird zumindest teilweise durch eine zunehmende Selektivität in den höheren Stufen kompensiert: „Je universeller Bildung im Primar- und Sekundarbereich wird, umso wahrscheinlicher ist es, dass Ungleichheit produzierende Mechanismen verstärkt im Tertiärbereich zum Zuge kommen“ (Müller und Pollak 2007: 304).
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Rolf Becker
ve Anreiz, sich für höhere Bildung zu entscheiden, da dann die Kosten einer längeren Ausbildung den Nutzen in einem geringeren Maße amortisieren. Aber wenn die Bildungsaspirationen von der Klassenlage und Bildung der Eltern abhängen, die wiederum mit den Ressourcen für Investitionen in die Bildung der Kinder korreliert, dann müssten geringe Einkommensunterschiede zu einer Abnahme der Ungleichheiten von Bildungschancen führen (Erikson 1996: 99) oder anders gesagt: Große ökonomische Unterschiede zwischen den sozialen Klassen führen zu großen Bildungsungleichheiten. Ebenso hat die Wirtschaftsstruktur und wirtschaftliche Entwicklung einen Einfluss auf Bildungsungleichheiten. Hohe Arbeitslosigkeit bedeutet hohe soziale Ungleichheit beim Übergang in die Universität, da in diesem Falle die unteren Sozialschichten auf riskant erscheinende Bildungsinvestitionen verzichten und sich für vermeintlich weniger riskante Ausbildungen entscheiden (Erikson 1996: 104) – d.h. sinkende Einkommensungleichheit und steigende wirtschaftliche Prosperität (bei geringer Arbeitslosigkeit) führen zu mehr Chancengleichheit im Bildungssystem. Offensichtlich ist die subjektiv anti- und perzipierte ökonomische Sicherheit ein wichtiger Faktor, der die Bildungschancen mitbestimmt (Becker 2007d). Diese Befunden zeigen, dass die institutionelle Steuerung und Finanzierung von Bildungssystemen eine Möglichkeit ist, soziale Ungleichheiten von Bildungschancen zu reduzieren, worauf sich die deutsche Bildungspolitik aus Gründen des Statuserhalts kaum eingelassen hat (vgl. Solga 2005; Becker 2007a). Das Beispiel Schwedens zeigt, dass die Reduktion sozialer Ungleichheiten außerhalb des Bildungssystems (z.B. über Einkommensumverteilungen und andere wohlfahrtsstaatliche Programme) eine andere Möglichkeit ist, diese Bildungsungleichheiten, sofern sie als „gesellschaftliches Ärgernis“ definiert werden, aufzulösen.
3
Theorien zur Erklärung von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen
Die bislang aufgezeigten Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, Zugang zu Schullaufbahnen und Verteilung von Bildungsabschlüssen bilden sozial ungleiche Bildungsbeteiligungen nur bedingt ab. Aus diesen Darstellungen, die sich im wesentlichen mit Fragen nach Sozialstruktur, Ausmaß, Stabilität und Wandel von Bildungsungleichheiten befassen, kann weder auf die Prozesse rückgeschlossen werden, in denen sich Bildungsungleichheiten ergeben, noch ist es möglich, sozial ungleiche Bildungschancen ursächlich zu erklären: Warum gibt es sozial ungleiche Bildungschancen und warum sind sie an die Klassenlage des Elternhauses gekoppelt? Eine noch so differenzierte Beschreibung sozial ungleicher Bildungsbeteiligungen mit aussagekräftigen Daten ist notorisch unvollständig, wenn die sozialen Mechanismen weder theoretisch noch empirisch aufgedeckt werden, welche die „inequality of educational opportunity“ hervorbringen.15 Während einerseits Beschreibun15
Ein typisches Beispiel dafür war – trotz ihrer Verdienste für die deutsche Bildungssoziologie – die in den 1960er Jahren (vor allen in den USA) dominierende schichtspezifische Sozialisationsforschung. Sie hat zu wenigen Einsichten in die Bildungsbarrieren auf der Mikro-Ebene geführt. Ungleiche Verteilungen von Einkommen, Prestige und Bildung, die sich in einer gesellschaftlichen Hierarchie in Abstufungen nach sozialen Schichten und Klassen sowie in unterschiedlichen Arten der Lebensführung niederschlagen, sind Grundlagen dafür, dass sich durch schichtspezifische Sozialisationsprozesse „schichtspezifische Persönlichkeiten“ mit jeweils spezifischen Bildungsvoraussetzungen herausbilden. So bilden Schulkinder aus mittleren und höheren Sozialschichten eher solche Sprachfähigkeiten und Sozialkompetenzen heraus, die in der Schule erwartet werden, so dass Schulkinder aus
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gen über Ausmaß und Veränderungen von Bildungsungleichheiten dominieren (etwa Carnap und Edding 1962; Dahrendorf 1965; Coleman et al. 1966; Grimm 1966; Peisert 1967; Peisert und Dahrendorf 1967; Schorb und Schmidbauer 1969; Baur 1972; Fröhlich 1973; Blossfeld 1985; Böttcher 1986; Schimpl-Neimanns und Lüttinger 1993; Klemm 2000), mangelte es bis Ende der 1990er Jahren an theoretischen wie empirisch fundierten Erklärungen für das Zustandekommen und die Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft (Becker und Lauterbach 2004). Bis dahin war die Schlussfolgerung von Krais (1996: 146) noch zutreffend, „dass wir nun einiges über die Entwicklung der Bildungsungleichheit in unserem Lande [wissen]. Worüber wir aber immer noch sehr wenig wissen, das sind die Mechanismen, über die sich die beobachteten Bildungsungleichheiten wieder herstellen“ (siehe auch Müller 1998). Aber inzwischen gibt es eine Vielzahl theoretisch sparsamer und empirisch bewährter Erklärungsversuche, die Ursache-Wirkungszusammenhänge von sozialer Herkunft und Bildungsungleichheit aufdecken (Stocké 2007a; Erikson 2007; Jackson et al. 2007; Paulus und Blossfeld 2007; Breen und Yaish 2006; Holm und Jæger 2006; Davies et al. 2002; Lucas 2001; Need und De Jong, 2001; Breen und Jonsson 2000; Becker 2000, 2003; Esser 1999; Kristen 1999; Breen und Goldthorpe 1997; Goldthorpe 1996; Erikson und Jonsson 1996; Ditton 1992; Gambetta 1987; Boudon 1974). Von besonderem Interesse sind dabei soziale Mechanismen, welche die Ursache mit der Wirkung verbinden, also wie die Ursache die zu erklärende Wirkung hervorbringt (Manski 1993). Es handelt sich bei ihrer Benennung um theoretische Aussagen, meistens um „Brückenhypothesen“, die uns mitteilen, wie und warum ein Zustand oder Ereignis als Ursache die zu erklärende Wirkung hervorbringt (Hedström und Swedberg 1998: 6-7). Erst die theoretische Identifikation und empirische Analysen solcher Mechanismen gereichen zum theoretischen Fortschritt hin zu vollständigen soziologischen Tiefenerklärungen kollektiver Phänomene, also den soziologischen Erklärungsgegenständen wie die Bildungsungleichheit, und damit auch Erkenntnisfortschritt in der Bildungssoziologie. Ein prominentes Beispiel, das sich in jüngster Zeit dieser Herausforderung stellt, sind die zur systematischen Kategorie der zur Familie der aufgeklärten Rational-ChoiceTheorien gehörigen entscheidungs- und handlungstheoretischen Modelle des individuellen Bildungsverhaltens, die soziale Mechanismen für Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheiten identifizieren und analysieren. Demnach sind die zwischen Sozialschichten variierenden elterlichen Bildungsentscheidungen, die auf Abwägungen von Vorund Nachteilen langfristiger Bildungsinvestitionen als einem sozialen Mechanismus basieren, ausschlaggebend für Genese und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten (Boudon 1974). Gemeinsam ist den Ansätzen, dass sie davon ausgehen, dass soziale Ungleichheiten unteren Sozialschichten hingegen größere Schwierigkeiten haben, vorteilhafte Bildungserfolge zu erzielen. Weil sie in der Regel geringere Bildungserfolge aufweisen (für die auch nach Herkunftskriterien unterscheidende Verhaltens- und Leistungserwartungen auswählende und die unteren Sozialschichten benachteiligenden Lehrer aus den Mittelschichten verantwortlich gemacht werden) und daher auch die gleichen Berufe wie ihre Eltern ergreifen und somit in der Herkunftsschicht verbleiben, schließt sich nach diesem Erklärungsansatz der Zirkel einer Reproduktion von Bildungsungleichheiten. Der Ansatz eines zirkulären Verlaufs des Sozialisationsprozesses Sozialisation der Eltern durch den Beruf und Sozialisation der Kinder durch Eltern, die einen bestimmten Beruf ausüben beinhaltet zwar eine Vielzahl unterschiedlicher Hypothesen, stellt aber kein kohärentes und widerspruchsfreies Aussagesystem wie etwa eine Sozialisationstheorie dar, aus denen empirisch überprüfbare Hypothesen abgeleitet werden können. Darüber hinaus wurden die zentralen Thesen dieses Erklärungsversuchs über zirkuläre Sozialisation und Reaktion der Schule auf die elterliche Sozialisation kaum empirisch erhärtet.
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von Bildungschancen das aggregierte Ergebnis individuellen Bildungsverhaltens ist. Bildungschancen sind demnach Ergebnisse individueller, sozial bestimmter Bildungsentscheidungen und institutioneller Mechanismen des Bildungsübergangs, die vom Bildungswesen vorgegeben sind. Sie ergeben sich aus einem inneren Zusammenhang zwischen Schulleistung und Auswahlverhalten, der zum einen durch das Bildungssystem und zum anderen durch individuelle Entscheidungen der Akteure wie etwa Eltern und ihre Kinder bestimmt wird (vgl. Böttcher 1986). Zwischen sozialen Schichten differierende Bildungsergebnisse resultieren wiederum aus sozialen Disparitäten in den Bildungsaspirationen und schulischen Leistungen. Demnach sind Bildungsungleichheiten offensichtlich aggregierte Folgen elterlicher Bildungsentscheidungen und der Schulleistungen, die zwischen den Sozialschichten variieren, sowie der leistungsbezogenen Selektion durch das Bildungssystem, die für die einzelnen Sozialschichten unterschiedliche Konsequenzen für den weiteren Bildungsverlauf haben kann. Solche Entscheidungen müssen von Individuen oder Elternhäusern im Bildungsverlauf an den verschiedenen Übergängen im Bildungssystem getroffen werden. An diesen Gelenkstellen des mehr oder weniger stratifizierten und segmentierten Bildungssystems sind solche Entscheidungen umso zwingender, je mehr alternative Bildungswege offenstehen (Mare 1980; Breen und Jonsson 2000).16 In Deutschland ist in Bezug auf die soziale Selektivität bei der Schulwahl der Übergang von der Primarschule auf die weiterführenden Schulen ist nicht nur die erste „einer Reihe realer Entscheidungen über die Bildungslaufbahn des Kindes, deren Rekonstruktion das Verständnis des Mechanismus der Herkunftseinflüsse vertiefen sollte“ (Henz und Maas 1995: 610), sondern auch die bedeutsamste Weichenstellung der Bildungslaufbahn im deutschen Schulsystem (Baur 1972: 13; Müller und Haun 1994: 35). Des Weiteren „(...) hängt (sie) stärker als andere Bildungsentscheidungen von dem Willen der Eltern ab, während bei späteren Wechseln der Schulart oder bei einem vorzeitigen Abgang von der Schule die Schulleistungen und die Motivation des Kindes wichtiger sind“ (Henz und Maas 1995: 610). Elterliche Bildungsentscheidungen in der entscheidenden Bildungsphase des Übergangs von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen in der Sekundarstufe I (Hauptschule, Realschule, Gesamtschule oder Gymnasium) sind in der Regel wegen weitreichender Konsequenzen und Risiken gut durchdachte zukunftsorientierte Entscheidungsprozesse und ein Teil der Lebensplanung für ihre Kinder (vgl. Meulemann 1985).17 Bildungsentscheidungen ergeben sich weniger aus routinemäßi16
Je nach institutioneller Gestaltung des Bildungssystems nehmen frühe Bildungsentscheidungen die Möglichkeiten von darauf aufbauenden Bildungswegen und des Erwerbs bestimmter Bildungsabschlüsse vorweg. Je rigider die Stratifikation und Segmentation des Bildungssystems ist, desto schwieriger ist es, frühere Bildungsentscheidungen zu revidieren (Henz 1996), und desto größer sind auch die Risiken des Scheiterns. Die Kontingenz des Bildungsverlaufs und die endogene Pfadabhängigkeit von Bildungschancen ergeben sich aus dem Wechselspiel von individuellen Bildungsentscheidungen, den institutionell vorgegebenen Möglichkeiten, bestimmte Bildungsentscheidungen zu treffen, und den institutionell regulierten Selektions- und Sortierungsleistungen des Bildungssystems (Becker und Lauterbach 2008a). 17 Der Typus von Bildungsentscheidungen differiert vom Zeitpunkt im Lebenslauf von Individuen, wenn zwischen Bildungsalternativen gewählt werden muss. In Deutschland sind Bildungsentscheidungen am Ende der Primarschulzeit in der Regel Entscheidungen im Familien- und Haushaltskontext (Becker 1998). Es wird davon ausgegangen, dass mit zunehmendem Alter das Kind an dieser Familienentscheidung teilnimmt (Erikson und Jonsson 1996: 54). Neben der Familie strukturiert die Schule über Zeugnisse und Bildungsempfehlungen die elterliche Bildungsentscheidung mit (Becker 2000). Bei späteren Bildungsübergängen – wenn zum Beispiel die Entscheidung zwischen Berufsausbildung oder Studium ansteht – ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es sich um echte Individualentscheidungen handelt (Hillmert und Jacob 2003): Im Unterschied zum Übergang von der Pri-
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gem Verhalten, sondern bestehen vielmehr aus komplexen Entscheidungsprozessen, denen in der Regel mehr oder weniger umfassende Informationssuchen, selektive Informationsverarbeitungen und darauf basierende Abwägungsprozesse vorausgehen. Solche Bildungsentscheidungen sind an Konsequenzen reiche, an soziale Situationen orientierte und daher sinnhafte Entscheidungen unter erheblicher Unsicherheit. Das Ausmaß der Unsicherheit kovariiert mit der Menge und Art der zur Verfügung stehenden Informationen über die Bildungsmöglichkeiten, den anfallenden Kosten, den individuellen Fähigkeiten sowie den strukturellen und ökonomischen Randbedingungen für die Verwertbarkeit erworbener Bildungszertifikate. Demnach erklärt vor allem die sozial bedingte Auswahl von Schullaufbahnen die Chancenunterschiede zwischen den Sozialschichten, während der Einfluss der Selektion durch die Schulen selbst von nachgeordneter Bedeutung ist (Wiese 1986: 206). Nunmehr muss geklärt werden, wie und warum aus unterschiedlichen sozioökonomischen Klassenlagen unterschiedliches Bildungsverhalten resultiert (Becker 2000; Becker und Lauterbach 2008a). Im Folgenden werden der Übersichtlichkeit ausgewählte und derzeit einflussreiche strukturell-individualistische Erklärungsansätze zur Bildungsungleichheit dargestellt, die sich um das Aufdecken von Mechanismen ihrer Entstehung und die Ursachen des schichtspezifischen Bildungsverhaltens benennen.18 Der modernisierungstheoretische Ansatz (Treiman 1970), die Humankapitaltheorie (Becker 1975), die Statusgruppen- und Konflikttheorie (Weber 1980; Collins 1979; Parkin 1983) und die Theorie der kulturellen Reproduktion (Bourdieu und Passeron 1971) bleiben daher wie die These des kulturellen Kapitals (Bourdieu 1983) oder die Lebensverlaufshypothese (Blossfeld und Shavit 1993) unberücksichtigt (siehe hierzu Kristen 1999). Education, Opportunity, and Social Inequality – der Ansatz von Boudon (1974) Um die Emergenz und Reproduktion von sozial ungleichen Bildungschancen erklären zu können, schlägt Boudon (1974) vor, zwischen primären und sekundären Effekten der soziamar- in die Sekundarstufe (vgl. Becker 2000, 2003; Stocké 2007), bei der vor allem die Eltern entscheiden, haben Abiturienten die Möglichkeit, selbst zwischen alternativen Bildungswegen zu entscheiden. 18 Es gibt keine schlüssige wie empirisch fundierte makrosoziologische Theorie, die Emergenz und Reproduktion von Bildungsungleichheiten zu erklären vermag. So wurde aus modernisierungstheoretischer Sicht in den 1970er Jahren argumentiert, dass im Zuge der Modernisierung – aufgrund funktionaler Erfordernisse an das Bildungssystem – auch die Herkunftseffekte wegen Meritokratisierung von Bildungschancen verschwinden. Angesichts verstärkter Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften im Erwerbssystem, gestiegener Bildungsnachfrage in der Bevölkerung und gesunkener Kosten von Bildung müsste man nicht nur zunehmende Partizipation an höherer Bildung erwarten, sondern man könnte auch aus modernisierungstheoretischer Sicht annehmen, dass bislang benachteiligte Sozialschichten ihre Bildungsdefizite durch verstärkte Bildungsnachfragen ausgleichen könnten. Dagegen ist einzuwenden, dass die Arbeiter so hohe Rückstände bei der höheren Bildung aufweisen, die sie kaum ausgleichen können. Sie müssten ihre Bildungsanstrengungen überproportional steigern, wobei die Modernisierungstheorie jedoch keine Aussagen dafür liefert, wie diese Entwicklung überhaupt vonstatten gehen soll. Deswegen ist dieser modernisierungstheoretische Erklärungsversuch (Treiman 1970) unvollständig, weil er keine sozialen Mechanismen benennt, unter welchen sozialen Bedingungen sich Eltern und ihre Kinder für die höhere Bildung entscheiden. Es bleibt also unklar, wie sich wirtschaftliche Entwicklungen, insbesondere Veränderungen von Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt, in das entsprechende Handeln von Individuen umsetzt. Solche Faktoren sind nur Voraussetzungen für ihre subjektive Wahrnehmung und das darauf basierende Handeln. Das heißt Arbeitsmarktentwicklungen an sich sind nicht verantwortlich für dauerhafte Bildungsungleichheiten, weil die Mechanismen unklar sind, die zum erklärungsbedürftigen Phänomen führen. Des Weiteren bleibt ungeklärt, warum es eine soziale Ungleichheit von Bildungschancen nach sozialer Herkunft geben solle, da die Gesetzmäßigkeiten von Nachfrage und Angebote universalistisch sind und für alle Sozialschichten gelten. Die Transformation von Modernität in Bildungschancen bleibt atheoretisch und unempirisch.
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len Herkunft zu unterscheiden. Der primäre Herkunftseffekt umfasst die langfristigen Wirkungen der Anregung und Förderung im Sozialisationsprozess, die sich in schichtspezifischen Unterschieden der schulischen Leistung und Kompetenzen des Kindes niederschlagen. Sie stellen vom Elternhaus mitgegebene Lernvoraussetzungen und vom Elternhaus gegebene Lerngelegenheiten dar, die sich deutlich zwischen den Sozialschichten unterscheiden (siehe den Beitrag von Grundmann in diesem Band). So erlangen Kinder aus höheren Sozialschichten infolge der Erziehung, Ausstattung und gezielten Förderung im Elternhaus eher Fähigkeiten und Motivationen, die in der Schule und Ausbildung vorteilhaft sind. Aufgrund dieser günstigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen im Elternhaus weisen Kinder aus höheren Sozialschichten eher bessere Schulleistungen auf, während Arbeiterkinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft oftmals kognitive Nachteile haben. Der kulturelle Sozialisationseffekt besteht nach dem gegenwärtigen Stand der Sozialisations- und Bildungsforschung darin, dass sich die Sozialschichten in der Vermittlung von Sprachkultur, in der Lern- und Bildungsmotivation hin zu selbstreguliertem Handeln und Lernen sowie in den habitualisierten Lerngewohnheiten voneinander unterscheiden, so dass sich zwangsläufig aufgrund sozialer Unterschiede in der außerschulischen Vorbildung herkunftsbedingte Ungleichheiten bei den Voraussetzungen für die Schulbildung und den daran geknüpften Startchancen beim Beginn des Bildungsverlaufs von Kindern ergeben.19 Des Weiteren bewirkt die soziale Herkunft als kultureller Effekt in der sozialen Schichtung, dass die Kinder wegen ihrer sozialen Herkunft und daran gekoppelten Schulleistungen ungleich auf die Schullaufbahnen verteilt werden. Weil Kinder aus unteren Sozialschichten wegen ungünstiger Sozialisationskontexte im Elternhaus und daraus resultierender kognitiver Nachteile vergleichsweise schlechtere Schulleistungen aufweisen als Kinder aus höheren Sozialschichten, scheitern sie eher an den Selektionshürden des Bildungssystems, insbesondere beim Übergang in das Gymnasium. Der primäre Herkunftseffekt – der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung und die damit verbundenen Folgen für die Auslese durch das Bildungssystem und die Abschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeiten durch die Eltern – ist nichts anderes als die Korrelation des sozialen Status des Elternhauses mit dem kulturellen Niveau und der sozialen Distanz zur höheren Bildung: Je niedriger der Sozialstatus der Familie, desto ärmer die kulturelle Ausstattung der Kinder und desto begrenzter ist deren Bildungserfolg (Boudon 1974: 29). Daher unterscheiden sich wegen unterschiedlicher Lernvoraussetzungen und Startchancen die einzelnen Sozialschichten von Beginn ihrer Bildungslaufbahn an systematisch in ihren Erfolgswahrscheinlichkeiten. Da Kinder aus höheren Sozialschichten besser den jeweiligen schulischen Leis19 In bildungspolitischer Hinsicht scheint es für die Herstellung von Chancengleichheit von Anfang an notwendig, da vom Fortbestehen sozialer Ungleichheiten im gesellschaftlichen Schichtgefüge auszugehen ist (Heid 1988: 1011; Lutz 1979), verstärkt in die vorschulische Bildung zu investieren und diese für die heranwachsenden Schulkinder zur Pflicht zu machen (Becker und Lauterbach 2008b; Büchel et al. 1997; Barnett 1992). Denn die bestehende Chancenungleichheit im Schulsystem besteht im bildlichen Sinne darin, dass die Startchancen beim Hundertmeterlauf insofern ungleich nach sozialer Herkunft verteilt sind, als die Arbeiterkinder mit zu groß geratenen Schuhen ohne Schnürsenkel an der Startlinie stehen, während die Kinder aus höheren Sozialschichten mit bester Ausstattung einen nicht einholbaren Vorsprung von über 50 Meter haben, bevor überhaupt der Startschuss gefallen ist (vgl. Heid 1988: 5). Mittels institutionalisierter Vorausbildung in Kindergärten, Kindertagesstätten und Vorschulen, die durch hochqualifiziertes Lehrpersonal vorzunehmen ist, könnten über gezielte Förderungen sozial benachteiligter Kinder („soziale Integration für den Chancenausgleich“) bei gleichzeitiger Förderung von leistungsstarken oder sozial privilegierten Kindern („soziale Differenzierung für Herstellung von Chancengleichheit im Sinne individueller Optimierung“) der Ausgleich von primären Herkunftseffekten und die Reduktion von Chancenungleichheiten zwischen Sozialschichten gelingen (Coleman et al. 1966; Heckhausen 1974: 131-132).
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tungsanforderungen gerecht werden, haben sie vergleichsweise größere Chancen, auf das Gymnasium zu wechseln und mit dem Abitur die Berechtigung für ein Studium zu erwerben (primärer Effekt der sozialen Herkunft).20 Die Beziehungen zwischen sozialer Herkunft, individueller Begabungen und schulischer Leistungen sind in groben Zügen bekannt, aber immer noch nicht genau erforscht (Stocké 2007a; Müller-Benedict 2007; Nash 2003; Floud 1967: 74). Vor allem liegen die dabei wirksamen Mechanismen der intergenerationalen Transmission des sozialen und kulturellen Kapitals mit ihren Konsequenzen für schulische Leistungen noch weitgehend im Dunklen (Diefenbach und Nauck 1997; Rössel und Beckert-Ziegelschmid 2002). Offensichtlich gibt es empirisch fundierte Hinweise dafür, dass die Beziehung zwischen Sozialstatus und schulischer Leistung enger ist als zwischen sozialer Herkunft und Intelligenz (Floud 1967: 74-75; Meulemann 1985: 90-110); aber auch hierfür sind die Mechanismen ebenfalls noch weitgehend unklar (Meulemann 1995). Im Unterschied zum primären Herkunftseffekt stellt der sekundäre Effekt der sozialen Schichtung einen kurzfristigen und direkten Effekt für die Bildungschancen dar. Als sekundären Herkunftseffekt bezeichnet Boudon (1974) die schichtabhängigen Unterschiede in der subjektiven Bewertung von Nutzen und Kosten von alternativen Bildungswegen und die darauf basierende Auswahl eines bestimmten Bildungsweges. In Anlehnung an die „Social Position Theory“ von Keller und Zavalloni (1964) werden Nutzen und Kosten eines angestrebten oder erreichten Bildungsabschlusses in Relation zur sozialen Position des Elternhauses in der gesellschaftlichen Hierarchie (Schichtgefüge oder Klassenstruktur) betrachtet. Zum einen ergibt sich für das Elternhaus der Nutzen von Bildung aus dem Motiv, den bislang erreichten Status über Bildung ihrer Kinder erhalten zu können. Demnach müssen höhere und vor allem für mittlere Sozialschichten in die Bildung ihrer Kinder investieren, um das Statuserhaltmotiv befriedigen zu können, während untere Sozialschichten nicht zwingend auf höhere Bildung ihrer Kinder angewiesen sind, um den Sozialstatus in der Generationenfolge erhalten zu können. Familien treffen Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Position und wählen denjenigen Bildungsweg aus, der aus ihrer Sicht am ehesten zum Statuserhalt beiträgt, der sich wiederum aus der beruflichen Verwertbarkeit von Bildung oder aus Bildungsrenditen in Form von Einkommen und Mobilitätschancen ergibt (Boudon 1974: 51). Kosten unterschiedlicher Art ergeben sich für verschieden Schichten dadurch, dass sie mit der sozialen Distanz zum System höherer Bildung entsprechende Aufwendungen machen müssen, die für höhere Sozialschichten, die in der Regel auch den höheren Bildungsgruppen angehören, geringer sind als für untere und in der Regel weniger gebildete Sozialschichten. Elternhäuser oder Individuen aus verschiedenen Sozialschichten verfolgen demnach unterschiedliche Bildungsziele, weil die soziale Distanz, die sie jeweils zur Erreichung 20
Die primären Herkunftseffekte werden in ihrer Wirkung zum einen durch eine leistungsabhängige soziale Selektion und zum anderen durch eine leistungsunabhängige soziale Auslese im Bildungssystem verstärkt. Wie können wir das verstehen? Geht man bei den Grundschulkindern von einer interpersonalen Ungleichheit von Lernvoraussetzungen aus, dann verstärken gleiche Lerngelegenheit bestehende Ungleichheiten und tragen somit zur sozialen Ungleichheit von Bildungsergebnissen bei. Das bedeutet, dass eine Schule, die allen Schulkindern gleiche Lerngelegenheiten – also gleiche Chancen – bietet, zur Bildungsungleichheit führt, die aber gerechtfertigt scheint, da sie auf den individuellen Anstrengungen beruht. Sind bei ungleichen Lernvoraussetzungen auch die Lerngelegenheiten ungleich verteilt, dann können ungünstige Lernvoraussetzungen bestehende Ungleichheiten bei den Lernvoraussetzungen verstärken, so dass die Verteilung von Bildungsergebnissen dadurch noch ungleicher wird als im Falle gleicher Lerngelegenheiten.
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eines Bildungsabschlusses überwinden müssen, unterschiedlich groß ist. So sind beispielsweise für Akademiker die sozialen Distanzen zum Hochschulsystem weitaus geringer und sie müssen auch weniger Bildungshürden überwinden als Arbeiterfamilien. Nach Boudon wird das Anspruchsniveau nicht als absoluter Standard, sondern relativ zur Statusposition interpretiert: „We should thus be prepared to find class-determined variations in aspirations not because the individual class members are more or less ambitious but because the classes themselves are nearer to some goals than to others“ (Keller und Zavalloni 1964: 60). Demnach hängt die Bildungswahl von der sozialen Position der Familie ab: Je höher der soziale Status des Elternhauses ist, desto höher ist die angestrebte Bildungslaufbahn. Aufgrund der größeren sozialen Distanz zwischen sozialem Status und höherer Bildung müssen im Vergleich zu den höheren Sozialschichten die unteren Sozialschichten höhere Aspirationsniveaus haben, mehr Ressourcen aufbringen und sich mehr anstrengen, damit sie sich für die höhere Bildung entscheiden. Für die höheren Sozialschichten sind die subjektiv erwarteten Kosten höherer Bildung geringer, da die zu überwindende soziale Distanz zur höheren Bildung weitaus geringer ist, und auch der erwartete Nutzen für höhere Bildung ist bei den höheren Sozialschichten deutlich größer als bei den unteren Sozialschichten (Boudon 1974: 30). Weil für höhere Sozialschichten die zu überwindenden Distanzen geringer sind und ihre Kinder aufgrund privilegierter Überlebenswahrscheinlichkeiten im Bildungssystem (der Wahrscheinlichkeit, die Bildungshürden zu nehmen und daher im Bildungssystem verbleiben zu können), die an die schulischen Leistungen geknüpft sind, die erwarteten Nutzen eher realisieren können, entscheiden sich höhere Sozialschichten eher für das Gymnasium als die unteren Sozialschichten. Wegen der erwarteten Kosten, die Bildungshürden in Abhängigkeit von sozialer Position und daran geknüpfter sozialer Distanz zu überwinden, variieren nach Boudon (1974) die Bildungsentscheidungen in Abhängigkeit von ökonomischen Ressourcen der Privathaushalte deutlich zwischen den Sozialschichten. Demnach unterscheiden sich Kinder verschiedener sozialer Herkunft selbst bei gleichen Leistungen oder bei gleicher Leistungsfähigkeit darin, ob sie die schulische Ausbildung auf einer gegebenen Bildungsstufe beenden oder sie mit einer tertiären Bildung fortsetzen. Somit sind soziale Ungleichheiten von Bildungschancen – und damit auch die vermeintliche „Bildungsferne“ von Arbeiterschichten – ein unbeabsichtigtes Ergebnis des Wechselspiels primärer und sekundärer Herkunftseffekte (Abbildung 4). Im Prozess der Entwicklung von Chancenungleichheit spielen nach Boudon (1974) die leistungsunabhängigen Faktoren der elterlichen Bildungsentscheidung eine bedeutendere Rolle als die leistungsabhängigen Faktoren. Boudon (1974) zufolge erfolgen elterliche Bildungsentscheidungen – die Auswahl einer Bildungslaufbahn von mehreren möglichen, die durch das Bildungssystem vorgegeben werden – nach der Abwägung von Vor- und Nachteilen höherer Bildung im Sinne einer quasi-ökonomischen Investitionsentscheidung. Die Rationalität der Bildungsentscheidung ergibt sich daher aus der (vernünftigen) Beachtung von Möglichkeiten und Zwängen der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, die wiederum mit der sozialen Position der Familie und ihren Ressourcen gegeben sind. Systematisch zwischen Sozialschichten variierende Bildungsentscheidungen dominieren demnach individuelle Bildungschancen und machen Struktur, Ausmaß und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheiten aus.
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Abbildung 4:
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Modell für die Entstehung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen nach Boudon (1974)
Allerdings vernachlässigt Boudon (1974) die Sozialisationswirkung der Schule. Vorliegende Studien liefern empirische Hinweise dafür, dass die Grundschule die reinen primären Herkunftseffekte modifiziert, indem sie schichtabhängigen Startchancen eher verstärkt oder zumindest reproduziert als kompensiert oder gar nivelliert (siehe den Beitrag von Ditton in diesem Band). Daher können bei den frühesten Bildungsübergängen sowohl subjektiv wahrgenommene Bildungsrenditen als auch subjektiv erwartete Erfolgswahrscheinlichkeiten die wichtigsten Mechanismen für die soziale Ungleichheit beim Zugang in die höheren Schullaufbahnen sein (Erikson und Jonsson 1996: 55). Eine Erweiterung dieses allgemeinen und anschlussfähigen Erklärungsansatzes liefern Hillmert und Jacob (2003), indem sie den Stellenwert des Zusammenhangs von sozialer Position und sozialer Distanz zur höheren Bildung mit dem schichtspezifischen Zeithorizont bei der Bildungsplanung verbinden. Wenn die Individuen in der Lage sind, ihre Investitionen in Hinblick auf spätere Bildungsrenditen zu kalkulieren, dann ist bei einer KostenNutzenabwägung alternativer Bildungswege davon auszugehen, dass der Zeithorizont von der materiellen Situation der Herkunftsfamilie abhängt (Hillmert und Jacob 2003). Wenn der Zeithorizont auf sozial selektiv wirkenden Ausbildungsanreizen basiert, dann ist zu erwarten, dass Familien und Individuen aus den Arbeiterklassen einen kürzeren Zeithori-
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zont aufweisen, weil für sie die sofort anfallenden Kosten wie Informationskosten, Transaktionskosten, Opportunitätskosten und Ausbildungskosten schwerer wiegen, aber die späteren Renditen vergleichsweise unsicherer erscheinen. Weil bei einkommensschwächeren Familien der Zeithorizont für die Kosten-Ertrags-Kalkulation kürzer als bei solchen aus reicheren Familien ist, lenken kürzere Ausbildungen vor allem die Einkommensschwächeren von der höheren Bildung ab, die bei einer mittleren Erfolgserwartung eine geringe zeitliche Toleranz für die Kompensation der Ausbildungskosten haben. Das wären vor allem für ein Studium hinreichend begabte Kinder aus ressourcenarmen Elternhäusern (Müller und Pollak 2007: 310). Für indirekte Wege zur höheren Bildung (zum Beispiel: Nachholen des Abiturs oder Doppelausbildungen: zuerst Berufsausbildung, dann Studium) können sich Familien oder Personen mit geringen Erfolgserwartungen entscheiden, wenn sie sich einen langen Zeithorizont für die Kompensation der Ausbildungskosten leisten können. Demnach tendieren vornehmlich risikoaverse und/oder leistungsschwächere Personen zu solchen Bildungs- und Ausbildungsentscheidungen, die vornehmlich aus höheren Sozialschichten stammen. Arbeiterschichten sind hierbei im Nachteil: Erstens erzwingt bei ihnen der Kostendruck einen kurzen Zeithorizont, wodurch sie von einer längeren Ausbildung an Universitäten abgelenkt werden. Zweitens schränken geringe Erfolgswahrscheinlichkeiten den Zeithorizont auf kürzere und weniger anspruchsvolle Bildungswege ein. Die Entstehung von Bildungsungleichheit verdeutlicht Boudon (1974: 79ff.) anhand eines Modells, mit Hilfe dessen er die Schullaufbahnen einer Kohorte von Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft simulieren kann. Hierzu modelliert er einen sequentiellen Bildungsverlauf mit n Entscheidungspunkten an Bildungsübergängen, für die jeweils bestimmte Überlebenswahrscheinlichkeiten definiert sind. An jedem dieser Punkte muss die Familie eine Entscheidung hinsichtlich des Verbleibs oder Verlassens des Bildungssystems treffen. Boudon (1974) geht davon aus, dass in der Entscheidungssituation in erster Linie die sekundären Schichtungseffekte ausschlaggebend sind und multiplikativ, eventuell sogar exponentiell an den verschiedenen Entscheidungspunkten anwachsen, wohingegen der Einfluss der primären Effekte über die einzelnen Bildungsentscheidungen hinweg eher abnimmt (Boudon 1974: 84ff.). Unter Berücksichtigung einer Reihe zusätzlicher Annahmen gelingt es ihm zu zeigen, dass bereits ein geringer Einfluss des sekundären Effekts ausreicht, um zu drastischen Bildungsungleichheiten zu führen. Selbst wenn die Schulleistungen von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft identisch sind, so können sie sich dennoch in der Wahrscheinlichkeit unterscheiden, die nächsthöhere Bildungsstufe tatsächlich zu erreichen. Tabelle 5: Überlebenswahrscheinlichkeit als Funktion der Schulleistung und der sozialen Herkunft
Oberschicht C1 Mittelschicht C2 Unterschicht C3
R1 (hoch) 0,85 0,70 0,60
Schulleistung R2 (mittel) 0,75 0,60 0,40
R3 (niedrig) 0,65 0,40 0,20
Quelle: Boudon (1974: 76)
Zunächst werden die primären Effekte als Parameter gesetzt (Tabelle 5). Dann werden die Übergangswahrscheinlichkeiten berechnet. Um dies zu verdeutlichen, hält Boudon (1974) die Überlebenswahrscheinlichkeiten an allen Entscheidungspunkten konstant. Sprich: Die
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Wahrscheinlichkeiten bleiben über alle Entscheidungspunkte hinweg jeweils identisch. Außerdem geht Boudon (1974) von gleichen schulischen Leistungen in allen Sozialschichten aus und lässt somit primäre Effekte der sozialen Herkunft unberücksichtigt. Als Überlebenswahrscheinlichkeiten werden fiktive Zahlen eingesetzt, wobei die Variation zwischen den Schichten relativ gering ist. Hinsichtlich einer anspruchsvollen Schullaufbahn beträgt diese für ein Kind aus den oberen Schichten 0.85, für ein Kind aus der Mittelschicht 0.70 und für ein Kind aus den unteren Schichten 0.60. Bei konstant gleichen Leistungen ergibt sich für einen Schüler aus der Oberschicht am zweiten Übergang eine Überlebenswahrscheinlichkeit von (0.85)2, am dritten Entscheidungspunkt von (0.85)3, am vierten Übergang eine Überlebenswahrscheinlichkeit von (0.85)4 und so weiter. Tabelle 6: Überlebenswahrscheinlichkeiten im Bildungssystem
Oberschicht C1R1 Oberschicht C1R2 Oberschicht C1R3 Mittelschicht C2R1 Mittelschicht C2R2 Mittelschicht C2R3 Unterschicht C3R1 Unterschicht C3R2 Unterschicht C3R3
1 0,8500 0,7500 0,6500 0,7000 0,6000 0,4000 0,6000 0,4000 0,2000
2 0,7225 0,5625 0,4225 0,4900 0,3600 0,1600 0,3600 0,1600 0,0400
Entscheidungszeitpunkte 3 4 5 6 0,6141 0,5220 0,4437 0,3771 0,4219 usw. 0,2746 usw. 0,3430 0,2401 0,1681 usw. 0,2160 usw. 0,0640 0,0256 0,0102 0,0041 0,2160 0,1296 0,0778 usw. 0,0640 usw. 0,0080 0,0016 0,0003 0,0001
7 0,3206
8 0,2725
0,0016
0,0007
0,0000
0,0000
Quelle: Boudon (1974: 80)
In Tabelle 6 sind die Wahrscheinlichkeiten für vier Entscheidungspunkte, differenziert nach sozialer Herkunft, dokumentiert. Es lässt sich einerseits ablesen, wie auch bei identischen Schulleistungen die Chancen, dasselbe Bildungsniveau zu erreichen, sich schichtspezifisch auseinanderentwickeln. Andererseits wird auch die Heterogenität der Bildungschancen in den Sozialschichten sichtbar, die von den schulischen Leistungen abhängen. Beeindruckend ist jedoch die Vielzahl der empirischen Überprüfungen und Anwendungen des von Boudon (1974) entwickelten Modells. (1) Zum einen geht es um die Feststellung der Größenordnung und Gewichte von primären und sekundären Herkunftseffekten (Becker 2008b; Jackson et al. 2007; Stocké 2008b; Müller-Benedict 2007, 2004; Erikson 2006). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die theoretische Annahme von Boudon (1974), dass bei frühen Bildungsübergängen der primären Herkunftseffekt eine gewichtige Rolle spielt, aber im gesamten Bildungsverlauf die sekundären Herkunftseffekte vergleichsweise bedeutsamer sind und von Bildungsübergang zu Bildungsübergang bedeutsamer werden, empirisch zutreffend ist. Mittels einer Simulation mit PISA-2000-Daten findet Müller-Benedict (2007) für den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe, dass die Kompensation sekundärer Herkunftseffekte eher zur Reduktion sozialer Ungleichheit von Bildungschancen beiträgt als die Nivellierung primärer Herkunftseffekte. Allerdings bergen die von Müller-Benedict (2007) verwendeten Daten zwei methodische Schwierigkeiten, welche die Befunde einschränken. Zum einen werden die Herkunftseffekte für 15-jährige Jugendliche analysiert, deren Bildungsübergang bereits 3 bis 5 Jahre zurück liegen. Zum anderen wird für die Operationalisierung der individuellen Schulleistung die Lesekompe-
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tenzen („reading literacy“) verwendet. Abgesehen von dieser für die vorliegende Fragestellung problematischen Messung des individuellen Leistungspotentials (vgl. Becker 2007a), wird einerseits die institutionelle Selektion anhand von Schulnoten und in vier deutschen Bundesländern anhand von verbindlichen Bildungsempfehlungen der abgebenden Primarschule vorgenommen. Andererseits beeinflussen – quasi als schulischer „feedback“ zu den elterlichen Erfolgserwartungen – institutionell bewertete Schulleistungen (Schulnoten, Zeugnisse oder Bildungsempfehlung) die elterliche Bildungsentscheidung, während Eltern keine objektiven Messungen, sondern allenfalls subjektive Einschätzungen der schulischen Kompetenzen ihrer Kinder vornehmen können. Deswegen wird mit anderen Daten für deutsche Schulpflichtige eine Replikation der Simulation von Müller-Benedict (2007) vorgenommen (vgl. Becker und Schubert 2006, 2009). So stehen mit den Daten des Konstanzer Panels über „Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien“ Informationen über die schulische Leistung von Schulkindern am Ende der Primarschulzeit und ihre Interaktion mit deren sozialen Herkunft sowie ihr Übergang in die Sekundarstufe I zur Verfügung. Berücksichtigt wird die zweite Befragung von Eltern mit Kindern in verschiedenen Bundesländern (Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und West-Berlin), die im Herbst 1983 nach der Bildungsentscheidung und dem erfolgten Übergang in die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I erfolgte. Tabelle 7: Bildungsübergang nach sozialer Herkunft (Abstromprozente)
Quelle: „Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien“ – eigene Berechnungen
Mittels dieser Daten können die bekannten Strukturen sozialer Ungleichheit von Bildungschancen nachgezeichnet werden (Tabelle 7). Während drei Viertel der Oberschichtkinder und mehr als die Hälfte der Mittelschichtkinder nach der Grundschulzeit auf das Gymnasium wechseln, tritt mehr als ein Viertel der Arbeiterkinder ins Gymnasium über. Somit haben die Oberschichtkinder 8-mal und Mittelschichtkinder 3-mal bessere Chancen, auf das Gymnasium und damit auf den direkten Weg zur Hochschule zu gelangen, als Arbeiterkinder. Tabelle 8: Schulleistung und Bildungsentscheidung (Abstromprozente) Mittel- und Oberschicht Arbeiterschicht
Sehr gut bzw. gut 55,0% 35,9%
Mittelmäßig 37,7% 48,1%
Schlecht 7,3% 16,0%
Quelle: „Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien“ – eigene Berechnungen
Da sich der Bildungsübergang in die Sekundarstufe I aus dem Zusammenspiel von primären und sekundären Herkunftseffekten ergibt, ist es notwendig, die individuelle Leistung (gemessen an der Deutschnote am Ende der Grundschulzeit) als intervenierende Variable
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zwischen sozialer Herkunft und Zugang zu den Schullaufbahnen zu berücksichtigen (Tabelle 8). Während rund 55 Prozent der Mittel- und Oberschichtkinder über gute bis sehr gute Schulleistungen verfügen, ist dies für rund 36 Prozent der Arbeiterkinder der Fall. Es sind deutliche primäre Effekte zu erwarten, die zwischen den Sozialschichten differieren und zu signifikant unterschiedlichen Bildungschancen führen. Tabelle 9: Schulleistung und Bildungsentscheidung Aus der: haben Schulperformanz: und gehen auf das Gymnasium: Aus der: haben Schulperformanz: und gehen auf das Gymnasium:
Mittel- und Oberschicht Mittelmäßig 37,7% 42,8% Arbeiterschicht Sehr gut bzw. gut Mittelmäßig 35,9% 48,1% 54,0% 16,3% Sehr gut bzw. gut 55,0% 83,8%
Schlecht 7,3% 10,9% Schlecht 16,0% 0,9%
Quelle: „Bildungsverläufe in Arbeiterfamilien“ – eigene Berechnungen
In einem weiteren Schritt wird daher der Zusammenhang zwischen Leistung und Bildungsübergang betrachtet (Tabelle 9). Während fast 84 Prozent der leistungsstarken Schulkinder aus der Mittel- oder Oberschicht auf das Gymnasium wechselt, tun dies rund 54 Prozent der leistungsstarken Arbeiterkinder. Dass von den Schulkindern mit dem gleichen Leistungspotential ein deutlich geringer Anteil der Arbeiterkinder auf das Gymnasium geht als sozial Privilegierte, offenbart vor allem den sekundären Effekt der sozialen Herkunft. Da diese Effekte der sozialen Ungleichheit relative Größen sind, werden sie im Folgenden über Simulationen indirekt im Vergleich zwischen den Sozialschichten gemessen – und zwar als Wirkungen bildungspolitischer Maßnahmen, die entstehen würden, wenn man die primären und sekundären Herkunftseffekte neutralisieren würde (vgl. Müller-Benedict 2007; Erikson 2007; Jackson et al. 2007; Becker und Schubert 2009). Zunächst wird der primäre Herkunftseffekt „neutralisiert“, indem für die Arbeiterkinder die gleichen Leistungspotentiale angenommen werden wie für die Schulkinder aus der Mittel- und Oberschicht. Die Verteilung ihrer Leistungspotentiale wird in Beziehung zu den Übergangswahrscheinlichkeiten für die sozial privilegierten Schulkinder gesetzt. Läge für die Arbeiterkinder die Verteilung der Leistungspotentiale wie für die Mittel- und Oberschichtkinder vor, dann würden: 55,0% · 0,54 + 37,7% · 0,163 + 7,3% · 0,9 = 42 Prozent der Arbeiterkinder auf das Gymnasium gehen. Das sind rund 15 Prozentpunkt mehr als die faktische Übergangsrate von 27,4 Prozent (siehe Tabelle 7). Wie groß ist die Steigerung der Übergangsrate bei den Arbeiterkindern, wenn sie bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Leistungspotentiale (und in diesem Sinne bei Kontrolle der primären Herkunftseffekte) die gleichen Übergangswahrscheinlichkeiten wie die Mittel- und Oberschichtkinder aufweisen würden? Neutralisiert man den sekundären Effekt der sozialen Herkunft, dann wechseln: 35,9% · 0,838 + 48,1% · 0,163 + 7,3% · 0,009 = 52 Prozent der Arbeiterkinder in das Gymnasium über. Im Vergleich zur faktischen Übergangswahrscheinlichkeit von 27,4 Prozent würde das eine Steigerung um 25 Prozent bedeuten. Oder anders ausgedrückt: Bei Kontrolle ihres Leistungspotentials würden dann doppelt so viele Arbeiterkinder das Gymnasium besuchen als dies tatsächlich der Fall ist. Quantitativ bemessen wären Maßnahmen, die auf die Neutralisierung sekundärer Herkunftseffekte
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abzielen, weitaus wirksamer in Bezug auf die Verbesserung der nachteiligen Bildungschancen von deutschen Arbeiterkindern im deutschen Schulsystem. Kommen wir zur Vielzahl empirischer Überprüfungen und Anwendungen des Modells von Boudon (1974) zurück: (2) Zum Anderen geht es bei der Anwendung des Modells von Boudon (1974) um die Überprüfung des gesamten Modells (etwa Becker 2000, 2003; Becker und Hecken 2007, 2008; Reimer und Pollak 2008). Auch diese empirischen Studien belegen, dass es für die Beschreibung und Erklärung von sozial ungleichen Bildungschancen sinnvoll ist, zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten zu unterscheiden, und dass die bahnbrechende Arbeit von Boudon (1974) richtungweisend für die empirische Bildungssoziologie und sicherlich auch für die Bildungspolitik und Reform des Bildungssystems ist. Klassenspezifische Bildungsentscheidungen nach Erikson und Jonsson (1996) Bei ihrem Modell der Bildungswahl gehen Erikson und Jonsson (1996) anknüpfend an Boudon (1974) davon aus, dass Eltern bei der Bildungsentscheidung aus einer Auswahl möglicher Bildungswege diejenige Alternative auswählen, die bei einer Abwägung von erwarteten Kosten und Erträgen sowie dem wahrscheinlichen Bildungserfolg des Kindes den größten Nutzen erbringt. Als Bildungserträge führen die Autoren neben dem Erwerb von Statusmerkmalen wie Einkommen oder soziales Prestige die Erhaltung der sozioökonomischen Position in der Generationenabfolge an. Für die einzelnen Handlungsalternativen bilden Individuen Erwartungswerte für den Nutzen U (utility), die sie miteinander vergleichen. Diese Erwartungswerte ergeben sich aus dem subjektiv eingeschätzten Wert für den Ertrag der jeweiligen Bildungsabschlüsse B (benefit), dem Wert für die erwarteten direkten und indirekten Kosten C (cost) für die einzelnen Bildungsalternativen und dem Wert für die Wahrscheinlichkeit p (probability), dass das Kind den anvisierten Bildungsweg erfolgreich abschließen wird. Erikson und Jonsson (1996) setzen den Bildungsertrag bei einem Misserfolg auf Null, während die Kosten den Wert C beibehalten. Diesen Zusammenhang stellen Erikson und Jonsson (1996: 14) in folgender Gleichung dar: U = (BC)P-C(1-P). Eine Vereinfachung der Gleichung für dieses Modell der subjektiven Werterwartung ergibt schließlich: U = p · B-C. Bei der Erklärung des Zusammenhangs zwischen Klassenlage und Bildungsentscheidung orientieren sich Erikson und Jonsson (1996) weitgehend an der Argumentation von Boudon (1974). Aufgrund günstiger Voraussetzungen im Elternhaus weisen Kinder aus höheren Sozialschichten eher bessere Schulleistungen auf, während Arbeiterkinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft eher kognitive Nachteile haben. Aufgrund dieses primären Herkunftseffektes variiert die Wahrscheinlichkeit für den Bildungserfolg p zwischen den sozialen Klassen, wobei nach Erikson und Jonsson (1996) dieser Wert umso größer ist, je höher das Bildungsniveau der Eltern und deren daran geknüpfte Kompetenz, dem Kind in der Schule behilflich zu sein. Des Weiteren wird der Bildungserfolg umso wahrscheinlicher, je besser die Ausstattung des Elternhauses mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital ist (vgl. Becker 1999).21 21 Die Unterscheidung unterschiedlicher Kapitalstöcke, über die Privathaushalte sowie Familien und ihre Mitglieder verfügen, orientiert sich am Konzept von Bourdieu (1977, 1983). Das ökonomische Kapital umfasst Kapital und Besitz, das soziale Kapital beschreibt die sozialen Verpflichtungen oder „Beziehungen“ und damit Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Beim kulturellen Kapital unterscheidet Bourdieu (1983) unterschiedliche Formen. Unter inkorporiertem kulturellem Kapital werden alle Denk- und Handlungsschemata,
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Ferner stellen für statusniedrige Klassen anfallende Bildungskosten ņ gemessen am verfügbaren Haushaltseinkommen ņ eine größere finanzielle Belastung als für statushöhere Elternhäuser dar. So neigen Eltern in niedrigeren Sozialschichten dazu, die Bildungskosten zu überschätzen, während die Bildungserträge unterschätzt werden. Arbeiter mit geringen Ressourcen gehen folglich nur dann das Risiko ein, ihr Kind auf das Gymnasium zu schicken, wenn die Erfolgsaussichten sehr gut sind. Dagegen ist für höhere Klassen der Bildungsertrag bedeutsamer, weil der negative Wert eines Statusabstieges schwerer wiegt als die Kosten für eine höhere Bildung oder als die anfallenden Bildungskosten für einen nachholenden Aufstieg. Aufgrund dieses sekundären Herkunftseffekts variieren nach Erikson und Jonsson (1996) die Werte für Bildungskosten C und Bildungserträge B zwischen den sozialen Klassen in der Weise, dass für statusniedrigere Elternhäuser bei einer anstehenden Bildungsentscheidung der Kostenaspekt dominiert, während bei den höheren Sozialschichten eher Bildungserträge überwiegen. Trotz der Nähe zum Erklärungsmodell von Boudon (1974) legen Erikson und Jonsson (1996) für die Erklärung der Klassenunterschiede in der Bildungsentscheidung eher das Schwergewicht auf die primären Herkunftseffekte, also auf die Variation in der Wahrscheinlichkeit für einen Bildungserfolg der Kinder, und berücksichtigen in besonderer Weise auch die institutionellen Einflüsse des Bildungssystems. Dagegen stellen für die beiden Autoren die Bildungserträge an sich nicht die alles entscheidenden Einflüsse der elterlichen Bildungsentscheidungsprozesse dar, sondern es bleibt letztlich empirisch zu überprüfen, welche der Determinanten der Bildungsentscheidung ein größeres Gewicht einnimmt. Das werterwartungstheoretische Modell der Bildungsentscheidung von Esser (1999) Im Anschluss an die Ansätze von Boudon (1974), von Erikson und Jonsson (1996) sowie von Breen und Goldthorpe (1998) verdeutlicht Hartmut Esser (1999: 266-275) aus werterwartungstheoretischer Sicht zunächst an einem Grundmodell die Mechanismen der elterlichen Bildungsentscheidung am Ende der Grundschulzeit ihrer Kinder. Während Erikson und Jonsson (1996) keine plausible Begründung für ihre Unterscheidung zwischen erwarteten und tatsächlichen Erfolgswahrscheinlichkeiten, Kosten und Nutzen liefern, orientiert sich Esser (1999) in seinem werterwartungstheoretischen Modell ausschließlich auf subjektiv eingeschätzten Nutzen-, Kosten- und Erfolgswerten. Des Weiteren erweitert er die bereits vorliegenden Erklärungsansätze, insbesondere die Modelle von Erikson und Jonsson (1996) bzw. von Breen und Goldthorpe (1997), um zusätzliche Determinanten, um die Unterschiede zwischen sozialen Klassen und Schichten stringenter in der Logik der subjektiven Werterwartung erklären zu können. Betrachten wir das genauer für die Bildungsentscheidung am Ende der Primarschulzeit. So müssen die Eltern beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I zwischen zwei Alternativen entscheiden: Hauptschule (An) oder weiterführende Schule (Ab). Eine Konsequenz der jeweiligen Entscheidung wird von Esser (1999) mit U, dem alle Wertorientierungen sowie sämtliche durch Sozialisation erworbenen Verhaltensmerkmale verstanden (dauerhafte Dispositionen eines Individuums). Das objektivierte kulturelle Kapital umfasst alle Kulturgegenstände (Bilder, Bücher, Musikinstrumente, kulturelle Güter etc.) und die kulturelle Praxis des Privathaushaltes zusammen. Das institutionalisierte kulturelle Kapital bezeichnet die vom Individuum erworbenen Bildungszertifikate oder Titel. Bourdieu (1983) geht von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der Kapitalien aus. Zum einen dienen sie alle dazu, die soziale Position des Einzelnen in der Hierarchie der gesellschaftlichen Klassen zu erhalten oder zu verbessern. Zum anderen ließen sich die Kapitalsorten ineinander konvertieren.
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betreffenden Betrag der Bildungsrendite, bezeichnet. Die Kosten in Höhe C, die bei der Alternative Ab entstehen, und der Wert des drohenden Statusverlusts in Höhe -SV, der bei einer nicht den sozialen Status garantierenden Bildungsentscheidung auftritt, sind nach Esser (1999) weitere Bestandteile des Kosten-Nutzen-Kalküls der Eltern bzw. Konsequenzen ihrer Bildungsentscheidung. Des Weiteren werden zwei erwartete Wahrscheinlichkeiten als relevant angenommen: Erstens bedeutet p die Wahrscheinlichkeit für den Bildungserfolg des Nachwuchses und damit die Realisierung des Bildungsertrages U. Zweitens wird die erwartete Wahrscheinlichkeit c eingeführt, dass es keinen Statusverlust in Höhe von SV gibt, wenn die höhere Bildung für das Kind gewählt wird (Esser 1999: 267). Beim Verzicht auf die höhere Bildung beträgt die Nutzenerwartung dann c(-SV), während bei fortgesetzter Bildung die entsprechende Nutzenerwartung pU+(1-p)c(-SV)-C beträgt. Daraus ergeben sich folgende Gleichungen: EU(An) = c(-SV) EU(Ab) = pU+(1-p)c(-SV)-C. Der Logik der Werterwartungstheorie entsprechend wird dann diejenige der beiden Alternativen ausgewählt, die den höchsten Nutzen erbringt (Esser 1999: 269). Höhere Bildungswege werden dann eingeschlagen, wenn gilt: EU(Ab) > EU(An) bzw. pU+(1-p)c(-SV)-C > c(-SV). Über eine Transformation gelangt Esser (1999: 270) zu folgender Ungleichung: U + cSV > C/p bzw. Bildungsmotivation > Investitionsrisiko. Esser (1999: 270) bezeichnet den Term U+cSV als Bildungsmotivation, die umso höher ist, je höher der Wert des Bildungsertrages sowie je höher und je sicherer der drohende Statusverlust bei suboptimalen Bildungsentscheidungen eingeschätzt wird, und den Term C/p als Investitionsrisiko, der bei konstanten Kosten umso größer ist, je unsicherer der Bildungserfolg erscheint. Vernachlässigt man die Höhe der Bildungskosten, dann muss bei geringen Erfolgswahrscheinlichkeiten die Bildungsmotivation der Eltern sehr groß sein, damit sie sich für die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I entscheiden. Für die Erklärung klassenspezifischer Bildungsentscheidungen nimmt Esser (1999) in Anlehnung an die Argumentation von Boudon (1974) an, dass der Wert für den Bildungsertrag U und die Kosten C für alle Sozialschichten gleich ist. Jedoch gilt erstens: Für statusniedrige Elternhäuser ist der Statusverlust geringer als für statushöhere Sozialschichten, wenn sie auf die höhere Bildung der Kinder verzichten. Anlehnend an die ‚Social Position Theory‘ (Boudon 1974; Keller und Zavalloni 1964) und übereinstimmend mit Kernaussagen der ‚Prospect Theory‘ von Kahneman und Tversky (1979) wird angenommen, dass der bislang vom Elternhaus erreichte Status die Referenzposition in der gesellschaftlichen Hierarchie darstellt, von dem aus Statusverluste infolge suboptimaler Bildungsentscheidungen bewertet werden (Esser 1999: 348-349). Somit sind mittlere und höhere Sozialschichten in Abhängigkeit ihrer Positionierung im gesellschaftlichen Schichtgefüge motiviert, über weitere Bildungsanstrengungen wahrscheinliche Statusabstiege zu vermeiden. Je höher die Klassenlage, desto größer die Wahrscheinlichkeit für einen Statusabstieg, wenn nicht die weiterführende Schullaufbahn eingeschlagen wird. Darum ist bei den höheren Schichten die auf dem Motiv, den sozialen Status in der Generationen zu erhalten (Statuserhaltmotiv) basierende Bildungsmotivation größer als bei den niedrigeren Schichten (Esser 1999: 271).
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Zweitens gilt: Die Erfolgserwartung p ist in höheren sozialen Klassen größer als für Kinder in niedrigeren Klassen. Für statusniedrige Elternhäuser sind deswegen die Investitionsrisiken größer als für statushöhere Sozialschichten. Insgesamt zeigt Esser (1999: 271), dass die Klassenunterschiede in der Bildungsbeteiligung über die Differenzen in den Bildungsmotivationen und Investitionsrisiken zustande kommen, insbesondere durch klassendifferenzierende Variationen bei der Erfolgswahrscheinlichkeit und ņ falls auf höhere Bildung verzichtet wird ņ bei der Wahrscheinlichkeit des drohenden Statusverlusts. Diese Unterschiede würden auch dann zustande kommen, wenn man zusätzlich die Nutzen- und Kostenbeträge über die sozialen Klassen variieren würde, also unterstellen würde, dass die Bildungserträge von statusniedrigen Elternhäusern als geringer bewertet werden, aber dafür die relativen Kosten von höherer Bildung höher eingeschätzt werden. Zunächst weisen die diskutierten Ansätze augenfällige Gemeinsamkeiten auf, da sie sich in ihrer Argumentation vornehmlich an Boudon (1974) orientieren und sich graduell in der Gewichtung von primären und sekundären Herkunftseffekten unterscheiden. Im Unterschied zur Modellierung von Erikson und Jonsson (1996) sowie von Breen und Goldthorpe (1997) trägt Esser (1999) jedoch vor allem dem Motiv der Statuserhaltung in besonderer Weise Rechnung, indem er der Vermeidung von Statusverlust einen zusätzlichen Nutzenund Erwartungswert zuordnet (vgl. Kristen 1998: 36). Anknüpfend an Boudon (1974) sieht Esser (1999) die Rolle der elterlichen Ressourcen darin, dass sie zur Variation der Erwartungswahrscheinlichkeiten und gegebenenfalls zur Kompensation unerwarteter Misserfolge beitragen. So können einkommensstarke Klassen die ungünstigen schulischen Leistungen ihres Nachwuchses über Privatlehrer und Internatsbesuche ausgleichen, wozu den niedrigeren Klassen die notwendigen Mittel fehlen. Höhergebildete, sich in der Regel in höheren Sozialschichten befindliche Eltern verfügen darüber hinaus über das nötige Know-how, um die schulischen Schwierigkeiten ihres Nachwuchses auszugleichen (Esser 1999: 272). Insgesamt sind die Unterschiede in der Bewertung von Bildungsmotivation und Investition zwischen den Sozialschichten und die darauf basierende Bildungsentscheidung das entscheidende Moment für die Entstehung von Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft. Im Hinblick auf die soziale Ungleichheit der Bildungschancen ergibt sich die „Bildungsferne“ unterer Sozialschichten aus dem Zusammenspiel von sozialen Disparitäten der schulischen Leistungen und des erwarteten Studienerfolgs (primäre Herkunftseffekte) und den Bildungsmotivationen und Investitionsrisiken (sekundäre Herkunftseffekte). Die in Bezug auf Interesse an Bildung ergebenden Bildungsmotivationen („Bewusstsein“) und darauf basierenden Bildungsungleichheiten ergeben sich aus den ungleichen sozioökonomischen Bedingungen der Individuen in unterschiedlichen Klassenlagen („Sein“).
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Schlussbetrachtung
Beim gegenwärtigen Forschungsstand in der empirischen Bildungssoziologie können wir davon ausgehen, dass statt einer Monokausalität eine Vielzahl von Ursachen, eine komplexe Wechselwirkung verschiedener Einflüsse, vorliegt, die für Entstehung und Dauerhaftigkeit von Bildungsungleichheit verantwortlich zu machen ist (Breen und Jonsson 2005; Becker und Lauterbach 2008a). Für die Erklärung dieses Faktums liegen mit den ausführlich dargestellten entscheidungs- und handlungstheoretischen Ansätzen kohärente Aussagesysteme für individuelle Bildungsentscheidungen und strukturelle Emergenz von Bildungs-
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ungleichheiten. Diese Theorien haben sich bereits in mehreren empirischen Studien bewährt hat (Becker und Hecken 2007, 2008, 2009; Stocké 2007a; Van de Werfhost und Hofstede 2007; Breen und Yaish 2006; Need und De Jong 2001; Jonsson und Erikson 2000; Becker 2000, 2003; Jonsson 1999). Die Logik dieses Erklärungsversuches kann anhand des folgenden als Makro-Mikro-Makro-Schemas der soziologischen Tiefenerklärung (Abbildung 5) zusammengefasst werden (Hedström und Swedberg 1998; Esser 1993; Coleman 1986; McClelland 1967). Abbildung 5:
Heuristisches Modell für Genese und Dauerhaftigkeit von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen
Von besonderem Interesse ist – wie bereits mehrfach gesehen – der Prozess der Handlungsauswahl auf der Individualebene. Die Kognition der Situation umfasst in Bezug auf Bildung oder Ausbildung die Definition der sozialen Situation vor dem Hintergrund der sozialen Lage (Schichtzugehörigkeit und der damit verbundenen Interessen und Möglichkeiten) und den institutionellen Vorgaben des Bildungssystems. Die subjektive Evaluation der Konsequenzen bestimmter Bildungsentscheidungen hängt – wie gesehen – von den anvisierten Zielen und den gegebenen Möglichkeiten, diese Ziele realisieren zu können, ab. Solche Evaluations- und Auswahlprozesse müssen nicht zwangsläufig bewusst vorgenommen werden. Vielmehr werden grösstenteils kognitive Schemata oder Skripte sowie kognitive Situationsdefinitionen („frames“) und Handlungsroutinen oder Rollensequenzen („habits“) aktiviert, die die Entscheidungsfindung erleichtern und zeitlich abkürzen. Weil höhere Sozialschichten im Allgemeinen und Akademikerfamilien im Besonderen mit der höheren Bildung und
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Ausbildung vertraut sind und möglicherweise eine entsprechende Bildungstradition über Generationen hinweg vorweisen können, werden sie im Unterschied zu den Arbeiterklassen solche an Konsequenzen reiche und mit Unsicherheiten behaftete Bildungsentscheidungen kaum im Sinne wohlüberlegter und kalkulierter Abwägungen von Vor- und Nachteilen höherer sekundärer und tertiärer Bildung im Vergleich zu alternativen Ausbildungen treffen. Eher werden in diesen Sozialschichten mit Hilfe bereits vorhandener „frames“ und „habits“, die sich in der Vergangenheit immer bewährt haben, sichere wie „automatische Entscheidungen“ zugunsten weiterführender Bildung und Ausbildung gefällt, weil höchstwahrscheinlich nur ein minimalistischer Handlungsset ohne wirkliche Alternativen zum Studium wahrgenommen wird. Dieser Umstand würde auch erklären, warum Dienstklassen ihre Ausbildungsentscheidung im Unterschied zu den Arbeiterklassen weitgehend unabhängig von Arbeitsmarktentwicklungen vornehmen. Die situations- und kontextspezifische Selektion einer bestimmten Handlung nach der Regel der Nutzenmaximierung bzw. die Regel, dass Personen Vorteile haben, aber Nachteile vermeiden möchten, hängt bei den Bildungsentscheidungen auch von den institutionellen Regelungen des Bildungssystems ab. Auch in Bezug auf Bildung ist der Prozess der individuellen Entscheidung ein Resultat der Anpassung zielorientierter Akteure an äußere situative, von Akteuren subjektiv perzipierte und bewertete Restriktionen (z.B. eingeschränkte Mittel, ungünstige Situationen, fehlende Opportunitäten, mangelhafte Leistung etc.). Im Aggregat ergeben die zwischen den Sozialschichten variierenden Bildungsentscheidungen und die für Sozialschichten unterschiedliche Selektionen durch das Bildungssystem das zu erklärende Phänomen – nämlich die soziale Ungleichheit von Bildungschancen. Dieser Typus von Erklärung reiht sich in die Familie der strukturell-individualistischen bzw. institutionellen Erklärungen in der Bildungssoziologie ein. Sie gehen von einer zentralen Strukturierungswirkung staatlicher Institutionen für individuelle Interessen und Handlungsweisen und damit auf den Bildungsverlauf und Bildungserfolg im Lebenslauf aus. Sie stellen auch auf die Kontingenz von Bildungsentscheidungen für den Bildungsverlauf ab, die sich durch die Wirkungsweise von Bildungsinstitutionen ergeben. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass in deutschsprachigen Ländern wie Schweiz, Deutschland oder Österreich die erste zentrale und Weichenstellung im Bildungsverlauf frühzeitig nach vier, fünf oder sechs Grundschuljahren erfolgt und damit vergleichsweise früher als in vielen anderen europäischen Staaten. Die dadurch „erzwungenen“ Bildungsentscheidungen des Elternhauses haben langfristig bindende, schwerlich revidierbare wie sozial selektive Konsequenzen, die sich auf jede darauf aufbauende Weichenstellung im Bildungssystem und damit auf Struktur und Chancen im Bildungs-, Berufs- und Lebensverlauf auswirken. Zudem sind diese frühen Entscheidungen durch Unsicherheiten geprägt, da zu frühen Zeitpunkten noch geringere Evidenzen für Leistungsfähigkeit der Schüler und eigene Interessiertheit der Schulkinder am Bildungsweg vorliegen.22 Daher wird sowohl den elterlichen 22 Mit Daten der PISA 2000-Studie haben Baumert und Schümer (2001) den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lesekompetenzen aufgezeigt. Es ist auffallend, dass gerade in denjenigen Ländern die soziale Ungleichheit von Lesekompetenzen besonders groß sind, in denen früh nach unterschiedlichen Schullaufbahnen differenziert wird – eine sozialstrukturelle Segregation nach sozialer Herkunft erfolgt – und das Bildungssystem durch einen hohen Grad an Standardisierung und Stratifizierung des Bildungssystems bei einer ausgeprägten beruflichen Spezifität gekennzeichnet ist (z.B. Deutschland, Schweiz und Niederlande). Die günstigen Ergebnisse werden in den Ländern mit einer hohen Standardisierung, aber niedrigen Stratifizierung und beruflichen Spezifität erbracht. Offensichtlich vermag das sozial selektive Schulsystem Deutschlands nicht in ausreichender Weise die Schulkinder nach ihren Begabungen und Leistungen zu sortieren (Becker und Schubert 2006).
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Bildungsentscheidungen (Ambitionen und Interessen) als auch den Entscheidungen des Lehrers und seiner Vorurteile ein entsprechend großzügiger Handlungsspielraum eingeräumt (Erikson und Jonsson 1996). Zwar basiert die Bildungsempfehlung des Lehrers hauptsächlich auf den Zensuren des Schulkindes, aber es ist auch nicht zu übersehen, dass die Zensuren größtenteils Produkt der Lehrereinschätzung des Schülerverhaltens im Leistungs- und Sozialbereich sowie der sozialen Sichtzugehörigkeit ist: Bildungsentscheidungen sind sozial selektiv, aber dies trifft eher für die Elternentscheidungen als für die Lehrerentscheidung zu (Ditton 1989: 228). Somit wiegen primäre und sekundäre Herkunftseffekte besonders schwer in den Schulsystemen, die wie das deutsche eine extrem frühe Aufteilung der Schulkinder in die verschiedenen Laufbahnen der dreigeteilten Sekundarstufe vornehmen, die „weder einer bestmöglichen Förderung der Talente noch der Erhöhung von Durchlässigkeit und sozialer Chancengleichheit dient“ (Müller 2002: 52). Eine abschließende Beurteilung des aktuellen Forschungsstandes kann folgendermaßen lauten: Wir wissen in der Zwischenzeit recht viel über Bildungsungleichheiten als gesellschaftliches Phänomen. Jedoch sind noch viele Fragen über die Ursachen von Bildungsungleichheiten offen. Eine Vielzahl von kürzlich initiierten Längsschnittstudien, die sich den empirischen Analysen von Entstehung elterlicher Bildungsaspirationen sowie Formation von Bildungsentscheidungen im Familien- und Haushaltskontext widmen, hat das Potential, offene Fragen zu klären. Dazu zählen etwa die BiKs-Studie an der Universität Bamberg (Hans-Peter Blossfeld und andere) oder das an der Universität Mannheim angesiedelte Teilprojekt A-7: „Educational aspirations, reference groups and educational decisions“ im Rahmen des von der DFG finanzierten SFB 504 über Rationalitätskonzepte, Entscheidungsverhalten und ökonomische Modellierung (Hartmut Esser und Volker Stocké) oder die an der LMU München angesiedelte und von der DFG finanzierte Längsschnittuntersuchung KOALA-S (Kompetenzaufbau und Laufbahnen im Schulsystem) (Hartmut Ditton und Mitarbeiter). Weiter zu nennen wäre DEBIMISS für „Determinanten des Bildungserfolges von Migranten im Schweizer Schulsystem“ (Rolf Becker und Michael Beck an der Universität Bern) oder TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben am Institut für Soziologie der Universität Basel). Und schließlich wird das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in enger Abstimmung mit den Bundesländern (vertreten durch die KMK), von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) sowie vom Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB) finanzierte und von vielen Institutionen der Bildungsforschung getragene nationale Bildungspanel (NEPS für „National Educational Panel Study“ unter der Konsortiumsleitung von Hans-Peter Blossfeld) einen erheblichen Schritt in einer tiefgehenden Aufklärung von Bildungsungleichheiten tun. Auf der Basis von Kohorten-Sequenz-Analysen und unter Einbeziehung von regelmäßigen Kompetenzmessungen werden systematische wie detaillierte Längsschnittuntersuchungen über Bildungsungleichheiten vorgenommen. Im Vordergrund stehen Fragen der Kompetenzentfaltung im Lebenslauf und der Einfluss von individuellen Kompetenzen auf Bildungsentscheidungen an verschiedenen kritischen Übergängen im Bildungsverlauf. Ebenso wird verfolgt, wie und in welchem Umfang Kompetenzen von Lerngelegenheiten in der Familie, der Gleichaltrigengruppe und der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen in Kindergarten, Schule, Hochschule und Berufsausbildung sowie Weiterbildung und lebenslanges Lernen beeinflusst werden. Schließlich wird die Rolle von Kompetenzen für den Bildungserfolg und die Bildungsprozesse vor, in und außerhalb des Bildungssystems untersucht.
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Sicherlich werden all diese Projekte zur kumulativen Beschreibung und systematischen Erklärung von Bildungsungleichheiten beitragen. Durch die Beantwortung von Fragen werden wiederum neue Probleme und Fragen auftauchen, so dass die bildungssoziologische Forschung über Ursachen, Struktur und Folgen von Bildungsungleichheiten sowohl ein spannendes Unterfangen mit sozialpolitischer Relevanz als auch ein „Motor“ für den Erkenntnisfortschritt in den Sozialwissenschaften sein wird. Wichtig ist für die Bildungssoziologie, um ein Zitat von Albert Einstein aus dem Jahre 1955 abzuwandeln, dass sie nicht aufhört zu fragen.
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Problemstellung
Wie ist die Vermittlung von Bildung organisiert? Wie sind die verschiedenen Stufen des Bildungswesens aufgebaut? Welche Rolle spielt das Bildungssystem für die Vermittlung von Wissen, für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen, welche Bildungsziele werden darin verfolgt, welche Rolle spielt es für soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft? Das Bildungssystem einer Gesellschaft erscheint so „normal“, weil es so ist, wie es ist und weil praktisch alle Mitglieder einer Gesellschaft es im Laufe ihrer Kindheit und Jugend durchlaufen, in Deutschland sogar mit gesetzlicher Verpflichtung. Aber nach welchen Regeln werden Bildungssysteme institutionalisiert? Was wird darin unterrichtet? Wer bleibt wie lange im Bildungssystem, welche Voraussetzungen gibt es für Ausstieg bzw. Verbleib? Wer trifft die Entscheidungen über die Regelungen, aber auch über Einstufung, weiteren Verbleib oder Ausstieg? Welche Auswirkungen haben diese Entscheidungen für das spätere Leben der (dann ehemaligen) Schüler? All diese Fragen werden berührt durch die Frage nach Bildungssystemen im historischen und internationalen Vergleich. Der folgende Beitrag soll einen Überblick geben über den Stand der Forschung und empirische Ergebnisse darstellen über die Auswirkungen von Bildungssystemen, insbesondere auf soziale Ungleichheit. Dabei wird folgendermaßen vorgegangen: Zu Beginn wird ein theoretischer Ansatz vorgestellt, der für die Untersuchung von Bildungssystemen besonders hilfreich und fruchtbar erscheint, der Neue Institutionalismus. Daran anschließend werden empirische Darstellungen von Bildungssystemen referiert, zuerst im internationalen Vergleich. Darauf folgt eine kurze Darstellung der Entwicklung deutscher Bildungssysteme im historischen Verlauf. Ausführlich werden dann die Bildungssysteme in Deutschland im 20. Jahrhundert beschrieben und eine Typologie zur Kennzeichnung und Unterscheidung der Bildungssysteme der Bundesländer vorgestellt. Abschließend werden aktuelle Entwicklungen und Studien im internationalen Rahmen erörtert und in ihren möglichen Auswirkungen auf Bildungssysteme diskutiert.
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Theoretische Grundlage: Neuer Institutionalismus
Institutionen sind von Anfang an ein wichtiges Feld in der Soziologie gewesen. Durkheim definierte die Soziologie sogar „als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart“ (Durkheim 1984: 100). Daher war die Soziologie immer „closely
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associated with the study of social institutions and the comparative analysis of institutional change“ (Nee 2001: 1). Gegenwärtig gibt es in der Soziologie – wie auch in anderen Fächern – eine neue Betonung der sozialen Bedeutung von Institutionen als Verbindungs„strukturen“ zwischen den Individuen und der sozialen Struktur. Anders als die historischen Wurzeln in der Soziologie (etwa Weber 1985; Durkheim 1992), die die Entstehung von Institutionen unter Bedingungen gemeinsamer Werte erklärten und weniger eine Handlungstheorie einbezogen, möchte dieser so genannte Neue Institutionalismus Institutionen eher erklären als einfach ihre Existenz annehmen (Nee 2001: 1). Der Neue Institutionalismus hat derzeit zwei Spielarten, den „Kultur“-Ansatz und den rationalen Ansatz. Der Kultur-Ansatz sieht Institutionen als Spiegel gesellschaftlicher Werte und Strukturen, die Orientierung bieten und die Ordnung stabilisieren; demnach basieren Institutionen auf gemeinsamen Überzeugungen und Vorstellungen, die in Handlungsmustern deutlich werden. In diesem Ansatz, der im vorliegenden Beitrag verfolgt wird, werden Institutionen als Transmissionsriemen zwischen Werten und Vorstellungen und ihrer Wahrnehmung, Interpretation, Übersetzung und Umsetzung gesehen; also können Institutionen sowohl Ergebnisse als auch als Bedingungen des individuellen und sozialen Handelns sein. Der „rational choice“Ansatz erklärt im Gegensatz dazu Institutionen als Reaktionen rational Handelnder auf spezifische Koordinationsherausforderungen, wo individuelle Nutzenerwägungen die individuellen Anstrengungen erklären, die für die Einsetzung und Aufrechterhaltung von Institutionen erforderlich sind (Maurer und Schmid 2002a: 21). Für ausführlichere Informationen über das Konzept des Neuen Institutionalismus in der Soziologie sind folgende Werke hilfreich: Brinton und Nee (2001); Hall und Taylor (1996); Ingram und Clay (2000), Maurer und Schmid (2002b) oder Hasse und Krücken (1999). Institutionen des Bildungswesens werden demnach, wie alle Institutionen, geformt durch Vorstellungen, Werte und Normen einer Gesellschaft und reproduzieren diese. Die Rolle von Bildungsinstitutionen ist besonders interessant, da praktisch alle Mitglieder der jüngeren Generation sie durchlaufen und so nicht nur anhand von Bildungsinhalten und Lehrplänen erreicht, sondern auch auf bestimmte Arten sozialisiert werden können. Indem man also Bildungsinstitutionen und ihre Einbettung in die Gesellschaft analysiert, kann man etwas über die zugrundeliegenden Vorstellungen, Werte und Normen und Bildungsziele innerhalb dieser Gesellschaft herausfinden. Eine besondere Spielart des Neuen Institutionalismus für Institutionen des Bildungswesens ist die von John Meyer und seinen Mitautoren vertretene; deren Ansatz bezieht sich jedoch weniger auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von Bildungssystemen, sondern vielmehr auf die Entwicklung der verschiedenen nationalen Bildungsinstitutionen in eine gemeinsame Richtung, unabhängig von ihren Ursprüngen, auf ein „World Education System“ hin (Meyer 1977; Meyer et al. 1977, 1992). Die Bedeutung der neo-institutionalistischen Perspektive wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die verschiedenen nationalen institutionellen Entwicklungen durch ihre Eingebundenheit in historische, nationale Gegebenheiten pfadabhängig sind (Mayer 2001). Eine derartige historisch-kulturelle institutionelle Trägheit von Gesellschaften liegt an ihrer „institutionellen Logik“ (Jepperson 2000), die z.B. auch die Grundlage für die Wohlfahrtsstaats-Klassifizierung von Esping-Andersen (1990; 1996; 1999; 2002b) war. Neuere Arbeiten (Room 2002; Esping-Andersen 2002a) betonen, dass die gegenwärtigen Herausforderungen für globale Wohlfahrtsstaaten eine Abwendung von der traditionellen „reaktiven“ und „konsumptiven“ Sozialpolitik hin zu „präventiver“ und „aktivierender“ Sozialpolitik führen
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sollte; hier spielt auch die Betonung von Bildung und Bildungsinstitutionen eine herausragende Rolle (vgl. auch Allmendinger 1999), Bildungsinstitutionen haben hier eine doppelte Funktion: Einerseits sind sie elementar für die Schaffung von Humankapital und Zertifikaten für die spätere erfolgreiche Teilnahme an modernen Wissensgesellschaften. Andererseits sind sie ein wichtiges Instrument der Sozialpolitik, um soziale Ungleichheit im Zusammenhang mit sozialem Hintergrund zu reduzieren (Allmendinger und Leibfried 2003).
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Empirie: Bildungssysteme im internationalen und historischen Vergleich
In jedem Land gibt es (mindestens) ein eigenes Bildungssystem, so dass es den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde, alle oder auch einige dieser Bildungssysteme detailliert zu beschreiben. Hier sei auf entsprechende Darstellungen zum internationalen historischen Vergleich (Brint 2006: Kap. 2; Schneider 1982 für 13 westeuropäische Staaten seit 1870 oder zum aktuellen internationalen Vergleich: Anweiler et al. 1996 für neun europäische Staaten) verwiesen. Vielmehr geht es darum, generelle Charakteristika und spezifische Unterscheidungsmerkmale für unterschiedliche Bildungssysteme vorzustellen. Deshalb werden im Folgenden zuerst Typologien für den internationalen Vergleich von Bildungssystemen dargestellt.
3.1 Typologien von Bildungssystemen zum internationalen Vergleich Es gibt einige Typologien von Bildungssystemen, die sich nicht nur auf die Unterschiede in Deutschland beziehen, sondern anhand derer Vergleiche zwischen den Bildungssystemen verschiedener Länder getroffen wurden. Turner (1960) weist im Rahmen eines Vergleichs der Bildungssysteme in England und den Vereinigten Staaten auf zwei Arten von Mobilität hin – er unterscheidet „sponsored mobility“ für England und „contest mobility“ für die USA –, anhand derer sich diese beiden Bildungssysteme unterscheiden. Dabei analysiert er, welche Legitimation für Mobilität und den Zugang zu den oberen Klassen innerhalb der jeweiligen Gesellschaften vorherrschen und wie diese in der Organisation und Struktur des jeweiligen Bildungssystems umgesetzt werden. Grundlage der Untersuchung sind die hinter den jeweiligen Systemen stehenden Normen und Wertorientierungen. Dieser Ansatz wurde zur Grundlage für weitere Typologien, ist jedoch empirisch äußerst schwer zu überprüfen. Hopper (1967) definiert in Anlehnung an Turner vier Dimensionen, anhand derer sich verschiedene Bildungssysteme gruppieren lassen: Wie findet die Auswahl der Schüler für die höheren Bildungsgänge statt? Wann findet die Auswahl der Schüler statt? Wer wird ausgewählt? Warum wird er ausgewählt? Die beiden ersten Dimensionen beziehen sich also auf die Kontrolle und Struktur des jeweiligen Bildungswesens, während die letzteren beiden die Ideologie und normative Grundlagen innerhalb der jeweiligen Gesellschaften betreffen. Die jeweiligen Ideologien bezeichnet er als partikularistisch (mit den Ausprägungen individualistisch – „aristokratisch“ – oder kollektivistisch – „paternalistisch“) bzw. universalistisch (mit den Ausprägungen individualistisch – „meritokratisch“ – oder kollektivistisch „kommunistisch“). Hopper (1967) nimmt eine Einordnung der Bildungssysteme verschiedener Länder vor, bleibt aber in der Begründung ungenau.
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Allmendinger (1989) legt eine Untersuchung des Zusammenhangs von Bildungssystem und Arbeitsmarkt-Ergebnissen in Deutschland, Norwegen und den USA vor. Diese beruht auf einer Typologie entlang der Dimensionen Standardisierung des Bildungssystems und Untergliederung („stratification“) des Bildungssystems. Erwähnt werden sollte hier noch die umfassende Aufzählung und Erläuterung der verschiedensten Aspekte von Bildung, die zu einem interkulturellen Vergleich herangezogen werden könnten, wie sie Henry (1960) zusammengestellt hat. Internationale Analysen von Faktoren, die zur Bildungsexpansion beigetragen haben könnten, zeigen Meyer et al. (1977). Auf Faktoren, die Variationen von Bildungsungleichheit beeinflussen, gehen Erikson und Jonsson (1996b: 9-49) sehr ausführlich und differenziert und mit vielen Beispielen ein.
3.2 Bildungssysteme in Deutschland im historischen Verlauf Bevor nun die Bildungssysteme in Deutschland charakterisiert werden, soll, auch in Bezug auf den Ansatz des Neuen Institutionalismus und die Pfadabhängigkeit von Bildungssystemen, kurz erläutert werden, in welchem Rahmen Bildungssysteme auf deutschem Gebiet überhaupt entstanden sind. Zur Entstehung öffentlicher Bildungssysteme In Preußen und anderen deutschen (und europäischen) Herrschaftsgebieten wurde die Schulpflicht eingeführt (1763 in Preußen) und allgemeinbildende Einrichtungen geschaffen durch die Fürsten und ihre Regierungen. Diesen Entscheidungen lagen deren Interessen zugrunde, insbesondere die Bereitstellung zu einem Mindestmaß qualifizierter Soldaten und die Qualifikation von Bürgern im Rahmen der Bestrebungen, die wirtschaftliche und militärische Situation zu verbessern (Friedeburg 1992; Brint 2006: 35f.). Hier lagen der Einrichtung von Bildungssystemen, den Lehrplänen und den Bildungszielen also grundlegend andere Werte und Vorstellungen zugrunde als dies z.B. in einem Land wie den USA der Fall war, in dem durch Bildungsinstitutionen vor allem Demokratie und „citizenship“ vorangebracht werden sollten (siehe den umfassenden Literaturüberblick in Busemeyer 2006). Im historischen Verlauf hat es viele Änderungen an den Bildungssystemen der einzelnen Staaten im deutschen Reich gegeben, und es gab umfangreiche Interessengruppen, die (teilweise erfolgreich) Einfluss auf Strukturen und Inhalte des deutschen Bildungssystems nahmen. So ist das Bildungswesen immer auch als ein Spiegel der jeweils geltenden Werte und gesellschaftlichen Strukturen zu sehen. Die Dreigliedrigkeit des deutschen Bildungssystems etwa, die heute noch überwiegend besteht, ist ein Spiegelbild der Ständegesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts und auch das Ergebnis bildungsbürgerlicher Bestrebungen, ihren Einfluss- und Bildungsbereich vor aufstrebender Konkurrenz zu schützen (Lutz 1983). In der Weimarer Republik gab es eine erste Reformschulbewegung, die Bildungsbeteiligung von Mädchen und Frauen wuchs. Im Nationalsozialismus wurde umfassende Bildung nicht als besonders wichtig erachtet, insbesondere nicht für Mädchen und Frauen, aber es wurden doch parallele Institutionen geschaffen, die die zukünftige Elite des Dritten Reiches hervorbringen sollten. Nach dem Krieg versuchten die Besatzungsmächte, ihre Vorstellungen für das Bildungssystem durchzusetzen. Wie das erfolgreich gelang, wird weiter unten bei der ausführlichen Darstellung des Bildungssystems der DDR erläutert. Wo weniger Druck möglich war, scheiterten diese Bemühungen – so entzog sich Bayern dem
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deutlichen Druck der Amerikaner, Gesamtschulen einzuführen; und in Hamburg, wo ein solches System zu Besatzungszeiten eingeführt worden war, wurde dies wieder rückgängig gemacht. Dies sind Beispiele für die Stärke und Beharrungskraft von gesellschaftlichen Vorstellungen über Bildung, die sich auch durch äußeren Druck nicht verändert haben (Friedeburg 1992). So wurde in der Bundesrepublik das bis vor dem Dritten Reich vorhandene Bildungssystem wieder eingeführt: dreigliedrig, häufig konfessionell organisiert, nach Geschlechtern getrennt, mit großen Unterschieden zwischen Stadt und Land. Situation in den 1960er Jahren: Reformen und ihre Ergebnisse Seit den 1960 er Jahren gab es darüber Diskussionen und Untersuchungen (Picht 1964; Dahrendorf 1966; Peisert 1967; siehe auch Becker 2007a), die sich in umfassenden Bildungsreformen in einigen und im dezidierten Festhalten an den traditionellen Schulsystemen in anderen Bundesländern niederschlugen (ausführlich hierzu: Friedeburg 1992). Ein Aspekt, der bei der Diskussion in der Öffentlichkeit und in der Politik seit den 1960er Jahren eine herausragende Rolle gespielt hat, ist die Frage, inwieweit diese Reformen und die damit verbundenen Schulsysteme bzw. bestimmte Strukturen im Bildungswesen einen positiven oder negativen Einfluss auf die Bildungschancen von Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft haben. Die Auswirkungen der Bildungsreformen auf die Ausschöpfung der Begabungsreserven und die Herstellung von Chancengleichheit für Jugendliche verschiedener sozialer Herkunft in der alten Bundesrepublik wurden immer wieder im Rahmen empirischer Untersuchungen – unter verschiedenen Gesichtspunkten und Maßstäben sowie mit verschiedenen Datensätzen und Methoden – analysiert. Dabei ist jedoch nicht eindeutig nachzuweisen, dass die Veränderungen in einem klaren Zusammenhang mit den Bildungsreformen stehen; so stellen Müller und Haun (1994: 15) fest, dass die Bildungsexpansion lange vor den Veränderungen im Bildungssystem begonnen hat. Henz (1994) berichtet von einem kontinuierlichen Anstieg der Bildungsbeteiligung – und nicht etwa einer sprunghaften Zunahme, wie man das vermuten könnte. Die Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren Seit den sechziger Jahren hat auf breiter Ebene eine deutliche Expansion der Bildungsbeteiligung Jugendlicher stattgefunden. Insgesamt gehen mehr Kinder und Jugendliche deutlich länger in die Schule als früher. Dies gilt für beide Geschlechter, für alle sozialen Gruppen und in sämtlichen Regionen. Anders als im öffentlichen Bewusstsein gegenwärtig, fand diese Bildungsexpansion jedoch auf zweierlei Ebenen statt (Klemm 1996: 428-431; Klemm 2000: 150-151): im Bereich des „niederen“ und „mittleren“ Schulwesens wie im Bereich „höherer“ Bildung. Diese beiden Entwicklungen sind durchaus unterschiedlich verlaufen. Die Expansion im niederen und mittleren Bereich beruhte auf der Einführung des verpflichtenden neunten Schuljahres und des freiwilligen zehnten Hauptschuljahres; zudem besuchen deutlich mehr Schüler Realschulen, so dass die Hauptschule quasi zur „Restschule“ wurde (Grimm 1987). Außerdem wurden Berufsausbildungen in ihrer Dauer verlängert und mehr und mehr zur Regel, so dass von den 1966-1970 Geborenen nur noch 11,2 Prozent ohne Berufsausbildung geblieben sind (Klemm 1996: 429). Hier hat es also Veränderungen des Bildungssystems gegeben, die sich deutlich auswirken. Die Expansion im höheren Bereich lässt sich an merklich gestiegenen Abiturientenanteilen feststellen (dies gilt nur für den Westen Deutschlands; zur Situation in der DDR vgl.
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Kapitel 4). Auch hat sich die Zahl der Studienanfänger deutlich erhöht. Diese Expansion ist auch auf die „Entmonopolisierung“ (Klemm 1996: 431) des Gymnasiums zurückzuführen – und steht damit (zumindest teilweise) in direktem Zusammenhang mit den Bildungsreformen der 1960er Jahre. Das Ausmaß der Veränderungen der Bildungssysteme und ihre Auswirkungen auf die soziale Ungleichheit – sowie der tatsächliche Einfluss der Bildungsreformen auf diese Veränderungen – kann hier nur anhand einer Auswahl von Studien referiert werden: Einen informativen Überblick geben auch Bellenberg und Klemm (1995), Krais (1996), Müller (1998: 88-92), Hansen und Pfeiffer (1998), Meulemann (1999), Klemm (2000), Hradil (2001: 160-173) und schließlich Becker (2006). Auswirkungen der Bildungsexpansion auf soziale Ungleichheit Ungleichheit nach Geschlecht ist im allgemeinbildenden Schulwesen als Benachteiligung von Mädchen nicht mehr vorhanden, vielmehr haben die Mädchen die Jungen überholt: Sie besuchen eher „ranghöhere“ Schularten und erwerben höhere schulische Bildungsabschlüsse (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2000; Horstkemper 1995). Auch in Bezug auf die berufliche Bildung haben die jungen Frauen ihre männlichen Altersgenossen hinter sich gelassen. Allerdings ist die fachliche Ausrichtung der gewählten Ausbildungen und Studienfächer deutlich unterschiedlich, woraus sich oft Unterschiede für Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten ergeben. Empirische Untersuchungen in jüngerer Zeit analysierten Ungleichheiten nach sozialer Herkunft im Bildungssystem anhand verschiedener Datensätze und in Bezug auf unterschiedliche Aspekte: Einen starken Einfluss der Familie auf die Bildungschancen sehen verschiedene Untersuchungen (Engel und Hurrelmann 1989; De Graaf 1988; Stecher und Dröge 1996). Desgleichen wirkt sich das Einkommen der Eltern auf die Bildungswege der Kinder aus (Büchel und Wagner 1996: 84). Mayer und Blossfeld (1990: 310) kommen zu dem Schluss, dass die „Bildungsexpansion der sechziger Jahre nicht zu einem geringeren, sondern zu einem stärkeren Einfluss des Elternhauses [führte]“. Anhand der Analyse amtlicher Daten und des Sozio-ökonomischen Panels konstatieren Müller und Haun (1994) andererseits, dass sowohl in Bezug auf die Bildungsbeteiligung als auch auf die erworbenen Bildungsabschlüsse die Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen deutlich kleiner geworden sind. Auch Schimpl-Neimanns (2000) stellt fest, dass ein deutlicher Ungleichheitsabbau stattgefunden hat, der sich allerdings überwiegend auf den Besuch von weiterführenden Schulen statt Hauptschulen bezieht; Ungleichheiten zwischen dem Besuch des Gymnasiums im Gegensatz zur Realschule bestehen weiter fort (vgl. auch Henz und Maas 1995; Becker 2006). Folgende Aspekte sollten bei der Interpretation der dargestellten Ergebnisse berücksichtigt werden: Rückgänge in den Unterschieden der Bildungsbeteiligung sozialer Gruppen können auch auf dem sogenannten „ceiling“-Effekt beruhen (vgl. Becker 2006): Zu einem bestimmten Zeitpunkt ist der Anteil einer bestimmten Gruppe so hoch, dass er nicht weiter wachsen kann. Die anderen Gruppen verfügen noch über Wachstumspotenzial und können ihre Anteile steigern. Dadurch verringert sich der Abstand zwischen den Gruppen (Müller und Haun 1994). Beim Vergleich der Bildungsbeteiligung Jugendlicher in Abhängigkeit von der beruflichen Stellung ihres Vaters ist außerdem zu berücksichtigen, dass sich seit den sechziger Jahren die Berufsstruktur in der Bundesrepublik erheblich gewandelt hat. Der Anteil der Arbeiter ist insgesamt zurückgegangen, der Anteil der Angestellten ist nun deutlich höher als damals.
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Auch die ausgebauten Möglichkeiten des zweiten Bildungsweges oder anderer institutionalisierter Wege, frühere Bildungsentscheidungen zu revidieren, wie auch Schulformwechsel während des Schulbesuchs führen nicht automatisch zu besseren Chancen für bildungsferne Menschen, da sie oft von Personen mit einem höheren Bildungshintergrund in Anspruch genommen werden (Blossfeld 1989: 86-89, 147; Blossfeld 1988a, 1988b; Henz 1997b, 1997a; Hillmert und Jacob 2005). Personen mit Migrationshintergrund waren eine Bevölkerungsgruppe, deren Qualifikation in den sechziger Jahren nicht diskutiert wurde. Auch die sozialwissenschaftliche Forschung widmet sich erst in den beiden letzten Jahrzehnten dem Verbleib und der Integration von ausländischen Kindern im Rahmen des deutschen Bildungssystems. Die Befunde hierzu sind alarmierend: Ausländerkinder der meisten Nationalitäten besuchen häufiger eine Hauptschule und verlassen häufiger das Bildungssystem ohne einen Abschluss (Alba et al. 1994; von Below 2003). Insgesamt weisen Ausländer deutlich geringere Bildungsabschlüsse auf als Deutsche; diese Bildungsunterschiede zwischen Deutschen und Ausländern werden jedoch sukzessive geringer, je jünger die betrachteten Personen sind (Dinkel et al. 1999). Die in Deutschland lebenden Personen mit Migrationshintergrund haben jedoch nach Alter und Herkunftsgruppen unterschiedliche Ausbildungsniveaus. So weisen Türken, die die zahlenmäßig größte Gruppe unter den in Deutschland lebenden Ausländern stellen (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000: 17), über alle Altersgruppen hinweg die niedrigste Schulabschlussquote und auch – ähnlich wie Kinder aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien – die geringsten Anteile von Jugendlichen in der gymnasialen Oberstufe auf (Dinkel et al. 1999). Es lässt sich feststellen, dass bei dieser Gruppe, wie bei allen anderen auch, der Anteil der besser qualifizierten Ausländer unter den Jüngeren zunimmt. Wie bei der deutschen korreliert auch bei der ausländischen Bevölkerung der Besuch weiterführender Schulen stark mit dem Bildungsabschluss der Eltern (Dinkel et al. 1999: 369; Seifert 2000; von Below 2003). Außerdem spielt das Alter bei der Einreise nach Deutschland eine Rolle und auch die Zugehörigkeit zur ersten oder zweiten Einwanderergeneration (vgl. auch Portes und Rumbaut 2006): Je älter das Kind bei der Einreise ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, die Oberstufe des Gymnasiums zu besuchen (Dinkel et al. 1999). So lässt sich feststellen, dass die Bildungschancen der zweiten Einwanderergeneration überwiegend besser sind als die der ersten (von Below 2004; Müller und Stanat 2006). Die Einschätzung Klemms, die Kinder der Arbeitsmigranten seien die „neuen Benachteiligten“ (Klemm 2000: 158), beschreibt also tatsächlich den gegenwärtigen Stand. Allerdings ist zu hoffen, dass sich die festgestellte positive Entwicklung fortsetzt. Abschließend lässt sich also festhalten, dass das Ziel, die Bildungsbeteiligung von Jugendlichen insgesamt zu erhöhen, erreicht wurde. Da insgesamt das Angebot an höher Qualifizierten gestiegen ist wie auch die Anforderungen von Arbeitgebern, ist die Situation von Hauptschulabbrechern oder -absolventen besonders schlecht, sie haben nur sehr geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt (Allmendinger 1999; Solga 2005). Nach diesem Überblick über die Auswirkungen von Bildungsreformen in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren und die Chancengleichheit im Bildungssystem sollen zwei Bildungssysteme des 20. Jahrhunderts in Deutschland ausführlich dargestellt werden: das der DDR und das der „alten“ Bundesländer im Jahre 1997.
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Bildungssysteme in Deutschland im 20. Jahrhundert: Zwei ausführliche Beispiele
4.1 Das Bildungssystem der DDR Historischer Rückblick Für die Etappe der antifaschistisch-demokratischen Schulreform ist das 1946 in der sowjetisch besetzten Zone beschlossene „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ grundlegend. Es führte – vor den ersten Wahlen und der Gründung der DDR – eine entscheidend neue Struktur des Bildungswesens ein: Grundlage war die acht Jahre umfassende, für alle Kinder gemeinsame Grundschule als „demokratische Einheitsschule“, die rein staatlich, also ohne jeglichen kirchlichen oder privaten Einfluss geführt wurde (während in den Westzonen die konfessionellen Schulen über Jahre hinweg Bestand hatten und der Religionsunterricht noch heute Bestandteil des Lehrplans ist); daran schloss sich eine zum Abitur führende, vierjährige Oberschule an. Ergänzend wurden Vorstudienanstalten geschaffen, die 1949 in „Arbeiter- und Bauernfakultäten“ umbenannt wurden. Das neue Schulsystem sollte das Bildungsmonopol privilegierter Bevölkerungsschichten brechen und gezielt solche Gruppen fördern, die bisher benachteiligt gewesen waren (Fischer 1992: 34). Durch Entnazifizierung und Einstellung kurzfristig ausgebildeter Neulehrer war die Lehrerschaft bis 1949 zu zwei Dritteln ausgewechselt und stark parteipolitisch (im Sinne der SED) geprägt. In der Etappe des Aufbaus der sozialistischen Schule richtete sich die Bildungspolitik in der DDR ab 1949 zunehmend nach dem Vorbild der Sowjetunion (während die Westzonen und dann die Bundesrepublik sich verstärkt an den deutschen bildungspolitischen Traditionen vor 1933 orientierten). Ab 1952 wurde als Leitbild der schulischen Erziehung in der DDR die „allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit“ ausgegeben. Vom Schuljahr 1950/51 an sollte die Grundschule auf zehn Jahre erweitert werden; diese Schulform wurde 1956 in „Mittelschule“ und schließlich 1959 in „allgemeine polytechnische Oberschule“ (POS) umbenannt. Die POS wurde im Rahmen des Gesetzes über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens zur obligatorischen Schule erklärt. Die Oberschule, die bis zum Abschluss der 12. Klasse und damit zum Abitur führte, hieß „Erweiterte Oberschule“ (EOS). 1950 wurde das Fernstudium, 1959 das Abendstudium eingeführt. Auf diesem Wege konnten bereits Berufstätige Fachschul- oder Studienabschlüsse erwerben. Insbesondere die Fernstudenten stellten große Anteile der Studierenden an Fach- und Hochschulen (in den 1980er Jahren ein gutes Drittel an Fach- und ein Zehntel an Hochschulen; Fischer 1992: 6974). Ab dem Schuljahr 1958/59 wurde für alle Schülerinnen und Schüler obligatorisch der polytechnische Unterricht eingeführt, in dem berufsweltliche Aspekte und Bereiche in das allgemeine Schulsystem integriert wurden. Polytechnischer Unterricht und seine Verbindung von Schule und Produktion war in seiner Konzeption beispielhaft für viele Länder (Hörner 1990: 218ff.). Die allgemeine Berufsbildung im Anschluss an die POS war jedoch i.A. – wie in der Bundesrepublik – eine Kombination von praktischer Ausbildung im Betrieb und begleitendem Berufsschulunterricht. Im Rahmen der Berufsausbildung mit Abitur, die seit 1959 angeboten wurde, konnte innerhalb von drei Jahren im Zusammenhang mit einer Lehre das Abitur erworben werden.
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Maßgeblich für die Etappe der Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems war das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ von 1965. Es blieb bis zum Ende der DDR gültig und regelte die Struktur des gesamten Bildungssystems der DDR, betraf also sämtliche allgemein und spezial bildenden Bereiche des Schulsystems. Zu Beginn dieser Phase wurde das ursprünglich angestrebte Ziel, nämlich das Bildungsprivileg der besitzenden Klassen zu brechen, als erreicht betrachtet. Das Postulat „gleiches Recht auf Bildung“ wich einem Recht auf entweder Oberschulbildung oder Berufsbildung (Fischer 1992: 51). Nach der bewusst geförderten Bildungsexpansion, die bewirkte, dass sich die Zahl der Studenten von 1951 (31.512) bis 1972 (160.967) mehr als verfünffachte, wurde diese Entwicklung mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 bewusst zurückgenommen. So sank die Zahl der Studierenden bis 1989 auf 134.400; die DDR war das einzige Land, in dem die Bildungsexpansion derart zurückgenommen wurde. Das Bildungswesen der DDR im Jahr 1989 Zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung war das System der schulischen Bildung der DDR folgendermaßen aufgebaut (Anweiler et al. 1992: 531): Grundstock bildete die zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule (POS), deren Besuch für alle Kinder und Jugendlichen verbindlich war. Abgesehen von der Möglichkeit, zusätzlich zum allgemeinen Unterricht ergänzende Kurse zu besuchen, absolvierten alle Schüler eines Altersjahrgangs dieselbe Schulausbildung. Die Schule war mehr als eine primär auf Leistung ausgerichtete Institution: Wie für die Erwerbstätigen die Betriebe, so waren für die Jugendlichen die Schulen Orte, durch die das soziale Leben maßgeblich gestaltet wurde. Es galt als allgemeines Ziel, allen Schülern das Erreichen des jeweiligen Klassenziels zu ermöglichen, so dass die Klassen nach Ende des Schuljahres geschlossen in die nächsthöhere Stufe wechseln konnten. So wurde durch die intensive Förderung von schwächeren Schülern und eine gewisse Dämpfung bzw. Selektion besonders leistungsstarker Schüler für Spezialschulen eine Nivellierung vollzogen (Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen 1990). Nach dem Abschluss der POS wurde es einem kleinen Teil (ca. 10 Prozent) der Schüler ermöglicht, auf die Erweiterte Oberschule (EOS) zu wechseln (Baske 1990: 214), auf der in zweijähriger Schulzeit das Abitur erworben wurde. Hierfür war jedoch nicht nur die fachliche Eignung ausschlaggebend, sondern auch das gesellschaftspolitische Engagement und die soziale Herkunft, also auch die soziale Stellung der Eltern (Marggraf 1993: 120; Geißler 1983: 760; Becker 2006). Für Absolventen der POS, die nicht auf die EOS überwechselten, schloss sich im Allgemeinen eine Berufsausbildung an, die für einen kleinen Anteil der Auszubildenden bei einer verlängerten Lehrzeit von drei Jahren mit dem Abitur abgeschlossen werden konnte (hier erreichten in den 1970er und 1980er Jahren ungefähr ein Drittel der Abiturienten ihren Abschluss; Fischer 1992: 66). Ein kleiner Teil der Absolventen der POS entschied sich für ein Studium an Fachschulen. Ein Fachschulstudium dauerte drei, im Fernstudium fünf Jahre, der Frauenanteil lag mit gut 70 Prozent sehr hoch (Statistisches Bundesamt 1991: 387). Eine in der DDR schon früh geschaffene Einrichtung war die Möglichkeit, auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur zu erwerben. Auch Fachschul- und Universitätsabschlüsse konnten im Rahmen von Fern- und Abendstudien erworben werden. Das Abitur berechtigte nicht zur Aufnahme eines Studiums, es war lediglich Voraussetzung zur Bewerbung um einen Studienplatz. Falls es nicht genügend Studienplätze für
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die Interessenten gab, wurde durch Umlenkungsgespräche das Studienplatzangebot mit der Nachfrage abgestimmt: Die Bewerber konnten sich für ein weniger gefragtes Studienfach entscheiden, es nach einem Jahr Arbeiten noch einmal versuchen oder einen Facharbeiterberuf erlernen (Huinink et al. 1995: 98; Rytlewski 1990: 445). Der Anteil der Bevölkerung, der in der DDR ein Studium abschloss, lag etwas unter 10 Prozent und damit geringfügig über dem entsprechenden Anteil in der alten Bundesrepublik. Ungleichheiten im Bildungssystem der DDR Die Kriterien für die Auswahl zur höheren Bildung waren, wie oben ausgeführt, individuelle Leistung, gesellschaftspolitische Aktivitäten und soziale Herkunft. Wie sich diese Auswahlkriterien auf die klassischen Dimensionen sozialer Ungleichheit im Bildungswesen auswirkten, wird im Folgenden dargestellt. Wie bereits beschrieben, lassen sich zum Ende der DDR keine deutlichen Ungleichheiten der Bildungsabschlüsse nach Geschlecht feststellen. Dies sah in den ersten Jahrzehnten der DDR jedoch anders aus: Von der Bildungsexpansion in den fünfziger Jahren, die insbesondere auf die Einbeziehung bildungsferner Schichten gerichtet war, profitierten vor allem die Männer. Nach der restriktiveren Handhabung der Bildungsmöglichkeiten seit den siebziger Jahren konnten die Frauen aufholen. So hatten 1991 die unter 40-jährigen Frauen zu geringeren Anteilen den Volks- oder Hauptschulabschluss und zu höheren Anteilen die Fachhochschul- bzw. Hochschulreife als die gleichaltrigen Männer (von Below 2002). Offiziell wurde die gezielte Förderung bildungsferner Schichten angestrebt. Dieser Anspruch wurde in den ersten Jahrzehnten der DDR zu einem großen Teil erfüllt. Dies wurde erreicht durch Bildungswerbung auf dem Land, Errichtung der Arbeiter- und Bauernfakultäten, Schaffung des einheitlichen Schulwesens u.v.m. Anhand verschiedener Untersuchungen kann der Erfolg dieser Bemühungen für die ersten Jahrzehnte des Bestehens der DDR nachgewiesen werden (z.B. Geißler 1983; Solga 1995). Dieselben Untersuchungen belegen jedoch, dass seit den sechziger Jahren auch im Bildungssystem der DDR die bestehende soziale Struktur reproduziert wurde. Die Auswahlkriterien, insbesondere Systemloyalität und Herkunft, konnten genutzt werden, um die Reproduktion der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Elite zu garantieren und zu legitimieren. So profitierten von dieser Entwicklung vor allem die Kinder von Angehörigen der sozialistischen Dienstklasse, also derjenigen, die ursprünglich selbst aufgestiegen waren und sich inzwischen etabliert hatten. Andererseits hatten oft schulisch sehr erfolgreiche und vielversprechende Jugendliche keine Möglichkeit, auf direktem Weg das Abitur zu erreichen oder zu studieren, wenn das politische Engagement oder die geäußerte Identifikation mit dem System fehlten (Fischer 1992: 1-3). Auch in der DDR waren nicht nur Familie und Schule, sondern auch die Region ein relevanter Faktor bei der Reproduktion der Sozialstruktur (Meier 1981). Dies führte in den Zeiten der Bildungsexpansion wie in vielen anderen Ländern auch zu gezielten Bemühungen, Kinder aus benachteiligten Regionen bewusst zu fördern. Regionale Unterschiede in der DDR lassen sich vor allem zwischen Ost-Berlin im Gegensatz zu anderen Regionen feststellen. Darüber hinaus ließ sich auch für die DDR eine höhere Bildungsbeteiligung in Städten als in ländlichen Regionen feststellen (von Below 2002; Müller-Hartmann und Henneberger 1995: 301-302).
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4.2 Das Bildungssystem der Bundesrepublik Bezeichnend für das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist, dass es zwar im Großen und Ganzen übereinstimmende Regelungen gibt, dass aber deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Bundesländern vorhanden sind, da diese die Kulturhoheit und damit auch maßgeblichen Einfluss über die Ausgestaltung des Bildungssystems haben. Die „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“, kurz KMK, hat sich auf gewisse Mindeststandards und Regelungen geeinigt, die von allen Bundesländern eingehalten werden sollen. Trotzdem sind die Bildungssysteme der Bundesländer wie ein „Flickenteppich“, den zu beschreiben es viele Ansätze gegeben hat. Einordnung der Bildungssysteme in Deutschland: Stand der Forschung In der Literatur werden in der Bundesrepublik Deutschland seit den frühen 1970er Jahren die verschiedenen vorhandenen Bildungssysteme als „A“- oder „B“- Länder bezeichnet, also als solche mit liberaleren Regeln gegenüber solchen, die strenger sind. Diese Abgrenzung erfolgt jeweils in Abhängigkeit von der regierenden Partei; eine formale Untersuchung der verschiedenen Aspekte, die diese A- und B-Bildungssysteme beinhalten, oder was diese im Einzelnen bedeuten, fehlt bis heute. Allmendinger (1989: 234, 236) bezeichnet das deutsche Grund- und Sekundarschulwesen als standardisiert, sowohl in Bezug auf Strukturen, Institutionen, Curricula und Abschlusszeugnisse. Dies mag daran liegen, dass sie nur den Zeitraum bis 1970 untersucht, bevor also viele der grundlegenden Reformen im Bildungssystem durchgeführt wurden. Ein anderer Weg, der manchmal zur Unterscheidung der alten Bundesländer beschritten wird, ist die Gruppierung in verschiedene Regionen: Nord (Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg und Niedersachsen), Mitte (Hessen und Nordrhein-Westfalen) und Süd (Rheinland-Pfalz, Saarland, Baden-Württemberg und Bayern) (Schnitzler et al. 1998). Dabei werden Einzelheiten oder Merkmale der länderspezifisch unterschiedlichen Bildungssysteme jedoch gar nicht berücksichtigt – außer in dem (zufälligen?) Zusammenhang, dass es in den jeweiligen Regionen teilweise Ähnlichkeiten gibt. In ihrer jüngsten Untersuchung der TIMSS-Ergebnisse1 für Deutschland verwenden Baumert und Watermann (2000: 324) eine Unterscheidung von Bundesländern in Abhängigkeit von der Bildungsbeteiligung in der Sekundarstufe II und der Region (West oder Ost).2 Sie grenzen dabei vier verschiedene Gruppen voneinander ab: Länder mit einer geringen Bevölkerungsdichte und einer geringen Expansion der gymnasialen Oberstufe, westliche Bundesländer mit geringer Bevölkerungsdichte und höherer Bildungsbeteiligung, östliche Bundesländer mit höherer Bildungsbeteiligung und schließlich Stadtstaaten mit der höchsten Gymnasialbeteiligung. Bei der Einführung und Begründung dieser Gruppen erwähnen die Autoren einige der Gesichtspunkte, die mit den verschiedenen Charakteristika der unterschiedlichen Bildungssysteme zu tun haben; diese sind jedoch nicht Bestandteile der eigentlichen Definition und Abgrenzung der Gruppen. Da eine einheitliche, grundlegende Klassifizierung der in der Bundesrepublik vorhandenen Bildungssysteme fehlte, die relevante Dimensionen enthält und die zugleich ausrei1 „Third International Mathematics and Science Study“, durchgeführt von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA). 2 Mit Daten von PISA wurden (bisher) keine Berechnungen zu den unterschiedlichen Bildungssystemen der Bundesländer durchgeführt.
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chend erscheint, die verschiedenen Ergebnisse der Bildungssysteme zu erklären, wurde diese für das Jahr 1997 erstellt. Diese Typologie von Bildungssystemen wird im Folgenden vorgestellt.
4.3 Eine Typologie von Bildungssystemen in Deutschland im Jahr 1997 Bildungssysteme haben, wie oben erläutert, einen Bezug zur Gesellschaft, in der sie entstehen und sich entwickeln; sie bauen auf einer institutionellen Grundlage auf, die aus einer Konstellation von Vorstellungen, Normen und Werten besteht. Als solche sind Bildungsinstitutionen kulturell eingebettete Systeme, die auf abstrakten, geteilten Übereinkünften darüber beruhen, was die erstrebenswerten Ziele und Mittel von Bildung sind. Nun gibt es viele Möglichkeiten, vorhandene Bildungssysteme und deren Grundlagen zu unterscheiden. Alle Bildungsinstitutionen haben bestimmte Ziele und Vorgehensweisen gemeinsam, z.B. dass in der Regel Kinder „beschult“ werden und dass sie in der Schule „etwas lernen“ sollen. Hier geht es darum, relevante Unterschiede zwischen grundlegenden Orientierungen zu finden. Im Folgenden wird ein Ansatz zur Typologisierung von Bildungssystemen kurz dargestellt (ausführlich in von Below 2002, 2006). Die Klassifikation von Bildungssystemen: System-Dimensionen Struktur und Inhalt Von der abstrakten Ebene ausgehend, müssen Bildungsinstitutionen buchstäblich „institutionalisiert“ werden. Der Prozess dieser Institutionalisierung ist damit verbunden, die verschiedenen Konstellationen von Bildungszielen in konkrete soziale Systeme zu übersetzen. Um vorhandene Bildungssysteme zu unterscheiden, ist es also erforderlich, die tatsächlichen Eigenschaften von Bildungssystemen zu sortieren und zu klassifizieren. Um die mannigfaltigen Gesichtspunkte einzelner Bildungssysteme sinnvoll in eine soziologische Untersuchung einbeziehen zu können, werden sie zu relevanten Dimensionen gruppiert, in die diese Charakteristika dann eingeordnet werden können. Hierin folge ich dem Vorgehen von Lazarsfeld (1937) zur Bildung eines Merkmalsraums. Die in Deutschland vorhandenen Bildungssysteme können anhand von zwei grundlegenden Dimensionen charakterisiert werden: Struktur und Inhalt. Diese beiden Dimensionen beziehen sich darauf, wie das System organisiert ist, also z.B. als dreigliedriges Schulsystem oder mit Gesamtschulen (die Struktur), und welche Fächer und Curricula es verwendet und wie streng deren Einhaltung überprüft wird (der Inhalt). Diese Dimensionen finden sich in allen Bildungssystemen. System-Dimensionen: Strukturelle Straffheit und Lockerheit Typen von Bildungssystemen können danach unterschieden werden, wie stark soziale Kontrolle in ihnen ausgeübt wird. Boldt (1978: 157) verwendet die Begriffe strukturell straff und strukturell locker, um die verschiedenen Arten zu beschreiben, mit denen soziale Systeme Normen an ihre Mitglieder weitergeben: wenn Normen von der sozialen Struktur auferlegt und von den Mitgliedern empfangen werden, gilt dies als strukturelle Straffheit, wenn Normen in Gesellschaften vorgeschlagen und von ihren Mitgliedern im Rahmen eines gewissen Spielraums interpretiert werden, gilt dies als „strukturelle Lockerheit“ (Boldt und Roberts 1979; Turner 1962; Ford et al. 1967).
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Die Anwendung dieser Differenzierung auf die verschiedenen Schulsysteme führt zu den folgenden Unterscheidungen: Wo Normen vom Schulsystem klar vorgegeben werden, wo es also strenge Regeln und Vorschriften für Schüler und Lehrer gibt, wie sie miteinander umgehen sollen, wie sie bewerten sollen und wie sie sich verhalten sollen, gilt die Bezeichnung „straff“; wohingegen in solchen Bildungssystemen, in denen die Normen vorgeschlagen werden und wo es zugelassen wird, dass sie von ihren Mitgliedern interpretiert werden (also von den Lehrern und Schülern, aber auch von den Eltern), z.B. wie mit den Schülern umgegangen wird, wie Unterrichtseinheiten strukturiert werden und wie mündliche Leistungen bewertet werden, würde man dies als ein „lockeres“ Bildungssystem bezeichnen. Um nun einen Merkmalsraum und damit Typen zu bilden, werden beide Dimensionen (die der Inhalte und Strukturen und deren straffe oder lockere Regelung) kombiniert. Demnach gibt es vier Typen von Bildungssystemen: Solche, in denen sowohl Inhalte als auch Strukturen straff geregelt sind und solche, in denen die Regelungen für beide Dimensionen locker gehandhabt werden (entsprechend den Typen 1 und 4). Dazwischen liegen die Typen, in denen jeweils eine Dimension straff und die andere locker geregelt ist. Mögliche Typen von Bildungssystemen Die durch die Kombination der beiden Dimensionen ermittelten Typen von Bildungssystemen bezeichnen wir nun folgendermaßen: Typen, in denen Strukturen locker geregelt sind, werden als „reformiert“ bezeichnet, während Typen mit straff geregelten Strukturen „traditionell“ genannt werden. Vergleichbar werden Bildungssysteme, deren Inhalte locker reguliert sind, als „liberal“ etikettiert, während die Bezeichnung „konservativ“ für solche Bildungssysteme gilt, in denen die Inhalte straff geregelt sind. Demnach ergibt der in Übersicht 2 dargestellte Merkmalsraum folgende mögliche Typen von Bildungssystemen: 1.
2.
3.
4.
Traditionell-konservativ: Dies sind Bildungssysteme, in denen sowohl die Strukturen als auch die Inhalte straff geregelt sind. Hier sind die Strukturen stark festgelegt, die Selektion erfolgt früh und Übergänge zwischen ihnen sind schwierig. Auch die Inhalte sind straff geregelt: es gibt einen traditionell ausgerichteten Bildungskanon, dessen Beherrschung für alle verbindlich ist. Reformiert-konservativ: Zu diesem Typ gehören Bildungssysteme, in denen die Struktur locker geregelt ist, während die Inhalte straff reguliert sind. Es gibt also z.B. in nennenswertem Umfang Gesamtschulen, die Übergänge auf die weiterführenden Schulen erfolgen fließender und Wechsel zwischen Schulformen können leichter erfolgen. Die Inhalte sind jedoch straff geregelt und werden bei allen gleichmäßig vorausgesetzt. Traditionell-liberal: Hier ist das Bildungssystem klar gegliedert und Übergänge zwischen einzelnen Schulzweigen sind schwierig. Die Inhalte sind jedoch an einem individuelleren Persönlichkeitsbild ausgerichtet und werden auch nicht so verbindlich gelehrt. Reformiert-liberal: In diesem Typ von Bildungssystem sind sowohl die Strukturen als auch die Inhalte locker geregelt. Übergänge zu den weiterführenden Schulen werden laxer gehandhabt, es gibt Gesamtschulen und Wechsel zwischen den verschiedenen Zweigen sind nicht allzu voraussetzungsvoll. Gleichzeitig sind auch die Lehrinhalte moderner ausgerichtet und in gewissem Umfang der individuellen Gestaltung überlassen.
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Klassifizierung der Bildungssysteme der neuen Bundesländer Um die Bildungssysteme der einzelnen Bundesländer in diese Typologie einzuordnen, erfolgt die Klassifizierung aufgrund der Ausprägungen der institutionellen Regelungen von Inhalten und Strukturen. Diese Merkmale wurden anhand von Schulgesetzen, Lehrplänen und verschiedenen Übersichten gewonnen, die im Jahr 1997 gültig waren. Dieses Jahr war das letzte, in dem die Bildungssysteme so geregelt waren – im weiteren Verlauf wurde in den neuen Bundesländern auch aufgrund veränderter Mehrheitsverhältnisse die Schulgesetzgebung verändert, so dass die reinen Typen in der Nachfolge der DDR-Einheitlichkeit ab 1998 nicht mehr vorhanden sind. Demnach lassen sich also für dieses Jahr die Veränderungen, die im Verlauf der Etablierung neuer Bildungssysteme in den neuen Bundesländern (Fuchs und Reuter 1995; Fuchs 1997) eingeführt wurden, in ihren Auswirkungen am besten untersuchen. Im Einzelnen sind dies Indikatoren, die sich auf die institutionelle Regulierung von Strukturen beziehen, wie die Dauer der Grundschulzeit, die Möglichkeit, im Anschluss an die Grundschule eine Schule mit mehreren Schulzweigen besuchen zu können, die Dauer der Pflichtschulzeit, den Zeitpunkt des Übergangs zur Sekundarstufe II und den Anteil der Gymnasien an allen Schulen, die die Sekundarstufe II anbieten. Bei Indikatoren für die institutionelle Regulierung von Inhalten in Bildungssystemen geht es darum, Anforderungen und Angebote an die Schüler zu finden, die sowohl für die angesprochenen Themen und Aspekte als relevant erachtet werden – eine stärkere Betonung des klassischen Bildungsideals und humanistischer Inhalte vs. Betonung der Erfordernisse der „modernen“ Welt und Anreize zur Selbstwahrnehmung und -hinterfragung –, bei deren Betrachtung es aber auch Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt. Dies sind mindestens eine Fremdsprache obligatorisch bis zum Abitur, Religion als Fach mit Lehrplan, Philosophie, Psychologie, Sexualkunde als Fächer mit Lehrplan, politische Bildung als Pflichtfach in der Sekundarstufe II, sowie Bedeutung und Ausrichtung von Polytechnik und „Arbeitslehre“ am Gymnasium. Bei der Kontrolle der Inhalte spielen für den Unterrichtsablauf und die Auswahl von Inhalten die folgenden Aspekte eine bedeutende, die Bundesländer unterscheidende Rolle: Zentralabitur oder nicht, Zeitpunkt des Beginns der Notengebung in der Grundschule, Modalitäten für den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I, Bewertung mündlicher Beteiligung im Unterricht in der Sekundarstufe II. Die Analyse der verschiedenen Indikatoren, ihre Einordnung als „straff“ oder „locker“ geregelt sowie eine anschließende Reduktion dieser Dimensionen zur Schaffung eines Merkmalsraums (Lazarsfeld 1972: 101) ergeben folgende Typen einer Klassifizierung tatsächlich vorhandener Bildungssysteme in Deutschland für das Jahr 1997 (vgl. Below 2002, 2006). Die Einordnung der neuen Bundesländer in diese Typologie erfolgt aufgrund einer mehrstufigen, sorgfältigen und umfangreichen Analyse von Lehrplänen, Schulformen, Übergangsregelungen etc.: 1. Traditionell-konservativ: Mecklenburg-Vorpommern. 2. Reformiert-konservativ: Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. 3. Reformiert-liberal: Brandenburg. Der traditionell-liberale Typ kommt in den neuen Bundesländern nicht vor. In den alten Bundesländern sieht die Verteilung für 1997 – zum Teil anhand geringfügig anderer Merkmale – folgendermaßen aus:
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1. Traditionell-konservativ: Baden-Württemberg und Bayern, Traditionell-liberal: Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein 2. Reformiert-konservativ: Saarland 3. Reformiert-liberal: Bremen, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sowie Berlin. Auch für die alten Bundesländer lässt sich ein signifikanter Unterschied der Bildungsbeteiligung zwischen traditionell-konservativen Systemen (die eine im Lauf der Zeit eine konsistente Bildungspolitik hatten) und anderen zeigen (von Below 2003). Auswirkungen der Bildungssysteme auf soziale Ungleichheit am Beispiel der neuen Bundesländer Wie sich diese Typen auf soziale Ungleichheit auswirken, ist an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden (von Below 2002, 2006). Hier sollen kurz die wichtigsten Befunde zusammengefasst werden: Im Vergleich mit der DDR, wo es bei der Bildungsbeteiligung von Jugendlichen nach der Pflichtschulzeit praktisch keine Unterschiede zwischen den Regionen gab, die später die neuen Bundesländer werden sollten (mit Ausnahme der oben erwähnten etwas höheren Bildungsbeteiligung in Ost-Berlin), haben sich bis zum Jahr 1997 deutliche Unterschiede ergeben. Nicht nur ist die Bildungsbeteiligung der 16- bis 19Jährigen insgesamt deutlich angestiegen (was sicherlich neben dem Wegfall der Restriktionen aus DDR-Zeiten auch mit mangelnden Alternativen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt zusammenhängt). Es zeigen sich auch deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern: So weist das reformiert-liberale Bildungssystem die höchste Bildungsdichte auf, das traditionell-konservative die niedrigste, die reformiert-konservativen Bildungssysteme liegen zwischen diesen Extremen. In allen Systemen verfügen die Mädchen über einen deutlichen Vorsprung. Aber nicht nur in der Bildungsbeteiligung an sich, sondern auch in den Bildungschancen von Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern unterscheiden sich die Systeme: Während die Jugendlichen mit höher gebildeten Eltern (hier dargestellt am schulischen Bildungsabschluss des Vaters) in allen Systemen eine hohe Bildungsdichte aufweisen, sind die Kinder von gering gebildeten Eltern im reformiertliberalen System zu praktisch doppelt so hohen Anteilen noch im allgemeinbildenden Bildungssystem vertreten wie im traditionell-konservativen (diesen Zusammenhang bestätigen auch multivariate Analysen, so dass das Ergebnis nicht durch unterschiedliche Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerung oder ähnliche Zusammenhänge erklärt werden kann). Daran lässt sich ablesen, dass der Typ von Bildungssystemen sehr deutliche Auswirkungen auf die Chancengleichheit von Jugendlichen hat – und damit auch, dem Ansatz des Neuen Institutionalismus folgend, die damit verbundenen Überzeugungen, Werte und Bildungsziele (von Below und Roberts 2006). Diese scheinen jedoch insbesondere in den neuen Bundesländern im Wandel zu sein, da dort seit 1997 im Zusammenhang mit neuen Regierungen umfangreiche Reformen im Bildungswesen stattgefunden haben, insbesondere in den beiden Bundesländern, die hier die Extremfälle bildeten, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg.
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Ein Blick über den Tellerrand: Bildungssysteme im internationalen Vergleich heute
Zunehmend gibt es international vergleichende Studien, in denen der Einfluss von Bildungssystemen auf soziale Ungleichheit untersucht wird. Problematisch ist hier, wie oben bei der Darstellung des Neuen Institutionalismus beschrieben, dass es praktisch nie möglich ist, ein Bildungssystem unabhängig von anderen nationalen Eigenheiten zu analysieren, so dass nie wirklich festgestellt werden kann, ob es nun das unterschiedliche Bildungssystem ist, das Unterschiede verursacht, oder ob es andere nationale Eigenheiten sind, die sich auch auf die Bildungsteilhabe, den Erwerb von Kompetenzen und die Bildungschancen verschiedener sozialer Gruppen auswirken. Ein mittlerweile als klassisch anzusehender Band ist der Sammelband von Shavit und Blossfeld (1993), in dem die Entwicklung der Bildungschancen im Zeitverlauf in dreizehn Ländern untersucht wurde. Hierbei wurden auch die unterschiedlichen Bildungssysteme analysiert, standen jedoch nicht im Vordergrund. Sie stellten für praktisch alle untersuchten Länder eine erstaunliche Stabilität von Bildungsungleichheiten zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft fest und kommen zu dem Schluss, dass es allein in Schweden und den Niederlanden deutliche Veränderungen und damit mehr Gleichheit zwischen sozialen Gruppen gibt. Die in diese Untersuchung einbezogenen Länder waren die USA, die alte Bundesrepublik, die Niederlande, Schweden, Großbritannien, Italien, die Schweiz, Taiwan, Japan, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und Israel. Die Autoren schließen daraus, dass die Bildungsexpansion sogar „eine der entscheidenden Voraussetzungen für die fortwährende Ungleichheit der herkunftsbezogenen Bildungschancen darstellt“ (Blossfeld und Shavit 1993: 25). Auch für Frankreich, das in diese Untersuchung nicht einbezogen war, stellt Brauns (1998) zwar eine abnehmende Ungleichheit von Bildungsbeteiligungsquoten, aber weiterhin bestehende Unterschiede nach der Art der besuchten Schulen und Bildungsgänge sowie der erreichten Abschlüsse fest. Die Ergebnisse von Blossfeld und Shavit (1993) werden jedoch von Erikson und Jonsson (1996a) insoweit in Frage gestellt, als sie für alle untersuchten Länder deutlich bestehende Unterschiede feststellen, also auch für die vorher als „gleicher“ angesehenen Länder. Sie weisen auch darauf hin, dass festgestellten großen Ungleichheiten für ältere Kohorten gelten. Für die jüngeren Kohorten lässt sich für Schweden – wie auch für die Niederlande und die Bundesrepublik sowie für Italien und Großbritannien (Müller 1998: 90; siehe auch Müller und Haun 1994) – eine Angleichung der Chancen feststellen (Erikson und Jonsson 1996b: 8), die auch darauf zurückgeführt wird, dass sich nicht nur die Bildungschancen, sondern die Sozialstruktur insgesamt egalisiert hat. Großes Aufsehen hat seit dem Erscheinen der ersten Ergebnisse im Herbst 2001 die PISA-Studie erregt (Deutsches PISA-Konsortium 2001; 2002; 2003; PISA-Konsortium Deutschland 2004; 2005b; 2005a). Sie ist ein Forschungsprogramm der OECD („Programme for International Student Assessment“), innerhalb dessen die Kompetenzen von 15-jährigen Jugendlichen im Abstand von drei Jahren und mit wechselnden Schwerpunkten international vergleichend getestet werden. Im Rahmen dieser Studie stehen nicht die Bildungssysteme im Vordergrund; allerdings ermöglicht eine so große Studie den Vergleich verschiedener Strukturmerkmale von Bildungssystemen und deren Auswirkungen auf Bildungschancen etc. So hat zwar der innerdeutsche Vergleich (Deutsches PISA-Konsortium 2002; 2003; PISA-Konsortium Deutschland 2005b) ergeben, dass in den Bundesländern mit lockeren Regelungen (siehe oben) die Jugendlichen geringere Kompetenzen aufweisen,
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dass aber im internationalen Vergleich Jugendliche aus Systemen mit Gesamtschulen bzw. in denen die Jugendlichen zu einem späteren Zeitpunkt auf verschiedene Schularten aufgeteilt werden, insgesamt deutlich höhere Kompetenzen aufweisen und auch die soziale Herkunft sich deutlich weniger stark auswirkt als in Deutschland (etwa Baumert und Artelt 2003: 190). Als besonders beispielhaft wird im Gegensatz zum deutschen das finnische Bildungssystem gesehen, das in den 1970er Jahren das gegliederte Schulsystem durch ein Gesamtschulsystem ersetzt hat, und in dem die Schülerinnen und Schüler nicht nur beeindruckend gut abgeschnitten haben, sondern in dem auch soziale Unterschiede sich kaum auf die gemessenen Kompetenzen auswirken (Deutsches PISA-Konsortium 2001; PISAKonsortium Deutschland 2004). Ein besonderer Schwerpunkt bei den Analysen mit Daten der PISA-Studie ist die Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund; hieran lässt sich eindrucksvoll messen, wie erfolgreich Bildungssysteme sind – in modernen Gesellschaften spielt die Integration von Migranten und deren Ausstattung mit ausreichend Kompetenzen für ihren späteren Lebensweg in der Aufnahmegesellschaft eine herausragende Rolle (vgl. die Übersicht von Autoren und Ergebnissen in: von Below 2003). Auch hier zeigt sich, dass das deutsche Bildungssystem wenig erfolgreich ist, denn der Unterschied zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist hier besonders groß. Vorbildhaft kann im Gegensatz dazu das kanadische Bildungssystem gelten, in dem es kaum signifikante Unterschiede zwischen einheimischer und zugewanderter Bevölkerung gibt. Allerdings greift auch hier der Ansatz des neuen Institutionalismus, der auf den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Bildungssystem verweist: Kanada versteht sich nicht nur als Einwanderungsland und vertritt eine Politik des Multikulturalismus, sondern hat auch einerseits Selektionsmaßnahmen für die Einwanderung, andererseits besondere Fördermaßnahmen für Eingewanderte eingeführt (OECD 2007).
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Ausblick
Derzeit finden in den Bildungssystemen der Bundesländer umfangreiche Veränderungen statt: So wird nicht nur in vielen Bundesländern die Dauer des Gymnasiums von neun auf acht Jahre verkürzt, Ganztagsschulen ausgebaut, in einigen Bundesländern Hauptschulen abgeschafft oder mit Realschulen zusammengeführt, über die Einführung von Gemeinschaftsschulen diskutiert, die Möglichkeiten zum Besuch der gymnasialen Oberstufe nach dem Erreichen der mittleren Reife ausgebaut, aber auch weichere Übergänge zwischen Grund- und weiterführenden Schulen zurückgefahren und die Lehrpläne verschiedener weiterführender Schularten diversifiziert. Gleichzeitig hat – parallel und in der Folge zu den PISA-Studien – eine umfangreiche Serie von Tests und Vergleichsarbeiten begonnen, nicht nur auf internationaler Ebene (wie z.B. die PIRLS-Studien), sondern auch innerhalb der verschiedenen Bundesländer: So werden neben den erworbenen Kompetenzen (die bei PISA im Vordergrund stehen) auch die Inhalte stärker kontrolliert und zentralisiert – insbesondere, da nun viele Länder nicht nur zentrale Abitur-, sondern auch Mittlere-Reife-Prüfungen eingeführt haben oder einführen werden. Diese zum Teil sehr umstrittenen Veränderungen und ihre Auswirkungen – auf getestete Kompetenzen, aber auch im Hinblick auf soziale Ungleichheit – zu beobachten und zu untersuchen, wird das Feld für die Analyse von Bildungssystemen, im nationalen
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und internationalen Vergleich, auch weiterhin spannend halten (z.B. Böttcher 2005; Becker 2007b).
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Schule und Schulklasse als soziale Systeme Walter Herzog
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Einleitung
Schule und Unterricht sind Interaktionskontexte, die jedem Mitglied einer modernen Gesellschaft aus eigener Erfahrung bekannt sind. Alle sind wir zur Schule gegangen und über lange Zeit unterrichtet worden. Nach einer Zählung von Rutter, Maugham, Mortimer und Houston (1980) sind es rd. 15.000 Stunden, die ein individueller Mensch in einer heutigen Gesellschaft während seiner Kindheit und Jugend in Schulen verbringt, eine Zahl, die von Fend (2006: 56) bestätigt wird.1 Mit der Expansion des Bildungswesens und dem erweiterten Zugang zu höherer Bildung in den meisten westlichen Ländern seit den 1960er Jahren dürfte die durchschnittliche Lebenszeit, die ein Individuum an Schulen, Hochschulen und vergleichbaren, meist ebenfalls schulischen Bildungsstätten verbringt, noch um einiges größer sein. Die „Verschulung der Gesellschaft“ (Bornschier und Aebi 1992) hat die Altersphase zwischen fünf und 25 Jahren zu einem Lebensabschnitt gemacht, der im Wesentlichen von professionell angeleitetem Lernen bestimmt wird. „Immer mehr junge Menschen innerhalb eines Landes, aber auch weltweit, besuchen immer länger die Schule“ (Adick 2004: 954). Auch wenn Kinder und Jugendliche nicht nur schulische Erfahrungen machen, sondern ebenso von Eltern, Gleichaltrigen und anderen Bezugspersonen, aber auch von den Medien und einem wachsenden Freizeitangebot beeinflusst werden, stellt die Schule eine der wichtigsten Sozialisationsinstanzen in einer modernen Gesellschaft dar. In soziologischer Hinsicht bildet die Schule Teil des Erziehungs- bzw. Bildungssystems, das in einer funktional differenzierten Gesellschaft neben anderen gesellschaftlichen Subsystemen spezifische Aufgaben wahrnimmt.2 Es steht im direkten Austausch mit diesen Subsystemen, insbesondere mit den Systemen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und verschiedenen kulturellen Partialsystemen (Religion, Kunst, Musik, Sport etc.), für die es spezifische Leistungen erbringt. Allerdings sind die Grenzen des Bildungssystems weniger scharf gezogen als diejenigen der anderen Funktionssysteme. Denn Lehr-Lernsituationen finden sich auch in Betrieben (Berufslehre) oder an Hochschulen (Studium). Insbesondere ist es aber die Familie, die sich mit dem Bildungssystem, das vor allem als Schulsystem ausdifferenziert ist, die Aufgabe der Sozialisierung der nachwachsenden Generationen teilt. Luhmann und Schorr (1979: 53ff.) sprechen deshalb von Überschneidungsbereichen, die die Ausdifferenzierung des Bildungssystems strukturell beschränken. Wäh1 Natürlich ist die Zahl abhängig von der Dauer der obligatorischen Schule und der Anzahl der Jahre, die jemand im Schulsystem verbringt. Jackson (1990: 5) nennt in Bezug auf die USA eine Zahl von etwas über 1.000 Stunden pro Jahr bis zum Eintritt in die Junior High School, ebenso Goodlad (1984: 96). Bis zur Graduierung von der High School sind es dann etwa 13.000 Stunden insgesamt (vgl. Lortie 1975: 61; vgl. auch Tillmann 2007: 114). 2 Parsons (1972) sieht im Bildungssystem neben den Systemen der Wirtschaft (Industrialisierung) und der Politik (Demokratie) einen wesentlichen gesellschaftlichen Modernisierungsfaktor.
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rend die Bildungsprozesse in Familie, Betrieb und Hochschule an andere Funktionen (im Falle der Hochschule: an die Forschung) gebunden sind, ist die Schule ganz auf ihre eigenen Aufgaben bezogen. Insofern bildet die Schule den Kernbereich des gesellschaftlich ausdifferenzierten Bildungssystems. Eine weitere Besonderheit des Bildungssystems liegt darin, dass es, bedingt durch die öffentliche Kontrolle und die zumeist staatliche Trägerschaft der Schule, weniger Eigenständigkeit aufweist als andere Funktionssysteme (wie etwa Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst oder Religion). Wenn man Bildungssysteme mit Fend (2006: 31f.) als „rationale Organisationen von Lehren und Lernen“ versteht oder in der Schule mit Roth (1969) eine „optimale Organisation von Lernprozessen“ sieht, dann bildet die Schule zunächst eine Organisation. Teil dieser Organisation ist der Unterricht, der den proximalen Kontext schulischer Bildungsprozesse darstellt. Die Einzelschule als Organisation ist ihrerseits von sozialen Strukturen umgeben, die von der Bildungsverwaltung über die Lehrerbildung, Elternvereinigungen und pädagogischen Dezernate von Kirchen, Gewerkschaften, politischen Parteien etc. bis zu pädagogischen Berufsverbänden reichen. Man kann diesen organisatorischen Überbau der Schule mit einem Ausdruck von Luhmann und Schorr (1979) „pädagogisches Establishment“ nennen. Damit wird auf die Tatsache hingewiesen, dass sich im Schulsystem Positionen, die unterrichten oder vergleichbare Funktionen wahrnehmen, von solchen, die administrativer oder zudienender Art sind, differenziert haben. Das pädagogische Establishment umfasst Rollen, „die dem Erziehungssystem zugerechnet werden, aber nicht direkt, sondern nur indirekt mit dem auf der technischen Ebene ablaufenden Unterricht befasst sind“ (ebd.: 343). Luhmann und Schorr (1979: 343) rechnen auch die Bildungs- und Unterrichtsforschung dem pädagogischen Establishment zu. Das ist insofern problematisch, als die Wissenschaft ein eigenes Sozialsystem darstellt. Erziehungswissenschaft, Bildungssoziologie, Pädagogische Psychologie und weitere pädagogische Disziplinen sind eher dem Wissenschafts- als dem Bildungssystem zuzurechnen. In systemtheoretischer Perspektive ist davon auszugehen, dass die Systemeinheiten Unterricht, (Einzel-)Schule und pädagogisches Establishment nur bedingt aufeinander abgestimmt sind, da sie als Teilsysteme des Bildungssystems einer je eigenen Logik folgen, sodass eine problemlose Koppelung des einen an den anderen Bereich nicht möglich ist. Das gilt auch für das vierte System, das in die Diskussion einzubeziehen ist: das Individuum.3 Denn die im Unterricht ablaufenden Lehrprozesse können nicht als Durchgriff auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler begriffen werden (vgl. Herzog 2002). Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den dargelegten Bereichen des Bildungssystems, wobei wir uns im Wesentlichen auf den Kontext der Schule beschränken. Wir beleuchten zunächst die Außenseite der Schule, das heißt ihre gesellschaftlichen Funktionen (1), ihre organisatorische Struktur (2) und ihr Verhältnis zur Familie (3), fokussieren dann ihre Innenseite, nämlich den Unterricht als Interaktionssystem (4) und die Schule als Sozialisationskontext (5), und enden schließlich mit einem knappen Ausblick auf eine Theorie des Lehrerhandelns (6).
3 Ob das (menschliche) Individuum in soziologischer Hinsicht als System verstanden werden kann, ist strittig (vgl. Fuchs und Göbel 1994). Für die folgenden Überlegungen spielt es jedoch keine Rolle, ob wir das Individuum als systemische Einheit oder Konglomerat von (organischen und psychischen) Teilsystemen verstehen.
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Funktionen des Bildungssystems
Dass die Schule von gesellschaftlicher Bedeutung ist und ohne gesellschaftliche Ansprüche und Interessen ihren heutigen Stellenwert nicht haben würde, ist unbestritten. Selbst in der Pädagogik, die sich der Schule gegenüber oft skeptisch zeigt – ein gutes historisches Beispiel gibt Herbart (1964) –, ist spätestens seit Diltheys (1960: 192) Diktum von der Erziehung als „Funktion der Gesellschaft“ grundsätzlich anerkannt, dass die Schule nicht nur unter dem Aspekt eines perennierenden Fokus auf die Eigenart des Individuums und seine Formung zur Humanität verstanden werden kann, sondern auch in Beziehung zu den Bedürfnissen der Gesellschaft steht. Die Schule bedarf daher nicht nur einer erziehungswissenschaftlichen und psychologischen, sondern auch einer soziologischen Begründung. Diese wird in funktionalistischer Perspektive in der Sozialisation des Nachwuchses gesehen. Der Schule kommt die Aufgabe zu, die nachwachsenden Generationen, die gleichsam wie eine „Invasion von Barbaren“ (Fend 1972: 11) die Welt der Erwachsenen in ihren Grundfesten bedrohen, zu zivilisieren, indem ihnen die wesentlichen Kulturtechniken beigebracht, die basalen Normen und Werte vermittelt sowie der kollektive Wissensstand der Gesellschaft weitergegeben werden. Da die Schule die Kinder allerdings erst ab einem bestimmten Alter aufnimmt, gilt deren Primärsozialisation als Aufgabe der Familie. Die Sekundärsozialisation als Leistung der Schule wird dann gegenüber der Familie spezifiziert. So nennt Parsons (1968) neben der Sozialisation für das Erwachsenenleben auch die Zuweisung von sozialem bzw. beruflichem Status als gesellschaftlichen Auftrag der Schule. In systematischer Hinsicht werden der Schule eine Qualifikationsfunktion, eine Allokationsfunktion und eine Legitimationsfunktion zugewiesen (vgl. Bornschier 2005: 425ff.; Bornschier und Aebi 1992; Fend 1981, 2006; Klafki 1989). Die Qualifikations- bzw. Ausbildungsfunktion (auch Sozialisationsfunktion genannt) steht für die Aufgabe der Wissensvermittlung, die in einer modernen Gesellschaft zwischen der Wissensproduktion im Funktionssystem Wissenschaft und der Wissensverwendung im Funktionssystem Wirtschaft liegt. Die Tendenz zu höheren Bildungsabschlüssen als Teil einer anhaltenden Bildungsexpansion, wie sie in westlichen Ländern seit einiger Zeit beobachtet werden kann (vgl. Hadjar und Becker 2006), verdankt sich nur bedingt einem pädagogischen Anliegen. Vielmehr ist sie Ausdruck der Verschiebung der Beschäftigungsstruktur von industriell-handwerklichen zu Dienstleistungsberufen, die höhere Ansprüche an die Qualifikation der Schulabgängerinnen und -abgänger stellen. Zu beobachten ist allerdings auch eine „sich stetig hochdrehende Bildungsspirale“ (Bornschier und Aebi 1992: 540), welche die Bildungsabschlüsse zu einem positionalen Gut machen (vgl. Hirsch 1980), das in dem Maße an instrumentellem Wert verliert, wie andere ebenfalls darüber verfügen (vgl. Dornbusch, Glasgow und Lin 1996: 407f.). Wieweit die anhaltende Bildungsexpansion einer ökonomischen Notwendigkeit folgt oder eher der Eigendynamik des Bildungssystems zu verdanken ist, muss hier offenbleiben (vgl. Bornschier 2005: 435 ff.; Hadjar und Becker 2006). Für die (pädagogische) Idee einer Bildung für alle (vgl. Tenorth 1994) stellt dieser paradoxe Mechanismus eine gravierende Herausforderung dar. Die Allokations- bzw. Selektionsfunktion (auch Zuweisungs- und Auslesefunktion genannt) steht für die Erwartung an die Schule, die Kinder und Jugendlichen nach ihrer Leistungsfähigkeit zu klassifizieren, damit ihnen ein mehr oder weniger fixer Platz in der Sozialstruktur der Gesellschaft zugewiesen werden kann. Das Spektrum der zugänglichen Positionen wird nach meritokratischen Prinzipien durch die Vergabe von Zertifikaten und Ab-
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schlüssen sowie durch die Einweisung in Berufskarrieren eingeschränkt. Eingebaut zwischen den Generationen erweist sich die Schule als „Rüttelsieb“ der Gesellschaft (Fend 1981: 29) und zentrale „Dirigierungsstelle für Chancen im späteren Leben“ (Luhmann 2002: 70). Die Legitimations- bzw. Integrationsfunktion verweist auf die sozialen Normen und Werte sowie die Weltanschauung, die den Kindern und Jugendlichen in der Schule vermittelt werden. Indem die Schule die gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturellen Traditionen sanktioniert, leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Sozialintegration der Gesellschaft. Legitimiert wird vor allem das Leistungsprinzip als Basis der sozialen Differenzierung. Teil der Legitimationsfunktion ist auch die Erzeugung von Akzeptanz gegenüber der Struktur der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft und die Rechtfertigung der politischen Ordnung. In kritischer Wendung kann die Legitimationsfunktion als ideologische Funktion bezeichnet werden. Da der Schulerfolg nachweislich nicht allein durch individuelle Leistung, sondern wesentlich durch die soziale Herkunft bedingt wird (vgl. Becker und Lauterbach 2008), erscheint die Schule als Herrschaftsinstrument, um soziale Ungleichheit zu reproduzieren (vgl. Bourdieu und Passeron 1971). Indem sie Werte und Ideale vermittelt, die sozial und kulturell bedingte Ungleichheiten als scheinbar natürlich ausgeben, verschleiert sie das Versagen der Gesellschaft in einem zentralen Bereich ihres politischen Selbstverständnisses. Offensichtlich sind die bislang genannten Funktionen nicht die einzigen gesellschaftlichen Funktionen, die der Schule zugeschrieben werden können. Obwohl nicht auf Anhieb erkennbar, nimmt die Schule auch eine Absorptions- bzw. Aufbewahrungsfunktion (auch kustodiale Funktion genannt) wahr (vgl. Dalin 1986: 59; Sandfuchs 2001: 15, Fußnote 1). Eine moderne, arbeitsteilige Gesellschaft hätte große Probleme, die unmündigen Kinder und Jugendlichen sozial zu platzieren, wenn es keine Schulen gäbe. Zugespitzt gilt dies im Falle von Jugendarbeitslosigkeit, deren negative Auswirkungen wenigstens zum Teil durch kustodiale Maßnahmen aufgefangen werden. Schließlich kann der Schule auch eine Enkulturations- bzw. Tradierungsfunktion zugewiesen werden. So spricht Klafki (1989) von der „Funktion der Kulturüberlieferung“, die er wegen ihrer vorwiegend an Normen und Werten ausgerichteten Orientierung von der Qualifikationsfunktion, die sich auf Wissen und Können bezieht, unterscheidet. Von einer „Funktion der Enkulturation“ spricht auch Fend (2006: 49), dank der die Kinder „in ihrer jeweiligen Kultur heimisch (werden)“. Diese Funktion, die der Schule als „institutionellem Akteur der Menschenbildung“ (ebd.: 169ff.) zugewiesen wird, liegt nahe bei einer pädagogischen Perspektive auf die Schule. Fend spricht denn auch, einen Begriff der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nutzend, von „Kulturinitiation“ (ebd.: 49) und „Resubjektivierung von Kultur“ (ebd.: 48). Die Unterscheidung nach Qualifikations- und Enkulturationsfunktion kann entfallen, wenn mit dem Begriff der Sozialisation beides umfasst wird, nämlich die Sozialwerdung des Menschen sowohl im Sinne seiner strukturellen wie auch im Sinne seiner kulturellen Einfügung in die Gesellschaft. Ob der Begriff der Funktion dabei noch im strengen, soziologischen Sinn verwendet wird, ist allerdings fraglich. Eher geht es um den Anspruch der Pädagogik auf eine (relativ) autonome Festlegung der Ziele und Aufgaben der Schule. So meint der Schulpädagoge Sandfuchs (2001: 13): „Die Beschränkung der Theorie und Praxis pädagogischer Institutionen auf ihre gesellschaftlichen Funktionen würde den Abschied von der Pädagogik bedeuten“. Als Kriterium des Pädagogischen gilt im Allgemeinen das Individuum, das in seinen
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spezifischen Begabungen und Interessen zu fördern und in seiner persönlichen Identität zu stärken ist. Wo dieser Anspruch an die Schule gerichtet wird, kommt es zumeist zur Schulkritik (vgl. Kümmel 1978; Oelkers 2000; Sandfuchs 2001: 20ff.), denn als soziale Organisation vermag die Schule dem Individuum nie vollumfänglich gerecht zu werden. Wieweit die pädagogische Sicht der Schule im Rahmen einer soziologischen Betrachtungsweise Platz finden kann, ist jedoch strittig. Folgt man Markowitz (1986: 228, Fn. 19), ist das Phänomen der Individualität allerdings „eines der Fundamentalthemen der Soziologie überhaupt“. Wenig Verständnis für die pädagogische Sicht der Schule zeigt Luhmann (1994: 187), der den Code, mit dem das Bildungssystem operiert, in der sozialen Selektion sieht, das heißt, in der Zuweisung von sozialen Positionen innerhalb und außerhalb des Bildungssystems. Die Schule bringt an den Schülerinnen und Schülern gleichsam „karrierewirksame Markierungen“ (Luhmann 1996: 27) an. Die soziologische und die pädagogische Perspektive auf die Schule scheinen sich damit zu widersprechen. Doch handelt es sich nicht um einen Widerspruch zweier Sichtweisen von Schule, sondern um einen realen Antagonismus, welcher die Schule konstitutiv prägt.4 Indem es im unauflöslichen Dilemma von Bildung und Selektion oszilliert, hält sich das Schulsystem reformbereit. In den zynischen Worten von Luhmann (1996: 45): „Reformen sind gleichsam das Überdruckventil für Systeme, die sich mit Ideen belasten, denen sie ex definitione nicht gerecht werden können“. Überschattet wird der Widerspruch zwischen Selektion (Allokation) und Förderung (Bildung) vom Anspruch auf Chancengleichheit. Denn als Einrichtung einer demokratischen Gesellschaft muss die Schule die „erste Tugend sozialer Institutionen“ (Rawls 1979: 19) erfüllen, nämlich die Gerechtigkeit. Wie aber Gerechtigkeit unter Bedingungen, die eine eindeutige Lösung des Anspruchs auf Gleichheit der Bildungschancen nicht zulassen, erreicht werden kann und ob überhaupt, ist kontrovers. Umso wichtiger ist daher – soziologisch gesehen – die Legitimations- bzw. Ideologiefunktion der Schule.
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Die Schule als Organisation
Die Leistungen des Bildungssystems für die Gesellschaft werden im Rahmen von organisationalen und interaktionalen Strukturen erbracht. In Beziehung zu den gesellschaftlichen Subsystemen ist die Schule zunächst eine Organisation. Organisationen sind nach Rollen und Rollenbeziehungen differenziert, die auf die Erfüllung von Zwecken ausgerichtet sind (vgl. Dalin 1986: 56ff.; Mayntz 1976; Scholl 1993: 417ff.). Dabei ergibt sich zumeist ein hierarchisches Gefüge, das im Extremfall mit einer hohen Standardisierung der Kommunikations- und Arbeitsabläufe einhergeht. Die Schule erscheint als bürokratische Organisation mit allen Merkmalen der verordneten Leistungserbringung, regelhaften Amtsausübung, standardisierten Kontrolle und aktenmäßigen Kommunikation (vgl. Feldhoff 1974; Fend 1981: 232ff.; Niederberger 1991). 4 Die Charakterisierung der Schule als widersprüchlich, antinomisch, dilemmatisch und paradoxal – mit entsprechenden Auswirkungen auf das Lehrhandeln und die Lehrerprofession – gehört zu den auffälligsten Merkmalen der pädagogischen Literatur zur Schule (vgl. z.B. Gruntz-Stoll 1999; Helsper 1996; Kümmel 1978; Schulze 1980), findet sich aber auch in soziologischen Analysen (vgl. Boyle 1969), insbesondere in Darstellungen des Lehrerberufs (vgl. Kob 1959; Lortie 1975; Musgrove und Taylor 1969; Streckeisen, Hänzi und Hungerbühler 2007).
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Allerdings gelten diese Merkmale eher für die Führungsebene der schulischen Organisation und weniger für den Kernbereich der Lehrertätigkeit. Das Unterrichten lässt sich nur bedingt bürokratisch regulieren, da Lehrkräfte eine Arbeit verrichten, die kaum standardisierbar und nicht technisierbar ist (vgl. Herzog 2002: 419ff.). Darauf hat bereits Lortie (1975: 192) hingewiesen: „teachers do not share a powerful technical culture“. Es fehlt ihnen eine Technologie, wenn wir damit eine verlässliche, empirisch abgestützte und berechenbare Zuordnung von Handlungen zu Wirkungen verstehen. Luhmann und Schorr (1979) sprechen von einem konstitutiven Technologiedefizit der Pädagogik, die sie mit dem sozialen Charakter der Unterrichtssituation in Verbindung bringen. Die Unterrichtstätigkeit wird von situativen Faktoren beeinflusst und erfolgt im direkten Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern, die nicht das „Material“ der Gestaltungsarbeit der Lehrkräfte darstellen, sondern als „Koproduzenten“ ihrer Bildung zu verstehen sind. Ob Schulen im Rahmen bürokratischer Strukturen überhaupt funktionieren könnten, ist fraglich. Die Macht ist an Schulen jedenfalls keineswegs monopolisiert, sondern wird im Rahmen von „kooperativen Spielen“ verhandelt (vgl. Bühler-Niederberger 1991, 1992). Eine ausgearbeitete und anerkannte Theorie der Organisation von Schule gibt es nicht (vgl. Böttcher und Terhart 2004; Kuper 2001), jedoch bestehen verschiedene, zumeist deskriptiv gehaltene Analysen, die Spezifika der Organisationsform Schule herausarbeiten. So nennt zum Beispiel Dalin (1986: 56) die folgenden Merkmale von Schulen: 1. 2.
3. 4.
5.
Unklare Ziele: Die Ziele (wie sie in Lehrplänen festgehalten sind) erweisen sich oft als allgemein, vage und widersprüchlich. Verletzbarkeit: Schulen stehen in starker Abhängigkeit von finanzieller Unterstützung durch die Gesellschaft und haben im Allgemeinen wenig Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Schwache Integration: Die Lehrkräfte arbeiten je für sich in Klassenräumen. Es gibt wenig Zusammenarbeit über die Grenzen von Klassen, Stufen und Schulen hinweg. Schwache Wissensgrundlage: Die Schule verfügt im Unterschied zu anderen Organisationen kaum über Technologien, die es erlauben würden, die angestrebten Ergebnisse gezielt zu erreichen. Fehlende Konkurrenz: Schulen stehen kaum unter Konkurrenzdruck. Ihre Existenz gründet nicht auf der Qualität ihres „Outputs“.5
Wie Dalin (1986) hinzufügt, beruht die Liste nur teilweise auf empirischen Daten. In der Tat ist die Forschung zu den Organisationsmerkmalen von Schulen gering entwickelt, obwohl sich in jüngster Zeit – vor allem im Zuge der Anwendung von Modellen der Organisationsentwicklung und der Evaluationsforschung auf Schulen – einige Untersuchungen angesammelt haben (vgl. z.B. Holtappels 2003: Kap. 3; Schäfer 2004).6 Wie erfolgreich die Versuche, der Schule ein betriebswirtschaftliches Denken aufzuerlegen, auch immer sein 5 Bezüglich aller Kriterien bestehen in jüngster Zeit Bemühungen, Schulen vermehrt nach Prinzipien der „Neuen Verwaltungsführung“ zu organisieren und ihnen mehr Autonomie zu gewähren, sie im Gegenzug aber auch vermehrt rechenschaftspflichtig, das heißt für ihre Leistungen verantwortlich, zu machen. 6 Dafür verantwortlich sind auch methodische Vorlieben für großangelegte (Survey-)Studien, die – wie im Falle der Untersuchungen von Coleman et al. (1966) oder Rutter et al. (1980) – Daten auf einem aggregierten Niveau verarbeiten, womit die Partikularitäten organisatorischer Merkmale und Abläufe unterbelichtet bleiben (vgl. Dreeben 2006).
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mögen, aus strukturellen Gründen werden Schulen ihre wabenförmige Organisationsform kaum aufgeben können. Der Unterricht als Sozialform lässt sich kaum anders als in geschlossenen Systemeinheiten gestalten. Wie Rolff (1993: 130) bemerkt, ist das organisationssoziologisch herausragende Merkmal von Schule der Umstand, „dass Lehrer und Lehrerinnen Einzelarbeiter sind, wie es sie vermutlich in keiner anderen akademischen Disziplin geben dürfte“. Was Lortie (1975: 192) die zelluläre Form der schulischen Organisation nennt und Weick (1976) mit dem Begriff der „lose gekoppelten Systeme“ einfängt, hat noch immer seine Gültigkeit.7 Als Gefüge lose gekoppelter Systeme ermöglichen Schulen den individuellen Akteuren mehr Autonomie, als dies in anderen Organisationen der Fall ist. Die lose Koppelung wird daher oft mit der Professionalität des Lehrerberufs in Verbindung gebracht. Demnach ließe sich die Schule – mit einem Ausdruck von Etzioni (1959) – als professionelle Organisation bezeichnen. In einer professionellen Organisation ist die Arbeit vor Ort (im Falle des Lehrerberufs: der Unterricht) mit der hierarchischen Struktur der Organisation nur schwach verbunden. Die Möglichkeiten der Schulverwaltung, auf das Geschehen im Unterricht einzuwirken, sind gering, was Schulreformen, die „top down“ angelegt sind, regelmäßig scheitern lässt (vgl. Hargreaves 2003; O’Day 2004; Rolff 1993: 106ff.). Auch die Möglichkeiten der Kontrolle der Berufsarbeit von Lehrkräften über bürokratische Mechanismen (Schulaufsicht) sind begrenzt. Eine Kontrolle durch die Peers wie in anderen Professionen findet ebenfalls nicht statt, auch wenn im Rahmen von Schulentwicklungsprogrammen und Verfahren des „peer reviewing“ vermehrt Versuche in dieser Richtung unternommen werden. Die geringe professionelle Kontrolle ist das Ergebnis einer wenig stabilisierten Ausbildung der Lehrkräfte: „Because teachers believe they gain little practical knowledge in teacher-training school (...), their professional socialization does not provide a basis for shared evaluative standards“ (Dornbusch, Glasgow und Lin 1996: 410). Tatsächlich gilt die Lehrerbildung nach Meinung der Lehrkräfte fast einmütig als zu theoretisch und der künftigen Berufsarbeit zu wenig angepasst (vgl. Fried 1998: 53f.; Herzog et al. 2007: 149ff., 319f.). Angesichts dieser Defizite ist es fraglich, ob eine Schule tatsächlich eine professionelle Organisation genannt werden kann. Fürstenau (1967) bestreitet dies vehement, ebenso – zum großen Teil – Rolff (1993: 135ff.). Gerade weil der Austausch zwischen den Lehrkräften schwach ist und eher den informellen als den formellen Beziehungen in bürokratischen Organisationen entspricht, stellen Schulen einen besonderen Typus von Organisation dar. Zu fragen wäre bei dieser Beurteilung allerdings, inwiefern der Lehrerberuf am Maßstab der klassischen Professionen (Ärzte, Anwälte) gemessen werden kann und inwiefern die Lehrerprofessionalität nicht gewisse spezifische Merkmale aufweist (vgl. Herzog et al. 2007), die eine eigene Professionstheorie erfordern (vgl. Abschnitt 7). In neueren Organisationstheorien kommt dem Systembegriff eine stärkere Bedeutung zu. Organisationen gelten als selbstreferentielle Systeme, die einer inneren Logik gehorchen, die von außen bestenfalls irritiert, aber nicht determiniert werden kann. „Selbstorganisation (…) beschreibt die Fähigkeit von Systemen, eigene Strukturen aus sich selbst heraus und nicht ausschließlich von außen determiniert zu bilden und diese zu verändern“ 7 Weick (1976; vgl. auch Orton und Weick 1990) diskutiert verschiedene Aspekte der Schule, die untereinander „lose gekoppelt“ sind, wie gestern und morgen, Mittel und Zweck, Intentionen und Handlungen, Prozesse und Produkte, Lehrer und Lehrer, Lehrer und Eltern, Lehrer und Schüler etc., betont aber insbesondere die schwache Koppelung zwischen der schulischen Verwaltungsebene (authority of office) und der „technischen“ Ebene des Unterrichts (technical core of the organization).
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(Burkard und Pfeiffer 1992: 297). Noch einen Schritt weiter geht Luhmann (1984), der soziale Systeme als operational geschlossen betrachtet. Deren Elemente sind Kommunikationen, die das System laufend selber produziert, durch die das System in seiner Existenz aber auch aufrechterhalten wird. Das Problem dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass die intuitive Vorstellung, Erziehung und Bildung hätten es mit Menschen zu tun und auch in Bildungsinstitutionen würde es um Menschen gehen, unterlaufen wird. Da Kommunikationen die basale Einheit der Reproduktion von sozialen Systemen (seien es Interaktions-, Organisations- oder Gesellschaftssysteme) bilden, fallen die menschlichen Individuen (im emphatischen Sinn als Einheit von Körper und Geist verstanden) aus der soziologischen Analyse heraus. Selbstorganisation impliziert zudem ein Ausmaß an Autonomie, das Schulen in einer modernen Gesellschaft kaum zukommt. Der Kontrollanspruch der Schulträger (im Normalfall der Staat) lässt nicht mehr als eine partielle Autonomie („Teilautonomie“) zu. Die „Wende zur Einzelschule“ (Rolff 1993: 106) als „pädagogischer Handlungseinheit“ (Fend 1986) ist eher als reformpolitisches Postulat denn als soziale Realität zu nehmen.8 Auch wenn Schulen nicht im strengen Sinn als sich selbst organisierende Systeme begriffen werden können, bleibt richtig, dass sie einer Eigenlogik folgen. Schulen haben eine lange Tradition der Selbstgestaltung, deren Spezifika sich aus der nicht beliebig umsetzbaren Aufgabe des Unterrichts ergeben. Eingriffe in das Funktionieren von Schulen müssen daher, wenn sie erfolgreich sein wollen, das Problemlösepotential, das sich Schulen über eine lange Zeit erarbeitet haben, in Rechnung stellen (vgl. Davenport und Prusak 1998). Inputs in schulische Organisationen werden von der Eigendynamik der Organisationsprozesse aufgenommen, transformiert und weiterbearbeitet. Generell gilt, dass Handeln in Organisationen „(…) nicht durch die Übernahme und Ausführung extern von der Organisationsspitze oder der Politik vorgegebener Ziele und Normen (entsteht), sondern durch den eigenlogischen und selbstreferentiellen Umgang mit vielfältigen und widersprüchlichen Umwelterwartungen, die von der Organisation wahrgenommen und in der Organisation verarbeitet werden“ (Gomolla und Radtke 2002: 59).9 Gerade Schulen, deren Klientel zumeist zwangsweise rekrutiert wird und nicht durch eine vertragliche Bindung auf den Zweck der Organisation verpflichtet werden kann, lassen sich nicht rein zweckrational verstehen.10 Besteht die „Attraktivität der Mitgliedschaft einer Organisation (…) zu einem wichtigen Teil im damit verbundenen Erwerb des Zahlungsmittels Geld“ (Martens 2000: 306), so mag dies zwar für die Lehrkräfte gelten, trifft aber nicht auf die Schülerinnen und Schüler zu.11 Das Medium Geld kann auch nicht einfach durch dasjenige der Macht ersetzt werden, weil die pädagogische Aufgabe der Schule dadurch gefährdet würde. Unterricht ist auf ein Mindestmass an Verpflichtung seitens der Lernen8 Man denke auch an die Einführung von Bildungsstandards in verschiedenen Ländern, die als administrative Steuerungsinstrumente gedacht sind und das Schulsystem durch Kontrolle seines „Outputs“ stärker an die Vorgaben der Politik binden wollen (vgl. Herzog 2006). 9 Das zeigen auch Metaanalyen zu den Bedingungsfaktoren schulischer Lernleistungen, die für die politischen Rahmenbedingungen einen äußerst geringen Erklärungswert ausweisen (vgl. Wang, Haertel und Walberg 1993: 268ff., 276ff.). 10 Das gilt jedenfalls insofern, als Schülerinnen und Schüler der Schulpflicht unterworfen sind und nicht die Freiheit haben, die Schule zu besuchen oder nicht (vgl. Abschnitt 3). Auch dort, wo keine Schul-, sondern eine Bildungs- bzw. Unterrichtspflicht besteht, wird der außerschulischen Unterrichtung der Kinder (homeschooling) im Allgemeinen auferlegt, den Lehrplan der öffentlichen Schule einzuhalten. 11 Auch die Zensuren, denen man eine dem Medium Geld äquivalente Funktion zuschreiben könnte (vgl. Becker, Geer und Hughes 1958: 35f., 55f.), sind kaum geeignet, der Schülerrolle Attraktivität zu verleihen, und sei es nur, weil sie sich erst in unabsehbarer Zukunft in sozialen Status einwechseln lassen.
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den angewiesen, die sich nicht erzwingen lässt. Folglich muss die Mitgliedschaft in schulischen Organisationen im Falle der Schülerinnen und Schüler motivational gestützt werden. Da Schulen aber auch in dieser Hinsicht eine Technologie fehlt, müssen sie den Umgang zwischen Lehrperson und Schülerschaft interaktional regulieren und auf eine institutionelle Basis stellen, deren Verbindlichkeit über Routinen und Rituale (wie Prüfungen, Schulexamen, Versetzungen, Feste etc.) immer wieder neu demonstriert werden muss (vgl. Abschnitt 6.1). Sinn und Einheit der Schule müssen symbolisch dargestellt werden, da sie weder auf selbstverständliche Art und Weise gegeben sind noch mit den Mitteln bürokratischer Organisation durchgesetzt werden können.
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Schule und Familie
Schulen stellen auch deshalb besondere Organisationen dar, weil die Menschen, mit denen sie es zu tun haben, Kinder und Jugendliche sind. Es gibt in einer modernen Gesellschaft keine vergleichbare Organisation, in der das Generationenverhältnis von ähnlich konstitutiver Bedeutung ist.12 Insofern steht die Schule der Familie näher, der jedoch die Merkmale einer Organisation abgehen. Die Nähe zur Familie führt immer wieder dazu, die Besonderheiten der Schule über einen Vergleich mit der Familie herauszuarbeiten. Gemäß Parsons (1968: 166f.) weist die Schule eine spezifische Struktur auf, die im Vergleich zur Familie mit ebenso spezifischen Verhaltensweisen in Verbindung steht: „Die Familie ist ein Kollektiv, in dem die grundlegende Statusstruktur im Rahmen der biologischen Position, das heißt als Generation, Geschlecht und Alter, askriptiv festgelegt ist. Im Hinblick darauf wird es unvermeidlich Unterschiede in den Verhaltensweisen geben, die in einer Form belohnt oder bestraft werden, die zur differentiellen Charakterbildung beiträgt. Aber diesen Unterschieden wird nicht die Sanktionierung eines institutionalisierten Status zuteil. Die Schule ist die erste Sozialisationsinstanz in der Erfahrung des Kindes, die eine Statusdifferenzierung auf nichtbiologischer Basis institutionalisiert. Darüber hinaus handelt es sich dabei nicht um einen askriptiven, sondern um einen erworbenen Status, der durch unterschiedliche Erfüllung der vom Lehrer gestellten Aufgaben ‚verdient‘ wird“. Gemessen am Konzept der „pattern variables“ (Parsons 1960) ist die Schule an Werten ausgerichtet, die denjenigen einer modernen Gesellschaft und nicht denjenigen der Familie entsprechen: affektive Neutralität vs. Affektivität, erworbener vs. zugeschriebener (askriptiver) Status, Spezifität vs. Diffusität, Universalismus vs. Partikularismus und Selbstorientierung (Eigennutz) vs. Kollektivorientierung (Gemeinnutz). Diese Werte – vor allem der mit der Universalität und Spezifität verbundene Anspruch auf Gleichbehandlung der Schülerinnen und Schüler – spiegeln sich in Erwartungen an den idealen Lehrer. Die Schülerinnen und Schüler wünschen sich eine Lehrperson, die freundlich, verständnisvoll und geduldig ist; sie soll den Stoff beherrschen, gut erklären und interessant vermitteln können; im Unterricht soll sie für Ordnung sorgen, keine Lieblingsschüler haben und mo-
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Auch ein Kinderspital oder ein Kinderheim lassen sich mit einer Schule nur bedingt vergleichen, denn die therapeutische bzw. pflegerische Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern ist von der pädagogischen Beziehung wesentlich verschieden. Darin liegt eine kaum korrigierbare Schwäche der Professionstheorie von Oevermann (1996).
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derat strafen; die Schülerinnen und Schüler soll sie respektieren und ihre Leistungen gerecht beurteilen (vgl. Gerstenmaier 1975; Hargreaves 1976; Ulich 1996: 121ff.).13 Die Erwartungen an den guten Lehrer decken sich allerdings nur partiell mit der dichotomen Charakterisierung von Familie und Schule durch Parsons (1968). Deutlich wird auch eine gewisse Widersprüchlichkeit in den Schülererwartungen (vgl. Ulich 1996: 125ff.). Die Schülerinnen und Schüler wollen in ihrer Eigenart beachtet, aber auch gerecht behandelt werden. Zudem wollen sie an Entscheidungen, die den Unterricht betreffen, beteiligt werden, erwarten aber zugleich, dass die Lehrperson in der Klasse für Ruhe und Ordnung sorgt. Schließlich wollen sie in der Schule etwas lernen und erwarten, dass die Lehrperson den Stoff erklären kann, aber auch Verständnis und Nachsicht zeigt, wenn sie einmal nicht in optimaler Verfassung sind. Die Widersprüche in den Erwartungen der Schülerinnen und Schüler überlagern die strukturell angelegten Antinomien zwischen den gesellschaftlichen Funktionen und pädagogischen Aufgaben der Schule (vgl. Abschnitt 2). Sie haben damit zu tun, dass die Schule (noch) nicht die „Gesellschaft“ ist. Zwar stellt die Schule soziologisch gesehen ein Partialsystem der Gesellschaft dar, doch was in ihr pädagogisch geschieht, kann aufgrund der Logik gesellschaftlicher Prozesse nicht adäquat verstanden werden. Als Sozialisationsinstanz bildet die Schule eine Art Scharnier zwischen Familie und Gesellschaft, einen Ort der Vermittlung zwischen Natur und Kultur, Vergangenheit und Zukunft, Kindheits- und Erwachsenenwelt, weshalb es im Auftrag der Schule liegt, die Gesellschaft nicht ungebremst auf die Kinder und Jugendlichen einströmen zu lassen, sondern für deren Gesellschaftsfähigkeit allererst zu sorgen.14 Von ihrer Aufgabe her kommt der Schule ein intermediärer Status zu, der sie in einem sozialen Zwischenraum zwischen Familie und Gesellschaft platziert. Umgekehrt kann auch die Familie in soziologischer Hinsicht nicht wie andere gesellschaftliche Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion etc.) als Subsystem der Gesellschaft betrachtet werden. Als privater Lebensraum bildet sie eine Art „Gegenstruktur zur Gesellschaft“ (Rosenbaum 1973). Aufgabe der Schule ist es, zwischen dem einen und dem anderen zu vermitteln – zwischen Nicht-Gesellschaft (Fami13
Theoretisch lassen sich die Schülererwartungen im Lichte gruppensoziologischer Konzepte interpretieren. Danach müssen Gruppen stets zwei Ansprüchen genügen: instrumentellen (rationalen) und expressiven (emotionalen) (vgl. Bales und Slater 1955; Sader 1998). Die ersten beziehen sich auf Leistung und Tüchtigkeit, die zweiten auf Sympathie und Beliebtheit. Lehrer sollen den Stoff beherrschen und interessant vermitteln (instrumentelle Dimension) und die Schülerinnen und Schüler mögen sowie auf ihre Bedürfnisse und Interessen eingehen (expressive Dimension). Das zentrale Führungsproblem einer Lehrkraft besteht in der Integration dieser beiden Momente, „das heißt, den Schülern menschliche Anerkennung und inneren Halt zu geben und ihnen gleichzeitig die objektive Welt des Wissens zu erschließen“ (Gordon 1959: 154; vgl. auch Larkin 1975). Auch die Autorität einer Lehrkraft bemisst sich wesentlich an ihrer Fähigkeit, den beiden Ansprüchen an ihr Führungsverhalten gerecht zu werden (vgl. Frei 2003). Insofern ist anzunehmen, dass das edukative Potential des autoritativen Erziehungsstils auf der optimalen Verbindung dieser beiden Führungsdimensionen beruht (vgl. Abschnitt 4.2). 14 Dafür steht der Sozialisationsbegriff, der in seiner strengen Auslegung in genau diesem Sinne verstanden werden muss, nämlich als Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf das Leben in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Die ersten sozialisationstheoretischen Entwürfe von Durkheim, Freud, George Herbert Mead und Parsons wurzeln in der Erfahrung moderner Gesellschaft, das heißt der „immer größer werdenden Abhängigkeit der unabhängiger werdenden Individuen von subjektlosen objektiven Verhältnissen“ (Veith 1995: 205). Insofern kann die Schule – anders als Dewey (1967: 18) glaubte – nicht als gesellschaftlicher Mikrokosmos (embryonic society) begriffen werden. Vielmehr ist sie ein soziales System eigener Art, das einer eigenen Logik folgt und nicht die Gesellschaft im Großen abbildet. In einer modernen Gesellschaft gibt es generell keinen Ort, der das gesellschaftliche Ganze zu repräsentieren vermag (vgl. Luhmann 1984: 602, passim), also kann auch die Schule dieser Ort nicht sein.
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lie) und Gesellschaft –, und zwar im Sinne der Einführung der nachwachsenden Generationen in das gesellschaftliche Leben. Deshalb ist der Einschluss der Individuen ins Bildungssystem auch an keine Voraussetzungen gebunden, dies im Unterschied zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft, in die man nur unter bestimmten Bedingungen Einlass findet.15 Zudem ist das Bildungssystem das einzige Subsystem, in dem auch Kinder und Jugendliche zugelassen sind.16 Schließlich sind Kinder und Jugendliche zumeist gesetzlich verpflichtet, die Schule zu besuchen und sich unterrichten zu lassen. Genau deshalb können an das Leben in der Schule (noch) nicht dieselben Ansprüche gestellt werden wie an das Leben in der Gesellschaft.17 Der intermediäre Status der Schule ist dafür verantwortlich, dass die theoretische Positionierung der Schule weder leicht fällt noch gelöst ist. In fast jeder Hinsicht passen die herkömmlichen Analyseinstrumente der soziologischen Theorie nur partiell auf die Schule und den Unterricht. Trotzdem lassen sich auf einer beschreibenden Ebene Differenzen zwischen Familie und Schule benennen, die sozialisationstheoretisch bedeutsam sind.18 Den Versuch einer Systematik der institutionellen Effekte von Schule hat Dreeben (1980) vorgelegt, indem er – über Parsons (1968) hinausgehend – sechs Bereiche, in denen sich Familie und Schule strukturell unterscheiden, benennt: (1) Grenze und Umfang des sozialen Gebildes, (2) Dauer der sozialen Beziehungen, (3) zahlenmäßiges Verhältnis von Erwachsenen zu Nicht-Erwachsenen, (4) Konstellation der individuellen Merkmale der Nicht-Erwachsenen (5), Konstellation der individuellen Merkmale der Erwachsenen und (6) Sichtbarkeit der individuellen Merkmale der Nicht-Erwachsenen. Mit diesen Strukturunterschieden gehen Verhaltensunterschiede einher, zum Beispiel eine höhere Emotionalität der Beziehungen in der Familie, vielfältigere Beziehungen in der Schule und mehr soziale Vergleichsmöglichkeiten in der Schule (vgl. ebd.: 24ff.). Die strukturellen und Verhaltensunterschiede zwischen Familie und Schule führen zu unterschiedlichen Erfahrungen, wobei Dreeben (1980: 9) annimmt, dass die Kinder durch die organisatorischen Merkmale der Schule „nicht weniger geprägt werden als durch den Lehrplan und den Unterricht als solchen“. Die spezifische Form, in der Schule stattfindet, ist selbst von sozialisierender Wirkung, unabhängig davon, was intentional an Erziehung oder Unterricht geschieht. Damit deutet Dreeben ein Konzept an, das bildungssoziologisch von zentraler Bedeutung ist, nämlich den „heimlichen Lehrplan“ (hidden curriculum) der Schule.19 Die Idee findet sich allerdings bereits bei Bernfeld (1976: 28), der bei seinem
15
Sehen wir von Sonderfällen wie gewissen physischen oder psychischen Behinderungen ab. Aber auch dann sind oft (Sonder-)Schulen vorgesehen, in die man nach universalistischen Kriterien aufgenommen wird. 16 Von anderen Systemen, wie insbes. Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, aber auch Religion sind sie ausgeschlossen, wobei in einigen Fällen kinderspezifische Formen der Inklusion bestehen (wie beim Recht, bei der Religion oder beim Sport). Auch als Konsumenten werden Kinder zwar zunehmend umworben, bleiben als Minderjährige aber vertragsunfähig. 17 Die Schulpflicht hat nicht nur die Zwangsinklusion ins Bildungssystem zur Folge, sondern führt auch zu willkürlichen Zusammenführungen von Schülerinnen und Schülern in Schulklassen, denen auch die Lehrkräfte mehr oder weniger zufällig zugeteilt werden. Weder die Schülerinnen und Schüler noch die Lehrkräfte können sich im Normalfall ihre Klasse wählen (vgl. Mannheim und Stewart 1962: 136f.). 18 Wie unter anderen Bronfenbrenner (1981) betont, sind ökologische Übergänge, wie sie Kindern beim Wechsel zwischen Familie und Schule abverlangt werden, höchst lernrelevant. 19 Explizit eingeführt wurde das Konzept durch Jackson (1966: 353ff.; vgl. auch Jackson 1990: 33ff.). Goodlad (1984: 30) spricht im gleichen Sinn von „implizitem Curriculum“ (implicit curriculum). Darunter versteht er „all those teachings that are conveyed by the ways the explicit curriculum is presented – emphasis on acquiring facts or
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Versuch, marxistische und psychoanalytische Theoriefragmente zur Neubegründung der Erziehungswissenschaft zu verbinden, der Schule als Institution erzieherische Kraft zuweist. Wenn die Schule Funktionen für die Gesellschaft erbringt, dann tut sie dies nur zum Teil absichtlich und geplant. Zumindest ein Teil der Leistungen, die sie für andere Sozialsysteme (insbesondere Wirtschaft und Politik) erbringt, erfolgt gleichsam im Verborgenen (implizit) und nebenher (vgl. auch Abschnitt 5.4).
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Der Unterricht als Sozialsystem
Wenn über den Unterricht als soziale Situation ein Konsens besteht, dann liegt er in dessen hoher Komplexität (vgl. Doyle 1986, 2006; Jackson 1990: 159ff.; Shulman 1987; Smith und Geoffrey 1968; Weick 1976). Ein Klassenzimmer ist ein dicht bevölkerter, äußerst belebter und ereignisreicher Ort, der an die soziale Kompetenz der Anwesenden hohe Ansprüche stellt. Die soziale Dichte ist verantwortlich für die Schnelle und Vielzahl der Geschehnisse, die zum großen Teil unvorhersehbar sind, auf die aber rasch reagiert werden muss, da sonst Gefahr besteht, dass sie sich sozial destabilisierend auswirken. Da die Verantwortung für die Gestaltung und den ordentlichen Ablauf der Lektionen in den Händen der Lehrkraft liegt, ist sie von der Komplexität der Unterrichtssituation besonders stark betroffen.20 Insofern Komplexität per definitionem analytisch nicht beherrschbar ist, sind die Lehrkräfte genötigt, das Unterrichtsgeschehen zu simplifizieren. Dazu nutzen sie üblicherweise die Didaktik, die ihnen Modelle anbietet, die den Unterricht überschaubar machen (vgl. Herzog 2002: 271ff.). Für eine soziologische Analyse des Unterrichts ist daher gegen die didaktischen Unterrichtstheorien anzugehen. Das wird im Folgenden versucht, indem wir die didaktische und psychologische Unterrichtsforschung für ihre Asozialität kritisieren (5.1), die Erziehungsstilforschung als Annäherung an ein interaktionales Verständnis von Unterricht deuten (5.2) und die Schulklasse als Interaktionssystem konzipieren (5.3). Darauf aufbauend lässt sich ein Bild der Schule als Sozialisationsinstanz zeichnen (5.4).
5.1 Ausblendung der Sozialität des Unterrichts In der Perspektive der Didaktik erscheint der Unterricht als Dreieck zwischen Lehrer, Schüler und Stoff, wie das Beispiel von Prange (1986: 36) zeigen kann: „In jedem Unterricht gibt es zunächst ein Thema, das zu vermitteln ist. (…) Zweitens gehört zum Unterricht ein Lernender, dem ein Thema angeboten oder zugemutet wird, das im Unterricht zu bearbeiten ist. Und drittens gehört zum Unterricht ein Mittler, der zwischen Thema und Schüler die Brücke schlägt“. Indem Prange das didaktische Dreieck mit dem kybernetischen Schema des Regelsolving problems, stress on individual performance or collaborative activities, the kinds of rules to be followed, the variety of learning styles encouraged, and so on“ (ebd.: 197). 20 Angesprochen wird die Aufgabe der Klassenführung (classroom management), die analytisch von der Lehraufgabe (instruction) zu trennen ist. Bei der Klassenführung steht der Unterricht explizit als soziale Situation im Vordergrund. Doyle (1986: 395) spricht vom Problem der sozialen Ordnung. „Order is served (…) by organizing classroom groups, establishing rules and procedures, reacting to misbehavior, monitoring and pacing classroom events, and the like“ (ebd.).
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kreises anreichert, kann er den Eindruck erwecken, das Lernen des Schülers lasse sich durch das Handeln des Lehrers steuern. Was damit still gestellt wird, ist das in soziologischer Hinsicht Entscheidende am Unterricht, nämlich sein sozialer Charakter und die soziale Dynamik der Schulklasse.21 Zu den Simplifizierungen der Didaktik gehört, dass der Unterricht handlungstheoretisch aufgearbeitet wird und als Akteur einzig die Lehrkraft erscheint. Insofern ist Markowitz (1986: 138) zuzustimmen, wenn er feststellt, es gehöre zu den Phänomenen didaktischer Tradition, „(…) dass in ihrem Namen Lehrbücher zu Standardwerken avancieren, die auf Hunderten von Seiten kein einziges Wort über das fundamentale Bedingungsgefüge verlieren, in dem jeder Schüler notwendig steht: die Schulklasse“. Der didaktische Blick, der die Lernenden aus der Perspektive der Lehrenden fokussiert, verführt dazu, die Schülerinnen und Schüler als passive Rezipienten von Unterricht zu missdeuten. Die Lehrer-Schüler-Beziehung zeigt sich als unilaterales und asymmetrisches Verhältnis, was zur Folge hat, dass das Lernen der Schülerinnen und Schüler nicht als Eigenleistung, sondern als Konsequenz des Lehrerhandelns erscheint. Ergebnisse von Unterrichtsbeobachtungen in traditionell geführten Schulklassen zeigen in der Tat, dass die Aktivität im Unterricht vor allem auf Seiten der Lehrkräfte liegt, diese die größten Redeanteile einnehmen, am meisten Fragen stellen, aber auch ausgiebig Aufforderungen und Befehle aussprechen (vgl. Cuban 1993; Goodlad 1984; Krapf 1985). Die Schülerinnen und Schüler sind demgegenüber meist passiv und nehmen die Rolle von Zuschauern und Zuhörern ein. Das bestätigt ein Klassiker der schulischen Interaktionsforschung, der im Rahmen eines symbolisch-interaktionistischen Ansatzes die Strukturierung unterrichtlicher Interaktionen unter Verwendung von Videoaufzeichnungen an einer Grundschule in San Diego untersucht hat. Das von Mehan (1979) rekonstruierte Interaktionsmuster folgt einer Sequenz von Initiation, Reply und Evaluation (IRE), wobei die Initiative in den meisten Fällen bei der Lehrkraft liegt, die nach einer Schülerantwort mit einer Rückmeldung reagiert.22 Der Unterricht stellt sich als „turn-allocation machinery“ (ebd.: 83) dar, die dafür sorgt, dass die sozialen Interaktionen in geordneten Bahnen verlaufen. Für eine erfolgreiche Beteiligung am Unterrichtsgeschehen müssen sich die Schülerinnen und Schüler der von der Lehrkraft gelenkten Aktivitätszuweisung unterwerfen. Hinter diesem weitverbreiteten Lehrformat steht die Annahme, das Unterrichten habe sich an den Ergebnissen der Lernpsychologie auszurichten. Dass sich psychologische Lerntheorien nur bedingt eignen, um eine Theorie des Lehrens zu begründen, wurde erst allmählich erkannt (vgl. Jackson 1990: 159ff.; Herzog 2005: Kap. 6; Petrie 1973). Da die lernpsychologische Forschung auf individuelle Aneignungsprozesse fixiert ist, kultiviert sie eine Extremform sozialer Gruppierung, nämlich die Dyade (vgl. Simmel 1992: 100ff.). Der Nutzen lernpsychologischer Erkenntnisse für das Lehrerhandeln ist daher begrenzt. Wie Jackson (1990: 161) betont, übersteigt die Komplexität der Unterrichtssituation das Pro21 Wie Luhmann (2002: 56, Fn. 13) präzise bemerkt, spricht die Pädagogik üblicherweise nicht von (sozialer) Interaktion, sondern von Praxis, womit die Aufmerksamkeit zusätzlich auf den Lehrer eingegrenzt wird. 22 Sinclair und Coulthard (1977) nennen die Sequenz Initiation, Response und Feedback. Geläufig sind auch die Ausdrücke Recitation (Stodolsky, Ferguson und Wimpelberg 1981) und Recitation Script (Mehan 1998: 255). In der Didaktik wird das Format euphemistisch „Unterrichtsgespräch“ oder „fragend-entwickelnder Unterricht“ genannt. In anderen Studien kommen ähnliche Formen der Lehrer-Schüler-Interaktion zu Gesicht, wie zum Beispiel das Aufgaben-Lösungs-Muster, das Rätselraten, der Lehrervortrag und das Begründen (vgl. Ehlich und Rehbein 1986). Offensichtlich handelt es sich um ein elementares Interaktionsmuster zwischen Erwachsenen und Kindern, wie Bruner (2002) zeigt, der die frühen Interaktionen zwischen Mutter und Kind beim Sprachenlernen untersucht hat. Papousek und Papousek (1987) sprechen von einer „intuitiven Didaktik“.
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blem der sozialtechnologischen Anwendung lernpsychologischer Erkenntnisse bei weitem. Ist schon das Lernen des einzelnen Schülers ein höchst komplexer Vorgang, ist es das Lernen in der sozialen Situation des Unterrichts noch weit mehr. Die simplifizierende Sicht auf den Unterricht findet sich nicht nur in der Didaktik, sondern auch in der psychologischen Unterrichtforschung. Schon rein begrifflich zeigt sich die Einengung, wenn mit Unterricht Situationen bezeichnet werden, „in denen mit pädagogischer Absicht und in organisierter Weise innerhalb eines bestimmten institutionellen Rahmens von professionell tätigen Lehrenden Lernprozesse initiiert, gefördert und erleichtert werden“ (Reinmann-Rothmeier und Mandl 2001: 603). Die Blickrichtung geht erneut einseitig vom Lehrenden zum Lernenden. Dementsprechend dominieren ein Prozess-ProduktParadigma (vgl. Gage 1979; Good und Brophy 2002; Gettinger und Kohler 2006) und eine Reihe von Input-Output-Modellen (vgl. Scheerens und Bosker 1997). Schülerleistungen erscheinen als Ergebnis von Eingangsmerkmalen der Schule und von Prozessmerkmalen des Unterrichts, weshalb man zusammenfassend auch von einem Produktivitätsmodell der Schülerleistung sprechen kann (vgl. Fraser, Walberg, Welch und Hattie 1987; Wang, Haertel und Walberg 1993). Insgesamt bleibt jedoch fraglich, ob die unterstellte Annahme eines linearen Kausalprozesses zwischen Input, Prozess und Output haltbar ist. Die Brücke zu einem interaktionalen Ansatz schafft ein alternatives Paradigma, das Fend (1998, 2000, 2002) vorgeschlagen hat und auch das von Helmke (2005) vertreten wird. Danach begegnen sich in der Unterrichtssituation zwei Arten von Akteuren: Auf der einen Seite ein Lehrender, der eine Lernsituation arrangiert und im Rahmen seiner Gestaltung von Unterricht Lernbedingungen schafft, die auf der anderen Seite von Lernenden genutzt werden. Terminologisch kann dieses Angebot-Nutzungs-Modell auch mit den Begriffen Vermittlung und Aneignung charakterisiert werden: Was Lehrkräfte tun, ist Stoff zu vermitteln, der von den Schülerinnen und Schülern angeeignet oder nicht angeeignet wird (vgl. Kade 1997, 2004).23 Mit diesem Ansatz wird die vom Produktivitätsmodell unterstellte Wirkungsfrage zu einer Nutzungsfrage, womit der theoretische Rahmen eine andere Akzentuierung erfährt. Indem das Angebot-Nutzungs-Modell anerkennt, dass auf beiden Seiten des Unterrichtsgeschehens mit Akteuren zu rechnen ist, macht es deutlich, dass die Schule ohne Beteiligung der Lernenden ihre Ziele nicht erreichen kann. Der Erfolg von Schule ist abhängig von der Fähigkeit der Lehrkräfte, mit den Schülerinnen und Schülern zu kooperieren und sie sowohl zur aktiven Mitwirkung am Unterricht als auch zu selbständigem Lernen zu motivieren. Dadurch wird die soziale Basis des Unterrichts als konstitutiv nicht nur für das Lehren, sondern auch für das Lernen sichtbar. Der Unterricht lässt sich nicht angemessen verstehen, wenn er nur in der Perspektive des Lehrerhandelns erschlossen wird. Selbst seine pädagogischen Leistungen kann er nur erbringen, wenn er als Interaktionssystem begriffen wird.
23 Interessanterweise hat Luhmann, dem als Code des Erziehungssystems lange Zeit die (soziale) Selektion galt (z.B. Luhmann 1994), in seinen späten Schriften die Begriffe von Kade (1997) übernommen. Als Code des Erziehungssystems nennt er nun die Unterscheidung vermittelbar vs. nicht-vermittelbar, womit eine Referenz sowohl auf Stoffe (Themen) wie auf Personen möglich ist (vgl. Luhmann 2002: 59f.).
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5.2 Erziehungs- und Unterrichtsstile Eine Annäherung an den Unterricht als Interaktionssystem zeigen auch einige Studien zu Unterrichtsstilen. In einer umfassenden Studie konnte Ryans (1970) aufgrund von Unterrichtsbeobachtungen bei rd. 3.900 Lehrpersonen von Grund- und Sekundarschulen in den USA drei Verhaltensmuster herauskristallisieren: (1) ein distanziertes, reserviertes und egozentrisches vs. freundliches, verständnisvolles und teilnehmendes Lehrerverhalten, (2) ein der Verantwortung ausweichendes, planloses und nachlässiges vs. verantwortliches, systematisches und gewissenhaftes Lehrerverhalten sowie (3) ein langweiliges und routinemäßiges vs. anregendes, phantasievolles und originelles Lehrerverhalten. In Großbritannien konnte Bennett (1976) auf der Basis einer Interviewstudie bei Grundschullehrkräften aus 871 Schulen im Nordwesten Londons mittels Clusteranalyse zwölf Unterrichtsstile (teaching styles) unterscheiden. Unter Auslassung von fünf Stilen wurden die verbleibenden Unterrichtsstile trichotomisiert, und zwar in formelle (stark strukturierte), gemischte und informelle (wenig strukturierte) Formen der Unterrichtsgestaltung.24 Gemessen am Lernzuwachs der Schülerinnen und Schüler, haben sich im Leseunterricht der formelle und der gemischte Unterrichtsstil als besonders vorteilhaft erwiesen, im Mathematikunterricht und im Englischunterricht der formelle und in Bezug auf die Motivation der Schülerinnen und Schüler, aber auch im Hinblick auf die Vermeidung von Ängstlichkeit, der informelle Stil. Basierend auf Studien in Familien, hat Baumrind (1989, 1991) in verschiedenen Arbeiten ein Erziehungsstilkonzept entwickelt, das zwei Dimensionen unterscheidet: Forderung (demandingness) und Sensitivität (responsiveness). Mit Forderung geht auch Kontrolle einher; Sensitivität meint nicht nur emotionale Wärme, sondern auch Einfühlsamkeit und kognitive Stimulation. Aus ihren Untersuchungen folgert Baumrind, dass ein autoritativer Erziehungsstil (beruhend auf hohen Ansprüchen und hoher Sensitivität) für die kindliche Entwicklung besonders effektiv ist. Die Ergebnisse von Baumrind werden von einer Reihe vergleichbarer Studien bestätigt (vgl. Lamborn et al. 1991; Maccoby und Martin 1983; Steinberg et al. 1994, 1995). Obwohl Baumrind ihre Daten ausschließlich in Familien erhoben hat, kann davon ausgegangen werden, dass das Konzept der autoritativen Führung auch im schulischen Unterricht erfolgreich ist (vgl. McCaslin und Good 1992; Hughes 2002). Aus soziologischer Sicht ist besonders interessant, dass der autoritative Erziehungsstil mit dem Prinzip der Reziprozität in Verbindung steht. Auch wenn er die erzieherische Verantwortung der Erwachsenen und die Pflichten der Elternschaft betont, beruht der autoritative Erziehungsstil auf gegenseitiger Anerkennung von Eltern und Kind (vgl. Baumrind 1980). Dem Edukanden wird die Chance gegeben, sich mit dem Erzieher auseinanderzusetzen und in einen „Kampf um Anerkennung“ (Hegel) zu treten (vgl. Benjamin 1998; Honneth 1992). Demgegenüber kann der autoritäre Erziehungsstil genauso wie der indifferente („Laissez faire“) so verstanden werden, dass das menschliche Bedürfnis nach gegenseitiger Anerkennung missachtet wird, was zu Ärger, Wut und Ressentiments führt. Auch wenn die Unterrichtsstilforschung methodisch begrenzt ist – der Blick bleibt auf die Perspektive der Lehrkraft beschränkt und blendet Interaktionsprozesse aus –, verweist 24 Einen Eindruck von den beiden Extremgruppen kann das folgende Zitat geben: „Formal teachers lay much greater stress on the promotion of a high level of academic attainment, preparation for academic work in the secondary school, and the acquisition of basic skills in reading and number work. Informal teachers on the other hand value social and emotional aims, preferring to stress the importance of self-expression, enjoyment of school and the development of creativity“ (Bennett 1976: 151).
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die theoretische Interpretation auf die interaktionale Basis der Unterrichtssituation. Wie Nickel (1976) schon vor Jahren vermerkte, sind Lehrer und Schüler aktive Partner in einem Transaktionsprozess, der unzureichend verstanden wird, wenn sie auf die statische Entsprechung von unabhängigen und abhängigen Variablen reduziert werden.
5.3 Die Schulklasse als Interaktionssystem Parsons (1968) nennt die Schulklasse ein soziales System, verwendet den Begriff des Systems allerdings in einem eher lockeren Sinn. Geht man mit Luhmann (1976) davon aus, dass sich soziale Systeme über Prozesse gegenseitiger Wahrnehmung konstituieren, dann stellt die Schulklasse geradezu ein Paradebeispiel für soziale Systembildung dar. In einer Situation gegenseitiger Wahrnehmung wird auf beiden Seiten doppelte Kontingenz erfahren. Alter und Ego wissen, dass sie über den Erfolg ihres Handelns keine Verfügungsmacht haben, zugleich erkennen sie, dass der Erfolg ihres Handelns vom Handeln des anderen abhängig ist.25 Die beidseitig gegebene doppelte Kontingenz ist der Katalysator für die Bildung eines sozialen Systems (vgl. Luhmann 1984: 154). Angestoßen wird ein Interaktionsprozess, der sich selber stabilisiert, weil er – und damit gehen wir über Luhmann hinaus – vom Prinzip der Reziprozität reguliert wird (vgl. Herzog 2008).26 Reziproke Beziehungen wirken dadurch sozial integrierend, dass sie in einem zeitlich offenen Horizont stattfinden. Die Ungewissheit, ob eine Leistung beglichen ist oder nicht, führt „nach einer gewissen Zeit (…) zu einer Unsicherheit darüber, wer in wessen Schuld steht“ (Gouldner 1984: 105). Gegenseitigkeit verpflichtet auf nicht-koerzive Art und gibt einer Beziehung Stabilität. Sie überdauert den Moment der situativen Begegnung und erlaubt, die Interaktion zu kontinuieren. Ein Sozialsystem wie der Unterricht ist auf diese Kontinuierung essentiell angewiesen. Als Sozialsystem kann der Unterricht durch die Organisation Schule nur bedingt Stabilität gewinnen (vgl. Vanderstraeten 2004). Das hängt wesentlich mit dem intermediären Status zusammen, den die Schule zwischen Familie und Gesellschaft einnimmt (vgl. Abschnitt 4). Weder seinen gesellschaftlichen Funktionen noch seiner pädagogischen Aufgabe könnte der Unterricht gerecht werden, wenn er nach den Prinzipien formaler Organisationen eingerichtet würde. Um seine sozialisatorische Leistung zu erbringen, muss er sich zu einem großen Teil selbst stabilisieren. Als Sozialsystem ist er eine kollektive Leistung, an der die Schülerinnen und Schüler genauso beteiligt sind wie die Lehrkraft. Mit Goffman (1983) lässt sich von einer Interaktionsordnung sprechen, die situativ erzeugt und durch eine Reihe von Besonderheiten ausgezeichnet ist: Anwesenheit, Dazugehörigkeit, gegenseitige Wahrnehmung, Kommunikation und Verbundenheit (vgl. Goffman 1983; Kieserling 1999; Luhmann 1976; Geser 1980; Vanderstraeten 2001, 2004; Rawls 1987). Wenn Interaktionssysteme jedoch nur so lange überdauern, wie die Anwesenden präsent sind, würde jede Pausenglocke den Unterricht als Sozialsystem beenden. Im Folgenden wird daher nicht dieser radikale Begriff von Interaktionssystem (wie ihn z.B. Kie25 Handeln erzeugt unausweichlich unkalkulierbare Nebenwirkungen und unbeabsichtigte Folgen (vgl. z.B. Greshoff, Kneer und Schimank 2003; Wippler 1978). 26 Luhmann (1984) nimmt an, die durch die Systembildung initiierte Kommunikation würde sich selber weiter tragen. Diese Annahme ist jedoch strittig (vgl. Esser 1994; Herzog 2002: Kap. 5; Mayntz 1987). Kommunikation lässt sich kaum von den kommunizierenden Akteuren ablösen und in Analogie zu organischen Abläufen als sich selbst katalysierender Prozess fassen.
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serling 1999 favorisiert) verwendet, sondern ein mit dem Konzept der Gruppe angereichertes Konzept. Deshalb kommen für die Charakterisierung von Schulklassen zwei weitere Merkmale hinzu, die mit deren Gruppencharakter in Verbindung stehen: Dauerhaftigkeit und Historizität (vgl. Neidhardt 1979; Doyle 1986, 2006; Tyrell 1983). Anwesenheit: Sie bildet eine Art Abgrenzungskriterium gegenüber anderen Sozialformen. Wer nicht anwesend ist, gehört nicht dazu. Allerdings gilt dies für Schulklassen nicht im absoluten Sinn, denn zeitweilige Abwesenheit (z.B. wegen Krankheit) wird durchaus toleriert, sofern sie begründet oder entschuldigt ist.27 Angesichts des vermittelnden Charakters der Schule ist schwer vorstellbar, dass Unterricht ohne Anwesenheit der Akteure (Lehrer und Schüler) stattfinden könnte. Anwesenheit bedeutet, dass die Vermittlung lokal, unter Ausnutzung situativer Bezüge und nonverbaler Kommunikationsmittel stattfinden kann. Die weitverbreitete Unterrichtsform des „show and tell“ (Jackson 1986: 16) ist ohne lokal präsente Zuschauer und Zuhörer nur beschränkt möglich, setzt also Anwesenheit voraus. Da die Fähigkeit, über Beobachtung und Nachahmung zu lernen, beim Menschen besonders stark ausgebildet ist (vgl. Tomasello 2002; Tomasello, Kruger und Ratner 1993), wäre es auch verwunderlich, wenn die Schule dieses Humanspezifikum für ihre Zwecke nicht nutzen würde. Die neuen Informationstechnologien mögen das Kriterium der Anwesenheit zwar relativieren, ihr Einsatz ist aber an Voraussetzungen kognitiver, motivationaler und praktischer Art gebunden, die zumindest auf den unteren Stufen des Schulsystems nicht gegeben sind.28 Ohne Anwesenheit würden auch wesentliche Möglichkeiten der direkten Kontrolle der Wissensvermittlung wegfallen. Eine annähernd gleichmäßige Wahrnehmung gehört „zu den wichtigsten Ressourcen für die Kommunikation unter Anwesenden“ (Kieserling 1999: 94). Die Bedeutung der Anwesenheit kann auch daraus erschlossen werden, dass der Versuch, Personen aus dem Kreis der Dazugehörigen auszuschließen, die Kriterien von Mobbing erfüllt (vgl. Alsaker 2003). Gegenseitige Wahrnehmung: Anwesenheit impliziert, dass unmittelbar wahrgenommen wird, was aktuell vor sich geht. Der Unterricht ist so gesehen eine überschaubare und öffentliche Situation (vgl. Doyle 1986), was nicht ausschließt, dass sich auch Dinge ereignen, die der Aufmerksamkeit der Lehrkraft oder der Schülerinnen und Schüler entgehen (vgl. Abschnitt 6.1). Tatsächlich besteht eine gewisse Asymmetrie der Wahrnehmbarkeit, bedingt durch die zahlenmäßige Überpräsenz der Schülerinnen und Schüler, die mehr und die besseren Möglichkeiten haben, die Lehrperson zu beobachten, als Letztere in der Lage ist, die einzelnen Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen. Lortie (1975: 70) meint daher, Lehrer würden sich im Unterricht in einer Art Fischglas befinden; „each child normally can see how the others are treated“. Auch die gegenseitige Wahrnehmung kann in ihrer Bedeutung für die soziologische Analyse des Unterrichts daran erkannt werden, dass jeder Versuch, sich der Wahrnehmung durch andere zu entziehen, potentiell destabilisierend wirkt. Kommunikation: Kommunikation ist das Medium, durch welches das Lehren der Lehrkraft mit dem Lernen der Schülerinnen und Schüler in Verbindung steht. Kommunikation setzt gemäß Luhmann (1984) für sich bestehende Lebewesen mit je eigener Umwelt und eigenem Informationsverarbeitungsapparat voraus. „Jedes Lebewesen sichtet und bear27
Selbst längere Abwesenheit – wie ein Austauschjahr im Ausland – muss die Mitgliedschaft in einer Schulklasse nicht aufheben. 28 Bezeichnenderweise sind die Erfahrungen mit der völligen Virtualisierung des Unterrichts eher negativ, weshalb sich selbst im Rahmen von Hochschule und Erwachsenenbildung Konzepte des „blended learning“ durchgesetzt haben (vgl. Sauter, Sauter und Bender 2004).
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beitet, was es wahrnimmt, für sich“ (ebd.: 217). Insofern stellt der Unterricht nicht ein Universum, sondern ein Multiversum dar, das von den verschiedenen Akteuren, die in der Unterrichtssituation präsent sind und wahrnehmen, dass sie sich wahrnehmen, bevölkert wird. Wenn Kommunikation als Beeinflussung des Bewusstseins eines anderen Menschen verstanden wird, dann gilt, dass kein Bewusstsein von außen determiniert werden kann. Da keine Operation eines Systems Anschluss an die Operationen seiner Umwelt hat, ist auch das Lernen als Operation eines Schülers keine direkte Folge des Lehrens als Operation der Lehrkraft. Lehren und Lernen finden in Systemen statt, die sich durch Kommunikation zwar zu konsensuellen Bereichen zusammenschließen können, aber nicht in einen geschlossenen Regelkreis einbinden lassen. Kommunikation beruht auf der Koordination von Erfahrungsräumen. Sie informiert nicht (im wörtlichen Sinn), sondern orientiert die Interagierenden in ihren kognitiven Bereichen. Im Unterricht ist allerdings oft ungewiss, wieweit zwischen der Lehrkraft und den Schülerinnen und Schülern konsensuelle Bereiche bestehen. Eines der größten didaktischen Probleme der Schule liegt darin, die Erfahrungsräume der im Unterricht Anwesenden so weit zusammenzuführen, dass erfolgreiches Lehren und Lernen überhaupt möglich wird.29 Verbundenheit: Alle, die dazu gehören, stehen in Beziehung zueinander. Da die Beziehungen persönlicher Art sind, lassen sie sich nicht auf Rollenmuster reduzieren. Der Einzelne erscheint in seiner individuellen Eigenart (Identität) und nicht in einer (sozialen) Funktion. Das schließt nicht aus, dass es eine soziale Differenzierung nach Rollen gibt. Sollte diese aber den Zusammenhalt des sozialen Ganzen gefährden, würde das Sozialsystem Unterricht zusammenbrechen. Schulklassen sind deshalb äußerst störanfällig. Störungen fallen sofort auf und erfassen, da sie sich nicht durch Subsystembildung neutralisieren lassen, zumeist alle Mitglieder des Systems. Die persönlichen Beziehungen als Merkmal von Schulklassen sind nicht zuletzt deshalb wichtig, weil dadurch jede Klasse eine spezielle „Färbung“ gewinnt (vgl. Bärtschi 2007). Lehrkräfte haben im Allgemeinen ein gut ausgeprägtes Sensorium für die Besonderheiten der Klassen, die sie unterrichten. Durch die persönlichen Beziehungen wirkt die Schulklasse auch als Bezugsgruppe, die normative Vorgaben macht, an denen sich die Schülerinnen und Schüler orientieren. Das ist vor allem für die Entwicklung von selbstbezogenen Kognitionen wie Selbstkonzepten und Selbstvertrauen von Bedeutung, worauf bereits Dreeben (1980: 40) hingewiesen hat: „Da viele schulische Aktivitäten öffentliche Beurteilung erfahren, wird der Schüler mit Botschaften bombardiert, die ihm sagen, wie gut oder wie schlecht er abgeschnitten hat und (in einfacher Schlussfolgerung) wie gut oder wie schlecht er ist. Wenn er schon dem Lehrer nicht glaubt, dann braucht er bloß auf die Leistungen der anderen zu sehen, die im gleichen Alter und in der gleichen Situation stehen“. Dieser Bezugsgruppeneffekt, der sich dem sozialen Vergleich in der Schulklasse verdankt, wird von pädagogischer Seite oft kritisiert, indem vom Lehrer verlangt wird, dass er bei der Schülerbeurteilung nicht eine soziale, sondern eine individuelle (die Leistung des einzelnen Schülers wird mit seinen früheren Leistungen verglichen) oder eine kriteriale bzw. sachliche (die Schülerleistung wird daran gemessen, ob ein Lernziel erreicht wurde oder nicht) Norm anwendet. Es liegt jedoch im sozialen Charakter des Unterrichts, dass sich soziale Vergleiche gar nicht vermeiden lassen.
29 Eine überblicksartige Darstellung der Forschungslage zu Interaktion und Kommunikation im Unterricht geben Lüders und Rauin (2004: insbes. 695ff.).
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Soziale Vergleiche können allerdings je nach Unterrichtsgestaltung erleichtert oder erschwert werden. Favorisiert die Lehrkraft einen eindimensionalen Unterricht (einheitliche Aufgabenstellung, einheitliches Lerntempo, geringe Schülerautonomie, wenig Gruppenarbeiten und Leistungsbeurteilung nach Noten), so beurteilen die Schülerinnen und Schüler ihre Leistungsfähigkeit (Begabung) ziemlich genau nach den objektiven Leistungsgruppen. Unterrichtet sie dagegen mehrdimensional, das heißt im Sinne eines individualisierten Unterrichts, können die meisten Schülerinnen und Schüler ein positives Selbstbild ihrer Leistungsfähigkeit bewahren (vgl. Rosenholtz und Rosenholtz 1981; Rosenholtz und Simpson 1984; Simpson und Rosenholtz 1986). Ein mehrdimensionaler Unterricht schafft mehr Freiräume für die Selbstbeurteilung, was in motivationaler Hinsicht vor allem für die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler von großer Bedeutung ist.30 Dauerhaftigkeit und Historizität: Schulklassen überdauern die Situation ihrer Konstituierung. Man trifft sich wieder, und dies oft über lange Zeit. Dadurch bildet sich eine gemeinsame Geschichte. Die Zeit, während der man in der Schule zusammen ist, bemisst sich nicht allein nach der Uhrzeit, sondern auch nach der historischen Zeit. Die Vielzahl an Ereignissen, die den Begegnungen in einer Klasse ein besonderes Gepräge geben, ist von schicksalhafter Bedeutung, insofern sie zukünftiges Verhalten durch vergangenes festlegen (vgl. Markowitz 1986: 189ff.). Denn in der Zeit geschehen Dinge, die erinnert werden und künftiges Verhalten beeinflussen. Interaktionsformen schleifen sich ein, Routinen bilden sich aus, man altert zusammen (vgl. Schütz 1971: 201) und erzeugt dadurch eine kollektive Vergangenheit. Über die historische Zeit hinweg können sich persönliche Bindungen entwickeln, nicht zur zwischen den Schülerinnen und Schülern, sondern auch zwischen diesen und der Lehrkraft. Solche Beziehungen können noch lange nach der Auflösung der Schulklasse nachwirken, was nicht nur die Institution der Klassenzusammenkunft zeigt, sondern auch Berichte von Lehrkräften, die von der (späten) Dankbarkeit von Schülerinnen und Schülern berichten (vgl. Ben-Peretz 1996).31 Die Kriterien, die eine Schulklasse als Sozialsystem kennzeichnen, schaffen beinahe ideale Bedingungen für das Prinzip der Reziprozität. Das Zusammensein über längere Zeit mit denselben Menschen garantiert eine gleichbleibende Interaktionsdichte. Der Schatten der Zukunft ist lang genug, um eine egoistische Kalkulation der Beziehungssequenzen zu unterbinden. Die große Öffentlichkeit der Geschehnisse erlaubt die gegenseitige Beobachtung der Interaktionen und die Sanktionierung von Defektionen. Die Geschichtlichkeit der Situation verhindert schließlich, dass vergangene Ereignisse vergessen werden. In dieses System der sozialen Gegenseitigkeit sind Schüler und Lehrer gleichermaßen eingebunden. Es braucht auch nicht mit eiserner Hand durchgesetzt zu werden (vgl. Herzog 2008). Sein Funktionieren verdankt sich ganz der interaktionalen Ordnung des Unterrichts. Als Interaktionssystem bildet die Schulklasse eine Realität sui generis (vgl. Vanderstraeten 2004). Wie für die Schule als Organisation gilt für die Schulklasse als interaktionaler Ordnung, dass sie in ihrer Funktionsweise von außen nicht determiniert werden kann. Interaktionssysteme können zwar durch Organisation „eingerahmt“ werden (vgl. 30 Insofern ist die Didaktik ein wichtiges Instrument, das der Lehrkraft zur Beeinflussung der Sozialstruktur des Unterrichts verfügbar ist. Im Einzelnen kann es daher schwierig sein, Lehrerhandlungen eindeutig nach den Aufgabenbereichen des Lehrens und der Klassenführung (vgl. Doyle 1986) zu unterscheiden. 31 Die Historizität des Unterrichts impliziert auch, dass Störungen des sozialen Gleichgewichts Wirkungen haben können, die erst spät manifest werden. Werden die interaktionalen „Konten“ nicht ausgeglichen, kann ein Teufelskreis in Gang gesetzt werden, der dem Prinzip der Talion gehorcht.
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Goffman 1975), lassen sich aber nicht instrumentalisieren, auch nicht für pädagogische Zwecke: „(…) the autonomy of the interaction order hinders its straightforward utilization in organizations“ (Vanderstraeten 2001: 270). Die Organisation der Schule bildet lediglich den regulativen Rahmen, innerhalb dessen Unterricht stattfinden kann. Es wäre „völlig unrealistisch zu glauben, die Organisation könne die Eigendynamik des Unterrichts programmieren“ (Luhmann 2002: 161). Der Organisation bleibt nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen und der Interaktion gleichsam die Führung zu überlassen. Dass dem so ist, zeigen Studien zur Effektivität von Schulen (vgl. Fend 2000; Purkey und Smith 1983; Reynolds und Cuttance 1992; Rutter und Maughan 2002). Verbesserungen auf der Mesoebene der Schulorganisation wirken sich nur bedingt auf die Mikroebene des Unterrichts aus. Die Rahmung der unterrichtlichen Interaktionen durch die schulische Organisation betrifft Äußerlichkeiten, wie Ort, Zeit und Dauer des Unterrichts. Darüber hinaus sind auch das Jahrgangsprinzip, wie es sich weltweit als Standard zur Bildung von Schulklassen durchgesetzt hat (vgl. Adick 1992: 262f.), die gemischtgeschlechtliche (koedukative) Unterrichtung der Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrpläne und Promotionsverfahren Instrumente der Organisation von Unterricht (vgl. Niederberger 1991: 326). Immer aber geht es dabei um äußere (organisatorische) Aspekte von Schule; das (interaktionale) Geschehen im Unterricht lässt sich nicht im gleichen Sinne dekretieren.
5.4 Soziologische Aufklärung über Schule und Unterricht Sobald der Unterricht als soziale Ordnung betrachtet wird, die über soziale Interaktionen aufgebaut und erhalten wird, erscheint der didaktische Blick auf den Unterricht als verkürzt. Die Zeit, Energie und Aufmerksamkeit, die den Akteuren abverlangt wird, um ihr Verhalten zu koordinieren, scheint kaum auszureichen, um über die Regulation der sozialen Beziehungen hinaus dem „eigentlichen“ Zweck der Schule nachzukommen, nämlich die Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Jackson (1990: 162) fühlt sich aufgrund seiner ausgedehnten Beobachtungen des „Lebens im Klassenzimmer“ („Life in Classrooms“) zur Feststellung gedrängt: „Learning is important, to be sure, but when the teacher is actually interacting with his students it is at the periphery of his attention, rather than at the focus of his vision“. Wie Jackson weiter meint, erscheint uns die Annahme, Lehrer würden eine Menge über ihre Schülerinnen und Schüler wissen, zwar als selbstverständlich, doch sei sie falsch. „The truth is that many teachers seem to get along quite well without knowing much at all (in the extreme case, nothing!) about the students they teach“ (Jackson 1986: 20). Der hohe Anspruch an die Individualisierung des Unterrichts und die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler, verbunden mit einer entsprechenden diagnostischen und Beurteilungskompetenz der Lehrkraft, wie er nicht nur in der didaktischen, sondern auch in der psychologischen Literatur anzutreffen ist (vgl. Rustemeyer 2004: 97f.), erweist sich in soziologischer Hinsicht als maßlos. Dies umso mehr, wenn in Betracht gezogen wird, dass Unterricht im Prinzip ohne Kenntnis der individuellen Schülerinnen und Schüler möglich ist. Aufgrund der Vermutung einer gewissen physischen, psychischen und kulturellen Übereinstimmung zwischen Lehrer und Schüler, der Annahme eines Wissensdefizits auf Seiten der Schüler und im Rahmen eines a priori festgelegten Zeitplans kann unterrichtet werden, ohne dass viel Wissen über die individuellen Voraussetzungen der Adressaten des
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Lehrerhandelns erforderlich ist (vgl. Jackson 1986: 20ff.). Soziale Interaktionen können stattfinden, ohne dass sich die Interagierenden im emphatischen Sinne verstehen.32 Das kann erklären, weshalb Kinder und Jugendliche lange Jahre zur Schule gehen können, ohne die erwarteten Lernleistungen zu erbringen. Man denke an funktionale Analphabeten, Schulversager oder die Ergebnisse von internationalen Schulleistungsvergleichen wie TIMSS oder PISA. Gemäß Luhmann (1984: 159) verdankt sich die Realität sozialer Systeme – auch des Sozialsystems Unterricht – „der Autokatalyse durch doppelte Kontingenz“. Ein Rekurs auf psychologische Mechanismen ist nicht erforderlich. Insofern verkennt die weitverbreitete Tendenz, das Unterrichtsgeschehen individualpsychologisch aufzuschließen, dass soziale Systeme ohne tiefen Einblick ins Bewusstsein der daran Beteiligten funktionieren können. „Beneath the surface of classroom events lies the complex world of individual psychology. At times it is imperative for the teacher to enter that world. On such occasions he is forced to pause and try to unravel the psychic entanglements that accompany the unusual educational performance of individual students. But it is unfeasible, given the range of his responsibilities, for him to pause too long or too often. Of necessity, therefore, his psychological knowledge of most of the students under his charge will remain superficial from a clinician’s point of view. And so it must be“ (Jackson 1990: 172f.). Dieser nüchterne Blick auf den Unterricht widerspricht dem pädagogischen Credo, ja erscheint geradezu als dessen Karikatur. Die soziologische Einsicht, dass Schule möglich ist, ohne dass den individuellen Schülerinnen und Schülern Gerechtigkeit widerfährt, macht nicht nur verständlich, dass ein Bildungssystem seine offiziellen Ziele verfehlen kann, sie zeigt auch, dass auf der Ebene der sozialen Strukturen von Schule und Unterricht Prozesse ablaufen, die Effekte haben, die durch die offiziellen Ziele der Schule nicht abgedeckt sind. Schon Bernfeld (1976) hat bezweifelt, dass die Wirkungen, welche die „Pädagogiker“ der Schule zuschreiben, von dieser auch nur ansatzweise erreicht werden. Die Grenzen der Erziehung sind nicht nur innerer (psychischer), sondern auch äußerer (gesellschaftlicher) Art. Es sind Grenzen der Gesellschaft, die sich bis in die Schule erstrecken. Sobald man den didaktischen Standpunkt verlässt und „die Schule als Ganzes, das Schulwesen als System“ (Bernfeld 1976: 26), in den Blick nimmt, erschließt sich eine Wirkdimension von Schule, die zunächst unbemerkt bleibt, weil sie auf der institutionellen Ebene liegt. Vor jeder Didaktik und oft auch gegen sie, existiert die Schule als Institution. Als Institution steht sie den pädagogischen Absichten, wie man sie in den Lehrplänen findet, im Weg, erschließt aber gleichzeitig eine unabsichtliche Erziehung, wie sie im „heimlichen Lehrplan“ der Schule verzeichnet ist (vgl. Abschnitt 4). Vieles, was an Schulen geschieht, ist dadurch bedingt, dass das Lehren und Lernen im Rahmen einer komplexen Organisation stattfindet, deren Funktionieren Zwänge erzeugt, denen sich weder die Schülerinnen und Schüler noch die Lehrkräfte entziehen können. Jackson (1966: 349ff.) nennt als Beispiele Verzögerungen, Versagungen und Unterbrechungen, die mit dem Schulleben unausweichlich verbunden sind. Insbesondere in den Versagungen – zu denen in einem weiteren Sinn auch die Unterbrechungen zählen – liegt 32
Das bestätigt Luhmann (1984) für Sozialsysteme generell, wenn er meint, Kommunikation gebe es gerade deshalb, weil sich die Menschen nicht zu durchschauen vermögen. „Ein soziales System baut nicht darauf auf und ist auch nicht darauf angewiesen, dass diejenigen Systeme, die in doppelter Kontingenz stehen, sich wechselseitig durchschauen und prognostizieren können“ (ebd.: 157). Richtig ist geradezu das Gegenteil: Da die Menschen kein umfassendes Wissen voneinander haben, sind sie gezwungen zu kommunizieren.
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ein sozialisierendes Merkmal von Schule, das im offiziellen Lehrplan nicht verzeichnet ist. Da in der Schule zudem vieles nicht deshalb geschieht, weil ein Interesse dafür besteht, sondern weil es der Stundenplan so vorsieht, impliziert erfolgreiches Verhalten in der Schule eine hohe Selbstdisziplin, insbesondere die Bereitschaft, auf die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen zugunsten späterer Gratifikationen zu verzichten (deferred gratification pattern; vgl. Schneider und Lysgaard 1953; Rosen 1956, Rosen und D’Andrade 1959).33 Wer in der Schule überleben will – und das gilt für Schüler und Lehrer gleichermaßen (vgl. Jackson 1990: 33f.) –, muss sich am ungeschriebenen Lehrplan genauso orientieren wie am geschriebenen. Da der heimliche Lehrplan Ziele umfasst, die man gemeinhin sozialisatorisch nennt, erbringt die Schule auch Leistungen, die sonst eher der Familie zugeschrieben werden. Als nicht-intentionales Geschehen steht die schulische Sozialisation gleichsam quer zum Unterricht. Sie steht auch quer zur Erziehung, weshalb weder Unterricht noch Erziehung als Teilmenge von Sozialisation begriffen werden können. Da Sozialisation in sozialen Interaktionen gleichsam ungefragt mitläuft (vgl. Grundmann 2006), ist sie unvermeidbar. „Jeder Versuch, sie einzuschränken, würde wiederum sozialisierend wirken“ (Luhmann 2002: 53). Selbst wenn sie wollte, die Schule könnte, was neben den intentional verfolgten Erziehungs- und Unterrichtszielen abläuft, nicht unter ihre Kontrolle bringen. Die schulische Sozialisationsforschung ist denn auch weniger daran interessiert, was im Unterricht planmäßig vermittelt wird, als was die Schule unbemerkt an Wirkungen erzeugt. Über die Mechanismen der Sozialisation bestehen allerdings wenig elaborierte Vorstellungen. Abgesehen vom behavioristischen Paradigma des Lernens durch Verstärkung, behilft man sich zumeist mit konkretistischen Konzepten wie Imitation, Identifikation, Internalisierung, Inkorporation, Einprägung oder Mimesis (vgl. Berger und Luckmann 1977; Bourdieu 1979: 164ff.; Gebauer und Wulf 1992; Oevermann 1979: 160ff.). So auch Miller (1986), dessen „Studien zur Grundlegung einer soziologischen Lerntheorie“ von einer Interiorisation „intermentaler Prozesse“, wie sie kollektiven argumentativen Diskursen zugrunde liegen, zu „intramentalen Strukturen“ ausgeht (ebd.: 280ff., passim). Was sich dem Individuum als „objektiver Sinn“ einer Kontroverse manifestiert, soll durch „Interiorisation der argumentativen Praxis“ (ebd.: 254) „subjektiv angeeignet werden“ (ebd.: 326). Theoretisch ist dies eine schwache Position, da der Bereich der Intersubjektivität einfach gesetzt, nicht aber einer Erklärung zugeführt wird.
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Sozialisation im Kontext von Schule und Unterricht
Medium der Sozialisation bilden auch an Schulen die sozialen Interaktionen zwischen individuellen Akteuren. Sozialisationsprozesse sind eingelassen in soziale Praxen, die durch wechselseitige Zuwendung zum Zweck der Verfolgung gemeinsamer Interessen, der Verfestigung sozialer Handlungsweisen und der Etablierung kollektiver Lebensformen gekennzeichnet sind (vgl. Grundmann 2006: 30ff.). Damit verbunden ist die Annahme, die Indivi33 Daran anknüpfend und ergänzt um Untersuchungen zum schichtspezifischen Sprachgebrauch (vgl. Bernstein 1972; Oevermann 1972), wird die Schule oft kritisiert, an Werten und Idealen der Mittelschicht orientiert zu sein (vgl. Lütkens 1959; Rolff 1980). Der mit der Leistungsmotivation verbundene Individualismus und der „elaborierte“ Sprachcode werden der kollektivistischen Wertstruktur und dem „restringierten“ Sprachcode der Unterschicht gegenübergestellt (vgl. auch Mehan 1998: 249ff.).
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duen würden die Interaktionskontexte, durch die sie sozialisiert werden, selber konstituieren, seien ihnen folglich nicht einfach ausgeliefert. Allerdings wird die Selbstbestimmung der Akteure durch den institutionellen Kontext, in dem sie sich bewegen, begrenzt. So sind im Falle der Schule Werte wie Leistung und Konkurrenz ebenso wenig verhandelbar wie die Anwesenheitspflicht im Unterricht, der Lehrstoff oder das Machtgefälle zwischen Lehrer und Schüler.34 Trotzdem gibt es an Schulen ausreichend Spielraum, und zwar sowohl für die Lehrkräfte wie für die Schülerinnen und Schüler, um Traditionen, Normen und Regeln nach eigenem Bedarf auszulegen und im Rahmen von Aushandlungsprozessen zu modifizieren. Insofern besteht eine Analogie zwischen dem soziologischen Bild des Unterrichts als Sozialisationskontext und dem Verständnis des Unterrichts, wie ihn das AngebotNutzungs-Modell ermöglicht (vgl. Abschnitt 5.1). Wie an Schulen Sozialisationspraxen etabliert werden, soll im Folgenden anhand zweier Interaktionsformate näher untersucht werden: den Lehrer-Schüler-Interaktionen (6.1) und den Schüler-Schüler-Interaktionen (6.2). In beiden Fällen wollen wir die Bewältigung von Schule in den Vordergrund rücken, das heißt nachzeichnen, wie Schülerinnen und Schüler mit der Zumutung der institutionellen Strukturen, Organisationsformen und offiziellen Vorgaben von Schule umgehen und dabei in ihrer sozialen Kompetenz gestärkt werden. Der Fokus auf verborgene Prozesse und latente Sinnstrukturen bringt es mit sich, dass in der schulischen Sozialisationsforschung vorwiegend mit qualitativen Verfahren gearbeitet wird. Vor allem ethnographische Methoden spielen seit längerem eine wichtige Rolle. Bereits Jackson (1990) hat die Daten zu seiner einflussreichen Studie über das „Leben in Klassenzimmern“ mittels teilnehmender Beobachtung und offenen Interviews erhoben, dies mit der Begründung, „so nahe wie möglich an die soziale Realität des schulischen Lebens heranzukommen“ und auszuloten, „welche Bedeutung Schule letztlich für die Lehrer und Schüler wirklich hat“ (Jackson, zit. nach Zinnecker 1975: 19). Dies zudem mit der Begründung, dass sich nur so die großenteils unartikulierten Bedeutungsstrukturen von Schule und Unterricht adäquat analysieren lassen. Wegen ihrer Vertrautheit und Selbstverständlichkeit sind schulische Erfahrungen sprachlich oft schwer kommunizierbar und erfordern spezielle Erhebungsmethoden. Die Dominanz qualitativer Verfahren bringt es allerdings mit sich, dass die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse oft schwer abschätzbar ist.
6.1 Interaktion und Identität Mit dem Fokus auf Interaktionssysteme liegt es nahe, theoretisch mit Konzepten zu arbeiten, wie sie im Symbolischen Interaktionismus und in der Ethnomethodologie ausgearbeitet wurden. Ein Vorzug dieser Theorien liegt darin, dass sie näher ans Individuum heranreichen und nicht nur dessen Vergesellschaftung, sondern auch seine Individuierung rekonstruieren können (vgl. Tillmann 2007: 141f.). Ein Grundtheorem des Symbolischen Interaktionismus ist, dass das Individuum zu einer Identität nur im Rahmen von sozialen Interaktionen finden kann (vgl. Krappmann 2000; Mead 2002).
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Was nicht heißt, dass die Schülerinnen und Schüler über keine Macht verfügen, im Gegenteil (vgl. Ulich 1976: 131ff.).
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Verbindungen werden aber auch zur Psychoanalyse gesucht, wie das Beispiel von Wellendorf (1973) zeigt, der eine symbolisch-interaktionistische mit einer psychoanalytischen Perspektive verknüpft.35 Schulische Interaktionen finden „in vorgegebenen und zugleich gemeinsam konstituierten Situationen“ (ebd.: 14) statt, die auch Szenen genannt werden. Eine Szene bezeichnet „(…) einen raum-zeitlich strukturierten und von einem Horizont von Mitgegebenheiten begrenzten Interaktionszusammenhang, der in Prozessen gemeinsamer Kommunikation und gemeinsamen Handelns interpretiert und definiert wird“ (ebd.: 65). Die Verbindung verschiedener Szenen zu einer Szenenfolge ergibt ein szenisches Arrangement. Die Schule insgesamt kann als ein Gefüge szenischer Arrangements verstanden werden. Nicht nur der eine Schultag, sondern auch größere zeitliche Einheiten wie ein Schuljahr oder eine schulische Karriere bilden Abfolgen von typischen Szenen. In vielen dieser Szenen ist festgelegt, wie die Interaktionen verlaufen. Wellendorf (1973: 71) spricht von „schulischen Ritualen“, in denen der Zusammenhang von Interaktionen und Handlungen mit dem szenischen Arrangement der Schule symbolisch dargestellt wird. Dabei kommen zentrale Werte und Normen der Schule, wie interpersonale Solidarität, soziale Differenz und das Leistungsprinzip, zur Darstellung. Im Konkreten stellen Aufnahmeverfahren, Übertritte, Prüfungen, Schul- und Pausenordnungen, Reglemente, Schulfeste und Entlassungsfeiern solche ritualisierten Interaktionsmuster dar, die der normativen Integration der Schule dienen. Sozialisatorisch relevant ist die Frage, ob das szenische Arrangement der Schule die Darstellung persönlicher Bedürfnisdispositionen erlaubt oder nicht bzw. wie es den Interagierenden gelingt, ihre Identität trotz der identitätsbedrohenden Anforderungen der Schule aufrechtzuerhalten. Identität wird von Wellendorf im Anschluss an Krappmann (2000) als Balance verstanden. Sie „ist das Ergebnis eines wechselseitigen Zuschreibungs- und Interpretationsprozesses der Interaktionspartner. Ich-Identität bezeichnet das Balancieren zwischen den im ‚Handel um Identität‘ von je anderen angetragenen Identitätsmustern und der – ebenfalls in der Interaktion erwarteten – ‚Einzigartigkeit‘ als Individuum“ (Wellendorf 1973: 35). Da den schulischen Ritualen normative Interaktionsmuster zugrunde liegen, stellen sie die individuelle Identitätsbalance in Frage. Sie können für das Individuum bedrohlich werden, da es befürchtet, durch die Institution vereinnahmt zu werden. Institutionell ausgegrenzt werden insbesondere Triebe, Bedürfnisse und Affekte, die aber – hier setzt die psychoanalytische Erweiterung des Symbolischen Interaktionismus durch Wellendorf ein – nicht wirklich verdrängt werden können. Die familiär erworbene Identitätsbalance des Individuums wird durch die Schule herausgefordert. Die neuen Ansprüche „problematisieren die in den primären Sozialisationsprozessen entwickelte Identitätsbalance“ (Wellendorf 1973: 49). Eine ungebrochene Darstellung der persönlichen Identität ist im szenischen Arrangement der Schule nur bedingt möglich, jedoch wird in einer individualisierten Gesellschaft, die vom Einzelnen die Entwicklung einer persönlichen Identität erwartet, die Bereitschaft gering sein, sich den in Ritualen dargestellten Normen
35 Auf den Ansatz von Wellendorf wird etwas ausführlicher eingegangen, weil er beispielhaft zeigen kann, wie im Rahmen schulischer Interaktionen Sozialisationsprozesse mit Prozessen der Individuierung (Identitätsbildung) verwoben sind.
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einer Institution bedingungslos zu unterwerfen. Damit erzwingt die Schule von den Schülerinnen und Schülern gleichsam eine Distanznahme, um sich in ihrer Identität zu schützen.36 Wellendorf sieht daher in der demonstrativen Distanzierung von den formellen Anforderungen der Schule den normalen Versuch des Individuums, „im Kontext schulischer Szenen zu verhindern, von den Erfordernissen des Interaktionssystems vollständig absorbiert zu werden“ (Wellendorf 1973: 174). Zudem nimmt er an, dass der Ausschluss biografischer Gehalte – wie insbesondere familiär bearbeitete sexuelle und aggressive Impulse sowie Affekte – aus der schulischen Kommunikation regressive Tendenzen auslösen kann, falls es dem Individuum misslingt, seine Identität zu restabilisieren. Die Schule wird qua Institution zum Verursacher von Schulproblemen. Das kann so weit gehen, dass sich Schülerinnen und Schüler von der Wert- und Erwartungsstruktur der Schule abwenden, wobei Prozesse der Etikettierung durch Lehrkräfte oder Mitschülerinnen und Mitschüler dazu führen können, dass deviantes Verhalten festgeschrieben und in Form einer „negativen Identität“ (Erikson) verstetigt wird (vgl. Brusten und Hurrelmann 1973; Hargreaves, Hester und Mellor 1981). Umso wichtiger sind die Spielräume, die Schule und Unterricht bieten, um soziale Distanz zu wahren. Wellendorf (1973: 158ff.) spricht von der Trennung der Zuschauerkreise und greift dabei eine Metapher von Goffman (2003: 100ff.) auf, die auch von Zinnecker (1978) benutzt wird: die Abgrenzung einer Vorder- von einer Hinterbühne. Obwohl der Unterricht schulintern ein öffentlicher Ort ist, lassen sich durchaus Zonen ausmachen, die gleichsam privaten Charakter haben oder zumindest eine Partialöffentlichkeit beinhalten. In der Begrifflichkeit von Goffman ist die Vorderbühne der Ort der offiziellen Inszenierung von Schule und Unterricht. Die Hinterbühne ist zunächst das, was sich „hinter dem Rücken“ des Lehrers abspielt. Da sich die Lehrkräfte der Öffentlichkeit des Klassenzimmers weniger leicht zu entziehen vermögen als die Schülerinnen und Schüler (vgl. Abschnitt 5.3), sind es vor allem Letztere, die eine Art Gegenöffentlichkeit erzeugen. Indem die Auftritte auf den zwei Bühnen sorgfältig voneinander abgeschirmt werden, können sich die Schülerinnen und Schüler an ein informelles Publikum (ihre Mitschülerinnen und Mitschüler) wenden und sich auf eine Art und Weise in Szene setzen, die der Lehrkraft missfallen würde. Dabei unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler in der Geschicklichkeit, sich unbemerkt vom Lehrer zu distanzieren und durch abweichendes Verhalten in Szene zu setzen. Spencer-Hall (1981) beobachtete ein Jahr lang verschiedene Lehrkräfte und deren Klassen an einer Grundschule in den USA. Insgesamt nahmen 63 Viert-, Fünft- und Sechstklässler sowie deren Lehrerinnen an der Studie teil. Die Forscherin beobachtete das Geschehen im Unterricht und achtete insbesondere auf Unterrichtsstörungen. Zusätzlich führte sie Interviews mit den Lehrkräften und einem Teil der Schülerinnen und Schüler. Zudem nannte jede Lehrerin die drei kooperativsten und die drei am wenigsten kooperativen Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse. Interessanterweise stimmten die Nominationen der Lehrkräfte nur bedingt mit der Klassifikation überein, die Spencer-Hall aufgrund ihrer Beobachtungen erstellte: (1) Schüler, die auf der Vorderbühne störten, aber nicht auf der Hinterbühne, (2) Schüler, die auf der Vorderbühne nicht störten, aber auf der Hinterbühne, (3) Schüler, die weder auf der Vorder- noch auf der Hinterbühne störten, und (4) Schüler, die sowohl auf der Vorder- wie auch auf der Hinterbühne störten. In einem Fall verhielt sich ein Schüler so 36 Die Individuierung wird von der Schule auch institutionell forciert, indem die Beurteilung der Schülerinnen und Schüler auf individuelles statt kollektives Lernen, individuelles statt geteiltes Wissen und individuell statt gemeinsam erbrachte Leistungen setzt.
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geschickt, dass er trotz ausgiebigen Störens auf der Hinterbühne auf der Vorderbühne den Eindruck erweckte, bestens angepasst zu sein und von der Lehrerin sogar für einen Preis für besonders gutes Benehmen nominiert wurde. Wie Goffman bemerkt, haben auch Lehrerinnen und Lehrer ihre Hinterbühne, die örtlich mehr oder weniger mit dem Lehrerzimmer zusammenfällt.37 „Beide Gruppen [Schüler und Lehrer, W. H.] brauchen Zeiten und Orte, wo sie ihre je spezifischen Differenzen zum offiziellen Regelsystem [der Schule, W. H.] herauslassen und ausagieren können. Dabei wäre es ihnen außerordentlich peinlich, wenn die jeweilige Gegengruppe dies unzensiert zu beobachten vermöchte“ (Zinnecker 1978: 35). Diese gespaltene Loyalität ist für viele Schülerinnen und Schüler für das „Überleben“ in Schule und Unterricht außerordentlich wichtig. Indem sie im sozialen Raum der Schule gleichsam ein Doppelleben führen, vermögen sie das nicht immer angenehme Leben auf der schulischen Vorderbühne leichter zu ertragen.38
6.2 Peerkultur Die inoffizielle Welt der Schule wird durch den heimlichen Lehrplan und das Geschehen auf der Hinterbühne bestimmt, ist damit aber noch nicht vollständig beschrieben. Denn es gibt schulische Interaktionsformate, in denen die Schülerinnen und Schüler nicht gleichsam auf die institutionelle Struktur der Schule auflaufen und in Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der Schule ihre Identität stabilisieren, sondern in direkter Auseinandersetzung mit Ihresgleichen sozialisatorische Erfahrungen machen. Der offizielle, über Lernleistungen erworbene Status der Schülerinnen und Schüler kann durch Positionen konterkariert werden, die im Rahmen inoffizieller Wertstrukturen erworben werden. Gehört zu dieser inoffiziellen Wertstruktur die Ablehnung der Sanktionsmacht der Schule, kann sich eine Dynamik entwickeln, die nicht nur die institutionelle Autorität der Schule, sondern auch die persönliche der Lehrkraft untergräbt. Die Ambivalenz der schulischen Peer-Beziehungen kommt in dem folgenden Zitat von Fend (2006: 74) deutlich zum Ausdruck: „Die Peers können (1) Schutz vor den Zumutungen der Schule bieten, sie sind (2) wichtige Lernfelder für den Kompetenzerwerb und sie sind (3) wichtige Orte der Befriedigung von Grundbedürfnissen der Zugehörigkeit und Geltung. Schulklassen als Kontexte der Sozialisation können aber auch das Gegenteil sein: (1) sozialer Ort der Abwehr von offiziellen schulischen Lernangeboten, (2) ‚Brutstätten‘ der Einübung in Devianz und Primitivkulturen sowie (3) Orte des Mobbings, der Demütigungen und der Ausstoßungserfahrungen“. Da Peer-Kulturen eine relativ große Unabhängigkeit von der Wertstruktur der Schule aufweisen, ohne dass sie diese allerdings infrage stellen können, kommt ihnen eine bedeutsame sozialisatorische Funktion zu. Will man als Schülerin oder Schüler bestehen, kann man seine Peers nicht einfach ignorieren. Dann aber „muss man die Differenz zu den Lehrkräften fortlaufend und immer wieder neu herstellen“ (Breidenstein und Kelle 2002: 321f.). 37 Auch für die Schülerinnen und Schüler gibt es Orte außerhalb des Klassenzimmers, wo sie sich den Blicken der Lehrkräfte entziehen können, vor allem in den Schülertoiletten oder auf dem Pausenplatz. 38 Die Unterscheidung von Vorder- und Hinterbühne kann in einem erweiterten Sinn auch so verstanden werden, dass im Unterricht face-work und impression-management gefragt sind (vgl. Goffman 2003). Sowohl auf Lehrerwie auf Schülerseite werden Masken aufgesetzt, um zu verhindern, dass die Gegenseite zu tief in die eigene Innerlichkeit vordringen kann.
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Methodisch dominieren auch bei der Erforschung von schulischen Peer-Beziehungen Beobachtungsstudien, die oft mit qualitativen Interviews und Dokumentenanalysen ergänzt werden (vgl. Breidenstein 2004; Zinnecker 2000). Der Begriff der peer-culture bringt ein Verständnis von Werten, Normen und Regeln zum Ausdruck, der fast wie selbstverständlich ein Moment der Gegenkultur umfasst, die Schülerinnen und Schüler gegen den offiziellen Charakter der Schule entwickeln (vgl. Willis 1979). Es handelt sich um eine Kultur, welche die Schülerinnen und Schüler im Kontext von schulisch nicht normierten Interaktionen erzeugen (vgl. Corsaro und Eder 1990). In älteren Arbeiten zur Peer-Kultur wird die Schule daher oft als Zwangszusammenhang dargestellt, dem die Schülerinnen und Schüler unter Einsatz verschiedener Strategien und Taktiken zu entfliehen versuchen (vgl. z.B. Eder 1987; Heinze 1980; Woods 1980). Neuere Arbeiten sind weniger auf Konflikte fixiert. Zudem ordnen sie sich häufig in den Kontext einer (neuen) „Kindheitsforschung“ (vgl. Honig 1999) ein, die sich von sozialisationstheoretischen und entwicklungspsychologischen Ansätzen abgrenzt, indem sie beansprucht, Kinder nicht im Hinblick auf deren Erwachsenenstatus in den Blick zu nehmen, sondern in ihren Eigenwelten zu erforschen. Eine umfangreiche Studie dieser Art, die allerdings sozialisationstheoretisch keineswegs abstinent ist, haben Krappmann und Oswald (1995; Oswald und Krappmann 1988) vorgelegt. Die Langzeitstudie, die an vier Westberliner Grundschulen durchgeführt wurde, ist theoretisch am Symbolischen Interaktionismus und an der Entwicklungspsychologie von Piaget orientiert. Fokussiert wurden vor allem die Eigenwelten der Kinder. Dabei lautet eine zentrale These der Autoren, dass Kinder im Umgang mit Gleichaltrigen vor Anforderungen gestellt sind, die sich wesentlich von denjenigen im Umgang mit Erwachsenen unterscheiden. Die erforderlichen Fähigkeiten erwerben die Schülerinnen und Schüler insbesondere beim Aushandeln gemeinsamer Problemlösungen. Auf der Basis von teilnehmender Beobachtung im Unterricht, in den Pausen und auf Ausflügen, Interviews mit Kindern und ihren Eltern sowie verschiedenen im Verlaufe des Projekts gesammelten Dokumenten kommen die Forscher unter anderem zu einer Unterscheidung dreier Typen von Sozialbeziehungen: Gruppe, Geflecht und Interaktionsfeld. Eine Gruppe zeichnet sich durch mehr oder weniger klare Grenzen aus. Man weiß, wer dazugehört und wer nicht. Mit Geflecht werden Beziehungen von Kindern benannt, „die zwar zusammengehören, aber relativ weit von dem Modell einer klaren Außengrenze, der Konzentration auf angebbare Themen, der Interaktion eines jeden Mitglieds mit jedem anderen und einer dauerhaften Binnenstruktur entfernt sind“ (Krappmann und Oswald 1995: 54). Der Begriff des Interaktionsfeldes wird für Beziehungen gebraucht, die eine mäßig ausgeprägte Struktur aufweisen und Kinder umfassen, die eher negativ zueinander finden, weil sie aus bestehenden Gruppen ausgegrenzt werden. Interessanterweise konnten Krappmann und Oswald den verschiedenen Sozialbeziehungen weder spezifische Interaktionsformen noch ausgeprägte Mechanismen der sozialen Kontrolle zuordnen. Sie kommen zum Schluss, dass Kinder „in der Systemeinheit Schule andauernd in Situationen (stehen), in denen sie unabhängig von Gruppengrenzen interagieren und in denen andere Verhaltensorientierungen die Gruppenorientierung überlagern“ (ebd.: 64). Die Beziehungen der Kinder sind im Fluss und erlauben es nicht, von stabilen, überdauernden und integrierten Gruppierungen zu sprechen. Ältere Kinder zeigen demgegenüber eine weit stabilere Zugehörigkeit zu Cliquen (vgl. Breidenstein 2004: 929ff.). Die Analyse von Peer-Kulturen zeigt, dass Gleichaltrigenbeziehungen keineswegs egalitär sein müssen. Peers sind nicht a priori Freunde, sondern einfach Altersgleiche, die im
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Kontext der Schule unfreiwillig zusammengewürfelt werden und vor der Aufgabe stehen, sich im Rahmen alltäglicher Interaktionen in ein Verhältnis zu bringen. Dass dabei auch Konflikte auftreten, kann nicht erstaunen (vgl. Adler und Adler 1998; Breidenstein und Kelle 1998). Generell gilt, dass Peer-Kulturen auf soziale Differenzierung ausgerichtet sind. Eder, Evans und Parker (2003) haben bei adoleszenten Peer-Gruppen zum Teil stark ritualisierte kommunikative Praktiken identifiziert, wie wechselseitiges Beleidigen, Ärgern, Lästern oder Geschichten erzählen. Dass von solchen Interaktionsformaten sozialisierende Wirkungen ausgehen, lässt sich kaum bezweifeln. In der Adoleszenz gewinnen zudem Freundschaften als Sozialisationskontexte eine zunehmende Bedeutung (vgl. Corsaro und Eder 1990: 207ff.; Youniss 1980). Freundschaften ermöglichen die Kommunikation intimer Aspekte des Selbst, ohne dass die Jugendlichen Gefahr laufen, dafür negativ sanktioniert zu werden. Als Ort der Bildung von Freundschaften kann die Schule kaum überschätzt werden. In einer Studie an drei Oberstufenzentren (7. bis 9. Klassen) im Kanton Bern (Schweiz) konnte Bärtschi (2007) das Beziehungsnetz sämtlicher Schülerinnen und Schüler erfassen und nach Häufigkeit sowie Art der Beziehung unterscheiden. Die Analyse zeigte, dass sich die meisten Schülerinnen und Schüler innerhalb von Cliquen bewegen, deren Mitgliederzahl zwischen zwei und fünf Personen variiert. Daneben pflegen sie Beziehungen zu Freundinnen und Freunden, die in vielen Fällen nicht Mitglied der Clique sind. Die meisten Beziehungen – sei es im Rahmen von Cliquen oder Freundschaften – bestehen zu Peers aus derselben Klasse. Nur in seltenen Fällen überschreiten die Beziehungen die Klassen- und in noch selteneren Fällen die Schulgrenze.39 Damit bestätigt sich eine These von Oswald und Krappmann (1991: 202), wonach die Schulklasse „heute das wichtigste Rekrutierungsfeld für Kinderfreundschaften (ist)“. In der Studie zeigte sich auch, dass die Schülerinnen und Schüler deutlich unterscheiden zwischen der Schule als Ort der Belehrung und des formellen Lernens auf der einen Seite und als Kontext für Begegnungen, Beziehungen und Freundschaften zwischen Gleichaltrigen auf der anderen Seite. Damit liegt eine empirische Bestätigung für die Angemessenheit der Unterscheidung zweier schulischer Interaktionsformate vor: einerseits der formellen Gruppierung der Schulklasse und andererseits den informellen Gruppierungen der Peers, wobei die beiden Formate eine große personelle Überschneidung aufweisen. Auffällig ist die starke Geschlechtersegregation von Peer-Kulturen, und zwar bis weit in die Adoleszenz hinein (vgl. Breidenstein und Kelle 1998; Eder, Evans und Parker 2003; Krappmann und Oswald 1995; Maccoby 1990, 1995, 1998). „Alle anderen Formen sozialer Differenzierung werden von der Geschlechterdifferenz affiziert – die Geschlechtszugehörigkeit liefert den entscheidenden Index für die Wahl von Freundschaften und Mitgliedschaft in Cliquen, für die Platzierung auf Popularitätsskalen und für die Gestaltung der alltäglichen interaktiven Praxis schlechthin“ (Breidenstein 2004: 931). Entsprechend verschieden sind die Peer-Kulturen von Jungen und Mädchen. „Während Jungen raumgreifenden, körperbetonten Aktivitäten nachgehen und sich zu größeren Gruppen zusammenschließen, bevorzugen Mädchen Freundschaften zu zweit oder zu dritt und spielen im engeren Umkreis“ (ebd.: 932). Popularität bei Mädchen basiert im Wesentlichen auf familialen Ressourcen und dem äußeren Erscheinungsbild, bei Jungen zählen eher körperliche Kraft, 39 An jedem der drei Oberstufenzentren werden zwischen 300 und 350 Schülerinnen und Schüler unterrichtet (Gesamttotal: 973). Die Beschränkung der Wahl potentieller Beziehungspartner auf den engen Kreis der eigenen Klasse ist in Relation zu dieser Zahl zu sehen.
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Geschicklichkeit und Coolness. In sozialisationstheoretischer Hinsicht heißt dies, dass die Entwicklung von Geschlechtsidentität vor allem in der eigenen Geschlechtsgruppe oder über Abgrenzungen gegenüber dem anderen Geschlecht stattfindet. Möglicherweise bietet das Geschlecht angesichts der höchst komplexen sozialen Wirklichkeit der Schule eine gewisse Leichtigkeit der sozialen Kategorisierung: Ein Geschlecht hat man seit seiner Geburt, so dass man – anders als im Falle von Statusmerkmalen, die zu erwerben sind – um den Status als Mann oder Frau bzw. Junge oder Mädchen nicht kämpfen muss. Auch wenn die Studien zur Peer-Kultur oft den Eindruck erwecken, die schulischen Interaktionen zwischen Gleichaltrigen bildeten ein Sozialsystem, das gänzlich neben dem Sozialsystem Unterricht besteht, ist dem nicht so. Die Peer-Kultur nimmt sehr wohl Einfluss auf das Unterrichtsgeschehen. Was sich außerhalb des Unterrichts an informellen Interaktionen ereignet, wird von den Schülerinnen und Schülern in den Unterricht hineingetragen und auf dessen Hinter- und Vorderbühne inszeniert (vgl. Breidenstein und Kelle 2002; Kalthoff und Kelle 2000). Sofern die Lehrkraft zum Publikum gehört, greift die Selbstdarstellung nicht selten zum Mittel der Ironie, Zweideutigkeit und Hinterhältigkeit (vgl. Abschnitt 6.1).
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Ausblick auf eine Theorie des Lehrerhandelns
Indem die Bildungssoziologie den pädagogischen und didaktischen Blick auf Schule und Unterricht entgrenzt und deren genuin sozialen Charakter aufdeckt, erwecken ihre Analysen den Eindruck, von geringer praktischer Bedeutung zu sein. Zu unübersichtlich wird das soziale Gefüge des Unterrichts, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht bloß als Objekte pädagogischen Handelns, sondern auch als Subjekte eigenen Handelns wahrgenommen werden. Die Dezentrierung der Handlungsperspektive der Lehrkraft führt zu einem Spiegelkabinett von Perspektiven, in dem sich niemand mehr leicht zu orientieren vermag. „Wenn nicht nur lehrende Lehrer handeln, sondern auch lernende Schüler, so stellt sich unabweisbar die Frage, wie ein derartiges Hin und Her von Erleben und Handeln und wieder Handeln und Erleben zu einem begreifbaren Unterrichtsprozess gefügt werden soll“ (Markowitz 1986: 253). Für die Lehrkraft, der seitens der Gesellschaft die Verantwortung für das Unterrichtsgeschehen übertragen wird, ist anzunehmen, dass die vollständige Kenntnis dessen, was in der Unterrichtssituation vor sich geht, eine Art Apraxie zur Folge hätte: Vor lauter Wissen könnte sie nicht mehr handeln.40 Das kann allerdings nicht heißen, dass die soziologische Aufklärung über Schule und Unterricht gänzlich ohne praktische Bedeutung wäre. Aufklärung ermöglicht die Korrektur falscher Erwartungen und die realistische Einschätzung der Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Handelns. Wie Luhmann und Schorr (1979) betonen, sind die Bedingungen einer rationalen Technologie, nämlich die zureichende Isolierbarkeit von kausalen Faktoren, in der Unterrichtssituation nicht gegeben. „Das Sozialsystem Unterricht ist (…) nicht die konkrete Gesamtheit (Gruppe) der in der Klasse anwesenden Lehrer und Schüler, sondern 40 Die sozialpsychologische Forschung zeigt, dass Lehrkräfte die Unterrichtskomplexität unter dem Druck der Situation unweigerlich reduzieren: durch Kausalattribuierungen, implizite Führungstheorien, Typisierung und Etikettierung der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler, Interpunktion von Ereignisfolgen, selektive Informationsaufnahme und -verarbeitung, emotionale Voreingenommenheiten (Sympathie/Antipathie) etc. (vgl. Hofer 1986). Dabei treten unweigerlich auch Fehlklassifikationen und Fehlurteile auf.
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eine selektive Relationierung, die die unübersehbare Komplexität möglicher Relationierungen immer schon reduziert und nur so existieren kann“ (ebd.: 121). Eine Technologie, die garantieren würde, dass bestimmten Lehrhandlungen bestimmte Lerneffekte folgen, oder auch nur angeben ließe, mit welcher Wahrscheinlichkeit dies der Fall ist, kann es nicht geben, da das Lernen ein individueller Vorgang ist, der in den einzelnen Schülerinnen und Schülern abläuft, das Lehren in der Unterrichtssituation aber ein Kollektiv adressiert. Für die Beurteilung des Lehrerhandelns hat dies zur Folge, dass die Unterrichtstätigkeit kaum nach dem Modell des Problemlösens oder der Logik des Hypothesentestens begriffen werden kann (vgl. Jackson 1990: 151; Lampert 1985). Noch weniger eignen sich das Produktivitätsmodell und die Input-Output-Modelle als Basis für eine unverkürzte Analyse dessen, was die Unterrichtssituation von den Lehrkräften abverlangt (vgl. Luhmann 2002: 64f.). Sobald der Blick auf den systemischen Charakter des Unterrichts fällt, zeigt sich eine interaktionale Ordnung, die von Theorien, die einseitig am Lehrerhandeln ausgerichtet sind, nicht erfasst werden kann. Gemessen am Unterricht als Sozialsystem ist pädagogisches Handeln weniger als Umsetzung von normativen Vorgaben und Kausalplänen zu verstehen, denn als situativ gebundene Generierung und Kontinuierung von sozialer Ordnung. Die Komplexität des Unterrichts, die sich wesentlich seiner sozialen Dynamik verdankt, hat zur Folge, dass an Lehrerinnen und Lehrer Ansprüche gestellt werden, die in herkömmlichen Analysen des Lehrerberufs kaum zur Sprache kommen (vgl. Herzog 2002: 567ff.). Um die Ereignisdichte des Unterrichts zu zähmen, genügen weder ein gutes fachliches und fachdidaktisches Wissen noch ein fundiertes Wissen über Gesetze des Lernens, der Entwicklung, der Motivation, der Kommunikation und der Beurteilung, da die situativen Anforderungen an das Handeln immer partikular sind. Gefragt ist die Fähigkeit zur richtigen Deutung und Interpretation von Ereignissen und Geschehnissen, also eher ein induktiver als ein deduktiver Zugang zur pädagogischen Wirklichkeit. Dabei ist die Induktionsbasis oft unzureichend, da das Wissen der Lehrkraft über die einzelnen Schülerinnen und Schüler beschränkt ist, und sie auch über die Schulklasse als Sozialgefüge nie vollständig informiert sein kann. Es liegt daher nahe, dass sich das Lehrerhandeln unter diesen Umständen weniger an Gesetzen und Prinzipien als an Fallbeispielen orientiert (vgl. Herzog 2003; Schön 1983). Die Ungewissheiten der Unterrichtssituation und die Unkalkulierbarkeit des Unterrichtsverlaufs verlangen von der Lehrkraft nicht nur eine hohe Ambiguitätstoleranz, sondern auch die Fähigkeit zu Entscheidungen, die oft einen ad hoc-Charakter haben. Im Unterricht ist selten Zeit, um lange nachzudenken, Alternativen abzuwägen und Eventualitäten in Betracht zu ziehen; vielmehr muss rasch gehandelt und schnell reagiert werden. Unterrichten ist „Handeln unter Druck“ (Wahl 1991), nämlich unter dem Druck der Zeit. Der Unterrichtende muss handeln, weil es sonst zu spät sein könnte, und er muss handeln, weil er nicht die Zeit hat, um die Situation ausführlich zu bedenken. Zudem müssen oft Entscheidungen getroffen werden, die nicht optimal sind, weil widersprüchliche Anforderungen vorliegen. Lehrkräfte befinden sich daher nicht selten in Dilemma-Situationen: Obwohl sie sich für das Eine entscheiden, wäre auch das Andere nicht falsch gewesen (vgl. Lampert 1985). Für Jackson (1990: 166) stellt das Unterrichten daher einen opportunistischen Prozess dar. Luhmann (2002) schließt sich dem Urteil an und ergänzt es um die Bemerkung, dass sich der Lehrer nach den Gelegenheiten richten muss, die ihm der Unterricht bietet, und „je mehr er sich nach den Gelegenheiten richtet, desto besser ist er“ (ebd.: 104f.).
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Auch wenn diese Überlegungen zu einer Theorie des Lehrerhandelns keine Anleitung für die berufliche Praxis von Lehrerinnen und Lehrern bieten, können sie helfen, die Erwartungen an die Wirksamkeit von Schule und Unterricht realistisch einzuschätzen. Und die Lehrerbildung können sie anregen, ihre Studienprogramme stärker an den Realitäten des komplexen Berufsfeldes der Lehrkräfte auszurichten und von den überkommenen Vorstellungen eines idealen Lehrers abzukommen. Literatur Adick, Christel, 1992: Historisch-vergleichende Bildungsforschung und die Entwicklungslogik der ‚langen Wellen‘ der Schulgeschichte. S. 251-267 in: Christel Adick und Uwe Krebs (Hg.): Evolution, Erziehung, Schule. Beiträge aus Anthropologie, Entwicklungspsychologie, Humanethologie und Pädagogik. Erlangen: Universitätsbund Erlangen-Nürnberg. Adick, Christel, 2004: Forschung zur Universalisierung von Schule. S. 943-963 in: Werner Helsper und Jeanette Böhme (Hg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Adler, Patricia A. und Peter Adler, 1998: Peer Power. Preadolescent Culture and Identity. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press. Alsaker, Françoise D., 2003: Quälgeister und ihre Opfer. Mobbing unter Kindern – und wie man damit umgeht. Bern: Huber. Bärtschi, Simon, 2007: Schulische Peerbeziehungen und die Wahrnehmung der Schule bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I. Inauguraldissertation der Philosophisch-humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern. Bales, Robert F. und Philip E. Slater, 1955: Role Differentiation in Small Decision-Making Groups. S. 259-306 in: Talcott Parsons und Robert F. Bales (Hg.): Family, Socialization and Interaction Process. Glencoe: The Free Press. Baumrind, Diana, 1980: The Principle of Reciprocity. Development of Prosocial Behavior in Children. Educational Perspectives. Journal of the College of Education, University of Hawaii at Manoa 19 (4): 3-9. Baumrind, Diana, 1989: Rearing Competent Children. S. 349-378 in: William Damon (Hg.): Child Development Today and Tomorrow. San Francisco: Jossey-Bass. Baumrind, Diana, 1991: Effective Parenting During the Early Adolescent Transition. S. 111-163 in: Philip A. Cowan und Mavis Hetherington (Hg.): Family Transitions. Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum. Becker, Howard S., Blanche Geer und Everett C. Hughes, 1968: Making the Grade. The Academic Side of College Life. New York: John Wiley and Sons. Becker, Rolf und Wolfgang Lauterbach (Hg.), 2008: Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Benjamin, Jessica, 1998: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt am Main: Fischer. Bennett, Neville, 1976: Teaching Styles and Pupil Progress. London: Open Books. Ben-Peretz, Miriam, 1996: Women as Teachers: Teachers as Women. S. 178-186 in: Ivor F. Goodson und Andy Hargreaves (Hg.): Teachers’ Professional Lives. London: Falmer Press. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann, 1977: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer. Bernfeld, Siegfried, 1976: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bernstein, Basil, 1972: Studien zur sprachlichen Sozialisation. Düsseldorf: Schwann. Böttcher, Wolfgang und Ewald Terhart (Hg.), 2004: Organisationstheorie in pädagogischen Feldern. Analyse und Gestaltung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
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Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion in Deutschland Andreas Hadjar und Rolf Becker
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Einleitung: Begriffsbildung und historische Eingrenzung
Der Terminus „Bildungsexpansion“ bezieht sich zunächst auf den Ausbau des Bildungssystems, die Ausweitung von Bildungsgelegenheiten und eine erhöhte Nachfrage nach Bildung. Im deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen und historischen Diskurs bezieht sich der Begriff der Bildungsexpansion vornehmlich auf die „gestiegene Bildungsbeteiligung, längere Verweildauer im Bildungssystem und beschleunigte Zunahme höherer Schulabschlüsse nach den Bildungsreformen in den 1960er und 1970er Jahren“ (Hadjar und Becker 2006a: 12). Die Wurzeln der Bildungsexpansion liegen jedoch viel weiter zurück. Bereits in Zeiten der Aufklärung und der beginnenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert gewann Bildung im Zuge des Abbaus ständischer Privilegien und des aufkommenden Freiheits- und Gleichheitsideals an Bedeutung, wobei höhere Bildung dann aber zunehmend exklusiv und damit zum Distinktionsmerkmal der gehobenen Schichten wurde (Roth 1975: 9). Im 19. und 20. Jahrhundert sind nach Müller et al. (1997: 178) drei Bildungsexpansionsschübe in Europa zu identifizieren: Im Zuge einer ersten Expansionsphase zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg etablierten sich nationale, von der staatlichen Administration kontrollierte Bildungssysteme, die zunehmend kirchenunabhängig waren. Durch die Einführung und Ausweitung der gesetzlichen Schulpflicht, die nun allen Kindern zumindest Zugang zu Elementarschulbildung eröffnete, wurde der Analphabetismus zurückgedrängt. Eine zweite Etappe der Bildungsentwicklung wird für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg isoliert. Im Rahmen des dann einsetzenden Demokratisierungsschubs in Europa vollzog sich ein Prozess der Öffnung der weiterführenden Schulbildung für breitere Bevölkerungsschichten im Sinne allgemeiner Massenbildung. Grundlage dafür war die Einführung der Volksschule als von allen zu besuchende Schulform, die höheren Bildungsgängen vorgeschaltet war. Der Startpunkt der dritten Etappe – das heißt, die Bildungsexpansion im engeren Sinne – ist in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anzusiedeln, als höhere Sekundarschulen eine weitergehende Öffnung im Hinblick auf soziale Herkunftsschichten erfuhren. Mit dem Ausbau des tertiären Sektors vollzog sich ein Wandel von den Eliteuniversitäten hin zu „überfüllten Hochschulen“.
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Andreas Hadjar und Rolf Becker
Die Bildungsreformen in den 1960er Jahren: Die Debatte um wesentliche Ziele
Am Beginn der Bildungsexpansion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen Katastrophenszenarios und politische Diskurse. Während konservative Kreise nach dem Sputnik-Schock 1957 durch eine Bildungsexpansion den vermeintlichen Vorsprung gegenüber den staatssozialistischen Ländern wieder herstellen und die Wirtschaft voranbringen wollten, standen im sozialdemokratischen und liberalen Lager vor allem die Demokratisierung der Gesellschaft durch Bildung und die Herstellung von Chancengleichheit im Sinne gleicher Bildungs- und Lebenschancen für alle sozialen Schichten im Vordergrund. Der Plan des Ausbaus der institutionalisierten Bildung gründete unter anderem auf der Idee von Bildung als „Steuerungsinstrument der Lebenschancen in der immer komplizierter und differenzierter werdenden Industriegesellschaft“ (Roth 1975: 12), die mit einem hohen Anspruch an die Macht der Bildungsinstitutionen einherging (Schelsky 1957). Ein wesentlicher Anstoß für die Bildungsreformen der 1960er Jahre erfolgte im Rahmen der Debatte um den „Bildungsnotstand“, die analysiert und dokumentiert wird in dem Werk von Picht (1964) zur deutschen „Bildungskatastrophe“, wobei Picht selbst eine eigenständige Rolle in diesem Diskurs einnahm. Die Debatte um den Bildungsnotstand ist zunächst eine rein ökonomische Argumentation. Dies kommt bereits in einem Leitartikel der Zeitschrift „Christ und Welt“ von Giselher Wirsing zum Ausdruck, in dem führende Köpfe der deutschen Wirtschaft – wie der damalige Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages Ernst Schneider – angeführt werden, die den Rückstand in der Wirtschaftsentwicklung gegenüber dem Ausland und die daraus resultierende zunehmende Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von ausländischen Lizenzgebern konstatierten. Schließlich hätten die Wirtschaftsvertreter den „Zusammenhang zwischen den Aufwendungen für Wissenschaft, Forschung und Bildung mit dem wirtschaftlichen Wachstum erkannt“ (Picht 1964: 11). Der Bildungsnotstand wird in der Dokumentation von Picht beschrieben als ein Mangel an Lehrern, ein Mangel an Abiturienten, Rückständen im Hinblick auf die deutsche Lehrer- und Abiturientenquote gegenüber dem Ausland, ein durch mangelnde Quantität im Schulsystem verursachtes Qualitätsdefizit im Hinblick auf den Bildungsstand sowie die Abkopplung ländlicher Gebiete von Bildung (Stichworte: Recht der (Land-)Eltern auf Bildung ihrer Kinder, Schulraumdefizit). Picht entwirft ein Szenario, in dessen Kern die These steht, dass das deutsche Kapital im Hinblick auf die von der Wirtschaft benötigte Bildung verbraucht sei: „Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der europäischen Länder neben Jugoslawien, Irland und Portugal. Die jungen Wissenschaftler wandern zu Tausenden aus, weil sie in ihrem Vaterland nicht mehr die Arbeitsmöglichkeiten finden, die sie brauchen. Noch Schlimmeres bereitet sich auf den Schulen vor: In wenigen Jahren wird man, wenn nichts geschieht, die schulpflichtigen Kinder wieder nach Hause schicken müssen, weil es für sie weder Lehrer noch Klassenräume gibt. Es steht uns ein Bildungsnotstand bevor, den sich nur wenige vorstellen können“ (Picht 1964: 16). Wesentliche Defizite wurden in der zu geringen Anzahl von Absolventen mit Mittlerer Reife und Abitur, der zu geringen Studierendenquote, der zu kurzen Schulzeit, der mangelhaften Ausstattung von Schulräumen und Schulgebäuden, dem schlechten Lehrer-SchülerVerhältnis (zu große Klassen) und in einer zu geringen Anzahl an Lehrerinnen und Lehrern gesehen (Borowsky 1998).
Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion in Deutschland
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Die Gründe des Versagens des deutschen Schulsystems wurden bei den Bundesländen verortet, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ihre Kulturhoheit zurückerlangt hatten und jeweils selbst für ihre Bildungssysteme und deren Verwaltung verantwortlich waren. Die Kultusminister hätten – nach Ansicht von Picht (1964) – zwar die Pleite der Schulen und der Hochschulen in einer Bedarfsfeststellung erkannt, können diese aber ohne eine Zentralisierung der Schulaufsicht bzw. Schulverwaltung nicht lösen. Der Bund habe sich seiner Verantwortung unter Verweis auf die im Grundgesetz festgelegte Kulturhoheit der Länder entzogen, die Länder-Verwaltungen seien aber überfordert mit der Koordination der Bildungssysteme. Der radikale Schritt der Übergabe der Koordinationsaufgaben an die Bundesregierung würde eine Grundgesetzänderung voraussetzen. Andererseits stellte damals die Kultusministerkonferenz bereits ein Instrument dar, um die Bildungsplanung zu bündeln. Als Ausweg aus der Misere schlägt Picht (1964: 52-53) ein dreiteiliges SofortNotstandsprogramm vor, das eine zusätzliche (Um-)Verteilung von Geldern zwischen den Bundesländern (insbesondere in Richtung der bedürftigen ländlichen Gebiete), den Austausch von Lehrern zwischen Ländern sowie die Schaffung einer vom Bund unterstützten Planungsstruktur beinhalten sollte. Ziele eines detaillierten Notstandsprogramms sind für Picht (1964) die Verdopplung der Abiturientenzahl, die Modernisierung des ländlichen Schulwesens sowie die Ausbildung der entsprechenden Lehrer. Die Verdopplung der Abiturientenzahl sollte nach einem Vorschlag des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen (Rahmenplan von 1959) über eine Reform der höheren Schule – insbesondere neue, weniger rigide Auswahlmethoden – erreicht werden. Der Philologenverband opponierte gegen diese Forderung, um die Eigenständigkeit der höheren Schulen zu gewährleisten. Des Weiteren erschien die Verdopplung der Abiturientenzahl nur möglich, wenn Reifezeugnisse auch auf anderen Bildungswegen erworben werden können. Dazu wurden Möglichkeiten über den zweiten Bildungsweg (etwa über Abendschulen oder Begabtenprüfungen) gleichermaßen wie die Weiterführung der Berufsausbildung über die Fachschulreife bis hin zur auf bestimmte Fakultäten beschränkten Hochschulreife gezählt. Die Begabungsreserven, die vor allem in den ländlichen Gebieten als groß eingeschätzt wurden und bisher ungenutzt waren, sollten durch den Ausbau des Schulnetzes und die Bündelung in Mittelpunktschulen aktiviert werden. Für die Erhöhung der Anzahl der Lehrpersonen war nach Picht (1964) eine Kapazitätserweiterung an den Hochschulen und Universitäten notwendig; Unter- und Mittelstufenlehrer sollten zudem die Möglichkeit erhalten, das Studium schon vorzeitig mit einem entsprechenden Abschluss zu beenden. Auch Volksschullehrer sollten kürzere Ausbildungen absolvieren, die stärker pädagogischpraktisch und weniger wissenschaftlich ausgerichtet sind. Lehrer sollten durch Weiterbildungsmöglichkeiten besser Aufstiegschancen bekommen, um sich auch später noch für den Unterricht an einer höheren Schulform qualifizieren zu können. Die Argumente von Picht (1964) fanden Eingang in den Diskurs im Bundestag zwischen den großen Lagern der SPD und der CDU/CSU. Die SPD warf der konservativen Regierung vor, dem Bildungsnotstand nicht zu begegnen, weil sie keine Bildungsplanung betreiben wolle, die konservative Kreise zu stark an staatssozialistische Planwirtschaften erinnere. Stattdessen empfahl die sozialdemokratische Partei eine abgestimmte Bildungsplanung, für die eine Zusammenfassung der Verantwortlichkeiten der Bereiche Wirtschaftsförderung, Ausbildungsförderung und Bildungsplanung ein erster Schritt wäre. Die Bildungsexpansion in der Bundesrepublik Deutschland wurde durch Bildungsreformen – bzw. die Etablierung gesetzlicher Grundlagen, die Schaffung oder Reaktivierung
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Andreas Hadjar und Rolf Becker
institutioneller Strukturen sowie weitere politische Maßnahmen – eingeleitet. Im Rahmen einer ersten Phase der Bildungsexpansion wurde aufbauend auf Pichts (1964) Bildungsnotstandsszenario vor allem das Gymnasium ausgebaut. Oberstes Ziel war die Steigerung der Absolventenzahl. Das Problem der dezentralen Steuerung der Bildungssysteme wurde im Rahmen einer Verfassungsänderung vom 12. Mai 1969 angegangen, bei der dem Bund mehr Verantwortung im Hinblick auf das Hochschulwesen übertragen wurde sowie Bund und Länder die Möglichkeit des Zusammenwirkens bei der Bildungsplanung und der überregionalen Forschungsförderung erhielten. Bei der Koordination der Bildungsplanung konnte auf die seit 1948 bestehende Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) und den 1953 gegründeten Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen zurückgegriffen werden. Letzterer lieferte mit dem Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens bereits 1959 eine Bestandsaufnahme der deutschen Bildungslandschaft sowie Reformansätze zum Ausbau des Bildungssystems. Da dem Ausschuss keine Regierungsvertreter angehörten, war sein Einfluss zunächst jedoch gering, 1964 wurde er aufgelöst und durch neue – bundes- und landesregierungsnähere Institutionen – ersetzt. Ein erster Schritt war der 1957 gegründete Wissenschaftsrat, in dem sowohl Wissenschaftler und anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammenkamen, die vom Bundespräsidenten, wissenschaftlichen Vereinigungen sowie Bundes- und Landesregierungen bestimmt wurden, wobei zudem an den Verhandlungen auch Regierungsvertreter mit Stimmrecht teilnahmen. Am 15. Juli 1965 wurde der Bildungsrat gegründet, der sowohl aus einer Bildungskommission (Wissenschaftler und Bildungsexperten) und einer Regierungskommission (Regierungsvertreter) bestand. Beide Gremien stimmten getrennt ab. Vorlagen zur Bildungsreform konnten von der Bildungskommission in Eigenregie erstellt werden und wurden dann mit der Regierungskommission verhandelt. Mit der Studentenbewegung 1968 verlagerte sich der Blickwinkel von den allgemeinbildenden sekundären Schulen auf den tertiären Sektor. Die Hochschulproblematik wurde zum Kern der bildungspolitischen Debatten. In diese zweite Phase der Bildungsexpansion fällt ein wesentliches Resultat des Bildungsrats: der Strukturplan. Dieser wurde am 13. Februar 1970 als ein Gesamtkonzept für eine Bildungsreform verabschiedet, wobei der Hochschulbereich zunächst ausgeklammert wurde. Der Strukturplan zielte auf eine ganzheitliche Betrachtung des Bildungssystems unter Berücksichtigung der Aspekte der Chancengleichheit, der Struktur des Schulsystems, der Durchlässigkeiten an den Bildungsübergängen sowie des Aufbaus und der Inhalte der Lehrpläne. Schichtspezifische Bildungsungleichheiten sollten vor allem durch die gezielte Förderung benachteiligter Kinder im Rahmen einer stärkeren Gewichtung der Elementarstufe (Vorschulerziehung) und im Rahmen einer Orientierungsstufe in der 5. und 6. Klasse abgebaut werden, ohne dabei das dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen (Borowsky 1998). Eine weitere institutionelle Säule bei der Projektierung der Bildungsreform war die am 25. Juni 1970 geschaffene BundLänder-Kommission für Bildungsplanung, die sich direkt mit der Umsetzung der Forderungen des Strukturplans befassen sollte. In der zunehmenden Nutzung des Begriffs der Bildungsplanung manifestiert sich eine neue Herangehensweise an die Bildungsproblematik nach dem Regierungswechsel hin zur sozial-liberalen Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt. Weiteren Reformbedarf ergab auch ein OECD-Länderexamen, das 1971 veröffentlicht wurde und sich – den verwendeten Studien nach – auf das deutsche Bildungssystem der
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1950er und 1960er Jahre bezog: „Der OECD-Bericht übte harte Kritik am Bildungswesen der Bundesrepublik, das nach dessen Befund einmal von einem allgemeinen Modernitätsrückstand, im einzelnen von folgenden Merkmalen gekennzeichnet sei: Chancenungleichheit durch zu frühe Auslese und ein überkommenes Prüfungssystem, mangelnde Partizipation, starres Laufbahnsystem und fehlender Ausgleich zwischen Zentralisierung und Verantwortung auf unterer Ebene“ (Roth 1975: 28). Der von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung vorgelegte und 1973 von Bund und Ländern verabschiedete Bildungsgesamtplan enthielt wesentliche Reformeckwerte: Im Elementarbereich sollten den Drei-, Vier- und Fünfjährigen pädagogische Angebote zur besseren Entwicklung und zum Ausgleich milieubedingter Ungleichheiten gemacht werden. Ein quantitativer Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen sollte allen interessierten Eltern die Möglichkeit geben, dass ihr Kind eine solche Einrichtung besuchen konnte. Im Hinblick auf die Grundschule war ebenfalls eine Revision vorgesehen – die Schülerinnen und Schüler sollten ausgehend von der spielerischen Wissensvermittlung in den Elementareinrichtungen an systematischere Wissensbereiche herangeführt werden. Auch zur Sekundarstufe 1 sollte ein gleitender Übergang geschaffen werden. Schließlich standen die Verbesserung des Lehrer-Schüler-Verhältnis (kleinere Klassengrössen) und eine Differenzierung innerhalb des Klassenverbandes zur Förderung individuellen Lernens und zum kompensatorischen Ausgleich von Unterschieden im Vordergrund. Im Hinblick auf die Sekundarstufe waren die Ziele ebenfalls die Verbesserung der Lehrer-Schüler-Relation, stärker auf individuelle Neigungen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler einzugehen sowie den Sekundarbereich 1 in Schulzentren zusammenzufassen. Das Angebot an Ganztagsschulen sollte insgesamt erweitert werden. Wesentliche inhaltliche Streitpunkte zwischen den politischen Lagern waren und sind die schulformunabhängige Orientierungsstufe und die Gesamtschule. Während die SPDgeführten Länder eine schulformunabhängige Orientierungsstufe zu Beginn der Sekundarstufe 1 forderten, um die Übergangsmöglichkeiten auf die anderen Schulformen zu verbessern, Begabungsreserven zu fördern, die Zahl der Schulabbrecher zu reduzieren und schließlich mehr Chancengleichheit im Hinblick auf benachteiligte Schichten zu gewährleisten, plädierten die unionsgeführten Bundesländer für schulformspezifische Orientierungsstufen, die letztlich eine stärkere Stratifizierung nach sich ziehen als das einheitliche Orientierungsstufenmodell. Die (integrierte) Gesamtschule wurde ebenso von der SPD unterstützt und von der CDU/CSU opponiert. Aus Sicht der Gesamtschulbefürworter wurde die Förderung von Chancengerechtigkeit und sozialer Mobilität angeführt, während die Kritiker eine zunehmende Anonymität des Schulsystems, zunehmende Desintegration der Schülerinnen und Schüler in die Bildungsinstitution sowie mittelmäßige Standards befürchteten. Ergebnis dieses Diskurses war die Einführung der Gesamtschule, zusätzlich zu den traditionellen Bildungsinstitutionen, in den sozialdemokratisch geführten Ländern (vgl. Roth 1975; Leschinsky und Mayer 1990).
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Die Bildungsexpansion aus theoretischer Perspektive
Im Hinblick auf die Bildungsexpansion sind aus theoretischer Perspektive nicht nur die Ansätze von Bedeutung, die in wissenschaftlichen Kreisen diskutiert wurden und werden, son-
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dern insbesondere solche, die Eingang in den politischen Diskurs im Hinblick auf die Bildungsreformen gefunden haben.
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Theoretische Hintergründe der politischen Debatten in den 1960er Jahren
Die theoretischen Hauptargumentationsrichtungen lassen sich als „Expansionstheorie in der Bildungspolitik“ (Roth 1975: 33) zusammenfassen, denn aus ihnen wurde die Forderung nach einem quantitativen Ausbau des Bildungssystems als Kern der politischen Reformen abgeleitet. Dazu gehört zum einen die ökonomische Humankapitaltheorie, zum anderen ein Ansatz zur Demokratisierung des Individuums und zur Chancengleichheit. Nach der Humankapitaltheorie (Becker 1964) erscheint Bildung als direkte Determinante der Produktivität. Die gesellschaftliche Investition in das Bildungsniveau erhöht die Produktivität und damit schließlich den materiellen Output der Volkswirtschaft. Die Bildungsexpansion zielt somit auf wissenschaftlich-technischen Fortschritt und wirtschaftlichen Wohlstand. Auch auf der individuellen Ebene ergibt sich ein Nutzen aus Bildungsinvestitionen, denn die Bildung erhöht die individuelle Produktivität, was ein höheres Einkommen und damit verbesserte Lebenschancen und Lebensbedingungen zur Folge hat. In ihrer ökonomischen Argumentation ließ sich die Humankapitaltheorie in der Diskussion der 1960er Jahre gut in den konservativen Diskurs einfügen, in dessen Zentrum die nach dem Start des ersten Raumflugkörpers durch die Sowjetunion im Jahre 1957 („Sputnik-Schock“) aufkommende Sorge stand, die westlichen Industrienationen könnten durch den Bildungsnotstand beim Wettlauf um wirtschaftlichen und technischen Fortschritt ins Hintertreffen geraten (vgl. Picht 1964). Eine konflikttheoretisch untermauerte Argumentationsrichtung findet sich in der These von Dahrendorf (1965) „Bildung ist Bürgerrecht“, in der die Forderung nach Chancengleichheit, Bildung zu erwerben, enthalten ist. Danach sollten allen gesellschaftlichen Gruppen gleiche Bildungsangebote gemacht und herkunfts-, geschlechts-, konfessions- oder regionenspezifische Unterschiede vermieden werden. Die Bildungsangebote haben das Ziel, gleiche Lebenschancen und insbesondere gleiche Gestaltungschancen herzustellen, denn Bildung wird als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und für politische Mitbestimmung angesehen. Dahrendorf (1965) sieht als Oberziel einer Bildungsreform entsprechend die Demokratisierung der Bevölkerung durch die Vermittlung erweiterter und schichtenübergreifender Partizipationskompetenzen. Während diese Theorien auf eine quantitative Erweiterung des deutschen Schulsystems abzielen, richtet sich die milieuorientierte Begabungstheorie auf qualitative Verbesserungen. Diese Theorie hatte ebenso einen Einfluss auf die Bildungsreform und wurde vor allem im Rahmen der Forderung nach Einführung der Gesamtschule herangezogen. Begabung wird danach nicht als biologisch determiniert angesehen, sondern als Produkt der Umwelt, d.h. der Merkmale des sozialen Milieus. Dahinter steht die Annahme, dass im Milieu bzw. der sozialen Schicht im Sinne schichtspezifischer Sozialisation bestimmte kulturelle Leistungsformen angeeignet werden (Roth 1968). Auch wenn Roth (1975: 38-39) diese Herangehensweise als ebenso einseitig entlarvt wie die biologistischen Annahmen zu Begabungs- und Intelligenzunterschieden, lässt sich aus der milieutheoretischen Betrachtung doch die wichtige Perspektive ableiten, dass Schichtunterschiede in der Schule (hier: in der Gesamtschule) ausgeglichen werden können. Eine weitere Theorie, die Grundlage für
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qualitative Änderungen ist, stellt die Curriculumtheorie dar. Curriculare Reformen sollten neben Kenntnissen und Fähigkeiten verstärkt auch die Vermittlung von politischen Gegenständen wie Bewusstseinsinhalten, Einstellungen und Verhaltensweisen zum Unterrichtsinhalt machen. Diese Heranführung dient wiederum dem von Dahrendorf (1965) geforderten Ziel der Demokratisierung der Gesellschaft.
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Theoretische Erklärungen der Ursachen der Bildungsexpansion
Die politischen Reformen, den die oben betrachteten theoretischen Ansätze zugrunde lagen, werden aus Sicht der politischen Theorie der Bildungsexpansion von Windolf (1990) als eine Hauptursache der Bildungsexpansion betrachtet. Der Staat und die Parteien treffen Entscheidungen über Bildungsausgaben und Zulassungsbeschränkungen für bestimmte Bildungswege (Windolf 1990: 8) und regulieren somit Bildungsangebot und Bildungsnachfrage. Die Entwicklung des Bildungssektors verläuft nach politischen Zyklen, die sich aus der kollektiven Konkurrenz sozialer Gruppen um Macht- und Entscheidungsmöglichkeiten ergeben. Bildungsexpansionsschübe verlaufen daher parallel zu Phasen einer auf die Öffnung der höheren Bildungsinstitutionen ausgerichteten Bildungspolitik (Becker und Blossfeld 1991). Wenngleich politischen Reformen eine wichtige Rolle zukommt, sind jedoch auch durch die Bildungsexpansion selbst ausgelöste Dynamiken in Betracht zu ziehen (Becker 2003, 2006). Eine Erklärung für solche Eigendynamiken liefert zunächst die Humankapitaltheorie in ihrer klassischen Form von Gary S. Becker (1964), nach der eine Zunahme der individuellen Bildungsnachfrage – also ein stärkeres Interesse an höheren Schulen – dann zu erwarten ist, wenn Bildungsinvestitionen durch eine hohe Rendite belohnt werden (Müller et al. 1997: 180). Dies ist nur möglich, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine solche Belohnung zulassen, weshalb Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt Voraussetzungen für die Expansion des Bildungssystems sind. Die Bildungsexpansion würde aus dieser Sicht abflauen, wenn keine höheren Gewinne (z.B. Einkommen) durch Investitionen in die Bildung erreicht werden können. Während die Humankapitaltheorie Bildungszertifikate als direkte Lohndeterminanten ansieht, ergibt sich aus dem „Labour Queue Model“ von Thurow (1975) und der darin enthaltenen Signalhypothese ein anderer Zugang für die Betrachtung der Eigendynamik der Bildungsexpansion. Nach diesem Modell beruht die steigende Bildungsnachfrage darauf, dass Bildungszertifikate als Mittel zur Selektion durch die Arbeitgeber immer weiter an Bedeutung zunehmen. Kernannahme ist dabei, dass höhere Bildungszertifikate Fähigkeiten bzw. Kompetenzen signalisieren und so die Chancen auf einen Arbeitsplatz verbessern. Aus der kritischen Sicht von Collins (1979) wird Bildung zunehmend als Instrument zum Erwerb von Bildungszertifikaten und weniger in Hinblick auf Bildungsinhalte betrachtet (Vorwurf des Kredentialismus). Während der Bildungsexpansion aus der humankapitaltheoretischen Sichtweise Grenzen gesetzt sind, ergibt sich aus der Signaltheorie ein monoton zunehmender Wettlauf um höhere Bildung (Boudon 1974), der auf Statuskonkurrenz basiert. Da in Anbetracht des zunehmenden Bildungsniveaus der Arbeitnehmer immer höhere Bildungszertifikate notwendig sind, um durch Distinktion individuell bessere Chancen auf einen Arbeitsplatz zu haben, entwickelt sich ein positionaler Wettbewerb, d.h. ein Kampf um einen höheren Platz innerhalb einer expliziten bzw. impliziten Hierarchie zur Erlangung knapper Güter (Hirsch 1980). Bil-
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dungszertifikaten kommt eine zentrale Rolle als Instrument innerhalb des positionalen Wettbewerbs um Arbeitsplätze zu. Im Hinblick auf politische Ursachen und die Eigendynamik der Bildungsexpansion erscheint zudem die die Vorstellung von Bildung als „allokativer Mechanismus für Privilegien“ (Müller et al. 1997: 183) aus der Statusgruppen- bzw. Konflikttheorie, die ihren Ursprung im Werk von Max Weber hat (Collins 1979), von besonderer Bedeutung. Auseinandersetzungen zwischen Statusgruppen in der Gesellschaft gelten aus dieser Sicht als Mechanismen hinter der Bildungsexpansion (Collins 1971; Bourdieu 1982), denn über Bildungszertifikate erhalten Gesellschaftsmitglieder Zugang zu dominanten Statusgruppen und damit zu knappen Ressourcen wie Reichtum, Macht und Prestige (Bourdieu und Passeron 1971). Gesellschaftliche Gruppen und Individuen sind daher bestrebt, diese Zugänge zu sichern – insbesondere für sich selbst bzw. ihre eigene Gruppe. Dies stellt eine Motivation für politisches Handeln dar.
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Annäherung an ein Erklärungsmodell der Folgen der Bildungsexpansion
Eine soziologische Analyse der Folgen der Bildungsexpansion bedingt ein Erklärungsmodell, aus dem mögliche Folgen sowie Gründe für das Nichteintreten bestimmter Zielvorgaben der Bildungsreformen abgeleitet werden können. Ein besonderes Augenmerk bei der Betrachtung der Konsequenzen der Bildungsexpansion bedürfen die Frage nach der Kausalität – was ist Ursache und was Wirkung der Expansion? – und die Frage nach den Mechanismen hinter den Folgen der Bildungsexpansion, denn viele Konsequenzen sind nur in indirekter Weise Folgen der Erweiterung des Bildungsangebots (Hadjar und Becker 2006a). Das vorgeschlagene Erklärungsmodell (Abbildung 1) enthält eine Mehrebenenstruktur, die für eine detaillierte Analyse insbesondere im Hinblick auf die genannten Schwierigkeiten unabdingbar ist. Grundlage des Modells ist das struktur-individualistische Erklärungsschema nach Coleman (1991), das auf McClelland (1966) zurückgeht und das eine Fokussierung sozialer Mechanismen im Sinne von Hedström und Swedberg (1996) auf verschiedenen Ebenen ermöglicht. Als soziale Mechanismen werden hier bei der Erklärung der Folgen der Bildungsexpansion auf der gesellschaftlichen Ebene intendierte wie unintendierte Konsequenzen absichtsvollen Handelns sozialer Akteure auf der individuellen Ebene fokussiert. Zunächst ist im Hinblick auf die Logik der Situation zu fragen, welche Folgen die Bildungsreformen bzw. der generelle Ausbau des Schulsystems für die einzelnen Individuen, die jeweils in Gesellschaftsgruppen eingebettet sind, hatten. Dabei ist insbesondere von gruppenspezifischen Konsequenzen der Bildungsexpansion auszugehen – zum Beispiel wurden die Bildungsangebote nicht von allen Schichten gleichermaßen genutzt. Die Verbindung zwischen Gesellschaft und Individuum verläuft über Institutionen auf der Mesoebene wie Schule oder Massenmedien. Die soziologische Analyse auf der Mikroebene setzt schließlich am jeweiligen individuellen Bildungsstand an. Vermittelt durch (handlungsformierende) Mechanismen und Prozesse sind Konsequenzen für die individuelle Situation – entweder für den sozialstrukturellen (z.B. Arbeitsmarkt-, Einkommens- und Heiratschancen sowie Klassenlage) oder den kulturellen Bereich (Weltanschauungen, Werthaltungen, Lebensstile etc.) – zu betrachten. Über die Logik der Aggregation haben diese individuellen Konsequenzen
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wiederum über die Wirkung transformierender Mechanismen (z.B. Parteien auf der Mesoebene) Folgen für die Makroebene der Gesellschaft. Abbildung 1:
Erklärungsmodell der Folgen der Bildungsexpansion
Quelle: Hadjar und Becker (2006a: 17)
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Folgen der Bildungsexpansion
Als Folgen der Bildungsexpansion sollen sozialstrukturelle und kulturelle Veränderungen, die unmittelbar oder mittelbar mit der Ausweitung der Bildungsgelegenheiten (Bildungsexpansion) in Zusammenhang stehen, gefasst werden. Im Hinblick auf Boudon (1980) können dabei intendierte Folgen, d.h. die im Rahmen der Diskurse um die Bildungsreformen angestrebten Ziele, und unintendierte bzw. unbeabsichtigte Folgen unterschieden werden. Im Rahmen einer globalen Metaanalyse arbeiten Hannum und Buchmann (2003) als wesentliche Folgen der Bildungsexpansion einen höheren wirtschaftlichen Wohlstand, eine verbesserte Gesundheit, reduzierte Ungleichheiten und eine Demokratisierung der politischen Systeme heraus. Der Studie lagen folgende Hypothesen zugrunde: a) Wirtschaftswachstum. Bildung als Humankapital ist eine zentrale Ressource für die nationale wirtschaftliche Entwicklung, denn entsprechend der Humankapitaltheorie sind höher gebildete Individuen produktiver. b) Individueller wirtschaftlicher Wohlstand. Durch diesen Mecha-
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nismus bedeutet Bildung auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation auf der individuellen Ebene. c) Abbau von Ungleichheiten. Da mit der Bildungsexpansion ein meritokratisches Prinzip des Statuserwerbs – Leistung und Fähigkeiten als Zuteilungsprinzipien – gefördert wird, verringern sich im Zuge der Bildungsexpansion soziale Ungleichheiten nach Herkunft. d) Bessere Gesundheit, längere Lebenserwartung. Die Bevölkerung ist in von einer Bildungsexpansion erfassten Ländern gesünder, weil höher gebildete Individuen gesündere Lebensstile zeigen, länger leben und auch gesündere Kinder haben. e) Geringere Fertilität. Das Wachstum in Bevölkerungen, die durch eine Bildungsexpansion gekennzeichnet sind, ist geringer, weil höher gebildete Individuen weniger Kinder bekommen. f) Politische Partizipation. Länder mit einem höheren Anteil höher Gebildeter sind demokratischer, weil ihre Staatsbürger besser in der Lage sind, reflektierte politische Entscheidungen zu treffen, d.h. erweiterte politische Kompetenzen haben. Empirische Evidenzen im Hinblick auf Industrieländer, aber auch Entwicklungs- und Schwellenländer zeigen entsprechend der Analyse von Hannum und Buchmann (2003) eindeutig, dass Länder mit einem höheren Bildungsniveau gesündere Populationen haben und deren Bevölkerungen aufgrund geringerer Fertilität langsamer wachsen. Keine eindeutigen Trends finden sich im Hinblick auf die These des wirtschaftlichen Wachstums: Während Barro (1991) und Petrakis und Stamatakis (2002) zeigen, dass eine höhere Bildungsbeteiligung zu einem stärkeren Wirtschaftswachstum (Bruttosozialprodukt) führt, legen Analysen von Pritchett (2001) nahe, dass dieser Zusammenhang nicht universell ist und stattdessen je nach Beschaffenheit des Arbeitsmarktes variiert. Das heißt, in Ländern mit einem ‚Mismatch‘ zwischen Angebot und Nachfrage ist nicht von einem Wirtschaftswachstum durch eine weitere Erhöhung des Bildungsniveaus auszugehen. Die Resultate im Hinblick auf die individuellen Bildungsrenditen sind ebenso nicht einheitlich, weil auch hier die Verwertbarkeit der Bildungsabschlüsse auf dem Arbeitsmarkt im Sinne des Labour Queue Modells von Thurow (1975) entscheidend ist – wobei jedoch der Zusammenhang zwischen Bildung und Entlohnung generell in allen untersuchten ‚Settings‘ besteht. Bezüglich der Bildungsungleichheiten zeigt sich der bereits mannigfaltig konstatierte Befund (vgl. Becker 2003; Shavit et al. 2007), dass die Bildungsexpansion nicht pauschal zu einer starken Reduktion von Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft oder Ethnizität führte, wenngleich auch nicht generell von persistenten Ungleichheiten gesprochen werden kann. Es erfolgte ein leichter Rückgang sozialer Ungleichheit nach sozialer Herkunft im Hinblick auf die sekundären Bildungsinstitutionen – wobei sich die Ungleichheiten auf das Tertiärniveau verlagerten (Mayer et al. 2007). Im Hinblick auf Geschlechterunterschiede ist eine Einebnung von Ungleichheiten im Rahmen der Bildungsexpansion hingegen universell feststellbar. Während der Ausbau des tertiären Sektors (Hochschulen, Universitäten) durchaus einen Einfluss auf die Demokratisierung einer Gesellschaft zu haben scheint, sind die Ergebnisse im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen einem Ausbau des primären und sekundären Sektors ambivalent – eine Ursache ist die schwierige Frage, wie der Grad der Demokratisierung gemessen werden kann und inwieweit Bildungsinhalte hier eine Rolle spielen (vgl. Hannum und Buchmann 2003). Der nun folgende detaillierte Blick auf die Folgen der Bildungsexpansion versucht entsprechend dem wegweisenden Beitrag von Müller (1998) bereits in den Sozialwissenschaften vielbeachtete strukturelle Folgen und Konsequenzen für Kultur und Politik als „blinde Flecken“ zu trennen.
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(1) Strukturelle Folgen: Im Hinblick auf strukturelle Folgen soll zunächst die Umsetzung der Kernerwartungen an die Bildungsexpansion, d.h. die Erweiterung des Bildungsangebots und eine steigende Bildungsnachfrage sowie der Abbau von Bildungsungleichheiten, betrachtet werden. Während die Befunde zum Abbau von Bildungsungleichheiten hoch ambivalent sind und insbesondere auch gegenläufig interpretiert werden, zeigen sich im Hinblick auf den Ausbau des Bildungssystems klare Evidenzen. Das Ziel der höheren Bildungsbeteiligung konnte im Rahmen der Bildungsreformen erreicht werden (vgl. Becker 2006). Die Expansion betrifft sowohl das „niedere“ als auch das „höhere“ Schulwesen – unter Einschluss der Berufsausbildung (vgl. Klemm 1996). Indizien für die Expansion sind die Zunahme der Pflichtschulzeit seit Beginn des Bildungsexpansionsschubs in den 1960er Jahren, der Ausbau der Berufsbildung als Regelfall für niedrige und mittlere Absolventen der allgemeinbildenden Institutionen (Blossfeld 1985), ein rapider Anstieg der Abiturientenquoten sowie eine moderate Zunahme der Studienanfänger und Absolventen tertiärer Bildungseinrichtungen wie Universitäten und Fachhochschulen (Meulemann 1992; Blossfeld 1993; Müller und Haun 1994; Schimpl-Neimanns 2000; Müller und Pollak 2004). Die Zunahme der Absolventen mit höheren allgemeinbildenden und tertiären Abschlüssen sowie qualifizierten Berufsabschlüssen ist ein europaweites Phänomen (Shavit und Blossfeld 1993; Müller und Shavit 1998). Der Abbau der Bildungsungleichheiten hat nicht im erwarteten Maße stattgefunden. Zu unterscheiden ist zwischen geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und Unterschieden in den Bildungschancen nach sozialer Herkunft oder Migrationsstatus. Im Hinblick auf geschlechtsspezifische Bildungsbeteiligung hat zumindest im allgemeinen Bildungssystem ein deutlicher Abbau vertikaler Unterschiede – d.h. im Bildungsniveau zwischen Männern und Frauen – stattgefunden (Diefenbach und Klein 2002; Müller et al. 1997). Als persistenter erweisen sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der beruflichen Ausbildung und an den Hochschulen sowie horizontale Ungleichheiten, d.h. die Segregation in männlich-dominierte und weiblich-dominierte Ausbildungsfächer (Müller et al. 1997; Franzen et al. 2004). Im Gegensatz zu den abnehmenden Geschlechterungleichheiten fand der angestrebte Abbau von Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft nicht wie von Dahrendorf (1965) erhofft statt. Während auf niedrigeren Stufen durchaus eine Lockerung des – an frühen Bildungsübergängen generell stärkeren – Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildung zu konstatieren ist (vgl. Schimpl-Neimanns 2000; Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995), zeigt sich in Bezug auf das Tertiärniveau kein Abbau der Bildungsungleichheiten: Der Anteil der Kinder aus Akademikerfamilien in tertiären Bildungslaufbahnen ist weiterhin viel größer als der Anteil der Akademikerfamilien an der Bevölkerung, d.h. Arbeiterkinder sind hier vergleichsweise unterrepräsentiert (vgl. Meulemann 1983; Handl 1985; Becker 2006; Mayer et al. 2007). Die Bildungschancen sind somit weiterhin stark durch die soziale Herkunft geprägt. Als wesentlicher Grund für das Weiterbestehen von Chancenunterschieden nach Schichtzugehörigkeit gilt, dass wiederum vor allem höhere Schichten die neuen Bildungsgelegenheiten genutzt haben und niedrigere Schichten nicht überproportional häufig Eingang in die höheren Bildungsinstitutionen gefunden haben (Becker 2003). Eine Ursache dafür sieht Becker (2003, 2006) in Anlehnung an Goldthorpe (1996) unter anderem in schichtspezifischen Kosten-Nutzen-Kalkulationen im Hinblick auf Bildungsinvestitionen. Die Bildungsexpansion hat die (schichtspezifische) Art und Weise der Bildungsentscheidung kaum verändert: Da niedrigere Schichten – im Unterschied zu höheren Schichten – das Risiko, an höheren Schulformen zu scheitern und
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letztlich nicht die gewünschte Rendite aus entsprechenden Investitionen zu erhalten, weiterhin als hoch einschätzen, machen sie auch im Zuge der Bildungsexpansion weniger von den erweiterten Bildungsangeboten Gebrauch. Die Kinder aus benachteiligten Schichten müssten in einem viel größeren Maß in die höheren Bildungsinstitutionen einströmen, damit eine profunde Einebnung der Bildungsungleichheiten erreicht würde (vgl. Breen und Yaisch 2006). Zu den schichtspezifischen Ungleichheiten existieren – wenngleich abgeschwächt – weiterhin Stadt-Land-Unterschiede (Henz und Maas 1995) und bleiben ausländische Jugendliche bzw. Migrantenkinder die am stärksten benachteiligte Gruppe im Bildungssystem (Solga und Wagner 2001; Müller et al. 1997). Im Hinblick auf Bildungsungleichheiten ebenso von Interesse sind Folgen der sich verändernden Zusammensetzung der Schülerschaft. So befürchtete bereits Schelsky (1956), dass bei der sozialen Öffnung der höheren Schullaufbahnen und der Heterogenisierung der Schülerschaft an höheren Schulen das Risiko sinkender Standards in Kauf genommen werden müsse. Die Gruppe der höher Gebildeten nimmt nach dieser Argumentation und empirischen Evidenzen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Kompetenzen, Orientierungen und Verhaltensmuster zunehmend eine weniger distinkte Position gegenüber den geringer Gebildeten ein (Baumert 1991), da nun auch verstärkt Kinder aus bildungsfernen Schichten in den höheren Bildungseinrichtungen anzutreffen sind. Andererseits kommt es gleichermaßen zu einer Homogenisierung der Hauptschule als Restschule, da diese zunehmend nur noch von Schülerinnen und Schülern aus benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen (Arbeiterschicht, Migranten) besucht wird (Solga und Wagner 2001). Die negative Distinktion der niedrigst Gebildeten sollte in Anbetracht der Homogenisierung der Schülerschaft von Hauptschulen erhalten bleiben bzw. sogar zunehmen. Im Hinblick auf politische Partizipation (Hadjar und Becker 2007) oder auch die Verwertungschancen der gering Gebildeten auf dem Arbeitsmarkt (Solga 2005) zeigen sich Befunde, die diese Argumentationen zu den Folgen der Zusammensetzung der Schülerschaft stützen. Eine unintendierte Folge der Bildungsexpansion ergibt sich im Hinblick darauf, dass Bildungssystem und Arbeitsmarkt nicht gleichermaßen expandiert sind und daher die Bildungsrenditen, d.h. die Erträge aus Bildungsinvestitionen, einem Wandel unterliegen. Ob es zu einer Bildungsinflation kam, wird ähnlich umfangreich diskutiert wie die Bildungsungleichheiten. Empirische Evidenzen (Pollmann-Schult 2006) weisen darauf hin, dass sich die Verwertungschancen der Bildungsabschlüsse bezüglich des Einkommens zwar verringert haben, aber nicht von einer drastischen Entwertung gesprochen werden kann. Butz (2001) interpretiert seine Befunde so, dass die relativen Unterschiede zwischen verschiedenen Bildungsgruppen stabil bleiben, wenngleich Inhaber mittlerer Bildungszertifikate leichte Verluste in Kauf nehmen mussten. Gebel und Pfeiffer (2007) zeigen, dass die durchschnittlichen Bildungsrenditen bis Ende der 1990er Jahre sinken, um danach wieder anzusteigen, wobei über die Zeit der Geschlechterunterschied in den Bildungserträgen verschwunden zu sein scheint. Brynin und Longhi (2006) konstatieren anhand des British Labour Force Survey für Großbritannien, dass der Anstieg der Anzahl an Personen mit tertiären Abschlüssen in bestimmten Berufen – unter Kontrolle der Bildungsabschlüsse – zu sinkenden Bildungsrenditen geführt hat. Als Grund dafür thematisieren sie den verstärkten Wettbewerb unter den Hochqualifizierten. Dieser Wettbewerb hatte jedoch nicht zwingend sinkende Bildungsrenditen und Arbeitsmarktchancen der höher Gebildeten zur Folge, sondern ist vielmehr mit einem Verdrängungswettbewerb zum Nachteil der gering Gebildeten verbunden (Blossfeld 1985; Müller 1998; Solga und Wagner 2001). Die Bedeutung der
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Bildungszertifikate ist – trotz befürchteter, aber de facto nicht eingetretener „Bildungsinflation“ im Sinne einer Überproduktion von Akademikern (Becker 2000) – nicht gesunken, sondern gestiegen, da Bildungszertifikate wichtiger geworden sind, um auf dem Arbeitsmarkt, aber auch in anderen Lebensbereichen, bestehen zu können (Mayer 2000). (2) Kulturelle Folgen: Lebensstile, Werthaltungen, Politik und Handlungsmuster. Als „blinde Flecken“, die noch wenig erforscht wurden, bezeichnet Müller (1998) die Folgen der Bildungsexpansion für die Bereiche Kultur und Politik. Der kulturelle Wandel ist dabei untrennbar mit strukturellen Wandlungen – etwa des Bildungssystems – verbunden im Sinne des Zusammenwirkens von Basis und Überbau bei Marx (1974 [1859]). Grundmechanismus ist in diesem Zusammenhang die kognitive Mobilisierung als unmittelbare und zentrale Folge der Bildungsexpansion, die „auf kollektiver Ebene ein Element langfristigen gesellschaftlichen Wandels“ ist (Baumert 1991: 347; Baumert et al. 2003). Eine höhere Bildung bedeutet höhere individuelle Fähigkeiten der Informationsverarbeitung, im Umgang mit Problemstellungen bzw. stärkere Handlungskompetenzen und damit „verbesserte Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten in vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens“ (Baumert 1991: 347). Über die Bildungsexpansion kam es zu einer – im damaligen Diskurs von Dahrendorf (1965) gewünschten – politischen Mobilisierung. Zum einen ist die habituelle Parteiidentifikation gesunken, stattdessen ist das Wahlverhalten stärker reflektiert und damit rationaler (Becker und Mays 2002; Dalton 1984). Träger einer politischen Mobilisierung oder auch „partizipatorischen Revolution“, im Zuge derer sich unter anderem neue, unkonventionelle politische Partizipationsformen etablieren konnten sowie eine kritischere wie reflektierte Haltung gegenüber politischen Parteien durchgesetzt hat (Kaase 1984), sind die jüngeren Generationen. Die Kohorten der Bildungsexpansion sind – nach Befunden aus Analysen, in denen Alters-, Perioden- und Kohorteneffekte simultan Berücksichtigung fanden (Hadjar und Becker 2006b) – politisch interessierter als ältere Kohorten, was vor allem auch auf höher Gebildete zutrifft. Auch im politischen Partizipationsverhalten zeigen sich bildungsspezifische Veränderungen, höher Gebildete waren von einer drastischen Zunahme der unkonventionellen politischen Partizipation betroffen (Hadjar und Becker 2007). Mannigfaltige Studien zum Inglehartschen Wertewandel hin zum Postmaterialismus (Inglehart 1998) weisen auf die Bildungsspezifizität dieses Trends hin, denn Kohorten erweisen sich nicht per se als Träger des Wertewandels, sondern vielmehr die höher gebildeten Mitglieder der jüngeren Kohorten (Hadjar 2006). Dass der Wertewandel durch gegenläufige Alterseffekte überlagert wird, d.h. dass die jungen postmaterialistischen Individuen in späteren Lebensetappen wieder tendenziell materialistischer werden, kann zudem aus Befunden von Klein (1995), Klein und Pötschke (2004) oder Hadjar (2006) abgeleitet werden. Im Hinblick auf Einstellungen ist zu konstatieren, dass die Bildungsexpansion mit einem Rückgang fremdenfeindlicher Einstellungen (Rippl 2007), aber auch mit einer weniger ablehnenden Sichtweise auf anti-zivilmoralische Delinquenz (leichte Delinquenz; Hadjar und Imhof 2007) verbunden ist. Veränderte Einstellungen und Handlungsmuster bedeuten schließlich auch veränderte Lebensstile und Lebensweisen. Im Hinblick auf die Lebensführung sind besonders die unintendierten Konsequenzen der Bildungsexpansion für demographische Faktoren zu betrachten. Familienbildungsprozesse werden zunehmend verzögert – insbesondere die Geburtenraten sind aufgrund der erhöhten Frauenerwerbstätigkeit gefallen (Blossfeld und Huinink 1989). Es sind jedoch nicht nur tendenziell sinkende kohortenspezifische Heirats-
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und Geburtenraten zu verzeichnen, sondern es ist auch von der Verschiebung von Heirat und Geburt auf spätere Zeitpunkte im Lebensverlauf auszugehen. Besonders bei höher gebildeten Frauen ist die Wahrscheinlichkeit über die Bildungsexpansion gewachsen, kinderlos zu bleiben (Timm 2006). Heiratschancen und Scheidungswahrscheinlichkeiten sind über die Bildungsexpansion zunehmend mit dem Bildungsniveau der Beziehungspartner verknüpft – wobei vor allem bei niedrig gebildeten Männern die Chance auf einen Partner sinkt (Wirth 2000; Blossfeld und Timm 2003). Die Lebenserwartung ist über die Bildungsexpansion angestiegen (Becker 1998; Klein et al. 2006), wobei hinter diesem Zusammenhang u.a. gesündere Lebensweisen stehen. Höher Gebildete haben zum einen mehr Wissen, wie sie ihr Leben gesund gestalten können, zum anderen haben sie infolge ihres höheren Status im Erwerbsleben bessere (finanzielle) Möglichkeiten, gesunde Lebensweisen zu verfolgen.
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Ausblick: Theoretische und methodologische Probleme
Vier zentrale inhaltliche und methodologische Begründungen dafür, warum viele Forschungen zu den Folgen der Bildungsexpansion ohne eindeutiges Ergebnis bleiben oder angezweifelt werden müssen, fassen Hannum und Buchmann (2003: 21-22) zusammen: Erstens ist die Bedeutung von Längsschnittdaten (Panel- oder Verlaufsdaten) nicht zu unterschätzen. Auch im Rahmen von Längsschnittstudien mit einem kurzen Zeithintergrund können die Folgen nicht adäquat analysiert werden, da viele Konsequenzen erst bei längerer Betrachtung offensichtlich werden. So zeigt sich der Zusammenhang zwischen Bildungsexpansion und Wirtschaftswachstum erst über längere Zeitperioden (Krueger und Lindahl 2001). Zweitens wird die Bildungsexpansion oft pauschal betrachtet: Die Ausweitung des Sekundarbereichs muss aber nicht zwangsläufig die gleichen Folgen haben wie etwa der Ausbau des Hochschulwesens. „For example, tertiary enrollments, in particular, appear to be significantly linked to democratization and technological change, while educational expansion through the secondary level appears to be extremely important for reaping many health and demopraphic benefits“ (Hannum und Buchmann 2003: 21). Weil auf den verschiedenen horizontalen Stadien im Bildungsverlauf spezifische Lebensbereiche berührt werden, ist die Berücksichtigung der verschiedenen Stufen sinnvoll. Drittens wird oftmals die qualitative Dimension von Bildung – die Organisationsstruktur des Bildungssystems, Bildungsrenditen, der Zusammenhang zwischen Bildung und Arbeitsmarkt und Bildungsinhalten, wozu auch Bildungsungleichheiten gehören – vernachlässigt. Stattdessen wird die Bildungsexpansion oftmals vereinfacht in der Ausweitung der Bildungsgelegenheiten empirisch operationalisiert, ohne diese nicht-trivialen Hintergrundmechanismen, die quasi als Mediatoren zwischen Bildungsexpansion und den Konsequenzen fungieren, zu berücksichtigen. Viertens müssen die Folgen der Bildungsexpansion vor dem Hintergrund des jeweils aktuellen gesellschaftlichen Kontexts analysiert werden. Die Folgen der Bildungsexpansion sind nicht in allen Bereichen der Gesellschaft – insbesondere nicht für alle gesellschaftlichen Gruppen (Schichten, Ethnien, Geschlechter) – gleich. Die Auswirkungen sind zum Beispiel schicht- und geschlechtsspezifisch. So wurde etwa die Erweiterung der Bildungs-
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gelegenheiten wiederum von den höheren Schichten stärker für Statusaufstiege genutzt als von niedrigeren Schichten (Becker 2003). Diese Probleme bedingen für die Analyse der Folgen der Bildungsexpansion als Prozess einen Längsschnittsansatz, der soziale Mechanismen fokussiert sowie eine alles in allem sorgfältige reflektierte Vorgehensweise. Das heißt, dass die empirischen Analysen auf einer möglichst breiten Datenbasis (komparativ-statische Bevölkerungsumfragen wie etwa ALLBUS und Wohlfahrtssurvey, amtliche Statistiken einschließlich des Mikrozensus, Paneldaten des SOEP oder ereignisorientierte Verlaufsdaten der Deutschen Lebensverlaufsstudie) basieren sollten. In der Regel sind die Zeitfenster der Studien noch zu kurz, denn die Folgen der Bildungsexpansion sind erst in der Zukunft abschätzbar, wenn Daten über die gesamten Lebensverläufe der Kohorten der Bildungsexpansion vorliegen. Besonderes Augenmerk ist dabei auch unintendierten Handlungsfolgen (Boudon 1980) zu schenken, denn die Konsequenzen der Bildungsexpansion wurden nicht durchgängig im Rahmen der Bildungsreformen angestrebt, sondern sind Emergenzen aus dem Zusammenspiel von beabsichtigen und unbeabsichtigten Effekten – etwa Verdrängungsprozesse und Abwertungseffekte oder die Persistenz von Ungleichheiten. Zur Vermeidung temporaler Fehlschlüsse, d.h. von falschen Schlussfolgerungen, die auf der Analyse nur eines temporalen Effekts basieren, ist eine Berücksichtigung dreier temporaler Aspekte sinnvoll, denn Entwicklungen können sowohl über die Kohortenabfolge (Kohorteneffekte), als auch über die Erhebungszeitpunkte (Periodeneffekte) sowie den Lebenszyklus (Alterseffekte) erfolgen. Soziale Tatbestände werden nach dem A-P-K-Ansatz (Alters-, Periodenund Kohorteneffekte) nicht als geschichtslose Zustände begriffen, sondern als Komposition der Effekte des Alterns, der Sozialisation und der strukturellen Einflüsse zum Zeitpunkt der Untersuchung (Mayer und Huinink 1990; Bürklin et al. 1994; Hadjar 2008). Auch der noch so sorgfältigen Analyse sind jedoch immer Grenzen gesetzt, die sich aus einer im Hinblick auf viele Untersuchungsgegenstände mangelnden Datenlage ergeben. Eine optimale Betrachtung sozialen Wandels würde differenzierte Informationen – nach Möglichkeit prospektive Verlaufsdaten oder zumindest Panel-Daten – über lange historische Perioden erfordern, die im Moment noch nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße vorliegen. Eine abschließende Analyse der Folgen der Bildungsexpansion erscheint – wie bereits angedeutet – erst möglich, wenn die jüngeren Geburtskohorten, die von der Bildungsexpansion besonders profitierten, ihren Lebenszyklus vollständig durchschritten haben.
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Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion in Deutschland
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Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf Steffen Hillmert
1
Einleitung: Lebensverlaufsbezogene Bildungsforschung
Die lebensverlaufsbezogene Forschung hat in den letzten Jahrzehnten auch innerhalb der soziologischen Bildungsforschung deutlich an Bedeutung zugenommen. Dies lässt sich im Wesentlichen auf zwei Tendenzen zurückführen. Zum einen sind in der empirischen Forschung Längsschnittanalysen zunehmend wichtig geworden, welche die Analyseeinheiten nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern über einen gewissen Zeitraum beobachten und so Veränderungen bzw. Entwicklungen sichtbar machen. Längsschnittanalysen sind besser als Querschnittsanalysen geeignet, kausale Einflussfaktoren zu identifizieren (vgl. etwa Blossfeld und Rohwer 2001). Handelt es sich bei den Analyseeinheiten um Personen, so bilden Längsschnittstudien stets zumindest Abschnitte individueller Lebensverläufe ab. Die thematischen Aspekte von Längsschnittstudien können vielfältig sein, gerade in der Bildungsforschung werden sie aber zunehmend bevorzugt. Bildungsergebnisse sind danach aus einer längeren Bildungslaufbahn heraus zu verstehen. Zum Anderen hat sich in der Soziologie eine Forschungstradition entwickelt, die den individuellen Lebensverlauf unmittelbar zum Forschungsgegenstand macht und seine sozialhistorische Entwicklung und innere Struktur darstellt. Da der Bildungsverlauf in die Gesamtentwicklung des Lebensverlaufs eingebettet ist, nehmen Bildungsprozesse bei der Beschreibung von Lebensverlaufsstrukturen wiederum eine wichtige Rolle ein. Dieser Beitrag nimmt daher zentrale konzeptuelle Elemente der soziologischen Lebensverlaufsforschung zum Ausgangspunkt, bevor auf spezifischere Fragen der Bildungsforschung eingegangen wird.
2
Das Lebensverlaufsparadigma
Ende der 1970er Jahre beginnt in der deutschen Soziologie die stärker inhaltliche Auseinandersetzung mit einer Soziologie des Lebenslaufs. Kohli (1985) etwa beschreibt idealtypisch den historischen Übergang vom vormodernen zum modernen Lebenslaufsregime, wobei man Lebensläufe einerseits im Sinne objektiver Positionssequenzen und Handlungen und andererseits im Sinne subjektiver, biografischer Perspektiven verstehen kann. Charakteristisch für das moderne Lebenslaufsregime sind eine Verzeitlichung des Lebenslaufs, nach der das Lebensalter ein zentrales soziales Strukturprinzip wird, und eine Chronologisierung, wonach das chronologische Lebensalter der Maßstab für den ‚Normallebenslauf‘ wird. Die erwartbare Lebensdauer dehnt sich aus und standardisiert sich, es dominieren typische Abfolgen des Familienzyklus, und Altersgrenzen für bestimmte Lebensereignisse
216
Steffen Hillmert
werden wichtiger. Dies geht einher mit einer zunehmenden Individualisierung, d.h. Individuen werden verstärkt als eigenständig konstituierte Einheiten (jenseits von ständischen oder lokalen Bindungen) betrachtet (vgl. auch Beck 1983). Nach Kohli (1985) ist der moderne institutionalisierte Lebenslauf um das Erwerbssystem zentriert; die Bildungs- und Ausbildungsphase dient der Vorbereitung auf das Erwerbsleben, die dritte Lebensphase ist durch das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben definiert. Man kann die Herausbildung des modernen Lebensverlaufsregimes als einen Prozess fortgeschrittener Rationalisierung der Lebensverhältnisse interpretieren, sollte dabei aber nicht vergessen, dass es sich bei dem Lebensalter letztlich um ein askriptives (zugeschriebenes) Merkmal sozialer Ungleichheit handelt. Seit den 1970er Jahren, so Kohli (1985), deutet sich mit der De-Standardisierung von Lebensverlaufsmustern ein neuerlicher Strukturwandel an. In dieser langfristigen Perspektive zeigen sich die sozialhistorischen Voraussetzungen des individuellen Lebensverlaufs, dieser stellt also erst ab einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe ein sinnvolles analytisches Konzept dar. Voraussetzung ist etwa, dass Individuen bzw. Familien als (rechtlich, subjektiv) hinreichend vom Kollektiv unterschiedlich wahrgenommen werden. Auch ist ein gewisses Maß an sozialer Mobilität nötig, welche das Lebensschicksal nicht als (beispielsweise durch ein striktes Kastenwesen) determiniert erscheinen lässt; der tatsächliche Grad der Offenheit oder Geschlossenheit einer Gesellschaft ist indes eine empirische Frage. Andererseits ist auch ein Mindestmaß an Stabilität in den Lebensverhältnissen nötig, das eine Planbarkeit des eigenen Lebens erlaubt. Historisch gesehen wurde die Erwartbarkeit des eigenen Lebens erst mit dem modernen Lebensverlauf zur Normalität und hat im Zuge medizinisch-technischen Fortschritts sowie der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats und anderer Institutionen ein hohes Niveau erreicht, an dem aktuelle Veränderungen gemessen werden. Dies schließt nicht die Möglichkeit schicksalhafter Lebensereignisse aus (in Bezug auf Bildungschancen vgl. Hillmert 2002), diese werden aber gerade vor diesem Hintergrund zur Besonderheit. Gegenüber einer generalisierenden historischen Betrachtung ist das Konzept des Lebensverlaufs in der empirischen Forschung (hier dargestellt in Anlehnung an Mayer 2001) stärker auf die Präzisierung und Operationalisierbarkeit verschiedener Aspekte des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ausgerichtet: (1) Definiert man den Lebensverlauf als die Abfolge von individuellen Aktivitäten und Ereignissen in verschiedenen Lebensbereichen bzw. institutionalisierten Handlungsfeldern von der Geburt bis zum Tod, so fällt zunächst die Betonung des individuellen Prozess- bzw. Längsschnittaspektes auf. Dies bedeutet, dass diese Ereignisabfolge jeweils genau zu beschreiben, in ihrer Struktur zu analysieren und auf institutionelle Rahmenbedingungen zu beziehen ist. Zu den weiteren zentralen Charakteristika der Analyseperspektive Lebensverlauf zählen die folgenden Gesichtspunkte: (2) Der Lebensverlauf wird als Element eines Mehrebenenprozesses gesehen: Das Individuum ist notwendigerweise eingebunden in soziale Einheiten wie Familien und Gruppen bzw. es unterliegt der Regulierung durch staatliche Institutionen. Bildungs- und Erwerbsverläufe etwa werden durch Institutionen wie Schule und Universität oder sozialpolitische Regelungen geprägt (Mayer und Müller 1989; Heinz 2000). Da auch konkrete Organisationen wie einzelne Betriebe häufig durch staatliche Normen oder kollektive Vereinbarungen (beispielsweise Tarifverträge) reguliert werden, kommt diese institutionelle Strukturierung auch mittelbar zum Tragen. Darüber hinaus wird der Lebensverlauf als eine multi-
Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf
217
dimensionale Entwicklung in unterschiedlichen Lebensbereichen verstanden, und die empirische Forschung interessiert sich insbesondere für die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen den Lebensbereichen. Der Lebensverlauf unterliegt zudem häufig endogenen Kausalzusammenhängen in dem Sinn, dass frühere Phasen des Lebensverlaufs spätere maßgeblich prägen. Entwicklungen erfolgen also in vielen Fällen pfadartig. Dies lässt sich auf kumulierte individuelle Erfahrungen, Ressourcen und die psychosoziale Entwicklung zurückführen, gerade aber auch auf institutionalisierte Regelungen, die Kontinuitäten zwischen verschiedenen Situationen im Lebensverlauf herstellen (beispielsweise durch erworbene Berechtigungen oder sich kumulierende Ansprüche auf staatliche Transferleistungen). (3) Individuelle Lebensverläufe können maßgebliche Folgen für die Makroebene der Gesellschaft haben, sei es in Form aggregierter Handlungsmuster, sei es in der Rückwirkung typischer Lebensverlaufsmuster auf die (Neu-)Gestaltung institutioneller Strukturen. Ein für die soziologische Forschung besonders wichtiger Aspekt ist die Bedeutung veränderter Lebensverlaufsmuster für die Strukturen sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft. Aus diesen Grundannahmen ergeben sich lebensverlaufsbezogene Fragestellungen der empirischen Bildungsforschung.
3
Zentrale Felder der lebensverlaufsbezogenen Bildungsforschung
3.1 Institutionelle Strukturen und empirische Bildungsverläufe Grundstrukturen von Bildungsverläufen werden in der Regel durch die formale Struktur des Bildungssystems einer Gesellschaft vorgegeben. Solche Bildungslaufbahnen kommen häufig bereits in den geläufigen Schaubildern zum Aufbau von Bildungssystemen zum Ausdruck. Allerdings sind die dadurch nahegelegten Verlaufsmuster zunächst nur idealtypisch zu verstehen, und das empirische Bildungsverhalten kann von der formalen Struktur des Bildungssystems mehr oder weniger stark abweichen. Die Zusammenhänge zwischen institutionellen Strukturen und individuellen Verläufen sind vielschichtig. Man kann sich Bildungsverläufe zunächst als Ergebnis von individuellen Entscheidungen zum Besuch bestimmter Bildungseinrichtungen während des Lebensverlaufs vorstellen, und in diesem Sinne geben Bildungsinstitutionen die Optionen für individuelle Bildungsverläufe vor. Prinzipiell könnte man sagen: Je stärker die institutionelle Differenzierung, umso größer auch die Vielfalt typischer Kombinationen, denn je mehr institutionalisierte Bildungsgänge vorhanden sind, umso mehr (theoretische) Möglichkeiten gibt es, diese miteinander zu kombinieren. Die meisten Bildungssysteme unterscheiden zwischen einer (vorgelagerten) Phase der allgemeinen Schulbildung und einer (nachgelagerten) Phase beruflicher oder akademischer Ausbildung (sowie einem Bereich der späteren Weiterbildung). Innerhalb dieser Bereiche gibt es aber größere Variationen. Diese betreffen etwa die Frage, ob es eine einheitliche Sekundarschule oder die Möglichkeit der Wahl zwischen unterschiedlichen Schultypen gibt, oder die Frage, welche Formen schulischer und betrieblicher Ausbildung existieren. In diesem Sinne bietet gerade das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem vielfältige Möglichkeiten zur Gestaltung des individuellen Bildungsverlaufs, zumal Schul- und Berufsausbildungen noch in verschiedener Art und Weise kombiniert werden können.
218
Steffen Hillmert
Allerdings sind die individuellen Möglichkeiten bei den Bildungsentscheidungen beschränkt, und zwar insbesondere durch definierte Zulassungskriterien und Berechtigungen bzw. festgelegte Dauern für bestimmte Ausbildungsgänge. Zusätzliche Beschränkungen ergeben sich aus formalen Regelungen wie der allgemeinen Schulpflicht, Mindest- oder auch Höchstdauern von Bildungsaktivitäten. Zum anderen dürfte eine institutionelle Differenzierung des Bildungssystems individuellen Wünschen stärker gerecht werden, also die Notwendigkeit von Abbrüchen, individuellen Umorientierungen und Wechseln eher verhindern. Insgesamt aber können gerade die verbliebene Wahlfreiheit und ‚ungeplante‘ Umwege zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führen. In jedem Fall können sich institutionelle Strukturen und individuelles Verhalten mehr oder weniger stark unterscheiden. Die empirische Bildungsforschung widmet sich daher zunehmend der detaillierten Analyse des Prozesscharakters des Bildungserwerbs bzw. der Struktur von (Aus-)Bildungsverläufen und setzt diese dann mit institutionellen Voraussetzungen in Beziehung. Die Vielfalt empirisch zu beobachtender Bildungswege kann im Folgenden nur exemplarisch beschrieben werden. Als Beispiel dient eine Untersuchung von Mehrfachausbildungen. Dieses Phänomen bedeutet, dass Individuen mehrere berufliche oder akademische Ausbildungen hintereinander absolvieren (vgl. Hillmert und Jacob 2003; Jacob 2004) – was in der Regel in der idealtypischen Struktur des Bildungssystems gar nicht „vorgesehen“ ist. Die möglichen Gründe hierfür sind vielfältig: Zunächst einmal können Ausweichbewegungen im Ausbildungssystem entstehen, weil der Zugang zur gewünschten Ausbildung aktuell nicht möglich ist oder nicht möglich erscheint. Zum anderen kann es zu Ausweichbewegungen ins Ausbildungssystem kommen, wenn der Zugang zu einer gewünschten Erwerbstätigkeit auf Basis der vorhandenen Qualifikation offensichtlich nicht möglich ist. Neben gestiegenen Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt können insbesondere zusätzliche höherwertige Ausbildungen die Folge zunehmender ‚Bildungskonkurrenz‘ aufgrund langfristiger steigender Beteiligung junger Erwachsener im weiterführenden Bildungs- und Ausbildungssystem sein. Schließlich können auch Personen, die bereits einige Zeit im Beschäftigungssystem verbracht haben, können erneut ins Ausbildungssystem eintreten, wobei dies zunächst einmal unabhängig von der direkten Verwertbarkeit der erworbenen Qualifikation den Versuch eines beruflichen Neuanfangs darstellen kann. Abbildung 1 vergleicht am Beispiel des Geburtsjahrgangs 1964 die jeweiligen Anteile der Personen mit Erst- und Mehrfachausbildungen im Zeitverlauf. Die beiden untersten Linien stellen die Anteile jener Personen dar, die bis zum jeweiligen Alter jeweils eine Zweitausbildung begonnen bzw. abgeschlossen haben. Rund ein Drittel der Kohortenmitglieder hat bis Anfang 30 eine zusätzliche Ausbildung abgeschlossen. Diese Entwicklung dürfte sich noch in Lebensaltern jenseits dessen fortsetzen. Als Vergleichsgröße wird in der Abbildung der altersspezifische Anteil derer, die mindestens eine Ausbildung begonnen bzw. abgeschlossen haben, ausgewiesen.
Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf
Abbildung 1:
219
Kumulierte Raten des Abschlusses einer beruflichen oder akademischen Ausbildung (in Prozent), nach Lebensalter
Prozent
100 80
Beginn Erstausbildung
60
Abschluss Erstausbildung
40
Beginn Zweitausbildung
20
Abschluss Zweitausbildung
0 14
16
18
20
22
24
26
28
30
32
Lebensalter
Die Reihenfolge der Linien in der Abbildung entspricht der Reihenfolge in der Legende. Datengrundlage: Westdeutsche Lebensverlaufsstudie, Geburtskohorte 1964
Bei den Mehrfachausbildungen handelt es sich aber in aller Regel nicht um unstrukturierte Bildungsaktivitäten. So stehen Erst- und Zweitausbildung zumeist in einem relativ engen berufsfachlichen Zusammenhang. Fast zwei Drittel der Zweitausbildungen erfolgen im Berufsfeld der Erstausbildung. In diesem Sinne sind Ausbildungsverläufe pfadabhängig. Selbst Warteschleifen, die durch Engpässe im Ausbildungssystem entstehen (also klassische ‚Diskontinuitäten‘), spielen sich eher zwischen verwandten Einzelberufen als zwischen Berufsfeldern ab. Dies geht zum einen darauf zurück, dass erworbene Qualifikationen innerhalb des Berufsfeldes übertragbar sind, so dass in vielen Fällen eine Ergänzung und Erweiterung der Erstausbildung stattfindet, zum anderen ist aber auch der Ausstieg aus einer einmal begonnenen beruflichen Laufbahn mit zusätzlichen Risiken verbunden. Auch hier erweist sich somit die berufliche Strukturierung als ein zentrales Merkmal des deutschen Ausbildungssystems. Ausbildungsverläufe lassen sich zu einer Reihe von Typen gruppieren. Auf Basis der beiden empirischen Merkmale ‚Berufsfeld‘ und ‚Qualifikationsniveau‘ erhalten Hillmert und Jacob (2003) vier Typen von Mehrfachausbildungen. Es dominieren Ausbildungsfolgen, in denen die Zweitausbildung im gleichen Beruf wie die Erstausbildung absolviert wird und der weitere Abschluss auf einem höheren Qualifikationsniveau angestrebt wird (45 Prozent). Ohne Erhöhung des Qualifikationsniveaus werden 19 Prozent der Zweitausbildungen im gleichen Berufsfeld und 22 Prozent in einem anderen Berufsfeld als die Erstausbildung unternommen. In 15 Prozent aller Zweitausbildungen findet eine berufliche Umorientierung mit gleichzeitiger Höherqualifizierung statt, insgesamt dient also in rund 60 Prozent der Fälle die zusätzliche Ausbildung einer Höherqualifizierung (vgl. Hillmert und Jacob 2003). Daneben zeigen sich endogene Zusammenhänge zwischen (Schul-)Bildungs- und Ausbildungsverläufen. Inter-individuelle Unterschiede in den Startbedingungen (Schulabschlüsse) und ersten Ausbildungsschritten setzen sich im weiteren Ausbildungsverlauf fort und nehmen eher noch zu. Berufliche Zweitausbildungen stellen also in der Regel keine
220
Steffen Hillmert
Kompensation geringerer allgemeinbildender Schulabschlüsse dar. Auch aus der beruflichen Weiterbildungsforschung ist bekannt, dass durch berufliche Fortbildungsmaßnahmen individuelle Bildungsunterschiede nicht verringert, sondern eher noch vergrößert werden (etwa Becker 1991), d.h. es bilden sich diejenigen fort bzw. werden vom Arbeitgeber in Weiterbildungen gefördert, die bereits überdurchschnittlich mit Bildungsressourcen ausgestattet sind. In vielen Fällen kann man somit nicht nur von Kontinuitäten, sondern sogar von Kumulationen innerhalb von Ausbildungsverläufen sprechen. Eine wichtige Grundlage bildet jeweils die genaue Beschreibung von Bildungsprozessen und Bildungsverläufen auf der Individualebene. Gegenstand der Untersuchung sind somit Regelmäßigkeiten in empirischen Bildungsverläufen. Davon ausgehend ergeben sich generellere soziologische Fragestellungen: Wie lassen sich diese Regelmäßigkeiten erklären? Inwiefern wirkt sich hier insbesondere eine Prägung des individuellen Lebensverlaufs durch Institutionen des Bildungssystems aus? Zum Anderen wird die Einbettung von Bildung in den gesamten Lebensverlauf zum Thema gemacht. Wie hängt der Bildungserwerb mit anderen Lebensbereichen zusammen? Inwieweit nimmt Bildung eine Strukturierungsfunktion in individuellen Lebensverläufen ein? Schließlich beschäftigen sich Studien mit der Rolle von Bildung(sverläufen) in der Sozialstruktur bzw. im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Inwieweit ist Bildung ein Kernelement moderner Lebensverläufe? Welche Rolle kommt Bildung bei der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu? In diesem Sinne wird in den folgenden Abschnitten exemplarisch auf zentrale Teilaspekte einer lebensverlaufsbezogenen Bildungsforschung eingegangen. Zunächst geht es um empirische Strukturen von Bildungsverläufen (Abschnitt 3.1). Anschließend werden Zusammenhänge zwischen Bildungsbeteiligung, gesellschaftlicher Entwicklung und ‚Normallebensverlauf‘ betrachtet (Abschnitt 3.2). Im darauf folgenden Abschnitt werden Bildungskonsequenzen auf dem Arbeitsmarkt und in anderen Lebensbereichen angesprochen (Abschnitt 3.3). Schließlich werden die Fragen nach sozialer Bildungsungleichheit im Lebensverlauf und Bildungsreproduktion über die Generationen thematisiert (Abschnitt 2.4). Der abschließende Abschnitt 4 beschreibt zusammenfassend die aktuelle Bedeutung von Bildungsprozessen für die Strukturierung von Lebensverläufen.
3.2 Bildungsteilnahme als zentrales Element des modernen Lebensverlaufs Die Teilnahme am Bildungssystem und die dort erworbenen Qualifikationen sind in der modernen Gesellschaft zentrale Determinanten der Verteilung individueller Lebenschancen geworden. Darauf wird in späteren Abschnitten dieses Beitrags noch genauer eingegangen. Zunächst geht es hier deskriptiv um die Position des Bildungserwerbs innerhalb des modernen Lebensverlaufs. Im Anschluss an das oben vorgestellte Konzept der Institutionalisierung des Lebensverlaufs sind folgende Aspekte von Bedeutung: Teilnahme an Bildungsinstitutionen: Durch die allgemeine Schulpflicht wird heute praktisch die gesamte Bevölkerung vom Bildungssystem erfasst. Allerdings ist diese ‚Universalisierung‘ des Bildungserwerbs dann historisch relativ neu, wenn sie auch auf berufliche bzw. akademische Ausbildungen bezogen wird. Diese wurden, zumindest für junge Frauen, erst im Zuge der Bildungsexpansion nach dem Zweiten Weltkrieg zur Normalität.
Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf
221
In den fünfziger Jahren absolvierte nur eine Minderheit junger Frauen eine Berufsausbildung, heute hingegen die große Mehrheit. Abbildung 2 kann (mit Einschränkungen) als eine Repräsentation dieser Entwicklung (‚Bildungsexpansion‘) interpretiert werden. Dargestellt ist der höchste Bildungsabschluss der Geburtskohorten 1930 bis 1965 (bei den jüngsten Kohorten sind die Ausbildungsprozesse noch nicht abgeschlossen). Abbildung 2:
Höchstes Qualifikationsniveau der Westdeutschen Geburtskohorten 19301965
Männer 100% 90% 80% (Fach-)Hochschulausbildung
70%
Höh. Sek + Berufsausbildung
60%
Höh. Sekundarschulabschluss
50%
Unt. Sek. + Berufsausbildung
40%
Unt. Sekundarschulabschluss
30%
Keine Abschlüsse
20% 10% 1964
1962
1960
1958
1956
1954
1952
1950
1948
1946
1944
1942
1940
1938
1936
1934
1932
1930
0%
Frauen 100% 90% 80% (Fach-)Hochschulausbildung
70%
Höh. Sek + Berufsausbildung
60%
Höh. Sekundarschulabschluss
50%
Unt. Sek. + Berufsausbildung
40%
Unt. Sekundarschulabschluss
30%
Keine Abschlüsse
20% 10% 1964
1962
1960
1958
1956
1954
1952
1950
1948
1946
1944
1942
1940
1938
1936
1934
1932
1930
0%
Daten: Mikrozensus 2000
Die Universalisierung des Bildungserwerbs ist allerdings mit einer erhöhten Differenzierung in dem Sinne einhergegangen, dass sich die Bildungsbeteiligung nicht mehr stark auf
222
Steffen Hillmert
einige wenige Bildungsgänge konzentriert (vgl. auch Müller 1998). So hat etwa die Volksbzw. Hauptschule bei den allgemeinbildenden Schulen ihre Dominanz verloren. Bildungsphasen im Lebensverlauf: Der Bildungserwerb verteilt sich nicht gleichmäßig innerhalb des Lebensverlaufs, sondern konzentriert sich stark auf frühe Phasen (in der Regel das erste Viertel bzw. erste Drittel des Lebensverlaufs). Diese Phase kann allerdings – wie bereits angesprochen – individuell sehr unterschiedlich lang sein, und im Zuge der Bildungsexpansion hat sie sich auch im Mittel deutlich verlängert. Der Bildungserwerb erfolgt zudem häufig nicht in einer einheitlichen, ununterbrochenen Phase. Vielmehr können andere Aktivitäten (Wartezeiten, Wehrdienst, Praktika, Erwerbstätigkeiten) zwischen Phasen der Bildung und Ausbildung liegen. Altersbezug des Bildungssystems: Innerhalb des Bildungssystems spielt die Chronologisierung entlang des Lebensalters eine wichtige Rolle; durch die altersbezogene Schulpflicht sind etwa die Klassenstufen der Schulen des allgemeinbildenden Schulsystems als altershomogen konzipiert. Infolge von individuellen Umwegen, Wiederholung von Klassen etc. gibt es aber gerade in höheren Klassenstufen eine nennenswerte Altersstreuung. (Auch kollektiv gibt es durchaus immer wieder Ausnahmen von dieser altersbezogenen Organisation des Schulsystems, beispielsweise durch die Zusammenlegung von Klassenstufen in Notsituationen wie der unmittelbaren Nachkriegszeit). Altersbezug von Übergängen: Anders als das idealtypische Modell es nahelegt, erfolgen insbesondere spätere Übergänge innerhalb von Bildungslaufbahnen bzw. zwischen Bildungsaktivitäten und anderen Lebensbereichen (Abschluss der Ausbildungsphase) nicht altersstandardisiert. Insbesondere die Phase des Übergangs zwischen Schule und Arbeitsmarkt erweist sich in vielen Fällen als zeitlich ausgedehnter Prozess. Man vergleiche auch hierzu die Abbildung 1. Die Abbildung macht deutlich, dass sich bereits der Abschluss der ersten beruflichen oder akademischen Ausbildung in einem breiten Zeitfenster, etwa zwischen Alter 18 und 30, erstreckt (obere kräftige Linie). Auch diese berufliche oder akademische Ausbildung kann zunächst nur als vorläufig letzte Stufe einer Bildungskarriere gelten, denn – wie beim Punkt Mehrfachausbildungen dargestellt – kommen ggf. weitere Ausbildungsaktivitäten hinzu. Für die empirische Bildungsforschung weist dies auf mehr oder weniger große Messprobleme hin: zumindest bis Mitte 30 (und vermutlich noch darüber hinaus) gibt es größere Veränderungen des individuellen Bildungsniveaus mit dem Lebensalter. Bis zu diesem Zeitpunkt kann also etwa nicht abschließend beurteilt werden, welche Bildungsabschlüsse oder welchen höchsten Bildungsabschluss jemand erreicht hat bzw. wie die gesamte Bildungsverteilung eines Jahrgangs aussieht. Solche Aussagen sind nur zeitpunkt- bzw. altersbezogen möglich, und dies setzt relativ detaillierte Daten voraus. Allerdings wird auch hier die Universalität des Ausbildungserwerbs sichtbar, fast 90 Prozent der Geburtskohorte (d.h. aller Frauen und Männer) schließen letztendlich eine Ausbildung ab.
3.3 Bildungskonsequenzen auf dem Arbeitsmarkt und in anderen Lebensbereichen Der Erwerb formaler Bildungszertifikate ist in modernen Gesellschaften ein zentraler Mechanismus für die soziale Zuteilung von Lebenschancen. Die große Bedeutung der Bildungskonsequenzen im Lebensverlauf ist im Übrigen der wesentliche Grund, welcher Un-
Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf
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gleichheiten beim Bildungszugang (vgl. den folgenden Abschnitt) zu einem sozialen Problem macht. Zu den Bildungskonsequenzen zählen zunächst einmal jene formalen Berechtigungen innerhalb und außerhalb des Bildungssystems, welche durch die Bildungsabschlüsse erworben werden. Vor allem geht es aber um empirische ‚Bildungsrenditen‘ auf dem Arbeitsmarkt, und dies schließt an die Erwerbszentrierung als Kern des Modells der Institutionalisierung und Individualisierung des Lebensverlaufs an. Im engeren Sinne beziehen sich Bildungskonsequenzen daher auf Einkommen, berufliche Positionierungen und Beschäftigungschancen, im weiteren Sinne aber auch auf manifeste individuelle Konsequenzen im Sinne soziokultureller Teilhabe oder Exklusion. Es gibt wohl kaum eine Variable sozialer Ungleichheit, die in so vielen Lebensbereichen Auswirkungen zeigt wie formale Bildung. Im Folgenden sei exemplarisch eine Reihe von Bildungskonsequenzen in verschiedenen Bereichen erwähnt. Bildung und Arbeitsmarkt Eine Teilfragestellung beschäftigt sich hier zunächst mit der Kopplung von Qualifikationen und Arbeitsmarkt. Bildungs- und Ausbildungssysteme unterscheiden sich beispielsweise im Grad ihrer Standardisierung, Stratifizierung und beruflicher Spezifität und damit im Informationsgehalt der von ihnen produzierten Qualifikationen, was nicht nur zu Unterschieden in der Abstufung der Bildungsrenditen führen kann (Allmendinger 1989; Shavit und Müller 1998), sondern auch im Lebensverlaufbezug dieser Zusammenhänge. So kann es sein, dass Qualifikationen lediglich für den Einstieg in den Arbeitsmarkt relevant sind; in einem anderen Fall hingegen – der eher dem deutschen Fall entspricht – bestimmen sie Arbeitsmarktchancen dauerhaft, da große Teile des Arbeitsmarkts qualifikationsbezogen strukturiert sind. Arbeitsmarktbezogene ‚Bildungserträge‘ im Lebenslauf: In den letzten Jahrzehnten hat sich am längerfristigen Ertrag sowohl einer beruflichen Ausbildung wie gerade auch einer höheren, akademischen Ausbildung im Sinne des Schutzes vor Arbeitslosigkeit und des Erreichens höherer beruflicher Positionen nur wenig geändert (Müller 1998; vgl. Hillmert 2001), wenngleich dies keineswegs ausnahmslos gilt. Dieser Zusammenhang kann auf verschiedene Art und Weise erklärt werden. Zum Einen lässt sich ‚angebotsseitig‘ argumentieren, dass (höhere) Bildung zumindest relative Positionsvorteile innerhalb der Menge der potentiellen Arbeitskräfte (‚Arbeitskräfteschlange‘ im Sinne von Thurow 1975) verschafft. Zum Anderen liegt es aber auch an ‚Nachfragestrukturen‘ und deren Entwicklungen, welche die Anorderungen auf Teilen des Gesamtarbeitsmarktes (etwa dem Akademikerarbeitsmarkt) bestimmen. Die Muster des Zugangs zu den Positionen auf dem Arbeitsmarkt können sich aus den für diese Tätigkeiten notwendigen Fähigkeiten ableiten, aber auch aus formalen Zugangskriterien. Der öffentliche Dienst beispielsweise hat insbesondere bei den Beamtenlaufbahnen klare qualifikationsbasierte Zulassungsregeln. Besonders ungünstig hat sich in den letzten Jahrzehnten die Situation der Geringqualifizierten ohne Berufsausbildung entwickelt. In diesem Fall wird gerade die ‚Normalitätserwartung‘ des Ausbildungserwerbs selbst zum Problem, nämlich für jene Personen, welche die ‚Mindeststandards‘ von Schul- und Ausbildungsabschlüssen nicht erfüllen (Solga 2005). Übergangsmuster Ausbildung/Erwerbstätigkeit: Der Übergang in den Arbeitsmarkt in Deutschland erweist sich in Deutschland insgesamt weiterhin als in hohem Maße qualifikationsgebunden. Dies gilt sowohl für die Zugangschancen zur Beschäftigung insgesamt als
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auch für die Positionierung im Erwerbssystem. Zum anderen kann aber gerade die relative Stabilität der Verknüpfung von Qualifikation und Arbeitsmarkt zu verlängerten Übergangsbiografien führen, nämlich dann, wenn ganz bestimmte Qualifikationen unter allen Umständen – also auch unter Inkaufnahme längerer Wartezeiten – erworben werden müssen, um ein bestimmtes berufliches Niveau zu erreichen. Die Phase des Übergangs zwischen Schule und Arbeitsmarkt ist daher in den 1980er und 1990er Jahren in vielen Fällen ein komplexer Prozess (vgl. Mayer 2004). In einem einfachen Modell lassen sich traditionell idealtypische Stufen des Übergangs von Schule in den Arbeitsmarkt unterscheiden: Abschluss der Sekundarschule, Aufnahme der Ausbildung, Abschluss der Ausbildung und Übergang in Beschäftigung. Diese traditionellen Stufen sind in den letzten beiden Jahrzehnten erhalten geblieben und sogar vor allem im Zuge der deutlich gesteigerten Ausbildungsbeteiligung junger Frauen noch universeller geworden. Allerdings ist für die Mehrzahl der Kohortenmitglieder noch eine Reihe zusätzlicher Stufen (bzw. ‚Hürden‘) hinzugekommen, die insbesondere die Bildungsexpansion im allgemeinbildenden Schulsystem, die Verlängerung von Bildungsverläufen und die Befristung von Erwerbsverhältnissen beim Einstieg in den Arbeitsmarkt betreffen. Diese zusätzlichen Ereignisse bestehen aus dem (altersmäßig frühen) Übergang in die weiterführende Sekundarschule, der Aufnahme einer weiteren beruflichen oder akademischen Ausbildung nach Abschluss einer Erstausbildung, dem Abschluss dieser weiteren Ausbildung, und dem Übergang aus befristeten Erwerbsverhältnissen in unbefristete Beschäftigung. Die individuellen Übergangsmuster können in ihrer Struktur noch erheblich komplexer sein als in dieser idealtypischen Darstellung. Somit geht eine Komplexität der Muster des Übergangs zwischen Schule und Beruf oft mit einer beträchtlichen zeitlichen Ausdehnung der Übergangsphasen einerseits, einer relativ klaren, qualifikationsbezogenen Differenzierung in den Ergebnissen der Übergänge andererseits einher. Dies spricht gegen eine klare Phasierung des Lebensverlaufs im Sinne von Kohli (1985). Bildung, Partnerwahl und Heiratsverhalten Die soziale Bedeutung des Bildungserwerbs geht weit über den Arbeitsmarkt hinaus. So sind etwa Partnerwahl und Bildung eng verbunden. Diese Zusammenhänge betreffen zum einen die Wahrscheinlichkeit der Paarbildung bzw. Heirat, zum anderen das Phänomen der selektiven Partnerwahl, also die Frage, welche Typen von Personen zueinander finden. In der Gesellschaft hat es stets eine Tendenz zu sozialer Homogamie gegeben, also zum Ergebnis, dass Partner mit ähnlichen soziologischen Charakteristika zueinander finden. Diese Zusammenhänge haben sich jedoch mit der Zeit verändert, und das formale Bildungsniveau ist ein zunehmend relevantes Merkmal sozialer Homogamie geworden. Allerdings haben sich auch deren Mechanismen gewandelt: (1) Deutlich an Bedeutung verloren hat eine direkte Verbindung zwischen Bildung und Heirat bzw. ein spezifisches Motiv für (gerade weibliche) Bildung, nämlich der Erwerb bestimmter Bildung mit dem Ziel, eine ‚standesgemäße‘ Heirat zu erreichen. Auch diese Abkehr ist ein Aspekt einer zunehmenden ‚Individualisierung‘ der Bildung. (2) Auf der anderen Seite hat der indirekte Einfluss so genannter ‚Gelegenheitsstrukturen‘ an Bedeutung gewonnen, die bestimmte Konstellationen in Paaren wahrscheinlicher machen. Man kann solche Gelegenheitsstrukturen sowohl auf der Mikroebene als auch auf der Makroebene beobachten. Auf der Makroebene lassen sich Gelegenheitsstrukturen in Form der aggregierten Verteilungen der Bildungsabschlüsse von Männern und Frauen als
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potentiellen Partnern ausdrücken: Selbst wenn Partner zufällig zusammenfinden würden, würden diese Ausgangsverteilungen dazu führen, dass bestimmte Partnerkonstellationen häufiger als andere sind. Mit der zunehmenden Angleichung des männlichen und weiblichen Bildungsverhaltens hat die Wahrscheinlichkeit bildungsbezogener Homogamie (statistisch) zugenommen. (3) Auf der Mikroebene sozialen Handelns dürften Bildungsinstitutionen die Paarbildung dadurch beeinflussen, dass sie bestimmte Individuen miteinander in Kontakt bringen, aber auch durch die Formierung von Präferenzen. Empirisch gesehen nimmt die Bildungshomogamie zu, je länger die potentiellen Partner im Bildungssystem verbleiben, da die jeweils noch verbleibende Menge zunehmend homogener wird (vgl. Blossfeld und Timm 1997). Vor dem Hintergrund der engen Verbindung von Bildung und Lebensstilen dürften institutionelle Merkmale des Bildungssystems wie eine frühe Aufteilung in verschiedene Bildungszweige das Ausmaß von Bildungshomogamie vergrößern. Soziale Homogamie geht darüber hinaus mit sozialen Unterschieden im Heiratsverhalten einher. So findet sich ein besonders großes ‚Risiko‘, unverheiratet zu bleiben, bei den Gruppen der unqualifizierten Männer und der hochqualifizierten Frauen. Bildung und Kinder Bildungsgruppen unterscheiden sich auch im Hinblick auf ihr generatives Verhalten, und Unterschiede existieren sowohl im Hinblick auf das Niveau als auch den Zeitpunkt der Fertilität. Vereinfacht gesagt bedeuten die Niveauunterschiede der Fertilität, dass höher gebildete Frauen im Mittel weniger Kinder haben, wenngleich es in der soziologischen Forschung weiterhin Debatten über die adäquaten Erklärungen gibt. Es gibt wohl auch hier Einflüsse der Bildungsinstitutionen, sie sind aber eher indirekt. Unmittelbar relevante Faktoren sind die Anforderungen des Arbeitsmarktes an individuelle Flexibilität vor dem Hintergrund steigender qualifizierter weiblicher Erwerbsbeteiligung bei gleichzeitigem Fortbestehen einer geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung – sowohl innerhalb des Haushalts als auch gesamtgesellschaftlich. Hinzu kommen vermutlich veränderte Präferenzen bei Höherqualifizierungen. Auf der anderen Seite gibt es einen klaren Zeiteffekt: gerade akademisch Qualifizierte bekommen ihre Kinder relativ spät. Generell haben nur wenige junge Erwachsene Kinder, solange sie sich im Bildungssystem befinden. Die relativ lange Dauer akademischer Studiengänge in Deutschland sowie vorgelagerte Bildungszeiten, Wehrdienst, institutionell bedingte Wartezeiten etc. resultieren in einem relativ hohen Alter der Absolventen, was wiederum zu einer Verschiebung der Familienbildung führt. Bildung und regionale Mobilität Eine ganze Reihe empirischer Studien hat sich mit dem Verhältnis von formaler Qualifikation und regionaler Mobilität beschäftigt (vgl. etwa Wagner 1989). Zwei Befunde wurden dabei wiederholt festgestellt: höher qualifizierte Arbeitskräfte wandern häufiger, und zwar nicht nur zum Zwecke des Erwerbs dieser Qualifikation, und sie legen größere Distanzen zurück als geringer qualifizierte. Erklärungen auf der Individualebene verweisen zunächst auf Unterschiede in Ressourcen, Informationen und Präferenzen der Arbeitnehmer. Geht man von einem Wettbewerb zwischen den verschiedenen Qualifikationsgruppen aus, dann haben Höherqualifizierte grundsätzlich bessere Arbeitsmarktchancen und damit mehr Möglichkeiten zu wandern. Stellt man darüber hinaus die unterschiedlichen Investitionen in
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‚Humankapital‘ in Rechnung, dann haben Höherqualifizierte ggf. auch eine größere Notwendigkeit zu wandern, um ihre Investitionen auf jeden Fall zu amortisieren. Dies gilt umso mehr bei einer räumlich unterschiedlichen Verteilung der höher qualifizierten Positionen. Letzteres verweist gleichzeitig auf andere, eher strukturelle Erklärungen, die die Funktionsweise des Arbeitsmarktes zum Ausgangspunkt nehmen: Man kann sich den Arbeitsmarkt als intern differenziert vorstellen und für unterschiedliche Qualifikationssegmente unterschiedliche Funktionsweisen annehmen, die unterschiedliche Mobilitätsanforderungen implizieren. Im Extremfall wird regionale Mobilität in einem bestimmten Teilarbeitsmarkt (etwa dem akademischen) selbst als ein Qualifikationsmerkmal angesehen. Typen von Bildungskonsequenzen und die Frage der Kausalität Die vielfältigen Konsequenzen von Bildung auf das Verhalten in verschiedenen Lebensbereichen können an dieser Stelle nicht abschließend aufgezählt werden. Allerdings lassen sich die Mechanismen, über die diese Effekte zustande kommen, in der Regel einem der folgenden Typen zuordnen: (1) Selektionseffekte: Diese bedeuten, dass unterschiedliche Bildungsgänge von Menschen mit systematisch unterschiedlichen Merkmalen durchlaufen werden und dass diese Merkmale (die bereits vorher bestanden) dann für die beobachteten Verhaltensunterschiede verantwortlich sind – unabhängig davon, ob die Bildungserfahrung selbst einen Effekt auf diese Verhalten hat. Im Extremfall würden die betreffenden Menschen genau dasselbe Verhalten zeigen (bzw. eine bestimmte berufliche Position erreichen oder auch über bestimmtes Wissen verfügen), auch wenn sie diese Bildungsphasen nicht durchlaufen hätten. Selektionseffekte können vom Bildungssystem herbeigeführt werden (etwa wenn für bestimmte Bildungsgänge nach Fähigkeiten ausgewählt wird) oder Ergebnis von ‚Selbstselektion‘ sein (bestimmte Menschen wählen tendenziell bestimmte Bildungsgänge). In beiden Fällen kann dies entweder bewusst oder latent geschehen. Die alternative Erklärungsform ist die Annahme kausaler Bildungseffekte. Dies bedeutet, dass sich die Teilnahme an Bildung unmittelbar auswirkt. Es ist bereits interessant festzustellen, dass es diese Effekte überhaupt gibt und wie groß sie sind. Noch interessanter ist es aber, erklären zu können, wie bzw. warum sie entstehen. Solche Effekte können vielfältig sein. Zu unterscheiden sind insbesondere: (2) Zeitbezogene Effekte: Hierunter fallen beispielsweise Konsequenzen, die sich aus dem Zeitbedarf für Ausbildungen (welcher wenig Zeit für andere Aktivitäten lässt) oder aus unterschiedlichen Abgangsaltern verschiedener Bildungsgänge ergeben. (3) Soziale Kontakte und Veränderungen in sozialen Umwelten: Hierbei handelt es sich um Folgen der unterschiedlichen sozialen Interaktionen, die während der Bildungsaktivitäten stattfinden oder durch diese nahegelegt werden (vgl. auch die obigen ‚Gelegenheitsstrukturen‘). (4) Bildung als Ressource: Der Bildungserwerb hat danach Veränderungen in den individuellen Handlungsmöglichkeiten zur Folge. Hierunter zählen die durch die Bildungsteilnahme erworbenen Qualifikationen, Berechtigungen und Fähigkeiten, die von den Individuen anschließend in ihrem Handeln eingesetzt werden können. (5) Bildung als unmittelbare Präferenzveränderung der Individuen bzw. kognitive Prägung: In diesem Fall wirkt sich die Teilnahme nicht auf die Mittel, sondern auf die individuelle Weltsicht und persönliche Ziele aus, die entscheidend für das Verhalten in anderen Lebensbereichen sind.
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Es ist ein wesentliches Anliegen der empirischen Bildungsforschung, die Existenz, Art und Größenordnung insbesondere der kausalen Effekte von Bildung und die Struktur ihres Zusammenwirkens zu analysieren. Dies ist oft nicht einfach. In der Regel verfügt man lediglich über Informationen über statistische Zusammenhänge (‚bestimmte Bildungsgruppen zeigen tendenziell bestimmte Verhaltensweisen‘). Dies kann als kausaler Effekt interpretiert werden (‚Bildung führt zu diesen Verhaltensweisen‘), aber auch als Selektionseffekt (‚Verhaltensweisen führen zu Bildung‘, d.h. etwa, Menschen mit den betreffenden Eigenschaften wählen tendenziell bestimmte Bildungsgänge). Es ist auch möglich, dass es gar keinen kausalen Zusammenhang zwischen Bildung und dem betreffenden Verhalten gibt: So genannte ‚Drittvariablen‘ (beispielsweise der Gesundheitszustand) könnten dann sowohl das Bildungsniveau als auch die betreffenden Verhaltensweisen beeinflussen. Wie bereits erwähnt, können Längsschnittdaten genauere Hinweise zumindest auf die zeitliche Reihenfolge der Verhaltenszustände geben.
3.4 Soziale Ungleichheiten in Bildungsverläufen Fragen sozialer Bildungsungleichheit gehören zu den Kernfragen der Bildungssoziologie. Verschiedene Dimensionen sozialer Bildungsungleichheit wurden seit der unmittelbaren Nachkriegszeit in nennenswertem Umfang abgebaut. Hierzu zählen religionsbezogene, regionale und in vielen Bereichen geschlechtsbezogene Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung. Geschlechterunterschiede zeigen sich weiterhin insbesondere in geschlechtsspezifischer Selektivität der Berufswahl, deren Effekte im Erwerbsverlauf über die Ausbildung hinaus erhalten bleiben. Als besonders persistent haben sich herkunftsbezogene Ungleichheiten erwiesen. Aus zahlreichen sozialwissenschaftlichen Studien ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Niveau der Bildungsbeteiligung bzw. der erworbenen Bildungsabschlüsse bekannt, und nicht zuletzt die internationalen Schulleistungsstudien wie PISA haben dies wieder in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Viele der großen komparativen Studien (und amtliche Statistiken) enthalten bislang allerdings nur Querschnittsinformationen, d.h. punktuelle Informationen über Personen, die mitten in ihrer Bildungslaufbahn stehen. Im Sinne des Lebensverlaufsansatzes ist nun allerdings zu erwarten, dass auch die soziale Ungleichheit des Bildungserwerbs eine Lebensverlaufsdimension hat. Theorien zum Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit werden an anderer Stelle dieses Buches ausführlich beschrieben (vgl. etwa auch Erikson und Jonsson 1996; Becker und Lauterbach 2004). Im Folgenden konzentriert sich die Darstellung daher auf den ‚Längsschnittaspekt‘, d.h. die Entwicklung sozialer Ungleichheiten im Lebensverlauf. Bildungsungleichheit im Lebensverlauf Soziale Ungleichheiten des Bildungserwerbs formieren sich langfristig im Lebensverlauf. Dabei lässt sich konzeptionell zwischen primären und sekundären Effekten unterscheiden (Boudon 1974), also insbesondere zwischen sozialen Ungleichheiten, die außerhalb des Bildungssystems und bereits vor dem Eintritt ins (vor-)schulische Bildungssystem – also vor allem innerhalb der Herkunftsfamilie – entstehen, und Ungleichheiten, die während der Verweildauer im Bildungssystem auftreten. Aber auch auf jeder einzelnen Stufe des Bildungsverlaufs ist eine entsprechende Unterscheidung sinnvoll: Die primäre soziale Diffe-
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renzierung besteht in den jeweiligen ‚Ausgangsbedingungen‘ (Kompetenzen, formale Bildungsabschlüsse), also den jeweils bis zu dieser Stufe auftretenden Unterschieden, während die sekundäre Differenzierung die Unterschiede beim Übergang zur nächsten Stufe beschreibt. Auch wenn man keine dauerhafte Prägung des individuellen Habitus durch die frühe milieuspezifische Sozialisation im Sinne der Bourdieu’schen Theorie (Bourdieu 1982) annimmt, kommt der vorschulischen Sozialisation in jedem Fall eine wichtige Bedeutung zu. Allerdings sind empirische Längsschnittstudien, die in einem sehr frühen Lebensalter einsetzten und somit derartige Entwicklungen tatsächlich verfolgen können, sehr selten. Generell verweist aber die soziologische Perspektive auch hier auf die Bedeutung der Verbindung unterschiedlicher Lebensbereiche. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich etwa öffentliche Debatten im Anschluss an die Ergebnisse der großen Schulleistungsstudien in der Regel auf mögliche Ursachen innerhalb des Bildungssystems konzentrieren. Welche Entwicklung der Bedeutung sozialer Ungleichheiten im Lebensverlauf lässt sich theoretisch erwarten? Zunächst machen eine Reihe von Gründen intra-individuelle Konsistenzen bzw. Stabilitäten der sozialen Selektivität im Lebensverlauf wahrscheinlich. Hierzu zählen insbesondere: (1) Stabilitäten in der individuellen Lebenssituation. Hierunter fallen neben der individuellen Kompetenzentwicklung dauerhafte soziale Differenzen in den familialen und sozialen Umwelten (die sich etwa ausdrücken in unterschiedlich verfügbaren kulturellen und materiellen Ressourcen). (2) Divergierende individuelle Entwicklungen, die letztlich die Ungleichheit stabilisieren, können sich aufgrund von Unterschieden in den spezifischen institutionellen Umwelten (den konkreten Bildungsgängen) ergeben; insbesondere handelt es sich hierbei um unterschiedlich gute Förderung in den einzelnen Bildungszweigen. (3) Darüber hinaus gibt es pfadartige Entwicklungen im Sinne einer individuellen Kumulation von formalen Bildungstiteln (Abschlüssen). Gerade im deutschen Bildungssystem gelten an verschiedenen Stellen formalisierte Zugangsbedingungen, und vorhandene oder fehlende Qualifikationen können Zugänge ermöglichen oder verschließen. (4) Schließlich ergeben sich Zusammenhänge auch durch ähnliches individuelles (bzw. elterliches) Entscheidungsverhalten bei Bildungsübergängen. Zum Anderen sind aber auch Veränderungen der sozialen Selektivität während des Lebensverlaufs plausibel. Diese gehen insbesondere auf die folgenden Einflüsse zurück: (1) Soziale Statusreproduktion und Ressourceneffekte. Eine Reihe von Erklärungen bezieht sich auf soziale Unterschiede im individuellen Bildungsverhalten bzw. in den Bildungsentscheidungen. Eltern und Kinder versuchen danach langfristig, über die Generationen den gleichen sozialen Status aufrechtzuerhalten (Erikson/Goldthorpe 1993; Breen/ Goldthorpe 1997). Bildungsentscheidungen fallen daher je nach sozialer Herkunft tendenziell unterschiedlich aus. Durch häufigere positive Rückmeldungen steigt jedoch mit zunehmender Verweildauer im Bildungssystem die subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit (Esser 1999), und die Gefahr eines Statusverlustes ist möglicherweise mit dem bereits erreichten Bildungsniveau gebannt. Damit nimmt die Ungleichheit bei Übergängen auf höheren Stufen des Bildungssystems ab. Außerdem ist davon auszugehen, dass in Bildungssystemen mit altersmäßig früh geforderten Bildungsentscheidungen (wie etwa im deutschen Fall der Sekundarschulentscheidung) aufgrund der zu diesem Zeitpunkt höheren Unsicherheit eine größere soziale Selektivität zu erwarten ist (Müller und Karle 1993).
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Anderseits dürfte in den Fällen, in denen der elterliche Status auch in vergleichsweise fortgeschrittenem Alter noch nicht erreicht worden ist, ein besonderes Interesse bestehen, dieses Ziel ‚verspätet‘ doch noch zu erreichen, sodass gerade in solchen späteren Bildungsaktivitäten ein (erneuter) Einfluss der sozialen Herkunft zu erwarten ist. (2) Persönlichkeitsentwicklung und Autonomie. Eine geringere Bedeutung von Faktoren der Herkunftsfamilie im (lebens-)zeitlichen Verlauf des Bildungswegs lässt sich hingegen aus stärker lebensverlaufsbezogenen (entwicklungstheoretischen) Überlegungen hinsichtlich der persönlichen, altersbezogenen Entwicklung ableiten. So verweisen etwa Müller und Karle (1993) auf mit dem Alter sinkende Herkunftseffekte infolge zunehmender Selbstständigkeit und Reife. Mit zunehmendem Alter werden Jugendliche und junge Erwachsene von elterlichen Ressourcen unabhängiger und treffen verstärkt eigene Entscheidungen – vorausgesetzt natürlich, dass die Präferenzen der Kinder tatsächlich weniger selektiv sind als jene der Eltern. Ein solcher Autonomiezuwachs könnte aber auch die Folge institutioneller Unterschiede (z.B. größerer Entscheidungsspielraum bei der Gestaltung des Studiums im Unterschied zum Schulbesuch) sein. Die Zusammenfassung empirischer Ergebnisse in diesem Bereich ist dadurch eingeschränkt, dass in konzeptioneller Hinsicht der Begriff der Entwicklung im Lebensverlauf mitunter recht unterschiedlich verwendet wird. Eine wichtige konzeptionelle Präzisierung ist zunächst die Unterscheidung zwischen sozialer Selektivität bei Bildungsübergängen und den Ungleichheitsverhältnissen in der daraus resultierenden Bildungsverteilung bzw. Bildungsergebnissen (Müller und Haun 1994; Hillmert und Jacob 2005). Im einen Fall wird analysiert, wie sich soziale Gruppen bei bestimmten Bildungsübergängen unterscheiden (z.B., ob Abiturienten aller Herkunftsgruppen in gleichem Maße ein Studium abschließen), wobei jeweils nur die Personen betrachtet werden, für die der jeweilige Übergang überhaupt relevant ist. Im anderen Fall wird analysiert, was sich dadurch an der Verteilung der jeweils insgesamt erworbenen Bildung ändert (also z.B. die Verteilung der Abschlüsse der Herkunftsgruppen). Beide Betrachtungsweisen sind für die Ungleichheitsforschung von Interesse. Insbesondere in Bezug auf Entwicklung in Bezug auf Bildungsübergänge lassen sich zudem zwei zentrale Ordnungsdimensionen im Bildungsverlauf unterscheiden (Hillmert und Jacob 2005a). Zum einen lässt sich die Entwicklung entlang der institutionalisierten Sequenz von Bildungsstufen verfolgen, also der von der Struktur des Bildungssystems vorgegebenen Übergänge und Bildungsphasen. Ein anderer wichtiger Aspekt ergibt sich aus der jeweiligen inter-individuellen (Alters-)Variation bei den einzelnen Stufen der institutionellen Sequenz. Im Lebensalter drückt sich sowohl die tendenzielle zeitliche Ordnung der institutionellen Bildungsphasen als auch die inter-individuelle Variation aus. Diese systematischen Überlegungen lassen sich prinzipiell auf alle möglichen Bildungsverläufe und auf unterschiedliche Formen sozialer Ungleichheit anwenden. Wie verhält es sich empirisch gesehen mit der Entwicklung sozialer Bildungsungleichheiten im Lebenslauf? Nehmen sie tendenziell zu oder ab? Ein kurzer Überblick über vorhandene Untersuchungen zeigt zunächst ein uneinheitliches Bild, dies lässt sich aber auch auf die unterschiedlichen Konzeptionen zurückführen: (1) In den meisten verlaufsbezogenen Arbeiten steht tatsächlich der Einfluss der Herkunftsfamilie entlang einer Folge markanter Übergänge im Bildungssystem im Mittelpunkt, wie beispielsweise bei der Wahl der weiterführenden Schulform nach der Grundschule oder der Entscheidung für eine berufliche Ausbildung oder ein Studium. Aufbauend
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auf Überlegungen von Boudon (1974) und Mare (1980) können Bildungsverläufe als eine Sequenz von Bildungsepisoden angesehen werden. An den Verzweigungen des Bildungssystems wird jeweils über die Fortsetzung oder das Beenden des Bildungswegs entschieden (wenngleich dies nur bedingt für das deutsche Sekundarschulsystem mit parallelen Bildungszweigen gilt: Schimpl-Neimanns 2000). Der Bildungsprozess wird so in eine Reihe sukzessiver Übergänge zerlegt. Müller/Haun (1994) etwa unterscheiden: den Übergang von der Grundschule bzw. Hauptschule zu einer weiterführenden Schule (Realschule, Gymnasium bzw. in entsprechende Kurse einer Gesamtschule) und das Erreichen mindestens der Mittleren Reife; für diejenigen, die die Mittlere Reife erreicht haben: den Übergang in die höheren Klassen des Gymnasiums (oder anderer allgemeinbildender Angebote auf der Sekundarstufe II) und das Erreichen mindestens des Abiturs; und schließlich für diejenigen, die das Abitur erreicht haben: den Übergang in eine Hochschule/Universität und das Erreichen eines Hochschulabschlusses. Eine ganze Reihe von Studien belegt dabei eine Verringerung der Bedeutung des Familienkontextes bei späteren Übergängen: Beim Übergang nach der Grundschule in einen der weiterführenden Schulzweige ist der Herkunftseffekt am stärksten, bei der Aufnahme einer beruflichen Ausbildung bzw. eines Studiums dagegen deutlich schwächer (Blossfeld 1993; Müller und Haun 1994; Henz und Maas 1995). In Bezug auf die Entwicklung sozialer Bildungsungleichheiten findet man in diesem Zusammenhang auch eher statistische Erklärungen, die sich auf eine verändernde Komposition der Risikopopulation beziehen, wobei sowohl die soziale Herkunft als auch die individuelle Leistung eine Rolle spielt: Gerade bei den sozial schwächeren Schülern verbleiben nur die Leistungsstärksten im Bildungssystem. Kumulierende Selektionsprozesse bezüglich Herkunft und Leistung führen so zu einer zunehmenden ‚Homogenität‘ der Risikomenge, sodass der Einfluss der sozialen Herkunft bei den folgenden Übergängen sinkt. (2) Andererseits weisen einige neuere Studien darauf hin, dass eher ‚ungewöhnliche‘, spätere Bildungsentscheidungen wie das Nachholen eines Schulabschlusses nach dem erstmaligen Verlassen des Schulsystems oder die Aufnahme eines Studiums nach Beendigung einer beruflichen Ausbildung nicht nur in beträchtlichem Ausmaß vorkommen, sondern auch überdurchschnittlich oft bei Personen aus ‚bildungsnahen‘ Familien beobachtet werden können (Henz 1997b). Dies deutet eher auf einen Trend in Richtung mehr Ungleichheit bei späteren Entscheidungen hin. Auch bei höherqualifizierenden beruflichen Aus- und Weiterbildungen wird beobachtet, dass diejenigen mit höher gebildeten Eltern deutlich häufiger teilnehmen (Schömann und Becker 1995; Jacob 2004). (3) Konsequenzen von Wechseln innerhalb institutionell definierter Stufen: Aufgrund der Datenlage ist dies bislang ein wenig untersuchtes Thema. Hillmert und Jacob (2005b) zeigen aber am Beispiel von Wechseln zwischen Sekundarschulzweigen im westdeutschen Schulsystem, dass es zwar verschiedene institutionalisierte Möglichkeiten zur Korrektur und Revision der ersten Bildungsentscheidung gibt, diese ‚zweiten Chancen‘ aber nicht zu einem Ausgleich sozial unterschiedlicher Beteiligung führen, sondern eher noch ungleichheitsverstärkend sein können: Es sind hier tendenziell die Kinder aus bildungsnahen Familien, die später noch aus unteren Sekundarschulzweigen in höhere aufsteigen. Auch eine Flexibilisierung bzw. erhöhte Durchlässigkeit von Bildungsgängen bedeutet offensichtlich nicht unmittelbar einen Ausgleich ungleicher Bildungschancen, sondern zunächst nur, dass individuelle Entscheidungen und Eigenschaften (Ressourcen, Präferenzen) ein relativ größeres Gewicht bekommen.
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Bildung und intergenerationale Statusweitergabe Die Forschungen zu herkunftsbezogenen Bildungschancen stellen bereits soziale Verbindungen zwischen mehreren Generationen dar, die über Bildungsprozesse vermittelt werden. Solche Prozesse lassen sich auch als Dynamik der sozialen Positionen innerhalb einer Gesellschaft bzw. langfristige soziale Reproduktionsprozesse interpretieren. Eine Möglichkeit, Analysen zum Ausmaß sozialer Ungleichheit beim Bildungserwerb und zu ihren Konsequenzen zusammenzufassen und dabei intergenerationale soziale Reproduktionsprozesse zu beschreiben, besteht im Anschluss an einfache Modelle des Statuserwerbs (Konzept des status attainment, vgl. etwa Blau und Duncan 1967). Diese verbinden die Frage des selektiven Bildungszugangs mit den Konsequenzen formaler Bildung auf dem Arbeitsmarkt. Effekte intergenerationaler Statusreproduktion werden danach unterschieden, ob sie über das Bildungssystem vermittelt werden oder nicht. Das Grundmodell kann erweitert werden durch die Berücksichtigung weiterer Karrierestufen und der Effekte formaler Qualifikationen auf die Mobilität zwischen beruflichen Positionen, wobei in der Regel eine Abnahme dieser Effekte nach dem Arbeitsmarkteinstieg erwartet wird, da Merkmale des Berufslebens dann ein größeres relatives Gewicht bekommen. Durch die enge Verknüpfung von sozialer Herkunft und Bildungserwerb einerseits und zwischen formalen Qualifikationen und beruflichen Positionen andererseits übersetzen sich danach soziale Ungleichheiten in der Herkunftsgeneration zuerst in Ungleichheiten im Bildungssystem und dann in soziale Ungleichheiten im Beschäftigungssystem. Damit kommt es insgesamt zu einer ‚Vererbung‘ sozialer Ungleichheiten zwischen den Generationen und zu einer stabilen, häufig eher noch zunehmenden sozialen Differenzierung während des Lebensverlaufs. Bildung hat als Mechanismus der Statustransmission seit der Nachkriegszeit keineswegs an Bedeutung verloren (vgl. Mayer und Blossfeld 1990). Im Vergleich mit älteren Geburtskohorten legen die verfügbaren Befunde vielmehr die Interpretation nahe, dass sich fundamentale soziale Differenzierungen weiterhin deutlich in Bildungszugang und Bildungsergebnissen ausdrücken.
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Zusammenfassung und Ausblick
4.1 Die Rolle von Bildung in Lebensverläufen der Gegenwartsgesellschaft Die in den vorangegangenen Abschnitten referierten Ergebnisse sind exemplarisch, unterstreichen aber bereits die große Bedeutung von Bildungsprozessen für gegenwärtige Lebensverläufe. Man muss nicht zu plakativen Begriffen wie ‚die Bildungsgesellschaft‘ greifen, um die weitgehende Bedeutung des Bildungserwerbs zu beschreiben. In diesem Abschnitt sei dieses Argument noch einmal pointiert zusammengefasst. Hierzu wird auf die eingangs aufgeworfenen Grundfragen Bezug genommen: Inwieweit sind Bildungsphasen Kernelemente moderner institutionalisierter Lebensverläufe? Inwieweit nehmen Bildung und Ausbildung eine Strukturierungsfunktion in individuellen Lebensverläufen ein? Welche Rolle kommt Bildung bei der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu?
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Universalisierung und Differenzierung des Bildungserwerbs Während im Modell der Institutionalisierung des Lebensverlaufs von Kohli (1985) noch das Erwerbssystem als zentrale Strukturachse des modernen Lebenslaufs angesehen wird, dürfte die Bedeutung des Bildungssystems für Strukturierung des Lebensverlaufs in den letzten beiden Jahrzehnten noch zugenommen haben. Im Zuge der Bildungsexpansion ist es zu einer Universalisierung des Bildungserwerbs (gerade auch für die Frauen) gekommen. Diese ist mit einer Differenzierung der Bildungsverteilung zwischen Gering- und Hochqualifizierung einhergegangen. Zum anderen ist die Bedeutung von Bildungsressourcen und Bildungsdifferenzierungen für vielfältige Lebenslagen und -entscheidungen groß. Gerade weibliche Lebensverläufe haben sich im Zuge der Bildungsexpansion, nicht zuletzt durch das individualisierte elterliche Entscheidungsverhalten, verändert. Die Bedeutung formaler Qualifikationen für den (deutschen) Arbeitsmarkt ist weiterhin sehr hoch. Gleichzeitig sind aber auch wesentliche soziale Determinanten, wie insbesondere der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserwerb, relevant geblieben. Schließlich hat auch die (zumindest subjektiv stark) zunehmende Unsicherheit von Erwerbsverläufen und die damit verbundene Hoffnung auf ausreichende Qualifizierung als ‚Sicherheitsnetz‘ zu einer relativen Aufwertung der Bedeutung von Bildung beigetragen. Bildung als Strukturierungsmechanismus im Lebensverlauf Wie im Lebensverlaufsansatz angenommen, sind die Lebensverlaufsmuster relativ stark ‚endogen‘ strukturiert, wobei dem Erwerb und der Verwendung formaler Qualifikationen eine Schlüsselrolle zukommt. So bilden auf früheren Stufen erworbene Bildungszertifikate häufig die notwendige Grundlage für spätere Bildungsaktivitäten. Darüber hinaus gibt es klare Konsequenzen in anderen Dimensionen des Lebensverlaufs. Im deutschen Fall kommt insbesondere beruflichen Qualifikationen eine große und weitreichende Bedeutung für den weiteren Erwerbsverlauf zu. Diese gilt sowohl für die vertikale Positionierung (hinsichtlich des beruflichen Status) als auch die horizontale Positionierung (berufliche Tätigkeit) im Erwerbssystem. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in der starken Institutionalisierung von Berufen bzw. des beruflichen Ausbildungssystems. Vor allem auch betriebliche Ausbildungsberufe erweisen sich als wesentliche Strukturierungselemente von Erwerbsverläufen. Angesichts der starken qualifikatorischen bzw. beruflichen Strukturierung der Übergänge tritt die zeitliche Dimension zurück: Empirische Studien zeigen in der Regel keine festen Lebenszeitpunkte für spezifische Übergänge. Bildung als Mechanismus der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit Muster des Bildungserwerbs sind von den ersten Phasen der Bildungslaufbahn an sozial höchst unterschiedlich verteilt. Da Qualifikation und Arbeitsmarkt eng gekoppelt sind und die berufliche Erstplatzierung langfristige Konsequenzen für den weiteren Erwerbsverlauf hat, setzt sich die soziale Differenzierung von Lebensverlaufsmustern über den Lebensverlauf und zwischen verschiedenen Lebensbereichen fort. Daneben lassen sich zahlreiche Querverbindungen zwischen unterschiedlichem Bildungserwerb und anderen Lebensbereichen nachweisen. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass die Lebensalter, in denen Personen Übergänge in den Arbeitsmarkt vollziehen, systematisch mit sozialstrukturellen Merkmalen dieser Personen zusammenhängen; damit verbunden variieren häufig auch Ereignisse in anderen Lebensbereichen. In sozialstruktureller Hinsicht ist zu beachten, dass viele dieser Konsequenzen nicht nur eine einfache soziale
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Differenzierung darstellen, sondern eindeutig sozial bewertet sind. Die vielfältigen Verknüpfungen mit dem Bildungserwerb und untereinander machen es wahrscheinlich, dass Bildungsprozesse im Zentrum kumulativer lebensverlaufsbezogener Entwicklungen von sozialen Vorteilen und Nachteilen stehen.
4.2 Bildungsforschung und neue Anforderungen an das Bildungssystem Gleichwohl ist unser Wissen um diese Prozesse nach wie vor relativ beschränkt. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt im Fehlen großer, repräsentativer Längsschnittstudien. Bei geeigneter Anlage würden es diese unter anderem ermöglichen, die Muster der Bildungsbeteiligung im Lebensverlauf genau nachzuzeichnen, die individuelle Kompetenzentwicklung abzubilden und damit auch die Formation sozialer Ungleichheiten im Bildungsverlauf besser analysieren zu können. Ein derartiges Konzept (das sich etwa in der Idee eines nationalen ‚Bildungspanels‘ ausdrückt) ist allerdings relativ aufwändig. Angesichts der großen Bedeutung der familialen Sozialisation müsste eine solche Studie beispielsweise altersmäßig sehr früh in den Lebensverläufen einsetzen, zumindest deutlich vor der Einschulung. Hinzu kommt, dass inner- und international vergleichende Studien nötig sind, wenn es darum geht, die Besonderheiten der Lebensverläufe im Zusammenhang mit bestimmten Bildungssystemen bzw. innerhalb bestimmter Gesellschaften zu verstehen. Gleichwohl sind vor dem Hintergrund der geschilderten empirischen Tendenzen in den letzten Jahren wissenschaftliche und öffentliche Debatten um Defizite des Bildungssystems und notwendige Reformen in Deutschland wieder neu entbrannt. Auch in diesem Zusammenhang wird der Aspekt der Bedeutung von Bildung für den Lebensverlauf thematisiert, denn auch in der Öffentlichkeit wird zur Kenntnis genommen, dass Bildung wichtige lebensverlaufsbezogene Konsequenzen hat. Daraus wird die Folgerung abgeleitet, das Bildungssystem müsse sich diesen unmittelbar zuwenden. Eine lebensverlaufsbezogene Perspektive auf Bildung auch in der Praxis und der Öffentlichkeit ist an sich nicht neu. Die staatliche Bereitstellung und Regulierung von Bildung war von Beginn an nicht nur auf die Vermittlung spezifischer (arbeitsbezogener) Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern auch auf soziale Integration bzw. gesellschaftliche Disziplinierung gerichtet. Die neuerliche Betonung ‚sozialer Grundqualifikationen‘ zeigt sich heute in aktuellen Forderungen nach der Vermittlung von life skills, d.h. von Fähigkeiten zur langfristigen Planung und Gestaltung des eigenen Lebensverlaufs. Argumentiert wird dabei, dass Lebensentscheidungen auch außerhalb der Erwerbssphäre zunehmend komplex werden und Eigeninitiative erfordern. Daher sei es Aufgabe der Schule und anderer Bildungseinrichtungen, auch auf die individuelle Lebensverlaufsgestaltung vorzubereiten (etwa Vbw 2003). Die Umsetzung dieser Zielverschiebungen (beispielsweise die häufig geäußerte Forderung nach lebenslangem Lernen als Konsequenz aus einer ‚kürzeren Halbwertszeit des Wissens‘ oder der Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeit) würde indes mit anderen Organisationsformen des Bildungssystems einhergehen. Entsprechende Ideen zielen insbesondere auf eine andere Verteilung von Bildungsphasen im Lebensverlauf, welche sich gegenwärtig fast ausschließlich auf das erste Drittel des Lebens konzentrieren und mit einem spezifischen Profil der Bildungsinstitutionen korrespondieren. Die Agenda einer solchen ‚Lebenslaufpolitik‘ steht noch keineswegs fest, und Positionen in der laufenden Debatte sind eng mit unterschiedlichen normativen Positionen in den Bereichen der Bildungs-,
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Wirtschafts- und Sozialpolitik verbunden. Diese betreffen unter anderem die Eigenverantwortung des Individuums und den angestrebten Beitrags des Bildungssystems zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wobei hier auch viele empirische Fragen ungeklärt sind. In jedem Fall handelt es sich um eine überaus dynamische Thematik. In diesem Sinn wird auch die Bildungsforschung dem Lebensverlaufsaspekt in Zukunft eher ein noch größeres Gewicht einräumen.
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Bildung und Lebensverlauf – Bildung im Lebensverlauf
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Familie und Schule – eine Bestandsaufnahme der bildungssoziologischen Schuleffektforschung von James S. Coleman bis heute Familie und Schule
Hartmut Ditton
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Problemstellung
Familie und Schule sind die beiden Sozialisationsinstanzen von herausragender Bedeutung für die Entwicklung in der Kindheit und Jugend. Kinder und Jugendliche sind über eine lange Phase des Lebenslaufs zeitgleich in beiden Institutionen Mitglied, und es ist eine besondere Herausforderung für die Forschung, die Wechselwirkungen beider Bereiche zu analysieren. Bereits beim Eintritt in das Schulsystem bringen Kinder unterschiedliche kognitive, motivationale und soziale Fähigkeiten mit, die mehr oder weniger günstige Voraussetzungen für die Bewältigung schulischer Anforderungen darstellen. Der ökonomische, soziale und kulturelle Hintergrund der Herkunftsfamilie markiert jedoch nicht nur eine wichtige Startbedingung für das schulische Lernen, sondern bleibt im Verlauf der ganzen Schulzeit eine bedeutsame Größe, die Einfluss auf den schulischen Erfolg hat. Eine Beziehung zwischen Merkmalen der sozialen Herkunft und dem Schulerfolg ist international durchgängig nachweisbar, in Deutschland ist diese Beziehung jedoch besonders eng (Deutsches PISA-Konsortium 2001; PISA-Konsortium Deutschland 2004). Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen auch schon vor dem Schuleintritt als unterschiedlich hohe Quoten des Besuchs vorschulischer Einrichtungen, sie kommen in unterschiedlichen Anteilen vorzeitiger Einschulungen bzw. Rückstellungen vom Schulbesuch zum Ausdruck und bleiben über die weitere Bildungslaufbahn bestehen bzw. nehmen im Zeitverlauf in aller Regel noch deutlich zu. Soziale Unterschiede zeigen sich daher auch bei Klassenwiederholungen, der Wahl der Schullaufbahnen, den Auf- und Abstiegen während der Schulzeit und schließlich bezüglich der erreichten Schulabschlüsse (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags steht die Frage, wie die schulischen Wirkungen bezüglich des Erwerbs von Kompetenzen und Bildungstiteln im Verhältnis zu den Effekten der familialen, sozialen, kulturellen und ethnischen Herkunft der Schüler sowie des weiteren außerschulischen Umfelds einzuordnen sind. Werden durch Schule Eingangsunterschiede eher ausgeglichen, beibehalten oder noch weiter verstärkt? Was wirkt überhaupt in der Schule? Ist es das schulische System (seine Struktur, sein Aufbau), die einzelne Schule als ganze Einheit, die spezifische Gestaltung des Unterrichts durch die einzelne Lehrkraft? Welchen Stellenwert haben die Mitschüler, die leistungsmäßige, soziale und ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft? Ist die einzelne Schule überhaupt konstant effektiv in ihren Leistungen – über die unterschiedlichen Fächer und über die Zeit hinweg? Sind die
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Hartmut Ditton
Wirkungen von Schule für alle Schüler gleich – unabhängig von Geschlecht, sozialem Status, Nationalität oder Ethnie? Wie leicht zu sehen ist, muss von einem vielschichtigen Zusammenwirken zahlreicher Faktoren, die auf unterschiedlichen Aggregatebenen angesiedelt sind, ausgegangen werden. Schon von daher ist es kein Wunder, dass die Forschung keineswegs als abgeschlossen gelten kann und einfache Antworten auf die angeschnittenen Fragen kaum zu erwarten sind.
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Theoretische Ansätze
Im Bereich Schule und Familie gibt es sehr viel an Forschung, aber keine in sich geschlossene Theorie. Vielmehr kann man davon sprechen, dass einzelne Teilansätze vorliegen und teilweise auch sehr unterschiedliche Erklärungsmodelle verfolgt werden. Nachfolgend werden die zwei hauptsächlichen Theorierichtungen vorgestellt (Sozialisationsforschung und Schuleffektivitätsforschung), in deren Kontext sich die nachfolgend zu besprechenden Forschungsergebnisse einordnen lassen. Sozialisationsforschung (schulische und familiale Sozialisation) Die Hauptfragestellung der Sozialisationsforschung bezieht sich auf die Funktionen von Familie und Schule bei dem Erwerb von Kompetenzen (besonders schulische Leistungen) und Berechtigungen (schulische Abschlüsse, „Bildungstitel“). Ein wichtiger Aspekt bezüglich des Zusammenwirkens beider Sozialisationsinstanzen ist die Frage nach der Reproduktion von sozialer Ungleichheit. Den Ausgangspunkt bildet dabei die sogenannte Zirkelhypothese. Der These nach ist von einer Vererbung des sozialen Status der Herkunftsfamilie an die nachfolgende Generation auszugehen, wobei dies im Wesentlichen über den unterschiedlichen Erfolg der Kinder aus den verschiedenen sozialen Gruppen im schulischen System zustande kommt (Bertram 1981, 1982; Rolff 1997). Wie kann dieser Zirkel (sozialer Status der Herkunftsfamilie schulischer Erfolg erreichter sozialer Status) näher erklärt werden? Angehörige der höheren sozialen Gruppen haben zum einen den besseren Einblick in das schulische System, ihnen sind die Abläufe, Anforderungen, Erwartungen und Möglichkeiten im Schulsystem geläufiger. Zum anderen verfolgen sie anspruchsvollere Zielsetzungen, Bildung hat für sie einen höheren Stellenwert und ist für das Erreichen von Lebenszielen wichtiger. Um den sozialen Status in der nachfolgenden Generation zu halten, sind sie bereit, mehr in Bildung zu investieren. Sie sind außerdem besser dazu in der Lage als Angehörige unterer sozialer Gruppen, weil sie über die besseren Möglichkeiten bzw. größeren Ressourcen verfügen, um den Schulerfolg ihrer Kinder abzusichern (Unterstützung, bezahlte Nachhilfe, notfalls eine private Schule oder ein Internat). Da die oberen sozialen Gruppen über mehr ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital verfügen, haben sie somit bessere Möglichkeiten, in Bildung zu investieren (Bourdieu 1987; Bourdieu und Boltanski 1981; Bourdieu und Passeron 1971). Ihre günstige soziale Position erlaubt es ihnen auch eher, Risiken einzugehen, was besonders bei der Wahl einer Schullaufbahn und bei Entscheidungen über die Beendigung oder Fortsetzung einer Bildungslaufbahn zum Ausdruck kommt (Becker und Lauterbach 2004; Boudon 1974). Bei der Reproduktion von sozialer Ungleichheit über das schulische System sind zwei Effekte der sozialen Herkunft zu unterscheiden, ein primärer und ein sekundärer (Boudon 1974). Als primärer Effekt wird der Vermittlungsmechanismus über bessere schulische
Familie und Schule
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Leistungen der Kinder aus den höheren sozialen Gruppen bezeichnet, die sie aufgrund der vorteilhafteren Lebensbedingungen und des höheren familialen Anregungsgehalts in der Schule erreichen. Sekundäre Effekte kommen bei Entscheidungen über Bildungslaufbahnen zum Tragen und ergeben sich daraus, dass selbst bei gleichen schulischen Leistungen die erwarteten Kosten und Erträge, die bei der Wahl einer Laufbahn entstehen, in Abhängigkeit von der sozialen Position unterschiedlich sind. Da obere soziale Gruppen zum Erhalt ihrer Position höherwertige Bildungsabschlüsse verfolgen und die dabei entstehenden höheren Kosten leichter tragen können, fällt ihre Bilanz bei der Wahl anspruchsvollerer Bildungslaufbahnen günstiger aus als bei unteren sozialen Gruppen. Die Reproduktion von sozialer Ungleichheit im Bildungswesen geht natürlich nicht allein auf Bedingungen in der Familie zurück. Bessere Chancen für schulischen Erfolg der Kinder aus den höheren sozialen Gruppen sind ebenso durch die Institution Schule gegeben. Sehr häufig wird diesbezüglich von einer Mittelschichtorientierung der Schule gesprochen (Rolff 1997). Damit ist gemeint, dass die Erwartungen und Anforderungen in der Schule bezüglich der Verhaltensweisen, Umgangsformen, des nachzuweisenden Könnens und der Fähigkeiten eher dem Lebenskontext und den Gepflogenheiten bzw. dem Habitus der oberen sozialen Gruppen entsprechen. Kinder der oberen Statusgruppen sind sozusagen kompatibler mit dem, was in der Schule erwartet und honoriert wird. Ebenso spiegelt sich in den Wahrnehmungen und Urteilen von Lehrkräften über Schüler ein gewisser sozialer ‚bias‘ wider, etwa in der Einschätzung der Begabungen und des intellektuellen Potentials der Schüler. Bei der Notenvergabe und bei der Erteilung von Schulübertrittsempfehlungen bestehen ebenfalls gewisse Vorteile für Schüler der höheren sozialen Gruppen (Ditton 1992). Um eine Empfehlung für eine höhere Schulform zu erhalten, müssen Kinder aus unteren Schichten bessere Leistungen erbringen als Kinder aus oberen Schichten (Bos et al. 2003; Bos et al. 2004; Lehmann und Peek 1997). Diese Effekte sind weniger als eine gezielte Diskriminierung durch die Lehrkräfte zu interpretieren, sondern eher in der Struktur des schulischen Systems angelegt, weshalb auch von einer institutionellen Diskriminierung von Schülern aus bildungsferneren Milieus gesprochen wird (Gomolla und Radtke 2002). Insgesamt betrachtet spricht allerdings vieles dafür, dass den primären Effekten, d.h. den Vermittlungsmechanismen über schulische Leistungen, in der Reproduktionskette die größere Bedeutung zukommt (Ditton et al. 2005; Erikson et al. 2005; Nash 2003, 2006). Schuleffektivitätsforschung Die Schuleffektivitätsforschung geht von einem anderen Zugang aus und fragt primär nach den Unterschieden in der Wirksamkeit bei der Vermittlung von Kompetenzen im Vergleich einzelner Schulen (Teddlie und Reynolds 2000). Vorwiegend konzentriert sich diese Forschungsrichtung auf die Ermittlung von Faktoren, bezüglich derer sich effektive von weniger effektiven Schulen unterscheiden. Dabei handelt es sich oft um eine von der Intuition und Kreativität der Forscher geleitete induktive Suche nach bedeutsamen Faktoren, die Theorieentwicklung wurde dagegen bisher allenfalls bruchstückhaft verfolgt (Reynolds et al. 2002). In der Hauptsache orientiert sich die Schuleffektivitätsforschung an Systematisierungen relevanter Faktoren für schulische Wirksamkeit, die als Modelle zur Kennzeichnung guter Schulen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die Modelle differenzieren nahezu alle übereinstimmend nach Input-, Prozess- und Output-Faktoren (also nach den der Schule vorgegebenen Bedingungen), den Prozessabläufen in der Schule und den erreichten Ergebnissen. In den Untersuchungen wird vor allem die Wirksamkeit der schulischen Prozesse
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Hartmut Ditton
untersucht, vorrangig im Hinblick auf die fachlichen Leistungen der Schüler. Als bedeutsame Faktor können nach dem bisherigen Stand der Forschung die Schulkultur bzw. das Schulethos, die Kooperation im Kollegium und eine gute Koordination des Schulbetriebs sowie die Personalpolitik (Rekrutierung und Weiterbildung des Personals) angesehen werden. Auf der Unterrichtsebene sind die Qualität des Unterrichts, seine Angemessenheit (bzgl. Schwierigkeit, Anspruchsniveau und Tempo), der Anregungsgehalt und die Zeitnutzung als wichtigste Faktoren für Effektivität bzw. Qualität anzusehen (Ditton 2000; Scheerens und Bosker 1997). Die in diesem Kontext diskutierten Modelle geben zwar noch keine definitiven Erklärungen für empirisch ermittelte Beziehungen, sie lassen jedoch eine plausible Struktur erkennen und geben ein brauchbares Analyseraster für weitere empirische Untersuchungen ab. Auch in der international vergleichenden Forschung (TIMSS, PISA, PIRLS/IGLU) werden solche Modelle zugrunde gelegt (Martin et al. 1999; Mullis et al. 2003; OECD 2004, 2005). Als integrierender Rahmen für die in der Sozialisations- und Schuleffektivitätsforschung verfolgten Ansätze und Untersuchungen kann der sozialökologische Forschungsansatz von Urie Bronfenbrenner (1976, 1981) angesehen werden. Charakteristisch für das sozialökologische Forschungsverständnis sind Untersuchungen in natürlichen Umgebungen statt Untersuchungen unter Laborbedingungen und die Strukturierung des Untersuchungsbereiches in ein Mehrebenensystem (Vaskovics 1982; Bertram 1981). Der Untersuchungsgegenstand sind Entwicklungsverläufe von Personen (Individualebene), die im Rahmen von Interaktionen in unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Mikrosystemen stattfinden (Interaktions- und Institutionsebene) und in gesellschaftlich-soziale Rahmenbedingungen eingebettet sind (Kontext- bzw. Meso- und Makroebene).
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Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung1
Als Pionierarbeit zum Verhältnis von Familie und Schule ist eine großangelegte Untersuchung in den USA der 1960er Jahre anzusehen (ca. 600.000 Schüler aus 4.000 Schulen), die von James Samuel Coleman geleitet wurde (Coleman et al. 1966). Der so genannte „Coleman-Report“ wird oft zur Begründung einer skeptischen Haltung bezüglich dessen, was Schule bewirken kann, herangezogen. Den Hintergrund für die umfassende Erhebung bildete der Civil Rights Act von 1964, demzufolge eine Studie zu Chancenungleichheit (nach Rasse, Hautfarbe, Religion, nationaler Herkunft) durchzuführen war. Die Ausgangsüberlegung bestand darin, dass große Differenzen in der Finanzierung und Ausstattung zwischen „weißen“ und „schwarzen“ Schulen bestehen. Es wurde vermutet, dass diese Differenzen eine Hauptursache für Ungleichheiten in den erzielten Leistungen darstellen. Die von Coleman vorgelegten Ergebnisse führten zu heftigen Diskussionen, die bis heute nachwirken und bedeutsam sind. Sie lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen. Nach Coleman (1966) betrugen die Differenzen in den schulischen Leistungen zwischen Sekun1 Bei der Besprechung der Ergebnisse empirischer Studien zur Effektivität von Schule wird häufig auf Maße Bezug genommen, mit denen die Stärke der in den Untersuchungen ermittelten Effekte ausgedrückt wird. Zur Einschätzung der praktischen Bedeutsamkeit von Effekten wird dabei die Einteilung nach Cohen zugrunde gelegt (Cohen, 1977). Effektmaße für Unterschiede in Mittelwerten zwischen Vergleichsgruppen (Effektmaß: d) bzw. für Korrelationen (Effektmaß: r) werden entsprechend diesem Vorschlag als gering (d: 0.2; r: .10), mittel (d: 0.5; r: 0.25) bzw. groß (d: 0.8; r: .37) bezeichnet.
Familie und Schule
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darschulen ca. 10-14 Prozent. Nahezu die Hälfte dieser Differenzen gingen jedoch auf unterschiedliche Eingangsbedingungen der Schüler zurück, so dass als „bereinigte Effekte“ in etwa zwischen 5-9 Prozent an Unterschieden verblieben. Dabei waren die Ausstattungsunterschiede zwischen den Schulen weit kleiner als erwartet und sie erwiesen sich zur Erklärung der Unterschiede im Lernerfolg als nahezu bedeutungslos. So ließen sich etwa auf die Ausgaben pro Schüler weniger als ein Prozent der Varianz in den Leistungen zurückführen. Im Gegensatz dazu mussten die Merkmale der sozialen Herkunft der Schüler als höchst bedeutsam angesehen werden. Das betraf nicht nur den soziökonomischen Status der Herkunftsfamilie der Schüler, sondern auch die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule. In Schulen mit einem höheren Anteil von Schülern der oberen Statusgruppen erzielten die Schüler höhere Leistungen. Dieser Effekt zeigte sich besonders stark für Schüler aus bildungsferneren Gruppen, ihr Schulerfolg erwies sich als überdurchschnittlich stark von der sozialen Zusammensetzung der Schule beeinflusst. Insofern schien es weniger wichtig zu sein, zu welcher Schule mit welcher materiellen und personellen Ausstattung man geht, als vielmehr mit wem zusammen man zur Schule geht. Nicht selten wurden diese Ergebnisse so interpretiert, dass „die Familie“ eine bzw. sogar die entscheidende Größe für den Schulerfolg ist, wohingegen „der Schule“ kaum eine Bedeutung zukommt. So allgemein formuliert trifft dies jedoch nicht zu und gibt die Untersuchungsbefunde nur unzureichend wieder. Sicherlich brachten die Ergebnisse einige bis dahin festgefügte Vorstellungen nachhaltig ins Wanken, insbesondere die Erwartung, dass bessere und ausgeglichenere schulische Leistungen durch mehr Sachmittel und eine ausgeglichenere Verteilung der Mittel erreicht werden könnten. Ebenso wurde deutlich, dass der schulische Erfolg maßgeblich von außerschulischen Bedingungen – dem familialen Hintergrund der Schüler und den mitgebrachte Lernvoraussetzungen – abhängig ist. Eine nachhaltige Bestätigung für die besondere Bedeutung der Familie – und die dagegen nur begrenzte Wirksamkeit von Schule – lieferten etwas später auch die Untersuchungen von Jencks (1979, 1973). Wie seine Ergebnisse nahelegten „scheinen Kinder weit mehr von den häuslichen Vorgängen beeinflußt zu werden als von dem, was in der Schule passiert“ (Jencks et al. 1973: 275). Jencks bezweifelte zudem auch die Wirksamkeit schulischer Reformen, da Reformer vermutlich nur „sehr wenig Kontrolle über die Aspekte des Schullebens [haben], die sich auf die Kinder auswirken“ (ebd.). Da auch die Folgestudie zu dem Ergebnis führte, dass die bisherige Forschung den Familieneinfluss eher unterschätzt habe, bekräftigte Jencks nochmals seine Einschätzung, dass von Bildungsreformen nur bescheidene Wirkungen hinsichtlich des Abbaus von Ungleichheit in einer Gesellschaft zu erwarten sind (Jencks et al. 1979). Ganz so skeptisch liest sich indessen der Coleman-Report nicht. Coleman fand auch Hinweise darauf, dass sich die eingangs bestehenden Nachteile von Kindern aus bildungsfernen Gruppen im Verlauf der Schulzeit vergrößern und vermutete, dass in diesem Zusammenhang nicht nur Effekte der Zusammensetzung einer Schule, sondern auch die schulischen Prozessabläufe von Bedeutung sind. Daran schließen weitere prominente Studien von Coleman aus den 1980er Jahren an. In einer ersten Analyse ermittelten Coleman, Hoffer und Kilgore (1982) mit Daten der Studie „High School and Beyond“ für Schüler mit gleichem sozialen Hintergrund einen Leistungsvorteil an privaten Schulen im Vergleich zu Schülern an öffentlichen Schulen. Dieser Befund ließ sich durch Coleman und Hoffer (1987) bestätigen. Auch unter Kontrolle der Vortestleistungen erzielten Schüler mit gleichem sozialem Hintergrund an privaten Schulen bessere Leistungsergebnisse als an öffent-
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lichen Schulen. Wiederum stellte sich heraus, dass die schulischen Effekte für Kinder von Minderheiten und aus sozial schwachen bzw. bildungsfernen Schichten größer waren als für die privilegiertere Schülerklientel. Über die Ergebnisse dieser Studien ergaben sich heftige Debatten, die bis heute kaum etwas an ihrer grundsätzlichen Bedeutung verloren haben. Dabei ging es vor allem darum, wie zuverlässig die gefundenen Effekte sind und wie sie genauer erklärt werden können. Für Coleman lag in erster Linie eine Erklärung durch die Unterschiede im sozialen Kapital der Schulen nahe. Gemeint ist damit, dass Schüler von entwicklungsförderlichen Merkmalen der Gemeinschaft, in der sie heranwachsen, profitieren. Dabei handelt es sich um ein System von Werten und Normen, das durch gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung sowie einen Gemeinschaftssinn ebenso gekennzeichnet ist wie durch stabile und verlässliche Netzwerke von Beziehungen. Dieses soziale Kapital schien an privaten Schulen eher zu finden sein als an den öffentlichen Schulen. Eine Rolle könnte in diesem Zusammenhang aber ebenso die Gestaltung des Schulund Unterrichtsbetriebs selbst spielen (spezifische Formen der Förderung und Unterstützung, ein günstiger gestalteter Lernkontext, Unterschiede in Lehrplänen oder Stundentafeln, unterschiedliche Qualität des Unterrichts). Bevor auf aktuelle Forschungsergebnisse dazu eingegangen wird, ist als ein erstes Zwischenfazit festzuhalten, dass die simple Vorstellung, schulische Effektivität sei im Wesentlichen von materiellen Bedingungen abhängig, wenig tragfähig ist. Verabschieden sollte man sich ebenfalls von der Phantasie, Schule könnte allein auf sich gestellt – unabhängig von gesellschaftlich-sozialen Rahmenbedingungen – beliebig erfolgreich sein. Schulen scheinen nur innerhalb gewisser Grenzen wirksam zu sein und die familiale Herkunft der Schüler sowie die Schulzusammensetzung sind relevante Faktoren für den schulischen Erfolg. Zu einer damit vereinbaren Einschätzung führen auch Befunde aus Untersuchungen zur Wirksamkeit kompensatorischer Programme (Scheerens und Bosker 1997). Auf Ausgleich angelegte vorschulische und schulische Maßnahmen zeigen oftmals nur enttäuschend geringe Effekte, bzw. Effekte, die nach der Beendigung der Programme nicht länger anhalten. Überdies scheinen die Programme teilweise eher denen zu helfen, die am wenigsten benachteiligt sind (Jencks et al. 1973). Erfolgreich scheinen gezielte und gut strukturierte Maßnahmen zu sein, die über einen längeren Zeitraum stattfinden. Ebenso scheint bedeutsam zu sein, dass die Maßnahmen in Kooperation mit der Familie bzw. eingebettet in das soziale Umfeld geplant und möglichst auch umgesetzt werden (Bronfenbrenner 1974). Unabhängig vom sozialen Umfeld oder gar dagegen gerichtet, sind positive Wirkungen nicht zu erreichen. Der Hinweis auf die begrenzte Wirksamkeit von Schule sollte nicht im Sinne einer Bedeutungslosigkeit von Schule oder einer möglichen Beliebigkeit in der Schulgestaltung missverstanden werden. Im Widerspruch dazu würde schon die Alltagserfahrung stehen, dass Schulen – auch Schulen einer Schulart – sich sehr erheblich voneinander unterscheiden können. Nicht zu vergessen ist zudem, dass gerade für schwächere und benachteiligte Schüler Schulunterschiede besonders bedeutsam zu sein scheinen. Dies ist insofern auch einleuchtend, als gerade diese Gruppen weniger Möglichkeiten haben, schulische Defizite durch außerschulische Bemühungen zu kompensieren. In dieser Richtung sind auch die Ergebnisse der Untersuchungen von Entwisle und Alexander (1992, 1994) zu interpretieren. Sie untersuchten den Verlauf der Leistungsentwicklung während der Schulzeit und über die Schulferien und ermittelten parallele Verläufe für die sozialen Gruppen während der Schulzeit, dem eine Auseinanderentwicklung in der schulfreien Zeit folgte. Schüler der
Familie und Schule
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oberen sozialen Gruppen konnten den Leistungsstand über die Ferien halten bzw. sogar verbessern, während Schüler der unteren Gruppen zurückfielen. Auch bezüglich der Begrenzung sozialer Disparitäten ist Schule also keineswegs ohne Bedeutung. Die Schuleffektivitätsforschung ist in Teilen auch als Reaktion auf die insgesamt nicht allzu optimistisch stimmenden Befunde von Coleman und Jencks zu verstehen (Mortimore et al. 1988; Rutter 1983; Rutter et al. 1979; Teddlie und Stringfield 1993). Die Grundannahme der Schuleffektivitätsforschung besteht darin, dass der Schule selbst bzw. der Gestaltung von Schule durchaus eine erhebliche Bedeutung für den Lernerfolg zukommt. Nach den bisherigen Ausführungen erscheint diese Einschätzung möglicherweise als zu euphorisch und es ist zu fragen, wie sie sich begründen lässt. (1) Auf die eher geringe Bedeutsamkeit von Schule wird in aller Regel aufgrund der vergleichsweise geringen Anteile an Varianz in den Kriteriumsvariablen geschlossen, die durch schulische Faktoren aufgeklärt werden können. Der Anteil an aufgeklärter Varianz ist jedoch nicht immer ein ausreichender oder der bestmögliche Indikator zur Bewertung der Bedeutsamkeit von Effekten (Ditton 1990). Eine besonders gute schulische Förderung oder auch Benachteiligung eines geringen Anteils der Schüler würde sich z.B. aufgrund der geringen Fallzahlen gar nicht in hohen Varianzanteilen niederschlagen. Trotzdem können diese Effekte gesellschaftlich hoch relevant sein. Effekt oder Effektivität sind insofern auch keine wertneutralen, sondern von Zielsetzungen und Bewertungsmaßstäben abhängige Begriffe. Das betrifft nicht nur die Bewertung von Effektgrößen, sondern auch die Auswahl der Zielvariablen. Differenzen zwischen Schulen finden sich nicht nur bezüglich schulischer Leistungen, sondern auch bezüglich schulischer Einstellungen, Haltungen der Schüler usw. Diesbezüglich bestehen oft sogar weit größere Differenzen zwischen Schulen als bzgl. der fachlichen Leistungen (Ditton und Krecker 1995). Sicherlich sind fachliche Leistungen ein primär zu beachtendes Kriterium für den Erfolg und die Effektivität von Schule. Außerdem hat Schule aber auch soziale und kommunikative Kompetenzen sowie Einstellungen und demokratische Werthaltungen zu vermitteln. Es ist also nicht wirklich befriedigend, die Effektivität von Schule nur an Anteilen aufgeklärter Varianz in fachlichen Leistungen (oder dem später erzielten Berufsstatus bzw. Einkommen) festzumachen. (2) Zur Einschätzung der Wirksamkeit von Schule (und Familie) kommt der Methode der Kontrolle der Eingangsvoraussetzungen der Schüler im Vergleich zwischen den Schulen eine entscheidende Bedeutung zu. Die Kontrolle der Inputvariablen hat Einfluss darauf, welche Anteile an Effekten der Schule und welche Anteile anderen Einflussfaktoren zugerechnet werden. In der Bildungsforschung hat sich dazu die Unterscheidung zwischen dem so genannten „Typ-A-Effekt“ und dem „Typ-B-Effekt“ durchgesetzt. Der Typ-A-Effekt bezeichnet die Differenz zwischen der aktuellen Leistung eines Schülers und der Leistung, die der Schüler in einer typischen Schule erzielt hätte. Bei diesem Effekttyp wird nicht danach unterschieden, ob diese Differenz durch die besonderen Leistungen der Schule oder durch andere Bedingungen (z.B. günstigere Ausgangs- oder Rahmenbedingungen) zustande kommt. Es handelt sich sozusagen um den Roheffekt von Schule, der nicht nach Merkmalen der Schülerschaft oder anderen der Schule vorgegebenen Bedingungen korrigiert ist. Der Typ-B-Effekt bezeichnet dagegen die Differenz zwischen der Leistung eines Schülers in der aktuellen Schule und der Leistung, die der Schüler erzielt hätte, wenn er eine Schule mit identischem Kontext (also: gleichen Bedingungen) aber mittlerer Effektivität besucht hätte. Der Effekt bezieht sich auf die Wirkungen, die sich aus dem eigentlichen Beitrag der Schule ergeben. Der Typ-B-Effekt drückt sozusagen den eigentlichen, um andere Effekte
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Hartmut Ditton
bereinigten Beitrag der Schule zum Lernerfolg aus. Am zuverlässigsten ist der Typ-BEffekt durch so genannte value-added-Messungen zu erfassen, bei denen im Längsschnitt die Veränderungen der Schülerleistungen (oder anderer Kriteriumsvariablen) in Beziehung zu den schulischen Lernprozessen untersucht werden. (3) Empirische Untersuchungen werden fast ausschließlich in einem Land mit den dort vorhandenen Schulen durchgeführt. Damit wird naturgemäß nur die eingeschränkte Varianz der Kriteriumsvariablen innerhalb eines gesellschaftlich und kulturell einheitlichen (Regel-) Schulsystems ermittelt. Erfasst wird sozusagen nur der Ist-Stand und nicht das, was Schule prinzipiell leisten könnte. Aufschluss über das eigentliche Potential von Schule wäre dagegen eher mit gezielt kontrastierenden Untersuchungen zu gewinnen, etwa bei Vergleichen zwischen Regel- und Versuchsschulen, in denen substantielle Reformprogramme auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden könnten. Eine erweiterte Vergleichsperspektive ergibt sich auch in international vergleichenden Untersuchungen, die über den Tellerrand eines spezifischen schulischen Systems hinauszuschauen erlauben. Vor allem die internationalen IEA-Studien (TIMSS, PIRLS/IGLU) und die PISA-Studien der OECD haben seit Mitte der 1990er Jahre erheblich dazu beigetragen, dass heute die Möglichkeiten von Schule unter einer umfassenderen Perspektive betrachtet werden können als zuvor. Auch aus der Schuleffektivitätsforschung liegt inzwischen eine große Zahl an empirischen Untersuchungen aus unterschiedlichen Ländern vor, hauptsächlich aus dem angloamerikanischen Raum und aus den Niederlanden. Eine erste übergreifende und zusammenfassende Einschätzung zu Schuleffekten erlaubt eine Metaanalyse von Scheerens und Bosker (1997), in der die Ergebnisse aus 168 Studien berücksichtigt sind. Die Autoren unterscheiden in ihrer Metaanalyse nach den zuvor genannten Brutto- (Typ A) und NettoEffekten (Typ B). Die Ergebnisse zeigen, dass die in den Studien ermittelten Effektgrößen äußerst unterschiedlich ausfallen. Im Einzelnen ermitteln Scheerens und Bosker (1997) die folgenden Effektgrößen: Für die Brutto-Effekte ergibt sich ein mittleres Effektmaß von d = 0.4780 und ein Vertrauensintervall, das von 0.0870 bis 0.8730 reicht. Die Effekte variieren damit zwischen den Studien sehr stark zwischen „kaum“ bis „sehr“ bedeutsam. Größere Effekte ergeben sich für die Sekundarstufe im Vergleich zu Primarstufe und bei Studien, in denen lehrplannähere Leistungsmessungen verwendet worden sind. Für die Netto-Effekte beträgt das mittlere Effektmaß 0.3034, und das Vertrauensintervall reicht von 0.0449 bis 0.5619. Auch diese Spanne ist groß und variiert zwischen „nahezu bedeutungslos“ bis „von mittlerer Bedeutung“. Wiederum sind die Effekte für lehrplannähere Kriteriumsvariablen größer. Die Ergebnisse lassen sich auch so darstellen, dass die Unterschiede zwischen den Schulen in etwa 19% (brutto) bzw. 8% (netto) der Varianz aufklären. Damit liegen die Effektgrößen in etwa in dem Bereich, wie er schon im Coleman-Report berichtet wurde. Nun erlauben Metaanalysen zwar eine Systematisierung und Übersicht der Ergebnisse aus unterschiedlichen empirischen Untersuchungen. Zusammengefasst werden hierbei jedoch Untersuchungsergebnisse, die mit unterschiedlich aussagekräftigen Designs, Stichproben und Erhebungsinstrumenten gewonnen wurden und daher nicht immer wirklich gut vergleichbar sind. Wie sehen die Ergebnisse aus, wenn schulische Systeme auf der Basis eines einheitlichen Designs und einer vergleichbaren Datenbasis betrachtet werden, wie es in PISA möglich ist?2
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Für PIRLS/IGLU liegen vergleichbar differenzierte Analysen unseres Wissens bislang nicht vor.
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Der Vergleich zwischen den Ländern in PISA zeigt, dass die Anteile an Varianz zwischen den einzelnen Schulen in den Teilnehmerländern sehr unterschiedlich sind. Bezüglich der Lesekompetenz sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen in Finnland, Island, Norwegen und Schweden gering, die Varianzanteile betragen hier 10 Prozent oder weniger (OECD, 2005). In anderen Ländern sind die Anteile an Varianz zwischen den Schulen mit Werten von 50 Prozent und mehr sehr groß. Außergewöhnlich große Differenzen zwischen den Schulen – wie z.B. in Deutschland mit einem Varianzanteil von ca. 70 Prozent – sind häufig zu einem großen Teil auf Unterschiede zwischen Schulen verschiedener Schulformen zurückzuführen (in Deutschland: Hauptschule, Realschulen, Gymnasien, Integrierte Schulformen). Länder, denen es gelingt, ein hohes Leistungsniveau bei gleichzeitig geringen Unterschieden zwischen den einzelnen Schulen zu realisieren, sind Finnland, Schweden, Island und Kanada. Ein unterdurchschnittliches Leistungsniveau bei einer gleichzeitig großen Streuung zwischen den Schulen findet sich in Deutschland, Ungarn, Polen, Griechenland und Österreich. Für PISA liegen inzwischen Analysen vor, in denen nach den oben genannten Bruttound Nettoeffekten unterschieden wird (OECD 2005). Als Prädiktoren der Leseleistungen wurden drei Gruppen von Faktoren überprüft, nämlich (1) die Schülervoraussetzungen, (2) der schulische Kontext (die soziale Zusammensetzung der Schulen) und (3) die schulischen Praktiken, das Schulklima und die schulischen Ressourcen. In allen Analysen zeigt sich, dass den Variablen der ersten Gruppe, also den individuellen Schülervoraussetzungen, die mit Abstand größte Bedeutung zukommt. Die Kontextbedingungen erweisen sich ebenfalls als wichtig bis sehr wichtig. Die Länder, in denen ohnehin nur sehr geringe Schulunterschiede bestehen, bilden hierbei eine Ausnahme, d.h.: die Kontexteffekte sind in Finnland, Island, Korea und Dänemark nicht signifikant. Große Kontexteffekte ergeben sich dagegen in Ungarn, Polen, Österreich, Belgien und Deutschland. Die eigentlichen schulspezifischen Wirkungen, d.h. die Effekte der Faktoren aus der dritten Gruppe, die von den einzelnen Schulen tatsächlich gestaltbar sind, sind im Vergleich zu den Kontexteffekten deutlich geringer. Auch absolut betrachtet sind die schulspezifischen Effekte nur gering. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass sich die Effekte der Kontextmerkmale und der schulspezifischen Faktoren nicht eindeutig trennen lassen, da sie in einer engen Beziehung zueinander stehen und der gemeinsame Anteil an aufgeklärter Varianz erheblich ist. Es ist also davon auszugehen, dass eine Kopplung von vorteilhafter Zusammensetzung und günstigen Faktoren der Gestaltung von Schule besteht (OECD 2005: 40). Schätzungen des jeweils eigenständigen Beitrags der einzelnen Faktoren ergeben, dass die feststellbaren Effekte der schulischen Faktoren in ihrer Bedeutung stark zurückgehen, wenn die Kontextfaktoren kontrolliert sind. Über die Kontextwirkungen hinausgehende Effekte der Gestaltung von Schule bleiben jedoch für einzelne Faktoren bestehen (Zugehörigkeitsgefühl zur Schule; disziplinäres Klima; Schulklima). So erklärt etwa das Schulklima über die Kontextfaktoren hinaus ca. 6 Prozent an Varianz in den Leseleistungen. Möglicherweise wird dieser Effekt durch die Konfundierung der Faktoren etwas unterschätzt. Dennoch ist dem Fazit des OECD-Berichts zuzustimmen, dass die Kontextfaktoren nach den individuellen Faktoren den mit Abstand größten Einfluss auf die Leseleistungen haben. Für die Leistungen in Mathematik liegen aus PISA 2003 Ergebnisse vor, die sich stark auf die Einflüsse von Merkmalen der sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen im internationalen Vergleich konzentrieren (OECD, 2004). Im OECD-Mittel werden durch den höchsten beruflichen Status in der Herkunftsfamilie der Schüler 11,7 Prozent der Varianz in
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den Mathematikleistungen erklärt. Im Ländervergleich bestehen diesbezüglich sehr erhebliche Unterschiede. In Deutschland liegt der Herkunftseffekt mit 15,5 Prozent deutlich über dem Mittel, in anderen Ländern ist er nur halb so groß (Kanada: 7,5%; Finnland: 7,2%). Schüler aus Familien des unteren und oberen Quartils der sozialen Hierarchie liegen in Finnland und Kanada um ca. 61 Punkte im Mathematiktest auseinander, in Deutschland beträgt diese Differenz mehr als 102 Testpunkte. Entsprechend fallen die Ergebnisse bei einer Differenzierung nach dem höchsten Bildungsstatus der Herkunftsfamilien (Bildungsabschlüsse der Mütter der Schüler) aus. Zusammengenommen erklären Merkmale der sozialen Herkunft (Beruf, Bildung, Kultur, Ein-Elternteil-Familien, Migrationsstatus, Muttersprache) im OECD-Mittel 17 Prozent der Varianz der Schülerleistungen auf der Individualebene. Der Einfluss der Herkunftsmerkmale ist dabei wiederum in Kanada und Finnland gering (ca. 10%), in Deutschland ist er überdurchschnittlich groß (21%). Die Analysen aus PISA 2003 zur Bedeutsamkeit der Kontext- und schulspezifischen Faktoren führen zu dem Ergebnis, dass 46 Prozent der Leistungsunterschiede zwischen den Schulen durch sozioökonomische Faktoren, 5 Prozent durch schulspezifische Faktoren und 22 Prozent durch den kombinierten Effekt beider Gruppen von Variablen erklärbar sind (OECD 2004: 256). Genauer betrachtet ergibt sich, dass Schülermerkmale allein 7,5 Prozent an Varianz zwischen den Schülern, 33 Prozent an Varianz zwischen den Ländern und 32 Prozent zwischen den Schulen erklären. Unter Einbeziehung eines Index zum sozioökonomischen Status der Schule erhöht sich der Anteil aufgeklärter Varianz auf der Länderebene auf 44 Prozent und auf der Schulebene auf 63,6 Prozent. Werden zudem Schulmerkmale einbezogen, steigen die Varianzanteile weiter an, und zwar auf 53, 6 Prozent zwischen den Ländern und 71,4 Prozent zwischen den Schulen. Eine Berechnung der erreichten Testwerte zeigt, dass die Kontext- und schulspezifischen Faktoren zu einer Leistungsdifferenz von etwa 63 Punkten führen. Davon sind etwa 10 Punkte eindeutig den Schulmerkmalen zurechenbar. Die restlichen 53 Punkte gehen eher auf die sozioökonomischen Bedingungen, zum Teil aber auch auf schulspezifische Merkmale zurück. Zusammenfassend heißt es daher in dem Bericht: „Alles in allem gehen von den verschiedenen schulspezifischen Faktoren bedeutsame, wenn auch nicht allzu überragend große Effekte aus, die aber die von einem sozioökonomischen Vorteil ausgehenden Effekte verstärken können“ (OECD 2004: 296). Mehrfach untersucht wurde inzwischen auch, ob strukturelle Merkmale des Schulsystems in Beziehung zu den erzielten schulischen Leistungen und der Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg stehen. Betrachtet wurde insbesondere, ob in einem System früh, spät, oder gar nicht selektiert wird, d.h.: nach Leistungsgruppen getrennt. Die Analysen hierzu zeigen, dass in den nicht-selektiven Ländern die Leseleistungen höher sind (OECD 2005: 57f.). Außerdem nehmen die erzielten Leistungen mit zunehmender Varianz der Herkunftsmerkmale zwischen den Schulen ab. Je unterschiedlicher in ihrer sozialen Zusammensetzung die Schulen sind, umso niedriger ist also das Leistungsniveau. Tendenziell trifft das auch für eine Zunahme der Streuung in den Leseleistungen zwischen den Schulen zu. Der Anteil an Varianz zwischen den Schulen in den Leseleistungen steht in einer engen Beziehung mit der Systemstruktur: In den Systemen ohne Selektion beträgt der Varianzanteil zwischen den Schulen im Mittel 17 Prozent, in den Systemen mit später Selektion ca. 45 Prozent und in den früh selektierenden Systemen ca. 55 Prozent. Die Varianz bezüglich des sozialen Status ist ebenfalls zwischen den Schulen in nicht selektiven Systemen geringer (19 Prozent) als in früh selektierenden (28 Prozent). Die Anteile an Varianz
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zwischen den Schulen in den Leseleistungen und in den Herkunftsmerkmalen korrelieren ebenfalls sehr erheblich (r= .80). Über alle Schüler hinweg betrachtet sind die Standardabweichungen im Lesen in den nicht selektiven Ländern jedoch nicht geringer als in den später oder früh differenzierenden. Eine an Systemstrukturen gekoppelte Homogenisierung der Schülerleistungen insgesamt ist somit also nicht festzustellen. Dagegen sind die im Lesen erzielten Leistungen in den Ländern ohne Selektion weniger an Merkmale der sozialen Herkunft gekoppelt. Es zeichnet sich damit ab, dass in Systemen mit einer stark ausgeprägten und frühen Differenzierung und großen Unterschieden zwischen den einzelnen Schulen eher schlechtere Ergebnisse und eine bedeutsam engere Koppelung der schulischen Leistungen an Merkmale der sozialen Herkunft zu erwarten sind. Allerdings konnte die Beziehung zwischen den Differenzierungsmustern des schulischen Systems und der Höhe der erreichten Leistungen in PISA 2003 für Mathematik nicht bestätigt werden. Replizierbar war dagegen der Befund, dass eine frühe Selektion stark mit Unterschieden zwischen Schulen und mit sozialen Ungleichgewichten in Zusammenhang steht (Hanushek und Woessmann 2005; OECD 2004: 297f.). Die in PISA ermittelte Bedeutung der Schulzusammensetzung für den Lernerfolg ist auch durch andere Studien belegt (vgl. Thrupp 1995; Thrupp et al. 2002). Für Deutschland liegen bislang allerdings erst wenige Befunde vor. Mit dem erweiterten Datensatz aus PISA-E (2000) hat Schümer (2004) in einem Mehrebenendesign überprüft, ob mit der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Schulen Effekte auf die Leseleistungen verbunden sind. Die Untersuchungsfrage zielte darauf ab zu ermitteln, ob und ggf. wieweit von einer doppelten Benachteiligung sozial schwächerer Schüler im deutschen Schulsystem ausgegangen werden muss. Die wichtigsten Befunde der Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: In den neuen Ländern sind die Effekte der Zusammensetzung deutlich geringer als in den alten Ländern. Dies geht erheblich darauf zurück, dass sich die Schulen in den neuen Ländern in ihrer sozialen Zusammensetzung nicht so stark voneinander unterscheiden wie es in den alten Ländern der Fall ist. Bei einer Differenzierung nach der Schulform sind für die Gymnasien keine Kompositionseffekte nachweisbar, für die Schulen mit mehreren Bildungsgängen sind sie gering. Dagegen finden sich in den Hauptschulen, Realschulen und (Integrierten) Gesamtschulen signifikante und praktisch bedeutsame Einflüsse der sozialen Zusammensetzung auf die Leseleistung. Wie erwartet wurde, ergeben sich mit steigenden Anteilen an Schülern aus bildungsfernen Milieus schlechtere Ergebnisse im Lesen. Dabei verringern sich die Effekte eines hohen Anteils an Schülern, die zu Hause nicht deutsch sprechen, sehr erheblich bzw. verschwinden ganz, wenn die kognitiven Fähigkeiten und der soziale Status kontrolliert sind (Schümer 2004: 94ff.; vgl. auch Dar und Resh 1986). Gleichfalls mit dem erweiterten Datensatz aus PISA 2000 untersuchen Baumert, Stanat und Watermann (2006b) die kumulative Privilegierung oder Benachteiligung, die sich aus der Leistungsdifferenzierung nach Schulformen in Deutschland ergibt. Eine Privilegierung bzw. Benachteiligung könnte durch unterschiedliche Mechanismen zustande kommen. Erstens könnten differentielle Lernraten vorliegen. Die Annahme unterschiedlicher Lernfortschritte ist aufgrund der Differenzen im Vorwissen der Schüler unmittelbar plausibel. Die Autoren sprechen diesbezüglich von einem individuellen Matthäuseffekt. Zweitens sind institutionelle Unterschiede, wie sie in unterschiedlichen Stundentafeln, Lehrplänen und Unterrichtskulturen zum Ausdruck kommen, wahrscheinlich. Drittens können Kompositionseffekte vorliegen, die auf die leistungsmäßige, soziale, kulturelle und lernbiographi-
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sche Zusammensetzung der Schülerschaft zurückgehen. Es würde sich dann um einen institutionellen Matthäuseffekt handeln.3 Was sind kurzgefasst die wichtigsten Ergebnisse der Analysen? Als in allererster Linie bedeutsam für den Schulerfolg erweist sich das Leistungs- und Fähigkeitsniveau der Schüler an einer Schule. Die soziale Zusammensetzung der Schulen hat einen darüber hinaus gehenden spezifischen Einfluss. Die Konfundierung der einzelnen Merkmale (sozial, kulturell-ethnisch, fähigkeitsbezogen und schulartspezifisch) erweist sich als sehr erheblich. Insofern ist es das Zusammenspiel von Fähigkeitsniveau, Schulform und sozialer Herkunft, das für den Löwenanteil der Varianz zwischen den Schulen verantwortlich ist.4 Die Bedeutung von Kompositionsmerkmalen ist in Deutschland von Schulform zu Schulform höchst unterschiedlich. Der Lernerfolg am Gymnasium ist davon praktisch nicht beeinflusst, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Schülerzusammensetzung an den Gymnasien im Gesamtvergleich ausgesprochen günstig ist. Die Problemlagen konzentrieren sich besonders auf die Hauptschulen, zum Teil aber auch die Realschulen, in denen sich Schüler aus bildungsfernen Schichten, Repetenten, Schüler mit niedrigem Fähigkeits- und Leistungsniveau sowie Schüler aus belasteten Familienverhältnissen konzentrieren. In etwa 10 bis 16 Prozent der Haupt- und Realschulen sind von ihrer Schülerzusammensetzung her als belastet zu bezeichnen. Die Häufung belasteter Schulen betrifft nur den Westteil Deutschlands und zeigt sich in starken Maße dort, wo von einer Überdifferenzierung der schulischen Angebote gesprochen werden kann. Dies ist bei einem in einer Region etablierten „viergliedrigen System“ der Fall, in dem Hauptschule, Realschule, Gesamtschule und Gymnasium in Konkurrenz untereinander stehen. Im Ostteil Deutschlands, mit einem überwiegend zweigliedrigen Schulsystem, finden sich diese Häufungen von Problemkonstellationen nicht. Bei diesen Schul- bzw. Schulstruktureffekten handelt es sich um nicht bedachte und unerwünschte Nebenwirkungen einer Differenzierungspraxis, die ihre Intention, durch eine Homogenisierung nach Leistungsgruppen verbesserte Lernbedingungen zu schaffen, grundlegend verfehlt. Als Folge einer Differenzierung in zu viele Schulformen entstehen auf der einen Seite privilegierte (gymnasiale) und auf der anderen Seite deprivierte Lernkontexte (an Haupt-, Real- und Gesamtschulen), in denen der Lernerfolg eines Schülers maßgeblich von diesen Kontextbedingungen beeinflusst wird. Baumert und Koautoren weisen damit sowohl institutionelle als auch kompositionelle Effekte in einem erheblichem Umfang nach und folgern, dass „die Beantwortung der Frage, in welchem Umfang Problemkonstellationen an Schulen auftreten und worauf sie zurückzuführen sind, dringlich ist“ (Baumert et al. 2006b: 174f.). Für die Primarstufe liegen Ergebnisse zu Kompositionseffekten aus einer repräsentativen Erhebung für die zweite Jahrgangsstufe in Berlin und Brandenburg im Schuljahr 2003/2004 vor (Ditton und Krüsken 2006). Analysiert wurden die Leistungen in Deutsch (Leseverständnis, Lesegeschwindigkeit) und Mathematik in Abhängigkeit von der sozialen Zusammensetzung der Schulklassen nach der Muttersprache der Schüler, ihrem sozialen 3
Die genannten Effekte voneinander zu isolieren bzw. in ihrem Zusammenwirken zu beschreiben ist alles andere als einfach. Zudem liefert PISA als Querschnitterhebung keine idealen Voraussetzungen dafür, insbesondere was die Ermittlung von Lernraten bzw. Lernzuwachs betrifft. In Ermangelung eines Tests für das Vorwissen der Schüler (Wissensstand beim Eintritt in die einzelnen Schulformen) kontrollieren die Autoren in den Analysen die kognitiven Grundfähigkeiten der Schüler. Auch wenn das nicht optimal ist, können die Autoren zeigen, dass damit eine gute Annäherung erreicht wird. 4 Der Residualanteil beträgt bei einer Intraklassenkorrelation von 0.21 unter Kontrolle der individuellen Selektionsmerkmale ca. 20 Prozent.
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Status und Bildungsstatus sowie dem Buchbesitz als Indikator für kulturelles Kapital. Der Vergleich beider Länder zeigt nur geringe Unterschiede im mittleren Leistungsniveau sowohl in Lesen als auch in Mathematik. Ansonsten sind die Länderunterschiede jedoch sehr erheblich. Schon der Anteil von Schülern mit nichtdeutscher Muttersprache ist äußerst unterschiedlich, er beträgt in Berlin 34 Prozent gegenüber nur 4 Prozent in Brandenburg. Außerdem sind durchgängig die Unterschiede zwischen den Schulklassen in Berlin stärker ausgeprägt als in Brandenburg. In Berlin unterscheiden sich die Schulklassen bezüglich ihrer sozialen Zusammensetzung sehr viel mehr voneinander (32 bis 43% Varianz zwischen den Schulklassen) als in Brandenburg (16 bis 18%). Die Varianz im Leseverständnis geht in Berlin zu 9 Prozent auf Unterschiede zwischen den Schulbezirken und zu 19 Prozent auf Unterschiede zwischen den Schulklassen in den Bezirken zurück. Die Bezirksunterschiede verschwinden nach Kontrolle der sozialen Zusammensetzung der Schulklassen jedoch vollständig. In Brandenburg ergeben sich dagegen keine Unterschied zwischen den Bezirken, aber die Anteile an Varianz zwischen den Schulklassen betragen 13 Prozent. Die Varianz zwischen den Schulklassen ist in Berlin wesentlich besser durch die Merkmale der sozialen Herkunft erklärbar, als es in Brandenburg der Fall ist. Durch das Individualmerkmal Muttersprache lassen sich in Berlin ca. 29 Prozent der Varianz aufklären und durch den Anteil der Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache in der Klasse in etwa weitere 8 Prozent. Der Bildungsstatus klärt in Berlin als Individualmerkmal ca. 18 Prozent und als gemitteltes Schulklassenmerkmal in etwa zusätzliche 8 Prozent der Varianz zwischen den Schulklassen auf. Die Effekte des Bildungsstatus sind in Brandenburg nahezu identisch wie in Berlin (Individualmerkmal: 17%, Schulklassenmerkmal: 8%), eigenständige Effekte des Faktors Muttersprache finden sich dagegen weder für das Individualmerkmal noch für den Anteil der Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache in der Klasse. Im Überblick ergibt sich damit auch für die Primarstufe, dass eine hohe Konzentration von Schülern aus bildungsferneren Milieus bzw. mit ungünstigen Lernvoraussetzungen in einer Schulklasse mit einem bedeutsamen Absinken der mittleren schulischen Leistungen einhergeht. Im Primarbereich spiegelt die Zusammensetzung der Schulklassen und Schulen durch das Prinzip der „Schulsprengel“ und einer wohnortnahen Schulversorgung die soziale Zusammensetzung einer Wohngegend wider. Insofern ist für den Schulerfolg in der Primarstufe angesichts einer ausgeprägten Segregation in den Metropolen und in manch anderen Regionen auch schon von Bedeutung, wo man wohnt. Differentielle Effektivität Eine wichtige Frage der Schuleffektivitätsforschung ist, wieweit überhaupt zuverlässig zwischen guten und schlechten Schulen unterschieden werden kann. Zu prüfen ist diesbezüglich, wie konsistent schulische Effekte über unterschiedliche Leistungsbereiche hinweg und wie stabil sie über die Zeit sind. Zu diskutieren ist außerdem nochmals, ob Schulen für alle Schüler gleichmäßig oder für unterschiedliche Schülergruppen unterschiedlich effektiv sind. Im Zusammenhang mit diesen Fragen ist auch zu klären, welchen Merkmalen der Schulen bzw. des Unterrichts welche Bedeutung genauer zukommt. Bezüglich der Stabilität von Effekten des Besuchs einer Schule über die Zeit kann zum einen ein Schülerjahrgang im Durchlauf durch die Schule (d.h. über die Klassenstufen hinweg) und können zum anderen aufeinanderfolgende Schülerjahrgänge betrachtet werden. Stabilität wäre dann gegeben, wenn über die Klassenstufen bzw. Jahrgänge hinweg wenig an Schwankungen in den Leistungen auftreten würden. Bezogen auf die Konsistenz über Sach-
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bereiche bzw. Fächer hinweg wäre bei einer effektiven Schule zu erwarten, dass die Schüler nicht nur in einem, sondern in allen Fächern gute Leistungen erzielen. Willms und Rauenbush (1989) stellen in ihrer Zusammenschau von Befunden heraus, dass sich in der Schulforschung überwiegend uneinheitliche Ergebnisse zur Konsistenz schulischer Wirkungen über Fächer bzw. Fachbereiche und zur Stabilität über die Zeit bzw. Jahrgänge finden. Einen differenzierteren Überblick auf der Basis einer Vielzahl von Studien geben Scheerens und Bosker (1997). Sie ermitteln Stabilitäts- bzw. Korrelationskoeffizienten für Brutto-Effekte von ca. 0.61 bis 0.83 und kommen daher zu dem Ergebnis, dass sowohl über Klassenstufen als auch über Schülerjahrgänge hinweg von einer eher hohen Stabilität auszugehen ist. Allerdings werden in einzelnen Studien auch weit weniger Stabilität und sehr erhebliche Änderungen in Rangplätzen von Schulen im Zeitverlauf ermittelt. Überdies sprechen die Ergebnisse aus den nicht so zahlreichen Studien, in denen Netto-Effekte (Leistungszuwächse) überprüft werden konnten, für eine geringere Stabilität der schulischen Wirkungen (Koeffizienten von 0.34 bis 0.66). Es scheint damit keineswegs gewährleistet zu sein, dass eine Schule über die Zeit hinweg konstant eine effektive Schule ist. Abschließend folgern Scheerens und Bosker (1997: 84): „These results suggest that teacher effectiveness is a more plausible cause of differences between schools than the school’s effectiveness itself“. Untersuchungen zur Konsistenz schulischer Wirkungen über Fächer bzw. Fachbereiche hinweg führen ebenfalls zu keinem einheitlichen Ergebnis. Allerdings kann im Primarbereich wohl eher von Konsistenz ausgegangen werden (Roheffekte: 0.59 bis 0.90; Nettoeffekte: 0.51 bis 0.59) als in der Sekundarstufe (0.19 bis 0.87 bzw. ca. 0.40) (Scheerens und Bosker 1997). Sammons, Nuttall und Cuttance (1993) ermitteln in ihrer Längsschnittstudie für die Übereinstimmung der Leistung in Mathematik und Lesen eine Korrelation von durchschnittlich r = 0.62. In der Stichprobe der 49 Schulen hatten nur vier Schulen markante positive Effekte in beiden Leistungsbereichen, und ebenfalls nur sechs Schulen hatten übereinstimmend markant negative Effekte. Die Autoren kommen zusammenfassend zu folgender Einschätzung: „The overall concept of effective versus ineffective schools therefore appears to be too simplistic to describe the dimensionality of schools’ effects“ (Sammons et al. 1993: 401). Und weiter heißt es: „The project’s findings indicate that no simplistic division of schools into ‚good’ or ‚bad‘ is possible, even on the basis of results in ‚basic‘ subjects as reading and mathematics“ (Sammons et al. 1993: 403). In einer deutschen Stichprobe von Schulen ermitteln Ditton und Krecker (1995) für die Konsistenz der Leistungen in Deutsch und Mathematik Korrelationen zwischen .45 und .79 für die fünfte bis zehnte Jahrgangsstufe. Die Stabilität der Leistungen ist über die Schülerjahrgänge für Mathematik gering (.16 bis .37) und auch für Deutsch nur mäßig gegeben (.37 bis .58). Als weitaus stabiler erwies sich demgegenüber die soziale Zusammensetzung der Schulen (r = 0.65 bis 0.75). Selbst die in aller Regel gegebene hohe Stabilität der Schülervoraussetzungen scheint somit keine Stabilität oder Konsistenz der schulischen Effekte zu gewährleisten. Schon die Untersuchungen von Coleman hatten gezeigt, dass die schulischen Effekte für Schüler aus bildungsbenachteiligten Gruppen erheblicher sind als für privilegierte Schüler. Auch Reanalysen der Daten mit einem komplexeren Analyseverfahren bestätigten, dass die Differenzen zwischen öffentlichen und privaten Schulen für Schüler der unteren Statusgruppen in etwa doppelt so groß ausfallen wie für Schüler der höheren Statusgruppen (Raudenbush und Bryk 1986). Nuttall, Goldstein, Prosser und Rasbash (1989) ermittelten ebenfalls eine unterschiedliche Effektivität der Schulen in Abhängigkeit von Nationalität
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bzw. Ethnizität und vom Fähigkeitsniveau der Schüler. Je niedriger der ethnische oder Fähigkeitsstatus war, umso mehr „spielte die Schule eine Rolle“. Etwas anders fallen die Ergebnisse in der Untersuchung von Sammons et al. (1993) aus. Sie konnten keine differentiellen Geschlechts-, Status- oder Ethnizitätseffekte ausmachen, dafür aber eine bedeutsame differentielle Wirksamkeit in Abhängigkeit vom Vorwissen der Schüler. Für Schüler mit geringerem Vorwissen waren die Schuleffekte bedeutsamer. Worin die Gründe für differentielle Effekte genauer liegen, ist leider bis heute nicht ausreichend geklärt. Im Überblick betrachtet können Schuleffekte nur zu einem gewissen Grad als konsistent und stabil bezeichnet werden. Schulen sind weder invariante Blöcke noch völlig chaotische Systeme und in ihren Effekten gänzlich unvorhersagbar. Die Zusammensetzung der Schulen und Schulklassen erweist sich durchgängig als eine wichtige Größe. Eine hohe Konzentration von Schülern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen stellt Schulen vor Probleme, die sie offensichtlich nicht allein auf sich gestellt lösen können. Zwar findet sich auch im Vergleich zwischen Schulen, die unter weitgehend ähnlichen Bedingungen arbeiten, noch Varianz in den schulischen Leistungen. Allerdings scheint die Chance einer Schule, bei gegebenen günstigen Bedingungen ganz weit abzustürzen oder unter ungünstigsten Bedingungen sehr weit aufzusteigen, recht begrenzt zu sein (Ditton und Krüsken 2006). Schul- und/oder Unterrichts- bzw. Lehrereffektivität? Angesichts teilweise doch widersprüchlicher Befunde zu schulischer Effektivität und zu den Effekten einzelner Schulen spricht einiges dafür, dass Faktoren auf der schulischen Ebene weniger Bedeutung zukommt als Faktoren auf der Lehr- und Lernebene (Schüler; Unterricht/Lehrkraft), wie es zuvor bereits anklang. Dafür sprechen auch die Ergebnisse einer umfassenden Metaanalyse von Wang et al. (1993), denen zufolge schulischen Merkmalen gegenüber den proximalen Faktoren der Lehr- und Lernsituation weniger Bedeutung zukommt. Als Rangreihe bedeutsamer Faktoren für den Schulerfolg ermitteln die Autoren: 1. student characteristics; 2. classroom practices; 3. home and community educational context; 4. design and delivery of curriculum and instruction; 5. school demographics, culture, climate, policies and practices; 7. state and district governance and organization. Zusammenfassend folgern sie: „schools should begin solving problems by addressing ‚proximal variables‘ like curriculum, instruction and assessment which emphasize student outcomes“ (Wang et al. 1993: 276). Das Thema Schuleffektivität ist deshalb aber nicht völlig ad acta zu legen, da die Faktoren auf der Schulebene als eine relevante Rahmenbedingung für die Qualität des Unterrichts aufgefasst werden können. Auf der Schulebene können mehr oder weniger gute Bedingungen vorliegen, um guten Unterricht zu ermöglichen. Wiederum mit einer Metaanalyse zeigen Scheerens und Bosker (1997) diesbezüglich, dass schulischen Faktoren durchaus eine eigenständige Bedeutung für die erzielten schulischen Leistungen zukommt. Im Einzelnen handelt es sich um die Faktoren Kooperation, Schulklima, Monitoring, Elternbeteiligung und Leistungserwartungen. Im Mittel entsprechen die gefundenen Effektgrößen in etwa einer Korrelation von 0.10, d.h. es handelt sich damit um eher geringe, aber keineswegs unbedeutende Effekte.
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Ausblick
Schulen sind weit weniger einheitlich in ihrer Wirkung und Wirksamkeit und sie sind weit weniger gut planbar und beeinflussbar, als vielleicht erwartet werden könnte. Als Perspektive für die Schulentwicklung zeichnet sich in diesem Zusammenhang immer deutlicher eine Wende von der sogenannten Input- zur Outputsteuerung ab: der Versuch einer Regulierung der Schulen durch Vorgaben soll reduziert und dafür die Überprüfung der erreichten Wirkungen ausgebaut werden. Schulen würde also mehr Selbständigkeit und größere Entscheidungsbefugnis in ihrer Arbeit zugestanden, dies aber bei einer gleichzeitig strengeren Überprüfung der Erreichung erwarteter Ergebnisse. In Deutschland wurden in der Kultusministerkonferenz bereits bundesweit gültige Bildungsstandards und ein Programm zur Überprüfung ihrer Einhaltung beschlossen. Dies könnte bei einer klugen Umsetzung die Chance beinhalten, das Schulsystem in dieser Hinsicht zu optimieren, die Varianzen zu reduzieren und zugleich auf mehr Chancengerechtigkeit zu achten. Eine übergeordnete Vision könnte es sein, Schulen als sog. high reliability organizations (HROs) aufzufassen, in denen Fehler und Misserfolge nicht tolerierbar sind (Roberts, 1990; Stringfield, 1995).5 „Keinen zurücklassen“ war einmal das Motto in den Schulen der ehemaligen DDR und schien, worauf Vergleichsuntersuchungen kurz nach der „Wende“ hinweisen, gar nicht schlecht funktioniert zu haben [BIJU (Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter) 1994; Lehmann et al. 1992]. Auch im internationalen Vergleich kann man sehen, dass ein hohes Niveau fachlicher Leistungen und Chancengleichheit keine Gegensätze sein müssen. Eine herausragend wichtige Zukunftsaufgabe wird es sein, vor allem das Leistungsniveau der von ihren Lernvoraussetzungen her weniger begünstigten Schulkinder wesentlich zu verbessern (OECD 2005). Dabei müssen auch die Wirkungen der Zusammensetzung von Schulen und Schulklassen (bzgl. sozialer Faktoren, Ethnizität, Fähigkeitsniveau der Schüler usw.) mit berücksichtigt werden. Trotz einer umfangreichen Forschung im Bereich Schule und Familie bestehen noch erhebliche Forschungslücken, die zum Teil auch daraus resultieren, dass die Sozialisationsund Schuleffektivitätsforschung trotz zahlreicher Berührungspunkte in der Regel getrennte Wege gehen. Die Sozialisations- und Bildungsforschung ist häufig nicht besonders stark in der Erfassung spezifischer schulischer Bedingungen und der konkreten Lernkontexte. In der Schuleffektivitätsforschung ist dagegen oftmals das Interesse für soziale Merkmale und Kontextdaten nicht sehr ausgeprägt. Besonders wichtig wären aber gerade längerfristig angelegte Untersuchungen, in denen individuelle, familiale und schulische Erklärungsfaktoren theoretisch begründet einbezogen und gemeinsam berücksichtigt werden. Schon mit Querschnittdaten kann der daraus resultierende Erkenntnisgewinn erheblich sein (vgl. die Analysen von Baumert et al. 2006a). Besonders wichtig wären jedoch Längsschnittstudien, am besten für die gesamte schulische Karriere vom Schuleintritt bis zum Verlassen der Schule und noch darüber hinaus. Solche Studien sind in anderen Ländern durchaus vorhanden (Kristen et al. 2005), in Deutschland fehlen sie bedauerlicherweise. Ein langfristig angelegtes Bildungspanel könnte die Basis sein, um über Schule, Familie und ihr Zusammenwirken differenziertere Erkenntnisse zu gewinnen. 5 Misserfolge in der Schule würden damit so ernst genommen wie Fehlfunktionen in einem Atomkraftwerk oder in der Flugsicherung. Wer würde z.B. gern in ein Flugzeug einsteigen, wenn er wüsste, dass die Chance auf eine sichere Landung nur bei ca. 90 Prozent liegt?
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Wie ist die Frage nach Schuleffekten bzw. zum Zusammenwirken von Familie und Schule nach dem derzeitigen Stand der Forschung zusammenfassend zu beantworten? 1.) Natürlich hat Schule Effekte, aber die Effektivität von Schule hängt nicht allein von der Schule selbst ab, sondern ergibt sich in Verbindung mit familialen sowie schulstrukturellen und gesellschaftlich-sozialen Bedingungen und Zielvorstellungen. Nach wie sollte man vor allzu großen Hoffnungen warnen, Schulen relativ einfach in die gewünschte Richtung verändern oder durch Schule die Gesellschaft besser oder gleicher machen zu können. 2.) Zentral für schulischen Erfolg sind Merkmale der Schüler (kognitive, Lese- und sprachliche Fähigkeiten, Motivation und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen) und damit das, was Schule als „Input“ geliefert bekommt. Daher ist auch eine frühe und nachhaltige Förderung schon vor Beginn der Schulzeit wesentlich. Wichtig bleibt auch im gesamten Verlauf der weiteren Schulzeit, wieweit außerhalb der Schule eine Förderung und Unterstützung erfolgt. Schule allein auf sich gestellt würde sich schwertun, die Familie und das soziale Umfeld haben ebenfalls ihren Beitrag zu leisten. 3.) Schülermerkmale sind keine Konstanten, sondern müssen in der Schule (weiter-)entwickelt, herausgefordert und gefördert werden. Das Hauptaugenmerk ist diesbezüglich auf proximale Faktoren, d.h. auf die konkreten Lehr- und Lernkontexte, zu richten. Nach derzeitigem Kenntnisstand erscheint es vielversprechend, die Freiräume zur Gestaltung des Lehrens und Lernens und der schulischen Abläufe für die einzelnen Schulen zu erweitern, d.h. den Schulen mehr Selbständigkeit zu geben. Damit aus einer größeren Selbständigkeit keine Beliebigkeit wird, müssen allgemeinverbindlich akzeptierte Standards gelten, deren Einhaltung auch überprüft wird. Da Überprüfungen allein noch nicht zur Behebung von Defiziten führen, sind gleichzeitig Hilfs- und Unterstützungssysteme aufzubauen und Interventionsansätze zu etablieren, ganz besonders für Schulen, die vorgegebene Ziele verfehlen („failing schools“). Angesichts der äußerst ungleichen Kontextbedingungen und Belastetheit der Schulen sind Überlegungen für eine bedarfsgerechtere Verteilung von Ressourcen durchaus angebracht. Längerfristig müsste es aber darum gehen, für ausgeglichenere Bedingungen zu sorgen, unter anderem auch dadurch, dass einer Überdifferenzierung des Schulangebots entgegengewirkt wird. 4.) Bei allen Reformbemühungen sollte nicht übersehen werden, dass „untere“ Ebenen die Defizite auf den „übergeordneten“ Ebenen nicht wirklich ausgleichen können. Guter Unterricht ist in einer schlechten Schule kaum oder nur sehr schwer zu realisieren. Schule wiederum kann die vorgegebenen Struktur-, System- und gesellschaftlich-sozialen Bedingungen nicht aushebeln. Es wäre daher auch eine Illusion anzunehmen, Schule könnte als Gegenmodell zur Gesellschaft funktionieren. Ein hohes Kompetenzniveau, weniger Streuung und mehr Chancengleichheit ergeben sich nicht allein auf der Basis von Schuleffekten und nicht allein durch eine entsprechende Bildungspolitik, sondern allenfalls in einem Zusammenspiel mit Finanz- und Sozialpolitik, Familienpolitik sowie einer ausgewogenen regionalen Stadt- und Schulentwicklungsplanung. Um Schule zu verbessern, muss man also auf der einen Seite nach den „proximalen“ Faktoren schauen und die Lehr-Lernsituationen optimieren. Dabei darf man auf der anderen Seite die Rahmenbedingungen und den gesellschaftlich-sozialen Kontext nicht aus dem Auge verlieren. Es gibt daher noch eine ganze Menge, was für effektivere Schulen getan werden kann – innerhalb und außerhalb der Schulen.
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Berufsbildung im sozialen Wandel Dirk Konietzka
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Einleitung
Während die seit den 1950er Jahren stark gewachsene Bildungsbeteiligung im Bereich der weiterführenden Schulen und Hochschulen als ein zentraler Faktor des sozialen Wandels der deutschen Gesellschaft betrachtet wird, ist die Bildungsexpansion, die im Bereich der beruflichen Bildung erfolgt ist, weniger von Öffentlichkeit und Wissenschaft beachtet worden. Dessen ungeachtet stellt die nichtakademische berufliche Erstausbildung heute den quantitativ bedeutsamsten Bereich postsekundärer Bildung1 dar. Mindestens zwei Drittel der Männer und Frauen der jüngeren Geburtsjahrgänge haben eine nichtakademische Berufsausbildung absolviert. Aktuelle Zahlen deuten zwar auf einen leichten Rückgang der Ausbildungsbeteiligung hin (Berufsbildungsbericht 2007), das anhaltend große Gewicht der Institutionen der beruflichen Bildung in Deutschland steht jedoch außer Frage. Die starke Stellung der beruflichen Bildung dürfte überdies für den in Deutschland im internationalen Vergleich vergleichsweise geringen Ausbau des Hochschulsektors mitverantwortlich sein. Ziel dieses Kapitels ist es, zentrale Merkmale der beruflichen Bildung in Deutschland aus der Personen- und der Institutionenperspektive darzustellen sowie einen Überblick über verschiedene Aspekte des sozialen Wandels der Berufsbildung in den vergangenen Jahrzehnten zu geben.
2
Berufliche Bildung aus soziologischer Sicht
Wenn von beruflicher Bildung die Rede ist, muss zunächst definiert werden, welcher Bereich des Bildungssystems gemeint ist. Bei einer systematischen Betrachtung wäre der Hochschul- bzw. tertiäre Bereich des Bildungssystems zweifellos zu den beruflich qualifizierenden Institutionen zu rechnen. Jedoch konzentriert sich dieses Kapitel, dem in Deutschland eingebürgerten Verständnis folgend, auf den Sektor der nichtakademischen beruflichen Bildung. Dieser umfasst hauptsächlich das duale System der Berufsausbildung, die Berufsfachschulen, (einen Teil) der Fachschulen und Schulen des Gesundheitsweisens, darüber hinaus verschiedene weitere berufliche Schultypen wie z.B. Berufsakademien (Cortina et al. 2003). In zunehmendem Maß spielen in den letzten Jahren unterschiedliche berufsvorbereitende Einrichtungen und Maßnahmen eine Rolle im beruflichen Bildungssystem (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006).
1 Der Terminus „postsekundäre Bildung“ soll hier die Bereiche sowohl der Sekundarstufe II als auch der tertiären Bildung umfassen.
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Dirk Konietzka
2.1 Konzeptuelle Grundlagen Für eine soziologische Analyse der beruflichen Bildung und des Wandels der beruflichen Bildung ist es hilfreich, Makro- und Mikroperspektiven zu unterscheiden. Das Ziel der soziologischen Analyse der beruflichen Bildung besteht darin, die Wechselbeziehungen zwischen der Makroebene der Institutionen und der Ebene der individuellen Bildungsprozesse und Bildungsverläufe unter den jeweils gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen zu beleuchten. Die Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen prägen die Art der Qualifikationen, die junge Erwachsene im Übergang von der Schule in den Beruf erwerben, und, allgemeiner gesprochen, den Übergang von der Schule in den Beruf. Um den sozialen Wandel der Bildungsbeteiligung und der Übergänge zwischen dem Ausbildungssystem und dem Arbeitsmarkt abzubilden, ist ein kohorten- und lebenslaufanalytischer Rahmen sinnvoll. Auf der Grundlage des Vergleichs unterschiedlicher (Geburts-, Schulabgangs- oder Berufseinstiegs-)Jahrgänge, kann der Wandel im Bereich von Bildungs- und Erwerbsverläufen systematisch verfolgt werden. In letzter Konsequenz ist der soziale Wandel der beruflichen Bildung ein Abbild des Wandels der Ausbildungsmuster im Lebenslauf unterschiedlicher Kohorten: „Social change occurs to the extent that successive cohorts follow different life course patterns“ (Elder 1975: 179).
2.2 Institutionelle Kontexte der beruflichen Bildung Das berufliche Bildungssystem kann als gesellschaftliche „Großinstitution“ betrachtet werden, zu deren Funktionen die soziale Integration, Sozialisation, Qualifizierung, Allokation und nicht zuletzt soziale Selektion zählen (Greinert 1995, Lempert 1998). Die Institutionen der Berufsausbildung sind in Deutschland eng mit den Institutionen des allgemeinen Bildungssystems und des Beschäftigungssystems verbunden. Die bedeutendste Instanz der beruflichen Bildung ist das so genannte duale System. Die Kennzeichnung als duales System zielt darauf ab, dass die Ausbildung von einem Ausbildungsbetrieb durchgeführt und durch staatlichen Berufsschulunterricht ergänzt wird. Die auf die Differenzierung der Lernorte abzielende Charakterisierung ist jedoch irreführend (Greinert 1998), da diese Form der Ausbildung in ihrem Kern durch eine bestimmte gesetzliche Grundlage – das Berufsbildungsgesetz (BbiG) von 1969 und die Handwerksordnung – bestimmt wird. Die Ausbildung in den staatlich anerkannten Ausbildungsberufen ist durch ein komplexes System der Aufsicht und Regulierung, an dem neben den Kammern Vertreter von Bund, Ländern, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden beteiligt sind, bestimmt (Streeck et al. 1987, Thelen 2004). Die Aufteilung betriebspraktischer und theoretischer Ausbildungselemente zwischen Betrieb und Berufsschule ist demgegenüber zweitrangig, zumal sie in vielen Ausbildungsgängen zunehmend unscharf wird (Greinert 1995). Neben dem dualen System existieren in Deutschland vollzeitschulische berufliche Erstausbildungen, die von Berufsfachschulen, Fachschulen und den Schulen des Gesundheitswesens geleistet werden. Auch diese verleihen allgemein anerkannte berufliche Abschüsse, fallen aber nicht unter den Geltungsbereich des Berufsbildungsgesetzes. Nicht alle Ausbildungsgänge, die in Berufsfachschulen und Fachschulen stattfinden, haben den Charakter voll qualifizierender beruflicher Erstausbildungen.
Berufsbildung im sozialen Wandel
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Die international vergleichende Forschung hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass die Funktionsweise der Institutionen des Bildungswesens im breiteren Zusammenhang der politischen Ökonomie moderner Wohlfahrtsstaaten betrachtet werden muss. Die Schnittstelle zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem ist im internationalen Vergleich sehr verschieden organisiert. Insbesondere variieren die institutionellen Arrangements, in denen arbeitsmarktrelevante Qualifikationen hergestellt und mit betrieblichen Qualifikationsanforderungen koordiniert werden (Marsden 1999, Crouch et al. 1999, Soskice 1999). Wirtschaftlich vergleichbar entwickelte Gesellschaften weisen große Unterschiede im Hinblick auf die institutionellen Strukturen beruflicher Bildung, deren quantitative Verteilung und ihre ‚soziale Prägekraft‘ auf. Systeme der Berufsausbildung unterscheiden sich insbesondere im Hinblick auf den allgemeinen oder berufsspezifischen Charakter der vermittelten Qualifikationen. Es lassen sich drei grundlegend verschiedene institutionelle Typen beruflicher Erstausbildung unterscheiden (Allmendinger 1989). Ein erster Typ wird durch die Ausbildung in allgemeinbildenden Schulen bzw. berufsbildenden Schulen, ein zweiter durch die betriebliche Lehre und ein dritter durch On-the-job-training repräsentiert. Vollzeitschulische Ausbildungen sind in der Regel hochgradig standardisiert im Hinblick auf curriculare Inhalte, Prüfungen und formelle Zertifizierungen. Eine nach dem Muster des dualen Systems organisierte Betriebslehre hat typischerweise ebenfalls einen standardisierten Charakter. Die verschiedenen Ausbildungsformen unterscheiden sich aber im Hinblick auf die Trägerschaft und Regulierung der Berufsausbildung. Rein private, betrieblich organisierte Ausbildungen nach dem Prinzip des Training-on-the-job, öffentlich geregelte Berufsausbildungen nach dem Modell der Lehre im dualen System und staatlich organisierte schulische Ausbildungen sind durch ein jeweils anderes Verhältnis von privater und öffentlicher Trägerschaft ausgezeichnet. So hängen in dem dualen System der Bundesrepublik Quantität und Art des Angebots an Ausbildungen letztlich von den Betrieben ab, während ihre Qualität öffentlich-rechtlich bzw. staatlich kontrolliert wird (Greinert 1998). Berufsbildende Schulen bzw. berufsbildende Zweige im allgemeinen Bildungssystem dominieren in Ländern wie Frankreich, Schweden und den Benelux-Staaten. In den USA, Großbritannien und Japan herrscht das Modell des On-the-job-training vor. Vor allem das amerikanische System der beruflichen Bildung wird, da eine institutionalisierte berufliche Ausbildung weitgehend fehlt, auch als „non-system“ (Bills und Hodson 2007) beschrieben. In Österreich, der Schweiz und in Dänemark überwiegt ebenso wie in Deutschland der Typ der betrieblich gebundenen, aber gesetzlich normierten Lehrausbildung. Gleichwohl sind nationale Berufsbildungssysteme häufig Mischtypen, in denen unterschiedliche Ausbildungsformen nebeneinander bestehen. Während in der Bundesrepublik Deutschland neben dem dualen System berufsbildende Vollzeitschulen existieren, die eine Berufsausbildung als Ergänzung oder Ersatz einer Lehrausbildung anbieten, sind in den Niederlanden oder Frankreich die Relationen eher umgekehrt.
2.3 Mikroaspekte der beruflichen Bildung Im individuellen Lebenslauf stellen die Übergänge zwischen der allgemeinbildenden Schule, der beruflichen Bildung und dem Arbeitsmarkt kritische Schwellen dar, an denen soziale Sortierungsprozesse ansetzen und Ungleichheiten zwischen sozialen Schichten, Geschlechtern und ethnischen Gruppen produziert oder verstärkt werden. Aus der Mikroperspektive
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der individuellen Akteure betrachtet, stellen die Institutionen des Bildungssystems Opportunitäten und Restriktionen von Bildungsentscheidungen bereit. Hinzu kommt, dass die Wahl einer beruflichen Ausbildung in der Regel nicht auf eine singuläre Entscheidung beschränkt ist, sondern in vielen Fällen – und zunehmend – mehrere konsekutive Entscheidungen beinhaltet. Aus der Sicht des Lebenslaufs stellt sich die berufliche Bildungsbeteiligung daher als ein Prozess von Übergängen in und aus unterschiedlichen Einrichtungen des Ausbildungssystems sowie zwischen dem Ausbildungssystem und dem Arbeitsmarkt dar. Vor diesem Hintergrund ist es in analytischer Hinsicht unzureichend, berufliche Bildung als einen wohlgeordneten und lebenszeitlich klar institutionalisierten Lebensabschnitt zu betrachten, der nach dem Abschluss der allgemeinbildenden Schule erfolgt und mehr oder weniger zwangsläufig den Einstieg in den „passenden“ Beruf nach sich zieht. Dem widerspricht nicht, dass das Muster eines hochgradig institutionalisierten Lebenslaufs auch heute noch einen hohen Realitätsgehalt hat. Der Beginn des Übergangs von der Schule in den Beruf kann relativ unproblematisch mit dem Abschluss der allgemeinbildenden Schule bzw. nach dem erstmaligen Verlassen des allgemeinbildenden Schulsystems identifiziert werden. Als Abschluss der Übergangsphase gilt zumeist der Erwerbseinstieg, welcher durch eine erste, nicht von vornherein als Brückenjob betrachtete „reguläre“ Beschäftigung markiert wird. Als Hilfskriterium wird häufig die erste Erwerbstätigkeit von relativer Beständigkeit (etwa mit einer Mindestdauer von 6 oder 12 Monaten) betrachtet.2 Die Bestimmung des Erwerbseinstiegs im Lebenslauf und damit die Eingrenzung der Lebensphase des Übergangs von der Schule in den Arbeitsmarkt weisen gewisse Unschärfen auf (Kerckhoff 2001; Wolbers 2003). Auch verbinden sich mit dem Konzept des Berufseinstiegs oftmals normative Konnotationen, die auf die Idee eines „erfolgreichen“ Einstiegs in Karriereleitern gerichtet sind. Daher ist der Übergang von der Schule in den Beruf neutral am besten umschrieben als eine mehr oder weniger ausgedehnte Lebensphase, die sich lebenszeitlich nur ungenau abgrenzen lässt.
2.4 Institutionelle Strukturierungen sozialer Ungleichheit Die vielfältigen institutionellen Differenzierungslinien innerhalb der Berufsbildung in Deutschland – zwischen den Ausbildungssektoren von Handwerk und Industrie und Handel, den unterschiedlichen Ausbildungsberufen sowie dem dualem System, der vollzeitschulischen Berufsausbildung und vielen lediglich berufsvorbereitenden Einrichtungen – statten die Individuen in sehr unterschiedlichem Ausmaß mit vorteilhaften beruflichen Handlungsmöglichkeiten aus. Die ausgeprägte Beruflichkeit des Ausbildungssystems bedingt zudem eine starke interne – horizontale wie vertikale – Differenzierung von Personen in der Berufsbildung. Viele Ausbildungsberufe – sowohl im dualen System als auch in den vollzeitschulischen Ausbildungen – sind schließlich deutlich als Männer- und Frauenberufe 2 Eine solche Festlegung impliziert durchaus nicht triviale Probleme. Man unterstellt, dass eine kurze Beschäftigungsdauer auf einen nicht erfolgreichen Erwerbseinstieg verweist. In methodologischer Hinsicht begibt man sich in die Nähe einer „antizipatorischen Analyse“, wenn der Berufseinstieg an eine sich zeitlich erst später manifestierende Mindestdauer gekoppelt wird. Knüpft man die Definition des Berufseinstiegs an die Stabilität der Stelle, müsste man auch die Frage stellen, ob der Berufseinstieg mit dem Beginn der Beschäftigung oder erst ein Jahr danach erfolgt.
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codiert. Auf diese Weise prägen die Institutionen der beruflichen Bildung soziale Ungleichheiten in den Erwerbschancen. Eine besondere Bedeutung für die Strukturierung sozialer Ungleichheit hat bereits der häufig als erste Schwelle bezeichnete Übergang in die berufliche Bildung. Im dualen Ausbildungssystem wird das quantitative und qualitative Angebot an Ausbildungsplätzen in erster Linie durch den Bedarf der Betriebe und nicht der Ausbildungsplatzsuchenden bestimmt. Ausbildungsplatzangebot und -nachfrage stehen, insbesondere auf der regionalen Ebene und in branchen- und berufsspezifischer Hinsicht, sehr häufig in einem labilen Verhältnis zueinander (Berufsbildungsbericht 2007). Das betriebliche Ausbildungsplatzangebot kann „wegen seiner Konjunkturabhängigkeit und der Kurzfristorientierung seines Planungshorizonts“ (Baethge et al. 2007: 7) auf Veränderungen, insbesondere Steigerungen in der Nachfrage seitens der Schulabgänger oftmals nicht flexibel genug reagieren. Ein weiterer bedeutsamer struktureller Aspekt ist die geringe Durchlässigkeit zwischen den Bereichen der beruflichen und akademischen Bildung (Hamilton und Hurrelmann 1993). Da berufliche Bildungsabschlüsse nur in Ausnahmefällen einen Hochschulzugang gewähren, hat der Bildungsübergang im Anschluss an die Sekundarstufe I des allgemeinbildenden Schulwesens für den weiteren Bildungsverlauf und indirekt die beruflichen Mobilitätschancen einer Person einen vorentscheidenden Charakter. Schüler (oder deren Eltern) werden damit frühzeitig im Leben vor langfristig bindende Entscheidungen über Bildungsalternativen gestellt. Da arbeitsmarktrelevante Qualifikationen fast ausschließlich im beruflichen Bildungswesen und kaum ‚on the job‘ erworben werden können, entscheidet die berufliche Erstausbildung maßgebend auch über das Arbeitsmarktschicksal einer Person (Blossfeld und Mayer 1988). Jugendliche oder junge Erwachsene, denen es nicht gelingt, eine berufliche Erstausbildung erfolgreich absolvieren, finden überwiegend im Bereich der unqualifizierten Tätigkeiten Beschäftigung; zunehmend finden sie überhaupt keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt (Dietrich 2001; Solga 2006). Absolventen einer beruflichen Ausbildung haben dagegen nach wie vor gute Chancen des Zugangs zum sogenannten primären, qualifizierten Arbeitsmarkt. Der biografische Weichenstellungscharakter der beruflichen Erstausbildung wird dadurch verstärkt, dass der Einstiegsberuf in der Regel langfristig auf die Arbeitsmarktchancen ausstrahlt und damit im umfassenderen Sinne die Lebenschancen der Individuen prägt (Konietzka 1999). Die Chancen späterer Korrekturen von Ausbildungsentscheidungen sind überdies gering, weil Weiterbildungschancen stark von der Erstausbildung abhängen (Becker und Schömann 1996; siehe den Beitrag über berufliche Weiterbildung von Becker und Hecken in diesem Band). Da das Verhältnis von Erst- und Weiterbildung weniger durch Substitution als durch Komplementarität gekennzeichnet ist, bleibt die strategische Relevanz der Erstausbildung im Lebenslauf auch dann hoch, wenn die Bedeutung der Weiterbildung zunimmt (zu den Versprechungen von Weiterbildung: vgl. Geißler und Orthey 1998).3 Die Erstausbildung wird allenfalls zunehmend zu einer notwendigen, aber nicht mehr hinreichenden Bedingung beruflicher Chancen.
3 Die Autoren stellen die These auf, dass die Maxime, wonach Arbeitsmarktchancen und berufliches Fortkommen immer stärker von Lernfähigkeit, Weiterbildung abhängen, in einen „lebenslänglichen Titelkampf“ (Geißler und Orthey 1998: 76) mündet, der die gesamte Lebensspanne der Individuen dominiert.
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Der Zusammenhang von Bildung, Beruf und Arbeitsmarkt
3.1 Theoretische Ansätze Bevor ich den Wandel der Ausbildungsstrukturen und der Muster des Berufszugangs genauer betrachte, sollen zunächst konkurrierende theoretische Ansätze über die Relevanz von Bildung und Ausbildung für die Erwerbschancen resümiert werden. Alle gängigen Bildungstheorien stimmen darin überein, dass Berufspositionen und Erwerbseinkommen stark von den Leistungen und dem Erfolg im Bildungswesen und Bildungsabschlüssen abhängen. Sie unterscheiden sich aber im Hinblick auf die Annahmen, über welche Mechanismen dies geschieht. Die Humankapitaltheorie, Signal- und Filtertheorien und Theorie des Kredentialismus machen keine spezifischen Annahmen über die berufliche Bildung – bestimmte Ansätze aus dem Bereich der Theorien segmentierter Arbeitsmärkte dagegen schon. Die Humankapitaltheorie, die man als eine Spielart des meritokratischen Modells der Verknüpfung von Bildung und Arbeitsmarktchancen betrachten kann (Bills 2004), macht die Annahme, dass Bildungsinvestitionen einen kausalen Einfluss auf das Erwerbseinkommen einer Person haben. „Human capital analysis assumes that schooling raises earnings and productivity mainly by providing knowledge, skills, and a way of analyzing problems“ (Becker 1993: 19). Individuen investieren, einer rationalen Abwägung von Kosten und Nutzen folgend, in ihr eigenes Humankapital. Signal- und Filtertheorien gehen dagegen davon aus, dass schulische und berufliche Qualifikationen nicht unmittelbar zur Produktivität der Individuen beitragen, sondern dass Betriebe – angesichts unsicherer Entscheidungsgrundlagen bei der Bewerberauswahl für betriebliche Eintrittspositionen – Bildungszertifikate als Signal, Filter oder „screening device“ heranziehen (Arrow 1973; Spence 1973). Firmen nutzen Bildungszertifikate als Indikatoren für die zu erwartende Produktivität von Bewerbern. Bildung bzw. die im Schulsystem erworbenen Fähigkeiten und zertifizierten Leistungen geben demnach in erster Linie Hinweise auf die Lernfähigkeit eines Bewerbers.4 Collins’ Theorie des Kredentialismus (1979) liefert eine genuin soziologische Erklärung für den Stellenwert von Bildungszertifikaten auf dem Arbeitsmarkt. Bildung ist ihm zufolge kein Maß für die Produktivität einer Person, sondern Werkzeug sozialer Schließung. An Max Weber anschließend argumentiert er – ähnlich wie Parkin (1979) –, dass Bildungszertifikate effektive Mittel sind, den Zugang zu begehrten beruflichen Positionen zu beschränken. Die vor allem für höhere Positionen und Professionen festgesetzten bildungsspezifischen Zugangsbeschränkungen sind demnach nicht im technischen Sinn Ausdruck von Qualifikationsanforderungen, sondern sozial konstruiert. Sie dienen ultimativ der Aufrechterhaltung und Legitimation sozialer Klassen- und Statusunterschiede und sind damit Gegenstand sozialer Konflikte. Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Durchsetzungsmacht von Interessengruppen und berufsständischen Organisationen.
4 Über die Annahme, dass der in Bildungszertifikaten ausgedrückte Erfolg einer Person im Bildungssystem Rückschlüsse über arbeitsmarktrelevante Befähigungen einer Person erlaubt, schreibt Becker (1993: 20): „I tell my classes that eccentrics and nuts can last much longer as students than as workers, and they respond that the same is true of professors“.
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Die Theorie der Arbeitsmarktsegmentation betrachtet schließlich den Arbeitsmarkt als in unterschiedliche Teilsegmente differenziert, die sich in der Rekrutierung und Betriebsbindung von Personal unterscheiden. Der Zugang zu internen Arbeitsmärkten wird über „entry ports“ reguliert, an die sich mehr oder weniger festgelegte Karrierewege anschließen. Die Bewerber für die Eintrittspositionen werden gemäß der erwarteten Ausbildungsund Einarbeitungskosten in eine „labour queue“ einsortiert (Thurow 1975). Nach Sengenberger (1987) spielt in Deutschland das berufsfachliche Arbeitsmarktsegment eine besondere Rolle. Diesem liegt „eine standardisierte, berufs- oder branchenspezifische und über den Einzelbetrieb hinaus transferierbare Qualifikation“ (Sengenberger 1987: 126) zugrunde. Berufsfachliche Arbeitsmärkte setzen voraus, dass ein betriebsunabhängiges Berufsbildungssystem existiert, in dem die entsprechenden Qualifikationen hergestellt werden. Betriebe, die diesem Segment angehören, können auf beruflich bzw. berufsspezifisch ausgebildete junge Erwachsene zurückgreifen, die von ihnen selbst oder anderen Betrieben des Segments ausgebildet wurden.
3.2 Berufliche Bildung und ihre Folgen im Licht verschiedener Bildungstheorien Bezogen auf die Rolle der beruflichen Bildung auf dem Arbeitsmarkt beleuchten die genannten Ansätze jeweils spezifische Aspekte. Aus der Humankapitaltheorie lässt sich ableiten, dass Auszubildende bzw. Schüler im beruflichen Bildungssystem Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die sie im Erwerbsleben produktiv verwerten können. Was die Humankapitaltheorie indes nicht hinreichend erklären kann, ist, dass im deutschen Berufsbildungssystem in hohem Maß berufsspezifische Qualifikationen produziert bzw. erworben werden. Die in der beruflichen Ausbildung erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten sowie extrafunktionalen Qualifikationen können wiederum im Einklang mit den Signal- und Filtertheorien auch als Signale wirken und damit ein Potenzial im Fall von Umschulung, Berufsund Betriebswechseln sowie Fortbildung darstellen. Speziell die Absolventen des dualen Systems haben nicht nur gute Chancen einer Übernahme durch den Ausbildungsbetrieb, weil dieser bereits die Fähigkeiten und die Produktivität der Auszubildenden abschätzen kann. Die Abschlüsse der beruflichen Bildung besitzen auch einen Signalwert für den externen Arbeitsmarkt – was wiederum durch ihre berufsspezifische Standardisierung begünstigt wird. Mit der Theorie des Kredentialismus kann die konkurrenzreduzierende Funktion beruflicher Abschlüsse hervorgehoben werden. In Deutschland existiert ein besonders differenziertes System der Vergabe von Titeln auch im nichtakademischen Bildungsbereich, in dem formale Abschlüsse der beruflichen Bildung als Zugangsvoraussetzungen zu den mittleren Berufspositionen dienen. Absolventen der beruflichen Bildung befinden sich unter diesen Bedingungen in einer ambivalenten Position. Sie besitzen gute Aufstiegschancen in den Bereich der technischen und mittleren Leitungsfunktionen, gute Möglichkeiten zwischenbetrieblicher Mobilität (Blossfeld und Mayer 1988) und einen relativ guten Schutz gegenüber Abwärtsmobilität und Arbeitslosigkeit. Sie profitieren demnach von Schließungsmechanismen gegenüber den „Un- und Angelernten“, werden aber gleichzeitig weitgehend von den höheren Rängen und Positionen ausgeschlossen (Arum und Shavit 1995; Shavit und Müller 2000).
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Dirk Konietzka
Die Verwertungschancen der im beruflichen Bildungssystem erworbenen Qualifikationen variieren schließlich zwischen den Teilsegmenten des Arbeitsmarkts. Vor allem auf dem berufsfachlichen Arbeitsmarktsegment hängen die Beschäftigungschancen stark von berufsspezifischen Faktoren ab (Blossfeld und Mayer 1988; Marsden 1999). Der Zugang zu Tätigkeiten wird nicht nur vom Niveau der Ausbildung, sondern eben auch vom Beruf oder Berufsfeld der Ausbildung bestimmt (Müller und Shavit 1998). Die Rolle berufsspezifischer Schließungsmechanismen erweist sich bei genauerer Betrachtung als variabel. Der berufsspezifische Faktor ist im Bereich der gewerblichen Berufe und im kleinbetrieblichen Segment besonders stark ausgeprägt (Konietzka 2002; Seibert 2007). In vielen Fällen können Absolventen des dualen Systems berufliche Qualifikationen in anderen, verwandten Berufen verwerten, da in der beruflichen Bildung auch ‚soft skills‘, Schlüsselqualifikationen, normative und moralische Standards vermittelt und eingeübt werden (Hamilton 1990; Corsten und Lempert 1997), die auch bei einem Wechsel in ein anderen Beruf ihren Wert behalten. Festzuhalten ist, dass unter den in diesem Abschnitt identifizierten Merkmalen der beruflichen Bildung in Deutschland die duale Struktur eine vergleichsweise nachrangige Rolle spielt. Das duale System wird weniger durch die Kombination von Betriebslehre und Berufsschule als durch die betriebliche Verantwortung für die Ausbildung bei gleichzeitiger „neokorporatistischer“ Regulierung bestimmt. Die Struktur des Übergangs von der Schule in den Beruf wird nachhaltig durch den institutionellen Kontext geprägt, der sich u.a. durch eine strikte Trennung zwischen den Sphären der Allgemein-, Berufs- und Hochschulbildung sowie eine hohe Standardisierung und Verberuflichung des Ausbildungssystems auszeichnet. Die genannten Merkmale ergeben in der Summe ein spezifisches System der Hervorbringung beruflicher Qualifikationen bzw. „skill formation“, das durch eine enge institutionelle Verknüpfung und Koordinierung von Ausbildungssystem und Arbeitsmarkt im Rahmen eines koordinierten Marktwirtschaftsregimes gekennzeichnet ist (Soskice 1999).
4
Der Wandel des Ausbildungsverhaltens und der sozialen Strukturen des Übergangs in den Beruf im Licht empirischer Forschung
Nachdem bis in die 1980er Jahre hinein Fragen der zunehmenden Bildungsbeteiligung jüngerer Kohorten und des berufsstrukturellen Wandels bzw. der Tertiarisierung der Beschäftigungsstrukturen im Fokus der Forschung über den Ausbildungs- und Berufseinstiegsprozess standen (Blossfeld 1989), wurde im Anschluss, und verstärkt in den 1990er Jahren, die Frage einer Erosion des „klassischen Übergangssystems“ in der Folge verschlechterter Arbeitsmarktbedingungen und struktureller Veränderungen (Entberuflichung) sowie im Kontext grundlegender Wandlungen des Lebenslaufs (Individualisierung und DeInstitutionalisierung) diskutiert. Die Entwicklungen im Bereich des Ausbildungsverhaltens und der Übergangswege von der Schule in die Berufsausbildung sowie von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt erscheinen in diesem Zusammenhang als Ausdruck allgemeinerer Trends in Richtung zunehmender Arbeitsmarktrisiken, insbesondere einer Entkopplung von Ausbildung und Erwerbschancen, einer Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ (Mückenberger 1985) sowie zunehmender „diskontinuierlicher“ Erwerbsverläufe (Mutz et al. 1995). Die „Krisenperspektive“ hat in den letzten Jahren durch die Globalisierungsthese weiteren Nachschub
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erhalten, der zufolge die Unsicherheiten und Risiken beim Erwerbseinstieg und generell den Lebensläufen junger Erwachsener zugenommen haben (Kurz und Steinhage 2001; Mills und Blossfeld 2005). Das in Deutschland traditionell hoch regulierte, standardisierte und durch „collective bargaining“ geprägte Übergangssystem und die dahinter stehende Lebenslaufpolitik (Weymann 2003) werden demnach durch die Globalisierungsprozesse besonders stark unter Druck gesetzt. In der aktuellen Forschung geht es schließlich zunehmend um Probleme der sozialen Integration durch das berufliche Bildungssystem. Demnach driften veränderte Arbeitsmärkte und neuartige Qualifikationsanforderungen von Betrieben – nicht zuletzt die zunehmende Relevanz des lebenslangen Lernens – und das beruflich fixierte, hochregulierte, auf längerfristige Zeithorizonte und insofern als inflexibel betrachtete Ausbildungssystem immer weiter auseinander (Blossfeld und Stockmann 1999; Baethge et al. 2007). Vor dem Hintergrund der hier grob skizzierten Entwicklungen wird die Grundthese, dass das berufliche Bildungssystem in Deutschland überwiegend gute Rahmenbedingungen des Berufseinstiegs bietet, verstärkt infrage gestellt. Jedoch sind die genannten Thesen in Bezug auf den Wandel des Übergangs in den Arbeitsmarkt häufig unterspezifiziert. Die behaupteten Veränderungen betreffen nicht alle Personen, Betriebe, Berufe und Branchen in gleicher Weise – in der Tendenz eher den industriellen als den Dienstleistungs- oder Handwerksbereich, eher die Logik der Betriebsbindung in großen Unternehmen als die Funktionsweise berufsfachlicher Arbeitsmärkte. Die Frage, welche Personengruppen von welchen Arbeitsmarktrisiken typischerweise betroffen sind, wann, wie und in welchem Maß die unterschiedlichen Trends die Erwerbschancen unterschiedlicher Kategorien von Berufseinsteigern beeinflussen, muss daher differenziert untersucht werden. Nach Schmid (2006: 9) können drei hauptsächliche Ausformungen neuer Risiken des Arbeitsmarkts identifiziert werden: erstens Risken des Ausschlusses von Erwerbsarbeit infolge mangelnder Bildung und Ausbildung, zweitens Risiken prekärer und befristeter Beschäftigung (einschließlich Zeitarbeit) und drittens Risiken verstärkter Langzeitarbeitslosigkeit im Zuge des Abbaus interner Arbeitsmärkte. Empirisch zeigt sich, dass das Risiko befristeter Beschäftigung überwiegend unter den unter 35-Jährigen konzentriert ist (Schmid 2006: 12). Befristung erweist sich häufig als dauerhafte Falle und nicht als Übergangsphänomen, während Langzeitarbeitslosigkeit vor allem eine Folge der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist und in der Regel ältere männliche Beschäftige und nicht den Berufseinsteiger betrifft (Schmid 2006: 13). Die globalen Thesen der Krise, Erosion und Entwertung der beruflichen Bildung müssen demnach differenziert auf die Erfahrungen von Personengruppen angewendet werden. Es empfiehlt sich entsprechend, bei der Analyse zunehmender Risiken und Ungleichheiten im Arbeitsmarkt den Fokus stärker auf die Bildungs-, Ausbildungs- und Berufszugangserfahrungen spezifischer Personengruppen unter jeweils gegebenen perioden- und kohortenspezifischen Bedingungen zu lenken. Einige dieser Punkte sollen im Folgenden genauer dargestellt werden.
4.1 Wandel der beruflichen Ausbildung im Kohortenvergleich Um den langfristigen Wandel der Bildungsbeteiligung im Bereich der beruflichen Ausbildung bzw. der postsekundären Bildung darzustellen, ziehe ich im Folgenden Daten der
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Dirk Konietzka
westdeutschen Lebensverlaufsstudie (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin) heran. Die vollständige Ausbildungslaufbahn kann für alle Befragten dieser Studie mindestens bis zum Alter von 26 Jahren rekonstruiert werden.5 Tabelle 1: Das bis zum Alter von 26 Jahren erreichte berufliche Ausbildungsniveau im Geburtskohortenvergleich 1930
1940
1950
Kohorte 1955
1960
1964
1971
47 12 5 4 4 12 17
49 12 10 8 4 9 10
43 16 5 13 10 10 4
38 18 9 9 14 10 3
43 13 8 8 19 8 2
52 (51) 18 (18) 6 (6) 6 (6) 12 (11) 1 (2) 5 (7)
50 (49) 17 (16) 8 (8) 5 (5) 16 (15) 2 (2) 3 (5)
N Frauen Gewerbliche Lehre Kaufmännische Lehre (Berufs-)Fachschule Fachhochschule/Universität In Ausbildung Kein Abschluss Keine Ausbildung
349
375
365
522
512
699
701
11 12 7 1 1 15 54
11 25 9 3 2 12 38
11 37 10 8 2 13 18
13 33 15 10 5 15 9
15 31 16 8 7 18 6
18 (17) 36 (34) 16 (16) 6 (6) 6 (6) 9 (11) 9 (11)
19 (19) 36 (34) 11 (11) 9 (9) 11 (11) 8 (9) 6 (7)
N
359
355
368
485
489
Männer Gewerbliche Lehre Kaufmännische Lehre (Berufs-)Fachschule Fachhochschule/Universität In Ausbildung Kein Abschluss Keine Ausbildung
666 (721) 609 (658)
Anmerkung: Die letzte abgeschlossene Ausbildung. „In Ausbildung“ umfasst Personen, die im Alter von 26 Jahren noch keine Ausbildung erfolgreich beendet hatten, sich aber noch in Ausbildung befanden. In Klammern (Kohorten 1964 und 1971) sind zusätzlich die Verteilungen der Ausbildungsabschlüsse unter Einschluss nichtdeutscher Befragter angegeben. Quelle: Westdeutsche Lebensverlaufsstudie (Befragungszeitpunkte zwischen 1981 und 1999) – eigene Berechnungen
Tabelle 1 zeigt die Veränderungen der beruflichen Ausbildungsabschlüsse zwischen den Geburtsjahrgängen 1929-31 und 1971 in Westdeutschland. Bei den Männern sind die kohortenspezifischen Anteile mit einer gewerblichen Lehre in den jüngsten Kohorten bis auf 50 Prozent gestiegen, ein weiteres Sechstel hat eine kaufmännische Lehre absolviert. Bei 5 Der erreichte Ausbildungsstatus im Alter von 26 Jahren gibt einen relativ guten Überblick über den Wandel des Ausbildungsniveaus, auch wenn dieses Alter für eine endgültige Kohortenbilanz noch zu jung ist, wie die steigenden Anteile junger Erwachsener zeigen, die sich in diesem Alter noch in der Ausbildung befinden. Alternativ kann man den Wandel des kohortenspezifischen Ausbildungsniveaus anhand der Ausbildungsabschlüsse zum Zeitpunkt des Erwerbseinstiegs darstellen (Konietzka 2007: 291). Das hat allerdings den Nachteil, dass einige Personen erst nach ihrer ersten Erwerbsphase eine Ausbildung beginnen.
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den Frauen hat die Hälfte eine Lehre abgeschlossen, überwiegend im kaufmännischen Bereich. Zudem haben vollzeitschulische Ausbildungen bei den Frauen eine anhaltend größere Bedeutung als bei den Männern. In den Jahrgängen 1964 und 1971 hatten insgesamt um die 75 Prozent der Männer und 65 Prozent der Frauen bis zum Alter von 26 Jahren eine nichtakademische Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Diese Zahlen belegen, dass sich die Bildungsexpansion im Bereich der beruflichen Bildung bis in die jüngeren Geburtskohorten fortgesetzt hat. Aufgrund des relativ frühen Vergleichszeitpunkts von 26 Jahren lassen sich noch keine belastbaren Aussagen über die Anteile mit Hochschulabschluss treffen – 15 bzw. 11 Prozent der Männer und Frauen hatten zu diesem Zeitpunkt noch keinen berufsqualifizierenden Abschluss erzielt, waren aber noch in Ausbildung. Schließlich kann festgestellt werden, dass die Anteile derjenigen, die keine berufliche Ausbildung begonnen haben, im Kohortenvergleich zumindest nicht merklich gestiegen ist. Berücksichtigt man auch ausländische Kohortenmitglieder in den beiden jüngsten Kohorten, kommt man vor allem beim Jahrgang 1964 auf leicht erhöhte Anteile bei beiden Geschlechtern. Die Anteile ohne Ausbildung erhöhen sich um jeweils 1-2 Prozent. Die hier unternommene Betrachtung der höchsten erreichten Ausbildungsabschlüsse gibt jedoch keinen hinreichenden Eindruck vom Wandel der Ausbildungsverläufe. Auf der Individualebene sind die Ausbildungsmuster im Kohortenvergleich vielfältiger geworden. Die Logiken der Aufnahme einer zweiten Ausbildung nach dem Abschluss einer ersten Ausbildung fallen dabei unterschiedlich aus. In vielen Fällen dienen weitere Ausbildungen der Höherqualifizierung, bzw. sie bauen fachlich auf der ersten Ausbildung auf (Konietzka 1999; Hillmert und Jacob 2004; Jacob 2004). Jedoch sind fortgesetzte Ausbildungslaufbahnen in zunehmenden Maß auch die Folge von Problemen des Zugangs zu einer beruflich voll qualifizierenden Erstausbildung.
4.2 Wandel des Zusammenhangs von schulischer und beruflicher Bildung Wir haben gesehen, dass die berufliche Bildung trotz der Bildungsexpansion der 1960er Jahre ihre quantitative Bedeutung im Kohortenvergleich gehalten, wenn nicht ausgebaut hat. Dennoch haben sich die Muster des Übergangs in die Berufsausbildung gegenüber dem Übergangssystem der 1950er und 1960er Jahre tiefgreifend gewandelt. Hintergrund ist der Ausbau und die Öffnung weiterführender Schultypen, zu denen nicht zuletzt die Fachoberschulen und Fachgymnasien zählen, die institutionell ebenfalls dem Bereich der beruflichen Schulen zugerechnet werden. Im Zuge der Ausbreitung der weiterführenden Schulen und Bildungsgänge sind die Anteile der Studierenden und der Hochschulabsolventen gestiegen (vgl. Becker 2003). Hatten im Jahr 1960 73 Prozent aller Abgänger aus allgemeinbildenden Schulen höchstens einen Hauptschulabschluss, ist dieser Anteil bis zum Jahr 2006 auf 32,5 Prozent gefallen; zugleich verfügten 25,2 Prozent über eine allgemeine Hochschulreife (Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2007: 15; eigene Berechnungen). Der Großteil der Dynamik entfiel dabei auf den Zeitraum 1970 bis 1990. Zwischen 1990 und 2006 haben sich die Bildungsstrukturen der Schulabgänger kaum noch verändert. Große Unterschiede in den Schulabschlüssen bestehen zwischen Deutschen und Ausländern. Im Jahr 2002 hatten bundesweit 32 Prozent der deutschen, aber 60 Prozent der ausländischen Schulabgänger maximal einen Hauptschulabschluss. Umgekehrt verfügten
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Dirk Konietzka
25 Prozent der Deutschen, aber nur 9,5 Prozent der Nichtdeutschen über die allgemeine Hochschulreife (Datenreport 2004: 68). Die Bildungsstruktur der Ausländer im Jahr 2002 entsprach damit ungefähr derjenigen der deutschen Schulabgänger um 1970. Die Zahlen der Abgänger aus allgemeinbildenden Schulen vermitteln indes ein unvollständiges Bild im Hinblick auf die Zunahme der Anteile der Studienberechtigten eines Jahrgangs. Unter der Quote der Studienberechtigten wird „der auf die gleichaltrige Bevölkerung des jeweiligen Vorjahres bezogene Anteil der Schulabsolventen mit Hochschulreife und Fachhochschulreife“ (Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2007: 18) verstanden. Diese Quote ist zwischen 1992 und 2006 bundesweit von 30,7 auf 43,5 Prozent gestiegen. Wie bereits erwähnt, wurde der Ausbau der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen und Hochschulen von einer Expansion der beruflichen Bildung begleitet. Diese speiste sich aus zwei entgegengesetzten Prozessen – einer vermehrten Erschließung des Potenzials der Schulabgänger und Schulabgängerinnen, die bislang ohne berufliche Ausbildung geblieben waren (Harney und Zymek 1994), sowie einer verstärkten Ausbildungsneigung von Abgängern weiterführender Schulen. Beide Prozesse haben zusammen beträchtliche Strukturveränderungen im Bereich der beruflichen Bildung bewirkt. Personen mit Hochschulreife hatten in den 1980er und 1990er Jahren immer häufiger eine duale Ausbildung aufgenommen. Im neuen Jahrtausend ist die Neigung wieder rückläufig (Berufsbildungsbericht 2007: 113), dennoch hat sich die Zusammensetzung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach schulischer Vorbildung in den Institutionen der beruflichen Bildung nachhaltig verändert. Der Wandel der Sozialstruktur der Schüler und Auszubildenden ist nicht nur durch einen zunehmenden Anteil von Absolventen weiterführender Schulen, sondern auch ein höheres durchschnittliches Lebensalter, eine zunehmende Integration von Frauen und – in geringerem Umfang – von Migranten gekennzeichnet. Weiterhin haben sich die Gewichte zwischen den Teilinstitutionen der beruflichen Bildung verschoben. Vollzeitschulische Ausbildungen haben, vorrangig unter den Frauen, an Bedeutung gewonnen. Die Expansion der Institutionen der beruflichen Bildung hat zu einer zunehmenden internen Differenzierung dieses Bildungssektors geführt. Insbesondere hat die bildungs- und geschlechtsspezifische Segregation im Bereich der Ausbildungsberufe zugenommen (Konietzka 1999, 2002). Der allgemeinbildende Schulabschluss hat sich zu einem bedeutsamen Kriterium des Zugangs zur beruflichen Ausbildung entwickelt. Die verstärkte Orientierung der Betriebe an Schulabschlüssen (und -noten) ist konsistent mit den in Abschnitt 2.2 diskutierten theoretischen Annahmen etwa der Filter- und auch Humankapitaltheorie. Eine Folge ist, dass heute mehr als der Hälfte der Hauptschulabsolventen kein direkter Übergang in eine duale oder schulische berufsqualifizierende Ausbildung gelingt (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 83). Damit scheint der über Jahrzehnte hinweg zentrale Vorzug des beruflichen Bildungssystems – große Teile einer Schulabgängerkohorte integriert zu haben – zunehmend in Frage gestellt (Baethge et al. 2007: 9). Insbesondere das Problem der Integration der – überwiegend männlichen – Abgänger ohne Schulabschluss hat sich in den vergangenen Jahren in den Vordergrund gedrängt. Schulabgänger, die nach der allgemeinbildenden Schule zunächst keine Lehrstelle finden konnten, sind seit den 1980er Jahren zunehmend von „Ersatzinstitutionen“ der beruflichen Bildung (dem BVJ, BGJ, bestimmten Berufsfachschulen und sonstigen Maßnahmen) aufgefangen worden. Für sogenannte Problemgruppen sind die „marktkompensatorischen Schleifen des Bildungssystems“ (Kutscha 1994: 43) zunehmend bedeutsam geworden. Die
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Ausbildungsphase dieser Gruppen ist verstärkt durch Teilausbildungen und eine Reihe von Übergängen im Ausbildungsverlauf mit kritischem Schwellencharakter und potenziell kumulativen Selektionseffekten geprägt. Auch Ausbildungen in Berufsfachschulen haben häufig einen Warteschleifencharakter, da sie nicht direkt in den Arbeitsmarkt, sondern in eine weitere Ausbildung münden (Konietzka 1999). In den letzten Jahren ist das Gewicht der beruflichen bzw. berufsvorbereitenden Maßnahmen weiter gewachsen (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006; Baethge et al. 2007). Im Jahr 2004 hatten unter den Neuzugängen im Bereich der beruflichen Bildung nur 16 Prozent der Abgänger ohne Hauptschulabschluss eine duale Ausbildung begonnen. Dagegen hatten 40 Prozent derjenigen mit Hauptschulabschluss, 49 Prozent derjenigen mit Realschulabschluss sowie 68 Prozent derjenigen mit Hochschulreife eine Ausbildung im dualen System begonnen. Demgegenüber landeten 84 Prozent der Abgänger ohne Hauptschulabschluss, 52 Prozent derjenigen mit Hauptschulabschluss, 27 Prozent derjenigen mit Realschulabschluss und 3 Prozent derjenigen mit Hochschulreife zunächst in den Warteschleifen des beruflichen Bildungssystems (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Eine aktuelle Analyse der Jugendlichen der Geburtsjahrgänge 1982-1988, die nach dem Ende der allgemeinbildenden Schule eine betriebliche Berufsausbildung angestrebt haben, zeigt Unterschiede im Tempo des Übergangs zwischen den Bildungsgruppen auf (Berufsbildungsbericht 2007). Während des ersten Jahres nach Beendigung der Schule war „der Anteil der in eine duale Ausbildung eingetretenen Personen bei einem mittlerem Abschluss um 15 Prozentpunkte höher als bei einer niedrigeren Schulbildung“ (ebd.: 71). Erst ab dem dritten Jahr waren die entsprechenden Unterschiede weitgehend verschwunden. Es kann festgehalten werden, dass Jugendliche mit Hauptschulabschluss, vor allem aber jene ohne allgemeinbildenden Schulabschluss, geringe Chancen haben, einen regulären Ausbildungsplatz zu bekommen. Sie werden überwiegend in Maßnahmenkarrieren eingefädelt und verbleiben dort häufig über einen längeren Zeitraum. Relativ wenige Jugendliche ohne Schulabschluss sind in der Lage, doch noch eine berufliche Ausbildung erfolgreich zu absolvieren (Solga 2004: 59). Überproportional betroffen sind junge Männer: „Von der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen, hat die geschlechtstypische Ungleichheit in der Berufsbildung eine neue Richtung im Sinne einer starken Benachteiligung der männlichen Jugendlichen angenommen. Die neuen geschlechtstypischen Disparitäten äußern sich darin, dass die im Durchschnitt deutlich schlechteren allgemeinbildenden Schulabschlüsse der Jungen (höherer Anteil ohne und mit Hauptschulabschluss, niedrigerer Anteil mit Realschulabschluss und Hochschulreife) den Übergang in eine Berufsbildung unverhältnismäßig stärker erschweren als bei den jungen Frauen“ (Baethge et al. 2007: 9). Über die bislang genannten Aspekte hinaus bestehen im beruflichen Bildungssystem besondere Integrationsprobleme von Migranten sowie Schulabgängern in Ostdeutschland. Die geringeren Chancen der Ausländer im allgemeinbildenden Bildungssystem setzen sich beim Zugang zur beruflichen Bildung fort (Konietzka und Seibert 2003; Seibert 2005). Vieles spricht dafür, dass sich ihre Position auf dem Ausbildungsmarkt seit den 1990er Jahren verschlechtert hat. Vor allem im Handwerk und der Industrie sind ihre Ausbildungschancen im Vergleich zu den 1980er Jahren gesunken (Baethge 2007: 42). In Ostdeutschland besteht schließlich bis heute ein überproportionales Unterangebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen (Berufsbildungsbericht 2007: 11f.). Die Gesamtnachfrage hat in den 1990er Jahren bis zu 50 Prozent das Angebot an Ausbildungsplätzen überstiegen. Dies führte zu einem massiven Ausbau der außerbetrieblichen Ausbildung für
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Jugendliche ohne betriebliche Ausbildungsverträge. Von den betrieblichen Ausbildungsplätzen wurden bis zu 80 Prozent teilweise oder ganz staatlich gefördert. Neben der massiven öffentlichen Förderung der Berufsausbildung besteht ein weiteres Merkmal in individuellen Problemlösungsstrategien der Ausbildungsplatzsuchenden – d.h. vor allem regionale Mobilität (Steiner 2004).
4.3 Wandel des Übergangs von der beruflichen Ausbildung in den Beruf Neben den Übergangswegen in die berufliche Bildung und dem Ausbildungsverhalten haben sich auch die Übergangswege in den Arbeitsmarkt verändert. Nach allgemeinem Dafürhalten haben sich die Arbeitsmarktchancen von Berufsanfängern, insbesondere die Übernahmenchancen nach der dualen Ausbildung und die Aussicht auf adäquate und dauerhafte Beschäftigung, seit den 1980er Jahren verschlechtert. Empirische Untersuchungen verweisen jedoch darauf, dass der Übergang in den Arbeitsmarkt und der frühe Erwerbsverlauf weniger durch eine generell zunehmende Diskontinuität und Prekarisierung als durch eine Kumulation von Übergangsrisiken für bestimmte Personen geprägt werden. Dabei setzen sich typischerweise die Risikostrukturen, die bereits den Übergang in die berufliche Ausbildung geprägt haben, fort. Tabelle 2: Arbeitslosigkeit, Berufswechsel und Betriebswechsel beim Berufseinstieg – nach Berufseinstiegskohorte und Geschlecht (in Prozent) Kohorte
Arbeitslos
1976-77 1978-79 1980-81 1982-83 1984-85 1986-87 1988-89 1990-91 1992-93 1994-95
5 5 8 14 20 18 16 13 13 20
Männer Anderer Beruf 20 22 22 23 27 26 27 27 27 31
Anderer Betrieb 22 24 24 25 32 33 34 33 30 34
Arbeitslos 8 7 12 18 21 21 18 15 14 19
Frauen Anderer Beruf 19 21 22 21 24 24 24 24 20 22
Anderer Betrieb 29 33 34 33 38 39 41 40 34 36
Quelle: Konietzka 2004 (eigene Berechnungen mit der IAB-Beschäftigtenstichprobe 1975-1995)
Das Risiko, arbeitslos zu werden, eine atypische Beschäftigung, einen geringen Berufsstatus (Müller 2001; Solga 2002), eine instabile oder befristete Beschäftigung (Lauterbach und Sacher 2001; Giesecke und Groß 2002; Kurz und Steinhage 2001) auszuüben, ist nach zahlreichen Studien für Personen ohne Schul- und/oder beruflichen Ausbildungsabschluss erhöht. Studien weisen aber auch darauf hin, dass Bildungsrenditen seit den 1980er Jahren für die mittleren Qualifikationsstufen (vgl. Handl 1996; Brauns et al. 1999) zurückgegangen sind. So haben sich die Bildungsrenditen von Hauptschülern mit einer dualen Ausbildung beim Berufsteinsteig in Bezug auf das Berufsprestige (Müller 2001) und das Nettoeinkommen (Butz 2001) verringert. Befristete Verträge sind sowohl in den unteren als auch
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den höheren Beschäftigtenkategorien besonders stark verbreitet (Groß 2001; Kim und Kurz 2003). Befristungen beim Berufseinstieg haben dagegen nicht unbedingt längerfristige Folgen im Erwerbsverlauf (McGinnity und Mertens 2004). Im Folgenden soll der Wandel des Übergangs an der sogenannten zweiten Schwelle genauer dargestellt werden. Wie in Tabelle 2 dargestellt, haben im Zeitraum von der Mitte der 1970er bis zur Mitte der 1990er Jahre vor allem Betriebswechsel und Arbeitslosigkeit beim Berufseinstieg zugenommen. In konjunkturell schwachen Jahren war zudem die Arbeitslosigkeit an der zweiten Schwelle stark erhöht. In den Jahren 1984/85 und erneut 1994/95 wurden rund zwanzig Prozent der Männer und Frauen nach Beendigung der beruflichen Ausbildung arbeitslos gemeldet. Insgesamt wurden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre knapp sechzig Prozent der Absolventen einer dualen Ausbildung vom Betrieb übernommen und im Ausbildungsberuf beschäftigt (vgl. Konietzka und Seibert 2001). Arbeitslosigkeit nach der Berufsausbildung ist eine Nebenfolge des Umstands, (unfreiwillig oder freiwillig) nicht vom Ausbildungsbetrieb übernommen worden zu sein. Es zeigt sich, dass eine Nichtübernahme ein erhebliches Risiko der Arbeitslosigkeit impliziert. Seit dem Beginn der 1980er Jahre wurden mindestens dreißig Prozent der Ausbildungsabgänger, die nicht übernommen wurden, zumindest kurzfristig arbeitslos gemeldet. Aktuelle Analysen zeigen, dass sich die empirischen Muster an der zweiten Schwelle in den letzten Jahren eher wenig verändert haben. So hat die berufliche Mobilität seit der Mitte der 1990er Jahre nicht weiter zugenommen, bei den Frauen ist sie eher rückläufig (Seibert 2007). Dagegen haben Übergänge in Arbeitslosigkeit nach dem Abschluss einer dualen Ausbildung deutlich zugenommen. Nach aktuellen Schätzungen sind die Anteile in den Jahren 2003 bis 2005 in den alten Ländern von 24 auf 32 Prozent, in den neuen Ländern von 40 auf 47 Prozent gestiegen (Berufsbildungsbericht 2007: 206). In den alten Ländern wurden außerdem laut IABBetriebspanel nur rund die Hälfte (55 Prozent) der Auszubildenden, die im Jahr 2005 ihre Berufsausbildung erfolgreich beendet haben, übernommen, in den neuen Ländern waren es nur mit 37 Prozent sogar kaum mehr als ein Drittel (ebd.: 208). Männer und Frauen, die nach der Berufsausbildung arbeitslos wurden, haben beträchtlich häufiger den Beruf gewechselt als diejenigen, die nicht arbeitslos wurden. Zwischen fünfzig und sechzig Prozent der Männer und zwischen vierzig und fünfzig Prozent der Frauen kehren nach einer Phase der Arbeitslosigkeit nicht in ihren erlernten Beruf zurück. Dagegen verlassen kaum mehr als zwanzig Prozent der Männer und Frauen, welche die zweite Schwelle ohne Arbeitslosigkeit bewältigt haben, den Ausbildungsberuf (Konietzka und Seibert 2001; Seibert 2007). Arbeitslosigkeit ist damit mehr als ein temporärer lebenszeitlicher Einschnitt, sie trägt erheblich zu einer veränderten beruflichen Weichenstellung beim Übergang in den Arbeitsmarkt bei. Mit betrieblicher und beruflicher Mobilität an der zweiten Schwelle geht ein erhöhtes berufliches Abstiegsrisiko einher. Im Facharbeitersegment sind die Chancen, eine adäquate Stellung zu erreichen, bei einer Weiterbeschäftigung im Ausbildungsbetrieb und im erlernten Beruf am größten (Konietzka 2002; Seibert 2007). Schließlich stellen sich auch die Berufszugangschancen junger Erwachsener in Ostdeutschland schlechter als in Westdeutschland dar (Matthes 2004). Trotz oder wegen der starken öffentlichen Förderung des Angebots betrieblicher Ausbildungsplätze ist die Übernahmequote seitens der ausbildenden Betriebe deutlich niedriger. Die zweite Schwelle ist insgesamt durch eine höhere Arbeitslosigkeit, eine einseitigere Berufsstruktur der Berufsanfänger sowie größere geschlechtsspezifische Unterschiede gekennzeichnet (Konietzka 2001). In einem Ost-West-Vergleich der Geburtskohorte 1971 wird ebenfalls sichtbar, dass
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die ostdeutschen Männer und Frauen in verschiedener Hinsicht größere Probleme beim Berufszugang hatten als ihre westdeutschen Gegenüber. Dennoch konnten sie – nicht zuletzt aufgrund individueller Anpassungsleistungen – für sich eine relativ hohe Kontinuität dieses Prozesses sicherstellen (Matthes 2004). Wie bereits mehrfach betont, ist die berufsspezifische Differenzierung oder Verberuflichung ein zentrales Merkmal der beruflichen Bildung in Deutschland. Zwar erweist sich das Ranking der Ausbildungsberufe seit Jahrzehnten als vergleichsweise stabil (Seibert 2007), jedoch zeigt eine nach den Ausbildungsbereichen Industrie und Handel sowie Handwerk differenzierte Darstellung, dass seit den 1970er Jahren relevante strukturelle Verschiebungen zwischen Ausbildungsberufen stattgefunden haben. So sind Facharbeiterausbildungen in den traditionellen Fertigungsberufen in Industrie und Handwerk teilweise stark rückläufig (Baethge et al. 2007: 30). In den letzten zehn Jahren ist zudem die Zahl der Industrie-, Bank- und der Groß- und Außenhandelskaufleute zurückgegangen. Im handwerklichen Bereich haben insbesondere die Ausbildungen im Reparaturhandwerk, Nahrungsmittelhandwerk und Bauhandwerk stark an Gewicht verloren. Die Fertigungsberufe und die meisten handwerklichen Ausbildungsberufe waren traditionell jene Bereiche, in denen vor allem männliche Auszubildende mit Hauptschulabschluss dominierten. Für diese stehen heutzutage immer weniger adäquate Ausbildungsplätze zur Verfügung (ebd.: 32). Die Ausbildungsberufe des dualen Systems unterscheiden sich deutlich im Hinblick auf die Übergangsmuster in den Beruf (Schaeper et al. 2001). Es besteht nicht allein eine große Vielfalt von Übergangsmustern, sondern eine deutlich ungleiche Verteilung der Chancen und Risiken, den Übergang in den Beruf zu bewältigen. Der Bereich der anerkannten Ausbildungsberufe ist in sich differenziert sowohl im Hinblick auf die Zugangsvoraussetzungen als auch auf die Übergangs- und Karrierechancen. Ein exemplarischer Vergleich der jeweils vier häufigsten Ausbildungsberufe von Männern und Frauen und zusätzlich des Ausbildungsberufs der Bankkaufleute soll dies im Folgenden deutlich machen. Die Bankausbildung ist in der Hierarchie der Ausbildungsberufe am höchsten angesiedelt, was unter anderem daran zu erkennen ist, dass die Absolventen einer Banklehre den mit Abstand größten Anteil an Abiturienten aufweisen (Berufsbildungsbericht 2000: 56). Wie Tabelle 3 zeigt, variiert das Ausmaß beruflicher und betrieblicher Mobilität sowie Arbeitslosigkeit erheblich zwischen den Ausbildungsberufen. Die Spannweite ist besonders groß im Hinblick auf Berufswechsel. Sie reicht von sechs Prozent bei den Bankkaufleuten bis zu 38 Prozent bei den Maschinenschlossern. Auch die Anteile der Betriebswechsel variieren stark – von 16 Prozent bei den Bankkaufleuten bis zu 48 Prozent bei den Krankenschwestern. Letztere verweisen nicht zuletzt auf die besonderen Rahmenbedingungen der nicht in das duale System integrierten Ausbildungen. Schließlich bestehen beträchtliche Unterschiede im Hinblick auf das Risiko, nach der Ausbildung arbeitslos zu werden. Nur zwei bis drei Prozent der Bankabsolventen, aber 19 Prozent der Kfz-Mechaniker und 15 Prozent der Verkäuferinnen, Sprechstundenhilfen und Krankenschwestern wurden arbeitslos. Die Absolventen einer Bankausbildung haben mit Abstand am seltensten alle drei dieser Übergänge realisiert.
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Tabelle 3: Arbeitslosigkeit, Berufswechsel und Betriebswechsel beim Berufseinstieg – nach Ausbildungsberuf und Geschlecht (in Prozent) Männer Maschinenschlosser Kfz-Mechaniker Bürofachkräfte Elektroinstallateure Tischler Bankkaufleute Frauen Verkäuferinnen Bürofachkräfte Krankenschwestern Sprechstundenhilfen Bankkaufleute
Arbeitslos
Anderer Beruf
Anderer Betrieb
11 19 11 15 16 3
38 25 24 16 14 6
24 34 27 29 30 16
15 14 15 15 2
17 20 8 11 6
31 32 48 25 16
Quelle: Konietzka 2004 (eigene Berechnungen mit der IAB-Beschäftigtenstichprobe 1975-1995)
Die unterschiedlichen Mobilitätsmuster an der zweiten Schwelle beeinflussen unmittelbar die Arbeitsmarktchancen. Zieht man die erreichte berufliche Stellung als Kriterium eines erfolgreichen Berufseinstiegs heran (Tabelle 4), wird deutlich, dass 93 Prozent der Männer, die den Betrieb gewechselt haben, aber im erlernten Beruf geblieben sind, als Facharbeiter eingestuft wurden. Demnach sind Betriebswechsel zunächst einmal eine unproblematische Form der Mobilität an der zweiten Schwelle. Risikoreicher sind dagegen Berufswechsel. In einem Viertel der Fälle (bei den Kfz-Mechanikern und Elektroinstallateuren in einem Drittel der Fälle) waren innerbetriebliche Berufswechsel mit einem beruflichen Abstieg bzw. einer Einstufung als un- oder angelernter Arbeiter verbunden. Am problematischsten erweist sich schließlich die Kombination von betrieblichem und beruflichem Wechsel. Diese geht in allen betrachteten Berufen mit stark verringerten Verwertungschancen der Ausbildung einher. Die unterschiedlichen Mobilitätsmuster an der zweiten Schwelle machen deutlich, dass die Handlungsspielräume von Absolventen der beruflichen Bildung in hohem Maße berufsspezifisch segmentiert sind. Tabelle 4: Anteile in Facharbeiterposition beim Berufseinstieg im Fall eines Betriebsund/oder Berufswechsels – nach dem Ausbildungsberuf (nur Männer, in Prozent)
Maschinenschlosser Kfz-Mechaniker Elektroinstallateure Tischler Alle Ausbildungsberufe
Anderer Betrieb (gleicher Beruf) 95 91 95 93 93
Anderer Beruf (gleicher Betrieb) 72 65 65 79 74
Anderer Beruf und Betrieb 61 41 47 56 53
Quelle: Konietzka 2004, eigene Berechnungen mit der IAB-Beschäftigtenstichprobe 1975-1995
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Man kann über die gezeigten Beispiele hinaus feststellen, dass die Übergangschancen in den Arbeitsmarkt stark zwischen den Ausbildungsberufen variieren (Schaeper et al. 2001; Konietzka 2002). Die Mobilitätsmuster an der zweiten Schwelle verweisen darauf, dass die berufsspezifische Differenzierung des Ausbildungssystems in erheblichem Maß eine Ungleichheit der Übergangschancen in den Arbeitsmarkt bedingt. Es gibt keine empirischen Hinweise darauf, dass die Relevanz der Unterschiede zwischen den Berufen im Lauf der letzten Jahrzehnte für den Übergangsprozess an der zweiten Schwelle abgenommen hat.
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Diskussion und Ausblick
Die berufliche Bildung in Deutschland ist Bestandteil eines komplexen institutionellen Gefüges, das im Lauf der letzten Jahrzehnte durch zahlreiche strukturelle Veränderungen geprägt worden ist. Empirische Studien über den Wandel der beruflichen Bildung und des Arbeitsmarktzugangs haben verschiedene Aspekte des Wandels und der Verharrung der institutionellen Rahmenbedingungen und des Bildungsverhaltens aufgezeigt. Die Bildungsexpansion wird zwar gemeinhin nur auf die weiterführende Allgemeinbildung und die Hochschulausbildung bezogen, sie hat aber in wesentlicher Weise auch den Bereich der beruflichen Bildung erfasst. So hat das berufliche Bildungssystem sowohl seine inneren Strukturen als auch seinen Stellenwert im Übergangssystem von der Schule in den Beruf stark verändert. Die relativen Gewichte der verschiedenen allgemeinbildenden Schulen, die Struktur der Ausbildungsbereiche und -berufe, die Sortierungen zwischen Allgemein- und Berufsbildung sowie die Übergangsmuster in die berufliche Ausbildung und den Arbeitsmarkt haben sich verändert. Die Anteile eines Altersjahrgangs, die eine weiterführende allgemeinbildende Schule abschließen und im Anschluss eine berufliche und/oder akademische Ausbildung beginnen, haben stark zugenommen. Mit der Höherqualifizierung haben sich die Bildungs- und Ausbildungsphasen im Lebenslauf verschoben und verlängert, und die Übergangsmuster von der Schule in den Beruf sind vielfältiger geworden. Mit dem Wandel der Übergänge von der Schule in die Berufsausbildung und von der Berufsausbildung in den Arbeitsmarkt haben sich ferner die sozialen Selektionsprozesse an den verschiedenen Schwellen bzw. Übergängen verändert. Die zunehmende Durchsetzung der beruflichen Ausbildung als Lebenslaufinstitution hat den Berufszugang im Zeitvergleich insgesamt in höherem Maß institutionalisiert und geregelt. Es ist zu einer stärkeren bildungsmäßigen Schließung des Ausbildungs- und Arbeitsmarktzugangs gekommen, die in erster Linie zu Lasten der Erwerbschancen derjenigen gegangen ist, die formal nicht oder gering qualifiziert sind. Diese Verlierer der Bildungsexpansion sind zwar quantitativ eine eher kleine Gruppe, sie können aber zunehmend nicht den Anschluss an den regulären Arbeitsmarkt finden (Dietrich 2001; Solga 2006; Baethge et al. 2007). Die empirische Forschung zur beruflichen Bildung und allgemeiner zum Übergang von der Schule in den Beruf hat im letzten Jahrzehnt, vorrangig aus der Perspektive des Lebenslaufs, viele aufschlussreiche Befunde und Zusammenhänge herausgearbeitet, die differenzierter ausfallen als pauschale Diagnosen über Trends und Umbrüche im Bereich der beruflichen Bildung. Trotz eines beachtlichen Aufschwungs der empirischen Forschung bleiben viele Fragen ungeklärt. Dietrich und Abraham (2005) haben nicht zu Unrecht darauf verwiesen, dass die jüngere Forschung einige Diskrepanten in den empirischen Forschungsergebnissen aufweist. Diese können zumindest teilweise auf Unterschiede in den
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herangezogenen Daten, Variablen, Operationalisierungen und Analysemethoden zurückgeführt werden. Sie verweisen aber auch darauf, dass man um eine reflektierte Rezeption von Forschungsergebnissen und der verwendeten Methoden nicht umhinkommt. Dies gilt auch dann, wenn es um scheinbar ‚harte Fakten‘ der Bildungsbeteiligung und der Bildungschancen geht. Ein elementares analytisches Erfordernis der Forschung ist eine differenzierte Betrachtung von Übergängen und Ausbildungsverläufen. Man kann zwar in Bezug auf das berufliche Bildungssystem von einem Zwei-Schwellen-Modell des Berufszugangs sprechen, jedoch aus diesem Modell nicht ableiten, dass sich der Übergang von der Schule in den Beruf adäquat durch eine punktuelle Übergangsbilanz an den beiden Schwellen abbilden lässt. Wie in diesem Überblicksbeitrag nur angerissen werden konnte, haben Ausbildungsverläufe und der Prozess des Zugangs und der Integration in den Arbeitsmarkt häufig einen weitaus komplizierteren Charakter. Die vielleicht gravierendsten Differenzen bestehen aber heutzutage in Bezug auf die Interpretation der Forschungsergebnisse zum Wandel des Berufseinstiegs. Während niemand die erheblichen empirischen Wandlungen in diesem Bereich in den letzten 30 Jahren bestreitet, differieren die Bewertungen der Wandlungsprozesse. Sind diese umfassend, gravierend oder eher gradueller Natur? Sind sie „überraschend gering“ oder „unerwartet groß“? Verweisen sie auf einen Strukturbruch oder eine Kontinuität institutioneller Muster? Diese Fragen sind nicht allein auf der Basis der Ergebnisse der empirischen Strukturen zu beantworten. Eine weitere bislang unbefriedigend gelöste Aufgabe besteht darin, die empirischen Ergebnisse zum Wandel der beruflichen Bildung in einen allgemeineren lebenslauftheoretischen Rahmen zu stellen. Die Frage, ob wir an der Schwelle eines Strukturbruchs des Lebenslaufs stehen (Kohli 1985), ist auch heute schwer zu beantworten. Zwar können in Bezug auf den Übergang von der Schule in den Beruf viele Aspekte benannt werden, die als charakteristisch für einen Strukturwandel von Lebensläufen gelten – Verschiebungen des Lebensalters, eine Verlängerung der Ausbildungsphase, wiederholte Ein- und Austritte, unschärfere Grenzen zwischen den Lebensphasen Ausbildung und Erwerbsleben. Diese beobachtbaren Veränderungen können aber nicht sinnvoll interpretiert werden, wenn sie nicht mit den spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen – den Gegebenheiten des Bildungssystems, Arbeitsmarktstrukturen, den Akteuren der Steuerung der beruflichen Bildung – in Verbindung gebracht werden. Ungeachtet aller ungelösten Probleme kann man bis auf weiteres festhalten, dass in Deutschland die Institutionen der beruflichen Bildung und des Arbeitsmarktes eine vergleichsweise enge Verbindung zwischen Ausbildung und Beschäftigung im Lebenslauf herstellen. Die traditionell große Aufmerksamkeit für den Übergang in den Arbeitsmarkt ist vor diesem Hintergrund immer noch berechtigt, vielleicht sogar mehr als zuvor, da die Brücke vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem einen der Übergänge im Lebenslauf darstellt, an denen sich offenkundig verstärkt Ausschlussrisiken herausbilden. Trotz gewachsener Integrationsprobleme kann man jedoch bislang kaum von einer Erosion des beruflichen Bildungssystems sprechen. Die marktseitig gestiegenen Risiken sind in Deutschland in der Tat weniger als in Ländern mit liberalen, flexiblen Arbeitsmärkten auf den Erwerbeinstieg konzentriert (vgl. Gangl 2003; Kim und Kurz 2003; Scherer 2003). Das Prinzip der an formelle Zertifikate orientierten Schließung von Erwerbschancen, insbesondere in Form beruflich differenzierter „Trajectories“, prägt den Arbeitsmarktzugang nach wie vor auf spezifische Weise. Die Macht des institutionellen Gefüges wird nicht zuletzt in
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den Entwicklungen in den neuen Ländern sichtbar. Der Ausbau von Ersatzinstitutionen und die individuelle Bewältigung von Übergangsproblemen durch regionale Mobilität sind zwei wesentliche Mechanismen, die Probleme des beruflichen Bildungs- und des angeschlossenen Übergangssystems „systemkonform“ zu bewältigen. Inwiefern damit in längerer Hinsicht eine Stabilisierung oder Unterhöhlung des „deutschen“ Berufsbildungssystems insgesamt verbunden ist, wird sich zeigen.
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Hochschulbildung und soziale Ungleichheit Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
1
Einleitung
Hochschulen vermitteln wie andere Bildungseinrichtungen auch explizit und in systematischer Weise Kompetenzen und Qualifikationen und tragen durch die Weitergabe von Orientierungen, Werten und sozialen Verhaltensweisen teils offen, teils implizit („hidden curriculum“) zur Sozialisation der Bevölkerung bei. Damit verbunden ist, was oft als Selektion, Statuszuweisung oder Statusdistribution bezeichnet wird: Die Chancen von Individuen auf unterschiedlich vorteilhafte Positionen im Erwerbssystem oder auf Positionen von Macht und Einfluss in anderen Bereichen sind in hohem Grad durch das Abschneiden im Bildungssystem geprägt. Die Erträge von Bildung sind aber nicht nur durch die gewonnenen Kompetenzen und Fähigkeiten oder das erworbene Wissen bestimmt. Zertifizierte Qualifikationen können auch Konsequenzen unabhängig vom Gelernten haben, und was letztlich als Berufsoder Machtposition herauskommt, hängt auch von vielfältigen Bedingungen in den verschiedenen Ertragsfeldern ab. Was jemand im Bildungssystem erreicht, ist stark von ungleichen Ausgangsbedingungen der familiären Herkunft beeinflusst. Deshalb werden über Bildung auch soziale Ungleichheiten von einer Generation auf die nachfolgende „vererbt“. Der Bildungserwerb ist aber nicht ausschließlich durch Bedingungen der Herkunft bestimmt. Bildung fördert deshalb nicht nur die Reproduktion sozialer Ungleichheit, sondern sie ist zugleich ein wichtiger Kanal sozialer Mobilität zwischen den Generationen. Für den Hochschulbereich gilt das Gesagte in besonders ausgeprägter Weise: Die Hochschulen sollen das am weitesten fortgeschrittene Expertenwissen vermitteln und die am höchsten bewerteten Qualifikationen. So führt Hochschulbildung in der Regel mit Abstand zu den vorteilhaftesten Erträgen und ist zunehmend zentrale Voraussetzung, um in herausgehobene Positionen zu gelangen (Müller und Jacob 2008). Deshalb spielt die Hochschulbildung auch eine zunehmend wichtigere Rolle im Hinblick auf die Realisierung von mehr oder weniger Chancengleichheit. An den Hochschulbereich richten sich darüber hinaus weitere Erwartungen, die gegenüber anderen Bildungsbereichen weniger ausgeprägt sind. Neben Fachwissen sollen Studierende – zumindest dem Anspruch nach und stärker als Absolventen anderer Bildungsstufen – lernen, später eigenständig neues Wissen zu erwerben um damit innovativ Probleme zu lösen. Und sie sollen besondere kommunikative und soziale Kompetenzen beispielsweise für Leitungsaufgaben ausbilden (vgl. Teichler und Kehm 1995). Durch welche Art der Didaktik und Lernmethoden können solche sogenannten generischen Kompetenzen am besten gelernt werden und welches Gewicht soll in der Ausbildung darauf im Vergleich zur Vermittlung von Fachkompetenz gelegt werden? Universitäten gehören in den meisten Ländern zu den wichtigsten Einrichtungen für Forschung und Weiterentwicklung wissenschaftlichen Wissens. Welche Art der Verbindung von Lehre und Forschung ist für beide Bereiche besonders
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
profitabel und wie fördert oder behindert diese Verbindung die wissenschaftliche Produktivität im Vergleich zu anderen Modellen der Wissenschaftsorganisation? Weitere Fragen der Forschung über Hochschulen betreffen die Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Einrichtungen des Hochschulsystems, ihre Kontrolle oder Autonomie sowie den mehr oder weniger ausgeprägten Wettbewerb zwischen verschiedenen Einrichtungen oder die Art und das Ausmaß ihrer öffentlichen oder privaten Finanzierung. Wie beeinflusst all dies die Qualität der Ausbildung (insgesamt und in unterschiedlichen Hochschultypen, einzelnen Hochschulen oder Fächern) und wie die wissenschaftliche Produktivität? Und wie kann man die Qualität und Produktivität messen? Mehr und mehr rekrutieren sich die Eliten in den entscheidenden Führungs- und Machtpositionen einer Gesellschaft aus früheren Hochschulabsolventen. Wie beeinflusst die Organisation des Hochschulsystems die Auswahl (z.B. aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen) und die Sozialisation dieser Eliten? Wie lässt sich gerade in der Hochschulbildung das Spannungsfeld zwischen möglichst guter Ausbildung für viele und besonderer Förderung von Spitzenleistungen lösen? Wie hängen die Werte der Eliten, ihre Kooperationsfähigkeit, ihre Vernetzung bis hin zur Bildung von Elitenkartellen davon ab, ob im Hochschulsystem spezielle Eliteeinrichtungen ausgebildet sind oder sich die Führungskräfte eines Landes heterogen aus unterschiedlichen Einrichtungen mit vergleichsweise ähnlichen Qualitätsstandards rekrutieren? Die Ausgestaltung des Hochschulbereichs hat also Auswirkungen für vielfältige Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung und unterliegt damit oft Zielkonflikten. Die Untersuchung dieser weiten Fragen ist Gegenstand mehrerer spezieller Forschungsgebiete wie der Erziehungswissenschaft, der Organisationssoziologie, der Wissenschaftssoziologie, der Elitensoziologie, der Bildungsökonomie oder der Hochschulmanagement-Forschung in der Betriebswirtschaftslehre. Sie können in diesem Beitrag nicht oder bestenfalls nur andeutungsweise behandelt werden. Der Beitrag wird sich auf Aspekte konzentrieren, die für die Forschung zur sozialen Ungleichheit in Gesellschaften von besonderem Interesse sind, vor allem die Expansion des Hochschulbereichs und die Entwicklung der sozialen Disparitäten in der Hochschulbildung. Für jede dieser beiden Thematiken werden wir einleitend – jedoch nur kurz – theoretische Grundlagen diskutieren. Da diese schon im Einleitungskapitel dieses Lehrbuches und im Kapitel über Bildungsungleichheiten (siehe auch den Beitrag über berufliche Weiterbildung von Becker und Hecken in diesem Band) ausführlich behandelt sind und weitgehend auch für den Hochschulbereich gelten, werden wir dagegen besonderes Gewicht auf die Darstellung von Befunden empirischer Forschung legen. Dabei werden wir uns auf Befunde für Deutschland konzentrieren, wenn es der Forschungsstand erlaubt, jedoch auch Vergleiche zu anderen Ländern ziehen.
2
Expansion und Differenzierung der Hochschulbildung
Antriebskräfte der Hochschulexpansion In praktisch allen entwickelten Ländern hat im Zuge der generellen Bildungsexpansion seit dem Zweiten Weltkrieg – früher oder später beginnend – auch eine massive Expansion der Hochschulbildung stattgefunden (Schofer und Meyer 2005). Die Hochschulen haben sich von Einrichtungen der Elitenbildung zu solchen der Ausbildung großer Teile der nachwachsenden Generationen gewandelt. Die verschiedenen Theorien, die die Bildungsexpansion generell zu erklären versuchen, gelten auch für die zunehmende Teilnahme an Hoch-
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
283
schulbildung. Nach den mikro- und makrotheoretischen Varianten der Humankapitaltheorie (Becker 1964, Schultz 1961) resultiert die Expansion in hohem Ausmaß daraus, dass mit Bildung Produktivitäts- und Wohlfahrtsgewinne erzielt oder zumindest erwartet werden. Dies gilt für verschiedene Ebenen: Für die Ebene von handelnden Individuen, die in ihre eigene Bildung investieren, für die Ebene der Arbeitgeber, die aufgrund fortschreitender Technologie und wissenschaftlichen Inputs in der Güterherstellung und bei vielen Dienstleistungen höher qualifiziertes Personal nachfragen, und auch für die Makroebene der Staaten, die (oft auch im Hinblick auf die Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit) verstärkt Bildungsgelegenheiten zur Verfügung stellen oder subventionieren. Nach der Screening- oder Signaltheorie (Arrow 1973; Spence 1973) kann es darüber hinaus zu überzogenen, nicht beabsichtigten Formen der Expansion (Boudon 1974) kommen, wenn bei der Auswahl von Personal für Arbeitsplätze Bewerber nach ihrer Bildung gereiht werden (Thurow 1975). Für gute Jobchancen zählt dann, mehr Bildung als konkurrierende Bewerber zu haben. Ein perverser Wettlauf kann entstehen, bei dem für gleiche Jobs zunehmend mehr Bildung benötigt wird und Arbeitskräfte mit niedrigeren Qualifikationen aus ihren hergebrachten Positionen durch Arbeitskräfte mit höheren Qualifikationen verdrängt werden. In interessentheoretischer Sicht hat Max Weber (1964) steigende Bildungsanforderungen auf Strategien der Vorteilssicherung privilegierter Gruppen zurückgeführt. Insbesondere einzelne Professionen verlangen zunehmend mehr Bildung als Zugangsvoraussetzung, um die Zahl der Wettbewerber klein zu halten und/oder besondere Belohnungen für ihre Dienste zu bewahren oder zu bewirken (Weeden 2002). Mit Bezug auf diese allgemeinen theoretischen Hypothesen lassen sich folgende Faktoren als mögliche Ursachen speziell der Expansion der Hochschulbildung identifizieren:
Innovationen und die Verwissenschaftlichung in der Güterproduktion und in vielen anderen Sphären von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik haben die Nachfrage nach hochqualifiziertem Personal kontinuierlich gesteigert. Bei allgemeiner Erhöhung des Wohlstandsniveaus und weitgehender Absicherung materieller Grundbedürfnisse verschiebt sich die Nachfrage nach höherwertigen Gütern und Dienstleistungen (z.B. im Bildungs-, Beratungs- und Gesundheitsbereich), was entsprechend die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften befördert. In verschiedenen Erwerbsbereichen waren Bemühungen von Berufsgruppen (z.B. der Sozialarbeit, der medizinischen Hilfsberufe) erfolgreich, durch das Einfordern von Hochschulbildung als Zugangsvoraussetzung sich dem Berufsstatus der anerkannten Professionen anzugleichen. Dies geschah allerdings je nach länderspezifischen Bedingungen in unterschiedlichem Grade. Hochschulabsolventen genießen besonders vorteilhafte Erträge auf dem Arbeitsmarkt: unter anderem und in der Regel hohen Status und hohes Einkommen, vorteilhafte Klassenpositionen, bessere Arbeitsbedingungen und geringere Arbeitslosigkeitsrisiken als weniger qualifizierte Arbeitnehmer. Selbst bei starker Expansion scheinen Hochgebildete über den Mechanismus von Verdrängungsprozessen weiterhin vorteilhafte Erwerbschancen zu behalten (Gangl 2006). Aber auch mit Blick auf andere Lebensbereiche bis hin zur Steigerung der Lebenserwartung lohnt sich Hochschulbildung.
All dies veranlasst die vorgenannten Akteure der verschiedenen Ebenen, in Hochschulbildung zu investieren, diese nachzufragen und damit die Expansion voranzutreiben.
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Differenzierung der Hochschulinstitutionen Die Expansion der Hochschulbildung ist in aller Regel auch mit einer wachsenden Differenzierung der Hochschullandschaft verbunden. Zunehmende Differenzierung ist ein allgemeines Phänomen wachsender Organisationsgröße (Blau 1970). Zur Bewältigung zunehmender Heterogenität und zur Steigerung der Effizienz werden Systeme oder Organisationen in homogene Subeinheiten ausdifferenziert. Im Hochschulbereich ergibt sich in der Folge des Wachstums und der Ausdifferenzierung des Wissens in zunehmend mehr Disziplinen und Subdisziplinen auch ein Druck zur Ausdifferenzierung von Studiengängen. Studiengänge verzweigen sich in Richtung stärkerer fachlicher Spezialisierung wie auch nach anwendungsbezogenen oder grundlagentheoretisch-wissenschaftlich orientierten Ausbildungen. Mit den verschiedenen Ausbildungsgängen sind teilweise unterschiedliche Anforderungsniveaus und Ausbildungsdauern verbunden. Die mit der Differenzierung der Angebote verfolgte Kanalisierung der stark gestiegenen Studierendenzahlen soll auch der Vorbereitung auf die stärker spezialisierte Arbeitsteilung im Erwerbssystem dienen. Die zunehmende Differenzierung ist zwar ein allgemeines, in allen Ländern zu beobachtendes Phänomen; sie vollzog sich aber in unterschiedlichen Ländern in unterschiedlicher Weise. Deshalb haben sich im Zuge der Expansion und Differenzierung die Hochschulsysteme verschiedener Länder auseinander entwickelt, insbesondere in Europa hin zu einer – wie es ein Beobachter beschreibt – „very shocking diversity“ (Neave 2003; zur Hochschuldifferenzierung allgemein vgl. auch Teichler 1988; Müller et al. 1997; Teichler 2005; Shavit et al. 2007). In den deutschsprachigen Ländern und in den Niederlanden hat sich ein sogenanntes binäres System herausgebildet: Neben den hergebrachten grundlagenwissenschaftlich orientierten Universitäten wurde mit den „universities of applied sciences“ (die Fachhochschulen in den deutschsprachigen Ländern, „hogescholen“ in den Niederlanden) ein organisatorisch und in den Ausbildungsprofilen klar getrennter zweiter Hochschulzweig aufgebaut. In Deutschland und den Niederlanden entstanden diese Einrichtungen schon seit den 1970er Jahren, in der Schweiz und Österreich im Wesentlichen erst im neuen Jahrtausend. Ein wichtiges Merkmal dieser binären oder in anderer Benennung segmentären Struktur ist die geringe Mobilität der Studierenden zwischen den beiden Typen von Einrichtungen. Bisher setzen auch nur wenige Fachhochschulabsolventen später ihre Ausbildung an Universitäten fort. In anderen Ländern (wie etwa Frankreich, Spanien oder Belgien) erfolgt dagegen die Differenzierung stärker nach aufeinander aufbauenden Studienzyklen, bei denen mehr oder weniger große Anteile von Studierenden nach Absolvierung eines ersten Zyklus in den nächsthöheren Zyklus „aufsteigen“. In wieder anderen Ländern ist das Hochschulsystem nach einzelnen Hochschulen mit stark variierenden Profilen (Vereinigtes Königreich, USA, Japan) gegliedert. Wichtige Unterschiede zwischen Ländern bestehen auch in dem Grad, zu dem die wissenschaftliche Grundlagenforschung an Hochschulen (eines bestimmten Typs) mit der Lehre verbunden oder außerhalb des Hochschulsektors angesiedelt ist. Ein weiteres nach Ländern stark variierendes Strukturmerkmal ist die Existenz oder Nichtexistenz unterschiedlicher Arten von Eliteeinrichtungen wie die Grandes Ecoles in Frankreich, Oxford und Cambridge bzw. die sogenannte Russel Group im Vereinigten Königreich oder die ausgeprägte Rangordnung im Hochschulsystem der USA oder Japans. Mit der Erwartung, dass durch solche Einrichtungen der Wettbewerb zwischen den Hochschulen verstärkt sowie besondere Talente und herausragende Forschung besser gefördert werden können, wird über das sog. Eliteprogramm von Bund und Ländern nun auch in Deutschland versucht, das bislang eher egalitäre Hochschulsystem
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
285
stärker zu hierarchisieren und in diesem Sinne weiter auszudifferenzieren. Jedenfalls bilden diese unterschiedlichen Institutionalisierungsformen im Hochschulsystem unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen für unterschiedliche Studienchancen. Sie bewirken auch, dass die Studierenden und Absolventen der verschiedenen Studienangebote sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden oder in der öffentlichen Wahrnehmung als unterschiedlich wahrgenommen werden. Mit den sog. Bologna-Reformen wird das Studium nun in praktisch allen europäischen Ländern verstärkt in sukzessive Studienphasen und Abschlussniveaus (Bachelor, Master) gegliedert. Bei genauerem Hinsehen verbleiben aber nach wie vor große Unterschiede in den Hochschulsystemen verschiedener Länder, die nationale Bildungstraditionen widerspiegeln (Witte 2006; Müller und Kogan im Druck). Daten zur Hochschulexpansion Was nun die Expansion des Hochschulsystems betrifft, so nimmt Deutschland zusammen mit den benachbarten Ländern Schweiz und Österreich eine Art Sonderstellung ein. In diesen Ländern ist die Zahl der Studierenden insgesamt viel weniger angestiegen als in ähnlich entwickelten anderen Ländern. In Deutschland kam es vor allem seit der Wiedervereinigung fast zu einer Stagnation. In der kurzen Zeit von 1960 bis 1990 hatte in den westdeutschen Bundesländern die Studierendenzahl sehr schnell um fast das 8-fache zugenommen; von nur etwas über 200.000 auf knapp 1,6 Millionen. Mit der Wiedervereinigung kamen ca. 130.000 Studierende in Ostdeutschland hinzu. In den bald 20 Jahren seither ist das Wachstum sehr eingedämmt: Mit Auf und Abs ist die Zahl der Studierenden – so die Berechnungen mittels der GENESIS-Datenbank des Statistischen Bundesamtes – von 1991 bis 2007 von 1,7 Millionen auf knapp 2 Millionen angestiegen. Für den europäischen Vergleich zeigt Abbildung 1 den Anteil der Personen mit einem erfolgreich abgeschlossenen Hochschulstudium aus den verschiedenen Geburtsjahrgängen der Bevölkerung. Da der Weg zu einer Hochschulbildung sich in aller Regel in einem frühen Lebensalter entscheidet, kann aus der Betrachtung der in verschiedenen Geburtskohorten erreichten Bildungsabschlüsse das Bildungsverhalten zu verschiedenen historischen Zeitpunkten rekonstruiert werden. Die für Abbildung 1 ausgewählten Geburtskohorten zeigen die Entwicklung der Hochschulbildung seit dem 2. Weltkrieg in den folgenden Etappen: Die noch vor dem Zweiten Weltkrieg Geborenen (Geburtsjahrgänge 1935-39) waren in den ersten Jahren nach dem Krieg in dem Alter, in dem mit dem Übergang in weiterführende Schulen wichtige Vorentscheidungen für die Möglichkeit einer späteren Studienaufnahme fielen, und sie waren Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre im typischen Studentenalter. Die Geburtskohorte 1945-49 durchlief die wichtigen Bildungsetappen in der Phase der sog. Wirtschaftswunderjahre, während die meisten Studierenden der jüngsten untersuchten Kohorten erst im neuen Jahrtausend das Studium abgeschlossen haben oder teilweise noch studieren. Die Grafik zeigt damit kompakt den Verlauf und das erreichte Niveau der Bildungsexpansion für praktisch ganz Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Abbildung 1:
Anteil von Individuen mit Tertiärbildung nach Geburtskohorten, 2004
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5
30-34
U
Z C
H
SK
SI
LV
EE
PL
LT
IT
R G
55-59
PT
Y
ES
C
LU
E B
25-29
FR
K
IE
U
E
T A
L
D
N
FI
O
SE
D
N
K
0
65-69
Anmerkung: entspricht den Geburtsjahrgängen: 1975-79, 70-74, 45-49, 35-39 Quelle: European Labour Force Survey 2004; eigene Berechnungen
Bei den großen Unterschieden in den Bildungssystemen ist der Vergleich von Hochschulabsolventenzahlen zwischen verschiedenen Ländern mit vielen Problemen behaftet. Zur Vermeidung von Fehlinterpretationen sei vor allem auf zwei Punkte hingewiesen: Erstens liegt den Zahlen eine sehr breit gefasste Definition von Hochschulbildung zugrunde. Sie umfasst die Kategorien 5 und 6 der International Standard Classification of Education (ISCED). Diese Kategorien schließen im deutschen Fall nicht nur Universitäten und Fachhochschulen ein, sondern auch Abschlüsse an Schulen des Gesundheitswesens, Fachschulen und Fachakademien (staatlich geprüfte Techniker und Meisterprüfungen) sowie Berufsakademien. In Deutschland zählen die letzteren Abschlüsse zwar im Unterschied zu vielen anderen Ländern nicht zum Hochschulbereich. Um internationale Vergleichbarkeit in den verfügbaren Zahlen herzustellen, muss aber mit dieser weiten Definition gearbeitet werden. Der zweite Punkt betrifft die Vergleichbarkeit der Angaben für die jüngste Geburtskohorte. Länder unterscheiden sich deutlich im typischen Studienabschlussalter. In einer Reihe von Ländern haben die meisten Studierenden ihr Studium vor dem 25. Lebensjahr abgeschlossen (vor allem in Frankreich, Belgien, in Südeuropa (Ausnahme Italien), in den englischsprachigen Ländern und in den meisten Ländern Osteuropas). Vor allem in den deutschsprachigen Ländern, in Skandinavien und Italien hingegen finden sich unter den 25-29jährigen viele Studierende, die noch kein abgeschlossenes Studium haben. Für die Länder mit langen Studienzeiten sind deshalb für die jüngste Geburtskohorte die Anteile der Absolventen eines Studiums unterschätzt. In allen Ländern haben von der ältesten zur jüngsten Kohorte die Hochschulbildungsquoten zugenommen, aber der Zuwachs erfolgte von unterschiedlichen Ausgangsniveaus, zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichem Ausmaß. In der ältesten Kohorte gehörte Deutschland zusammen mit den skandinavischen Ländern, Belgien und den Niederlanden bei den Hochschulabsolventenquoten zu den führenden Ländern in Europa. Vor allem Frankreich, die Länder Südeuropas und einige Länder Osteuropas lagen deutlich
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
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zurück. Seither war die Zunahme der Hochschulausbildung in den meisten Ländern deutlich schneller als in den deutschsprachigen Ländern. Nicht nur bei der jüngsten, sondern auch bei der zweitjüngsten Kohorte, die das Studium weitgehend abgeschlossen haben sollte, gehört Deutschland zusammen mit Österreich, der Schweiz, und einigen Ländern Süd- und Osteuropas (Ausnahmen Spanien, Lettland) zu den Ländern mit den niedrigsten Quoten Hochgebildeter. Die meisten übrigen Länder haben seit Jahren deutlich höhere Absolventenquoten als Deutschland. Ein schneller Aufholprozess, der in Abbildung 1 noch nicht ersichtlich ist, hat in den letzten Jahren vor allem auch in den meisten Ländern Osteuropas eingesetzt (Kogan 2008). Das Hauptargument, mit dem die niedrigen Studierendenzahlen in den deutschsprachigen Ländern erklärt – und von Bildungspolitikern teilweise verteidigt – werden, ist der Hinweis auf die besonderen Leistungen des beruflichen Bildungswesens. Es würde mit geringeren Kosten viele Ausbildungsleistungen erbringen, die in anderen Ländern durch Einrichtungen der Hochschulbildung wahrgenommen werden müssten. Es trifft zu, dass weltweit allenfalls die Niederlande und Dänemark über ähnlich stark ausgebaute und leistungsfähige Angebote der Berufsbildung auf dem sekundären Niveau wie die deutschsprachigen Länder verfügen. Die Existenz dieser Alternativen trägt, wie weiter unten diskutiert wird, gewiss zu dem vergleichsweise langsamen Wachstum der Studierendenzahlen in Deutschland bei. Sie ist aber kaum der einzige Grund dafür. Bisher ist auch ungeklärt, ob durch die verschiedenen Systeme tatsächlich ähnliche und ähnlich zukunftsfähige Ausbildungsleistungen erbracht werden (Blossfeld 1992; Mayer und Solga 2008). Der in Deutschland bestehende Mangel an Ingenieuren und anderen hochqualifizierten Arbeitskräften mit technisch-naturwissenschaftlicher Ausrichtung sowie der massive Import hochqualifizierter Arbeitskräfte in der Schweiz scheinen eher zu belegen, dass zumindest in einzelnen Berufsfeldern die Art der Ausbildung der Nachfrage des Arbeitsmarktes nicht entspricht. Nachteile des deutschen Berufsausbildungsmodells werden besonders auch im Hinblick auf den fortschreitend schnellen Wandel der Arbeitswelt gesehen. Die mehr auf allgemeine kognitive Fähigkeiten, theoretische Grundlagen und eigenständiges Lernen ausgerichtete Hochschulbildung fördere besser als die Berufsbildung die Flexibilität und Fähigkeit der Anpassung an neue Anforderungen. Neben dem mehr oder weniger starken Ausbau der Berufsbildung spielen für die in verschiedenen Ländern unterschiedliche Expansion der Hochschulbildung auch zwei weitere Gruppen von institutionellen Bedingungsfaktoren eine wichtige Rolle: Erstens die Organisation und Durchlässigkeit der Sekundarbildung: Sie trägt dazu bei, dass in verschiedenen Ländern unterschiedlich große Anteile eines Jahrgangs einen Sekundarabschluss mit einem relativ problemlosen Übergang in ein Hochschulstudium erreichen. Zweitens die tatsächliche Studienbeteiligung der Hochschulberechtigten: Sie wird institutionell durch die Verfügbarkeit unterschiedlicher Arten von Ausbildungen, den mehr oder weniger freien Zugang zu Studienplätzen und die Kostenbelastung der Studierenden beeinflusst. In Deutschland ist die Sekundarbildung mit der frühen Aufgliederung in unterschiedliche Bildungsgänge – Hauptschule/Realschule/Gymnasium in der unteren Sekundarstufe; Gymnasium/Berufsbildung in der oberen Sekundarstufe – in einer Weise strukturiert, die schon früh in der Bildungslaufbahn einen hohen Anteil eines Geburtsjahrgangs von einem späteren Hochschulstudium mehr oder weniger abzweigt. Insbesondere die Berufsbildung ist für Kinder aus Arbeiterfamilien und der unteren Mittelschicht eine durchaus attraktive Option, für die sich viele Kinder dieser Schichten schon früh entscheiden, selbst wenn sie
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
die fähigkeitsmäßigen Voraussetzungen für eine weiterführende Bildung besitzen. Hauptschule, Realschule und Berufsbildung sind nicht auf den Erwerb der Hochschulreife ausgerichtet. Sie kann über diese Bildungsgänge nur durch erhebliche zusätzliche Leistungen erworben werden (siehe dazu Müller und Pollak 2004 sowie die Beiträge von Below sowie von Becker in diesem Band). Dies trägt dazu bei, dass viele Talente auch im späteren Bildungsverlauf keinen Zugang zu den Hochschulen finden. Tabelle 1: Studienberechtigte, Studienanfänger, Studienabsolventen, jeweils als Anteil von Personen entsprechender Geburtsjahrgänge Studienberechtigtenquote Männer
Frauen
Studienanfängerquote
Erstabsolventenquote
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Insgesamt
Anteil FH-Reife
Insgesamt
Anteil FH-Reife
1980
23,6
0,27
20,8
0,21
23,9
16,7
-
-
1985
28,4
0,25
27,3
0,20
23,3
16,2
-
-
1990
33,0
0,32
29,8
0,22
31,8
22,6
-
-
1995
34,7
0,27
38,1
0,20
26,6
27,0
18,0
15,0
1998
33,9
0,27
40,0
0,23
29,3
29,2
17,8
15,8
2000
33,8
0,28
40,9
0,24
33,4
33,6
17,5
16,2
2001
33,0
0,32
39,3
0,27
35,9
36,3
17,3
16,6
2002
35,0
0,34
41,5
0,26
35,9
38,3
17,5
17,2
2003
36,3
0,35
42,3
0,27
39,5
38,3
18,2
18,7
2004
38,5
0,36
44,7
0,28
37,2
37,1
19,2
19,7
2005
39,4
0,37
45,6
0,28
37,1
36,9
20,5
21,6
2006
40,2
0,35
46,8
0,28
35,5
35,9
21,3
21,1
Quelle: Statistisches Bundesamt Fachserie 11, Reihe 4.3.1 Die Studienberechtigtenquote berechnet sich als Anteil der Studienberechtigten eines Jahres an der durchschnittlichen Jahrgangsgröße der 18-20-jährigen deutschen und ausländischen Wohnbevölkerung am 31.12. des jeweiligen Vorjahres. Ab 1992 einschließlich neue Länder. Zur Berechnung der Studienanfängerquote wird für jeden einzelnen Jahrgang der Wohnbevölkerung der Anteil der Personen berechnet, die im entsprechenden Jahr in das erste Hochschulsemester eintreten. Diese Anteile werden über alle Jahrgänge aufaddiert (Quotensummenverfahren). Die Erstabsolventenquote wird analog zur Studienanfängerquote berechnet. Studienanfängerquote und Erstabsolventenquote schließen auch Studierende ein, die die Hochschulberechtigung im Ausland erworben haben.
In den letzten Jahren erreichen zwar mit der Fachhochschulreife oder der allgemeinen Hochschulreife vor allem unter den Frauen wachsende Anteile eines Jahrgangs eine Studienberechtigung.1 Unter den Studienberechtigungen hat, wie Tabelle 1 zeigt, sowohl bei 1 Der Unterschied in den Studienberechtigtenquoten zwischen Männern und Frauen ist seit Jahren in den neuen Bundesländern besonders krass ausgeprägt. Dort haben beispielsweise im Jahre 2004 43 Prozent der Frauen, aber nur 30 Prozent der Männer eine Studienberechtigung erworben. Während Frauen in Ost und West praktisch zu gleichen Anteilen eine Studienberechtigung besitzen, liegt bei den Männern der Wert im Osten seit Jahren durch-
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
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den Männern wie bei den Frauen der Anteil derer zugenommen, die nicht mit der allgemeinen Hochschulreife, sondern mit der Fachhochschulreife die Sekundarbildung abschließen. Bei den Männern liegt dieser Anteil 2005 bei 37 Prozent, bei den Frauen bei 28 Prozent. Das Wachstum der Studienberechtigtenzahlen beruht also vor allem auch auf einer Zunahme der Fachhochschulreife. Von den Studienberechtigten nehmen aber längst nicht alle ein Studium auf und noch weniger schließen dann erfolgreich ein Studium ab. Von den Personen, die Ende der 1990er Jahre die Studienberechtigung erworben haben, haben 6 Jahre später ca. 70 Prozent ein Studium aufgenommen. Die Wahrscheinlichkeit, nach dem Erwerb der Studienberechtigung früher oder später ein Studium aufzunehmen, ist seit Mitte der 1970er Jahre, als sie noch annähernd 90 Prozent betrug, mit Auf und Abs auf ein gegenwärtig deutlich niedrigeres Niveau gesunken; wobei vor allem Berechtigte mit Fachhochschulreife seltener ein Studium beginnen (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005: 151; Statistisches Bundesamt 2008). 40 bis 50 Prozent der Studienberechtigten gelangen nicht zu einem Studienabschluss.2 Die Berechnung und der Vergleich dieser Quoten haben zwar Grenzen.3 Sie machen aber dennoch deutlich, dass in Deutschland die niedrigen Hochschulabsolventenquoten auch durch eine nur geringe Ausschöpfung des Studienberechtigtenpotentials und als Folge vieler Studienabbrüche zustande kommen. Die geringe Quote der Studienberechtigten, die später ein Studium aufnehmen und erfolgreich abschließen, resultiert auch auf dem Abiturniveau aus der Konkurrenz des beruflichen Ausbildungssystems. In einer Reihe von Berufen ist das Abitur zur faktisch überwiegenden Qualifikationsvoraussetzung für den Eintritt in eine Berufslehre geworden. Mit großer Variation zwischen den Berufen4 verfügen inzwischen unter den Auszubildenden im Durchschnitt 16 Prozent über das Abitur, und von den Abiturienten beginnt ca. ein Drittel eine Ausbildung im (sekundären) Berufsausbildungssystem (Heine et al. 2007: 67). Gerade unter den anspruchsvollen Berufsausbildungen nach dem Abitur werden sich viele finden, die in anderen Ländern als Hochschulausbildungen angeboten werden. Welche Folgen genau damit etwa für Effizienzgewinne oder Effizienzverluste für Gesellschaft und Wirtschaft oder für die Ungleichheitsstrukturen in der Gesellschaft verbunden sind, ist noch weitgehend ungeklärt.
wegs 10 Prozentpunkte unter dem Wert im Westen. Eine Erklärung für diese besonders niedrige Beteiligung der Männer im Osten ist nicht offensichtlich. 2 Diese Zahlenangaben sind geschätzte Näherungswerte, die man erhält, wenn man die Erstabsolventenquoten zu den Studienberechtigtenquoten 5-7 Jahre früher in Beziehung setzt (vgl. Heublein et al. 2008). Man ist auf solche groben Schätzwerte angewiesen, weil es keine hinreichend langen und auf geringen Ausfallquoten beruhenden Längsschnittstudien über die Studienberechtigten gibt. 3 Wie die Fußnote zu Tabelle 1 erläutert, beruhen die Berechnungen der verschiedenen Quoten auf unterschiedlichen Verfahren. Die Zahlen sind deshalb nicht voll vergleichbar. Zum Beispiel bezieht die Studienanfängerquote auch Personen als Studienanfänger ein, die ihre Studienberechtigung im Ausland erworben haben. Ohne diese Gruppe betrug in den Jahren 2004-2006 die Studienanfängerquote ca. 6 Prozentpunkte weniger. 4 Unter den 2006 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen für Luftverkehrskaufleute, mathematisch-technische Assistenten, Buchhändler, Kaufleute für audiovisuelle Medien, Werbe-, Verlags-, Luftverkehrs- und Schifffahrtskaufleute haben mehr als drei Viertel der die Ausbildung beginnenden Jugendlichen vorher das Abitur erworben. Annähernd 50 bis 75 Prozent der neuen Lehrlinge in den neuen Medienberufen und in vielen Berufen für Kaufleute (Datenverarbeitung, Banken, Versicherungen, Informatik, Hotel und Gaststättengewerbe), für Techniker sowie Steuer- und Sozialversicherungsfachangestellte besitzen ebenfalls die Hochschulreife. Unter allen Dienstleistungsberufen (die mehr als die Hälfte aller Lehrlinge ausmachen) sind es 24 Prozent; unter allen Lehrlingen 16 Prozent und selbst in den Handwerksberufen sind es 5 Prozent. Quelle dieser Angaben sind Statistische Datenblätter zu den Ausbildungsberufen (http://www2.bibb.de/tools/aab/aab_start.phpv).
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Zu einem schwer bezifferbaren Teil ist die niedrige Hochschulbeteiligung auch Folge mangelnder Studienplätze und überfüllter Hörsäle in einzelnen von Studierenden bevorzugten Studiengängen. Wie das Phänomen „Numerus Clausus“ zeigt, sind in einer Reihe von diesen Studiengängen seit Jahren weniger Studienplätze verfügbar als nachgefragt werden. In diesem Zusammenhang sind die systematischen Beziehungen aufschlussreich, die nach Arum et al. (2007) zwischen Expansion der Hochschulbildung und ihrer privaten vs. staatlichen Trägerschaft und Finanzierung bestehen. In Ländern mit mehr privaten Einrichtungen und höherem privaten Finanzierungsanteil ist der tertiäre Bildungssektor wesentlich stärker expandiert als in Ländern mit hauptsächlich staatlicher Trägerschaft und Finanzierung. Stärker privat geprägte Hochschulsysteme sind in ihren Hochschuleinrichtungen, Studienangeboten, Abschlusstypen und Qualitätsstandards stärker differenziert, und sie tendieren dazu, mit weniger anspruchsvollen Voraussetzungen den Zugang zu (einzelnen) Hochschulen zu ermöglichen. Durch beides, die Entwicklung attraktiver Ausbildungsangebote in Marktlücken sowie die Senkung von Zugangsvoraussetzungen, versuchen private Anbieter, ihre Klientel zu erweitern und tragen zur Expansion des Systems bei. Aufgrund nur weniger privater Hochschulen in Deutschland bleiben die Studienplätze weitgehend auf das durch staatliche Einrichtungen bereitgestellte Angebot begrenzt. Schließlich wird in Deutschland die Nachfrage nach einem Studium sehr wahrscheinlich auch durch die relativ niedrige staatliche Unterstützung der Studienkosten und ihre wenig gezielte soziale Ausrichtung gebremst. Nach Daten der OECD (2007: 250) gehört Deutschland zu den Ländern der OECD, die nur einen deutlich unterdurchschnittlichen Anteil des BSP für Stipendien oder Studiendarlehen ausgeben.5 Hinzu kommt, dass die unterschiedlichen Aufwendungen, die der Staat aus Steuermitteln für den Lebensunterhalt der Studierenden finanziert, sich in ihrer Summe für Studierende aus unterschiedlichen Herkunftsschichten praktisch kaum unterscheiden. Nach Berechnungen von Schwarzenberger und Gwos (2008) erhalten Studierende aus Familien des Bevölkerungsviertels mit den niedrigsten Lebensverhältnissen aus unterschiedlichen Stipendienprogrammen, Steuervergünstigungen und Subventionierungen der Lebensführung im Durchschnitt 5720 € pro Studienjahr.6 Studierende aus dem obersten Bevölkerungsviertel mit den besten Lebensverhältnissen erhalten 5135 €, jeweils falls die Studierenden nicht bei den Eltern wohnen.7 Bei Studierenden, die bei den Eltern wohnen, beträgt der Unterschied zwischen dem untersten und obersten Bevölkerungsviertel ganze 146 €. Die mehrere Länder Europas vergleichenden Analysen in Schwarzenberger (2008) zeigen, dass in den Gesamtaufwendungen des Staates in keinem anderen Land so wenig nach sozialen Herkunftsbedingungen differenziert wird wie in Deutschland. 5 Siehe OECD (2007: 250f.), für weitere internationale Vergleiche zur Frage der privaten oder staatlichen Finanzierung unterschiedlicher Studienkosten. 6 Die Herkunftsfamilien der Studierenden sind auf der Grundlage von Bildung und beruflicher Position der Eltern in vier annähernd gleich große Gruppen von unterschiedlich günstigen Lebensverhältnissen eingeteilt. 7 Studierende aus dem nach Lebensverhältnissen untersten Bevölkerungsviertel, die nicht bei den Eltern wohnen, erhalten 2028 € an Stipendien und Zinsfinanzierung aus dem BAföG-Programm. Studierende aus dem obersten Viertel erhalten insgesamt 1354 € (372 € aus dem BAföG-Programm und 982 € Steuervergünstigung für die Eltern, bei der wenig verdienende Eltern leer ausgehen). Diese – in der Summe beider Beträge – geringen Unterschiede zwischen den einkommensschwächsten und den einkommensstärksten Herkunftsgruppen werden weiter dadurch relativiert, dass der Staat pro Studierendem aus allen Herkunftsschichten in gleicher Höhe insgesamt 3782 € für Kindergeld (1848 €), Subventionierung der Krankenversicherung (1512 €) und anderweitige Subventionierungen für Wohnung, Transport etc. (422 €) aufwendet, was in der Summe die oben genannten Beträge ergibt (vgl. Schwarzenberger und Gwos 2008: 78, Tabelle 52).
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
3
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Soziale Ungleichheit der Studienchancen
Verändern sich mit der Expansion des Bildungssystems die sehr ungleichen Chancen verschiedener Bevölkerungsgruppen auf eine Hochschulbildung? Mit dem Ausbau der weiterführenden Schulen und der Universitäten war vielfach die Erwartung verknüpft, dass dies zum Abbau der ungleichen Bildungschancen führt. Ob dies tatsächlich zutrifft und ob die Expansion an sich der wirkliche Grund für die Verringerung der Ungleichheit darstellt, ist aber umstritten. Selbst wenn sich zeitgleich mit der Bildungsexpansion die Bildungsungleichheit verändert, heißt dies nicht, dass die Bildungsexpansion die Ursache der abnehmenden Bildungsungleichheit ist. Es ist auch denkbar, dass abnehmende Bildungsungleichheit zu Bildungsexpansion führt. Wenn sich beispielsweise die Beteiligung bisher bildungsabstinenter oder bildungsbenachteiligter Gruppen der Beteiligung bildungsbeflissener Gruppen annähert, hat dies Expansion zur Folge. Im Folgenden steht jedoch nicht das komplexe Verhältnis von Expansion und Ungleichheit im Vordergrund, sondern allgemeiner – zunächst theoretisch und dann empirisch – die Frage, wie die sozialen Ungleichheiten in den Studienchancen zu erklären sind und wie sich diese im Zeitverlauf entwickelt haben. Mehrere Beiträge in diesem Band (vgl. Becker über Bildungsungleichheiten oder Solga über Bildungsarmut oder Diefenbach über Bildungschancen von Migranten) zeigen, wie es dazu kommt, dass Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft sehr unterschiedliche Chancen haben, weiterführende Schulen zu besuchen und schließlich mit einem Reifezeugnis die Berechtigung für ein Hochschulstudium zu bekommen. Die bis zu dieser Stufe akkumulierte Ungleichheit ist gewissermaßen das Ausgangsniveau für das, was danach geschieht. Deshalb ergeben sich die sozialen Disparitäten in den Chancen auf ein Hochschulstudium weitestgehend aus der Summe der in den Stufen bis zum Abitur akkumulierten Disparitäten und der durch das Bildungsverhalten nach dem Abitur noch hinzukommenden Disparitäten. Die Unterscheidung dieser Etappen ist wichtig, um erkennen zu können, an welchen Stellen Ungleichheit entsteht und wie die Ungleichheit an den verschiedenen Stellen miteinander in Beziehung steht. Nach Untersuchungen in vielen Ländern unterscheiden sich auch Abiturienten je nach ihrer sozialen Herkunft erheblich in ihrem weiteren Bildungsweg. Aber an der Verzweigungsstelle nach dem Abitur sind diese Unterschiede in der Regel geringer als bei früheren Entscheidungen im Bildungsverlauf (Shavit und Blossfeld 1993; Müller und Karle 1993). Teichler (2005: 44-46) weist aber diesbezüglich auf erhebliche Unterschiede zwischen Ländern hin: In manchen Bildungssystemen (z.B. in den USA) sei der Übergang in die Hochschule die zentrale Selektionsstelle, während dies in Deutschland auf den ersten Übergang in die Sekundarstufe zutreffe.
3.1 Theoretische Grundlagen Theoretisch kann die Erklärung der Bildungsungleichheit im Hochschulbereich nach den gleichen allgemeinen Modellen wie in den übrigen Bildungsbereichen erfolgen. Insbesondere ist auch im Hochschulbereich die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Disparitäten zentral, d.h. Disparitäten, die auf unterschiedlichen schulischen oder studienbezogenen Leistungen beruhen, und Disparitäten, die – trotz gleicher Leistungen – aus unterschiedlichen Bildungsentscheidungen resultieren. Dabei müssen jedoch die besonderen Bedingungen des Hochschulbereiches berücksichtigt werden. Hieraus sollten sich sowohl die
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
relativ geringere Stärke sozialer Herkunftseffekte im Bildungsverhalten nach der Hochschulreife erklären lassen als auch weitere damit verbundene Hypothesen. Zwei weitere Hypothesen sind besonders interessant: Erstens wird erwartet, dass im Zuge der Bildungsexpansion – wenn der Erwerb des Abiturs allmählich mehr oder weniger selbstverständlich wird – Herkunftsunterschiede auf dem Weg zum Abitur zwar abnehmen, dass sie dann aber nach dem Abitur bei der Entscheidung über eine Hochschulbildung zunehmen. Die Generierung von Bildungsungleichheit verschiebt sich auf eine höhere Bildungsstufe. Zweitens wird erwartet, dass Herkunftsunterschiede im Bildungsverhalten auf dem Hochschulniveau vor allem auf sekundäre und weniger auf primäre Faktoren zurückzuführen sind. Der wohl wichtigste Grund für die insgesamt geringere Effektstärke sozialer Faktoren bei Bildungsentscheidungen auf höheren Stufen der Bildungslaufbahn liegt nach Mares (1980) Selektionshypothese darin, dass die Abiturienten eine bereits sehr stark ausgewählte und homogenisierte Population darstellen. Dahinter steht folgende Überlegung: Am Ende der Grundschule unterscheiden sich Kinder in den verschiedenen sozialen Schichten deutlich in ihren kognitiven Fähigkeiten und in der Bildungsaspiration. Gerade wegen der an dieser und späteren Verzweigungsstellen starken sozialen Selektivität gelangen aber nur Kinder aus den unteren sozialen Schichten bis zum Abitur, die den Kindern aus höheren sozialen Schichten bezüglich kognitiver Fähigkeiten, akademischem Leistungspotential und Bildungsaspirationen weitgehend ähnlich sind. Wegen dieser von Bildungsstufe zu Bildungsstufe zunehmenden Ähnlichkeit von Kindern unterschiedlicher Herkunft in bildungsrelevanten Eigenschaften sollten sich nach dem Abitur Bildungsentscheidungen weniger nach sozialer Herkunft unterscheiden als bei den früheren Entscheidungsstellen. Der Logik dieser Selektionshypothese folgend wird dann aber oft erwartet, dass im Zuge der Bildungsexpansion die sozialen Unterschiede bei den Bildungsentscheidungen nach dem Abitur größer werden. Denn bei wesentlich höheren Abiturientenzahlen und weniger selektiver Auswahl bei früheren Verzweigungsstellen sollte die Heterogenität zwischen Studienberechtigten aus verschiedenen Herkunftsschichten zunehmen. Allerdings setzt diese Erwartung zunehmender Heterogenität voraus, dass vor allem aus den zuvor bildungsfernen Schichten mehr Kinder mit für ein Hochschulstudium weniger geeigneten Eigenschaften oder Motivationslagen auf das Abiturniveau gelangen und dass dieses bei den höheren sozialen Schichten weniger der Fall ist. Wie die folgenden Überlegungen zeigen, muss dies jedoch nicht zutreffen, und es kann für primäre oder sekundäre Einflussfaktoren in unterschiedlicher Weise gelten. Wenn im Zuge der Bildungsexpansion mehr und mehr Kindern höherer sozialer Schichten bis fast zur Vollzähligkeit das Abitur erwerben, dann wird auch innerhalb dieser Gruppen die Heterogenität bezüglich studienrelevanter Eigenschaften wie der kognitiven Fähigkeiten oder des schulischen bzw. akademischen Leistungsvermögens zunehmen. Mit anderen Worten: Es werden vor allem auch in höheren Schichten Kinder zum Abitur gebracht (oder getrieben), die nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für ein Studium haben. Unterschiede in den primären Faktoren zwischen den Abiturienten aus unterschiedlichen Schichten müssen dann nicht größer werden. Je nach den Anteilen von Kindern, die aus unterschiedlichen Herkunftsgruppen das Abitur erreichen, könnten sie sich sogar verringern. Im Gegensatz dazu können sich jedoch Unterschiede in der sekundären Faktorengruppe im Zuge der Bildungsexpansion verstärken. So wird in der Literatur auf einen Bedeutungswandel des Abiturs hingewiesen, der vor allem mit sekundären Faktoren in Verbindung steht. Während in früheren Jahrzehnten das Abitur im Wesentlichen als Zwischen-
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
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etappe auf dem Weg zu einem Universitätsstudium galt, wird es inzwischen verstärkt schlicht als bester allgemeinbildender Schulabschluss wahrgenommen, der hilft, „soziale Chancen zu optimieren“ (Lischka und Wolter 2001). Es bietet beides: Es sichert gute Chancen für einen Ausbildungsplatz in einem vielversprechenden Ausbildungsberuf und eröffnet zugleich den Zugang für eine Hochschulausbildung. Die Ausbildungsplatzperspektive dürfte in Arbeiterfamilien weiter verbreitet sein als in Mittelschichtfamilien und auch einer der Gründe sein, die mehr und mehr Arbeiterkinder das Abitur anstreben lassen: Sie tun dies nicht, weil sie danach unbedingt studieren wollen, sondern um sich im verstärkten Wettbewerb dennoch eine vorteilhafte Lehrstelle in der von ihnen schon immer vorgezogenen Berufsbildung zu sichern. Müller und Pollak (2004) sehen darin eine Teilerklärung für die kleiner gewordene soziale Ungleichheit im Bildungsverhalten bis zum Abitur, das dann aber zu größeren Herkunftsdisparitäten im Verhalten nach dem Abitur führen kann. In der Terminologie der primären und sekundären Effekte nimmt damit auf dem Abiturniveau in den sekundären Faktoren die Heterogenität zwischen den Schichten zu. Die Abiturienten aus den höheren Schichten werden nach wie vor wann immer möglich ein Hochschulstudium anstreben, während ein größerer Anteil der Abiturienten aus der Arbeiterschicht das Abitur mit Blick auf die Berufsbildung erwirbt. Und dies könnte insgesamt (sekundäre) Disparitäten im Bildungsverhalten nach dem Abitur verstärken. Unabhängig davon sollten für die Ausbildungswahl nach dem Abitur generell sekundäre Mechanismen ein größeres Gewicht haben als primäre Faktoren (siehe dazu auch Becker und Hecken 2007), die in der Folge der fähigkeits- und schulleistungsbezogenen Selektionsprozesse auf dem Weg zum Abitur eher gering sein dürften. Bei den Bildungsentscheidungen nach dem Abitur sollten dagegen sekundäre Mechanismen stärker wirken als bei früheren Verzweigungsstellen im Bildungssystem. Das gilt für verschiedene Komponenten der Kosten- und Ertragskalküle, die bei (Bildungs-)Entscheidungen typischerweise in Betracht gezogen werden und die den Kern sekundärer Disparitäten ausmachen. Direkte oder indirekte Kosten werden bei der Entscheidung für oder gegen ein Hochschulstudium schwerer wiegen als bei der Entscheidung zwischen den verschiedenen Bildungsgängen beim Übergang in den allgemeinbildenden Sekundarbereich. Im Sekundarbereich besteht ohnehin Schulpflicht, und die Kostenunterschiede zwischen den Bildungsgängen sind allenfalls gering. Beim Hochschulstudium jedoch kommt es zu hohen Opportunitätskosten und je nach Studienfach und Studienort auch zu erheblichen direkten Kosten. Im Hinblick auf die Einschätzung von Bildungserträgen wird bei der Bildungsentscheidung nach dem Abitur das Statuserhaltsmotiv besonders virulent. Für Familien gehobener Schichten ist das Hochschulstudium eine wichtige Absicherung für den Statuserhalt, während für Arbeiterfamilien dieses Ziel entweder bereits mit dem Abitur erreicht ist oder mit einer beruflichen Ausbildung nach dem Abitur erreicht werden kann. In ähnlicher Weise könnte in Akademikerfamilien auch ein Motiv des Erhalts eines bildungsorientierten Lebensstils zur Geltung kommen. Bezüglich der Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit sind wahrscheinlich vor allem Unterschiede nach vorhandener oder nicht vorhandener Hochschulbildung der Eltern zu erwarten. Insgesamt spricht damit sehr vieles für die besondere Bedeutung sekundärer Mechanismen bei den Bildungsentscheidungen nach dem Abitur.8 8 Im Vergleich zu Entscheidungen in der vorausgehenden Bildungslaufbahn könnten sekundäre Mechanismen allenfalls dadurch abgemildert werden, dass Abiturienten bereits eine Lebensphase erreicht haben, in der sie eher eigenständig entscheiden können und weniger stark vom Elternwillen abhängig sind. Dieser von Müller und Karle (1993) als Lebenslaufhypothese vorgeschlagenen Teilerklärung für die (reduzierte) Stärke von Herkunftseinflüs-
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Schon im Zusammenhang der Erklärung der Hochschulexpansion wurde auf das Spektrum der Ausbildungsalternativen hingewiesen, die Abiturienten offenstehen. Das vorhandene Alternativenspektrum spielt aber auch eine wichtige Rolle für die Strukturierung sozialer Disparitäten beim Bildungsverhalten nach dem Abitur. Dieses kommt beim internationalen Vergleich in besonderer Weise zum Tragen, da unterschiedliche Bildungssysteme hinsichtlich der Spektra von Alternativen und den jeweiligen Kosten-, Nutzen- und Erfolgskomponenten variieren. Dies ergibt dann unterschiedliche Entscheidungssituationen für Abiturienten, die je nach ihrer Herkunft verschiedenen Restriktionen unterliegen, die unterschiedliche Ressourcen haben und für die die Alternativen Ungleiches bedeuten können. Disparitäten im nachfolgenden Bildungserwerb werden dann entsprechend variieren. Das Alternativenspektrum und seine Veränderung im Zeitverlauf ist natürlich auch für ein einzelnes Land zum Verständnis des Bildungsverhaltens und der resultierenden Ungleichheit zentral. In den deutschsprachigen Ländern gibt es ein besonders vielfältiges Spektrum von Alternativen. Abiturienten können direkt ins Erwerbsleben eintreten, eine berufliche Ausbildung beginnen, ein Studium an einer Fachhochschule aufnehmen oder in ein Universitätsstudium einsteigen. Weitere Optionen wie zunächst Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit und dann Studium, die Frage der Gestaltung des Wehrdienstes bei den Männern oder die Familienoption bei den Frauen müssen wir zur Vereinfachung ebenso weitgehend ausblenden wie andere Optionen, durch die in den letzten Jahren die Zeit nach dem Abitur nicht nur zu einer sehr variantenreichen Lebensphase, sondern auch zu einer besonderen Herausforderung für die Forschung geworden ist. Die vier zentralen Optionen unterscheiden sich in den einzelnen Komponenten von Kosten, Erträgen und Risiken deutlich voneinander. Jede dieser Optionen hat sich in ihrem Charakter und im Verhältnis zueinander in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger verändert. Die Alternative keiner weiteren formalisierten Ausbildung wurde früher vor allem von Frauen wesentlich häufiger gewählt, war aber auch bei Männern nicht unüblich, z.B. als Einstieg in Berufe des Journalismus oder andere Tätigkeiten, in denen eine breite im Gymnasium erworbene Allgemeinbildung als hinreichende Qualifikation galt. Heute ist diese Option eher mit einem Negativsignal versehen und wird entsprechend selten bewusst genutzt. Weniger als 5 Prozent der Abiturienten des Abiturjahrgangs 2004 haben 3½ Jahre nach dem Abitur noch keine formalisierte Ausbildung begonnen (Heine et al. 2007: 86). Das sind vor allem Personen, die bereits vor dem Erwerb der Hochschulreife eine Berufsausbildung absolviert haben. Eine Berufslehre nach dem Abitur war dagegen in den Zeiten vor dem schnellen Wachstum der Abiturientenzahlen eher unter der Würde eines Abiturienten, abgesehen von dem vor allem in Deutschland institutionalisierten Angebot einer weitgehend praxisorientierten Ausbildung für die gehobene Beamtenlaufbahn. Heute dagegen sind Berufsausbildungen nach dem Abitur, wie bereits angemerkt, weit verbreitet, sozial anerkannt und haben auch durch die Entwicklung neuer, geradezu auf Abiturienten abgerichteter Berufsbilder den Charakter einer normalen Bildungskarriere bekommen. Die Option des Fachhochschulstudiums ist durch ein ‚Upgrading‘ der Anforderungen und mit verbesserten Chancen der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt dem Universitätsstudium ähnlicher geworden, wenn auch Unterschiede im Fächerspektrum und in der Praxisorientierung geblieben sind (Müller
sen auf dem Abiturniveau dürfte aber im Vergleich zu den anderen diskutierten Mechanismen nur geringere Bedeutung zukommen.
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
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et al. 2002). Von der starken Zunahme der Zahl der Studierenden abgesehen, haben sich die Universitäten bis zur Einführung der Bachelor- und Master-Struktur wahrscheinlich am wenigsten verändert. Mit der Bologna-Umstrukturierung vollziehen sich aber auch an den Universitäten entscheidende Veränderungen, deren Konsequenzen aber erst spekulativ absehbar sind. Zum Verständnis des Bildungsverhaltens nach dem Abitur müssen wir diese Vielfalt an Optionen und ihren Wandel vor Augen halten, obwohl wir sie nur in Facetten behandeln können.
3.2 Zur Struktur des deutschen Hochschulsystems und seiner Studierenden Beginnen wir dazu mit einigen Hinweisen auf allgemeine Strukturmerkmale des deutschen Hochschulsystems.9 Wie Tabelle 2 (Block A) zeigt, studiert der überwiegende Teil der Studierenden in Deutschland an den Universitäten. Der Anteil der Studierenden an Fachhochschulen nimmt zwar zu, aber nur langsam. Dies korrespondiert mit der anteilsmäßigen Zunahme der auf ein Fachhochschulstudium eingegrenzten Hochschulberechtigung (Tabelle 1). Die nach Studierendenzahlen quantitative Dominanz der Universitäten ist nicht selbstverständlich. Zum Beispiel machen in den Niederlanden bei einer dem deutschen System durchaus ähnlichen Struktur von Hochschultypen die Absolventen von Fachhochschulen mehr als zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung mit einem Hochschulabschluss aus (Luijkx und de Heus 2008: 72). Auch in anderen Ländern ist im Unterschied zu Deutschland oft eine größere Zahl von Studierenden in kürzeren und berufspraktisch ausgerichteten Studiengängen als in klassischen akademischen Studiengängen eingeschrieben. Die beiden Hochschultypen Deutschlands unterscheiden sich deutlich in der Zusammensetzung ihrer Studierenden (Tabelle 2, Block B-D). In beiden Einrichtungen hat der Anteil der Studentinnen zugenommen. An den Universitäten sind sie inzwischen leicht in der Mehrzahl. Das wird sich in den kommenden Jahren noch verstärken, da derzeit deutlich mehr Frauen als Männer ein Universitätsstudium beginnen. An den Fachhochschulen dagegen sind die Frauen nach wie vor stark unterrepräsentiert. Die überwiegend technisch und ingenieurwissenschaftlich ausgerichteten Studienangebote sind für Frauen offensichtlich weiterhin wenig attraktiv. Die beiden Hochschultypen unterscheiden sich auch in den Zugangswegen und Rekrutierungsmustern der Studierenden. Die in den 1970er Jahren aus den früheren Ingenieurschulen entstandenen Fachhochschulen wurden eingerichtet, um den hauptsächlich aus den Arbeiterschichten stammenden Absolventen des beruflichen Bildungswesens eine Möglichkeit der Höherqualifizierung auf dem Hochschulniveau zu eröffnen. Nach einer Berufslehre im dualen System oder einer schulischen Berufsausbildung sollten sie in begrenzter Zeit an besonderen Oberschulen die Fachhochschulreife erwerben und damit Zugang ins Hochschulsystem bekommen. Anfänglich gelangte die deutlich überwiegende Mehrheit der Studierenden über diesen Aufstiegskanal an die Fachhochschulen. Dieser Zugangsweg, über den auch das berufspraktische Können und entsprechende Erfahrungen der Fachhochschulstudierenden gesichert werden sollte, hat in der Folge jedoch mehr und mehr an Bedeutung verloren. Im Jahr 2006 hatte noch genau die Hälfte der Studienanfänger an den 9 Zu ausführlichen Untersuchungen der entsprechenden Entwicklungen siehe insbesondere das Kapitel zum Hochschulwesen von Mayer in Cortina et al. (2003) und die Serie der von HIS durchgeführten Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerkes, zuletzt Isserstedt et al. (2007).
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Fachhochschulen vorgängig eine Berufsausbildung abgeschlossen. An den Universitäten ist die entsprechende Quote sehr viel niedriger und hat ebenfalls abgenommen. Auch an den Fachhochschulen scheint der Trend weg von Werkbank und Betrieb hin zu einer rein schulischen Vorbereitung wie bei den Universitäten ungebrochen. Damit kann es längerfristig zwischen Universitäten und Fachhochschulen auch zu einer Einebnung der Unterschiede nach der sozialen Herkunft der Studierenden kommen. Tabelle 2: Indikatoren zur Struktur der Studierenden an Hochschulen A Anteil Studierende an Universitäten und Fachhochschulen An Universitäten An Fachhochschulen
1985
1988
1991
1994
1997
2000
2003
2006
79,4 20,6
78,7 21,3
79,7 20,3
78,3 21,7
77,6 22,4
75,9 24,1
74,1 25,9
72,2 27,8
1985
1988
1991
1994
1997
2000
2003
2006
40,5 27,4
40,9 29,3
41,9 27,7
43,8 29,7
46,5 33,3
49,0 36,8
50,8 37,5
51,9 37,3
B Anteil Frauen an allen Studierenden An Universitäten An Fachhochschulen
C Anteil Studierende mit beruflicher Ausbildung An Universitäten An Fachhochschulen
1985
1988
1991
1994
1997
2000
2003
2006
16 48
21 61
24 59
25 65
23 62
20 53
17 51
15 50
D Anteile Studierender an Universitäten und Fachhochschulen, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben An Universitäten An Fachhochschulen
1985
1987
1990
1995
1998
2001
2004
2006
40 23
41 25
47 27
51 30
54 32
59 41
57 40
62 47
E Bildungsabschlüsse in der Generation der Väter der Studierenden Ang. Geburtsjahrgang der Väter Abi; FH, Uni Mittlerer Abschluss Hauptschul-Abschluss
1934
1936
1939
1944
1947
1950
1953
1955
11 12 77
13 14 73
16 17 66
20 20 60
22 23 55
24 26 50
24 28 44
28 30 42
Quellen: A: Daten für 1985-2001 aus: Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur Wintersemester 2000/2001, Studierende an Hochschulen, Fachserie 11, Reihe 4.1; Daten für 2003-2006 aus: Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur Wintersemester 2006/2007, Studierende an Hochschulen, Fachserie 11, Reihe 4.1 B: Daten für 1985-2001 aus: Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur Wintersemester 2000/2001, Studierende an Hochschulen, Fachserie 11, Reihe 4.1; Daten für 2003-2006 aus: Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur Wintersemester 2006/2007, Studierende an Hochschulen, Fachserie 11, Reihe 4.1 C: Daten für 1985 und 1988 aus: Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (1991), Grund- und Strukturdaten 1991/1992; Daten für 1991-2006 aus: 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, S .55 D: Bargel, Multrus und Ramm (2005) E: eigene Berechnungen nach Mikrozensen: Scientific Use Files (SUF) 1976, 1982, 1989, 1991, 1993, 1995, 1996-2000; aus jedem dieser SUF werden männliche Personen der angegebenen Geburtsjahrgänge berücksichtigt, wenn sie zum Erhebungszeitpunkt zwischen 30 und 55 Jahre alt sind. Die Auswahl der Geburtsjahrgänge erfolgt unter der Annahme, dass Väter der Studierenden im Durchschnitt 51 Jahre alt sind – errechnet aus angenommenem Alter bei Geburt des Studierenden von im Durchschnitt ca. 27 Jahren (erste Nachkriegsjahrzehnte mit früher Elternschaft) und Medianalter der Studierenden von ca. 24 Jahren.
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
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Block D in Tabelle 2 zeigt diesen unterschiedlichen sozialen Hintergrund der Studierenden. In den Universitäten kommen sie deutlich häufiger aus einem akademischen Elternhaus als in den Fachhochschulen, in denen bis zum Ende der 1980er Jahre höchstens ein Viertel der Studierenden Eltern mit einem Hochschulabschluss hatten. In den Fachhochschulen waren und sind die Bildungsplätze nach wie vor weniger konzentriert auf die höheren sozialen Schichten verteilt als in den Universitäten. Mit ähnlichen Analysen kann man zeigen, dass Fächer wie die Medizin und die Rechtswissenschaft überproportional Studierende aus vorteilhafter Herkunft unterrichten, während im Ingenieurstudium und in den Natur- und Sozialwissenschaften mehr Studierende aus Arbeiterfamilien Zugang finden (Bathke, Schreiber und Sommer 2000; Becker, Haunberger und Schubert 2008; Reimer und Pollak 2008). Eine weitere Beobachtung ist aufschlussreich: Bis in die jüngste Zeit hinein waren die Studierenden in der Mehrzahl Bildungsaufsteiger, die ein höheres Bildungsniveau als ihre Eltern erworben haben. In den Hochschulen überwog die Zahl der Studierenden mit Eltern ohne Hochschulbildung die Zahl derjenigen aus Akademikerfamilien. Insofern waren die Hochschulen überwiegend Institutionen für den sozialen Aufstieg. An den Universitäten hat sich dies Mitte der 1990er Jahre geändert, als es zum ersten Mal mehr Studierende aus Akademiker- als aus Nichtakademikerherkunft gab. An den Fachhochschulen wird dies in Kürze ebenfalls geschehen. Die Hochschulen werden verstärkt zu Einrichtungen des intergenerationalen Statuserhalts. In dieser Entwicklung ist am stärksten der Anteil der Studierenden von Eltern mit höchstens Hauptschulabschluss zurückgefallen. 1985 noch die größte Gruppe machen sie heute nur noch knapp ein Siebtel der Studentenschaft aus: Nach Befunden der Sozialerhebungen hatten 1985 36 Prozent aller Studierenden der Fachhochschulen und Universitäten Eltern mit einem Hochschulabschluss; 27 Prozent hatten Eltern mit höchstens dem Abitur oder der mittleren Reife; 37 Prozent aber hatten Eltern mit höchstens einem Hauptschulabschluss und waren damit die größte Studierendengruppe. Bis zum Jahre 2006 ist dieser Anteil auf 14 Prozent zurückgefallen (vgl. Isserstedt et al. 2007: 126 und 130). Ist dieser Befund ein Hinweis auf zunehmende soziale Ungleichheit in den Chancen, ein Hochschulstudium zu erreichen? Das muss keineswegs so sein. Die diskutierten Daten zeigen zwar adäquat aufschlussreiche Veränderungen in der Zusammensetzung der Studierenden und in dem damit verbundenen sozialen Milieu an den Hochschulen. Sie sind jedoch keine geeignete Grundlage, die gestellte Frage zu klären. Die Zusammensetzung der Studierenden hängt von zwei Größen ab: a) vom Größenanteil der verschiedenen Sozial- oder Bildungsgruppen in der Elterngeneration, und b) von den Wahrscheinlichkeiten, mit denen Kinder aus den verschiedenen Elterngruppen ein Studium erreichen. Nur aus dem Vergleich dieser Wahrscheinlichkeiten kann auf Unterschiede in den Bildungschancen geschlossen werden. Diese Wahrscheinlichkeiten sind jedoch aus der Tabelle nicht zu entnehmen. Die beobachteten Verschiebungen in der sozialen Struktur der Studentenschaft sind aber für sich selbst interessant. Sie resultieren hauptsächlich aus Veränderungen in der Bildungs- und Sozialstruktur der jeweiligen gesamten Elterngeneration der Studierenden (nicht nur der Eltern der wirklich Studierenden, sondern aller Personen, die der gleichen Generation wie die Eltern der Studierenden angehören, unabhängig davon, ob ihre Kinder nun studieren oder nicht). Tabellenblock E zeigt Schätzungen für die entsprechenden Verteilungen. Danach hatten die Studierenden in den 1980er Jahren Väter aus einer Generation, in der über drei Viertel der Generationsangehörigen höchstens einen Hauptschulabschluss hatten und nur 11 Prozent das Abitur, einen Universitätsabschluss oder einer Abschluss an einer der Einrichtungen, aus denen später die Fachhochschulen hervorgegangen sind. Im
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Jahre 1985 rekrutierten sich also die Studierenden mit Akademikereltern (40 Prozent an den Universitäten und 23 Prozent an den Fachhochschulen) aus einem nur 11 Prozent ausmachenden Bevölkerungsanteil mit höherer Bildung. Der praktisch gleich große Anteil der Studierenden mit wenig gebildeten Eltern dagegen kam aus der siebenmal so großen Bevölkerungsschicht (77 Prozent) mit höchstens Hauptschulabschluss. Mit dem Schrumpfen dieser Bevölkerungsschicht ist auch die entsprechende Rekrutierungsbasis für Studierende aus dieser Schicht wesentlich kleiner geworden, während umgekehrt das Bevölkerungssegment mit höherer Bildung schnell gewachsen ist. Vor allem als Folgewirkung solcher Größenverschiebungen in den Herkunftsschichten wandelt sich im Generationenabstand die Sozialstruktur der Studierenden. Ähnliches ist bei Fokussierung auf andere oft diskutierte Merkmale der Studierendenstruktur wie der Herkunft aus Arbeiterfamilien zu beobachten. Als Folge des starken Wachstums der Arbeiterklasse nach dem Zweiten Weltkrieg hat Jahrzehnte später auch der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studierenden zunächst zugenommen; weil die Arbeiterklasse jetzt aber schon länger schrumpft, geht tendenziell auch die Zahl der Arbeiterkinder an den Hochschulen zurück (für eine anschauliche Illustration dieser Zusammenhänge siehe: Isserstedt et al. 2007: 115). Auf der Basis dieser Zusammenhänge lassen sich ohne großes Risiko zwei Prognosen für die zukünftige Entwicklung formulieren. Weil zunehmend mehr Eltern der Kinder, die gegenwärtig und in den kommenden Jahren das Bildungssystem durchlaufen, selber die Universitäten oder andere Einrichtungen höherer Bildung besucht haben, werden als Folge einer „Eigendynamik der Bildungsexpansion“ (Becker 2007: 36) die Quoten der Studienanfänger weiterhin wachsen. Aus dem gleichen Grund wird unter den Studierenden die Selbstrekrutierung aus Akademikerfamilien weiterhin ansteigen und Arbeiterkinder und Kinder aus anderen bildungsfernen Elternhäusern werden eine zunehmend kleinere Minderheit an den Hochschulen bilden. Zahlen wie die vorliegenden, die aus der Befragung von Studierenden über die Lebens- und Studiensituation und ihre soziale Herkunft gewonnen werden – oder auch Stichproben von Studienberechtigten – haben den großen Vorteil, dass sie zeitnah über die aktuellen Trends in der Studentenschaft und die Studienbedingungen informieren können. Ihre Nutzung zur Ableitung von Aussagen über Chancenungleichheit und ihre Entwicklung ist dagegen mit erheblichen Problemen verbunden, weil sie keine Hinweise geben können auf die Größe der verschiedenen sozialen Schichten in der Elterngeneration, aus denen sich die Studierenden oder Studienberechtigten rekrutieren.
3.3 Langfristige Entwicklungen sozialer Ungleichheit beim Erwerb von Abitur und Hochschulabschlüssen Zur Analyse der sozialen Ungleichheit im Zugang zu einem Hochschulstudium und seinem erfolgreichen Abschluss verwenden wir im Folgenden zwei Strategien, die unterschiedliche Aspekte beleuchten. In einem ersten Schritt untersuchen wir – bezogen auf alle Angehörigen einer Geburtskohorte – die zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen bestehenden Chancenungleichheiten in Bezug auf unterschiedliche Bildungsabschlüsse. Wir konzentrieren uns dabei auf zwei unterschiedlich exklusive Indikatoren: a) die Chancen, wenigstens das Abitur zu erreichen (unabhängig davon, ob dem Abitur dann ein Hochschulstudium
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
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folgt oder nicht), und b) die Chancen, einen Hochschulabschluss zu erreichen. Mit diesem Vergleich wollen wir zeigen, dass die Ungleichheit in den Chancen auf ein Hochschulstudium in hohem Maße durch die Ungleichheit bestimmt ist, die in den Selektionsprozessen bis zum Hochschuleingangstor des Abiturs zustande kommt. Im zweiten Schritt konzentrieren wir uns dann spezifischer auf das Geschehen nach dem Abitur; das heißt: Wir untersuchen die sozialen Disparitäten auf dem weiteren Bildungsweg der bereits hoch selektiven Population der Abiturienten. Die Verbindung dieser beiden Ansätze ist hilfreich und notwenig, um einerseits im Detail die spezifischen Selektivitäten nach dem Abitur zu erkennen, andererseits um diese Detailbetrachtung in eine Gesamtschau der Bildungsungleichheit einordnen zu können. Die Zweiteilung ist aber auch zwingend, weil für die beiden Analysen unterschiedliche Datenbasen erforderlich sind, die mit ihren jeweiligen Stärken unterschiedliche Facetten des Bildungsgeschehens ausleuchten können. Der erste Typ von Analysen basiert auf dem Mannheimer Mobilitätsdatensatz, in dem verschiedene repräsentative Querschnittserhebungen der westdeutschen Bevölkerung integriert sind, die in regelmäßigen Abständen seit 1976 bis 2006 in Westdeutschland erhoben wurden (insb. verschiedene Erhebungen des ZUMABUS, des ALLBUS sowie des SOEP; zu Details: Müller und Pollak 2004). Mit diesem Datensatz, aus dem über 55.000 Fälle in die Analysen eingehen, können wir mit weitgehend stabilen Schätzungen die Entwicklung der Bildungsabschlussdisparitäten über einen großen Zeitraum des 20. Jahrhunderts verfolgen. Der zweite Typ von Analysen basiert auf den von HIS (Hochschul-InformationsSystem GmbH Hannover) regelmäßig durchgeführten Panelerhebungen bei repräsentativen Stichproben von Hochschulberechtigten – d.h. Personen, die in bestimmten Jahren die Fachhochschulreife oder die allgemeine Hochschulreife erworben haben.10 Für diese Personen können wir untersuchen, welchen weiteren Ausbildungsgang (Berufsausbildung, Fachhochschulstudium oder Universitätsstudium) sie bis spätestens 3½ Jahre nach dem Abitur begonnen haben.11 HIS hat uns die Analyse entsprechender Daten für die Studienberechtigten der Jahre 1983, 1990, 1994 und 1999 ermöglicht.12 Mit einer Analysestichprobe von ca. 45.000 Fällen ermöglicht auch diese Datenbasis stabile Schätzungen. Neben Informationen zur sozialen Herkunft enthalten diese Daten auch die Abiturnoten der Befragten. Damit ist es in grober Annäherung möglich, beim Übergang in postsekundäre Ausbildungen das relative Gewicht von primären und sekundären Herkunftseffekten zu bestimmen. 10
Wir danken HIS Hochschul-Informations-System in Hannover für die Möglichkeit, Daten aus den Studienberechtigten-Erhebungen für dieses Kapitel zu nutzen. Wir möchten nochmals betonen, dass mit den beiden Datensätzen sehr unterschiedliche Aspekte des Ungleichheitsphänomens untersucht werden, die generell in der Forschung über Bildungsungleichheit unterschieden werden müssen. Mit dem Mannheimer Mobilitätsdatensatz untersuchen wir die Ungleichheit nach sozialer Herkunft im letztendlich erreichten Bildungsniveau, bezogen auf alle Mitglieder einer Geburtskohorte. Mit den HIS-Daten untersuchen wir dagegen sogenannte konditionale Bildungsübergänge; d.h. in unserem Fall die Übergänge in postsekundäre Ausbildungen, unter der Voraussetzung, dass eine Hochschulberechtigung vorliegt, bzw. für die selektive Stichprobe der Angehörigen eines Abiturientenjahrgangs. Die Ergebnisse der beiden Analysen werden sich deshalb im Ausmaß der gemessenen Ungleichheit stark voneinander unterscheiden. Die Ergebnisse werden aber auch deshalb differieren, weil wir im ersten Fall erreichte Bildungsabschlüsse untersuchen, während es im zweiten Fall um den Eintritt in Ausbildungen geht, deren Abschluss nach Herkunft selektiv erfolgen mag. Dieser Unterschied wirkt sich aber weniger auf die Ergebnisse aus, weil im Hochschulbereich die sozialen Unterschiede bezüglich des erfolgreichen Abschlusses eines begonnenen Studiums zwar existieren, aber nicht stark ausgeprägt sind (vgl. Schindler 2006). 12 Die HIS Analysestichproben von 1990, 1994 und 1999 umfassen Befragte aus Ost- und Westdeutschland und 1983 nur Befragte aus Westdeutschland. 11
300
Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Auf der Grundlage des Mannheimer Mobilitätsdatensatzes zeigt nun Schaubild 2, wie sich bei den Geburtskohorten von 1910 bis 1984 für Männer und Frauen in Westdeutschland die soziale Ungleichheit in den Chancen, wenigstens das Abitur bzw. einen Hochschulabschluss zu erreichen, entwickelt hat. Die Werte für diese Schaubilder sind den entsprechenden logistischen Regressionsmodellen in den Analysen von Klein et al. (im Druck) entnommen. In diesen Analyen werden gleichzeitig die Klassenposition des Vaters (nach dem CASMIN-Klassenschema) sowie die Bildung des Vaters (Hauptschulabschluss vs. Realschulabschluss vs. Abitur oder höher) als Prädiktoren für die Chancen der Kinder verwendet, mindestens das Abitur bzw. einen Hochschulabschluss zu erreichen. Für die Klassenherkunft (die oberen beiden Linien in Abbildung 2) ist aus den entsprechenden Analysen jeweils nur der resultierende Odds-Ratio-Wert für den Kontrast zwischen Kindern eines Vaters in der oberen Dienstklasse und eines ungelernten Arbeiters entnommen. Die Werte zeigen, um wie viel mal größer bei den verschiedenen Geburtskohorten die Chancen auf Abitur oder Hochschulabschluss bei Söhnen oder Töchtern von Vätern in der oberen Dienstklasse im Vergleich zu Söhnen oder Töchtern aus der ungelernten Arbeiterklasse sind. In den beiden unteren Linien ist der mit einem unterschiedlichen Bildungsniveau des Vaters zusätzlich verbundene Chancenvorteil bzw. -nachteil der Kinder abgebildet, wobei der Kontrast zwischen Vätern mit mindestens dem Abitur im Vergleich zu Vätern mit nur Hauptschulabschluss dargestellt ist. Betrachten wir zunächst für die Männer die Entwicklungen in den Chancen, das Abitur zu erreichen (gestrichelte Linien): In den Geburtskohorten 1910-1927, die in der Zwischenkriegszeit bzw. während des Zweiten Weltkrieges das Gymnasium besuchten, hatten Söhne aus der oberen Dienstklasse etwa 20-mal bessere Chancen, das Abitur zu erreichen, als Söhne ungelernter Arbeiter. In der jüngsten Geburtskohorte, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts das Gymnasium besuchte, waren die Chancen der Dienstklassensöhne noch etwa 10-mal besser. Der Vergleich zwischen diesen beiden Gruppen zeigt die Extremwerte der Ungleichheitsspanne. Die Werte für Kinder aus anderen Herkunftsgruppen liegen jeweils zwischen diesen beiden Extremen und haben einen ähnlich verlaufenden Ungleichheitsabbau erfahren. Der Ungleichheitsabbau hat sich bei den Söhnen vor allem bei den Kohorten vollzogen, bei denen die Gymnasialzeit bis zum Ende der Wirtschaftwunderjahre in der ersten Hälfte der 1970er Jahre (Kohorten 1948-1957) mit ihrer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen fiel. Danach blieben aber beim Indikator für die Klassenherkunft die Ungleichheitsverhältnisse unverändert. Nach den Linien im unteren Teil von Schaubild 2 hängen die Bildungschancen der Kinder im Zeitverlauf auch weniger vom Bildungsniveau des Vaters ab. Auch hier hat sich die Ungleichheit verringert. Auf den ersten Blick scheint das Bildungsniveau des Vaters weniger folgenreich für das Bildungsverhalten der Kinder zu sein als seine Klassenposition, denn die Odds-Ratios für den Bildungseinfluss sind ja deutlich niedriger. Dies wäre jedoch ein falscher Schluss, denn bei der Klassenposition vergleichen wir die Chancen der beiden Extremgruppen, während bei der Bildungsvariablen weniger extreme Kontrastgruppen verglichen werden.13 Wir können deshalb die relative Einflussstärke von Bildungsherkunft und Klassenherkunft nicht miteinander vergleichen. Die Analysen zeigen aber, dass beide Faktoren auch unter Kontrolle des 13 Wegen unterschiedlicher Bildungsklassifikationen in den Erhebungen, aus denen die Daten stammen, kann als kleinster gemeinsamer Nenner nur der Kontrast zwischen Vätern mit unterschiedlichen Schulabschlüssen gebildet werden. Könnte man im Hinblick auf die Bildung der Eltern ähnlich extreme Gruppen wie bei der Klassenvariablen vergleichen, würde die Ungleichheitsspanne ebenfalls größer werden.
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
301
jeweils anderen Faktors wirken und dass die Ungleichheit im Hinblick auf beide Herkunftsbedingungen sich im Zeitverlauf verringert hat, beim Bildungsindikator sogar bis in die jüngste Zeit hinein. Abbildung 2:
Odds-Ratios in den Chancen, das Abitur bzw. einen Hochschulabschluss zu erreichen, nach Geburtskohorten Frauen
Männer 40
40
30
30
20
20
10
10
0
0 1910-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-84
1910-27 1928-37 1938-47 1948-57 1958-67 1968-84
Abitur: Vater obere Dienstkl. vs. ungelernte Arbeiter
Abitur: Vater obere Dienstkl. vs. ungelernte Arbeiter
Abitur: Vater Abitur vs. Vater Hauptschulabschluss
Abitur: Vater Abitur vs. Vater Hauptschulabschluss
Hochschule: Vater obere Dienstkl. vs. ungel. Arbeiter
Hochschule: Vater obere Dienstkl. vs. ungel. Arbeiter
Hochschule: Vater Abitur vs. Vater Hauptschulabschl.
Hochschule: Vater Abitur vs. Vater Hauptschulabschl.
Quelle: Klein et al. (im Druck)
Bei den Töchtern scheinen die Ungleichheiten zwischen den Herkunftsklassen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch stärker ausgeprägt gewesen zu sein als bei den Söhnen. Die Schätzungen für die ersten beiden Kohorten sind aber unstabil, weil in dieser Zeit extrem wenig Töchter aus Arbeiterherkunft wenigstens das Abitur erreicht haben und deshalb selbst bei nur geringen Veränderungen große Schwankungen in den odds ratios resultieren können. Ab der Kohorte 1938-47 sind die Ungleichheitsverhältnisse nach Herkunftsklassen bei den Töchtern auf ähnlichem Niveau wie bei den Söhnen. Die Abhängigkeit der Bildungschancen der Töchter vom Bildungsniveau des Vaters hat im Zeitverlauf deutlicher abgenommen als bei den Söhnen.14
14 Die genauere Betrachtung der Befunde bei Klein et al. (im Druck) zeigt, dass die Disparitäten nach Bildungsherkunft vor allem deshalb geringer geworden sind, weil besonders Kinder von Vätern mit nur Hauptschulabschluss in der Bildungsbeteiligung aufgeholt haben. Weil diese Gruppe in den Analysen von Müller und Pollak
302
Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Die herkunftsbezogenen Disparitäten beim Erwerb eines Hochschulabschlusses haben sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts sehr ähnlich wie die Disparitäten beim Erreichen des Abiturniveaus entwickelt. Die Disparitäten, die bis zum Erreichen des Abiturs entstehen, sind prägend für die Ungleichheit in den Chancen auf einen Hochschulabschluss.15 Dieses schließt aber nicht aus, dass auch das Bildungsverhalten nach dem Abitur – gemessen an den Übergängen von Abiturienten in unterschiedliche Ausbildungen nach dem Abitur – durch Bedingungen der sozialen Herkunft beeinflusst ist. Müller und Pollak (2004) haben für alle von ihnen untersuchten Geburtskohorten gefunden, dass im Vergleich zu Kindern aus Familien der oberen Dienstklasse und von Eltern mit höherer Bildung alle Kinder aus weniger vorteilhafter Herkunft insbesondere häufiger eine Berufslehre und seltener eine Universitätsausbildung absolvieren. Im Vergleich zu den Zwischenkriegs- und Kriegskohorten haben sie in den Nachkriegskohorten für die männlichen Abiturienten aus Arbeiterherkunft sogar eine noch deutlichere Nichtwahrnehmung eines Universitätsstudiums und Hinwendung zu Berufslehren gefunden. Die verstärkten Disparitäten im Bildungsverhalten nach dem Abitur waren aber nur schwach ausgeprägt. Deshalb folgte im Gesamtergebnis die Ungleichheit bei den Hochschulabschlüssen dem Trend abnehmender Ungleichheit bis zum Abitur.
3.4 Bildungsalternativen und Bildungsverhalten von Hochschulberechtigten Die jüngsten von Müller und Pollak (2004) im Hinblick auf das Hochschulstudium untersuchten Geburtsjahrgänge sind im Wesentlichen Geburtsjahrgänge der 1960er Jahre, die in den 1980er Jahren das Abitur erworben und danach teilweise ein Studium absolviert haben. Welche Entwicklungen finden wir aber für die Zeit danach, in der der Anteil der Abiturienten weiter zugenommen hat? Für die Ungleichheit bis zum Abitur finden mehrere neueste Untersuchungen (Kalter et al. 2007; Schindler und Lörz 2008; Klein et al. im Druck) weiterhin abnehmende Ungleichheit und belegen damit die Fortsetzung des langfristigen Trends geringer werdender sozialer Disparitäten im Erwerb des Abiturs bis in die jüngste Zeit hinein. Klein et al. (im Druck) belegen mit neuesten Mikrozensusdaten, dass beim Erwerb des Abiturs die Ungleichheit nach Klassenherkunft bei den Frauen inzwischen kleiner ist als bei den Männern. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass inzwischen mehr Frauen als Männer das Abitur erreichen. Aber wie haben sich die Übergänge nach dem
(2004) nicht gesondert betrachtet wurde, unterscheiden sich die hier nach den neueren Ergebnissen von Klein et al. (im Druck) berichteten Befunde leicht von denen in Müller und Pollak (2004). 15 Die Odds-Ratios hinsichtlich des Hochschulabschlusses und die Odds-Ratios hinsichtlich des Abiturs sind in ihrer Größe wegen nicht völlig eindeutiger Identifizierung der Hochschulberechtigten in der Datenbasis nicht direkt vergleichbar. Von den Personen mit begrenzter Hochschulberechtigung sind nur diejenigen als Abiturienten identifiziert, die tatsächlich später ein Hochschulstudium abgeschlossen haben. Da diese Gruppe häufiger der Arbeiterklasse entstammt, während die Abiturienten mit allgemeiner Hochschulberechtigung (von denen nicht alle ein Hochschulstudium abschließen) häufiger Dienstklassenherkunft haben, trägt dies dazu bei, dass die OddsRatios bezüglich Hochschulabschluss eine etwas geringere Ungleichheit anzeigen als die Odds-Ratios für das Erreichen mindestens des Abiturniveaus, obwohl unter den Hochschulberechtigten insgesamt Arbeiterkinder seltener ein Studium abschließen als Kinder aus der Dienstklassenherkunft. Beim Bildungsindikator ergibt sich ein ähnlich gelagertes Vergleichsproblem. Trotz dieses Datenproblems kann wegen des weitgehend parallelen Kurvenverlaufs gefolgert werden, dass die Disparitäten, die bis zum Erreichen des Abiturs entstehen, prägend sind für die Ungleichheit in den Chancen auf einen Hochschulabschluss.
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
303
Abitur entwickelt? Diese Frage untersuchen wir im Folgenden mit den Daten der Stichproben von Hochschulberechtigten von HIS. Diese Daten ermöglichen neben der größeren Gegenwartsnähe auch eine deutlich differenziertere Analyse des Bildungsgeschehens nach dem Erwerb der Hochschulberechtigung. Sie erlauben die Analyse der Folgen unterschiedlicher Typen der Hochschulberechtigung (Abiturtyp Fachhochschulreife versus allgemeine Hochschulreife) sowie unterschiedlicher Bildungswege bis zur Hochschulberechtigung: Wurde die Hochschulberechtigung auf direktem schulischem Weg erworben oder wurde davor bereits eine Berufsausbildung abgeschlossen und die Hochschulberechtigung auf dem Weg einer Höherqualifikation nach einem Berufsabschluss erreicht? Zudem können wir bei den Zusammenhängen zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungsentscheidungen nach dem Erwerb der Hochschulberechtigung mit Hilfe der Abiturnote grob zwischen primären und sekundären Disparitäten unterscheiden. Ziel der Analyse ist zu prüfen, wie diese Bedingungen jeweils innerhalb von 3½ Jahren nach Erwerb der Hochschulberechtigung die Wahl einer von vier zentralen Optionen für den weiteren Bildungsweg beeinflussen: die Aufnahme eines Studiums (1) an einer Universität oder (2) an einer Fachhochschule, (3) den Beginn einer nicht-tertiären Berufsausbildung oder (4) die Entscheidung gegen eine weitere Ausbildung und die direkte Aufnahme einer Erwerbs- oder anderen Tätigkeit. Geprüft wurde auch, inwieweit sich die Abhängigkeiten zwischen den vier Erhebungen von 1983 bis 1999 unterscheiden. Es wurden jedoch zwischen den vier Zeitpunkten keine bedeutsamen Unterschiede in diesen Abhängigkeiten gefunden. Deshalb vereinfachen wir die Darstellung und beschreiben im Folgenden die im Durchschnitt aller vier Erhebungen gefundenen Werte. Im deutschen Bildungssystem sind der Abiturtyp und die Bildungswege bis zur Hochschulberechtigung zentrale Bestimmungsgrößen für den weiteren Bildungsverlauf.16 Die Entscheidung für eine bestimmte Hochschulberechtigung und der dafür gewählte Bildungsweg sind einerseits durch vorausgehende selektive Prozesse bestimmt, andererseits wahrscheinlich auch durch den danach angestrebten Bildungsweg (Endogenität). Diese unterschiedlichen Einflüsse können mit unseren Daten und Analysen nicht hinreichend identifiziert werden. Wir können nur durch entsprechende Hinweise versuchen, das Risiko von Fehlschlüssen möglichst geringzuhalten. Dazu beginnen wir mit der Diskussion einfacher bivariater Zusammenhangstabellen, mit denen wir zuerst die Selektivität des Abiturtyps und des vorausgehenden Bildungsweges nach sozialen Herkunftsbedingungen charakterisieren und dann die Wahl der verschiedenen postsekundären Bildungsoptionen beschreiben. Danach vertiefen wir die Analyse mit multinomialen logistischen Regressionsmodellen.17
16 In einigen Bundesländern wie z.B. Baden-Württemberg stellt die Art des besuchten Gymnasiums (allgemeinbildend oder beruflich) eine weitere wichtige Bestimmungsgröße dar, die postsekundäre Bildungsentscheidungen maßgeblich beeinflussen kann (Köller et al. 2004; Maaz 2006). Für detailliertere Informationen zu Hochschulzugang und Hochschulzulassung in Deutschland siehe Teichler (2005: 32-36). 17 Da diese Modelle keine großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigen, unterscheiden wir in den deskriptiven Tabellen nicht nach Geschlechtern.
304
Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Tabelle 3: Zusammensetzung der Wege zur Hochschulzugangsberechtigung (HZB) nach Herkunftsklasse und Bildung der Eltern, in Prozent HZB-Typ ohne/mit vorheriger Berufsausbildung Abi ohne FHR ohne Abi mit FHR mit
Abiturnote (Mittelwert)
N
Klasse des Vaters Dienstklasse Mittlere Klasse Arbeiterklasse
48 36 15
29 43 28
27 48 25
23 41 36
0,18 0,06 -0,06
19.565 17.003 8.487
Bildung der Eltern Hochschulabschluss Abitur weniger als Abitur
35 11 54
15 9 76
24 16 60
10 8 82
0,37 0,06 -0,05
13.838 4.990 26.227
35.506
2.683
2.317
4.550
0,09
45.055
-0,42
0,34
-0,10
N Abiturnote (Mittelwert)
0,14
Quelle: HIS-Studienberechtigtenpanels 1983, 1990, 1994 und 1999 (eigene Berechnungen) Anmerkungen: Abiturnoten sind z-standardisiert und mit -1 multipliziert. FHR=Fachhochschulreife; Bildung der Eltern bezieht sich auf den höchsten Bildungsabschluss der Eltern.
Tabelle 3 zeigt, wie sich die Absolventen der beiden Abiturtypen und Bildungswege nach sozialen Herkunftsgruppen zusammensetzen. Danach rekrutiert sich die Gruppe der klassischen Abiturienten mit allgemeiner Hochschulreife ohne vorausgehende Berufsausbildung eindeutig am häufigsten aus Familien der Dienstklasse bzw. aus akademisch gebildeten Elternhäusern. Die Inhaber der Fachhochschulreife, und vor allem diejenigen, die die Fachhochschulreife erst nach einer Berufsausbildung erworben haben, stammen dagegen wesentlich häufiger aus einer Arbeiterfamilie oder einer mittleren Herkunftsschicht und ganz überwiegend aus Elternhäusern mit Bildung unterhalb des Abiturniveaus. Auch die umgekehrte Prozentuierung in Tabelle 4 – Abiturtyp und Bildungsweg nach sozialer Herkunft – verdeutlicht herkunftsselektive Prozesse in den verschiedenen Abiturtypen und Bildungswegen zur Hochschulreife.18 Nach den Werten für N in den Spalten von Tabelle 3 ist der klassische direkte Weg zur allgemeinen Hochschulreife nach wie vor die am häufigsten erworbene Hochschulberechtigung, deren Inhaber sich zugleich am stärksten aus gehobener Klassen- und Bildungsherkunft rekrutieren. Im Unterschied zur allgemeinen Hochschulreife gelangt man häufiger erst nach einer Berufsausbildung zur Fachhochschulreife. Die Fachhochschulreife scheint demnach (jedenfalls noch in den hier berücksichtigten Abschlussjahrgängen) überwiegend als Aufstiegsqualifikation nach erfolgreich abgeschlossener Berufsausbildung genutzt zu werden und nur eher selten als vorzeitiger Teilabschluss auf dem klassischen Weg zum Abitur (vgl. N in Spalte 4 mit N in Spalte 2). Umgekehrt wird nach erfolgter Berufsausbildung nur selten die allgemeine Hochschulreife, sondern überwiegend nur die Fachhochschulreife erworben (vgl. N in Spalte 3 mit N in Spalte 4).
18 Die in Tabelle 4 vorgenommene Prozentuierung mit der sozialen Herkunft als Prozentuierungsbasis ist mit größter Vorsicht zu interpretieren, da bei den Hochschulberechtigten die jeweiligen Herkunftsgruppen ja unterschiedlich selektive Auswahlen darstellen. Die Werte können nur zeigen, dass die selektive Auswahl von Personen, die aus den verschiedenen Herkunftsgruppen die Hochschulberechtigung erreichen, sich auf unterschiedliche Typen der Hochschulberechtigung verteilen und diese typischerweise auf unterschiedlichen Wegen erreichen.
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
305
Tabelle 4: Verteilung des Typs der Hochschulzugangsberechtigung innerhalb Herkunftsklassen und Bildungskategorien der Eltern, in Prozent HZB-Typ ohne/mit vorheriger Berufsausbildung Abi ohne FHR ohne Abi mit FHR mit
Abiturnote (Mittelwert)
N
Klasse des Vaters Dienstklasse Mittlere Klasse Arbeiterklasse
87 76 65
4 7 9
3 7 7
5 11 19
0,18 0,06 0,06
19.565 17.003 8.487
Bildung der Eltern Hochschulabschluss Abitur weniger als Abitur
90 80 73
3 5 8
4 7 5
3 7 14
0,37 0,06 -0,05
13.838 4.990 26.227
Gesamt
79
6
5
10
0,09
45.055
Quelle: HIS-Studienberechtigtenpanels 1983, 1990, 1994 und 1999 (eigene Berechnungen) Anmerkungen: FHR = Fachhochschulreife; Bildung der Eltern bezieht sich auf den höchsten Bildungsabschluss der Eltern.
Die Absolventen unterschiedlicher Typen und Wege zum Abitur unterscheiden sich auch in den Noten, mit denen sie ihre Hochschulberechtigung erhalten (letzte Zeile in Tabelle 3). Die Studienberechtigten mit allgemeiner Hochschulreife haben im Durchschnitt bessere Noten als die Berechtigten mit Fachhochschulreife; und bei beiden Berechtigungstypen haben die Absolventen nach erfolgter Berufsausbildung bessere Noten als die Absolventen ohne vorausgehende berufliche Bildung. Die deutlich schwächsten Noten weisen die Berechtigten mit Fachhochschulreife ohne vorausgehende Berufsausbildung auf. Diese Gruppe schließt wahrscheinlich auch leistungsschwache Schüler ein, die sich die allgemeine Hochschulreife oder ein nachfolgendes Studium nicht zutrauen und deshalb vorzeitig aus dem klassischen Weg zum Abitur aussteigen. Nicht ganz so stark wie nach Abiturtyp und Bildungsweg variieren die Noten auch nach der Herkunft der Schüler (letzte Spalte in Tabellen 3 und 4). Sie steigen mit der Klassenherkunft leicht und – etwas stärker – nach dem Bildungsniveau im Elternhaus an. Nach Tabelle 4 bestimmt die Klassenherkunft stärker Abiturtyp und Bildungsweg, während die Noten stärker nach dem Bildungsniveau im Elternhaus variieren. Bei allen Berechtigungen und Bildungsverläufen haben die Frauen leicht bessere Noten als die Männer (nicht in Tabellen ausgewiesen). Tabelle 5: Erste Ausbildungsentscheidung nach Typ der Hochschulzugangsberechtigung (in Prozent) HZB-Typ ohne/mit vorheriger Berufsausbildung Abi ohne FHR ohne Abi mit FHR mit Uni FH Berufsausbildung Sonstiges Total in % N
N
57 7 35 1
5 29 64 2
62 13 11 15
12 62 11 15
22.479 6.381 14.828 1.367
100,00 35.506
100,00 2.682
100,00 2.317
100,00 4.550
45.055
Quelle: HIS-Studienberechtigtenpanels 1983, 1990, 1994 und 1999 (eigene Berechnungen) Anmerkungen: FHR = Fachhochschulreife
306
Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Nach Tabelle 5 (letzte Spalte für N) entscheiden sich im Durchschnitt der vier Stichproben von 1983, 1989, 1994 und 1999 (nur) die Hälfte der Hochschulberechtigten für ein Universitätsstudium, etwa jeder Dritte beginnt eine Berufslehre und jeder siebte ein Fachhochschulstudium. In den jeweiligen Stichprobenjahren unterscheidet sich die Studierneigung zwar etwas, aber allenfalls um wenige Prozentpunkte. Die Erhebungsjahre variieren auch nur wenig in dem, was die Tabelle vor allem zeigen soll: nämlich in der massiven Strukturierung der postsekundären Ausbildung durch Hochschulberechtigungstyp und Bildungsweg. Nach Spalten 3 und 4 wählen bei vorausgegangener Berufsausbildung sowohl Abiturienten mit allgemeiner wie Fachhochschulreife weitgehend das dem Abiturtyp entsprechende Hochschulstudium an der Universität bzw. an der Fachhochschule19. Da diese beiden Gruppen bereits eine Berufsausbildung hinter sich haben, erfolgt eine weitere Berufsausbildung nur selten. Noch eher als mit einer weiteren Ausbildung ist in beiden Gruppen mit dem Beginn der Erwerbstätigkeit vermutlich auf der Grundlage der zuvor erworbenen beruflichen Qualifikation zu rechnen. Wenn vor der Studienberechtigung keine Berufsausbildung erworben wurde, bevorzugen die allermeisten Studienberechtigten eine Investition in weitere Bildung (berufliche Ausbildung oder Studium) und werden nicht direkt erwerbstätig. Abiturienten mit allgemeiner Hochschulreife und Abiturienten mit Fachhochschulreife verfolgen aber sehr unterschiedliche Bildungswege. Die Abiturienten mit allgemeiner Hochschulreife beginnen zu einem Drittel eine Berufsausbildung und zu annähernd zwei Dritteln ein Hochschulstudium, ganz überwiegend an einer Universität. Umgekehrt nehmen die Fachhochschul-Berechtigten nur zu einem Drittel ein Hochschulstudium auf, aber zu zwei Dritteln eine Berufsausbildung. Die oben im Zusammenhang mit den Noten geäußerte Vermutung verstärkt sich, dass die wenigen, die ohne vorherige Berufsausbildung mit der Fachhochschulreife aus schulischen Bildungsgängen abgehen, dies vielfach nicht mit der Intention eines Fachhochschulstudiums tun, sondern eher, weil sie die Studienoption aufgegeben haben und sich mit der Fachhochschulreife hinreichend für eine Berufsausbildung qualifiziert fühlen. Insgesamt besteht also ein sehr enger Zusammenhang zwischen Abiturtyp und Bildungsweg zur Hochschulberechtigung einerseits und nachfolgendem Bildungsweg andererseits. Das Muster dieses Zusammenhangs entspricht durchaus einer plausiblen Situationslogik. Männer und Frauen unterscheiden sich darin nur wenig. Bei gleichen Voraussetzungen entscheiden sich Frauen allerdings häufiger für eine Berufsbildung und seltener für ein Studium (insbesondere seltener für die Fachhochschule).
19 Dass einige Hochschulberechtigte mit FH-Reife sich dennoch an Universitäten finden, liegt daran, dass in den Daten Studierende an Gesamthochschulen den Universitäten zugerechnet werden, auch wenn ihr Studiengang einem Fachhochschulstudium entspricht. Außerdem kann es sich bei solchen Fällen um Datenfehler handeln oder um Studierende, die aufgrund von Sonderregelungen ein Universitätsstudium aufnehmen können. Aufgrund der kleinen Fallzahlen kann dies aber keinen entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse haben.
Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
307
Tabelle 6: Multinomiale logistische Regressionsmodelle für den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungsentscheidungen nach Erwerb der Hochschulreife, für Männer und Frauen, jeweils ohne (Modell 1) und mit Kontrolle (Modell 2 und 3) von Abiturtyp und vorheriger Berufsausbildung Männer M1 Universität vs. Fachhochschule Klasse des Vaters: Ref.: Arbeiterklasse Dienstklasse Mittlere Klasse Bildung der Eltern: Ref.: weniger als Abitur Eltern Hochschulabschluss Eltern Abitur (Fach-)Abiturnote Universität vs. Berufsausbildung Klasse des Vaters: Ref.: Arbeiterklasse Dienstklasse Mittlere Klasse Bildung der Eltern: Ref.: weniger als Abitur Eltern Hochschulabschluss Eltern Abitur (Fach-)Abiturnote
1,980 *** 1,465
***
1,262 1,051
***
1,554 1,107
***
1,326 * 1,100
***
2,514 *** 1,418
1,297 * 1,108
2,676 *** 1,362
Fachhochschule vs. Berufsausbildung Klasse des Vaters: Ref.: Arbeiterklasse -1*** Dienstklasse 1,527 -1*** Mittlere Klasse 1,322 Bildung der Eltern: Ref.: weniger als Abitur Eltern Hochschulabschluss 1,064 -1 Eltern Abitur 1,035 (Fach-)Abiturnote Sonstiges vs. Berufsausbildung Klasse des Vaters: Ref.: Arbeiterklasse -1*** Dienstklasse 2,375 -1*** Mittlere Klasse 1,597 Bildung der Eltern: Ref.: weniger als Abitur * Eltern Hochschulabschluss 1,292 -1 Eltern Abitur 1,036 (Fach-)Abiturnote Pseudo-R² Log Likelihood Freiheitsgrade N
M2
0,035 -24.794,2 21 22501
Frauen M3
***
1,275 1,032
***
1,388 *** 1,075 *** 1,383
***
1,355 1,069
2,459 *** 1,282
***
1,050 1,047
***
1,813 *** 1,413
***
1,952 1,106
***
1,513 *** 1,25
2,048 *** 1,221 *** 1,801
***
2,473 *** 1,247
1,063 1,035
1,198 -1* 1,122
***
1,475 1,135 *** 1,293
-1*
1,304 -1 1,142
1,668 -1 1,017
***
0,187 -20901,0 30 22501
1,582 1,158
1,274 -1 1,130
M1
M2
***
1,387 * 1,207
***
1,518 -1 1,052
***
***
M3
***
1,383 * 1,198
***
1,421 -1 1,097 *** 1,128
1,501 *** 1,223
***
1,548 *** 1,206
2,326 *** 1,198
***
1,899 1,106 *** 1,738
-1 *
1,082 1,013
1,119 1,007
***
1,532 ** 1,260
1,337 * 1,212 *** 1,542
-1**
1,134 1,210
1,081 1,216
-1
***
***
***
***
1,267 1,128
-1*
1,901 -1 1,133
1,653 -1 1,031 -1 1,033
***
1,191 -1 1,188
1,301 -1 1,104
1,324 -1 1,126 -1 1,029
0,210 -20303,2 33 22501
0,036 -22.508,6 21 22376
0,151 -19820,7 30 22376
0,178 -19189,7 33 22376
Quelle: HIS-Studienberechtigtenpanels 1983, 1990, 1994 und 1999 (eigene Berechnungen) Signifikanzniveaus: *** p < 0.001 ** p < 0.01 * p < 0.5
***
***
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Walter Müller, Reinhard Pollak, David Reimer und Steffen Schindler
Wie beeinflussen nun die sozialen Herkunftsbedingungen das Bildungsverhalten nach dem Erwerb der Hochschulberechtigung? Zur Beantwortung dieser Frage enthält Tabelle 6 die Ergebnisse multinomialer logistischer Regressionsmodelle. Sie sollen das Ausmaß dieser Herkunftseinflüsse ausweisen und zeigen, wie sie durch Abiturtyp und vorausgehenden Bildungsweg sowie das akademische Leistungsvermögen – gemessen an der Abiturnote – vermittelt sind. In allen Modellen ist (ohne Angabe der entsprechenden Schätzwerte) auch die in den verschiedenen Erhebungsjahren leicht variierende Studierneigung kontrolliert. Die Ergebnisse der Regressionsmodelle sind in der Form von Odds-Ratios dargestellt, mit denen die Präferenzen zwischen jeweils zwei Bildungsalternativen gemessen werden, z.B. die Präferenz eines Universitätsstudiums im Vergleich zu einem Fachhochschulstudium. Die OddsRatios geben an, um wie viel Mal mehr eine bestimmte Herkunftsgruppe im Vergleich zur angegebenen Referenzgruppe (z.B. die Dienstklasse im Vergleich zur Arbeiterklasse) jeweils die erstgenannte von den zwei verglichenen Bildungsalternativen bevorzugt. Wenn der Koeffizient mit dem Exponenten -1 versehen ist, bedeutet dies eine seltenere Wahl der erstgenannten Alternative bzw. Bevorzugung in der umgekehrten Richtung. Dies bedeutet entweder: Die beim Bildungsvergleich an zweiter Stelle genannte Alternative wird entsprechend bevorzugt oder: Die Referenz-Herkunftsgruppe zieht die an erster Stelle genannte Bildungsalternative häufiger als die anderen Herkunftsgruppen vor. Modell 1 zeigt, wie die Wahl der verschiedenen postsekundären Ausbildungsalternativen insgesamt nach den Herkunftsbedingungen zwischen den Hochschulberechtigten variiert. Danach bevorzugen Hochschulberechtigte aus höheren Herkunftsklassen und aus Elternhäusern mit höherem Bildungshintergrund bis zu über zweieinhalb Mal häufiger ein Universitätsstudium als Berechtigte aus der Arbeiterklasse bzw. mit Vätern mit Bildung unterhalb des Abiturniveaus. Dieses gilt sowohl im Vergleich zum Fachhochschulstudium als auch im Vergleich zur Berufsausbildung. Dabei scheint die Bevorzugung der Universität stärker durch den Bildungshintergrund (vor allem bei akademisch gebildeten Eltern) beeinflusst zu sein als durch Klassenherkunft. Bei der Wahl zwischen Fachhochschule und Berufsausbildung und ebenso bei der Wahl zwischen keiner weiteren Ausbildung und Berufsausbildung scheinen dagegen – zunächst überraschenderweise – die höheren Herkunftsklassen häufiger als die Arbeiterklassen eine Berufsausbildung einem Fachhochschulstudium oder keiner weiteren Ausbildung vorzuziehen. Diese Befunde werden aber verständlich, wenn wir nochmals die Ergebnisse der Häufigkeitsverteilungen in den Tabellen 3-5 vergegenwärtigen. Hochschulberechtigte mit Arbeiterherkunft haben deutlich häufiger als andere Herkunftsgruppen eine Fachhochschulreife nach erfolgter Berufsausbildung und diese Konstellation führt am weitaus häufigsten zu einem Fachhochschulstudium. Auch weil in diesem Fall bereits eine Berufsbildung vorliegt, schreiben sich Arbeiterkinder vergleichsweise häufiger als Söhne und Töchter aus höherer Herkunft in der Fachhochschule ein, als dass sie eine Berufsausbildung beginnen. Die Bevorzugung einer Berufsausbildung in der Dienstklasse gegenüber keiner weiteren Ausbildung resultiert dagegen aus dem Umstand, dass Söhne und Töchter aus der Dienstklasse häufiger als andere Herkunftsgruppen auf direktem Weg ohne Berufsbildung die allgemeine Hochschulreife erwerben, und dieses ist nach Tabelle 5 die Hochschulberechtigtengruppe, die am häufigsten eine Berufsbildung keiner weiteren Ausbildung vorzieht. In den M1-Modellen sind in den Schätzungen für die Herkunftseinflüsse zwei unterschiedliche Einflussarten der Herkunft auf die postsekundäre Bildungsbeteiligung enthalten:
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zum einen Effekte aufgrund der nach Herkunft unterschiedlichen Verteilung der Hochschulberechtigten auf die verschiedenen Vorbildungswege und Berechtigungstypen und die damit bei den verschiedenen Herkunftsgruppen gewissermaßen voreingestellten Unterschiede im Bildungsverhalten nach dem Abitur (Kompositionseffekte nach Typ der Hochschulberechtigung und Bildungsgang); zum anderen weitere Herkunftseinflüsse, die dazu führen, dass sich selbst innerhalb der Vorbildungswege und Berechtigungstypen der weitere Bildungsverlauf zusätzlich nach Herkunft unterscheidet (konditionale Effekte). Will man von Ersterem absehen und nur Herkunftseinflüsse erfassen, die bei gegebenem Abiturtyp und Vorbildungsweg zusätzlich wirksam sind, muss man in den Modellen die Effekte von Vorbildung und Abiturtyp kontrollieren. Dies geschieht in den Modellen M2 und M3. Die entsprechenden Effektschätzer für die Kontrollvariablen sind nicht aufgeführt, weil sie in gleicher Weise wirken, wie dies in Tabelle 5 zum Ausdruck kommt. In diesem Fall verändern sich einige der Herkunfts-Koeffizienten in nachvollziehbarer Weise. Weil die mit Vorbildung und Typ der Hochschulberechtigung verbundene besondere Vorausrichtung der Arbeiterkinder auf die Fachhochschule kontrolliert und herausgerechnet wird, verringert sich im Vergleich von Universitäts- und Fachhochschuloption die mit Dienstklassenherkunft verbundene Präferenz für die Universität ebenso wie ihre scheinbare Präferenz einer Berufsausbildung gegenüber einem Fachhochschulstudium oder einer sonstigen Ausbildung. Die teilweise erheblichen Unterschiede in den Schätzwerten nach Modell M2 im Vergleich zu M1 verdeutlichen die Wichtigkeit eines klaren Verständnisses dessen, was man misst oder messen will: M1 entspricht einer Analyse, in der man alle Studienberechtigten als homogene Gruppe betrachtet und nicht zwischen ihnen nach Typ und Vorbildung differenziert. Die daraus resultierenden Schätzungen liefern eine adäquate Antwort, wenn man an der Gesamtheit der Herkunftseinflüsse auf den weiteren Bildungsweg interessiert ist, die man in einer Stichprobe von Hochschulberechtigten beobachten kann, unabhängig davon, ob diese Einflüsse aus der in der Stichprobe gegebenen herkunftsspezifischen Verteilung der Hochschulberechtigten auf die Vorbildungswege und Berechtigungstypen resultieren oder aus Herkunftseinflüssen bei gegebenen Vorbildungswegen und Berechtigungstypen. Man darf aber nicht vergessen, dass wegen der unbekannten Selektivität von Berechtigtenstichproben diese Gesamtheit nur einen unbekannten Teil der gesamten ungleichen Chancen auf Hochschulbildung ausmacht, die man nur mit Daten einer die ganze Bevölkerung abbildenden Stichprobe gewinnen kann. Die mit Modell M2 gewonnenen Schätzungen entsprechen einem engeren, aber klarer interpretierbaren Verständnis von Herkunftseinflüssen an der Verzweigungsstelle nach dem Erwerb der Hochschulberechtigung: nämlich Einflüsse, die bei dem an dieser Stelle nach Vorbildung und Abiturtyp gegebenen „Status“ der Vorbereitung auf ein Hochschulstudium bestehen, wobei noch nicht berücksichtigt ist, dass dieser „Status“ noch nach gezeigter Leistung (z.B. Abiturnote) variieren kann. Auch nach dem engeren Verständnis der Herkunftseinflüsse nach Modell M2 wirken Herkunftsbedingungen steuernd auf das postsekundäre Bildungsverhalten. So bevorzugen nach Modell M2 (ohne Berücksichtigung der Abiturnoten) Söhne und Töchter aus Dienstklassenherkunft 1,3 bis 1,5-mal häufiger als Arbeiterkinder ein Universitätsstudium gegenüber einer Berufsausbildung. Eine höhere Bildung im Elternhaus wirkt zusätzlich und noch ausgeprägter in die gleiche Richtung. Bei Söhnen von Akademikerfamilien ist die Bevorzugung eines Universitätsstudiums gegenüber einer Berufsausbildung 2,5-mal stärker als in Familien mit Eltern ohne Abitur. Herkunft aus der Dienstklasse sowie aus einem akademisch gebildeten Elternhaus führen beide (jeweils im Vergleich zur jeweiligen Referenz-
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gruppe) ebenfalls zu einem signifikant häufigeren Studium an einer Universität als an einer Fachhochschule. In Akademikerfamilien wird auch ein Fachhochschulstudium im Vergleich zu einer Berufsausbildung häufiger vorgezogen als bei Herkunft aus einem weniger gebildeten Elternhaus; die Klassenherkunft scheint aber diesbezüglich keinen zusätzlichen Einfluss auszuüben.20 Insgesamt wirken also – wenn man Abiturtyp und Vorbildung in Rechnung stellt – die unterschiedlichen Herkunftsbedingungen wie eine Kaskade, in der die jeweils vorteilhafteren Herkunftsbedingungen zur Bevorzugung der jeweils anspruchsvolleren und vorteilhafteren Bildungswahl gegenüber der je nächstbesten Option in der Reihenfolge von Universitätsstudium zu Fachhochschulstudium und schließlich beruflicher Ausbildung führen. Dabei unterscheiden sich Männer und Frauen in der Struktur und Stärke der verschiedenen Herkunftseinflüsse allenfalls geringfügig voneinander. Nach Modell M3 fördert auch eine bessere Abiturnote signifikant häufiger die Wahl einer anspruchsvolleren Bildungsalternative. Im Vergleich zu Abiturienten mit schlechteren Noten studieren Abiturienten mit besseren Noten deutlich häufiger an einer Universität oder Fachhochschule, als dass sie eine Berufsausbildung beginnen oder ohne weiteren Bildungsabschluss ins Erwerbsleben eintreten. Abiturienten mit besseren Noten beginnen auch deutlich häufiger ein Studium an einer Universität als an einer Fachhochschule.21 Mit dem Einbezug der Abiturnoten ergeben sich auch Hinweise für die Beurteilung der relativen Bedeutung von primären und sekundären Mechanismen. Insofern Abiturnoten unterschiedliche Leistungsfähigkeit indizieren und sich die Noten nach der Herkunft der Studierenden unterscheiden, können die daraus resultierenden Unterschiede im postsekundären Bildungsverhalten verschiedener Herkunftsgruppen als über primäre Mechanismen vermittelt gelten. Stark verringerte Herkunftseffekte nach Kontrolle der Abiturnoten würden entsprechend auf eine große Bedeutung von primären Herkunftseffekten für postsekundäre Bildungsentscheidungen hindeuten. Eine nur kleine oder keine Verringerung kann dagegen als ein Indiz für weitgehend sekundäre Effekte gewertet werden. Im vorliegenden Fall ändert sich bei allen Bildungsoptionen unter Einbezug der Abiturnoten praktisch nichts an der Einflussstärke der Klassenherkunft; die Einflussstärke der Bildung im Elternhaus verringert sich jedoch um etwa ein Fünftel. Zu diesem Anteil ist die bei höherer Bildung der Eltern stärkere Bevorzugung der anspruchsvolleren Bildungsgänge auf die besseren Abiturnoten ihrer Kinder zurückzuführen. Ansonsten ändern sich aber die Herkunftseffekte kaum, und das heißt: Die Disparitäten im postsekundären Bildungsverhalten nach sozialer Herkunft sind nur wenig durch Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Abiturienten bedingt. Sie sind offensichtlich hauptsächlich durch sekundäre Mechanismen vermittelt. Selbst bei gleicher Leistungsfähigkeit wählen Abiturienten unterschiedlicher Herkunft unterschiedliche postsekundäre Ausbildungen. 20
Beim Vergleich von keiner Ausbildung und beruflicher Ausbildung sind die Schätzwerte wegen kleinen Zahlen von Fällen ohne weitere Ausbildung unsicher. Bei den Frauen finden sich in diesem Fall keine signifikanten Unterschiede nach Herkunftsbedingungen; bei den Männern weisen Klassenherkunft und Bildungsherkunft in unterschiedliche Richtung. Wegen der Unsicherheit der Datenlage sollte man diese etwas widersprüchlichen Befunde nicht überinterpretieren. 21 Die Noten des Abiturs bzw. der Fachhochschulreife sind als z-standardisierte Werte in der Analyse berücksichtigt. Damit kann man errechnen, dass ein Abiturient, der nach dem Notendurchschnitt gerade noch zu den 15 Prozent besten Abiturienten gehört, wenigstens dreimal häufiger ein Universitätsstudium und nicht eine Berufslehre beginnt, als dies bei einem Notendurchschnitt knapp oberhalb der 15 Prozent schlechtesten Abitursnoten der Fall ist. Bei den entsprechenden Notenverhältnissen wird ein Universitätsstudium doppelt so häufig als ein Fachhochschulstudium gewählt und ein Fachhochschulstudium gut 1,5-mal häufiger als eine Berufsausbildung.
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In aller Regel gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Bildung der Eltern und der Klassenposition der Eltern. Das bedeutet, dass man die Effekte der elterlichen Bildung und der elterlichen Klassenposition auf die Bildungsentscheidungen der Kinder zusammen betrachten sollte, um einen Eindruck von der eigentlichen Stärke des gesamten Herkunftseffektes zu bekommen. Zur Veranschaulichung des gemeinsamen Effekts sind in Tabelle 7 auf Grundlage des Modells M3 die erwarteten Anteilswerte der Wahl der verschiedenen postsekundären Ausbildungen aufgeführt. Dabei vergleichen wir die erwarteten Wahlen von Söhnen und Töchtern aus hoher Herkunft (mindestens ein Elternteil hat eine akademische Ausbildung und der Vater gehört der Dienstklasse an) mit den entsprechenden Werten von Söhnen und Töchtern aus niedriger Herkunft (der Vater ist Arbeiter und weder Mutter noch Vater haben das Abitur erreicht). Für beide Herkunftsgruppen stellen wir zudem die Ausbildungswahlen von Abiturienten mit schlechten Abitursnoten (1. Quintil) den Wahlen von Abiturienten mit sehr guten Noten (5. Quintil) gegenüber. Die Berechnungen gelten für klassische Abiturienten mit allgemeiner Hochschulreife ohne vorausgehende Berufsausbildung des Abiturjahrgangs 1999, die in diesem Jahrgang annähernd 80 Prozent aller Hochschulberechtigten ausmachen. Danach sind bei Abiturienten mit sehr guten Noten die Eintritte in ein Universitätsstudium zwischen 20 und 25 Prozentpunkte höher als bei Abiturienten mit schlechten Noten, die entsprechend häufiger eine Berufslehre beginnen. Die Wahl der übrigen Alternativen variiert dagegen deutlich weniger mit den Noten. Bei niedriger Herkunft beeinflussen die Notenunterschiede das Bildungsverhalten bei Männern wie bei Frauen etwas stärker als bei hoher Herkunft, insbesondere weil bei niedriger Herkunft Abiturienten mit schlechten Noten deutlich seltener ein Universitätsstudium beginnen, während sich bei hoher Herkunft entsprechende Abiturienten weniger davon abhalten lassen. Die sekundären Herkunftseffekte erkennt man darin, dass bei gleichem Notenschnitt Abiturienten aus hoher Herkunft deutlich häufiger ein Universitätsstudium und seltener eine berufliche Ausbildung beginnen als Abiturienten aus niedriger Herkunft. Dieser Unterschied liegt ebenfalls bei ca. 20 Prozentpunkten, das heißt, die sekundären Herkunftsdisparitäten sind ähnlich stark ausgeprägt wie die Unterschiede zwischen Abiturienten mit sehr guten und schlechten Noten. Oder anschaulicher ausgedrückt: Ein Kind mit einer hohen Herkunft kann es sich leisten, dem schlechtesten Fünftel des Abiturjahrgangs anzugehören, und hat dennoch die gleichen Wahrscheinlichkeiten auf ein Universitätsstudium wie ein Kind, das zu dem besten Fünftel des Abiturjahrgangs zählt, aber eine niedrige Herkunft hat. Bei gleicher Herkunft und gleichen Noten wählen bei den hier untersuchten Geburtsjahrgängen Frauen durchwegs etwas seltener ein Studium (an der Universität oder Fachhochschule), dagegen häufiger eine Berufsausbildung als Männer. Bei Frauen wirken sich insbesondere schlechte Noten stärker als bei Männern in Richtung vermehrter Berufsausbildung aus. Selbst bei gleichen Voraussetzungen entschieden sich also Frauen bei den hier untersuchten Abiturientenjahrgängen immer noch seltener als Männer für die anspruchsvolleren Bildungsalternativen nach dem Abitur.
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Tabelle 7: Vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten für Bildungsentscheidungen von Studienberechtigten mit Abitur ohne vorherige Berufsausbildung (basiert auf Modell 3) Männer
Hohe Herkunft Abiturnote Abiturnote 1. Quintil 5. Quintil
Universität Fachhochschule Ausbildung keine weitere Frauen
Universität Fachhochschule Ausbildung keine weitere
57 12 29 1
77 9 13 1
Niedrige Herkunft Differenz 20 -3 -16 0
Hohe Herkunft Abiturnote Abiturnote Differenz 1. Quintil 5. Quintil 54 73 19 7 8 1 39 19 -20 0 0 0
Abiturnote Abiturnote 1. Quintil 5. Quintil 35 13 50 2
59 12 28 1
Differenz 24 -1 -22 -1
Niedrige Herkunft Abiturnote Abiturnote Differenz 1. Quintil 5. Quintil 29 51 22 8 11 3 62 38 -24 0 0 0
Quelle: HIS-Studienberechtigtenpanels 1983, 1990, 1994 und 1999 (eigene Berechnungen) Anmerkung: Vorhersagte Werte berechnet für das Jahr 1999; 1. Quintil = leistungsschwächste Schüler, 5. Quintil = leistungsstärkste Schüler.
Insgesamt richten sich damit die Abiturienten in ihren Bildungsentscheidungen klar nach den im Abitur erzielten Leistungen. Davon unabhängig, aber ebenso stark variiert das postsekundäre Bildungsverhalten nach den Bedingungen im Elternhaus. Und rechnet man auch die nach Herkunft variierende Verteilung der Hochschulberechtigten auf die Berechtigungstypen und die vorausgehenden Bildungswege hinein, dann wird die Herkunftskomponente doppelt so stark wie der Notenfaktor.
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Diskussion und Einordnung in weitere Forschung
Mit der Bildungsexpansion haben sich nicht nur die Schüler- und Studierendenzahlen erhöht. Damit verbunden wurden praktisch überall die Bildungswege zu unterschiedlichen Typen von Hochschulreife ausdifferenziert. Auch die Bildungsoptionen nach Erlangen der Hochschulberechtigung haben sich verändert und erhöht. Damit erweist sich das Ende der Sekundarstufe zunehmend als eine hoch bedeutsame Verzweigungsstelle in der Bildungskarriere, bei der eine enge Verbindung zwischen dem Geschehen davor und danach besteht. Diese Verzweigungsstelle wird umso bedeutsamer, je mehr Kinder eine volle Sekundarausbildung durchlaufen und je variantenreicher im Zuge der Bildungsexpansion und der Differenzierung der Hochschulsysteme die postsekundären Bildungsalternativen werden. In den deutschsprachigen Ländern ist zwar die Expansion deutlich hinter der Entwicklung in vielen anderen Ländern zurückgeblieben. Aber auch in Deutschland ist die Differenzierung vorangeschritten und nimmt sowohl auf dem Sekundar- als auch auf dem Tertiärniveau weiterhin zu. Damit ist Hochschulberechtigung zunehmend weniger gleich Hochschulbe-
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rechtigung. Wie wir gesehen haben und wie schon Breen und Jonsson (2000) betonen, wird bei Übergangsanalysen die adäquate Berücksichtigung des Bildungsgangs bis zur Verzweigungsstelle zunehmend unerlässlicher. Das gleiche gilt für die wachsende Vielfalt von Optionen in der postsekundären Phase. Neben der klaren strukturierenden Wirkung der vorausgehenden Bildungslaufbahn ist der Übergang in die postsekundären Bildungseinrichtungen aber auch durch ausgeprägte Einflüsse der sozialen Herkunft geformt. In der postsekundären Phase ist die Stärke dieser Einflüsse zwar deutlich niedriger als auf dem vorausgehenden Weg zur Hochschulberechtigung. Die in Abbildung 2 gemessenen Chancenungleichheiten bei den Selektionsprozessen auf dem Weg zum Abitur sind deutlich größer als die Ungleichheiten beim Übergang von der Hochschulberechtigung in die verschiedenen postsekundären Bildungsgelegenheiten. Dennoch: In Deutschland besteht eine klar ausgeprägte dreigestufte Hierarchie zwischen Berufsbildung, Fachhochschulbildung und Universitätsbildung, bei der die besser situierten Herkunftsgruppen den je anspruchsvolleren und kostspieligeren, aber auch ertragreicheren Ausbildungsgang der jeweils weniger vorteilhaften Ausbildung vorziehen, während die weniger gut situierten Herkunftsgruppen (selbst bei vergleichbaren Abiturleistungen) relativ häufiger die weniger vorteilhaften Ausbildungen beginnen. In Ländern, die über eine gut etablierte Berufsbildungsalternative verfügen, ist die Spannweite der Hierarchisierung wahrscheinlich stärker ausgeprägt als in Ländern ohne eine solche Alternative (Hillmert und Jacob 2003; Becker und Hecken 2008). In den theoretischen Überlegungen haben wir auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Herkunftseinflüssen hingewiesen und Erwartungen über deren Gewicht bei verschiedenen Bildungsübergängen formuliert. Hier müssen wir nun zunächst feststellen, dass es die komplexe Verbindung zwischen Bildungsweg zur Hochschulreife, Abiturtyp und den nachfolgenden Bildungsentscheidungen außerordentlich schwierig macht, präzise zwischen primären und sekundären Effekten zu unterscheiden. Ob im Abiturtyp und in der Vorbildung eher primäre oder sekundäre Herkunftseffekte enthalten sind, ist schwer zu entscheiden. Soll man beispielsweise den Erwerb nur der Fachhochschulreife als Folge primärer Herkunftseinflüsse verstehen – weil diese weniger hohe Anforderungen als die allgemeine Hochschulreife stellt, jedoch die weiteren Bildungsoptionen einschränkt? Oder ist dies doch eher als Teil sekundärer Disparitäten zu betrachten, weil das Begnügen mit der Fachhochschulreife Folge einer vorgängig getroffenen Entscheidung für einen Bildungsgang ist, der keine allgemeine Hochschulreife erfordert? Ohne genaue Kenntnis der jeweiligen Umstände des Einzelfalls können diese Fragen nicht beantwortet werden. Allenfalls mit Paneldaten, die die Leistungsentwicklung und die jeweiligen Bildungsentscheidungen und Entscheidungsmotive über den Bildungsverlauf beobachten, könnten die Effekte besser identifiziert werden; und selbst dann mag die Zuordnung nicht immer eindeutig bestimmbar sein. Wir stoßen damit an Grenzen der Operationalisierbarkeit dieser Konzepte. Dennoch bestätigen unsere eher groben Messungen eine oben theoretisch abgeleitete Hypothese: Die postsekundären Bildungsentscheidungen sind überwiegend durch sekundäre Herkunftseinflüsse gesteuert (vgl. auch Schindler und Reimer 2008 für eine präzisere Berechnung der relativen Stärke von primären und sekundären Herkunftseffekten). Die Bildungsentscheidungen nach der Hochschulreife korrelieren zwar deutlich mit den Abiturnoten als Indikator des akademischen Leistungspotentials, aber diese sind nur schwach mit den Bedingungen der sozialen Herkunft korreliert und ihre Kontrolle verringert nur in ge-
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ringem Umfang den geschätzten Wert für das Maß der Herkunftseinflüsse. Damit sind vor allem primär vermittelte Herkunftseinflüsse schwächer als bei den frühen Übergängen in der Bildungslaufbahn. Dies trägt dazu bei, dass die postsekundären Übergänge insgesamt weniger herkunftsgeprägt sind. Die geringere Stärke primärer Herkunftseinflüsse dürfte nach den theoretischen Überlegungen vor allem Folge der vorausgehenden Selektionsprozesse sein. In deren Folge werden die Leistungsunterschiede zwischen Angehörigen verschiedener Herkunftsgruppen in den höheren Bildungsstufen, in denen zunehmend weniger Kinder aus den unteren Herkunftsschichten überleben, sukzessive geringer. Mit diesem Muster der unterschiedlichen Bedeutung primärer und sekundärer Effekte bei den verschiedenen Übergängen in der Bildungslaufbahn entsprechen die Befunde für Deutschland Ergebnissen, wie sie auch für andere Länder gefunden werden, z.B. für Schweden (Erikson und Jonsson 1996; Erikson 2007) oder für das Vereinigte Königreich (Jackson et al. 2007). Wenn die Herkunftseinflüsse bei den postsekundären Übergängen überwiegend über sekundäre Mechanismen zustande kommen, stellt sich unmittelbar die spezifischere Frage nach den Treibkräften dieser Mechanismen. Sind es die mit den verschiedenen Bildungsoptionen verbundenen unterschiedlichen Kosten, die von den einzelnen Herkunftsgruppen mehr oder weniger leicht getragen werden können? Sind es die nach Herkunft variierenden Kenntnisse über die Schwierigkeiten der Bildungsgänge und Einschätzungen, ob ein gewählter Bildungsgang mit Erfolg abgeschlossen werden kann? Oder spielten unterschiedliche Ertragseinschätzungen die entscheidende Rolle, vor allem ob mit den verschiedenen Bildungsgängen im Vergleich zur Bildung und Klassenzugehörigkeit der Herkunftsfamilie ein Statusverlust vermieden werden kann oder in Kauf genommen werden muss? Die Abklärung dieser Fragen ist entscheidend für die Entwicklung geeigneter bildungspolitischer Maßnahmen, beispielsweise zur Effizienzsteigerung in der Hochschulbildung – wie kann vermieden werden, dass geeignete Talente aus nicht privilegierter Herkunft auf ein Studium verzichten? – oder zur Verringerung von sozialen Disparitäten im Bildungserwerb, die nicht in Unterschieden des Leistungspotentials begründet sind. Erste Untersuchungen von Becker und Hecken (2007, 2008), Müller-Benedict (2007) sowie von Schindler und Reimer (2008) weisen neben der je nach Herkunft unterschiedlichen Einschätzung von Studienerfolgschancen auf die besondere Bedeutung der Kostenfrage und des Statuserhaltsmotivs hin. Junge Frauen und Männer aus Familien mit finanziell engen Spielräumen verzichten aus Kostengründen auf ein Studium, obwohl sie mit teilweise ausgezeichneten Abiturnoten beste Voraussetzungen dafür haben. Talentierte Söhne und Töchter aus niedriger Bildungsund Klassenherkunft begnügen sich mit einer beruflichen Ausbildung, weil sie ausreicht, um den Herkunftsstatus zu sichern, während weniger talentierte Nachkommen aus höherer Bildungs- und Klassenherkunft auch bei mäßigen und schlechten Abiturleistungen zur Vermeidung von Statusverlust ein Studium aufnehmen. Da sich die Befunde verschiedener Untersuchungen teilweise widersprechen, besteht weiterer Forschungsbedarf zur genauen Abklärung der Gewichte und der Verbindung dieser Mechanismen. Keine Unterstützung finden wir in unseren Analysen für die in der Literatur verbreitete Erwartung, die sozialen (Selbst-) Selektionsprozesse würden sich auf die Übergänge in höheren Stufen des Bildungssystems verschieben, wenn zunehmend mehr junge Männer und Frauen die Hochschulberechtigung erreichen und die sozialen Ungleichheiten auf dem Weg dahin geringer werden. Im Zeitraum von 1983, 1990, 1994 und 1999 sind die Herkunftseinflüsse bei den postsekundären Bildungsentscheidungen weitgehend unverändert geblieben, obwohl sich in dieser Zeit nach Kalter et al. (2007) die Herkunfts-Disparitäten
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im Besuch der gymnasialen Oberstufe vermindert haben. Steht dies im Widerspruch zu den Ergebnissen von Müller und Pollak (2004), die zwar geringer werdende Disparitäten im Erwerb des Abiturs, jedoch leicht zunehmende Disparitäten in den postsekundären Bildungsabschlüssen für Männer festgestellt haben? Dies muss nicht sein, denn die Befunde von Müller und Pollak (2004) beziehen sich auf einen früheren und auch längeren Zeitraum. Die historische Phase und die Dauer des Untersuchungszeitraums scheinen in der Tat bedeutsam für die Ergebnisse zu sein, denn auch jüngste, noch nicht abgeschlossene Arbeiten von Markus Lörz und Steffen Schindler, die mit den HIS-Daten einen längeren Zeitraum untersuchen können, deuten ähnlich wie bei Müller und Pollak (2004) in die Richtung leicht zunehmender Disparitäten in der post-sekundären Stufe. Die Befundlage zu dieser Frage ist aber auch in der internationalen Forschung nicht eindeutig. Selz und Vallet (2006) berichten für Frankreich und Erikson (2007) für Schweden zwar deutlich abnehmende Ungleichheit bis zur Hochschulberechtigung, jedoch leicht zunehmende Ungleichheit im Bildungsverhalten danach. Shavit et al. (2007) dagegen finden in ihrer Analyse für 15 Länder überwiegend unveränderte Ungleichheit bei den Übergängen von der Hochschulberechtigung in die post-sekundären Ausbildungen. Im Unterschied zu der eher pessimistischen Einschätzung in Persistent Inequality (Shavit und Blossfeld 1993) ziehen die Autoren aus diesem Befund „a slightly more optimistic conclusion (…): namely that the expanding pie is increasingly inclusive even when relative advantages are preserved, because it extends a valued good to a broader spectrum of the population“ (Shavit et al. 2007: 29).22 In Deutschland sind die sozialen Disparitäten im Erwerb von Hochschulbildung zwar nach wie vor hoch; aber in längerfristiger Perspektive haben sie sich eindeutig verringert, vor allem, weil die Disparitäten auf dem Weg zum Abitur deutlich abgenommen haben23 und nicht durch entsprechend steigende Disparitäten in der Bildungsbeteiligung nach dem Abitur kompensiert wurden. Verbreitet wird in der Literatur auch eine weitere Reaktion auf Expansion und des damit verbundenen Verlusts an Exklusivität erwartet: Herkunftsspezifische Unterschiede sollten sich verstärkt in der Wahl besonders vorteilhafter Studienfächer, beim Zugang zu besonders angesehenen Hochschuleinrichtungen (Eliteinstitutionen) oder in intensiverer Beteiligung an Zusatzstudien oder Studienaufenthalten im Ausland zeigen. Teilweise wurden Entwicklungen in dieser Richtung gefunden, allerdings sind sie in der Regel nur schwach ausgeprägt (vgl. Lucas 2001; Ayalon und Yogev 2005; Duru-Bellat et al. 2008). Wenn selbst für die präzise Beschreibung des Geschehens in der Vergangenheit noch einige Unsicherheit besteht, so ist diese im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen natürlich wesentlich größer. Dazu gehören Fragen zu den Folgen der für die Zukunft zu erwartenden weiteren Expansion des Hochschulstudiums, zu den Folgen der verschiedenen institutionellen Reformen der jüngsten Zeit wie der Bologna-Umstrukturierung mit der Sequenzialisierung der Studienphasen und der stärkeren Differenzierung der Abschlussniveaus, zu den Konsequenzen der Einführung von Studiengebühren oder der mit dem sog. Eliteprogramm angestrebten stärkeren Hierarchisierung der Hochschuleinrichtungen. Ganz abgese22 In dem Buch „Persistent Inequality“ haben Shavit und Blossfeld (1993) für alle Übergänge im gesamten Bildungsverlauf unveränderte Chancenungleichheiten behauptet, was aufgrund verschiedener Untersuchungen für Deutschland und für mehrere weitere Länder inzwischen bezweifelt werden muss (Breen et al. 2009). 23 Heineck und Riphahn (2007) berichten zwar von unveränderten oder sogar zunehmenden Disparitäten im Erwerb des Abiturs. Wie sie zu dieser Schlussfolgerung kommen, ist aber aus ihren Analysen nicht nachvollziehbar und widerspricht dem Stand der Literatur zu dieser Frage.
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hen von den vielen hier nicht behandelten Auswirkungen der Entwicklungen in der Hochschulbildung für die Verwertungschancen auf dem Arbeitsmarkt und in weiteren Lebensbereichen bleibt also ein weites offenes Feld für zukünftige Forschung.
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Hochschulbildung und soziale Ungleichheit
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Von der Schule in den Beruf Mareike Weil und Wolfgang Lauterbach
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Schule, Ausbildung und Berufseinstieg: Strukturen, Trends und Fragen
Der Weg von der Schule in den Beruf setzt sich klassisch aus drei Stationen zusammen: dem Schulbesuch, der Ausbildungsphase und dem Einstieg in die erste Erwerbstätigkeit. Im beruflichen Lebenslauf sind diese Stationen idealtypisch nacheinander gelagert und stellen die wesentlichen Passagen für die ökonomische Verselbstständigung dar. Von besonderer Bedeutung ist, dass die dritte Station von den beiden Vorgelagerten maßgeblich beeinflusst wird. Die erste Erwerbstätigkeit baut beispielsweise auf der Schul- und Berufsqualifikation hinsichtlich des Einkommens (Ammermüller und Dohmen 2004; Fitzenberger et al. 2003), des Berufsstatus (Shavit und Müller 1998) oder der fachlichen Passung (Konietzka 1999; Steinmann 2000) auf. Die Qualifikation bedingt auch das Risiko, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein (Reinberg und Hummel 2007). Der Weg von der Schule in den Beruf, der als eigenes Forschungsfeld in diesem Kapitel vorgestellt wird, lässt sich deshalb auf der Grundlage der Struktur des Bildungswesens begreifen, das für den Arbeitsmarkt Qualifikationen auf unterschiedlichen Niveaus in divergenten Ausbildungsmodellen verleiht. Für den beruflichen Werdegang strukturiert das schulische und berufliche Qualifikationssystem vier mögliche Wege in den Arbeitsmarkt. Der Zugang kann idealtypisch erstens aus der Haupt- oder der Realschule heraus über die Ausbildungsgänge unterhalb der Hochschulebene erfolgen oder zweitens nach einer Hochschulausbildung im Anschluss an den Besuch des Gymnasiums stattfinden. Daneben gibt es zwei weitere Möglichkeiten, die von der Organisationsstruktur des Bildungswesens nicht vorgesehen sind, aber empirisch vorkommen: Die Einmündung in den Arbeitsmarkt ist drittens über den Gymnasialbesuch und eine nichttertiäre Ausbildung und viertens auch ohne Schulabschluss und (oder) ohne zertifizierte Berufsbildung möglich. Die beiden ersten Möglichkeiten stellen Pfade dar, die sich in den 1960er Jahren noch weitgehend ausschlossen (Meulemann 1989: 221). Nach dem Abitur eine Berufsausbildung unterhalb der Hochschulebene aufzunehmen oder sogar das Abitur für ein Studium nachzuholen, war die Ausnahme.1 Beide Wege haben aber seither an Bedeutung zugenommen. Dies gilt ebenso für die dritte Möglichkeit, in den Beruf einzumünden. Dagegen ist die Gruppe der Jugendlichen ohne (Aus-)Bildungsqualifikation seit Mitte der 1960er Jahre 1 Die Trennung beider Wege hat sich im 19. und 20. Jahrhundert institutionalisiert, wobei die Ausbildungssektoren divergente Erwerbsbereiche bedienten. Die Ausbildung nach der Volks- bzw. Hauptschule qualifizierte Jugendliche für gewerblich-technische Handwerks- oder Industrieberufe. Die Mittlere Reife hat den Ausbildungsweg in die kaufmännischen und mittleren Verwaltungstätigkeiten geebnet. Das Abitur führte in die Hochschule und zur anschließenden Besetzung von Führungspositionen (für einen Überblick siehe Baumert et al. 2008).
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Mareike Weil und Wolfgang Lauterbach
geringer geworden – ihre Arbeitsmarktschwierigkeiten dagegen immer größer. Sie gelten seit den 1990er Jahren als spezifische „Problemgruppe“ (Solga 2002b: 3). Generell zeigt sich, dass die Veränderung der schulischen und beruflichen Bildungsqualifikation (educational upgrading) für gelingende oder misslingende Berufseinstiege seit den 1980er Jahren immer bedeutsamer wird. Fünf Tendenzen sind erkennbar: Die Aufenthaltsdauer im Ausbildungssystem hat sich erstens erhöht, weil Jugendliche zwei oder mehrere Ausbildungen beginnen und sich darauf die Berufseinmündung in ein höheres Lebensalter verschiebt (Jacob 2004; Lauterbach und Weil 2008). Zweitens verringert sich die Studierneigung von studienberechtigten Jugendlichen bis zur Mitte der 1990er Jahre, die sich seither bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder erhöht und stark schwankend verbleibt (Spangenberg 2007). Die Arbeitsmarktqualifizierung von Schulabschlusslosen sowie Haupt- und Sonderschülern wird drittens als zunehmend schwierig wahrgenommen. Für den Erwerbseinstieg sind arbeitsmarktpolitische Maßnahmen weitgehend erfolglos (Lex 1997; Dietrich 2004). Reinberg und Hummel (2007) stellen heraus, dass viertens die Arbeitslosenquoten zwischen Qualifikationslosen und Personen mit Berufsbildung seit den 1980er Jahren kontinuierlich auseinanderklaffen. Das Arbeitslosigkeitsrisiko erhöht sich fünftes auch für Lehrabsolventen (Konietzka und Seibert 2001; Granato und Ulrich 2006) – eine Gruppe, für die bislang ein rascher Berufseinstieg typisch gewesen ist. Aus diesem kursorischen Überblick wird ersichtlich, dass sich berufliche Wege in den Arbeitsmarkt durch Übergänge – zwischen Schule, Ausbildung und erster Erwerbstätigkeit – erschließen. Die Aufgabe der Bildungssoziologie ist es nun, die Mechanismen zu ergründen, die mit dem Bildungsverhalten auf individueller Ebene und dem Bildungswesen auf institutioneller Ebene in Zusammenhang stehen (vgl. Hillmert und Jacob 2003; Shavit und Müller 2000; siehe auch Becker im einleitenden Kapitel in diesem Band). Indem sich dieses Kapitel wesentlich auf die Ausbildung nach dem Schulabschluss ausrichtet, wird hier besonders die Berufsbildungsforschung beleuchtet (siehe auch das Kapitel von Konietzka in diesem Band). Das Ausbildungsverhalten wird im Folgenden als abhängig vom Schulabschluss betrachtet und umgekehrt als beeinflussender Faktor für den Arbeitsmarkteintritt. In diesem Kapitel stehen zwei Fragen im Zentrum: 1.) Welche Übergänge bewältigen Jugendliche auf dem Weg von der Schule in den Beruf? 2.) Und wie veränderten sich diese in den letzten zehn bis zwanzig Jahren? Für die Beantwortung der Fragen werden im nächsten Abschnitt Theorien zusammengetragen, welche die Struktur und die Veränderung von Übergängen in den Beruf zu erklären versuchen. Den theoretischen Ansätzen folgen empirische Befunde der Berufsbildungs-, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Das Ausbildungsverhalten wird dabei als abhängig vom Schulabschluss betrachtet und umgekehrt als beeinflussender Faktor für den Berufseinstieg. Mit einem Ausblick wird das Kapitel abgeschlossen.
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Theoretische Perspektiven
Erklärungen für das Ausbildungsverhalten und den Einstieg in den Beruf liegen aus institutioneller, individueller und ökonomischer Perspektive vor. Aus institutioneller Perspektive werden die Ausbildung und der Berufseinstieg von Jugendlichen entscheidend durch den Aufbau des Bildungswesens vorstrukturiert. Die individuelle Betrachtungsperspektive sieht subjektive, handlungsrationale und netzwerktheoretische Dimensionen als bedeutende Ein-
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flussfaktoren. Die ökonomische Perspektive stellt dagegen Transaktionsprobleme beim Austausch zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage in den Mittelpunkt.
2.1 Die institutionelle Vorstrukturierung der Ausbildung und des Berufseinstiegs Die Struktur des Bildungswesens ist durch die ausdrückliche Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung gekennzeichnet. Das allgemeinbildende Schulsystem ist dreigliedrig und die Durchlässigkeit zwischen den Schulzweigen zugleich gering (Hamilton und Hurrelmann 1993; Baethge und Kupka 2005: 191). Das berufliche Bildungssystem ist in zwei vollqualifizierende Bereiche eingeteilt: in Ausbildungsgänge, die auf der Hochschulebene angeboten werden (Fachhochschul-/Universitätsstudiengänge), und diejenigen, die unterhalb der Hochschulebene stattfinden (duale und schulische Ausbildung). Das Kernstück, zumindest für Männer, bildet das duale Ausbildungssystem (Hillmert 2001a: 69), wobei sich für die Ausbildung im dualen System auch der Begriff der „Lehre“ eingebürgert hat. Die Begriffe „Berufsausbildung“ und „berufliche Ausbildung“ beziehen sich zudem auf die gleiche Ausbildung. Während der Schulabschluss als Zugangsvoraussetzung den Eintritt in den schulischen und hochschulischen Berufsbildungssektor reguliert, ist der Zugang zum dualen System formell vom Schulabschluss unabhängig. Mit der Bildungsexpansion der 1950er und 1960er Jahre wurden allerdings auch Schranken gesetzt. Zwei Drittel der Berufsausbildungsanfänger haben heute einen mittleren oder höheren Schulabschluss. Die Bedeutung institutioneller Schließungsprozesse für die Ausbildung, aber auch für die berufliche Platzierung auf dem Arbeitsmarkt führt nun zu folgenden Beschreibungsmodellen für den Weg von der Schule in den Beruf: In den 1970er Jahren wurde von Mertens (1971, 1976) das Zwei-Schwellen-Modell entworfen (siehe auch Mertens und Parmentier 1988). Es richtet sich an den institutionellen Gelenken des Bildungswesens aus, an denen der Schulabschluss die Zugangsberechtigung für das Ausbildungssystem und der Ausbildungsabschluss die Eintrittskarte für das Beschäftigungssystem ist. Die Funktion des Modells besteht darin, Zu- und Abströme messbar zu machen und die Problemlagen an den beiden Gelenkstellen zu identifizieren (Kaiser et al. 1980). Sie werden als die wesentlichen Risikobereiche der Erwerbskarriere betrachtet und deshalb als Schwellen bezeichnet. Die „erste Schwelle“ setzt sich aus dem Erreichen eines Schulabschlusses, der Entscheidung für eine Ausbildung und dem Ausbildungsbeginn zusammen und ist vom Risiko der Ausbildungslosigkeit gekennzeichnet. Die „zweite Schwelle“ gliedert sich in den Abschluss der Ausbildung, die Stellensuche und den Beginn der ersten Erwerbstätigkeit und bildet den Übergang mit dem Risiko der Arbeitslosigkeit ab. In der beruflichen Bildungsforschung wurde das Zwei-Schwellen-Modell stark aufgegriffen (Tessaring 1993), aber auch weiter modifiziert (Buttler 1995). Der pathway-Ansatz (Raffe 2003) betont auch die in Institutionen eingebettete Übergangsstruktur von der Schule in den Beruf. Er stammt aus der britischen Übergangsforschung (Brock 1991), wird aber von der deutschen Berufsbildungssoziologie aufgrund europäischer Vergleichsstudien (beispielsweise CATEWE; siehe Walther 2000) stark wahrge-
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nommen (Scherer 1999; Gangl et al. 1998, 2003; Müller et al. 2002).2 Im Vergleich zum Zwei-Schwellen-Modell stellt dieser Ansatz aber ein komplexeres Modell dar, das die Spielräume innerhalb der Institutionenstruktur als Ausdruck eines flexiblen Bildungswesens betont (Raffe 1994, 2002; Raffe et al. 1999). Flexibilität besteht in der Möglichkeit, unterschiedliche Bildungsgänge zu kombinieren, identische Bildungsabschlüsse in verschiedenen Bildungseinrichtungen zu erwerben oder mehrere Abschluss-, Umstiegs- und Ausstiegsoptionen wahrzunehmen. Für das deutsche Bildungssystem sind speziell drei typische Übergangsmuster in den Beruf zusammenfassen, die modifizierbar sind: (1) von der Schule in die duale Ausbildung der Betriebe und der Berufsschulen, (2) in die vollzeitschulische Ausbildung an Berufs-/Fachschulen und (3) in die Hochschulausbildung der Fach-/Hochschulen – mit dem jeweils daran anschließenden Übergang in die Erwerbstätigkeit. Modifikationsmöglichkeiten bestehen hauptsächlich in der Kombination von Ausbildungen mit gleichem (z.B. Schulberufsausbildung und Lehre) oder unterschiedlichem Qualifikationsniveau (z.B. Lehre und Universitätsstudium) – Letzteres allerdings nur, wenn das Abitur als entsprechende Zugangsvoraussetzung erworben wurde. Externe Faktoren (etwa die Veränderung des qualifikatorischen Anforderungsniveaus der Arbeitsplätze) können nach diesem Ansatz neue Übergangsmuster innerhalb des institutionellen Spielraumes entstehen lassen (zur Kritik des Zwei-Schwellen-Modells und des pathway-Ansatzes: Dietrich und Abraham 2005: 75). Ein noch breiter angelegter Ansatz für die Beschreibung der Übergänge in den Beruf ist das Lebensverlaufskonzept (Mayer 1990, 1995), das neben der institutionellen Organisationsstruktur des Bildungswesens auch die Institutionen des Arbeitsmarktes als strukturierenden Faktor für den Weg in den Beruf einbezieht. Allerdings wurde dieser Ansatz nicht explizit für die Beschreibung von Ausbildungswegen in den Beruf entwickelt, sondern für die umfassende Untersuchung der sozialstrukturellen Einbettung von Individuen im Verlauf ihres gesamten Lebens (Mayer 2001). Lebensverläufe werden hierbei als Gefüge von Übergängen von einer Statuspassage in die Nächste verstanden, wodurch ein Statuswechsel vollzogen wird.3 Der Weg in den Beruf bildet sich entsprechend durch nacheinander gelagerte oder überlappende Statuspassagen ab – wie Bildungs- und Ausbildungsphasen, Phasen der Ausbildungslosigkeit oder der Teilnahme an Maßnahmen, kurzfristige Phasen des Jobbens, Wehrdienst- oder Zivildienstphasen, kurzfristige Arbeitslosenphasen zur Suche von Arbeit oder langfristige Arbeitslosigkeit, Mutterschafts-, Erziehungs- oder andere Betreuungsphasen.4 Bildungsinstitutionen bestimmen dabei die Dauer, ordnen die Reihen2 CATEWE ist das Kürzel für die zwischen 1997 und 2001 vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung unter der Leitung von Walter Müller durchgeführte europäische Studie „A Comparative Analysis of Transitions from Education to Work in Europe“. 3 Die Termini „Statuspassage“ (status passage) und „Statuswechsel“ (change in state) wurden entscheidend von Glaser und Strauss (1971), Elder (1985) und Sackmann und Wingens (2001) geprägt (siehe auch Heinz 1989, 1991, 2000b). 4 Aus der lebensverlaufstheoretischen Perspektive ist der Übergang von der Ausbildung in die Beschäftigung eine zentrale Phase im Leben von Individuen, die als eine „sensible Phase“ (Mowitz-Lambert 2001: 199) zwischen dem Jugend- und dem Erwachsenenalter verstanden wird und in die ökonomische Selbständigkeit führt. Der Berufseinstieg wirkt sich kurz- wie langfristig auf die Lebenschancen in verschiedenen Altersphasen und damit auf den weiteren Verlauf des gesamten Lebens aus: Von dem Erwerb der Bildungszertifikate und der beruflichen Kenntnisse, die zur Ausübung einer beruflichen Erwerbstätigkeit befähigen oder auch erst berechtigen, und dem Zugang zum Erwerbssystem selbst hängen der Erwerb von Einkommen, sozialem Status und wohlfahrtsstaatlichen Anrechten (beispielsweise bei Arbeitslosigkeit) ab. Die Arbeitsmarkt- und Erwerbschancen von Berufsanfängern beeinflussen weiterführend den Berufs- und Einkommensverlauf, den Erwerb wohlfahrtsstaatlicher Anrechte im späteren Lebensalter wie etwa Renten und Pensionen sowie die Lebenschancen in anderen gesellschaftlichen
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folge und regulieren die Übergangszeit zwischen zwei Phasen. Als Beispiele sind der Beginn und das Ende der Schulpflicht sowie die standardisierte Ausbildungsdauer von drei Jahren im dualen System zu nennen. Die Institutionen des Arbeitsmarktes (sprich: Berufsprinzip, Betriebshierarchie, Arbeitsvertrag, Tarifsystem, Kündigungsschutz) strukturieren den Zugang zum Beruf und die soziale Positionierung von Berufseinsteigern. Indem der Lebensverlaufsansatz auch die zeitliche Entwicklung von Bildungs- und Arbeitsmarktinstitutionen (die Zunahme von befristeten Arbeitsverträgen beispielsweise) betont, ist er für den Vergleich von Kohorten geeignet. Überdies hebt der Ansatz weitere Mechanismen für die Konstitution von Lebensverläufen hervor: Individuelle Ressourcen, das soziale Umfeld (Freunde, Partner, Eltern, Kollegen) und die persönliche Weiterentwicklung (psychisch, physisch) beeinflussen die Lebensverläufe, weil sie die Grundlage für den Umgang mit den Anforderungen neuer Statuspassagen sind („cumulative advantages and disadvantages“ nach Sampson und Laub 1997). Diese Mechanismen werden jedoch selten in die soziologische Beschreibung von Ausbildungswegen und Berufseinstiegen einbezogen (für detaillierte Beschreibungen: siehe Mayer 2001).
2.2 Determinanten der Ausbildung und des Berufseinstiegs Auf der individuellen Erklärungsebene werden insbesondere drei Mechanismen hervorgehoben, die sich für die Ausbildung und den Berufseinstieg als theoretisch relevant erweisen. Das Ausbildungsverhalten wird erstens als Verwirklichung persönlicher Lebenskonzepte begründet (Baethge et al. 1988; Inglehart 1990; Keupp 2005; Scheller et al. 2007): Aus dieser Perspektive stellt die Berufswahl auf der Basis von subjektiven Leitbildern eine wichtige Determinante für Lebenskonzepte dar. Der Beruf soll beispielsweise abwechslungsreiche Aufgaben beinhalten, Kontakt zu Menschen herstellen, Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung einräumen, persönlichen Erfolg versprechen, Spaß machen oder etwas Nützliches für die Gesellschaft sein. Deshalb ist der Beruf keine „vorgegebene Ordnung (mehr), in die man sich einfügt und integriert, sondern ein selbstgewähltes Lebenskonzept, für das man sich persönlich einsetzen muss“ (Münchmeier 2003: 65f.; siehe auch Münchmeier 2005; Baethge 1991, 1999). Als Ursache für die fortschreitende Subjektivierung der Arbeit wird die Bildungsexpansion ausgemacht (Baumert 1991). Im Berufsorientierungsprozess können sich subjektive Präferenzen ändern (Solga und Trappe 2000), woraus vermehrte Ausbildungsabbrüche und Wechsel von Ausbildungen, also verlängerte Ausbildungsphasen, resultieren. Der Reifegrad der beruflichen Identitätsfindung wird mit dem Schulerfolg in eine positive Beziehung gesetzt (Stamm 2007). Über sinnhaft-subjektive Motive hinaus wird dem Ausbildungsverhalten von Jugendlichen Zweckrationalität unterstellt (Jacob 2004; Lauterbach und Weil 2008): Diese zweite Erklärung baut auf Rational-Choice-Ansätzen (Becker 1978; Esser 1993, 1999) und damit nutzenmaximierenden Akteuren auf. Die berufliche Qualifizierungsphase im AusbildungsBereichen, zum Beispiel auf dem Partnerschafts- und Heiratsmarkt (Becker 2004). Aus der Lebensverlaufsforschung ist hinlänglich belegt worden, dass frühere Übergänge langfristige Konsequenzen für Individuen haben, wobei vor allem die Bildungszertifikate und der Berufseinstieg den weiteren Berufs- und Lebensverlauf bestimmen. Verpasste Berufsausbildungen können selten nachgeholt werden, frühere Berufsentscheidungen lassen sich kaum korrigieren und verpasste Chancen im Erwerbsleben werden nur unter günstigen Umständen mit großen Anstrengungen ausgeglichen (vgl. Blossfeld 1989).
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system ist entsprechend auch von gewinnsteigernden Entscheidungen geprägt. Für jede Option, die Schulabgänger innerhalb der institutionellen Struktur des Bildungswesens wahrnehmen können, wird abgewogen, wie gewinnbringend bzw. folgenreich diese für den Arbeitsmarktzugang und die Arbeitsmarktposition ist (Lauterbach und Weil 2008: 73). Im Ausbildungssystem können sich Jugendliche – zum Beispiel Abiturienten – für ein Studium, eine Berufsausbildung anstelle eines Studiums oder auch beide Ausbildungen in Kombination entscheiden. Der Wert einer Ausbildung bezieht sich dann auf das erreichbare Einkommen, den Berufsstatus oder die Vereinbarung von Familie und Berufstätigkeit. Diese Argumentationslinie baut insbesondere auf der Humankapitaltheorie (Becker 1964; Bowman 1966), dem Ansatz von Boudon (1974) und dem jüngeren werterwartungstheoretischen Ansatz von Erikson und Jonsson (1996) auf.5 Der theoretische Ansatz von Boudon (1974) ist deshalb grundlegend, weil in die Bilanzierung von Renditen Ausbildungserfolge in Abhängigkeit der sozialen Herkunft einbezogen werden. Daraus wird die theoretische Annahme abgeleitet, dass studienberechtigte Jugendliche aus bildungsfernen Schichten eine geringere Erfolgswahrscheinlichkeit für einen zertifizierten Abschluss eines Studiums besitzen als Studienberechtigte aus akademisch gebildeten Elternhäusern (Jacob und Hillmert 2003). Empirische Belege für diese Annahmen haben Becker und Hecken (2007, 2008) vorgelegt. Der Arbeitsmarktzugang von Ausbildungsabsolventen wird drittens unter Rückgriff auf Theorien über die Einbettung in soziale Netzwerke erklärt. Der Ausgangsgedanke dieser dritten individuellen Handlungsperspektive ist dabei, dass jeder Akteur in ein Netzwerk aus sozialen Beziehungen eingebunden ist. Die Gesamtstruktur des Netzwerkes bildet das soziale Kapital von Akteuren ab (Bourdieu 1983; Coleman 1988). Die Bedeutung des sozialen Kapitals für die Arbeitsplatzsuche hebt ausdrücklich Granovetter (1973, 1983, 1995) hervor, weil soziale Kontakte Informationen über freie Stellen weitergeben können. Dabei haben informelle Kontakte bzw. schwache Beziehungen für die Stellensuche größere Bedeutung als Kontakte, die auf starken Beziehungen aufbauen. Denn Familie, Freunde oder Freunde von Freunden besitzen gleiche oder ähnliche Informationen wie der Jobsuchende selbst. Für Berufsanfänger wird daraus geschlossen, dass Jugendliche, die über mehr schwache Netzwerkkontakte verfügen, im Informationsvorteil und deshalb erfolgreicher beim Berufseinstieg sind. Weil das soziale Netzwerk von Berufseinsteigern im Vergleich zu älteren Arbeitsplatzsuchenden jedoch wesentlich kleiner ist, spielen über das persönliche Netzwerk hinaus auch die informellen Kontakte der Eltern eine Rolle, die in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft mehr oder minder ausgeprägt sind. Für diesen Erklärungsansatz ist deshalb festzuhalten, dass das Beziehungsnetzwerk ein wesentlicher sozialer Mechanismus für den Berufseinstieg ist, der aufgrund seiner Alters- und Herkunftsabhängigkeit in doppelter Form wirkt.
2.3 Die Ausbildung und der Berufseinstieg als Marktprozess Die ökonomische Perspektive hebt den Übergang in den Ausbildungsmarkt und den Arbeitsmarkt hervor, womit das schulische Bildungssystem und das Beschäftigungssystem 5 Eine prominente Theorie, um gleichermaßen Teilnahme an allgemeiner Schulbildung und beruflicher Ausbildung als auch die daraus resultierenden Renditen beim Berufseinstieg zu erklären, ist die dem neoklassischen Paradigma der Mikroökonomie zugehörige Humankapitaltheorie (Schultz 1961; Ben-Porath 1967; Mincer 1974). Details zu diesem Theorieansatz finden sich im einleitenden Kapitel von Becker in diesem Band.
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verkoppelt werden. Über diese Märkte wird das Angebot an Qualifikationen auf die Ausbildungsstellen und nachfolgend die Arbeitsplätze verteilt. Wie auf einem ökonomischen Markt stehen die Anbieter von Qualifikationen in einem Wettbewerb: Auf dem Ausbildungsmarkt konkurrieren Jugendliche, die die Schule beendet haben. Auf dem Arbeitsmarkt stehen die Ausbildungsabsolventen untereinander in Konkurrenz, aber auch mit älteren Arbeitskräften, die einschlägige Berufserfahrungen besitzen. Deshalb findet der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt unter ungleichen Bedingungen statt. Nach der Humankapitaltheorie (Becker 1964; Bowman 1966) wird der Erfahrungsvorsprung von älteren Arbeitskräften durch Einkommensunterschiede ausgeglichen. Wenn sie aber Lohnbedingungen für Berufseinsteiger akzeptieren, kann es zu einem Überhang an Berufsanwärtern und damit zur Jugendarbeitslosigkeit kommen. Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterscheiden sich vom rein ökonomischen Markt in drei Punkten: Erstens ist der Anpassungsprozess zwischen Angebot und Nachfrage nicht wechselseitig. Auf rein ökonomischen Märkten entsteht durch die veränderte Nachfrage ein neues Angebot. Umgekehrt bewirkt ein verändertes Angebot auch eine neue Nachfragestruktur. Für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gilt aber, dass das Qualifikationsangebot nicht den Bedarf nach Qualifikationen bestimmt, sondern am wirtschaftlichen Wachstum sowie aufgrund technologischer Innovationen und arbeitsorganisatorischer Vorstellungen ausgerichtet ist. Zweitens drängen Absolventen kontinuierlich auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Auf ökonomischen Märkten kommen neue Anbieter nur zu Zeiten des Marktungleichgewichtes vor. Die Folge sind Rekrutierungsprobleme durch saisonale und demographische Effekte. Drittens müssen Absolventen auch bei sinkender Nachfrage nach spezifischen Qualifikationen ihre Arbeitskraft anbieten, denn die Arbeitsmarktintegration ist für die Sicherung der individuellen und familialen Wohlstandsposition grundlegend. Ausbildung und Berufseinstieg unter veränderten Qualifikationsstrukturen Als Marktprozess wird das Ausbildungsverhalten insbesondere in der Debatte über den Wandel der Qualifikationsstruktur verstanden. Hier steht die Angebotsseite im Mittelpunkt: Mit der Bildungsexpansion fand seit den 1950er Jahren eine „kontinuierliche Höherqualifikation“ (Geißler 2006: 277) statt, indem Jugendliche, die eine formal geregelte Ausbildung durchlaufen, zunehmen (educational upgrading). Unter Rückgriff auf die Signaltheorie (Spence 1973, 1974) und das Job-Competition-Modell von Thurow (1975, 1979) wird für die Rekrutierung von Arbeitskräften auf einen Verdrängungswettbewerb von oben nach unten geschlossen, der sich bei gleichbleibender Nachfrage nach Qualifikationen verschärft (zur Verdrängungsthese: Fürstenberg 1978; Lutz 1979; Blossfeld 1983; Mertens 1984; siehe auch das Einleitungskapitel von Becker in diesem Band): „Die Zugangschancen von gering qualifizierten Personen zu qualifizierten Arbeitsplätzen (verringern sich), da ein ausreichendes Angebot an höher qualifizierten Bewerbern für qualifizierte Arbeitsplätze vorhanden ist. Als Folge werden sie auf einfache Arbeitsplätze verdrängt“ (Solga 2005: 103). Denn für die Besetzung von Arbeitsplätzen stellen Bildungszertifikate den primären Maßstab zur Einschätzung der Leistung potentieller Arbeitskräfte dar und bedeuten für die Arbeitgeber geringere Einarbeitungskosten. Mit der veränderten Verteilung der Bildungsgruppen werden höhere Einfachausbildungen für den Arbeitsmarktzugang zur „Regelqualifikation“ (Fölling-Albers 2000; Maaz et al. 2006: 54), mittlere Bildungsabschlüsse dagegen zur „faktischen Mindestnorm“ (Ditton 1996: 150). Daraus folgt für das Ausbildungsverhalten der Jugendlichen, dass Mehrfach- und Zusatzausbildungen verstärkt nachgefragt werden
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und als Investition in Humankapital (Becker 1964; Bowman 1966) an Bedeutung gewinnen (Mayer 1996; Jacob 2005; Lauterbach und Weil 2008). Die ökonomische Perspektive wird mit der rationalen Verwertungsperspektive (vgl. Abschnitt 2.2 in diesem Kapitel) kombiniert, in dem die Entscheidung für Mehrfachausbildungen als Strategien zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen und zur Arbeitslosigkeitsvermeidung hervorgehoben werden (Buttler und Tessaring 1993; Jacob 2005; Lauterbach und Weil 2008). Ausbildung und Berufseinstieg unter veränderten Bedarfsbedingungen In dieser theoretischen Argumentation wird ein verändertes Ausbildungsverhalten aus dem Wandel der Bedarfsstruktur (Nachfrageseite) abgeleitet. Mit der Internationalisierung wirtschaftlicher Austauschprozesse, der Verbreitung neuer Technologien und dem kontinuierlichen Wachstum des Dienstleistungssektors findet seit den letzten Jahrzehnten ein Arbeitsplatzumbau statt, der sich in einer neuen Tätigkeitsstruktur und höheren Qualifikationsanforderungen widerspiegelt (occupational upgrading). Als unbestritten gilt dabei, dass Arbeitsplätze mit mittleren und hohen Qualifikationsniveaus zunehmen und einfache Tätigkeiten zurückgehen (Weidig et al. 1999: 58). Dies zeichnet sich sowohl am steigenden Bedarf nach Forschungs-, Beratungs- und Verwaltungsdienstleistungen als auch am Bedeutungszuwachs von Informations- und Kommunikationstechnologien ab, die zur Grundlage in nahezu allen Erwerbsbereichen geworden sind (Dostal und Reinberg 1999: 2; Hall 2007: 190 ff.). Es wurden Schlüsselqualifikationen relevant, die in Form von Sozial- (z.B. Kommunikationsfähigkeit, Fremdsprachenkenntnisse), Methoden- (z.B. Analysefähigkeit, Kreativität) und Individualkompetenzen (z.B. Flexibilität, Lernbereitschaft) eine berufsbezogene Eigenverantwortlichkeit und Ergebnisorientierung widerspiegeln (Geißler 1991; Greinert 1992). In der Schaffung breiterer Verantwortungsspielräume für die persönliche Arbeitsmethode und die Zeiteinteilung bildet sich der Umbau der Arbeitsplätze ebenso ab. Mit dem Anstieg der Anforderungen für den Zugang zu Arbeitsplätzen kommt es auf dem Arbeitsmarkt zu einem „qualitativen Ungleichgewicht“ (Jacob 2005: 26) zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage. Der Argumentation zufolge werden die Anpassungsleistungen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts von den Arbeitsplatzsuchenden, das heißt den Jugendlichen getragen. Weil die erlernten Fähigkeiten und Kenntnisse nicht mehr den Arbeitsplatzanforderungen entsprechen, werden weitere Qualifikationen erforderlich. Das Ausbildungsverhalten ändert sich dahingehend, dass an die Erstausbildung weitere Ausbildungen angeschlossen werden, die das Qualifikationsniveau erhöhen (Höherqualifizierung). Es wird angenommen, dass die Differenz zwischen der individuellen Qualifikation und dem Qualifikationsbedarf konkret mit einem anschließenden Studium oder einer nicht-akademischen Aufstiegsfortbildung (z.B. Meisterausbildung) nach einer Ausbildung unterhalb der Hochschulebene ausgeglichen wird (ebd.: 28). In Hinsicht auf den Arbeitsmarktwert der Erstausbildung wird dabei zwischen veränderter absoluter und relativer Wertigkeit unterschieden (ebd.: 27). Während die erste Ausbildung aufgrund veralteter Qualifikationen, zum Beispiel durch die Anpassungsträgheit des Berufsbildungswesens, absolut an Wert verliert (absolute Qualifikationsanforderung), wird die relative Wertigkeit der Ausbildung durch die zunehmende Anzahl an Jugendlichen mit höheren Ausbildungsniveaus verschoben (relative Qualifikationsanforderungen).
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Ausbildung und Berufseinstieg unter konjunkturellen und demographischen Einflüssen Während das Ausbildungsverhalten und der Berufseinstieg bisher vor dem Hintergrund der veränderten Bildungsverteilung und dem Wandel der Arbeitsplätze betrachtet wurden, hebt dieser Ansatz konjunkturelle Zyklen und demographische Schwankungen für den Qualifikationserwerb von Jugendlichen hervor: Konjunkturelle Engpässe bei der Vergabe von betrieblichen Ausbildungsplätzen und Arbeitsstellen treten im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation von Betrieben auf, die im negativen Fall die Ausbildungskapazitäten einschränken und weniger Arbeitskräfte nachfragen. Demographische Effekte zeigen sich, wenn starke bzw. schwache Geburtsjahrgänge auf den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt drängen. In Folge starker Schulabgangskohorten strömt eine erhöhte Anzahl an Ausbildungsplatzsuchenden zeitgleich auf den Ausbildungsmarkt, die die Intrakohortenkonkurrenz vergrößern. Die Unterversorgung der Jugendlichen mit Ausbildungsplätzen ist das Ergebnis (Hillmert 2001b). Für starke Berufseinstiegskohorten, die auf der Suche nach Arbeitsplätzen sind, wird ein analoger Effekt angenommen. Während aus dieser Perspektive die demographischen Entwicklungen kurzfristige Veränderungen auf der Angebotsseite bewirken, verändern konjunkturelle Schwankungen die Nachfrageseite. Dabei wird insbesondere das „quantitative Ungleichgewicht“ (Jacob 2005: 26) auf dem Ausbildungsmarkt in den Blick genommen. Um das Ungleichgewicht zwischen Ausbildungsplatzbedarf und offerierter Anzahl an Ausbildungsplätzen auszubalancieren, müssen Jugendliche Anpassungsleistungen übernehmen, indem sie auf weniger gefragte Ausbildungen ausweichen, wenn gewünschte Ausbildungsstellen aktuell nicht zur Verfügung stehen (Jacob 2005: 26, Hillmert 2001: 12). Konkret werden zwei mögliche Reaktionen angenommen: (1) die Aufnahme einer Alternativausbildung und der Beginn der gewünschten Ausbildung im Folgejahr, ohne die Erstausbildung abzuschließen und (2) die Aufnahme und Beendigung einer Alternativausbildung mit einem anschließenden Ausbildungsneubeginn, wenn der Berufseinstieg nicht gelingt. Beide Weg stellen Warteschleifen (Jacob 2005: 27) in schulischen Ausbildungen, teilqualifizierenden oder vorbereitenden Maßnahmen dar, um sich dem Risiko der Arbeitslosigkeit zu entziehen (Walters 1984; Buttler und Tessaring 1993). Im Unterschied zur vorangegangen Erklärung wird für das Absolvieren von Mehrfachausbildungen keine Erhöhung des Qualifikationsniveaus angenommen. Institutionalisierte Übergangsregime in den Arbeitsmarkt Die Opportunitäten und Restriktionen des Übergangs von der schulischen Bildung, der Berufausbildung im Sekundarbereich oder schließlich von der tertiären Ausbildung in die Erwerbstätigkeit lassen sich auch anhand der institutionellen Ausprägung der Ausbildung und ihrer Kopplung an den Arbeitsmarkt festmachen. Institutionelle Ausprägungen der Ausbildung umfassen die folgenden Dimensionen: Stratifizierung, Standardisierung und berufliche Spezifizität (Allmendinger 1989; Shavit und Müller 1998). Die Kombination dieser Dimensionen bestimmt den Grad und die Kapazität der Übergangsstruktur von der Schule in den Beruf: (1) Die Stratifizierung bezieht sich auf das Ausmaß, in welchem Bildungssysteme zwischen klar differenzierten Bildungsgängen mit unterschiedlichem Niveau unterscheiden, die gleichzeitig eine Hierarchie definieren. Die Vorsortierung in der Sekundarstufe I bestimmt in der Regel die Möglichkeiten der weiteren Ausbildung in der Sekundarstufe II und im tertiären Bildungssystem. (2) Die Standardisierung betrifft den Grad der Qualität der Ausbildung, die einem nationalen Standard entspricht. Darunter fallen etwa die Curricula und die Gleichförmigkeit der Bildungszertifikate, die Lehrerausbildung sowie die
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Schulbudgets. Die Standardisierung ist desto höher, je stärker der Staat das Bildungssystem kontrolliert. (3) Die berufliche Spezifizität meint den Grad, in dem die Ausbildung berufsfachlich organisiert ist. So unterscheiden sich Bildungssysteme in dem Ausmaß, in welchem sie Auszubildende für bestimmte Berufe vorbereiten und dafür mit spezifischen Bildungszertifikaten ausstatten. Das deutsche System der dualen Berufsausbildung, also der gleichzeitigen Ausbildung in der Vollzeitschule und in einem Ausbildungsbetrieb, ist ein Extremfall der beruflichen Spezifizität und gilt als Prototyp eines erfolgreichen Ausbildungssystems (Blossfeld 1992; Büchtemann et al. 1994; Müller 2001). Der Grad der Standardisierung, der Stratifizierung und der beruflichen Spezifität des Bildungs- und Ausbildungswesens koppelt das (Aus-)Bildungssystem mehr oder minder an den Arbeitsmarkt und schlägt sich in der Struktur der Übergänge in den Beruf (Übergangsregime) nieder (siehe Müller und Shavit 1998). In Ländern mit einem dualen Berufsausbildungssystem – dazu gehören beispielsweise die Schweiz, Deutschland und Österreich – ist die Zuordnung von Berufsanfängern zu Arbeitsplätzen eindeutiger als in Ländern mit vornehmlich oder ausschließlich schulischer Ausbildungsform (etwa in Frankreich oder den USA), in denen berufliche Fähigkeiten innerhalb von Betrieben im System des ‚on-the-job trainings‘ und ‚learning by doing‘ erworben werden.6 Auch in Großbritannien erhalten die Berufsanfänger ihre Ausbildung während der Erwerbstätigkeit und erlangen berufliche Qualifikationen sukzessive. Somit unterscheiden sich die Bildungssysteme in ihrer Kapazität, den Übergang von der Schule in den Beruf zu strukturieren. Das deutsche Berufsbildungssystem „sortiert“ die Auszubildenden und Berufsanfänger nach den deutlich differenzierten Bildungszertifikaten und elaborierten Ausbildungswegen. Die Berufsanfänger werden auf diesen Wegen mit beruflich relevanten Bildungszertifikaten ausgestattet, die für die Arbeitgeber eindeutige Signale sind (abgesehen davon, dass neben dem Staat und den Gewerkschaften auch die Arbeitgeber über die Verbände an der Institutionalisierung der Berufsausbildung, der Inhalte und der Curricula mitwirken) und die Berufseinsteiger aufgrund der standardisierten Berufsausbildungen in die Lage versetzen, zwischen Firmen und Betrieben wechseln zu können. Durch die ausgeprägte Berufsfachlichkeit des Ausbildungswesens ist das Arbeitslosigkeitsrisiko für Berufsanfänger zudem weitaus geringer als in flexiblen oder unstrukturierten Übergangsregimen (Müller et al. 2002). 6 Eine Dominanz des betriebsinternen Arbeitsmarktes (vgl. Lutz und Sengenberger 1974; Sengenberger 1987; Blossfeld und Mayer 1988; Szydlik 1990; Becker 1990) gibt es in Gesellschaften, deren Bildungssysteme vor allem allgemeinbildende und wenig berufsspezifische Programme anbieten, so dass sich die Firmen in die Lage versetzt sehen, über ‚on the job training‘ grundsätzliche oder – zusätzlich zur rudimentären Ausbildung – betriebsspezifische Ausbildungen vorzunehmen. In Gesellschaften mit berufsspezifischer Ausbildung dominiert hingegen der berufsfachlich segmentierte Arbeitsmarkt; das ist beispielsweise in Ländern mit einem dualen Berufsbildungssystem der Fall: Deutschland, Österreich oder Schweiz. Die Berufsanfänger verfügen über standardisierte und berufsspezifische Kenntnisse, die sie breit einsetzbar machen. Ihre Arbeitsmarktflexibilität ist hoch, weil sie ihre Qualifikationen zwischen den Betrieben transferieren können (vgl. Becker 1993a, 1993b). Es ist zudem zu erwarten, dass die Arbeitslosigkeitsrisiken von Berufsanfängern nicht nur mit dem Qualifikationsniveau korrelieren, sondern auch mit der Enge der Verbindung von Berufsausbildung und Arbeitsmarkt. Im Unterschied zu Ländern mit dualen Berufsbildungssystemen und berufsspezifischen Arbeitsmärkten erfolgt die Passung von Qualifikationen zu Arbeitsplätzen mit bestimmten Qualifikationsanforderungen und beruflichen Tätigkeiten weitaus weniger strukturiert und institutionell reguliert. Das ‚Matching‘ ist geringfügiger an Bildungszertifikaten als an Berufserfahrung und Mobilitätsbereitschaft der Bewerber ausgerichtet. Länder, in denen eine unspezifische Ausbildung und der betriebsinterne Arbeitsmarkt dominieren, weisen höhere Raten an Jugendarbeitslosigkeit auf als Länder mit spezifischer Berufsausbildung und Dominanz des beruflich segmentierten Arbeitsmarktes. Die Berufsanfänger haben in solchen Systemen ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko, eine längere Suchdauer und geringere Aussichten auf adäquate Einkommen, stabile Beschäftigung und transparente Karrieremöglichkeiten (zu den Details: Müller und Shavit 1998).
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In den USA erfolgt der Übergang im Sinne eines typischen Prozesses der Jobsuche, bei denen soziales Kapital von Bekannten, Freunden und Verwandten, die bereits in Betrieben beschäftigt sind, behilflich sein kann, wenn dieses aktiviert wird. So folgen die Söhne oftmals den Vätern und sind dann in dem ein und denselben Betrieb beschäftigt. Auf diese Art und Weise senken – insbesondere beim Eintritt in den betriebsinternen Arbeitsmarkt – die Bewerber die Suchkosten und die Arbeitgeber die Rekrutierungskosten. Typischerweise spielt daher in den USA die Dualität von internen und externen Arbeitsmärkten (vgl. Doeringer 1967; Blossfeld und Mayer 1988) mit einer relativ schwachen Anbindung an das Bildungssystem eine große Rolle für Strukturen des Übergangs von der Schule in den Beruf. In anderen Ländern hingegen gibt es eine noch stärkere Verbindung zwischen Bildungssystem und Arbeitsmarkt als beispielsweise in Deutschland (vgl. Shavit und Müller 1998). Ein Extrembeispiel ist Japan. Viele japanische Schulen liefern möglichen Arbeitgebern eine Liste potentieller Bewerber. In der Regel werden diese Empfehlungen von den Arbeitgebern akzeptiert. Besonders eng ist diese Verbindung zwischen den Universitäten und Firmen auf dem betriebsinternen Arbeitsmarkt ausgeprägt; die Studierenden wissen bereits vor Studienabschluss, wo, wann und wie lange sie später arbeiten. Die Übergänge von der Ausbildung in den Beruf sind somit klar strukturiert, weitaus strukturierter als in Deutschland, Österreich oder in der Schweiz. Die Variation im Grad der Strukturierung der Bildungszertifikate und der Ausbildung führt zur internationalen Variation der Übergänge von Schule in den Beruf, obwohl alle modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften ihre Ausbildungssysteme dazu verwenden, Auszubildende in verschiedene Ausbildungsgänge zu sortieren, mit spezifischen Fähigkeiten und Kenntnisse auszustatten und diese mit entsprechenden Zertifikaten zu versehen. In (europäischen) Ländern mit hochgradig institutionalisierten Berufsbildungssystemen erfolgen die Übergänge in den Beruf sehr viel rascher und klarer strukturiert in Richtung berufsfachlicher und betriebsinterner Arbeitsmärkte als in den (angelsächsischen) Ländern, in denen eher eine schulische Ausbildung der Erwerbstätigkeit vorgeschaltet ist und die Übergänge in Abhängigkeit von den schulischen Zertifikaten in die betriebsinternen Arbeitsmärkte erfolgen.
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Empirische Befunde zur Ausbildung und zum Erwerbseinstieg
Die theoretischen Perspektiven legen die hohe Bedeutung des Schulabschlusses für die Ausbildungsoptionen sowie des Ausbildungsabschlusses für den Berufseinstieg dar. Deshalb werden in diesem Abschnitt die theoretischen Erklärungen durch empirische Befunde kontrastiert, indem sie für die schulischen Bildungsstufen und die Ausbildungsniveaus getrennt zusammengetragen werden. Daraus ergeben sich insgesamt sechs Übergänge auf dem Weg von der Schule in den Arbeitsmarkt. Zuerst stehen die drei Möglichkeiten, von der Schule in die Ausbildung einzumünden, im Mittelpunkt (Abschnitt 3.1). Daran anschließend werden die vorliegenden Befunde über die drei Übergangsmöglichkeiten von der Ausbildung in den Beruf beschrieben (Abschnitt 3.2).
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3.1 Einmündungen in die Ausbildung Der Übergang in die Ausbildung ohne Schulabschluss Das Forschungsinteresse an dem Ausmaß und den Folgen von Abschlusslosigkeit prägte sich – allerdings sehr langsam – bereits in den 1970er Jahren aus (Troltsch et al. 1999). Gegenwärtig beträgt der Anteil der Jugendlichen, der bis zum 17. Lebensjahr ohne Abschluss die Schule verlässt, acht Prozent (AG Bildungsberichterstattung 2008). Obwohl der Anteil im Vergleich zu den 1960er Jahren deutlich zurückging (1965: 20%), bleibt das Niveau seit nunmehr zehn Jahren konstant (1992: 8%) (Klemm 2000; Solga 2002b). Nach den Vorausberechnungen der KMK Schulstatistik bis zum Jahr 2020 wird nahezu keine Veränderung erfolgen (Uhly et al. 2008).7 Insbesondere sind es Männer und ausländische Schüler, die keinen Schulabschluss erreichen. Jugendliche ohne Schulabschluss haben hauptsächlich die Sonder- oder die Hauptschule besucht. Für sie ist der Zugang zur Ausbildung besonders schwierig, allerdings nicht auf den ersten Blick: 86 Prozent münden in eine Ausbildung ein, wie Solga (2004: 52) mit den Lebensverlaufsdaten zeigen kann. Wird aber der Arbeitsmarktwert dieser Ausbildung betrachtet, relativiert sich diese Positivbilanz, weil die wenigsten eine beruflich vollqualifizierende Ausbildung beginnen. Fast die Hälfte (44%) nimmt ausschließlich oder zunächst einen vorbereitenden Ausbildungsgang im Übergangssystem auf. Dieser Ausbildungssektor wurde zu Beginn der 1990er Jahre ausgebaut und setzt sich gegenwärtig aus vielfältigen Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik für nicht versorgte Ausbildungsplatzbewerber zusammen. Dazu zählen die SGB III-Maßnahmen und die Maßnahmen des Jugendsofortprogramms (JUMP, 1999-2003), aber auch das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ), das ähnlich wie das bereits 1978 eingeführte Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) aufgebaut ist (für einen Überblick über die Einführung und die Entwicklung des BVJ: siehe Rahn 2005: 17ff.). Außerdem sind dabei die beruflich teilqualifizierenden Angebote der Berufsfachschulen (BFS) zu nennen. Staatliche Maßnahmen, die die Chancenverbesserung für eine reguläre Ausbildung und den Abbau von Jugendarbeitslosigkeit intendieren, vermitteln keine vollqualifizierenden Ausbildungsabschlüsse. Jüngste Befunde zeigen aber, dass diese Option für Jugendliche ohne Schulabschluss trotzdem eine große Rolle spielt. Die Anzahl der jährlich erfassten Neuzugänge ins Übergangssystem hat sich den amtlichen Daten zufolge seit zehn Jahren von 340.000 (1995) auf knapp 500.000 Jugendliche (2004) kontinuierlich erhöht (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 81). Solga (2003: 557) belegt die stärker gewordene Nachfrage mit der Entwicklung des Alters beim Berufseinstieg. Das Medianalter ist – auch unter Kontrolle des Alters beim Schulende – angestiegen: Während 50 Prozent der 1930 7
Aktuelle Befunde, die die Ausbildungsphase von Schulabschlusslosen fokussieren, basieren maßgeblich auf Querschnittsdaten der amtlichen Statistik (vgl. die Datenquellen im Bildungsbericht oder Berufsbildungsbericht). Weil Querschnittserhebungen die Analysen aber auf den Zugang zu den Sektoren des Ausbildungssystems beschränken, nehmen in diesem Forschungsbereich die Deutsche Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Hillmert 2004), die von Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und des EMNID-Instituts durchgeführte Studie (Troltsch et al. 1999) und die jüngste BIBB-Studie „Bildungswege und Berufsbiographie von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Anschluss an allgemeinbildende Schulen“ – kurz: BIBB-Übergangsstudie (Beicht et al. 2008) – eine besondere Stellung ein. Sie stellen Längsschnittdaten bereit, die Auswertungen über den Ausbildungsprozess in Abhängigkeit von der Bildungsbiographie ermöglichen. Eine weitere Datenquelle für die Untersuchung der Ausbildungsverläufe von Ungelernten ist die Bremer Längsschnittstudie zum Übergang von der Schule in den Beruf von ehemaligen Hauptschülern (Schumann 2003a, 2003b).
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Geborenen ohne Schulabschluss mit 16 Jahren und fünf Monaten in die Erwerbstätigkeit einmünden, hat sich das Medianalter der Kohorten 1964 und 1971 auf 20 Jahre und fünf bzw. sieben Monate erhöht. Für den schwierigen Ausbildungszugang argumentiert Solga (2002b: 7) außerdem, dass sich die Benachteiligung durch längere Verweildauern im allgemeinbildenden Schulsystem verstärkt. Indem mehr als 40 Prozent der gemeldeten Ausbildungssuchenden ohne Schulabschluss als Alternative zur erfolglosen Suche weiter zur Schule gehen, verstärkt sich die Konkurrenz um die Ausbildungsstellen aufgrund ihres höheren Alters – auch wenn der Hauptschulschluss nachträglich erworben wird. Vergleichende Analysen zeigen aber, dass Jugendliche mit nachgeholtem Schulabschluss trotzdem bei der Ausbildungssuche im Vorteil sind gegenüber denen, die keinen Schulabschluss nachholen (Solga 2004: 52). Untersuchungen über den Ausbildungsverlauf belegen, dass viele derjenigen, die ihre erste Ausbildungsphase im Übergangssystem verbringen, langfristig ohne Ausbildungsabschluss bleiben (40%). Jugendliche, die gleich eine reguläre Ausbildung beginnen, trifft dies nur zu 20 Prozent (Solga 2004: 53). Den amtlichen Daten zufolge ist das allerdings nur eine Minderheit, denn von allen Schulabgängern ohne Abschluss nehmen lediglich 16 Prozent eine duale, nicht einmal ein Prozent eine schulische Ausbildung nach dem Verlassen der Schule auf. Das Gros (84%) geht, wie genannt, ins Übergangssystem (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 83). Darüber hinaus weisen die Befunde von Solga (2004) auf häufige Abbrüche hin, auch wenn der Zugang zu einer regulären Ausbildung gelang. Selbst wenn das Risiko der Ausbildungslosigkeit für „Direkteinmünder“ geringer ist, bricht fast jeder vierte die Ausbildung ab. Mit der BIBB-Studie „Vertragslösungen 2002 – Strukturen und Gründe (2002-2003)“ untermauert Schöngen (2003) empirisch, dass das Abbruchsrisiko für Schulabschlusslose besonders hoch ist. Der weitere Weg ist durch unterschiedliche Muster gekennzeichnet: Frühe Ausbildungsabbrüche führen häufig zurück in die Schule. Wird nach dem Abbruch eine Vorbereitungsmaßnahme begonnen, steigt das Risiko, aus dem Bildungs- und Ausbildungssystem zu fallen und ungelernt zu bleiben, maßgeblich an. Die BIBB-Übergangsstudie bestätigt das Risiko von Ausbildungsabbrüchen und Maßnahmen im Übergangssystem und kann ferner zeigen, dass Jugendliche – in diesem Fall: Jugendliche der Geburtskohorte 1982-88 zwischen 18 und 24 Jahren, die höchstens die Mittlere Reife erwarben –, die keinen Ausbildungswunsch für die Zeit nach der Schule haben, eine Berufsausbildung abbrachen oder über drei Monate hinaus nach der Schule nicht ins Bildungssystem zurückkehrten, überproportional häufig von Ausbildungslosigkeit betroffen sind (Beicht und Ulrich 2008). So liegt der Schluss nahe, dass ein fehlender Schul- oder Ausbildungsabschluss zu einem „sozialen Stigma“ mit komplexen Prozessen der Selbst- und Fremdselektion avanciert, da ein fehlender Schulabschluss kein formales Ausschlusskriterium für den Zugang zum dualen Ausbildungssystem ist (Solga 2002a: 476). Werden im sozialen Umfeld schlechte Erfahrungen bei der Ausbildungs- oder Jobsuche gemacht, fragen Abschlusslose häufig auch gar nicht erst Stellen nach (Pfahl 2003: 16). In einer älteren EMNID-Untersuchung haben sich 70 Prozent der 20- bis 24-jährigen Sonder- und Hauptschulabgänger niemals um eine Ausbildungsstelle beworben (Beinke 1992). Dazu kommt, dass die bildungsfernen Elternhäuser der schulabschlusslosen Jugendlichen die Nachteile der Abschlusslosigkeit nicht ausgleichen können. Häufig ist das Bildungsniveau beider Elternteile äußerst gering. Väter besetzen oft nur un- oder angelernte Positionen oder sind erwerbslos (Baumert und Schümer 2001: 364; Solga 2004: 47).
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Insgesamt liefern Studien Evidenzen für Tendenzen eines zunehmend längeren Verbleibs im allgemeinbildenden und beruflichen Bildungswesen, wobei insbesondere die Idee des Übergangssystems bisher nicht als angemessen erscheint. Der Weg von Jugendlichen ohne jeglichen Schulabschluss in die Ausbildung ist überwiegend von Wartephasen und Suchprozessen gekennzeichnet. Aktuelle Analysen – insbesondere im Zusammenhang mit dem Strukturwandel zur Wissensgesellschaft – bestätigen, dass sich die Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation von Geringqualifizierten verschlechtert hat, weil un- und angelernte Tätigkeiten zunehmend schwinden, die für die Mehrheit der Jugendlichen ohne Abschluss allerdings bedeutsam sind (Kupka 2003). Die Ausbildung nach der Hauptschule und der Realschule Jugendliche, die die Schule mit dem Hauptschulabschluss (2006: 28,5%) oder der Mittleren Reife (2006: 49,6%) verlassen, haben ein größeres Spektrum an Übergangsmöglichkeiten in das Ausbildungssystem als Schulabschlusslose. Über das duale Ausbildungsangebot hinaus stehen ihnen die Ausbildungsgänge des Schulberufssystems offen; dies gilt für Hauptschüler allerdings nur eingeschränkt. Realschulabsolventen können sämtliche Schulberufsausbildungen beginnen. Der tatsächliche Zugang zum beruflich vollqualifizierenden Ausbildungssystem ist aber auch für Jugendliche mit geringen und mittleren Bildungsabschlüssen begrenzt: Die Hälfte aller Hauptschüler mündet gegenwärtig in das Übergangssystem ein, während lediglich zwei Fünftel eine Lehre und nur acht Prozent eine schulische Ausbildung beginnen. Von allen Realschülern nimmt mehr als ein Viertel an einer Übergangsmaßnahme teil, während nicht einmal die Hälfte eine Lehre und nur gut 20 Prozent eine schulische Ausbildung beginnen (AG Bildungsberichterstattung 2008; zu den methodischen Schwierigkeiten der Erfassung der Zugänge: siehe AG Bildungsberichterstattung 2008). Diese Verteilung ist seit dem Jahr 2000 konstant geblieben und deshalb ein Ausdruck anhaltender Übergangsschwierigkeiten. Die BIBB-Schulabgängerbefragung (2006) zeigt im Kontrast, dass 70 Prozent der Hauptschul- und fast 60 Prozent der Realschulabsolventen allerdings eine Lehre aufnehmen möchten (BMBF 2007: 61). Die Bilanz der amtlichen Statistik lautet, dass der Anteil von Jugendlichen mit realisierten Berufsausbildungsverträgen seit fast zehn Jahren (1998-2007) deutlich unter dem Anteil derer liegt, die eine Berufsausbildung wünschen (BMBF 1999, 2007). Dieses Ergebnis fällt für Hauptschüler ungünstiger als für Realschulabsolventen aus. Die Präferenz, eine Lehre zu beginnen, wurde mit den Daten des Übergangspanels vom Deutschen Jugendinstitut (2004-2009) bestätigt, welches das Ausbildungsverhalten zwischen dem letzten Pflichtschuljahr und dem sechsten Folgejahr aufgrund von zehn Befragungswellen erfasst (Reißig et al. 2008). Die Analyse verweist aber auch auf eine neue Präferenz – nämlich der Verbleib in der Schule für bessere Abschlüsse, der mit der Hoffnung auf größere Ausbildungschancen verbunden ist. Für Realschüler kommt Leschinsky (2008b: 422) zum gleichen Befund. Diese Option stellt sich deutlicher für Jugendliche mit Migrationshintergrund als für deutsche Jugendliche heraus. In der Verlaufsperspektive verweilen sie länger im allgemeinbildenden Schulsystem (Gaupp et al. 2008). Berufsausbildungen, die Hauptschülern zugänglich sind, bereiten zumeist auf traditionelle Handwerksberufe wie Bäcker oder Friseur vor, die auch körperliche Anstrengung – wie etwa beim Beruf des Metallbauers – erfordern. Außerdem nehmen sie häufig Ausbildungen im Hauswirtschafts- (Koch) und Dienstleistungsbereich (Warenkaufleute) auf, die sie auf gering ausdifferenzierte Zuarbeiterfunktionen vorbereiten (Leschinsky 2008a: 400).
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Realschüler münden dagegen eher in die Ausbildungen des Handels- (z.B. Kaufmann im Einzelhandel), Büro- (z.B. Kaufmann für Bürokommunikation) und Gesundheitsbereichs (z.B. medizinischer Fachangestellter) ein, qualifizieren sich aber auch für den gewerblichen Berufsbereich (BMBF 2008: 134f.). Diese Befunde verweisen darauf, dass Erwerbstätigkeiten, die die Entwicklung in Richtung Wissensgesellschaft vorantreiben (beispielsweise technisch oder qualifizierte Dienstleistungsberufe), für Haupt- und Realschüler verschlossen sind. Die historische Entwicklung der Übergänge von der Schule in die Ausbildung nimmt insbesondere die BIBB-Übergangsstudie in den Blick. Zwischen 1993 und 2006 benötigen Haupt- und Realschüler für den Übergang zunehmend mehr Zeit. Der Ausbildungsbeginn von Nicht-Studienberechtigten verschiebt sich in ein höheres Lebensalter. Der Anteil der Ausbildungsanfänger, die 20 Jahre oder älter sind, ist von 20 auf 33 Prozent angestiegen. Dieser Befund ist geringfügig stärker für Hauptschüler ausgeprägt. Zudem münden Männer, Kinder aus höher gebildeten Elternhäusern und ohne Migrationshintergrund schneller in die erste Erwerbstätigkeit ein als die drei Pendants: Frauen, Kinder ohne akademisch gebildete Eltern und Migranten (Beicht et al. 2007). Dass ausländische Jugendliche deutlich länger brauchen, wird auf den Hauptschulabschluss, schlechtere Noten und ihre geringer gebildeten Eltern zurückgeführt, aber nicht hinreichend analysiert. Für die Berufsqualifizierung können Gaupp und Mitautoren (2008) mit den Paneldaten des Deutschen Jugendinstituts eine hohe Stabilität im Ausbildungsverlauf zeigen. Ausbildungen werden selten abgebrochen. Dies gilt insbesondere für Hauptschüler, die nach der Schule unmittelbar in eine duale oder schulische Ausbildung einmünden, in geringerem Maße aber auch für diejenigen mit einem Zwischenschritt im Übergangssystem. Ganser und Hinz (2007: 47) belegen in diesem Kontext, dass das Abbruchsrisiko Überforderungssituationen geschuldet ist. Im Falle eines Ausbildungsabbruches bilden sich für Haupt- und Realschüler die gleichen Muster für den weiteren Weg ab wie für schulabschlusslose Jugendliche: Der Weg führt zurück in die Schule oder das Übergangssystem, an das häufig keine reguläre Ausbildung angeschlossen wird. Jugendliche, denen der Sprung von der Vorbereitungsmaßnahme in die Ausbildung gelingt, sind im Vergleich eher von deutscher als ausländischer Herkunft. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass das „Chancen-Optimieren“ durch den Verbleib in der Schule tatsächlich lohnenswert ist (Gaupp 2008: 27). Mit den Daten der Lebensverlaufsstudie kann Jacob (2004, 2005) für Jugendliche der Kohorten 1964 und 1971 zeigen, dass Haupt- und Realschüler mit vollqualifizierenden Ausbildungen häufig eine Zweitausbildung beginnen, die das Qualifikationsniveau allerdings nicht erhöht. Sie verweist darauf, dass Erstausbildungen Ausweichausbildungen als Reaktion auf schlechte Zugangschancen sein können. Auf der Datengrundlage der LifEStudie (Lebensverläufe ins frühe Erwachsenenalter – Die Bedeutung von Erziehungserfahrungen und Entwicklungsprozessen für die Lebensbewältigung, 2002) belegen Lauterbach und Weil (2008: 77) für die Geburtskohorte 1966/67, dass Mehrfachausbildungen bei ehemaligen Hauptschülern seltener vorkommen als bei Realschülern. Analysen mit den DJIPaneldaten zeigen im Geschlechtervergleich, dass weibliche Absolventen der Hauptschule ihren Nachteil in der generellen Ausbildungsbeteiligung auch bis zu zwei Jahre nach dem Schulabschluss nicht aufholen können. Sie bleiben hinter der stark ansteigenden Ausbildungsbeteiligung der Männer im Zeitverlauf zurück. Darüber hinaus haben auch die Vorstellungen über die berufliche Zukunft einen Einfluss, indem sich die Ausbildungsintegra-
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tion von Jugendlichen mit unklaren Berufsvorstellungen erst zwei Jahre nach Schulabschluss maßgeblich erhöht (Beicht und Ulrich 2008). Die Befunde verfestigen sich dahingehend, dass die traditionelle Reihenfolge „Besuch der allgemeinbildenden Schule und anschließend in die Lehre“ die Vorstellung von Jugendlichen mit geringen und mittleren Schulabschlüssen zwar noch deutlich prägt, aber tatsächliche Ausbildungsbiographien nunmehr von Zwischenschritten und verlängerten Bildungsphasen gekennzeichnet sind. Insbesondere durch den Aufenthalt im Übergangssystem sind ihre Ausbildungsverläufe gegenwärtig mehr von Brüchen geprägt als noch vor zwanzig Jahren. Die Ausbildungsqualifikation von Gymnasiasten Gymnasiasten mit Fachhochschul- oder Hochschulreife (2006: 14% bzw. 30%) haben für den Anschluss die umfangreichsten Entscheidungsmöglichkeiten. Sie können auf das gesamte Spektrum der Studiengänge an Fach-/Hochschulen und Berufsakademien sowie auf die Ausbildungsangebote unterhalb der Hochschulebene (duale und schulische Ausbildungen) zurückgreifen.8 Die Option, eine Erwerbstätigkeit ohne Ausbildung zu beginnen (810%), wird wie von anderen Bildungsgruppen kaum wahrgenommen (Müller und Pollak 2007; Heine et al. 2008a). Der Ausbildungszugang von Studienberechtigten wird in der beruflichen Bildungsforschung anhand der Studier- und der Studienanfängerquote gemessen.9 Für die Berechnung werden vorwiegend die Daten der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS), des Deutschen Studentenwerks und der Hochschulstatistik der Bund und Länder herangezogen. Die Studierquote beläuft sich in den westdeutschen Bundesländern gegenwärtig auf 68 Prozent (2006, HIS-Berechnung). Demnach mündet die Mehrheit der Studienberechtigten nach der Schule in ein Studium als in ein außerhochschulisches Ausbildungsangebot ein. Die Quote ist allerdings seit den 1970er Jahren (1976: 82%) kontinuierlich gesunken, wobei sie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre (1996, 1999: 67%) den tiefsten Stand erreichte. Ein neuer Höchststand ist seither für das Jahr 2002 zu verzeichnen. In den ostdeutschen Bundesländern ist Studierquote besonders drastisch zwischen 1990 (80%) und 1996 (60%) gesunken; gegenwärtig beträgt sie aber wieder 66 Prozent (Durrer und Heine 1995; Lenz und Wolter 2001; Heine et al. 2008a, 2008b). Die HIS-Befunde zeigen auch, dass Jugendliche als Studienalternative vorwiegend eine duale (67%), aber auch eine schulische Ausbildung (29%) beginnen. Maßnahmen des Übergangssystems spielen für den Übergang in die Ausbildung nahezu keine Rolle (4%) (AG Bildungsberichterstattung 2008, Angaben für 2006). Informationen über die soziale Struktur der Studienanfänger stellt das HIS-Studienberechtigtenpanel (seit 1976) aufgrund von mehrmaligen Befragungszeitpunkten während und nach der Schulzeit bereit. Das Geschlecht, die schulische Leistung und die soziale Herkunft sind für die Entscheidung, direkt nach der Schule ein Studium zu beginnen, wichtige Einflussfaktoren. Frauen und Jugendliche aus bildungsfernen Familien beginnen im 8
Der Zugang zur Hochschule über das Gymnasium ist seit den 1980er Jahren (1985/1986: 73%) bis heute (2007/2008: 71%) dominant, auch wenn die Studienberechtigung außerhalb der allgemeinbildenden Schule erworben werden kann (Heine et al. 2008b: 42). 9 Die Studierquote bildet den Anteil der Studienberechtigten ab, die nach der Schule ein Studium aufnehmen. Die Berechnungen von HIS und des Statistischen Bundesamtes unterscheiden sich in Hinsicht auf die Zeitspanne, in denen der Übergang erfolgen kann, und im Einbezug der Verwaltungsfachhochschulen. Die Studienanfängerquote ist der Anteil der Studienanfänger in einem Altersjahrgang (18 bis unter 21 Jahre) an der gleichaltrigen Bevölkerung.
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Durchschnitt seltener eine akademische Ausbildung als Jugendliche aus hochgebildeten Elternhäusern und Männer mit gleichen oder sogar schlechteren Noten (Heine et al. 2008a). Müller und Pollak (2007) sowie Maaz (2006) haben überdies auf kumulierter Datengrundlage und mit den Daten der TOSCA-Längsschnittstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren, 2002-2006) nachgewiesen, dass Studienberechtigte mit geringem Bildungshintergrund eher ein Studium an Fachhochschulen als Universitäten beginnen. Zudem münden sie seltener in Fachrichtungen klassischer Professionen (z.B. Jurisprudenz, Medizin) ein (Mayer 2008). Aus diesen Befunden wird insgesamt geschlossen, dass „die Zuteilung von Lebenschancen, die (…) herkunftsspezifisch über das dreigliedrige Schulsystem erfolgt (…), (…) durch die schichtspezifischen Rekrutierungsmuster von Fachhochschulen und Universitäten“ (Mayer 2008: 625) fortgesetzt wird. Dagegen sind die Befunde über die historische Veränderung herkunftsspezifischer Zugangschancen uneinheitlich. Während Müller und Haun (1994) sowie Henz und Maas (1995) einen abnehmenden Einfluss der sozialen Herkunft auf die Studierneigung belegen, berichten Köhler (1992) und Schimpl-Neimanns (2000) über den konstant gebliebenen Herkunftseinfluss. Lewin et al. (2000) kommen zu dem Schluss, dass hinsichtlich des Hochschulzugangs eine soziale Homogenisierung von Jugendlichen aus bildungsnahen Elternhäusern stattgefunden hat, im Geschlechtervergleich stärker für Frauen als für Männer. Jüngste Untersuchungen unterstützen diesen Befund und zeigen ebenso andersherum, dass nichttertiäre Ausbildungsgänge für studienberechtigte Arbeiterkinder bedeutsamer sind (Müller und Pollak 2007). An dieses Ergebnis schließt nun eine wichtige Frage an: Holen Arbeiterkinder die Studienoption nach? Empirische Ergebnisse über den Ausbildungsverlauf fallen spärlich aus: Lauterbach und Weil (2008: 77) können mit den Daten der LifE-Studie hingegen zeigen, dass studienberechtigte Jugendliche im Vergleich zu anderen Bildungsgruppen häufiger Mehrfachausbildungen beginnen (siehe auch Jacob 2004). Eine häufige Kombination ist dabei die nacheinander gelagerte Abfolge von Ausbildung und Studium. Andere Untersuchungen weisen nach, dass sich der Anteil der späten Studienanfänger mit abnehmendem Bildungsniveau der Eltern erhöht (Merz und Schimmelpfennig 1999; Lewin et al. 2000). Vergleichsweise früh weist Meulemann (1989) auf die Bedeutung des Zeitpunktes hin, wann die Studienberechtigung erworben wurde. Studienanfänger, die die Zugangsberechtigung nach der Ausbildung erlangen, rekrutieren sich überproportional häufig aus der unteren und mittleren Arbeiterschicht. Untersuchungen zur erfolgreichen Beendigung von Studiengängen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen: Einige stellen signifikante Herkunftseffekte heraus (Müller und Haun 1994; Diem und Meyer 1999), andere nicht (Blossfeld 1993). Heublein et al. (2003) kommen zum Schluss, dass Studierende aus sozial schwachen Familien abbruchgefährdeter sind (siehe auch Lewin 1995; Kolland 1982). Jacob und Hillmert (2003) finden heraus, dass nicht nur die direkte Einmündung in die Hochschule nach dem Abitur sozial selektiv in Hinsicht auf Jugendliche mit Akademikereltern erfolgt. Jugendliche mit einem verspäteten Studienbeginn im Anschluss an eine Ausbildung unterhalb der Hochschulebene oder nach einem abgebrochenen Studium haben im Vergleich zu Direktstudieren sogar häufiger einen akademischen Bildungshintergrund aufgrund ihrer Eltern.
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3.2 Einmündungen in den Beruf Der Berufseinstieg ohne Ausbildungsabschluss10 Für die Ausbildungslosigkeit spielt insbesondere das schulische Vorbildungsniveau eine Schlüsselrolle. Im vorherigen Abschnitt wurden empirische Befunde zusammengetragen, die zeigen, dass Jugendlichen ohne Schulabschluss entweder das Ausbildungssystem unzugänglich ist oder dass sie aufgrund des Abbruchrisikos im Ausbildungsverlauf keinen Abschluss erreichen. Ausbildungslose Jugendliche setzen sich aber auch aus ehemaligen Sonder- und Hauptschülern mit schwachen Abschlusszeugnissen und ehemaligen Maßnahmeteilnehmern im Übergangssystem zusammen (Beicht und Ulrich 2008). Sie sind ausschlaggebend für die Gruppe, die in summa als Geringqualifizierte bezeichnet werden. Schulabgänger mit einem qualifizierten Hauptschulabschluss zählen gegenwärtig aber auch dazu (Solga 2005). Die Ungelerntenquote, die den Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Alter zwischen 20 und 29 Jahren abbildet, stagniert seit Mitte der 1990er Jahre (1996: 15%) auf einem hohen Niveau.11 Heute beträgt sie 16 Prozent (BMBF 2008: 153).12 Für den Zugang zum Arbeitsmarkt zeigen Ergebnisse der Lebensverlaufsstudie, dass Unqualifizierte im Vergleich mit anderen Bildungsgruppen längere Übergangszeiten bis zur ersten stabilen Erwerbstätigkeiten aufweisen und sich das Übergangsalter im Vergleich der Geburtskohorten 1954-56, 1959-61,1964 und 1971 erhöht (Hillmert 2001). Maaz (2002) kommt zu dem Schluss, dass nicht einmal die Hälfte der Ungelernten bis zum 17. Lebensjahr eine Erwerbstätigkeit aufgenommen haben. Die LifE-Studie stellt dabei signifikante Geschlechtsdifferenzen heraus. 1966/67 geborene Männer ohne Ausbildungsabschluss beginnen die erste Erwerbstätigkeit noch später als Frauen der gleichen Geburtskohorte (Glaesser 2007: 89). In der historischen Entwicklung bildet sich eine zunehmende Schließung des Arbeitsmarktes für Ungelernte ab: Die qualifikationsspezifische Arbeitslosenquote erhöht sich für Ausbildungslose zwischen Ende der 1970er Jahre (1979: 7%) und 2005 (26%) mehr als das 3,5fache. Die Arbeitslosenquoten höher qualifizierter Bildungsgruppen haben sich im Vergleich nur begrenzt erhöht, so dass die Erwerbschancen von Geringqualifizierten gegenüber allen anderen Bildungsgruppen erheblich auseinanderdriften (Reinberg und Hummel 2007). Zurückgeführt wird dies unter anderem auf die soziale Verarmung dieser Gruppe, indem „Aufstiegschancen in die höheren Bildungsschichten (…) zwangsläufig mit einer größeren sozialen Homogenität der niedrigsten Bildungsgruppe verbunden sind“ (Solga 2005: 185).
10 Methodisch ist schwer, einen sinnvollen Messzeitpunkt zu bestimmen, weil auch im fortgeschrittenen Alter Ausbildungen aufgenommen werden. Für die Untersuchung von Ausbildungslosigkeit sind überdies zwei Personengruppen zu unterscheiden: (1) diejenigen, die das Ausbildungssystem ohne zertifizierten Abschluss verlassen (Ausbildungsabbrecher) oder gar nicht erst in eine reguläre Ausbildung einmünden, und (2) diejenigen, die vor oder während der Ausbildung oder des Studiums eine Erwerbstätigkeit beginnen (Dietrich und Abraham 2005: 81). Für diesen Abschnitt ist die erste Gruppe bedeutsam. 11 Die Ungelerntenquote bildet den Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Alter zwischen 20 und 29 Jahren an der gleichaltrigen Bevölkerung ab. Nicht selten wird die Altersklasse auch enger oder weiter gefasst. Die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Studien ist deshalb stark eingeschränkt. 12 Für diese Berechnungen ist der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes grundlegend. Eine wichtige Datenquelle ist auch die BIBB/EMNID-Studie zur Ausbildungslosigkeit, die 1998 durchgeführt wurde (Troltsch et al. 1999), sowie die retrospektiv angelegte BIBB-Übergangsstudie (2006).
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Befunde über die Merkmale der Arbeitsmarktpositionen ergänzen sich zu einem einheitlichen Bild der Arbeitsmarktprobleme: Münden Jugendliche ohne Ausbildungsabschluss in eine Beschäftigung ein, sind dies vorwiegend atypische Beschäftigungsverhältnisse mit instabilen und befristeten Erwerbstätigkeiten (Jahn und Rudolf 2002; Glaesser 2007). Analysen zeigen auch, dass befristete Erwerbsverhältnisse keine Brückenfunktion übernehmen, indem sie langfristig zu unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen führen (McGinnity und Mertens 2002). Zudem erzielen ausbildungslose Jugendliche erheblich mindere Einkommen (Kurz und Steinhage 2001; Glaesser 2007; Kalina et al. 2008). Personen, die einen Hauptschulabschluss, aber keinen Berufsabschluss erworben haben, sind überwiegend in un- und angelernten Positionen (60%) beschäftigt. Besitzen sie nicht einmal einen Hauptschulabschluss, erhöht sich der Anteil auf 80 Prozent (Kupka 2003). Diese Befunde zeugen von auffallend großen Problemen des Berufseinstiegs von Ausbildungslosen. Blaschke (1987) zeigt in einer älteren Analyse außerdem, dass die Arbeitssuche über Freunde und Bekannte der bedeutsamste Weg in die Erwerbstätigkeit für Ausbildungslose ist. Bielenski (2002) kann zeigen, dass sich Nicht-Qualifizierte für die Stellensuche signifikant häufiger an die Bundesagentur für Arbeit wenden als mittlere Qualifikationsgruppen, allerdings nicht explizit für Berufseinsteiger. Gallie und Paugam (2000) analysieren, dass durch die Arbeitslosigkeit die Netzwerkressourcen für die Arbeitsplatzsuche vermindert werden (siehe auch Larsen 2008). Der Übergang in den Beruf mit dualer und schulischer Ausbildung Das duale Qualifikationsmodell galt für die Arbeitsmarktintegration lange Zeit als international vorbildlich und wird beispielsweise mit der geringen Jugendarbeitslosenquote (2008: 9,6%; EU27-Durchschnitt: 16,4%) begründet.13 Die Bedeutung für den Arbeitsmarktzugang bildet sich an den schnellen Übergangszeiten ab, die aus den transparenten Qualifikationsstandards für anschließende Arbeitgeber und hohen Übernahmequoten von Ausbildungsbetrieben resultieren.14 Während der Verbleib betrieblicher Ausbildungsabsolventen alljährlich erhoben wird, gibt es keine regelmäßige Untersuchung für Absolventen des Schulberufssystems.15 Sekundäranalysen – etwa mit dem Mikrozensus – und Befunde aus Einzelerhebungen oder Fallstudien liegen nur selten vor (etwa die BIBB-Untersuchung von Lehrabsolventen der Sommerprüfung 1999 im Auftrag des BMBF oder die Begleitstudie (Schumann 2007) zum Berliner Modellprojekt des MDQM I-Bildungsgangs). Fest steht aber, dass sich die Anzahl der Jugendlichen mit einer Ausbildung im Schulberufssystem seit den 1980er Jahren stetig erhöht (Feller 2004).16 Das Forschungsinteresse, insbesondere an dem
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Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträge im ehemaligen Bundesgebiet ist im letzten Jahrzehnt zwischen 1998 (rund 469.000) und 2008 (rund 502.000) von einem Anstieg gekennzeichnet, während in langfristiger Perspektive die Anzahl der abgeschlossenen Neuverträge abgenommen hat (1980: rund 650.000, 1990: rund 532.000). Die Anzahl abgeschlossener Ausbildungen ist allerdings noch geringer, weil ein Teil der Jugendlichen den Ausbildungsvertrag vorzeitig löst (Lösungsquote für die westdeutschen Bundesländer, 2008: 19%) (siehe BIBB-Fachbeiträge im Internet unter http://www.bibb.de/de/wlk8238.htm; (Stand: 16.02.2009). 14 Gegenwärtig werden 57 Prozent (Westdeutschland) bzw. 44 Prozent (Ostdeutschland) der Ausbildungsabsolventen im Ausbildungsbetrieb weiterbeschäftigt (BMBF 2008, Angaben für das Jahr 2006). 15 Der Verbleib von Lehrabsolventen wird durch das Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) als repräsentative Arbeitgeberbefragung in den west- und ostdeutschen Bundesländern seit 1993 bzw. 1996 erhoben. 16 Schulische Berufsausbildungen werden von der Berufsbildungsberichterstattung (BMBF) seit Mitte der 1990er Jahre rein quantitativ erfasst. Im letzten Jahrzehnt ist die Anzahl der Schüler, die an Berufsfachschulen einen
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Vergleich von schulischen und betrieblichen Ausbildungsabsolventen, nimmt aber gegenwärtig stark zu. In vergleichenden Analysen sind jedoch nur Absolventen mit vollqualifizierenden Berufsabschlüssen (beispielsweise aus Höheren Handelsschulen oder Berufskollegs) einzubeziehen: Die BIBB-Absolventenbefragungen zum Beispiel verweisen für den Ausbildungsverlauf auf eine hohe Anzahl an „Doppelqualifizierern“, die nach der schulischen Ausbildung ins Dual- oder Hochschulsystem einmünden, können diesen Befund aber nicht auf beruflich Vollqualifizierte oder Jugendliche, die an Berufsfachschulen eine Teilqualifizierung oder höheren Schulabschluss nachgeholt haben (Übergangssystem), zurückführen (Feller 2004: 50). Die BIBB-Studie „Wege von Berufsfachschülern mit Ausbildungsabschluss (1998-2000)“ macht auf der Grundlage der BIBB/IAB-Erwerbstätigenbefragung von 1998/99 dennoch deutlich, dass Jugendliche schulische Ausbildungsgänge immerhin als sinnvolle Vorbereitung auf eine Berufsausbildung oder ein Studium bewerten.17 Mehrfachqualifikationen nach einem schulischen Berufsabschluss, die auf einen verzögerten Arbeitsmarkteintritt verweisen, kann allerdings Jacob (2004) eindeutig belegen. Die Neigung für eine Zweitausbildung ist auch bei Lehrabsolventen ausgeprägt, allerdings geringer. Diese Befunde deuten zum einen – wie bereits gezeigt – auf den Wandel des Ausbildungsverhaltens von Studienberechtigten hin und zum anderen aber auch auf Friktionen beim Berufsübergang von Jugendlichen ohne studienberechtigenden Schulabschluss.18 Indikatoren für die Fragmentierung des Berufseinstiegs von Lehrabsolventen sind ansteigende Arbeitslosen- (2000: 22%; 2004: 40%) und rückläufige Übernahmequoten (2000: 60%; 2004: 54% für Westdeutschland) (Baethge et al. 2007).19 Obwohl die Übernahmequote gegenwärtig (2006: 57% für Westdeutschland) wieder leicht zunimmt, scheint sich der – lange Zeit als glatt und friktionslos beurteilte – Berufsübergang von Lehrlingen aufzulösen. Für Männer sind die ersten drei Jahre nach dem Ausbildungsabschluss dabei wesentlich stärker von Arbeitslosigkeit und überdies von ausbildungsinadäquaten Beschäftigungen gekennzeichnet als für weibliche Absolventen (BIBB-Studie „Übergänge und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten junger Fachkräfte an der zweiten Schwelle, 2004-2005“). Empirische Vergleiche von deutschen und ausländischen Jugendlichen zeigen, dass ausländische Lehrabsolventen seltener als deutsche Absolventen vom Ausbildungsbetrieb übernommen werden (Seibert 2005: 175f.). In der Revision des OECD-Berichts „Education at a Glance“ (2004), der mit den Mikrozensus-Daten (2002) für Lehrabsolventen sogar höhere Erwerbslosenraten als für schulisch Ausgebildete verzeichnet, kommen Schade und Hall (2005) zu folgendem Schluss: Berufsausbildungsabschluss anstreben, von etwa 150.000 (1998) auf 243.000 (2006) angestiegen (BMBF 2000, 2008). 17 In der BIBB-Studie „Arbeit und Beruf im Wandel, Erwerb und Verwertung beruflicher Qualifikationen (20052009)“ werden mit der jüngsten BIBB/BuA-Erwerbstätigenbefragung 2005/2006 auch Mehrfachqualifikationen erhoben. Nach unserem Wissen gibt es bisher jedoch noch keine publizierten Befunde. 18 Hinsichtlich der Neuabschlüsse betrieblicher Ausbildungsverträge ist der Anteil der Studienberechtigten zwischen Anfang (1992: 13% für westdeutsche Bundesländer bzw. 3,9% für ostdeutsche Bundesländer) und Ende der 1990er Jahre (1998: 14,2% bzw. 17,1%) kontinuierlich angestiegen. Das letzte Jahrzehnt (2005: 17,3%) ist weiterhin von einem Anstieg – allerdings mit Schwankungen (2006: 16,1%) – gekennzeichnet (BMBF 1998, 2001, 2008). Gegenwärtig besetzen Jugendliche mit mittleren und höheren Schulabschlüssen zwei Drittel aller Ausbildungsstellen (AG Bildungsbericht 2008: 158). Das bedeutet, dass Jugendliche mit oder ohne Hauptschulabschluss erheblich an Ausbildungschancen eingebüßt haben. 19 Die spezifische Arbeitslosenquote wird als Quotient zwischen den Neuzugängen zur Arbeitslosigkeit und den erfolgreichen Ausbildungsabsolventen berechnet.
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Die Unterschiede zwischen beiden Ausbildungsgruppen sind auf Selektivitätseffekte, nicht aber auf systembedingt schlechter gewordene Erwerbschancen von Lehrlingen zurückzuführen. Weil Berufsfachschulen überwiegend Berufsbereiche mit gegenwärtig hoher Nachfrage bedienen (Dienstleistungsbereich) und für schulische Berufsbildungsgänge zumeist mittlere oder höhere Schulabschlüsse erforderlich sind, kommt es bei den Untersuchungspersonen zu einer Positivselektion. Für den Übergang in einen inhalts- und statuskongruenten Beruf zeigen sich mittlerweile uneinheitliche Befunde. Konietzka (1999a) belegt eine hohe Inhalts- und Statuskongruenz zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit für die Absolventen einer gewerblichen Lehre. Deutsche Jugendliche sind dabei gegenüber Ausländern im Vorteil (Seibert 2005). Steinmann (2000) verweist, unabhängig von der Ausbildungsart, auf eine Abschwächung dieses Zusammenhangs in der Kohortenfolge zwischen 1945 und 1985. Aktuell verweisen Aßmann und Hall (2008) für die betrieblichen Berufsqualifikationen auf geringe Verwertungschancen: 40 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in einem ausbildungsfremden Beruf, nicht einmal 30 Prozent von ihnen können die erlernten Kenntnisse bei dieser Tätigkeit anwenden. Beicht und Ulrich (2008: 21) zeigen allerdings, dass betrieblich Ausgebildete rascher als schulische Ausgebildete in die erste Erwerbstätigkeit einmünden. Im Vergleich zwischen deutschen und ausländischen Lehrabsolventen sind deutsche Jugendliche schneller (Seibert 2005: 180). Abschließend kann aufgrund bisheriger Studien zwar noch von einem engen Zusammenhang zwischen dualer Ausbildung und Erwerbstätigkeit ausgegangen werden, der sich allerdings zunehmend abschwächt, wie außerdem die Befunde über die Verlängerung der Übergangsphase in eine stabile Beschäftigung (Konietzka 1999; Hillmert 2001), über Betriebs- und Berufswechsel (Konietzka 2007) sowie über die Arbeitslosigkeit und atypischen Beschäftigungsverhältnisse beim Berufseinstieg (McGinnity und Mertens 2004) zeigen. Inwieweit die (noch unzureichend analysierten) Unterschiede beim Arbeitsmarktzugang jedoch zum Vorteil von schulischen Ausbildungsabsolventen kippen werden, ist nicht abschließend zu klären. Der Berufseinstieg mit Fachhochschul- oder Hochschulstudium Der Berufseinstieg von Akademikern – d.h. von Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten – wird theoretisch als außerordentlich günstig dargestellt. In der Debatte über die Wissensgesellschaft wird ferner die These aufgestellt, dass die Erwerbschancen sogar weiter steigen. Der Blick auf die Beschäftigungsentwicklung bestätigt, dass Akademiker eindeutig die Gewinner sind: Zwischen 1991 und 2005 ist die Anzahl der hochqualifizierten Erwerbstätigen um 40 Prozent gestiegen (Biersack et al. 2008). Im Geschlechtervergleich verzeichnen Frauen ein größeres Plus. Der Anteil der Akademiker an allen Erwerbstätigen hat sich im gleichen Zeitraum von 12 auf 17 Prozent erhöht (Biersack et al. 2008). Werden Fachhochschul- und Universitätsabgänger differenziert, liegen Fachhochschulabsolventen hinsichtlich der absoluten Anzahl, zumindest in den alten Bundesländern, und Universitätsabsolventen in Bezug auf die relative Entwicklung vorn (Bonin et al. 2007).20 Diese Entwicklungen sind auf Kohorteneffekte, aber auf die periodenspezifische Entwicklung der Studienanfängerquoten zurückzuführen. 20 In der langfristigen Perspektive seit Mitte der 1960er Jahre hat sich die Anzahl der Arbeitsplätze für Akademiker mehr als verdreifacht, während die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte um die Hälfte zurückgegangen sind (Geißler 2006: 278, Gehrke et al. 2007: 3).
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Die Berufseinmündung von Hochqualifizierten wird überwiegend durch das bundesweite HIS-Absolventenpanel (etwa Briedis und Minks 2004; Kerst und Minks 2005; Kerst und Schramm 2008) erfasst.21 Für den Arbeitsmarktzugang zeigen diese Daten, dass sich die Übergangsdauer in eine reguläre Beschäftigung im Vergleich der Prüfungsjahrgänge 2001 und 2005 nicht verlängert hat, außer geringfügig für Fachhochschulabsolventen. 2005 üben 75 bzw. 50 Prozent der Fach- bzw. Hochschulabsolventen ein Jahr nach dem Studienabschluss eine Erwerbstätigkeit aus. Ein erheblicher Teil hat eine weitere Ausbildungsphase begonnen, insbesondere Personen mit zweistufigen Studiengängen (Briedis 2007). Einige Absolventen verbleiben im Hochschulsystem für akademische Weiterqualifikationen (Willich und Briedis 2004). Der Zugang zur Erwerbstätigkeit erweist sich anhand weiterer Indikatoren als günstig: Werk- und Honorartätigkeiten spiele kaum eine Rolle, höchstens nach unmittelbarem Studienabschluss. Übergangsjobs nehmen im ersten Jahr nach Studienende deutlich ab (Briedis und Minks 2004; Briedis 2007). Böhning et al. (2006) zeigen zwar, dass Praktikakarrieren den Berufseinstieg kennzeichnen, indem sie vornehmlich der Jobsuche anstelle der beruflichen Orientierung dienen. Briedis und Minks (2007) kommen aber aufgrund einer repräsentativen HIS-Sonderauswertung zu dem Schluss, dass Praktika beim Berufseinstieg kein Massenphänomen sind. Die Datenlage zum Praktikumsverhalten fällt jedoch spärlich aus. Überdies liegen Befunde aus amtlichen und nicht-amtlichen Längsschnittstudien vor, die zumeist für den Vergleich von Akademikern mit Minderqualifizierten ausgewertet werden. Mit der Lebensverlaufsstudie wird zum Beispiel belegt, dass das Einstiegsalter in die erste stabile Erwerbstätigkeit (Beschäftigungsverhältnis von mindestens 24 Monaten oder länger), auch unter Kontrolle der Ausbildungszeiten, für Akademiker deutlich stärker streut (Hillmert 2001: 166). McGinnity und Mertens (2004: 122) stellen fest, dass die Wahrscheinlichkeit für eine befristete Beschäftigung in der ersten Erwerbstätigkeit für Hochschulabsolventen deutlich höher als für Lehrabsolventen ist. Im historischen Vergleich haben atypische Beschäftigungsverhältnisse für Akademiker zuungunsten unbefristeter Vollzeitstellen zugenommen, in der Privatwirtschaft, aber auch im öffentlichen Dienst. Fachhochschulabsolventen sind besonders betroffen (Briedis 2007). Hinsichtlich ausbildungsadäquater Beschäftigungsverhältnisse kann Schiener (2006: 61) mit den Daten des Sozio-ökonomischen Panels zeigen, dass sich die Passung von erreichtem und erforderlichem Bildungsniveau für eine Stelle im Zeitraum von 1984 und 2000 verschlechtert hat, aber nur für männliche Hochschulabsolventen und keinesfalls durchgängig. Für Frauen und Fachhochschulabsolventen beiderlei Geschlechts stellt er sogar eine Verbesserung fest. Fehse und Kerst (2007) bestätigen unter besonderer Berücksichtigung der ersten Erwerbstätigkeit, dass ausbildungsinadäquate Beschäftigungsverhältnisse für Akademiker nahezu unbedeutend sind. Liegen diese trotzdem vor, sind eher Frauen als Männer betroffen. An der akademischen Arbeitslosenquote, die im Jahr 2005 bei einer Gesamtarbeitslosigkeit von 12 Prozent für Hochqualifizierte (4,1%) weitaus niedriger ist und sich seit Mitte der 1970er Jahre in Westdeutschland als stabil erweist, bilden sich auch die günstigen Arbeitsmarktchancen ab (Reinberg und Hummel 2007). Allerdings variiert das Risiko der 21 Die erste Erhebung fand 1974 statt. Seit Ende der 1980er Jahre bezieht sie jeden vierten Absolventenjahrgang (1989, 1993, 1997, 2001, 2005) in die Stichprobe aus Universitäten und Fachhochschulen durch zwei Befragungszeitpunkte (ein- bis eineinhalb, fünfeinhalb Jahre) nach dem Studienabschluss ein. Ab 1997 werden die Absolventen außerdem zehn Jahre später noch einmal befragt (zur Kritik siehe: Teichler 2000; Falk et al. 2007: 5 ff.).
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Arbeitslosigkeit in Hinsicht auf das Fach, die Dauer sowie die Abschlussart des Studiums, die Region, das Alter und das Geschlecht (Plicht et al. 1994; Schomburg et al. 2001; Franzen 2002; Stief und Abele 2002; Bührmann 2005; Briedis 2007; Falk und Reimer 2007). Zum Beispiel sind die erreichbaren Einkommen wesentlich von der Fachrichtung des Studiums abhängig (Büchel und Bausch 1998: 104; Briedis 2007: 206). Für den Berufseinstieg ist überdies bekannt, dass die Arbeitsplatzorientierung von Fachhochschülern und Hochschülern bereits während des Studiums durch fachlich einschlägige Nebenjobs erfolgt, die fließend in eine hauptberufliche Erwerbstätigkeit nach dem Studium übergehen können (Briedis 2007: 141ff.). Eine langfristige Strategie zur Erhöhung der individuellen Arbeitsmarktchance stellt auch der Erwerb überdisziplinären Fachwissens innerhalb der Studienzeit dar (Briedis 2007). Für die Arbeitssuche spielen insbesondere auch soziale Netzwerke eine Rolle: Ein erheblicher Anteil greift dabei nicht nur für die unmittelbare Stellensuche auf das soziale Netzwerk zurück (Haug und Kropp 2002), sondern bildet und pflegt Kontakte dafür während des Studiums. Die Befunde der DBKH-Studie der Humboldt-Universität Berlin (Determinanten der beruflichen Karriere von Hochschulabsolvent(inn)en unter Bedingungen flexibilisierter Arbeitsmärkte) unterstreichen die Bedeutung des sozialen Netzwerks für die Stellensuche.
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Diskussion und Ausblick
Der Beitrag widmet sich dem Übergang von der Schule in den Beruf aus theoretischer und empirischer Perspektive, wobei die Fragen, wie sich für Jugendliche dieser Übergang vollzieht und wie er sich im historischen Verlauf verändert, im Mittelpunkt der Betrachtungen standen. Als Besonderheit des deutschen Bildungswesens wurde die Verbindungsfunktion des Ausbildungssystems zwischen Schulbildungs- und Beschäftigungssystem hervorgehoben. Somit muss das Ausbildungssystem auf gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen reagieren, die derzeitig einen Wandel in zwei Punkten erfordern: Der Umbau des Arbeitsmarktes von einem industriell geprägten Erwerbssystem zu einem auf Wissen basierten Erwerbssystem erzwingt den Wandel zu einem Ausbildungssystem, das in der Lage ist, mit der generellen Höherqualifikation der Berufe Schritt zu halten. Durch den gleichzeitigen Rückbau industriell geprägter Berufe verringert sich der von einfachen Tätigkeiten geprägte Erwerbsbereich, welcher die einstige Bedeutung der traditionellen Lehre als Kernstück des Ausbildungssystems „bedrängt“ (vgl. Müller 2001). Das Erstarken der Wissensgesellschaft und der Wegfall einfacher Tätigkeitsbereiche wirken sich durch die Anpassungsträgheit seit geraumer Zeit auf den Ausbildungsmarkt aus: Jugendliche mit niedrigen Schulabschlüssen oder ohne schulische Bildungsqualifikation haben immer größere Schwierigkeiten, in eine angemessene Ausbildungsstelle einzumünden. Ein Indikator dafür ist die ansteigende Anzahl der Jugendlichen im Übergangssystem. Auf die ansteigende Nachfrage nach hochqualifizierten Tätigkeiten können Jugendliche nun folgendermaßen reagieren: Die Befunde der letzten Jahre zeigen den eindeutigen Trend zu Mehrfachqualifikationen, die entweder Höherqualifizierungen oder Umstiege in andere Ausbildungsberufe nach sich ziehen. Weil Höherqualifizierungen aber nur vornehmlich von Jugendlichen mit hohen Schulabschlüssen genutzt werden können, sind die Umstiege als Neuorientierung minder gebildeter Jugendlicher aufgrund fehlender Perspektiven zu interpretieren.
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Im Anschluss an den theoretischen Überblick, den Weg von der Schule in den Beruf aus institutioneller, individueller und ökonomischer Sicht zu erfassen, erscheint es in der Folge logisch, das Ausbildungsverhalten und den Berufseinstieg übergeordnet als Marktgeschehen zu begreifen und individuelle Präferenzen sowie institutionelle Spielräume in diese Erklärung der beruflichen Wege einzubetten (Shavit und Müller 1998). Der Erwerb allgemeinbildender und beruflicher Qualifikationen wird hauptsächlich über das Angebot und die Nachfrage nach Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt geregelt und führt infolge der Anpassungsträgheit des Ausbildungssystems zu Friktionen. Die Bildungssoziologie sollte daher stärker die Verbindung zwischen schulischem Qualifikationsniveau und Arbeitsmarkt fokussieren, weil die bisherige Forschung auf diesem Gebiet nicht hinreichend fortgeschritten ist. Es ist weder bekannt, ob sich Jungendliche tatsächlich aufgrund des gesellschaftlichen Strukturwandels in Richtung Wissensgesellschaft umorientieren, noch ist klar, welche die neuen Hauptwege für die unterschiedlichen Bildungsgruppen in den Arbeitsmarkt sind. Für die Politik ist hierbei insbesondere auf die Umgestaltung des durch die „Verberuflichung“ (Konietzka 2005) geprägten starren Ausbildungssystems und Beschäftigungssystems in eine Richtung der strukturellen Aufweichung zu verweisen. Aus bildungs- und arbeitsmarktsoziologischer Sicht stellt sich zudem im Sinne kumulativer Forschung weiterhin die Frage, in welcher Weise und in welchem Umfang gesellschaftliche Strukturen den Prozess des Übergangs von der Ausbildung in die Beschäftigung beeinflussen und welchen Wandel diese gesellschaftlichen Zusammenhänge in den vergangenen Jahrzehnten erfahren haben. Vor dem Hintergrund des Strukturwandels im Bildungssystem und der Arbeitsmärkte sind immer noch nicht alle Fragen erschöpfend beantwortet, von welchen Faktoren reibungslose Übergänge in Erwerbstätigkeit abhängen und wer aus welchen Gründen den Erwerbsverlauf mit einer Arbeitslosigkeitsphase beginnt. Wird tatsächlich das Paradigma der „standardisierten Normalerwerbsbiographie“ (Schule Berufsausbildung Vollzeiterwerbstätigkeit in ein und derselben Firma Ruhestand), sofern es jemals existiert hat, im strukturellen Wandel zur nachindustriellen Dienstleistungsund Wohlfahrtsgesellschaft durch Arbeitslosigkeit, ausbildungsinadäquate Beschäftigung, Warteschleifen in der Ausbildung oder unstetige Beschäftigungsverhältnisse abgelöst? Wie erfolgt gegenwärtig die Zuordnung von Berufausbildung, Beschäftigung, Entlohnung und Statuserwerb? Diese Fragen haben sozialpolitische Relevanz: In gesamtgesellschaftlicher Hinsicht bestimmen Strukturen und Chancen für einen erfolgreichen Einstieg in die Berufsausbildung und in den Arbeitsmarkt das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit von sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft. Sie bestimmen auch den Grad der gesellschaftlichen Integration von Individuen. Neben der Verteilung von Einkommen und Sozialstatus hängen soziale Wohlfahrt, aber auch wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und ökonomische Entwicklung moderner Gesellschaften vom Humankapital der Bevölkerung und ihrer Erwerbstätigkeit ab. Viele gesellschaftliche Bereiche – angefangen von der Wirtschaft über die Sozialversicherungssysteme hin zu den Familien – sind mit Erwerbschancen und Erwerbstätigkeit verbunden, und ihre Funktionsfähigkeit hängt nicht zuletzt von der Integration der erwerbsfähigen Bevölkerung in das Beschäftigungssystem ab. Neben der Sozialintegration von Individuen bestimmen solche Übergangsprozesse in den Arbeitsmarkt auch die Systemintegration, also die Funktionstüchtigkeit von Gesellschaften und ihren Institutionen.
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Berufliche Weiterbildung – theoretische Perspektiven und empirische Befunde1 Rolf Becker und Anna E. Hecken
1
Einleitung
Vor dem Hintergrund dauerhafter Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit, demographischen Wandels und permanenter Nachfrage nach in der Zahl knapper werdenden qualifizierten Arbeitskräften, wird in derzeitigen Debatten über Krisen- und Erosionstendenzen im Beschäftigungssystem die Sicherstellung ausreichender beruflicher Qualifikationen betont. Die Internationalisierung von Güter- und Arbeitsmärkten, der berufsstrukturelle, ökonomische und technologische Strukturwandel sowie ansteigende Qualifikationsanforderungen beruflicher Tätigkeiten würden eine Vielzahl von Fort- und Weiterbildungen im Erwerbsleben notwendig machen (Büchel und Pannenberg 2004; Pfeiffer und Reize 2000).2 Wenn in Zukunft die „Halbwertszeit“ von formaler Erstausbildung und das quantitative Volumen qualifizierter Berufsanfänger drastisch abnehmen wird, so dass die Qualifikationsnachfrage nicht mehr ausschließlich über die Rekrutierung nachfolgender Berufsanfängerkohorten bewältigt werden kann, dann dürften Investitionen in die berufliche Weiterbildung effektive und effiziente Strategien sein, diese anstehenden Herausforderungen bewältigen zu können (Buttler 1994; Dostal 1991). Für die Verteilung von Arbeits- und Lebenschancen würde demnach berufliche Weiterbildung gegenüber der frühen Schul- und Berufsausbildung zunehmend an Bedeutung gewinnen (kritisch dazu: Mayer 2000): „Während die Erstausbildung früher eine solide Grundlage für den weiteren Berufsverlauf darstellte, ist heute eine fortlaufende Strategie der Weiterbildung (lebenslanges Lernen) mit dem Ziel einer Anpassung an die im spezifischen Arbeitskontext benötigten Fertigkeiten und Fähigkeiten in den meisten Berufsfeldern unerlässlich“ (Schömann und Leschke 2004: 353). 1 Eine kürzere Version des Kapitels ist bereits im Lehrbuch Arbeitsmarktsoziologie erschienen. Wir danken den beiden Herausgebern und Martin Abraham und Thomas Hinz sowie – stellvertretend für den VS Verlag für Sozialwissenschaften – Frank Engelhardt für die großzügige Genehmigung, den nunmehr erweiterten und aktualisierten Beitrag abdrucken zu dürfen. 2 In Anlehnung an die einzige offizielle Definition von Weiterbildung durch den Deutschen Bildungsrat (1970) verstehen wir unter beruflicher Weiterbildung jeden organisierten Bildungsvorgang nach einer vorherigen schulischen bzw. beruflichen Ausbildung, der nach der Aufnahme der ersten Berufstätigkeit stattfindet. Berufliche Weiterbildung umfasst alle institutionalisierten Lernprozesse, die entweder an eine in einem formalen (Erst-)Ausbildungsgang erworbene oder an eine durch Berufserfahrung gewonnene Qualifikation anknüpfen und eine weitere berufliche Bildung intendieren. Berufliche Weiterbildung ist generell gesehen einerseits an vorhergehende Ausbildungen und Bildungsabschlüsse einer formalen Erstausbildung und andererseits an eine langjährige Arbeitsmarktintegration gebunden. Demnach hängen Motivationen und Chancen für berufliche Weiterbildung wesentlich vom vorhergehenden Erwerb von schulischer oder beruflicher Erstausbildung und Berufserfahrung ab. Informelle Formen des beruflichen Qualifikationserwerbs werden trotz ihres Bedeutungszuwachses im Allgemeinen nicht zur beruflichen Weiterbildung im engeren Sinne gezählt.
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Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene soll berufliche Weiterbildung zur Verhinderung und zum Abbau von Massenarbeitslosigkeit, zur Konvertierung der Qualifikationsstruktur an die Anforderungen eines im Wandel begriffenen Arbeits- und Gütermarktes und zur sozialen Verträglichkeit unintendierter Konsequenzen des gesellschaftlichen Wandels beitragen (Becker 2000; Schömann und Becker 1995). Offensichtlich besteht generelle Einigkeit über die zunehmende Bedeutung von beruflicher Weiterbildung für gesellschaftliche Entwicklung und individuelle Entfaltung (Baethge 1992: 313) sowie über den positiven Nutzen von Weiterbildung für die Angebots- und Nachfrageseite des Arbeitsmarktes (Behringer 1995). Berufliche Weiterbildung wird somit als eine gesellschaftliche Zukunftsinvestition, als ein Kollektivgut definiert, das Teilnehmern, Unternehmen, Staat und Gesellschaft gleichermaßen Nutzen stiftet. In der Wirtschaftspolitik wird es als notwendig angesehen, das vorhandene Potential an Humankapital zu aktivieren, dessen Produktivität zu erhöhen und permanent an die Anforderungen der modernen Technologie und Arbeitsprozesse anzupassen (Pischke 2001: 524). Für die Bewältigung dieser Herausforderungen wird der beruflichen Weiterbildung eine herausragende Rolle zugeschrieben (Buttler 1994: 33). Die Transmission oder Diffusion von Wissen und Fähigkeiten über systematische, kontinuierliche und institutionalisierte berufliche Weiterbildung ist ein wichtiger Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung und die Anhebung der Produktivität von Beschäftigten (Schömann 1998). Ergänzend wird aus arbeitsmarktpolitischer Sicht auf die zunehmend wichtiger werdende Rolle von Humankapital als Standortfaktor verwiesen (Düll und Bellmann 1999), das für die ökonomische Modernisierung genutzt und über entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen ausgeweitet werden müsse (Buttler und Tessaring 1993). In sozialpolitischer Hinsicht kann das Angebot an beruflicher Weiterbildung als eine Möglichkeit angesehen werden, Brüche von Berufs- und Lebensverläufen zu verhindern oder zumindest abzumildern. Damit fungiert berufliche Weiterbildung ähnlich wie die duale Berufsausbildung als „Sicherheitsnetz“ und „Auffangbecken“ in der Schnittmenge zwischen Bildungssystem und Arbeitsmarkt. Gerade für das Gelingen der noch andauernden ostdeutschen Transformation im Sinne einer Systemintegration sind über berufliche Weiterbildung vor allem qualifikationsbedingte Arbeitslosigkeit, endgültige Verdrängung von Erwerbspersonen aus dem Erwerbsleben und Exklusion von beruflichen Positionen und Gütern zu vermeiden (Becker 2000). Auf diese Weise kann berufliche Weiterbildung zur Sozialintegration von Erwerbspersonen beitragen. Für Individuen liegt die Bedeutung von beruflicher Weiterbildung generell in der Erhaltung beruflicher Fertigkeiten, Weiterentwicklung vorhandener Qualifikationen und in der Verbesserung von Erwerbs- und Einkommenschancen in der systematischen Erweiterung beruflicher Optionen. Abgesehen von gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und organisationsökologischen Entwicklungen (Gründung neuer Betriebe und Scheitern älterer Betriebe) dürften Beschäftigungschancen und Arbeitslosigkeitsrisiken auch davon abhängen, ob Arbeitnehmer ihre erworbene Bildung mobilisieren und sich über berufliche Weiterbildung an neue Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben anpassen können (Weber 1992: 41). Daher müsse das Weiterbildungsangebot durch den Staat und bei den Betrieben ausgeweitet werden, weil die Erstausbildung nicht mehr für den lebenslangen Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit ausreichen. Aus bildungs- und arbeitsmarktsoziologischer Sicht interessieren vornehmlich die Sozialstruktur der Beteiligung an beruflicher Weiterbildung einschließlich ihres Wandels
Berufliche Weiterbildung – theoretische Perspektiven und empirische Befunde
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sowie die Folgen, die daraus für Arbeitnehmer, Arbeitssuchende und Arbeitgeber resultieren. Aus der Angebotsperspektive des Arbeitsmarktes ergeben sich daher folgende Fragen: (1) Wer nimmt wann und wie oft im Berufsverlauf unter welchen Umständen und Voraussetzungen an beruflicher Weiterbildung teil? Von welchen individuellen Ressourcen und Optionen einerseits und von welchen gesellschaftlichen Verhältnissen und Arbeitsmarktstrukturen andererseits werden die relativen Chancen für berufliche Weiterbildung strukturiert? Es sollen Zugangschancen und Bestimmungsgründe für Weiterbildungsaktivitäten erfasst werden. Indikatoren für die soziale Selektivität von Weiterbildungsteilnahmen sind zum einen die Reichweite von beruflicher Weiterbildung, gemessen an den absoluten Teilnehmerzahlen oder den relativen Teilnahmequoten. Zum anderen sind es sowohl sozial- und berufsstrukturelle Merkmale der Teilnehmer und Nichtteilnehmer an beruflicher Weiterbildung einschließlich ihrer individuellen Bildungs- und Berufsverläufe sowie strukturelle Merkmale ihrer Beschäftigungsverhältnisse und Platzierung im Arbeitsmarkt. Sie liefern Informationen über die Nachfrage nach beruflicher Weiterbildung und über soziale Ungleichheiten von Weiterbildungschancen. Betrachtungen von Weiterbildungsteilnahmen im kontinuierlichen Längsschnitt liefern zudem Informationen über Struktur und Akkumulation von beruflicher Weiterbildung sowie über das „Weiterbildungsvolumen“ im Lebensverlauf. (2) Welche Konsequenzen haben Teilnahmen an beruflicher Weiterbildung? Die Frage nach den Verwertungschancen einer erfolgten beruflichen Weiterbildung zieht die Frage nach sich, was als Nutzen von beruflicher Weiterbildung oder als Wirksamkeit von Weiterbildungsmaßnahmen definiert werden soll. Zum einen ist das von Teilnehmenden subjektiv intendierte Ziel einer Weiterbildungsaktivität von Zielen der Anbieter von beruflicher Weiterbildung und Zielsetzungen angebotener Weiterbildungsprogramme zu unterscheiden. So kann der individuell erwartete Nutzen darin bestehen, berufliche Kenntnisse aufzufrischen oder zu erweitern, zusätzliche Einkommen oder günstigere Arbeitsbedingungen zu erzielen, berufliche Aufstiege oder Neuorientierungen zu realisieren, Arbeitsmarktflexibilität zu erhöhen, Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder eine bestehende zu beenden. Aus Sicht der Weiterbildungsanbieter können betriebswirtschaftliche Interessen oder arbeitsmarkt-, bildungs- und sozialpolitische Zielsetzungen vorliegen. Gerade bei überbetrieblichen, staatlich initiierten und finanzierten Weiterbildungsprogrammen bemisst sich die Wirksamkeit von Maßnahmen daran, in welchem Ausmaß politisch definierte Ziele erreicht wurden. Beispielsweise sind Umschulungsmaßnahmen dann wirksam, wenn Teilnehmer erfolgreich umgeschult werden und anschließend wieder langfristig beschäftigt werden. Bei Betrieben wären Produktivitätssteigerungen, innerbetriebliche Reorganisation und zusätzliche Gewinne angemessene Indikatoren für die Wirksamkeit betrieblicher Weiterbildung. Inwieweit Verwertungschancen letztlich realisiert worden sind, kann aus Sicht von Teilnehmern beispielsweise anhand von Indikatoren wie Einkommens- und Statusgewinne, Dauer von Betriebszugehörigkeit und Betriebswechselraten, Arbeitslosigkeitsrisiken, Dauer von Arbeitslosigkeitsepisoden und Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen beurteilt werden. Verwertungschancen von beruflicher Weiterbildung können zusätzlich an Zeitdauern bis zum Einsetzen von erwarteten und unerwarteten Nutzen bemessen werden. Aus einer Längsschnittperspektive sind Wirkungen beruflicher Weiterbildung danach zu bemessen, zu welchem Zeitpunkt sich Einkommensgewinne aus beruflicher Weiterbildung ergeben oder wie lange es dauert, bis Arbeitslose wiederbeschäftigt werden und wie lange sie in Beschäftigung bleiben. Zum anderen ist bei der Evaluation von beruflicher Weiterbildung zu berücksichtigen, dass meist bestimmte strukturelle und institutionelle Voraussetzungen auf dem
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Arbeitsmarkt gegeben sein müssen, damit sich der intendierte Nutzen einstellt. Aus naheliegenden Gründen kann berufliche Weiterbildung beispielsweise als arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium für die Wiederbeschäftigung Arbeitsloser nur gelingen, wenn vakante Arbeitsplätze mit entsprechenden Qualifikationsanforderungen angeboten werden (Blaschke und Nagel 1995; Kasparek und Koop 1991).
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Berufliche Weiterbildung – ein Definitionsversuch
Gemessen an den finanziellen Ausgaben von Anbietern und Nachfragern sowie der Zahl der Träger und Anbieter ist Weiterbildung die „vierte Säule“ des deutschen Bildungswesens (hinter Schule, Berufsausbildung im dualen System und Hochschule) und zudem der größte Bildungssektor Deutschlands. Bislang gibt es wegen fehlender gesetzlicher Regelung des Weiterbildungssektors keine eindeutigen Definitionen von beruflicher Weiterbildung, sondern mehr oder weniger pragmatische Begriffsabgrenzungen, die sich zumeist an der vom Deutschen Bildungsrat (1970: 197) vorgelegten Definition orientieren (Becker 1991: 355): Demnach ist berufliche Weiterbildung jeder Bildungsvorgang nach einer vorherigen schulischen bzw. beruflichen Ausbildung, der nach der Aufnahme der ersten Berufstätigkeit stattfindet. Berufliche Weiterbildung umfasst alle organisierten und damit auch institutionalisierten Lernprozesse, die entweder an eine in einem formalen Erstausbildungsgang erworbene oder an eine durch Berufserfahrung gewonnene Qualifikation anknüpfen und eine weitere berufliche Bildung intendieren. Berufliche Weiterbildung ist – generell gesehen – einerseits an vorhergehende Ausbildungen und Bildungsabschlüsse einer formalen Erstausbildung und andererseits an eine langjährige Arbeitsmarktintegration gebunden. Motivationen und Chancen für berufliche Weiterbildung hängen folglich wesentlich von schulischer oder beruflicher Erstausbildung und Berufserfahrung ab (Becker 1993). Informelle und andere nicht-formale Formen des beruflichen Qualifikationserwerbs werden trotz ihres Bedeutungszuwachses im Allgemeinen nicht zur beruflichen Weiterbildung im engeren Sinne gezählt (Büchel und Pannenberg 2004: 76). Jedoch wird gerade deswegen diese Definition von beruflicher Weiterbildung im engeren Sinne als „überholt“ angesehen, da dezentralisierte und informelle Weiterbildungsformen an Bedeutung gewinnen wie etwa ‚onthe-job training‘, selbstgesteuertes Lernen (z.B. Lesen von Fachbüchern oder Fachzeitschriften) oder informelle Weiterbildungen auf Fachtagungen oder -messen (Kuwan et al. 2003; Schömann und Leschke 2004). Allerdings ist diese Begriffsdefinition von „Weiterbildung im weiteren Sinne“ schwerlich empirisch messbar, da praktisch jede sinnliche Wahrnehmung einschließlich Fernsehkonsum unter Weiterbildung zu subsumieren wäre (Büchel und Pannenberg 2004: 76). So schlägt Weiß (1990: 15) vor, berufliche Weiterbildung als „organisiertes Lernen“ zu definieren und alle Maßnahmen zu berücksichtigen, die der Aneignung von berufsbedeutsamen Handlungskompetenzen dienen. Berufliche Weiterbildung umfasst verschiedene Formen der Weiterqualifizierung, die nicht nur das Ziel haben, auf der Grundlage eines erlernten oder ausgeübten Berufes berufsspezifische und berufswichtige Kenntnisse, Fertigkeiten, Einsichten und Verhaltensweisen von Arbeitnehmern bzw. Arbeitslosen zu vertiefen oder zu erweitern oder dem aktuellen Kenntnisstand in einem Berufszweig anzupassen, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu sichern oder zu ermöglichen (Noll 1987: 144; vgl. Kemp 1976; siehe auch §1 Berufsbildungsgesetz Abs. 3. Geänderte Fassung vom 23. Dezember 2002.
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BGBl. I S. 4621). Daran orientiert sich auch eine Aufteilung beruflicher Weiterbildung in betriebliche Weiterqualifizierung, in Umschulungs- und in Fortbildungsmaßnahmen (einschließlich der Anpassungs- und Aufstiegsweiterbildung) (Kuwan 1993; Noll 1987).3 Zudem dominiert neben der Abgrenzung von beruflicher Weiterbildung nach dem Ort ihrer Durchführung (betriebliche, außer- und überbetriebliche Weiterbildung) und dem Erwerbsstatus (außerhalb oder während einer Erwerbstätigkeit) eine funktionalistische Sicht von beruflicher Weiterbildung. Es wird zwischen Anpassungsfunktion, Aufstiegsfunktion und Nachholfunktion unterschieden. Eine Anpassungsfortbildung zielt darauf ab, Erwerbspersonen ihre Qualifikationen zu erhalten, zu aktualisieren und spezialisieren. Einerseits dient sie damit Erwerbstätigen, die ihre Qualifikationen erhalten und ihren Arbeitsplatz sichern wollen, andererseits hat sie auch eine kurative Funktion, um bislang auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten Personen behilflich zu sein oder wenn Arbeitslose über berufliche Anpassung wieder in eine Beschäftigung gelangen sollen. So sieht Schmid (2002) berufliche Weiterbildung als einen „Übergangsarbeitsmarkt“, wenn Trainingsmaßnahmen für arbeitslose Leistungsempfänger (beispielsweise durch Eignungsfeststellung für bestimmte berufliche Tätigkeiten oder die Vermittlung zusätzlicher Qualifikationen nach §§ 48-52 SGB III oder Fort- und Weiterbildung nach §§ 77-96 SGB III) über eine „Übergangsbeschäftigung“ auf eine unmittelbare Aufnahme in Erwerbstätigkeit zielen. Bei der Umschulung die berufliche Rehabilitation oder berufliche Reaktivierung über eine grundlegende berufliche Neuorientierung liegt die kurative Funktion darin, dass Personen, nachdem sie ihren vorherigen Beruf nicht mehr ausüben können, über das Lernen eines neuen anerkannten Ausbildungs- und Erwerbsberufes oder einer neuen beruflichen Tätigkeit in das Beschäftigungssystem integriert werden sollen. Eine Aufstiegsfortbildung hat zum Ziel, Teilnehmern Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen. Schließlich soll berufliche Weiterbildung über eine Nachqualifizierung oder Korrektur beruflicher Fehlentscheidungen das Nachholen von Bildungsabschlüssen ermöglichen (Nachholfunktion). 3 Privatwirtschaftliche Betriebe zählen quantitativ zu den bedeutendsten Anbietern von beruflicher Weiterbildung (Lipsmeier 1990: 368). Im Zeitraum von 1991 bis 2000 werden bundesweit zwischen 44 und 53 Prozent der Teilnahmefälle und rund ein Drittel des Weiterbildungsvolumens der Erwerbspersonen von Arbeitgebern und Betrieben getragen (Kuwan et al. 2003: 240-241). Andere Datengrundlagen wie etwa der Mikrozensus oder das IABBetriebspanel bestätigen die Ergebnisse des „Berichtssystem Weiterbildung“, dass nahezu die Hälfte der beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen an Unternehmen gebunden sind – sei es als Weiterbildungsort oder sei es als Initiator oder Finanzierer (Bellmann 2003). Auch bei den Ausgaben für berufliche Weiterbildung ist die herausragende Stellung privatwirtschaftlicher Betriebe offensichtlich. So wurde vom Institut der deutschen Wirtschaft ein Anstieg der betrieblichen Weiterbildungskosten von 8 Milliarden DM zu Anfang der 1980er Jahre auf über 37 Milliarden DM im Jahre 1992 festgestellt (Weiß 1994). Bis Ende der 1990er Jahre lagen die betrieblichen Aufwendungen für Weiterbildung bei rund 34 Milliarden DM, also rund 17 Milliarden Euro (Kuwan et al. 2003: 286). Fast jeder zweite Beschäftigte in diesen Firmen hat mindestens einmal ein Weiterbildungsangebot wahrgenommen. In den letzten Jahren gingen bei gleichbleibenden Teilnahmequoten das Weiterbildungsvolumen, gemessen an der Zeit, die für berufliche Weiterbildung von den Teilnehmern aufgewendet wurde, sowie die finanziellen Aufwendungen pro Teilnehmer zurück (Weiß 1994, 2000). Diese letzteren Befunde sind zum einen wegen des weitgefassten Verständnisses von beruflicher Weiterbildung (es werden neben internen und externen Lehrveranstaltungen auch die Teilnahme an Informationsveranstaltungen und Umschulungsmaßnahmen, das Lernen in der Arbeitssituation sowie das selbstgesteuerte Lernen mit Medien dazugerechnet) und der relativ geringen Rücklaufquoten von rund 15 Prozent bei den Betrieben mit einiger Vorsicht zu interpretieren. Einer engeren Definition von beruflicher Weiterbildung zufolge nehmen rund ein Drittel der Beschäftigten in Betrieben an Weiterbildung teil, was der Teilnehmerquote der Europäischen Weiterbildungserhebungen (CVTS) entsprechen würde (vgl. Egner 2001). Des Weiteren zeigt die geschilderte Entwicklung beim Angebot und bei der Nutzung von betrieblichen Weiterbildungsaktivitäten, dass betriebliche Weiterbildung konjunkturellen Entwicklungen folgt, und nicht antizyklisch zum Konjunkturverlauf erfolgt (Becker 1993; Maase und Sengenberger 1976).
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Wird die enge Definition von beruflicher Weiterbildung erweitert, kann berücksichtigt werden, dass die Einarbeitung (vor allem neu eingestellter) Beschäftigter kurzfristig am Arbeitsplatz zusätzliche Kenntnisse vermittelt sei es über mehr oder weniger organisiertes Lernen (Anlernen, Qualitätszirkel, Lernstattgruppen, Lerninseln, Coaching, Jobrotation, etc.) oder über prozessbegleitendes, informelles Lernen wie etwa ‚learning by doing‘ oder ‚on-the-job training‘ (Büchel und Pannenberg 2004: 76). In ihrer Integrationsfunktion dient berufliche Weiterbildung als Ausgleichs- und Profilierungsinstrument, das zur Arbeitsplatzsicherheit, zum Schutz vor Arbeitslosigkeit und zum Nachholen fehlender Bildungszertifikate beitragen soll. Schließlich wird der beruflichen Weiterbildung auch eine allgemeinbildende Funktion zugeschrieben, wenn über eine fortgesetzte Bildung weiteres Wissen und weitere Kompetenzen vermittelt werden sollen. Somit zählt neben der beruflichen Qualifizierung und sozialen Integration auch die kulturelle Bildung zu den Aufgaben beruflicher Weiterbildung. Die Rolle von betrieblicher Weiterbildung wird aus unterschiedlichen theoretischen Positionen vornehmlich funktionalistisch bestimmt. Aus Sicht der Unternehmer ist sie nicht nur ein Instrument für betriebsinterne Qualifikationsanpassung, sondern dient der Durchsetzung neuer Produktionskonzepte und vor allem der Personalpolitik (Sengenberger 1982: 264): „Betriebliche Weiterbildung (...) wird von den Betrieben autonom, d.h. weitgehend ohne gesetzliche Regelungen, gestaltet. Sie orientiert sich an den Interessen des Betriebes, besteht überwiegend aus Kurzzeitmaßnahmen, richtet sich vorwiegend an ausgewählte betriebliche Funktionsträger und dient zwei Zielen: der betriebsbezogenen fachlichen Qualifizierung und der Herstellung und Sicherung von Loyalität bzw. der Absicherung betrieblicher Arbeitsstrukturen und Weisungshierarchien“ (Voigt 1986: 42). Maßnahmen der betrieblichen Weiterbildung zeichnen sich im Unterschied zu staatlich geförderten Maßnahmen durch ein größtenteils fehlendes Zertifikat und wegen ihrer Ausrichtung auf kurzfristige Verwertbarkeit und betriebsorganisatorische Zielsetzungen auf betriebsspezifische und arbeitsplatz- bzw. tätigkeitsspezifische Einarbeitungsmaßnahmen aus. Aus bildungsökonomischer Sicht dient betriebliche Weiterbildung der Anpassung der vorhandenen Qualifikationen an die technologische Entwicklung und an die sich ändernde Arbeitsorganisation („technologischer Funktionalismus“, Schmitz 1978). Aufgrund von empirischen Befunden scheint jedoch keine unmittelbare Determination betrieblicher Weiterbildung durch technologischen Strukturwandel und organisatorischer Veränderungen der betrieblichen Organisations- und Personalstruktur vorzuliegen (Dostal 1991). Dem sozialisationstheoretischen Ansatz zufolge bieten Betriebe berufliche Weiterbildung an, um die Loyalität der Beschäftigten mit dem Betrieb zu sichern und die Identifikation mit den betrieblichen Zielen und Strukturen herzustellen. Damit soll die permanente Arbeitsmotivation hinsichtlich der Kooperation des Beschäftigten mit dem Betrieb als soziale Fähigkeit erzeugt werden. Aus segmentationstheoretischer Perspektive ist betriebliche Weiterbildung ein Instrument der Förderung innerbetrieblicher Arbeitsmärkte. Sie stellt ein „wichtiges Teilinstrument im Rahmen einer mehr oder weniger kohärenten betrieblichen Personal- und Beschäftigungspolitik“ dar (Sengenberger 1982: 261). Die instrumentelle Funktion liegt dabei in der Versorgungsfunktion, um anstelle von kostenintensiven Außenrekrutierungen das betriebseigene Qualifikationsangebot zu sichern und an die Betriebe zu binden (Maase und Sengenberger 1976: 172). Über die Anpassungsfunktion betrieblicher Weiterbildung sind Betriebe von außerbetrieblichen Qualifikationen relativ unabhängig. Letztlich dient die Eigenproduktion von Qualifikationen der Legitimation interner Arbeitskräfteallokation und
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Chancenzuteilung im betrieblichen Arbeitsmarkt und als eine Informationsfunktion für die Personalpolitik (Sengenberger 1982: 262-263). Des Weiteren stellt das Angebot und die Gewährung von Weiterbildung eine betriebliche Gratifikationsleistung dar, die als Selektions- und Allokationsinstrument für innerbetriebliche Beförderung und höhere Betriebsbindung eingesetzt werden kann (Becker 1993; Becker und Schömann 1996).
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Theoretische Erklärungsansätze für Weiterbildungsaktivitäten und ihre Folgen
Theoretische Ansätze zur Erklärung von Teilnahme an beruflicher Weiterbildung können zum einen idealtypisch danach eingeteilt werden, ob die Weiterbildungschancen unter der Kontrolle von Erwerbspersonen stehen (Selbstselektion) und in welchem Ausmaß sie von Dritten (z.B. Unternehmen und Personalmanagement bei betrieblicher Weiterbildung oder Festlegung von Zielgruppen bei staatlich finanzierten Weiterbildungen) kontrolliert werden (Fremdselektion) (Büchel und Pannenberg 2004: 75). Zum anderen kann eine Aufteilung nach der analytischen Ebene vorgenommen werden, so dass zwischen individualistischen, strukturalistischen bzw. institutionalistischen und schließlich strukturell-individualistischen Erklärungsansätzen unterschieden werden kann. Im Folgenden beschränken wir uns auf die Humankapitaltheorie, die Signal- und Filtertheorie, das Arbeitsplatzwettbewerbsmodell und schließlich auf die Theorie segmentierter Arbeitsmärkte. Diese Ansätze schließen die verschiedenen Analyseebenen in unterschiedlichem Maße ein.
3.1 Humankapitaltheorie Eine prominente Theorie, um gleichermaßen Teilnahme an beruflicher Weiterbildung als auch die daraus resultierenden Renditen zu erklären, ist die dem neoklassischen Paradigma der Mikroökonomie zugehörige Humankapitaltheorie (Schultz 1961; Ben-Porath 1967; Becker 1975; Mincer 1974). Sie postuliert einen kausalen Zusammenhang zwischen formaler Bildung und Lebenseinkommen. Je mehr eine Person in ihre Ausbildung sei es in schulische und berufliche Bildung oder in Weiterbildung investiert hat, umso größer sind deren zu erwartende Renditen in Form von Einkommen. Aus humankapitaltheoretischer Sicht wird daher davon ausgegangen, dass die Qualifizierung im Berufsleben an sich keinen Selbstzweck darstellt. Vielmehr beteiligen sich Individuen an beruflicher Weiterbildung, um ihre Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen substantiell zu verbessern. Die Bereitschaft vonseiten des Unternehmens, zumindest einen Teil der Kosten einer Weiterqualifizierung zu übernehmen, dürfte vor allem dann bestehen, wenn die Mitarbeiter nicht bereit sind, die Kosten für berufliche Weiterbildung selbst zu tragen und vor allem wenn keine Abwanderung der weitergebildeten Arbeitskräfte zu befürchten ist (Hübler und König 1999: 263; Düll und Bellmann 1998). Bei Investitionen in das betriebsspezifische Humankapital, um die Arbeitsproduktivität des Arbeitnehmers ausschließlich im Betrieb zu erhöhen, ist im Unterschied zu Investitionen in das allgemeine Humankapital das Risiko einer Abwanderung der Weiterbildungsteilnehmer aus dem Betrieb geringer (Büchel und Pannenberg 2004: 78). Um die Erträge betriebsspezifischen Humankapitals langfristig
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abzusichern, existieren in solchen Betrieben oftmals Rückzahlungsklauseln, die den Arbeitnehmer an den entstandenen Qualifizierungskosten beteiligen, wenn er den Betrieb nach Abschluss einer vom Betrieb finanzierten Weiterbildungsmaßnahme verlässt (Leber 2000). Aus Sicht der Arbeitnehmer hingegen stellt sich die Frage, ob ihr individueller Aufwand und ihre gestiegene Produktivität tatsächlich mit einer Beteiligung an den höheren Erträgen (höheres Einkommen, Beförderung) belohnt werden.4 Je spezifischer ihr erweitertes Humankapital ist, umso abhängiger (und potentiell ausbeutbar) sind Arbeitnehmer vom Arbeitgeber. Je breiter verwertbar das erweiterte Humankapital ist, umso eher können Arbeitnehmer eine Einkommensverbesserung durch Arbeitsplatzwechsel erzielen. Laut ursprünglicher Version des Humankapitalmodells werden Bildungsentscheidungen von rationalen, ihren Nutzen maximierenden Akteuren unter perfekter Information getroffen; damit sind berufliche Weiterbildungen eigentlich gar nicht vorgesehen (oder höchstens Weiterbildung im Sinne einer fortgesetzten Erstausbildung) und die Erträge von Bildungsmaßnahmen sind im Modell nicht mit Unsicherheit behaftet, sondern eher „risikoneutral“. Die Humankapitaltheorie wird in dieser Hinsicht vielfach kritisiert. Das Bildungsniveau korreliert zwar tatsächlich positiv mit dem Einkommen; die Befunde dazu sind stabil. Aber der Zusammenhang zwischen Bildung und wirtschaftlichem Erfolg scheint erheblich komplexer zu sein, als dies die Humankapitaltheorie impliziert (Timmermann 2002: 94). Ihre Sichtweise bedingt zum einen, dass – wenn das Angebot an beruflicher Weiterbildung das individuelle Handlungsset bestimmt und die ökonomische Verwertbarkeit den Sinn, in berufliche Weiterbildung zu investieren, ausmacht – die Weiterbildungsangebote auch bekannt und die langfristigen Erträge von Bildungsinvestitionen abschätzbar sein müssen. Das funktioniert jedoch nur im Rahmen eines langfristig relativ stabilen Bildungssystems und Arbeitsmarktes (Tuma 1985; Buchmann et al. 1999: 17). Zum anderen wird diese Transparenz des „Weiterbildungsmarktes“ von den Arbeitnehmern generell nicht so gesehen. Beispielsweise glaubt, so die Befunde des Berichtsystems Weiterbildung (Kuwan et al. 2003), knapp die Hälfte des gesamtdeutschen und lediglich ein Drittel des ostdeutschen Erwerbspotenzials einen Überblick über das Weiterbildungsangebot zu haben, während mehr als 40 Prozent der Befragten gegenteiliger Ansicht ist. In dieser Hinsicht kann beim Weiterbildungssektor nicht von einem vollkommenen Markt im Sinne der ökonomischen Theorie ausgegangen werden (Buttler 1994). So wünschen sich mehr als ein Drittel der Befragten mehr Informationen über Weiterbildungsmöglichkeiten. Zudem besteht bei einem Teil der west- und ostdeutschen Erwerbspersonen eine generelle Unsicherheit über 4 Während aus Sicht von Arbeitgebern das Anliegen von Weiterbildung ihrer Beschäftigten in der zusätzlichen Qualifizierung und Produktivitätssteigerung besteht, ist für Erwerbspersonen die zusätzliche Qualifizierung ein Zwischenprodukt, um über Einkommenssteigerungen und Beförderungen den sozialen Status zu verbessern oder zumindest zu erhalten. Erfolgt die berufliche Weiterbildung selbstbestimmt durch die Erwerbsperson, dann ist vermutlich der Statuserhalt ein dominantes Motiv für die Weiterbildungsteilnahme. Berufliche Weiterbildung würde dann an die schulische und berufliche Ausbildung anknüpfen, die dem Erhalt des sozialen Status diente, den die Eltern bereits erreicht haben. So bilden sich höher gebildete Personen eher weiter als weniger gebildete Personen (Becker 1991). In Einzelfällen dient Weiterbildung auch dazu, defizitäre Bildung auszugleichen, die eine intergenerationale Weitergabe des Sozialstatus gefährden würde (vgl. Müller 1977). Solche Präferenzstrukturen dürften vor allem bei Personen aus der Mittelschicht zu beobachten sein, was wiederum die soziale Selektivität bei der Teilnahme an beruflicher Weiterbildung teilweise erklärt (vgl. Buchmann et al. 1999). So sind es neben den sozialen Aufsteigern gerade die mittleren und höheren Angestellten und Beamte, die sich regelmäßig weiterbilden. Erfolgt die Weiterbildungsteilnahme fremdbestimmt durch Vorgaben seitens des Vorgesetzten oder wegen gesetzlicher Verpflichtung (wie etwa bei Beamten), dann steht eher die Qualifizierung im Vordergrund, und der mit der Weiterbildung einhergehende Gewinn an Sozialstatus ist eher ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt.
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die Rentabilität von Weiterbildungsmaßnahmen (Kuwan et al. 2003; Schömann und Leschke 2004). Ferner tritt bei einer Weiterbildungsentscheidung das Problem auf, „dass die Kosten der Maßnahme in der Regel sofort anfallen und zu einer unmittelbaren finanziellen Belastung führen, während der Nutzen zunächst ungewiss ist und, wenn überhaupt, erst nach und nach realisiert werden kann“ (Bardeleben et al. 1994: 10). Zudem ist es für Individuen kaum möglich, den Nutzen quantitativ einzuschätzen, und somit sind Investitionen in die Weiterbildung nicht ohne Risiko (Beicht und Walden 2006: 328). Die individuelle Beurteilung des Nutzens beruflicher Weiterbildung hängt auch von Erfüllung der Erwartungen ab (Behringer 1996: 87). Nach Bardeleben et al. (1994: 16) sahen sie mehr als ein Drittel der westdeutschen Teilnehmer und fast ein Viertel der ostdeutschen Teilnehmer als erfüllt an, wobei jedoch keine Informationen vorliegen, ob Nichtteilnehmer ihre Nichtteilnahme bedauert haben. Diese Befunde werden sowohl von Schömann und Leschke (2004) als auch von Büchel und Pannenberg (2006) untermauert. Vor dem Hintergrund der ursprünglichen Nutzenerwartungen beeinflusst die Evaluation des aktuell realisierten Weiterbildungsnutzens den „antizipierten Nutzen künftiger Weiterbildungen je nach dem positiv oder negativ und wirkt sich damit wahrscheinlich auf alle weiteren Entscheidungen aus“ (Beicht und Walden 2006: 328). In jüngeren Modellvarianten geht man aber von Akteuren mit beschränkter wie unvollständiger Information aus und von der Akkumulation von Humankapital als lebenslangem Prozess (Sesselmeier und Blauermel 1997: 57). Der Erwerb von Humankapital wird als Folge von sequentiellen Investitionsentscheidungen im Berufsverlauf konzipiert (Schönmann und Becker 1998: 284); berufliche Weiterbildung ist daher eine spezifische Form der Humankapitalinvestition im Lebenszyklus (Fitzenberger und Speckesser 2004). Demgemäß ist nicht nur die Erstausbildung wichtig, sondern auch die berufliche Weiterbildung stellt eine Investition in das Humankapital einer Person dar, sei es, dass sie den regulären Abschreibungen des Humankapitals entgegenwirken soll, der Anpassung an den technologischen Wandel dient oder eine Revision einer bereits getroffenen Berufsentscheidung ist. Einarbeitungszeit, „on-the-job training“ und Berufserfahrung sind ebenfalls dem Humankapital hinzuzurechnen. Arbeitslosigkeit dagegen beschleunigt die normale Alterung des Humankapitals (Schmid 2002: 67). Für alle Formen von Bildung im Allgemeinen und für die berufliche Weiterbildung im Besonderen gilt dabei, dass eine Bildungsinvestition für Arbeitnehmer nur dann rational ist, wenn die aufgewendeten Kosten für Ausbildung und die entgangenen Verdienstmöglichkeiten während den Bildungsphasen durch zukünftige Lebenseinkommen wettgemacht werden.5 Somit gibt es ein optimales individuelles Humankapitalniveau und optimale Zeit5 Neben den direkten Teilnahmekosten fallen auch so genannte Opportunitätskosten an, die durch entgangene Einkommen wegen der Weiterbildungsteilnahme anfallen. Nach Beicht und Walden (2008: 328-329) verursachte im Jahre 2002 die berufliche Weiterbildung durchschnittlich 502 Euro pro Teilnehmer abzüglich aller erfolgter Kostenerstattungen. Direkte Kosten (Teilnahmekosten) wie etwa Teilnahmegebühr, Fahrtkosten oder Lern- und Arbeitsmittel umfassen drei Viertel der Gesamtkosten. Rund 25 Prozent der Gesamtkosten sind indirekte Opportunitätskosten wie etwa Einkommensverlust wegen unbezahlten Urlaubs, Erwerbsunterbrechung, Reduktion der Wochenarbeitszeit, Verzicht auf bezahlte Überstunden oder Aufgabe einer bezahlten Nebentätigkeit. „Die individuellen Gesamtkosten verteilen sich wie folgt auf die unterschiedlichen Formen beruflicher Weiterbildung: Über die Hälfte (55 %) entfällt auf die formalisierte Weiterbildung und knapp ein Viertel (23 %) auf selbst organisierte Lernprozesse. Die berufsbezogene Teilnahme an Kongressen, Tagungen und Fachmessen schlägt mit einem Kostenanteil von 14% zu Buche. Den geringsten Anteil hat die arbeitsnahe Weiterbildung mit 8%“ (Beicht und Walden 2006: 329). Nichtbetriebliche Weiterbildungen kosten die Teilnehmern mit durchschnittlich 856 Euro pro Teilnehmer mehr als betriebliche Weiterbildungen (285 Euro pro Teilnehmer), zumal die betriebliche Weiterbil-
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pfade der Verteilung der Bildungsinvestitionen. Die Antizipation der Verwertungschancen von Humankapitalinvestitionen ist von besonderer Bedeutung, da neben den Ressourcen für die Investitionen auch die Überzeugung vorhanden sein muss, dass sie sich auszahlen. So können Bardeleben et al. (1994) die Grundzüge der humankapitaltheoretischen Annahmen stützen, wonach vor allem Kosten-Nutzen-Überlegungen das individuelle Weiterbildungsverhalten strukturieren. Ihren Befunden zufolge ist der Trend zu ökonomisch rationalen Weiterbildungsentscheidungen vorherrschend, bei denen Geld- und Gebrauchswert von beruflicher Weiterbildung ins Kalkül gezogen werden (vgl. Beicht und Walden 2006: 328): „Fast alle Weiterbildungsentscheidungen werden deshalb auf einer Kosten-Nutzen-Basis getroffen. Die Bereitschaft der Privatpersonen, eigene finanzielle Mittel in die berufliche Weiterbildung zu investieren, hängt daher in hohem Maße von den individuellen Nutzenerwartungen ab. Gelingt es, den Nutzen, der sich in der Regel erst nach und nach einstellt, für die potentiellen Weiterbildungsteilnehmer sichtbar oder berechenbar zu machen, dann sind viele Erwerbspersonen bereit, die Kosten ihrer beruflichen Weiterbildung bzw. Teile davon selbst zu tragen“ (Bardeleben et al. 1994: 16). Eine explorative Studie über innerbetriebliche Weiterbildung ergab zudem, dass die Befragten die Notwendigkeit beruflicher Weiterbildung sehen, um höheres Einkommen auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen (Weltz et al. 1973: 19). Nach Weber (1989) ist vor allem bei minder qualifizierten Arbeitnehmern der monetäre Aspekt das dominierende rational kalkulierte Weiterbildungsmotiv. Beicht und Walden (2006: 328) weisen darauf hin, dass außer monetären Erträgen der individuelle Nutzen von beruflicher Weiterbildung in vielfältigen positiven Wirkungen materieller und immaterieller Art bestünde, „z.B. darin, das Risiko eines Arbeitsplatzverlustes zu vermindern, die berufliche Leistungsfähigkeit zu steigern, soziale oder berufliche Kontakte zu knüpfen, sich persönlich weiter zu entwickeln“. Weiterbildung wird als lohnend angesehen, wenn sich die individuellen Investitionen an Zeit, Anstrengungen und entgangenem Einkommen in die berufliche Weiterbildung langfristig rentieren (siehe auch Beicht und Walden 2006: 330-331). Theoretisch sollten Weiterbildungsaktivitäten mit zunehmendem Alter abnehmen, weil die verbleibende Zeit für die Amortisation der Kosten für Bildung und berufliche Weiterbildung sinkt. Altersspezifische Selbstselektion kommt durch die Begrenztheit der Lebensspanne, der zur Verfügung stehenden Zeit für die Amortisierung von Humankapitalinvestitionen und dem zeitabhängigen Grenznutzen von Bildungsressourcen zustande (Schömann 1994). Von Tuma (1985) wurde aus der Lebensverlaufsperspektive ein modifiziertes Humankapitalmodell für die Analyse von Karriereprozessen vorgelegt, das auch Entscheidungen bei unvollkommener Information, anfallenden Suchkosten und kurz- wie langfristigen Arbeitsmarktunsicherheiten berücksichtigt. Da wegen unvollkommener Markttransparenz und restriktiven Suchkosten auch Fehlallokationen seitens der Arbeitgeber und Fehlentscheidungen seitens der Arbeitnehmer auftreten können, müssen Arbeitgeber bei der Auswahl von Bewerbern auf Indikatoren über deren Produktivität zurückgreifen. Bei Fehlentscheidungen setzen verstärkt Mobilitätsbewegungen auf dem Arbeitsmarkt ein, um diese Fehlbedung vorwiegend von den Arbeitgebern übernommen werden, während bei nichtbetrieblicher Weiterbildung zumeist die Teilnehmer selbst die Kosten tragen müssen. Nach Beicht und Walden (2006: 331) beurteilten mehr als die Hälfte der Teilnehmer den Nutzen von beruflicher Weiterbildung als positiv, während 38 Prozent der Teilnehmer Aufwand und Nutzen im Gleichgewicht sahen und 9 Prozent der befragten Teilnehmer einen geringen oder keinen Nutzen feststellten: „Fast die Hälfte ist somit der Auffassung, dass die positiven Wirkungen den Aufwand nicht überstiegen haben“ (Beicht und Walden 2006: 331).
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setzungen und finanziellen Verluste auszugleichen. Weiterbildungszertifikate oder zumindest substanzielle Erfahrungen mit beruflicher Weiterbildung können Fehlallokationen verringern und zur Korrektur von Fehlentscheidungen beitragen. Für Westdeutschland belegen Studien für die Nachkriegszeit bis Anfang der 1980er Jahre, dass der erfolgreiche Abschluss einer beruflichen Weiterbildung sowohl das Risiko beruflicher Dequalifizierung als auch von Fehlallokationen auf dem Arbeitsmarkt verringert (Becker 1993).
3.2 Signal- und Filtertheorie Eine Herausforderung hat das humankapitaltheoretische Modell durch die Signaltheorie von Arrow (1973) und Filtertheorie von Spence (1973) erfahren, die beide primär die Suchkosten und möglichen Fehlallokationen seitens der Arbeitgeber berücksichtigen. Signal- und filtertheoretische Überlegungen gehen zum einen von Entscheidungen und vom Handeln der Individuen unter Unsicherheit und beeinträchtigter Markttransparenz aus („bounded rationality“ oder „structurally constrained rationality“) (Bills 1988) und sie bestreiten zum anderen die Produktivitätsthese der Humankapitaltheorie. Bildung soll selbst keinen Effekt auf die Leistungsfähigkeit bzw. Produktivität der Arbeitskräfte haben. Der von Arrow (1973) entwickelten Filtertheorie zufolge fungieren erworbene Zertifikate für den Arbeitgeber nur als Signal für die gewünschte Bildungsausstattung und antizipierte Produktivität und stellen somit ein Mittel für die Selektion von Arbeitskräften dar, um eine angemessene Zuordnung von Arbeitskräften zu Arbeitsplätzen mit einem der Bildung entsprechenden Anforderungsprofil zu gewährleisten. Arbeitgeber, die den Nutzen von Weiterbildung sehen, haben darüber hinaus das Interesse der Minimierung der Kosten für Humankapitalinvestitionen und der langfristigen Nutzung der weitergebildeten Arbeitnehmer. Ebenso wie das allgemeine Bildungssystem kann betriebsinterne und außerbetriebliche Weiterbildung die Funktion haben, Arbeitskräfte mit überdurchschnittlichem Produktivitätspotential aus der Menge der in einem Betrieb oder in einer Branche beschäftigten Arbeitnehmer herauszufiltern. Weiterbildungszertifikate haben als „screening device“ die Funktion, den Arbeitgebern die Auswahl der Beschäftigten bei Unsicherheit über das tatsächliche Produktivitätspotential der Arbeitnehmer zu erleichtern und teure Fehlbesetzungen von Arbeitsplätzen zu vermeiden (Stiglitz 1975). Überspitzt formuliert, können Arbeitgeber die Filterfunktion des allgemeinen Bildungswesens dazu verwenden, die Arbeitskräfte mit entsprechenden Zertifikaten entweder selbst fortzubilden oder in überbetriebliche Weiterbildungsmaßnahmen zu schicken, um gleichzeitig sowohl die Produktivität von Arbeitskräften zu erhöhen als auch die eigene Unsicherheit über das Produktivitätspotential von Arbeitskräften zu vermindern. Solche Selektionsprozesse scheint es vor allem in internen Arbeitsmärkten und in den höheren Laufbahnen des öffentlichen Dienstes zu geben. Aus der filtertheoretischen Sicht kann daraus die Hypothese abgeleitet werden, dass mit der Höhe des Bildungsniveaus auch die Weiterbildungschancen von qualifizierten Individuen zunehmen. Das Ergebnis wäre wiederum eine Überrepräsentanz von besser gebildeten Personen. Allgemein dürften vor allem die im Weiterbildungssektor erworbenen, Bildungszertifikate eine wichtige Signalwirkung für die Produktivität und Leistungs- und Arbeitsmotivation von Bewerbern und Arbeitnehmern haben (Becker und Schömann 1996). Diese Sichtweise entspricht weitgehend auch dem Konzept der statistischen Diskriminierung. Arbeitgeber sind bestrebt, Such- und Informationskosten möglichst geringzuhal-
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ten. Bildungsausstattungen von Bewerbern um Arbeitsplätze werden nicht mehr ausschließlich als individuelles Merkmal für berufliche Produktivität betrachtet, sondern als (stereotypes) Gruppenmerkmal für gewünschte Arbeitsorientierung, Lebensführung, sonstige Verhaltenseigenschaften (z.B. Neigung zu Absentismus, Kontinuität der Beschäftigung, Zuverlässigkeit, Lernfähigkeit, Motivation etc.) sowie Konformität mit Normen und Zielen eines Unternehmens (Woodhall 1995: 27; Chatman 1991: 460; Bornschier 1978: 449). Auf der anderen Seite setzen Arbeitgeber in ihrer Einstellungspraxis Signale dafür, welche Merkmale und Gruppen von Bewerbern sie präferieren (Weiss 1995: 133-134).
3.3 Theorie segmentierter Arbeitsmärkte Die bisher dargestellten Ausführungen suchen die Determinanten der Weiterbildungsbeteiligung und der Verwertungsmöglichkeiten im Handeln der Individuen selbst. Der Fokus liegt dabei auf individuellen Merkmalen, auf Bestimmungsfaktoren der Selbst- und Fremdselektion. Chancen, sich weiterzubilden, können aber nicht alleine davon bestimmt sein, sondern hängen auch von strukturellen Kontexten und Gelegenheiten ab. In prototypischer Weise gehen die verschiedenen strukturalistischen und institutionalistischen Arbeitsmarkttheorien davon aus, dass Gelegenheiten, Entscheidungen und Handlungen von Personen auf der Angebots- und Nachfrageseite des Arbeitsmarktes strukturellen und institutionellen Restriktionen unterliegen (Doeringer und Piore 1971; Cain 1976; Carroll und Mayer 1986). Segmentationstheoretische Ansätze gehen davon aus, dass der Arbeitsmarkt in voneinander abgeschottete Teilarbeitsmärkte gegliedert ist („Jedermannsarbeitsmärkte“, interne Arbeitsmärkte, berufsfachliche Arbeitsmärkte), und dass institutionelle Faktoren Mobilität, Fluktuation und Weiterbildungschancen auf dem Arbeitsmarkt strukturieren.6 Die Mobilität zwischen den verschiedenen Teilarbeitsmärkten ist eingeschränkt, die Zugänglichkeit zu den einzelnen Teilarbeitsmärkten ist – vor allem in den deutschsprachigen Ländern – stark über die Berufs- und Weiterbildung geregelt. Insgesamt unterscheiden sich die Segmente des Arbeitsmarktes systematisch bezüglich Einkommens-, Aufstiegs- und Weiterbildungschancen voneinander. Theorien segmentierter Arbeitsmärkte rücken im Unterschied zur Humankapitaltheorie, vor allem für die berufliche Fort- und Weiterbildung, strukturelle Aspekte und Fremdselektion ins Blickfeld. Die „Jedermannsarbeitsmärkte“ in großen Betrieben sind – unter typischen Wettbewerbsbedingungen – unqualifizierten Arbeitnehmern, sozialen Randgruppen und Ausländern „vorbehalten“ und zeichnen sich durch ungünstige Arbeits-, Lernbedingungen und Karrierechancen aus. In internen Arbeitsmärkten hingegen ist der Wettbewerb um knappe 6
Selektion durch strukturelle Beschränkungen ergibt sich zum Beispiel daraus, dass in manchen Arbeitsmarktbereichen keine Weiterbildungsangebote offeriert werden. Deswegen haben Beschäftigte in den unstrukturierten „Jedermannsarbeitsmärkten“ schlechtere Weiterbildungschancen als Beschäftigte in internen oder fachspezifischen Arbeitsmärkten (Becker 1993). Bei der Erklärung ungleicher Zugangschancen zu Weiterbildung von Männern und Frauen sind ebenfalls strukturelle Gegebenheiten zu beachten. Die geschlechtsspezifische berufliche Segregation trägt vermutlich zu geringeren Weiterbildungschancen bei Frauen bei. Denn die typischen Frauenberufe zeichnen sich häufig durch geringere Aufstiegsmöglichkeiten aus. Wenn zudem den Frauen eine kürzere Betriebsverweildauer und Karrierebereitschaft zugeschrieben wird (statistische Diskriminierung), dann wird die arbeitnehmerseitige Investition in ihre Weiterbildung wenig rentabel erscheinen. Allerdings können sich insbesondere große Firmen solche riskanten Entscheidungen erlauben, so dass hochqualifizierte Frauen in betriebsspezifischen Arbeitsmärkten vorteilhafte Weiterbildungschancen haben.
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Arbeitsplätze und Arbeitskräfte erheblich durch strukturelle Rahmenbedingungen und institutionelle Regelungen eingeschränkt. Dies sind zumeist Bereiche, in denen qualifizierte Arbeitnehmer beschäftigt und der Marktkonkurrenz weitgehend entzogen sind, die günstige Arbeitsbedingungen, Erwerbschancen und Möglichkeiten für Weiterbildung bieten. Große privatwirtschaftliche Firmen und Bereiche des öffentlichen Dienstes sind typische interne Arbeitsmärkte (Blossfeld und Mayer 1988; Becker 1990). In berufsfachliche Arbeitsmärkte finden Personen mit einer Berufsausbildung Zugang, die Beschäftigungsbedingungen und Karrierechancen sind verhältnismäßig gut, aber im Gegensatz zu internen Arbeitsmärkten ist eher eine horizontale zwischenbetriebliche Mobilität zu beobachten. Das Interesse der Arbeitgeber, die Arbeitskraft ihrer Arbeitsnehmer zu nutzen und dauerhaft in das Unternehmen einzubinden, unterscheidet sich je nach Arbeitsmarktsegment. Im unstrukturierten Arbeitsmarkt („Jedermannsarbeitsmärkte“ in kleinen und großen Betrieben) ist das Interesse der Arbeitgeber, ihre Arbeitnehmer auf lange Zeit zu beschäftigen, gering, daher bieten sich kaum Weiterbildungschancen. In den berufsfachlichen Teilmärkten gibt es wesentlich mehr Weiterbildungsangebote, zum Teil auch hochwertige, institutionell anerkannte Weiterbildungsgänge (Meisterkurse). Klein- und Mittelbetriebe sind aber häufig auf externe Weiterbildungsangebote angewiesen, weil sie die Kosten für eigene Weiterbildungsangebote nicht tragen können. Hinzu kommt, dass der Erwerb von Zusatzqualifikationen auch für solche Betriebe mit der Gefahr der Abwanderung verbunden ist, weil die Qualifikationen grundsätzlich auf andere Betriebe transferierbar sind. Das größte Weiterbildungsangebot ist in betriebsinternen Teilmärkten anzutreffen. Nach Kühnlein und Paul-Kohlhoff (2001) gibt es gegenwärtig einen allgemeinen Trend zur Privatisierung und ‚Verbetrieblichung‘ des Weiterbildungsgeschehens: „(…) soziale und Karrierechancen, die sich aus einer Weiterbildungsmaßnahme ergeben, werden zunehmend durch die (Personalabteilungen der) Betriebe verteilt, denen auf diese Weise vermittelt über die betriebliche Weiterbildung eine zentrale Rolle bei der Entscheidung über Zugänge zur Weiterbildung, Teilnahmebedingungen, aber auch in Bezug auf die inner- und außerbetriebliche Verwertbarkeit individueller Bildungsanstrengungen zukommt“ (dies.: 265). Die Expansion betrieblicher Weiterbildung wird durch Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien im privatwirtschaftlichen Produktions- und Dienstleistungsbereich vorangetrieben, welche an der zunehmenden Bedeutung von Anpassungsfortbildung abgelesen werden kann. Eine Förderung der Segmentation von Arbeitsmärkten ergibt sich durch eine technologisch induzierte Weiterbildung, die zur Verfestigung der Trennung zwischen gering- und hochqualifizierten Arbeitnehmern in Betrieben beiträgt. Berufliche Weiterbildung scheint insgesamt ein ideales Instrument zu sein, die Qualifikationen an die spezifischen Anforderungen des Betriebes anzupassen und gleichzeitig die Betriebsbindung der Arbeitnehmer zu stärken bzw. die Fluktuation im Betrieb geringzuhalten. Zudem erfüllt betriebliche Weiterbildung eine wichtige Funktion für die internen Rekrutierungs- und Beförderungsmechanismen: Weiterbildungsmaßnahmen sind ein rationales wie effizientes Element der Personalwirtschaft. Im Rahmen der Eigenproduktion von Qualifikationen haben die in betrieblichen Arbeitsmärkten zur „Stammbelegschaft“ gehörigen Beschäftigten die größeren Chancen zur Weiterbildung, weil ihnen höhere Arbeitsproduktivität und längere Betriebszugehörigkeit zugeschrieben wird und sich daraus für die Betriebe eine größere Chance der Amortisation der Qualifikationsinvestitionen ergibt (Maase und Sengenberger 1976: 172). Nach Sengenberger (1982) ist betriebliche Weiterbildung zudem ein Instrument zur Etablierung innerbetrieblicher Arbeitsmärkte. Innerbe-
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triebliche Weiterbildungsmaßnahmen sind geeignet, innerbetriebliche Hierarchien und Kompetenzbereiche zu stabilisieren: Analog sieht es Voigt (1986: 42), wonach die betriebliche Weiterbildung in betriebsinternen Teilarbeitsmärkten zum einen der betriebsbezogenen fachlichen Qualifizierung und zum anderen der Herstellung und Sicherung von Loyalität bzw. der Absicherung betrieblicher Arbeitsstrukturen und Weisungshierarchien dient. Zwar haben Angestellte größerer Firmen eher Zugang zu firmeninterner Weiterbildung, aber innerhalb großer Betriebe findet eine weitere Selektion statt, wonach vor allem produktive und hochqualifizierte Arbeitnehmer (jüngere Männer, Führungskräfte, qualifizierte kaufmännische und technische Angestellte und Facharbeiter) von Weiterbildungsmöglichkeiten profitieren (Becker 1993). Daraus ergeben sich nach Sengenberger (1982) innerbetriebliche ‚Weiterbildungsspiralen‘, die sich dann etablieren, wenn ohnehin schon gut qualifizierte Fachkräfte für weiterbildungsintensive Tätigkeiten rekrutiert werden. Die hierarchischen Promotionssysteme in internen Arbeitsmärkten haben eine Anreizfunktion für Weiterbildungsteilnahme, indem sie unter anderem höhere Einkommen und günstigere Arbeitsbedingungen in Aussicht stellen, wenn Beschäftigte in Weiterbildung investieren oder Weiterbildungsangebote wahrnehmen. Befinden sich diese Beschäftigten im betriebsinternen Arbeitsmarkt, so sinkt nach dem Grenzproduktivitätstheorem mit der Höhe der Positionierung im Promotionssystem und der damit verbundenen Einkommenshöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sie weiterhin in Weiterbildung investieren, um ihre Einkommens- und Karriereaussichten zu verbessern. Alles in allem verdeutlichen strukturalistische und institutionalistische Theorien segmentierter Arbeitsmärkte, dass bei der Erklärung betrieblichen Weiterbildungsverhaltens situative Kontextfaktoren wie Produktionstechnik, Arbeitsorganisation sowie betriebliche Beschäftigungs- und Personalpolitiken zu berücksichtigt sind (Düll und Bellmann 1998: 208). Angebot von Weiterbildung und Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen ergeben sich aus den Strukturen des Arbeitsmarktes und der jeweiligen Qualifikationsstruktur in den Teilarbeitsmärkten. Grundsätzlich haben die strukturellen Bestimmungsgründe für die Weiterbildungsbeteiligung in den Ländern größere Relevanz, in denen die spezifische Berufsausbildung und die berufliche Platzierung besonders eng miteinander verknüpft sind (Buchmann et al. 1999: 21).
3.4 Arbeitsplatzwettbewerbsmodell Das Modell von Thurow (1975) verbindet die Filtertheorie mit der Theorie interner Arbeitsmärkte. Die Berufseinsteiger konkurrieren nach ihrer formalen Ausbildung nicht direkt um Einkommen, sondern um Einstiegspositionen in spätere Karriereleitern (und damit indirekt um bessere Einkommenschancen). Die Funktion der Bildung besteht darin, dem Zertifikatsträger den Status des Bildungsfähigen und -willigen zuzuerkennen und ist damit eine Selektionsvariable neben anderen. Die Produktivität ist nun an den Arbeitplatz und seine vorgegebenen Qualifikationsanforderungen gebunden, nicht mehr an das Bildungssubjekt. Es wird davon ausgegangen, dass die Qualifikationen für einen Job informell am Arbeitsplatz erlernt werden. Gute Qualifikationen verbessern die Position in der Warteschlange um erstrebenswerte Jobs, weil die Trainingskosten für das Unternehmen als geringer eingeschätzt werden. Somit konkurrieren die Bewerber nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um die Möglichkeiten für eine innerbetriebliche Aus- und Weiterbildung.
Berufliche Weiterbildung – theoretische Perspektiven und empirische Befunde
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Qualifikatorische Rekrutierungsvorteile beim Zugang zur Fort- und Weiterbildung sind beständige Vorteile im Arbeitsleben und im Berufsverlauf (Timmermann 2002: 89). Wie bei den vorherigen Erklärungsansätzen ist daher zu prognostizieren, dass diejenigen Bewerber und Arbeitnehmer die besten Weiterbildungschancen haben, die ohnehin bereits qualifiziert sind und im Berufsverlauf weiterhin zusätzliche Bildung akkumulieren. Soziale Selektionsmechanismen beim Zugang zu beruflicher Weiterbildung, die schon im Erstausbildungssystem die Weichen für Erfolg und Misserfolg bei der Verteilung von Berufs- und Lebenschancen stellen, führen statt einer Kompensation von Bildungsdefiziten eher zur Akkumulation privilegierter Bildungs- und Beschäftigungschancen. Somit kommt es wegen ungleicher, von vorheriger Ausbildung abhängiger Zugangschancen zu Weiterbildung zwischen den externen und internen Arbeitsmärkten zur qualifikatorischen Polarisierung von Beschäftigungschancen („Matthäus-Effekt“).
4
Teilnahme an beruflicher Weiterbildung und ihre Wirksamkeit
So wie die Trägerstrukturen im Weiterbildungsbereich unübersichtlich sind, so pluralistisch und wenig vergleichbar sind die Weiterbildungsstatistiken für differenzierte Beschreibungen von Teilnahme an beruflicher Weiterbildung und ihre Konsequenzen für die Teilnehmer. In Deutschland gibt es keine amtliche Weiterbildungsstatistik, so dass auf Informationen aus unterschiedlichen Einzel- und Panelerhebungen wie etwa Mikrozensus, Statistik der Bundesanstalt für Arbeit über Kostenträger und Förderungsstruktur (etwa IABBeschäftigtenstichprobe, IAB-Betriebspanel, BIBB-IAB-Erhebungen, AFG- und SGBStatistik), Trägerstatistiken und Prüfungsstatistiken der Kammern, Sozioökonomisches Panel (SOEP bzw. GSOEP für German Socioeconomic Panel), ‚Berichtssystem Weiterbildung‘ (BSW), das von Infratest Sozialforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft durchgeführt wird, zurückgegriffen werden muss (Bellmann 2003 für einen kritischen Überblick). Die Teilnahmequoten der einzelnen Studien lassen sich wegen verschiedener Grundgesamtheiten, unterschiedlicher Zeitfenster, Erhebungsverfahren und Fragestellungen nur bedingt miteinander vergleichen. Ähnliches gilt für die Beurteilung der Folgen von Weiterbildungsteilnahmen.
4.1 Struktur und Wandel von Beteiligung an beruflicher Weiterbildung Die wachsende Bedeutung von beruflicher Weiterbildung lässt sich einerseits aus den eingangs geschilderten Bedarfsprognosen entnehmen und andererseits an den steigenden Teilnahmezahlen ablesen. Den Daten des Berichtssystems Weiterbildung 2005 zufolge ergab sich in den letzten 20 Jahren für die Befragten im Alter von 19 bis 64 Jahren ein deutlicher Anstieg aller Teilnahmen an beruflicher Weiterbildung (vgl. Abbildung 1).
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Rolf Becker und Anna E. Hecken
Abbildung 1:
Teilnahme an beruflicher Weiterbildung in Deutschland, 1979-2003 (Teilnahmequoten in Prozent)
60
50
40
35 34
Erwerbstätige (Ost) Erwerbstätige
30
29
Erwerbstätige (West)
26
26 25 20
West Insgesamt Ost
20
Nichterwerbstätige (Ost)
15
15
Nichterwerbstätige Nichterwerbstätige (West)
10
10
10
8
7
0
1 1979
1982
1985
1988
1991
1994
1997
2000
2003
Quelle: Kuwan und Thebis (2005: 23 und 34-35) eigene Darstellung
Zwischen 1979 und 1997 ist die Teilnahmequote von 10 auf 30 Prozent gestiegen und dann wieder auf 26 Prozent im Jahre 2003 zurückgegangen (Kuwan und Thebis 2005: 23). Den „Eckdaten zum BSW-AES 2007“ (Berichtssystem Weiterbildung – Adult Education Survey) zufolge hielten sich bis zum Jahre 2007 die Teilnahmequoten konstant auf 26 Prozent (Rosenbladt und Bilger 2008). Generell lagen die Teilnahmequoten im Osten Deutschlands mit 25 Prozent im Jahre 1991, 37 Prozent im Jahre 1997 und 31 Prozent im Jahre 2000 deutlicher höher lagen als in Westdeutschland. Während sich in Westdeutschland die Teilnahmequote an beruflicher Weiterbildung kaum verändert hat, ist sie im Osten Deutschlands gegen Ende des 20. Jahrhunderts um sechs Prozentpunkte zurückgegangen. Im Jahre 2003 lagen die Teilnahmequoten in beiden Teilen Deutschland auf einem Niveau von 26 Prozent gleichauf (Kuwan und Thebis 2005: 24). Im Westen Deutschland veränderte sich die Teilnahmequote bis 2007 nicht, während sie im Osten Deutschlands auf 29 Prozent anstieg (Rosenbladt und Bilger 2008). Nichterwerbstätige partizipieren in einem geringeren Maße an der beruflichen Weiterbildung als Erwerbstätige. Während sich im Jahre 1979 rund 15 Prozent und im Jahre 2000 rund 40 Prozent der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik Deutschland weiterbildeten, nahmen nur zwischen einem und neun Prozent der Nichterwerbstätigen an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung teil. In Ostdeutschland ist der Anteil der Nichterwerbstätigen, die sich weiterbilden, deutlich höher als im Westen Deutschlands. Anfang der 1990er Jahre
Berufliche Weiterbildung – theoretische Perspektiven und empirische Befunde
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traten rund sieben Prozent der westdeutschen Nichterwerbstätigen, jedoch 15 Prozent der ostdeutschen Nichterwerbstätigen in die berufliche Weiterbildung ein (vgl. Kuwan et al. 2003). Klientelorientierte Weiterbildungsangebote in Ostdeutschland haben zu dieser Entwicklung beigetragen (Behringer 1995). Bis Ende der 1990er Jahre nahmen die Ost-WestUnterschiede zu (Ost: 23 Prozent und West: 9 Prozent) und fielen dann bis zum Jahre 2000 auf das Niveau der frühen 1990er Jahre zurück. Gründe hierfür liegen in den unterschiedlichen Anteilen der Nichterwerbstätigen, die möglichst sofort wieder ins Erwerbsleben einsteigen wollen. In den alten Bundesländern liegt dieser Anteil bei 15 Prozent, in den neuen Bundesländern bei 49 Prozent. Dementsprechend beteiligen sich Arbeitslose in den neuen Bundesländern etwas häufiger an beruflicher Weiterbildung als in den alten Ländern (22 vs. 16 Prozent). Aggregierte Darstellungen mit komparativ-statischen Querschnittsdaten vermischen die Zeitdimensionen von Weiterbildungsaktivitäten und verdecken daher eine Vielzahl differenzierter Prozesse, die mit der Zeitabhängigkeit und Dynamik von Weiterbildungsverhalten verbunden sind. Wenn man die Bedeutung von Teilnahme an beruflicher Weiterbildung quantitativ bestimmen möchte, dann bedarf es einer sozialhistorischen und sozialstrukturellen Nachzeichnung mit Hilfe von Längsschnittdaten. Hierzu benötigt man lückenlose Informationen über Weiterbildungsteilnahmen im Lebensverlauf von Personen (Becker 1991). Weil Personen verschiedener Geburtsjahrgänge (Kohorten) in unterschiedlichen Phasen ihres Berufs- und Lebensverlaufs auf unterschiedliche historische Bedingungen und Opportunitäten treffen, ist zusätzlich eine Kohortenbetrachtung vorzunehmen. Der Vorteil der Längsschnittbetrachtung ist, dass im Unterschied zur Querschnittsanalyse keine stabile Verteilung eines Prozesses angenommen werden muss, so dass dem Wandel und der Dynamik von Bildungsprozessen (z.B. Zugang zur Weiterbildung) im Gegensatz zu Querschnittsstudien explizit Rechnung getragen werden kann. Allerdings wäre auch die Analyse der Dynamik und des Wandels von Weiterbildungsaktivitäten mit den Mitteln der traditionellen Kohortenanalyse unzureichend, „da die Merkmale einer Kohorte die aggregierten Ergebnisse des je individuellen Handelns und Verhaltens der einzelnen Kohortenmitglieder im sozialen und historischen Kontext (sind), der nur in gröbster Form durch das Kalenderjahr repräsentiert wird“ (Mayer und Huinink 1990: 445). Daher ist es sinnvoll, gleichzeitig die Zeitdimension des Alters im Lebensverlauf, der historischen Zeit und der Zugehörigkeit zu einer Kohorte als Träger sozialen Wandels im Sinne von Mannheim (1928) zu berücksichtigen, und beim Einfluss dieser Zeitdimensionen auf das Weiterbildungsverhalten zwischen dem Alterseffekt, dem Periodeneffekt und dem Kohorteneffekt zu unterscheiden (Plum 1982: 507). In der Regel werden Kohorteneffekte durch Alters- und Periodeneffekte überlagert. Eine Untersuchung von beruflicher Weiterbildung in der Lebensverlaufsperspektive kann eine Verknüpfung zwischen dem vorhergehenden Bildungs- und Berufsverlauf, den Arbeitsmarktstrukturen und dem historischen Kontext herstellen (Becker 1991, 1993). Im Unterschied zu den komparativ-statischen Querschnittsdaten des BSW bieten die ereignisorientierten Lebensverlaufsdaten von Geburtskohorten erhebliche Vorzüge: Sie berücksichtigen die Zeitabhängigkeit und die dynamischen Prozesse von Weiterbildungsverläufen in Bezug auf Bildungs- und Berufsverläufe. Einen beschreibenden Überblick bieten altersspezifische Weiterbildungsquoten für aufeinander folgende Geburtskohorten (siehe Abbildung 2). Zunächst ist eine deutliche Kohortendifferenzierung bei der Teilnahme an beruflicher Weiterbildung festzustellen. Dabei wird auch die historische Sonderstellung der Geburts-
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kohorte 1929-31 in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte deutlich, was den Bildungsund Berufsverlauf anbelangt. Ihre Weiterbildungsquoten liegen unter dem Niveau der bereits im Dritten Reich in den Arbeitsmarkt eingetretenen Kohorte 1919-21. Deren Niveau wiederum wird erst wieder von der Kohorte 1939-41 erreicht. Ein großer Anteil dieser um 1930 geborenen Personen musste unmittelbar nach dem Kriegsende zumeist ohne qualifizierten Schul- oder Berufsausbildungsabschluss für den Lebensunterhalt ihrer Familien sorgen. In der Konkurrenz mit den danach geborenen Jahrgängen waren sie kaum in der Lage, die Abschlüsse nachzuholen (Blossfeld 1989). Oftmals sind gerade diese erworbenen Bildungszertifikate notwendig, um sich weiterbilden zu können. Zumindest haben ohnehin bildungsmäßig privilegierte Beschäftigte deutlich bessere Weiterbildungschancen als minder qualifizierte Personen (vgl. Schömann und Becker 1995). Für die jüngeren Kohorten der um 1950 und 1960 Geborenen ergaben sich mit der Einführung des Bafög Anfang der 1970er Jahre, des Arbeitsförderungsgesetzes und des Berufsbildungsgesetzes im Jahre 1969 und der ergänzenden Nachträge dieser gesetzlichen Regelungen in den darauf folgenden Jahren sowie im Zuge des expandierenden Weiterbildungssektors in den 1980er Jahren günstigere Weiterbildungsmöglichkeiten als für die älteren Kohorten. Aber durch die Folgen wirtschaftlicher Rezessionen in den 1980er Jahren wurden verstärkte berufliche Weiterbildungen immer notwendiger (Böhnke 1997). Abbildung 2:
Berufliche Weiterbildung im Lebensverlauf von Kohorten in Westdeutschland – altersspezifische Weiterbildungsquoten (in Prozent)
25
Kohorte 1919-21 Kohorte 1929-31 Kohorte 1939-41 Kohorte 1949-51 Kohorte 1959-61
20
15
10
5
0 18
20
25
30
35 Alter in Jahren
Quelle: Becker (1991) und Böhnke (1997) eigene Darstellung
40
45
50
Berufliche Weiterbildung – theoretische Perspektiven und empirische Befunde
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Die durchschnittlichen Teilnahmequoten für die verschiedenen Geburtsjahrgänge in der Abbildung 2, betragen für die Kohorte 1930 26 Prozent, für die Kohorte 1940 29 Prozent, für die Kohorte 1950 31 Prozent und schließlich für die um 1960 Geborenen 43 Prozent (Becker 1991: 358 und Böhnke 1997: 89). Berücksichtigt man, dass für die Geburtskohorten wegen unterschiedlicher Erhebungszeitpunkte die Berufsverläufe unterschiedlich lang beobachtet wurden, dann liegen deutliche Kohorteneffekte vor: Je jünger die Kohorten sind, desto größer ist der Anteil derjenigen, die in berufliche Weiterbildungsmaßnahmen eintreten.7 D.h. die „Weiterbildungsexpansion“ seit den 1960er Jahren wird über die Kohortenabfolge von jüngeren und auch zunehmend besser ausgebildeten Beschäftigten getragen (vgl. Becker 1991, 1993). Es findet zudem eine kohortendifferenzierende Beschleunigung beim Übergang in die Weiterbildung statt.8 Sie findet in einem geringeren zeitlichen Abstand zur Erstausbildung und dem Eintritt in die Erwerbstätigkeit statt. Gemeinsam ist diesen Kohorten, dass die höchsten Weiterbildungsquoten im Altersintervall zwischen 22 und 27 Jahren liegen. Nach dem 30. Lebensjahr nehmen die Teilnahmen an beruflicher Weiterbildung mehr oder weniger deutlich ab.9 Ältere Personen nehmen in einem geringeren Ausmaß an der Weiterbildung teil als die jüngeren Personen, wobei über die Kohorten hinweg absolute Niveauunterschiede bestehen bleiben. Ähnliche Befunde zum Zusammenhang von Lebensalter und Neigung für berufliche Weiter- und Fortbildung werden wiederholt mit anderen Datensätzen (z.B. GSOEP) – auch bei Querschnittbetrachtungen (z.B. Pischke 2001) – oder für spezifische Formen beruflicher Weiterbildung (z.B. inner- und außerbetriebliche Weiterbildung) berichtet (z.B. Schömann und Becker 2002). Trotz der gestiegenen Teilnahme an beruflicher Weiterbildung hat sich in der Kohortenabfolge die soziale Selektivität beim Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen nicht geändert. Einstimmig zeigen alle Studien, dass sich gerade besser gebildete Erwerbspersonen weiterbilden (Becker 1991, 1993; Schömann und Becker 1995, 2002; Becker und Schömann 1996, 1999; Becker 2000; Schömann und Leschke 2004; Jacobs 2004): Je höher das Bildungsniveau ist, desto größer sind die Chancen, sich weiterzubilden. Den Daten des BSW zufolge hatten im Jahre 1979 Abiturienten eine 2,8-mal bessere Chance, sich weiter7 Die Kohorte 1929-31 war zum Erhebungszeitpunkt 1981-83 um die 52 Jahre alt, die Kohorte 1939-41 um die 42 Jahre, die Kohorte 1949-51 um die 32 Jahre. Die Befragten der Kohorten 1959-61 waren zum Interviewzeitpunkt 1989 rund 29 Jahre alt. 8 So bildeten sich bei der Kohorte 1929-31 1,3 Prozent der 20-Jährigen weiter, bei der Kohorte 1939-41 4,2 Prozent und bei der Kohorte 1949-51 6,5 Prozent. Im Alter von 30 Jahren lag die Weiterbildungsquote für die Kohorte 1919-21 bei 5 Prozent, für die Kohorte 1929-31 bei 2,5 Prozent, für die Kohorte 1939-41 bei 6,5 Prozent und für die Kohorte 1949-51 bei 13,3 Prozent. Böhnke (1997) verweist in ihrer Arbeit darauf hin, dass die Gründe für kohortendifferenzierende Weiterbildungsteilnahmen auch an die historischen Perioden (Zäsuren) in der Nachkriegszeit gebunden sind: Konjunkturkrisen und Rezessionen, Konkurrenz beim Zugang zu Arbeitsplätzen, veränderte Bildungsansprüche infolge der Bildungsexpansion, auf Flexibilität ausgerichtete Qualifikationsprofile und schließlich technologischer Strukturwandel. 9 Diese Befunde werden durch Analysen mit BIBB/IAB-Daten untermauert (Pfeiffer und Reize 2000: 15). Für abhängig Beschäftigte nimmt in den ersten 15 Jahren des Berufsverlaufs die Wahrscheinlichkeit, sich weiterzubilden, zu und sinkt dann deutlich mit zunehmender Berufserfahrung. Dieser Befund korrespondiert mit der Humankapitaltheorie, wonach sich späte Investitionen in berufliche Weiterbildung kaum noch rentieren. Diese Sichtweise teilen auch die Arbeitgeber. Nach Pfeiffer und Reize (2000) steigt mit zunehmender Dauer der Betriebszugehörigkeit die Wahrscheinlichkeit, sich beruflich weiterbilden zu können, pro Jahr bis zu 16 Prozent, um dann ab einer Zugehörigkeit von mehr als 26 Jahren wieder abzunehmen. Die höchsten Wahrscheinlichkeiten für berufliche Weiterbildung liegen bei einer Berufserfahrung von 22 Jahren bzw. bei einer Betriebszugehörigkeitsdauer von rund 18 Jahren.
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zubilden, als Erwerbspersonen mit niedriger Schulbildung. Bis zum Jahre 2000 hat sich an diesen Relationen kaum etwas geändert, auch dann nicht, wenn die Berufsausbildung berücksichtigt wird. Für frühere Perioden vor den 1980er Jahren stieg bei Männern mit jedem zusätzlichen Ausbildungsjahr die Chance, sich weiterzubilden, um 7 Prozent und bei den Frauen um 16 Prozent (Becker 1991: 359). Die These der Bildungsakkumulation, nach der diejenigen die höchsten Weiterbildungsquoten aufweisen, die ohnehin schon über das höchste Bildungsniveau verfügen, bestätigt sich durchgängig seit nahezu dreißig Jahren Weiterbildungsforschung (Brinkmann et al. 1972; Müller 1977; Noll 1987; Becker 1993; Bellmann 2003). Überdies sind Bildungsakkumulationen eher bei Männern als bei Frauen festzustellen, denn trotz des Aufholens bleiben Frauen bei gleichzeitiger Zunahme der Frauenerwerbsquote hinter der Weiterbildungsquote der Männer zurück (Becker 1991; Böhnke 1997). Der Zugang zu beruflicher Weiterbildung steht generell in direktem Zusammenhang mit erworbenen Kenntnissen aus einer ersten Ausbildung bzw. aus langjähriger Berufserfahrung. Weiterbildungschancen und auch Motivationen zur beruflichen Weiterbildung hängen von Erfahrungen mit der beruflichen Erstausbildung ab (Chatman 1991: 461; Büchel und Pannenberg 2006). Dieser Befund lässt sich durch die seitens der Humankapital-, Signal- und Filtertheorie sowie der Theorie segmentierter Arbeitsmärkte prognostizierten Prozesse der Selbst- und Fremdselektion empirisch fundiert erklären (Schömann und Becker 1995). Statt einer Kompensation von Bildungsdefiziten erfolgt entsprechend dem Modell von Thurow (1975) über berufliche Fort- und Weiterbildung eine kumulative Qualifikation privilegierter Erwerbspersonen (Becker 1991; siehe auch Jacobs 2004: 195). Sie zeichnen sich zudem durch Vorteile im Bildungs- und Berufsverlauf (z.B. hohe Qualifikation, hohe berufliche Stellung, hohe Betriebsbindung in internen Arbeitsmärkten etc.) sowie durch frühere Berufserfolge (z.B. Eingang in den öffentlichen Dienst, Zugang zu Vollzeitbeschäftigung, geringere Erwerbsunterbrechungen etc.) aus (Schömann und Becker 1995). Allerdings haben auch qualifizierte Arbeitslose günstigere Chancen für eine berufliche Weiterbildung als unqualifizierte Arbeitssuchende (Jacobs 2004). Für letztere Gruppe ist berufliche Weiterbildung ein Ausweg aus der Arbeitslosigkeit. Zudem haben Beschäftigte gute Chancen, sich weiterbilden zu können, wenn sie bereits über entsprechende Erfahrungen in beruflicher Weiterbildung verfügen, die sie für den Zugang zur beruflichen Weiterbildung mobilisieren können (Becker 1991; Düll und Bellmann 1999). Da – so Schömann und Leschke (2004) – die kompensatorische Wirkung von Qualifikationsmaßnahmen als Ausgleich für ungleiche Chancen im Schul-, Hochschul- oder Ausbildungssystem als gering eingestuft werden müsse, und eher Personen mit höheren Qualifikationen, privilegiertem Status und vorteilhaften Einkommenschancen durch berufliche Weiterbildung profitieren, so dürften sich nicht nur Einkommensunterschiede verstärken, sondern es könnte auch zu einer Polarisierung von Beschäftigungschancen kommen. Des Weiteren zeigen Schömann und Leschke (2004), dass nicht-deutsche Arbeitnehmer ebenfalls ungünstigere Weiterbildungschancen haben als Deutsche: „So lag die Teilnahmequote der Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in den Jahren 1997 bis 2000 mit ca. acht Prozent fast 20 Prozent unterhalb der Quote von Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Nichtdeutsche, die häufiger als Deutsche auf Stellen mit niedrigem Qualifikationslevel, auf denen traditionell weniger Weiterbildung stattfindet, beschäftigt sind, sind folglich bei der beruflichen Weiterbildungsbeteiligung deutlich benachteiligt“ (Schömann und Leschke 2004: 359).
Berufliche Weiterbildung – theoretische Perspektiven und empirische Befunde
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Insgesamt verstärken sich über selektive Weiterbildungschancen bestehende herkunfts- und geschlechtsspezifische Ungleichheiten bei der schulischen und beruflichen Ausbildung über den gesamten Berufs- und Lebensverlauf (Becker 1991; Büchel und Pannenberg 2006): „In der Konsequenz ergibt sich eine tief greifende Segmentierung der Gesellschaft in Personen, die lebenslanges Lernen bereits aktiv betreiben (höhere Schichten) und denen, die weder die Ressourcen zur Investition besitzen noch überhaupt davon überzeugt sind, dass sich solche Investitionen für sie selbst auszahlen, (beispielsweise einfache Arbeiter). Die Bedeutung der schichtspezifischen Zugehörigkeit erweist sich in der Weiterbildungsteilnahme sogar als stärker als eine geschlechtsspezifische Prägung“ (Schömann und Leschke 2004: 385). Die Vermutungen, dass die Erstausbildung an Bedeutung verliere und vielfältige Formen der Fort- und Weiterbildung das traditionelle Lebensverlaufsschema von Ausbildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand auflöse, ist angesichts vorliegender Befunde nicht haltbar (Mayer 2000: 384). Weiterbildungschancen sind zwingend an vorhergehende Bildungs- und Beschäftigungschancen gebunden: Es findet keine Auflösung kontingenter und sozial selektiver Bildungsentscheidungen statt, so dass eine strukturelle Aufteilung des Lebensverlaufs in Phasen einer formalen Ausbildung und in eine Phase der Erwerbstätigkeit, wie sie von Kohli (1985) vorgeschlagen wurde, immer fragwürdiger erscheint. Selektive Weiterbildungschancen sind zum einen Teil das (unbeabsichtigte) Ergebnis kontingenter Bildungsentscheidungen im Lebensverlauf. Böhnke (1997) schlussfolgert daraus, dass die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung in unmittelbarem Anschluss an eine abgeschlossene Berufsausbildung durchaus als Zeichen für eine Differenzierung von Lebensund Erwerbsverläufen gewertet werden kann, wonach eine Bildungsphase nicht mehr zwingend auf eine der Erwerbstätigkeit vorgelagerte Zeit beschränkt sei, und das Aus- und Weiterbildungssystem neben einer Berufstätigkeit verstärkt für kontinuierliche Qualifizierungsprozesse genutzt werde. Zum anderen sind Faktoren, die die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung beeinflussen, nicht nur an Merkmale des Bildungs- und Erwerbsverlaufs gebunden, sondern auch an Strukturen der Arbeitsmärkte (Becker 1993). Beschäftigte in großen Betrieben oder im öffentlichen Dienst, in berufsfachlichen und betriebsinternen Arbeitsmärkten sowie mit längerer Betriebszugehörigkeit haben entsprechend den Theorien segmentierter Arbeitsmärkte günstigere Weiterbildungsmöglichkeiten als Beschäftigte in kleinen Betrieben oder in unstrukturierten Arbeitsmärkten (Schömann und Leschke 2004). Die sozial selektive Teilnahme an beruflicher Weiterbildung anhand qualifikatorischer Kriterien wird durch eine Segmentation, eine Verfestigung unterschiedlicher Qualifikationsnutzung durch Betriebe und Arbeitgeber, begleitet, die schließlich zur verstärkten Arbeitsmarktsegmentation führt (vgl. Baethge 1992): „Insgesamt gesehen tragen Arbeitsmarktstrukturen nicht nur zur ungleichen Verteilung von Berufschancen bei, sondern auch zur Ungleichheit bei der Partizipation an beruflicher Weiterbildung und damit zur Polarisierung der Bildungs- und Berufschancen im Lebensverlauf. Weiterbildungschancen kumulieren sich bei denjenigen, die in solchen Arbeitsmärkten beschäftigt sind, in denen schon ausgeprägte Qualifikationen nachgefragt werden, vorteilhafte Arbeitsbedingungen und Karrierechancen geboten werden und das Weiterbildungsangebot hochgradig institutionalisiert ist“ (Becker 1993: 75) Allerdings sollten aus lebensverlaufstheoretischer Sicht die strukturellen Faktoren nicht einseitig hervorgehoben werden, da auch individuelle Merkmale des vorhergehenden Bildungs- und Berufsverlaufs und andere Lebenserfahrungen darüber entscheiden, ob entsprechende Angebote an beruflicher Weiterbildung genutzt werden (können) (Becker 1991: 360).
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4.2 Wirksamkeit von Weiterbildung In Bezug auf die individuellen Wirkungen oder die Wirkungen beruflicher Weiterbildung auf den Arbeitsmarkt gibt es keine einheitlichen Befunde. Vielmehr differieren sie nach dem Beobachtungszeitraum (historisches und individuelles Zeitfenster), den herangezogenen Datensätzen und den verwendeten statistischen Verfahren. Weiterhin ergeben sich unterschiedliche Befunde auch durch angewandte Verfahren zur Korrektur von sozialer Selektivität bei der Teilnahme an beruflicher Weiterbildung oder durch deren Unterlassung.10 So muss bei der Evaluation des individuellen Nutzens von Weiterbildung oder der Wirksamkeit von Weiterbildungsprogrammen in Rechnung gestellt werden, dass es sich bei 10 In den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gibt es in Bezug auf die Evaluation von sozialen Programmen, insbesondere in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, eine kontroverse Debatte. Vor allem im Weiterbildungsbereich konzentriert sie sich darauf, ob und wie man die Wirksamkeit von Weiterbildungsprogrammen und ihren Maßnahmen beurteilen kann. Auf der einen Seite behaupten Vertreter der traditionellen Evaluationsforschung, dass eine Überprüfung von Programmen nur mit Experimentaldaten möglich sei. Bei der Evaluation sozialer Programme, hier auch vor allem von Weiterbildungsprogrammen, ist meistens keine Randomisierung der Vergleichsgruppen möglich, so dass Quasi-Experimente eine Alternative sind. Bei quasi-experimentellen Designs ohne zufällige Aufteilung von Versuchs- und Kontrollgruppe dagegen ist die Gefahr von experimentellen Artefakten nicht ausgeschlossen, weil hier der Prozess der Selbst- oder Fremdselektion weder kontrolliert noch simuliert werden kann (Cook und Campbell 1979: 53). So kann der positive Effekt eines Trainingsprogramms daraus resultieren, dass sich die Versuchsgruppe aus motivierten wie besser qualifizierten Personen zusammensetzt, die aufgrund dieser Attribute ohnehin bessere Beschäftigungschancen gehabt hätten. Aufgrund dieser Drittfaktoren würde dem Programm ein Erfolg bescheinigt, der auf einer Scheinkorrelation beruht. Das Verfahren des „pairwise matchings“ in Quasi-Experimenten oder auch nichtexperimentellen Untersuchungsdesigns scheint ein vielversprechender Ausweg zu sein (Kasparek und Koop 1991; Hujer et al. 1997; Klose und Bender 2000). Personen mit bestimmten Merkmalen oder Merkmalskombinationen in der Versuchsgruppe werden Personen mit gleichen Attributen in der Kontrollgruppe zugeordnet. Jedoch hängen die Befunde von den ausgewählten Merkmalen und der Prozedur des paarweisen oder Gruppen-Matchings ab. Selektionsprozesse und unbeobachtete Heterogenität bleiben unberücksichtigt. Schließlich setzt die zur Verfügung stehende Stichprobe oftmals enge Grenzen für die Analyse: je kleiner die Stichprobe ist, umso grober wird das Matching sein. Auf der anderen Seite wird der Standpunkt vertreten, dass nichtexperimentale (Längsschnitt-)Daten zur Evaluation herangezogen werden können und dass mit ökonometrischen Verfahren der tatsächliche Einfluss von Weiterbildung auf Erwerbschancen nachgewiesen werden könne. Für die Beurteilung von kurz- und langfristigen Effekten von Weiterbildungsmaßnahmen sind Längsschnittdaten notwendig (Hujer et al. 1997). Zunächst ist oftmals nicht abzusehen, wann die Wirkung einer Weiterbildung einsetzt und wie lange das in Maßnahmen erworbene Wissen verwertbar ist. Experimente sind in der Regel zeitlich zu kurz angelegt, um langfristige Weiterbildungseffekte zu messen. Allerdings kann es bei Längsschnittdaten auch zu unbefriedigenden Ergebnissen wegen Rechtszensierung kommen, wenn das „Beobachtungsfenster“ zu klein ist. Ein weiterer spannender Sachverhalt betrifft die Modellierung der Wirksamkeit von beruflicher Weiterbildung. So kann gemutmaßt werden, dass eine signifikante Einkommenssteigerung nicht ursächlich auf eine Weiterbildung zurückzuführen ist, die bereits längere Zeit zurückliegt, sondern auf anderen in der Zwischenzeit aufgetretenen Faktoren beruht. Für die Beurteilung der Höhe einer Wirksamkeit bedarf es der Modellierung möglicher Zeitpfade der kausalen Auswirkung von Weiterbildung auf Berufs- und Einkommensverläufe (Becker 2000). Bei der Evaluation von sozialen Programmen mit Hilfe von quasi-experimentellen Daten tritt der Spezialfall des „Problems der kausalen Inferenz“ auf, dass man eine Person niemals in den beiden Zuständen von Partizipation und Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung beobachtet und daher den Nettoeffekt von Weiterbildung nicht so ohne Weiteres isolieren kann. Aufgrund der sozialen Selektivität von Weiterbildungschancen kann der erwartete durchschnittliche Weiterbildungseffekt nicht mit der Differenz der Ergebnisvariablen für eine Teilnahme und Nichtteilnahme gleichgesetzt werden. Für die Lösung dieses Selektivitätsproblems in ökonometrischen Verfahren gibt es mittlerweile unterschiedliche Verfahren, die sich in ihrer Leistungsfähigkeit unterscheiden. Übersichten dazu liefern neben Lee (1982) und Berk (1983) auch Winship und Mare (1992) sowie Heckman und Robb (1986). Angesichts dieser Arbeiten kann der Schluss gezogen werden, dass es nicht die Lösung gibt, sondern mehrere unterschiedliche Verfahren ihre Berechtigung haben. Schließlich betonen Heckman und Robb: „The ‚solution‘ to the selection bias problem lies outside of formal statistics“ (Heckman und Robb 1986: 106).
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den Teilnehmern an Weiterbildung in der Regel um eine „positive Auswahl“ handelt, so dass der Zusammenhang zwischen Weiterbildungsteilnahme und daraus resultierenden Folgen nicht zwangsläufig auf kausalen Effekte der Weiterbildung beruhen muss (Becker und Schömann 1996; Fitzenberger und Prey 1995; Kasparek und Koop 1991; Heckman 1997; Heckman und Smith 1996). Für die Evaluation von Weiterbildung muss die sozialstrukturelle Selektivität beim Zugang zur Weiterbildung kontrolliert werden, um methodisch und statistisch verzerrte Befunde zu vermeiden (Heckman 1979, 1990). Diese ergeben sich zum einen aus der Korrelation von unabhängigen Variablen für die Partizipation an Weiterbildung und der den Einfluss des Programms abbildenden Variablen (Heckman et al. 1987). Das bedeutet, dass der Fehlerterm für die Schätzung des Einflusses von Weiterbildung auf den Berufsverlauf nicht unabhängig ist von den erklärenden Variablen. Zum anderen ergibt er sich aus den Prozessen der Selbst- und Fremdselektion selbst (Heckman und Hotz 1989; Lillard 1993). So kann die Selektion für die Weiterbildung auf beobachtbaren oder nicht beobachteten Merkmalen basieren, und gerade diese Merkmale können den Berufsverlauf beeinflussen, unabhängig davon, ob sich diese Personen weitergebildet haben oder nicht. Beispielsweise führte in einer von Fitzenberger und Prey (1995) vorgelegten Studie über den Einfluss von beruflicher Weiterbildung auf Beschäftigungschancen die Kontrolle von Selektivität zu einer Umkehrung der ersten Befunde über die Wirksamkeit von inner- und außerbetrieblicher Weiterbildung. Das Evaluationsproblem kann durch die Kontrolle der sozialen Selektivität vor dem Eintritt in solche Maßnahmen und der beruflichen Vorgeschichte dieser Personen gelöst werden (Heckman 1979; Heckman und Robb 1985, 1986). Zudem gibt es unterschiedliche, teilweise kontroverse Auffassungen, wie Erfolg und Nutzen der beruflichen Weiterbildung zu messen und zu beurteilen sind (Blaschke und Nagel 1995: 196). Zwei hinreichende Indikatoren für die Wirksamkeit von Weiterbildung sind zum einen die langfristige Beschäftigungssicherheit und zum anderen die Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen. Auch die in den letzten Jahren in Ostdeutschland durchgeführten staatlich geförderten Weiterbildungsmaßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz zielten auf die Vermeidung von Arbeitslosigkeit und die Reintegration von Arbeitslosen und müssen sich daran messen lassen, ob und wie Arbeitslose nach der Teilnahme an diesen Maßnahmen in den Arbeitsmarkt eingegliedert worden sind. Die Erwartung, mit beruflicher Weiterbildung zum Abbau von Arbeitslosigkeit beizutragen, ist nicht ganz unproblematisch, weil aus der Annahme, strukturelle Probleme des Arbeitsmarktes durch Weiterbildung zu lösen seien, „eine Individualisierung der Ursachen von Arbeitslosigkeit und eine Schuldzuweisung an die einzelnen Arbeitslosen folgt. Wären sie nur bildungsbereiter, gäbe es weniger Arbeitslose“ (Faulstich 1985: 86). Berufliche Weiterbildung und Arbeitslosigkeit Die Befunde sind durchgängig ernüchternd. So zeigen ältere Evaluationen aus den 1970er und 1980er Jahren, dass so genannte „Problemgruppen“ auf dem Arbeitsmarkt – wobei insbesondere Langzeitarbeitslose als eine primäre Zielgruppe von überbetrieblichen oder staatlich geförderten Weiterbildungsmaßnahmen angesehen werden – kaum Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen haben. Zwar verbessern sich die Arbeitsmarktschancen arbeitsloser Weiterbildungsteilnehmer gegenüber arbeitslosen Nichtteilnehmern (Hofbauer 1985: 120 ff.), aber zunehmend werden vor allem Langzeitarbeitslose nach einer Weiterbildungsmaßnahme schnell wieder arbeitslos oder bleiben trotz Weiterbildung arbeitslos
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(Hofbauer 1985: 118; Faulstich 1985: 88-89). Für die Mehrheit der arbeitslosen Teilnehmer bietet berufliche Weiterbildung kaum Chancen zur langfristigen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Deswegen wird berufliche Weiterbildung oftmals als ein arbeitsmarktund sozialpolitisches Anpassungs-, Auslese-, Legitimations- und Disziplinierungsinstrument bewertet (Voigt 1986: 80; Faulstich 1985: 86; vgl. Hofbauer 1985: 112). Allerdings sind bei der Beurteilung von Weiterbildungsmaßnahmen auch konterkarierende Effekte wie zum Beispiel das Ausbildungsniveau vor der Arbeitslosigkeit, die regionale Arbeitsmarktstruktur oder etwa die Betriebsanbindung der Weiterbildungsmaßnahme in Rechnung zu stellen (Hofbauer und Dadzio 1984, 1987). Hingegen wird für die 1990er Jahre unter Kontrolle von sozialer Selektivität von Weiterbildungsteilnehmern von Blaschke und Nagel (1995) die positive Auswirkung der nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und dem Sozialgesetzbuch III (SGB III) finanzierten beruflichen Weiterbildung für die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in die Beschäftigung belegt. Fitzenberger und Prey (1995) zeigen, dass eine außerbetriebliche Weiterbildung im Unterschied zur innerbetrieblichen Weiterbildung kurzfristig die Erwerbschancen eher verschlechtert als fördert. Schömann, Becker und Zühlke (1997) können mit Hilfe von Längsschnittdaten des GSOEP und bei dynamischer Kontrolle von ‚sample selection bias‘ für Ostdeutschland zeigen, dass Teilnahmen an Weiterbildung für Männer und Frauen die Risiken senken, arbeitslos zu werden. Im Zeitraum von Anfang 1990 bis Frühjahr 1993 verringert sich für ostdeutsche Teilnehmerinnen das Risiko für eine Arbeitslosigkeit um 18 Prozent gegenüber den Nichtteilnehmerinnen. Bei den Männern verringert sich das Arbeitslosigkeitsrisiko um 37 Prozent gegenüber den Nichtteilnehmern. So wie die Erwerbstätigen günstigere Chancen für die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung haben, so ergibt sich für sie ein nachhaltiger Nutzen aus der Weiterbildung. Insbesondere innerbetriebliche Maßnahmen haben eine langfristig beschäftigungs- und statussichernde Wirksamkeit für die Teilnehmer, während dagegen AFG-finanzierte Maßnahmen bei mehreren Evaluationen deutlich ungünstiger beurteilt werden (vgl. Hübler und König 1999). Vor allem Anpassungsfortbildungen während der Arbeitszeit sind erfolgreicher als staatlich geförderte Umschulungsmaßnahmen. Dies zeigen auch empirische Befunde für die Reintegration ostdeutscher Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt. Arbeitslose Frauen werden trotz Weiterbildung nicht eher beschäftigt als Nichtteilnehmerinnen, während bei den arbeitslosen Männern Teilnehmer an außerbetrieblichen Maßnahmen eine um 70 Prozent größere Chancen für eine Wiederbeschäftigung haben als Nichtteilnehmer (Schömann, Becker und Zühlke 1997). Für Westdeutschland kann Pannenberg (2001) für den Zeitraum von 1986 bis 1997 mittels SOEP-Daten zeigen, dass männliche Weiterbildungsteilnehmer ein geringeres Risiko aufweisen, arbeitslos zu werden, als Nichtteilnehmer. Bei Frauen hingegen ist nur für den ersten Zeitraum von drei Jahren ein beschäftigungsstabilisierender Weiterbildungseffekt festgestellt worden. Zudem zeigen Büchel und Pannenberg (2006), dass diese Weiterbildungseffekte in Ostdeutschland größer sind als im Westen Deutschlands; gerade für Westdeutsche ist es notwendig, frühzeitig in berufliche Weiterbildung zu investieren, um Arbeitslosigkeitsrisiken zu senken. Für ostdeutsche Beschäftigte gilt für alle Phasen des Berufsverlaufs, dass berufliche Weiterbildung einen positiven Beschäftigungseffekt hat. Ferner belegt Staat (1997) mit Panel-Daten des GSOEP für beide Teile Deutschlands eine positive Wirkung von betriebsinterner und -externer Weiterbildung auf den Übergang von Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung in West und Ost, die eher tendenziell als substantiell waren. Auch Hujer, Maurer und Wellner (1998) zeigen mit den gleichen Daten, dass
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Weiterbildung für die arbeitslosen Teilnehmer zwar generell beschäftigungsfördernd ist, aber dass nur überbetriebliche Weiterbildung substantiell kurzfristige Effekte hat. Für Westdeutschland gilt, dass kurze Weiterbildungsmaßnahmen mit einer Dauer von maximal 6 Monaten im Zeitraum von 1985 bis 1993 zur Verringerung der Arbeitslosigkeitsdauer beigetragen haben, wobei die Wirkung nach zwei Jahren nachlässt, während langfristige Maßnahmen eine geringere Effizienz haben und nicht zur Verkürzung der Arbeitslosigkeitsdauer beitragen, was die Autoren auf ein negatives stigmatisierendes Signal der staatlich geförderten Maßnahmen zurückführen. Für Ostdeutschland im Zeitraum von 1990 bis 1994 finden die Autoren keine signifikanten Effekte der Weiterbildung, stellen aber fest, dass lange, in der Regel staatlich geförderte Maßnahmen eher zur Verlängerung der Arbeitslosigkeitsdauer der Weiterbildungsteilnehmer führen. Diese Befunde erhärten sie mit aktuelleren Daten (Hujer et al. 2006). Sowohl Hübler (1997, 1998) als auch Fitzenberger und Prey (1998) kommen mit Daten des IAB-Arbeitsmarktmonitors zum Ergebnis, dass staatlich geförderte Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit eher negative Beschäftigungseffekte haben. Aber je nach ökonometrischer Spezifikation finden letztere Autoren auch postive bzw. insignifikante Beschäftigungseffekte. Schließlich belegen Klose und Bender (2000) mit Längsschnittdaten der IAB-Beschäftigtenstichprobe (1986-1990) bei Kontrolle der sozialen Selektivität nur schwache positive Effekte von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen nach dem AFG auf die Wiederbeschäftigung Arbeitsloser. Die gleichen Maßnahmen haben für die Teilnehmer negative Auswirkungen auf den dauerhaften Verbleib in der Beschäftigung; d.h. sie werden rasch wieder arbeitslos, was die Autoren als Folge beschäftigungsrelevanter Defizite interpretieren, die nicht durch die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen beeinflusst werden kann. Für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen nach dem SGB III, die in den Jahren 2000 bis 2002 in Ostdeutschland, stellen Lechner und Wunsch (2006) keine positiven, sondern eher negative Beschäftigungseffekte fest. Mit neueren Daten und Verfahren weisen Biewen et al. (2006) positive kurz- wie langfristige Beschäftigungseffekte von AFG-Weiterbildungsmaßnahmen in West- und Ostdeutschland nach, die im Osten Deutschland schwächer ausfallen. Im Westen Deutschland weisen SGB-III-Trainingsmaßnahmen beträchtliche Beschäftigungseffekte für arbeitslose Frauen und Männer auf; sie sind besonders deutlich, wenn die Arbeitslosen nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit in diese Maßnahmen eintreten. Hingegen sind bis auf wenige Ausnahmen die gleichen Maßnahmen in Ostdeutschland weniger erfolgreich, um Arbeitslose in Beschäftigung zu bringen. So ist angesichts vorliegender Studien nicht auszuschließen, dass es eine Kumulation von selektiven Arbeitslosigkeitsrisiken gibt, an der auch eine Weiterbildung nichts ändert. Beispielsweise sind Umschulungen in Ostdeutschland deswegen oftmals „erfolglos“ (Behringer 1995: 42), weil die an diesen Maßnahmen teilnehmenden Personen von vornherein schlechtere Beschäftigungschancen haben. Insbesondere für Langzeitarbeitslose bleibt die intendierte Wirkung der Weiterbildung deswegen aus. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit überwiegt dann der Einfluss von Resignation und Stigmatisierung der Langzeitarbeitslosen (Heckman und Borjas 1980) die Bedeutung früherer oder aktueller Weiterbildungsteilnahmen (siehe Behringer 1995: 42). Insgesamt blieben – angesichts uneinheitlicher und zum Teil widersprüchlicher Befunde der Evaluationsstudien – für West- und Ostdeutschland die Hoffnungen der Konterkarierung und des Abbaus der Arbeitslosigkeit durch das verstärkte Angebot an beruflicher Weiterbildung und damit der Entlastung des Arbeitsmarktes bislang unerfüllt. Eher ver-
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schärfen sich über selektive Chancen, sich weiterbilden zu können, bestehende Segmentation von Arbeitsmärkten und Segregationen in der Arbeitswelt. Die Wirksamkeit von staatlich geförderter Weiterbildung beschränkt sich im Westen Deutschlands zunächst auf kurzfristige positive Effekte, während sie langfristig keine oder gar negative Effekte aufweisen (Prey 1999). Als hauptsächliche Gründe für die Erfolglosigkeit von staatlich geförderten Weiterbildungsmaßnahmen gelten: 1.) Zwang der Klientel zur Weiterbildung, wodurch Demotivierung der Teilnehmer gefördert wird, 2.) Anreize für Mitnahmeeffekte durch Gewährung von Übergangsgeld und anderen finanziellen Unterstützungen, 3.) stigmatisierendes Signal der öffentlich geförderten Maßnahmen, die durch entsprechende Qualitätsdefizite gefördert werden können, 4.) strukturelle Nachfragebedingungen des Arbeitsmarktes, wonach mangels offener Stellen auch keine zusätzlichen Weiterbildungsteilnehmer vermittelt werden können, 5.) Fehlspezifikation des Weiterbildungskurses, der nicht dem Bedarf von Schlüsselqualifikationen entspricht oder wenn Betriebe diese selbst ausbilden und daher nicht auf staatlich geförderte Weiterbildung zurückgreifen müssen und 6.) negative Selektion der Teilnehmer durch Manager der Weiterbildungsprogramme (Schömann und Becker 2002). Die Triftigkeit der Integrationsthese lässt sich demnach nicht uneingeschränkt belegen, wonach Weiterbildung ein effizientes Ausgleichs- und Profilierungsinstrument sei und die Sicherung des Arbeitsplatzes, Verminderung von Arbeitslosigkeit(srisiken) sowie über das Nachholen von Bildungszertifikaten den Zugang zu Beschäftigungsbereichen garantieren solle. Berufliche Weiterbildung und berufliche Karriere Des Weiteren bilden sich Erwerbspersonen weiter, um ihre berufliche Karriere zu fördern und Einkommens- und Mobilitätschancen zu verbessern. So belegen Längsschnittstudien im Kohortendesign für Westdeutschland in der Zeit bis Anfang der 1980er Jahre, wobei die soziale Selektivität der Weiterbildungschancen nicht explizit berücksichtigt wurde, dass der erfolgreiche wie zertifizierte Abschluss einer beruflichen Weiterbildung den Absolventen bessere Aufstiegschancen gewährt, während die Weiterbildungsteilnahme alleine schon das Risiko eines beruflichen Abstieges und der beruflichen Dequalifizierung deutlich vermindert (Becker 1991; Noll 1987; Müller 1977). Im Zeitraum von 1950 und 1983 erhöhte sich für Frauen und Männer mit einem zertifizierten Weiterbildungsabschluss die Chance für einen beruflichen Aufstieg um 55 bzw. 76 Prozent, während sich für die Weiterbildungsteilnehmer die Wahrscheinlichkeit für einen beruflichen Abstieg um 30 bzw. 50 Prozent gegenüber den Nichtteilnehmern verringerte (Becker 1991). „Unterschiedlichen Studien zu Folge wird der Nutzen berufsbezogener Weiterbildung von Seiten der Teilnehmer häufig höher bewertet, als dies die tatsächlichen beruflichen Verbesserungen erwarten lassen (…). So führt insbesondere die berufsbezogene, aber unzertifizierte Weiterbildung in der Regel nicht zu einer Verbesserung der beruflichen Position oder des Einkommens, immerhin mindert sie aber im Lebensverlauf das Risiko, arbeitslos zu werden oder Rückschritte in der Arbeitsposition in Kauf nehmen zu müssen“ (Schömann und Leschke 2004: 373). Vergleichbare Befunde haben Buchmann et al. (1999) mit Lebensverlaufsdaten für die Schweiz bis Ende der 1980er Jahre vorgelegt. Anhand eines ähnlichen Designs wie Becker (1991, 1993) zeigen sie für die um 1950 und 1960 geborenen Männer und Frauen, dass berufsbezogene und aufstiegsorientierte Weiterbildung eher den gewünschten Aufstiegseffekt haben als die Teilnahme an geringfügig institutionalisierten Weiterbildungskursen (siehe auch Li et al. 2000). So waren vor allem Frauen in der Schweiz auf allgemein aner-
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kannte und zertifizierte Weiterbildungsangebote angewiesen, um ihre Weiterbildungsanstrengungen in günstige Aufstiegschancen umzusetzen. Im Unterschied zur Bundesrepublik trägt in der Schweiz berufliche Weiterbildung in einem geringeren Maße dazu bei, berufliche Abstiege im Erwerbsverlauf zu vermeiden. Aber auch hier wird belegt, dass gerade zusätzliche höhere Zusatzqualifikationen und regelmäßige Teilnahme an institutionalisierten Kursen die Gefahr verringert, beruflich abzusteigen (Li et al. 2000). Wie in der Schweiz sind es in Deutschland vor allem zwischenbetrieblich transferierbare Qualifikationen, Kenntnisse und Fähigkeiten, die einen positiven Nutzen von Weiterbildungsteilnahmen erbringen (vgl. Becker und Schömann 1999). Zertifizierte und allgemein anerkannte außerbetriebliche Weiterbildung erhöhte die Arbeitsmarktflexibilität von Männern und in einem deutlichen eingeschränkten Ausmaß auch für Frauen. So sind Männer mit einer erfolgreich abgeschlossenen wie zertifizierten Weiterbildung eher in der Lage, innerhalb eines Betriebes aufzusteigen oder zwischen Betrieben zu wechseln, als Nichtteilnehmer, während Männer mit einer innerbetrieblichen Weiterbildung aufgrund der gewachsenen Betriebsbindung eine geringere zwischenbetriebliche Mobilität aufwiesen als Nichtteilnehmer.11 Berufliche Weiterbildung erhöht zudem gleichermaßen die Betriebsbindung und die Arbeitsmarktmobilität von Teilnehmern und verbessert ihre Möglichkeiten, flexibel auf die Arbeitsmarktlage zu reagieren (Becker 1993; siehe auch Düll und Bellmann 1999). Die Arbeitsplatzmobilität erhöht sich allerdings nur für Männer mit zertifizierten Weiterbildungsabschlüssen. Bei Frauen hingegen erhöht sich nicht die Wahrscheinlichkeit des Betriebswechsels, sondern die Betriebsbindung und Arbeitsplatzsicherheit. Die Teilnahme allein hat für sie offensichtlich keinen die Mobilität beschleunigenden Effekt. Diese Befunde für die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland belegen nicht nur die Rolle von Weiterbildung für die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch den herausragenden Stellenwert der Qualität und des Institutionalisierungsgrades von Weiterbildungsangeboten sowie des Grades der Transferierbarkeit von erworbenen Qualifikationen. Berufliche Weiterbildung und Einkommen Jedoch hat die Nachhaltigkeit einer zusätzlichen Qualifizierung für den Sozialstatus im Lebenslauf auch ihre Grenzen. Am Beispiel des Einkommensverlaufs westdeutscher Frauen in den Geburtsjahrgängen 1929-31, 1939-41 und 1949-51 konnte mit Lebensverlaufsdaten nachgewiesen werden, dass die Weiterbildungsteilnahme langfristige Einkommenseffekte hat (Becker und Schömann 1996). Während sich für die Frauen die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildung bei zwischenbetrieblichen Arbeitsplatzwechseln auszahlte, führte für Männer in den gleichen Kohorten bei innerbetrieblichen Arbeitsplatzwechseln zu Einkommenszuwächsen. Insbesondere wenn die Weiterbildungsteilnahme erfolgreich abgeschlossen wurde, konnten männliche Weiterbildungsteilnehmer eher zusätzliche Einkommen erzielen als Nichtteilnehmer. In dieser Hinsicht ist der individuelle Nutzen von Weiterbildung wiederum an die Chancen geknüpft, das institutionalisierte und qualitativ hochwertige Weiterbildungsangebot nutzen zu können. Auf ein- und demselben Arbeitsplatz konnten Weiterbildungsteilnehmerinnen über einen langen Zeitraum größere Einkommensgewinne erzielen als Nichtteilnehmerinnen. 11 Für den Zeitraum von 1986 bis 1989 findet Pannenberg (1995) auf Basis der GSOEP-Daten für Westdeutschland, dass berufliche Weiterbildung günstig auf die Beförderung auswirkt, sofern es sich um vom Arbeitgeber finanzierte Weiterbildung handelt. Positiv wirkt sich berufliche Weiterbildung auf Karrieresprünge nach einem Arbeitgeberwechsel aus.
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Frauen realisierten im Unterschied zu den Männern über Weiterbildung signifikante Einkommenszuwächse, wenn sie kontinuierlich auf ein- und demselben Arbeitsplatz beschäftigt waren. Wenn auch die berufliche Weiterbildung kein hilfreiches Instrumentarium war und ist, die geschlechtsspezifische Einkommensungleichheit abzubauen, so trägt sie für das Lebenseinkommen und der Alterssicherung von langfristig erwerbstätigen Frauen bei. Offensichtlich hat dieser positive Nutzen jedoch eine zunehmende Einkommensungleichheit unter Frauen zur Folge. Jedoch beschränkt sich die Phase von deutlichen Einkommenszuwächsen auf die ersten zehn Jahre. Danach sanken die Zuwachsraten, sofern nicht in zusätzliche Weiterbildung investiert wurde. Für die Bundesrepublik Deutschland sanken jedoch in der Zeit bis 1983 die Weiterbildungsrenditen, also die finanzielle Vergütung der Investitionen in Weiterbildungsaktivitäten der Beschäftigten, deutlich. Berücksichtigt man jedoch den Saldo der Entwicklung der Einkommenszuwächse und Renditen von beruflicher Weiterbildung im gesamten Berufsverlauf, so überwiegen Gewinne zusätzlicher Humankapitalinvestitionen gegenüber den Kosten. Ähnliche Auswirkungen von beruflicher Weiterbildung auf Einkommen belegen Buchmann et al. (1999) für die Schweiz. Individuelle Weiterbildung führt bei Männern zu signifikanten Einkommenssteigerungen, wobei die Teilnahme an qualifikations- und aufstiegsorientierten Weiterbildungskursen Voraussetzung dafür war. Ernüchternd hingegen ist der Nutzen von beruflicher Weiterbildung für Frauen. So zahlt sich für die jüngeren Frauen in der Schweiz lediglich eine regelmäßige Teilnahme an qualifikationsorientierten Kursen aus, so dass sich ebenfalls keine Veränderungen in den Einkommensdifferenzen zwischen den Geschlechtern ergaben. Die positiven Einkommenseffekte von beruflicher Weiterbildung untermauert Pannenberg (1995) für Westdeutschland in der Zeit von 1986 bis 1991 mit Daten des Sozioökonomischen Panels. Mit den gleichen Daten stellt Pannenberg (1998) für die Zeit von 1986 bis 1996 heraus, dass die monetären Erträge von Weiterbildung mit der Dauer von Betriebszugehörigkeit zusammenhängen. Auch Pischke (2001) kann für die Jahre 1986 bis 1989 mit Daten des GSOEP bei Kontrolle formaler Erstausbildung direkte Einkommenseffekte kontinuierlicher Weiter- und Fortbildung nachweisen und untermauert somit die Befunde von Schömann und Becker (1998, 2002) sowie von Pfeiffer und Reize (2000). Auch aktuellere Analysen von Büchel und Pannenberg (2006) belegen positive Einkommenseffekte von beruflicher Weiterbildung von Beschäftigten, die zudem mit der Häufigkeit und dem Volumen von Weiterbildungsteilnahmen signifikant zusammenhängen. Zudem stellen die Autoren fest, dass sich berufliche Weiterbildung vor allem in frühen Phasen des Berufsund Einkommensverlaufs auszahlen. Pfeiffer und Reize (2000: 20) zeigen mit BIBB/IAB-Daten, dass abhängig beschäftigte und selbständige Nichtteilnehmer an beruflicher Weiterbildung früher im Lebenslauf und rascher in ihrem Berufsverlauf den Höhepunkt ihrer Einkommensentwicklung erreichen. Hingegen können Teilnehmer an beruflicher Weiterbildung über einen längeren Zeitraum in ihrem Erwerbsleben zusätzliche Einkommenszuwächse realisieren. Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass nicht zwingend kausale Einkommenseffekte infolge beruflicher Weiterbildung vorliegen müssen; vielmehr lassen die Daten auch den Schluss zu, dass – wie von der Theorie segmentierter Arbeitsmärkte prognostiziert – berufliche Weiterbildung Folge innerbetrieblicher Karriere statt Ursache von beruflicher Karriere sein können (Pfeiffer und Reize 2000: 25).
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Für Ostdeutschland in der Zeit von 1990 bis 1992 stellen Pannenberg und Helberger (1997) einen positiven Effekt von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen auf die Einkommensentwicklung von Teilnehmern fest. Insbesondere zwischenbetrieblich mobile Teilnehmer konnten zusätzliche Einkommensgewinne realisieren. Des Weiteren haben innerbetriebliche Maßnahmen einkommenssteigernde Wirkungen, während sich dagegen nach dem AFG geförderte Maßnahmen eher einkommenssenkend auswirken. Eine mögliche Erklärung von Einkommensrückgängen bei außerbetrieblicher Weiterbildung könnte gemäß Hübler (1998) – so seine Befunde mit Daten des Arbeitsmarktmonitors Ost – mit der damit einhergehenden Dequalifizierung von Teilnehmern zusammenhängen. Besonders bei Umschulungsmaßnahmen scheint diese Begründung plausibel zu sein, unter Berücksichtigung der durchschnittlich schlechteren Beschäftigungschancen: Teilnehmer von Umschulungen wurden eher arbeitslos als Nichtteilnehmer. Offensichtlich tragen sowohl die Umstände, die zur Umschulung führten, als auch die Tatsache einer Umschulung selbst zur Diskriminierung dieser Personen bei, besonders eine mehrmalige staatliche Förderung sendet möglicherweise negative Signale. Mit den gleichen Daten stellen Fitzenberger und Prey (1998) bei anderen ökonometrischen Spezifikationen keine oder positive Einkommenseffekte fest. Ingesamt bestätigen die vorliegenden empirischen Befunde die Polarisierungsthese im engeren Sinne, wonach es im Weiterbildungsbereich durch ungleiche Zugangschancen der einzelnen, vor allem nach Ausbildung differierenden Arbeitskräftegruppen zu weiterer Polarisierung der Beschäftigungschancen kommt („Matthäus-Effekt“: Wer hat, dem wird gegeben). Weder Bildungsungleichheiten werden dadurch nivelliert noch werden folglich sozial ungleiche Markt- und Lebenschancen über Fort- und Weiterbildung ausgeglichen. Mit beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen wird gegenwärtig das Gegenteil erreicht: Kumulation, Verfestigung und Verschärfung sozialer Ungleichheiten von Bildungschancen und Lebenschancen, die an Bildung und Erwerbstätigkeit geknüpft sind.
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Schluss
Im Zuge der Bildungsexpansion und der Ausweitung des Angebots an beruflicher Weiterbildung gehört es zum integralen Bestandteil des Bildungs- und Berufsverlaufs, sich weiterzubilden. Die „Motoren“ für ein wachsendes Angebot von beruflicher Weiterbildung und eine wachsende Beteiligung an beruflicher Weiterbildung sind offensichtlich erstens gesamtgesellschaftliche Prozesse wie Konjunkturkrisen und Rezessionen. Hingegen liegen keine eindeutigen empirischen Evidenzen vor, dass technologischer Strukturwandel Nachfrage und Angebot von (beruflicher) Fort- und Weiterbildung forciert hat. Zweitens werden Entwicklungen von Arbeitsmärkten und Beschäftigungschancen mit der Expansion von beruflicher Weiterbildung in Verbindung gesetzt, wonach die gestiegene Konkurrenz beim Zugang zu knappen Arbeitsplätzen sowie auf Flexibilität ausgerichtete Qualifikationsprofile berufliche Fort- und Weiterbildungen notwendig machen. Dem Konzept kontinuierlicher Weiterbildung steht allerdings die empirische Tatsache gegenüber, dass Firmen verstärkt dazu tendieren, den technologischen Wandel mit jeweils neu auf den Arbeitsmarkt eintretenden und auf dem neusten Stand ausgebildeten Geburtsjahrgängen zu bewältigen, je rascher berufliches Wissen veraltet. Schließlich werden drittens individuelle Interessen der Erwerbspersonen nach mehr Arbeitsplatzsicherheit, vorteilhafte Einkommenschancen so-
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wie veränderte Bildungsansprüche infolge der Bildungsexpansion und der Höherqualifikation in der Generationenfolge angeführt. Zusätzliche Qualifikationen im Rahmen von beruflicher Weiterbildung, Fortbildung und Umschulung begrenzen sich jedoch nur auf einen kleinen Kreis von Beschäftigten sowie auf die ersten Berufsjahre und frühen Zeitpunkte im Erwachsenenalter (Mayer 2000). Trotz der Expansion des Weiterbildungssektors und der gestiegenen Teilnahme an beruflicher Weiterbildung und trotz der immer wiederholten Behauptung, dass berufliche Weiterbildung im Vergleich zur beruflichen Erstausbildung immer wichtiger werde für die Integration in die Arbeitsmärkte, hat die formale Erstausbildung nichts an Bedeutung für den Zugang zu den Arbeitsmärkten und Möglichkeiten für Fort- und Weiterbildung eingebüßt: So „ist die erste berufliche Weiterbildung in aller Regel entscheidend für das weitere Berufsleben, auch und gerade dann, wenn sie zum Sprungbrett für den Berufswechsel wird. Im Übrigen weisen alle Studien darauf hin, dass sich die berufliche Weiterbildung nicht nur vor allem auf die ersten zehn Jahre des Berufslebens beschränkt, sondern dass sie auch eine stark kumulative Wirkung besitzt: Je qualifizierter die Erstausbildung, desto höher die Beteiligung an Weiterbildung“ (Mayer 2000: 396-397). Allerdings hängen Kumulation beruflichen Wissens und Ausweitung von Fertigkeiten auch von der Qualität und Quantität vorhergehender Ausbildungen ab (Mayer 2000: 397). Die enge Korrelation zwischen dem Niveau der Erstausbildungen und der Möglichkeiten, sich beruflich fortbilden zu können, zeigt, dass kontinuierliche Weiterbildung kumulativ wirkt und bestehende Ungleichheiten verstärkt. Wenn – wie etwa auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Link zu „Lernen im Lebenslauf“ (http://www.bmbf.de/de/411.php) behauptet wird, dass das Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ heute keine Geltung mehr hat, so ist das nur die halbe Wahrheit, die eben hauptsächlich für die bildungsmäßig Privilegierten zutrifft. Der ausgleichenden Zielsetzung von Weiterbildungsmaßnahmen, wonach gering qualifizierten Erwerbspersonen weitere Chancen eröffnet werden, Bildungsdefizite und Bildungsnachteile abzubauen, und den Frauen, die die Erwerbstätigkeit unterbrochen haben, der Wiedereintritt in die Erwerbstätigkeit und in den Beruf erleichtert werden soll, sind deutliche Grenzen gesetzt. Zudem belegen empirische Befunde immer wieder, dass die Verteilung von Weiterbildungschancen den Segmentationslinien des Arbeitsmarktes folgt und die damit verbundenen Selektionsprozesse die Arbeitsmarktsegmentation reproduzieren und verfestigen (Becker 1993; Becker und Schömann 1996). In kontrovers geführten Debatten über die Zukunft von beruflicher Weiterbildung besteht weitgehend Einigkeit über den positiven Nutzen von Weiterbildung für die Angebotsund Nachfrageseite des Arbeitsmarktes. Die hohen Erwartungen an die berufliche Weiterbildung sind offensichtlich, während empirische Evaluationen von Weiterbildungsprogrammen eher ernüchternd sind. Sie zeigen, dass Weiterbildungsprogramme nicht generell und für alle Teilnehmer gleichermaßen zu den gewünschten Zielen führen. Qualifikatorische und geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarktes wird über berufliche Weiterbildung auf Dauer gestellt. Sie verschärft Ungleichheiten im Berufsverlauf und auf den Arbeitsmärkten. Kompensatorische Wirkungen in Bezug auf Arbeitslosigkeit sind deutlich beschränkt. Ohne eine wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Ergänzung eignet sich die Weiterbildung nicht als durchschlagendes Instrumentarium, Funktions- und Strukturdefizite des Beschäftigungssystems auszugleichen. So stellen Schömann und Leschke (2004) fest, dass in Deutschland die berufliche Weiterbildung noch weit entfernt sei von einem syste-
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matischen Ansatz des kontinuierlichen lebensbegleitenden Lernens: „Zu starkes Vertrauen auf den Markt als Regelungsmechanismus für Angebot und Nachfrage in der beruflichen Weiterbildung hat zu einer Tendenz geführt, die berufliche Weiterbildung in der Wissensgesellschaft zu einem bedeutenden Faktor der Verstärkung, zumindest der Fortschreibung, sozialer Ungleichheit macht“ (Schömann und Leschke 2004: 353). Nach Ansicht der Autoren führe das freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage auf dem Markt für Qualifikationen in der Tendenz zur kurzsichtigen Suche nach raschen Erträgen in Bildungsinvestitionen, die in Phasen der gesamtwirtschaftlichen Stagnation zu ungleichen Zugangschancen in berufliche Weiterbildung führen. „Lebenslanges Lernen in Form von Weiterbildungsteilnahme an Lehrgängen und Kursen ist zu einem bedeutenden gesellschaftlichen Selektionsprozess geworden. Nicht erwerbstätige Personen und Personen, die nur am Rande im Erwerbsleben beteiligt sind, verlieren bei den raschen technologischen und organisatorischen Veränderungen der letzten Jahre in der Arbeitswelt leicht den Anschluss, da sie kaum mit den Weiterentwicklungsmöglichkeiten durch Weiterbildungsteilnahme für Vollzeitbeschäftigte Schritt halten können. (…) Ohne die Berücksichtigung der Belange der dem Arbeitsmarkt fern stehenden Personen wird sich die Kluft zwischen den Personen in Arbeit, die an technologischen, organisationellen und persönlichen Lernprozessen beteiligt sind, und denen, die draußen stehen, weiter vergrößern“ (Schömann und Leschke 2004: 381). Aufhebung von sozialer Selektivität in der beruflichen Weiterbildung ist ein Schritt zur Herstellung von Gerechtigkeit bei Beschäftigungs- und Einkommenschancen, und daher nicht nur Aufgabe aktiver Arbeitsmarktpolitik, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und damit der Gesamtheit der Steuerzahler, zur Sicherung der Zukunft einer alternden Gesellschaft (siehe auch Schmid 2002). Sollte dies eine der Zielsetzungen für die zukünftige Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik sein, dann müssen seitens der empirischen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung die Ursachen und vor allem Mechanismen für Entstehung und Verstetigung sozialer Ungleichheiten, sich weiterbilden zu können, einschließlich ihrer Folgen für die Teilnehmer und Nichtteilnehmer noch genauer als bislang gesehen untersucht werden. Vorliegende Erklärungsmodelle sind realistischer zu formulieren, da sie in der Regel handlungstheoretische und strukturelle ‚black boxes‘ sind, deren erklärender Kern in der Regel erst noch einer empirischen Überprüfung bedarf (Manski 1993). Zudem stehen sie noch mehr oder weniger unverbunden nebeneinander. Aber eine systematische Integration ihrer zentralen empirisch bewährten Aussagen in ein Modell der Selbst- und Fremdselektion auf der Angebots- und Nachfrageseite des Arbeitsmarktes – etwa ein erweitertes Modell der Arbeitskräftewarteschlange nach Thurow (siehe Müller und Shavit 1998) – würde damit belohnt werden, dass die erklärungsbedürftigen Phänomene in Bezug auf berufliche Weiterbildung eingehend empirisch überprüft werden können. Wir wissen zwar recht viel über berufliche Weiterbildung, aber noch zu wenig über Mechanismen und Prozesse des selbstselektiven Weiterbildungsverhaltens von Erwerbspersonen und noch weniger über das kalkulierende Handeln der Arbeitgeber oder anderen Anbietern von Weiterbildungsprogrammen in ihrer Eigenschaft als ‚gate keeper‘ im Weiterbildungssektor (Fremdselektion). In methodischer Hinsicht benötigen wir dazu mehr und vor allem bessere, kumulativ erhobene Längsschnittdaten, die Auskunft über jegliches Weiterbildungsverhalten auf der Teilnehmer- und Anbieterseite oder von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite zugleich liefern müssen. Auch für die Evaluation von beruflicher Weiterbildung und Weiterbildungsmaßnahmen benöti-
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gen wir präzisere informationsreichere Daten. Erfolgversprechende Schritte in diese Richtung sind bereits gewiesen worden; es gilt nunmehr, diese zielstrebig zu beschreiten.
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Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit in der Bildungsund Wissensgesellschaft Heike Solga
1
Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit als soziales und soziologisches Problem
In Deutschland verlässt auch heute jede zehnte Schulabgängerin bzw. jeder zehnte Schulabgänger die Schule ohne einen Hauptschulabschluss. In den 1960er Jahren war es noch jede Fünfte bzw. jeder Fünfte. Darüber hinaus sind heute mehr als 1,3 Million junge Erwachsene bzw. rund 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Auch dieser Anteil ist in den letzten Jahrzehnten ernorm zurückgegangen (siehe Abbildung 1). Die Altergenossinnen und -genossen dieser Jugendlichen ohne Schul- bzw. Ausbildungsabschluss sind mit dem „Fahrstuhl“ der Bildungsexpansion eine Etage höher gefahren (Beck 1985), sie aber sind in ihrem Stockwerk geblieben. Sie gelten heute als die „Verlierer“ im Wettlauf um immer hohe Bildungsabschlüsse in Schule, Ausbildung und Hochschule – und dies in Zeiten eines angespannten Arbeitsmarkts. Dabei gehört es heute beinahe schon zu den Volksweisheiten, dass das Bildungssystem in unserer Gesellschaft eine wichtige – wenn nicht gar die wichtigste – Verteilungsinstanz für soziale und berufliche Positionen darstellt. Schul- und Ausbildungslaufbahnen mit ihren jeweils spezifischen Übergängen und Abschlüssen bestimmen in immer stärkerem Maße unsere späteren beruflichen Karrierewege und Arbeitsmarktchancen. Deutlich wird dies an dem Auseinanderdriften der qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquoten im Zeitverlauf (siehe Abbildung 2). Die Arbeitslosenquote gering qualifizierter Personen ist nicht nur angestiegen, sie hat zudem deutlich stärker zugenommen als die Arbeitslosenquote von (höher) qualifizierten Personen. In den 1970er Jahren hatten sie ein doppelt so hohes Arbeitslosigkeitsrisiko, heute ist es 3- bis 4-mal so hoch. Als Fazit ist festzuhalten: In Deutschland, wie in anderen Industriegesellschaften, ist der Anteil der Jugendlichen ohne einen höheren Sekundarschulabschluss (einschließlich einer beruflichen Ausbildung) in den letzten 50 Jahren stark zurückgegangen, ihre Arbeitsmarktrisiken sind allerdings deutlich gestiegen.
396
Heike Solga
Abbildung 1: 70
Anteil der jungen Erwachsenen (westdeutscher Herkunft) ohne Ausbildungsabschluss im 25. Lebensjahr (in Prozent)*
67
60 48
50
Frauen Insgesamt
40 %
Männer
29 30 20
18
27
13
14 8
17
10
12
11
1949-51
1954-56
9
9
1959-61
1964
0 1929-31
1939-41
6 1971
Geburtskohorte * Ohne Personen mit Migrationshintergrund. Anmerkung: Personen, die sich im 25. Lebensjahr in Ausbildung befanden und noch keine Berufsausbildung abgeschlossen hatten, sind hier nicht mitgezählt. Quellen: Eigene Berechnungen, Deutsche Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIfB), Studie der Geburtskohorten 1964/1971 des MPIfB und des IAB.
Geringe Bildung ist nicht nur für die Lebenschancen dieser Jugendlichen selbst, sondern allgemein von wirtschaftlicher und politischer Bedeutung. In wirtschaftlicher Hinsicht gilt die Bildung der Bevölkerung als Innovationspotenzial und zentrale Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Wohlstand. In politischer Hinsicht leitet sich aus der engen Verbindung von individuellem Bildungserfolg und Erwerbschancen zum einen ab, dass Bildung ein integraler Bestandteil von Sozialpolitik sein sollte (wie z.B. in den USA oder Großbritannien), da gesamtgesellschaftliche Investitionen in Bildung eine durchaus wirkungsvolle präventive, vorbeugende Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit und materielle Armut im Erwachsenenalter darstellen (vgl. Allmendinger und Leibfried 2003). Zum anderen ist der Bildungszugang und Bildungserwerb für die demokratische Verfasstheit unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Das in unserer Verfassung verankerte Ziel der Chancengleichheit fußt auf der Idee der Leistungsgesellschaft, der gemäß individuelle Bildungsinvestitionen und -anstrengungen als Beitrag zum Gemeinwohl zu belohnen sind. Ungleichheiten im Zugang zu Beschäftigung und ungleich entlohnten Berufspositionen sowie damit verbunden im Lebensstandard gelten solange als „gerecht“ (bzw. meritokratisch), wie diese Ungleichheiten auf individueller Bildung und Leistung beruhen.1 Statt der 1 Meritokratie ist ein von Michael Young (1958, 1994) geprägter Begriff. Meritokratie bedeutet „earned status by competence“ (Bell 1972: 65). Das Individuum, seine Talente, Begabungen und Anstrengungen – kurz seine Verdienste (sprich „Meriten“) – sollen Ursache sozialer Ungleichheiten sein. Diese Sicht entspricht einem liberalen
Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit in der Bildungs- und Wissensgesellschaft
397
sozialen Platzierung entlang zugeschriebener Merkmale der geburtsmäßigen Herkunft (wie Schicht, Geschlecht, Ethnie) soll daher die erworbene Leistung – signalisiert in Bildungskarrieren, Schulnoten, Bildungsabschlüssen und Qualifikationen – den Zugang zu (insbesondere höheren) sozialen Positionen bestimmen. Abbildung 2:
Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten und die relative Benachteiligung von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Westdeutschland, 1975 bis 2004
Quelle: Reinberg und Hummel (2005)
Im folgenden Kapital soll es nicht allgemein um Bildungsungleichheiten gehen (siehe das Kapitel von Becker über soziale Ungleichheit von Bildungschancen in diesem Band). Vielmehr werden Fragestellungen, theoretische Erklärungsansätze und empirische Befunde aus der Sicht von Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit dargestellt. Diese Perspektive ist nicht nur aufgrund oben genannter wirtschaftlicher und politischer Gründe interessant. Der Blick auf geringe Bildung eröffnet als „Abweichung vom Typischen“ zugleich sozialwissenschaftlich wichtige allgemeine Erkenntnismöglichkeiten. So sollten sich bspw. bei
Verständnis von individueller Freiheit, d.h., es geht um Chancen- und nicht um Ergebnisgleichheit: Selbst bei einer vollständig realisierten Meritokratie würden soziale Ungleichheiten daher nicht verschwinden. Kritisch wurde von Young (1958) wie Bell (1975) daher hervorgehoben, dass die Legitimation sozialer Ungleichheiten in meritokratischen Gesellschaften in letzter Konsequenz auf einer „genetischen Lotterie“, d.h. auf der Verteilung von Begabungen und Talenten bei der Geburt durch die „biologische Natur“, beruhen würde (Bell 1975: 316, siehe ausführlicher Solga 2005a: Kap.2, 2005b; siehe auch den Beitrag von Becker und Hadjahr über Meritokratie in diesem Band).
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Jugendlichen ohne Schul- und/oder Ausbildungsabschluss die Funktionen, die Zertifikate auf dem Arbeitsmarkt erfüllen, besonders deutlich zeigen (Blossfeld 1983: 223). Wie mehrfach in diesem Buch ausgeführt, beschäftigt sich die soziologische Bildungsforschung sowohl mit der Erklärung der Entstehung von Bildungsungleichheiten in Schule, Ausbildung und Weiterbildung, als auch mit dem Zusammenhang von Bildung und Beschäftigung, d.h. der Verwertung von Bildung beim Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt sowie im weiteren Lebensverlauf (vgl. Hillmert in diesem Band). Hinsichtlich der bildungssoziologischen Untersuchung von Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit liegt der Fokus eindeutig auf der Verwertungsebene – so auch in diesem Kapitel. Dies hat u.a. zwei Gründe. Zum einen wird bei der Definition von Bildungsarmut als sozialpolitischem Problem ein starker Bezug zur notwendigen Bildung für Beschäftigung und gesellschaftliche Teilhabe hergestellt (siehe Abschnitt 2). Zum anderen ist die Forschung zu Ausbildungslosigkeit stark mit der Arbeitsmarktforschung verbunden. Gleichwohl wäre es sträflich, die institutionellen und individuellen Entstehungszusammenhänge von geringer Bildung außen vor zu lassen, da gerade Antworten auf die Frage, wer erfolglos ist im Bildungssystem und warum, für die Frage nach den Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt von genuiner Bedeutung ist (siehe Abschnitt 3). Bildungssoziologische Fragestellungen im Hinblick auf Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit sind daher folgende: a. b.
c.
d.
Definitionsebene: Welche Personen sind in Abhängigkeit vom historischen und institutionellen Kontext als bildungsarm zu bezeichnen? Entstehungsebene I – soziale Faktoren: Gibt es systematische Beeinträchtigungen hinsichtlich der sozialen Herkunft für den Zugang zu allgemeiner und beruflicher Bildung? (Frage der Chancengleichheit und Meritokratie) Entstehungsebene II – institutionelle Faktoren: Inwiefern ist das deutsche Bildungsund Berufsbildungssystem für den geringen Bildungserfolg von Jugendlichen mitverantwortlich? Welche Konsequenzen hatte diesbezüglich u.a. die Bildungsexpansion? Verwertungsebene: Zu welchen Arbeitsmarktpositionen und Erwerbschancen haben diese – im Bildungssystem „gescheiterten“ – jungen Erwachsenen Zugang? Hat es hier im Verlauf der Entwicklung Veränderungen gegeben?
In allen Fragestellungen sind sowohl eine Intra- als auch eine Interkohortenperspektive enthalten. Mit der Intrakohortenperspektive werden die Unterschiede in der Definition, der Entstehung bzw. den Verwertungschancen von geringer Bildung im Vergleich zu höherer Bildung zu einem bestimmten Zeitpunkt, d.h. in einem bestimmten Alterjahrgang bzw. in einer Geburtskohorte, untersucht. Es geht also um das Verhältnis innerhalb einer Kohorte. In der Interkohortenperspektive wird hingegen gefragt, ob es im historischen Zeitverlauf – über die Kohorten hinweg – Veränderungen in diesem Verhältnis gegeben hat. Diese Fragestellungen – unter Berücksichtigung ihrer Intra- und Interkohortenperspektive – sind Gegenstand des vorliegenden Kapitels. Nach der Definition von Bildungsarmut und ihrem Bezug zu Ausbildungslosigkeit in Abschnitt 2 werden theoretische Erklärungsansätze und empirische Befunde zu Fragen von Entstehung geringer Bildung und ihren Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt dargestellt (Abschnitt 3 und 4). In Abschnitt 5 wird abschließend der Erkenntnisgewinn der bisherigen soziologischen Bildungsforschung in
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Bezug auf Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit und der zukünftige Forschungsbedarf spezifiziert.
2
Definition und Ausmaß von Bildungsarmut
Der Begriff „Bildungsarmut“ wurde erst Ende der 1990er Jahre in Deutschland von Jutta Allmendinger (1999) in die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion eingebracht. Anliegen ihrer Begriffsbestimmung war und ist es, die genuin sozialpolitische Komponente von Bildung aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die Verteilung von Erwerbschancen und Lebenslagen und damit für gesellschaftliche Teilhabe hervorzuheben. Bildungsarmut steht für ein Bildungsniveau – in Form von Abschlüssen/Zertifikaten oder Kompetenzen –, das in einer Gesellschaft unzureichend für eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt und gesellschaftlichen Leben ist. Unterschieden wird – wie bei materieller Armut – zwischen einer absoluten und einer relativen Definition von Bildungsarmut. Absolute Bildungsarmut ist institutionell über Zielstellungen des Bildungssystems einer Gesellschaft und das darin festgelegte Minimum an (zu erreichender) Bildung definiert. Relative Bildungsarmut orientiert sich hingegen am durchschnittlichen, sprich „typischen“ bzw. soziokulturell erwarteten Bildungsniveau in einer Gesellschaft. Personen, die sich am unteren Ende der Bildungsverteilung einer Gesellschaft befinden, gelten dann als (relativ) bildungsarm. Wer als (absolut oder relativ) bildungsarm zu kennzeichnen ist, ist abhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, in dem Bildungsarmut definiert wird. So ist zum Beispiel ein Jugendlicher ohne Ausbildungsabschluss, gemessen am deutschen Bildungsstandard, bildungsarm, obgleich er möglicherweise einen Realschulabschluss vorweisen kann. In Ländern hingegen, in denen eine berufliche Bildung eine untergeordnete und die allgemeine Bildung eine höhere Bedeutung hat – wie bspw. in Großbritannien –, wäre dieser Jugendliche mit seinem höheren Sekundarschulabschluss (Realschulabschluss) keinesfalls bildungsarm. Dies verdeutlicht, dass (absolute und relative) Definitionen von Bildungsarmut normativ sind, d.h. einem soziokulturellen Werturteil unterliegen und nicht als ontologisch gegeben verstanden werden können. Zertifikatsarmut Bezogen auf Deutschland wird das absolute Minimum an Bildung durch das Absolvieren der Schul- und Berufsschulpflicht und des damit definierten untersten Abschlusses bestimmt. Das ist der Hauptschulabschluss als unterer Sekundarschulabschluss. Damit sind heute 10 Prozent eines Altersjahrgangs von Bildungsarmut betroffen, bei den ausländischen Schulentlassenen sind es ca. 20 Prozent. Das Mindestmaß an Bildung in relativer Hinsicht ist in Deutschland heute jedoch bedeutend höher als der Hauptschulabschuss. Um die 70 Prozent der jungen Bevölkerung haben mindestens einen Realschulabschluss und mehr als 85 Prozent der 25- bis 29Jährigen haben vor dem Berufseinstieg eine berufliche oder akademische Ausbildung absolviert (Berufsbildungsbericht 2005: 96). Mit den 25- bis 29-Jährigen werden Personen identifiziert, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem persistenten Zustand von Ausbildungslosigkeit befinden und nicht nur in einem Übergangsstadium (Dahrendorf 1956). Heutzutage gelten also in Deutschland die 15 Prozent der jungen Erwachsenen, die keine
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abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können und damit ausbildungslos sind, als nicht ausreichend qualifiziert bzw. (relativ) bildungsarm. Der Anteil bildungsarmer 25- bis 29-Jähriger ist in den neuen Bundesländern mit 10 Prozent deutlich geringer als in den alten Bundesländern mit 15 Prozent. Eine Ursache dafür ist der deutlich geringere Anteil der ausländischen Bevölkerung in Ostdeutschland, denn für der ausländischen Bevölkerung liegt der Anteil ausbildungsloser 25- bis 29-Jähriger mit 37 Prozent deutlich höher als für die deutsche Bevölkerung (11 Prozent) (Berufsbildungsbericht 2005: 96f.). Kompetenzarmut Im Zuge der international vergleichenden PISA-Studien und deren Kompetenzmessungen kam es zu einer weiteren Definition von Bildungsarmut. Während Bildungsarmut zunächst in Bezug auf Bildungszertifikate (sozusagen als Zertifikatsarmut) definiert wurde, ist seit PISA Bildungsarmut in Bezug auf Bildungskompetenzen bzw. Kompetenzarmut auf die wissenschaftliche wie politische Tagesordnung getreten. Als absolute Kompetenzarmut gilt das Nichterreichen der untersten Kompetenzstufe (I) auf der fünfstufigen – und für Mathematikkompetenzen in PISA 2003 auf der sechsstufigen – Kompetenzskala der PISA-Studien. Diese Jugendlichen gelten als „funktionale Analphabeten“, da sie zwar elementare Lesefähigkeiten besitzen, „die jedoch einer praxisnahen Bewährung in lebensnahen Kontexten nicht standhalten“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001: 363). Zudem sind angesichts der Arbeitsmarktanforderungen in modernen Industriestaaten auch jene kompetenzarm, die nur die Kompetenzstufe I erreichen und damit nur über Basiskompetenzen verfügen. (Absolut) kompetenzarm wären damit – gemessen an der Lesekompetenz in PISA 2003 – etwa 22 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland, da sie nur maximal die Kompetenzstufe I erreichen. Im Vergleich dazu gibt es in Finnland weniger als 5 Prozent Lese-Kompetenzarme und knapp 10 Prozent Mathematik-Kompetenzarme. Relative Kompetenzarmut ist über die (empirische) Verteilung der jungen Menschen auf die unterschiedlichen Kompetenzniveaus zu bestimmen, wobei dafür sowohl der deutsche als auch der internationale Durchschnitt ein sinnvolles Definitionskriterium darstellt. Der Vergleich am nationalen Durchschnitt zeigt die Ungleichheit im Kompetenzerwerb innerhalb eines Bildungssystems an, der Vergleich am internationalen Durchschnitt hingegen die Effektivität eines Bildungssystems im Vergleich zu anderen Bildungssystemen hinsichtlich des erreichten Kompetenzniveaus eines Alterjahrgangs. Der deutsche Mittelwert der Lesekompetenz betrug in PISA 2003 491 Punkte, die Standardabweichung lag bei 109 Punkten. Letzteres entspricht einem Unterschied von mehr als zwei Schuljahren. Insofern ist es wohl mehr als vorsichtig, all jene als relativ bildungsarm zu bezeichnen, deren Kompetenzniveau mehr als eine Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts lag, d.h., die weniger als 382 Punkte erreicht haben. Bei Bezugnahme auf den OECD-Vergleichsmaßstab wären all jene mit weniger als 394 Punkten (= 494-100) (relativ) kompetenzarm. Für das Erreichen der Kompetenzstufe I sind 335 bis 407 Punkte erforderlich. Das heißt, der Anteil an relativ kompetenzarmen Jugendlichen wäre – sowohl beim nationalen wie beim internationalen Vergleichsmaßstab – etwa geringer als der Anteil absolut kompetenzarmer Jugendlicher. Dies verweist hinsichtlich relativer Bildungsarmut auf ein aus der (materiellen) Armutsforschung bekanntes Paradox: Die Nichtbetroffenheit von relativer Armut muss nicht mit „Wohlstand“ einhergehen. Ein Einkommen oberhalb von 50 Prozent des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommens – als gängiges Definitions-
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kriterium relativer Armut – kann – je nach Einkommensverteilung in der Gesellschaft – auch unter dem Sozialhilfesatz (bzw. unter Hartz IV) liegen. Verhältnis von Zertifikats- und Kompetenzarmut Es wäre ein Fehlschluss, die Gruppe der Kompetenz- und der Zertifikatsarmen gleichzusetzen. Sicherlich gibt es Überschneidungen. Gleichwohl ist für den schulischen Bereich gut belegt, dass hinter gleichen Zertifikaten und Noten ganz unterschiedliche Kompetenzniveaus stehen können. Umgekehrt ist bekannt, dass unterschiedliche Noten bzw. Zertifikate nicht notwendigerweise individuelle Kompetenzunterschiede ausweisen. So erreichen in den PISA-Studien zahlreiche der Hauptschüler und -schülerinnen durchaus Kompetenzwerte wie Gymnasiasten oder Realschülerinnen bzw. -schüler. Der Bundesländervergleich verdeutlichte zudem, dass zahlreiche Hauptschüler bzw. Hauptschülerinnen in Bayern mit ihren Kompetenzwerten in Bremen oder einem anderen Bundesland eine Realschule oder gar ein Gymnasium besuchen könnten. Es wäre ein weiterer Fehlschluss zu meinen, dass das Ziel der Verringerung von (insbesondere absoluter) Bildungsarmut mit einer Umverteilung von Bildung von oben nach unten – bzw., wie in der deutschen Diskussion häufig geäußert, mit einer Ansenkung von Bildungsstandards – einhergeht oder gar einhergehen muss. Dies würde bedeuten, dass Bildung (sei es in Form von besuchten Schultypen und Bildungsabschlüssen, sei es in Form von erworbenen Kompetenzen) eine fixe Größe ist, bei der das Mehr an Bildung des einen auf Kosten einer geringeren Bildung des anderen geht. Bildung ist jedoch kein NullSummen-Spiel, wie die unterschiedlichen Länderergebnisse der PISA-Studien zeigen. Viele Länder mit einem sehr hohen Durchschnittsniveau der Kompetenzen ihrer 15-Jährigen, wie beispielsweise Finnland oder Kanada, zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl eine exzellente Leistungsspitze als auch einen sehr geringen Anteil an kompetenzarmen Jugendlichen haben. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Zertifikatsarmut, d.h. Jugendliche ohne Schulabschluss (absolute Bildungsarmut) sowie ausbildungslose Jugendliche und junge Erwachsene (relative Bildungsarmut). Dieser Fokus ist dadurch begründet, dass Kompetenzen bzw. Kompetenzmessungen den Arbeitgebern für die Rekrutierung von Auszubildenden und Beschäftigten kaum zur Verfügung stehen. Insofern fragen Arbeitgeber vor allem (zunächst) Zertifikate nach und nur selten Kompetenzen. Von daher ist es für den deutschen Kontext angemessener, die Konsequenzen von Bildungsarmut über Zertifikatslosigkeit zu bestimmen. Wären Kompetenzen die zentrale Schaltgröße auf dem Ausbildungsund Arbeitsmarkt, so wären Tests als zertifizierte (und beobachtbare) Kompetenzen und damit Kompetenzarmut der Untersuchungsgegenstand bildungssoziologischer Forschung.
3
Theoretische Erklärungsansätze
Der Zusammenhang von geringer Bildung und Erwerbschancen wird mithilfe von mikroökonomischen und soziologischen Theorien erklärt. Im Folgenden wird jeweils zuerst in der Intrakohortenperspektive vorgestellt und erklärt, warum gering qualifizierte (zertifikatslose) Personen generell schlechtere Erwerbschancen haben als höher qualifizierte. Anschließend wird in der Interkohortenperspektive dargelegt, warum und wie sich das Verhältnis der Erwerbschancen von gering und höher qualifizierten Personen im Zeitverlauf verändert hat.
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3.1 Mikroökonomische Erklärungsansätze In mikroökonomischen Theorien wird Bildung generell als ein Prozess der Aneignung fachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten sowie sozialer Kompetenzen definiert. Daraus leitet sich die Grundannahme dieser Ansätze ab, dass die Leistungsfähigkeit von Personen mit steigender Bildung zunimmt. Angesichts der Kürze des Beitrags können die einzelnen Ansätze hier nicht detailliert dargestellt werden (siehe Becker und Hecken in diesem Band sowie das einleitende Kapitel von Becker in diesem Band). Zentrale theoretische Ansätze zur Erklärung der vergleichsweise schlechten Erwerbschancen von gering Qualifizierten sind: die Humankapitaltheorie, die Signaling-Theorie, das Job-competition-Modell, Segmentationsansätze sowie das Vakanzkettenmodell. Diese Ansätze werden häufig parallel verwendet (‚Theorie x sagt dies und Theorie y sagt jenes‘) und als alternative Erklärungen gesehen. Man kann diese Theorieansätze jedoch als eine Entwicklung behandeln, in der das Vakanzkettenmodell die vollständigste ökonomische Erklärung für Unterschiede in den Arbeitsmarktchancen verschiedener Bildungsgruppen bietet (siehe ausführlicher in Solga 2005a: Kap. 4). Alle dem Vakanzkettenmodell quasi vorgelagerten Ansätze sind partiell in dieses Modell integriert und gleichzeitig um ihre jeweiligen Erklärungsdefizite ‚komplettiert‘. Daher bezeichne ich es als informiertes Vakanzkettenmodell. Das informierte Vakanzkettenmodell geht auf White (1970) sowie Sørensen und Kalleberg (1981) zurück. Sein Ausgangspunkt ist, dass Art und Anzahl dieser freien Stellen (Vakanzen) die Gelegenheitsstrukturen auf dem Arbeitsmarkt definieren. Ob, wann, wo und für wen es Vakanzen gibt, darüber entscheidet v.a. der Charakter der Beschäftigungsverhältnisse für die verschiedenen Arbeitsplätze – nämlich, ob es sich um offene oder geschlossene Positionen handelt (vgl. Weber 1921/1984: 73). Dies ist wiederum abhängig davon, welchem Segment die Arbeitsplätze angehören (dem primären, qualifizierten Segment oder dem sekundären, Jedermannsarbeitsmarkt) und welche arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen (vor allem Kündigungsschutzregelungen) in einem Land bestehen (Sørensen und Kalleberg 1994). Die auf der Gleichgewichts-Idee von Adam Smith (1937/1974) basierenden neoklassischen Ansätze (wie bspw. Humankapitaltheorie, Signaling-Theorie und Job-competitionModell) unterstellen generell offene Beschäftigungsverhältnisse, bei denen Beschäftiger sich ihrer Arbeitsplatzinhaber entledigen können, sobald bessere Bewerber auf dem Markt zur Verfügung stehen (Gregory und Stuart 1989: 44). Geschlossene, monopolistische Positionen hingegen sichern die Arbeitsplatzinhaber gegen externe Konkurrenz ab und schließen, solange der Arbeitsplatz besetzt ist, externe (auch bessere) Bewerber vom Zugang aus. Dabei handelt es sich aus zwei Gründen vor allem um qualifizierte Arbeitsplätze (Sørensen und Kalleberg 1994: 368): Erstens ist der Personalaustausch auf diesen qualifizierten Arbeitsplätzen (im Vergleich zu Einfacharbeitsplätzen) mit höheren Einarbeitungskosten verbunden. Zweitens verlangt die häufig stärkere wechselseitige Einbindung von qualifizierten Arbeitsplätzen in der betrieblichen Arbeitsteilung eine höhere Personalstabilität (z.B. aufgrund betriebsspezifischer Kenntnisse über betriebliche Arbeits- und Kommunikationszusammenhänge). Aber auch der gesetzliche Kündigungsschutz, der häufig weitaus stärkere Entlassungshindernisse für qualifizierte Arbeits- als für Einfacharbeitsplätze definiert, macht Personalentscheidungen kostenträchtig und veranlasst Unternehmen zu einer
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sorgfältigen Planung ihrer Personalrekrutierung und ihres Personaleinsatzes (vgl. Bosch et al. 2001: 27). Von daher sind viele der qualifizierten, aber auch Teile der Einfacharbeitsplätze (sofern sie dem Kündigungsschutz unterliegen) geschlossene Beschäftigungsverhältnisse, deren Neubesetzung zunächst ein Freiwerden der Stellen verlangt. Aufgrund dieser langfristigen Bindung an die ausgewählten Arbeitskräfte sind Beschäftiger nicht nur daran interessiert, die beste Person einzustellen (gemäß dem Job-competition-Modell), sondern auch, ihr Risiko einer ‚schlechten‘ Rekrutierungsentscheidung zu minimieren (Müller et al. 2002). Für Rekrutierungsentscheidungen nutzen die Beschäftiger daher insbesondere (beobachtbare) Signaling-Merkmale, die in einem vermeintlichen Zusammenhang zur (zukünftigen) Leistungsund Lernfähigkeit von Personen stehen (Signaling-Theorie) – und dazu gehören in besonderer Weise Bildungszertifikate (Spence 1973; Sørensen und Kalleberg 1981: 66). Für die Erklärung der geringeren Erwerbschancen von gering Qualifizierten bedeutet dies, dass sie häufiger einem Marktwettbewerb im offenen Positionssystem ausgesetzt sind, da Einfacharbeitsplätze sowohl in qualifikatorischer Hinsicht (Segmentationsargument) als auch in arbeitsrechtlicher Hinsicht seltener geschlossene, sondern weit häufiger offene Positionen darstellen. Für diesen Wettbewerb sind sie angesichts ihrer geringen oder fehlenden Bildungszertifikate (und meist auch schlechteren Berufserfahrungen) nicht gut ausgestattet. Zudem verfügen sie aufgrund ihrer Erwerbskarrieren auf offenen Einfacharbeitsplätzen zumeist nur über eine vergleichsweise kurze Betriebszugehörigkeit, so dass sie in geringerem Maße von einem mit der Betriebszugehörigkeit verbundenen Kündigungsschutz profitieren können. Personen mit höherer Bildungsleistung nehmen hingegen an einem Vakanzwettbewerb im geschlossenen Positionssystem teil (Sørensen und Kalleberg 1981: 68). Basierend auf diesem Vakanzkettenmodell können zwei Erklärungsmechanismen für die Verschlechterung der Erwerbschancen gering qualifizierter Personen im Zeitverlauf abgeleitet werden (Interkohortenperspektive): der Verdrängungs- und der Diskreditierungsmechanismus Verdrängungsmechanismus Für die historische Entwicklung seit den 1970er Jahren ist festzuhalten, dass sich das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften infolge der gestiegenen Bildungsbeteiligung (Bildungsexpansion) stark erhöht hat und die Arbeitsmarktsituation für gering qualifizierte Personen durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, den Abbau von Einfacharbeitsplätzen und die Erhöhung des Angebots an Arbeitskräften (z.B. durch den Berufseinstieg der geburtenstarken Jahrgänge, eine erhöhte Frauenerwerbsbeteiligung, Zuwanderung, die Zunahme von Teilzeitbeschäftigung von Studierenden und Rentnern bzw. Renterinnen) angespannter geworden ist. Aus diesen Strukturverschiebungen wurde in den 1970er und 1980er Jahren die so genannte Verdrängungsthese bzw. ein verstärkter Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt von oben nach unten abgeleitet (Fürstenberg 1978; Beck et al. 1978; Lutz 1979; Mertens 1984; Blossfeld 1983, 1990). Sie ist auch heute noch die am meisten verbreitete Erklärung für die sich verschlechternde Arbeitsmarktsituation gering qualifizierter Personen. Die Verdrängungsthese kann – basierend auf den oben genannten mikroökonomischen Theorien – folgendermaßen formuliert werden: In Zeiten eines über der Nachfrage liegenden Angebots an qualifizierten Personen kommt es zu einer Reorganisation der Bewerberschlangen (Thurow 1979: 22). Zum einen verringern sich angesichts dieses Überangebots
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an höher qualifizierten Bewerbern die Zugangschancen von gering qualifizierten Personen zu qualifizierten Arbeitsplätzen. Als Folge werden sie auf einfache Arbeitsplätze zurückbzw. verdrängt. Damit werden zugleich auch frühere interne Karrierewege von gering qualifizierten Personen „abgeschnitten“ (Noyelle 1990: 219). Zum anderen sind angesichts des Überangebots nun auch höher qualifizierte Personen gezwungen, Einfacharbeitsplätze anzunehmen, wodurch sie gering qualifizierte Personen zunehmend von ihren angestammten Einfacharbeitsplätzen und damit überproportional in die Arbeitslosigkeit verdrängen. Für Gesellschaften mit einem betrieblichen Ausbildungssystem zeigen sich bei einer langjährigen Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt ähnliche Prozesse. Auch hier bevorzugen Betriebe zunehmend Bewerber und Bewerberinnen mit höheren Schulabschlüssen und passen ihre Einstellungskriterien nach oben hin an (Gerstenberger und Seltz 1978: 163). Demzufolge werden immer höhere Schulabschlüsse notwendig, um einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Jene mit niedrigem oder ohne Schulabschluss werden dann bereits vom Ausbildungsmarkt verdrängt. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Argumentation der Verdrängungsthese basiert auf der Annahme, dass die abnehmenden Arbeitsmarktchancen gering qualifizierter Personen vor allem die Folge eines wachsenden quantitativen Ungleichgewichts zwischen Bildungsstruktur als Angebotsseite und Berufsstruktur als Nachfrageseite (d.h. von Kapazitätsproblemen) sind. Dieses Ungleichgewicht resultiere daraus, dass sich die Arbeitsplatzbzw. Berufsstruktur langsamer verändere als die Bildungsverteilung, so dass ein Überangebot an qualifizierten Personen im Vergleich zur Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften zur Verfügung steht (vgl. Müller-Benedict 1999). Ignoriert werden kapazitätsunabhängige Ursachen, die zu einer Verschlechterung der Arbeitsmarktlage von gering qualifizierten Personen beigetragen haben könnten. Dazu im Folgenden weitere Überlegungen. Diskreditierungsmechanismus Die Verdrängungsthese berücksichtigt erstens nicht, dass sich die Außenwahrnehmung und Bewertung der Leistungsfähigkeit von Bildungsgruppen mit der Bildungsexpansion und damit einhergehenden Veränderungen von Bildungsnormen ändern (können) (Bills 1988: 77). Mit der gestiegenen Bildungsbeteiligung der großen Mehrheit eines Altersjahrgangs sind aber die Erwartungen der Personalverantwortlichen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von gering qualifizierten Personen gesunken, d.h., der Signalwert, „gering qualifiziert zu sein“, hat sich verändert. Eine Ursache dafür ist unter anderem, dass die starke Abnahme des Anteils gering qualifizierter Personen mit einer höheren Sortierleistung von Bildungsinstitutionen am unteren Ende der Bildungshierarchie gleichgesetzt wird, so dass die Glaubwürdigkeit von Kompetenzdefiziten bei fehlenden Zertifikaten gestiegen ist (vgl. Gerstenberger und Seltz 1978: 163; Weiss 1995: 143; Meyer und McEneany 1999). Zweitens basiert die Verdrängungsthese auf der Annahme, dass Beschäftiger bei einem Unterangebot an qualifizierten Arbeitskräften quasi gezwungen wären, gering qualifizierte Personen zu beschäftigen. Dies müssen sie jedoch nicht. Mit der Annahme einer ‚leistungsmäßigen‘ Negativ-Homogenisierung der untersten Bildungsgruppe seitens der Beschäftiger kann vielmehr erklärt werden, warum sie – selbst bei einem Unterangebot an qualifizierten Bewerbern – heute seltener bereit sind, gering qualifizierte Personen einzustellen, wie eine Vielzahl von Untersuchungen bestätigt (z.B. Murnane und Levy 1996; Falk und Klös 1997; Klös 1997; Giloth 1998; Heidenreich 1998). Sie konnten zeigen, dass Beschäftiger vor allem bei gering qualifizierten Personen (z.B. bei
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Personen mit fehlendem bzw. niedrigem Schulabschluss oder ohne abgeschlossene Berufsausbildung) in zunehmenden Maße über deren geringe, wenn nicht gar generelle NichtBeschäftigungsfähigkeit (non-employability) klagen – und zwar ungeachtet der Tatsache, dass sie mehr ‚wissen‘ und ein höheres Bildungsniveau (zum Beispiel mehr Schuljahre) erreicht haben als gering qualifizierte Personen älterer Generationen (siehe Abschnitt 4.2). Diese gleichfalls mikroökonomisch fundierten Gründe können daher im Verlauf der Bildungsexpansion – kapazitätsunabhängig – zu einer zunehmenden Diskreditierung (der Leistungsfähigkeit) von gering qualifizierten Personen als ‚Unfähige‘ geführt haben, die sie nun nicht nur auf die untersten Plätzen der Bewerberschlange verdrängt, sondern von bestimmten Bewerberschlangen gänzlich ausschließt. Verdrängung und Diskreditierung Verdrängung und Diskreditierung führen im Zeitverlauf dazu, dass Beschäftiger gering qualifizierte Personen, wenn sie sich bewerben, seltener beschäftigen. Beide reflektieren das Rekrutierungsverhalten der Beschäftiger unter Berücksichtigung des Anstiegs der Bildungsbeteiligung in der Gesellschaft (Blossfeld und Becker 1989; Becker 1993). Veränderungen im Such- und Bewerbungsverhalten der Arbeitssuchenden bleiben allerdings ausgeblendet (Blossfeld 1983). Bewerberpools sind jedoch keine Zufallsauswahl, sondern resultieren aus Prozessen, durch die Personen sich selbst in den Kreis der Bewerber ein- oder ausschließen (Blalock 1991: 132).
3.2 Soziologische Erklärungsansätze Mit Hilfe soziologischer Erklärungsansätze wird nun dem Bewerbungsverhalten gering qualifizierter Personen und dessen Veränderungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dafür gilt es, die Prozesse der Einmündung in die Gruppe gering qualifizierter Personen und deren Konsequenzen für das Bewerbungsverhalten in Rechnung zu stellen. Dies geschieht mit Hilfe unterschiedlicher, nun vorgestellter Theorieansätze.2 Gemeinsam ist ihnen eine relationale Betrachtungsweise von Bildungskategorien, d.h., sie berücksichtigten die sozialen Interaktions- und Beziehungsstrukturen innerhalb und zwischen Bildungsgruppen. Dadurch wird aus dem individuellen Leistungsmerkmal Bildung der ökonomischen Theorien eine Gruppenzugehörigkeit. Arbeitsanbieter werden nun als Mitglieder sozialer (Bildungs-)Gruppen betrachtet, die in ihren Lebensverläufen und Bildungsbiografien gruppenspezifische Erfahrungen, Interessen, Ressourcen sowie Interaktionsräume und -muster akkumuliert haben. Als Grundbausteine für die Erklärung der geringeren Erwerbschancen von gering qualifizierten Personen bieten sich zwei soziologische Zugänge an. Mit Blick auf die für die Arbeitsplatzsuche relevanten Ressourcen und sozial stratifizierten Netzwerke kann das 2
Rational-Choice-Erklärungen werden im Folgenden nicht vorgestellt, obgleich sie in der Bildungs- und Arbeitsmarktsoziologie einen etablierten Ansatz darstellen (siehe verschiedene Beiträge in diesem Band). Sie basieren auf einer axiomatischen Setzung von individuellen Interessen und Präferenzen als stabile Personeneigenschaften (vgl. Goldthorpe 2000: 124). Da sie soziale Ursachen für die unterschiedlichen Bildungsinvestitionen aufdecken können, sind sie eine soziologische Komplettierung der angebotsseitigen mikroökonomischen Ansätze (vgl. Breen und Goldthorpe 1997). Nicht erklärt wird mit diesem Ansatz allerdings die Herausbildung unterschiedlicher Interessen und Präferenzen, die für das Bewerbungsverhalten, insbesondere von gering qualifizierten Jugendlichen, sehr wichtig ist.
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Konzept der kategorialen Ungleichheit von Charles Tilly (1998) und dabei insbesondere sein Konzept des opportunity hoarding (Hortens von Gelegenheiten) herangezogen werden. Hinsichtlich der identitätsstiftenden Dimension von (fehlenden) Zertifikaten, d.h. der Prozesse der Identitätsbildung im Verlauf der Bildungsbiografie, sowie deren Konsequenzen für das Bewerbungsverhalten finden sich Anknüpfungspunkte im symbolischen Interaktionismus: „Wir sind, was wir sind, durch unser Verhältnis zu anderen“ (Mead 1968: 430). Mithilfe neo-institutioneller Überlegungen ist dabei allerdings erweiternd zugleich in Rechnung zu stellen, dass nicht nur unmittelbare Interaktionen als Konstruktionssituationen sozialer Identität von Bedeutung sind. Indem Institutionen Symbole und Routinen definieren, liefern sie zugleich kulturelle Deutungsmuster und Referenzsysteme für Interaktionszusammenhänge sowie auch für die Selbstwahrnehmung und damit verbundenen Handlungsstrategien seitens der Individuen (March und Olsen 1984; Vollmer 1996). Soziale Verarmung durch kategoriale Grenzziehungen Tillys Konzept kategorialer Ungleichheit – dargelegt in seinem Buch „Durable Inequality“ (1998) – erlaubt unter anderem die Einbeziehung sozial stratifizierter Netzwerke und Erfahrungsumwelten von Angehörigen unterschiedlicher Bildungsgruppen. Damit können auch die Interaktionen innerhalb der Gruppe gering qualifizierter Personen in die Erklärung ihrer vergleichsweise schlechteren Erwerbschancen einbezogen werden. Seine Hauptmechanismen der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit durch kategoriale Grenzziehungen sind: die Ausbeutung, das „Horten von Gelegenheiten“ (opportunity hoarding), die Nachahmung (emulation) und die Anpassung (adaptation). Es ist hier weder der Ort noch das Anliegen, diese vier Mechanismen detailliert darzustellen. Im Folgenden interessiert das opportunity hoarding als Ausschluss bestimmter Gruppen vom Zugang zu Gelegenheiten und Privilegien bzw. hier als Ausschluss von Angehörigen der Gruppe gering qualifizierter Personen vom Zugang zu (qualifizierten) Arbeitsplätzen. Die Grundidee von Tillys Konzept ist, dass organisationsexterne Kategorien (verstanden als Angehörige einer Gruppe bzw. sozialen Kategorie) und organisationsinterne Kategorien (wiederum verstanden als Gruppendefinitionen) über kategorial begrenzte Interaktionsmuster miteinander verbunden werden. Kategorien als soziale Gruppen definieren daher soziale Räume und symbolische Grenzen sozialer Beziehungen sowie kollektiver Erfahrungen. Die Matchingprozesse von externen und internen Kategorien stellen dabei nicht Selbstzwecke sozialer Ordnung dar; vielmehr werden mit ihnen Organisationsziele des jeweiligen Teilsystems (z.B. des Bildungs- oder Erwerbssystems) erfüllt: „(…) e.g., how to sort students, whom to hire etc.“ (Tilly 1998: 15). Sie senken dabei unter anderem Transaktionskosten und verschaffen Legitimation (Tilly 1998: 80). Für die Untersuchung der Erwerbschancen gering qualifizierter Personen gilt es folgende kategoriale Matchingprozesse zu betrachten: a.
b.
Herkunftskategoriale Grenzziehungen im Bildungssystem: das Matching von sozialer Herkunft als dem Bildungssystem externe Kategorie und von Bildungskategorien (wie Schultypen, schulinterne Kurssysteme, Bildungstitel) als interne Kategorisierung des Bildungssystems zur Differenzierung von individuell erbrachten Leistungen; Bildungskategoriale Grenzziehungen auf dem Arbeitsmarkt: das Matching von Personen mit bestimmten Bildungszertifikaten als Arbeitssuchende (dem Unternehmen ex-
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terne Kategorie) und der Qualifikationsstruktur von Arbeitsplätzen und ihrer Inhaber als unternehmens- bzw. organisationsinterne Kategorisierungen. Aus beiden als Wirkungskette resultieren, da soziale Herkunft eine wichtige soziale Dimension von Bildungskategorien (als soziale Gruppen) darstellt, Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung von Bildungsgruppen, die selbst wiederum die Arbeitsplatzsuche beeinflusst. a) Herkunftskategoriale Grenzziehungen im Bildungssystem: Zunächst geht es um die Frage, wie Herkunftsressourcen (als externe Kategorien) für die Zuordnung zu Bildungsgruppen (als interne Kategorien von Bildungssystemen) relevant werden. Zur Beantwortung dieser Frage ist gemäß Tilly nach den Organisationszielen und Interessenkonstellationen zu suchen, die das Aufgreifen der extern verfügbaren kategorialen Ordnung nach sozialen Schichten für intern zu organisierende Lern- und Auswahlprozesse vorteilhaft bzw. effizient und zugleich legitim werden lassen. Konflikttheoretisch liegt die Ursache für dieses Aufgreifen in den gesellschaftlichen Verteilungskämpfen um Zugangschancen und Privilegien in einer Gesellschaft (Weber 1921/1980; Collins 1979; Parkin 1979). Geht die Mitarbeit der Eltern in die Leistungsbewertung von Kindern ein, so ist die moderne Schule so organisiert, dass Kinder statushöherer Schichten eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, höhere Bildungszertifikate zu erwerben – auch wenn die Schule als demokratische Institution nicht garantieren kann, dass alle Kinder statushöherer Herkunft das zum Statuserhalt notwendige Bildungszertifikat erlangen, da sie die Kinder statusniedrigerer Schichten vom Schulbesuch nicht ausschließen kann (Sørensen 2000: 1548; Bourdieu 1982; Bourdieu und Passeron 1971). Diese Mitarbeit der Eltern bzw. die Berücksichtung von mitgebrachten Leistungsressourcen sind für die Aufgabe der Wissensvermittlung von Lehrpersonen durchaus effizient. Warum sollten sie nicht anknüpfen an das, was Kinder schon wissen? Zudem ist zu bedenken, dass Lehrerinnen und Lehrer auch die Aufgabe der Leistungsbewertung haben. Dabei bewegen sie sich in dem strukturellen Dilemma, dass sie (nur) die gezeigten Leistungen bewerten können und sie ihre Schülerinnen und Schüler dabei nicht dem Einfluss ihrer Familien entziehen können (wollen und sollen). Insofern bedienen sie sich (einerseits) eines in modernen Gesellschaften legitimen Instruments der Leistungsbewertung, nämlich dem der Schulnoten/Testergebnisse und der im Unterricht erbrachten Leistungen, ohne dabei jedoch (andererseits) von den mitgebrachten familialen Ressourcen und damit Leistungsvorteilen abstrahieren zu können und zu dürfen. Wir haben es daher mit einer durchaus verbreiteten Verbindung externer Herkunftsressourcen und interner Leistungsdifferenzierung in Bildungssystemen zu tun. Das Ergebnis sind gleichwohl Bildungsgruppen mit sozial stratifizierten Verkehrskreisen. Es geht daher im Wesentlichen nicht darum, ob Herkunftsunterschiede in der Schule relevant werden, sondern in welchem Ausmaß ein Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft besteht – und dies hängt wesentlich von der institutionellen Ausgestaltung des Bildungssystems ab. b) Bildungskategoriale Grenzziehungen auf dem Arbeitsmarkt: Die Mitglieder der so – nach sozialer Herkunft stratifizierten – Bildungskategorien bewegen sich als Arbeitsanbieter auf dem Arbeitsmarkt daher in sehr unterschiedlichen Verkehrskreisen und Erfahrungskontexten. Als Folge haben sie bei ihrer Arbeitsplatzsuche einen ungleichen Zugang zu Rekrutierungs- und Anbieternetzwerken (vgl. Marsden und Hurlbert 1988: 1043; Tilly
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1998: 104), denn der Zugang zu beiden Netzwerkarten wird über die bereits Beschäftigten hergestellt und diese gehören selbst wiederum bestimmten Bildungsgruppen an. Über Rekrutierungsnetzwerke können Beschäftiger bei der Suche nach Arbeitskräften auf Informationen durch ihre bereits Beschäftigten zurückgreifen. Ein guter Leumund und die persönliche Fürsprache durch bereits Beschäftigte können die Kosten und den Erfolg der Suche nach geeigneten Bewerbern seitens der Personalverantwortlichen optimieren. Das Unternehmen verringert dadurch Suchkosten und erzielt zudem Akzeptanz- und Legitimationsgewinne bei den Beschäftigten. Komplementär dazu bieten Anbieternetzwerke u.a. einen Zugang zu Informationen über freie Arbeitsplätze sowie Einblicke in die Arbeitswelt der jeweiligen Unternehmen und die dort verlangten Qualifikationen, die für das Abschätzen der Passung und der Erfolgschancen einer Bewerbung wichtig sind (vgl. Granovetter 1986: 15; Wial 1991: 413f.). Bei fehlenden Kontakten bleiben diese Erfahrungswelten und Informationsströme eher verschlossen. Infolge der herkunftskategorialen Grenzziehungen im Bildungssystem und der damit verbundenen sozial ärmeren Netzwerke und Erfahrungskontexte sind gering Qualifizierte – da sich ihre soziale (Bildungs-)Gruppe überproportional aus sozial schwachen Mitgliedern zusammensetzt – hinsichtlich gewinnbringender Anbieter- und Rekrutierungsnetzwerkressourcen benachteiligt. Sie erfahren weniger als höher qualifizierte Personen über das „Wo, Wann und Wie des sich Bewerbens“ (Wial 1991: 412). Zudem erschwert ihre häufigere Beschäftigung auf Einfacharbeitsplätzen mit ihren kürzeren Beschäftigungsdauern (siehe oben) nicht nur die Aneignung von Qualifikationen im Arbeitsprozess, sondern auch den Aufbau von Arbeitskontakten (so genannten weak ties) (Granovetter 1986: 14, 23). So verfügen sie zumeist auch langfristig häufiger nur (wenn überhaupt) über zuverlässige strong ties in ihrer Familie und engerem Freundeskreis, die allerdings gleichfalls häufig gering qualifiziert sind und daher seltener beschäftigt sind als höher qualifizierte Familien.3 Gerade für gering Qualifizierte ist dieser Modus der Arbeitsplatzsuche über Netzwerke zudem zentral – unter anderem deshalb, weil ihre fehlenden oder niedrigen Bildungszertifikate nur Auskunft darüber geben, was sie nicht können, nicht allerdings, was sie können. Enge Kontaktpersonen (wie Familienmitglieder) im Unternehmen hätten daher den Vorteil, dass die bereits Beschäftigten mit ihrer Arbeitsleistung quasi indirekt Auskunft über die Leistungsfähigkeit der von ihnen empfohlenen Kandidaten geben (vgl. Grieco 1988). Mechanismus der sozialen Verarmung Für die Interkohortenperspektive, d.h. die Frage, ob sich diese Grenzziehungen zwischen gering und höher qualifizierten Personen historisch verändert haben, so dass sich ihre Erwerbschancen im Zeitverlauf verschlechtert haben, ist es wichtig, die Konsequenzen der Bildungsexpansion zu betrachten. In die höheren Bildungsgruppen sind vor allem jene Kinder aufgestiegen, die – angesichts der herkunftskategorialen Grenzziehungen im Bildungssystem – über vergleichsweise bessere soziale bzw. familiale Ressourcen verfügen. In der unteren Bildungsgruppe verblieben sind im Gegenzug überproportional Kinder aus sozial schwächeren Familien. Die Folge dieser sozialen Homogenisierung der Gruppe gering qualifizierter Personen ist – mit Blick auf die bildungskategorialen Grenzziehungen auf dem Arbeitsmarkt – eine Verringerung der Netzwerkressourcen für die Arbeitsplatzsuche 3 Auch Granovetter (1974) geht davon aus, dass gerade beim Erwerbseinstieg Familienkontakte eine zentrale Rolle spielen, während Arbeitskontakte erst im späteren Erwerbsverlauf an Bedeutung gewinnen.
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bzw. eine verarmte Einbindung gering qualifizierter Personen in Anbieter- und Rekrutierungsnetzwerke, so dass die Bewerbungsaktivitäten von gering qualifizierten Personen in steigendem Maße negativ beeinflusst wurden. Die veränderte Sozialkomposition sozialer Gruppen, hier von Bildungsgruppen, wird damit zu einem genuinen Bestandteil der Erklärung. Dieser Prozess wird als These der sozialen Verarmung der Gruppe gering qualifizierter Personen bezeichnet (siehe ausführlicher in Solga 2005a: Kap. 7 und 8). Institutionelle Identitätsbeschädigung und Stigma-Management Die zweite soziologische Erklärungsperspektive widmet sich den Zuschreibungsprozessen, den Prozessen der sozialen Identitätsbildung im (Aus-)Bildungssystem und deren Konsequenzen für das Bewerbungsverhalten gering qualifizierter Personen. Der Akzent liegt auf der sozialen – und nicht der persönlichen – Identitätsbildung bzw. auf der Suche nach Ursachen für eine institutionelle Identitätsbeschädigung gering qualifizierter Personen im Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungssystem. Schulen haben in modernen Gesellschaften einen mehrfachen Bildungsauftrag zu erfüllen. Es geht unter anderem um die Herausbildung eines mündigen (demokratiefähigen), eines die gesellschaftlichen Normen akzeptierenden und eines (akademisch) gebildeten Individuums. Dazu gehört auch die Vermittlung des Leistungsprinzips und der Wettbewerbskultur in Bildungsgesellschaften. Von allen Kindern wird schulischer Erfolg, gemessen an genormten Leistungen durch Schulnoten oder Leistungstests, erwartet; danach werden sie beurteilt. Sie lernen dabei zugleich, wer sie – gemessen an der Erfüllung dieser Anforderungen in der Schule – im Wettbewerb mit ihren Altersgenossen sind. Der Leistungsmessung im Schulalltag (von sehr gut bis sehr schlecht, von leistungsstark bis leistungsschwach) ist dabei zugleich eine vertikale Kategorisierung von Schülerinnen und Schülern in Bezug auf ihr Lern- und Klassenraumverhalten inhärent. Durch die in der Schule verwendeten formalen und normierten Bewertungsverfahren werden „Abweichungen nach unten“ konstituiert. Schlechte Schulleistungen als abweichendes Verhalten sind damit „keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere“ (Becker 1981: 8). Dabei werden diese Abweichungen häufig mit solch ontologisch naturalisierenden Definitionen wie Begabungsmangel, Intelligenzdefizit, Lernbehinderung versehen (Ulrich 1996). Dies kann einerseits bei den so Klassifizierten zu verringerten Leistungsaspirationen und -anstrengungen führen.4 Andererseits werden Abweichungen so öffentlich gemacht, so dass sie sowohl für Lehrerinnen und Lehrer als auch für Mitschüler und Mitschülerinnen wahrnehmbar sind und antizipatorisch deren Verhalten gegenüber den so etikettierten Schulkindern mitbestimmen: „(...) was zunächst bloße Etikettierung war, wird nun von Dritten als Persönlichkeitsmerkmal verstanden“ (Ulrich 2003: 30) und droht aufgrund des psychologischen Halo-Effekts mit weiteren negativen Zuschreibungen und Identitätszumutungen einherzugehen (Secord und Backman 1977: 420). Hinsichtlich der Lehrerpersonen besteht hierbei die „Gefahr eines pädagogischen Pessimismus“, dessen Folge geringe Leistungserwartungen, -anforderungen und verzerrte Leistungsbewertungen sind (Fend et al. 1976: 105; Fend 2001: 347). Hinsichtlich der Mitschülerinnen und Mitschüler besteht die Gefahr, dass die so etikettierten Kinder inner- und 4 So hat die internationale TIMSS unter anderem (für Australien, Kanada, Island, Irland, Japan, Neuseeland, Portugal und die USA) gezeigt, dass Jugendliche der 8. Klasse, die natürliche Begabungen für gute Mathematikleistungen für wichtig halten, deutlich geringere Testergebnisse erreichten im Vergleich zu Jugendlichen, die diese Meinung nicht teilen (OECD 2000: 318; für Deutschland liegen keine Angaben vor).
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außerhalb des Unterrichts ständig auf diesen Makel festgelegt werden (DeLuca und Rosenbaum 2000: 9). Im Schulalltag werden so signifikante Symbole vermittelt, die in gemeinsam geteilter Bedeutung Auskunft über die Handlungskonsequenzen ihres Verhaltens in Interaktionszusammenhängen geben. Zu einem der wichtigsten signifikanten Symbole im Schulalltag gehört die Leistungsbewertung in Form von Lehrerurteilen im Unterricht, Noten, Testergebnissen und schließlich Bildungsabschlüssen, da sie – gemäß einer neo-institutionalistischen Perspektive – für selbstverständlich gehalten werden und (legitimierte) Maßstäbe für die Beurteilung angemessenen Verhaltens in der Schule moderner Gesellschaften darstellen (vgl. March und Olsen 1984: 741; Hasse und Krücken 1999: 10). Als sozial anerkannte Definition von Anforderungen und Pflichten werden sie zu einem intersubjektiven Interpretationsfilter, der in Form einer – aus den gezeigten Schulleistungen abgeleiteten – Bildungskategorisierung nicht nur Informationen über das Handeln des Gegenüber in den vielfältigen Situationen im Schulalltag liefert, sondern zugleich auch die Selbstwahrnehmung der Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihrer Leistung im Vergleich zu und in Reaktion auf die anderen formt. Ganz im Sinne Meads (1968) handelt es sich damit um die Herausbildung einer sozialen Identität („Me“), als „meiner Vorstellung von dem Bild, das der andere von mir hat“ (Joas 2002: 176). Die in der Schule vermittelten Fremdbilder in Form von leistungsdefinierten Schülerkategorien führen zugleich zu Etikettierungen (Becker 1981), durch die sich die Kinder und Jugendlichen wie durch ein looking glass self (Cooley 1992) aus der Perspektive der anderen betrachten und ihr Leistungs- wie auch Sozialverhalten daran ausrichten. Als individuelle Reflexionsleistung und zunehmende soziale Integration der nachwachsenden Generation beinhaltet diese Identitätsbildung über Schulleistungen nicht nur die Reflexion der Erwartungen eines Anderen (significant other), sondern die eines – in der Abstraktion aller bedeutsamen Anderen – „generalisierten Anderen“ (generalized other). In der Schule erfahren sie so, wie sich andere Personen verhalten, wenn sie von ihren schlechten Schulleistungen erfahren und sie als Mitglieder der Gruppe schlechter Schülerinnen und Schüler identifizieren (Goffman 1974: 141; Crocker et al. 1998: 505). Dabei lernen sie zum einen, dass Schulleistungen von anderen Personen wahrnehmbare und gesellschaftlich hochbewertete Zeichen zur Charakterisierung von Personen (als Gruppenmitglieder) darstellen (Frey 1987: 179), und zum anderen entwickeln sie Strategien, mit dieser sozialen Identität der Leistungsschwäche umzugehen. Für Letzteres stehen ihnen zwei generelle Typen von Handlungsweisen zur Verfügung: Rebellion und Protest oder ein SichFügen als Anpassung an das Fremdbild (mit oder ohne Korrektur des individuellen Selbstbildes) (vgl. Schumann et al. 1991: 39). Beide sind aufgrund der relativen Autonomie der persönlichen oder Ich-Identität gegenüber der sozialen Identität möglich (Krappmann, 1971). Dadurch wird dem Individuum eine Identitätsinterpretation (role-making) erlaubt, die selbst bei ‚beschädigter‘ sozialer Identität nicht zu einem Verlust an persönlicher Identität führen muss (vgl. Brewer und Brown 1998: 560). Für viele dieser Kinder und Jugendlichen gestaltet sich der Schulalltag mithin als ein Wechselspiel von Feedback-loops des Scheiterns und Abkühlungseffekten (Clark 1960; Goffman 1952). Resultat derartiger Prozesse können Schulangst, Anomie (Gefühl der Machtlosigkeit) sowie Entfremdung und Distanzierung leistungsschwacher Schüler und Schülerinnen vom Lernprozess sein (Crocker et al. 1998: 537; Entwisle et al. 1997; Fend et
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al. 1976: 145).5 Schulverweigerung und Lernzurückhaltung signalisieren für viele dieser Jugendlichen dabei eher ein Identitätsmanagement der zweiten Variante, den „Rückzug“. Diese Abkühlungsprozesse sind nun nicht nur für die Konstituierung von Handlungsorientierungen und -mustern gering qualifizierter Personen im Schulkontext von Bedeutung. Im Sinne von Typisierungen von Verhaltenserwartungen und -weisen bestimmen sie als institutionalisierte und – über generalisierte individuelle Erfahrungen – internalisierte Handlungsmuster auch langfristig ihren „Zugang zur Welt“ (Berger und Luckmann 1980: 56ff.) und werden insofern für ihr Arbeitsmarktverhalten relevant. Ein vergleichsweise häufigeres Nichtbewerben um Ausbildungs- oder Arbeitsplätze von gering qualifizierten Jugendlichen ist insofern u.a. der Angst vor Entdeckung ihrer fehlenden Schulleistungen geschuldet (Jones et al. 1984: 30).6 Sie kennzeichnen jedoch nicht nur ein Spannungsmanagement im Sinne eines „defensiven Sichverkriechens“ (Goffman 1974: 27), sondern in gewisser Weise auch ein aktives Management, mit dem sie letztlich selbst entscheiden, wann sie welche (diskreditierenden) Informationen über sich preisgeben (wollen) (Goffman 1974: 57, 1977: 602; Geulen 2000: 198f.). Dabei besteht jedoch die Gefahr eines Teufelskreises: Etikettierungsprozesse aufgrund fehlender Schulleistungen sowie eine fehlende bzw. unzureichende Förderung (siehe Kategoriale Grenzziehungen im Bildungssystem) können zu einem Disengagement in der Schule führen, welches dann wiederum eine weitere Verschlechterung ihrer Schulleistungen zur Folge hat, so dass in späteren Interaktionszusammenhängen ihre Interaktionspartner (zunächst) auf eine geringere individuelle Leistungsfähigkeit rekurrieren und blockierte Gelegenheiten unberücksichtigt bleiben.7 Die Konsequenz ist ein erneutes Disengagement auch in diesen Kontexten und damit wiederum der Verlust von Gelegenheiten zum Kompetenzerwerb. 5 Ausdruck dafür sind unter anderem die hohe Schulverweigerungsquote (Blaug 2001: 45; Smyth 1999: 496). Sie liegt im OECD-Durchschnitt bei 5 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit des Fehlens in der Schule ist – so die Ergebnisse von TIMSS – umso höher, desto geringer die Leistung der Schüler sowie desto geringer der Leistungsdurchschnitt der Schule ist (OECD 2000: 239f.). Eine Untersuchung der Schulverweigerung in Köln konnte zeigen, dass der Anteil an Haupt- und Sonderschülern mit häufigem Schulschwänzen oder gänzlichem Fernbleiben vom Unterricht am höchsten ist (15 bzw. 13 Prozent), während dieser Anteil in Realschulen und Gymnasien deutlich niedriger ist (6 bzw. 5 Prozent) (Schreiber-Kittl und Schröpfer 2002: 53). Der Anteil bei den Haupt- und Sonderschülern ist wahrscheinlich noch höher, da es hier zahlreichere Befragungsausfälle durch das Fehlen am Tag der Befragung gab. Dieser Befund wurde auch durch andere deutsche regionale Studien bestätigt (vgl. ebd.). Als Gründe für das Schulschwänzen wurden v.a. ein negatives Verhältnis zu Lehrern und Mitschülern genannt (ebd.: 100). Zudem waren unter den Schulschwänzern oder Schulverweigerern in hohem Maße Jugendliche, die ein- oder mehrmals eine Klasse wiederholen mussten (ebd.: 101): „Die befragten Schülerinnen und Schüler empfanden ‚Sitzenbleiben‘ durchweg als Makel, als eine soziale Diskriminierung: In ihren eigenen Augen und denen der anderen hatten sie versagt. Sie mussten die vertraute Gruppe verlassen und fanden sich in fremden Lerngruppen und zwischen jüngeren Schülern wieder.“ (ebd.: 160). 6 Für westdeutsche Jugendliche ohne Ausbildungsabschluss werden immer häufiger als Gründe für den Ausbildungsverzicht ihre Resignation aufgrund antizipierter Problemen bei der Ausbildungssuche sowie ihre ungenügende berufliche Orientierung genannt (BIBB/EMNID 1999: 44; Davids 1994: 10). Laut einer EMNIDUntersuchung von 20- bis 24-jährigen Jugendlichen im Jahr 1990 haben sich 70 Prozent der Sonderschulabsolventen und 67 Prozent der Hauptschüler ohne Abschluss, die ohne Ausbildungsabschluss waren, nie um einen Ausbildungsplatz beworben (Beinke 1992: 50). Die BIBB/EMNID-Untersuchung im Jahr 1998 – in der 20- bis 29jährige junge Erwachsene ohne Berufsabschluss befragt wurden – bestätigte diese Größenordnung und Gründe für den Ausbildungsverzicht (BIBB/EMNID 1999: 42ff.). 7 Eine geringe Identifikation mit Schule und Leistung generell kann sie vor einem Verlust an Selbstwertgefühl schützen (jedoch bei gleichzeitigem Verlust an Selbstwirksamkeit und interner Kontrollüberzeugung; Bandura 1995) und ihnen ermöglichen, eine relativ hohe Zufriedenheit mit ihrem Leben aufrechtzuerhalten (Crocker et al. 1998: 530f.).
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Stigmatisierungsmechanismus In historischen und sozialen Kontexten, wo eine geringe(re) Leistungserbringung zur moralischen Defizit-Charakterisierung von Personen verwendet wird und die soziale Identität(sbeschädigung) gering qualifizierter Personen – im Sinne Goffmans – einen „master status“ in ihren Interaktionen mit der Umwelt erhält, kann aus dieser negativen Zuschreibung sogar ein soziales Stigma werden (vgl. Crocker et al. 1998: 506). Dabei spielt die Gruppengröße eine wichtige Rolle, da sie Auskunft darüber gibt, wie abweichend die fehlende Leistung ist: „power inherent in significant numbers“ (Jones et al. 1984: 315ff.). Mit Bezug auf diese Überlegungen in einer Interkohortenperspektive lässt sich ein vierter Erklärungsmechanismus für das Auseinanderdriften der Erwerbschancen von gering und höher qualifizierten Personen ableiten: der Mechanismus einer erhöhten Stigmatisierungsgefahr: Mit der Abnahme des relativen Anteils an gering qualifizierten Personen während der Bildungsexpansion erhöhte sich die Sichtbarkeit von geringer Bildung sowie die Individualisierung der Interpretation von geringer Bildung als selbstverschuldetes, abweichendes Verhalten. Geringe Bildung läuft so in Bildungsgesellschaften Gefahr, zu einem Stigma-Symbol zu werden, das in Interaktionen im (Aus-)Bildungs- und Erwerbssystem nur noch schwer zu „verheimlichen“ ist. Erlangt geringe Bildung so im Sinne Goffmans einen Masterstatus in den Interaktionen der als gering qualifiziert klassifizierten Personen, kann dies (im Vergleich zur Vergangenheit) zu einem häufigeren Fernbleiben vom (Ausbildungs- und) Arbeitsmarkt führen. Gemeinsam bewirken diese Strategien zur Vermeidung von Situationen mit einem hohen Misserfolgsrisiko (Stigma-Management) sowie die soziale Verarmung der Gruppe gering qualifizierter Personen, dass sie sich aufgrund der oben dargestellten strukturellen Ausgrenzungsrisiken immer seltener bewerben. Diese vier Mechanismen stellen keine alternativen Erklärungen dar, sondern komplementäre Prozesse, die gemeinsam in abnehmenden Beschäftigungschancen für gering qualifizierte Personen resultieren. Zusammen geben sie Auskunft über das Wie und Warum einer stärkeren Begrenzung der Handlungsspielräume von gering qualifizierten Personen auf dem Arbeitsmarkt. Dabei zeigt sich, dass es erforderlich ist, Bildung nicht nur als ein Individualmerkmal der (formalen und zugeschriebenen) Kompetenzausweisung zu begreifen, sondern zugleich auch als Gruppenzugehörigkeit – im Sinne von Ressourcen und Verkehrskreisen sowie Interaktionsrollen und sozialen Identitäten.
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Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit – ein lange Zeit vergessenes Thema
Nicht nur in der Politik, auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung wurden gering qualifizierte Personen lange Zeit vergessen. Die Bildungsexpansion der letzten 50 Jahre wurde fast ausschließlich mit dem Blick nach oben betrachtet. Untersucht und diskutiert wurde, ob eine Chancengleichheit beim Zugang zu höherer Bildung (zum Abitur und zur Hochschule) hergestellt werden konnte und ob damit der ‚Aufstieg durch Bildung‘ gelang (vgl. Müller 1998). Bisher gibt es daher sehr wenige systematische Untersuchungen zu den Bildungsbiografien und Erwerbsverläufen gering qualifizierter Personen. Ausnahmen sind die frühe empirische Untersuchung zu Jugendlichen ohne Berufsausbildung von Schweikert und seinen
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Kollegen (1976) sowie die „Nachfolgestudie“ des Bundesinstituts für Berufsbildung im Jahr 1998 (BIBB/EMNID 1999), die Studien zu Teilnehmerinnen und Teilnehmer an verschiedenen Projekten der Jugendhilfe, durchgeführt vom Deutschen Jugendinstitut (z.B. Lex 1997), und Untersuchungen im Rahmen des Bremer Sonderforschungsbereichs 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ (zum Beispiel im Teilprojekt zu Lebenschancen, Berufswegen und Delinquenz von Haupt- und Sonderschulabsolventen). Viele der bisherigen Studien haben zumeist nur einzelne Statuspassagen der Bildungs- und Berufsbiografien gering qualifizierter Personen untersucht, d.h. entweder ihre soziale Herkunft, ihre Schulbiografie, ihr Scheitern beim Übergang in eine reguläre Ausbildung oder ihren Berufseinstieg. Zudem handelt es sich bei diesen Studien um historische Momentaufnahmen, d.h. um Querschnittsuntersuchungen (die häufig zudem regional begrenzt sind). Eine systematische empirische Analyse der historischen Veränderungen in den Biografien gering qualifizierter Personen sowie der langfristigen Konsequenzen eines geringen Bildungserfolgs im Lebens- und Erwerbsverlauf steht immer noch aus. Im Rahmen der Nachwuchsgruppe „Ausbildungslosigkeit: Bedingungen und Folgen mangelnder Berufsausbildung“ am MaxPlanck-Institut für Bildungsforschung (von 2000 bis 2005) wurde diese Forschungslücke, insbesondere für den frühen Lebensverlauf (bis zum Berufseinstieg), teilweise gefüllt. Im Folgenden werden wichtige empirische Befunde zu Jugendlichen ohne Schulabschluss (absolute Bildungsarmut) und Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung (relative Bildungsarmut) vorgestellt.
4.1 Jugendliche ohne Schulabschluss Wie eingangs erwähnt, verließen 1965 etwa 20 Prozent der Jugendlichen die allgemeinbildende Schule ohne einen Schulabschluss (d.h. weder mit einem qualifizierten noch einfachen Hauptschulabschluss). Seit Beginn der 1980er Jahre gehen „nur“ noch 10 Prozent aller Schulabgänger ohne einen Hauptschulabschluss ab; bei den Mädchen sind es 7 Prozent, bei den Jungen 12 Prozent.8 Es gibt große Unterschiede zwischen den Bundesländern (sowie innerhalb der Bundesländer): In Nordrhein-Westfalen verlassen heute nur 6 Prozent die Schule ohne einen Abschluss, in Thüringen hingegen 13 Prozent. Gründe dafür sind nicht in begabungsmäßigen Unterschieden zu suchen (Klemm 1999: 8), sondern in Unterschieden in der sozialstrukturellen Bevölkerungszusammensetzung, der Schulstruktur und den sozialen Schulmilieus der Hauptschulen (vgl. Hinz et al. 2004; Solga und Wagner 2004). Soziale Verarmung der Erfahrungs- und Lernumwelt bildungsarmer Kinder Empirische Analysen zeigen, dass Bildungarmut vererbt wird und es mit der Bildungsexpansion hinsichtlich der familialen Situation eindeutig zu einer zunehmenden sozialen Verarmung dieser Gruppe gekommen ist (z.B. Willand 1987; Solga 2003; Solga und Wagner 2004; Wagner 2006). Die Familien von Jugendlichen ohne Schulabschluss zeichnen sich u.a. durch einen hohen Anteil unvollständiger Familien aus, ihre Väter sind überdurchschnittlich oft arbeitslos und das Bildungsniveau ihrer Eltern ist eher gering. Begleitet wird dies überdurchschnittlich oft von einer hohen Kinderzahl in der Familie sowie einem nied8
Nicht nur Jugendliche ohne Schulabschluss sind Außenseiter des deutschen Schulsystems geworden. Auch der Anteil der Schulabgänger mit einem Hauptschulabschluss hat sich drastisch verringert von 60 Prozent im Jahr 1965 auf nur noch ein Viertel heutzutage.
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rigen Haushaltseinkommen. Angesichts dieser Familiensituation sind sie einerseits hinsichtlich der Erbringung der erforderlichen Leistungen für den Übergang zu höheren Bildungseinrichtungen und einen Schulabschluss deutlich benachteiligt (siehe Abschnitt 3). Andererseits wird ihnen seitens der Grundschullehrerinnen und -lehrer seltener ein höherer Bildungsgang zugetraut. So erhalten sie – wie die IGLU für Deutschland gezeigt hat – im Durchschnitt schlechtere Noten und haben am Ende der vierten Klasse selbst bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und Lesekompetenzen eine weniger als halb so große Chance, eine Übergangsempfehlung für das Gymnasium zu erhalten, als Kinder aus den höheren Angestelltenfamilien (Bos et a. 2003: 19). Im Ergebnis besuchen etwa 40 Prozent der 15Jährigen aus Arbeiterfamilien eine Hauptschule und nur rund 10 Prozent das Gymnasium. In höheren Angestelltenfamilien (EGP-Klasse: obere Dienstklasse) ist es genau umgekehrt: Hier besucht jedes zweite Kind ein Gymnasium und nur jedes Achte eine Hauptschule (Baumert und Schümer 2001). Scheitern in der Schule – soziale Identitätsbeschädigung In den alten Bundesländern haben Jugendliche ohne Schulabschluss früher wie heute mehrheitlich eine Sonder- oder Hauptschule besucht. Seit den 1970er Jahren kommen sie hier zu etwa 40 Prozent von einer Sonder- bzw. Förderschule und zu etwa 50 Prozent von einer Hauptschule.9 Für Jugendliche, die eine Sonderschule besuchen, ist bereits mit dem Übergang in diesen Schultyp klar, dass sie es schwer haben werden, die Schule (wenigstens) mit einem Hauptschulabschluss zu verlassen. Ihre Erfolgschancen haben sich historisch nicht wesentlich verändert (Powell 2003, o.J.). In den 1970er Jahren wie auch heute werden rund 80 Prozent der Sonderschülerinnen und -schüler ohne einen Hauptschulabschluss entlassen. Die ‚Misserfolgsquote‘ der Hauptschule hat sich in diesem Zeitraum zwar verringert – von 22 auf 13 Prozent. Doch angesichts des Wandels in der sozialen Bedeutung der Hauptschule (sie wird heute nur noch von knapp einem Fünftel eines Altersjahrganges besucht) machen auch Hauptschülerinnen und -schüler erste Erfahrungen einer institutionellen „Aussonderung“. Begleitet wurde diese mit einer sozialen „Entmischung“ der Hauptschule und daraus resultierend einer sozialen Verarmung ihrer Lernmilieus (Solga und Wagner 2004; Prenzel et al. 2004: 22). Darüber hinaus verbleiben Jugendliche, die die Schule ohne Abschluss verlassen, heute deutlich länger in der Schule als früher. In den Geburtskohorten 1929-1931, 1939-1941 und 1949-1951 haben 50 Prozent der Personen ohne Schulabschluss (westdeutscher Herkunft) die Schule spätestens im Alter von 14 Jahren und 4 Monaten verlassen. In der Kohorte 1964/71 hingegen besuchten 50 Prozent von ihnen die Schule auch noch im Alter von 16½ Jahren und älter (Solga 2005: 206). In keiner anderen Bildungsgruppe ist der Anstieg des Alters am Ende der Schulzeit so hoch. Damit besuchen sie paradoxerweise die Schule heute (gemessen am Median) etwa genauso lange wie Schulentlassene mit einer mittleren Reife und sogar 10 Monate – also ein Schuljahr – länger als Jugendliche, die die Schule mit einem Hauptschulabschluss verlassen.10 9 In den neuen Bundesländern kommen Jugendliche ohne Schulabschluss in größerem Umfang auch von Schulen mit mehreren Bildungsgängen, da die Hauptschule in einigen neuen Bundesländern nicht eingeführt wurde (Solga 2003). 10 Diese Angaben basieren auf der Deutschen Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und MPIfB-IAB-Kohortenstudie 1964/1971 (beide unter Leitung von Karl Ulrich Mayer). Wenn nicht anders ausgewiesen, beziehen sich die Angaben auf westdeutsche Personen (ohne Migrationshintergrund).
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Diese verlängerte Schulzeit ist zum einem Ausdruck von Erfahrungen des „Scheiterns“ in den Schulbiografien dieser Jugendlichen. So zeigen unter anderem die PISA 2000Studie, dass jede dritte Hauptschülerin bzw. jeder dritte Hauptschüler mindestens einmal eine Klassenstufe wiederholen musste (Schümer 2001: 413f.). Bellenberg und Klemm (1998) wiesen für Nordrhein-Westfalen aus, dass fast die Hälfte der Hauptschülerinnen bzw. -schüler der 10. Klasse Erfahrungen mit Zurückstufung bei der Einschulung, Sitzenbleiben und/oder dem Wechsel des Sekundarschultyps gemacht haben, aber nur 13 Prozent der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Diese längeren Schulzeiten sind zum anderen dadurch verursacht, dass sie angesichts ihrer geringen Chancen auf dem Ausbildungsmarkt und mangels anderer Alternativen zumindest formal länger auf der Schule verbleiben.11 Letzteres zeigt z.B. die gemeinsame Untersuchung zur Situation nicht vermittelter Ausbildungsstellenbewerber der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundesinstituts für Berufsbildung im Jahr 2001 (BA/BIBB 2002). Sie weist aus, dass 41 Prozent der bei den Arbeitsämtern vorstellig gewordenen Ausbildungssuchenden, die keinen Schulabschluss vorweisen können, in dem Jahr, wo sie eigentlich eine Ausbildung beginnen wollten, nun weiterhin – zumindest formal (geachtet ihrer Fehlzeiten) – eine allgemeinbildende Schule der Sekundarstufe I besuchen. Der Anteil bei den erfolglos gebliebenen Ausbildungssuchenden mit einem Haupt- oder höheren Schulabschluss liegt (einschließlich des Schulbesuchs in der Sekundarstufe II) unter oder bei 10 Prozent. Verdrängung und Diskreditierung auf dem Ausbildungsmarkt Begründet mit dem Wandel zur Bildungs- und Wissensgesellschaft, gilt es sich stärker als früher zunächst auf ein qualifiziertes Berufsleben vorzubereiten. Dies hat in Deutschland zu einem Einschub einer berufsvorbereitenden und -bildenden Übergangsphase zwischen Schule und Erwerbstätigkeit für nahezu alle Schulentlassenen geführt. Selbst für Schulentlassene ohne Schulabschluss hat sich der Anteil an Personen mit einem Eintritt ins berufliche Bildungssystem deutlich erhöht: bei den Frauen von 31 auf 77 Prozent, bei den Männern von 76 auf 92 Prozent (Solga 2005: 208). Im Vergleich zu den anderen Bildungsgruppen bedeutet dies allerdings weitaus seltener die Aufnahme einer regulären Ausbildung. Zwar stellt der fehlende Schulabschluss kein formales Ausschlusskriterium für eine reguläre Berufsausbildung dar, da es keine formale Eingangsvoraussetzung bzgl. der schulischen Vorbildung und auch keinen objektiven Maßstab für Ausbildungsfähigkeit gibt. Doch aufgrund der verschärften Konkurrenz auf dem angespannten Ausbildungsmarkt (Verdrängung) (vgl. Solga 2003: 729ff.) sowie der Skepsis der Betriebe, dass diese Jugendlichen die Berufsschule erfolgreich absolvieren können (Diskreditierung), haben sie deutlich geringere Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Landen sie bei der Berufsberatung der Arbeitsämter/-agenturen, werden sie in ausbildungs- und berufsvorbereitende Maßnahmen kanalisiert mit dem Ziel, sie (nun) „ausbildungs- und beschäftigungsreif“ zu machen (vgl. Braun 2002): „Da die Zuweisung von Lehrstellen grundsätzlich aber keine staatliche Aufgabe ist, sind die verwaltenden Stellen verpflichtet, ihr eigenes Handeln in besonderer Weise zu legitimieren. Sie können dies nur dadurch erreichen, indem sie dem Jugendlichen einen ‚Devianzstatus‘ zuschreiben, der staatliche Intervention möglich bzw. erforderlich 11 Zu diesem Ergebnis – längere Verweildauern auf der Schule auf Grund mangelnder Alternativen auf dem Arbeitsmarkt – kommen auch Hauser et al. (2000: 15) in Bezug auf ethnische Minderheiten für die USA: „That is, other things being equal, minorities stay in school longer than whites because they lack attractive opportunities outside of school“.
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macht. Die Stigmatisierung als ‚Benachteiligter‘ ist somit eine zwingende Bedingung für staatliche Intervention und Hilfe“ (Ulrich 2003: 28). Mit der Geburtskohorte 1955 – d.h. seit dem Ausbau berufsvorbereitender Maßnahmen Anfang/Mitte der 1970er Jahre – können ca. 30 Prozent der schulabschlusslosen Personen, die (mindestens) eine berufliche Bildungsepisode vorweisen, zunächst bzw. ausschließlich nur in eine solche berufsvorbereitende Maßnahme oder berufsbildende Schule einmünden. Bei jenen mit Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife waren es nur 10 bis 15 Prozent (Solga 2005: 209). Die Tatsache, dass z.B. im Jahr 2000/2001 69 Prozent der Schüler im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) Personen ohne Schulabschluss waren, bedeutet zugleich, dass diese Jugendlichen hier – ähnlich wie an ihrer Haupt- bzw. Sonderschule für Lernbehinderte – wieder unter sich sind (Stichwort: soziale Verarmung). In ihrer Studie zu den Übergangsmustern von 2.323 18- bis 25-jährigen Frauen und Männern konnte Tilly Lex (1997: 232f.) feststellen, dass nur 30 Prozent der an diesen Maßnahmen teilnehmenden jungen Erwachsenen im Anschluss den Übergang in eine stabile Ausbildung oder Beschäftigung bewerkstelligten. Über die Hälfte (55 Prozent) der interviewten jungen Erwachsenen haben hingegen drei bis sechs Maßnahme-Stationen durchlaufen. Für diese Jugendlichen geht die Sinnhaftigkeit ihrer Bemühungen verloren (Preiß 2003: 61). Ähnliches zeigen Ergebnisse zum Jugendsofortprogramm JUMP (Dietrich 2001: 18): Von den 16- bis 18-jährigen JUMP-Teilnehmern war ca. ein Drittel im Anschluss an JUMP wieder in einer Maßnahme und mehr als 20 Prozent waren erneut arbeitslos. Bei den 24- bis 25-Jährigen wurden sogar mehr als 40 Prozent nach Abschluss der JUMPMaßnahme erneut in die Arbeitslosigkeit entlassen und weitere 20 Prozent dieser bereits Mittzwanziger befanden sich nach Abschluss der JUMP-Maßnahme in einer weiteren Maßnahme. Jede sechste JUMP-Teilnehmerin bzw. jeder sechste JUMP-Teilnehmer hatte keinen Schulabschluss (Dietrich 2003: 17). Stigma-Management auf dem Ausbildungsmarkt Diese Jugendlichen setzt die erhöhte Beteiligung im beruflichen Bildungssystem unter einen Normalisierungsdruck bzw. -zwang. Es konnte gezeigt werden, dass in der 1964/71er Kohorte jene Personen ohne Schulabschluss, die in ihrer ersten Ausbildungsepisode in eine berufsvorbereitende Maßnahme einmündeten, langfristig deutlich häufiger ohne Ausbildungsabschluss blieben als schulabschlusslose Personen, deren erste Ausbildungsepisode eine Berufsausbildung (einschließlich über- und außerbetriebliche) gewesen ist (Solga 2005: 213). Erstere blieben zu etwa 40 Prozent ohne Ausbildungsabschluss, Letztere nur zu knapp 20 Prozent. In vielen Fällen führten Maßnahmen also eher zu einem erneuten Versagen, das als ein individuelles Versagen interpretiert und gewertet wird und weitere Demotivierungsprozesse zur Folge hat (vgl. Heinz 1995, 1996). Insofern verwundert es nicht, dass die deutlich geringere Quote von Schulabgängern ohne Schulabschluss in regulären Ausbildungsverhältnissen nicht allein durch ablehnende Rekrutierungsentscheidungen seitens der Personalverantwortlichen verursacht ist, sondern auch das Resultat von geringeren Bewerbungsaktivitäten seitens dieser Jugendlichen ist. So gaben von den im Oktober 2001 nicht vermittelten Ausbildungsstellensuchenden ohne Schulabschluss auf die Frage Warum machen Sie zur Zeit keine Lehre? 49 Prozent gaben an, dass ihre schulische Vorbildung nicht oder noch nicht ausreichend sei, und 14 Prozent, dass sie keine Chancen sahen, sich erfolgreich zu bewerben (BA/BIBB 2002). Die entsprechenden Prozentzahlen für alle nicht vermittelten Personen betrugen 16 bzw. 6 Prozent.
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Im Ergebnis zeigt sich, dass sich trotz erhöhter Teilnahme im Berufsbildungssystem der Anteil der männlichen schulabschlusslosen Personen, die im Alter von 25 Jahren keinen anerkannten Ausbildungsabschluss vorweisen konnten, in den letzten 50 Jahren nur wenig verringert hat (Solga 2005: 212). Für die 1930er Geburtskohorte lag dieser Anteil bei 37 Prozent, in den beiden jüngeren Geburtskohorten 1964/71 bei 32 Prozent. Überdies hat sich ihr relativer Abstand zu den Männern, die die Schule mit einem Hauptschulabschluss verlassen haben, erhöht. In der 1930er Kohorte hatten sie ein etwa 1½-mal so hohes Risiko wie Abgänger mit Hauptschulabschluss, ohne Ausbildungsabschluss zu bleiben. In den Geburtskohorten 1964 und 1971 jedoch ein 4½-mal so hohes. Bei den weiblichen Jugendlichen ohne Schulabschluss sank der Anteil der Ausbildungsabschlusslosen von gut 80 Prozent auf unter 50 Prozent. Konsequenzen von Bildungsarmut für den Erwerbseinstieg Doch selbst jene der schulabschlusslosen Jugendlichen, die einen Ausbildungsabschluss vorweisen können, tragen in ihrer zukünftigen Erwerbskarriere ein deutlich höheres Arbeitslosigkeitsrisiko als Ausgebildete, die mit einem Hauptschul- oder höheren Schulabschluss die Schule verlassen haben (Reinberg und Walwei 2000: 33). Eine Ursache dafür ist, dass ihnen oft nur die so genannten Behindertenberufe nach § 48 BBiG sowie ein sehr kleines Segment an Ausbildungsberufen im Handwerk, in der Landwirtschaft sowie Hauswirtschaft im städtischen Bereich offenstehen. Diese Berufe gehören jedoch heute mehrheitlich zu den besonders beschäftigungsinstabilen, den schrumpfenden und stärker von Arbeitslosigkeit bedrohten Berufen (Solga 2003, 2004). Zudem absolvieren sie ihre Ausbildung hauptsächlich in Kleinbetrieben mit einer deutlich geringeren Übernahmequote oder außerbetrieblich, so dass sie ein deutlich höheres Risiko haben, an der nächsten Schwelle – beim Übergang in eine Beschäftigung – zu scheitern. Insgesamt ist daher ein starker Anstieg des Medians des Alters von Personen ohne Schulabschluss beim Berufseinstieg zu beobachten (Solga 2005: 215). Während in der 1930er Kohorte für die ersten 50 Prozent die erste mindestens 6-monatige Erwerbstätigkeit bis zu einem Alter von 16 Jahren und 5 Monaten begann, dauerte es in der 1964/1971er Kohorte bis zu einem Alter von 20 Jahren und 2 Monaten. Das ist im Kohortenvergleich ein Unterschied von fast 4 Jahren. Dieser massive Anstieg ihres Einstiegsalters ist ab den Geburtsjahrgängen 1955/1960 zu beobachten, d.h. seit dem die berufsvorbereitenden Maßnahmen für sie massiv ausgebaut wurden. Darüber hinaus ist der relativ späte Erwerbseinstieg auch ihrem höheren Arbeitslosigkeitsrisiko geschuldet: Fast 40 Prozent der Jugendlichen ohne Schulabschluss waren zwischen dem Verlassen der Schule und dem 25. Lebensjahr mindestens einmal arbeitslos, 19 Prozent von ihnen waren in diesem Zeitraum sogar mehr als 12 Monate arbeitslos gemeldet. Dieser Anteil ist mehr als doppelt so hoch wie bei den Jugendlichen, die die Schule mit einem Hauptschulabschluss verlassen haben. Im Ergebnis war fast ein Viertel der schulabschlusslosen Jugendlichen seit dem Verlassen der Schule bis zum 25. Lebensjahr (was in der Regel eine Zeitdauer von ca. 7 bis 8 Jahren bedeutet) weniger als 2 Jahre erwerbstätig. Auch hier ist der Anteil etwa doppelt so hoch wie bei den Jugendlichen mit einem Hauptschulabschluss. Berücksichtigt man den Zuschreibungs- und Etikettierungscharakter geringer Bildung, so wird deutlich, dass die mit ihrer Integration ins Berufsbildungssystem definierten Normalisierungspflichten letztlich mit neuen Stationen des Scheiterns verbunden sind. Versuche, diese Stationen erfolgreich zu durchlaufen, werden – infolge veränderter Bildungs-
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normen und angespannter Arbeitsmarktbedingungen – von ihnen immer mehr verlangt. Zugleich sinken die Chancen, dass sie über diese Stationen in kontinuierliche Erwerbsarbeit einmünden können. Die damit einhergehenden diskreditierenden Fremd- und Selbsttypisierungsprozesse erhöhen die Gefahr einer institutionellen Identitätsbeschädigung und können in der Konsequenz aus geringer Bildung ein soziales Stigma in Bildungsgesellschaften werden lassen.
4.2 Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung (relative Bildungsarmut) Die empirischen Befunde zu den Erwerbschancen ausbildungsloser Personen sind eindeutig und ernüchternd (vgl. auch Abbildung 2). Derzeit weisen über 60 Prozent der Arbeitslosen unter 25 Jahre in Westdeutschland und über 40 Prozent in Ostdeutschland keine abgeschlossene Berufsausbildung auf (Dietrich 2003: 26). Ihr Arbeitslosenanteil wäre noch deutlich höher, würde nicht eine erhebliche Zahl von ihnen an den zahlreichen berufs- und ausbildungsvorbereitenden Maßnahmen teilnehmen.12 1998 – im ersten Jahr des JUMPProgramms – hatten etwa 70 Prozent der in die JUMP-Förderungen einsteigenden Jugendlichen keine abgeschlossene Berufsausbildung, 2002 waren es immerhin noch 53 Prozent (ebd.: 17).13 Darüber hinaus nahm jeder vierte junge Erwachsene ohne beruflichen Abschluss (26 Prozent), der 1998 erstmals in eine JUMP-Maßnahme einstieg, bis 2002 an zwei und mehr Maßnahmen teil (ebd.: 12). Doch auch für (noch) beschäftigte Personen ohne Berufsausbildung hat sich die Erwerbssituation drastisch verändert. In den alten Bundesländern war im Jahr 1999 jede bzw. jeder Fünfte von ihnen (21 Prozent) nur in einem unsicheren Beschäftigungsverhältnis tätig, in den neuen Bundesländern war es sogar jede bzw. jeder Dritte (32 Prozent) (Schreyer 2000: 2).14 Angesichts dieser Arbeitsmarktsituation verwundert es nicht, dass in den alten Bundesländern die Armutsquote von Personen ohne Schulabschluss mit über 20 Prozent, von un- und angelernten Arbeitern mit 17 Prozent und von Arbeitslosen mit fast 40 Prozent deutlich über dem Bevölkerungsdurchschnitt von 13 Prozent liegt (Datenreport 2004: 632).15 Auch hinsichtlich der Gesundheit sind Ausbildungslose deutlich benachteiligt. Etwa jede Fünfte ohne Berufsausbildung bewertet seinen Gesundheitszustand als „schlecht“, bei jenen mit (Fach-)Hochschulabschluss ist es nur jeder Achte (ebd.: 480). Analysen von Solga (2002, 2005a) auf Basis der Deutschen Lebensverlaufsstudie konnten zudem für Westdeutschland zeigen, dass sich die Erwerbschancen von ausbildungslosen Personen – gemessen am Zugang zu qualifizierter Beschäftigung – über die 12 Fast 100 Prozent der JUMP-Teilnehmer und -Teilnehmerinnen, die an Maßnahmen zu „Arbeit und Qualifizierung noch nicht ausbildungsgeeigneter Jugendlicher“ gemäß SGB III teilnahmen, hatten keinen Ausbildungsabschluss. Bei den geförderten Teilnehmern und Teilnehmerinnen durch Lohnkostenzuschüsse waren es hingegen nur knapp 30 Prozent (Dietrich 2003: 18). 13 In Westdeutschland sank der Anteil zwischen 1998 und 2002 von 79 auf 68 Prozent, in Ostdeutschland war der Anteil der jungen Erwachsenen ohne berufliche Ausbildung angesichts der allgemeinen Krise des betrieblichen Ausbildungs- sowie Arbeitsmarktes generell geringer, hier sank er von 53 auf 31 Prozent (Dietrich 2003: 17) 14 Dazu zählen befristete Arbeitsverhältnisse (einschließlich ABM), Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung und freie Mitarbeit. Bei den Beschäftigten mit einer abgeschlossenen Lehrausbildung waren neun Prozent in den alten und 16 Prozent in den neuen Ländern in derartigen Beschäftigungsverhältnissen tätig. 15 In den neuen Bundesländern zeichnet sich eine ähnliche Armutskluft ab: über 20 Prozent der Personen ohne Schulabschluss leben unterhalb der Armutsgrenze – bei einer durchschnittlichen Armutsquote von 16 Prozent.
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Kohorten hinweg verschlechtert haben. Die unterschiedlichen Geburtskohorten (von 1929 bis 1961) repräsentieren dabei unterschiedliche Stadien der Bildungsexpansion sowie unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen (Angebot- und Nachfrageverhältnisse) auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Allmendinger 1989: 40).16 Auf der Basis eines Kohortenvergleichs wurde dabei die Bedeutung von Verdrängung, sozialer Verarmung sowie die Existenz einer erhöhten Diskreditierungs- und Stigmatisierungsgefahr gering qualifizierter Personen mit Hilfe von quantitativen Analysen untersucht.17 Auch wenn mit den Analysen von Solga nicht das erhöhte Arbeitslosigkeitsrisiko gering qualifizierter Personen untersucht wurde, so zeigen bereits die Arbeitslosigkeitsanalysen von Franz (1999), dass die Verdrängungseffekte nur ca. 20 bis maximal 30 Prozent der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit von gering qualifizierten Arbeitskräften in Westdeutschland erklären können (vgl. Reinberg 1999: 441). Insofern gibt es empirisch eine Erklärungslücke, die für eine Relevanz von Verarmungs-, Diskreditierungs- und Stigmatisierungsprozessen von Ausbildungslosen spricht.18 Wie sehen nun die Befunde zu den Erwerbschancen von Ausbildungslosen im Zeitverlauf und den zugrundeliegenden Erklärungen aus? Schulniveau und Ausbildungslosigkeit In Abbildung 1 wurde bereits der Rückgang des Anteils an ausbildungslosen Personen über die Kohorten hinweg dargestellt. In Deutschland stellen Ausbildungslose heute zweifellos eine ‚normabweichende Minderheit‘ dar. In Abbildung 3 wird darüber hinaus – entgegen der weitverbreiteten Annahme einer leistungsmäßigen Negativ-Homogenisierung – deut-
16 Hinsichtlich einer historisch vergleichenden Untersuchung des Arbeitslosigkeitsrisikos gibt es mehrere datentechnische Probleme. Dazu gehören u.a. die fehlende Verfügbarkeit von Längsschnittdaten für ältere Geburtskohorten, mit denen zuverlässig auch kürzere Arbeitslosigkeitsepisoden abgebildet werden, sowie die historisch veränderten ‚Maßnahmen‘ zur (statistischen) Eindämmung der Jugendarbeitslosigkeit (bis zu einem Alter von 25 Jahren), die eine historische Vergleichbarkeit des Arbeitslosigkeitsrisikos bis zum Alter von 25 Jahren stark einschränken. 17 Für die Untersuchung von Stigmatisierung als einem aktiven Deutungsprozess, der sowohl vom Stigmatisierten als auch vom Stigmatisierenden vorgenommen wird, eignet sich wohl eher eine qualitative als eine quantitative Untersuchung. Der Gewinn Letzterer liegt jedoch darin, dass sie die unzureichende Erklärungskraft der Verdrängungsthese aufzudecken und Hinweise für eine systematische Existenz der im Alltag beobachtbaren stigmatisierenden Zuschreibungen zu liefern vermag. Die Existenz von Selbst- und Fremdtypisierung konnte in diesen Analysen allerdings nur auf indirektem Weg gezeigt werden, da die Lebensverlaufsdaten und darauf basierenden Analysen mit dem von Sen (1986) als „revealed outcomes approach“ bezeichneten Problem verbunden sind. Das heißt, die Präferenzen und Wahlhandlungen von Beschäftigern und gering qualifizierten Personen können hier nur aus ihrem beobachteten Verhalten – den realisierten Arbeitsmarktplatzierungen – abgeleitet werden. Es kann daher empirisch nicht festgestellt werden, zu welchem Anteil die realisierten Arbeitsmarktplatzierungen durch eine Fremdtypisierung (und durch welche Akteure im Schul-, Ausbildungs- oder Erwerbssystem) zu erklären sind und zu welchem Anteil durch Selbstselektionsprozesse. Dazu wäre es notwendig, nicht realisierte, sprich durch Beschäftiger ‚verhinderte‘ Arbeitsmarktplatzierungen und durch ‚Identitätsschädigungen‘ oder fehlende Netzwerkanbindungen verursachte, nicht intendierte Arbeitsmarktplatzierungen (seitens der gering Qualifizierten) zu erheben. Eine solche Vorgehensweise setzt allerdings voraus, dass Zuschreibungs- und Selektionsprozesse von den Individuen stets bewusst als solche reflektiert werden. Dies ist aber nicht (immer) der Fall. 18 In den Analysen von Solga (2005a) wurden Personen mit Migrationshintergrund nicht berücksichtigt, da für sie keine vergleichbaren Daten zur Verfügung standen. Der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund unter den Ausbildungslosen über die Kohorten hinweg angestiegen ist (siehe Abschnitt 4.3), dürfte der Diskreditierungseffekt in diesen Analysen wohl unterschätzt sein (vgl. Solga 2005a: Kap. 12). Zudem ist aus Analysen mit dem Mikrozensus bekannt, dass Antwortverweigerungen besonders bei den unteren und oberen Qualifikationsgruppen vorliegen (Riede und Emmerling 1994). Auch dies kann zu einer Unterschätzung führen, da die besonders betroffenen ‚Fälle‘ (wie z.B. Sonderschüler und -schülerinnen) unterproportional in der Stichprobe vorhanden sind (Solga 2004).
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lich, dass sich als Folge der Bildungsexpansion der Anteil an ausbildungslosen Personen mit einem höheren Sekundarschulabschluss erhöht hat. Abbildung 3:
Zusammensetzung der Ausbildungslosen nach ihrem erreichten Schulabschluss beim Verlassen der Schule (nur Personen westdeutscher Herkunft)
100% Abitur
80%
Mittlere Reife 60% Hauptschulabschluss 40%
ohne Schulabschluss
20% 0% 1930
1940
1950
1960
Geburtskohorte
Quelle: Eigene Berechnungen, Deutsche Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung
Der Anteil Ausbildungsloser mit einem Hauptschulabschluss hat sich von 78 auf 60 Prozent verringert und der Anteil Ausbildungsloser mit dem Abschluss der mittleren Reife oder gar einem Abitur hat sich von 9 auf 30 Prozent erhöht. Überdies hat sich der Anteil jener ausbildungslosen Personen mit einem Ausbildungsversuch fast verdreifacht.19 Ihr Anteil stieg von 24 auf 60 Prozent (und ihre Ausbildungsversuche erfolgten zu über 60 Prozent in privaten Betrieben). Dieser Anstieg resultierte vor allem aus den gestiegenen Ausbildungsanstrengungen ausbildungsloser Personen mit einem höheren Sekundarschulabschluss. Bei ihnen erhöhte sich der Anteil der Personen mit einem Ausbildungsversuch von 38 Prozent auf 75 Prozent, bei den Ausbildungslosen mit maximal einem Hauptschulabschluss erreichte er trotz eines Anstiegs nur 53 Prozent (in der 1930er Kohorte lag er bei 23 Prozent). Verdrängungsprozesse Über die vier Kohorten hinweg zeigt sich, dass der Anteil ausbildungsloser Personen, die in ihrer ersten Erwerbstätigkeit ‚dennoch‘ in qualifizierte Tätigkeiten einmünden konnten, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen über die Kohorten hinweg gesunken ist, d.h. in den jüngeren Kohorten gelang der Berufseinstieg vermehrt nur noch auf einem Einfacharbeitsplatz. Für eine Verdrängung von oben nach unten aufgrund eines Überangebots an qualifizierten Arbeitskräften müsste nun erstens zutreffen: Je größer das Überangebot an qualifizierten Personen ist, desto höher ist das Risiko, dass qualifizierte Personen nur einfache 19 Sie haben eine reguläre (schulische, akademische, betriebliche oder außerbetriebliche) Ausbildung begonnen, diese jedoch nicht beendet.
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Arbeitsplätze finden (positiver Zusammenhang). Gleichzeitig müsste sich zweitens zeigen: Je größer das Überangebot ist, desto geringer ist die Chance, dass ausbildungslose Personen Zugang zu qualifizierten Arbeitsplätzen haben (negativer Zusammenhang). Die Auswertungen zeigten, dass für Männer die Korrelationskoeffizienten mit diesen theoretischen Erwartungen der Verdrängungsthese übereinstimmen (Solga 2005a: 231). Zudem zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Angebots-Nachfrage-Relation und dem Anteil qualifizierter Personen auf Einfacharbeitsplätzen, wenn für den Anteil an Einfacharbeitsplätzen kontrolliert wird. Dies weist darauf hin, dass das Einfacharbeitsplatz-Risiko für ausgebildete Personen nicht nur von der Nachfrage nach einfacher Arbeit, sondern – konform mit der Verdrängungsthese – in der Tat von der Angebots- und Nachfrage-Relation abhängt. Für Frauen sind die Korrelationen weder signifikant noch eindeutig in den erwarteten Richtungen der Verdrängungsthese. Eine Ursache dafür könnte sein, dass viele Frauenberufe, obgleich sie eine Berufsausbildung erfordern, immer noch als einfache und nicht als qualifizierte Berufe angesehen werden (Solga und Konietzka 2000). Diskreditierung, soziale Verarmung und Stigmatisierung Mit Hilfe von logistischen Regressionen für die vier Kohorten, wodurch (statistisch) die Verteilungen des Arbeitsangebots und der Arbeitsnachfrage über die Kohorten hinweg konstant gehalten werden, wurde die Relevanz der anderen drei Mechanismen für die sich verschlechternden Arbeitsmarktchancen von Ausbildungslosen (gemessen am Risiko, nur auf einem einfachen Arbeitsplatz beschäftigt zu sein) untersucht (Solga 2005a: 232ff.). Die Schätzungen ohne gleichzeitige Berücksichtigung der Herkunftsvariablen (als Indikatoren für soziale Verarmung) zeigten, dass Ausbildungslose, ungeachtet ihres Schulabschlusses und eines Ausbildungsversuchs, in der 1940er und 1950er Kohorte im Vergleich zu denen der 1930er Kohorte, ein geringeres Risiko der Beschäftigung auf Einfacharbeitsplätzen hatten. Im Vergleich zu ihren ausgebildeten Altersgenossen hatten sie – wie die Ausbildungslosen der 1930er Kohorte – ein deutlich höheres Risiko. Mit der 1960er Kohorte veränderte sich jedoch das Bild entscheidend. Ausbildungslose hatten nun eine deutlich geringere Zugangschance im Vergleich zu den Ausbildungslosen der 1930er Kohorte (sowie auch der 1940er und 1950er Kohorte). Für die Ausbildungslosen mit maximal einem Hauptschulabschluss war das Risiko 3-mal so hoch wie in den früheren Geburtskohorten, für die Ausbildungslosen mit einem höheren Schulabschluss oder mit einem Ausbildungsversuch doppelt so hoch, und für Ausbildungslose ohne Ausbildungsversuch mehr als doppelt so hoch. Zudem hat sich auch der Abstand zu ihren ausgebildeten Altersgenossen deutlich erhöht. Die Tatsache, dass nach Kontrolle der Angebots- und Nachfrageverteilung weiterhin signifikante Effekte der Ausbildungsvariablen zu verzeichnen sind, bestärkt die Schlussfolgerung, dass Verdrängungseffekte allein die abnehmenden Beschäftigungschancen von ausbildungslosen Personen nicht erklären können. Vielmehr muss es über eine ungünstige Veränderung in der Angebot-Nachfrage-Relation hinaus weitere Gründe für die verminderten Zugangschancen von gering Qualifizierten zu qualifizierten Arbeitsplätzen geben. Zu diesen Gründen gehören auch zunehmende Diskreditierungen und Stigmatisierungen ausbildungsloser Personen seitens der Beschäftiger. Dies wurde in den Analysen durch zweierlei deutlich: (a) In der 1960er Kohorte betraf das erhöhte Risiko der Beschäftigung auf einem Einfacharbeitsplatz auch Ausbildungslose, die ein deutlich höheres Bildungsniveau aufweisen, als Ausbildungslose in den früheren Kohorten. Während früher nur die Ausbil-
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dungslosen mit maximal einem Hauptschulabschluss ein 7-mal so hohes Risiko der Beschäftigung auf einem Einfacharbeitsplatz im Vergleich zu ihren ausgebildeten Altersgenossen hatten, betraf es in der 1960er Kohorte auch jene Ausbildungslose, die einen höheren Schulabschluss (die mittlere Reife oder das Abitur) vorweisen konnten. (b) Ferner zeigte sich, dass die Effekte der Schul- und Ausbildungsvariablen bei Berücksichtigung der zentralen Herkunftsvariablen (berufliche Stellung des Vaters und instabile Familienverhältnisse als Indikatoren für ressourcenbedingte Selbstselektionsprozesse) nahezu unverändert blieben, also nicht primär durch soziale Verarmung erklärt werden können. Die Analysen haben zudem gezeigt, dass selbst bei Herkunft aus einer sozial höheren Familie die Benachteiligung des Zugangs zu qualifizierter Beschäftigung von Ausbildungslosen gegenüber Ausgebildeten (insbesondere in der 1960er Kohorte) nicht „ausradiert“ werden kann (Solga 2005a: 240). Hinsichtlich der sozialen Verarmung zeigten die Analysen signifikante Effekte der sozialen Herkunft bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Schul- und Ausbildungsniveaus (ebd.: 236ff.). Dies weist darauf hin, dass Personen mit einer geringeren faktischen und/oder normativen Verbindung zu qualifizierten Jobs eine geringere Chance hatten, auf qualifizierten Arbeitsplätzen beschäftigt zu sein. Zudem zeigte sich, dass es unter den Ausbildungslosen der 1960er Kohorte vergleichsweise häufiger als in früheren Kohorten Personen aus sozial benachteiligten Familien gegeben hat. Ein Vergleich der Geburtskohorte 1959-61 zwischen der DDR und der BRD hat gezeigt, dass die Vererbung von Bildungsarmut bzw. der Zusammenhang zwischen Ausbildungsniveau der Eltern und Ausbildungslosigkeit der Kinder in der DDR in den 1980er Jahren höher gewesen ist als in der BRD (Maaz 2001). In beiden Staaten hatten ausbildungslose Personen – im Vergleich zu Ausgebildeten – deutlich häufiger selbst Eltern, die beide keine Ausbildung abgeschlossen haben. In der BRD war das Risiko, bei ausbildungslosen Eltern selbst ausbildungslos zu bleiben, 3-mal so hoch im Vergleich zu Kindern mit ausgebildeten Eltern, in der DDR war das Risiko über 6-mal so hoch. Dies zeigt unter anderem, dass ein Einheitsschulsystem, in dem es weiterhin eine Definitionsmöglichkeit von „Bildungsversagen“ (z.B. in Form des vorzeitigen Ausscheidens vor dem Regelschulabschluss oder ohne Ausbildungsabschluss zu sein) gibt, soziale Ungleichheit am unteren Ende nicht abzuschaffen vermag. Diese Befunde verdeutlichen, dass es zwischen diesen vier Erklärungsmechanismen kein Entweder-Oder gibt. Gemeinsam tragen sie zur Erklärung der immer größer werdenden Kluft zwischen den Erwerbschancen gering und höher Qualifizierter bei. Gleichwohl ist hervorzuheben, dass die empirische Relevanz der Diskreditierungs-, der Stigmatisierungsund der Verarmungsthese letztlich aus einer Kohorte (der zwischen 1959 und 1961 Geborenen) abgeleitet wird. Weitere Analysen mit jüngeren Kohorten liegen derzeit nicht vor. Ausbildungslosigkeit und Familie Eine Radikalisierung der Benachteiligung von gering qualifizierten Personen – weder nach der absoluten noch der relativen Definition von Bildungsarmut – ist nicht nur auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten. Auch auf dem Heiratsmarkt zeigt sie sich eine deutliche Verschlechterung ihrer Heiratschancen. Im Vergleich zu früheren Geburtskohorten heiraten sie heute deutlich seltener als höher qualifizierte Personen (Huinink 1987) und tragen, wenn sie heiraten, ein erhöhtes Scheidungsrisiko (Wagner 1997). Ferner sind Personen mit geringer Bildung einerseits häufiger kinderlos als höher gebildete Personen. Andererseits haben sie häufiger sehr frühe Geburten (teenage-Elternschaft). In den Geburtsjahrgängen von 1967
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bis 1972 waren 10 Prozent der westdeutschen Frauen ohne einen höheren Sekundarschulabschluss bei der Geburt ihres ersten Kindes maximal 19 Jahre alt. Gegenüber den Frauen mit einem höheren Sekundarschulabschluss hatten sie damit ein mehr als 3-mal so hohes Risiko einer teenage-Mutterschaft. Für die Geburtsjahrgänge zehn Jahre vorher (also von 1957 bis 1962) war dieser Abstand mit einem „nur“ doppelt so hohen Risiko geringer (Fertility and Family Survey). Diese historische Verschlechterung der Heiratschancen von gering qualifizierten Personen sowie ihr „abweichendes“ Fertilitätsverhalten hat u.a. zwei Ursachen. Zum einen sind dafür die verringerten Erwerbschancen der gering qualifizierten Männer verantwortlich. Infolge der Verschlechterung ihrer Arbeitsmarktintegration haben die Möglichkeiten, den Lebensunterhalt für eine Familie zu verdienen, abgenommen. Dies trägt zu einem Rückgang der „Heiratsfähigkeit“ (als ökonomische Verantwortung) sowie der „Heiratsneigung“ (als langfristiges Commitment) bei diesen jungen Männern bei. Zum anderen stellt die Mutterschaft – als eine akzeptierte soziale Rolle – für gering qualifizierte Frauen sowohl eine Identifikations- als auch „Rückzugs“-Möglichkeit vom Arbeitsmarkt dar. Die durch Bildungsarmut verursachten Ausgrenzungsprozesse gering qualifizierter Personen finden damit auch in anderen Lebensbereichen – wie etwa der Familie – ihren Niederschlag. Auch hier zeichnet sich eine zunehmende soziale Spaltung zwischen bildungsarmen und (ausreichend) qualifizierten Personen ab.
4.3 De-Feminisierung und Ethnisierung von Bildungsarmut In den letzten 50 Jahren ist es zu markanten Veränderungen hinsichtlich des Zusammenhangs von Bildungsarmut und Geschlecht bzw. Migrationshintergrund gekommen. Auch hier gilt es, zwei Perspektiven zu unterscheiden. Hinsichtlich der Intrakohortenvarianz ist zu fragen, ob sich das Verhältnis der Arbeitsmarktchancen von gering und höher qualifizierten Männern und Frauen bzw. Personen mit und ohne Migrationshintergrund unterschiedlich verändert hat. Mit Blick auf die Interkohortenvarianz wird hingegen gefragt, wie sich die Gruppenzusammensetzung der gering Qualifizierten historisch verändert hat und welche Implikationen diese Kompositionsveränderungen – im Sinne von „demographic explanations“ (Stinchcombe 1987) – für die Arbeitsmarktchancen der Gruppe gering qualifizierter Personen hatten und haben. Mit Blick auf Erstere konnte festgestellt werden, dass die relative Arbeitsmarktbenachteiligung bei den ausbildungslosen Männern wie Frauen im Zeitverlauf stark zugenommen hat (Solga 2005a: Kap. 11). Bei den Männern stieg das relative Arbeitslosigkeitsrisiko von gering gegenüber höher Qualifizierten von einem doppelt so hohem Risiko im Jahr 1975 auf ein mehr als 3-mal so hohes; bei den Frauen gab es 1975 noch keinen Unterschied im Arbeitslosigkeitsrisiko, Ende der 1990er Jahre war die Arbeitslosenquote gering qualifizierter Frauen allerdings mehr als doppelt so hoch wie die von Frauen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung (ebd.: 247). Gleichfalls hat das relative Arbeitslosigkeitsrisiko der ausländischen Bevölkerung in Deutschland zugenommen: 1983 waren die Arbeitslosenquoten der EU-Ausländer und der deutschen Staatsangehörigen gleich (gleiches gilt auch für 2000), die Nicht-EU-Ausländer hatten allerdings eine 1,4-mal so hohe Arbeitslosenquote wie die deutschen Staatsangehörigen; im Jahr 2000 stieg das relative Arbeitslosigkeitsrisiko der Nicht-EU-Ausländer auf das 2,1-fache an (ebd.: 277).
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Hinsichtlich der Interkohortenperspektive zeigte sich empirisch, dass Frauen aus der Gruppe gering qualifizierter Personen im Verlauf der Bildungsexpansion überproportional „abgewandert“ sind, Personen mit Migrationshintergrund hingegen in dieser Gruppe vermehrt „zurückgeblieben“ sind. In der (westdeutschen) Geburtskohorte 1929-31 waren noch 51 Prozent der Personen, die die Schule maximal mit einem Volks-/Hauptschulabschluss verlassen haben, Frauen; in der 1971er Kohorte betrug der Frauenanteil allerdings nur noch etwa 40 Prozent (ebd.: 245). Unter den Ausbildungslosen der 1929-31er Kohorte waren noch über 70 Prozent Frauen, in der 1971er Kohorte hingegen nur noch rund 50 Prozent (ebd.: 246). Anders war die Entwicklung hinsichtlich des Migrationshintergrunds (siehe auch Diefenbach in diesem Band). 1983 hatten knapp 20 Prozent der Schulentlassenen ohne Schulabschluss eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit, Ende der 1990er Jahre waren es 25 Prozent. 1984 hatten 26 Prozent der ausbildungslosen 25- bis 34-Jährigen einen Migrationshintergrund, Ende der 1990er Jahre hingegen 36 Prozent (Solga 2005a: 268f.). Berücksichtigt man nun die oben genannten Intrakohorten-Entwicklungen – (a) die, wenn auch gestiegenen, so doch geringeren Unterschiede zwischen gering und höher qualifizierten Frauen und (b) die deutlich höhere Arbeitsmarktbenachteiligung von Personen mit Migrationshintergrund –, so ist abschließend zweierlei zu konstatieren: Zum einen verursachte die stärkere ‚Abwanderung‘ von Frauen (im Vergleich zu Männern) aus der Gruppe gering qualifizierter Personen („De-Feminiersierung“) einen Anstieg der Arbeitsmarktbenachteiligung dieser Gruppe, denn in der Gruppe verblieben sind die Männer. Zum anderen hat der größer werdende Anteil an Personen mit Migrationshintergrund in der Gruppe gering qualifizierter Personen („Ethnisierung“) zu einem historisch gestiegenen Arbeitslosigkeitsniveau dieser Gruppe beigetragen. Hinter den Kulissen eines gleichbleibenden Gruppenlabels geringe Bildung hat sich die Gruppenkomposition stark verändert. Dies hat gleichfalls ein Auseinanderdriften der Erwerbschancen der Gruppe gering qualifizierter Personen und der Gruppe qualifizierter Personen mitverursacht.
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Politische Implikationen und weiterer Forschungsbedarf
Diese theoretischen Überlegungen und empirischen Befunde bildungssoziologischer Forschung sind sehr wohl von praktischer Bedeutung. Sie ermöglichen eine Einschätzung gegenwärtiger Politikangebote im Hinblick auf die Verbesserung der Erwerbssituation gering qualifizierter Personen. Dies soll im Folgenden kurz skizziert werden. Nachträgliche Qualifikation: Allerorts wird eine Qualifizierung gering qualifizierter Personen favorisiert. Diese würde zwar (möglicherweise) die individuellen Chancen einiger gering Qualifizierter erhöhen, der Verdrängungswettbewerb wäre damit jedoch nicht außer Kraft gesetzt. Mehr noch, da es sich dabei in der Regel um Maßnahmen in einem ‚Parallelsystem‘ handelt, trägt eine nachträgliche Qualifizierung von gering Qualifizierten angesichts der etikettierenden, stigmatisierenden und ‚abschottenden‘ Momente dieser Sonderwege die Gefahr in sich, die Kanalisierungen und Zuschreibungen des Schulsystems fortzuschreiben. Da die gering qualifizierten Jugendlichen zudem hier wieder „unter sich“ sind, verbessern diese Maßnahmen kaum den Zugang zu einer arbeitsplatzbesitzenden Bezugsgruppe bzw. begegnen kaum der sozialer Verarmung ihrer Umwelt.
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Ausbau des Niedriglohnsektors: Dieser Vorschlag basiert auf dem neoklassischen Theorem markträumender Löhne. Für eine Erhöhung der Nachfrage nach einfachen Dienstleistungen – die, wie Klös (1997: 47) meint, per Definition „zum überwiegenden Teil für Geringqualifizierte zur Verfügung stünden“ – werden dementsprechend marktgängige Niedrig-Löhne und mindere Formen der sozialen Sicherung gefordert. In Anbetracht des Verdrängungswettbewerbs und der damit einhergehenden unterwertigen Beschäftigung von Fachkräften besteht der Mangel an Arbeitsplätzen jedoch keinesfalls im unteren, sondern im mittleren oder höheren Qualifikationsbereich. Der Ausbau von derartigen Niedriglohnarbeitsplätzen kommt unter deutschen Verhältnissen demzufolge einem Lohndumping von qualifizierter Arbeit gleich. Zur Verbesserung der Erwerbschancen gering qualifizierter Personen wäre eine generelle Erhöhung des Arbeitsplatzangebots – und zwar im mittleren Qualifikationsbereich – notwendig, um Mobilitätsketten von unten nach oben (statt von oben nach unten) in Gang zu setzen (Heise 1996: 272). Zeit- und Leiharbeit wurde in Deutschland erst in den 1990er Jahren als arbeitsmarktpolitisches Instrument salonfähig. Die Grundidee ist, dass schwer vermittelbare Personen durch Zeit- und Leiharbeit die Gelegenheit bekommen, sich in den entleihenden Unternehmen für eine Festanstellung bewähren zu können. Für die Aufnahme in Leih- und Zeitarbeit werden allerdings hohe Vorbedingungen gestellt, so z.B. eine hohe Arbeitsmotivation sowie die Beseitigung von gravierenden Qualifikationsdefiziten vor einer Beschäftigung in der Leiharbeitsfirma. Insofern verwundert es nicht, dass gering qualifizierte Personen, obgleich sie häufig als die Begründung für die Ausweitung von Zeitarbeit verwendet werden, im Vergleich zu ihrem Arbeitslosenanteil hier deutlich unterrepräsentiert sind. Der Anteil gering qualifizierter Personen betrug z.B. bei dem Zeitarbeitsunternehmen START Zeitarbeit NRW im Jahr 2001 gerade einmal knapp 9 Prozent (Oberste-Beulmann 2003: 84). Die der Zeitarbeit zugrunde liegende Logik des flexiblen Einsatzes von Arbeitskräften widerspricht dem Anliegen, gleichfalls ein Instrument zur Verbesserung der Erwerbschancen arbeitsloser gering qualifizierter Personen zu sein. Gerade gering qualifizierte Personen benötigen eine Stabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen – und zwar, um eine Gelegenheit für langfristige on-the-job-learning-Aktivitäten zu erhalten, um die betrieblichen Anreize für eine Weiterbildung dieser Personengruppe zu erhöhen sowie um Kontakte bzw. eine Einbindung in Anbieter- und Rekrutierungsnetzwerke aufbauen zu können. Aktivierende Sozialpolitik des „Förderns und Forderns“: Mit der Deklarierung einer „Sozialhilfe-“ und „Armutsfalle“ wird schließlich der (deutsche) Sozialstaat selbst als Ursache der Beschäftigungsprobleme gering qualifizierter Personen benannt. Gefordert wird demzufolge eine größere Eigeninitiative und räumliche Flexibilität als ‚Gegenleistung‘ für Sozialtransfers. Diese ‚Fallen-Argumentation‘ suggeriert, dass das Arbeitslosengeld, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie heutzutage Hartz IV als eine „attraktive“ Alternative zur Erwerbsarbeit gesehen werden. Unterstellt wird ein Free-rider-Verhalten seitens langzeitarbeitsloser gering qualifizierter Personen. Dies beinhaltet eine einseitige UrsachenAttribution auf die gering Qualifizierten und damit eine weitere soziale Diskreditierung. Ausgeblendet werden die strukturellen Ursachen in ihren Lebensgeschichten, die ein ‚SichArrangieren-Müssen‘ mit einen Leben außerhalb des Arbeitsmarkts gegebenenfalls erforderlich – wenn auch nicht wünschenswert – machen. Diese Politikangebote basieren auf einem eindimensionalen Verständnis von Bildung als individueller Qualifikationsausweis. Ausgeblendet wird Bildung als Gruppenzugehörigkeit. Von daher sind sie nicht in der Lage zu reflektieren, ob und inwieweit diese erst nach
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dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule ansetzenden Therapieangebote überhaupt in der Lage sind, Fehler zu korrigieren, die bereits in der Schulausbildung gemacht wurden. Ihr alleiniger Fokus der Verbesserung der Beschäftigungschancen gering qualifizierter Personen durch individuelle Konditionierungen ignoriert die systemischen Mängel, die der Diskreditierung, sozialen Verarmung und Stigmatisierung zugrunde liegen. Das soll nicht heißen, dass diese Angebote gänzlich nutzlos sind, „(...) doch sich auf sie zu beschränken, bedeutet den Verzicht auf Intervention bei den Prozessen, die diese Situation hervorbringen.“ (Castel 2000: 16). Forschungsbedarf Weitere Forschung zu Bildungsarmut und den Lebensverläufen von gering qualifizierten Personen ist unerlässlich. Es fehlen immer noch systematische, lebensverlaufsanalytische, historisch und international vergleichende Untersuchungen zu Entstehung und Folgen von Bildungsarmut. Markant ist hier insbesondere der Forschungsbedarf sowohl hinsichtlich der Personen mit Migrationshintergrund als auch bezüglich der langfristigen Folgen bis ins hohe Lebensalter. Ferner gibt es keine Analysen, in denen die intern vorhandenen Differenzierungen bzw. die Heterogenität der Gruppe gering qualifizierter Personen angemessen reflektiert wird (z.B. in Bezug auf die absolvierten Schullaufbahnen und Schulabschlüssen sowie das Ausmaß an sozialer Benachteiligung auf Grund herkunfts-, geschlechts- und ethnisch-kategorialer Grenzziehungen). Schließlich gibt es keine vergleichenden Untersuchungen hinsichtlich der relativen Relevanz der unterschiedlichen Erklärungsmechanismen – Verdrängung, Diskreditierung, soziale Verarmung und Stigmatisierung – in Abhängigkeit von den institutionellen Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen und von Arbeitsmarktprozessen. Und last, but not least sollten gerade in diesem Forschungsgebiet in stärkerem Maße qualitative und quantitative Methoden verbunden werden (zum Beispiel zur Untersuchung von Stigmatisierungsprozessen).
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Die gesellschaftliche und bildungssoziologische Relevanz des Bildungserfolgs von Schülern mit Migrationshintergrund
Der vergleichsweise geringe schulische Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist derzeit ein in der Öffentlichkeit vieldiskutiertes Thema. Für die einen ist er Ausdruck einer allgemeinen Integrationsproblematik, für die anderen ein Nachweis der Unfähigkeit des deutschen Bildungssystems, Minderheiten zu integrieren. Unabhängig davon, was die Ursachen des mangelnden Bildungserfolgs von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind (und auf diese wird später zurückzukommen sein), ist das Thema aufgrund seiner gesellschaftlichen Folgen relevant. Aus ökonomischer Perspektive wird postuliert, dass es einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft und dem Bildungsniveau ihrer Bevölkerung gebe.1 Angesichts des demographischen Wandels und des international verschärften wirtschaftlichen Wettbewerbs stellten Kinder aus Migrantenfamilien eine bislang unzureichend genutzte Bildungsreserve dar, die es zukünftig zu nutzen gelte, um möglichst viele Nachwuchskräfte zu qualifizieren.2 Bessere bzw. höhere Bildung für Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien würde außerdem ihr Arbeitslosigkeitsrisiko verringern und somit die Steuereinnahmen erhöhen und gleichzeitig „die öffentliche Hand (...), vor allem im sozialstaatlichen Bereich“ [entlasten] (van Suntum und Schlotböller 2002: 13). Hiermit wäre möglicherweise eine größere Akzeptanz von Personen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung verbunden, was wiederum die Integration von Migranten im Allgemeinen befördern dürfte. Tatsächlich zeigen Analysen auf der Grundlage der Daten aus dem Integrationssurvey des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, dass sowohl für Türken und Italiener als auch für Deutsche im Alter von 18 bis 30 Jahren ein positiver Effekt weiterführender Schulabschlüsse auf die politische Partizipation besteht (Diehl 2005: 303, Tabelle 6). Insofern kann Bildungspolitik also ein Teil von Integrationspolitik sein. 1
Bereits 1965 hat Georg Picht für Deutschland eine „Bildungskatastrophe“ konstatiert, die ihn zu der Voraussage anregte, dass „der bisherige wirtschaftliche Aufschwung (...) ein rasches Ende nehmen [wird], wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten kann“ (Picht 1965: 9). 2 Die Frage ist allerdings, ob sich der postulierte Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau einer Gesellschaft und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung empirisch belegen lässt. Dies ist eine dauerhaft umstrittene Frage, die Bildungsökonomen ebenso wie die OECD schon seit den 1950er Jahren beschäftigt, ohne dass eine Entscheidung absehbar wäre (vgl. hierzu Bassanini und Scarpetta 2001).
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Gesellschaftlich und soziologisch relevant sind die Nachteile von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch, weil sie grundlegende Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland aufwerfen, insbesondere die Frage, inwieweit es sich bei diesen Nachteilen um Benachteiligungen handelt, denn nicht alle Nachteile, die Menschen oder Gruppen von Menschen anderen Menschen oder Menschengruppen gegenüber haben, sind als Benachteiligung oder Diskriminierung anzusehen.3 Mit dem Begriff der Benachteiligung sind Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden, auf deren Grundlage ein Nachteil überhaupt erst als Benachteiligung gelten kann. Ohne die Offenlegung dieser Gerechtigkeitsvorstellungen ist die Entscheidung, ob es sich bei einem Nachteil um eine Benachteiligung handelt oder nicht, nicht möglich. Z.B. stellt sich angesichts des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit die Frage, ob die Leistungsbemessung in der Schule, z.B. die Vergabe von Schulnoten, in Rechnung stellen muss, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Elternhaus möglicherweise weniger gut auf den deutschen Schulalltag vorbereitet werden (können) als deutsche Kinder. Wäre es z.B. gerecht, wenn die Physik- oder Chemienoten von Migrantenkindern nur deswegen schlechter ausfallen würden als die Physik- oder Chemienoten von deutschen Kindern, weil Migrantenkinder (mehr) Probleme mit der Unterrichtssprache (aber nicht mehr Probleme als deutsche Kinder mit den Inhalten des Physik- oder Chemieunterrichts) haben? Ob dies allerdings so ist, lässt sich nur durch empirische Forschung feststellen. D.h., dass die Diskussion von Fragen sozialer Gerechtigkeit nur dann sinnvoll geführt werden kann, wenn nicht nur Art und Ausmaß der Nachteile von Kindern aus Migrantenfamilien gegenüber deutschen Kindern im deutschen Schulsystem bekannt sind, sondern auch die Ursachen dieser Nachteile. Die Feststellung und Erklärung von Bildungsungleichheiten ist seit Langem ein zentrales Anliegen der Bildungsforschung, insbesondere in der soziologischen Bildungsforschung. Zunächst standen Ungleichheiten der Bildungschancen und des Bildungserfolgs zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Schichten und zwischen den Geschlechtern im Vordergrund des Interesses. Im Verlauf der letzten zehn bis fünfzehn Jahre hat die Bildungsungleichheit zwischen Schülern, die der Mehrheitsbevölkerung angehören, und Schülern mit Migrationshintergrund bzw. Schülern, die ethnischen Minderheiten angehören, zunehmende Aufmerksamkeit sowohl in der Bildungsforschung als auch im bildungspolitischen Diskurs auf sich gezogen. In Deutschland wurden die Nachteile von Schülern mit Migrationshintergrund – von einzelnen frühen Beiträgen wie dem von Hopf (1981) abgesehen – seit dem Ende der 1980er Jahre dokumentiert, und erste Erklärungsversuche wurden vorgelegt (Esser 1990; Hopf 1987). Ab Mitte der 1990er Jahre lässt sich eine verstärkte Beschäftigung mit diesem Aspekt von Bildungsungleichheit über die Grenzen der Bil-
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Ein Nachteil für eine Person besteht dann, wenn sie einen geringeren Anteil an einem erstrebenswerten Gut, z.B. Bildung, erhält als eine andere Person oder wenn sie schlechtere Zugangschancen zu diesem Gut hat als eine andere Person. Ein solcher Nachteil besteht objektiv und kann von der Person, die den Nachteil hat, subjektiv als solcher empfunden werden, muss es jedoch nicht. Die Tatsache, dass ein Nachteil besteht, kann vielerlei Gründe haben, von denen Benachteiligung oder Diskriminierung einer, aber eben keineswegs der einzig mögliche ist. Dies kann nicht genug betont werden, denn sowohl in der bildungspolitischen Diskussion als auch in wissenschaftlichen Beiträgen wird beides gleichgesetzt. So verwenden Alba, Handl und Müller (1994) die Begriffe „ethnische Ungleichheit“ und „ethnische Benachteiligungen“ zur Beschreibung von Nachteilen ausländischer Schüler gegenüber deutschen Schülern im Schulsystem synonym, ohne dass sie in ihrem Beitrag zeigen würden, dass die beschriebene Ungleichheit tatsächlich aus einer Benachteiligung, d.h. Diskriminierung der ausländischen Schüler resultiert.
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dungssoziologie hinaus beobachten, die – wie gesagt – sowohl ökonomisch als auch gesellschaftspolitisch begründet wird. Man sollte vermuten, dass im Zeitraum von nunmehr fünfzehn bis zwanzig Jahren viele Erkenntnisse über die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem gewonnen wurden. Trotz der Bemühungen von Bildungssoziologen sind diese Erkenntnisse aber eingeschränkt: Bereits die Beschreibung der Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist schwierig, weil die zu Beschreibungszwecken am besten geeigneten Daten, nämlich die Daten der amtlichen Bildungsstatistik, bis heute nach dem Kriterium der Staatsangehörigkeit aufgeschlüsselt werden, und dies in der Regel in dichotomer Form: Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit werden von Personen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit bzw. Ausländern unterschieden. Daten, die diesbezüglich spezifischer sind, haben entweder den Nachteil, dass sie nur für Personen bestimmter ethnischer Zugehörigkeiten auswertbar sind, wie das im Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) der Fall ist, oder sie umfassen zwar Personen mit Migrationhintergrund, beziehen sich aber auf einen ganz bestimmten Ausschnitt der schulischen Situation. Die Schulleistungsstudien z.B. geben – wie die Bezeichnung schon deutlich macht – Aufschluss über Leistungen, die Schüler bzw. bestimmte Schülergruppen an einem bestimmten Punkt in ihrer Schulkarriere in bestimmten Bereichen erbringen. Über andere Aspekte von Bildungserfolg erlauben sie keine Aussagen. Schließlich unterscheiden sich die vorliegenden Studien darin voneinander, dass sie sich auf Personen mit unterschiedlichen Arten von Migrationshintergrund beziehen (vgl. hierzu Diefenbach und Weiss 2006). Wenn Daten über Schüler mit Migrationshintergrund erhoben werden, wie in den Schulleistungsstudien, so sind sie zu einem großen Anteil (aber nicht nur) Angehörige der so genannten Zweiten und Dritten Generation, die nicht selbst nach Deutschland eingewandert und so genannte Bildungsinländer sind. Wenn Daten aber retrospektiv von Erwachsenen erhoben werden, die als eine „Ausländerstichprobe“ gezogen wurden (wie im SOEP), dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich bei ihnen um „echte“ Migranten, d.h. Personen handelt, die selbst nach Deutschland eingewandert sind und ihre Schulkarriere ganz oder zum Teil im Ausland durchlaufen haben. Es liegen bis jetzt also zwar viele Befunde zur Situation von Personen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem vor, aber sie sind häufig kaum miteinander vergleichbar, und entsprechend schwierig ist es, diesbezüglich allgemeingültige Aussagen zu machen. Der folgende Abschnitt 2 gibt einen kurzen Überblick darüber, was – eingedenk der genannten Probleme – über die Bildungsnachteile von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund in Deutschland bekannt ist. Abschnitt 3 gibt einen Überblick über die verschiedenen in Deutschland diskutierten Vorschläge zur Erklärung dieser Nachteile, und in Abschnitt 4 werden die Befunde zusammengestellt, die die empirische Prüfung dieser Erklärungen bislang ergeben hat. In Abschnitt 5 wird ein Fazit bezüglich des Forschungsstandes über die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem gezogen.
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Die quantitative Bedeutung von Schülern mit Migrationshintergrund und Art und Ausmaß ihres relativen Bildungsmisserfolgs im deutschen Schulsystem
Wenn die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem anhand empirischer Daten beschrieben werden soll, so ist zunächst zu fragen, wie quantitativ bedeutsam diese Schülergruppe überhaupt ist. Die amtliche Bildungsstatistik erlaubt lediglich Aussagen darüber, wie viele ausländische Schüler in einem bestimmten Schuljahr allgemeinbildende Schulen in Deutschland besuchen bzw. wie groß ihr Anteil an der gesamten Schülerschaft an allgemeinbildenden Schulen ist: Im Schuljahr 2006/07 besuchten knapp 900.000 ausländische Schüler eine allgemeinbildende Schule in Deutschland, was einem Ausländeranteil von 9,6 Prozent entspricht. Für die einzelnen Bundesländer waren die Ausländeranteile an der Schülerschaft sehr unterschiedlich: Die ausländische Schülerschaft ist nach wie vor ein fast rein westdeutsches Phänomen. Während die „neuen“ ostdeutschen Bundesländer gemeinsam auf einen Ausländeranteil von 1,7 Prozent kommen, haben unter den westdeutschen Bundesländern Berlin und Hamburg mit jeweils 16 Prozent die größten Ausländeranteile an ihrer Schülerschaft und Schleswig-Holstein mit 4,9 Prozent den geringsten (vgl. hierzu Diefenbach 2008). Nordrhein-Westfalen, das von allen Bundesländern die bei weitem größte Anzahl ausländischer Schüler aufzuweisen hat, nämlich gut 290.000, steht mit einem Ausländeranteil von 12,7 Prozent an fünfter Stelle der diesbezüglichen Rangfolge. Darüber hinaus ist die ausländische Schülerschaft in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich zusammengesetzt: Zwar stellen türkische Schüler in allen alten Bundesländern die größte Gruppe ausländischer Schüler, aber wie groß diese Gruppe ist, variiert erheblich, und gleiches gilt für die nationalitätenspezifische Zusammensetzung der restlichen ausländischen Schülerschaft: Z.B. stellten in Hamburg afghanische und polnische Schüler im Schuljahr 2006/07 die zweit- und drittgrößte Gruppe unter den ausländischen Schülern, während es in Berlin libanesische und vietnamesische und in NordrheinWestfalen italienische und serbische Schüler waren (vgl. hierzu Diefenbach 2008: 45-50). Die Betrachtung ausländischer Schüler unterschätzt die quantitative Bedeutung von Schülern mit Migrationshintergrund, weil mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass Schüler die deutsche Staatsangehörigkeit (erworben) haben. Damit sind sie als Schüler mit Migrationshintergrund anhand des Kriteriums „Staatsangehörigkeit“ nicht mehr erkennbar. Dies betrifft z.B. und vor allem die große Gruppe der Kinder von Spätaussiedlern, die als solche bereits bei der Einreise nach Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen (vgl. Beer-Kern 2000). Die Schulleistungsstudien, in denen die Schüler nach den Geburtsländern der Eltern und dem eigenen Geburtsland gefragt wurden, geben ein realistisches Bild von der Anzahl von Schülern mit Migrationshintergrund in Deutschland. Im Rahmen der IGLU-Studie wurde festgestellt, dass gut ein Fünftel der Grundschüler der vierten Jahrgangsstufe (mindestens) einen im Ausland geborenen Elternteil haben (Schwippert, Bos und Lankes 2003: 277), und die PISA-Studie kam für 15jährige Schüler an allgemeinbildenden Schulen auf einen etwa ebenso großen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund (Stanat 2003: 247). Dies macht deutlich, wie stark man die Präsenz von Schülern mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen unterschätzt, wenn man ersatzweise ausländische Schüler betrachtet. Schüler mit Migrationshintergrund sind eben nicht weitgehend identisch mit ausländischen Schülern (obwohl umgekehrt wohl die meisten ausländischen Schüler einen
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Migrationshintergrund haben). Und es zeigt, dass die schulische Situation dieser Schülergruppe schon deshalb von einiger Bedeutung ist, weil sie mit 20 Prozent eine quantitativ bedeutsame Schülergruppe ist. Nachteile, die sich für sie ausweisen lassen, können also kaum als Nachteile einer randständigen „Problemgruppe“ eingeordnet werden. Fragen nach der schulischen Bildung von Schülern mit und Schülern ohne Migrationshintergrund sind vor allem Fragen nach ihrem relativen Bildungserfolg, d.h. Fragen danach, ob bzw. inwieweit die einen Vor- oder Nachteile den anderen gegenüber in Bezug auf ihre Schulleistungen in Form von Punktzahlen in Leistungstests oder Schulnoten oder in Bezug auf ihre formalen Bildungsabschlüsse, insbesondere ihre Sekundarschulabschlüsse, haben. Was die Schulleistungen betrifft, so haben die Schulleistungsstudien aus den vergangenen Jahren eindrücklich gezeigt, dass Schüler mit Migrationshintergrund deutliche Nachteile gegenüber Schülern ohne Migrationshintergrund haben: Bereits die PISA-Studie aus dem Jahr 2000 zeigte, dass 15-jährige Schüler, die selbst in Deutschland geboren wurden, deren Eltern aber im Ausland geboren wurden, deutlich und statistisch signifikant schlechtere Leseleistungen erbrachten als Kinder, die selbst und deren beide Elternteile in Deutschland geboren wurden. Noch schlechter schnitten Kinder ab, die wie ihre beiden Eltern im Ausland geboren wurden. Von ihnen erreichte die Hälfte lediglich die niedrigste von fünf Kompetenzstufen, und dies, „obwohl über 70 Prozent von ihnen die gesamte Schullaufbahn in Deutschland absolviert haben“ (Stanat et al. 2002: 13), also keine Seiteneinsteiger in das deutsche Schulsystem sind. Allerdings ließen sich diesbezüglich große Unterschiede zwischen den Bundesländern beobachten: „Während in Bayern und Baden-Württemberg beide Schülergruppen im nationalen Vergleich der einbezogenen Länder relativ hohe Leistungen erzielen, liegen die Ergebnisse in Bremen und Schleswig-Holstein konsistent auf vergleichsweise niedrigem Niveau“ (Baumert et al. 2003: 52-53). Die IGLU-Studie ergab ein Jahr später vergleichbare Ergebnisse für Grundschüler der vierten Jahrgangsstufe: Kinder ohne Migrationshintergrund schnitten im Vergleich zu Kindern, die einen Elternteil hatten, der im Ausland geboren wurde, und besonders im Vergleich zu Kindern, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden, sowohl bezüglich der Lese- als auch der mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenz besser ab (Schwippert, Bos und Lankes 2003: 285). Obwohl es sich in der PISA-Studie und in der IGLU-Studie um zwei verschiedene Schülergruppen handelt, so dass keine Entscheidung in dieser Frage möglich ist, könnte dieses Ergebnis darauf hinweisen, dass es in der Schule nicht gelingt, die Nachteile, die Kinder mit Migrationshintergrund in der Grundschule haben, im Verlauf der Zeit auszugleichen. Schulleistungsstudien messen Kompetenzen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Bereich. In welchem Zusammenhang sie mit den Noten, die Lehrer vergeben, mit Versetzungs- oder Überweisungsentscheidungen oder mit Sekundarschulabschlüssen stehen, ist bislang nicht systematisch untersucht worden. Es ist daher aus bildungssoziologischer Perspektive unzureichend, bei den in den Schulleistungsstudien erhobenen Kompetenzen und ihren Determinanten stehenzubleiben und sie als Indikatoren für Bildungserfolg zu verabsolutieren. Weil Bildungszertifikate, insbesondere die Sekundarschulabschlüsse, mit denen Schüler die Schule verlassen, den langfristigen Bildungserfolg abbilden, der für die Lebenschancen nachgewiesenermaßen von entscheidender Bedeutung ist (vgl. hierzu Diefenbach 2008a), wären Daten über die Sekundarschulabschlüsse, die Schüler mit und Schüler ohne Migrationshintergrund erreichen, aus bildungssoziologischer Perspektive besonders wichtig. Leider liegen solche Daten bislang nicht vor. In Bezug auf
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Sekundarschulabschlüsse muss daher auf die amtlichen Daten für ausländische und deutsche Schüler zurückgegriffen werden. In Abbildung 1 sind die Differenzen zwischen den prozentualen Anteilen dargestellt, mit denen deutsche und ausländische Abgänger mit einem bestimmten Schulabschluss von der Schule abgehen: Abbildung 1:
Differenzen zwischen den prozentualen Anteilen, mit denen Deutsche und Ausländer mit einem bestimmten Sekundarschulabschluss von der Schule abgehen, 1990/91 bis 2005/06, bezogen auf alle deutschen bzw. ausländischen Schulabgänger in den jeweiligen Jahren
Quelle: Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen, eigene Darstellung
Wie man sieht, hat über den beobachteten Zeitraum von sechzehn Jahren hinweg ein deutlich niedrigerer Anteil von deutschen Schülern als von ausländischen Schülern ohne einen Hauptschulabschluss (im Durchschnitt der sechzehn Jahr 12 Prozent weniger) oder (nur) mit einem Hauptschulabschluss (im Durchschnitt 18 Prozent weniger) die Schule verlassen. Was die weiterführenden Abschlüsse betrifft, so verhält es sich umgekehrt: Im Durchschnitt der betrachteten sechzehn Jahre verlassen 13 Prozent mehr deutsche als ausländische Abgänger die Schule mit einem Realschulabschluss und 16 Prozent mehr mit der Fachhochschulreife oder Hochschulreife. Außerdem fällt auf, dass diese Differenzen über den Beobachtungszeitraum hinweg betrachtet ziemlich stabil bleiben. Erst bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Differenzen zwischen deutschen und ausländischen Schülern, welche
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die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, sowie die Differenzen zwischen deutschen und ausländischen Schülern, die mit einem Realschulabschluss abgehen, etwas geringer geworden sind. Entsprechend sind die Differenzen hinsichtlich des Hauptschulabschlusses und der Fach-/Hochschulreife etwas größer geworden. Neben den beschriebenen Nachteilen von Kindern mit Migrationshintergrund bzw. ausländischen Kindern hinsichtlich ihrer Schulleistungen in Form von Leistungstests und hinsichtlich ihrer Sekundarschulabschlüsse sind Nachteile in Bezug auf verschiedene andere Indikatoren festgestellt worden: Sie erfahren weniger vorschulische Betreuung, werden häufiger von der Einschulung zurückgestellt, wiederholen häufiger Klassenstufen, wechseln von der Grundschule häufiger auf Hauptschulen und besuchen etwa doppelt so häufig Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen wie Kinder ohne Migrationshintergrund bzw. deutsche Kinder (hierzu ausführlicher: Diefenbach 2008). Insgesamt gesehen verweisen die vorhandenen Daten auf deutliche Nachteile der Schüler mit Migrationshintergrund bzw. der ausländischen Schüler. Dabei bestehen allerdings große Unterschiede zwischen den verschiedenen Bundesländern sowie zwischen verschiedenen Nationalitäten bzw. Schülern verschiedener ethnischer Zugehörigkeit. Inwieweit die genannten Nachteile an verschiedenen Schwellen vor und während der Schulkarriere aufeinander aufbauen, d.h. einander kumulativ verursachen, und inwieweit sie unabhängig voneinander bestehen, ist – wie oben im Zusammenhang mit den in den Schulleistungsstudien gemessenen Kompetenzen bereits erwähnt wurde – bislang nicht systematisch erforscht worden.
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Erklärungen für die Bildungsnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund
Grob können die Erklärungen der bestehenden Nachteile für Schüler mit Migrationshintergrund bzw. ausländische Schüler im Bereich schulischer Bildung in zwei Gruppen eingeteilt werden, nämlich solche, die Merkmale der Schüler oder ihrer Familien dafür verantwortlich machen, und solche, die sie auf Merkmale der Schule bzw. der Beschulung zurückführen. Unter den Ersteren sind besonders die Erklärung durch kulturell bedingte Defizite und die humankapitaltheoretische Erklärung relevant, unter den Letzteren lassen sich Erklärungen durch Merkmale des schulischen Kontextes von Erklärungen durch institutionelle Diskriminierung unterscheiden. Darüber hinaus gibt es verschiedene Erklärungsvorschläge, die in den USA formuliert wurden, um Bildungsnachteile ethnischer Minderheiten, vor allem von schwarzen Amerikanern und Latinos, zu erklären, die aber in Deutschland bislang nicht rezipiert worden sind. Diese Erklärungsvorschläge können im Rahmen dieses Beitrages nicht dargestellt werden.4
3.1 Die Erklärung durch kulturell bedingte Defizite Im Kern besagt die Erklärung der Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund durch kulturell bedingte Defizite, dass diese Kinder aufgrund ihrer kulturellen 4 Eine Darstellung dieser Erklärungsvorschläge sowie der empirischen Befunde, die bislang für sie vorliegen, ist zu finden in Diefenbach (2008).
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Herkunft nicht die Verhaltensweisen, Kenntnisse oder Fähigkeiten mitbringen, die Kinder ohne Migrationshintergrund vergleichbaren Alters und Entwicklungsstandes mitbringen und die daher in den Bildungs- und Erziehungsinstitutionen in Deutschland als normal vorausgesetzt werden. Kinder mit Migrationshintergrund haben also bereits zu Beginn ihrer Bildungskarriere einen Startnachteil. Es wird davon ausgegangen, dass es eine kulturell geprägte Basispersönlichkeit gibt, die im Verlauf der Sozialisation vor allem in der Familie geformt wird und später nur schwierig verändert werden kann (Claessens 1962). Beispielsweise argumentieren Leenen, Grosch und Kreidt (1990: 760/761) in Bezug auf Migrantenkinder aus türkischen Familien, dass ihnen von ihren Eltern eine traditionelle Haltung dem Lernen und der Schule gegenüber vermittelt würde, die mit der modernen, die in deutschen Bildungsinstitutionen vorherrsche, unvereinbar sei. Letztere würde von Migranteneltern daher häufig mit Skepsis und Misstrauen betrachtet, und die Anpassung der Kinder an die Erfordernisse der deutschen Bildungsinstitutionen bedeute eine Akkulturationsleistung, die nur schwierig und unter Loslösung von den Werten und Überzeugungen der Eltern und gegen deren Widerstand zu erreichen sei. Dieser Vorstellung entstammt die weitverbreitete Metapher von den Kindern aus Migrantenfamilien, die zwischen zwei Kulturen stehen oder „in zwei Welten“ (Weiss 2007) leben und im besten Fall eine Brücke zwischen ihnen schlagen und als Mittler zwischen beiden Kulturen fungieren können, aber auch im Kulturkonflikt aufgerieben werden können und sich daher auf die „Suche nach sich selbst“ (Carminati-Bina 2005: 49) machen müssen. Die Schwierigkeiten von Kindern mit Migrationshintergrund sind dann das Ergebnis der Konfrontation dieser Kinder mit Normalitätserwartungen und Inhalten in den deutschen Bildungsinstitutionen, die ihnen aufgrund ihrer Sozialisation in der Herkunftskultur ihrer Eltern bislang fremd gewesen sind und auf die sie sich nur schwierig einstellen können und die außerdem von ihren Eltern abgelehnt werden. Eine Variante der Erklärung der Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund durch kulturell bedingte Defizite führt diese Defizite weniger auf die Sozialisation in der Herkunftskultur zurück als vielmehr auf die Sozialisation in der Kultur einer spezifischen sozialen Schicht, nämlich der Arbeiter- oder Unterschicht. Es wird (wie bei Bourdieu und Passeron 1971) angenommen, dass in der unteren Sozialschicht spezifische Sozialisationspraktiken und -bedingungen vorherrschen, die sich von denjenigen in der Mittelschicht unterscheiden. Als untere Sozialschichten kennzeichnende Sozialisationsbedingungen gelten unter anderem Überanpassung an das Erreichbare und Risikoaversion (Gambetta 1987: 72), ein restringierter Sprachcode (Bernstein 1977) und eine geringere Teilhabe an außerschulischen Lern- und Bildungsmöglichkeiten (Büchner und Krüger 1996: 21). Wenn die Schule insofern als „Mittelschichtsinstitution“ (Bertram 1981: 86) gelten kann als sie an den Verhaltensweisen, Werten und Normalitätsvorstellungen der Mittelschicht ausgerichtet ist, weisen Kinder aus der Mittelschicht eine bessere Passung an die Bildungsinstitutionen auf als Kinder aus der Unterschicht und haben daher bessere Erfolgschancen in diesen Institutionen. Um in ihnen erfolgreich sein zu können, müssen Schüler aus Arbeiterfamilien einen „Bruch mit dem familiären Sozialisationsprozess [vollziehen]: Die Reaktionsformen, das Leistungsstreben, die Einstellungen, der Modus des Sprachgebrauchs sowie die allgemeinen Werte und Umgangsformen des Elternhauses müssen durch die kulturellen Standards der weiterführenden Schule und der Universität abgelöst werden“ (Rolff 1997: 233). Wenn nun außerdem zutrifft, dass Migrantenfamilien mehrheitlich der Arbeiter- oder Unterschicht angehören, dann können die Bildungsdefizite der Kinder mit Migrationshin-
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tergrund gegenüber Kindern ohne Migrationshintergrund eine Folge der häufigeren Zugehörigkeit der Ersteren zu unteren sozialen Schichten und den dort vorherrschenden Sozialisationspraktiken und -bedingungen sein.
3.2 Die humankapitaltheoretische Erklärung Die Humankapitaltheorie entstammt der Mikroökonomie und wurde ursprünglich formuliert, um Einkommensunterschiede als Ergebnis von unterschiedlich hohen Investitionen in Bildung zu erklären. Dabei wurden zunächst die Investitionsentscheidungen in Bildung betrachtet, die Personen selbst machen, um auf dem Arbeitsmarkt einsetzbares Humankapital zu erwerben. Diese Investitionsentscheidungen werden aber vor dem Hintergrund der bereits vorhandenen Bildung und der damit verbundenen weiteren Bildungsmöglichkeiten gemacht, so dass sich Humankapitaltheoretiker, insbesondere Arleen Leibowitz (1974; 1975) und Gary S. Becker (1993a; 1993b), in den 1970er Jahren verstärkt mit der Bildung zu beschäftigen begannen, die Personen als Kind erwerben. Damit rückt das Investitionsverhalten der Eltern in die Bildung ihrer Kinder in das Zentrum des Interesses der Humankapitaltheoretiker, denn „it seems clear that the parents, not the child, determine the quantity of this early investment“ (Leibowitz 1975: 1). Der Aufbau von Humankapital in einem Kind gelingt umso besser, je mehr Zeit Eltern sich für ihr Kind nehmen und sie sinnvoll mit ihnen verbringen, und dies wiederum hängt mit der Bildung der Eltern zusammen: „... parents‘ genetic endowment and their education determine the quality and quantity of time inputs to the child“ (Leibowitz 1974: S113). Von der Bildung der Eltern hängt auch das Familieneinkommen ab, das wiederum beeinflusst, wie viel Zeit und wie viele Güter für die Investition in das Kind zur Verfügung stehen.5 Für Humankapitaltheoretiker sind daher die Bildung von Vater und Mutter und das Familieneinkommen die zentralen Einflussfaktoren auf die Bildung, die eine Person während ihrer Kindheit erwirbt. Weil mit der Anzahl der Kinder im Haushalt die Zeit verringert wird, in der sich die Eltern jedem einzelnen Kind widmen können, und gleichzeitig die Güter verringert werden, die in jedes Kind investiert werden können, ist es für den Aufbau von Humankapital in einem Kind nachteilig, wenn es Geschwister hat (und um so nachteiliger, je mehr Geschwister es hat) (Leibowitz 1974: S116). Daher ist die Anzahl der Geschwister bzw. die Anzahl der Kinder in der Familie oder im Haushalt für Humankapitaltheoretiker die dritte wichtige Determinante der Bildung eines Kindes. Was bedeutet dies alles für die Erklärung der Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund gegenüber Kindern ohne Migrationshintergrund? Aus humankapitaltheoretischer Sicht kommen sie dadurch zustande, dass die Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund im Durchschnitt weniger gebildet sind, über ein geringeres Einkommen verfügen und mehr Kinder haben als die Eltern von Kindern ohne Migrationshintergrund, so dass der Aufbau von Humankapital, das notwendig ist, um die Schullaufbahn erfolgreich zu durchlaufen, in Kindern mit Migrationshintergrund nicht in demselben Ausmaß gelingt wie in Kindern ohne Migrationshintergrund.
5 Man denke in diesem Zusammenhang z.B. an Investitionen in Form von Lernspielzeug oder Nachhilfeunterricht, die den Eltern materielle Kosten verursachen.
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Trotz der augenfälligen Gemeinsamkeiten der humankapitaltheoretischen Erklärung mit der Erklärung durch kulturell bedingte Defizite, insbesondere der Betonung der Wichtigkeit der familiären Sozialisation für Bildungserfolg, gibt es kaum Berührungspunkte zwischen den Vertretern der beiden Erklärungen. Humankapitaltheoretikern geht es als Ökonomen darum, die Bildung von Kindern als Resultat quantifizierbarer Investitionen von Eltern in das Humankapital der Kinder, die unter Knappheitsbedingungen gemacht werden, zu modellieren. Die Bedeutung von Werten und Erziehungsstilen für die Bildung von Kindern wird nicht unbedingt bestritten, bleibt aber – ebenso wie genetische Faktoren – aus der humankapitaltheoretischen Analyse ausgeschlossen: „One need not argue that genetic factors are insignificant or that no other environmental variables affect the child’s achievement in order to expect to observe a positive relationship between the expenditure of resources on children and the resulting level of achievement by the child“ (Leibowitz 1975: 3), und eben um diesen Zusammenhang geht es Humankapitaltheoretikern.
3.3 Erklärungen durch Merkmale des schulischen Kontextes Den Gegenpol oder – wenn man so will – die Ergänzung zu Erklärungen von Bildungserfolg durch Merkmale der Schüler oder ihrer Familien bilden Erklärungen durch Merkmale des Kontextes, in dem die institutionalisierten Lehr- und Lernprozesse stattfinden oder anders gesagt: des schulischen Kontextes. In ihm sind alle physischen, organisatorischen, sozialen und kulturellen Aspekte der Umgebung zusammengefasst, in der die Lernprozesse der Schüler stattfinden. Zu diesen Aspekten gehören also u.a. die Räumlichkeiten, die für die Lehr-Lernprozesse zur Verfügung stehen, die Einbindung der Schule in die Gemeinde ihres Einzugsbereiches, das Curriculum, die Klassengrößen, die Zusammensetzung der Schülerschaft in der Schule und in den verschiedenen Klassen, die „Traditionen“ und Normen im Klassenverband, das Unterrichtsklima, die Unterrichtspraktiken der Lehrkräfte und ihre Erwartungen an die Schüler. Die Wichtigkeit des schulischen Kontextes für die Lernprozesse der Schüler wird damit begründet, dass Lernen eben ein sozialer und kontextgebundener Prozess sei und daher nicht sinnvoll abgelöst vom Kontext, den das Lehren für das Lernen darstellt, betrachtet werden könne (Cobb, Wood und Yackel 1993; Grennon Brooks und Brooks 1993). Bildungsinstitutionen sind der Ort, an dem soziale Beziehungen um des Lernens willen etabliert werden, und für Lernprozesse in Bildungsinstitutionen sind die Beziehungen entscheidend, die ein Kind in der Schule und in der Klasse zu Mitschülern und Lehrern aufbaut und unterhält, sowie die Bedingungen, die definieren, welche Beziehungen in welcher Weise aufgebaut und unterhalten werden können (Vygotsky 1981: 164; ausführlicher: Vygotsky 1978). Auch dann, wenn man dieser sozialkonstruktivistisch geprägten Sichtweise nicht folgen möchte, wird man kaum bestreiten, dass Merkmale des schulischen Kontextes die Effizienz von Lernprozessen beeinflussen können und deren Erforschung schon deswegen wichtig ist. Für die Erklärung von Bildungsnachteilen von Schülern mit Migrationshintergrund gegenüber Schülern ohne Migrationshintergrund durch Merkmale des schulischen Kontextes muss entweder angenommen werden, dass diese Merkmale für beide Schülergruppen systematisch variieren, wobei die Schüler mit Migrationshintergrund die schlechteren Lernbedingungen haben, oder dass die Merkmale für beide Schülergruppen gleich sind,
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sich aber auf die Lernprozesse von Schülern mit Migrationshintergrund negativer auswirken als auf die Lernprozesse von Schülern ohne Migrationshintergrund. Ein Beispiel für Ersteres ist die Annahme, dass die verschiedenen Schultypen im hierarchisch gegliederten Schulsystem selektive und homogenisierte Lernmilieus darstellen, mit denen unterschiedlich große Lernchancen für Schüler verbunden sind, und Schüler mit Migrationshintergrund vor allem die Schultypen (insbesondere die Hauptschule, aber auch Sonderschulen für Behinderte mit dem Förderschwerpunkt Lernen) besuchen, in denen Leistungsgruppen mit vergleichsweise niedrigem Niveau gebildet werden und die keine weiterführenden Abschlüsse ermöglichen (Solga und Wagner 2007). Auch dann, wenn Schüler mit Migrationshintergrund deswegen häufiger die niedrigerwertigen Schultypen besuchen, weil sie bereits in der Grundschule schlechtere Leistungen erbracht haben als Schüler ohne Migrationshintergrund, bedeutet der Besuch dieser Schultypen, dass ihre zukünftigen Lernchancen systematisch geringer sind als die Lernchancen von Schülern, die weiterführende Schultypen besuchen. Als Resultat schlechterer Lernchancen sind wiederum schlechtere zukünftige Leistungen und mehr niedrigerwertige Sekundarschulabschlüsse zu erwarten. Ein integriertes Schulsystem, in dem keine leistungsbezogene Homogenisierung und Segregation von Schülergruppen stattfindet, sollte allen Schülern dieselben Lernchancen eröffnen, so dass zu erwarten wäre, dass Schüler mit Migrationshintergrund in einem integrierten Schulsystem einen größeren Bildungserfolg haben als im gegliederten Schulsystem und dass die Differenzen zwischen den Sekundarschulabschlüssen von Schülern mit und Schülern ohne Migrationshintergrund im integrierten Schulsystem geringer ausfallen als im gegliederten Schulsystem (Diefenbach 2003). Eine Argumentation, nach der ein Merkmal des schulischen Kontextes für Schüler mit und Schüler ohne Migrationshintergrund gleichermaßen zutrifft, sich aber auf den Bildungserfolg beider Schülergruppen unterschiedlich auswirkt, nimmt die Zusammensetzung von Schulklassen nach ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalität zum Ausgangspunkt. Esser geht davon aus, dass „starke ethnische Konzentrationen in den Schulklassen ... das Lernen der Kinder, nicht nur im Fach Deutsch [behindern]“ (Esser 2001: 40). Mit „ethnischen Konzentrationen“ ist hier die relative Häufigkeit von Schülern mit Migrationshintergrund in Schulklassen gemeint (und nicht – wie man auch meinen könnte – die relative Häufigkeit ethnisch deutscher Schüler), und die „Kinder“, die er anspricht, sind die Kinder mit Migrationshintergrund (nicht alle Kinder in der Klasse). Gemeint ist also, dass der Lernprozess von Kindern mit Migrationshintergrund negativ davon beeinflusst wird, wenn in die Klasse, in der sie unterrichtet werden, (viele) andere Kinder mit Migrationshintergrund gehen. Hauptargument für diese Annahme scheint zu sein, dass das Vorhandensein vieler Kinder mit Migrationshintergrund Möglichkeiten schafft, (auch) in der Schule außerhalb des Unterrichts eine andere Sprache als Deutsch zu sprechen, sofern die Kinder mit Migrationshintergrund eine Sprache teilen, in der sie miteinander kommunizieren, z.B. wenn der größte Teil der Kinder mit Migrationshintergrund Türkisch miteinander sprechen kann. Wenn das nicht der Fall ist, mögen Kinder mit Migrationshintergrund zwar gezwungen sein, Deutsch als ‚lingua franca‘ miteinander zu sprechen, aber fraglich ist, ob dieses Deutsch dann dem Standard-Deutsch entspricht, das für ihren Schulerfolg wichtig ist. Wenn man plausiblerweise annimmt, dass mangelnde Kenntnisse der Unterrichtssprache Deutsch oder falsches Deutsch einen negativen Effekt auf das Verständnis des Unterrichts und die Teilnahme am Unterricht hat, darf man weiter vermuten, dass sich dies in schlechteren Leistungen niederschlägt. Auf den Lernerfolg von Kindern ohne Migrationshin-
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tergrund sollte sich ein hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund aber nicht negativ auswirken, denn es wird davon ausgegangen, dass sie als Muttersprachler die deutsche Sprache beherrschen. In der Literatur wird manchmal vermutet, dass die Präsenz vieler Kinder mit Migrationshintergrund in einer Schulklasse die Lernmöglichkeiten der Schüler verringert (Kristen 2002), u.a. weil Lehrkräfte gezwungen sind, auf die sprachlichen Schwierigkeiten der Kinder mit Migrationshintergrund Rücksicht zu nehmen und daher das Unterrichtstempo und ihre Erwartungen an die Leistungen der Klasse zu reduzieren.6 Nach dieser Argumentation müssten aber die Lernfortschritte aller Kinder in der Klasse negativ beeinflusst werden, nicht nur die der Kinder mit Migrationshintergrund, so dass sich diese Variante nicht dazu eignet, die Bildungsnachteile der Kinder mit Migrationshintergrund gegenüber Kindern ohne Migrationshintergrund zu erklären.
3.4 Die Erklärung durch institutionelle Diskriminierung Ausgangspunkt der Erklärung der Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund durch institutionelle Diskriminierung ist die Annahme, dass die Bildungsinstitutionen als Teile des Bildungssystems einer Systemlogik folgen, nach der sie ihre Funktionen, darunter die der Selektion von Schülern, mit ihren Organisationsinteressen, vor allem der Erhaltung ihres Bestands, in Einklang miteinander bringen müssen (Gomolla und Radtke 2000: 325). Weil „ein bestimmter Prozentsatz an negativer Auslese schulrechtlich und institutionell vorgesehen ist und erwartet wird“ (Kronig 2003: 131), müssen Schulen einige Kinder entsprechend aussortieren, sei es durch Rückstellungen von der Einschulung, durch Klassenwiederholungen oder durch Überweisungen an Sonderschulen oder in Förderklassen. Angenommen wird, dass es den Organisationsinteressen am besten dient, wenn diejenigen Schüler aussortiert werden, deren Aussonderung leicht legitimiert werden kann und durch deren Abwesenheit gleichzeitig die größte Entlastung für die aussondernde Institution erreicht wird. Schüler mit Migrationshintergrund erfüllen beide Kriterien: Ihre Aussonderung ist aufgrund allgemein verbreiteter und von vielen akzeptierter Generalisierungen wie z.B. der, dass ihre Aussichten auf einen weiterführenden Schulbesuch aufgrund ihrer eingeschränkten Deutschkenntnisse eher gering seien (Gomolla und Radtke 2000: 330), oder der, dass sie überwiegend aus „bildungsfernen“ Elternhäusern kämen, von denen keine langfristige Unterstützung für die schulischen Ambitionen der Kinder zu erwarten wären (Gomolla und Radtke 2000: 332), relativ leicht zu legitimieren, weil diese Argumentationsfiguren für viele angesichts des herrschenden gesellschaftlichen Diskurses plausibel klingen. Gleichzeitig wird durch die Aussonderung von Schülern mit Migrationshintergrund die sprachliche und kulturelle Heterogenität einer Klasse bzw. Schule reduziert, was den Unterrichtsablauf vereinfacht und die Lehrkräfte entlastet. Darüber hinaus müssen existierende Bildungseinrichtungen mit Schülern bestückt werden (Kornmann 1998), und 6 Dass Lehrkräfte tatsächlich die Leistungsfähigkeit von Schülern aus Minderheitengruppen oder mit Migrationshintergrund niedriger bewerten als die von Schülern aus der Mehrheitsgesellschaft oder ohne Migrationshintergrund und die Formulierung von Lernzielen daher in Klassen mit vergleichsweise vielen Schülern aus Minderheitengruppen oder mit Migrationshintergrund nach unten hin korrigieren, wurde durch mehrere Studien aus verschiedenen Ländern belegt, unter anderen durch: Caldas und Bankston 1998: 538 für die USA, Fekjær und Birkelund 2007: 312 für Norwegen; Jungbluth 1994: 117-119 für die Niederlande. Für Deutschland steht eine entsprechende Untersuchung noch aus.
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sofern es z.B. das explizite Ziel von Förderklassen ist, die Deutschkenntnisse von Schülern zu verbessern, ist es (system-)„logisch“, dass Schüler in sie überstellt werden, die vergleichsweise weniger gute Deutschkenntnisse haben als andere oder von denen sich solches glaubhaft behaupten lässt. All dem liegt nicht unbedingt und tatsächlich wohl nur selten eine böse Absicht einzelner Entscheider zugrunde. Vielmehr sind es die Erfordernisse und Gegebenheiten der Institutionen im Bildungssystem, die solche Entscheidungen und Handlungsweisen teilweise erzwingen, teilweise nahelegen und zum normalen „institutionellen Denkstil“ (Douglas 1986) werden lassen, der sich nicht auf individuelle Diskriminierungsakte reduzieren lässt. Vertreter der Erklärung von Bildungsnachteilen durch institutionelle Diskriminierung bestreiten nicht, dass im Zuge schulischer Entscheidungen aussortierte Schüler schlechte Leistungen erbringen oder problematisches Verhalten zeigen können. Sie bleiben aber nicht bei der Betrachtung der Schülermerkmale stehen, die dann quasi-automatisch bestimmte Entscheidungen aufseiten der Schule oder Lehrkräfte zur Folge haben, sondern betrachten, wie die Schülermerkmale von den Entscheidern in den Bildungsinstitutionen wahrgenommen und interpretiert werden und wie die Entscheider ihre Entscheidungen auf der Grundlage der Schülermerkmale, unter denen die Leistungen oder das Verhalten nur zwei unter vielen sind, legitimieren (vgl. Gomolla und Radtke 2002: 55). Aufgrund der Betonung der Notwendigkeit für Bildungsinstitutionen, nicht nur effizient zu selegieren, sondern die Selektionsentscheidungen und damit zusammenhängenden Verfahrensweisen zu legitimieren, und aufgrund des Interesses an der Frage, welcher Normen, Werte und Überzeugungen sich die Bildungsinstitutionen zu diesem Zweck bedienen, lässt sich dieser Erklärungsansatz theoretisch im Neuen Institutionalismus verorten (Meyer und Rowan 2006: 5/6).
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Empirische Befunde
Historisch betrachtet ist von den in Abschnitt 3 genannten Erklärungen für die Bildungsnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund gegenüber Schülern ohne Migrationshintergrund die Erklärung durch kulturelle Defizite die älteste. Sie ist in Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten der „Gastarbeiterkinder“ entstanden, die im Verlauf der 1970er Jahre sichtbar wurden, und wurde vorrangig anhand qualitativer Einzelstudien und unter Verwendung spezifischer Stichproben, vorzugsweise türkischer Mädchen, geprüft, deren Zweck eher in der Illustration der vermuteten Probleme lag als in der wissenschaftlichen Prüfung der Erklärung.7 Wie Bender-Szymnanski und Hesse (1987) in ihrer umfassenden Bestandsaufnahme zur Migrationsforschung gezeigt haben, standen daher am Ende der 1980er-Jahre empirische Belege für die Erklärung durch kulturelle Defizite, seien sie durch die Herkunftskultur oder durch eine spezifische Unterschichtskultur bedingt, aus. Hieran hat sich auch aufgrund neuerer Studien nichts geändert: Auch bei ihnen fehlt in der Regel die Falsifikationsmöglichkeit wie zum Beispiel in der Studie von Leenen, Grosch und Kreidt (1990), die nach eigener Aussage „anhand von qualitativen Interviews mit türki7 Zur Prüfung einer Theorie bzw. von aus ihr abgeleiteten Hypothesen ist es notwendig, eine Falsifikationsmöglichkeit einzuräumen, d.h. die Theorie bzw. Hypothesen müssen sich anhand der in der Studie gewonnenen Daten als falsch erweisen können (Popper 1994: 54). Dass die Chancen hierfür in einer Studie z.B. über die familiären und schulischen Probleme türkischer Mädchen, in der sich die Mädchen aus Interesse an der Fragestellung selbst rekrutieren oder durch ein Schnellballverfahren rekrutiert werden, nicht gerade gut sind, ist leicht ersichtlich.
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schen Jugendlichen, die das deutsche Bildungssystem bereits durchlaufen haben, soziokulturelle Deutungsmuster von Bildung, Schule und Lernen in Migrantenfamilien (...) rekonstruieren“ (Leenen, Grosch und Kreidt 1990: 753) möchten. Zu diesem Zweck haben sie nach einem Zufallsverfahren 25 Studenten aus verschiedenen Hochschulstudiengängen rekrutiert, die über die Notwendigkeit berichten, einen Generationenkonflikt mit ihren Eltern auszutragen und sich im deutschen Bildungssystem – teilweise gegen den Widerstand der Eltern – selbst zu platzieren. In ihrer statistischen Analyse der Daten des Integrationssurvey des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung (BiB) hat Diefenbach (2005) festgestellt, dass die Sekundarschulabschlüsse von italienisch- und türkischstämmigen jungen Erwachsenen mit deutscher oder italienischer bzw. türkischer Staatsangehörigkeit weder durch ihre ethnische Identifikation als Deutscher oder als Italiener bzw. Türke noch durch ein Marginalitätsgefühl oder durch Schwierigkeiten mit den Eltern aufgrund traditioneller Einstellungen erklärt werden können. Diese Größen haben keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die erreichten Sekundarschulabschlüsse. Es kann lediglich bestätigt werden, dass so genannte Bildungsinländer, also Personen, die ihre gesamte Schulkarriere in Deutschland durchlaufen haben, eine höhere Chance haben, einen weiterführenden Schulabschluss zu erreichen, als Personen, die keine Bildungsinländer sind. Wenn man annimmt, dass bei Bildungsinländern die kulturelle Basispersönlichkeit in Deutschland geprägt wurde, bei denjenigen, die nicht Bildungsinländer sind, aber in einem anderen Land (und damit nach der Theorie in einer anderen Kultur), dann steht dieses Ergebnis in Einklang mit der Erklärung durch kulturell bedingte Defizite, aber eben nur dieses. In dieser Studie, in der die Falsifizierungsmöglichkeit gegeben ist, erweist sich die Erklärung also als wenig tragfähig. Die Erklärung durch kulturell bedingte Defizite sieht sich nicht mit empirischen, sondern auch mit theoretischen Schwierigkeiten konfrontiert: Problematisch sind vor allem die Annahme einer homogenen National- oder schichtspezifischen Kultur und die Gleichsetzung von Andersartigkeit mit Rückständigkeit, wenn die kulturellen Differenzen ein Modernitätsgefälle implizieren, wie zum Beispiel bei Leenen, Grosch und Kreidt (1990), die die individuelle Modernisierung der von ihnen interviewten bildungserfolgreichen türkischen Jugendlichen als Voraussetzung für diesen Erfolg identifizieren (vgl. hierzu auch Bukow und Llaryora 1988: 19-25). Auch die Möglichkeit, dass sich Aspekte des kulturellen Hintergrundes von Kindern mit Migrationshintergrund nicht negativ, sondern positiv auf ihren Schulerfolg auswirken könnten, wird in der deutschsprachigen Literatur – anders als in der U.S.-amerikanischen – nicht diskutiert.8 Wenn man auf der Suche nach einer Erklärung für die empirisch bestehenden Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund in ihrer Gesamtheit ist, sind mögliche Vorteile einzelner Gruppen von Kindern mit Migrationshintergrund gegenüber anderen oder gegenüber Kindern ohne Migrationshintergrund nur am Rande interessant.9
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Beispielsweise führen Chen und Stevenson (1995: 1222) den großen Bildungserfolg von Schülern der asiatischen Minderheiten in den USA auf die dem Konfuzianismus verhaftete Überzeugung zurück, dass Erfolg vor allem ein Ergebnis von Bemühungen und weniger von Talenten sei. Dies führe dazu, dass das schulische Engagement der Schüler aus asiatischen Minderheiten sehr groß sei und von deren Eltern stark gefördert, aber auch erwartet würde (Hao und Bonstead-Bruns 1998). Diese Vermutungen konnten in den Studien der genannten Autoren empirisch bestätigt werden. 9 Für Deutschland wäre in diesem Zusammenhang an die Gruppe griechischer Schüler bzw. an griechischstämmige Schüler zu denken, für die belegt ist, dass sie ebenso großen Bildungserfolg haben wie Schüler ohne Migrati-
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In ihrer mit schichtspezifischer Sozialisation argumentierenden Variante hat die Erklärung durch kulturelle Defizite mit der humankapitaltheoretischen Erklärung gemeinsam, dass sie nur dann funktioniert, wenn Kinder mit Migrationshintergrund häufiger als Kinder ohne Migrationshintergrund aus Familien kommen, die man aufgrund der Bildung und der beruflichen Stellung der Eltern sowie aufgrund ihres vergleichsweise niedrigen Einkommens als Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status oder als Unterschichtsfamilien bezeichnen kann. Tatsächlich hat die PISA-Studie gezeigt, dass die Differenz zwischen dem durchschnittlichen sozioökonomischen Status von Migrantenfamilien und von NichtMigranten-Familien in keinem der teilnehmenden Länder so groß ist wie in Deutschland, so dass es plausibel erscheint, Migrantenfamilien auch gut fünfzig Jahre nach der Anwerbung von Gastarbeitern weitgehend mit Arbeiter- oder Unterschichtsfamilien zu identifizieren (Ramm et al. 2004: 272). Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich die sozio-ökonomische Situation von Migrantenfamilien heute keineswegs mehr so darstellt wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. Z.B. hat Geißler (1996: 218) errechnet, dass 1970 nur 1,6 Prozent der Ausländer in Deutschland Selbständige waren, während es im Jahr 1993 9,3 Prozent waren, womit Ausländer in diesem Jahr annähernd dieselbe Selbständigenquote erreicht hatten wie Deutsche, und im Jahr 1995 waren 19 Prozent der Ausländer Facharbeiter und 11 Prozent mittlere oder höhere Angestellte. Wenn die Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund einfach eine Funktion des sozioökonomischen Status ihrer Familien wären, wäre also zu erwarten, dass ihre Bildungsnachteile im Zeitverlauf bemerkbar geringer geworden sind. Dies lässt sich aber weder anhand der Daten für die Sekundarschulabschlüsse (vgl. Abbildung 1 in Abschnitt 2 des vorliegenden Kapitels) noch anhand der Daten für Überweisungen auf Sonderschulen (Diefenbach 2008: 66-67) bestätigen. Tatsächlich gibt es bis heute keine Studie zu den Bildungsnachteilen von Kindern aus Migrantenfamilien in Deutschland, in der es gelungen wäre, durch Kontrolle des sozioökonomischen Status der Eltern die statistisch signifikanten Effekte des „Migrant-Seins“ bzw. der Staatsangehörigkeit auf die verschiedenen Indikatoren für Bildungserfolg zu eliminieren, und Gleiches gilt für Studien aus dem Ausland (für Deutschland vgl. Alba, Handl und Müller 1994, Diefenbach 2002; 2005, Gang und Zimmermann 2000, Kristen und Granato 2007 sowie Walter 2006; für das Ausland vgl. Fase 1994, Rüesch 1998, von Tolsma, Coenders und Lubbers 2007 sowie Tomlinson 1989). Dass in der bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit dennoch der Eindruck vorherrscht, dass die Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund hauptsächlich von dem sozioökonomischen Status ihrer Familien (wenn nicht von ihren mangelnden Deutschkenntnissen) abhängen, ist vielleicht dadurch zu erklären, dass es gleichzeitig fast keine Studie gibt, in der nicht irgendein Indikator für den sozioökonomischen Status der Familie einen mehr oder weniger starken statistisch signifikanten Effekt auf die Bildung der Kinder ergeben hat. In einer Studie von Nauck, Diefenbach und Petri (1998), in der die Autoren die humankapitaltheoretische Erklärung einer Prüfung anhand der Daten des Sozio-ökonomischen Panels unterzogen haben, hat sich gezeigt, dass die Bildung der Eltern, das Haushaltseinkommen und die Anzahl der Geschwister die Sekundarschulabschlüsse der Kinder mit Migrationshintergrund weit weniger gut erklären als die der Kinder ohne Migrationshin-
onshintergrund (Kristen und Granato 2007), zumindest aber deutlich größeren als Schüler anderer Nationalitäten oder Herkunftskulturen (Diefenbach 2002; Hopf 1987; Nauck, Diefenbach und Petri 1998).
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tergrund und dass sie zwar einen statistisch signifikanten, aber sehr geringen Effekt auf die Sekundarschulabschlüsse der Kinder mit Migrationshintergrund haben. Etwas stärkere Effekte der Bildung von Vater und Mutter sowie der Anzahl der Geschwister beobachtet Diefenbach (2005) in ihrem Erklärungsmodell für die Sekundarschulabschlüsse deutscher, türkisch- und italienischstämmiger junger Erwachsener auf der Basis der Daten des Integrationssurvey des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Kristen und Granato (2007) stellen in ihrer Analyse der kumulierten Daten des Mikrozensus aus den Jahren 1991 bis 2004 eine starke Reduktion des Effektes des „Migrant-Seins“ auf das Erreichen eines Abiturs fest, wenn die Bildung der Eltern, ihr Berufsstatus und die familiären Ressourcen berücksichtigt werden. Wie genau die jeweils unterschiedlichen Effektstärken zustande kommen, ist unklar, aber es liegt nahe zu vermuten, dass sie (auch) ein Ergebnis der in den Studien sehr unterschiedlich gewählten Stichproben, Indikatoren und Beobachtungszeiträume sind. Man kann also bislang nur sagen, dass Studien, die mit dem sozioökonomischen Status von Familien argumentieren, um Bildungsnachteile zu erklären, durch die Daten regelmäßig Bestätigung finden, aber nicht in dem Ausmaß und nicht in der Konsistenz, dass es gerechtfertigt wäre, hierin den entscheidenden Faktor für die Bildungsnachteile von Kindern aus Migrantenfamilien zu sehen. Erklärungen, die deren Bildungsnachteile auf Merkmale der Schule als Institution zurückführen, sind in Deutschland bisher nur sehr selten geprüft worden. Untersuchungen zu den Effekten von Unterrichtsgestaltung, Unterrichtsklima oder von Lehrereffekten in Bezug auf die Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund fehlen z.B. vollständig. Lediglich zu Effekten des dreigliedrigen Sekundarschulsystems und zu Effekten von Klassenzusammensetzungen auf den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund lassen sich einige Aussagen machen. Was die Vermutung betrifft, nach der sich das hierarchisch gegliederte Sekundarschulsystem Deutschlands nachteilig auf die Bildung von Schülern mit Migrationshintergrund auswirkt, so hat die PISA-Studie hierfür empirische Unterstützung geliefert: Erstens hat die PISA-Studie gezeigt, „dass sich die Fachleistungen von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schulformen weit überlappen“ (Baumert et al. 2003: 291), was belegt, dass die Homogenisierung der Schüler an verschiedenen Schultypen nach Leistung(sfähigkeit) nicht in dem Maß wie angestrebt gelingt. Zweitens scheint „die differenzierende Wirkung der Schulformzugehörigkeit (...) im Laufe der Sekundarschulzeit in frappierender Weise zuzunehmen“ (Baumert et al. 2003: 284). D.h., dass sich die geringeren Lernchancen von Schülern an Haupt- und Sonderschulen tatsächlich negativ auf ihre Leistungen niederschlagen, und weil Schüler mit Migrationshintergrund an diesen Schultypen überrepräsentiert sind, kann man sagen, dass die Erklärung ihrer Bildungsnachteile durch das schulische Kontextmerkmal „Beschulung in einem hierarchisch gegliederten Schulsystem“ empirische Bestätigung gefunden hat. Empirisch bestätigt wird dies auch durch den Vergleich, den Diefenbach (2003) zwischen den Sekundarschulabschlüssen vorgenommen hat, die deutsche Schüler und ausländische Schüler im dreigliedrigen Schulsystem (bestehend aus Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien) einerseits und an Integrierten Gesamtschulen andererseits erworben haben. Dabei hat sich gezeigt, dass ausländische Schüler an Integrierten Gesamtschulen konstant über einen Beobachtungszeitraum von elf Jahren (1990 bis 2000) hinweg höherwertige Sekundarschulabschlüsse erreichen als an den Schulen des dreigliedrigen Systems zusammen betrachtet und dass sie außerdem von Integrierten Gesamtschulen seltener ohne Haupt-
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schulabschluss abgehen. Allerdings erreichen sie auch an Integrierten Gesamtschulen weniger höherwertige Abschlüsse als deutsche Kinder. Für den negativen Effekt eines hohen Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schulklasse auf den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund liegen für Deutschland ebenfalls nur wenige Forschungsergebnisse vor. Nach den Daten der PISA-2000-E-Studie erzielen Kinder mit Migrationshintergrund „in Schulen (...) tendenziell geringere Leistungen, die von einem höheren Anteil von Jugendlichen besucht werden, deren Umgangssprache in der Familie nicht Deutsch ist“ (Stanat 2003: 256). Dieser Befund bezieht sich auf den Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund in Schulen, nicht in den Klassen, in denen das Fach unterrichtet wird, für das die Testleistung gemessen wurde, so dass er über die Effekte des Anteils von Schülern mit Migrationshintergrund in einer Klasse auf die Schulleistungen der Kinder mit Migrationshintergrund in dieser Klasse nichts aussagt, sondern bestenfalls als Näherungswert gelten kann. Außerdem wird die Gruppe der Schüler mit Migrationshintergrund hier eingeschränkt auf diejenigen, deren Umgangssprache in der Familie nicht Deutsch ist. Der Befund kann nicht umstandslos auf Schüler mit Migrationshintergrund übertragen werden. Kristen (2002) hat einen Effekt des Anteils ausländischer Kinder in der Schulklasse auf die Chance, nach der Grundschule auf eine Realschule oder ein Gymnasium statt auf eine Hauptschule zu wechseln, festgestellt: Türkische und (besonders) italienische Kinder haben eine umso geringere Chance, von der Grundschule auf eine Realschule oder ein Gymnasium zu wechseln, je mehr ausländische Kinder in ihrer Grundschulklasse sind (Kristen 2002: 548). Im Gegensatz zu den Befunden aus der PISA-Studie bezieht sich dieses Ergebnis auf Schulklassen, und es bezieht sich auf eine andere Gruppe von Schülern mit Migrationshintergrund, nämlich Schüler nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, und außerdem auf einen anderen Aspekt von Bildungserfolg. Die Ergebnisse aus der PISA-Studie und diejenigen von Kristen sind also nicht direkt miteinander vergleichbar. Als weiterer Beleg für die in Abschnitt 3.3 beschriebene Erklärung der Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund aufgrund des Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schulklasse kann ein Ergebnis von Merkens (2005) gelten: Anhand einer Untersuchung von 1.200 Schülern an 26 Berliner Grundschulen stellte er einen negativen Effekt eines höheren Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund auf die Leseleistungen am Ende des dritten Schuljahres fest, der besonders stark war, wenn der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund größer als 30 Prozent war. Dass der Effekt vor allem bei Kindern mit türkischem Hintergrund auftrat, erklärte er sich dadurch, dass es sich bei ihnen um die größte Gruppe von Kindern mit Migrationshintergrund handle, so dass sie die Möglichkeit hätten, in und außerhalb der Schule Türkisch miteinander zu sprechen, während andere Gruppen von Migrantenkindern auf das Deutsche als lingua franca zurückgreifen müssten und es daher mehr üben würden. Diese Interpretation entspricht der Rekonstruktion der Argumentation in der Erklärung ‚Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund aufgrund des Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schulklasse‘, wie sie in Abschnitt 3 vorgestellt wurde. Jedoch sieht sich dieser Befund von Merkens – wie jede Prüfung der Erklärung der Bildungsnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund durch den Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schulklasse – dem Endogenitätsproblem gegenüber: Selbst dann, wenn gezeigt werden kann, dass Schüler mit Migrationshintergrund in Klassen mit vielen Schülern mit Migrationshintergrund schlechtere Leistungen erbringen als in
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Klassen mit weniger Schülern mit Migrationshintergrund, und dies tatsächlich mit geringeren Deutschkenntnissen der Ersteren zusammenhängt, stellt sich die Frage, ob sie deshalb schlechter Deutsch können, weil sie gemeinsam mit vielen anderen Schülern mit Migrationshintergrund in eine Klasse gehen, oder ob sie gemeinsam mit vielen anderen Schülern mit Migrationshintergrund in eine Klasse gehen, weil sie schlecht Deutsch können.10 Einem anderen Problem sieht sich die Prüfung der Erklärung der Bildungsnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund durch institutionelle Diskriminierung gegenüber, nämlich dem, dass hier die erklärende Variable nicht durch Befragung erhoben werden kann wie das bei anderen Erklärungen der Fall ist, denn „der Untersuchungsgegenstand ist (...) das ‚Ungewußte‘, zumindest das ‚Unausgesprochene‘ einer Organisation, auf das erst eine distanzierte und zugleich gezielte Beobachtung aufmerksam wird, die Wirkungen von Entscheidungssequenzen unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit untersucht“ (Gomolla und Radtke 2002: 80). Dies ist sicherlich ein Grund dafür, dass diese Erklärung bislang nur in einer einzigen Studie systematisch überprüft wurde, und zwar derjenigen von Gomolla und Radtke über Entscheidungen über die Einschulung von Kindern, die Überweisung von Kindern auf eine Sonderschule für Lernbehinderte (SOLB) und die Grundschulempfehlung zum Übergang von Kindern in die Sekundarstufe an Bielefelder Schulen. Als Untersuchungsmaterial dienten dabei „transkribierte Interviews mit LehrerInnen, SchulleiterInnen und Akteuren in Schulbehören“ (Gomolla und Radtke 2000: 328). Deren Analyse ergab, dass „(...) ethnisch-kulturelle Kriterien im organisatorischen Handeln der Schule an Stellen angewendet werden, an denen begehrte Zugangschancen zu verteilen sind“, wobei „die Entscheidungspraktiken (...) allgemein stark von den verfügbaren Handlungsoptionen beeinflusst [sind] und (...) in deren Kenntnis getroffen [werden]“ (Gomolla und Radtke 2000: 335). Zum Beispiel nutzen Grundschulen die Existenz von Vorbereitungsklassen und Schulkindergärten dazu, „zur eigenen Entlastung die Aufgabe der Sprachvermittlung und der Verwandlung von Kindern in SchülerInnen an die Einrichtungen des Elementarbereichs und/oder die Eltern zu delegieren“ (Gomolla und Radtke 2000: 336). Bezüglich des Sonderschulaufnahmeverfahrens stellten die Autoren unter anderem fest, dass Empfehlungen hierfür entgegen der rechtlichen Regelung des Verfahrens explizit mit mangelnden Deutschkenntnissen begründet wurden und dass Schulen und Schulbehörden dazu tendieren, „den legitimen Widerspruch vor allem türkischer Eltern gegen eine SOLB-Überweisung als ‚Kulturkonflikt‘ zu entwerten“ (Gomolla und Radtke 2000: 330). In Bezug auf die Grundschulempfehlung zeigte sich, dass auch relativ leistungsfähige Kinder mit Migrationshintergrund deshalb an Hauptschulen empfohlen wurden, weil im Untersuchungszeitraum nur Hauptschulen Vorbereitungsklassen führten, während die weiterführenden Sekundarschultypen kaum eine Möglichkeit zur Sprachförderung von Zweitsprachlern boten (Gomolla und Radtke 2000: 330). Auch bei Vorliegen guter Leistungen wurde Kindern mit Migrationshintergrund in Elternberatungen und in der Übergangsempfehlung häufig vom Besuch des Gymnasiums abgeraten, weil ohne perfekte Deutschkenntnisse ein erfolgreicher Besuch des Gymnasiums nicht möglich sei und sich die (bislang offensichtlich ausreichen-
10 Letzteres ist per definitionem der Fall in Förderklassen für Deutsch als Zweitsprache. Verschiedentlich ist vorgeschlagen worden, das Endogenitätsproblem durch den Einsatz so genannter instrumenteller Variablen zu lösen (Angrist und Lang 2004; Robertson und Symons 2003), aber das entsprechende Verfahren wird in der deutschen Bildungsforschung nur selten verwendet, und außerdem ist umstritten, inwiefern es das Endogenitätsproblem tatsächlich lösen kann (Bound et al. 1995; Buse 1992).
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den) Deutschkenntnisse der Kinder später als nicht hinreichend erweisen würden (Gomolla und Radtke 2000: 330). Der Bericht dieser Einzelbefunde mag ausreichen, um deutlich zu machen, dass Gomolla und Radtke in ihrer Studie zeigen konnten, dass die institutionelle Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund an allen untersuchten Entscheidungsstellen der Bildung sprach- und leistungshomogener Klassen und damit der Delegation von „Problemfällen“ an andere Einrichtungen dient, und dass vorzugsweise auf mangelnde Deutschkenntnisse und den kulturellen Hintergrund der Kinder Bezug genommen wird, um die jeweiligen Entscheidungen zu legitimieren, also auf Erklärungsmuster, die im öffentlichen Diskurs dominieren und große Akzeptanz finden, empirisch aber kaum geprüft wurden bzw. kaum als bestätigt gelten können oder nur für eine Teilgruppe von Schülern mit Migrationshintergrund Gültigkeit beanspruchen können. Dass es eine institutionelle Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe gibt, lässt sich auch aufgrund der Studie von Kristen (2002) über die Übergangsempfehlungen an sechs Grundschulen in Baden-Württemberg vermuten. Sie stellt fest, dass die ethnische Herkunft eines Kindes auch nach Kontrolle seiner Schulnoten einen Einfluss darauf hat, ob es die Hauptschule oder eine weiterführende Sekundarschule (also eine Realschule oder ein Gymnasium) besucht. Diesbezüglich „scheint der Verweis auf Diskriminierungen seitens der Schule nahe zu liegen“ (Kristen 2002: 549).11 Weil in dieser Studie keine entsprechenden Mechanismen untersucht worden sind, bietet sie keinen direkten Beleg für die Existenz institutioneller Diskriminierung, sondern nur einen indirekten. Im Gegensatz zum Ergebnis von Kristen (2002) steht ein Befund aus der LAU-5Studie, in der der Zusammenhang zwischen der Grundschulempfehlung, die Kinder für den Übergang in die Sekundarstufe erhalten, und ihren Testleistungen in Hamburg untersucht wurde. Hier bekommen Kinder mit Migrationshintergrund bereits bei niedrigeren Testwerten eine Gymnasialempfehlung als Kinder ohne Migrationshintergrund, d.h. der Standard, der für Kinder mit Migrationshintergrund angelegt wird, wenn eine Grundschulempfehlung ausgesprochen wird, ist niedriger als der Standard, der für Kinder ohne Migrationshintergrund gilt (Lehmann und Peek 1997: Kapitel 5.2). Dies scheint ein Fall positiver Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund zu sein und daher kaum dazu geeignet, die Bildungsnachteile von Kindern mit Migrationshintergrund zu erklären.12 Dass in einigen Bundesländern bzw. Städten negative und in anderen positive Diskriminierung von Schülern mit Migrationshintergrund zu beobachten zu sein scheint, belegt aber nochmals, wie wichtig es ist zu untersuchen, welche Effekte die institutionelle Einbindung schulischer Organisationsformen auf den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund (und sicherlich nicht nur deren Bildungserfolg) hat.
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Die Autorin gibt zu bedenken, dass „auch andere, bislang nicht kontrollierte Faktoren für den Fortbestand derartiger Unterschiede verantwortlich sein können“ (Kristen 2002: 549), aber dieses Argument lässt sich prinzipiell und bezüglich jedes Ergebnisses jeder Studie anbringen und kann daher nur der Immunisierung der präferierten Ergebnisinterpretation dienen (vgl. hierzu Gadenne 2005: 32). In jedem Fall ist Kristens Beobachtung mit der Existenz institutioneller Diskriminierung vereinbar. 12 Zur Erinnerung: Man könnte natürlich auch in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass unbenannte und unkontrollierte Faktoren für das Ergebnis verantwortlich sein könnten, so dass es sich hier gar nicht um positive Diskriminierung handle.
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Fazit
Trotz der gesellschaftspolitischen Wichtigkeit der Frage nach dem Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund, die etwa 20 Prozent der gesamten Schülerschaft an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ausmachen, muss die bislang vorliegende Forschung zu dieser Frage als unbefriedigend, weil unzureichend bezeichnet werden. So liegt bisher mangels Daten keine umfassende Beschreibung der schulischen Situation bzw. der Bildungsnachteile verschiedener Gruppen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (nach Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Muttersprache u.Ä.m. in verschiedenen Bundesländern oder Städten) vor. Dies hat zur Folge, dass die Gruppe der Schüler mit Migrationshintergrund als homogen aufgefasst wird und pauschale Aussagen über die Gründe und Ursachen der schulischen Situation der Schüler mit Migrationshintergrund, wie z.B. mangelnde Deutschkenntnisse, gesucht und benannt werden, weil man meint, über dasselbe zu sprechen, wenn man sich in Wirklichkeit auf ganz unterschiedlich definierte Schüler mit Migrationshintergrund und auf unterschiedliche Indikatoren für Bildungserfolg bezieht.13 Erklärungen für feststellbare Unterschiede zwischen dem Schulerfolg von Kindern ohne Migrationshintergrund und Kindern mit Migrationshintergrund müssen also daraufhin geprüft werden, ob sie überhaupt gleichermaßen sinnvoll auf verschiedene Gruppen von Schülern mit Migrationshintergrund angewendet werden können bzw. inwieweit sie ihren Erklärungsanspruch einschränken müssen. Z.B. kann die Erklärung durch kulturelle Defizite aufgrund der Sozialisation der Kinder mit Migrationshintergrund in der Herkunftskultur eben nur für diejenigen Kinder erklärungskräftig sein, bei denen eine solche Sozialisation stattgefunden hat, was für eine nennenswerte Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund in der Dritten Generation oder für Kinder aus binationalen Partnerschaften bezweifelt werden darf. Die Variante der Erklärung, die mit schichtspezifischer Sozialisation argumentiert, sowie die humankapitaltheoretische Erklärung könnten nicht den relativen Bildungsmisserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund mit mittlerem oder hohem sozioökonomischen Status erklären, weil es ihn nämlich gemäß dieser Argumentationen gar nicht geben darf.14 So, wie kaum zu erwarten ist, dass eine Erklärung gleichermaßen auf alle Gruppen von Schülern mit Migrationshintergrund sinnvoll angewendet werden kann, ist nicht zu erwarten, dass die beobachteten Bildungsnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund im Aggregat allein oder vor allem auf diejenigen Größen zurückgeführt werden können, die in einer dieser Erklärungen als bedeutsam benannt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie multikausal verursacht werden und verschiedene Erklärungen Größen benennen, die zu Bildungsnachteilen von Schülern mit Migrationshintergrund führen. Es liegen aber
13 So ist es sicherlich etwas gänzlich anderes, ob man den relativen Bildungsmisserfolg von Jugendlichen, die im Alter von 14 oder 15 Jahren als Kontingentflüchtlinge erstmals nach Deutschland eingereist sind, oder denjenigen von Jugendlichen, die in Deutschland geboren wurden und ihre gesamte Schulkarriere in Deutschland absolviert haben, durch mangelnde Deutschkenntnisse erklären will, weil Letzteres potentiell auf Versäumnisse oder Leistungsgrenzen der Institutionen im deutschen Bildungssystem als „hinter“ den mangelnden Deutschkenntnissen liegende Erklärung verweist, Ersteres aber nicht. 14 Ob es ihn gibt, ist bislang nicht untersucht worden. Hierfür wäre ein Vergleich der Bildungserfolge von Schülern mit und Schülern ohne Migrationshintergrund notwendig, deren Familien einen vergleichbar hohen sozioökonomischen Status haben. Diesen Vergleich zu leisten, wäre eine Aufgabe der bereits angemahnten gruppenspezifischen Beschreibung des relativen Bildungserfolgs von Schülern mit Migrationshintergrund.
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bislang kaum Studien vor, die Größen aus verschiedenen Erklärungen in ein und demselben Erklärungsmodell systematisch mit- oder gegeneinander testen. Ein Problem der bisherigen empirischen Prüfung der genannten Erklärungen ist außerdem, dass sie häufig nicht trennscharf erfolgt. Wenn eine Studie z.B. ergibt, dass die Bildung und das Einkommen der Eltern von Schülern deren Schulerfolg erklären, dann bleibt zu fragen, welche Erklärung damit eigentlich bestätigt wurde, denn verschiedene der im vorliegenden Beitrag genannten Erklärungen würden diesen Zusammenhang erwarten lassen: In der Erklärung durch kulturelle Defizite aufgrund schichtspezifischer Sozialisation zeigen die Bildung und das Einkommen der Eltern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht an, in der humankapitaltheoretischen Erklärung stehen sie für die Ressourcen, die die Eltern in die Bildung der Kinder investieren können, und gemäß der Erklärung durch institutionelle Diskriminierung werden Entscheidungen unter anderem durch Verweise auf Merkmale des Elternhauses legitimiert, so dass es nicht verwundert, wenn sich ein Zusammenhang zwischen Bildungserfolg eines Schülers und der Bildung und dem Einkommen der Eltern ergibt. Wie man diesen Befund interpretieren möchte, ist also weitgehend eine Frage der eigenen Präferenzen. Für eine trennscharfe Prüfung dieser Erklärungen wäre die Verwendung spezifischerer Indikatoren notwendig, bezüglich der Erklärung durch kulturell bedingte Defizite z.B. Maße für Wertvorstellungen, nach denen Eltern (verschiedener sozialer Schichten oder verschiedener Herkunftskulturen) ihre Kinder erzogen haben und für Wertvorstellungen, die die Kinder selbst haben. Auch diesbezüglich hat die Forschung noch einiges zu leisten. Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass auch die Rezeption verschiedener Erklärungsvorschläge englischsprachiger Autoren durch die deutsche Bildungsforschung aussteht, was insofern bedauerlich ist, als die empirische Prüfung dieser Vorschläge außerhalb Deutschlands teilweise ermutigende Ergebnisse erbracht hat.
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Ausgewählte Klassiker der Bildungssoziologie Rolf Becker
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Einleitung
Was sind die Klassiker der Bildungssoziologie und zu welchem Zweck studiert man sie? Diese Frage ist insofern berechtigt, da es sicherlich nicht das Ziel des Studiums der Bildungssoziologie oder der bildungssoziologischen Forschung sein kann, akademisches Wiederkäuen soziologischer Klassiker zu betreiben oder sich auf ideengeschichtliche Selbstbeschäftigung zu beschränken (vgl. Coleman 1990). Es gibt sicherlich interessantere und relevantere Fragen der Bildungssoziologie nämlich Sinn und Zweck von Bildung und Ausbildung, Prozesse und Mechanismen des Erwerbs von Bildung und strukturelle Zusammenhänge gesellschaftlicher Institutionen und Bildungssystem, um nur einige zu nennen (siehe das Einleitungskapitel von Becker in diesem Band). Aber nicht selten werden mehr oder weniger eingestaubte Vertreter der Bildungs- und Erziehungssoziologie und ihre Schriften hervorgekramt und in den Kanon von Pflichtlektüre gepresst, weil man ansonsten den Verlust kultureller Überlieferung bildungssoziologischer Traditionen befürchtet (vgl. Sommerkorn 1993; Plake 1987). Unabhängig davon, ob der befürchtete Untergang eines bildungssoziologischen Erbes realistisch ist, ist die Frage gerechtfertigt, was denn eigentlich zum „Erbe“ und zu den „Traditionen“ in der Bildungssoziologie und die Bildungssoziologie kann auf eine lange Tradition und eine illustre Ahnengalerie zurückblicken letztendlich zählt. Wer bestimmt denn nach welchen Kriterien, welche Personen mit Würde in die Ahnengalerie eingereiht werden und welche Personen aus welchen Gründen auch immer unberücksichtigt bleiben? Wie kann eine sakrosankte Sammlung von Klassikern der Bildungssoziologie legitimiert werden? Da es keine übergeordnete Instanz gibt, die den Kanon festlegt, sind intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien zu nennen, wer zu den Klassikern gerechnet wird und wie die Auswahl erfolgte. Es gibt sicherlich ein Bedürfnis der Sinn- und Identitätsstiftung innerhalb der Soziologie im Allgemeinen und in der Bildungssoziologie im Speziellen, die durch den Rückgriff auf eine traditionelle Herkunft und herausragende Vertreter des Faches bewerkstelligt werden kann (Krais 1996, 2003). Identität lässt sich sicherlich aus der Geschichte des Faches und aus dem „Charisma“ von Urahnen ableiten. Da wären beispielsweise Lester F. Ward (1847-1913), der Begründer der amerikanischen Soziologie und erste Präsident der American Sociological Association (ASA), sowie der Franzose Émile Durkheim (1858-1917), einer der prominenten europäischen Gründungsväter der Soziologie, zu nennen. Bereits bei diesen beiden „Urahnen“ der Soziologie bzw. Bildungssoziologie wird – was ihre zentralen Fragestellungen und Forschungsthemen anbelangt – deutlich, wie eng die Bildungssoziologie in bestimmte historische Kontexte, gesellschaftliche Entwicklungen und wirtschaftliche Bedingungskonstellationen eingebettet ist (vgl. Käsler 1984). So haben sich Ward oder Durkheim wie andere soziologische Zeitgenossen wie etwa Max Weber (1864-1920) in
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Bezug auf die Bildung und Erziehung auf Fragen nach den gesellschaftlichen Mechanismen, durch welche die Individuen in die Gesellschaft integriert, konzentriert, was auch damit zusammenhängt, dass sie zu Zeiten der Nationalstaatenbildung und Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert mit ihren bedeutsamen gesellschaftlichen Folgeerscheinungen wie Modernisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung, Individualisierung und Demokratisierung (Weber 1920, 1922) einherging. Dieses Beispiel soll auch dafür sensibilisieren, dass nicht nur das „Wiederkäuen“, sondern das Verstehen der Klassiker nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen die Vertreter der Bildungssoziologie gelebt und gewirkt haben, und ihrer biographischen Bezüge zu ihrem Werk und schließlich über die kritisch wie distanzierte Auseinandersetzung mit der Rezeption ihrer Werke gelingt (vgl. Käsler 1976; Käsler und Vogt 2000; Mayer 1992). Die Zeitgebundenheit und Zeitbedingtheit bildungssoziologischer Klassiker ist offensichtlich wie die Prägung von Generationen durch die historische Periode, in der sie hineingeboren und durch die sie sozialisiert werden (Becker 1997; Mayer und Huinink 1990; Blossfeld 1989; Mannheim 1928; Pinder 1926).1 Die Klassiker werden nicht geboren, sondern – wie bereits angedeutet – konstruiert. In unserem Falle sind sie Repräsentanten bestimmter bildungssoziologischer „Schulen“ oder einer historischen Epoche, in denen bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen auf die bildungssoziologische Forschung eingewirkt haben. Vorab soll gesagt sein, dass man nicht aus Ehrfurcht vor den „Ahnen“ in die Knie gehen und beim Lesen der Klassiker andächtig zwei Kerzen anzünden soll, sondern wir wollen von ihnen lernen. Daher ist es ein bescheidenes Ziel dieses Kapitels, eine ausgewählte, aber interessante Gruppe von „Klassikern“ oder klassischen Werken der Bildungssoziologie zu präsentieren. Selbstverständlich ist die Auswahl nicht vollständig, und die Auswahlkriterien sind auch subjektiv: Die Werke sollen noch gegenwärtig in der modernen Bildungsforschung relevant sein. Sie sollen maßgeblich für das gegenwärtige Denken und Forschen in der Bildungssoziologie sein, und die Vertreter müssen entweder bereits gestorben oder zumindest im Ruhestand sein. Die bewusst knapp gehaltene Präsentation dieser kleinen Auswahl soll zur eigenständigen Lektüre und zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Vertretern und ihrer Werke sein. Zentrale Funktion bildungssoziologischer Klassiker ist meines Erachtens, Richtschnur und Messlatte für den Fortschritt des gegenwärtigen und zukünftigen Forschens in der Bildungssoziologie zu sein. Wenn wir die wissenschaftsprogrammatische Überzeugung teilen, dass Soziologie im Allgemeinen und die Bildungssoziologie im Besonderen jene Wissenschaft ist, die empirisch intersubjektiv überprüfbare Aussagen über soziale Wirklichkeit und systematische Erklärungen tatsächlicher gesellschaftlicher Verhältnisse und Tatbestände miteinander verbindet, dann ist das „Wiederkäuen“ von klassischen Werke im Sinne einer antiquierten Vergangenheitspflege wenig sinnvoll und nützlich (vgl. Coleman 1990, 1993). Vielmehr soll ihr Studium zur nüchternen Bilanzierung des Forschungsstands, ihrer aktuellen Nütz1 Was Pinder (1926) für die Kunstgeschichte nach Generationen aufwarf, kann auf die Geschichte der Soziologie im Allgemeinen und der Bildungssoziologie im Besonderen übertragen werden. Auch für ihre Ideengeschichte gilt das historische Problem der „Ungleichzeitigkeit“ des Gleichzeitigen – die zeitliche Parallelität von soziokulturellen Mustern, die in früheren und späteren Sozialisationsprozessen vermittelt werden –, dass zwar verschiedene Generationen von Sozialforschern zur gleichen Zeit leben, aber weil nur die selbst erfahrene Zeit die reale Zeit ist, haben sie unterschiedliche Vorstellungen über ihre Zeit und über die vergangenen und aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse, weil eben der historische Zeitpunkt nicht identisch mit der individuellen Zeit ist: „Jeder lebt mit Gleichaltrigen und Verschiedenaltrigen in einer Fülle von gleichzeitigen Möglichkeiten. Für jeden ist die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter seiner selbst, das er nur mit Gleichaltrigen teilt“ (Pinder 1926: 21).
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lichkeit und schließlich zur Entwicklung neuer und Weiterentwicklung bestehenden Forschungsstandes beitragen. Ihre unterstützende Funktion kann sich dabei auf die Beschreibung sozialer Tatbestände, auf die vollständige soziologische Erklärung anhand empirisch bewährter Theorien, und schließlich auf die Ableitung von Prognosen oder Sozialtechnologien erstrecken. Gleichzeitig ist auch die Warnung angebracht, nicht allzu viel von den Klassikern zu fordern. Wenn beim Betreiben der Bildungssoziologie als empirische Wissenschaft neben Leidenschaft und Disziplin auch Verantwortung gefordert wird, dann ist damit nicht gemeint, dass man per „name dropping“ berühmte Vorbilder, die sich gegen diese missbräuchliche Praxis nicht mehr wehren können, als inhaltsleere Referenzen heranzieht. Nicht weil sie dafür zu schade sind, um Schindluder und Missbrauch mit ihnen zu treiben, sondern wenn die sozialwissenschaftliche Wissensproduktion – also der systematische Erkenntnisgewinn – ein alltägliches Geschäft der Bildungssoziologie ist, dann können klassische Werke durchaus Hilfestellung dabei leisten. Und sie schützen uns möglicherweise davor, das Feuer neu zu entdecken oder das Rad neu zu erfinden. So gesehen ist es in einem gewissen Maße notwendig, sich Klassiker der Bildungssoziologie anzueignen, um den gegenwärtigen Zustand der Bildungssoziologie beurteilen, sich ein Bild über die Forschung machen, und schließlich die Fragestellungen verstehen zu können. Neben der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion in universitärer Lehre und Forschung gibt es auch allgemeine Konzepte gesellschaftlicher Wirklichkeit, die sich die Menschen selbst machen: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Diese individuellen Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeiten – also die subjektiven Meinungen, Einstellungen und Ideologien über Gesellschaft – sind zu trennen von der analytischen sozialwissenschaftlichen Forschung über soziale Tatbestände. Für diese Leistung können Klassiker den Weg weisen und unter Umständen den Verstand schärfen. Gesellschaftliche Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeiten sind wiederum zu trennen von der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion und den allgemeinen Konzepten sozialer Wirklichkeit hier geht es darum, wie Menschen ihre soziale Realität in Bezug auf ihre Vorstellungen über Gesellschaft konstruieren. Und dazu trägt die Soziologie selbst in unbescheidender Weise bei – nämlich durch die Publikation ihrer Erkenntnisse, die wiederum über Massenmedien weitertransportiert werden, und Eingang in das Alltagsverständnis von (auch soziologisch ungebildeten) Menschen finden (Rohwer 1994). Wie Menschen diese Konstruktionsleistung vollziehen, davon können wir als Sozialwissenschaftler unter anderem auch von den klassischen Werken lernen, die teilweise Eingang in das Alltagsverständnis der Menschen gefunden haben (vgl. Mayer und Blossfeld 1990; Mayer 1987; Solga 2005). Kurzum von den bildungssoziologischen Klassikern kann man sicherlich lernen, was mit wissenschaftlicher Bildungssoziologie als akademische Disziplin gemeint ist, und welche Wirkung dieses Tun der Bildungssoziologie auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, auf die allgemeinen Konzepte der sozialen Wirklichkeit und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit hat. Nicht genug damit auch für das Selbstverständnis der Bildungssoziologie können sie einen Beitrag leisten. Die Geschichte der Bildungssoziologie kann zum einen betrachtet werden als Diskurs über den Sinn gesellschaftlichen Lebens und die Rolle von Bildung dabei und zum anderen als Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im Objektbereich der Bildungssoziologie und der Sozialwissenschaften überhaupt. Dass dabei das Studium der klassischen Werke zum Bau von Mauso-
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leen oder zur Konstruktion einer Geschichte toter Helden wird, ist eine Gefahr, der man dadurch begegnen kann, dass man wie bereits mehrfach angeführt einen konkreten Bezug zu aktuellen Problemstellungen herstellt, zu gegenwärtigen Debatten, Theorie- und Modellbildungen, konkreter Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden und statistischer Verfahren sowie Produktion empirischer Resultate. Daher ist die hier vorgenommene Auswahl von Klassikern der Bildungssoziologie in einem sicherlich eingeschränkten Maße als ihre praktische Anwendung für die aktuelle Forschung in der Bildungssoziologie zu verstehen. Nicht nur, dass sie bestimmte Paradigmen vertreten haben, sondern innovative Fragestellungen und Erklärungen entwickelt haben, neuartige Forschungsdesigns und Forschungsmethoden entdeckt und angewendet haben, und immer noch relevant sind, sollen weitere Auswahlkriterien für die hier vertretene „Ahnengalerie“ sein. Für weiterführende Lektüre sei beispielsweise auf die Werke von Plake (1987), Käsler (1984, 1999, 2000), Müller (2000) oder Grusky (1994) verwiesen werden. Aber sie ersetzen nicht das Studium der Originalliteratur – zumal sich die folgende Darstellung nur auf die Beiträge der Klassiker zu bildungssoziologischen Problemstellungen beschränkt.
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Émile Durkheim (1858-1917)
Am 15. April wurde Èmile Durkheim in Épinal (Lothringen) als Sohn eines Rabbiners (Moïse Durkheim) und einer Hausfrau (Mélanie Durkheim, geborene Isidor, Kaufmannstochter) geboren. 1874 schliesst er seine Schulausbildung am Collège d’Épinal in Épinal mit Baccalauréat ès lettres und ein Jahr später mit dem Baccalauréat ès sciences ab. Von 1875 bis 1879 setzt er die Schulausbildung am Lycée Louis-le-Grand in Paris fort. Nach zwei vergeblichen Versuchen, an der École Normale Supérieure zugelassen zu werden, beginnt er an der École Normale Supérieure in Paris Philosophie zu studieren. Von 1879 bis 1882 studiert er Philosophie an der École Normale Supérieure in Paris (Agrégation de Philosophie im Jahre1882). In der Zeit von 1882 bis 1887 ist er Professeur de Philosophie am Lycée in Sens, Yonne, dann in Saint-Quentin, Aisne, zuletzt in Troyes, Aube. Im Jahre 1883 veröffentlicht Durkheim sein erstes Hauptwerk, seine zweite Dissertation mit dem Titel „Über soziale Arbeitsteilung“. In der Zeit von 1885 bis 1886 unterbricht er seinen Schuldienst und studiert während eines sechsmonatigen Studienaufenthaltes im Deutschen Reich, vor allem in Marburg an der Lahn, Berlin und Leipzig, Soziologie und Pädagogik. Auf diesen Aufenthalt folgen Veröffentlichungen über die deutschen Universitäten und die dortige Auseinandersetzung mit Fragen des Zusammenhalts, der „Moral“. Im Jahre 1887 heiratet er Louise Dreyfus, Tochter eines Gießereibesitzers, und hat zwei Kinder: Marie und André Durkheim. Der Sohn fällt 1916 als Soldat im Ersten Weltkrieg. Von 1887-1902 ist Durkheim als Professor für Pädagogik und Sozialwissenschaft an der Universität in Bordeaux tätig (1887-1894 Lehrbeauftragter der Sozialwissenschaft und Pädagogik, 18941895 außerordentlicher Professor der Sozialwissenschaft und Pädagogik, 1895-1896 außerordentlicher Professor der Sozialwissenschaften). Während dieser fünfzehn Jahre begründete er die französische Soziologie und wirkte maßgeblich an deren Institutionalisierung als empirische Wissenschaft mit.2 So war er von 1896 bis 1902 Ordentlicher Professor der 2 Durkheim gilt generell als einer der Gründerväter der Soziologie als empirische Wissenschaft mit einer eigenständigen Methode, die nicht nur der Illustration von Theorien und Hypothesen, sondern deren Beweis dient. Er
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Sozialwissenschaften auf einem eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhl, der erste dieser Art in Frankreich. Im Jahre 1895 publiziert Durkheim sein zweites Hauptwerk: „Die Regeln der soziologischen Methoden“ mit der Begründung von Soziologie als eigenständige Wissenschaft und im Jahre 1897 vertieft er mit der empirischen Studie „Der Selbstmord“ – seinem dritten Hauptwerk – das Thema der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. 1898 erfolgte die Gründung der Zeitschrift „Année Sociologique“ und Durkheim redigierte 19 Jahrgänge. Nach seinem Wechsel an die Pariser Universität Sorbonne lehrte er von 1902 bis 1917 zunächst als Lehrbeauftragter für Pädagogik und Soziologie. Im Jahre 1906 richtete die Universität Durkheim einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft und Soziologie ein und von 1906 bis 1913 war er Ordentlicher Professor der Erziehungswissenschaft. Im seinem im Jahre 1912 veröffentlichten vierten Hauptwerk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ geht Durkheim von der universellen Präsenz religiöser Überzeugungen aus. Danach war er bis zu seinem Tod am 15. November 1917 Ordentlicher Professor der Pädagogik und Soziologie an der Sorbonne. Kurzer Überblick über das Gesamtwerk Vor dem Hintergrund der umfassenden wie rasant voranschreitenden Modernisierung von Gesellschaften im Zuge der Industrialisierung hat Durkheim (1984) dem öffentlichen und allgemeinen Bildungs- und Erziehungssystem eine herausragende Bedeutung als Instanz gesellschaftlichen Fortschritts und sozialer Integration heranwachsender Generationen beigemessen. Angesichts zunehmender Bedeutung von öffentlicher Erziehung und Bildung plädierte Émile Durkheim (1972) dafür, Soziologie als eigenständige Wissenschaft (in Abgrenzung zur Psychologie und anderen Kulturwissenschaften) zu betreiben und zum integralen Bestandteil der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern zu machen. Soziologie ist in seinen Augen eine Grundlagenwissenschaft für die Pädagogik sowie für die Ausbildung und das Handeln von Erziehungs- und Lehrpersonen. Auch in seinen Schriften über Bildung, Erziehung und Moral spiegeln sich folgende Fragestellungen wider, die sein Lebenswerk kennzeichnen: 1.) Wie müsste eine dynamische und gerechte Gesellschaft aussehen, die soziale Ordnung und individuelle Freiheit ermöglich, die soziale Solidarität und moralische Autonomie eröffnet? 2.) Was kann die Soziologie verstanden als eine rationale, positive und empirische Wissenschaft zu diesem Projekt einer modernen Gesellschaft beitragen? 3.) Wie müssten die Konturen einer individualistischen Moral aussehen, die soziale Kooperation in einer demokratischen Zivilgesellschaft ermöglicht? Diese Problemstellungen stehen in einem engen Verhältnis mit den drei Zielen, die Durkheim in seinem akademischen Leben verfolgte: 1.) Einrichtung der Soziologie als Fachdisziplin (Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches und ihrer Methode [„Die Regeln der soziologischen Methoden“, 1895] sowie die Durchführung paradigmatischer Studien [„Der Selbstmord“, 1897, und „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“, 1912]), 2.) fundierte in seinen Werken die soziologische Arbeitsweise als aufeinander bezogenes Zusammenspiel von empirischer Sozialforschung und geisteswissenschaftlicher Theoriebildung. Auch in Bezug auf Bildung ist er immer noch als moderner „Bildungssoziologe“ zu sehen, wenn er die methodologische Auffassung vertritt, dass soziale Tatbestände gesellschaftliche bzw. sozial bedingte Institutionen sind, die außerhalb des individuellen Bewusstseins sind und einen Einfluss auf den Sozialcharakter haben („Zwangscharakter“ von Institutionen), und daher soziologisch zu untersuchen sind. In der Auffassung von Durkheim ist ein soziologischer Tatbestand jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Druck (Zwang) auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.
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Diagnose der modernen Gesellschaft (historisch-empirische Analyse ihres Zustandes mit einer theoretischen Erklärung ihrer Struktur- und Entwicklungsprinzipien sowie normative Beurteilung („Über soziale Arbeitsteilung“, 1883) und 3.) Entwicklung einer zeitgemäßen neuen Moral, die eine gespaltene Gesellschaft zu neuer Solidarität verhelfen soll (L’éducation morale“, 1910). Durkheims Schriften zu Bildung und Erziehung sind daher ein entscheidender Bestandteil in seinem Gesamtwerk. Es findet seinen Ausgang in der Kriegsniederlage Frankreichs von 1871 (Krieg mit Deutschland), welche den französischen Rationalismus und Fortschrittsglauben beeinträchtigte, und „weil das Erziehungssystem schließlich mit dem traditionell konservativen Einfluss der katholischen Kirche nicht mit einer modernen Gesellschaft zu vereinbaren war und statt dessen den Aufbau eines demokratischen Bewusstseins, die Schaffung eines solidarischen Zusammenhalts und die Entwicklung einer säkularen, individualistischen Moral behinderte“ (Müller 1999: 153). Sein Werk beinhaltet zudem das Werk über die „Die Evolution der Pädagogik“ – eine Analyse der Entstehung und Entwicklung der Universitätsausbildung in Frankreich. Durkheim behandelt die Entwicklung der französischen Universität von ihren mittelalterlichen Ursprüngen teilweise als Ausdruck der Idee des universellen Wissens. Aber es ist auch Ausdruck der aufkommenden Organisationsformen (wie etwa Autonomie und fortschreitende Differenzierung in Fakultäten und einzelne Spezialfächer), welche als Folge des Wechselspiels demographischer und ökologischer Kräfte erklärt werden kann. Diese Kräfte bieten in den Augen Durkheims günstige Bedingungen für die interessengeleitete Aktionen organisierter Gruppen, die zu verschiedenen Zeiten auch Lehrer, Kirchenvertreter, Studenten, und Institutionen des sich neu formierenden Nationalstaates einschließen. Durkheim’s Werk schließt auch die „Moralische Erziehung“ – verstanden als „Sozialisierung der jüngeren Generation“ und als soziale Tatsache, die das heranwachsende Kind mit einer bestimmten Gesellschaft in Verbindung setzt – ein. Diese Vorlesungen wurden an der Sorbonne in Paris in der Zeit von 1902 bis 1903 gehalten, als die säkularisierende Dritte Republik ihre vierte Dekade begann. Hierbei sieht Durkheim (1984) Erziehung als eine säkulare Grundlage für Werte und Verhaltensweisen sowie für die gesellschaftliche Ordnung an. Sozialisation in der Schule als zentrale Institution der moralischen Bildung, die ein egoistisches wie asoziales Wesen in eine moralische, zur sozialen Lebensführung fähige Persönlichkeit erzieht, würde die Erziehung in Kirche und Familie ablösen. Seine Schulforschung basierte auf früheren Analysen des strukturellen und moralischen Charakters des aufkommenden Nationalstaates – insbesondere der Abschwächung der primordialen Verbindungen wie etwa Verwandtschaft oder lokale Gemeinschaft, die Verflachung von sozialen Differenzen in der allgemeinen nationalen Bürgerschaft, und im Niedergang traditionellen Glaubens und des Aufstiegs der Wissenschaften, des Skeptizismus, und der Rationalität. Im Zeitalter des Rationalismus und niedergehender Traditionen, so Durkheim, ist die Erziehung in der Familie eher eine kirchliche Sozialisation als die Sozialisierung zum Bürgertum, so dass in seinen Augen die angemessene Erziehung zum Bürger vielmehr in der Schule stattfindet, die die Kinder als Mitglieder einer gemeinsamen Sozialkategorie – nämlich die Schüler in einer Schulklasse – behandelt und sie einer kosmopolitischen Kultur der Wissenschaft und des reflektierten Denkens aussetzt. So gesehen behandelt Durkheim Bildung und Erziehung und ihre institutionellen Ausprägungen aus einer sozialstrukturellen und kultursoziologischen Perspektive.
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Nach Durkheim ist Gesellschaft ein System gemeinsamer Werte und Normen: Was tun die gemeinsamen Grundsätze für das System? Was sind ihre Funktionen oder Folgen? Durkheim nahm an, dass die gemeinsamen Regeln des Lebens (etwa Erziehung und Religion) als eigenständige und äußerliche objektive soziale Tatsachen bestehen und das Leben von Individuen bestimmen. Bildung ist nur ein Mittel, mit dem die Gesellschaft die notwendigen Bedingungen für ihre Existenz und für ihr Überleben schafft. Ihr Ziel ist es, im Kinde eine ziemliche Zahl von physikalischen, intellektuellen und moralischen Zuständen auszulösen und zu entwickeln, die notwendig sind für die Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen. Gesellschaften können nur überleben, wenn ein genügend großer Grad an Homogenität zwischen den Gesellschaftsmitgliedern besteht; Erziehung durchdringt und verstärkt diese Homogenität durch frühzeitige Internalisierung von Werten und Normen, der essentiellen Ähnlichkeiten, die das kollektive Leben erfordert. Das Verhältnis von Pädagogik und Soziologie Nach Durkheim sind ihre Ursprünge von Erziehung als auch ihre Funktionen eine soziale Tatsache, und in dieser Hinsicht ist die Pädagogik auf Soziologie als Wissenschaft angewiesen. Inhalt und Methodik von Erziehung sind abhängig von der Organisation – also Sozialstruktur und sozialen Institutionen – einer Gesellschaft: Erziehung ist schicht- oder klassenspezifisch. Die Erziehungsstile, Erziehungsziele und Erziehungsinhalte variieren zwischen diesen sozialen Großgruppen. Somit wird Vermittlung von Wissensbeständen und Verhaltensweisen abhängig von der sozialen Lage der Individuen gesehen. Die Uneinheitlichkeit der Erziehung hängt auch mit der sozialen Arbeitsteilung, der beruflichen Differenzierung und Spezifizierung zusammen: „Jede Beschäftigung konstituiert in der Tat ein Milieu sui generis, welches besondere Eignungen und spezialisiertes Wissen erfordert, in welchem gewisse Ideen, gewisse Praktiken, gewisse Weisen, die Dinge zu sehen, vorherrschen. Und da das Kind vorbereitet werden muss für die Funktion, die es zu erfüllen hat, kann die Erziehung über ein gewisses Alter hinaus nicht länger für alle, die sie angeht, dieselbe bleiben. Daher bemerken wir mehr und mehr in allen zivilisierten Ländern die Tendenz der Erziehung, vielgestaltig und spezialisiert zu werden“ (Durkheim 1972: 76).3 Die (berufliche) Spezialisierung des Individuums ist nicht naturbedingt, an seine Fähigkeiten gebunden, sondern es ist der Zwang der sozialen Arbeitsteilung, die Überlebensfunktion der Gesellschaft, die dazu führt, dass die Arbeit unter den Gesellschaftsmitgliedern aufgeteilt wird. Erziehung – oder genauer: die Bildung oder Ausbildung – bildet spezialisierte berufliche Qualifikationen aus, die eine Gesellschaft zum Überleben benötigt. Da die Entwicklung der Gesellschaften variiert, ist die Erziehung zwischen Gesellschaften verschieden. Kurzum: Erziehung und Bildung sowie Ausbildung sind gesellschaftliche Institutionen; sie sind soziale Tatbestände; 3
An Arbeitsteilung interessiert Durkheim (1988) das reibungslose Zusammenspiel von Institutionen und ihrer Interdependenz, die Solidarität als ein Beziehungsmodus zwischen Individuum und Gesellschaft. Es geht hierbei vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung um die Vereinbarkeit von sozialer Ordnung und individueller Freiheit: „Wie geht es zu, daß das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein?“ (Durkheim 1988: 82). Die Antwort von Durkheim lautet: durch die soziale Arbeitsteilung, die ein Netz sozialer Interdependenzen über berufliche Differenzierung und Spezialisierung beschreibt. Im Unterschied zu archaischen Gesellschaften mit ihrer mechanischen Solidarität sind moderne Gesellschaften durch eine organische Solidarität – Solidarität aus Verschiedenheit etwa in der Berufswelt mit Berufsorganisationen, in denen die soziale Arbeitsteilung besonders ausgebildet ist – gekennzeichnet. Dass Erziehung und Bildung hierzu einen beträchtlichen Beitrag leisten, ist für Durkheim (1984, 1988) evident.
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sie sind gesellschaftlich bedingt und variieren je nach gesellschaftlichen Verhältnissen. So gesehen sind sie als Untersuchungsgegenstände Objekte der empirischen Bildungssoziologie (vgl. Einleitungskapitel von Becker in diesem Band). Deswegen kann Durkheim als einer der frühen Bildungssoziologen angesehen werden. In modernen Gesellschaften wird – so Durkheim – Erziehung öffentlicher Dienst, d.h. Bildung institutionalisiert sich als Massenbildung für die Bevölkerung in staatlich kontrollierten Bildungssystemen. Bildung wird durch den Staat kontrolliert und damit zu einem säkularisierten Prozess. Bildung als solche ist nicht mehr metapherartig an religiöse Vorstellungen gebunden, sondern wird abstrakter und allgemeiner – rationalisiert und wissenschaftlich fundiert. Die Erziehungsziele sind nicht mehr spezifisch, sondern kollektiv – Bildung wird zum öffentlichen Interesse und zur öffentlichen Aufgabe: „In der Tat kann nur eine breite menschliche Bildung modernen Gesellschaften die Bürger schaffen, die sie braucht“ (Durkheim 1972: 80). Erziehungsziele – pädagogische Ideale im Sinne Durkheims – werden durch die Sozialstruktur einer Gesellschaft erklärt, durch die Erfordernisse, ihr Funktionieren und damit ihr Überleben über die Herstellung und Reproduktion von System- und Sozialintegration: „Der Mensch, den die Erziehung in uns verwirklichen soll, ist nicht der, den die Natur geschaffen hat, sondern der, den die Gesellschaft haben will; und sie will ihn so haben, wie ihn ihre innere Ökonomie verlangt“ (Durkheim 1972: 81). Erziehung und damit auch Bildung ist – Durkheim zufolge – offensichtlich an das jeweils herrschende Menschenbild und an gesellschaftliche Ziele gebunden. Neben der breiten Vermittlung allgemeiner Wissensbestände und Verhaltensnormen bedarf es angesichts der sozialen Arbeitsteilung auch einer jeweils spezifischen Bildung, also auf die Spezialisierung abzielenden Ausbildung. Während in früheren Gesellschaften eine literarische Ausbildung als wesentliches Moment menschlicher Bildung angesehen wurde, scheint dies in Zeiten der Modernisierung nicht mehr auszureichen. Die gesellschaftlichen Anforderungen an die Gesellschaftsmitglieder haben sich geändert, und damit muss sich die Bildung verändern und an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen: „Demnach ist in der Gegenwart wie in der Vergangenheit unser pädagogisches Ideal bis in jede seiner Einzelheiten das Werk der Gesellschaft. Die Gesellschaft entwirft uns das Portrait des Menschen, der wir sein sollten, und in diesem Portrait spiegeln sich alle Besonderheiten ihrer Organisation wider“ (Durkheim 1972: 82). Um ihr Überleben zu garantieren, muss wie in der Gesellschaft selbst auch in der Erziehung eine Adaption an sich wandelnde Rahmenbedingungen erfolgen. Nach Durkheim kann eine Gesellschaft nur dann überleben, wenn unter den Gesellschaftsmitgliedern eine hinreichend große ideelle und normative Homogenität besteht, die – wie bereits gesehen – von der Erziehung hergestellt werden müsse. Diese wird durch Erziehung reproduziert und verstärkt, indem die Normen und gesellschaftlichen Ideale an die Individuen vermittelt werden, die sie dann internalisieren, und die dann wiederum handlungsleitend sind. Gleichzeitig hat die Erziehung auch Heterogenität im Sinne von Differenzierung und Spezialisierung zu garantieren, ohne die eine soziale Arbeitsteilung und organische Solidarität nicht möglich ist. Bildung schließt demnach die systematische Sozialisation junger Generationen ein: Vermittlung individueller und kollektiver Ziele ist ihre Aufgabe, die zum sozialen Sein der Gesellschaftsmitglieder führen soll: „Ihre Gesamtheit bildet das soziale Sein. Dieses Sein in jedem von uns zu erzeugen, ist das Ziel der Erziehung“ (Durkheim 1972: 93). Da jede Generation ohne das kulturelle Wissen und Können der vorhergehenden Generation auf die Welt kommt, ist es Aufgabe der Erziehung, die für die Soziabilität auf der
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Individualebene sowie für die System- und Sozialintegration auf der Makroebene einer Gesellschaft notwendigen Wissens- und Verhaltensbestände zu vermitteln. Dem egoistischen und asozialen Wesen ist das „soziale Sein“ zu vermitteln, damit es zur Führung eines sozialen und sittlichen Lebens befähigt ist und damit auch Mitglied in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft sein kann. Um dies zu verstehen und in die gesellschaftliche Praxis umsetzen zu können, bedarf es nach Durkheim (1976) der systematischen Heranziehung der Soziologie als Sozialwissenschaft, weil sie empirisch fundiertes Wissen liefert, was die gesellschaftlichen Ziele von Erziehung und Bildung sein können, und Wissen liefert über die gesellschaftlichen Bedingungen der (erfolgreichen) Erziehung und Bildung selbst.4 Da die Erziehungsziele sozial bedingt sind, kann die Soziologie auch die Mittel liefern, um diese Erziehungsziele zu erreichen. Denn auch die Auffassung der Erziehungs- und Lehrmethoden ist wie die Anwendung bestimmter Mittel von Erziehung sozial bedingt. Erziehungsziele und die Mittel, um diese zu erreichen, lauten: Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Es sind kollektive Ideen und Gefühle, also das Kollektivbewusstsein („conscience collective“), die die Erziehung von gesellschaftlich legitimen Erwartungsnormen zum Ausdruck bringt.5 Der Soziologie wird von Durkheim die Befähigung zugeschrieben, Sozialtechnologien empfehlen zu können, um bestimmte soziale Probleme zu lösen: „Man kann demnach erwarten, dass die Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Institutionen zu unserem Verständnis der pädagogischen Institutionen oder zu unseren Vermutungen über das, was 4 Diese Sichtweise hat Durkheim (1976) systematisch in seinem zentralen Werk „Die Regel der soziologischen Methode“ im ersten methodologischen Grundsatz festgehalten, wonach Soziales sich nur durch Soziales erklären lasse. Biologische oder psychologische Erklärungen werden nicht zugelassen, da sie grundsätzlich falsch sind. Soziale Tatbestände lassen sich nicht durch Klima erklären noch ist die Axiomatik der Ökonomie zutreffend, dass Individuen auf der Basis individueller Nutzenmaximierung entscheiden und handeln. Nach Durkheim ist dies prinzipielle reine Ideologie und daher unwissenschaftlich. Grundlage des wissenschaftlichen Arbeitens, nämlich die Erklärung sozialer Tatbestände, sollte nach Durkheim (1976) durch die gesonderte Analyse der Funktionalität und Kausalität von sozialen Tatbeständen erfolgen; dies gelingt durch die historisch-komparative Methode, einem indirekten experimentellen Zugang zur sozialen Realität. Einen sozialen Tatbestand verstehen ist bei Durkheim nicht gleichzusetzen mit Erklären, sondern es geht ihm um die Beurteilung sozialer Tatbestände als normal oder pathologisch. Diese Beurteilung wird empirisch vorgenommen und zwar über die allgemeine Verbreitung; diese wird anhand der durchschnittlichen Häufigkeit durch Beobachtung festgestellt und die historische Bedingungskonstellation herangezogen, um deren Allgemeinheit festzusetzen. Über den Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart wird festgehalten, ob die ursprünglichen Bedingungen noch vorhanden und noch geltend sind: Ist dies der Fall, dann ist das beobachtete und erklärungsbedürftige Phänomen normal, ansonsten pathologisch. So ist nach Durkheim (1976) die Existenz von Verbrechen in Gesellschaften normal, notwendig und seiner Auffassung nach zuweilen nützlich. Erst eine bestimmte Kriminalitätsrate, die sich rasch verändert oder in der Zeit stark variiert, ist dann pathologisch. Ursache des Verbrechens ist nach Durkheim eine Disparität zwischen Kollektivbewusstsein und Individualinteresse. Verbrechen kann über Stärkung des Kollektivbewusstseins – also über Sozialisation (Erziehung und Bildung eingeschlossen) – bekämpft werden. Oder durch Strafe (soziale Kontrolle), wobei – so Durkheim (1976) – die Strafe als Abschreckung zum Schutz des Kollektivbewusstseins, möglichst rigoros dem Individuum gegenüber sein muss. 5 Durkheim fragte in seinen Hauptwerken danach, was in der Moderne die Beziehungen der Menschen untereinander bestimmt. Er entwickelte zu seiner Hauptthese, dass alle individuellen Handlungen und Regeln letztlich auf eine überindividuelle soziale Wirklichkeit zurückzuführen seien, dem „kollektives Bewusstsein“. Die allen Mitgliedern derselben Gesellschaft gemeinsamen Glaubensvorstellungen und Gefühle, die kollektiv verbindliche Moral, verkörpere nach Durkheim (1976) den Handlungsrahmen aller Soziabilität von Menschen. Das Kollektivbewusstsein wird durch die Hinterlassenschaften früherer Generationen, durch Technik, durch Häuser ebenso wie durch die Religion repräsentiert: „Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewusstseins existieren. Diese Typen des Verhaltens und des Denkens stehen nicht nur außerhalb des Individuums, sie sind auch mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht.“ (Durkheim 1976: 106).
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sie sein sollen, beiträgt. Je besser wir die Gesellschaft kennen, umso besser werden wir all das verstehen, was in dem sozialen Mikrokosmos, den die Schule darstellt, geschieht“ (Durkheim 1972: 90). Und weiter zur soziologischen Sozialtechnologie: „Nicht, dass die Soziologie uns fertige Handlungsweisen lieferte, die wir nur anzuwenden brauchten. (…) Aber sie vermag mehr, und sie vermag Besseres. Sie kann uns das geben, was wir am dringendsten brauchen, nämlich ein Gerüst (einen Corpus) von Leitideen; sie wären die Seele unserer Praxis und würden sie stützen; sie würden unserem Handeln Sinn verleihen und uns daran binden, was die notwendige Voraussetzung für die Fruchtbarkeit unseres Wirkens ist“ (Durkheim 1972: 93). Diese Sichtweise entspricht den bereits im einleitenden Kapitel des vorliegenden Bandes geschilderten Aufgaben der Soziologie im Allgemeinen und der Bildungssoziologie im Besonderen: 1.) Aufklärung mittels bildungssoziologischer Beschreibung und differenzierter Analysen gesellschaftlicher Verhältnisse, 2.) Erkenntnisgewinn mittels bildungssoziologischer Erklärung von gesellschaftlichen Tatbeständen über systematische Theorie- und Modellbildung und 3.) Problemlösungen mittels Prognose und gewünschter Politikberatung im Sinne, was möglich ist und nicht, was zu tun sei. Zentrale Grundgedanken von Durkheim finden sich in der amerikanischen Soziologie der 1940er, 1950er und 1960er Jahre wieder, die von der Denkrichtung des Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie verbreitet wurden. So betont einer der Begründer dieser Theorierichtung – Talcott Parsons (1902-1979) – die Bedeutsamkeit der Bildung und Ausbreitung der Bildungsbeteiligung für die gesellschaftliche Modernisierung, wonach die „Bildungsrevolution“ genauso wichtig sei wie die industrielle und demokratische Revolution. Die Ausbreitung der Elementarbildung ist demnach ein wichtiger Schritt in Richtung von Aufklärung der gesamten Bevölkerung, als dann in der Folge die allgemeinbildende Schule der gesamten Bevölkerung zugänglich war und die Bildung über eine elementare Schulung in Lesen und Schreiben hinausging in Richtung kollektive Höherqualifikation. Die von Parsons (1964) beschriebene Bildungsrevolution bringt seiner Auffassung nach eine wachsende Bedeutung abstrakter Geistesarbeit und Forschungstätigkeit mit sich und auch einen forcierten berufsstrukturellen Wandel in der sozialen Schichtung. Die Zuordnung von Personen zu sozialen, politischen und beruflichen Positionen erfolge nicht über Geburt und soziale Herkunft, sondern über im Wettbewerb erworbene Bildungspatente und im Wettbewerb beim Zugang zum Arbeitsmarkt und anderen gesellschaftlichen Bereichen (Kingsley [1908-1997] und Moore [1914-1987] 1945). Die Zuweisung von Lebenschancen orientiert sich gemäß der strukturell-funktionalistischen Sichtweise demnach nicht mehr auf Grundlage des Erbes, sondern nach den Verdiensten („Meriten“). In dieser Hinsicht ergänze sich nach Parsons (1964) die Bildungsrevolution mit der demokratischen Revolution: Bildung und Bildung für alle geht – wie von Durkheim antizipiert und gefordert – mit demokratischen und bürgerlichen Freiheiten einher. Nicht mehr Erbe und Willkür regiert die Allokation im Schichtungssystem, sondern Personen werden je nach ihrer sozialisierten Fähigkeit für verantwortliche Rollen, die ein höheres Niveau des Könnens erfordern und höhere Belohnungsstufen, d.h. ein höheres Einkommen, größeren politischen Einfluss und in geringem Maß auch mehr Macht nach sich ziehen, ausgebildet und ausgewählt (Turner 1960). Also spiegelt auch die Bestimmung der Funktionalität von Bildung durch die Vertreter dieser Theorierichtung, die heute weitgehend an Bedeutung für die Soziologie und Bildungsforschung verloren hat, den Einfluss von Durkheim wider. Weiter-
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führende Details hierzu liefern Becker und Hadjar in ihrem Beitrag über Meritokratie in diesem Band.
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Max Weber (1864-1920)
Max Weber, einer der bedeutendsten deutschen Soziologen und Nationalökonomen, wurde am 21. April 1864 in Erfurt (damals Preußen, heute Thüringen) als Sohn des Juristen und späteren Abgeordneten der Nationalliberalen Partei Max Weber (sen.) und dessen Frau Helene (geb. Fallenstein) geboren. In der Zeit von 1869 – nach der Übersiedlung der Familie nach Berlin (1872) – besuchte Weber zunächst die Döbbelinschen Privatschule und anschließend das Kgl. Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg. Die Schulbildung schloss er 1882 mit dem Abitur ab. Das breite Disziplinenspektrum, das Weber aus nationalökonomischer Perspektive in seinem Lebenswerk als Kulturgeschichte integriert, scheint schon vorgezeichnet durch die Vertreter der intellektuellen Elite, die im elterlichen Salon verkehrten und auch seine akademischen Lehrer wurden: Hermann Baumgarten (Webers Onkel), Theodor Mommsen, Heinrich von Sybel, Heinrich von Treitschke. Nach dem Abitur studiert er zwischen 1882 und 1886 in verschiedenen Städten (Berlin, Heidelberg, Straßburg und Göttingen) Jura, Nationalökonomie, Philosophie und Geschichte. Zwischendurch absolviert er in den Jahren 1883 und 1884 seinen Militärdienst als „Einjähriger“ in Straßburg ab. Danach beendet er sein Studium an der Universität Göttingen mit dem Referendarexamen im Jahre 1886. Im Jahre 1889 folgt die juristische Promotion (Dr. jur. magna cum laude) an der Universität Berlin. Die Dissertation handelt die „Entwicklung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten“ ab. Die Dissertationsschrift erregte unter anderem die Aufmerksamkeit Theodor Mommsens, der am Ende des Promotionsverfahrens erklärt: „Wenn ich einmal in die Grube fahren muss, so würde ich keinem lieber sagen: Sohn, da hast du meinen Speer, meinem Arm wird er zu schwer, als dem von mir hochgeschätzten Max Weber“ (zit. nach Sukale 2004). Im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik erstellte Weber in den Jahren 1891 und 1892 die Studie „Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“, die seinen wissenschaftlichen Ruf begründet, wobei die statistischen Analysen von seiner späteren Frau und Frauenrechtlerin Marianne Weber, geborene Schnitger (1870-1954), die er 1893 heiratete, vorgenommen wurden. 1892 erfolgt die Habilitation für Römisches, Deutsches und Handelsrecht an der Universität Berlin bei August Meitzen (1822-1910). Die Habilitationsschrift trägt den Titel: „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht“. Danach ist Weber für kurze Zeit Privatdozent in Berlin und bereits im darauf folgenden Jahr erhält er das Extraordinariat für Handels- und deutsches Recht. Nach einer kurzfristigen Tätigkeit als Rechtsanwalt ist er von 1893 bis 1894 als Außerordentlicher Professor der Nationalökonomie an der Universität Berlin tätig. 1894 wird er zum Professor für Nationalökonomie an die Universität Freiburg (Breisgau, heute Baden-Württemberg) berufen. In seiner Antrittsvorlesung legte er den Grundstein für sein später entwickeltes Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaften. Bis 1897 ist er Ordentlicher Professor der Nationalökonomie an der Universität Freiburg im Breisgau. Am 14. Januar 1897 erfolgte Webers Berufung als Nachfolger seines Mentors Karl Knies’ auf den Lehrstuhl für National-
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ökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Heidelberg. Bis 1903 ist er Ordentlicher Professor der Nationalökonomie und der Finanzwissenschaft an der Universität Heidelberg, aber erkrankte 1898 nach einer Auseinandersetzung mit seinem darauf verstorbenen Vater schwer und kam seiner Lehrtätigkeit nur mehr zeitweise nach und wurde 1903 wegen Krankheit unter Verleihung des Charakters eines ordentlichen Honorarprofessors in den Ruhestand versetzt. Vor allem die Jahre bis 1902 und 1903 sind von Webers geistiger Ohnmacht bestimmt, die nicht ausschließlich die Folge von Webers bisherigem ruinösen Arbeitsstil waren (Sukale 2004; Weber 1926). Ende 1902 bat Weber erneut um seine Entbindung von der Professur. Seinem Gesuch gab die badische Regierung im Juni 1903 nur zögerlich statt. Als Weber zum 1. Oktober 1903 in den Ruhestand versetzt wurde, folgte ihm indirekt 1907 sein aus Prag kommender Bruder Alfred Weber im Ordinariat. Max Weber selbst erhielt eine ordentliche Honorarprofessur, aber zu seiner Verbitterung weder Sitz noch Stimme in der Fakultät. Max Weber konnte insgesamt sieben Jahre nur eingeschränkt arbeiten und unternahm mehrere Reisen durch Europa und die USA. 1904 zeichnete sich eine spürbare gesundheitliche Besserung ab. Weber wurde wieder publizistisch tätig und veröffentlichte bedeutende Schriften wie „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ sowie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1905). Weber trat darauf hin mit Werner Sombart in die Redaktion von Heinrich Brauns „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder“ ein, das Edgar Jaffé (1866-1921), selber Schüler Webers und späterer bayerischer Minister, aufgekauft, in „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ umbenannt und Weber als Publikationsorgan zur Verfügung gestellt hatte. Es war Webers Anliegen an diese Zeitschrift, dass sie „in Erweiterung ihres bisherigen Aufgabenkreises (wissenschaftliche Durchdringung der durch den modernen Kapitalismus geschaffenen Zustände und kritische Verfolgung des Ganges der Gesetzgebung) die historischen und theoretischen Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung als dasjenige Problem ansehen müsse, in dessen Dienst sie stehe und sich deshalb in engem Kontakt mit den Nachbardisziplinen: der allgemeinen Staatslehre, der Rechtsphilosophie, der Sozialethik, den sozialpsychologischen und den, gewöhnlich unter dem Namen der Soziologie zusammengefassten, Untersuchungen zu halten“ (Marianne Weber 1926: 290). Weber ist im Jahre 1909 Mitbegründer der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ und trug maßgeblich zur Konstituierung der Soziologie als eigenständiger Disziplin bei und ihrer Professionalisierung bei. Im Jahre 1911 begann Max Weber seine religionssoziologischen Studien, in denen er den Zusammenhang von Wirtschaftsform und religiöser Gesinnung untersuchte. In dieses Jahr fiel Webers Bekanntschaft mit der Pianistin Mina Tobler (1880-1967), mit der ihn eine langjährige erotische Beziehung verband und der der zweite Band der religionssoziologischen Schriften (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie [GARS] II) zugeeignet ist; sie dürfte Max Weber auch inspiriert haben, sich mit Fragen der Musiksoziologie auseinanderzusetzen. In intensiver Verbindung stand Weber außerdem mit Else Jaffé (geb. von Richthofen, 1874-1973), die bei ihm studierte und im Jahre 1901 auch promovierte. Ihr widmete Weber den dritten Band seiner religionssoziologischen Schriften (GARS III). Im Jahre 1913 beginnt Weber die Arbeit an seinem soziologischen Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (erschien 1922 posthum, herausgegeben von Marianne Weber, wobei die handschriftlichen Manuskripte nicht mehr erhalten sind).
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Während des Ersten Weltkriegs (1914-18) äußerte sich Max Weber zunehmend zur Tagespolitik und nimmt an diesem Krieg als Hauptmann der Reserve in Heidelberg teil. Er war für die Einrichtung und Leitung von Feldlazaretten zuständig und nach Differenzen mit der Verwaltung im September 1915 wird er vom Militärdienst entpflichtet und danach erfolgte auch die endgültige Quittierung. 1917 traf er auf der ersten und zweiten „Lauensteiner Tagung“ die Schriftsteller Richard Dehmel und Ernst Toller. Im Gegensatz zu den jungen Pazifisten um Toller trat Weber für ein Durchstehen des Krieges ein, forderte aber gleichzeitig die Parlamentarisierung Deutschlands. Weber war 1918 Mitbegründer und Wahlkampfredner der „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP), aber seine Kandidatur auf der Liste des hessisch-nassauischen Wahlkreises scheiterte und 1920 trat er aus der Partei aus. Nach einer kurzen Lehrtätigkeit in Wien im Jahre 1918 wurde Max Weber zum Sommersemester 1919 als Nachfolger des linksliberalen Nationalökonomen Lujo Brentano – zunächst als Gastdozent, dann als Ordinarius – nach München berufen. In der gleichen Zeit erhielt er Angebote aus Göttingen und Berlin sowie für einen auf Webers Neigungen zugeschnittenen Lehrstuhl in Bonn, die er alle ausschlug. Stattdessen nahm er die Berufung nach München an und wurde zugleich auch Sachverständiger der deutschen Delegation bei der Konferenz zum Versailler Vertrag. In diesem Jahr erscheinen auch seine beiden einflussreichen Werke „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“. Nach dem Selbstmord seiner Schwester Lili Schäfer adoptieren Max und Marianne Weber deren vier Kinder. Max Weber starb am 14. Juni 1920 in München an den Folgen einer zu spät behandelten Lungenentzündung, ausgelöst durch die Spanische Grippe, an der in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg Millionen an Menschen starben. Bildung als ständebildendes Element in der gesellschaftlichen Rationalisierung Die idealisierende wie ideologisierende Legitimation von Ungleichheiten mittels meritokratischer Prinzipien, wie sie von Vertretern des Strukturfunktionalismus beschrieben und gerechtfertigt werden, wird von der konflikttheoretische Perspektive – die nicht zuletzt auf Max Weber zurückgeht – kritisiert (Collins 1971, 1979). Auch wenn Max Weber (1980) nicht systematisch über Bildung in soziologischer Manier geforscht hat, so hat er Eingang in die Bildungssoziologie gefunden, wenn es um die Fragen geht, wer den Zugang zu Bildung reguliert und wer an höherer Bildung partizipieren darf, wer Verdienste und Anrechte im Bildungswesen, Arbeitsmarkt und politischen System definiert und wie Bildung mit Herrschaft und Macht korreliert. Die erste Frage zeigt Weber (1980) in seinem grundlegenden Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ und in seinen religionssoziologischen Arbeiten anhand des Prozesses sozialer Schließung auf. Sowohl die Regulierung des Zugangs zu Bildung als auch des Erwerbs von Bildungspatenten dient zur Sicherung der gesellschaftlichen Stellung von privilegierten Klassen: Ziel ist „(…) in irgendeinem Umfang stets Schließung der betreffenden (sozialen und ökonomischen) Chancen gegen Außenstehende. Diese Schließung kann, wenn erreicht, in ihrem Erfolg sehr verschieden weit gehen (Weber 1980: 202). Die zweite Frage verdeutlicht Weber am Beispiel des Prüfungswesens im früheren China: „In den chinesischen Bildungsexamina offenbart sich für ihn der interessenspezifische, politische Charakter institutionalisierter Erziehung und Bildung. Bildung ist für Weber das Mittel, mit dem Interessengruppen ihre Herrschaftsansprüche legitimieren. Das individuelle Motiv ist der Erwerb von „Pfründen“, nicht das Wissen oder die persönlichen
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Tugenden, die mit der Bildung übermittelt bzw. anerzogen werden sollen. Bildung regelt und verteilt über das Bildungssystem wirtschaftliche und politische Macht“ (Plake 1989: 235-236). Auf diese Art und Weise – so die Antwort auf die dritte Frage – wird über Bildung das etablierte Herrschaftssystem stabilisiert und reproduziert. Interessen an Bildung sind gleichzeitig Interessen an Sicherung von Herrschaft und Pfründen.6 Bildung ist deswegen auch an institutionelle Regelungen und Märkte für die Verteilung von Prestige und Einkommen gekoppelt. Über Bildungspatente werden Privilegien verteilt: „Die Ausgestaltung der Universitäts-, technischen und Handelshochschuldiplome, der Ruf nach Schaffung von Bildungspatenten auf allen Gebieten überhaupt, dienen der Bildung einer privilegierten Schicht in Büro und Kontor. Ihr Besitz stützt den Anspruch auf Konnubium mit den Honoratioren (auch im Kontor werden naturgemäß Vorzugschancen auf die Hand der Töchter der Chefs davon erhofft), auf Zulassung zum Kreise des ‚Ehrenkodex‘, auf ‚standesgemäße‘ Bezahlung statt der Entlohnung nach der Leistung, auf gesichertes Avancement und Altersversorgung, vor allem aber auf Monopolisierung der sozial und wirtschaftlich vorteilhaften Stellungen zugunsten der Diplomanwärter. Wenn wir auf allen Gebieten das Verlangen nach der Einführung von geregelten Bildungsgängen und Fachprüfungen laut werden hören, so ist selbstverständlich nicht ein plötzlich erwachender ‚Bildungsdrang‘, sondern das Streben nach Beschränkung des Angebotes für die Stellungen und deren Monopolisierung zugunsten der Besitzer von Bildungspatenten der Grund. Für diese Monopolisierung ist heute die ‚Prüfung‘ das universelle Mittel, deshalb ihr unaufhaltsames Vordringen. Und da der zum Erwerb des Bildungspatents erforderliche Bildungsgang erhebliche Kosten und Karenzzeiten verursacht, so bedeutet jenes Streben zugleich die Zurückdrängung der Begabung (des ‚Charisma‘) zugunsten des Besitzes, – denn die ‚geistigen‘ Kosten der Bildungspatente sind stets geringe und nehmen mit der Massenhaftigkeit nicht zu, sondern ab“ (Weber 1980: 577). Sowohl auf der politischen als auch auf der sozioökonomischen Ebene dient im Zuge der Rationalisierung und Bürokratisierung von Gesellschaften die Bildung im Sinne von Fachschulung zur sozialen Schließung als auch der Legitimation von Privilegien. Bildung ist demnach im Zuge der Modernisierung eine Schlüsselkomponente für Klassen- und Ständebildung in der Sozialstruktur einer Gesellschaft und ihre permanente Reproduktion über Generationen: „Unterschiede der ‚Bildung‘ sind heute, gegenüber dem klassenbildenden Element der Besitz- und ökonomischen Funktionsgliederung, zweifellos der wichtigste eigentlich ständebildende Unterschied. (…) Unterschiede der ‚Bildung‘ sind – man mag das noch so sehr bedauern – eine der allerstärksten rein innerlich wirkenden sozialen Schranken. Vor allem in Deutschland, wo fast die sämtlichen privilegierten Stellungen innerhalb und außerhalb des Staatsdienstes nicht nur an eine Qualifikation von Fachwissen, sondern außerdem von ‚allgemeiner Bildung‘ geknüpft [sind] und das ganze Schul- und Hochschulsystem in deren Dienst gestellt ist. Alle unsere Examensdiplome verbriefen auch und vor allem diesen ständisch wichtigen Besitz“ (Weber 6 Die Korrelation zwischen Bildung und Herrschaft wird nicht nur anhand der Bedeutung der formalen Fachgeschultheit von Herrschern und ihren Verwaltungsstäben und der Klassenbildung in der gesellschaftlichen Stratifikation deutlich, sondern auch bei der Ständebildung über den Heiratsmarkt: „Ständische, also anerzogene Unterschiede und namentlich Unterschiede der ‚Bildung‘ (im weitesten Sinn des Wortes) sind ein weit stärkeres Hemmnis des konventionellen Konnubium als Unterschiede des anthropologischen Typus. Der bloße anthropologische Unterschied entscheidet, von den extremen Fällen ästhetischer Abstoßung abgesehen, durchweg nur in geringem Maße“ (Weber 1980: 235).
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1988: 247-248). In diesem Zusammenhang stellt Weber wegen der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen auch die Rolle von Bildungspatenten als Zertifikation der politischen Fähigkeiten infrage, die allerdings von der meritokratischen Theorie eben besonders hervorgehoben wird. Nicht nur, dass dadurch mit der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen auch eine soziale Ungleichheit von Herrschaftschancen einhergeht, kritisiert Weber (1988), sondern auch die Vorstellung, dass hohe Bildung mit „politischer Reife“ statt mit dem „Pfründenhunger der examinierten Amtsanwärter“ einhergehe, die „kraft Bildungspatentes eine standesgemäße, sichere, pensionsfähige Einnahme“ erhalten (Weber 1988: 248). Wie gesehen, trägt das Werk von Max Weber in dreierlei Hinsicht zur Theoriebildung in der Bildungssoziologie bei: Zum ersten geht es um den Zusammenhang von sozialem Handeln von Individuen in unterschiedlichen Klassenlagen und Bildung. Zum zweiten geht es um den Einfluss von Ideen und Interessen auf den Zugang von Bildung und die Ausgestaltung von Bildungsinstitutionen. Zum dritten hat Weber zum Verständnis von Bildungsinstitutionen wie etwa die Schule oder die Universität als formale bzw. rationale Organisation, die Schulbehörde als Bürokratie, beigetragen. Allerdings gibt es keine systematischen Abhandlungen über Bildung und Bildungswesen in seinem Werk. Obwohl Max Weber nicht systematisch über Bildung und Erziehung im Sinne einer Bildungssoziologie geschrieben hat, behandelt er an verschiedenen Punkten in seinem Opus magnum „Wirtschaft und Gesellschaft“ einen oder mehrere Aspekte von Bildung: a) die Beziehungen zwischen den Typen von Bildung und Typen von Statusgruppen und ihren sozialen Beziehungen und b) die Folgen des Wandels in der Natur dieser Beziehungen für die Struktur und Curricula von Universitäten. Weber erklärte, wie der Zugang der Statusgruppen zur universitären Ausbildung und wie die politischen Kapazitäten dieser Statusgruppen, auf Politik Einfluss nehmen zu können, den Zugang zu Bildung regulieren und das Bildungsangebot und dessen sozialen Wandel beeinflussen. Er legte dabei den Schwerpunkt seiner Analysen auf die modernen Strukturen europäischer Gesellschaften und auf die Entstehung von Universitätsausbildung hin zu spezialisierten Programmen, die Professionen und Staatsbeamte auf ihre Berufsausübung vorbereiten. Weber argumentiert, dass die anwachsende Verbreitung und Eigenständigkeit des rationalen Denkens und der bürokratischen Organisation die freien Künste als wenig lohnenswert erscheinen lassen und vor allem irrelevant für den Sozialstatus, Beruf und die politischen Interessen eines aufsteigenden kommerziellen und professionellen Bürgertums. Weber schloss daraus, dass das Universitätscurriculum und die Voraussetzungen für den Zugang zur Universität notwendigerweise eine endemische Angelegenheit des politischen Wettbewerbs in den liberaldemokratischen Staaten Europas wird.
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James S. Coleman – Ein Pionier der modernen empirischen Bildungssoziologie
James Samuel Coleman wurde am 12. Mai 1926 in Bedford (Indiana, USA) geboren und starb nach einer längeren Krankheit am 25. März 1995 in Chicago (Illinois, USA). In den Jahren von 1944 bis 1946 studierte Coleman am Emory & Henry College in Emory (Virginia) und danach an der Purdue University in West Lafayette (Indiana). Im Jahre erwarb er den Bachelor of Science in Chemie. Von 1951-1955 studierte er Soziologie an der University of Columbia in New York, wo er stark von seinem Mentor Paul F. Lazarsfeld (1901-
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1976) beeinflusst wurde. Im Jahre 1955 promovierte er dort in Soziologie. Von 1953 bis 1955 war Coleman Research Associate am Bureau of Applied Social Research der Columbia University in New York und danach bis 1956 Fellow am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Palo Alto (Kalifornien, USA). Bis 1959 war Coleman Assistenzprofessor für Soziologie an der University of Chicago. Von 1956 bis 1973 war er Mitglied der Johns Hopkins University in Baltimore (Maryland), zuerst asoziierter und dann ordentlicher Professor für soziale Beziehungen. Im Jahre 1959 gründete Coleman das Department of Social Relations. Von 1973 an bis zu seinem Tod war Coleman Full Professor of Sociology an der University of Chicago. Zweifelsohne zählt James S. Coleman (1926-1995) zu den einflussreichsten Soziologen seiner Zeit und hatte auch einen großen Einfluss auf die amerikanische Bildungs- und Sozialpolitik. Insbesondere gilt er in der soziologischen Profession als ein Vertreter des methodologischen Individualismus und hat entscheidende Beiträge zur Weiterentwicklung der soziologischen Rational-Choice-Theorie geleistet (Bourdieu und Coleman 1991; Coleman 1986, 1987, 1991, 1992, 1993). Vor allem in seinem Opus magnum „Foundations of Social Theory“, das 1990 erschien, unternimmt er den Versuch, die soziologische Theorieund Modellbildung mit einer einheitlichen Erklärungsheuristik zu versehen, welche inhaltliche und methodologische Unterschiede zwischen den einzelnen Forschungstraditionen und Schulen in den Sozialwissenschaften überwinden soll. Gleichzeitig ist dieses Werk auch ein Unternehmen, in dem er seine soziologischen und methodologischen Überlegungen, die in zahlreichen Werken über Handlungstheorie, mathematische Grundlagen sozialer Phänomene und Akteure in der Gesellschaft verstreut sind, in einer einheitlichen MetaTheorie in Einklang bringt. Gleichzeitig ist es das Ergebnis seines lebenslangen Schaffens und Wirkens als Soziologe an der University of Chicago, wo er sich intensiv mit den Ideen der dortigen neoklassischen Ökonomie auseinandersetzte. Auf den Grundlagen des Modells sozialen Austauschs rationaler Akteure, die ihre Handlungsentscheidungen unter den Prämissen der Maximierung subjektiven Nutzens vornehmen, werden soziale Phänomene wie Macht und Herrschaft, Vertrauen und Misstrauen, Normen und Gesetze, Paniken und Börsenkräche, Firmen und Familien, Staat und Individuum abgehandelt und abschließend mit mathematischen Modellen formalisiert (Coleman 1973, 1974, 1982, 1990). Coleman war auch einer der bedeutendsten Bildungssoziologen des 20. Jahrhunderts. Der Großteil seines Gesamtwerkes beschäftigt sich mit Bildung und Erziehung, und auch die Arbeiten zu Jugend, Familie und korporativen Akteuren in modernen Gesellschaften stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Bildungsforschung: „(…) wenn man die Bücher und Aufsätze auszählt oder wenn man eine quantitative oder qualitative „impact“Analyse anstellte, dürfte kaum strittig sein, dass die Bildungssoziologie zumindest nach ‚input‘ und Wirkung den gewichtigsten Teil des Werkes von Jim Coleman darstellt. (…) Elf seiner 28 Bücher und etwa 100 seine über dreihundert Aufsätze befassen sich mit bildungssoziologischen Themen“ (Mayer 1997: 348). „Equality of Educational Opportunity“ Mit der Studie über „Equality of Educational Opportunity“ (1966) – kurz EEO genannt oder bekannt auch als erster Coleman-Report – ist James S. Coleman schlagartig als junger Sozialforscher berühmt geworden. Vor allem die Schuleffektforschung baut immer noch auf seinen vielfältigen empirischen Befunden und den nachgeschobenen theoretischen Erklärungen zum Zusammenhang von Elternhaus, Schule und Lernen auf. Es gibt in der Zwi-
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schenzeit eine Vielzahl von Studien, die sich mit den Effekten der Schule für die schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler sowie ihres Bildungserfolges befassen (siehe den Beitrag von Ditton in diesem Band). Der Pionier dieser Schuleffektstudien war ohne Zweifel der amerikanische Soziologe James S. Coleman. Coleman und seine Mitarbeiter (1966, 1985) konnten mehrfach belegen, dass die materielle Ausstattung der Schulen nur eine hinreichende Bedingung darstellt, die geeignet wäre, Bildungsungleichheiten auszugleichen. Immer wieder schlagen soziale Herkunft und sozialstrukturelle Zusammensetzung der Schülerschaft im Vergleich zum Niveau der schulischen Ausstattung durch. Sozial heterogene Schülerschaften sind für die Entwicklung und Schulleistungen sozial benachteiligter Schulkinder vorteilhaft, ohne dass darunter zwangsläufig die Leistungsfähigkeit der sozial Privilegierten leidet. Für stratifizierte Schulsysteme wird immer wieder auf den sozial abträglichen Einfluss sozialstruktureller Homogenität in den unteren Schullaufbahnen und den selektionsbedingten Lernumwelten hingewiesen. Die EEO-Studie wurde vom National Center for Educational Statistics unter einem Mandat des Civil Right Acts von 1964 in Auftrag gegeben.7 Dieses Bürgerrechtsgesetz von 1964 verlangte vom „Office of Education“ die Durchführung einer Studie, welche die fehlende Chancengleichheit im Bildungswesen aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion oder nationaler Herkunft in den öffentlichen Schulen Amerikas nachweist. Aufgrund seiner Arbeiten „The Adolescent Society“ (1961) und „Introduction into Mathematical Sociology“ (1964) – also seiner Erfahrung mit großangelegten Umfragen und der Auswertung solcher Massendaten – schien Coleman als Vorsitzender dieser Untersuchungskommission prädestiniert zu sein für diese Untersuchung. Da es sich um Auftragsforschung seitens des Staates handelte, war Coleman unsicher, ob diese Studie im Sinne von Werturteilsfreiheit in 18 Monaten auch wissenschaftlich solide durchgeführt werden könne, und er befürchtete, dass diese Studie zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden könne – etwa dass das Justizministerium gegen Schulen gerichtlich vorgehen könne, die nicht dem Bürgerrechtsgesetz folgen. Zudem hatte Coleman als akademisch arbeitender Soziologie Bedenken gegenüber staatlich unterstützter angewandter Forschung, die auch den wissenschaftstheoretischen Prämissen, denen er folgte, nicht gerecht wurden. Denn das Gesetz zur Bekämpfung von Rassendiskriminierung sah bestimmte Restriktionen vor: Im Falle der Schulsegregation ordnete es an, dass staatliche Finanzmittel den Schuldistrikten verweigert werden sollten, die bewusst segregierte Schulen aufrechterhielten. Um den Politikern die Durchführung des Gesetzes zu erleichtern, wurde im Abschnitt 402 dieses Gesetzes eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über Segregation angeordnet. Trotz der Bedenken von Coleman, die staatliche Auftragsforschung entspräche nicht seinen Vorstellungen von grundlagenorientierter und unparteiischer Sozialforschung, willigte er ein, nachdem er Vanderbilt als Kooperationspartner gewinnen konnte. Für Coleman – damals erst 39 Jahre alt – gab es vor dem Hintergrund seiner Forschung gute Gründe, sich mit Schuleffekten auf individuelle Lern- und Bildungserfolge zu beschäftigen. Neben der Familie, den Kirchen sowie dem Staat und seiner Regierung ist die 7 Auslöser war der Prozess Brown vs. Board of Education. Es ging um die Frage, ob schwarze Schulkinder das Recht haben, in Schulen von weißen Schulkindern zu gehen, und ob daher die staatlich durchgeführte Segregation dem nationalen Bildungsgesetz widerspricht. Das Oberste Bundesgericht befand 1954 in einem Urteil, dass die Doktrin getrennter, aber gleichwertiger Möglichkeiten, durch welche die US-amerikanischen Südstaaten die Rassensegregation in den Schulen aufrechtzuerhalten versuchten, obwohl den schwarzen Schulkindern dadurch das Anrecht auf gleichen Schutz vorenthalten wurde.
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Schule eine der am weitesten verbreiteten sozialen Institutionen, die im Unterschied zur primordialen Familie eine zweckgerichtete Institution ist. Vor allen in demokratischen Gesellschaften stellt die Schule eine entscheidende Institution für die Verteilung von Lebenschancen und für soziale Mobilität dar. Sie steht dort im Spannungsfeld von Familie, Arbeitsmarkt und Politik. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Coleman der Wirksamkeit und Effizienz von Schulen eine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Determinanten der Schulleistungen und die Effektivität von Schulen, die ursprünglichen Leistungsniveaus von Schülern aus unterschiedlichen sozioökonomischen Gruppen und Rassen in den USA ausgleichen zu können, war die hauptsächliche Problemstellung der EEO-Studie aus dem Jahre 1966. Das Schlüsselproblem lag in den vermuteten Unterschieden in der schulischen Wirksamkeit, die dann zu signifikanten Leistungsunterschieden zwischen Rassen und sozialen Klassen führen. Daher zielte die Studie auf eine Untersuchung der Schuleffekte auf Bildungserwerb mit dem Ziel ab, die Frage zu klären, wie segregierte Schulen die Bildungsgelegenheiten von Schülerinnen und Schülern bestimmen. Obwohl die Resultate belegen, dass die Schulmerkmale die Varianz schulischer Leistungen weniger als der Familienhintergrund erklären, zeigen die Ergebnisse auch, dass schwarze Schulkinder höhere Leistungen in mehrheitlich von weißen Schulkindern besuchten Schulen erzielen, als in segregierten Schulen, die mehrheitlich von schwarzen Schulkindern besucht werden. Folgende Fragestellungen wurden daher verfolgt: Wie groß ist die rassische und ethnische Segregation in öffentlichen Schulen? Wie werden die Bildungsgelegenheiten zwischen den Schülern in diesen Schulen verteilt? Inwieweit unterscheiden sich die Schüler in unterschiedlichen Schulstufen in ihren schulischen Leistungen? In welchem Ausmaß hängen die Unterschiede in den Schulleistungen mit Unterschieden zwischen Schulen bezüglich der Qualität von Erziehung und Bildung zusammen? Die empirischen Analysen der EEO-Studie basieren auf einer nationalen Stichprobe (5 Prozent der Population an öffentlichen Schulen). Dabei wurden 639.650 Schüler der 1., 3., 6., 9. und 12. Schulklasse einer nationalen Stichprobe aus 4393 Elementar- und Sekundarschulen sowie 14.000 Lehrer und Schulleiter befragt die standardisierte Befragung ist die zentrale Methode der empirischen Bildungssoziologie. Mit Hilfe standardisierter Tests wurden Schulleistungen gemessen. Des Weiteren wurde die Ausstattung von Schulen (Ausgaben pro Schüler, Ausbildung der Lehrer und Anzahl der Bücher in der Schulbücherei) erfasst. Von der Feldzeit bis zur Publikation des Berichtes lagen 10 Monate, und die Ausschöpfungsquote der Stichprobe lag bei 70 Prozent. Der Ausgangspunkt beim EEO-Report, einer Auftragsforschung, war keine sozialwissenschaftliche Fragestellung, auch keine Theorie, sondern ein politisch vorgegebenes Problem: soziale Ungleichheit von Bildungschancen. Hierbei tauchte in der Vorbereitung das Problem auf, was denn unter der Ungleichheit in den Bildungschancen zu verstehen sei. Dieses Problem wurde daher anhand der öffentlichen Deutung von Bildungschancen definiert (Coleman 1968): 1.) Unterschiede in Typen und Ausmaß von Inputs und Ressourcen (etwa Schulausgaben per Schüler, Schüler-Lehrer-Verhältnis (Betreuungsverhältnis), Ausstattung der Schulbibliothek, Ausbildung der Lehrer, Ausstattung der Labore etc.); 2.) Bildungsergebnis aufgrund unterschiedlicher Lerngelegenheiten wie etwa Leistung oder Bildungserfolg; 3.) Auswirkungen von Schulen auf Schüler mit gleicher familiärer Herkunft, d.h. Kompensatorische Rolle der Schule (Ausgleich von sozial ungleichen Lernvoraussetzungen, aber auch Verschärfung von bestehender Ungleichheit von Startchancen): 4.) Ethnische Segregation bzw. Segregation zu Ungunsten vs. Desegregation zugunsten benachtei-
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ligter schwarzer Schulkinder); 5.) Schulklima (etwa akademisches Schulklima mit positiven Folgen für Bildungsaspirationen und Leistungsentwicklung): Schülerkultur, Sozialstruktur der Schülerschaft, Merkmale der Lehrer und ihrer Erwartungen etc., d.h. nichtmaterielle Merkmale von Schulen (Lehrermotivation und Lehrererwartung) sowie Auswirkung des Schulklimas auf Leistungsunterschiede von Schülern unterschiedlicher Herkunftsmilieus. Kurzum – Bei Chancengleichheit können Bildungsergebnisse für Schüler unterschiedlicher ethnischer und sozioökonomischer Herkunft ungleich sein, aber nur sollen sich die Unterschiede nicht von vornherein auf unterschiedliche Herkunftsgruppen beziehen, sondern in gleicher Weise innerhalb von Herkunftsgruppen zum Tragen kommen (vgl. Coleman 1975). Was sind die zentralen Ergebnisse der EEO-Studie (Details Mayer 1998)? 1.) Rassische Segregation in amerikanischen Schülern als vorherrschender Schulkontext (bei großen regionalen Unterschieden zwischen den Süd- und Nordstaaten): Bei Kontrolle der Ausstattung von Schulen, die mit Ausnahme der Südstaaten kaum Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Amerikanern aufwiesen, gab es große Leistungsunterschiede zwischen Schwarzen und Weißen bereits in der ersten Schulklasse, und diese Leistungsdisparitäten nahmen im Schulverlauf deutlich zu. Für den Abbau von Bildungsungleichheiten bedarf es nach Coleman et al. (1966) eher eines Eingriffs bei den Unterschieden in den Bildungsergebnissen als bei den Ausstattungsunterschieden. 2.) Schulexterne Faktoren, die zeitlich und räumlich außerhalb der Schule liegen, bestimmen die Leistungsunterschiede zwischen ethnischen und sozioökonomischen Gruppen. Familien und soziale Umwelten also der Einfluss der ethnischen und sozioökonomischen Herkunftsfaktoren sind wichtiger als Schulen (was nicht heißt, dass Schulen also Ausgaben pro Schüler, Größe der Schule und Schulklassen, Anteil weißer Lehrer sowie curriculare bzw. schulorganisatorische Unterschiede keine Bedeutung für die Leistungsdisparitäten haben). 3.) Einflüsse der ethnischen und sozioökonomischen Zusammensetzung der Schülerschaft: Rassische und sozioökonomische Desegregation hilft den sozial benachteiligten Schulkindern, schadet aber nicht den privilegierten Schülern. D.h. soziale Integration kann Chancenungleichheiten bei Lern- und Bildungserfolgen mindern. 3.) Merkmale der Lehrer (einschl. ihrer Berufserfahrung und Ausbildung) haben einen Einfluss auf die Lernleistungen, aber nur unter den afro-amerikanischen Kindern im Süden der USA. 4.) Wenn Effekte der sozialen Herkunft, Segregation in den Schulen und Lehrerschaft kontrolliert wird, dann hat die materielle Ausstattung lediglich einen geringen Effekt. Vier Schlussfolgerungen wurden gezogen (vgl. Mayer 1998): 1.) Das Elternhaus hat den stärksten Einfluss auf die schulische Leistung – stärker als Schule und andere Faktoren: Der größte Teil der Leistungsunterschiede zwischen den Schülern ist auf inner-, und nicht auf zwischenschulische Unterschiede zurückzuführen. Soziale Herkunft und Ressourcen des Elternhauses stellten mit 10 bis 25 Prozent erklärter Varianz
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den wichtigsten Einflussfaktor für Leistungsunterschiede dar, wobei dessen Beitrag bei weißen Amerikanern größer als bei Afroamerikanern ist. Das war auch nicht erstaunlich, da die meisten schwarzen Schulkinder aus armen Familien mit niedrig gebildeten Eltern stammten, während die meisten weißen Schulkinder aus besser situierten und besser gebildeten Familien stammten. Bildungsniveau der Eltern und ihre Bildungsaspirationen sind ausschlaggebend für die Leistungsunterschiede zwischen weißen und schwarzen Schulkindern. 2.) Sozialstrukturelle Zusammensetzung der Schülerschaft ist der nächststärkste Prädiktor für schulische Leistung unter Minoritäten und sozial benachteiligte Schulkinder, d.h. die peers in der Schule bzw. Schulklasse hatten eine größere Wirkung auf die individuelle Schulleistung als andere schulische Faktoren. 3.) Merkmale der Lehrer haben einigen Einfluss, aber nur unter den schwarzen Schulkindern in den Südstaaten. Merkmale der Lehrerschaft haben größere Erklärungskraft als Schulvariablen. 4.) Materielle Ausstattung der Schule hat geringen bzw. keinen Effekt auf die schulische Leistung und den Bildungserfolg, d.h. Schulische Ausstattung trägt wenig zur Erklärung von Leistungsunterschieden bei. In jeder Schule bestand ein viel größerer Leistungsunterschied zwischen den Schülern als zwischen den Schülerschaften verschiedener Schulen. Ingesamt kommen Coleman und Mitarbeiter zum Schluss, „(…) schools bring little influence to bear on a child’s achievement that is independent of this background and general social context“ (Coleman et al. 1966: 325). Gerade diese Befunde waren beunruhigend für Bildungsforscher und Bildungspolitiker, da wider Erwarten die materielle Ausstattung der Schule und ihr Unterricht kaum Einfluss auf Leistung der Schüler hat. Sie lösten vehemente Kritik an der EEO-Studie von Coleman aus, die bislang noch anhält, da sich der Glaube hartnäckig hält, vor allem die Schule könne die Leistung der Schüler erhöhen und die Gleichheit von Bildungschancen herstellen. Diese Befunde von Coleman und Mitarbeiter, die darauf hinwiesen, dass der Einfluss des Elternhauses sehr viel größer ist als der Einfluss der Schule, wobei nicht gesagt werden kann, dass die von der Schule gebotenen Lerngelegenheiten keinen Einfluss auf Schulleistung und Bildungserfolg haben (Stichwort: „Schools don’t matter!“), lösten vehemente Kritik und sorgfältige Re-Analysen der Daten durch Soziologen und Statistiker aus (Mosteller und Moynihan 1972). Alle Befunde von Coleman und Mitarbeitern außer dem über den Einfluss der ethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft auf Leistungsunterschiede wurden dabei nachhaltig und immer wieder bestätigt. Unklar ist dabei geblieben, welche Faktoren der Schule die Schulleistungen beeinflussen und Ungleichheiten in den Lern- und Bildungserfolgen hervorbringen. Die EEO-Studie zog viele Reanalysen, Replikationen, Kritiken und Erweiterungen nach sich (Jencks 1972). Vor allem standen methodische Probleme der Datenauswertung durch Coleman et al. (1966) im Vordergrund der Kritik. Es wurden folgende Kritikpunkte am häufigsten erwähnt (vgl. Mayer 1998): 1.) Die Validität der Messinstrumente, mit denen die Input-Variablen gemessen wurden, kann mangels theoretischen Hintergrunds nicht beurteilt werden. Die Beurteilung wird durch unzureichende Messung von Schulvariablen erschwert. 2.) Der Einfluss der Schul- und Lehrervariablen wird unterschätzt, weil zur Be-
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schreibung der individuellen Leistungsunterschiede zwischen Schulen anstelle von Individualdaten eben aggregierte Daten ausgewertet wurden, d.h. Vermischung von unterschiedlichen Analyseebenen mit der Gefahr des ökologischen Fehlschlusses. 3.) Die Querschnittsbetrachtung lässt es nicht zu, kausale Zusammenhänge und Entwicklungen abzubilden. 4.) Problem der Angemessenheit der Daten für OLS-Regression: Die Regressionsanalysen weisen hohe Multikollinearitäten, d.h. Korrelationen der erklärenden Variablen untereinander, auf. Allerdings unterstützen sorgfältige Re-Analysen die ursprünglichen Aussagen von Coleman et al. (1966). Weiterführende und andere Schuleffektstudien belegen die Befunde der EEO-Studie und führen ebenso zum Ergebnis, dass die Folgerung: „Schools don’t make a difference“ in dieser Allgemeingültigkeit nicht haltbar ist. Wie können wir denn eigentlich die überraschenden Befunde von Coleman und Mitarbeiter (1966, 1987) erklären? Oder anders gesagt: Welche Erklärungen werden in den Coleman-Reports geliefert? Coleman lieferte selbst keine theoretisch fundierten Erklärungen, sondern eher Ad-hoc-Annahmen. Die EEO-Studie kann – und Ähnliches gilt für den späteren dritten Coleman-Report – als ‚black box analysis‘ bezeichnet werden, in der Coleman keine sozialen Mechanismen benennt, die verdeutlichen, warum weiße Amerikaner bessere Lernleistungen als Afro-Amerikaner in den öffentlichen Schulen aufweisen. In seinen bildungssoziologischen Studien befolgte Coleman keineswegs die Prämissen, die er selbst in seinen methodologischen Arbeiten zur mathematischen Modellierung sozialer Prozesse zugrunde gelegt hatte (Mayer 1998; siehe auch die anderen Beiträge in Clark 1996): Formulierung von Theorie in mathematischen Modellen mit Parametern, die mit empirischen Daten zu schätzen sind, um die Gültigkeit von Theorien und ihren Hypothesen zu überprüfen (vgl. Sørensen 1996). Er wechselte von wenig Theorie über Schuleffekte in seiner Arbeit „The Adolescent Society“ (1962) zu keiner Theorie in der EEO-Studie (1966) bis hin zu etwas Theorie bei „High School Achievement“ (1982), aber es gab keine systematische oder vollständige Integration von Theorie und empirischer Evidenz. Es gibt keine theoretischen Erklärungen, wie Schulen das Lernen oder die Lernprozesse hervorbringen oder beeinflussen, so dass die Beurteilung der Schuleffekte kaum mehr möglich ist (vgl. Sørensen 1996: 209). Auch fanden elaborierte methodische Verfahren keine Anwendung in seinen empirischen Analysen, wenn man bedenkt, dass Coleman (1964, 1981) Bücher zur Mathematischen Soziologie oder Längsschnittanalysen und zu stochastischen Prozessen vorgelegt hat. Es gibt also keine Entsprechung von Theorie, Methoden und empirischer Evidenz. Theoretische Überlegungen ergaben sich bei Coleman zumeist aus den empirischen Ergebnissen seiner Analysen selbst. Der Theorie eilte die Empirie voraus; sie ergab sich zumeist aus den offenen Forschungsfragen selbst, die sich wiederum aus den statistischen Auswertungen ergeben haben. Dieses Vorgehen entspricht nicht dem herkömmlichen Procedere der Wissenschaftstheorie, die auch Coleman (1990) durchaus teilte – nämlich das zu erklärende Phänomen ausreichend zu beschreiben, bevor man sich an die Theoriebildung macht. Nach Mayer (1998) war für Coleman die rasche Auswertung wichtiger als aufwendige Detailanalysen; auch machte er keinen Gebrauch von seinen mathematisch fundierten Statistik-Kenntnissen über Längsschnitt- und Mehrebenenstudien (mit dem Problem, die eigentlich soziologisch interessanten Daten nicht ausgewertet, Fragen nicht beantwortet und Theorien nicht getestet zu haben). All das hatte nicht selten zur Folge, dass Reanalysen seiner Daten zu anderen Schlussfolgerungen gelangten.
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Der zweite Coleman-Report (Coleman et al. 1975) Dennoch wurden die Bildungschancen von benachteiligten Afro-Amerikanern durch den Versuch gefördert, sozial und rassisch gemischte Schulklassen mit einem überwiegenden Anteil weißer Amerikaner aus den Mittelschichten herzustellen. Durch das „busing system“ wurden die benachteiligten schwarzen Schulkinder in die städtischen Schulen der weißen Mittelschichten gefahren. Diese Maßnahme beruhte nicht auf einer Empfehlung von Coleman oder seinen Auftraggebern der EEO-Studie, sondern auf Anweisungen lokaler Gerichte. Nach einer Zeugenaussage von Coleman vor einem Gericht in Washington, D.C. befahl der Richter J. Skelly Wright dem Schulausschuss, die schulischen Einrichtungen zu integrieren – in dem Maße, wie es in einem System mit 90 Prozent schwarzen Schulkindern möglich war – und Busse bereitzustellen, um die Kinder von überfüllten Schulen für Schwarze zu weniger überlaufenen, vornehmlich von Weißen besuchten Schulen zu bringen – eben das „busing“. In der Folge wurde – vermittelt über Massenmedien – Coleman immer häufiger als „father of busing“ genannt. Aber den entscheidenden Impuls erhielt das „busing“ durch Urteile des Obersten Bundesgerichts aus den Jahren 1968 und 1969, in denen angeordnet wurde, die offizielle Segregation im Süden angesichts der Tatsache, dass man dort seit 1954 Mittel und Wege gefunden hatte, die Anwendung des Brown-Urteils hinauszuzögern, sofort zu stoppen. Ein weiteres Urteil aus dem Jahre 1971 befand, dass es verfassungsgemäß sei, Kinder der Rasse nach Schulen zuzuordnen und sie mit dem Bus zu den entsprechenden Schulen zu befördern, um Integration zu erreichen. In der Folge wertete Coleman für einen Vortrag auf einer Konferenz die seit 1967 erhobenen Statistiken des „Office of Civil Right“ über die rassische Zusammensetzung von Schülern in den amerikanischen Schulen aus. Ergebnis war, dass es keinen einheitlichen Trend für eine abnehmende Segregation in der Zeit zwischen 1967 und 1973 gegeben hat. In den kleineren und mittleren Schuldistrikten hatte die Segregation stark und in den größeren Schuldistrikten (in den Zentren der Großstädte) dagegen nur geringfügig nachgelassen. Der Grund hierfür war, dass die Desegregation in den Schuldistrikten der Hauptstädte durch eine neue Form der Segregation ersetzt wurde –das Ungleichgewicht zwischen den innerstädtischen und vorstädtischen Bezirken nahm zu. Ihren Grund hatte diese auf eine Desegregation folgende Resegregation in der Flucht der weißen Familien aus den städtischen Zentren in den nunmehr ethnisch homogeneren Schulbezirken in den vorstädtischen Gegenden. Als unerwartete Folge des „busing“ ergab sich eine Wiederherstellung der Segregation in diesen Schulen, da dann die weißen Mittelschichten aus diesen Städten und Stadtteilen mit hohen Anteilen an schwarzen Familien „flohen“. Dieser Prozess ist ein Beispiel dafür, dass rationale Bildungspolitik zu unbeabsichtigten Nebenfolgen führen kann, die die intendierten Ziele konterkarieren. Der dritte Coleman-Report In seiner Studie über „High School Achievement“ (1982) – dem dritten „Coleman-Report“, dem die Studien „ Public and Private Schools“ (1987) sowie „Parents, Their Children and Schools“ (1993) folgten – untersuchte Coleman mit seinen Mitarbeitern, was gute von schlechten Schulen unterscheidet und in welcher Weise Schulen dazu beitragen können, bestehende Chancenungleichheiten der Bildung zu verringern. Insbesondere wurde der Frage nachgegangen, ob Leistungsunterschiede durch Selektion oder durch schulische Sozialisation bedingt werden. Die statistischen Auswertungen erfolgten auf der Basis von Längsschnittdaten der Studie „High School and Beyond“, in der Informationen von 1.015
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Schulen und 58.730 Schülern erhoben worden waren. Sie ergaben, dass die vielgescholtenen katholischen parochialen Schulen bessere durchschnittliche Schulleistungen aufwiesen als öffentliche Schulen. Die Schüler der privaten Schulen wiesen bessere kognitive Leistungen, geringere Versagens- und Abbruchquoten sowie weniger deviantes Verhalten auf. Die Gründe hierfür sind nach Coleman, Hoffer und Kilgore (1985), dass katholische Privatschulen zum einen höhere Leistungsanforderungen an die Schülerinnen und Schüler sowie höhere Anforderungen an die Schul- bzw. Klassendisziplin stellen. Zum anderen zeigte sich angesichts der Situation von Herkunftsfamilien und ihren Nachbarschaften, dass sie über höheres soziales Kapital als die Schüler an öffentlichen Schulen verfügten. Ausgeprägtes Sozialkapital scheint also förderlich für die Schulleistungen und den Bildungserfolg zu sein. Kurze Gesamtwürdigung des bildungssoziologischen Werkes „Was ist die Schlussfolgerung, die man aus dem Verhältnis Colemans zu Empirie und Theorie ziehen kann? Coleman hat gezeigt, dass die Empirie kein bloßes Anhängsel von Theorie und Modellbildung ist, sondern ein Genre sui generis, das neben theoretischen Einflüssen vor allem von gesellschaftlichen Problemen sowie der Phantasie und Einsicht des empirischen Forschers lebt. Zumindest ist die Fruchtbarkeit einer so verstandenen Empirie für die Theorieentwicklung mindest ebenso groß wie umgekehrt“ (Mayer 1997: 355). Colemans Forschung war und ist innovativ und wegweisend: Im ersten Coleman-Report verwendet er zusätzlich zu den bislang üblichen Qualitätsbestimmungen der Bildung anhand schulischer Kriterien auch außerschulische Ressourcen als Indikatoren. Ebenso innovativ war die Verwendung standardisierter Leistungstests für die Beurteilung von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen; damit ging ein Wechsel von einer input- zu einer outputorientierten Perspektive in der Bildungs- und Schulforschung vonstatten.
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Pierre Bourdieu – Feine Unterschiede bei der Reproduktion von Bildungsungleichheiten
Der französische Soziologie Pierre-Félix Bourdieu wurde am 1. August 1930 in Denguin (Pyrénées Atlantiques) als Sohn von Albert Bourdieu – einem Bauer und späteren Postbeamten – und Noémie Bourdieu (geborene Duhau) geboren. Seine Schulausbildung (Lycée de Pau (Pyrénées Atlantiques) und Lycée Louis-le-Grand in Paris schloss er 1951 mit dem Abitur (Baccalauréat) ab. Bis 1954 studierte er an der Faculté des Lettres der Sorbonne in Paris und an der École Normale Supérieure in Paris; das Studium schloss er mit dem Examen in Philosophie (1954) ab. Für ein Jahr war er Lehrer am Lycée von Moulins, Alliers und von 1955 bis 1958 im Militärdienst in Algerien. Danach war er bis 1960 Hochschulassistent an der Faculté des Lettres in Algier und dann bis 1961 Assistent an der Faculté des Lettres an der Sorbonne in Paris bei Raymond Aron (1905-1983). Bis 1964 betätigte er sich als Dozent (Maître de Conférences) an der Faculté des Lettres in Lille (Nord). Von 1964 bis 1984 hatte er die Stellung eines Studiendirektors (Directeur d’Études) an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris sowie eines Professors für Soziologie inne. Danach war er bis zu seinem Tode am 23. Januar 2002 in Paris Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie am renommierten Collège de France. Nebenbei war er von 1968 bis 1988 Direktor des von ihm initiierten Zentrums für Erziehungs- und Kultursoziologie
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und in der Zeit von 1985 bis 2002 auch Direktor des Zentrums für europäische Soziologie (Centre de Sociologie Européenne, CSE) am Collège de France und der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Zudem war er als Herausgeber vieler Schriftenreihen und Zeitschriften tätig (1964-1992 als Direktor der Schriftenreihe „Le Sens Commun“ des Pariser Verlags Éditions de Minuit; seit 1975 als Direktor der Zeitschrift „Actes de la recherche en sciences sociales“ (Paris); seit 1975 als Consulting Editor der Zeitschrift „American Journal of Sociology“ (Chicago, Ill.) sowie von 1989 bis 1998 als Direktor der Zeitschrift „Liber“ in Paris). Seine politischen Aktivitäten waren ebenfalls ein Charakteristikum Bourdieus. Seit 1981 war er Berater der Gewerkschaft „Confédération Française Démocratique du Travail“ (C.F.D.T.) und im Jahre 1993 ein Mitinitiator des heute in Paris ansässigen internationalen Schriftstellerparlaments (International Parliament of Writers). Bildungssoziologisches Œuvre von Pierre Bourdieu Im deutschsprachigen Raum ist Bourdieu neben dem „Homo academicus“ (1984) und seinen Arbeiten zum Zusammenhang von Kapitalstöcken und Bildungschancen (1983) besonders durch seine Studie „Die feinen Unterschiede“ (1982) bekannt, in der es um Reproduktion sozialer Ungleichheit über Bildung und den klassenspezifischen Habitus („Logik der Distinktion“) – die im Individuum gewordene Gesellschaft – geht. Aspekte der Bildung in den Werken von Bourdieu (und seinen Mitarbeitern) sind größtenteils auf seine Studie zum französischen Bildungswesen (gemeinsam mit Passeron) zu Beginn der 1970er Jahre („Die Illusion der Chancengleichheit“, 1971) zurückzuführen. Die bildungssoziologisch relevanten Aspekte des Œuvre von Pierre Bourdieu, die exemplarisch im Werk „Die Illusion der Chancengleichheit“ (1971) verdeutlicht werden können, stellen eine Synthese von Kultursoziologie und Sozialstrukturanalyse dar. Zunächst geht Bourdieu davon aus, dass sich die Sozialstruktur moderner Gesellschaften über die Verteilung von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital beschreiben lässt. Die Reproduktion ungleicher Verteilung dieser Kapitalressourcen erfolge, indem privilegierte Familien ihre Privilegien ihren Nachkommen vererben. Nach Bourdieu und Passeron (1971) sage die statistische Analyse klassenspezifisch variierender Bildungschancen nichts über die Prozesse aus, die sozial bedingte Bildungsungleichheiten hervorbringen. Bourdieu geht davon aus, dass dieses Phänomen nicht auf schicht- und klassenspezifisch variierenden Begabungsreserven beruhe, sondern auf spezifischen Mechanismen des Bildungssystems. Es ist daher Aufgabe der Soziologie, „den Beitrag festzustellen, den das Unterrichtssystem zur Reproduktion der Struktur der Kräfteverhältnisse und der symbolischen Verhältnisse zwischen den Klassen leistet, indem es an der Reproduktion der Struktur der Verteilung des kulturellen Kapitals unter diesen Klassen mitwirkt“ (Bourdieu und Passeron 1971: 91). Demnach wirkt das Bildungssystem an der Reproduktion sozialer Ungleichheiten von Bildungschancen mit. Bildungsungleichheit habe ihre Wurzeln nicht in der individuellen Befähigung, sondern in der Klassenstruktur einer modernen Gesellschaft: Die Bildungsstatistiken belegen, „dass das Schulsystem objektiv eine um so totalere Eliminierung vornimmt, je unterprivilegierter die Klassen sind“ (Bourdieu und Passeron 1971: 20). Sie verdecken jedoch „Feinstrukturen der Ungleichheit“, die zu ungleichen Verteilungen in der Verweildauer im Bildungssystem und im Bildungserfolg und in der Wahl der Bildungsgänge führen. Dieser Ausschließungsprozess im Bildungssystem gelingt und erscheint zugleich legitim, indem das Unterrichtssystem die kulturelle Vererbung dadurch ermöglicht, dass es soziale Attribute in natürliche transferiert. Herkunftsfamilien unterscheiden sich hinsicht-
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lich ihres sozioökonomischen oder soziokulturellen Status. Vor allem unterscheiden sie sich darin, dass sie in unterschiedlicher Weise über kulturelles Kapital soziale Privilegien vererben: Vererbung meint hier nichts anderes als die intergenerationale Transmission eines schicht- oder klassentypischen kulturellen Habitus. Der Habitus des Menschen – ein in klassenspezifischer Sozialisation erworbenes System von Dispositionen und Schemata, das als Beurteilungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix fungiert, die wiederum das Denken und Handeln von Menschen steuert – ist ein wichtiges Element im Theoriegebäude von Bourdieu. Der aus angeeigneten Dispositionen bestehende Habitus ist nach Bourdieu ein unbewusstes wie systematisches Handlungsprinzip für den Alltag, der „sozialen Praxis“. Im Habitus manifestieren sich Orientierungen (etwa Geschmack, Stil, Neigungen, Vorlieben, Grundüberzeugungen), die handlungsleitend sein können. Mit dem Habitus wird vornehmlich die Art und Weise ihrer Ausführungen – sprich ihrer „Praxis“ – bestimmt. Mit seinem klassenspezifischen Habitus interagiert der einzelne soziale Akteur mit jenen Menschen, die sich in ähnlichen sozialen Lagen befinden und damit der gleichen Kultur angehören. Der Habitus ist nach Bourdieu Reflex seiner sozialen Klassenzugehörigkeit. Denn Menschen in vergleichbarer Klassenlage verfügen bei einem für jedes Individuum typischen Individualhabitus über einen gemeinsamen Klassenhabitus. Er verleiht den Akteuren einen „praktischen Sinn“ für die Bewältigung ihrer typischen sozialen Situationen und Probleme und birgt ein inkorporiertes Set von Handlungen, die in bestimmten Situationen nicht mehr kognitiv reflektiert werden müssen. Nach Bourdieu bestimmt der Habitus nicht nur die Festlegung des sozialen Handelns, sondern auch die Art und Weise, wie es als „soziale Praxis“ ausgeführt wird. Eine Vielzahl sozialen Handelns ist demnach nicht Ergebnis bewusster Entscheidungen, sondern spontane, automatisch prozessierende Handlungen in typischen positionsspezifischen Situationen. Es geht also bei der Transmission des Habitus um Effekte familialer Sozialisation. Daher unterscheiden sich die Schulanfänger in ihrem jeweiligen Habitus, den klassenspezifischen Befähigungen und sie treten vor die schulischen Instanzen als Träger eines klassenspezifisch differierenden kulturellen Habitus. Dadurch, dass Schulen faktisch unter der Maxime formaler Gleichheiten operieren, bleiben Ungleichheiten der kulturellen Startvoraussetzungen bestehen, und damit trägt das Bildungssystem zur Reproduktion von Ungleichheiten bei. Da die Kultur des Bildungssystems, insbesondere die Schule, als Institution der oberen Mittelschichten auch den kulturellen Habitus erfordert, den die Vertreter dieser Sozialklassen beherrschen, geraten die Nachkommen aus den unteren Sozialschichten im Lern- und Bildungsprozess ins Hintertreffen. Da die schulischen Werte den Werten der privilegierten und „kultivierten“ Sozialschichten entsprechen, sind diejenigen im Vorteil, die bereits über diesen Wertekanon verfügen. Indem das Bildungssystem faktische soziale und kulturelle Ungleichheit übersieht oder ausklammert, sanktioniert sie die initialen kulturellen Differenzen und übersetzt diese in natürliche Begabungen und schulische Leistungen. Diejenigen, die nicht die Verhaltens- und Denkstrukturen aufweisen, die in der Schule als Mittelschichtinstitution bzw. Institution der Bildungseliten nachgefragt werden, haben strukturell und kulturell bedingte Schwierigkeiten, den schulischen Anforderungen im Unterricht gerecht zu werden. Nach Bourdieu und Passeron (1971: 88) liegt die Funktion von Schule und Unterricht daher kaum in der Tradierung von Wissen, sondern vielmehr in der Sicherung bestehender Privilegien: „Die Vermittlung intellektueller Techniken und Denkgewohnheiten (…) bleibt in erster Linie dem Familienmilieu vorbehalten“. In modernen Gesellschaften dienen – so
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Bourdieu und Passeron (1971) – Schulen dazu, soziale Ungleichheiten kulturellen Kapitals zu sanktionieren und damit die Sozialstruktur zu reproduzieren. Die relative Autonomie der Schule ist in ihren Augen eine Tarnung, um in besonders verschleiernder Weise die Reproduktion von Ungleichheit und Benachteiligung im Gesamtsystem zu verwirklichen. In der Schule geht es demnach weniger um Erziehung oder Bildung, sondern um Selektion nach kulturellem Kapital und sozialem Habitus. Während die primäre Sozialisation in der Familie für die Kinder aus höheren Sozialschichten mit höher gebildeten Eltern zugleich eine Phase der Anhäufung kulturellen Kapitals ist, sind Kinder benachteiligter Klassen gezwungen, sich von ihrer Herkunft zu distanzieren, denn Schule und Hochschule belohnen nur Habitusformen, die jenen der gesellschaftlichen Eliten entsprechen: Indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur. Denn das Verhalten und der Stil der oberen Mittelschichten korrespondieren mit den Lehrererwartungen: Verhalten, Stil, Sprache etc. sind nicht Ergebnis schulischer, sondern familialer Sozialisation. Ihre strukturelle Ignoranz durch das Bildungssystem bestätigt die Legitimität kultureller Vererbung von Privilegien. Denn die Defizite an kulturellem Kapital führt zu leistungsbedingten Schwierigkeiten beim Bildungserwerb und beim Bildungserfolg, so dass die Nachkommen unterer Sozialschichten früher aus dem Bildungssystem ausscheiden; aber weil sie aus dem Bildungssystem selbst austreten, indem sie dem Wettbewerb im Bildungssystem nicht standhalten können, erscheint nach Bourdieu und Passeron (1971) dieser „Prozess der Selbsteliminierung“ allen legitim. Entwicklung von Bildungsungleichheiten sind demnach Resultat der Vererbung kulturellen Kapitals – eine Vererbung, die Resultat familialer Interaktionen und Opportunitäten ist, da eine außerhalb des Bildungssystems bestehende Ungleichheit von kognitiven Dispositionen (Wissen, Techniken, Fertigkeiten im Umgang mit Kultur) und familial vermittelten Einstellungsmuster zu Bildung und Beruf (einschließlich der daraus resultierenden Handlungselemente wie etwa Sprech- und Verhaltensweisen, Stil, Manieren, Benehmen etc.) in Ungleichheiten von Bildungschancen transformiert wird. Vor allem die schichtspezifischen Einstellungsmuster zu Bildung führen dazu, dass nicht die Schule oder höhere Bildungsinstanzen Selektionen vornehmen müssen, sondern die Familien in unteren Sozialschichten tun dies selbst (Bourdieu und Passeron 1971). Die klassenspezifische Selbsteliminierung bei kulturell unterprivilegierten Kindern basiert auf der kollektiven Selbstunterschätzung, Entwertung der Schule und ihrer Sanktionen oder das Sichabfinden mit dem Scheitern und dem Ausschluss aus dem Bildungssystem (Bourdieu 1973: 106; Bourdieu und Passeron 1971: 28). Wenn die Entwicklung der sozialen Ungleichheit von Bildungschancen als Resultat von familialen Schullaufbahnentscheidungen angesehen werden kann, stellt sich die Frage, warum eine Bildungsexpansion nicht zwangsläufig dazu führt, dass sich diese Ungleichheiten aufheben. Hier kommt nicht nur die strukturkonservierende Funktion der Schule zum Tragen, wonach formale Gleichheit nicht automatisch zur Aufhebung von sozialer Ungleichheit führt: Denn formal stehen Schulen und Hochschulen allen Bildungswilligen in gleicher Weise offen, die verlangten Qualifikationen und Prüfungen sind für alle gleich. Diese formale Gleichheit reicht aber für die Aufhebung sozial ungleicher Bildungs- und Lebenschancen nicht aus. Vielmehr trägt dieses Postulat – wie bereits gesehen – unter unveränderten gesellschaftlichen Bedingungen dazu bei, Erfolge und Misserfolge zu individualisieren und soziale Ungleichheit zu reproduzieren. Solange die Unterrichtsmethoden und Beurteilungsverfahren der Schulen und Hochschulen vorhandene Ungleichheiten bestäti-
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gen, indem sie die nach sozialer Herkunft ungleichen Eintrittsbedingungen systematisch ignorieren, kann die Ausdehnung des Bildungssystems kein rationales Instrumentarium sein, um Chancenungleichheiten zu verringern. Auch in einem expandierendem System vermehrter Bildungsmöglichkeiten basiert Chancenungleichheit auf schichtspezifischer „Selbstelimination“ (d.h. Aufgabe der Verfolgung eines weiteren Bildungsweges). Aber wenn – quantitativ gesehen – immer mehr Personen in Bildung investieren, dann relativiert sich der Stellenwert von Bildung als Positionsgut, da es seinen Seltenheitscharakter verliert und nicht mehr sozial exklusiv ist. So entsteht als Folge der Bildungsexpansion ein Verdrängungswettbewerb, in dem die oberen „Klassenfraktionen, deren Reproduktionen weithin oder ausschließlich über Bildung gewährleistet wird, zur Wahrung des relativen Seltenheitsgrades ihrer Abschlüsse und damit einhergehend zur Aufrechterhaltung ihrer Position innerhalb der Struktur der Klassen nun doch noch verstärkt im Bildungsbereich investieren mussten – wobei die Bildungsprädikate und das sie vergebende Schulsystem zum vorrangigen Objekt in der Konkurrenz zwischen den Klassen gerieten, mit der weiteren Konsequenz sowohl eines generellen und steten Anstiegs der Nachfrage nach Bildung als auch der Inflation der Bildungsprädikate“ (Bourdieu 1982: 222). Wenn dies zutrifft und die oberen Klassen ihre Kinder häufiger als zuvor und im Vergleich zu den unteren Klassen auf höhere Schulen schicken können, wäre ein Rückgang der Ungleichheit im unteren Bereich der Sekundarstufen, beim Gymnasialschuloder Hochschulbesuch hingegen eine Konstanz oder sogar eine Zunahme der Ungleichheit zu erwarten. Die feinen Unterschiede (1982) Die Bildungsexpansion forciert nach Bourdieu (1982) einen sozialstrukturellen Wandel (in der sozialen Schichtung Frankreichs), indem Individuen und Familien ihre Strategien mit dem Ziel, ihre soziale Position zu wahren und zu verbessern, umstellen. Statt in ökonomisches Kapital investieren sie in Bildung als Bestandteil des kulturellen Kapitals (erworbenes Kapital infolge „kleinbürgerlicher Bildungsbeflissenheit“ versus ererbtes Kapital über „akademische Distinktion“). Somit konservieren sozial privilegierte Klassen ihre Privilegien und beugen einer drohenden „Deklassierung“ vor. Dies gelingt auch durch institutionelle Vorkehrungen im Bildungssystem selbst, indem der Zugang zu Bildungssystemen erschwert wird, der zum Zugang zur herrschenden Klasse berechtigen würde: „Im gegenwärtigen Stadium geschieht der Ausschluss der großen Masse der Kinder aus den unteren und Mittelklassen nicht mehr bei Eintritt in die 6. Klasse (Sixième), sondern nach und nach und unmerklich während der ersten Jahre auf der Sekundarstufe – mittels verleugneter Formen der Eliminierung, als da sind: Rückstand oder Zurückgebliebenheit als eine Variante der hinausgeschobenen Eliminierung; Zurückstufung auf zweitrangige Schulzweige, die negative Abstemplung und Stigmatisierung impliziert und die vorweggenommene Anerkennung eines bestimmten schulischen und gesellschaftlichen Schicksals auferlegt; schließlich die Vergabe entwerteter Bildungstitel“ (Bourdieu 1982: 256). Demzufolge führen institutionelle Änderungen in der Stratifikation des Bildungssystems – etwa alternative Bildungswege unterhalb des tertiären Systems – oder des Zugangs zur tertiären Bildung (etwa Numerus clausus) zur (scheinbar) legitimen Schlechterstellung sozial benachteiligter Sozialschichten beim Bildungserwerb (beispielsweise die „Ablenkungsfunktion“ des dualen Berufsbildungssystems, wonach Arbeiterkinder vom Zugang zu Universitäten abgelenkt
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werden). „Abgefedert“ wird dies durch die Einführung zusätzlicher, aber wertloser Bildungstitel, um Ungleichheiten als legitim zu „verschleiern“. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital (1983) Mehrfach wurde der Kapitalbegriff erwähnt, der vor allem für die Sicherstellung von Bildungschancen von Bedeutung ist. Das Kapital, das in die Sicherung von Lebenschancen investiert werden kann, kann nach Bourdieu (1983) auf drei grundlegende Arten auftreten. Es wird von Bourdieu (1983) zwischen dem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital unterschieden: „In welcher Gestalt es jeweils erscheint, hängt von dem jeweiligen Anwendungsbereich sowie den mehr oder weniger hohen Transformationskosten ab, die Voraussetzung für sein wirksames Auftreten sind. Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts; das kulturelle Kapital ist unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln; das soziale Kapital, das Kapital an sozialen Verpflichtungen oder „Beziehungen“, ist unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von Adelstiteln“ (Bourdieu 1983: 184-185). Während ökonomisches Kapital Geld und Besitz und soziales Kapital die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzwerkes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind, d.h. Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen, und Sicherheit wie Kreditwürdigkeit in sozialen Beziehungen verleihen“ (Bourdieu 1983: 188) meint, so tritt das kulturelle Kapital in drei Formen auf: 1.) im verinnerlichtem, d.h. inkorporiertem Zustand eines im Sozialisationsprozess erworbenen Habitus), 2.) im objektivierten Zustand, d.h. in Form kultureller Güter (Bilder, Bücher, Lexika, Instrumente etc.) und in der kulturellen Praxis (Lesen, Sprechen, Besuch von Kultureinrichtungen und -veranstaltungen etc.), und 3.) im institutionalisierten Zustand in Form von Bildungspatenten oder gesellschaftlich relevanten Titeln. Die Knappheit des bestimmte Kulturkompetenzen inkorporierenden Kulturkapitals, „z.B. über die Fähigkeit des Lesens in einer Welt von Analphabeten, gewinnt aufgrund seiner Position in der Verteilungsstruktur des kulturellen Kapitals einen Seltenheitswert, aus dem sich Extraprofite ziehen lassen. D.h., derjenige Teil des Profits, der in unserer Gesellschaft aus dem Seltenheitswert bestimmter Formen von kulturellem Kapital erwächst, ist letzten Endes darauf zurückzuführen, dass nicht alle Individuen über die ökonomischen und kulturellen Mittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, die Bildung ihrer Kinder über das Minimum hinaus zu verlängern, das zu einem gegebenen Zeitpunkt für die Reproduktion der Arbeitskraft mit dem geringsten Marktwert erforderlich ist“ (Bourdieu 1983: 188). Nach Bourdieu zählt die Sozialisation im Elternhaus – verstanden als eine Zeit der Akkumulation von kulturellem Kapital in der nachfolgenden Generation – sowie die intergenerationale Übertragung von Kulturkapital von der Eltern- auf die Kindergeneration zu einem der entscheidenden Mechanismen, über den sich Ungleichheiten und Klassenstrukturen in einer Gesellschaft reproduzieren. Infolge dieser Prozesse haben Kinder von Eltern mit ausgeprägtem inkorporiertem Kulturkapital auch privilegierte Möglichkeiten, Schulbildung als „Zeugnis für kulturelle Kompetenz, das seinem Inhaber einen dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert überträgt“ (Bourdieu 1983: 190), zu erwerben: „Durch den schulischen oder akademischen
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Titel wird dem von einer bestimmten Person besessenen Kulturkapital institutionelle Anerkennung verliehen. Damit wird es unter anderem möglich, die Besitzer derartiger Titel zu vergleichen und sogar auszutauschen, indem sie füreinander die Nachfolge antreten. Durch die Bestimmung des Geldwertes, der für den Erwerb eines bestimmten schulischen Titels erforderlich ist, lässt sich sogar ein „Wechselkurs“ ermitteln, der die Konvertibilität zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital garantiert“ (Bourdieu 1983: 190-191). Die Rentabilität von Bildung – in Augen von Bourdieu ist es ein Produkt der Konvertierung von ökonomischem in kulturelles Kapital – hängt von der Nachfrage nach bestimmten Bildungstiteln auf dem Arbeitsmarkt ab, wo das kulturelle Kapital wieder in ökonomisches Kapital (Einkommen) konvertiert werden kann. Der Wechselkurs zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital hängt aber auch von der Seltenheit von Bildungstiteln ab, der durch die Bildungsexpansion beeinflusst wird. Durch die Inflation von Bildungstiteln wiederum wird die Struktur der Profitchancen verändert, so dass andere Rückwandlungsstrategien notwendig werden, um die Rentabilität von Bildungsinvestitionen abzusichern. Die Umwandlung des ökonomischen in kulturelles Kapital korreliert mit der Dauer von Sozialisation im Elternhaus und von institutionalisierter Ausbildung im Schul- und Berufsbildungssystem. Hierbei ist die Verfügbarkeit von Finanzressourcen von Vorteil, „um die Weitergabe des Kulturkapitals zu ermöglichen und einen verzögerten Eintritt in den Arbeitsmarkt zu gestatten. Das in der Familie verfügbare ökonomische Kapital spielt dabei eine entscheidende Rolle. Der so ermöglichte spätere Eintritt in den Arbeitsmarkt gestattet den Erwerb von schulischer Bildung und Ausbildung – ein Kredit, dessen Ertrag nicht, oder jedenfalls nur auf lange Frist, garantiert ist“ (Bourdieu 1983: 196-197). Wie sieht der Bezug des Begriffs des kulturellen Kapitals zum Humankapital (Becker 1974) aus? Wie gesehen, ist für Bourdieu (1983) das ökonomische Kapital das voraussetzungsvolle und dominante Element für die Sicherung von Sozialstatus und Macht. Wie ökonomisches Kapital ist Kulturkapital ein Mittel für gesellschaftliche Produktion und Reproduktion, das geeignet ist, Reichtum in jeglicher Art zu schaffen und zu akkumulieren. Es bedarf des Bildungskapitals, um Renditen zu erwirtschaften und abzusichern. Vor allem in seiner institutionalisierten Form in Gestalt von Bildungstiteln kommt dem kulturellen Kapital eine besondere Bedeutung für die Reproduktion sozialer Ungleichheit in Gesellschaften zu. Bildungstitel sind – statt wie von der Humankapitaltheorie angenommen, die Produktivität –das Medium für die gesellschaftliche Reproduktion sozialer Ungleichheiten bei den knappen wie begehrten sozialen Positionen und Lebensformen, und die Knappheit von Bildungstiteln machen ihren gesellschaftlichen wie individuellen Wert aus. Bildungstitel garantieren nicht nur monetäre Erträge, sondern symbolische Erträge. Bildungsinvestitionen, die über Vererbung von kulturellem Kapital vonstattengehen, sind Teil einer Gesamtheit von Reproduktionsstrategien und Investitionskalküle zwecks Sicherung von Macht sowie von materieller und kultureller Herrschaft. Bildung und Kultur sind die entscheidenden Medien für die Reproduktion gesellschaftlicher Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse (Krais 1983).
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Strukturen des Bildungssystems und Bildungschancen – Aage B. Sørensen (1941-2001)
Aage Böttger Sørensen wurde am 13. Mai 1941 in Silkeborg (Dänemark) als der älteste von drei Söhnen einer Lehrerfamilie geboren und war zuletzt Professor für Soziologie an der Harvard University und einer der weltweit führenden Forscher in den Bereichen von sozialer Schichtung, Mobilität und Ungleichheit (social stratification) sowie im Bereich der Bildungssoziologie (sociology of education). Er studierte Soziologie an der Universität Kopenhagen (unter anderem bei Kaare Svalastoga) und war 1967 der erste Absolvent mit Master-Abschluss in Soziologie an der Universität Kopenhagen. Danach arbeitete er an der Johns Hopkins University in Baltimore bei James Coleman und Peter Rossi als graduate student und anschließend als research associate des Johns Hopkins Social Accounts Project, eine der ersten großen quantitativen Lebensverlaufstudien. Im Jahre 1971 promovierte er dort in Social Relations mit einer Dissertation über Modelle von Prozessen der Karrieremobilität. Von 1971 bis 1984 war er – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung als Soziologieprofessor an der Universität Oslo – Dozent und Professor an der University of Wisconsin (Lehrstuhl für Soziologie und Institutsleitung von 1979 bis 1982). Im Jahre 1984 wurde Sørensen an die Harvard University auf einen Lehrstuhl für Soziologie berufen, wo er das Soziologie-Department und dessen Forschungs- und Lehrprogramm erneuerte. Bis zu seinem Tode am 18. April 2001 in Boston (Mass., USA) lehrte und forschte er als Ordentlicher Professor für Soziologie an der Harvard University. Ein kurzer Überblick Dass neben dem Einfluss des Elternhauses und der Familie vor allem Schuleffekte bedeutsame Erklärungsfaktoren für Bildungschancen und Bildungserwerb darstellen, ist Konsens unter den Klassikern der Bildungssoziologie. Jedoch unterscheiden sie sich in der Beurteilung des Ausmaßes von Schuleffekten und in der Erklärung anhand von sozialen Mechanismen. Beispielsweise sind sich Coleman (1926-1995) und Pierre Bourdieu (1930-2002) darin einig, dass der familiäre Hintergrund entscheidend für Bildungschancen ist und deutlich mehr an statistischer Varianz für Bildungserfolge aufdeckt als Schuleffekte. Bei den Schuleffekten hingegen unterscheiden sich die theoretischen und empirischen Standpunkte von Coleman und Bourdieu. Während Bourdieu (1982) davon ausgeht, dass Schulen im Grunde genommen Institutionen der sozialen Eliten sind und dass sozial gleiche Lerngelegenheiten wegen sozial ungleicher Lernvoraussetzungen zwangsläufig zu sozialer Ungleichheit von Bildungschancen und zwischen Sozialschichten variierenden Bildungserfolgen führen, geht Coleman in seinen bildungssoziologischen Untersuchungen der Frage nach, ob und in welchem Ausmaß Schulen sowohl zu Leistungsunterschieden als auch zu ungleichen Bildungschancen beitragen. Trotz des eindeutig gewichtigen Einflusses des Elternhauses geht Coleman davon aus, dass Schulen bedeutsame organisatorische Einheiten darstellen, die das Leben und die Lebenschancen von Individuen befördern oder beeinträchtigen können. Gerade im Rahmen des Längsschnittprojektes „High School and Beyond“, aus dem mit der Studie über „High School Achievement“ (1982) der dritte „ColemanReport“ und die bahnbrechenden Studien „Public and Private Schools“ (1987) sowie „Parents, Their Children and Schools“ (1993) folgten, untersuchte Coleman mit seinen Mitarbeitern, was gute von schlechten Schulen unterscheidet und in welcher Weise Schulen dazu beitragen können, bestehende Chancenungleichheiten der Bildung zu verringern. Insbeson-
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dere wurde der Frage nachgegangen, ob Leistungsunterschiede durch Selektion oder durch schulische Sozialisation bedingt werden. Aber wir haben gesehen, dass Coleman für die Beantwortung dieser Frage keine Theorie zugrunde legte, da er eher an schneller Datenauswertung als an der Entwicklung theoretischer Modelle interessiert war. Organisationelle Differenzierung von Schülern und Bildungsgelegenheiten In modernen Bildungssystemen sind unterschiedliche Formen der organisatorischen Differenzierung von Schülerinnen und Schülern anzutreffen, die jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf ihre Bildungschancen haben. Unter organisationeller Differenzierung wird die Trennung der Schülerschaft in dauerhafte Subgruppen von Schulkindern wie etwa Schulklasse, Sektionen, Züge etc. verstanden, die eng verbunden ist mit Unterschieden in Instruierung, Curriculum, und Lernen. Die Existenz von Schulklassen, Klassenstufen etc. definiert formale Bildung im Unterschied zum Lernen und Ausbilden in Familien oder im vorschulischen Bereich. Organisatorische Differenzierung betont den Bezug zu einer formalen Strukturierung der Schülerschaft, die durch Autoritäten im Bildungssystem zwecks spezifischer Instruierung vorgenommen wird. Beispiel ist die (mehr oder weniger leistungsbezogene) Verteilung der Schülerschaft am Ende der Primarschulzeit auf unterschiedliche Laufbahnen in der Sekundarstufe I, die jeweils spezifische Lernkontexte darstellen. Diese Form der organisationellen Differenzierung dient der institutionellen Leistungshomogenisierung von Schulklassen. Die institutionell geregelte Leistungshomogenisierung im mehrgliedrigen Schulsystem trägt neben sozial selektiven Übergängen in die weiterführenden Schulen zu relativ sozial homogenen Schülerschaften in den Schullaufbahnen bei. Das Lernen, das Erbringen und die Feststellung von Leistungen erfolgt in den institutionell vorgegebenen „differenziellen Entwicklungsmilieus“ der Primarstufe und in den „selektionsbedingten Lernmilieus“ der Schularten in der Sekundarstufe I, die selbst wiederum zum Zustandekommen eines bestimmten Lernergebnisses wie etwa Lesekompetenzen beitragen. Schulformen stellen eigenständige Entwicklungsmilieus dar, in denen die Jugendlichen je nach Schullaufbahn unterschiedlich gefördert werden. Dies bedeutet bei einer geringen Durchlässigkeit in der Sekundarstufe I allerdings, dass der Schülerschaft in unteren Laufbahnen in der Sekundarstufe I (etwa den Hauptschülern im deutschen Bildungssystem oder den Realschülern im Schweizer Bildungssystem) anspruchsvolle Lernangebote und für die persönliche Entwicklung förderliche Lernbedingungen vorenthalten werden. Entgegen der Absicht, über eine Zuordnung zu Schullaufbahnen mit unterschiedlichen Curricula die Produktivität und Leistungsfähigkeit der Schulkinder zu fördern, die soziale Ungleichheit der Bildungsmöglichkeiten zu reduzieren, die Effizienz des Schulunterrichts zu fördern und damit eine Leistungshomogenisierung zu erzielen, fördern sie eher (1) Segregation nach sozialer Herkunft und damit Verschärfung primärer Herkunftseffekte, (2) eine sozial selektive Zuordnung zu anregungsärmeren Schullaufbahnen und Lernumwelten und damit eine Demotivierung und sinkende Lernanstrengungen unter diesen Lehr- und Lernbedingungen, (3) systematische Fehler bei der Zuordnung von Leistungsfähigkeiten zu Schullaufbahnen und Lernkontexten, (4) langsamere Entwicklungen in den unteren Schullaufbahnen und damit eine Reproduktion bestehender sozioökonomischer Ungleichheiten über Bildungschancen und Erwerb von Bildungszertifikaten und (5) sozialpsychologische Effekte wie beeinträchtigtes Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstattribution von mangelnder Leistungsfähigkeit und damit Prozesse der Stigmatisierung. Dieser Effekt organisatorischer
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Differenzierung auf Lernen und Bildungserfolg ist vor allem in Bildungssystemen mit einer vertikalen statt horizontalen Differenzierung zu erwarten. Nach Sørensen (1970) erhöhen Selbst- und Fremdselektion in die Schullaufbahnen bestehende Ungleichheiten bei schulischen Leistungen und beim Erwerb von Bildungspatenten aus zwei Gründen: Zum einen erfolgt die Verstärkung der Ungleichheiten durch differentielle Lerngelegenheiten. Zum anderen führt ein vertikales Schulsystem wegen der Korrelation von sozialer Herkunft und lernrelevanten Merkmalen der Schulkinder zu einer Segregation nach sozialer Herkunft. Der Differenzierungseffekt führt bei der Variation von Leistungen zwischen den Schulformen zu einer Verstärkung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung. Folgende Formen der organisatorischen Differenzierung haben Effekte auf die akademische Entwicklung der Schülerschaft, um einen bestimmten Bildungserwerb zu realisieren: 1.
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Angebote des Bildungssystems (inclusiveness): Anzahl der Gelegenheiten, die auf unterschiedlichen Bildungsstufen als verfügbar angesehen werden (z.B. Verteilung eines Geburtsjahrgangs auf die Schulformen oder Verteilung der Geburtskohorte auf Bildungsstufen). Zuteilungsprozeduren (assignment procedures): Zuteilung der Schülerschaft auf Schullaufbahnen oder -klassen (z.B. nach Leistungskriterien), die zu bestimmten Zusammensetzungen von Schulklassen führen, die wiederum Lerngelegenheiten definieren. Vor allem die Wählbarkeit (electivity) einer Schulklasse bzw. die individuelle Entscheidung über den weiteren Bildungsweg am Ende der Primarschulzeit ist eine wichtige Prozedur für die individuelle Platzierung in Lernkontexte. Andere Zuteilungskriterien sind: vorhergehende Performanz (Leistungen), gegenwärtige Leistungen (Prüfung), und direkte Messung von kognitiven Fähigkeiten (IQ-Test). Das Ausmaß, nach denen diese Zuteilungskriterien auf nichtkognitiven Faktoren, die für das Lernen relevant sind, basieren, determinieren den Grad der sozialen Homogenität von Schulklassen in Bezug auf Motivation, Werte und Werthaltungen etc. Das Ausmaß der Homogenität, die die Autoritäten im Bildungssystem über diese Zuteilung herzustellen beabsichtigen, fördert die Selektivität der Zuteilung. Die Korrelation zwischen verschiedenen Determinanten des Lernens und der Selektivität der Zuteilung ist ablesbar an den Variationen von Leistungen zwischen Schulklassen oder an den Variationen von individuellen, für den Lernerfolg relevanten Merkmalen zwischen den Schulklassen. Selektivität der Zuteilung führt folglich zu sozialer Ungleichheit von Lerngelegenheiten und sozialer Ungleichheit von schulischen Leistungen. Der Grad der Wählbarkeit von Schullaufbahn oder Schulklasse führt ebenfalls zu steigender Homogenität in den Klassenräumen – vor allem in Bezug auf Bildungsinteressen und Bildungsaspirationen. Ausmaß der dauerhaften Differenzierung (scope): etwa Dauerhaftigkeit der Zuteilung zu Schullaufbahn oder Schulklasse – je geringer die Dauerhaftigkeit des Verbleibs in einer Schule oder Schulklasse, desto häufiger ändert sich die Zusammensetzung der Schülerschaft in einer Schulklasse.
Welche Effekte haben organisationelle Differenzierungen auf die schulische Leistung? Nach Sørensen (1970: 363) ist hierbei zwischen direkten und indirekten Effekten auf Lernergebnisse zu unterscheiden. Die indirekten Effekte ergeben sich aus dem Einfluss der organisatorischen Differenzierung auf das soziale Lernumfeld der Schüler, etwa die Lehrer
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oder die peers in und außerhalb der Schulklasse. Das Elternhaus bleibt davon weitgehend unberührt, obwohl anzunehmen ist, dass es Einflüsse der organisatorischen Differenzierung auf die erwarteten Bildungserfolge und Bildungsaspirationen der Eltern gibt. Der durchgängige Einfluss des Elternhauses auf die schulischen Leistungen hingegen ist – wie bereits angedeutet – relevant für die Wirkungen der organisatorischen Differenzierung, etwa dafür, ob sich primäre Herkunftseffekte über die organisatorische Differenzierung verstärken und zu grösseren Ungleichheiten von Bildungschancen führen. Des Weiteren ist zu erwarten, dass sich die elterlichen Bildungserwartungen an den Bildungsangeboten, die mit der organisatorischen Differenzierung des Bildungssystems korrelieren, ausrichten. Elterliche Bildungsaspirationen wirken sich auf die schulische Performanz ihrer Kinder aus, und der Grad des Bildungsangebots dürfte den Einfluss des familiären Hintergrunds auf die Bildungserfolge und Leistungen verstärken. Insbesondere in Bildungssystemen mit horizontaler Differenzierung führt die Wählbarkeit von Bildungsmöglichkeiten zur sozialen Selektivität von Bildungschancen und sozialer Homogenität in der Schülerschaft bei. Letztendlich führen diese Zusammenhänge über die sozial selektiven Zuteilungsprozeduren und die daraus resultierenden Zusammensetzungen von sozial und leistungsbezogen homogenen Schulklassen in den höheren Bildungsstufen zu größeren Variationen von Schulleistungen zwischen den Schulklassen bzw. den Schulformen und damit zur sozialen Ungleichheit von Lerngelegenheiten, schulischen Leistungen, Bildungserfolgen und damit auch Bildungschancen. Die sozial selektive Zuordnung – zum Beispiel das ‚tracking‘ oder das ‚streaming‘ – führt über eine Scherenwirkung bei den Bildungsaspirationen und Erfolgswahrscheinlichkeiten zu einer verschärften Differenzierung zwischen Schulklassen unterschiedlicher Zusammensetzung bzw. zwischen Schullaufbahnen. Wie bereits Coleman et al. (1966, 1987) gezeigt hat, verbessern sich die Schulleistungen derjenigen, die in günstige Lernkontexten mit ausgeprägten Bildungsgelegenheiten platziert wurden, während sich die Performanz derjenigen in ungünstigen Lerngelegenheiten mit zunehmender Zeit verschlechtern. Die Ausprägung dieses Prozesses hängt ab von der Wählbarkeit zwischen Lerngelegenheiten, von den Kriterien für Schulwahlen und der sozialen Selektivität der Zuordnung von Schulkindern in Lernkontexte. Je homogener die Schulklassen in Bezug auf nichtkognitive Merkmale sind, die für das Lernen relevant sind, desto größer sind für ein und dieselbe Geburtskohorte die Unterschiede der Leistungen zwischen Schulklassen. Wegen der hohen Bindung zwischen Familienhintergrund (soziale Herkunft) und den verschiedenen Determinanten des Lernens führt eine vertikale Differenzierung zur sozialen Segregation der Schülerschaft hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft. Das Ausmaß dieses Effekts dürfte Sørensen (1970: 371) zufolge auf drei Faktoren des Zuordnungsprozesses (oder auch Selektions- und Filterprozesses beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe) basieren: 1) Wählbarkeit der Schullaufbahn und die Folgen der primären wie sekundären Herkunftseffekte (soziale Homogenisierung nach Leistung mit der Auseinanderentwicklung von Leistung als Folge davon), 2.) Auswahl nach Leistung: Verstärkung primärer Herkunftseffekte über ‚tracking‘ oder ‚streaming‘, und 3.) Anstieg der sozialen Segregation nach sozialer Herkunft mit all den Folgen für Lernerfolge. All diese Effekte verstärken den Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischer Leistung und Bildungserfolg und damit soziale Ungleichheit von Bildungschancen und die soziale Selektivität von Leistungsentwicklungen in und zwischen Schulen. Diese Zusammenhänge werden in Systemen vertikaler Differenzierung noch dadurch verstärkt, dass in den privilegierten Lernkontexten die qualifizierten Lehrer eingesetzt werden, wobei die Erwartungen der Lehrer an ihre Schüler
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ebenfalls durch die organisatorische Differenzierung beeinflusst wird. In vertikal differenzierten Schulsystemen werden die Erwartungen der Lehrer an ihre Schüler die Leistungsunterschiede zwischen den Schulformen und -klassen verstärken. Auch dadurch werden vermittelt über die Selektivität der Zuordnung von Schülern zu Lernkontexten die Leistungsunterschiede zwischen Schulen vergrößert. Daraus schließt Sørensen, dass eine Bildungspolitik hinsichtlich der Herstellung von Chancengleichheit im Bildungssystem die vertikale Differenzierung des Bildungssystems und ihre mit sozialer Herkunft korrelierenden sozialen Mechanismen für die Leistungsentwicklung berücksichtigen müsste. Rekonzeptualisierung der Schuleffekte Was sind eigentlich die kausalen Mechanismen des Lernens in Schulen? Lernen ist ein Prozess in der Zeit, und der Lernbetrag kann anhand der Lernzuwächse (Wissen, Fähigkeiten oder Werte) von Individuen erfasst über Zeitintervalle werden. Nach Sørensen und Hallinan (1977) werden die Lernleistungen von Schülerinnen und Schülern zunächst durch zwei individuelle Variablen hervorgerufen: Fähigkeiten (ability) und Anstrengungen (effort). Allerdings kann Lernen nur dann erfolgen, wenn entsprechende Gelegenheiten für Lernen vorhanden sind. Variationen in diesen Lerngelegenheiten rufen Unterschiede im Lernen hervor, die unabhängig von individuellen Fähigkeiten und Anstrengungen sind. Lehrmethoden, Unterricht, Curriculum, Lehrmaterialien und reine Lernzeiten – also die von Vorbereitung und Disziplinierung unabhängige Vermittlung von Faktenwissen – sind nach Sørensen und Hallinan (1977) entscheidende Faktoren, die Lerngelegenheiten bestimmen. Fähigkeiten, Anstrengung und Lerngelegenheiten rufen Variationen im Lernen hervor. Wie hängen diese Faktoren – Fähigkeiten, Anstrengungen und Gelegenheiten – mit anderen Einflüssen zusammen, die vom Elternhaus, den Mitschülern oder Freunden und der Schule einschließlich ihres Lehrkörpers ausgehen? Wie werden Lernraten durch diese drei Einflussfaktoren bestimmt und wie korrelieren sie mit sozialer Herkunft und signifikant anderen? Die Lernrate wird definiert als: dy (t ) = sdv (t ) , wobei y = Lernen, v(t) = kommunizierter Lernstoff und s = die Konstante aus Fähigkeit und Anstrengung sind. Lernen – genauer die Lernrate y(t) – resultiert aus dem Umfang des präsentierten Lernmaterials. Die Menge des neu präsentierten Lernmaterials ergibt sich aus der Differenz von möglichem Lernstoff v* und dem tatsächlich präsentierten Lernstoff
v(t ) =
dv(t ) = b' [v * −v(t )] , dt
wobei b’ > 0 und b’ ist ein Parameter, der festlegt, wie viel in einer Zeiteinheit unterrichtet wird, und b’ hängt ab von der Menge des möglichen Lehrstoffes:
b' =
−1 § · 1 1 −bt . D.h. v (t ) = v * ¨1 − e v*t ¸ = 1 − e . ¨ ¸ b v* © ¹
(
)
Setzen wir b mit –b’ gleich, dann kann der Lernprozess folgendermaßen definiert werden:
y (t ) =
(
)
s bt e −1 , b
d.h. Leistung hängt von der Zeit ab, von den Lerngelegenheiten und von den individuellen Fähigkeiten und Anstrengungen des Schülers. Lernraten ergeben sich demnach aus: dy (t ) / dt = s + by (t ) .
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Es wird also nach Sørensen und Hallinan (1977) ersichtlich, dass bei gegebenen Fähigkeiten und Anstrengungen das Wachstum der akademischen Leistungen durch die Lerngelegenheiten beschränkt wird, die sich aus dem Unterricht ergeben. Neben den Lerneffekten, die sich direkt auf die individuellen Fähigkeiten und Anstrengungen auswirken, die zu Leistungsunterschieden in der Schülerschaft führen, sind die indirekten Lerneffekte zu unterscheiden, die sich direkt auf die individuellen Fähigkeiten und Anstrengungen selbst auswirken und über einen kompensatorischen Unterricht zu geringeren Chancenungerechtigkeiten im Bildungssystem führen können. In Verbindung mit dem Zusammenhang von sozialer Herkunft und vertikaler Differenzierung von Lerngelegenheiten, den Sørensen in seiner Arbeit aus dem Jahre 1970 modelliert hat, kann ersichtlich werden, wie für altersgleiche Schülerschaften signifikante Leistungsunterschiede zwischen Schulformen oder Schulklassen zustande kommen, die eher bestehende Ungleichheiten nach Lernvoraussetzungen und Bildungsaspirationen über Leistungsdifferenzierung verstärken. Mit anderen Worten: im Unterschied zu Coleman et al. (1966) oder Bourdieu (1982) werden soziale Mechanismen aufgedeckt, die zeigen, wie primäre Herkunftseffekte zu sozial ungleichen Bildungschancen im Bildungssystem konvertieren, wie sie bei Bildungsübergängen sekundäre Herkunftseffekte verstärken und nach dem Bildungsübergang und der sozial selektiven Allokation zu differentiellen Lernkontexten wiederum in primäre Herkunftseffekte transformieren. Damit hat Sørensen (1970) gezeigt, dass Schulen wirken, wie Schulen wirken und warum sie so wirken, und welche Folgen dies schließlich für Leistungsentwicklung und Bildungschancen hat. Wie gesehen hängen nach Sørensen (1970) sowie nach Sørensen und Hallinan (1977) Bildungserfolge nicht nur von individuellen Ressourcen, sondern auch von strukturellen Bildungs- und Lerngelegenheiten ab. Gibt es – wie von Sørensen (1983) behauptet – geschlossene Positionen im Bildungssystem, die erst vakant werden, wenn der vorherige Positionsinhaber sie geräumt hat? Sicherlich können wir davon ausgehen, dass vor allem in den höheren Stufen des allgemeinbildenden und berufsbildenden Bildungssystems, in denen institutionalisiertes ‚tracking‘ erfolgt (etwa gymnasiale Oberstufe), Bereiche mit geschlossenen Positionen bestehen können. Gibt es aber Ausbildungsplätze, die unabhängig von der Nachfrage existieren? Bereiche der gymnasialen Oberstufe, in denen ‚streaming‘ bzw. ‚tracking‘ nach Lerngruppen erfolgt, sind empirische Beispiele dafür. So wird in der gymnasialen Oberstufe des deutschen Gymnasiums nach Leistungs- und Pflichtkursen unterschieden, deren Besetzung nach der Anzahl vakanter Plätze erfolgt. Ein anderes empirisches Beispiel nennen Sørensen und Hallinan (1983) selbst, nämlich die Differenzierung von drei Lerngruppen in den Schulklassen amerikanischer Elementarschulen. In einer späteren Arbeit hat Sørensen (1996) seine mit Hallinan (1977) aufgezeigten Überlegungen mit den „High School and Beyond“-Daten von James S. Coleman empirisch überprüft. Zum einen kann Sørensen (1996) mit differenzierter statistischer Analyse empirische Evidenzen dafür aufzeigen, dass Lernen von individuellen Fähigkeiten und Anstrengungen sowie von Lerngelegenheiten abhängt. Die Leistungsunterschiede, die Coleman und Hoffer (1987) für katholische Privatschulen und öffentliche Schulen festgestellt haben, hängen einerseits in der Tat von unterschiedlichen Lerngelegenheiten ab. Andererseits hängen sie auch von den Fähigkeiten und Motivationen der Schülerschaft in den Schulen ab, die die Schulen zu rekrutieren vermögen. Schließlich gibt es bei gegebenen Lerngelegenheiten einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft der Schülerschaft bzw. dem Ausmaß der sozialen Selektivität in Klassenräumen, Leistungen und Leistungszuwächsen.
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Diese Befunde zeigen – um an die bildungssoziologischen Studien von Coleman anzuschließen – für die Leistungsentwicklung und Bildungschancen, dass auch Schulen den Unterschied machen können. Kurze Gesamtwürdigung „In seinen Beiträgen zur Bildungssoziologie befasste sich Sørensen unter anderem mit den spezifischen Auswirkungen von Schulen auf Schulleistungen, mit dem Verhältnis der relativen Offenheit im Zugang zu Bildung zum Grad interner Differenzierung, mit Leistungsgruppierungen in der Schule, mit den Mechanismen der Verknüpfung von Bildungsabschlüssen und Arbeitsmarktchancen sowie mit formalen Modellen zur Analyse des Wandels individueller Bildungsressourcen und Ausbildungsneigungen im Vergleich zu Auswirkungen des Wandels von exogenen Gelegenheitsstrukturen“ (Mayer 2001: 612). Es ist sicherlich das Verdienst von Aage B. Sørensen, zu dieser bildungssoziologisch relevanten Problematik sowohl theoretische Erklärungen als auch empirische Evidenzen für seine eigenen Modelle vorgelegt zu haben, die auch mit den Coleman’schen Ausgangsüberlegungen kompatibel sind (vgl. Morgan und Sørensen 1999; Sørensen 1996). Sørensen legte als einer wichtigsten Bildungssoziologen unserer Zeit wichtige Beiträge für das Verständnis vor, wie individuelle Leistungen und Bildungserfolge (Hallinan und Sørensen 1977, 1983) sowie berufliche Erfolge und Einkommenserzielung durch organisationelle und soziale Rahmenbedingungen gefördert oder beschränkt werden (Sørensen 1983). Ausgehend von der Soziologie und Ökonomie entwickelte Aage B. Sørensen bahnbrechende Grundlagen und Konzepte, mathematische Modelle und methodologische Techniken, die heutzutage in weiten Bereichen der Bildungsforschung und Sozialstrukturanalyse Anwendung finden (Sørensen 1986). Sørensen (1966) entwickelte unter anderem theoretisch wie methodisch anspruchsvolle Erklärungen für Lernraten in Elementar- und Sekundarschulen. Hierbei verwies er darauf, dass nicht nur individuelle Voraussetzungen und Anstrengungen, sondern Gelegenheiten und Beschränkungen von organisationellen und institutionellen Strukturen des Bildungssystems individuelle Leistungen und Erfolge bestimmen (Mayer 2001).
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Schluss
Dieses Kapitel hat sich einer kleinen Auswahl von „Klassikern“ der Bildungssoziologie gewidmet. Wie eingangs erwähnt, ist diese Auswahl gewiss nicht vollständig. Es ließe sich eine Vielzahl von interessanten Vertretern der empirischen Bildungssoziologie und ihren einfluss- wie aufschlussreichen Werken anführen. Einige von ihnen wurden bereits in den einzelnen Kapiteln genannt – wie etwa Raymond Boudon im Kapitel von Becker über Bildungsungleichheiten oder John W. Meyer im Kapitel von Below über Bildungssysteme oder John H. Goldthorpe im Kapitel von Becker und Hadjar über die Meritokratie. Sicherlich sind hierbei nicht alle Aspekte ihres Wirkens dargestellt. Um sich ein Bild über diese noch aktiven „Klassiker“ zu machen, empfiehlt sich die eigenständige Lektüre ihrer Publikationen. Andere Klassiker sind gar nicht oder wenig erwähnt worden, was nicht als Geringschätzung ihrer Leistungen zu interpretieren ist. Beispielsweise wäre Alan C. Kerckhoff, der 2001 verstorbene emeritierte Professor für Soziologie und frühere Vorsitzende des Department of Sociology an der Duke University (North Carolina, USA), ebenso zu den modernen Klassikern zu zählen wie Ralf Dahrendorf, Helmut Schelsky (1912-1984) oder
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Theodor Geiger (1891-1952). Wenn in diesem Kapitel die Neugier auf diese nicht oder zu wenig behandelten Klassiker geweckt wurde, dann wurde das Ziel des Kapitels erreicht.
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Autorinnen und Autoren
Becker, Rolf, Prof. Dr. phil. habil., Professor für Bildungssoziologie und Direktor der Abteilung „Bildungssoziologie“ am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern, Schweiz. Below, Susanne von, Dr., Referentin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (Referat 115: Internationale Vergleichsanalysen) in Berlin, Deutschland. Diefenbach, Heike, Dr. phil. habil., Scientific Consultant, Writer und Educator, Odiham, Großbritannien. Ditton, Hartmut, Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik, Erziehungs- und Sozialisationsforschung am Institut für Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Deutschland. Grundmann, Matthias, Prof. Dr. phil. habil, Lehrstuhl „Sozialisation, Bildung, Schule“ am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Deutschland. Hadjar, Andreas, PD Dr. phil. habil., Privatdozent und Oberassistent an der Abteilung „Bildungssoziologie“ am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern, Schweiz. Hecken, Anna Etta, lic. phil. hist., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement für Erziehung und Kultur (Generalsekretariat) des Kantons Thurgau in Frauenfeld, Schweiz. Herzog, Walter, Prof. Dr. phil. habil., Professor für Pädagogische Psychologie und Direktor der Abteilung „Pädagogische Psychologie“ am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern, Schweiz. Hillmert, Steffen, Prof. Dr. phil. habil., Professur für Soziologie mit den Schwerpunkten Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse am Institut für Soziologie der Universität Tübingen, Deutschland. Konietzka, Dirk, Dr. phil. habil., Akademischer Oberrat an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, Deutschland. Lauterbach, Wolfgang, Prof. Dr. phil. habil., Lehrstuhl für Sozialwissenschaftliche Bildungsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam, Deutschland.
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Rolf Becker
Müller, Walter, Prof. em. Dr. Dr. h.c., PhD. h.c., ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Methoden der empirischen Sozialforschung und angewandte Soziologie sowie ehemaliger Direktor des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) an der Universität Mannheim, Deutschland. Pollak, Reinhard, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Nationales Bildungspanel: Bildungsetappe Weiterbildung und Lebenslanges Lernen“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Deutschland. Reimer, David, Dipl. Soz., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) an der Universität Mannheim, Deutschland. Schindler, Steffen, Dipl. Soz., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) an der Universität Mannheim, Deutschland. Solga, Heike, Prof. Dr., Direktorin der Abteilung „Ausbildung und Arbeitsmarkt“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Professur für Soziologie mit Schwerpunkt Arbeit, Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Freie Universität Berlin, Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI), Deutschland. Weil, Mareike, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialwissenschaftliche Bildungsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam, Deutschland.