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Die Frage nach Gott oder Göttern ist der Ursprung von Philosophie und Theologie, bildet ein zentrales Thema von Kunst und Literatur und selbst die Naturwissenschaften wären nicht das, was sie heute sind, wenn sich über den »Allmächtigen« nicht streiten ließe. Man denke nur an Einsteins Bonmot »Gott würfelt nicht«, mit dem er in der Auseinandersetzung mit Niels Bohr der Quantenmechanik die Zufälligkeit austreiben wollte. Wie sicher ist also Gottes Existenz? Lenkt er unser Leben? Oder klafft dort, wo von ihm die Rede ist, eine inhaltslose Lücke? Karsten Krampitz und Uwe von Seltmann schaffen mit diesem Buch ein Novum, das so naheliegend wie originell ist: Sie bieten ein Forum, in dem nicht nur eine »Partei« zu Wort kommt, sondern in dem die schillernd bunte Meinungsvielfalt der Gläubigen, Zweifler und Ungläubigen ihren Ausdruck findet. Ob in Form eines spitzzüngigen Essays, eines berührenden Schicksalsberichts, einer sachlichen Analyse, einer witzigen Anekdote oder einer kunstvollen Erzählung, immer geht es darum: Was hat Gott mit mir, dem Menschen, zu tun? Eine Sinnsuche der besonderen Art.
Leben mit und ohne Gott Herausgegeben von Karsten Krampitz und Uwe von Seltmann
Leben mit und ohne Gott BEITRÄGE ZUR INNEREN SICHERHEIT Herausgegeben von Karsten Krampitz und Uwe von Seltmann
Herbig
Die Herausgeber danken Annegret Grimm und Konstanze Kriese für ihre Hilfe. Ohne sie hätte es diesen Sammelband womöglich nicht gegeben.
Besuchen Sie uns im Internet unter www.herbig-verlag.de
Nachweis der zitierten Literatur: S. 12f.: Hanns Dieter Hüsch: Religiöse Nachricht. In: Hüsch, Hanns Dieter/ Miro, Jean: Das kleine Buch zwischen Himmel und Erde, S. 16f., 2008/6 © tvd-Verlag Düsseldorf, 2000. © 2010 F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel Schutzumschlagmotiv: akg-images, Berlin Satz: Ina Hesse Gesetzt aus: 11,25/14,14 pt. Minion Druck und Binden: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-7766-2645-2
Inhalt
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Hanns Dieter Hüsch Religiöse Nachricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Burkhard Müller Das Konzept Gott – warum wir es nicht brauchen . . . . . . . . . . 14
Axel Noack Noch nicht zu Hause, aber schon geborgen . . . . . . . . . . . . . . . 30
Heinrich Missalla Welt ohne Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Donata Rigg Die Sprache der Fische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Sibylle Sterzik Gott, der Supermarktdetektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Matthias Vernaldi Spiegeleien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Andreas Krenzke Abenteuer im Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Henryk M. Broder Woran ich glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Arzu Toker Allah kam nicht mit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Markus Liske Vor der Himmelstür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Karsten Krampitz Im Nachtasyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Christoph Ludszuweit Zur »Ehe« von Feuerstuhl und Kanzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Christine Preißmann Draußen ohne Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Bodo Ramelow 42 oder wie ich lernte, die Weisheit der Computer zu lieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Claudia Schattach Gefallene Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Armin Pfahl-Traughber Das Scheitern der Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Lea Ackermann So leben, als gäbe es Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Michael Schmidt-Salomon Sind Atheisten die besseren Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Walter Homolka Durch Wissen zum Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Tilmann Moser Aus der Arbeit eines Psychoanalytikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Gita Neumann Tod und letzte Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Caritas Führer Leben ohne Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Frieder Otto Wolf Zwei Überlegungen zur Gottesfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Manfred Lütz Der Atheismus aus christlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Fiona Lorenz Gott gibt es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
Karl Giebeler Oma Bertha geht heim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Stefan Seidel Zwischen den Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Alexander Garth Kein Gott – eine gute Nachricht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Jakob Hein Wirklichkeitserschließung – Sinnsuche – Gottesfrage . . . . . . 210
Uwe von Seltmann »Ach Gottchen, sprach Lottchen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Horst Groschopp Ein ostdeutscher »Volksatheist« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Harald Krille Jenseitsvertröstung oder Diesseitströstung? . . . . . . . . . . . . . . . 237
Johanna Martin Hat es je einen Mann ohne Mutter gegeben? . . . . . . . . . . . . 240
Angelika Obert Herausgerufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Manja Präkels Im Trüben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Vorwort der Herausgeber
er großartige Matthias Beltz bemerkte einmal: »Die einen sagen, dass Gott existiert, die anderen, dass Gott nicht existiert. Die Wahrheit wird, wie so oft, in der Mitte liegen.« Inzwischen wird der 2002 verstorbene Kabarettist die Antwort kennen. Auf die Frage nach Gott gibt es nicht wirklich einen Kompromiss. Entweder ist er der Schöpfer oder selbst eine Schöpfung – eine literarische Erfindung und nicht mehr als die auf den Himmel projizierte menschliche Sehnsucht. Unabhängig davon aber ist das Bedürfnis nach Transzendenz etwas zutiefst Menschliches, ist doch der Homo sapiens das einzige Wesen, das seine Existenz gedanklich überspringen kann. Der Mensch will wissen, warum er auf Erden ist und was danach kommt. Gerade in unserer – durch Internet, Computer, Handy etc. – rationalisierten Zeit empfinden viele Leute eine irrationale Leere, ein Bedürfnis nach Spiritualität. Sie sehnen sich nach Halt und Geborgenheit, nach Trost und Zuversicht. Gleichzeitig laufen den Kirchen die Mitglieder davon. Und die, die noch zum Gottesdienst gehen, glauben sie wirklich oder spekulieren sie nur? All die Beamten im Talar, könnten sie nicht genauso gut auch Versicherungen verkaufen? Was weiß die Kirche von seelischer Not? Was wissen wir? Ohne die Frage nach Gott oder Göttern würde es keine Philosophie und keine Theologie geben, in den Bibliotheken stünden viele Regale leer. Von daher verwundert es, dass es bei der Vielzahl religiöser und antireligiöser Literatur bislang – zumindest im deutschen Sprachraum – keinen Sammelband gibt, in dem
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beide Seiten zu Wort kommen. Genau darum geht es in diesem Buch. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger. Zwei Jahre lang haben wir, die Herausgeber, gläubige und nichtgläubige Autoren um Essays gebeten. Warum nicht um und über Gott streiten? Was uns wiederum verwundert hat: Es war kein Problem, sogenannte Ungläubige zum Schreiben zu bewegen, aber unter den sogenannten Gläubigen herrscht offensichtlich eine große Sprachlosigkeit. Zahlreiche Angefragte aus beiden großen Kirchen haben nicht einmal auf das Anschreiben geantwortet; sie hatten nicht das Kreuz, an diesem Projekt mitzuwirken. Immerhin wurde uns für unser Vorhaben des Öfteren bischöflicher Segen zuteil. Von den Kirchenoberen in den Ring gestiegen ist aber nur Axel Noack, der evangelische Altbischof aus Magdeburg. So kommt es, dass sich auf den vorliegenden Seiten vor allem eine engagierte Kirchenbasis dem Dialog mit führenden Vertretern des neuen Atheismus in Deutschland stellt. Vor diesem Hintergrund, aber auch in Anbetracht drängender irdischer Probleme wie weltweiter Armut, Umweltzerstörung und religiös motivierter Auseinandersetzungen in vielen Regionen der Erde zieht sich außerdem eine andere Frage einem roten Faden gleich durch dieses Buch: Halten wir einander aus? Am Ende des Projekts waren wir selber erstaunt: Die Gläubigen erzählen meist sehr persönlich von ihrem Leben mit Gott und lassen uns auch an ihren Zweifeln teilhaben. Der Zweifel gehört offensichtlich zum Glauben wie das Amen zum Gebet. Promovierte und habilitierte Ungläubige üben sich hingegen häufig in den unterschiedlichsten Theorien – und glauben vielleicht nur, dass sie nicht glauben. Manchmal scheint es sogar, als würden sich beide Seiten ergänzen, als würden sich – in der Sprache des Historischen Materialismus – eine christlich-jüdische Basis und ein atheistischer Überbau nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch befinden: »Gott sei Dank, dass ich Atheist bin«. Hinzu kommt eine dritte Gruppe: Einige Autoren, die nicht so recht 10
sagen können, ob und an wen sie glauben, dafür beim Schreiben aber einen Heidenspaß hatten. Das Vergnügen, dass die Autoren uns Herausgebern beim Lesen ihrer Texte bereitet haben, wünschen wir jetzt auch den Lesern dieses Buches. Ob Gott nun existiert – auf diese Frage gibt es auch hier keine letztgültige Antwort. Doch eines scheint sicher: »Wenn es keinen Gott gäbe, so müsste man ihn erfinden« (Voltaire). Karsten Krampitz, Uwe von Seltmann Klagenfurt und Krakau im August 2010
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Hanns Dieter Hüsch
Religiöse Nachricht
Als die Nachricht um die Erde lief, Gott sei aus der Kirche ausgetreten, wollten viele das nicht glauben. »Lüge, Propaganda und Legende«, sagten sie, bis die Oberen und Mächtigen der Kirche sich erklärten und in einem sogenannten Hirtenbrief Folgendes erzählten: »Wir, die Kirche, haben Gott, dem Herrn, in aller Freundschaft nahegelegt, doch das Weite aufzusuchen, aus der Kirche auszutreten und gleich alles mitzunehmen, was die Kirche immer schon gestört hat. Nämlich seine wolkenlose Musikalität, seine Leichtigkeit und vor allem Liebe, Hoffnung und Geduld. Seine alte Krankheit, alle Menschen gleich zu lieben, seine Nachsicht, seine fassungslose Milde, seine gottverdammte Art und Weise, alles zu verzeihen und zu helfen – sogar denen, die ihn stets verspottet; seine Heiterkeit, sein utopisches Gehabe, seine Vorliebe für die, die gar nicht an ihn glauben, seine Virtuosität des Geistes überall und allenthalben, auch sein Harmoniekonzept bis zur Meinungslosigkeit, seine unberechenbare Größe und vor allem seine Anarchie des Herzens – usw. … Darum haben wir, die Kirche, ihn und seine große Güte unter Hausarrest gestellt, 12
äußerst weit entlegen, dass er keinen Unsinn macht und fast kaum zu finden ist.« Viele Menschen, als sie davon hörten, sagten: »Ist doch gar nicht möglich! Kirche ohne Gott? Gott ist doch die Kirche! Ist doch eigentlich gar nicht möglich! Gott ist doch die Liebe, und die Kirche ist die Macht, und es heißt: ›Die Macht der Liebe!‹ Oder geht es nur noch um die Macht?!« Andere sprachen: »Auch nicht schlecht, nicht schlecht; Kirche ohne Gott! Warum nicht Kirche ohne Gott!? Ist doch gar nichts Neues, gar nichts Neues! Gott kann sowieso nichts machen. Heute läuft doch alles anders. Gott ist out, Gott ist out! War als Werbeträger nicht mehr zu gebrauchen.« Und: »Die Kirche hat zur rechten Zeit das Steuer rumgeworfen.« Doch den größten Teil der Menschen sah man hin und her durch alle Kontinente ziehn, und die Menschen sagten: »Gott sei Dank! Endlich ist er frei. Kommt, wir suchen ihn!«
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Burkhard Müller
Das Konzept Gott – warum wir es nicht brauchen
or etlichen Jahren habe ich das Buch Schlussstrich – Kritik des Christentums verfasst, das darauf beharrte, das Christentum sei nicht etwa in seiner historischen Praxis, sondern von Grund auf, als Idee, falsch. Und ich hatte es unternommen, dieses Falsche als Widerspruch aus ihm selbst hervorzutreiben.Von dem, was ich damals gesagt habe, will ich auch nichts zurücknehmen. Doch in zwei Punkten würde ich heute über das damals Gesagte hinausgehen. Zum einen möchte ich nicht mehr den angriffslustigen Ton von damals anschlagen. Das Buch entstand Anfang der Neunzigerjahre, als ich noch in Würzburg wohnte, einer Hochburg des katholischen Christentums, das, wohlhabend und machtbewusst, durchaus zum Zorn reizen konnte. Seit nunmehr dreizehn Jahren lebe ich im neuen Osten Deutschlands, wo rund 80 Prozent der Bevölkerung das Christentum nicht einmal mehr als Gerücht kennen, wo es als Ausnahme und nicht als herrschende Regel auftritt und wo man Gelegenheit hat, die Wahrheit des alten Sprichworts zu bedenken: Es kommt nichts Besseres nach. Zum anderen scheint mir das institutionell und dogmatisch gebundene Christentum, wie es seinen Ausdruck im Wortlaut der Heiligen Schrift und, bündiger noch, im Credo findet, an Boden zu verlieren – nicht nur vor einem tumben und potenziell gewalttätigen Fundamentalismus, wie er sich im Islam und in der religiösen Rechten Amerikas abzeichnet; sondern hierzulande besonders vor einem gedanklich oft recht verwaschenen, gefühlhaften Eklektizismus. Ich setze mich daher hier nicht mit
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einem theologischen Lehrgebäude auseinander. Stattdessen will ich dem religiösen Bedürfnis, auch und gerade in seiner diffusen Gestalt, auf den Zahn fühlen und an die Wurzel gehen, was bedeuten muss: das Konzept Gottes daraufhin befragen, ob es praktisch das leistet, was von ihm erwartet wird. Denn an Gott glaubt man nicht, weil er einem bewiesen worden wäre. Alle Gottesbeweise, die von Philosophen und Theologen die Jahrtausende hindurch geführt worden sind, haben das Missliche an sich, dass ein Beweis sich nur auf das Verhältnis bestehender Dinge beziehen kann, Gott aber als das, was allen Verhältnissen vorausgeht, außerhalb, jenseits des Beweisbaren steht. Die Beweise tragen denn auch sämtlich den Charakter des Nachträglichen, sie wirken wie dünnes Furnier auf einem sehr dicken Stück Holz. Der Glaube an Gott, wo er nicht nur dem unbefragten Herkommen entspringt, erfordert einen spontanen Akt seitens der Gläubigen, den diese selbst als einen solchen des Vertrauens, ihre Widersacher als einen der Willkür zu bezeichnen pflegen; der aber in jedem Fall einem Bedürfnis entspringt. Gott wird geglaubt, weil sich mit diesem Glauben die Erwartung verbindet, einen bestimmten Wunsch erfüllt, ein bestimmtes Problem gelöst zu bekommen. Was sind das für Bedürfnisse und wie vermag Gott ihnen zu entsprechen? Zunächst einmal müssten wir uns natürlich darüber verständigen, wer oder was dieser Gott überhaupt wäre – nicht im Sinn einer Definition oder theologischen Zuspitzung, sondern nur, damit wir nicht aneinander vorbeireden. Ich würde sagen: der personale Urgrund der Welt. Im Christentum wird das meist so ausgedrückt, dass Gott der Schöpfer sei. Darin sind seine zwei wichtigsten Bestimmungen enthalten: Erstens, dass er von der Welt substanziell getrennt ist – im Gegensatz zu pantheistischen Vorstellungen, die ihn wie ein feines Fluidum überall darin ausgegossen finden und die doch, wie Goethe zu Recht bemerkt hat, nichts anderes darstellen als eine höfliche Form des Atheismus. Zweitens, dass die Welt trotz dieser Trennung vollständig 15
auf ihn bezogen bleibt; damit scheiden die Götter des Epikur, die in den zwickelförmigen Zwischenräumen der kugelrunden Welten hausen und sich um nichts bekümmern, hier ebenso aus wie das Konzept des Theismus, das Gott als den Uhrmacher sieht, welcher die Welt einmal gebaut und aufgezogen hat und seither sich selbst überlässt. Fraglich wäre auch, inwiefern der deus absconditus, der verborgene Gott, der seine Beliebtheit über den Gräueln der Moderne erworben hat und sich paradoxerweise gerade durch seine Abwesenheit beglaubigen soll, in dieser Betrachtung noch seinen Platz fände oder ob man ihn, ebenso wie den Gott der Theisten, am besten als eine Art Rentner des Kosmos beiseiteschiebt. Bleiben wir bei dem, was das klassische Christentum ebenso wie der dogmatisch unbelastete Zeitgenosse meinen, wenn sie »Gott« sagen. In Gott also meint man etwas zu finden, was die augenscheinliche Welt schmerzlich vermissen lässt. Das Bedürfnis danach muss sehr alt sein, vielleicht so alt wie die Menschheit; denn Hinweise auf Religiosität finden sich noch in den Spuren der ältesten Kultur. Wer sich als Atheist versteht, muss sich sagen lassen: Du bist wieder gerade so weit wie die Tiere, bevor in ihren Köpfen etwas zu dämmern begann – hältst du das wirklich für einen Fortschritt und alle Menschheitsgeschichte bloß für einen verworrenen Umweg, der von der stumpfen reinen Physik nur ausgeht, um schließlich wieder zu ihr zurückzukehren? Es fällt nicht ganz leicht, diese Frage zu bejahen. Und welche Qualitäten sind es, die Gott zugeschrieben werden, um den großen menschlichen Durst zu stillen? Ein notwendig etwas grober Katalog könnte lauten: Gott liefert die Erklärung für die Welt, wie sie ist, die sonst völlig unerklärlich bliebe; Gott ist der Garant des Guten, im Herzen des Menschen ebenso wie im Weltlauf insgesamt; Gott als der Ewige, nichts und niemand sonst, stellt sich der bestürzenden Nichtigkeit der Zeit entgegen. Dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts, ist das große Wunder überhaupt. Alle weiteren Merkwürdigkeiten, bis hin zum 16
Dasein der Lebewesen und des Menschen, treten dahinter als dessen bloße Modifikationen zurück. Die Welt schreit nach einer Begründung und Erklärung. Denkt man jedoch darüber nach, wird man feststellen, dass diese Sehnsucht auf eine ganz grundsätzliche Weise unstillbar bleiben muss; denn begründen, erklären heißt ja nichts anderes, als zwei Fakten miteinander in Beziehung zu setzen, das eine als Folge, das andere als dessen Voraussetzung. Aber wo stammt nun wiederum diese Voraussetzung her? Die Erde ruht auf dem Rücken eines Elefanten, sagen die Hindus; deswegen fällt sie nicht ins Bodenlose. Bloß wo steht der Elefant? Na, auf dem Panzer einer noch größeren Schildkröte. Und die Schildkröte? Sie fußt auf den Ringen einer ungeheuren zusammengerollten Schlange. Und die Schlange? Wenn man diesen Punkt erreicht habe, sagt der alte Spötter Bertrand Russell, bekomme man von dem frommen Hindu zu hören: Wechseln wir das Thema! Russell lächelt darüber, weil die Hindus das Wesen der Schwerkraft nicht erkannt haben, die eben nicht schlechterdings nach unten wirkt, sondern ins Zentrum der anziehenden Masse und darum die freie Schwebe des Erdballs ermöglicht. Aber wo käme denn die Schwerkraft her und wie übt sie ihre Wirkung aus? Dem ist die moderne Wissenschaft noch keineswegs näher gekommen; ja gerade die Schwerkraft zeigt sich gegenüber allen Reduktionsversuchen ausgesprochen widerständig. Sie tut, was sie immer tat: sich dem Betrachter als ein unbewegliches, unaufhellbares, primäres Faktum zu präsentieren. Bis hierhin geht es und nicht weiter. Oder, wie es im Faust heißt: »Der Philosoph, er weiß es nicht zu fassen, / Da liegt der Fels, man muss ihn liegen lassen«, mit dem bitteren Nachsatz: »Zuschanden haben wir uns schon gedacht.« Und selbst wenn es weiterginge – was wäre gewonnen? Alle avancierten wissenschaftlichen Modelle gewähren nichts als eine Atempause, bevor es hinabgeht zur nächsten Schraubenwindung des unendlichen Regresses, zum nächsttieferen Riss in der ewigen Laufmasche, die nirgends stoppen 17
kann. Alles, was ist, will erklärt werden, und jede Erklärung dreht sich auf dem Absatz um und bietet sich als neues Rätsel dar. Hier nun scheint es sich sehr zu empfehlen, dass man festsetzt: Es war Gott, der die Welt erschuf. Damit hebt die Heilige Schrift an. Welche Aufgabe fällt dabei Gott zu? Er soll den unendlichen Regress der Fragen zum Stillstand bringen. Aber das vermag er letztlich nur dadurch, dass er als das begriffgewordene Frageverbot auftritt. Gott ist, was nicht weiter begründet werden muss und erklärt werden kann, was da ist. An Gott glauben heißt, das so haben wollen; Gott lieben, es als Erleichterung zu empfinden. Nimmt man die Sache aber einmal nicht psychologisch, sondern logisch und ökonomisch, so wird man bemerken, dass man dasselbe Ergebnis bedeutend preiswerter haben könnte: Man sieht Gott nicht, man muss eigens Mut zum Unsichtbaren fassen und ihn glauben. Das kostet Kraft. Bliebe man beim Sichtbaren und wäre man bereit, dessen starre Majestät anzuerkennen und auf sich beruhen zu lassen, so hätte man es ebenfalls mit der Unzugänglichkeit des Urrätsels zu tun, jedoch bei deutlich geringerem Aufwand an Ehrfurcht und Behauptungsenergie. Wer an Gott glaubt, findet, genau genommen, nicht nur eine unerklärte Grundtatsache vor, sondern gleich deren drei: zunächst Gott selbst; dann den von ihm ausgehenden Schöpfungsimpuls (denn warum sollte der Erhabene sich zu dieser kleinteiligen Bastelei herablassen?); und schließlich das Missverhältnis des vollkommenen Urhebers zu einem Produkt, das hängt und klemmt an allen Enden. Platon hat das Problem, dass ein vollkommener Gott die unvollkommene Welt geschaffen haben soll, gespürt und die Zwischeninstanz seines Demiurgen eingeführt, des Handwerkers, dem die Schaffung der Welt von Gott übertragen wurde – das heißt, die Frage hierarchisch, gewissermaßen auf dem Dienstweg, überspielen wollen. Funktionieren kann es nicht. 18
Um Gott vor solchen Verlegenheiten zu retten, hat man die unsrige die »beste aller möglichen Welten« genannt, was doch schon deshalb eine unhaltbare Behauptung darstellt, weil wir zum Vergleich keine Möglichkeit haben; schlüssiger hat Schopenhauer sie als die schlechteste aller möglichen bezeichnet; denn, so argumentiert er, wäre sie nur ein kleines bisschen schlechter, so wäre sie schon gar nicht mehr möglich. Betrachten wir sie in Ruhe, als solche, ohne jenen unfruchtbaren Drang, den Nietzsche als »Hinterweltlertum« verspottet, nämlich den Wunsch, unbedingt herauszufinden, was denn hinter der Welt steckt, als wäre sie eine flache Kulisse. Dann können wir uns mit ihrem Dasein, so wie sie ist, zufriedengeben. Das Lateinbuch, mit dem ich unterrichte, behauptet: Wer emporblickt zu den Sternen, leugnet nicht, dass es Gott gibt. Aber warum sollten dem Betrachter nicht die Sterne genügen? Ihre Sphären sind über jede Vorstellung hinaus gigantisch, sie überdauern uns und sie schweigen. Darin gleichen sie dem, was man sich gemeinhin unter Gott vorstellt, vollständig. Sie machen ihn als bloße Dublette ihrer Majestät entbehrlich. Erweisen wir uns ihres großen Schweigens als würdig, indem wir ihnen, so gut wir können, mit unserem kleinen Schweigen antworten. Rätselhaft sind sie; aber ein kompaktes Rätsel, ein einziges. Mit noch weniger dürfen wir nicht rechnen. Übrigens ertragen nicht nur die Gläubigen, sondern auch die Wissenschaftler dieses Schweigen nicht; sie wollen es unbedingt durch einen Urknall ersetzen. Vorher soll nichts gewesen sein, nicht Raum, nicht Zeit, dann entfaltet sich alles in einem expansiven Akt von ungeheurer Tragweite. Und wir sollen darüber hinaus nicht fragen dürfen, woher er kam: Das vor allem hat die These vom Urknall mit dem alten Gott gemeinsam. Wie gut oder schlecht die Mathematik und die empirischen Daten sind, mit denen hier gearbeitet wird, kann ich nicht sagen; es genügt mir zu sehen, welch gieriges Bedürfnis der Urknall befriedigt, um überzeugt zu sein, es mit einem reinen theologischen Fan19
tasma zu tun zu haben – unbesonnener als die eigentliche Theologie, da es nicht weiß, was es tut und dass es zu nichts führt, wenn man die Welt innerhalb der Welt herleiten will. Gott erklärt nichts; er erklärt weniger als nichts, da seine Annahme größere Probleme mit sich bringt, als wenn man gar nichts annähme. Das Staunen war der Geburtsakt der Philosophie: Warum war diese samt allem, was sich später aus ihr ergab – der Naturwissenschaft besonders –, so erpicht darauf, es um jeden Preis wiederum zum Verschwinden zu bringen, als wäre es in letzter Instanz ihre spiegelbildliche Pflicht, auch den Sterbeakt des Staunens anzubahnen? Ich schlage vor, das Staunen so stehen zu lassen, wie es in die Welt kam: Befriedigender wird doch kein anderer Affekt ausfallen, der die Erkenntnis begleitet. Betrachten wir, zweitens, Gott als den Grund des Guten. Das heißt zunächst einmal, dass er der Garant der Ethik wäre. Er habe die Ethik durch den Erlass entsprechender Gebote gestiftet, er wache über ihre Einhaltung und er urteile am Ende der Zeiten oder des individuellen Lebens über jeden Einzelnen nach ihrer Maßgabe (wobei allerdings, da die Menschen notwendig hinter diesen rigorosen Forderungen zurückbleiben müssen, auch die göttliche Gnade noch ihre Rolle spielt). Inwieweit Ethik ein spezifisch menschlicher Besitz und eigens von Gott eigens für die Menschen eingesetzt wäre, soll hier nicht näher ausgeführt werden; mir scheint jedoch, dass deutliche Ansätze zu ihr bereits unter sozial lebenden Tieren zu finden sind. Interesse verdient vor allem ein Punkt: dass die Möglichkeit sittlichen Verhaltens an die Aussicht aufs Gericht gebunden wäre und dass das Richtige keine Chance hätte, auch getan und geachtet zu werden, wenn es nicht von der höheren Instanz als richtig markiert und sanktioniert würde. Eine solche Sittlichkeit unterschiede sich in nichts vom Strafrecht. Die Guten, heißt es, tun das Gute aus Liebe zum Guten, die Bösen aus Angst vor Strafe. Nur die zweite Gruppe wird vom Strafgesetzbuch ins Auge gefasst, beziehungsweise es werden von ihm alle Menschen 20
prophylaktisch als Bösewichter betrachtet. Das ist soweit in Ordnung, den Guten widerfährt damit kein Unrecht. Auch sie hängen in ihrer Lebensführung zuletzt davon ab, dass man die Bösen an die Kandare nimmt, in der vernünftig-kühlen Form eines Wenn-dann-Konstrukts, das aber am Ernst des »Dann« keinen Zweifel lässt. Nun stellen die Fälle, von denen das Strafrecht handelt, sicher den harten Kern dessen dar, was jede Ethik regeln muss. Mit der eigentlichen Ethik hat es dennoch nichts zu tun. Die ethisch wertvolle Handlung trägt ihren Lohn in sich selbst, sie hofft nicht auf Belohnung und fürchtet sich nicht vor Strafe. In diesem Sinn begründen die Heiligen Schriften keine Ethik; wer nur deswegen das Verlangte tut und das Verpönte unterlässt, weil er Himmel und Hölle im Auge hat, bleibt ein spekulativer Egoist, nichts weiter. Eine Ethik, die sich durchs Gericht beglaubigt, ist praktikabel, aber als Ethik wertlos. Mit nur geringer Überspitzung ließe sich sagen: Eine Affenmutter, die ein fremdes Affenkind adoptiert (was gar nicht so selten vorkommt), handelt, da sie in ihrem Hirn für das Konzept eines richtenden Gottes keinen Platz hat, ethisch wertvoller als ein Gläubiger, der das Gute Gottes wegen tut. Zugunsten des Gläubigen will ich allerdings annehmen, dass ihm das Gute von Natur aus jedenfalls nicht ferner liegt als einem Affen und dass er sich selbst missversteht, wenn er glaubt, seine natürliche Güte auf Gott schieben zu müssen. Hier angelangt, kommt man, fürchte ich, um das alte Thema der Theodizee nicht herum. Der Vollständigkeit halber muss ich auch davon sprechen, obwohl ich auf diesem gut durchgearbeiteten Feld nicht hoffen kann, Neues zu sagen. Albert Camus hat das Problem in den knappen Satz gefasst: Entweder ist Gott gut, dann ist er nicht allmächtig; oder aber er ist allmächtig, dann ist er nicht gut. Ältere Religionen, das Judentum zum Beispiel, können sich mit einem ambivalenten Gott zufriedengeben, der in sich Raum auch für das Düstere und selbst Böse hat – man denke an den Engel des Todes, den Jehovah über Ägyp21
ten schickt, um alle Erstgeburt zu würgen. Dies ist jedenfalls nicht der Gott, den das Christentum voraussetzt; sein Gott ist die Liebe. Damit stellt sich die Schwierigkeit ein, dass es auf der Welt so unübersehbar viel Hass gibt. Wie konnte Gott Auschwitz zulassen? Darauf wird es keine Antwort geben, bei der Gott als solcher, als Gott, ungeschoren davonkäme. Auf Gottes unerforschlichen Ratschluss sollte man sich da freilich nicht hinausreden; an diesem Ratschluss, wenn es denn der Gottes wäre, mag alles dunkel sein – kristallklar tritt daran doch die Tatsache hervor, dass Gott, der seinen Geschöpfen solches hat widerfahren lassen, sie nicht geliebt haben kann. Es wäre besser für uns und auch für ihn, es gäbe ihn nicht und es wäre alles bloß einfach passiert, wie wenn sich die Menschheit versehentlich den Finger in der Schublade der Geschichte eingeklemmt hätte. Denn wenn man derartige Geschehnisse in Zusammenhang mit einer vorausgesetzten Ordnung der Welt zu bringen sucht, vermehrt man den physischen Schmerz, der ist, was er ist und schließlich, so oder so, vergeht, um den unstillbaren metaphysischen; man bleibt fassungslos, rettungslos auf das Geschehene bezogen. Schwer bleibt die Last der Welt in jedem Fall – aber sie würde doch um so vieles leichter, wenn man sie, statt nach einem Sinn in ihr zu suchen, einfach als einen Unfug auffassen dürfte. Dabei ist der Hass, die Bosheit der Historie noch keineswegs das Schlimmste, worauf man in der mutmaßlichen Gotteswelt stößt. Diese Dinge nämlich kann man sich immer notfalls als Entartung deuten, als Überschuss und Ausnahme, als das traurige, aber nicht naturnotwendige Resultat einer metaphysischen Freiheit, in die Gott den Menschen entlassen hat – wozu auch die Möglichkeit gehört, sich für das Verkehrte zu entscheiden. Ob ein Schöpfer, der sein Geschöpf so geschaffen hat, dass es sein Heil auch verscherzen kann, nicht in Wahrheit ein grausames Spiel mit ihm treibt, sei hier nicht näher untersucht, obwohl diese Frage die Mühe lohnen würde. 22
Stattdessen will ich den Blick auf die vor-ethische, vor-menschliche Einrichtung der Welt lenken. Alles animalische Leben erhält sich ausschließlich dadurch, dass es unausgesetzt anderes Leben vernichtet. Dass ein davon verschiedenes Modell auch funktionieren kann, beweisen die Pflanzen, die sich im buchstäblichen Sinn von lauter Licht und Luft ernähren. Warum hätte Gott uns und die rund eine Million anderen Tierspezies aber so erschaffen, dass wir, um überhaupt länger als ein paar Tage zu bestehen, unbedingt mindestens Pflanzen töten müssen, oft genug aber andere Tiere? Das bloße Wort »Nahrungskette« lässt erschauern, weil sich in ihm das Fressen und Gefressenwerden, von Glied zu Glied hinauf, als das System der Welt überhaupt ausspricht, vom Einzeller über den Wurm über den Singvogel bis hin zu dem, was wir uns schließlich als Braten munden lassen. Jedes Tier, sagt Nietzsche, ist das wandelnde Grab Tausender anderer. Die belebte Welt ist ein höllisches Wunderwerk. Hyänen fangen schon an, sich die Steaks einzuverleiben, während ihre Beute noch vor ihnen davonrennt. Gottesanbeterinnen reißen ihrem männlichen Partner noch während der Kopulation den Kopf ab und beginnen ihn zu verspeisen. Viele Schlupfwespen lähmen eine Raupe durch gezielten Stich in einen Nervenknoten, legen ihr Ei ab und haben vorgesorgt: Ihre Larve wird den bewegungslosen, doch immer noch lebendigen und auf diese Weise stets frisch gehaltenen Körper nach und nach von innen auffressen – und wenn sie Pech hat, wird sie dabei das Opfer einer anderen Schlupfwespenart, die ihrerseits ihr eigenes Ei in die Larve legt, so dass, wie bei der Puppe in der Puppe, drei Wesen ineinanderliegen: die ursprüngliche Raupe, gefolgt von Wespenlarve A, gefolgt von Wespenlarve B. Schließlich schlüpft B, zur fertigen Imago herangereift, aus der doppelten Opferhaut, lässt auch die eigene alte Haut zurück und beginnt den Zyklus von Neuem. Hyperparasitismus heißt dieses erstaunliche Phänomen. Dies, wie gesagt, ist nicht sadistischer Exzess, sondern 23
lebensnotwendige Regel kompletter Arten und Gattungen. Ist das Gottes Welt? Alte Paradiesesvorstellungen malen sich gern aus, wie in der erlösten Welt der Löwe friedlich neben dem Lamm liegen wird. Das mag ein Ideal der Lämmer sein; der Löwe aber muss dabei zugrunde gehen, da er, anders als das Lamm, Grünfutter, das es im Paradies ausschließlich gibt, nicht verträgt. Um Abstand davon zu nehmen, Lämmer zu fressen, müsste er aufhören, ein Löwe zu sein. Löwen sind aufs Grundsätzlichste nicht erlösungsfähig. Sind Menschen es? Unsere anatomische Ausstattung, unser Allesfressergebiss spricht dagegen, noch bevor wir beginnen, uns als ethisch-historische Wesen mit den dazugehörigen fantasievollen Spezialgräueln zu definieren. So erweist sich das Konzept Gottes als untauglich, die beiden Bedürfnisse nach dem Grund der Welt und nach dem Grund des Guten zu stillen. In beiden Fällen sind wir besser dran, wenn wir auf Gott verzichten. Dies nun lässt sich vom dritten und stärksten Bedürfnis, aus dem die Idee Gottes geboren wurde, nicht sagen; hier Verzicht zu üben, ist nicht ohne großen Schmerz möglich. Gott, der ewige Gott, wird gedacht als das einzige Bollwerk gegen die absolute Nichtigkeit, den Nihilismus der Zeit. Dass ihm Ewigkeit zugeschrieben wird, hat ja nicht etwa zu bedeuten, er sei einfach ohne Anfang und Ende, unsterblich wie die antiken Götter und ungeburtlich noch obendrein; sondern dass er und alles, dem er diese Gnade gewährt, der Zeit überhaupt enthoben ist. Des Schreckens der Zeit werden wir, auch ohne besondere Neigung zur Philosophie, unausweichlich an unserer Sterblichkeit inne. Alle Erfahrung lehrt, dass der Mensch eine Zeit lang lebt, dann einem plötzlichen Unglück oder einem in die Länge gezogenen Alterungsprozess erliegt, sein abgelebter Körper verfällt und schließlich nichts mehr von ihm übrig ist. Wozu, um alles in der Welt, war es dann gut, dass er überhaupt gelebt hat? Wie es Goethes Mephisto auf so teuflisch klare Weise sagt: 24
Vorbei! ein dummes Wort. Warum vorbei? Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei! Was soll uns denn das ew’ge Schaffen! Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen! »Da ist’s vorbei!« Was ist daran zu lesen? Es ist so gut, als wär’ es nicht gewesen … Mit dieser Erklärung bekennt er sich am deutlichsten als der Widersacher Gottes, der er ist. Gibt es keinen Gott, behält er recht. Das Nihilistische an der Zeit geht noch weit über die Erfahrungstatsache der ausnahmslosen Sterblichkeit aller Menschen hinaus; das Menschenleben ist, wie Jean Améry es ausgedrückt hat, das stets vergebliche Projekt, der Bau eines Hauses, das pünktlich zum Richtfest abgerissen wird. Wenn wir hierüber erschrecken, wie wir es doch müssen, öffnet sich das Tor zu einer noch schlimmeren Erkenntnis. Der Raum hält ja für uns kein eigentliches Rätsel bereit, wenigstens keines, das über die Rätselhaftigkeit der Welt überhaupt hinausginge; er ist ausdehnungsgleich und kategorial grundsolidarisch mit der Materie, die in ihm west. Wozu aber verhielte sich die Zeit in vergleichbarer Weise? Zu – nichts. Auch sie waltet natürlich über den Stoff; doch über alles, was in sie eintritt, verhängt sie den bösen Zauber der Auflösung. Die scheinbar festesten Gebilde, zum Beispiel unser identisches Ich, geraten in einen Zerstäuber und verwandeln sich in den ungewissen Nebel der Erinnerung und den noch ungewisseren dessen, was wir planen. Die Philosophie spricht von der Zeit als einer apriorischen Kategorie, die klassische Physik erblickt den gleichförmigen Zahlenstrahl am Werk (und was die moderne Physik daraus macht, danach fragen wir hier am besten gar nicht). Das alles hat mit der Zeit, wie wir sie erleben, wenig zu tun. In Bezug auf uns stellt sie sich vielmehr als eine Chimäre dar, als ein Ungeheuer, das sich aus den drei ganz verschiedenen Lei25
bern der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft fügt. Die Vergangenheit ist nicht mehr da, sie steht scheinbar deutlich vor uns, aber in unberührbarer Ferne; die Zukunft noch nicht, sie liegt als ein wesenloser Dunst in der Luft; beide, auf ihre je spezifische Weise dem gestaltenden Zugriff entzogen, sind eben darum irreal. Die Gegenwart aber bildet nur ein infinitesimal kurzes Stück vom linearen Verlauf, kaum da, ist sie schon wieder vorüber, ein bloßer Wendepunkt der beiden anderen Nichtigkeiten; auch ihr lässt sich das Prädikat der Existenz eigentlich nicht zusprechen. Wir existieren nur in der Zeit – und gerade durch sie existieren wir nicht. Am besten wäre es da vielleicht, wenn wir, wie die Tiere, einfach vergäßen, um wenigstens unsere Gegenwart zu verewigen. Aber auch das geht nicht. Man kann sich das Vergessen nicht vornehmen, denn gerade im Vorsatz nistet die Erinnerung. Zeit rinnt dahin, sie fließt uns entgegen, passiert uns, fließt davon. Wo aber wären die vielen Tropfen dieses Rinnsals aufgehoben? Denn irgendwo müssen sie ja stecken! Die Zeit, die auch als vergangene noch wirklich wäre: Hier eben kommt Gott ins Spiel als die große Zisterne der Geschichte. Ihn so zu sehen, heißt ihn noch majestätischer zu entwerfen, als er es bloß als Schöpfer der Welt und Hort des Guten wäre; denn es wird ihm hier ein Vermögen zugeschrieben, von dem wir auch nicht den Hauch einer Anschauung haben können. Am ehesten manifestiert sich dieser ewige Gott als der richtende; denn als solcher muss er unendliches Gedächtnis sein. Dass es ein Gericht gebe »am Ende der Zeiten«, soll nicht nur der Idee des Guten Geltung verschaffen, sondern fast mehr noch die Gewissheit spenden, dass keine vergangene Stunde in Wahrheit der Vernichtung zum Opfer gefallen ist; sie bleibt aufgehoben in einem treuen Vorrat. Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, ewiges Leben: Die sonst ganz sinnlose, durch Sterben und Geburt vermittelte Abfolge der Geschlechter bekommt so ihren Sinn, nämlich den, dass durch solchen Schichtdienst der 26
Menschheit eine unvergleichlich größere Zahl von Seelen des Heils teilhaftig werden können, als wenn Adam und Eva samt ihren Kindern einfach niemals hätten sterben müssen. Die Geschichte, sonst nichts als ein wildes Heer aus jagenden Wolken, gewinnt so den Hintergrund eines Himmels, der ihre unbeständigen Figuren festhält wie eine Fotografie. Es gibt ein Lügenmärchen des Barons Münchhausen, worin er erzählt: An einem bitterkalten Wintertag sei er mit der Postkutsche über Land gereist, der Postillion habe ins Horn gestoßen und seine Lieder gespielt – aber kein Ton davon sei aus dem gefrorenen Horn zu hören gewesen. Oft und oft habe der Postillion es versucht und es endlich, niedergeschlagen, aufgegeben. Schließlich erreichen sie die nächste Poststation und treten ein, um sich aufzuwärmen; das Posthorn wird an einen Nagel nahe beim Ofen gehängt. Und wie es warm wird, beginnt es auf einmal alle jene Lieder zu spielen, die vorher, eingefroren, nicht hatten erklingen wollen; jetzt füllen sie, ganz von allein, die geheizte Stube. Nach dem Vorbild dieses Gleichnisses muss man es sich wohl denken, wenn der Frost der Zeiten auftaut zur Ewigkeit, süß im Unverlorenen und doch ganz anders. Es wäre wunderbar, wenn das zuträfe, statt dass man halb schon zu Lebzeiten und ganz im Tod ins bodenlose Nichts fiele. Im Unterschied zu den beiden anderen Punkten muss man hier sagen, dass Gott, wenn es ihn gäbe, dieses letzte Bedürfnis tatsächlich befriedigen würde. Doch welches Unterpfand hätten wir dafür, dass es so ist? Denn man hüte sich, von der Stärke des eigenen Wunsches auf eine entsprechende Wahrheit zu schließen. Nicht das kleinste Zeichen haben wir bekommen, dass die so heiß begehrte Wiederbringung und Auferstehung auch wirklich stattfinden wird. Ein paar (aber insgesamt doch erstaunlich wenige) derartige Fälle werden im Neuen Testament gemeldet – kaum ein unumstößlicher Beweis in den Augen eines Unvoreingenommenen. Und in den Text selbst 27
hat der Argwohn Eingang gefunden, es wären am Ende die Jünger gewesen, die Jesu Leichnam gestohlen haben. Es wäre so schön. Es wäre auch für den Verdurstenden schön, wenn sein Durst die Oase herbeizwänge. Aber ob diese existiert oder nicht, ist leider vom Durst ganz unabhängig. Das Äußerste, was der Durst selbsttätig zu erzeugen vermag, ist die Fata Morgana. Als diese, als Wahngestalt, steht Gott am Horizont der Menschheitsgeschichte. Im Gegensatz zu den Gläubigen aller Richtungen pflegen die Atheisten kaum organisiert und mit Nachdruck aufzutreten. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen haben sie sich, nach den heroischen Gründerjahren, in ihren Ansichten durch die Fortdauer der Religionen weniger bedroht und beunruhigt gefühlt als umgekehrt die Religionen durch den Atheismus – sollte doch jeder nach seiner Façon selig werden. Dann schien lange, in Europa wenigstens, die Zeit für den Atheismus zu arbeiten. Statt sich in nutzlosen Wortgefechten mit Uneinsichtigen zu verzetteln, konnte man ja auch einfach warten, bis deren Position von selbst zerbröselte und verfiel, gleichsam der historischen Schwerkraft folgend. Diese goldenen Zeiten gehen aber jetzt vielleicht zu Ende; und es werden in Zukunft möglicherweise wieder, wie schon einmal, die Atheisten sein, die der Gesellschaft über ihren Standpunkt Rechenschaft zu geben haben; das heißt, wenn es dann noch Diskussionen geben wird und nicht an deren Stelle abgestufte Zwangsmaßnahmen treten. In jedem Fall kommt es mir inzwischen nicht mehr überflüssig vor, den Atheismus neu zu munitionieren, damit er angesichts einer anwachsenden neuen Religiosität nicht völlig nackt dasteht. Denn eines dürfte klar sein: Wenn es hart auf hart geht, werden die Atheisten diejenigen sein, die ohne höheren Beistand auszukommen haben. Sie haben keinen Gott, keine heiligen Urkunden, es wird ihnen nichts versprochen, wofür es sich lohnte, sich so blind ins Zeug zu legen, wie es ein wahrer Gläubiger vermag – sie müssen sich schon 28
ganz auf ihre Argumente verlassen. Wer glaubt, muss sich zwar mit mehr Energie ins Zeug legen als sein Widerpart, mit Einsatz der ganzen Person; aber es kommt ihm dabei sein Wille zugute. Wer etwas nicht glaubt, scheint es leichter zu haben, als wer es glaubt; dafür hat, wer etwas nicht will, es weit schwerer als die, die es wollen. Seid wachsam, Atheisten!
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Axel Noack
Noch nicht zu Hause, aber schon geborgen Was mein Glaube mir bedeutet
ie Rede von Gott in unserer Zeit muss sich zwei besonderen Schwierigkeiten stellen. Am Abend des Tages wird deutlich werden: Jede Rede von oder über Gott wird irgendwann einen persönlichen Bezug haben müssen, wenn sie nicht leer und abstrakt bleiben will. Irgendwann gehören solche Sätze wie »Ich glaube …« oder »Ich kann nicht glauben, dass …« oder »Ich würde gerne glauben können …« dazu. Das kleine Wörtchen »ich« lässt sich am Ende nicht vermeiden. Das wusste schon Altmeister Bert Brecht, wenn er von seinem Herrn Keuner erzählt: »Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: ‚Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.’« Freilich, und das bezeichnet dann genau die zweite Schwierigkeit unseres Redens von Gott: In der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gelten Sätze mit Bekenntnischarakter leicht anstößig. Glaubensfragen scheinen heute eher in den Intimbereich zu gehören, und so manchem Zeitgenossen fällt es leichter, über seine Sexualität zu sprechen als über seinen Glauben. Denn in der Tat kennen wir auch die aufdringliche, jedes Sachargument im Keim erstickende und für die Zuhörer oft genug peinliche Rede vom eignen Glauben.
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Wer heute fromm redet, macht sich leicht lächerlich oder gerät unter Fundamentalismusverdacht. In seinem berühmten Buch Manieren hält Dr. Asfra-Wossen Asserate daher fest: »Das Bekenntnis ,Ich bin ein Christ’ werden die Manieren noch gestatten, wenn auch widerstrebend, denn Bekenntnisse sind nicht so recht nach ihrem Geschmack. Was die Manieren wahrscheinlich verbieten, ist das Werben für den Glauben, das Missionieren, das den Christen aber ganz ausdrücklich aufgegeben ist.« Eingedenk dieser beiden grundsätzlichen Schwierigkeiten rede ich nun über meinen Glauben und hoffe es so zu tun, dass sich niemand bedrängt oder in seinem eignen Nicht-Glauben gekränkt fühlt. Mein Verdienst ist es nicht, dass ich glaube. Glauben können ist ein Geschenk, zu dem Eltern, Großeltern, Lehrer, Pfarrer und Freunde zwar an gewichtiger Stelle, am Ende aber nur bedingt beitragen können. Freilich soll man solches Zutun nicht unterschätzen und jeder kann sich glücklich preisen, der schon in der Kindheit mit praktisch gelebtem Glauben in Berührung kommen konnte. Wenn man überhaupt vom »Glauben lernen« reden kann, dann eignet sich am besten der Vergleich mit dem Erlernen einer Sprache: Am leichtesten und intensivsten lernen wir unsere Muttersprache und eigentlich passiert das so ganz nebenbei und ohne Lehrbücher und Computerkurse. Wenn die Eltern vorsprechen, sprechen die Kinder bald mit. Viel schwerer ist es, eine Fremdsprache zu erlernen. Vor allem gilt: Ein bestimmter Sprachkurs, der dem einen wunderbar geholfen hat, funktioniert bei einem anderen gar nicht. Es gibt also kein gültiges Rezept. Aber wahrscheinlich wird auch für das Erlernen einer Fremdsprache zweierlei gelten dürfen: Erstens, ich muss es wirklich wollen und ich muss mich anstrengen. Zweitens, besser als alle Lehrbuchtheorie ist die praktische Übung, am besten in einer Gegend, wo die Sprache im Alltag gesprochen wird. Beide »Regeln« gelten auch für das Erlernen der Sprache des 31
Glaubens bei denen, die sie erst als Erwachsene, also als »Fremdsprache« erlernen. Eine Garantie gibt es freilich nicht. Und nebenbei: Für Pfarrerinnen und Pfarrer zählt die Frage von Menschen, die gerne glauben würden, es aber irgendwie – trotz redlicher Bemühung – nicht schaffen, warum nun gerade sie nicht das Geschenk des Glaubens erhalten, zu den größten seelsorglichen Herausforderungen. Mit flotten Sprüchen ist da nicht geholfen. Glauben und Gottvertrauen sind nicht nur eine Angelegenheit des Kopfes. Zur verstandesmäßigen Kenntnis muss die praktische Einübung kommen: Eine Sprache lernt man eben auch durch eigenständige Betätigung, durch Selbersprechen. Kirchen und Religionen bieten dazu gute Hilfestellung an. Durch Feste und Feiern, durch die Einteilung des Tages, der Woche und des Jahreskreises. Durch ein Engagement für eine »Kultur der Unterbrechung« des Alltags, beispielsweise durch den Schutz des Sonntags. Die Alltagsvernunft scheint eine Reihenfolge nahezulegen: Erst muss ich glauben, dann kann ich auch Choräle singen, beten und mich segnen lassen. Die Wirklichkeit sieht aber sehr anders aus. Wie viele Menschen, die zu keiner Kirche gehören und sich selbst als ungläubig bezeichnen, singen – besonders in Ostdeutschland – in unseren Chören. Die Zahl der sogenannten »Konfessionslosen«, die sich mit großer Energie für den Erhalt, die Renovierung oder den Wiederaufbau ihrer Dorfkirche einsetzen, geht allein in unserer mitteldeutschen Landeskirche in die Tausende. Das Wunder der Dresdner Frauenkirche erleben wir heute an ungezählten kleinen unbekannten Orten. Glauben erlernt man – oder auch nicht – am besten im Vollzug: Mitsingen, Mitbeten, Pilgern, Sich-segnen-lassen usw. sind zunächst äußere Formen von großer innerer Wirkung. Schwierigkeiten haben damit allenfalls diejenigen kirchlichen Mitarbeiter, die zu sehr auf das kirchliche Innenleben orientiert sind. Die Kameraden der Feuerwehr, die Jäger des Schützenvereins, die Biker 32
oder die Handwerkerinnungen haben hingegen in der Regel überhaupt keine Probleme damit, dass man für sie Gottesdienste abhält, für sie und ihre Tätigkeit betet und sie und ihre Arbeit segnet. Was bewirkt der Glaube denn nun praktisch? Mein Glaube hilft mir ganz konkret in meinem alltäglichen Leben. Deshalb ist nach meiner festen Überzeugung Hilfe zum Glauben immer auch Hilfe zum konkreten Leben. Ich möchte an dieser Stelle nun einige Punkte anführen, in denen mein Glauben in meinem Leben immer wieder praktisch wirksam wird:
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Gottesfurcht treibt Menschenfurcht aus oder begrenzt sie wenigstens deutlich. Das ist eine alte Erkenntnis: Wer Gott fürchtet, also »gottesfürchtig« ist, hat weniger Angst vor Menschen. Ungezählte Belege für Christen im Widerstand gegen unmenschliche Verhältnisse durch die ganze Geschichte hindurch begründen genau diese Tatsache. Dass es auch in der DDR so viele Christen waren, die sich nicht einfach anpassten und mitliefen, ist für mich kein Zufall. Der Glaube macht mutiger. Das gilt selbst dann, wenn wir ehrlicherweise auch von Versagen und Ängstlichkeiten im Blick auf Christen und Kirchen sprechen. Immunisierung gegen »Dammbruchtheorien«. Der Glaube sieht in jeder Situation eine Gestaltungsaufgabe. Er immunisiert gegen die Resignation und alle, die sagen: »Das hat doch alles keinen Zweck mehr.« Wer das Kreuz Christi vor Augen hat, sieht nicht weg, wenn es schwierig wird. Mein Glauben währt dem Fatalismus. Die nur allzu bekannte Sorge um die Zukunft wird vom Glauben qualifiziert. Sie wird zur Neugier auf das, was Gott mit mir, mit uns und seiner Welt noch alles vor hat. Meine Dankbarkeit hat eine Adresse. Auch das ist eine alte Erkenntnis: Wer dankbar sein kann, hat ein besseres Verhältnis zu den Dingen. Wer sein Leben, sein Ein- und Auskommen, 33
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seine natürliche Umwelt und die Menschen an seiner Seite als Gabe Gottes sehen kann, wird sie (hoffentlich!) pfleglicher behandeln. Die Dankbarkeit ist eine Lebenshaltung, die Ressourcen schont. Ehrlichkeit mit mir selbst. Wer ehrlich mit sich selbst ist, wird schnell die Differenz wahrnehmen, die zwischen seinem »Wollen« und seinem »Vollbringen« liegt. Wir haben dafür viele gute Ausreden. »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« ist eine der bekanntesten. Ich habe mit mir und anderen die Erfahrung gemacht, dass mir oft genug gerade dann eine Tatkraft, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte, erwächst, wenn ich es schaffe, mein Zurückbleiben hinter meinen eigenen Grundsätzen ehrlich zuzugeben. Mein Glaube und mein Vertrauen in Gottes Güte geben mir immer wieder Kraft für einen Neuanfang und helfen mir, an meiner eignen Unzulänglichkeit nicht zu verzweifeln. Mein Ruf in der Not kennt einen Namen. Es ist besser zu rufen »Herr, hilf, ich geh unter!«, als nur schreien zu können: »Hilfe, ich versinke!« Wenn ich glaube, ist es selbstverständlich, dass ich mich in allen möglichen Nöten an Gott wenden kann. Orientierung für mein Tun auf dieser Erde. Wenn ich davon überzeugt bin, dass am Ende gilt: »… und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein« (Offenbarung 21,4), dann kann ich nicht so falsch liegen, wenn ich jetzt schon mal mit dem Tränenwischen beginne. Mit anderen Worten: Aus meinem Glauben an die Zukunft Gottes und dieser Welt erfahre ich eine Ausrichtung für mein gegenwärtiges Tun. Die Tatsache, dass ich mich um Menschen kümmere, die unter die Räder zu kommen drohen oder gekommen sind, ist eine unmittelbare Folge meines Glaubens. Geborgenheit auch über mein Sterben hinaus. Ganz wichtig für mich ist die Überzeugung, dass mein Glauben über dieses 34
Leben hinausreicht. Und das hat schon mit dem Leben auf dieser Erde zu tun. Ich möchte ganz viel von diesem Leben erwarten, aber eben nicht alles. Bei aller Freude, die mir das Leben bereitet, möchte ich denken und sagen: »Das Beste kommt noch!« Was früher manchmal auf Grabsteinen zu lesen war, kann ich gut nachvollziehen: »Hier liegen die Gebeine von N.N. und warten auf die fröhliche Auferstehung!« Freilich, ob mein Glaube trägt, auch wenn ich sehr krank werde und es an mein Sterben geht, kann ich nur hoffen. Wissen werde ich es erst viel später. Als mich die ehrenvolle Anfrage zum Schreiben dieses Beitrages erreichte, nämlich am 12. Februar 2010, lautete die Herrnhuter Losung für diesen Tag: »Wir haben einen Gott, der da hilft, und den Herrn, der vom Tode errettet« (Psalm 68,21). Dem brauche ich nichts hinzufügen.
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Heinrich Missalla
Welt ohne Gott?
or etwa 1500 Jahren hat Augustinus, Bischof von Hippo, geschrieben: »Was sollen wir von Gott sagen? Wenn du nämlich etwas aussagen willst und du hast es in Worte gefasst, dann ist es nicht Gott. Wenn du etwas begreifen konntest, dann hast du statt Gott etwas anderes begriffen. Wenn du so begreifen konntest, hast du dich in deinem Denken getäuscht. Das ist er nämlich nicht, was du begriffen hast. Wenn er es aber ist, hast du ihn nicht begriffen. Wie also willst du aussprechen, was du nicht begreifen konntest? Gott kann nicht einmal das Unsagbare genannt werden, weil auch dann bereits etwas gesagt wird …« Für die christliche Theologie war es immer selbstverständlich, dass menschliches Denken und Sprechen Gott nicht gewachsen sind. Wäre es darum nicht angemessener, von Gott zu schweigen, als ihm durch unsere Sprache Gewalt anzutun? Versuchen wir mit unserer Rede über Gott die hier eindeutig aufgewiesenen Grenzen zu überschreiten? Schon der Prediger im 3. Jahrhundert v. Chr. mahnt: »Gott ist im Himmel, und du bist auf Erden; darum lass deiner Worte wenig sein.« (Kohelet 5,1) Elie Wiesel hörte von seinem Vater: »Du bist anmaßend, mein Sohn. Du willst Gott kennen: Kennst du dich denn schon selbst?« Aber auch wenn wir Gott nicht kennen – allein die Existenz dieses Wortes ist eine Provokation. Die Herkunft des Wortes »Gott« ist unbekannt, und dem, der nur auf klare Begriffe und präzise Definitionen aus ist, sagt es nichts mehr. Die jetzige Gestalt des Wortes spiegelt das wider, was mit dem Wort gemeint ist: der »Unsagbare«, der »Namenlose«, der nicht in die benannte Welt als ein Moment an ihr einrückt. Diese nicht definierbare Wirklichkeit mag deutlicher oder undeutlicher, leiser oder lauter
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redend gegeben sein, sie ist da als Ruf und Signal, mindestens aber als Frage, die nicht zur Ruhe kommen lässt und die dem Menschen eine innere Bewegung zumutet. Das Wort »Gott« – so sagt Karl Rahner – überanstrengt uns, es mag uns gereizt machen ob der Ruhestörung in einem Dasein, das den Frieden des Übersichtlichen, Klaren, Geplanten haben will. Wenn man die Unterscheidung von informativer und performativer Sprache anwenden will, dann gilt: Von Gott kann und soll in performativer Weise gesprochen werden. Das Wort »Gott« eröffnet und stiftet Wirklichkeit, indem es wirkt, Veränderung und neue Beziehungen, Umkehr und Erneuerung schafft. Beim Rückblick auf mein Leben hätte ich allen Grund, mit dem Psalmisten »Gott« zu danken, dass er mich behütet und mein Leben begleitet hat. Doch je älter ich werde, umso mehr bedrängt mich die Frage, warum zum Beispiel mein Klassenkamerad als Luftwaffenhelfer neben mir sterben musste, warum mein Freund aufgrund eines simplen Abzählvorgangs an die Ostfront abkommandiert wurde und gleich in den Tod gefahren ist, während ich an der Westfront überlebt habe. Warum befinde ich mich auf der Sonnenseite des Lebens, während Millionen andere ohne eigenes Verschulden eher dahinvegetieren? Ich verstehe immer mehr und besser, dass viele Menschen nicht an einen (liebenden) Gott, eine göttliche Vorsehung und an ein göttliches Weltregiment glauben können. Auch in der Bibel ist der Glaube an Gott nicht selbstverständlich. Sie ist voller Geschrei nach einem Gott, der schweigt und den Menschen alleinlässt. Das beginnt mit dem Schreien des Blutes des ermordeten Abel (Genesis 4,10) und endet mit dem Schrei der Frau, die im letzten Buch der Bibel als Zeichen am Himmel erscheint (Apokalypse 12,2). Mose und das Volk schreien fast ununterbrochen zum Herrn; die Propheten schreien, die Beter der Psalmen schreien, Ijob sitzt in der Asche und schreit und Jesus stirbt mit einem Schrei auf den Lippen (Markus 15,37). Und wer nicht willentlich die Augen und Ohren 37
verschließt, weiß um die millionenfachen Schreie der Opfer von Unrecht und Gewalt bis in unsere Tage. Und fast immer treffen Naturkatastrophen die Ärmsten der Armen. Nach wie vor gilt das Wort des Propheten Habakuk: »Wie lange, Herr, soll ich noch rufen, und du hörst nicht? Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht (…) Warum siehst du also den Treulosen zu und schweigst, wenn der Ruchlose den Gerechten verschlingt?« (Habakuk 1,2; 1,13). Ijob wagt schließlich nach langem Leiden und vergeblichem Rufen zu sagen: »Ich glaube nicht, dass er auf meine Stimme hört« (9,16). Angesichts der Geschichte und der realen Situation der Menschheit ist es kaum vertretbar, von einer »Heilsgeschichte« zu sprechen und in dem bekannten Lied lobend zu singen, dass Gott »so herrlich regieret«. Nach Nietzsche ist »der Vater« in Gott gründlich widerlegt; ebenso »der Richter«, »der Belohner«: »Er hört nicht – und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu helfen. Das Schlimmste ist: Er scheint unfähig, sich deutlich mitzuteilen; er ist unklar! – dies ist es, was ich als Ursachen für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist – dass er aber gerade die christliche Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt.« Die Aussage von Georg Büchner in Dantons Tod bleibt unwiderlegt: Das Leid ist der »Fels des Atheismus«. Und darüber hinaus bleibt die Frage, was es denn mit dem Menschenleben auf diesem winzigen Gebilde Erde im Universum auf sich hat, die vor Milliarden von Jahren entstand und in etlichen Millionen Jahren durch den Kältetod untergehen wird. Der Schrei des heimkehrenden Soldaten in Wolfgang Borcherts Stück Draußen vor der Tür bleibt unbeantwortet: »Gibt denn keiner, keiner Antwort?« Doch so fragil die Lehre von einem Gott auch sein mag, wenn Gott nicht »ist«, dann bleibt nur absolute Leere. Dann fehlt dem Reden von der Würde des Menschen nicht nur die entscheiden38
de Begründung, dann haben auch die Gewalttäter, die Frevler, die Spötter das letzte Wort, das Unrecht hätte gesiegt. Wenn kein Gott ist, ist das Leben absurd. Unübertroffen beschreibt Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft eine Welt ohne Gott: »Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?« Gegen die Erfahrung vom Schweigen und der scheinbaren Ohnmacht Gottes steht die trotzig klingende Behauptung »Gott muss sein!«, steht die Forderung, es müsse ein Gericht geben und eine letzte Konfrontation des Menschen mit sich und seiner Geschichte. Biblischer Glaube weigert sich, dem Tod das letzte Wort zuzuerkennen. Er kennt und lebt eine Solidarität, die auch die Toten, die Vergessenen, die Namenlosen einbezieht und als von Gott Aufgenommene behauptet. Ohne die Würde, die aus der Unsterblichkeitsvorstellung abgeleitet wird, fehlt dem Tötungsverbot die höchstmögliche metaphysische Begründung. Der Kampf um die Menschenwürde verbietet den leichtfertigen Verzicht auf die Metaphysik. Wir kennen den Text aus Karl Marx’ Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« Marx hat insofern recht, als zumindest der jüdisch-christliche Glaube ein einziger Protest gegen das Elend, gegen das Unrecht und gegen die Missachtung des Menschen ist, aber auch damit, dass »Religion« als 39
Opium benutzt und eingesetzt werden kann. Wie die Propheten hat Jesus gegen eingeschliffene religiöse Vorstellungen ebenso protestiert wie gegen die Vorstellung einer pyramidenförmig strukturierten Herrschaft und Macht als Maßstab gesellschaftlicher Geltung. »Ihr wisst, dass die über die Völker zu herrschen scheinen, sie unterjochen … Nicht so bei euch: Wer bei euch groß sein will, soll Diener aller sein« (Markus 10,42–44). Der Weg dessen, der Gott in dieser Welt zu repräsentieren behauptet, stellt alle gesellschaftlichen und religiösen Vorstellungen infrage, die den Menschen demütigen, klein halten oder auf ein besseres Jenseits vertrösten. Und die sich in der jungen christlichen Gemeinde versammelt haben, sind – wie im ersten Brief an die Korinther zu lesen ist – nicht die Einflussreichen und Mächtigen, sondern die kleinen Leute, die Unscheinbaren, die Randexistenzen; sie bilden als Anhänger des Gekreuzigten die AntiElite. Eine der zentralen christlichen Glaubensaussagen nennt Gott denjenigen, der sich »für uns Menschen und um unseres Heiles willen« engagiert habe. So sehr diese Botschaft unseren Erfahrungen zu widersprechen scheint und durch den faktischen Zustand der Welt infrage gestellt wird – christlicher Glaube gibt allen Enttäuschungen zum Trotz die Hoffnung nicht auf, dass Gott das letzte Wort haben wird, auch wenn solche Hoffnung keinen Anhalt in unseren Geschichtserfahrungen hat. Wenn Gott – so der Prophet Jesaia – »bei den Zerschlagenen und Bedrückten« ist (57,15); wenn Jesus nicht nur sagt, dass er den Armen eine gute Nachricht bringe, den Gefangenen die Entlassung verkünde und die Zerschlagenen in Freiheit setze« (Lukas 4,18), sondern dass er bei den Hungernden, den Fremden, den Obdachlosen, den Kranken und Gefangenen zu finden ist (Matthäus 25,35 ff.), dann kann der Platz derer, die sich an Jesus orientieren und ihm folgen wollen, nur an der Seite der Bedrängten, Armen und Ohnmächtigen sein. Die Frage nach der wahren Gotteserkenntnis wird in den heiligen Schriften der Juden und Christen anders als in der griechischen Philosophie beantwor40
tet, und diese Antwort ist auch nicht schlechthin identisch mit dem, was der Katechismus sagt. »Dem Schwachen und Armen verhalf er zum Recht. Heißt nicht das, mich wirklich erkennen? – Spruch des Herrn« (Jeremia 22,16). Es gibt »keine Gotteserkenntnis im Land. Nein, Fluch und Betrug, Mord, Diebstahl und Ehebruch machen sich breit …« (Hosea 4,1f.). »Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer« (Hosea 5,6). Der Erweis der Gotteserkenntnis ist erst dann erbracht, wenn kein Unrecht mehr geschieht. Denn es gibt keine Gotteserkenntnis ohne die gelebte Praxis. »Jahwe erkennen« heißt ihn anerkennen, meint das richtige Verhalten zu ihm und seinem Bund. Kurz: Gotteserkenntnis und das Tun der Gerechtigkeit gehören zusammen. Nur im Vollzug ereignet sich der Glaube und seine Wahrheit. Die gelebte Praxis ist also nicht Konsequenz des Glaubens, sondern Strukturelement der Wahrheit selbst. Kirchliche Events in Rom, Köln und anderswo mögen als Phänomene einer neuen Religiosität beschrieben werden und können wie Opium wirken, christlicher Glaube ist jedoch anders notiert. Die Botschaft vom Reich Gottes hat nichts mit Wellness zu tun, sie zielt auf eine Verwandlung jetziger Lebensverhältnisse und -ordnungen. Die These, Gott sei lediglich eine Projektion menschlicher Wünsche und Erwartungen, mag in vielen Fällen zutreffen, kaum jedoch für die jüdisch-christlichen Gottesvorstellungen, denn dieser Gott fordert vom Menschen Umkehr, statt ihn einfach in seinem Egoismus zu bestätigen; er steht zu sehr quer zu menschlichen Bedürfnissen und Erwartungen, als dass er lediglich menschliche Sehnsüchte widerspiegele; er ist nicht der Garant menschlicher Sicherungsbedürfnisse. Angesichts der Begrenztheit unseres Wissens über den, den wir Gott nennen, wie auch der Unzulänglichkeit der insgesamt wenig überzeugenden Glaubenspraxis der »Gläubigen« sind Bescheidenheit und Zurückhaltung in der Formulierung von »Glaubenswahrheiten« angebracht. 41
Donata Rigg
Die Sprache der Fische Ein Nachruf
m Ende haben wir sie nur noch herumgehievt. Wir – meine Mutter bzw. meine Schwester bzw. meine Tante bzw. meine Cousine – haben sie vom Bett in der Stube auf den Stuhl gehoben, dass sie sich entleeren könne. Wir – mein Großvater bzw. mein Vater – haben uns belämmern lassen vom schlechten Rücken, den wir uns dabei zugezogen haben, und es war richtig so, denke ich im Nachhinein, dass wir – ich bzw. die Küche bzw. der See – uns da rausgehalten haben und sie unsere Anwesenheit aus der Distanz haben spüren lassen. Aber ich bzw. ich für meinen Teil bzw. ich als ihre Enkelin konnte nicht glauben, dass es dieses Mal, also dieses eine Mal, das es nur einmal gibt, nun wirklich so weit sein sollte. Ich hatte es ihr zugetraut, dass sie sogar ihrem eigenen Tod ein Schnippchen schlagen würde, so wie sie es die x-Male zuvor getan hatte. Ich weiß bis heute nicht, wen sie gemeint hat an diesem Abend, als ich in der Küche ihres Hauses gesessen habe. Ganz eindeutig ist es ihr Haus gewesen und nur ihres, in dem ich da in der Küche gesessen habe, mit einem Handtuch um den Kopf, weil ich ganz notwendig noch hatte duschen wollen, während sich die anderen ins Bett verabschiedet hatten, und auf die Wanduhr mit den römischen Zahlen gestarrt habe, auf die Wanduhr, die viertel drei angezeigt hat, obwohl es erst fünf nach gewesen ist. Mein Lebtag ist diese Uhr zehn Minuten vorgegangen, denke ich jetzt, und: In dieser Nacht hat meine Großmutter um Viertel nach zwei nach einem Mann namens Vater gerufen. Ich bin aufgestanden, über den Flur gegangen und auf der Schwelle zur
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Stube, in der sie – wir bzw. die Familie bzw. der Pflegedienst – ihr das Bett gerichtet hatten, stehen geblieben. Vater, hat sie gerufen, und ich habe dann ihre ausgestreckte Hand genommen und sie gefragt: »Was meinst du?« Seitdem ich weiß, woher ich komme, habe ich mich dagegen gewehrt, das Leben meiner Großmutter als eines von den wunschlos unglücklichen zu betrachten, als eines, das gelebt worden ist, weil man geboren ist, als eines, das gelebt worden ist, weil man eine Fischerstochter ist, das gelebt worden ist, weil der Krieg überstanden werden will, als eines, das gelebt worden ist, weil sich in den Besatzer verliebt werden muss, das gelebt worden ist, weil man die Liebe gehen lassen muss, einen anderen heiratet, von dem man glaubt, dass man ihn liebt, das gelebt worden ist, weil Kinder geboren werden wollen, das gelebt worden ist, weil Fische ausgenommen werden und die Töchter aufgezogen werden müssen, dem Mann Petri Heil gewünscht, der Pfarrer verflucht, die kleine Schwester versorgt und auf die CSU geschimpft werden muss. Es ist nicht meine Sache, das zu beurteilen, denke ich im Nachhinein, aber ich weiß bis heute nicht, wen sie gemeint hat in dieser Nacht, als ich an ihrer Bettkante gesessen habe und sie mir das Handtuch vom Kopf geschnappt und gerufen hat: »Vater!« Ich habe sie gefragt: »Wen meinst du?«, und sie hat nicht geantwortet. Ich habe sie gefragt: »Meinst du deinen Vater?«, und sie hat mir ins Haar gegriffen. Ich habe gefragt: »Oder meinst du deinen Mann?«, und sie hat den Kopf geschüttelt. Ich habe gefragt: »Soll ich ihn wecken?«, aber sie hat mir fasziniert über die Armhaut gestrichen und gesagt: »Vater.« Ich habe das Vorhaus aufgesperrt und bin zum See hinuntergegangen. Ich habe mich in unseren Kahn gesetzt und mir eine Zigarette angezündet, und als mir, wie ich so gesessen habe, die Fahrten auf den See einfielen, die ich früher erlebt hatte, habe ich gedacht: Sie meint ihren Vater. Sie liegt im Sterben und will ihren Vater sprechen. Sie möchte denjenigen sprechen, der ihr, 43
seinerseits auf dem Totenbett, das Versprechen abgerungen hat, das hier alles fortzuführen. Deswegen stirbt sie in dem Haus, in dem sie geboren worden ist. Deswegen spüre ich, dass dieses Haus ihres ist. Eindeutig ihres. Ich glaube nicht, dass sie vom Leben betrogen worden ist, denke ich jetzt, aber zu dem Zeitpunkt, als sie nur noch gehievt werden konnte und schon wie ein junger Vogel im Bett gelegen ist, hat sie nach einem Mann namens Vater gerufen, und es hätte in gleichem Maße ihr Ehemann, der Vater meiner Mutter oder mein Großvater gemeint sein können, wie es auch ihr eigener Vater bzw. der Mann, der ihr vom späten Eintritt in die NSDAP abgeraten hatte, oder der Großvater meiner Mutter hätte sein können. Zeit ihres Lebens hat sie zu meinem Großvater »Vater« gesagt, und ich erinnere mich, dass ich mir das habe erklären lassen müssen, als ich noch nicht wusste, woher ich komme, und noch jede Sommerferien in den Eimern mit Fischinnereien gewühlt habe, die Großmutter in der Fischküche gestanden und, bereits mit Rheumafingern, die Tiere geschuppt hat, von denen ich wusste, dass sie Renken geheißen haben. Noch in derselben Nacht habe ich eine andere Variante durchgespielt, nachdem ich beschlossen hatte, mich zurück in die Küche zu setzen und die Tür zu ihrer Stube geschlossen zu halten, weil mich ihr Mauserzustand, der keiner gewesen ist, beelendet hat: Sie zeigt mit ihrem Ausruf »Vater!« die Sehnsucht nach Trost, Geborgenheit, Heimat und Liebe an. Sie meint mit »Vater« keine konkrete Person, und wenn sie doch einen Menschen meinen sollte, dann ist es gewiss weder ihr Vater bzw. der Mann, der schon in den Dreißigerjahren viel gelesen hat, noch ihr Ehemann bzw. der ehemalige Polizist bzw. der Mann, der in den Fünfzigern Lex Barker ähnlich sah. Wenn sie doch an eine Person denken sollte, wenn sie »Vater« ruft, ist es diejenige, mit der sie das Stillen dieser Sehnsucht verbindet. Es muss Roy sein, der Amerikaner, bzw. der Mann vor meinem Großvater bzw. der Mann, der sie immerzu Country hat hören lassen, bzw. der 44
Mann, der sie ihr Leben lang an den »guten Ami« hat glauben lassen, bzw. der Mann, dem sie im Sommer 1945 ein Ruderboot vermietet hat, nachdem ihr Bruder noch im Mai auf dem Balkan gefallen war. Ich habe den Blick zur Wanduhr mit den römischen Zahlen gehoben und sie hat vier Uhr angezeigt, genauer gesagt, zehn vor vier, und ich habe gedacht: Geh schlafen. Und als ich gerade die Treppen in den ersten Stock hinaufsteige, kommt mir meine Mutter entgegen und sagt, sie habe was gehört, sie werde mal nachsehen. Das ist eines der letzten Male gewesen, dass sie sie gehoben hat, glaube ich jetzt, von Bett zu Stuhl, damit sie sich entleeren könne, und meiner Mutter ist es für lange ins Knie geschossen. Warum ich mir Gedanken mache über ihren Ausruf, denke ich jetzt. Freilich, es ist das Letzte, was ich von ihr habe, denn dann ist sie bald gestorben, ein paar Tage darauf. Von einer Ratte hat sie noch geredet an ihrem letzten Abend, die wir bzw. diejenigen vor Ort dann auch gefunden haben, tot, in einer Holzkiste. Vielleicht hat sie schlicht den lieben Gott gemeint, gläubig ist sie ja gewesen, obwohl sie nicht in die Kirche gegangen ist. Aber als wir bzw. die anderen sie dann nicht mehr hieven mussten und ich mir nicht mehr aussuchen konnte, ob ich Distanz halte oder nicht, als ich zwar wusste, woher ich komme, doch jegliche Ahnung davon, die ich einmal gehabt hatte, wo dies alles hinführen könnte, zu einem nicht einmal blassen Schimmer entrückt ist, da bin ich wütend auf sie geworden, weil sie sich in dieser Nacht so unklar ausgedrückt hat, weil sie A gesagt und B gemeint hat. Sie hat das öfter gemacht, denke ich jetzt. Sie sagte: »Magst du etwas essen?«, und meinte »Bitte, iss!«; sie sagte: »Es gibt Ostwind.«, und meinte: »Der See ist kalt.«; sie sagte: »Ist dir kalt?«, und meinte: »Bitte mach den Ofen an.« Und ich erinnere mich, wie ich sie darauf angesprochen habe, ich habe gefragt, warum sie sich hinter den Worten verstecke. Aber ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass sie betrogen worden sein könnte, 45
und ich bekomme es mit der Angst zu tun, ob sie jemals in einer wirklichen Wirklichkeit gelebt hat oder nur in Paradoxa. Doch dann denke ich zugleich: Sie hat ein Handwerk ausgeübt, sie ist verheiratet gewesen mit einem guten Mann, sie hat zwei Töchter bekommen und die eine davon mich als Tochter, dann kann es ja so schlimm nicht gewesen sein. Sie hat sinnvoll gelebt, auch wenn sie oft A gesagt und B gemeint hat, auch wenn sie in dieser Nacht »Vater!« gerufen und mich zurückgelassen hat mit einem Geheimnis, das, wenn man ihr nichts unterstellen will, zu lüften unmöglich ist. Und dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Ausruf das Substrat ihres Lebens ist, dass in diesem Wort »Vater« die Quintessenz dessen steckt, was ich heute als das Zurückziehen hinter die Wörter bezeichne, was bestenfalls als fantasiereich gedeutet werden kann, im Normalfall doppeldeutig verstanden, wenn es schlecht läuft, als verlogen gesehen wird. Und ich glaube, dass meine Großmutter sich ein Leben lang auf diese Doppelbotschaften verlassen und selbst die Sätze der anderen in dieser Art übersetzt hat. Wenn man sagte: »Es liegt ein schönes Tuch auf dem Küchentisch.«, hat sie geantwortet: »Es ist nicht teuer gewesen.« Und wenn man sagte: »Ich habe Durst.«, hat sie geantwortet: »Die Wurst ist im Kühlschrank.« Dies hat schon früh dazu geführt, so denke ich jetzt, dass die Wanduhr mit den römischen Zahlen zehn Minuten vorgegangen ist – auch sie hat diese Verrückung gespürt, die meine Großmutter mit der Sprache veranstaltet hat, und als ich nun, ein gutes Jahr nach ihrem Tod, zu dem Schluss komme, dass sie also betrogen worden ist, meine Großmutter bzw. die Fischerin vom Ammersee bzw. die Mutter von zwei Töchtern bzw. die Frau, die mich schwer enttäuscht hat, indem sie schließlich doch gestorben ist, fällt es mir wieder ein: Es ist bei einem Frühstück gewesen in ihrem Haus, als ich, kein Kind mehr, sie gefragt habe, warum sie sich hinter den Worten verstecke, und sie hat mir geantwortet, ich bin mir sicher, das sie das gesagt hat: »Herzilein, dass ist die Sprache der Fische.« 46
Sibylle Sterzik
Gott, der Supermarktdetektiv
hne Gott wäre sie längst unter den Rädern. Wo man das Gras von unten wachsen hört. Sich nichts mehr denken muss, Schmerz sich wie Nichts anfühlt, keine Lügen mehr in den Ohren kratzen. Als ihr Mann im guten Anzug wegging und nachts wegblieb, um mit der blonden Frau aus dem Prenzlauer Berg fürs Examen zu büffeln, wie er vorgab, starb sie innerlich. Sie fiel und fiel. Halt fand sie nicht. Ab und zu trank sie ein Glas Wein, vergaß für Minuten, dass ihre Ehe im »freien Fall« schneller davonraste, als die neuen schicken Autos der früheren TrabiBesitzer aus dem Osten auf dem Highway to West. Irgendwas stoppte den Abwärtstrend. War es das Kind, das sie brauchte und vor dem Einschlafen im Kinderbett stand, an den Gitterstäben rüttelte, als könnte es so den Papa zurückholen? Trieb sie Pflichtgefühl, die Examensarbeit zu Ende zu schreiben? Eingebläut von Vater und Mutter, die nie Urlaub machten, nie die Zeit vergaßen, abends niemals eng umschlungen auf einer Gartenbank in der untergehenden Sonne saßen, so als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, als den lauen Abendwind zu spüren und sich bei den Händen zu halten, auch wenn dieselben Hände am nächsten Morgen wieder in der Gartenerde wühlen mussten, damit die Nachbarn beim Vorbeigehen nichts am picobello großreinegemachten Pfarrgarten auszusetzen hatten. Was war es, das den freien Fall stoppte, wie eine Leitplanke, die verhindert, dass man in den Klauen des am Straßenrand Abgase schnüffelnden Wildschweines landet und dieses so erschreckt, dass es in Todesangst womöglich eine Kostprobe von dem angstschweißgebadeten Verkehrsteilnehmer aus dem gar nicht mehr so schicken Auto nimmt?
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Sie nannte es später Gott. Er flüsterte nur. Keine Moralpredigt, kein Parteiauftrag, kein Sermon von den guten Werken. Ehrlich gesagt, hat sie keine Ahnung mehr, was er geflüstert hat. Etwas lauter hätte er schon sprechen können. Aber irgendwas ist doch passiert. Dass sie sich plötzlich sagte: Mach weiter. Lass die Flasche. Nimm dein Kind. Schreib die Arbeit. Guck dir den Sonnenuntergang an und lass den Garten liegen. Vergiss den Kerl. Ohne Gott wäre sie längst unter den Rädern, sagte sie oft. Mehr zu sich als zu anderen. Die hätten nur den Kopf geschüttelt – und gedacht: Irgendeinen Schaden hat sie ja doch abgekriegt. Wieso soll das Gott gewesen sein? Den gibt es nicht. Das alles hat sie doch ganz allein geschafft. Sie wusste es besser. Aus welcher Rippe hätte sie sich die Steigeisen schneiden sollen, die sie jetzt aus der eiskalten Gletscherspalte wieder hinauf zu der fast frühlingshaften Bergwiese steigen ließen, auf der die Almkühe muhten, als hätte ihnen der Bauer ein Date mit den Bullen auf der Nachbaralm versprochen? Aber sie behielt es für sich. Und wie hätte sie es erklären sollen, dass es weder der gesunde Menschenverstand, weder die Lehren aus dem Kommunistischen Manifest noch Jörg Kachelmanns positive Wetterprognose waren, die sie auf den richtigen Trampelpfad lenkten, auf dem sie nun wie ein von der Bergwacht trainierter Rettungshund den Aufstieg suchte nach dem Steilflug in das Bodenlose? Schließlich hatte alles seine Vorgeschichte. Gott kannte sie schon etwas länger. Aus ihrem Kinderzimmer. Dort wohnte er. Manchmal auch in der Kirche. Aber nur sonntags, wenn Vater auf der Kanzel stand und so freundlich mit den Leuten sprach wie mit ihr nie, auch nicht mit ihren Geschwistern oder ihrer Mutter. Werktags schwebte Gott zwischen Zimmer- und Bettdecke. Was auch nicht stimmt, denn er hatte keinen Körper, nur eine Stimme. So als wäre das ganze Kinderzimmer sein Leib, aber nicht nur das, einfach alles, was da war, die Küche, das Schlafzimmer der Eltern, das zu betreten den Mädchen wie das 48
Aufschließen eines verbotenen Schreins vorkam, das kleine Zimmer, in dem der Vater die Schläge verabreichte mit dem Riemen, den er immer von dem Haken an der Speisekammertür nahm, das Amtszimmer, in dem der Vater die Töchter nötigte, mit ihrem Körper eine Brücke zu formen, die er von Fotos junger Frauen in Illustrierten kannte und die mehr freigaben, als sie verbargen, das Pfarrhaus mit dem unheimlichen dunklen Flur, der große Garten mit Vaters Kirschbaum, den er gepflanzt hatte, mit den Beeten, auf die keiner treten durfte, weil es sonst was setzte, die kleine Dreieckswiese mit dem angeleinten Pferd, das sie stundenlang streicheln konnte, wenn sie sich traute, ihr Lieblingsplatz außerhalb des Pfarrgartens, auf dem sie sich in eine andere Welt träumte mit anderen Eltern und Pferden, die sie überallhin trugen, die Luft zum Atmen, das Abendrot, das Schlagen der Kirchturmuhr, das Lachen der Verliebten, das Stöhnen der Sterbenden, einfach alles, worin Menschen leben, war Gott. Aber vor allem lebte er bei ihr im Kinderzimmer. Das ging natürlich gar nicht. Wie sollte er da reinpassen. Er ist doch größer als alles. Aber für sie war er da. Oben im Doppelstockbett, wo sie schlief, war sie ihm am nächsten. Die große Schwester im Doppelstockbett unten, Vaters Liebling, und die kleine im Bett gegenüber, Mutters Liebling, waren viel weiter weg von Gott als sie. So hatte sie, niemandes Liebling, wenigstens ihn. Und so ist es bis heute geblieben. Äußerlich natürlich. Es kann ja keiner einem ins Herz sehen. Sie ist Pastorin geworden. Die Schwestern gehen nur noch selten in die Kirche. Aber vielleicht lebt ja Gott in ihren Wohnzimmern. Denn in der Kirche scheint er auch nur noch selten zu sein. Und wer ist ihm dann eigentlich näher? Sie führte im Doppelstockbett unzählige Gespräche mit ihm. Sie bat, sie flehte, sie versprach, sich zu bessern, sie weinte und handelte sogar mit ihm. So klein, wie sie war, gelobte sie, ins Kloster zu gehen, wenn niemand bemerken würde, dass sie, aus 49
der Schublade im Lehrertisch einen Anstecker mit dem Emblem der X. Weltfestspiele in Berlin, Hauptstadt der DDR, genommen hatte. Aus dem Lehrertisch, dem Allerheiligsten der sozialistischen Polytechnischen Oberschule. Sie, die Klassenbeste. Sie, die Pfarrerstochter. Unglaublich. Du sollst doch nicht stehlen. Das nahm sie wörtlich. Wörtlicher als ihr Kinderzimmerkumpel von ganz oben. Der drückte nämlich einfach ein Auge zu. Niemand bemerkte die garstige Straftat, für die sie sich selbst mehr verurteilte, als jeder andere es getan hätte. Ausgenommen vielleicht ihr Vater. Heimlich zog sie die Schublade auf, legte den runden Plastikanstecker wieder zurück und schlich sich auf ihren Platz. Nie wieder, schwor sie sich. Erst als sie vierzig war, löste sich der Bann. Sie klaute eine Illustrierte im Supermarkt. Um zu testen, ob sie sich traut oder ob sie noch immer glaubt, dass Gott nichts anderes zu tun hätte, als Detektiv zu spielen und Mädels im Supermarkt aufzulauern, die Zeitungen klauen. Wem war sie da eigentlich untertan – dem Gottesbild des Vaters oder dem, das sie dafür hielt, einem Gott, der sie mit großen strafenden Augen ständig unter Androhung von Strafe in Schach hielt, ihr aufzwang, auf Schritt und Fehltritt seine Hausordnung auf Erden rauf und runter zu zelebrieren, statt herauszufinden, wer sie selbst war und was sie wollte, statt auszuprobieren, wie viel Leben und welche Verrücktheiten sie in sich barg; Verrücktheiten, die herauswollten und sie hätten lebendig sein lassen wie das Pferd auf der Dreieckswiese, das, hätte es jemand von der Leine gelassen und es mit einem frechen Klaps ermutigt, auf und davon zu galoppieren, sich möglicherweise am Ortsausgangsschild beim Versuch, den Dorfnamen zu entziffern, den Kopf gestoßen, kurz gewiehert und geschnaubt hätte, aber dennoch glücklich davon gesprungen wäre. Oder war das ihr eigenes Gottesbild? Woher kam es? Sie erlaubte sich, so stolz auf den Zeitungsklau zu sein, als hätte sie gerade die Auszeichnung als bester Lehrling des Monats im sozialistischen Kollektiv erhalten. Und einen Präsentkorb mit 50
dicken Filzstiften und Sekt mit Ananas noch dazu. Ganz ohne FDJ. Sie fühlte sich Gott am nächsten. Dabei hatte sie keine Ahnung, was die Schwestern mit ihm aushandelten. Unter ihren Bettdecken. Es konnte ja sein, dass er auch mal nach unten stieg. Sozusagen, um Boden unter die Füße zu bekommen. Oder eher, damit sie, die Schwestern, wieder welchen gewannen. Denn Lieblingskind des Vaters zu sein, hatte nicht nur Vorteile. Das begriff sie erst später. Vater hatte die andere Schwester so lieb, dass er ihr Kleider kaufte. Ganz kurze, wo die Schultern und fast die ganzen Beine rausguckten. Und manchmal wollte er, dass sie die auszog. Dann machte er sozusagen einen Handel mit ihr, wie die andere Schwester mit Gott. Die Mutter schickte sie zum Vater. Ohne seine Erlaubnis ging fast gar nichts, außer heimlich. Schon gar nicht samstagabends tanzen gehen. Da war die Disco so weit weg wie der liebe Gott persönlich. Wenn du ins Nachbardorf zum Tanzen gehen willst mit deinem Freund, dann zieh jetzt dein Kleid aus oder deinen Pullover. Am liebsten machte er dann Fotos davon. Zu handeln verstanden in der Familie alle anscheinend ganz gut. Aber im Doppelstockbett konnte sie glauben, Gott war ganz für sie da. Das hatte wirklich Vorteile: Sie hatte einen mächtigen Verbündeten, den mächtigsten überhaupt. Sogar ihr Vater, dem niemand in der Familie widersprechen durfte, der sonst niemanden über, neben und unter sich anerkannte, nahm ihn ernst. Zumindest am Altar. In seinem Bücherregal waren fast nur Bücher über ihren großen Verbündeten. Und noch was sprach dafür, dass Gott so bedeutsam war wie die Unantastbarkeit des Lehrertisches in der sozialistischen Oberschule: Vater kam immer pünktlich, wenn er Gottesdienst hielt, obwohl er es sonst mit der Zeit nicht so genau nahm. Das musste etwas heißen. Denn wenn Mutter ihn zum Essen rief, machte er sich nie was daraus. Und das war doch die Frau, mit der er das Schlafzimmer teilte, das den Kindern wie ein Heiligtum vorkam. Aber 51
das mag daran gelegen haben, dass sie und ihre Schwestern nicht die leiseste Ahnung hatten, was Vater und Mutter, denen scheinbar ihre Eltern auch nicht beigebracht hatten, dass man geradewegs in den Himmel befördert wird, also gleich ins Nachbarzimmer von Gott, genau taten, wenn Mann und Frau sich küssen und vergessen, wer in welches Bett gehört – also die Schwestern konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Eltern dort etwas anderes machten, als die Gläser Apfelgelee auf dem großen Wäscheschrank zu zählen, die am Wochenende die ganze Familie (außer Vater, versteht sich, der bereitete die Predigt vor, die er nachher aus dem Stegreif hielt) eingeweckt hatte, oder die mit den kleinen blauen Flecken auf dem goldenen Glibber auszusortieren. Der mächtige Verbündete sah alles, schob und lenkte alles und war größer als ihr Vater. Er sah sie, wenn sie weinte oder lachte, nahm sich Zeit, hörte ihr zu und zog nicht den Riemen vom Haken oder drohte damit, wenn sie seine Spielregeln übertrat. Wieder und wieder drückte er ein Auge zu. Es musste ihm schon ganz wehgetan haben vor lauter Zukneifen. Sie merkte das daran, dass sie einfach immer leer ausging, wenn sie schwere Strafen erwartete. Einmal hatte sie Hausarrest, ging aber trotzdem baden. Als hätte der liebe Gott wieder wie ein Detektiv hinter einem Baum gestanden, wer weiß, wie groß der gewesen sein muss, denn so ein Gott kann sich ja nicht hinter einer schmächtigen kleinen Birke verstecken, wo er mit den Kniekehlen gerade mal bis zur Krone reicht, und als hätte er ihr noch – gerechte Strafe muss sein – einen kleinen Schubs gegeben, ist sie mit der Ferse in die Scherbe hineingetreten. Das Blut quoll heraus und schon damals hat sie kein Blut sehen können und war einer Ohnmacht nahe. Aber dann hat es dem Gott anscheinend leid getan und sie fiel nicht um, landete nicht mit dem Kopf auf einem Stein, der da gerade aus der Erde guckte. Wenn das kein Zukneifen vom Feinsten ist. Er verriet sie nicht, auch nicht, als sie zu Hause das Humpeln 52
verstecken und die blutigen Strümpfe beiseiteschaffen musste. Die Eltern bekamen nichts mit von dem verbotenen Badeausflug. Sie starb auch nicht an einer Blutvergiftung, wie sie befürchtete. Das stärkte ihren geheimen Bund. Sie hatte von nun an einen richtigen Freund – oder war es ein richtiger Vater? Er war immer irgendwie in der Nähe, auch wenn in ihrem Dorf die Bäume gar nicht so groß waren, aber er fand jedes Mal etwas zum Verstecken. Denn gesehen hat sie ihn nie. Das war aber auch nicht so wichtig. Hauptsache, sie spürte, dass er da war. Vermutlich daran, dass sie die Kerle vergaß, das Kind allein großzog und die Flasche immer wieder zustöpselte. Er war immer da, näher als ihr Vater. Gott lebte mit in ihrem Kinderzimmer. Vater nicht. Das Kind wurde erwachsen, aber Scherben liegen immer noch genug herum, in die sie hineintreten kann. Doch er ist dann immer zur Stelle, so als hätte er nur diese eine Verbündete, der er die Scherben aus dem Weg räumen oder etwas einflüstern muss, das sich so anhört wie: Mach weiter. Lass die Flasche. Nimm dein Kind. Schreib die Examensarbeit. Guck dir den Sonnenuntergang an und lass den Garten liegen. Vergiss den Kerl.
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Matthias Vernaldi
Spiegeleien
ein derzeitiges Lieblingsbibelwort ist 1. Korinther 13, Vers 12: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.« Auf einem Feld, wo es darum geht, ob religiöse Konzepte tragen und Gültigkeit besitzen, wird gern mit absoluten Wahrheiten gearbeitet. Wir Christen haben darin eine über Jahrhunderte geschulte bluttriefende Professionalität erworben. Auch in Zeiten der Demokratie, Toleranz und Multikulturalität fällt es den Frommen noch schwer zu gewärtigen, dass alles Mühen um Tugend und Gottgefälligkeit, auch alle Hingabe und Kontemplation, alle Opfer und Exerzitien lediglich ein dunkles Wort sein können, mit dem wir durch den Spiegel sehen. Wir Menschen spiegeln uns in Gott. Oder er sich in uns? Auch die letzte und höchste Erkenntnis wird lediglich Spiegelung sein: Ich erkenne, gleichwie ich erkannt bin. Es kommt also immer darauf an, wer in den Spiegel hineinschaut. Deshalb rede ich, auch wenn es im Folgenden um Konzepte von allgemeiner Tragweite geht, von mir. Der eifernde, zornige Gott kam im Spiegel meiner Kindheit nur am Rande vor. Und auch dabei bezog ich Strafen und Verdammnis nicht auf mich. Ich durfte vielmehr überall seine freundliche Zuwendung sehen. Geboren wurde ich Ende der 50er-Jahre in der DDR. Meine Eltern waren gerade einmal 22 Jahre alt – junge entschiedene Christen inmitten einer atheistisch indoktrinierten Welt. Es stellte sich früh heraus, dass ich nie würde laufen können. Wir wohnten mit den Großeltern zusammen in
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einem winzigen Reihenhaus im Schatten der Rauchwolken eines Hüttenkombinates. Weder im Dorf noch im Betrieb kannte man das Wort »Behinderung«. Mit Beginn der Schulzeit musste ich in einem staatlichen Heim fern von zu Hause leben. Ich litt sehr unter dem Heimalltag einer Sonderschuleinrichtung der Ulbrichtära. Die Ärzte, Schwestern und Krankengymnastinnen verfügten über meinen Körper. Er war krumm, schlaff und nahezu bewegungsunfähig, fügte sich nicht den Vorstellungen, wie ein Körper zu sein hatte. So fügte man mir Schmerzen zu. Die Beine wurden durchgedrückt, der Rücken jede Nacht auf hartem Gips gerade gebogen. Und täglich zwängten sie mir ihre Bewegungsmuster auf – beim Anziehen, Heben und Waschen. Wenn es wehtat, war ich zimperlich und ein Jammerlappen. Die Lehrer und Erzieher beanspruchten, mein Denken zu bestimmen. Ihre Vorgaben waren ganz anders als das, was ich bisher von meinen Eltern kannte. Es fühlte sich kalt und brutal an. Gott sollte es nicht geben. An ihn zu glauben, war für sie nicht nur lächerlich, sondern auch irgendwie zersetzend. Es sollte nur gelten, was man leistete. Wer den Anforderungen nicht genügte, musste üben und lernen oder war verloren. Die Hoffnung auf Wunder, auf Gnade oder Jenseitiges war unerwünscht. Solchen Trost sollte man nicht haben. Dabei war nichts gewisser als Gottes Gegenwart! Meine Eltern konnten nicht bei mir sein. Doch ich wusste, dass Gott mich sah. Er hatte mein Leben in der Hand. Was geschah, kam von ihm. Der Schmerz und die Angst galten weniger als die Liebe. Er bedeutete für mich Annahme, Zuwendung und Geborgenheit. Ohne ihn wäre ich nicht ich. So gesehen und auch weil ich später noch Theologie studiert habe, erfülle ich ein übliches Klischee. Es ist nichts anderes von mir zu erwarten, als dass ich mich für ein Leben in der Hinwendung zu Gott äußere. Wer hienieden einen trüben und entsagungsvollen Platz zugewiesen bekommt, tröstet sich gern mit 55
Höherem. Ein gläubiger Behinderter mit DDR-Vergangenheit – das passt. So wäre hier dieser Text bereits an seinem Ende und durchweg erbaulich. Es gibt aber auch Stellen in meiner Biografie, die mich geradezu davon ausschließen, im Chor der Frommen den Einen zu preisen: Ich habe viele Jahre in einer Landkommune gelebt, die alles andere als anständig und bürgerlich war. Später habe ich auf Mittelaltermärkten mit Tarotkarten wahrgesagt. Seit einigen Jahren bin ich dafür bekannt, dass ich Umgang mit Prostituierten pflege. Ein gottgefälliges Leben sieht anders aus. Was ich tue, stößt bei gläubigen Menschen häufig auf harsche Kritik. Besonders schwer haben es meine Eltern damit. Manchmal fürchte ich, sie zweifeln an der Gewissheit meines Heils. Und tatsächlich – den Weg der Gewissheiten habe ich verlassen. Ich bin schwerbehindert. Meine Muskeln schwinden. So kann ich mich nicht bewegen und bin 24 Stunden am Tag auf Hilfe angewiesen. Einer wie ich lebt, wenn seine Angehörigen nicht in der Lage sind, das hohe Maß an Pflege zu erbringen, üblicherweise in einem Heim. Dort wird er satt und sauber gehalten. Je nach Standard der Einrichtung hat er gelegentlich die Möglichkeit, in die Stadt zu gehen oder Freunde zu besuchen. Beruf, Reisen, Sport, Kultur, Sex kommen in einem solchen Leben maximal in Form einer geschützten Werkstatt oder einer Sitzgymnastikgruppe vor. Wollte er in einer eigenen Wohnung leben, wäre eine Sozialstation für ihn zuständig, die ihm dann das Heim daheim bereitet. Die Dienstzeiten des Personals geben vor, wann er zu Bett gebracht wird, wann er isst, wann er auf die Toilette geht und wie lange seine Geburtstagsparty währt. Ich nutze ein anderes als das übliche Modell der Hilfeerbringung. Es nennt sich »Persönliche Assistenz«. Ich habe Assistenten, die ich selbst ausgesucht habe und die nach meinen Anweisungen arbeiten. Meine Erfordernisse strukturieren ihren Dienst. Zum Beispiel finden Dienstwechsel nur zu Zeiten statt, die in meinen Tagesablauf passen. So bin ich in die Lage versetzt, 56
über Alltag und persönliche Belange in ähnlicher Weise zu verfügen wie meine nichtbehinderten Mitbürger. Die emanzipatorische Behindertenbewegung der letzten 30 Jahre bezeichnet das als ein selbstbestimmtes Leben. Leute wie ich müssen keinen festen Platz mehr zugewiesen bekommen, den sie als Gezeichnete einzunehmen haben. Doch die Bedeutung, die das Wort »Selbstbestimmung« im Behindertenbereich bekommen hat, deckt sich nicht vollständig mit der allgemeinen. Selbstbestimmung im üblichen Sinne hat sich in der westlichen Gesellschaft als ein Grundsatz des modernen Lebens etabliert. Bisher galt lediglich die Bestimmung. Der Einzelne musste stimmig sein mit dem Ganzen. Das Leben war ihm gegeben, auch die einzelnen Ereignisse fielen ihm zu. Im Konzept der Selbstbestimmung ist alles offen. Wir schaffen uns selbst und sind auch für alles verantwortlich. Überließ man im Mittelalter noch Gott die Apokalypse, müssen wir sie heute mit Emissionen, Kontaminationen und Überbevölkerung selbst hinkriegen. Auf das Leben des Einzelnen bezogen bedeutet das, dass jeder Erfolg und jedes Scheitern bei ihm selbst liegen. Am Ende segnet er nicht das Zeitliche, sondern stirbt an einem Lungenkrebs, den er sich selbst angeraucht hat. Wenn er eine Patientenverfügung hat, schafft er vielleicht eine punktgenaue Landung ins Grab, bevor die Schmerzen, die Umnachtung und die Abhängigkeit von Geräten zu groß werden. Selbstbestimmung ist eine Illusion, sozusagen eine Spiegelung im schönsten Lichte. Wir sehen durch einen Spiegel – und sehen uns selbst so, wie wir uns wünschen zu sein. Das Leben ist aber nicht identisch damit. Wer den Spiegel ein wenig dreht oder kippt, kann sehen, dass manchem der Cognac so gut schmeckt, dass sein Leben nur noch darauf abzielt, sich diese Substanz zuzuführen. Andere halten Diäten ein und absolvieren ausgedehnte Trainingsprogramme, um gesund zu bleiben. Trotzdem werden sie krank oder erleiden einen Unfall. Die meisten fahren in den Urlaub, weil sie ausspannen wollen, und erleben dabei 57
mehr Stress als in ihrem Alltag. Die Geschichten vom wahren Glück – die große Liebe, der Lottogewinn oder die unverhoffte steile Karriere eines Quereinsteigers – funktionieren nur, weil die Ereignisse nicht geplant, also nicht selbstbestimmt sind. Der Spiegel kann beides zeigen: sowohl, dass alles an uns liegt, als auch, dass wir nichts in der Hand haben. Für mich liegt der Blick durch den »Spiegel in einem dunkeln Wort« auf Gott meist näher als der auf den Menschen, der sich als Herr seiner selbst illuminiert. Ich denke, es ist fast egal, ob wir vermeinen, da Gott zu sehen oder uns selbst. Letztlich können wohl Gott und das Ich nicht getrennt gespiegelt werden. Ich halte ein Universum der totalen Selbstbestimmung für einen trostlosen Ort. Ohne Gott, den immer Anderen, den Überraschenden, den uns der Kontrolle Beraubenden, wäre es ziemlich kalt und vor allem langweilig. Wahrscheinlich ist er auf die Idee, sich in der Welt zu spiegeln, überhaupt nur gekommen, um dieser Langeweile zu entgehen. Sich ihm zuzuwenden ist nur möglich im Blick durch den Spiegel. Feste moralische Grundsätze und vorgegebene Lebensmaximen sind Bruchstücke der Erkenntnis. Die Postulierung seiner bedingungslosen und bis in den Tod sich hingebenden Liebe ebenso. Nicht immer fügen sich beide Spiegelscherben zu einem Bild ohne Risse. Nicht immer kommen die, die ihr Leben in kontrollierten Bahnen verlaufen lassen möchten, an ihr Ziel – egal, ob sie sich dabei der Pränataldiagnostik und Patientenverfügung bedienen oder regelmäßiger Gebete und Meditationen; egal, ob sie sorgfältige Karriereplanung betreiben und sich die Brüste vergrößern lassen oder ob sie sich für Arme und Kranke engagieren und ihre Lüste zügeln, um nicht vom Blick auf das Eigentliche abgelenkt zu werden. Nicht immer finden die, die staunend vor der Schönheit der Welt stehen, die sich hingeben in Liebe und Leidenschaft, die rebellieren und sich berauschen, die ersehnte Erfüllung. Gott überrascht uns. Er ist gnädig.
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Andreas Krenzke
Abenteuer im Jenseits
ndreas hatte sich den Tod ganz anders vorgestellt. Dass es ein Leben danach gibt, zum Beispiel, hatte er nie geglaubt. Er war ja Atheist. Er hatte erwartet, geruhsam im Grab zu vermodern. Stattdessen dann das: ein Tunnel, mit einem Licht am Ende. Wie im Klischee. Also wirklich! Der Tunnel war in den Siebzigerjahren das letzte Mal gekachelt worden, und zwar in scheußlichen Farben, wie Zahnstein. Außerdem war der Tunnel beschmiert. Obwohl, das war fast schon wieder schön. Riesige Graffitis, politische Parolen und die obligatorischen tags. Andreas musste schmunzeln, als er sich vorstellte, dass alle Hausmeister dieser Welt nach ihrem Tod durch diesen vollgesprayten Tunnel hindurchmussten. Moment mal, dachte er, deutete das nicht darauf hin, dass es der Tunnel zur Hölle war? Er drehte sich um. Am Eingang sah er noch immer, wenn auch unendlich weit entfernt, das viele Blaulicht. Er wusste, er würde es nicht mehr zurück schaffen. »Rückwärts nee – vorwärts okay!«, sagte er sich, und dann malte er das auch mit einem Edding an eine popelfarbene Kachel. Der Tunnel war viel zu ungemütlich, um sich hier lange aufzuhalten. Andreas schritt auf das Licht zu. Das Licht kam aus einer Art Wartezimmer. Er betrat es durch ein Drehkreuz. Neonröhren unter der Decke, ein Tisch mit Illustrierten und Buntstiften, Stühle, ein Automat für Wartenummern. Außer dem Drehkreuz gab es nur eine Tür. An den Wänden hingen billige Poster von Sakralbauten und ungelenke Kinderzeichnungen. Und ein Rauchen-verboten-Schild. Wahrscheinlich war es wirklich das Wartezimmer zur Hölle. In diesem Moment trat eine Sachbearbeiterin mit Flügeln auf dem
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Rücken durch die Tür. »Ach, dann kann ich ja gleich Ihre Personalien aufnehmen. Ziehen Sie bitte auch eine Nummer. Es dauert heute bestimmt nicht lange.« »Bin ich denn der Einzige? Ich meine, es müssen doch total viele gestorben sein. Das ganze Amt ist doch explodiert.« »Das ist doch nicht das einzige Wartezimmer«, sagte die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. Sie hatte schlimme Akne. »Aber heute ist tatsächlich nicht viel los. Die Hartz-IV-Empfänger kommen nämlich neuerdings alle direkt in die Hölle. Ach, ich sehe, Sie hatten das auch beantragt; na, da können Sie mal sehen: gut, dass Ihre Akte verloren gegangen ist. Da haben Sie ja richtig Glück gehabt. Stellen Sie sich vor, Ihr Antrag wäre schon bearbeitet worden.« Er war also nicht in der Hölle. Das war immerhin nur recht und billig, schließlich hatte er ja auch nicht an die Hölle geglaubt. An den Himmel allerdings auch nicht. »Spielt es eigentlich eine Rolle, dass ich Atheist bin?«, fragte er die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. Die seufzte. »Sagen wir es mal so: Sie haben auch nie an die Lohnarbeit geglaubt und sind trotzdem auf dem Arbeitsamt gelandet. Also, ich rufe Sie dann auf. Bis später.« Als sie ihn aufrief, blätterte er gerade in der vierten oder fünften Zeitschrift. Sie hieß 72 Virgins und war so eine Art Pin-up-Magazin. Fast alle Bilder waren herausgetrennt. »Entweder sind es die islamistischen Selbstmordattentäter oder die Feministinnen, irgendeiner macht immer die Bilder raus«, erklärte die Sachbearbeiterin mit den Flügeln und der Akne. Andreas war empört: »Wieso kommen Selbstmordattentäter in den Himmel?« »So ist eben deren Religion, da kann man nichts machen.« Die Sachbearbeiterin zuckte mit den Flügeln. Dann schmunzelte sie plötzlich: »Dafür legen wir sie mit den Feministinnen zusammen. Aber kommen Sie, Gott ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.« Er hatte gehofft, wenigstens das würde ihm erspart bleiben. Erst 60
das Jenseits, Himmel und Hölle, und nun auch noch Gott. Der eigene Atheismus, so gut und vernünftig er auch sein mag, ist doch irgendwie problematisch, wenn man Gott gegenübertreten soll. »Muss das sein?« »Ja natürlich, das große Gericht, die Abrechnung, das muss doch sein. Freuen Sie sich denn gar nicht darauf?« Die Sachbearbeiterin mit den Flügeln grinste ihn an. Du Fotze, dachte Andreas. Sie schob ihn resolut durch die Tür. Sie gingen an einem riesigen Glaskasten vorbei, in dem Kleinkinder zwischen Unmengen bunter Plastebälle krabbelten. »Das ist das Kinderparadies«, sagte die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. »Bei so kleinen Kindern macht ein Gericht ja keinen Sinn. Die kommen gleich hier rein. Natürlich nicht die Hartz-IV-Kinder.« Andreas erschauderte. Wie mochte wohl die Hölle aussehen? Die Kinderhölle? Bald würde er es herausfinden. Aber das ist eine andere Geschichte. »So, bitteschön!« Die Sachbearbeiterin öffnete eine hohe gepolsterte Tür und schob ihn hindurch. Da war tatsächlich ein Gerichtssaal. Er kannte Gerichtssäle aus dem Fernsehen. Jeden Nachmittag ein oder zwei Gerichtsshows. Andreas wäre gern Richter geworden. Aber bei der Jobagentur hatte man ihm in dieser Richtung keine Hoffnungen gemacht. Und nun so was! Er war auf einmal wahnsinnig aufgeregt. Alles verschwamm vor seinen Augen. Jemand stützte ihn, setzte ihn hin. Er bekam ein Glas Wasser. Sein Name wurde verlesen. Er trank einen Schluck. Langsam wurde sein Blick wieder klarer. Die Verhandlung war eröffnet. Gott sah total gut aus. Muskulös, braun gebrannt, coole Sonnenbrille, angesagte Klamotten. Andreas fasste sofort Vertrauen. Auf den Zuschauerbänken, die nur mäßig gefüllt waren, hatten alle Flügel. Überhaupt hatten alle im Saal welche. Sein Anwalt auch. Sie fassten sich gut an. 61
»Wenn das hier vorbei ist, kriegen Sie auch welche«, raunte ihm sein Anwalt zu. Na gut, jetzt war es raus, er kam in den Himmel, so schlimm konnte es also nicht werden, mit dem Gericht. Warum auch? Er hatte sich doch nie etwas zuschulden kommen lassen. Die erste Zeugin wurde aufgerufen. Es war Frau Simmel, seine alte Lehrerin. Wie lange hatte er sie nicht gesehen? Jetzt hatte sie Flügel. Gott befragte sie. Ja, Andreas war einmal sitzen geblieben. Ja, sie war immer dagegen gewesen, dass er Abitur machen durfte, weil er nicht drei Jahre zur Armee gehen wollte und seine Eltern nicht in der Partei waren. Gott verlas ein Strafmaß, irgendwas mit Fegefeuer, Andreas verstand vor Schreck nicht, wie lange das Fegefeuer dauern sollte, da sprach Gott ihn an. Er fragte: »Schuldig oder nicht schuldig?« »Nicht schuldig!« Andreas schrie fast. »Begnadigt!«, rief Gott. Die alte Lehrerin begann zu jubeln und tanzte hinaus. Sie schien sich aufrichtig für ihn zu freuen. Dabei hatte sie ihn früher nie leiden können. Der nächste Zeuge war sein Unteroffizier bei der Armee. Er sah albern aus, mit Flügeln. Er beschrieb Andreas als schlampig und faul. Gott sei Dank sei kein Krieg ausgebrochen, mit solchen Soldaten hätte man ihn kaum gewonnen. Wieder fragte Gott: »Schuldig oder nicht schuldig?« »Nicht schuldig!« »Begnadigt!« Sein Anwalt raunte ihm zu: »Na, Sie sind ja ganz schön … wie sagt man … barmherzig.« »Was meinen Sie?« »Na, Sie begnadigen hier einen nach dem anderen.« »Wieso … ich … ich dachte, es geht darum, ob ich schuldig bin.« »Nein! Was? Hat man ihnen nicht die Prozessordnung gegeben? Ach, stimmt, Akne-Gabi, die hat einen Kopf wie ein Sieb.« Es war nämlich so, dass zu Gericht gesessen wurde über alle Menschen, die Andreas während seines irdischen Daseins ge62
plagt hatten. Es war eben darum gegangen, Frau Simmel zu verurteilen. Er war von Gott gefragt worden: »Schuldig oder nicht schuldig?« Damit war gar nicht er gemeint gewesen, sondern seine alte Lehrerin. Und er hatte sie begnadigt. Deshalb hatte sie sich so gefreut. Er hatte auch dieses Riesenarschloch von Unteroffizier begnadigt. Oh Mann! Aber es gab ja noch andere Angeklagte. Immer neue wurden aufgerufen. In zufälliger Reihenfolge, wie es schien. Da war zum Beispiel seine Ex. »Schuldig oder nicht schuldig?« »Schuldig!« Ab da sprach er alle schuldig. Alle. Selbst Reimo Hempel, obwohl er eigentlich schon längst vergessen hatte, dass der ihm im Schulhort zwei Spielzeugautos geklaut hatte. Nachdem die Verhandlung geschlossen worden war, führte ihn Akne-Gabi, die Sachbearbeiterin, zur Flügelanprobe. Es war herrlich, wunderbar, unbeschreiblich, so mit den Flügeln. Er drehte ein paar Runden unter der Aufsicht von Akne-Gabi. Es war wahnsinnig geil. Zum ersten Mal seit seinem Tod war Andreas richtig glücklich. Allerdings … oh nein … ihm kam ein furchtbarer Gedanke. Ein wirklich schrecklicher Gedanke. »Und was ist mit mir?«, fragte er die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. »Werden nicht andere kommen, andere Verstorbene, die mich gekannt haben, und werden die nicht mich zum Fegefeuer verurteilen? So wie ich Reimo Hempel?« »Machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Sie waren doch immer artig.« Andreas atmete erleichtert auf. Sie hatte ja recht. Er war stets gehorsam gewesen, brav und lieb. Obwohl Lehrer und Vorgesetzte ihn getriezt hatten, war sein Leben die pure Ethik gewesen. Das war ihm gar nicht aufgefallen. Auch hatte er nie gewusst, wozu das eigentlich hatte gut sein sollen. Jetzt wusste er es. Ein Glück, dachte er erleichtert, dass ich immer lieb war. Was für ein Glück, dachte er, das habe ich wirklich gut gemacht. 63
Henryk M. Broder
Woran ich glaube (Auszug aus der Dankesrede zur Verleihung des Hildegard-von-Bingen-Preises 2008)
n meiner Jugend war ich ein bekennender Atheist. Ich las Voltaire, Panizza, Spinoza, Bertrand Russell, Karlheinz Deschner und überlegte, ob Giordano Bruno Broder nicht ein viel schönerer Name wäre als der, den mir meine Eltern gegeben hatten. Später wurde ich Agnostiker, aus Gründen der Logik: Wenn man nicht beweisen kann, dass es Gott gibt, kann man auch nicht beweisen, dass es ihn nicht gibt. Und heute, älter und reifer geworden, glaube ich an Gott. Ich bin überzeugt, dass es ihn gibt, mag er nun Christ, Jude, Muslim, Buddhist, Hindu, Zarathustraner, Mann, Frau oder ein Alien sein. Ich glaube nur nicht an den gütigen, gerechten, allmächtigen Gott. Der Gott, an den ich glaube, ist ein Sadist und ein Zyniker, ein Witzbold und ein Chaot. Vor Kurzem habe ich, während ich an einer roten Ampel hielt, eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren gesehen, die mit beiden Händen eine rote Rose festhielt. Offenbar wartete sie auf jemanden, mit dem sie sich zu einem Blind Date verabredet hatte, und die rote Rose war das Erkennungszeichen. Sie hätte dem Mann auch sagen können: Du erkennst mich daran, dass ich 120 Kilo wiege, aber dann wäre es zu keinem Blind Date gekommen, also wählte sie die Rose. Der Mann, nach dem sie Ausschau hielt, hatte ihr gesagt, er werde einen tiefergelegten Opel Corsa fahren. Weil das junge Mädchen aber von Autos keine Ahnung hatte, war ihr auch nicht ein Kleinwagen aufgefallen, der langsam an ihr vorbeirollte und, ohne anzuhalten, davonbraus-
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te. »Mein Gott«, dachte ich, »warum tust du das dem Mädchen an? Reicht es nicht schon, dass sie 120 Kilo wiegt und auf der Schule von allen ausgelacht wurde?«
Gott auf Schadensersatz verklagen Gelernte Gottesdiener, mögen sie auf einer theologischen Fakultät, einer Jeschiva oder einer Madrassa studiert haben, würden mir nun erklären, warum Gott dieses eine Mädchen ganz besonders gern hat und sie deswegen prüfen möchte. Und warum sie ihren Glauben und ihre Geduld nicht verlieren darf, denn eines Tages wird ein Auto neben ihr halten und sie zu einer Fahrt ins Glück einladen. Das will ich hoffen, nur würde ich nicht darauf wetten. Als meine Mutter in einem Viehwaggon saß, mit einem One-way-Ticket in der Hand, das sie geschenkt bekommen hatte, da hoffte sie auch, Gott möge ihr helfen. Der aber dachte nicht daran. Er schaute in aller Ruhe zu, wie die vollen Züge an der Endstation ankamen, wie die Reisenden entladen wurden und wie die Züge leer wieder wegfuhren. Er rührte auch keinen Finger, um den Passagieren der »Titanic«, der »Wilhelm Gustloff« oder der »Estonia« beizustehen. Und warum er in Srebrenica wegschaute, ebenso wie in Ruanda, Kambodscha und Darfur, das wird er eines Tages vor einem Internationalen Tribunal erklären müssen. An Gott zu glauben, ohne ihn für seine Taten und Unterlassungen haftbar zu machen, halte ich für unverantwortlich. Wer nicht an Gott glaubt, hat es einfacher. Ihm reicht es, wenn Radovan Karadzicˇ der Prozess gemacht wird. Mir ist das nicht genug. Solange ich Gott nicht auf Schadensersatz für meine verkorkste Kindheit verklagen kann, gebe ich mir Mühe, ihn wenigstens auszutricksen. Hielten zum Beispiel alle Juden einen Schabbat lang sämtliche Gebote ein, würde Gott sofort den Messias losschicken, das Ende aller Tage wäre da. Kein Jude, der täglich mit 65
der Ankunft des Messias rechnet, und kein Christ, der sich nach der Wiederkehr des Erlösers sehnt, hat eine Ahnung, was das bedeuten würde. Die Bundesliga müsste mitten in der Saison eingestellt werden, die preisgünstigen Flachbildschirme bei Saturn blieben unverkauft liegen, die Benefiz-Gala »Cinema for Peace« bei den Berliner Filmfestspielen müsste ausfallen.
Gott ist ein Zyniker Ich sorge dafür, dass dies nicht passiert, indem ich am Samstag Auto fahre, arbeite und natürlich nicht koscher esse. Vor Kurzem habe ich sogar an einem Freitagabend beim »Haxn-Wirt« getafelt. Ich sorge dafür, dass der Messias nicht kommt und der ganz normale irdische Betrieb weitergeht. Ich sorge dafür, dass Juden und Christen weiter ihre Kirchensteuern zahlen, dass die Priester und die Rabbis nicht arbeitslos werden, dass die Bahnhofsmission, die Caritas, das Müttergenesungswerk und die Aktion Mensch weiterarbeiten können. Und jedes Jahr der Hildegard-von-Bingen-Preis verliehen werden kann. Marx soll mal gesagt haben, er könne die Marxisten nicht ausstehen, weil sie sein Werk trivialisieren. Gibt es einen Gott, könnte er wahre Größe zeigen und etwas Ähnliches über seine Fußtruppen verkünden, auch mal eine Gegendarstellung oder Richtigstellung verschicken, etwa wenn der amerikanische Politiker John Edwards, nachdem er eine außereheliche Affäre zugeben musste, sagt: »Gott und meine Ehefrau haben mir vergeben.« Dann sollte Gott, notfalls per SMS, erklären: »Was Deine Frau tut, ist ihre Sache, aber lass mich aus dem Spiel!« Dass sich Gott so etwas bieten lässt, ohne böse zu werden, spricht nicht für ihn, aber für meine Annahme, dass er ein Zyniker ist. Ihm ist eben alles recht, solange sein Name richtig buchstabiert wird. Dabei lässt er durchaus mit sich reden. Man muss es nur versuchen, wie Abraham, als er Sodom und Gomor66
rha retten wollte. Hätte es geklappt, wäre die Bibel um eine schöne Geschichte ärmer. Weil es aber nicht geklappt hat, hat es seitdem niemand mehr unternommen.
Das Bedürfnis nach Ersatzreligionen Was die Sache mit Gott noch mehr kompliziert, ist der Umstand, dass es seit der Aufklärung auch säkulare Religionen gibt, deren Anhänger zwar nicht an Gott, dafür aber an die klassenlose Gesellschaft, die permanente Revolution oder die Klimakatastrophe glauben. Der Kommunismus war eine Ideologie mit allen Kennzeichen einer Religion, nur viel dogmatischer als jede kirchliche Organisation. Heute gilt das für die Öko-Bewegung: Da gibt es die Apokalyptiker, die sich im Glauben an das baldige Ende der Welt zusammenschließen, es gibt die Hohepriester der Bewegung wie Al Gore, deren Wort über jeden Zweifel erhaben ist, es gibt die Ketzer, die Widerspruch anmelden, es gibt die Sünder, die ihren Müll nicht trennen und mit dem Flugzeug in die Karibik reisen – und es gibt Ablasshändler wie Greenpeace, die den Sündern mithilfe einer Spende die Gelegenheit geben, guten Gewissens in einem Land Rover zum Einkaufen zu fahren. So bekommt ein Leben im Überfluss, aber ohne Transzendenz wieder einen Sinn. Jeder, der eine Energiesparlampe benutzt, leistet einen Beitrag zur Rettung der Welt. Im selben Maß, in dem das Christentum und das Judentum sich versachlichen (dem Islam kann man diesen Vorwurf derzeit nicht machen), nimmt das Bedürfnis nach Ersatzreligionen zu, die einen von Zweifeln nicht kontaminierten Glauben anbieten, der tatsächlich Berge versetzen kann. Barack Obamas Parole »Yes, we can!« ist nicht nur extrem simpel, sondern zugleich auch religiös aufgeladen. Früher hätte man gesagt: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!« Und der unter Umweltschützern extrem beliebte Satz: »Wir haben die Erde von unseren Kindern 67
nur geborgt« ist zwar radikaler Unsinn, taugt aber als alternatives Vaterunser.
Die Menschen glauben allen möglichen Unsinn Man kann dem Menschen das Verlangen, sich über seine eigene Existenz zu erheben, sie ins Unendliche zu verlängern, nicht verübeln. Es ist wohl eine anthropologische Konstante. Die einen fliegen zum Mond, die anderen wollen das Klima retten. Niemand will lediglich ein Sandkorn im Sturm der Geschichte sein. Seltsam dabei ist nur, was schon Gilbert Keith Chesterton, der Schöpfer von Pater Brown, bemerkt hat: Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern allen möglichen Unsinn. Dass man soziale Gerechtigkeit durch ökonomische Gleichheit herstellen kann; dass Wohlstand und Arbeit voneinander unabhängige Faktoren sind; dass einseitige Abrüstung Kriege verhindert und den Frieden garantiert; dass Armut die Ursache für Terrorismus ist; dass Selbstmordattentäter fehlgeleitete Idealisten sind; dass Stereoanlagen und ihre Tiefkühltruhen mit sauberem Strom laufen, der von einem Windrad generiert wurde, während der Nachbar, der eine Etage darüber wohnt, seine Kaffeemaschine und seine Mikrowelle mit schmutzigem Strom betreibt, der aus einem Atomkraftwerk kommt; dass frei laufende Hühner mit glücklichem Lächeln im Gesicht sterben, während die in den Legebatterien von einem besseren Leben träumen – am liebsten als Schweine in einem koscheren jüdischen Haushalt, wo sie dann eines Tages eines natürlichen Todes sterben würden. Zugleich herrscht eine unstillbare Sehnsucht nach der Apokalypse, die von allerlei Schamanen und Scharlatanen bedient wird: von Franz Alt bis Johan Galtung, von Al Gore bis Günther Jauch, von Mutter Beimer über DJ Bobo bis Jean Ziegler und Bob Geldof. Nur Umweltminister Sigmar Gabriel verhält sich 68
antizyklisch, wenn er, begleitet von Journalisten, mit der Bahn zu einem Termin fährt und seinen Fahrer mit dem Wagen nachkommen lässt. Er trat auch bei der letzten Bonner Artenschutzkonferenz im Mai auf, bei der fünftausend Teilnehmer aus 190 Ländern zwölf Tage lang berieten, wie man das Artensterben stoppen könnte. Laut Gabriel verschwinden weltweit täglich 150 Arten, er hätte aber auch 1500 oder 15 000 sagen können, weil die eine Zahl ebenso wenig nachprüfbar ist wie die andere. Und als die Konferenz vorbei war, atmeten nicht nur der tibetische Raupenkeulenpilz und die sibirische Knoblauchkröte erleichtert auf, auch die rheinische Gastronomie und Hotellerie waren mit dem Verlauf der Konferenz sehr zufrieden.
Auf Gott ist kein Verlass Währenddessen hatte ich eine Vision: eine Konferenz zugunsten der vom Aussterben bedrohten Menschen in Darfur. Aber was ist schon ein Völkermord gegen das Artensterben? Unter Umständen eine radikale ökologische Maßnahme, denn manche Umweltschützer sind durchaus der Meinung, dass es der Erde besser ginge, wenn sie von weniger Menschen bewohnt oder gar ganz unbewohnt wäre. Deswegen wird es in vier Jahren wieder eine Artenschutzkonferenz geben und auch das Morden in Darfur wird weitergehen. Ich weiß, solche Sätze klingen anmaßend und pathetisch, aber sie müssen sein, denn es geht um Gott, und der ist es auch: anmaßend und pathetisch und dazu noch ungerecht und gemein. Deswegen ist es eine heilige Pflicht, dem Allmächtigen in den Arm zu fallen. Ich sagte es schon: Auf Gott ist kein Verlass. Auf sein Bodenpersonal auch nicht. Während wir hier so gemütlich zusammensitzen und plaudern, werden in vielen Staaten Menschen diskriminiert, verfolgt und getötet, die nichts verbrochen haben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie auf 69
eine besonders schreckliche Geschichte aufmerksam zu machen: die Lage der Baha’i im Iran. Sie ist mit der Situation der Juden im Dritten Reich vor 1939 vergleichbar.
Eine Religion, die auf Glauben und Vernunft basiert Die etwa sieben Millionen Baha’i gehören mehr als zweitausend Ethnien an, die größte Baha’i-Gemeinde mit mehr als zwei Millionen Angehörigen gibt es in Indien, die zweitgrößte mit mehr als 800000 in Amerika. In Iran, dem Geburtsland des Baha’ ismus, leben etwa 400000 Anhänger des Religionsstifters Bab, der 1850 in Täbris hingerichtet wurde. Es handelt sich also um eine sehr junge Religion, gerade 150 Jahre alt. Wenn es eine Religion gibt, die auf Glauben und Vernunft basiert, in der Frauen vollkommen gleichberechtigt sind, in der Bildung und Erziehung geschätzt werden, die in Theorie und Praxis gewaltlos ist, dann ist es der Glaube der Baha’i. Sie haben keinen Klerus, jeder Baha’i regelt sein Verhältnis zu Gott in eigener Verantwortung, das Gebet ist vor allem eine meditative Übung. Was praktizierte Nächstenliebe und Respekt vor anderen Konfessionen angeht, sind die Baha’i allen Konkurrenten weit voraus. Dass sie im Iran der Mullahs und Ajatollahs nicht einmal ihres Lebens sicher sind, hat vor allem zwei Gründe. Erstens war der Bab ein Schiit, der sich »selbstständig« gemacht hat, deswegen gelten die Baha’i als Häretiker, die vom wahren Glauben abgefallen sind. Zweitens steht das spirituelle Zentrum der Baha’i im israelischen Haifa, eine wunderschöne weitläufige Parkanlage, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Allein deswegen gelten die Baha’i als verkappte Zionisten und Agenten Israels. Und während Christen und Juden, sofern sie keine Zionisten sind, zu den geschützten religiösen Minderheiten gehören, gelten die Baha’i nicht einmal als Dhimmis, Bürger zweiter Klasse. Die Baha’i sind de facto vogelfrei. 70
Israelische Spione oder Ketzer Im Mai dieses Jahres wurde die Führung der Baha’i-Gemeinde verhaftet – unter dem Vorwand, mit Israel kollaboriert zu haben. Derweil liegt dem Teheraner Parlament ein Gesetzentwurf vor, wonach der Abfall vom Islam mit dem Tod bestraft werden soll. Die Baha’i können es sich also aussuchen, ob sie als israelische Spione oder als Ketzer verfolgt werden möchten – was am Ende auf dasselbe hinausläuft. Die guten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Iran werden durch solche Nebensächlichkeiten nicht getrübt, so wie sie von den wiederholten Drohungen des iranischen Präsidenten Ahmadineschad nicht gestört werden, das zionistische Besatzungsregime aus dem Buch der Geschichte zu entfernen – wie die korrekte Übersetzung des auch von der iranischen Nachrichtenagentur kolportierten Satzes, Israel solle von der Landkarte getilgt werden, lautet. Während aber deutsche Firmen angesichts der deutschen Geschichte ihre Geschäfte mit Iran ein wenig verschämt betreiben, geht ihnen das Schicksal der Baha’i völlig an der Bilanz vorbei. Das bisschen schlechte Gewissen, zu dem sie sich den Juden gegenüber verpflichtet fühlen, wäre den Baha’i gegenüber ja auch völlig unangebracht, denn mit denen hatte das Dritte Reich ja nichts vor. Ich gehe mit Ihnen jede Wette ein, dass die Vorstände der großen deutschen Unternehmen nicht einmal wissen, dass es die Baha’i gibt.
Man wird Sie für verrückt halten Was wiederum an den Baha’i selbst liegt. Obwohl sie wirklich schlecht behandelt werden, sprengen sie weder sich noch andere in die Luft, verbrennen keine Fahnen, fackeln keine Botschaften ab, enthaupten keine Geiseln vor laufenden Kameras, ent71
führen keine Flugzeuge, sind nicht einmal in der Lage, Raketen zu basteln, um ihre Nachbarn zu beschießen. Selbst schuld, wenn sie nicht beachtet werden. In Kürze wird wieder eine neue Runde im immerwährenden Kampf gegen das Böse von vorgestern eröffnet. Der 9. November, der deutsche Schicksalstag per se, steht vor der Tür, dann geht es am 27. Januar mit der Befreiung von Auschwitz weiter, danach kommt der Tag der Bücherverbrennung. Zusätzlich zu den alljährlichen Gedenktagen wird 2009 noch der siebzigste Jahrestag des Kriegsausbruchs begangen. Alles schön und gut gemeint, wenn auch recht wohlfeil. Je länger das Dritte Reich tot ist, umso heftiger wird der antifaschistische Widerstand. Bringen Sie etwas Leben in die Erinnerungssülze, stehen Sie auf und rufen Sie: »Und was ist heute mit den Baha’i?« Man wird Sie für verrückt halten. Machen Sie es trotzdem. Hildegard von Bingen hätte es auch getan. Verlassen Sie sich nicht auf Gott, Sie wissen doch: Es rettet uns kein höh’res Wesen, / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. / Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!
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Arzu Toker
Allah kam nicht mit Meine Gedanken zum Islam
ls deutsche Firmen in den 60er-Jahren in der Türkei um Arbeitskräfte warben, dachte dort kein Mensch daran, dass es sich dabei um Arbeit im Land der Ungläubigen handelte. Niemand hatte Hemmung zu kommen. Das einzige Ziel der Migranten bestand darin, Geld zu verdienen und bald wieder in die Heimat zurückzukehren. Auch Zehntausende türkische Frauen kamen nach Deutschland und arbeiteten in München, Regensburg, Berlin und anderswo in der Feinmechanik. Diejenigen, die vor allem bäuerlicher Herkunft waren, fanden in den Fischfabriken im Norden ihr Auskommen. Sie alle schickten Geld nach Hause, das weder stank noch die Familie entehrte. Denn niemandem kam damals in den Sinn, dass Frauen den Ehrbegriff der Sippe beschmutzen könnten. Allah war nicht mit ausgewandert. Niemand brachte die Frauen um. Anfang der 70er-Jahre investierten insbesondere saudi-arabischen Stiftungen in die Reislamisierung ausgewanderter Türken in Deutschland. Sie bewirkte, dass Männer, die im Rahmen der Familienzusammenführung nachzogen und zuerst ohne Arbeitserlaubnis waren, ihre Frauen schwängerten, damit das Arbeitsamt akzeptierte, dass diese ihre Arbeitserlaubnis an ihre Gatten weitergaben. So fanden sich plötzlich viele Frauen in der Küche wieder und wurden abhängig. Damals machten zahlreiche Sozialarbeiterinnen und ich auf diesen Zustand aufmerksam. Vergeblich. Stattdessen sollten sich die Frauen verschleiern, damit keine fremden Männer sexuell gereizt würden – eine Praxis, die sich einige Jahre später breitenwirksam durchsetzte.
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Dennoch behaupte ich, dass sich die arabischen Stiftungen irren, sie haben keine Türken reislamisiert. Denn es gibt gar keinen türkischen Mann, nicht in Deutschland, nicht in der Türkei. Der eigentliche türkische Mann ist den arabisch-islamischen Raubkriegen zum Opfer gefallen, als die Araber im 7. Jahrhundert in Vorderasien einfielen. Der brutale Prozess der Arabisierung und Islamisierung dauerte an die 250 Jahre. Die arabisch-islamischen Bücher beschreiben die Raubzüge voller Stolz und ziemlich genau. Gerade Türken lesen das nicht gern, denn einige Zehntausende ihrer Vorfahren wurden damals als Sklaven nach Arabien verschleppt, Abertausende zur Abschreckung gehängt oder gar abgeschlachtet, damit sich, wie es heißt, das Wasser einer Mühle mit Türkenblut rot färbe und der arabische Kommandeur sein Versprechen wahr machen könne, das Brot einer Mühle zu essen, die mit Türkenblut betrieben wird. Die vorislamischen türkischen Männer waren gleichberechtigt mit ihren Frauen und respektierten ihre Lebensgefährtinnen. Sie lebten und arbeiteten gemeinsam. Sie standen auf, wenn ihre Frauen in den Raum kamen, sie berieten gemeinsam, sie liebten, dichteten, sangen, tranken und tanzten gemeinsam. Es gab Königinnen, die Kriege führten, aber auch Kinder auf die Welt brachten. Die Frauen heirateten die Männer nur dann, wenn sie ebenbürtig waren, genauso gut reiten und Bogen schießen konnten. Die vorislamischen türkischen Männer waren stolz darauf, freie Frauen zu haben, die Handel trieben, kurzum ihr Leben selbst bestimmen konnten. Dem setzten arabische Raubsoldaten – nach islamischem Recht durften sie einen Anteil der Kriegsbeute für sich behalten, daher der Name – ein Ende. Den Überlebenden der Kriege wurde der eigene Glaube verboten. Jedem Haushalt wurde ein Raubsoldat als Mitbewohner aufgezwungen, der kontrollierte, ob sie tatsächlich fünf Mal täglich zu Allah beteten. So kommt es, dass die Männer aus der Türkei sich zwar Türken nennen und als 74
solche gelten, aber im Grunde in die arabische Kultur naturalisierte Männer sind. Sie verhalten sich wie gläubige Araber. In der Migrationspolitik wird stets die Frau thematisiert. Aber nicht die Frau, die Migrantin, ist das Problem, sondern sie hat höchstens eines. Und der muslimische Mann denkt, er hätte keine Probleme, aber auch er hat eins: den Islam, der ihm den Zugang zu Liebe und Partnerschaft, zu seiner Kultur und wahren Identität nimmt. Mohammed, das Vorbild der Muslime, war Vollwaise. Er wuchs ohne elterliche Liebe und Zuwendung auf. Damals glaubte er – wie auch andere seiner Sippe – noch an Lat, Uzza und Menat, drei Göttinnen seines Stammes, sowie an weibliche Engel. Sie alle halfen ihm in seiner Einsamkeit und Verlassenheit, die vermutlich seine Kindheit prägte, nicht. So war er der Härte des Lebens bereits in frühen Jahren ausgesetzt. Mohammed muss unter dieser Kindheit so sehr gelitten haben, dass er versuchte, sie im Nachhinein zu korrigieren, indem er durch den Islam Rache am gesamten weiblichen Geschlecht übte: Er erhebt die Versklavung der Frau zur göttlichen Ordnung. Durch die Verse 6 und 8 der Sure 93 lässt er zum Beispiel seinen Allah sprechen: »(…) und fand er dich nicht als Waise und nahm dich auf? Fand er dich nicht arm und machte dich reich?« Mit diesen Worten leugnet Mohammed, dass es seine Frau Khadija war, die ihn reich machte, und nicht Allah. Von ihr, einer klugen, älteren Geschäftsfrau, war er abhängig, denn er war zuerst nur ein unbedeutender Hirte, dessen Heiratsanträge an die Kusine Ümmi Hâni, die Tochter von Abû Talib, und an Zainap, die Tochter seiner Tante, väterlicherseits abgelehnt worden waren. Khadija aber stellte ihn ein und heiratete ihn. Sie machte aus ihm den Propheten. Es war ihre dritte Ehe. Sie brauchte jemanden, der ihre Arbeiten erledigte. Zu Khadijas Lebzeiten nahm Mohammed keine andere Frau, denn er war finanziell auf sie angewiesen. Nach ihrem Tod brach sein Narzissmus aus. Er war überempfindlich gegenüber jeglicher Kritik, wie eben narzisstisch 75
veranlagte Menschen sind, die Kritik nicht selten als Ablehnung ihrer ganzen Person verstehen, was in ihnen Gefühle der Wut, Scham oder Demütigung hervorruft. Ein Beispiel: Die Dichterin Esma aus dem Stamm Beni Evs prangerte in ihrer Dichtung Mohammeds Politik der Unterdrückung und Zermürbung an. Als Mohammed ihren Kollegen, den kritischen Dichter Abu Akaf ermorden ließ, verschärfte sie nochmals ihre Verse. Mohammed fragte öffentlich: »Wer mag mich von dieser Frau befreien?« Schließlich fand sich ein Mann namens Hatmi, der sie ermordete. Mohammed lobte den Mörder als einen Untertan, der Gott und ihm, dem Propheten, diene und dem das Paradies gewiss sei. Seine Wut verleitete ihn und seinen Gott zum Mord durch einen anderen Menschen. Allah war also nicht imstande, selbst zu strafen, und Mohammed selbst wartete nicht auf den Jüngsten Tag, den er pries. An dieser Stelle möchte ich bemerken: Auch die gläubigen Männer von heute können meist mit Kritik nicht umgehen. Mohammed erklärte sich also zum Propheten der Propheten, die da vor ihm waren. Allah hätte allen anderen befohlen, sich ihm, Mohammed, unterzuordnen. Im Paradies sei ein besonderer Ort, zu dem nur er Zugang habe. Er gab vor, unter dem besonderen Schutz Gottes zu stehen. Alle Engel und alle Wesen, die erschaffen worden seien, hätten sich ihm zu unterwerfen. Geradezu unerschöpflich war seine Fantasie, wenn es darum ging, sich eine Sonderposition zuzuschreiben. Schließlich erhöhte er sich in den Versen des Korans auf Gottes Ebene und hielt für alle Zeiten fest: Wenn Gott und sein Prophet etwas beschlossen haben, dann hätten die Menschen sich zu fügen. So begründete Mohammed seine kriegerischen, habgierigen und auch sexuellen Übergriffe mit Gottes Gnaden. Kein Angriff, sondern der bloße Verdacht genügte Mohammed, um den jüdischen Stamm Quraiza zu vernichten. Im Koran (Sure 8, Vers 58) lässt sich die Begründung nachlesen, sie besteht in der Befürchtung des Verrats. Deshalb ließ er an einem Tag an die 600 jüdi76
sche Männer köpfen, die Frauen und Kinder als Sklaven verteilen und die Palmen dieses Stammes umhauen, wobei Letzteres nach einem ungeschriebenen Gesetz der arabischen Kriegsführung ein absolutes Tabu war. Die Hörigkeit seiner Untertanen hinderte jene daran zu fragen, warum er überhaupt Kriege gegen andere Stämme führte, wenn doch Allah, so jedenfalls deklarierte Mohammed, bestimme, wer ein Muslim werde und wer nicht. Würden die islamischen Gläubigen tatsächlich in sich ruhen, dann müssten sie eigentlich gegen unliebsame Kritiker und Kritikerinnen voller Verständnis sein. Denn diese machen nichts anderes, als ungläubig zu sein – wozu sie angeblich Allah bestimmt hat. Was die Übergriffe im Privaten angeht, verbot Mohammed seinen Anhängern, in ein Haus zu gehen, in dem der Mann abwesend ist. Er selbst aber betrat unangemeldet das Haus seines Ziehsohnes und überraschte dessen Frau beim Baden. Es handelte sich dabei um dieselbe Frau, die er, als er arm gewesen war, hatte heiraten wollen, aber nicht bekommen hatte. Er erklärte kurzerhand, Allah habe sie ihm zum Weibe zugesprochen. Sein Ziehsohn ließ sich scheiden. Mohammed nahm die Frau in seinen Harem auf. Szenenwechsel: Fereshta Ludin, eine Frau afghanischer Herkunft, klagte in Deutschland, um sich im Schuldienst verschleiern zu dürfen – und die islamischen Verbände unterstützten sie. Auch die Taliban in Afghanistan wollen nichts anderes als islamisches Recht umsetzen. Was besagt dieses? Nun, ihr Vorbild Mohammed ließ den »straffälligen« Menschen die Augen ausstechen, die Hände und Füße kreuzweise abhacken, lebendig in einen Graben werfen und den langsamen Tod sterben. Frau Ludin verlor im Übrigen den Prozess, aber andere Streitfälle enden pro-islamisch, wenn zum Beispiel muslimische Jungen in der Schule beten dürfen und die Mädchen nicht zum Sportunterricht müssen. Ich meine, hier wird das deutsche Grundgesetz ausgehöhlt. 77
Die Tatsache, dass der Freiheit der muslimischen Mutter, Schwester oder Tochter in den meisten Fällen andere Grenzen als dem muslimischen Mann gesetzt sind, verzerrt das Familienverständnis – bis hin zur menschlichen Vermehrungsinstitution. Ein Junge aus einer solchen Familie sagte mir einmal: »Nein, es ist kein Problem. Wenn mein Vater seiner anderen Frau einen neuen Kühlschrank kauft, kriegen wir auch einen neuen.« Der Junge sieht es pragmatisch – eines Tages wird er erwachsen sein und wie sein Vater Macht ausüben, doch für seine zukünftige Frau sind Enge und Demütigung wahrscheinlich vorbestimmt: Sie wird als Mutter auf eine Frau reduziert werden, die kontrolliert wird und zu gehorchen hat, auf gleicher Stufe mit den Kindern. Und Mohammed predigte zu seinen Gläubigen: »Es gibt drei Leute, die dich verraten, wenn du sanft zu ihnen bist, und gut zu dir sind, wenn du hart bleibst. Das sind Frauen, Dienstboten und Arbeiter …«1 Ich wiederhole: Es ist nicht richtig, dass der Islam dem Mann die Macht gibt. Der Schein trügt, denn in Wirklichkeit macht der Islam den Mann zum unselbstständigen, verantwortungslosen, triebgesteuerten Menschen und zwingt ihn zur Gewalt. Schauen wir noch einmal auf Mohammed: Nach einem Überfall auf einen jüdischen Stamm nahm er die Frau des Stammesführers an Ort und Stelle in sein Zelt. Da er aber seine Kindfrau Aischa mit dabeihatte, war diese gekränkt. Als Aischa später den Aufbruch der Truppen verpasste und mit einem jungen Mann hinterherritt, munkelte man sofort, sie hätte es ihm heimgezahlt. Mohammed wollte daraufhin den Unschuldsbeweis. Doch Aischa, seine Kindfrau, sagte: »Wenn dein Gott alles weiß, dann muss er dir sagen können, ob ich dich betrogen habe.« Mohammed ließ, weil er von ihr nicht lassen konnte, Allah sprechen, dass sie ihn nicht betrogen habe. Die Leute aber, die ihn wegen
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Ghasâlî: Ulûmid-dîn, Band 2, Istanbul 1975, S. 117.
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des Gerüchts geärgert hatten, wurden in den Krieg geschickt oder anderweitig bestraft. Mohammed, das Vorbild, wollte also stets Beweise für den Glauben seiner Gefolgsleute und brauchte regelmäßig die Hilfe Allahs, um die Streitigkeiten in seinem Harem zu schlichten. Allah bestätigt im Koran die Triebsteuerung des Mannes in der Sure 33, Vers 59: »Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (als ehrbare Frauen) erkannt und daraufhin nicht belästigt werden.« Und Mohammed predigt seinen Gläubigen: »Es gibt drei Gründe, die das Gebet verderben: Das sind schwarze Hunde, Esel und Frauen.«2 In meinen Augen muss der muslimische Mann vor der Frau beschützt werden; er ist nicht in der Lage, seine Sexualität im Zaum zu halten. Stattdessen sollen sich die Frauen verschleiern, um den Mann nicht zu reizen. Paradoxerweise inszenieren sich jedoch pubertäre Musliminnen trotz Verschleierung als Sexobjekt. Sie tragen zu enge Kleidung und starke Schminke. Degradiert und reduziert auf ihr weibliches Geschlecht, versuchen sie auf diese Weise, ein wenig auf sich aufmerksam zu machen. Und sind sie später verheiratet, bestimmen Koranverse, dass die Frau ihren Mann im Diesseits zu befriedigen habe. Dabei ist es unerheblich, ob sie gerade Lust dazu hat. Allah macht für den Mann Sexualität zum Lohn des Versorgungsinstituts Ehe. Sexualität ist dann nichts, was Glück und Genuss verschafft, oder gar Ausdruck von Liebe. Sie ist eine Pflicht, eine Dienstleistung wie Bügeln, Wäschewaschen, Staubsaugen. Denn Mohammed sagte seinen Gläubigen, dass sie bei jeglichem Begehren nach Hause laufen und ihre Frauen beschlafen sollen.
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Zitiert aus: Sahihi Buhari [eine Publikation der Diyanet, d.h. des Amts für religiöse Angelegenheiten], Band 2, 8. Auflage, Ankara 1985, S. 441.
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Fazit: Die Wut Mohammeds erfand einen Rachegott, der ihm und mit ihm den männlichen Gläubigen erlaubt zu morden, zu rauben und Frauen Gewalt anzutun. Sie erfand einen Gott, welcher allmächtig, rachsüchtig und eifersüchtig ist. Diese Eifersucht und diese Gewalttätigkeit zeigen viele muslimische Männer, Brüder,Väter gegenüber ihren Familien. Politisch ohnmächtig und finanziell schwach, jagen sich einige von ihnen in die Luft – für das eigentliche Leben, das Leben mit 72 Jungfrauen im Paradies. Ein Muslim jedoch, der in einer Demokratie lebt, ist meiner Meinung nach aufgefordert, ein Bürger zu sein. In Deutschland bedeutet das, in einem Land zu leben, das die Aufklärung zu seiner Kultur zählen kann. Selbstverantwortung ist ein Teil dieser Kultur, gefördert wird hier der Mensch hin zu einer individuellen kritischen Persönlichkeit, nicht zum Untertan. Das ist ein grundlegender Widerspruch.
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Markus Liske
Vor der Himmelstür
unkelheit. Weihrauchgestank. Aus der Ferne sind Posaunen zu hören. Böööödöööö! Böööödöööö! Dann: Ein Dämmern. Ein diffuses, bleiches Licht breitet sich aus, wie das Bleigrau eines Wintermorgens. Es erstrahlt aus einem leeren, grauen Firmament und beleuchtet eine ebenso leere, ebenso graue Fläche, glatt und endlos. Auf dieser Fläche liegen zwei nackte, alte Männer. Mumienhaft dürr und vertrocknet ist der eine, der andere von feister Schwammigkeit. Der Dürre schlägt zuerst die Augen auf. »Hä? Wat is’n jetzt los?« Er blinzelt ein paar mal irritiert, dann richtet er sich auf. »Ey, dit is unfair! Was soll’n ditte?« Er sieht an sich hinab, bewegt vorsichtig Hände und Füße. »Mist, verdammter!« Harald Juhnke kann es nicht fassen. Was soll man denn noch alles tun, damit sie einen endlich in Ruhe lassen? All die Saufgelage, all diese grässlichen Abstürze – aber weder hatte seine Leber den Kampf aufgeben wollen noch die Fernsehnation ihre Liebe zu ihm. Dabei hatte er sich doch nichts mehr gewünscht als das: endlich Ruhe! Nicht mal, als er dann seinem Gehirn mit vier Flaschen Wodka den Garaus machte, um fortan sabbernd im Rollstuhl zu sitzen – nicht mal da hatten sie aufgehört, ihn zu fotografieren und auf Titelseiten zu setzen. Zum Kotzen! Und dann beschließt man einfach zu sterben, aber was passiert? Man wacht auf. Unfassbar. Wo bin ich hier eigentlich? Harald Juhnke sieht sich um. Graue Fläche, grauer Himmel, keine Horizonte. Ein Sinnbild ewiger Nüchternheit. So sieht sie also aus, die Säuferhölle. Na, klasse. »Haaalloooo? Haaaaaalloooooooo?«
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Keine Antwort. Kein Drink. Verflucht. Harald Juhnke steht vorsichtig auf, dreht sich um und zuckt unwillkürlich zusammen, als er den anderen nackten, alten Mann hinter sich entdeckt. Huaaah! Noch einer? Das Gesicht kommt ihm vage bekannt vor. »Hey, du! Aufwachen!« Vorsichtig tippt er den Dicken mit der Fußspitze an. Der schlägt die Augen auf, erblickt den über ihn gebeugten Juhnke und quiekt verzückt: »Mein Herr Jesus!« »Nee, Harald. Und wer bist du?« »Äh … Karol.« »Tach schön.« Der Papst setzt sich auf, erschrickt beim Anblick seiner nackten, schrumpeligen Männlichkeit und faltet schnell die Hände im Schoß. Juhnke lacht. »Na, aber! Brauchst dir doch nich zu schämen, Kalle. Keene Mädels hier. Hier is überhaupt nüscht. Sach an, Kalle: Wo sind wa hier jelandet, wat meenste?« »Im Himmel, wo sonst? Hosianna! Hosianna!« »Ach, komm, Kalle! Jetzt schau dir doch ma um! Wenn dit der Himmel is, dann bin ick n Engelken!« Karol blickt sich um, runzelt irritiert die Stirn und schaut sich sicherheitshalber noch einmal um, falls er eben was übersehen haben sollte. »Da kannste ewich kieken. Hier is nüscht außer uns.« »A … aber das muss der Himmel sein. Ich bin schließlich der Papst. Hosianna! Hosianna!« »Ach, daher kam mir dein Jesicht so bekannt vor. Is ja’n Ding.« »Und Ihr, lieber Harald, seid Ihr Priester?« »Nee, ick bin Säufer.« »Jesusmaria! Wie seid Ihr denn dann hierhergekommen? Ihr müsst auch etwas wirklich Großes geleistet haben.« »Icke? Na, vielleicht als schlechtet Beispiel. Höhöhö.« »Aber habt Ihr denn nicht zu Lebzeiten wenigstens den Namen des Herrn …« 82
»Nu mach ma halblang, Kalle. Nüscht hab ick jemacht. Nur jesoffen und den lieben Gott n juten Mann sein lassen. Und ick fühl mir deswejen auch nich schuldig. Keene Ahnung, warum ick so viel jesoffen hab. Stoffwechselkrankheit vielleicht. Oder Psyche. Wat ausse Kindheit. Keene Ahnung. Bin ick nie hinterjekommen. Hab trotzdem versucht, dit beste draus zu machen. Zwei, drei von denen Filmen war’n janz jut, gloob ick. Mit Gott hatten die aber ooch nix zu tun …« Der Papst verfällt in einen weihevollen Singsang: »Herr im Himmel, vergib diesem armen Süüüüünder! Lasse ihn nicht schmoren im Höööööllenfeuer, auf dass seine Seele verdaaaaammt sei! Sondern erlöse ihn von dem Bööööösen! Denn Dein ist die Kraft und die Heeeeerrlichkeit in Eeeeewigkeit! Aaaaamen!« »Sach ma, Kalle, wenn du so’n juten Draht hast, kannste nich noch um’n Drink für mich beten? Ick hab schon wieder so’n schlimmen Durst …« »Oh Herr, überhöre diese seine Wooooorte! Er wandelt im Dunklen und weiß nicht, was er saaaaagt! Erbarme Dich seiner und führe ihn zurück auf den rechten Pfaaaad! Denn Dein ist die Kraft und die Heeeeerrlich …« »KAROL WOYTILA! SCHWEIG!«, donnert es in diesem Moment von irgendwo oben. Beide zucken zusammen und starren elektrisiert in das blassgraue Firmament. Der Papst fasst sich als Erster: »Herr, hier bin ich! Dein Diener ist heimgekehrt! Halleluja! Hosianna! Hosian …« »DU SOLLST SCHWEIGEN, KAROL WOYTILA!« »Ja, Herr! Ich höre Dein Wort und gehorche! Ich, Dein untertäniger …« »SCHWEIG ENDLICH!« Bibbernd sinkt der Papst auf die Knie. »NUN ZU DIR, HARALD! ICH WILL DICH TESTEN!« »Hoffentlich nich die Leber, höhö! Tschuldigung, war nur’n kleener Spaß. Nüscht für unjut.« 83
»DEINEN GLAUBEN WILL ICH TESTEN!« Juhnke hatte so etwas schon befürchtet. Wenn nur dieses Durstgefühl nicht wäre. Unerträglich. Welch ein Alptraum. Wahrscheinlich bin ich noch gar nicht tot. Das hier muss immer noch das Delirium sein. »Dann mach mal hinne, Herr! Ick hab Durst!« »GLAUBST DU, DASS ICH EINST DIE MENSCHEN AUS DEM PARADIES VERTRIEB, WEIL SIE MIR EINEN APFEL STAHLEN? GLAUBST DU, DASS ICH SODOM UND GOMORRHA MIT BLITZEN ZERSCHLUG, WEIL DIE LEUTE DORT UNZUCHT TRIEBEN, DASS ICH DIE MENSCHHEIT HERNACH MIT EINER SINTFLUT ERSÄUFTE UND DASS ICH MEINEN EIGENEN SOHN VON EUCH ANS KREUZ NAGELN LIESS?« »Äh … nö … ick …« Bevor Juhnke noch etwas über Verhältnismäßigkeiten sagen kann, fällt ihm schon der Papst ins Wort: »Ja, Herr! Ich glaube es! Es ist alles wahr! Hosianna! Hosianna!« »KAROL WOYTILA! HÄLTST DU MICH FÜR EINEN PARANOIDEN WAHNSINNIGEN? NIEMAND MACHT SO VIEL ÄRGER WEGEN EINES BEKLOPPTEN APFELS! NIEMAND SCHLEUDERT BLITZE WEGEN EIN BISSCHEN ANALSEX! UND NIEMAND LÄSST SEINEN EIGENEN SOHN ZU TODE FOLTERN!« »A … aber, Herr!« »SCHWEIG, KAROL WOYTILA! HARALD, DIE ANTWORT WAR RICHTIG. NÄCHSTE FRAGE: GLAUBST DU AN DIE UNBEFLECKTE EMPFÄNGNIS UND DIE JUNGFRÄULICHKEIT MARIAS?« »Natürlich nich. Ick kann nur sajen …« Abermals ist der Papst aufgesprungen: »Aber ich, Herr! Ich glaube daran! Halleluja! Hosian …« »KAROL WOYTILA! JETZT SCHLÄGT’S DREIZEHN! SO KOMPLIZIERT IST DAS DOCH GAR NICHT MIT DER BIO84
LOGIE! DASS IHR MEINE SCHÖNE QUANTENMECHANIK NOCH NICHT KAPIERT, OK. ABER DAS MIT DER FORTPFLANZUNG HAB ICH DOCH WIRKLICH SIMPEL GENUG GESCHAFFEN! DAS MIT PIPIMANN UND MUMU, DAS KAPIERT DOCH JEDER VIERZEHNJÄHRIGE! WIE BLÖD BIST DU EIGENTLICH?« »Aber, Herr …« »SCHWEIG ENDLICH! DEINE ANTWORT WAR RICHTIG, HARALD. LETZTE FRAGE: GLAUBST DU AN DEN SINN DES LEBENS?« »Nö, hab ick nie entdecken können. Vielleicht hab ick ja deswejen immer saufen müssen. Hab mir immer jedacht: Wat soll’s? Is ja doch allet sinnlos …« In diesem Moment erschallt ein donnerndes Gelächter. Die blassgraue Ebene bebt. Im blassgrauen Firmament tut sich ein leuchtendes Tor auf. Ein überaus verwirrter Juhnke wird in die Höhe gerissen und durch das Tor gesogen, das hinter ihm wieder zufällt. Ein noch verwirrterer Papst bleibt zurück. Leise kann er noch Gottes Stimme in der Ferne hören: »GEHT MIR AUCH OFT SO, HARALD. WIRKLICH, KONNTE SELBER NOCH KEINEN SINN ENTDECKEN. UND INZWISCHEN FINDE ICH DAS ALLES AUCH ZIEMLICH LANGWEILIG. KOMM MIT. ICH HAB NOCH EIN FLÄSCHCHEN MALT-WHISKY. 125 JAHRE ALT. DAS KRIEGST DU BEI EUCH DA UNTEN ÜBERHAUPT NICHT …« Das Gläserklirren verklingt. Es ist wieder still geworden. Unter einem blassgrauen Firmament steht ein nackter, einsamer Papst auf einer endlosen, blassgrauen Ebene. »Hallo? Haaaallooooo?«
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Karsten Krampitz
Im Nachtasyl Zu Besuch in der Massennotunterkunft der Berliner Stadtmission – ein Selbstversuch
ein Platz«, sagt der Mann. »Noch Fragen?« Anfang dreißig wird er sein, südländischer Typ. Er trägt merkwürdig zerrissene Jeans, solche die an den Taschen zerfetzt sind. »Ich hab doch eben was gesagt? Das ist meine Bank!« – »Ach ja?«, antworte ich. Jetzt baut er sich vor mir auf, nur mag die Drohgebärde nicht so recht überzeugen. Man droht nicht mit Dingen, die man nicht tun kann: Der arme Kerl ist völlig erschöpft, kurzatmig. Die Stimme zittert. Seit drei Wochen schlafe er auf eben dieser Holzbank – »und das jede Nacht!« Gut möglich, denke ich. In diesem Raum, der vielleicht zehn Meter breit und siebzehn Meter lang ist, sind nun wirklich überall noch Plätze frei. Weiter hinten sogar ganze Bänke. Er aber: »Da kannst du ja hingehen …«
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23.45 Uhr. Ich bin im Keller der Stadtmission, in der Lehrter Straße 68, nahe dem Berliner Hauptbahnhof. Hier im Souterrain sind schon mindestens dreißig Leute – und das ist nur der Aufenthaltsraum. Wie viele werden es dann erst im Nebenhaus sein, in den Schlafräumen? Bis jetzt ging alles gut. Alles nur ein Spiel. Ein Premiumpenner bin ich. Einer, der jederzeit den Weg nach draußen nehmen kann, einer, der zu Hause ein eigenes Bett hat. Und ein Bad. Ein Handy habe ich dabei und etwa fünfzehn Euro. Für ein Taxi dürfte das reichen. »Alter, meine Bank …« Der Mann will nicht locker lassen. Ich denke, wenn er wirklich müde ist, wird sich das Personal gerne 86
seiner annehmen, ihn ins »Schlafhaus« bringen; es wird ja keiner gezwungen, hier unten im Keller zu bleiben. Am Gang zur Küche sind wir eine Runde von vier Leuten, und ausgerechnet ich werde angepöbelt – ich, der »Neue«. Hermann, mein Begleiter, schlägt dem Türken oder Libanesen vor, dass wir uns die Bank teilen. »Einer sitzt, der andere liegt. Wo ist das Problem?« Warum eigentlich nicht? Wir wechseln uns ab. Erschöpft lässt der Südländer sich neben mich fallen. »Du bist hier der einzige Ausländer«, sage ich. »Weil ich kein Pole bin.« Seine Augenlider sind schon halb zugefallen. »Was hat das damit zu tun?«, frage ich. »Ach, frag nicht so blöd«, nuschelt er und schläft ein. Hermann ist ganz und gar nicht müde. – Er ist mein Passmann, fünfzig Jahre alt, obdachlos und Malermeister. So einfach geht das mit der Reportage. Ein kleiner Handel und ich darf ihn heute Nacht begleiten. Das Wort »Passmann« stammt übrigens aus der Baubranche: Ein Passmann oder »Spannmann« ist der Kollege, mit dem man zusammen malochen muss. Zwei Passmänner sind so eine Art kleinste Zelle einer Baufirma. Genauso sei es »auf Platte«, sagt Hermann. Man zieht gemeinsam von einer Teestube zur nächsten. Hier eine Stulle, dort eine Suppe, zwischendurch werden Flaschen und Kippen gesammelt. Und mit etwas Glück erschnorrt man sich am Bahnhof ein paar Fahrkarten, die noch nicht abgelaufen sind. Die werden dann weiterverkauft oder benutzt. Hermann hat Zahnschmerzen. »Tut scheiße weh«, sagt er. Mich wundert, dass Hermann überhaupt noch Zähne hat. »Doch, doch. Sogar die meisten. Oder wenigstens die Wurzeln.« 0.15 Uhr. Hermann hält sich vor Schmerz die linke Wange. Jetzt einen Schnaps, meint er, nur so zur Betäubung. Dafür aber müsste er an den Kiosk, raus auf die Straße, und ein zweites Mal 87
pro Nacht wird man hier nicht reingelassen. Die Betreuer fürchten, dass sich die Obdachlosen sonst jedes Mal draußen betrinken. Wenn sie dann wieder reinkämen, steige die Gewaltbereitschaft. »Wo ist eigentlich dein Spannmann?«, will ich von Hermann wissen. Schließlich bin ich ja nur die Vertretung. »Der ist eingefahren, vor ein paar Tagen. Hatte weder Fahrkarte noch Ausweis.« Eine Schwarzfahrt entspricht in etwa zwei Tagessätzen. Und wenn man genug davon beisammen habe, behielten sie einen gleich auf dem Revier. Hermann sagt, früher habe er wenigstens noch in der S-Bahn schlafen können. Inzwischen aber werde dauernd kontrolliert. Die Frau bei uns am Tisch, eine Bekannte von Hermann, mischt sich ein: »Oder jemand ruft: ‚Schön’ guten Tag, ich bin obdachlos und verkaufe hier …’« Derweil löffelt sie ihre Nudeln vom Teller, kaut und spricht mit halb vollem Mund: »Der Penner wegen können wir dort nicht mehr schlafen.« Die anderen lachen. Bis eben habe ich gedacht, die Frau würde hier arbeiten. Wie die Studentinnen, die uns vor gut einer Stunde in Empfang genommen haben. Deren Begrüßung war doch recht apart: Hermann klingelte an der Tür. Es dauerte einen Moment, doch dann: »Guten Abend! Kommen Sie herein!« – Wann bin ich das letzte Mal so angelächelt worden? Ich trage einen abgewetzten Parka und hässliche, wie Hermann sie nennt, »Essengeldturnschuhe«. Außerdem bin ich weder geduscht noch rasiert. Aber das spielt keine Rolle. »Waren Sie schon mal bei uns?«, höre ich sie mit ruhiger Stimme fragen. »Dann erkläre ich es Ihnen. Ich muss Sie jetzt leider kontrollieren, nach Waffen und Alkohol. Wir schließen das dann ein, und wenn Sie gehen, bekommen Sie die Sachen zurück.« Sie tastet mich ab: Oberkörper, Beine und noch mal die Schultern. Fühlt sich gut an. 88
»Alles in Ordnung«, sagt sie. Wenn ich Hunger habe, soll ich am Tresen Bescheid geben. Auch, wenn ich in einen der Schlafräume möchte. Entweder sie oder ein Kollege werde mich dann ins andere Haus bringen. 0.30 Uhr. Hermann und ich haben es vorgezogen, hier im Souterrain zu bleiben. Soll keiner sagen, ich hätte einem Bedürftigen den Schlafplatz weggenommen. Es zieht. Wir sitzen aber auch direkt im Windkanal, ständig geht die Tür auf und zu; der Kältebus bringt neue Männer – meist alte und kranke, die bei diesem Wetter noch »Platte« gemacht haben. Die Temperaturen liegen ja nachts derzeit bei drei bis fünf Grad unter Null. Nach und nach versuchen die Leute, ein wenig zu schlafen. Die einen auf dem Fußboden, andere über den Tisch gebeugt. Der Nächste hat sich drei Stühle zusammengeschoben. Allerdings ist die Stimmung merkwürdig gereizt. Eben noch wollte ich mir einen Tee holen. Nicht etwa, weil ich durstig bin, sondern aus Langeweile. Der Kessel neben der Infowand aber ist leer. Kurz darauf stoße ich mit dem zusammen, der ihn in die Küche trägt. Und das, obwohl weit mehr als ein Meter zwischen uns Platz gewesen ist. »Pass bloß auf!«, zischt er mir zu. Alles klar, denke ich, der Herr Kalfakter. Hat sich hochgearbeitet und schaut nun auf mich herunter. Offenbar bin ich nicht der Einzige mit Langeweile. 1.15 Uhr. Jemand redet leise am Tisch, auf einmal hört man es von hinten rufen: »Sei doch mal ruhig!« – »Sei du ruhig!« – »HALT DIE FRESSE! ICH WILL PENNEN!« Ein anderer: »RUHE!!!« – »Ich hab doch gar nichts gesagt.« – »Dich Arsch hab ich auch nicht gemeint!« – »Hast du eben Arsch gesagt?! Ich polier dir …« Schließlich von allen Seiten: »RUUUUHE!!!! RUUUUHE!!!!« Plötzlich Stille. Einer der beiden Männer, die in der Küche 89
arbeiten (zwei Meter groß und nicht ganz so breit) steht im Raum. Die Arme hält er verschränkt und sagt kein Wort. Er steht nur da, einen Moment, eine halbe Minute, um dann wieder in die Küche zu gehen. Mein südländischer Nachbar, mit dem ich so hart um diese Bank gerungen habe, ist wieder wach geworden. Er reibt sich die Augen, gähnt. Leise frage ich, warum er nicht ins Schlafhaus geht. »Lass man gut sein.« Der Tag habe ihm schon gereicht, da wolle er wenigstens nachts seine Ruhe. »Ich bin so müde. Ich Idiot bin in der S-Bahn eingeschlafen. Richtung Strausberg …« Und ein paar Bahnhöfe weiter waren dann in Hose und Jacke die Taschen zerschnitten. »Das Geld, die Papiere – alles gestohlen.« 2.10 Uhr. Gerade bin ich eingenickt, da weckt mich mein Passmann: Der Kältebus habe Feierabend gemacht. »Jetzt kommt keiner mehr. Wenn du willst, gehen wir ins Schlafhaus.« Also gebe ich am Tresen Bescheid. Der Zwei-Meter-Mann aus der Küche nickt. In dem schwarzen Kapuzen-Pullover wirkt er fast wie ein Mönch. »Moment. Ich rufe nur drüben an und frage, ob was frei ist.« Unterdessen werfe ich noch einen letzten Blick in Richtung Liste, die auf dem Tisch am Eingang liegt. Jeder Gast trägt sich hier mit Vornamen ein. Am linken Rand sind die Zeilen nummeriert. In dieser Nacht haben 122 Obdachlose die Notunterkunft der Stadtmission aufgesucht, die laut offiziellem Plan der Berliner Kältehilfe nur für bis zu 60 Menschen zugelassen ist. Gegen 3.30 Uhr. Mit acht Männern bin ich in einem Zimmer. Ich liege auf einer Isomatte mit Decke und Kissen. Einen solchen Gestank habe ich noch nie erlebt. Achselschweiß, Fußschweiß, Urin. Und dann erst das Schnarchen – acht Männer, die vor sich hinsägen oder wenigstens komatös röcheln. Dauernd kratzt sich irgendwer. Mittlerweile weiß ich, wie es am 90
Bauch klingt. Das Kratzen erzeugt dort von Zeit zu Zeit so ein Glucksen der Eingeweide, während beim Kopfkratzen die Haare rascheln. Vielleicht sollte ich mir besser ein Taxi holen. Und Hermann? Ich kann ihn ja unmöglich zurücklassen. Seite an Seite liegen wir. Er hat es tatsächlich fertiggebracht, hier einzunicken. Wie heißt es: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. 6.30 Uhr. Mein Spannmann ist weg! Wie kann das sein? Eben hat die Studentin uns geweckt – nun ja, »wecken« ist gut: Die letzten Stunden habe ich nur apathisch dagelegen. Eigentlich hätte ich merken müssen, wie Hermann sich davonmacht. Ich beeile mich mit dem Aufstehen, laufe zur Tür, drehe mich im Gang noch einmal um und sehe das Schild KRANKENZIMMER. Auch das noch! Nachher wird es heißen, ich wäre in der Nacht zu spät gekommen. Die Ärztin sei nicht mehr da gewesen und ohne ihre Kontrolle dürfe niemand in die »normalen« Zimmer. Ja und? Hätte man mich nicht trotzdem über die Risiken und Nebenwirkungen dieser »Nachtruhe« aufklären können? Und wo zur Hölle steckt Hermann? Ich bekomme Angst, mir irgendwas eingefangen zu haben, laufe den Gang runter, will die Tür aufreißen, die klemmt. So ein komischer Kasten unter der Klinke verhindert, dass ich sie runterdrücke. In der Hektik schiebe ich ihn weg. ALARM! Ein höllischer Krach bricht los, aber keine richtige Sirene. Nun wird auch der Letzte aufgewacht sein. Die Studentin kommt. »Nicht weiter schlimm«, sagt sie und bringt die Anlage in Ordnung. »Es kommt gleich jemand, der Sie zum Frühstück bringt.« 7.05 Uhr. Wieder im Aufenthaltsraum. Ich sehe mich um. Na großartig, mein Spannmann ist wirklich desertiert. Keine Ahnung, wo Hermann steckt. Wenigstens habe ich inzwischen ei91
nen Pott Kaffee. Ich trinke ihn schwarz. Denn ich habe keine Lust, mich auch noch für die Milch anzustellen. Frühstück soll es gleich geben. Vorab aber eine kleine Andacht, wie jeden Morgen. »Also, ich muss euch jetzt eine Geschichte erzählen«, sagt die Studentin. Von den Obdachlosen hat keiner die Hände gefaltet. »… eine Geschichte, wie sie sich im Busch zugetragen hat.« Da sei ein Hirte gewesen, der habe Rinder gehabt, die er über den Fluss treiben wollte. Es gab nur ein Problem: Im Fluss waren Piranhas. Böse Sache. Auf jeden Fall habe eben dieser Hirte ein krankes Rind, also eines, das vorher schon geblutet hat, ins Wasser geschickt, auf dass die Piranhas sich auf das Tier stürzen. Und während nun diese Fischbrut beschäftigt und vor allem abgelenkt gewesen sei, habe der Hirte an anderer Stelle seine Herde sicher ans andere Ufer getrieben. »Und genauso verhält es sich mit Gott, der hat seinen einzigen Sohn hergegeben, damit wir alle …« – Amen.
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Christoph Ludszuweit
Zur »Ehe« von Feuerstuhl und Kanzel
ch glaube. Ich glaube nicht. Ich glaube, ich glaube nicht an viel, weder an Kirchen noch an Religion, und doch empfinde ich ein Gottvertrauen, Gottesehrfurcht. Nur mangelt es mir an einer Gottesvorstellung. Das in der Kindheit entstandene Bild von Gott als oben schwebender, weißbärtiger Mann, der uns an der Himmelspforte gütig empfängt, kann es doch nicht sein. Es gibt kein Bild von dir, Gott, weil wir dich nicht sehen können und kein Mensch dich je gesehen hat. Es wird gesagt, dass Gott eigentlich so groß ist, dass man ihn gar nicht malen kann. Du beschäftigst mich, Gott! Immer öfter denke ich an dich. Erst durch die Übertragung auf den christlichen Gott wurdest du ja »der Gott«, nachträglich von Christen vermännlicht, im Mittelhochdeutschen warst du »got«, ein grammatisches Neutrum. Der Physiker Max Planck, ein Mann, der sein ganzes Leben der nüchternen Wissenschaft, der Erforschung der Materie widmete, nannte dich »Gott«, als er nach seinen Erforschungen des Atoms sagte: »Es gibt keine Materie an sich! Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Atoms zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente noch eine ewige (abstrakte) Kraft gibt, (…) müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten, intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie. (…) Da es aber Geist an sich nicht geben kann und jeder Geist einem Wesen zugehört, so müssen wir zwingend Geistwesen annehmen. Da aber auch Geistwesen nicht aus sich selbst sein können, sondern geschaffen werden müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu nennen, wie
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ihn alle alten Kulturvölker der Erde früherer Jahrtausende genannt haben: – GOTT!« Nur: Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Und die Perversion besteht doch auch darin, dass du, Gott, zu einem »Göttle« gemacht wirst. In seinem Roman Regierung aus der Caoba-Serie verwendet der Individualanarchist B. Traven, 1969 in MexikoStadt verstorben, das Bild vom Feuerstuhl, ein Ritual mexikanischer Indios: Dort müssen sich diejenigen, die ein öffentliches Amt übernehmen wollen, der Feuerstuhlprobe unterziehen. Sie sitzen auf einem Stuhl, unter dem ein Feuer entfacht wird. Wer durchhält, wird gewählt – für ein Jahr; danach wird die Feuerprobe wiederholt. Was hat uns denn immer mehr von dir, Gott, entfernt? Es ist das jahrhundertealte Bündnis von Thron und Altar, eine Verbindung, welche die Kirchen in geschichtliche und politische Mitschuld verstrickte. Die klebrige Nähe der Kirche zur weltlichen Macht musste misstrauisch machen. Da predigt man Wasser, aber trinkt ausgiebig Wein, singt immer wieder die vielversprechenden Lieder mit Appellen, alle Aspekte unseres Lebens permanent von einem gütigen, himmlischen Übervater überwachen und kontrollieren zu lassen, »das alte Entsagungslied, das Eipopeia vom Himmel, womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel« (Heinrich Heine). Nun leeren sich deine Kirchenhäuser, ein Buchtitel lautet Der Herr ist kein Hirte und Slogans, auf Bussen in Spanien plakatiert, fordern zum Hedonismus auf: »Wahrscheinlich gibt es keinen Gott. Entspannt euch und genießt das Leben!« Römische Kaiser ließen sich als Götter verehren. Die Christen, die dies nicht machten, kamen in die Arena. Konstantin merkte als letzter dieser Kaiser die Zeichen der Zeit, dass man einen anderen Kitt als den Kaiserkult brauchte, und brachte Thron und Altar zusammen. 1959 hatte der Cottbuser Generalsuperintendent Günter Jacob für Aufsehen gesorgt, indem er vor der EKD-Synode vom »Ende des Konstantinischen Zeitalters« 94
sprach. Er deutete in seiner Analyse die Entchristianisierung von Staat und Gesellschaft in der DDR so: Er sah in ihr eine sichtbare Vorwegnahme der auch im Westen weit fortgeschrittenen Säkularisierung – einen Prozess, den er in allen nur auf Wissenschaft und Technik setzenden Industriegesellschaften vermutete. Das im 4. Jahrhundert von Konstantin begründete Bündnis von Thron und Altar, die tradierte Vorstellung von einem christlichen Abendland, würde der Vergangenheit angehören. In beiden deutschen Staaten sollten die Kirchen daraus ihre Konsequenzen ziehen.. »Es muss also von uns gemeinsam die Antwort gesucht werden, die uns im Osten und im Westen aus falschen Bindungen befreit und uns den vom Evangelium her gebotenen Weg in der veränderten Welt von heute entdeckt.«1 Lieber Gott, so viele linke Gedanken kommen aus der kirchlichen Tradition, ganz klassisch aus der Bergpredigt! Erlaube uns, an die Stelle des Bündnisses von Thron und Altar nun die »Ehe« von Feuerstuhl und Kanzel zu setzen. Der Feuerstuhl ist sehr nahe an der Theologie der Befreiung angesiedelt, am Einklang von Religion und Leben. Für Traven sind allerdings »Priester und Mönche (…) jeher in allen Ländern, bei allen Religionen und zu allen Zeiten gute Geschäftsleute gewesen« (aus: Der Marsch ins Reich der Caoba) und im Karren poltert er ruppig: »Kirche und alles, was damit zusammenhängt, ist im Übrigen nur interessant und wichtig für die, die nichts anderes zum Nachdenken haben.« Für Mitgefühl und Widerstand setzt er sich ein, aber an den Kirchen lässt er kein gutes Haar. Seine antimilitaristische Zeitschrift Ziegelbrenner aus der Münchner Zeit der Räterepublik enthält dabei viele Bezüge zur Bibel. Später schreibt er im Totenschiff: »Der Mensch muss Moral haben. 1
Zitiert nach Röder, Hans Jürgen: Kirche im Sozialismus. Zum Selbstverständnis der Kirchen in der DDR. In: Henkys, Reinhard: Die evangelischen Kirchen in der DDR, Beiträge zu einer Bestandsaufnahme, München 1982, S. 64f.
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Der Staat kennt keine Moral. Er mordet, wenn er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für gut befindet, er zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was er will. Aber diesem Ungeheuer gegenüber ist er [Gott, Anm. d. Verf.] nur ein armer Stümper. Seine Menschen handelten ganz selbstständig, liefen ihm davon, achteten seine Gebote nicht, sündigten vergnügt wie toll und setzten ihn endlich ab.« Als Kronzeugen für die »Ehe« von Feuerstuhl und Kanzel könnten Menschen wie Dietrich Bonhoeffer dienen oder der 1993 verstorbene evangelische Theologe Helmut Gollwitzer. Dieser forderte – oft zum Ärger der Amtskirche – öffentliche Einmischung gegenüber dem Unrecht dieser Welt. Er trat der Bekennenden Kirche bei, die sich von der mit den Nazis kollaborierenden evangelischen Kirche distanzierte, und setzte sich früh nach Kriegsende für den christlich-jüdischen Dialog mit Israel ein. Christen sollten wenigstens »anschreien« gegen Krieg und Ungerechtigkeiten, gegen Ausbeutung und Ungleichheit. »Sozialisten können Christen sein, Christen müssen Sozialisten sein«, zitierte er gern Adolf Grimme. Er sah die Kirchen durch die Verflechtung von Mission und Kolonialpolitik eng mit dem weißen Imperialismus verbunden. Sein Schüler Friedrich Wilhelm Marquardt, 2002 verstorben, versuchte, die christliche Theologie im Rückgriff auf ihre jüdischen Wurzeln einer radikalen Revision zu unterziehen. Ihn beschäftigte das Versagen der christlichen, insbesondere der protestantischen Kirchen gegenüber den Juden im Nationalsozialismus, daraus entstand seine Verbundenheit mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Lieber Gott, ich kann meine protestantische Herkunft trotz Kirchenaustritt nicht an der Garderobe ablegen wie einen Mantel. Auch den Pietismus nicht, mit all seinen teils peinigenden Schuldgefühlen. Ach Gott, warum ließest du mich Sprachlehrer werden! Die Frage, ob es einen Gott gibt, ist allenfalls grammatikalisch korrekt, aber falsch gestellt, weil Gott kein Objekt ist. 96
Christine Preißmann
Draußen ohne Gott?
ibt es Gott wirklich? Wohl nahezu jeder von uns stellt sich diese Frage zumindest gelegentlich. Tägliche Meldungen in den Medien über Terror, Krieg, Armut und vielfältiges sonstiges Leid lassen uns immer wieder an seiner Existenz zweifeln. Mein Medizinstudium führte mich im Rahmen eines Praktikums für ein halbes Jahr nach Uganda, Ostafrika, in ein traumhaft schönes Land in bitterer Armut. Unvorstellbar war für mich vor allem der Tod vieler Patienten durch Infektionskrankheiten, die mit rechtzeitiger medikamentöser Behandlung problemlos hätten kuriert werden können. Der Anblick der mangelernährten Kinder war kaum auszuhalten. Und doch hatte ich gerade in Uganda immer wieder das Glück, Gottesdienste mitzuerleben, in denen Frauen in bunten Festgewändern aus Dankbarkeit fröhliche Tänze aufführten. Ich habe mich damals oft gefragt, wie das alles wohl zusammenpasst. Auch mein eigenes Leben ist nicht immer leicht. Im Alter von 27 Jahren habe ich die Diagnose einer leichten autistischen Störung (Asperger-Syndrom) erhalten und dadurch endlich Antworten auf viele Fragen in meinem Leben gefunden. Jetzt weiß ich, wo meine Schwierigkeiten bzw. meine Stärken liegen, und kann meinen Alltag danach ausrichten. Allerdings ist es aber natürlich auch so, dass man sich andererseits neue Fragen stellt, wie es wohl weitergehen wird, wie selbstständig ich mein Leben werde führen können. Und natürlich überkommt mich dann auch eine gewisse Traurigkeit, dass es Dinge gibt, die mir wohl niemals möglich sein werden. Geblieben sind auch zahlreiche Probleme, insbesondere die oft quälende Einsamkeit, außerdem immer wieder depressive Phasen sowie Zukunftsängs-
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te. Ich habe nur sehr wenige Bezugspersonen und große Schwierigkeiten mit Freundschaften und Beziehungen, was mich immer wieder sehr frustriert. Manchmal hadere ich deswegen auch mit Gott. Ich kenne Phasen, in denen es mir sehr schwerfällt weiterzukämpfen, in denen ich mich nach dem Sinn meines Daseins frage, mutlos und traurig bin. Wenn ich dann unterwegs bin oder aber im Fernsehen die traumhaften Landschaften sehe, die uns umgeben, die Berge, die ich so liebe, Wiesen und Wälder, so werde ich oft verzweifelt, weil ich eigentlich trotz aller Einschränkungen sehr gern lebe und mein Leben auch liebe. In diesen Momenten hilft es mir sehr, in eine Kirche zu gehen und eine Kerze anzuzünden. Ich stelle sie zu den anderen und freue mich darüber, dass sie genauso aussieht wie alle anderen Kerzen, die dort brennen, dass sie bei den anderen sein darf und nicht abseitsstehen muss. Es tut mir gut, das zu erleben, denn ich merke, dass ich mir das alles auch für mich selbst wünsche. In Zeiten schwieriger Lebenssituationen, in persönlichen Notlagen oder in Krisen scheint es also manchmal leichter zu sein, einen Bezug zum Glauben zu finden. Das Gebet oder einfach eine ruhige Zeit in einem Gotteshaus können dann viel Kraft geben, den eigenen Weg zu gehen, können helfen, einen neuen Sinn im Leben zu finden, auch wenn es für viele Menschen ein Leben der Entbehrung und des Leids ist. Ohne meinen Glauben hätte ich vermutlich längst resigniert. Nun kann man natürlich sagen, es ist ja traurig, wenn man erst in schwierigen Zeiten, in persönlicher Not verstärkt die Nähe Gottes sucht. Aber genauso gut lässt sich argumentieren, wie wertvoll es ist, wenn sich einem Menschen gerade in diesen Situationen der Weg zu Gott wieder neu aufzeigt. Es ist erleichternd zu wissen, dass es da jemanden gibt, der uns nicht allein lässt und der sich von uns auch dann neu finden lässt, wenn wir ihn lange Zeit kaum gesucht haben. Eine große Freude ist für mich das Weihnachtsfest. Es sind da98
bei all die schönen Rituale, die mich erfreuen, die vielen Lichter und Düfte, das leckere Gebäck und die festliche Stimmung. Ganz besonders wichtig aber ist mir der religiöse Hintergrund, die Geburt Jesu. Gerade für mich als Mensch mit vielfältigen Einschränkungen ist es unendlich tröstlich zu erfahren, dass er auch meinetwegen Mensch geworden ist und sich von Herzen wünscht, dass auch mein Leben gelingen möge. So habe ich beschlossen, nicht aufzugeben, sondern für mich und andere Menschen in ähnlichen Situationen zu kämpfen. Ich halte Vorträge und publiziere Texte, um dazu beizutragen, dass der Autismus in all seinen Facetten bekannter und somit den betroffenen Menschen mehr Verständnis entgegengebracht wird. In dieser Aufgabe habe ich viel Erfüllung gefunden, ich habe viele schöne Stunden erlebt, liebe Menschen kennengelernt und neue Gegenden erkundet, die mir sonst vermutlich verborgen geblieben wären. Zwar bedeutet das für mich große Anstrengungen, diesen Weg zu gehen, aber ich bekomme unendlich viel Kraft zurück. Vor allem habe ich gelernt zu entscheiden, was für mich im Bereich des Möglichen liegt und was mich andererseits hoffnungslos überfordert. Ich habe aufgehört, gegen alles zu rebellieren, was mir nicht möglich ist. Im Großen und Ganzen kann ich meinen Alltag so einrichten, dass ich, wenn die äußeren Faktoren günstig sind, mit wenig fremder Hilfe relativ gut und stabil leben kann. Es ist ein Leben, das zu mir passt, und trotz aller Schwierigkeiten ist es ein gutes Leben. Gerade erst in den letzten Jahren habe ich mich sehr stark weiterentwickelt. Ich interessiere mich wesentlich mehr für andere Menschen und habe auf diese Weise unglaublich viel gelernt, ich bin öfter unterwegs und unternehme mehr – beruflich wie privat. Manchmal denke ich in solchen Momenten, ich beginne allmählich, meinen Platz in dieser Welt zu finden. Dann bin ich sehr glücklich. Doch wenn mir wieder bewusst wird, was in meinem Leben fehlt, dass ich dabei immer allein bin und nieman99
den habe, mit dem ich einen Teil meiner Freizeit und diese Glücksmomente teilen kann, dann kehrt tiefe Traurigkeit zurück. Ich glaube, so wird es wohl immer bleiben – zwischen diesen extremen Gefühlszuständen werde ich mich wohl auch zukünftig bewegen. Aber vielleicht gelingt es mir eines Tages, meinen eigenen Weg zu finden und ihn mit Gottes Hilfe trotz aller Widerstände bis zum Ende zu gehen. Das wünsche ich mir sehr. Ein gutes Leben bedeutet ja nicht unbedingt materiellen Reichtum, körperliche Unversehrtheit oder permanentes Glück. Ich glaube, viele der Menschen in Uganda, die voller Freude tanzen, haben das bereits begriffen. Und trotz aller Prüfungen, die er sich immer wieder neu für mich ausdenkt, sind wir eigentlich ein ganz gutes Team, mein Gott und ich.
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Bodo Ramelow
42 oder wie ich lernte, die Weisheit der Computer zu lieben
42 ist die ultimative Antwort aller Antworten. 42 ist die einzige Antwort aller Antworten und damit auch das Ausrufezeichen hinter jeder Frage aller Fragen. Der britische Autor Douglas Adams lässt in seiner genialen Satire Per Anhalter durch die Galaxis, einer wunderschönen poetischen Beschreibung der Reisen durch Zeit und Raum, durchs Universum und alle Galaxien, seine Romanfiguren den großen Computer, also die Mutter aller Computer, befragen. Dieser Computer ist in seinen Speicherkapazitäten und seiner Rechenfähigkeit größer als die Computer der CIA, des amerikanischen Militärs, von Amazon.de und Walmart zusammen. Millionen von indischen Programmierern können nicht so viel Software bereitstellen, um diesem Mastercomputer aller Computer in Douglas Adams literarischem Vermächtnis (er starb 2001, gerade 51-jährig) mit seiner fantastischen Rechenleistung Paroli bieten zu können. Dieser Computer also gibt auf die Frage »nach dem Leben, dem Universum und allem« die Antwort 42. Wenn man nun diese Zahl 42 auf das Alphabet überträgt, kommt man auf eine ähnlich faszinierende Antwort, nämlich DB (für Leser ohne Hang zu numerologischen Experimenten: DB – der vierte und zweite Buchstabe des deutschen Alphabets). DB? Da war doch was. Eine Institution, bei der man lernt, auf Gott zu vertrauen. Eine Institution, die einen dazu bringt, gläubig an den Fahrplan zu denken und gleichzeitig die Hoffnung nie aufzugeben, dass der Zug einmal pünktlich ist, dass man auch ein Plätzchen hat und dass man irgendwie wirklich von A nach B transportiert wird. Während also die Helden von 101
Douglas Adams durch Zeit und Raum eilen, um die Wahrheit aller Wahrheiten zu finden und zwischendurch einen Imbiss im Restaurant am Ende des Universums zu nehmen, irrt der Mensch auf Bahnhöfen herum, in Gottvertrauen oder wenigstens in großer Hoffnung, ebensolche Abenteuer zu bestehen, zumindest jedoch bis zum Restaurant am Ende des Bahnhofs zu kommen (wenn es noch eines gibt). Der geneigte Leser wird sich fragen, was hat dies alles mit Glauben und mit Gott zu tun? Und meine Antwort lautet am Anfang wie auch am Ende einfach nur: 42! So wie man staunend meine seltsamen Betrachtungen über Gott in Verbindung mit der Zahl 42 zur Kenntnis nimmt, so hat meine Partei PDS mich immer als bekennenden Christen bestaunt. Im Thüringer Landtag hatte ich 1999 in das Abgeordneten-Handbuch als Glaubensbekenntnis Protestant eingetragen. Dies führte dazu, dass zumindest die Pförtner des Hohen Hauses darüber grübelten, ob vielleicht meine vorherige Tätigkeit als Gewerkschaftsfunktionär mit den ständigen Protestaktionen etwas mit diesem für sie seltsamen Eintrag zu tun hatte. Ich ahnte, die Kenntnis über das Protestantentum war zumindest während der letzten Jahrzehnte in den heutigen neuen Bundesländern ziemlich verloren gegangen. Einer meiner engsten Mitarbeiter ist in Schmalkalden geboren und lernte erst über meine Tätigkeit in Berlin als religionspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag etwas über den Schmalkalder Bund und die Entwicklung des Protestantismus. Über wichtige Fragen der kirchlichen Geschichte, eine Geschichte von 2000-jähriger Spaltung. Also etwas, was uns Linken durchaus vertraut ist, nur dass wir noch nicht so viel Zeit hatten, um uns derart zu diversifizieren. Ob evangelisch-lutherisch oder altkatholisch, ob mennonitisch, protestantisch, lutheranisch, calvinistisch oder römisch-katholisch, ob griechisch- oder russisch-orthodox, immer bleibt die Frage, ist es der Glaube an Gott, der hier unterschiedlich ist, oder ist es nur die Interpretation des Gottes? 102
Ich biete in solchen Fragen immer eine zweigeteilte Antwort. Die eine ist das Wort, die schriftliche Überlieferung in der Bibel sowie in allen abrahamitischen Texten, die Eingang gefunden haben ins Judentum, ins Christentum, bei den Muslimen und die sich speisen aus Erfahrungen der Menschen, die so tiefgehend waren, dass sie irgendwann aufgeschrieben wurden. Ob man Evas Rippe wörtlich betrachten sollte, wage ich doch sehr zu bezweifeln; aber ob es den brennenden Busch, die sieben Plagen oder auch die Wüstenerfahrungen von Jesus Christus während seiner großen Fastenzeit gegeben hat, darf man durchaus bejahen. Man kann diese Texte als universelles, ethisches Grundgerüst der Menschheit betrachten und darf deshalb den Kopf über das kleine Gezänk der Kirchen schütteln, ob Gott nun groß, klein, grün, gelb, weiß, blau oder rot sei. Worüber man sicherlich nicht streiten kann, ist die Erfahrung im Glauben. Das Wort Glauben heißt nach meinem Dafürhalten eben Nichtwissen. Das Gewissen wiederum, das mit dem Glauben mehr als nur das G am Wortanfang gemeinsam hat, ist für den Menschen der Maßstab seines ethischen Handelns, wenn es auf einem Wertefundament aufbaut. Insoweit lohnt sich für mich immer noch und immer wieder ein Blick in die Bibel. Eine aktuelle Antwort auf die Weltfinanzmarktkrise kann man eben in der Bibel finden. Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Philipper: »Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre Willen, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient.« (Philipper 2,3) Welch ein revolutionärer ethisch-philosophischer Satz! Man soll nichts aus Eigennutz und nichts um eitler Ehre Willen tun, sondern in Demut den anderen höher achten als sich selbst. Man soll nicht auf das Seine, sondern auf das achten, was dem anderen dient. Ein Mehrwert für die Gemeinschaft ist der Kern der Botschaft und das ist eine umfassende Absage an die hochindividuelle, höchstpersönliche Gier, die den Menschen innewohnt. Dieser 103
Satz, 2000 Jahre alt, zeigt, dass die Frage der Einordnung der Gier in moralische Minimalanforderungen offenbar in jeder Gesellschaftsform akut war. Sonst hätte Paulus diese mahnenden Worte an die Gemeinde in Philippi nicht schreiben müssen. Aber es finden sich in den abrahamitischen Texten auch klare Aussagen zum Zinsverbot. Alle Weltreligionen kennen eigentlich die Verpflichtung zum Zinsverbot. Doch im Verlauf der gegenseitigen Durchdringung von weltlicher und kirchlicher Macht verkam das Zinsverbot immer mehr zur Nützlichkeitsrechtfertigung. Aktuell würde es sich lohnen, das islamische Zinsverbot und das »Islambanking« mit ethischem Bankbetrieb zu vergleichen. Es wird ja nicht wirklich auf Einnahmen verzichtet, aber die Einnahmen orientieren sich an dem Mehrwert desjenigen, der das ausgeliehene Geld benutzt, also einen Nutzen hat; von diesem Nutzen wird ein Teil zurückgezahlt, ein Preis für das Nutzungsrecht. Die Hinwendung zur reinen Zinslogik hat den Aufstieg des Geldes zum biblischen Goldenen Kalb erst ermöglicht. Geld ist seitdem nicht mehr nur ein Tauschobjekt. Geld ist mittlerweile in Kombination mit Gier zum Machtund zum Glaubensersatz mutiert. Nun tanzen sie fasziniert ums Goldene Kalb und sind irritiert, wenn ihre Börsenwerte zerplatzen und das werden, was sie sind – nur Scheinwerte. Hier lohnt wiederum ein Blick in die abrahamitischen Texte, um zu erkennen, dass dieser Spannungsbogen immer schon da war – aber durch die Brutalität der Moderne ist er im wahrsten Sinne des Wortes so hochgerüstet wie nie. Revolutionär ist dagegen Jesus von Nazareth in seiner Bergpredigt. »Selig sind die Friedfertigen«, das funktioniert nur, wenn es umfassend gelebt wird. Von Jesus Christus bis Mahatma Gandhi ist es da nicht mehr weit. Mit einer schlichten menschlichen Geste weltliche Macht zum Einsturz zu bringen, heißt, einen großen Glauben in sich zu tragen. Dies ist eine Absage an das alttestamentarische »Auge um Auge«, denn gegen Macht muss man Mut, Menschlichkeit und eine humanistische Idee 104
setzen. Es wäre lohnenswert, aus all diesen Quellen die Kraft zu sammeln, um den Weltethos zu erkennen. Es könnten dann die Gläubigen, die Nichtglaubenden und auch die bekennenden Atheisten sein, die sich der gleichen humanitären Idee verschrieben sehen. Es wäre aber der Mut zur Toleranz nötig, den Andersglaubenden immer noch als Glaubenden zu erkennen, zu akzeptieren und zu tolerieren. Dabei geht es allerdings immer um den Glauben an eine höhere Instanz, an etwas, das wir nicht fassen und schon gar nicht interpretieren können, das aber untersetzt ist mit Fügungen, mit Unvorhergesehenem und trotzdem gepaart mit der Gewissheit, dass zwischen dem Anfang und dem Ende eines Lebens noch etwas stattfindet, was häufig nur zu ertragen ist, wenn Hoffnung dazukommt. Wie soll man die positiven und hoffnungsvollen Texte Dietrich Bonhoeffers im KZ deuten angesichts des sicheren Todes, wenn es bei ihm nicht eine Gewissheit im Glauben gegeben hätte? Ähnliches durchzieht den jüdischen und den islamischen Glauben. Lassen wir uns nicht verunsichern von dem, was man politisch den »Ismus« nennt. Fundamentalismus in jedweder Form führt zu Intoleranz, Denkverboten und zu einer befehlenden Form, die sich mit Glauben überhaupt nicht vereinbart. Glauben ist freiwillig und Glauben ist eine höchst persönliche Angelegenheit. Für mich gibt es unterschiedliche Erfahrungszusammenhänge mit Gläubigen. Ich glaube auch, dass untergegangene Staatsformen, die sich atheistisch nannten, schwer geprägt und durchsetzt waren von dem Glauben an die wissenschaftliche Erkenntnis über einen kollektiven Weg zum Glücklichwerden. Dies halte ich an sich doch für sehr zweifelhaft, aber es war eben ein kollektiver Glaube, häufig verordnet und teilweise auf Zwang beruhend. Deshalb kann ich nichts anfangen mit Fundamentalisten, die Wissensfragen mit Glaubensdogmen erschlagen und zum Schluss behaupten, im Namen von Marx oder Markt, von Gott, 105
Jahve oder Allah könne man Mord und Totschlag rechtfertigen. Hier wird der Glaube für Machtpolitik missbraucht. Für mich ist Glaube nur individuell, nur persönlich und basierend auf eigener Erfahrung. Deshalb halte ich es mit Douglas Adams und akzeptiere jeden, der 42 für die wahre Antwort auf alle Fragen oder die Deutsche Bahn für die ultimative Antwort auf jedes Wetter hält. Ich will festhalten an meinem Glauben, an meinen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn und sage: 42! Inshallah.
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Claudia Schattach
Gefallene Engel
ch pflege in der Advents- und Weihnachtszeit meine Wohnung nicht zu schmücken. Einzig zwei Porzellanengel, die meine Mutter mir geschenkt hat, finden Gnade in meinen Augen und dürfen auf dem Küchentisch stehen, neben einer Kerze, die ich meist vergesse anzuzünden. Die beiden Engel sehen aus wie Schulkinder und tragen lange, eierschalenfarbene Gewänder, die mit goldenen Sternen verziert sind. Sie stehen eng zusammen und sehen in ein Buch, das einer der beiden in Händen hält. Ob es sich um Jungs oder Mädchen handelt, ist nicht eindeutig feststellbar. Aber natürlich besitzen beide Flügel, so wie es sich für Engel gehört, und eine sympathische, unschuldige Ausstrahlung. Der linke Engel allerdings, der das Buch in seinen Händen trägt, wird von mir mehr geliebt als der rechte, was natürlich äußerst ungerecht ist, aber seine Gründe hat. Erstens trägt er, wie gesagt, das Buch und das macht ihn mir als Schriftstellerin lieb und teuer. Dass er mir aber darüber hinaus wie ein Seelenverwandter anmutet, das hängt mit seinem gebrochenen Flügel zusammen. Er besitzt im Gegensatz zu seinem Engelsgeschwisterchen nämlich nur mehr einen Flügel. Den anderen hat er bei einem tiefen Fall vom Küchentisch verloren. Es war ein großes Unglück, an dem ich nicht ganz unschuldig war. Zunächst spielte ich mit dem Gedanken, den Flügel wieder anzukleben. Aber abgesehen davon, dass ich mich in solchen Dingen immer etwas ungeschickt anstelle, hatte ich das deutliche Gefühl, dass dieser gebrochene Flügel meinem Engel eine tragische Würde verleiht, die er in seiner Bescheidenheit und Schicksalsergebenheit auf unnachahmliche Weise zu tragen versteht.
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Kurz – ich liebe ihn, meinen flügellahmen Engel. Denn ist er nicht wie wir alle, denen das Leben böse die Flügel stutzt? Schon höre ich an dieser Stelle die Atheisten Gott anklagen. Und haben sie nicht recht? Was ist das denn für ein Gott, der zulässt, dass uns das Leben die Flügel bricht, und uns so Höhenflüge verunmöglicht, geistige Höhenflüge, die uns Gott näher bringen könnten. Stattdessen fliegen wir mit nur einem Flügel leicht behindert und meist jammernd im Kreis herum oder krauchen sogar flügellos im irdenen Schmutz und müssen uns dann noch Transzendenzverrat vorwerfen lassen. Ich bin keine Atheistin. In Kindheit und Jugend war ich sogar eine fanatische Anhängerin des katholischen Gottes und wollte Märtyrerin, wollte ein Engel werden oder am liebsten sofort ein Engel sein. Aber ein Engel zu sein, ist auf Erden eine schwierige Angelegenheit, und ich verfiel bald in Depressionen angesichts der Unmöglichkeit, diesem Ideal gerecht werden zu können. Und dann fing etwas in mir an, sich zu wehren. Immer öfter befiel mich in der Kirche beim Anhören der Predigt eine körperliche Übelkeit, die dazu führte, dass ich aus Angst davor, mich übergeben zu müssen, bald nicht mehr in die Kirche ging und schließlich vollends vom Glauben abfiel. Das war nicht der erste Fall in meinem Leben, aber ein ziemlich tiefer, weil ich doch sehr auf den christlichen Glauben gebaut hatte und jetzt den Boden unter den Füßen verlor. Aber ich hatte mich weder übergeben noch ergeben. Und ich hatte trotz erstmaligen Flügelbruchs den Glauben an Höhenflüge welcher Art auch immer noch nicht aufgegeben. Nachdem der Versuch, dem Ideal einer Feministin gerecht zu werden, ebenso in Erschöpfung endete wie meine Zeit als Möchtegern-Engel, schwor ich dem Ideal ab. Ich verfocht nunmehr das Ideal der Ideallosigkeit und wendete mich der gegenstandslosen Meditation zu, dem »zenösen« Nichts. Dazu widmete ich mich außerdem fernöstlichen Methoden spirituell eingefärbter Körperertüchtigung und hoffte auf Erleuchtung, 108
auf Wesensschau. Die hierzu geforderte Disziplin und gleichzeitige Gelassenheit erwies sich für mich jedoch bald schon als ein neues, ermüdendes Ideal, dem ich vergeblich hinterhermeditierte. Die Suche nach religiös fundiertem Sinn endete immer in einer deprimierenden Erschöpfung, sobald mich das Leben vom Tisch fallen ließ, mir also den Sinnboden unter den Füßen wegzog, und mich stattdessen unsanft mit dem Hinterteil auf dem Boden der Tatsachen aufprallen ließ. Finstere Zeiten kamen – und mir wurde übel, wenn ich auch nur an Meditation dachte. Woher nur diese Sehnsucht nach »Gotteserfahrung«? Wie bin ich nur in dieses religiöse Fahrwasser geraten, in diese Sucht nach Erleuchtung, von klein auf schon? Aufgewachsen in einer liebenswerten Familie, in einem Haushalt, in dem die Bildzeitung den geistigen Horizont absteckte, war ich auf die Schule angewiesen, was Bildung anbelangt. Die Schulen, die ich auf Wunsch meiner Eltern besuchte, taten sicherlich ihr Bestes, um mich zur zukünftigen Sekretärin abzurichten, für Kunst, Literatur und Musik blieb da nur wenig Raum, auch wenn ich ihnen z.B. die Bekanntschaft mit den griechischen Sagen und einigen Volksliedern verdanke. Es war die Kirche, die mich mit Schönheit und Kunst bekannt machte, vor allem mit ihrer sinnlichen Seite. Es war eine wunderbare Welt, die sich mir in der Kirche eröffnete. Und wenn die Orgel brauste, das Sonnenlicht durch die bunten Glasfenster auf die Heiligenfiguren fiel, Bibelworte das Kirchengewölbe fluteten mit ihrem Klang und Sinnanspruch und der Weihrauch einem zu Kopfe stieg – ja, hier erlebte ich meine ersten Höhenflüge, hier konnte ich die beengte kleine Welt für Zeiten verlassen, Geist und Herz von Dumpfheit reinigen und meinen Blick wieder klar machen. Diese Verbindung des Schönen mit dem Religiösen, kann sie denn ein Zufall sein? Ist die Kunst nicht wirklich der geistige Raum, in dem man die Flügel ausbreiten kann und sich sowohl 109
über das Irdische als auch das Ideal erheben kann, sich aufschwingen aus und in die göttliche Sinnlosigkeit, ins Nichts? Die Kunst, die selbst in diesem Nichts wurzelt und aus diesem Nichts ihre Werke herauswachsen lässt, ist eine Spur des Unbegreiflichen, ein seliges Ahnen, das plötzlich auch den Schmutz der Welt in sich aufnehmen und mit – wenn auch nur ephemerem – Sinn durchdringen, ja transzendieren kann. Denn ihr ist es möglich, sich zu erheben über das Gut und Böse unseres dualistischen Denkens, diesen zwei grausamen Polen, die uns wie Skylla und Charybdis dauernd mit Vernichtung drohen. Gott ist nur ein Piktogramm für etwas, das der menschliche Geist nicht verstehen kann. Ein Gott, der denkbar ist, ist auch denkbar tot – deshalb verschwende ich keinen Gedanken mehr an Gott und habe mich in einem gepflegten Agnostizismus eingerichtet. Ich bin unendlich dankbar für die Möglichkeit des ästhetischen Abstandnehmens vom Lebenskampf durch Kunst, Literatur und Philosophie und für die Möglichkeit einer wenn auch sehr vagen Kontaktaufnahme mit dem ewig Fragwürdigen durch die Kunst. Schleiermacher soll einmal gesagt haben: »Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.« Und so lese ich zusammen mit meinen Engeln, dem gefallenen und dem noch unversehrten, in unserer Heiligen Schrift, mit der wir uns jeden Tag, jede Stunde und jede Minute von Neuem aus dem bodenlosen Nichts herausschreiben, mitten hinein in diese Welt.
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Armin Pfahl-Traughber
Das Scheitern der Gottesbeweise
ine allgemein akzeptierte genauere und trennscharfe Definition von Gott bzw. dem Göttlichen gibt es nicht. Meist versteht man darunter etwas Heiliges, Transzendentes und Unendliches, ohne genauere Merkmale zu nennen. Derartige Auffassungen können wie folgt unterschieden werden: Eine monotheistische Position geht von der Existenz nur eines Gottes aus, eine polytheistische Variante kennt mehrere Götter und eine pantheistische Perspektive sieht Gott in allem und alles in Gott. Aufgrund der weltweiten Dominanz der erstgenannten Form, die in Gestalt von Christentum, Islam und Judentum besteht, soll diese hier näher betrachtet werden. Ihre Anhänger weisen Gott eine Reihe von Eigenschaften zu, wobei man von einem allmächtigen und einzigartigen, ewigen und gerechten, gütigen und körperlosen, personellen und vollkommenen Wesen ausgeht. Darüber hinaus wird Gott als Schöpfer der Welt, Ursache allen Naturgeschehens und Lenker des menschlichen Schicksals angesehen. Die meisten Anhänger eines derartigen Gottesglaubens sind Fideisten, d.h. sie setzen die Existenz eines solchen Wesens ohne ausführlichere Begründung voraus. Man geht dabei von einem unabänderlichen Prinzip und einer unumstößlichen Tatsache aus, ohne Argumente und Beweise nennen zu können und zu wollen. Diese Perspektive gestattet es auch, Einwänden und Kritik mit dem Hinweis auf den subjektiven Glauben zu begegnen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser individuell dogmatisierten Position kann daher nicht mehr erfolgen, entzieht sie sich doch der kommunikativen Auseinandersetzung. Anders steht es um die insbesondere in der christ-
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lich geprägten Welt vorgebrachten Gottesbeweise, die das Dasein eines solchen Wesens aus Gründen der Vernunft belegen wollen. Derartige Argumente beruhen zwar nicht auf empirischen Feststellungen, sondern metaphysischen Reflexionen. Gleichwohl ermöglichen sie eine inhaltliche Auseinandersetzung auf dieser Ebene. Der kosmologische Gottesbeweis behauptet, allen Entwicklungen läge eine bestimmte Ursache zugrunde und am Beginn jeder Wirkungskette stehe als letzte Ursache Gott. So könne auch die Existenz des Universums und der Welt letztlich auf ein solches Wesen zurückgeführt werden. Gegen solche Auffassungen lassen sich folgende Argumente vorbringen: Ihnen ist ein innerer Widerspruch eigen, müsste doch, wenn alles eine Ursache hat, auch Gott eine Ursache haben. Argumentiert man hier, dieses Wesen habe eben keine Ursache, bleibt unklar, warum man diesen Anspruch nicht auch anderen Faktoren wie dem Urknall zuschreiben kann. Die zunächst postulierte Auffassung, alle Wirkungen hätten eine Ursache, wird in der erwähnten Argumentation an einer bestimmten Stelle unterbrochen und willkürlich Gott als letzte Ursache für alle Folgen identifiziert. Dabei kann weder für den Abbruch des UrsacheWirkung-Verfahrens noch für die Benennung der Ursache eine Begründung oder ein Beleg vorgebracht werden. Der moralische Gottesbeweis geht davon aus, dass alle Menschen ein sittliches Bewusstsein in sich trügen und es auf Gott als Urheber zurückzuführen sei. Zudem bedürfe es eines solchen Wesens, um die Menschen von ihren egoistischen, inhumanen und triebhaften Verhaltensweisen abzubringen. Gegen diese Annahmen lassen sich folgende Einwände vortragen: Eine moralische Prägung mag allen Menschen eigen sein, in Ausmaß und Inhalt aber nicht in gleicher Weise. Außerdem spielen Erziehung und Gesellschaft eine grundlegende Rolle, welche wiederum dem Wandel der Zeit unterliegt. Auch veranschaulicht die Geschichte der Philosophie die Existenz unterschiedlichster 112
Moralbegründungen, die nicht religiös, sondern säkular geprägt sind. Selbst wenn man der Auffassung ist, sittliches Verhalten sei nur aus Angst vor einer strafenden Instanz möglich, lässt sich daraus nur die Notwendigkeit entsprechender Furcht für die soziale Integration, nicht aber die der Existenz eines Gottes ableiten. Der ontologische Gottesbeweis leitet sich aus der Definition eines solchen Wesens als in höchstem Maße gütig, mächtig und vollkommen ab. Derartige Eigenschaften würden notwendigerweise auch dessen Existenz voraussetzen. Gegenüber dieser Auffassung lässt sich folgende Kritik formulieren: Verallgemeinert man die hier angewendete Begründungsweise, so könnte aus der subjektiven Vorstellung vollkommener Gegenstände oder Personen automatisch auf deren reales Bestehen geschlossen werden. Die Annahme, man verfüge über den idealen und schönsten Schmuck, führt aber nicht notwendigerweise dazu, ihn auch tatsächlich zu besitzen. Hinzu kommt, dass Existenz keine Eigenschaft, sondern die Voraussetzung für ein Wesen ist. Diesem Merkmal ist demnach ein anderer Status als allmächtig, gütig oder weise eigen, denn solche Eigenschaften lassen sich nur etwas real Bestehendem zuordnen. Man mag auch fiktive Gegenstände und Personen damit beschreiben, sie bleiben dadurch aber weiter inexistent. Der teleologische Gottesbeweis geht davon aus, dass die Eigenschaften von Mensch und Natur auf bestimmte Ziele und Zwecke zurückzuführen seien. So belege etwa die Effizienz und Komplexität des Auges die Existenz eines Schöpfers, der eben all dies so geplant und konzipiert habe. Gegen diese Auffassung lassen sich eine Reihe von Einwänden vortragen: Das perfekte Funktionieren eines Mechanismus muss nicht notwendigerweise von vornherein geplant sein. Die Evolutionslehre belegt, dass die Lebewesen sich im Laufe ihrer Entwicklung den Gegebenheiten der Umwelt anpassten und nicht umgekehrt die Umwelt für die Lebewesen konzipiert wurde. Darüber hinaus 113
kann die Annahme eines hier wirkenden allmächtigen und guten Gottes nicht erklären, warum der Mensch von Natur aus über einen relativ schlecht entwickelten Körper verfügt, ihm unnütze Bestandteile wie der Blinddarm eigen sind und es in der so gut geplanten Welt zu Kriegen und Naturkatastrophen kommt. Das Argument der ausgleichenden Gerechtigkeit greift das Bestehen von Elend, Leid und Übel in der Welt auf und leitet daraus die Existenz einer kompensatorischen Alternative in Gestalt eines besseren Lebens im Himmel ab. Um sie gewährleisten zu können, müsste es Gott als entsprechende Macht geben. Bezogen auf diese Behauptungen lässt sich kritisch sagen: Sie gehen von nicht näher begründeten und belegten Annahmen aus, nämlich: Es solle auf der Welt gerecht zugehen, es müsse dazu einen Ausgleich geben und dieser werde durch ein göttliches Wesen ermöglicht. Bei den ersten beiden Aussagen handelt es sich um nachvollziehbare menschliche Wunschvorstellungen, woraus aber nicht zwingend das Bestehen einer ausgleichenden Alternative in einer anderen Sphäre ableitbar ist. Vielmehr könnte es dort ähnlich beklagenswerte Zustände geben. Außerdem wäre zu fragen, warum der allmächtige und gütige Gott die Ungerechtigkeiten in der realen Welt zulässt. Gerade deren Duldung spricht eher gegen als für seine Existenz. Neben den vorgenannten Formen des rationalen Gottesbeweises gibt es auch Varianten, die über eine Offenbarung die Existenz eines solchen Wesens belegen wollen. Hierzu gehören Berichte über Wunder, also den Naturgesetzen widersprechende und Gott zugeschriebene Ereignisse. Gegen solche Annahmen lassen sich folgende Einwände formulieren: Zunächst einmal stellt sich bei allen derartigen Fällen die Frage, ob es nicht weitaus mehr Beweismaterial für die Erklärung solcher Vorkommnisse im Sinne der Naturgesetze gibt. Sodann lässt sich immer wieder zeigen, dass Faktoren wie Angst, Überraschung oder Voreingenommenheit zu Fehlwahrnehmungen von Menschen 114
auch in größeren Gruppen führen können. Darüber hinaus verweisen die meisten Religionen auf »Wunder«, um die Existenz ihres Gottes bzw. ihrer Götter zu belegen. Somit müssten diese auch alle bestehen, womit die den jeweiligen Glaubensformen eigenen Ansprüche auf die Exklusivität ihrer göttlichen Wesen aufgehoben wäre. Noch eine andere Form des Gottesbeweises besteht im Verweis auf die Vorteile, die sich mit dieser Annahme trotz des weiterhin bestehenden Unwissens um die Existenz verbinden – die Pascal’sche Wette. Gibt es ein göttliches Wesen, so sollte man um des ewigen Lebens willen an es glauben; gibt es kein göttliches Wesen, so stellt ein solcher Glaube zu Lebzeiten keine besonderen Nachteile dar. Die damit verbundene Beweisführung lässt sich wie folgt kritisieren: Selbst wenn man der Auffassung, es sei vor dem Hintergrund der erwähnten Alternativen vernünftiger, an einen Gott zu glauben, zustimmt, liefert die skizzierte Argumentation keinen Beweis für die Existenz eines solchen Wesens. Sie enthält allenfalls ein Motiv, das in der beabsichtigten individuellen Vorteilsmaximierung begründet liegt. Das hieße, dass sich die Gläubigen den Inhalten und Ritualen einer Religion lediglich anpassen würden, um aus Eigeninteressen und Selbstsucht in den Genuss des ewigen Lebens in einem Paradies zu kommen. Als Problem für jeden Gottesbeweis, der mit den oben erwähnten Merkmalen arbeitet, stellt sich der Widerspruch von postulierter Allmacht und Güte dieses Wesens einerseits und dem Elend der Welt in Gestalt von Kriegen und Massakern, Krankheiten und Naturkatastrophen andererseits dar (TheodizeeProblem). Die Anhänger der Gottesexistenz verweisen diesbezüglich darauf, dass erst dieses Übel der Welt zu großer moralischer Güte führe, diese Schattenseiten zur Gesamtharmonie der Welt gehörten oder sie Ausdruck des freien Willens der Menschen seien. Diesen Aussagen gegenüber lässt sich folgende Kritik formulieren: Das Ausmaß des Elends steht in kei115
nem Verhältnis zur behaupteten Notwendigkeit von Situationen, in denen gute Taten erst erwiesen werden können. Die Duldung menschlichen Leidens um einer Gesamtharmonie willen zeugt nicht von göttlicher Güte. Und der Hinweis auf den freien Willen mag von Menschen verursachte Übel gestatten, nicht aber die von Naturkatastrophen ausgehenden verheerenden Folgen für Unschuldige. Bilanziert man die vorstehenden Ausführungen zur Kritik der Gottesbeweise, so lässt sich sagen, dass keines der vorgetragenen Argumente einen eindeutigen Beleg für die Existenz eines solchen Wesens liefert. Selbst wenn man die Rede von einer die Welt erschaffenden Wesensart akzeptieren würde, müsste diese nicht zwingend die Gestalt eines Gottes in der beschriebenen Art und Weise annehmen. Und selbst in diesem Fall bliebe noch ungeklärt, ob es sich um die christliche, islamische oder jüdische Variante handelte. Aus den kritischen Einwänden gegen die Annahme einer Existenz Gottes lässt sich aber auch nicht definitiv dessen Nicht-Existenz belegen. Indessen liegt die Beweislast auf Seiten der Gottesanhänger, die in jahrhundertelangen Bemühungen noch keine überzeugenden und widerspruchsfreien Argumente für ihre Auffassungen vortragen konnten. So lange sich daran nichts ändert, ist von der Unwahrscheinlichkeit Gottes auszugehen.
Literatur: Albert, Hans: Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng, Aschaffenburg 2005. (Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk des Theologen Hans Küng, der eine wissenschaftliche Begründung für religiöse Kernaussagen wie die Gottesexistenz beansprucht.) Dahl, Edgar (Hg.): Brauchen wir Gott? Moderne Texte zur Religionskritik, Stuttgart 2005. (Sammelband mit Aufsätzen, die sich zu großen 116
Teilen mit unterschiedlichen Aspekten der Gottesbeweise beschäftigen.) Hoerster, Norbert: Die Frage nach Gott, München 2005. (Eine knappe Kritik an den kursierenden Gottesbeweisen, im inhaltlichen Kern eine Kurzfassung von Mackie.) Hume, David: Dialoge über die natürliche Religion, Stuttgart 1981. (In diesem erstmals 1779 veröffentlichten philosophischen Klassiker werden die Gottesbeweise in Dialogform einer kritischen Prüfung unterzogen.) Küng, Hans: Existiert Gott?, München 1984. (Versuch eines Theologen, seine Auffassungen auch über die Existenz Gottes wissenschaftlich zu belegen.) Mackie, John Leslie: Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1985. (Eine detaillierte und kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gottesbeweisen.) Stremminger, Gerhard: Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem, Tübingen 1992. (Eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit älteren und neueren Versuchen zur Lösung des Theodizee-Problems.) Warburton, Nigel: Was können wir wissen, was dürfen wir tun? Einstieg in die Philosophie, Reinbek 1998, S. 19–48. (Das Kapitel zu den Gottesbeweisen in einer populärwissenschaftlichen Einführung in die Philosophie.)
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Lea Ackermann
So leben, als gäbe es Gott
m es vorwegzunehmen: Ich glaube an Gott, nach wie vor, im Alter von 72 Jahren. In meiner Kindheit und Jugend haben mich Eltern, Kirche und Schule zur Gläubigkeit verleitet. Als junge Erwachsene bin ich kritischer geworden. Mir missfiel, dass ich mich beim Glauben nicht auf Beweise für die Existenz Gottes berufen konnte. Es tröstete mich der Gedanke: Wenn es Gott gibt, wie können wir Menschen mit unserem beschränkten dreidimensionalen Verstand es uns dann anmaßen, ihn zu beweisen oder gar zu verstehen? Wir verstehen ja noch nicht einmal die irdische Natur in all ihren Erscheinungsformen und erst recht nicht das Universum. Sind nicht auch die Physiker in der Nachfolge Einsteins, die zwecks Erklärung der Entstehung des Weltalls nach der »Urformel« suchen, auf Gottessuche? Wie auch immer: Dass es einen Gott gibt, lässt sich nicht beweisen, und ebenso nicht, dass es keinen Gott gibt. Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte ist der größte Teil der Menschheit »religiös«. Religiöse Menschen wollen sich nicht damit abfinden, dass nach ein paar Jahren auf der Erde alles vorbei ist. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Teil der Menschheit viel Hoffnung und Zuversicht in die Welt gebracht hat: Urvertrauen über das kurze eigene Leben hinaus. Darum bin ich eine Gläubige geblieben. Allerdings ist mein heutiger Glaube im Gegensatz zu dem meiner Kindheits- und Jugendjahre die Konsequenz bewusster Entscheidungen, die – trotz aller Zweifel und Unsicherheiten – immer wieder zu der Erkenntnis führten: Für mich gibt es keine Alternative dazu, so zu leben, als gäbe es Gott. Diese Art zu leben bedeutet für mich, dass Glaube und soziales Engagement eine untrennbare Einheit sind.
U
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Ich wurde 1937 in eine urkatholische Kleinbürgerfamilie hineingeboren und wuchs in dem saarländischen Dorf Klarenthal auf. Als Kind waren für mich christlich begründete Alltagstugenden selbstverständlich: Hilfsbereitschaft unter Nachbarn, tätiges Mitleid mit Kranken und Alten in der Verwandtschaft und der Dorfgemeinschaft, Spenden für Notleidende anderswo. Vor allem war es meine Mutter, die mich Nächstenliebe lehrte. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, in dem ein gesellschaftlich Geächteter einem Notleidenden ohne zu zögern hilft, war eine ihrer Lieblingsgeschichten aus dem Neuen Testament. »Jesus verlangt von uns, dass wir genauso handeln«, pflegte meine Mutter zu sagen. Auf Wunsch meines Vaters machte ich eine Lehre bei der saarländischen Landesbank. Nach einigen Jahren als Bankkauffrau in Saarbrücken und Paris fragte ich mich: »Das soll mein Leben sein? Immer nur Geld, Papiere und Zahlen?« 1960 fasste ich den Entschluss, in eine Schwesterngemeinschaft einzutreten: bei den »Missionsschwestern unserer lieben Frau von Afrika« (Weiße Schwestern). Das Wort »Mission« hat heute noch den bitteren Beigeschmack von Fremdbestimmung, zumal in Afrika wieder eifrig missioniert wird: von christlichen und muslimischen Fundamentalisten, jeweils extrem frauenfeindlich. Die Weißen Schwestern jedoch setzten schon zu Zeiten des Kolonialismus auf die »Promotion der Frau«. Damit war und ist eine auf Bildung basierende Frauenförderung gemeint, die Selbstbestimmung anstrebt. In Ruanda hatte meine Gemeinschaft 1909 die ersten Mädchenschulen errichtet. Ein halbes Jahrhundert später – 1967, nach einem Lehramtsstudium – begann ich an einem einer Mädchenschule angegliederten Lehrerinnen-Seminar der Weißen Schwestern in Nyanza zu unterrichten. Damals waren die Ruander bereits in der dritten Generation Christen. 80 Prozent der Bevölkerung waren katholisch getauft. Trotzdem entdeckte ich eines Tages Rassenhass inmitten unserer christlichen Schule. 119
Eine Schülerin namens Thérèse wurde von Mitschülerinnen gemobbt, weil sie zu einem Clan gehörte, der angeblich Unglück brachte. Ich war entsetzt und trommelte sofort die Mädchen zusammen, die Thérèse quälten. Ich fragte sie, wie sie das mit ihrem Christsein vereinbaren könnten, und stellte ihnen ein Ultimatum: Entweder würden sie sich bis Samstagabend bei Thérèse entschuldigen oder ich würde sie am Sonntagmorgen nicht zur heiligen Messe gehen lassen. Sie machten tatsächlich einen Schritt auf Thérèse zu und baten sie um Verzeihung. Dieser kleine Krieg endete mit Frieden. Der große Krieg zwischen Hutu und Tutsi hingegen gipfelte in einem Genozid. 1994, innerhalb von nur 100 Tagen, ermordeten Hutu in Ruanda 800000 Tutsi. Dass der Konflikt zwischen den beiden Ethnien unvorstellbare Ausmaße annehmen würde, zeichnete sich bereits 1972 ab, dem Jahr, in dem ich nach Deutschland zurückkehrte. In Ruanda regierte die Hutu-Mehrheit und im benachbarten Burundi die Tutsi-Minderheit. Im Mai 1972 rebellierten einige wenige burundische Hutu gegen das Tutsi-Regime. Diesem diente die Rebellion als Vorwand, Abertausende Hutu umzubringen – die Schätzungen schwanken zwischen 50000 und 300000. Burundi war wie Ruanda ein christliches Land. Wie können Christen ein solch grausames Morden zulassen und sich sogar daran beteiligen, fragte ich mich verzweifelt. Auch in Deutschland hatte ja die Masse der Christen die Gräueltaten der Nazis nicht verhindert und ein Teil hatte dabei mitgemacht. »Gott hat keine anderen Hände als die unseren«, heißt es in einem französischen Lied. Aber warum schenkt er uns dann nicht die Kraft, mit diesen Händen Gutes statt Böses zu tun? Wenn so viele Menschen behaupten, an Gott zu glauben, aber ihr Leben nicht danach ausrichten, was hat Glaube dann für einen Sinn? Andererseits: Wie sähe eine Welt ohne Gott aus? Die Diktatoren des real existierenden Kommunismus und Sozialismus hatten hinreichend bewiesen, dass »atheistischer Marxismus ohne einen Gran Ethik«, dessen Lenin sich rühmte, zu Verrohung und 120
Unmenschlichkeit führt. Kurzum: Trotz aller Zweifel, die mich peinigten, beschloss ich, weiter so zu leben, als gäbe es Gott. Nur das Dienen in Liebe, wie Jesus es gefordert und vorgelebt hat, kann die Menschheit heilen, dachte ich. Im Neuen Testament erzählt der Evangelist Matthäus, dass der Menschensohn beim Weltgericht die Schafe von den Böcken scheidet, also die Guten von den Bösen. Dabei urteilt Jesus nicht danach, wie viel Mammon einer oder eine angehäuft hat, wie oft er oder sie im Tempel war, ob eine oder einer stets befolgte, was Pharisäer und Hohepriester befahlen. Das alles interessiert Jesus nicht, für ihn ist wichtig: »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.« – »Wann und wo soll das denn gewesen sein?«, fragen die Guten da erstaunt, und der Menschensohn entgegnet: »Was ihr für eines meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.« Dass die Botschaft Jesu viel revolutionärer als das Kommunistische Manifest der Atheisten Marx und Engels ist, begriff ich durch die Theologie der Befreiung. 1979 schickte mich Missio München – ich war dort inzwischen als Bildungsreferentin angestellt worden – auf die Philippinen. In diesem überwiegend katholischen Inselreich war damals noch der blutrünstige kapitalistische Diktator Marcos an der Macht. 1986 wurde er unblutig entmachtet. Daran waren auch vereinzelte Bischöfe beteiligt, aber in erster Linie das Kirchenvolk. Zu den wenigen Bischöfen, die sich mit den einfachen Menschen solidarisierten, gehörte Julio Xavier Labayen. Dieser der führenden philippinischen Gesellschaftsschicht entstammende Karmelit hatte in Rom Theologie studiert. Das ist deshalb wichtig zu erwähnen, weil daran deutlich wird, dass selbst ein Bischof aus reichen Verhältnissen, der die überkommene Kirche »gelernt« und verinnerlicht hat, umlernen kann. Umlernen bedeutet in der Sprache 121
der Bibel »umkehren«. Dieser Bischof hatte in der Tat eine »Bekehrung« durchgemacht. Er war überzeugt: »Sich auf die Seite der Armen zu stellen, bedeutet, der schamlosen Visage der Ungerechtigkeit in der Welt von heute mutig entgegenzutreten.« Nachdem Labayen 1961 als Bischof für die Prälatur Infanta auf der philippinischen Hauptinsel Luzon ernannt worden war, wollten Karmelitinnen einen Karmel in Infanta gründen: in einem großen, prächtigen Haus nach dem Vorbild des Mutterhauses in der Hauptstadt Manila. Die Ordensleitung entsandte sieben Schwestern, die den Karmel planen, erbauen und einrichten sollten. »Bevor ihr damit anfangt«, sagte Labayen, »müsst ihr euch erst mal anschauen, wie die Armen hier leben. Wie wär’s, wenn jede von euch vier Wochen in einer armen Familie verbringt?« Für die sieben Ordensfrauen – an Beten und Schweigen in Abgeschiedenheit gewöhnt – war das eine bahnbrechende Erfahrung. Mit der Folge, dass sie kleine, bescheidene Hütten bauten, umgeben von einem großen Garten, in dem sie Gemüse für die Armen zogen. Vor den Eingang legten sie einen Baumstamm mit der Aufschrift: »Den Träumen des Vaters gewidmet.« Als ich also 1979 nach Infanta kam, erklärte mir eine junge Karmelitin, was es mit dem Spruch auf sich hat. »Wir glauben, dass Gott, unser Vater, unsere Mutter ist. Eltern haben Wunschträume für ihre Kinder, und Gott hat Wunschträume für alle Menschen. Zum Beispiel, dass sie in Frieden leben können, nicht hungern müssen und nicht ausgebeutet werden. Wir Karmelitinnen hier wollen alles dafür tun, dass seine Träume wahr werden.« Dieses Erlebnis hat mich ungeheuer beeindruckt. Ein zweites Erlebnis auf den Philippinen – ich nenne es immer »mein Schlüsselerlebnis« – führte dazu, dass ich mein Leben den Wunschträumen Gottes für seine ausgebeuteten Töchter widmete. 1980 hatte ich für den österreichischen Bischof Florian Kuntner eine Reise auf die Philippinen vorbereitet. Ich begleitete den Bischof, seinen Sekretär und einen Journalisten. In 122
Bangkok mussten wir wegen eines ausgefallenen Anschlussfluges nach Manila einen außerplanmäßigen Zwischenstopp mit Übernachtung einlegen. Auf der Fahrt zum Hotel saß ich neben dem Taxifahrer, die drei Männer hatten sich auf den Rücksitz gequetscht. Wir waren alle »in Zivil« unterwegs, sonst hätte der Taxifahrer es wohl kaum gewagt, mich in gebrochenem Englisch zu fragen: »Verheiratet?« – »Nein! Warum wollen Sie das wissen?« – »Nix Ehemänner?«, hakte er, mit einer Kopfbewegung zum Rücksitz, nach. »Freunde«, antwortete ich. Nach dieser Auskunft beachtete mich der Taxifahrer gar nicht mehr. Im Rückspiegel fixierte er die drei Herren, als er sagte: »Ich biete meine Schwester. Jung, schön und billig!« Am nächsten Tag in Manila wiederholte sich Ähnliches in einem philippinischen Taxi. Ich war so empört – und sehr erleichtert, als ich sah, dass sich schon die Gegenwehr gegen dieses frauenverachtende Männergeschäft formiert hatte. Auf dem Busbahnhof in Manila kamen in fast allen Überlandbussen junge naive Frauen vom Land an, die hofften, in der Stadt Arbeit zu finden, um ihre hungernden Familien unterstützen zu können. Sobald sie aus den klapprigen Bussen gestiegen waren, stürzten sich Zuhälter und Menschenhändler auf sie: einheimische Männer, ebenfalls arm. So oft es nur ging, machten ihnen Ordensfrauen einen Strich durch die Rechnung. Die Zuhälter und Menschenhändler – die meisten Katholiken – wagten es nicht, sich den Schwestern in den Weg zu stellen. So gelang es diesen kämpferischen Nonnen, die eine oder andere junge Frau vom Lande unter ihre Fittiche zu nehmen und sie davor zu bewahren, als billige Ware für Sextouristen aus den reichen Industrienationen zu enden. Von da an wollte ich es den Schwestern auf dem Busbahnhof gleichtun. Das Ergebnis dieses Entschlusses heißt: SOLWODI. SOLWODI ist die Abkürzung von »Solidarity with Women in Distress« (Solidarität mit Frauen in Not). Ich habe diese inzwischen relative große Hilfsorganisation 1985 in der kenianischen Sextourismus-Hochburg Mombasa gegründet: als kleines Aus123
stiegsprojekt für Frauen und Mädchen in der Elendsprostitution. Seit 1988 engagiert sich SOLWODI auch in Deutschland, mit mittlerweile zwölf Beratungsstellen und sieben Schutzwohnungen für Migrantinnen in Not, vor allem für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Zurzeit hat SOLWODI in Deutschland 45 fest angestellte Mitarbeiterinnen, darunter 15 Ordensfrauen aus 13 Schwesterngemeinschaften. Hinzu kommen zahlreiche Ehrenamtliche, die gemeinsam mit den Hauptamtlichen Menschenrechtsverletzungen an ausländischen Frauen und Mädchen bekämpfen. Der stellvertretende SOLWODI-Vorsitzende, der Pallottiner-Pater und TheologieProfessor Fritz Köster, nennt uns »eine kleine Menschenrechtsbewegung«. Wer sich ihr anschließt, muss nicht Christ oder Christin sein; an was er oder sie glaubt, spielt keine Rolle; auch nicht, ob der- oder diejenige überhaupt nichts glaubt. Entscheidend ist das, was Papst Johannes XXIII. meinte, als er 1963 seine aufsehenerregende Enzyklika Pacem in terris (Friede auf Erden) nicht nur an Katholiken adressierte, sondern an »alle Menschen guten Willens« richtete. Entscheidend ist, so zu leben, als gäbe es Gott: nach ethischen Prinzipien, ohne Machtund Geldgier, die – jetzt, da ich diese Zeilen schreibe – nach der größten globalen Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg bei Investmentbankern und Börsenzockern wieder schamlos regiert. Der ostdeutsche Philosoph und evangelische Theologe Richard Schröder, der die kluge Entgegnung Abschaffung der Religion? auf die atheistische Streitschrift Der Gotteswahn des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins geschrieben hat, sagte neulich in der 3SAT-Sendung Peter Voß fragt: »Der Schöpfungsplan besteht zunächst in einer Überzeugung, die ich gegenwärtig lebe. In einer Welt, die ich als Gottesgeschenk verstehe und entsprechend damit umzugehen bemüht bin.« Heute mit 72 Jahren fühle ich – die katholische Kleinbürgertochter aus Klarenthal – mich in eine Weltgemeinschaft eingebunden, mit 124
der ich die von Schröder angesprochene Überzeugung teile. Eine Weltgemeinschaft, die von starken religiösen Persönlichkeiten geprägt ist: von Christus, Buddha, Mohammed und vielen anderen. Aber nicht nur … In Afrika werden besonders die Ahnen verehrt. In einem Gedicht des senegalesischen Dichters Birago Diop heißt es: »Erlausche nur geschwind die Wesen in den Dingen, hör sie am Feuer singen, hör sie am Wasser mahnen, und lausche in den Wind. Der Seufzer im Gebüsch, das ist der Hauch der Ahnen.« Birago Diop hat es quasi mit der Muttermilch eingesogen, dass eine göttliche Kraft überall präsent ist, auch über den Tod hinaus. Für afrikanische Gläubige wie Diop ist der einzelne Mensch Glied einer Kette, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft reicht. Eine Zukunft, die alle Menschen guten Willens – einerlei, wo sie beheimatet sind– verantwortlich für nachfolgende Generationen gestalten können, wenn sie so leben, als gäbe es Gott.
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Michael Schmidt-Salomon
Sind Atheisten die besseren Menschen? Anmerkungen zur Kriminalgeschichte des Atheismus
ass »gute Christen« nicht unbedingt auch »gute Menschen« sind, ist kein Geheimnis. Gerade diejenigen, die sich besonders stark um eine buchstabengetreue Umsetzung der biblischen Botschaft bemühen, sind selten in der Lage, tolerant und liebevoll auf ihre (oft andersgläubigen) Mitmenschen zuzugehen. Auch die rigorosen Verfechter des Korans und der Thora fallen nicht unbedingt durch ihre grenzenlose Nächstenliebe auf. Selbst der ewig lächelnde Dalai Lama hat – glaubt man den Darlegungen der in der letzten Zeit sich mehrenden Buddhismuskritiker – so manche Leiche im Keller. Im Wettstreit um den ultimativen »Gutmenschen-Status« scheinen die Atheisten dank der Disqualifizierung ihrer religiösen Kontrahenten also auf den ersten Blick gute Karten zu besitzen. Doch sind Atheisten wirklich die »besseren Menschen«, wie so mancher Konfessionslose glaubt? Oder handelt es sich hierbei nur um eine selbstwertdienliche Wahrnehmungsverzerrung? Wäre eine Menschheit, die sich von den jenseitigen Verheißungen der Weltreligionen losgesagt hat, wirklich eine geläuterte, eine bessere Menschheit? Werfen wir, um diese Frage beantworten zu können, einen Blick auf die in konfessionslosen Kreisen gern übersehenen1 dunklen Seiten der Religionskritik.
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Symptomatisch in dieser Hinsicht ist das Buch von Finngeir Hiorth: Atheismus – genau betrachtet. Eine Einführung, Neustadt 1995. Die »Kriminalgeschichte des Atheismus« fällt bei dieser insgesamt durchaus beachtlichen »genauen Betrachtung« völlig unter den Tisch.
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Die Kriminalgeschichte des Atheismus Es gibt sicherlich nicht wenige Atheisten, die die »moralische Überlegenheit« ihres Denkansatzes mit einem schlichten Verweis auf Karlheinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums begründen. Doch: So richtig es auch ist, die frohe Botschaft des Christentums an ihren wenig erfreulichen Früchten zu messen, ein solcher Schuss kann durchaus nach hinten losgehen.Viele Atheisten übersehen nämlich allzu gerne, dass zahlreiche »Staatsatheisten« in der Vergangenheit kaum ein besseres Bild abgaben als z.B. der Initiator des ersten Kreuzzugs, Papst Urban II. Joseph Stalin beispielsweise, der sich bekanntlich im Theologischen Seminar von Tiflis zum überzeugten Atheisten mauserte2, ging als einer der größten Schreibtisch-Massenmörder in die Geschichte ein. In der Zeit des »Großen Terrors« (1936–38) ließ er breit angelegte »Säuberungsaktionen« durchführen, die u.a. auch das Ziel hatten, die »letzten Reste der Geistlichkeit zu liquidieren«.3 Hierzu heißt es in einem der besseren Aufsätze des insgesamt durchaus problematischen Sammelbandes Schwarzbuch des Kommunismus4: »Tausende von Priestern und nahezu alle Bischöfe fanden sich in den Lagern wieder, und dieses Mal wurde ein großer Teil von ihnen hingerichtet. Von den 20000 Kirchen und Moscheen, die 1936 noch für religiöse Zwecke genutzt worden waren, standen 1941 nicht einmal mehr 1000 für den Gottesdienst offen. Die Zahl der amtlich registrierten Geist-
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Vgl. Payne, Robert: Stalin. Macht und Tyrannei. München 1978, S. 31ff. Werth, Nicolas: Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion. In: Courtois, Stephane et al. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998, S. 223. 4 Zur Kritik des Schwarzbuchs siehe Mecklenburg, Jens / Wippermann, Wolfgang (Hg.): »Roter Holocaust«? Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus, Hamburg 1998. 3
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lichen wurde Anfang 1941 mit 5665 angegeben (…) 1936 waren es noch mehr als 24000 Geistliche gewesen.«5 Zugegeben: Stalin als Beleg für die Inhumanität des Atheismus anzuführen, ist reichlich perfide und dementsprechend würden sich viele Verteidiger des Atheismus (mit Recht) gegen das Beispiel wehren. Stalin, würden sie sagen, war alles andere als ein Musterbeispiel des Atheismus. Gab es nicht Legionen von Atheisten, die keine Morde begangen haben, Abertausende, die selbst den Säuberungsaktionen Stalins zum Opfer fielen? Eine solche Argumentation klingt plausibel, hat aber einen Haken: Christen könnten zur Verteidigung ihres Glaubens nahezu das Gleiche sagen, schließlich verhielten sich nur (relativ!) wenige unter ihnen wie Papst Urban II. Außerdem waren es ja häufig auch Christen, die den Säuberungsaktionen der Kirche zum Opfer fielen. Ein gescheiter Christ könnte in diesem Punkt sogar in die Offensive gehen, könnte Deschners berühmtes Wort von den »guten Christen«6 umdrehen und behaupten, dass die sogenannten »guten Atheisten« die gefährlichsten seien, weil man sie allzu leicht mit dem Atheismus verwechsle. Sein wahres Gesicht zeige der Atheismus erst, wenn er an die Macht kommt. Und triumphierend könnte er auf eine durchaus aussagekräftige Statistik verweisen, der zufolge die relative Anzahl mordender christlicher Staatsoberhäupter gering ist – verglichen mit der relativen Anzahl mordender atheistischer Staatschefs (Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot etc.). Ein gescheiter Atheist könnte hier freilich einwenden, dass es ein bedauerlicher, tragischer Zufall gewesen sei, dass der Atheismus
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Werth, Nicolas, S. 224. Deschner, Karlheinz: Nur Lebendiges schwimmt gegen den Strom. Aphorismen. Basel 1989, S. 83: »Die guten Christen sind am gefährlichsten – man verwechselt sie mit dem Christentum.«
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in Gestalt des Staatssozialismus7 an die Macht gekommen sei, dass die Menschen nicht unter dem Atheismus zu leiden hatten, sondern unter der Ideologie bzw. den Repräsentanten des Staatssozialismus, die den Atheismus nur für ihre Zwecke ausbeuteten. Außerdem könnte er darauf verweisen, dass die meist bürgerkriegsähnlichen Umstände der kommunistischen Machtergreifungen die Zahl der Opfer beinahe zwangsläufig in die Höhe treiben mussten. Aber auch diese Argumente könnte ein cleverer Christ leicht für seine Zwecke ummünzen. So könnte er erklären, dass im Fall der Religion doch wohl Ähnliches gelte, dass die Menschen in der Vergangenheit weniger unter der Religion selbst zu leiden gehabt hätten als unter denen, die die Religion für ihre Interessen einspannten. Zudem könnte er behaupten, dass es ein unglücklicher Zufall gewesen sei, dass sich das Christentum unter den Umständen einer Sklavenhaltergesellschaft hatte durchsetzen müssen und dass auch die Bedingungen des Feudalismus es lange Zeit nicht ermöglicht hätten, eine humanere Version des Christentums zu praktizieren. Kurzum: Die Verbrechen des Christentums seien nicht auf die Religion selbst zurückzuführen, sondern auf die widrigen historischen Rahmenbedingungen, die religiöse Führer immer wieder dazu zwangen, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die heute (unter veränderten gesellschaftlichen Umständen) zweifellos als inhuman eingestuft werden müssten.
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Unser gescheiter Atheist spricht hier von »Staatssozialismus« statt von »Marxismus-Leninismus«, weil letzterer Begriff einen Widerspruch in sich darstellt. Marxismus und Leninismus unterscheiden sich in einigen Punkten gewaltig, man kann sogar von einer Aufhebung des Marxismus durch den Leninismus sprechen (vgl. Schmidt-Salomon, Michael: »Proletarier aller Länder, verzeiht mir?« Plädoyer für einen zu Unrecht angeklagten Philosophen. In: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für humanistische Philosophie und freies Denken 2/1999).
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Was könnte unser gequälter Atheist nun gegen diese – wie es scheint – gut durchdachte Argumentation einwenden? Sollte er, das böse Vermächtnis Stalins auf der Schulter tragend, zähneknirschend einem Patt zustimmen und eingestehen, dass Atheisten doch nicht die »besseren Menschen« sind? Und – falls er wirklich zu dieser Einsicht kommen sollte: Welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen? Müsste er fortan die Religionskritik an den Nagel hängen und die Frage der Weltanschauung zur bloßen Geschmackssache erklären? Müsste er sich dem sogenannten »postmodernen Zeitgeist« unterwerfen, der uns ohnehin weismachen will, dass die Entscheidung für oder gegen Religion etwa gleichbedeutend ist mit der Frage, ob man Schokoladen- oder Vanillepudding vorzieht? Nun, wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. So richtig und wichtig es auch ist zu erkennen, dass die Geschichte des Atheismus keineswegs so ruhmreich ist, wie viele Atheisten glauben, so bedeutet dieses Eingeständnis keineswegs, dass wir künftig auf Religionskritik verzichten könnten. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass die Kriminalgeschichte des Atheismus zwar kürzer, aber doch ähnlich bluttriefend ist wie die Kriminalgeschichte des Christentums, beweist umso mehr, wie wichtig religionskritische Ansätze auch heute noch sind. Warum? Ganz einfach: Weil wir es in beiden Fällen mit religiösen Phänomenen zu tun haben.
Das zentrale Problem ist die Religion – nicht der Theismus »Theismus und Atheismus sind die beiden Enden einer Wurst.« Ich gebe zu: Früher habe ich mich über diesen Ausspruch ziemlich geärgert. Er schien mir ohne jegliche Begründung zwei höchst unterschiedliche Phänomene in einen Topf zu werfen. Außerdem hielt ich ihn für eine schlecht getarnte Ausrede für 130
Menschen, die sich den zentralen, existenziellen, aber mühsam zu bewältigenden Fragen des Lebens einfach nicht stellen wollten. Im Laufe der letzten Jahre traf ich aber im freigeistigen Spektrum eine beachtliche Anzahl von Menschen, auf die der Satz dummerweise doch erschreckend zutraf: Atheisten, die so religiös fanatisiert über Atheismus sprachen, dass sie auf mich den Eindruck missionierender Wanderprediger machten, freigeistige Märtyrer, die das Misslingen ihres eigenen Lebens ausschließlich auf das Wirken klerikaler Seilschaften zurückführten, Menschen, die alle Katastrophen der letzten 2000 Jahre der katholischen Kirche anlasteten und deren Kirchenhass das Einzige zu sein schien, was ihrem Leben noch Halt zu geben vermochte. Ich hatte den Eindruck, dass diese Menschen, die in der Regel der christlichen Religion entflohen waren, zwar ihren Gottesglauben verloren, das entscheidende Problem aber nicht gelöst hatten: Sie waren religiös geblieben, überzeugt von der unumstößlichen Wahrheit ihrer Glaubenssätze. So fest sie zuvor glaubten, Gott existiere, so waren sie nun davon überzeugt, dass er (sie oder es) nie existiert habe. Ihre Propheten der Wahrheit hießen nun nicht mehr Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, sondern Nietzsche, Marx und Feuerbach. Widerrede war verpönt wie eh und je, die schwarz auf weiß gedruckte Wahrheit durfte nicht infrage gestellt werden. Die Konfrontation mit dieser Art religiöser Atheisten rief mir immer wieder zu Bewusstsein, was mir eigentlich schon seit Beginn meines Ausstiegs aus der Religion klar war, nämlich dass das entscheidende Problem nicht der Theismus ist, sondern die Religion. Schon in dem ersten religionskritischen Aufsatz, den ich jemals veröffentlichte8, war dies die Grundthese. Ich plä-
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Schmidt-Salomon, Michael: Offenheit statt Offenbarung. Über Humanismus, Agnostizismus und die Diskursunfähigkeit »der Religiösen«. In: MIZ/Materialien und Informationen zur Zeit 4/1994.
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dierte dafür, den traditionellen Begriff der Religion zu erweitern: Er muss sowohl die theistischen als auch die atheistischen Heilsgeschichten umfassen.
Religionen brauchen keine Götter Dass Religionen nicht unbedingt Gottesbilder aufweisen müssen, dürfte jedem klar sein, der sich schon einmal mit den Ursprüngen des Buddhismus beschäftigt hat. Buddhas ursprüngliche Konzeption kam ohne Götter aus und für traditionelle Buddhisten besteht insofern auch kein Gegensatz zwischen Atheismus und Religion. Wie problematisch die automatische Kopplung von Theismus und Religion bzw. Atheismus und Religionsfreiheit ist, zeigen aber auch andere Beispiele. So ist es mitunter schwierig, gewisse pantheistische Vorstellungen eindeutig zu klassifizieren. Wenn man wie Spinoza den personalen Gottesbegriff aufgibt, Gott als »Summe allen Seins« begreift, ist das nun Theismus oder Atheismus, Religion oder Philosophie? Zweites Beispiel: Wenn man wie viele New-Age-Apostel den Begriff »Gott« durch den Begriff »Schicksal« ersetzt, handelt es sich dann um ein religiöses oder ein philosophisches Aussagensystem? Drittes Beispiel: Wie ordnen wir die sogenannten »Stammesreligionen« ein, die häufig auf die Vorstellung eines Gottes bzw. mehrerer Götter verzichten, aber ihren Ahnen magische Kräfte zusprechen? Sind das keine Religionen, nur weil sie auf die Rede von »Gott« verzichten? Ich denke, es wäre überaus problematisch, den Religionsbegriff weiterhin an der Existenz klar umrissener Gottesbilder festzumachen. Denn erstens würden wir damit – wie oben gezeigt – zahlreiche traditionelle Formen der Religion ausklammern. Zweitens würden wir verkennen, dass religiöse Grundmuster auch in scheinbar säkularen Zusammenhängen von zentraler Bedeutung sein können. Damit meine ich weniger die Vereh132
rung gewisser »Fußballgötter« oder »Popidole« (obwohl auch dies ein spannender Gegenstand religionssoziologischer Betrachtungen sein kann) als das erst in letzter Zeit wiederentdeckte Phänomen der »politischen Religion«.
Nationalsozialismus und Kommunismus als politische Religionen Lange Zeit war es verpönt, über den Nationalsozialismus als politische Religion zu sprechen.9 Dabei kann gerade die religionssoziologische Betrachtung des Nationalsozialismus viele Phänomene erhellen, für die Historiker ohne religionssoziologisches Inventar bislang keine einleuchtenden Erklärungen finden konnten.10 Wie z.B. war es möglich, dass so große Teile der
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Der Begriff der politischen Religion wurde bereits im Jahr 1938 durch Eric Voegelin geprägt und von ihm anhand der damals brandaktuellen Beispiele Nationalsozialismus und Kommunismus erläutert. Sein Ansatz wurde von der Geschichtswissenschaft in der Folgezeit allerdings weitgehend ignoriert, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil für viele Experten der Begriff der Religion eher positiv besetzt war. Erst Mitte der 1990erJahre hat eine verstärkte Beschäftigung mit dem Phänomen der politischen Religion eingesetzt. Vgl. hierzu: Maier, Hans: Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg 1995; Maier, Hans (Hg.): Totalitarismus und politische Religionen, Paderborn 1996/97; Ley, Michael: Genozid und Heilserwartung, Wien 1993; Ley, Michael/ Schoeps, Julius H. (Hg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997. Einen kurzen Überblick über den Forschungsstand bietet Pfahl-Traughber, Armin: Sind Kommunismus und Nationalsozialismus politische Religionen? In: Humanismus aktuell 3/1998. 10 Dies darf freilich nicht auf eine Verabsolutierung des Ansatzes herauslaufen. Wie schon Pfahl-Traughber schrieb, lassen sich »mit den Untersuchungen von religiösen Dimensionen bei politischen Bewegungen und Ideologien […] nur begrenzt Aussagen über das Gesamtphänomen treffen.« (S. 66).
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Bevölkerung mit Enthusiasmus ihr Leben für den »Führer«, die Inkarnation des »germanischen Volksgeists«, aufs Spiel setzten? Welche Bedeutung hatten die von Speer inszenierten rituellen Massenkundgebungen und das immer wieder in den Vordergrund gerückte Symbol des Hakenkreuzes? Religionssoziologische Analysen können aufzeigen, dass die Nazi-Strategen immer wieder Elemente religiöser Kulte in ihre Propaganda aufnahmen und damit ungeheuren Erfolg hatten. Selbst die unfassbare Singularität des Grauens, Auschwitz, kann unter religionssoziologischer Perspektive besser verstanden werden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang nicht nur der traditionelle christliche Antijudaismus, der sich im Nationalsozialismus auf verheerende Weise entlud11, sondern vor allem auch der rituelle Charakter der nationalsozialistischen Judenvernichtung selbst. So klingt bei Joseph Goebbels unübersehbar ein archaischer (wie christlicher) Opferglaube durch, wenn er formuliert: »Opfer! Im Opfer liegt die Reinigung von Schuld! Geht den harten Gang um der Zukunft willen … Das Opfer ist alles.«12 Der Sozialwissenschaftler Michael Ley hat hierin wohl zu Recht eine der wesentlichen Antriebsfedern der nationalsozialistischen Politreligion gesehen. Er schreibt: »Das Menschenopfer, das die Nationalsozialisten darbrachten, die ›Tötung des ewig wandernden Juden‹, war die politische Theologie des Nationalsozialismus. Adolf Hitler sah sich als Werkzeug Gottes, der mit dem Holocaust die Heilung Deutschlands und der ganzen Welt bringen wollte. Die nationalsozialistische Apokalypse ist das größte Menschenopfer, das die Weltgeschichte kennt (…) Der
11 Vgl.
Czermak, Gerhard: Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung, Reinbek 1997. 12 Goebbels zitiert nach Ley, Michael: Apokalyptische Bewegungen in der Moderne. In: Ley, Michael/ Schoeps, Julius H.: Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997, S. 26.
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Holocaust ist die Exekution des Mythos vom Antichrist in der Moderne.«13 Die Nazi-Strategen selbst waren sich der religiösen Komponente ihrer Ideologie durchaus bewusst. Nur ein Beispiel unter vielen: In einem internen Strategiepapier (»Sitzungsprotokoll vom 14. August 1943«) wurde vorgeschlagen, alle religiösen Bekenntnisse nach dem »Endsieg« abzuschaffen und gleichzeitig Adolf Hitler als »neuen Messias« zu proklamieren, dem als »Erlöser/Befreier« und »Gott-Gesandter« göttliche Ehren zukommen müssten. Die Propaganda müsse zu diesem Zweck nicht nur die Geburt, sondern auch das künftige Ableben des Führers in völlige Dunkelheit verhüllen, als »Rückkehr in die Gralsburg.« Dieses Papier, das u.a. vorsah, die traditionellen religiösen Kultstätten (Kirchen etc.) in »Adolf Hitler Weihestätten« umzubenennen, stieß bei Hitler auf Lob und Anerkennung. Er unterzeichnete das Schreiben mit: »Der erste brauchbare Entwurf! Zur Bearbeitung an Dr. Goebbels. Adolf Hitler.«14 Was Hitler recht war, war Stalin nur billig, auch wenn es ihm als zum Atheismus verdammten kommunistischen Staatschef natürlich nicht vergönnt war, sich der Öffentlichkeit als Gesandten Gottes zu präsentieren. Dem Personenkult um Stalin tat dies indes keinen Abbruch. Stalin stilisierte sich als übermenschlichen Propheten der bolschewistischen Säkularreligion, als vom Histomat bestimmten Führer der auserwählten Volksgruppe »Arbeiterklasse«, als unfehlbaren Papst des kommunistischen Parteipriestertums. Wie u.a. Hans Maier aufzeigte, übernahmen die russischen Kommunisten schon sehr früh zahlreiche Elemente der heftigst bekämpften theistischen Religionen.15 Zu denken ist hier beispielsweise an den kommunisti13
Ley, Michael, 1997, S. 26. hierzu die vorzügliche Videodokumentation Herrn Hitlers Religion von Petrus van der Let. 15 Vgl. Maier, Hans, 1995, S.14 f. 14 Vgl.
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schen Reliquienkult (Einbalsamierung Lenins), die Umbenennung der Ikonenecke in die sogenannte »Friedensecke«, die Umgestaltung der Kirchen in weihevolle »Gedächtnisstätten des Atheismus« usw. Wie stark die Wirkung der kommunistischen Politreligion und insbesondere die quasireligiöse Verehrung Stalins war, tritt deutlich in den vielen literarischen Lobpreisungen hervor, die sehr an liturgische Weihegesänge erinnern. So verfasste Johannes R. Becher, der prominente Verfasser des Textes der DDR-Nationalhymne, zum Tode Stalins folgende religiös-kitschige »Danksagung«: »Nun lebt er schon und wandert fort in allen / Und seinen Namen trägt der Frühlingswind / Und in dem Bergsturz ist sein Widerhallen / Und Stalins Namen buchstabiert das Kind. / (…) Und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke / Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn / Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke / Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.«16 – wie im Himmel, so auf Erden, möchte man fast ergänzen. Ähnlich weihevolle Klänge schlug damals auch KuBa, wie Becher ein prominenter literarischer Messdiener der DDR, an: »Gesiegt! / Und alles, alles, alles ist vollbracht. / Er ruht! / Die Millionen sind die Seinen. / Sein Lächeln leuchtet uns auch diese Nacht. / Er hat die armen Leute reich gemacht. / Wir aber weinen. / Wir wissen freilich, / dass wir unbesiegbar sind. / Wir trinken seine Lehren wie den reinen / kristall’nen Wein Grusiniens. / (…) Gesiegt! / Der Schwur an Lenins Bahre ward erfüllt / Vollbracht! / Er gab uns noch ein Buch voll guter Lehren. / Die Fahnen neigen sich, in Flor gehüllt. / Wir schwör’n, Genosse Stalin! / Unser Schwur wird treu erfüllt! / In Ehren!«17 Es ist sicherlich kein Zufall, dass Stalins Lebensbilanz hier mit biblischen Worten umschrieben wird. »Es ist vollbracht.«, sagt
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Becher, Johannes R.: Danksagung. In: Sinn und Form 2/1953, S. 9. KuBa: 5. März 1953, 21.50 Uhr. In: Sinn und Form 2/1953, S. 13.
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der christliche Erlöser Jesus am Kreuz, »alles, alles, alles ist vollbracht«, jubelt KuBa über das Lebenswerk des bolschewistischen Erlösers Stalin. Ihm, dem unbeugsamen »Hammer-undSichel-Messias« von Lenins Gnaden, gilt die bedingungslose Nachfolge, seine Lehren gilt es zu trinken wie Wein – eine kaum verdeckte Anspielung auf das christliche Abendmahl. Entsprechend groß war natürlich der Schock, als die KPdSU nach dem Tode des Diktators mit der Entstalinisierung begann und die ganzen Ausmaße des stalinistischen Terrors bekannt wurden. Damals fielen viele Kommunisten vom Glauben ab, die Politreligion des Kommunismus zeigte erste Risse, gewann aber für kurze Zeit weltweit wieder an Attraktivität, als Mao den apostolischen Auftrag zur Kulturrevolution gab und mit seiner »roten Bibel« das Evangelium des Weltkommunismus um eine neue (Un-)Heilsgeschichte erweiterte.
Was lernen wir aus der Kriminalgeschichte des Atheismus? Wenn wir die Kriminalgeschichte des Atheismus Revue passieren lassen, wird deutlich, dass die anfangs gestellte naive Frage, ob Atheisten die besseren Menschen sind, in dieser Generalisierung sicherlich nicht positiv zu beantworten ist. Wohlgemerkt: Dies bedeutet nicht, dass nicht doch einige gute Argumente für den Atheismus sprechen. Hier sind vor allem die Widersprüche zu nennen, in die sich die Vertreter personaler Gottesbilder beinahe zwangsläufig verstricken müssen (Beispiel: Theodizeeproblem). Außerdem kann der Atheismus als Denkmethode für sich in Anspruch nehmen, dass er die wichtige Maxime der wissenschaftlichen Eleganz ernst nimmt, d.h. dass er im Unterschied zum Theismus nicht von vornherein gezwungen ist, hochkomplizierte und unbekannte Größen (Gott) in seine Theorie der Welt einzubauen. 137
Aber – um dies noch einmal zu wiederholen: Die erkenntnistheoretischen Vorteile des Atheismus sind nicht notwendigerweise mit einem Zuwachs an Humanität verbunden. Das entscheidende Problem ist nicht die Frage, ob Götter oder Göttinnen existieren. Das entscheidende Problem ist die weitgehend anerzogene Unfähigkeit vieler Menschen, sich der eigenen Vernunft zu bedienen, ist ihr fehlender Mut, vermeintlich unantastbare Behauptungen infrage zu stellen. Mit der Frage des Gottesglaubens hat dies vergleichsweise wenig zu tun. Viele Anhänger der Weltreligionen haben durchaus ihren Beitrag zur Aufklärung und damit auch zur Befreiung von religiösen Dogmen geleistet. Dass sie dabei vielfach auf halbem Wege stehen geblieben sind, ist bedauerlich, aber beileibe keine besondere Eigenschaft theistisch denkender Menschen. (Atheisten, die sich in der Sowjetunion trauten, die offizielle Doktrin infrage zu stellen, ging es in der Regel auch nicht anders.) Halten wir fest: Religionen brauchen – das demonstriert das Beispiel des Stalinismus – keine im Jenseits beheimatete Götterwelt. Insofern ist es auch problematisch, den Atheismus als Allheilmittel gegen religiösen Dogmatismus zu verordnen. Solange Menschen glauben, es gäbe »heilige«, d.h. für alle Zeiten unantastbare Aussagen, solange unterstellt wird, dass gewisse geistige oder politische Führer einen privilegierten Zugang zu diesen ewigen Wahrheiten haben, wird sich die Menschheit kaum in Richtung einer größeren Humanität, Offenheit und Toleranz verändern können. Es gilt daher, eine skeptische Geisteshaltung zu fördern, die unbrauchbare Ideen sterben lässt, bevor Menschen für unbrauchbare Ideen sterben müssen. Gegen diesen kategorischen Imperativ jeder aufklärerischen Religionskritik haben religiös denkende Menschen aller Zeiten verstoßen – und zwar losgelöst davon, ob sie an die Existenz eines Gottes glaubten oder nicht. Es ist an der Zeit, nicht nur aus der Kriminalgeschichte des Christentums, sondern auch aus der Kriminalgeschichte des Atheismus die richtigen Schlüsse zu ziehen. 138
Walter Homolka
Durch Wissen zum Glauben Wir sind Gottes Hoffnung zur Heilung der Welt
ls Rektor des Abraham Geiger Kollegs beschäftigt mich ein Grundsatz unseres Namensgebers Abraham Geiger (1810–1874) in meiner religiösen Praxis als Rabbiner besonders. Er lautet: »Durch die Erforschung des Einzelnen zur Erkenntnis des Allgemeinen, durch Kenntnis der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart, durch Wissen zum Glauben.«1 Wenn Wissen uns zum Glauben führt, dann spricht aus dieser Erwartung ein großes Vertrauen in die vernunftmäßige Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Ist Geiger hier zu optimistisch? In seinem Talmudkommentar schreibt der im 14. Jahrhundert wirkende Rabbi Jom Tow ben Avraham Ischbilly aus Sevilla, »Ritba« genannt, zu Eruwin 13 b: »Als Mose auf die Höhe stieg, um die Tora in Empfang zu nehmen, wurden ihm im Zusammenhang mit einer jeden Sache 49 Gründe gezeigt, warum es erlaubt sein sollte, und 49 Gründe, warum es verboten sein sollte. Als Mose den Heiligen – Gepriesen sei er! – um endgültige Entscheidungen bat, wurde ihm gesagt, dass derartige Entscheidungen den Weisen Israels in jeder einzelnen Generation vorbehalten seien und dass die Entscheidungen, die sie
A
1
Petuchowski, Jakob J.: New Perspectives on Abraham Geiger, Cincinnati 1975. Bildunterschrift (Motto) auf dem Porträt Abraham Geigers, das um 1840–1843 in Breslau aufgenommen wurde. Das Porträt liegt in den American Jewish Archives, Cincinnati.
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dann jeweils träfen, die gültigen Entscheidungen seien.« Dem Menschen wird also bei der Offenbarung des Willens Gottes offensichtlich ein hohes Maß an Mitwirkung gegeben. Der andauernde Prozess menschlicher Interpretation wird so zum stetigen Offenbarungsprozess, der weit über das einmalige SinaiGeschehen hinausgeht. Wir können verborgene Wahrheiten und Ansichten entdecken, es entstehen Neuerungen, durch die ich als menschlicher Interpret zum Mitschöpfer werde. »Glaube« erhält so für mich einen ganz hohen Plausibilitätsgrad. Er wird zu einer spannenden Entdeckungsreise auf dem Weg, den Willen Gottes zu erfassen. Damit verändert und wandelt sich das Judentum, so wie es zu jeder Zeit geschah: Es hat den Glauben der Erzväter mit der Gesetzgebung am Sinai in Einklang gebracht, mit dem Idealismus der Propheten, mit den praktischen Anliegen der Rabbiner. Es berücksichtigt die sozialen Bedingungen der Gegenwart und reagiert auf zeitgenössische Lebensstile und Einstellungen, auch wenn es sie nicht zwangsläufig nachahmt. Für mich ist gerade der Wandel der Schlüssel, dem Judentum treu zu bleiben. »Geglaubt« aber kann im Judentum nur werden, was zuvor als Gebot erfahren und als Antwort auf die Fragen des eigenen Lebens gehört worden ist. Diese Relativierung zeigte sich schon in der talmudischen Zeit, in der halachische Prinzipien lebhaft diskutiert und kritisch geprüft wurden – und so ist es bis heute geblieben. Ein programmatischer Denker des Judentums, Rabbiner Leo Baeck (1873–1956), hat für mich sehr gut formuliert, was das Ziel unseres Lebens vor Gott sein sollte: Gerechtigkeit. Diese aber wird durch Werke und Leistungen, durch Pflichterfüllung und das Ringen um das Gebot erlangt. Denn Religion soll nicht ein gutes Gewissen schenken, sondern das Gewissen in einen ständigen Zustand der Unruhe und Herausforderung versetzen. Nur dann ist sie wahrhaft Religion. Sie muss fähig sein und entschlossen, jeder geschöpflichen Macht Widerstand anzusagen und zu leisten, wenn es gilt, das Ewige zu verteidigen. 140
Mit der Orientierung auf die sittliche Tat tritt die Frage nach der geglaubten »Wahrheit« im Judentum in den Hintergrund. »Der Jude ist aufgefordert, den Sprung der Tat zu wagen, nicht so sehr den Sprung des Denkens.« 2 Und das ist gut so.
2
Heschel, Abraham J.: Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-Vluyn 1980, S. 218.
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Tilmann Moser
Aus der Arbeit eines Psychoanalytikers
ch danke Ihnen, dass Sie einen solch offenen, großzügigen und provokanten Raum zur Auseinandersetzung mit Gottesnähe und Gottesferne bieten. Und das ohne eigenen Zugang zu einem persönlichen Gott! Mit provokant meine ich, dass Sie auch die wütenden, nicht salonfähigen Gedanken und Gefühle zu Gott einladen und aus Ihrer eigenen Haltung keinen Hehl machen!« Diese Sätze schrieb mir eine Patientin, die in einem widersprüchlichen Chaos von vielfältigen kindlichen und jugendlichen Gottesbildern voller Liebe, Zweifel, Sehnsucht und Hass lebte und sich oft nur durch Verdrängen und Verleugnen helfen konnte. Sie trifft aber genau mein Bemühen, ohne eigene Tendenz oder gar missionarische Absicht die Not mit Gott anzuhören und die neurotischen Anteile zu mildern, vielleicht sogar zu heilen. Dabei spannt sich die Bandbreite von einem beobachtenden, lauernden, verfolgenden, übelnehmenden, hämischen oder rachsüchtigen Gott über einen Gott, der nur Gehorsam oder den nie endenden Dienst an ihm sowie Dank für seine Segnungen verlangt, bis hin zu einem Gott, der abwesend oder vergessen ist, der nicht antwortet und nie verinnerlicht wurde, der aber doch sehnsüchtig gesucht wird, in der Hoffnung auf ein Gefühl der Geborgenheit in einem verunsicherten, ängstlichen und orientierungslosen Leben. Unproblematisch sind bei meiner Arbeit natürlich eher Gottesbilder, die etwas von dem kindlichen Vertrauen und Geborgenheitsgefühlen bewahrt haben, wenn die Patienten nicht auffallen durch ein Übermaß an Selbstverlust, neurotische Abhängigkeit oder süchtige Gottesnähe. Aber auch hier geht es um Milderung der Bindung, um seelisches Wachstum, um den Mut zum eigenen
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Leben, zur »Freiheit eines Christenmenschen«. In manchen Fällen kann der gefährliche Gott, wenn er nur seelische Krücke war, auch verschwinden, in anderen Menschen sich humanisieren oder aus vergessenen Spuren sich neu offenbaren. Wichtig ist, dass Religiosität und Spiritualität nicht von vornherein als »Schiefheilung« des Seelenlebens, als »Opium fürs Volk« oder als zweifelhafte Lösung für kindliches Elend und lebensbedrohliche Angst denunziert werden. Ein eigenständiges menschliches Bedürfnis nach transzendentaler Bindung oder Orientierung wird in nichtdogmatischer Psychoanalyse heute auch vielfach anerkannt und nicht als zu beseitigende Schwäche der Person betrachtet. Gelehrt wird der therapeutische Umgang mit Gott als Umgang mit oft tiefen religiösen Nöten freilich noch kaum, und es bedarf einer längeren analytischen Erfahrung, um gelassen mit dem Thema umzugehen.
Der verfolgende Gott Ein pensionierter Naturwissenschaftler, der bereits mehrere Psychotherapien absolviert hatte, ohne dass sein bedrängendes Gottesproblem wohl auch wegen seiner eigenen Scheu je thematisiert worden wäre, meldet sich nach der Lektüre meines Buches Gottesvergiftung. Sein Gott sei sein ständig misstrauischer und wachsamer Begleiter, beobachtend und lauernd, triumphierend, ungnädig und zudem von grausamer mephistophelischer Gerissenheit. Er habe unzählige Male versucht, sich vor ihm zu verbergen, aber sein bedrückender Pakt, den der Patient früh mit ihm geschlossen habe, laute: Gott verhindere seinen Selbstmord, aber dafür verlange er lebenslänglichen Gehorsam, verbunden mit Lebensverneinung und demütigender Unterwerfung. Und dieser Deal sei noch immer sein Schicksal bis in sein hohes Alter. In der Regel versuche ich, Patienten mit ähnlichen Problemen 143
mit Gott auf einem leeren Thron sprechen zu lassen. Bei den ersten Versuchen zeigte sich bei dem Naturwissenschaftler eine tiefe Angst vor der Konfrontation und eine ebenso tiefe Resignation: Er werde sich nie von diesem Gott befreien können, oder vielmehr: Dieser Gott werde ihm das nie erlauben, sondern seine Stärke hervorkehren und all seine Versuche, sich von ihm zu lösen, mit hämischer Verachtung vereiteln. Es dauerte nicht lange, bis wir herausgefunden hatten, dass sein Gott ein direkter Nachfahre, ja Vertreter und Büttel seiner Mutter war. Ihm standen somit zwei Throne gegenüber, Gott und seine Mutter – ein wahrhaft einschüchterndes Paar, das sich in seiner Macht noch gegenseitig verstärkte und Widerstand aussichtslos erscheinen ließ. Doch langsam meldeten sich bei meinem Patienten auch Zorn, Enttäuschung und Verachtung beiden gegenüber, auch wenn immer wieder drohte, dass Gott sich für diesen bevorstehenden Aufstand rächen würde. So plagten ihn Alpträume der Verfolgung und nächtliche Schweißausbrüche, in denen er mit dem Schultergürtel ums Überleben und einen eigenen Raum zu kämpfen schien. Vor allem nutzte Gott den Hinterhalt der Versuchung – er setzte alles daran, ihn zum Genuss von Alkohol zu verführen, eine Auseinandersetzung, mit der mein Patient täglich zu ringen hatte. Ein Versagen in diesem Kampf hätte Gott wieder triumphieren und sein Opfer in die Fesseln schwer erträglicher Schuldgefühle und erneuter demütigender Unterwerfung stürzen lassen. Erst dadurch, dass ich behutsam einen »idealen Gott« einführte, der nicht verurteilt, sondern ihn annimmt, wie er ist, konnte ich meinem Patienten eine Vorahnung religiöser Geborgenheit vermitteln: Er lag in Gottes Schoß auf einem Berg von Kissen und ließ allmählich eine mögliche Veränderung seiner Pein zu. Was war mit seinem Gottesbild passiert? Sowohl die Mutter wie Gott waren Figuren, die ihn immer wieder zutiefst entwertet und gedemütigt hatten. Seine früheren Therapeuten hatte er idealisiert, solange er glaubte, sie könnten ihn von seiner be144
fürchteten Nichtigkeit und depressiven Verstimmungen erlösen. Auch ich lief Gefahr, in seiner Idealisierung meiner Person als mächtiger Zauberer zu verschwinden. Kleine Fehler und störende Eigenschaften meinerseits verhinderten jedoch die Überhöhung als Gegengott und führten schmerzhaft zu einer realistischeren Wahrnehmung meiner Person. Erst ab diesem Zeitpunkt war es ihm möglich, zu einer verbindlichen Form der Therapie zu kommen und den enttäuschten Abbruch zu vermeiden. Es kam also darauf an, dass er meine Ohnmacht akzeptierte, den verfolgenden Gott schwächte und das schwache Gegenbild stärkte. Kränkung, verbunden mit dem Gefühl, im Leben versagt zu haben, wurde zu einem zentralen Thema seiner Existenz. Deshalb war es hilfreich, nach seinen positiven Eigenschaften und Leistungen zu fragen, um auch eine Versöhnung mit sich selbst anzustreben. Das vergebliche Ringen mit dem übermächtigen Demütiger war durch sein geringes Selbstwertgefühl immer erneut angeheizt worden. Dass ich sein Gottesproblem nicht zuletzt auch aus eigener Erfahrung ernst nahm, stimmte meinen Patienten dankbar, und er verzieh mir, dass ich ihm nur einen sehr langsamen Prozess der relativen Genesung versprechen konnte. Der vernichtende Gott war zu einem tief in seiner Identität eingelagerten Teil seiner selbst geworden, der nur durch eine szenische Externalisierung überhaupt sichtbar und somit als Problem angehbar wurde. Schrittweise wurde ich zu einem schützenden Begleiter, der bei dem zutiefst Entmutigten die Hoffnung auf Besserung aufrechterhielt. So konnte schließlich der verfolgende Gott ganz langsam gleichsam in Säure aufgelöst werden, wenngleich er sich mit Macht wehrte, indem er drohend vermittelte: ICH bin doch ein Teil von dir und ohne mich droht das Verderben. Zu einer inneren Sicherheit war es für den pensionierten Naturwissenschaftler noch ein weiter Weg.
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Die verleugnete Sehnsucht nach Gott Eine über fünfzigjährige, frühpensionierte Sportlehrerin war in einer Familie aufgewachsen, in der der Spott über Pfarrer, Kirche und Gott alltäglich war. Dieser destruktiven Überschwemmung mit Verachtung und Entwertung alles Religiösen wusste sie nicht das Geringste entgegenzusetzen, sodass sie in arroganter Abwehr aller spirituellen Bedürfnisse die Familienatmosphäre der hämischen Geringschätzung von Religion übernahm. Das führte zu einer kräftezehrenden Spaltung ihrer Seele, die zwischen Verleugnung und Sehnsucht hin- und hergerissen wurde, wobei die Sehnsucht zur verachteten Eigenschaft wurde. Die Patientin schämte sich regelrecht, wenn sie bei geistlicher Musik – sie sang in einem Kirchenchor – in Gefahr geriet, ihre Sehnsucht nach übereinstimmender Zugehörigkeit zu den anderen Chormitgliedern zu spüren. Sie abstrahierte beim Singen die Texte völlig von den Melodien, um so die verheißungsvollen Inhalte auszublenden. Der Gehorsam der Familie gegenüber war in diesem noch unbewussten Ringen die stärkere Kraft. Das Thema Gott tauchte in diesem Fall erst im vierten Jahr der Behandlung auf. Sie hatte es für sich unbewusst als bedeutungslos erklärt, es war kein gültiger, erwähnenswerter Stoff. Sie hatte jahrzehntelang ohne Gott gelebt. Da meine Patientin viel las, hatte sie sich wohl auch Freuds Abneigung und deutende Entwertung alles Religiösen zu eigen gemacht, und ich hegte auch den Verdacht, dass mein Buch Gottesvergiftung sie annehmen ließ, dass ich für eine Förderung ihrer stillen Sehnsucht nicht offen wäre. Sie hatte sich eine Annäherung an ihre religiösen Bedürfnisse schlicht selbst versagt und fürchtete, sich ihrer Familie zu entfremden, wie wenn sie abnormalen Wünschen zum Opfer gefallen wäre. Erst als ich sie ermutigte, indem ich ausführte, dass viele, vielleicht sogar die meisten Menschen eine wenn auch oft entfremdete Geschichte mit Gott und Religion hätten, war es ihr möglich zu hoffen, dass auch sie ein autono146
mes Recht auf eine eigene Religiosität besitze. So wurde ich eines Tages zum helfenden Zeugen eines ersten vorsichtigen Gebetes, das uns beide sehr bewegte. Wenn man mich früher gefragt hätte, hätte ich es lange Jahre in meinem Beruf für unwahrscheinlich, wenn nicht gar für absurd gehalten, eines Tages therapeutische Ermutigung, ja Unterricht im Gebet zu leisten. Doch beim Zuhören spürte ich, dass sich bei meiner Patientin eine innere Wende andeutete, die ich begrüßen musste, weil ich den Schmerz ihrer Orientierungslosigkeit und die verachtete Frömmigkeit ihrer Seele gut genug kannte. Kurioserweise war mir aufgrund der eigenen Enttäuschung, die mein Verhältnis zu Gott prägte, die Vermittlertätigkeit zu einem göttlichen Grund zu einer beruflichen Eigenschaft geworden, die mir jedoch selbst wie ein Geschenk vorkam, ohne dass es mich in Versuchung führte, meine eigene Ungläubigkeit infrage zu stellen. Die lange im schmerzlichen Wartezustand verharrende Frömmigkeit der Patientin begann nun zu einer seelischen Ressource für sie zu werden. Ich persönlich brauchte plötzlich diese meine ungewohnte Rolle als vorübergehender Glaubensbeförderer nicht mehr vor mir zu rechtfertigen, die mir doch, meiner orthodoxen psychoanalytischen Herkunft geschuldet, verdächtig sein musste. Denn es ging hier um die Vervollständigung ihrer Seele, um das Hereinholen eines wichtigen seelischen Anteils, der lange Zeit brachgelegen hatte, um eine Vervollständigung, die ihr die beglückende Vorstellung einer möglichen Ganzheit zu verheißen schien. Trotzdem war es ihr aber immer noch wichtig, diese Entwicklung vor ihrer Familie geheim zu halten, aus Angst, aufgrund ihrer bislang ungebrochenen Loyalität noch einmal der Versuchung des militanten Zweifels zu verfallen. Die Idee, einen eigenen Zugang zu Gott zu finden, sollte sie noch lange beschäftigen.
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Gita Neumann
Tod und letzte Dinge Sicht einer humanistischen Sterbebegleiterin
ospize bieten für eine Minderheit von Menschen, in der Regel für Krebspatienten im Endstadium, ein humanes »Sterben de luxe« mit bester Palliativmedizin und -pflege. Der Hospizaufenthalt verspricht ein letztes individuelles Aufblühen, ein Noch-mal-leben-vor-dem-Tod. So vorbildliche Versorgung scheint die Gesellschaft sich jedoch nur für wenige und nur für kurze Dauer leisten zu können. Die durchschnittliche Verweilzeit im Hospiz beträgt zwei bis drei Wochen. Die Hospizarbeit wird von den Krankenkassen finanziert für die Befriedigung von körperlichen, psychosozialen und spirituellen Bedürfnissen sterbender Menschen. Als Herzstück wird die spirituelle Begleitung angesehen. Damit ist – jenseits konkreter religiöser Inhalte – eine geistige Dimension angesprochen, die sich nicht in der materiellen, technisierten oder alltäglichen Welt erschöpft, sondern über diese hinausweisen und ihr gleichzeitig zugrunde liegen soll. Es wird eine anthropologisch bedingte Orientierung am Transzendenten bzw. Unendlichen angenommen. Peter Sloterdijk deutet dies als Option »für eine Höchstform symbolischer Immunität, also für eine Version der Letztversicherung, die sich im Größtmöglichen stabilisiert.«1
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Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern, Frankfurt/Main 2009, S. 522. Wie es Schleiermacher bereits im frühen 19. Jahrhundert mit seiner anthropologischen These vorwegnahm, wird das Christentum gleichzeitig seinen atheistisch gebildeten Verächtern gegenüber rehabilitiert wie auch einem radikalen inneren Zerfallsprozess ausgesetzt.
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Aus einer Freidenkerfamilie im katholischen Rheinland Durch den modern gewordenen Spiritualitätsbegriff ist heute nicht nur die etablierte konfessionelle Seelsorge, sondern auch die humanistische Sterbebegleitung gefordert. Mit Letzterer beschäftige ich mich persönlich und professionell, seitdem ich nach einigen Irrungen und Wirrungen 1989 eine »ABM«-Stelle im Bereich »Trauerkultur, Tod und Sterben« angetreten hatte. Mein Arbeitgeber war der Deutsche Freidenkerverband (BerlinWest). Nach seiner Umbenennung 1993 in Humanistischer Verband Deutschlands (HVD) fing ich dort als Referentin im Bereich Lebenshilfe an. Diese habe ich bis heute inne. Der HVD in Berlin verfügt inzwischen über eine stattliche Palette weltlich-humanistischer Hospizarbeit: stationäre und ambulante Einrichtungen, Angebote für Kinder und Erwachsene und einen interkulturellen Dienst namens Dong Ban Ja. Ich bin nicht getauft und stamme – Anfang der 1950er-Jahre eine exotische Rarität – aus einer proletarischen Freidenkerfamilie im tief katholischen Rheinland. Am Mädchengymnasium Dinslaken war ich eine von insgesamt nur einem halben Dutzend Arbeitertöchtern, darüber hinaus in den ersten Jahren die einzige Schülerin, die vom Religionsunterricht abgemeldet war. Um eine Jugendweihefeier zu erhalten, mussten meine Eltern mit mir ziemlich weit in eine größere Ruhrgebietsstadt fahren. Gespielt wurde Mozarts Kleine Nachtmusik, meine erste Kulturerfahrung. Wir feierten selbstverständlich Weihnachten mit allem Drum und Dran. Von Anfang an klärten mich meine Eltern aber darüber auf, wer hinter der Weihnachtsmannmaske steckte, nämlich die bei uns einquartierte Tante Meta. Auch an Dämonen, Götter, Engel oder einen Jesus glaubte ich nicht. Ich wurde nicht atheistisch erzogen, sondern kam de facto mit Glaubensdingen überhaupt nicht in Berührung. Denn ich besuchte auch keinen Kindergarten, der zwangsläufig konfessionell gewesen wäre. 149
Wer alles geschaffen hat? Die Natur ist unser Gott, pflegte mein Großvater mütterlicherseits zu sagen, ein sehr starker Mann, der mich regelmäßig zu langen Streifzügen durch die Wälder mitnahm. Opa sah in jedem Uniformierten – auch im Revierförster – seinen natürlichen Gegner. Mit seiner sozialdemokratischen Familie hatte er gegen die »Dreifaltigkeit« von Thron, Altar und Militär gekämpft und war dann zum kommunistischen Spartakusbund übergetreten. Ich war Einzelkind, mir fehlte es trotz relativer Armut an nichts. Meine Welt waren die Tiere, unser Garten bestand aus etlichen Kleingehegen samt Friedhof. Meine übermäßige Tierliebe wurde von der meines Vaters quasi noch übertroffen. Er konnte keinem Tier (und auch keinem Menschen) etwas zuleide tun. Und selbst Insekten wie Wespen, die in unserem Gartenteich um ihr Leben paddelten, reichte er einen rettenden Grashalm. Auch heute gehört es zu meiner inneren Sicherheit: Wer menschliche Liebe, Beziehung, Philosophie, Wissenschaft, Naturerleben, Kultur (Musik, bildende Kunst, Weltliteratur) hat – bei anderen mag es auch der Besuch von Sportveranstaltungen2 sein –, braucht keine Religion. Die Vorstellung eines Gottes erklärt die Geheimnisse des Kosmos und der Entstehung des Lebens ebenso wenig wie das Wunder der Liebe. Wir brauchen das, was Religion genannt wird, weder zum Trost noch zur Vertiefung unseres Gemüts oder vermeintlichen Letztversicherung. Bereits Anfang der 1970er-Jahre waren alle meine Familienangehörigen gestorben, erst Papa 1969 an Herzinfarkt, dann gefolgt von der krebskranken Mutti und im gleichen Jahr Oma 2
Sloterdijk vertritt die These: »Religionen gibt es nicht«. Als ein Exempel für die stattdessen von ihm entdeckten »anthropotechnischen Übungssysteme und Regelwerke« führt er uns den Kult des Neo-Olympismus vor Augen, durch Pierre de Courbertin quasi religiös begründet. (Vgl. Sloterdijk, a.a.O., S. 133 ff.)
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und Opa. Das Spektrum verschiedenen Sterbens erlebte ich früh mit, einschließlich eines vertrauten Umgangs mit den Leichnamen. Denn alle starben zu Hause. Beim Tod des Vaters lernte ich erstmalig eine damals noch strikt von den Kirchen abgelehnte und somit den Gottlosen vorbehaltene Feuerbestattung kennen. Einen freien Trauerredner gab es in unserer Gegend weit und breit nicht, ein Pfarrer am Grab oder eine Feier »unterm Kreuz« waren für meine Mutter völlig undenkbar. Und so lief die Beisetzung wort- und auch ziemlich hilflos unter freiem Himmel ab. Solche und andere Defizite suchten die Freidenker auszugleichen, die sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin-West neu gegründet hatten. Anzuknüpfen galt es an die große Freidenkertradition der Feuerbestattungskultur und des freigeistigen Umgangs mit Tod und Sterben – in der Weimarer Republik kultureller Bestandteil einer linken Massenbewegung. Diese ist bekanntlich mit der Hitler’schen Machtergreifung jäh ausgemerzt worden.
Sinnstiftung und Suizid – wie sanft oder schwer ist das Sterben? Mein beruflicher Alltag ist vor allem von humanistischer Lebenshilfe und Betreuung unserer Verbandsmitglieder oft bis zu deren Tod geprägt. Außerdem beraten mein Team und ich Klienten – darunter in den letzten Jahren auch viele Tausend religiös gebundene – bei der Abfassung von individuellen Patientenverfügungen. Später helfen wir deren Angehörigen, die dokumentierten Wünsche und Vorstellungen der inzwischen willensunfähig gewordenen Patienten durchzusetzen. Dabei geht es meist um einen Verzicht auf weitere intensivmedizinische Lebensverlängerung oder den Abbruch einer künstlichen Ernährung bei Demenz – ethisch geboten, aber kein Spaziergang. 151
Es erscheint trivial. Aber tatsächlich ist die Haltung im Sterben meist so, wie der Mensch gelebt hat, wie es im biografischen Kontext einschließlich weltanschaulicher oder religiöser Prägung angelegt ist. Von unseren alten Freidenkermitgliedern habe ich noch nicht einen einzigen erlebt, den im Sterben wegen mangelndem Transzendenzbezug das Heulen und Zähneklappern erfasst hätte. Im Gegenteil erlebe ich sie als relativ gefasst, wenig ängstlich, manchmal etwas arg realistisch, lebenssatt, im besten Fall gelassen, schließlich erlöst. Alles ist gut so. In einen Abgrund des Nichts zu fallen, umsonst gelebt zu haben, weil ohne Gottesbezug alles sinnlos und bodenlos wäre? Absolute Fehlanzeige! Sinn- und identitätsstiftend ist vielmehr: Im eigenen Leben Brüche, Freuden, Kontinuitäten, Gefährdungen, Scheitern, Aufgehobensein, Fehlbarkeit, Reifung, Stolz, Dankbarkeit in ein Gesamtbild integrieren zu können. Dann ist auch unsere Sterblichkeit relativ leicht als natürlicher Teil des großen Werdens und Vergehens zu akzeptieren. Der Tod muss nicht dämonisiert werden und – wie die antiken Philosophen, insbesondere Epikur3, uns lehren – nicht einmal gefürchtet werden. Negative Gedanken gelten eher dem Abschied-nehmen-Müssen von allem Vertrauten, der möglichen Aussicht, von Beschwerden gequält zu werden, nur noch müde und kraftlos zu sein, nicht mehr auf die Toilette gehen können. Sorge bereiten vielleicht auch die Angehörigen – wie mögen sie wohl zurechtkommen?
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Nach der epikureischen Lehre gelten die Freiheit von Schmerz und die Gemütsruhe (ataraxia) als höchste Güter. Dieses Glück (eudaimonia) ist durch moralisch einwandfreies Verhalten gegen alle äußeren Widrigkeiten erreichbar. Strengste Kritik von kirchlicher Seite zog Epikur vor allem dadurch auf sich, dass er das Streben nach (wohlverstandener) Lust (hedone) allem menschlichen Handeln zugrunde legte. Epikur und seine Anhänger wollten die Menschen ebenso von Todes- wie von Gottesfurcht befreien.
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In dieser Hinsicht ganz besonders betroffen sind Mütter mit hinterbliebenen Kindern – eine davon war mein »erster Praxisfall«, eine Krebspatientin, Irene F., noch während meines Psychologiestudiums. Sie nahm alle Torturen auf sich, »um vielleicht doch noch überleben zu können – für meinen Sohn«. Der war gerade sieben Jahre alt. Am Ende war es vergebens gewesen. Wenn umgekehrt Mütter ein Kind durch ein tragisches Ereignis verlieren, gibt es keinen Trost. Und auch kein Versuch von Mitfühlen oder Beschwichtigen ist willkommen – Trauer und auch die Schuldfrage sollen vielmehr ewig währen. Da dieser unendliche Prozess bei Frauen anders verläuft als bei Männern (wobei die Väter gar nicht weniger oder kürzer trauern müssen), scheitert in vielen Fällen auch noch die Ehe. Kann da religiöse Zuversicht helfen? Kaum. Meine Befunde weisen sogar in eine umgekehrte Richtung. Ein vorhandener fester Glaube kann durch Kindestod oder ein sonstiges traumatisches Ereignis verloren gehen (»Wie konnte Gott das zulassen? Existiert er überhaupt?«). Neben allem anderen Schlimmen gerät damit auch noch das Sinnkonzept des bisherigen Lebens ins Wanken. Und auch unangefochten bleibende tiefe Religiosität, wie sie noch in den jetzigen Altersjahrgängen zu finden ist, muss für die Betroffenen nicht zwangsläufig spirituell förderlich sein. Werden Leiden und Schmerzen als Strafe Gottes begriffen, ohne dass man sich doch etwas hat zuschulden kommen lassen, bringt dies im Gegenteil zusätzliche seelische Not mit sich. Manche Menschen hängen im Angesicht des Todes sehr am Leben. Andere wollen ab einem bestimmten Punkt, dass es jetzt ein Ende haben möge. Die meisten schwanken hin und her, sind ambivalent. Trotz palliativer Möglichkeiten kann das Sterben schmerzreich oder sogar qualvoll sein. Dabei wird heute subjektiv als unerträglich empfundenes Leid nicht mehr ohne Weiteres akzeptiert, sondern es stellt sich dramatisch die Sinnfrage. Ich erlebe, dass sich bei Seniorinnen und Senioren, die auf die 85 oder 90 Jahre zugehen, häufig der Gedanke an Alters- bzw. 153
Bilanzsuizid einschleicht. Es sind nicht die Armen und Schwachen (die sich etwa unsere Gesellschaft am liebsten »vom Halse schaffen« wolle, wie es oft polemisch heißt), sondern die Gebildeten, Anspruchsvollen, in der Regel finanziell Privilegierten. Doch nur mit entsprechenden Kontakten – oft innerhalb von Arztfamilien – lässt sich der Sterbewunsch mithilfe entsprechender Medikamente auch realisieren. Diese Hochbetagten wissen nur allzu gut, was zu den vielleicht noch zu bewältigenden Alterskrankheiten (Krebs, Diabetes, Rheuma u.a.) peu à peu hinzukommt: die Hinfälligkeit, der Gehstock, dann der Rollator, die Angst vor dem Sturz, der Oberschenkelhalsbruch, die dramatische Abnahme von Seh-, Hör- und Gehvermögen, schließlich der Kontrollverlust, die Windel, das Dauerpflegebett mit Gittern. Von einem weiteren Hospizausbau könnte diese Gruppe von Patienten im Seniorenalter jedenfalls nicht profitieren, da sie ja noch eine Weile zu leben hätten. Zum Hospiz gibt es sehr enge Zugangskriterien. Ist jemand schwerstpflegebedürftig oder gar dement, aber nicht rasch fortschreitend tödlich erkrankt, bleibt diese Möglichkeit für ihn verschlossen. Wenn erst die freiheitsgewohnten Angehörigen der 68er-Generation in die Pflegeheime ziehen müssen, werden wir vermehrt mit dem Problem konfrontiert werden: Jenes »Zwischenreich« altersbedingter Multimorbidität und geistiger Umnachtung erscheint immer mehr Menschen als so trostlos und sinnlos, dass ein Ausweg, vielleicht auch durch freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, gesucht wird. Auch hier könnte es durchaus spirituelle Sterbebegleitung geben. Auch hier würde es darum gehen, dass das zu Ende gehende Leben mit dem Tod – auch wenn er frei gewählt wäre – nicht aus dem Sinnganzen herausfiele.
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Boomende Spiritualität – was bietet humanistische Begleitung? Als säkulare Humanisten müssen wir einsehen, dass nicht wir, sondern eine boomende Spiritualitäts- und Esoterikbewegung das Erbe der christlichen Religionen angetreten haben. Auch bei meiner Arbeit werde ich täglich mit meist diffusen Vorstellungen bzw. Sehnsüchten konfrontiert, dass es nach dem Tod doch »irgendwie weitergeht«. Es werden austauschbare Belege dafür herangezogen und zu einer Patchwork-Spiritualität kombiniert. Bemüht werden Wiedergeburtslehre und Tibetanisches Totenbuch ebenso wie Science-Fiction, Nahtod-Erfahrungen sowie geheimnisvolle kosmische Kräfte, von denen die neue Physik ahnen lässt. Geglaubt wird auch an so etwas wie Gott, eine höhere Macht oder den lebendigen Jesus Christus. Hingegen verblasst zunehmend dessen Erlösertat für die Menschheit, welche die Schrecken des Todes durch Auferstehung zu besänftigen sucht. Und dies umso mehr, je stärker der Einzelne am liebsten seine eigene Individualität über das Lebensende hinaus verlängern möchte. Parallel mit ihrem Bedeutungsschwund ist für unsere Kirchen ein Dilemma verbunden: Je mehr sie sich von der Bibeltreue entfernen, umso weniger haben sie Antworten zur Auferstehung, an der sie dennoch irgendwie festhalten müssen. Aber es gibt keine Vorstellungen und Bilder mehr dazu, was ein Verstorbener denn im Jenseits zu erwarten hat. Meiner Meinung nach ist eine persönliche Haltung in der humanistischen Sterbebegleitung klarer, ehrlicher und freier, die im buddhistischen oder antiken Sinn vom Nichts nach dem Tod ausgeht und die Ausfüllung dieses Bereiches dem Poetisch-Fantastischen und den Bildern des Unbewussten überlässt. So wie es in den überlieferten Grabesworten des Renaissance-Künstlers Michelangelo mitschwingt: »Ich bin nicht tot – ich tausche nur die Räume und geh durch eure Träume«. Solche Zugänge des »Vielleicht« erfah155
re ich in meiner Betreuungspraxis als hilfreich. Sie lassen Freiräume für Unschärfe, Behutsamkeit, Resonanz, Geheimnis. Dies kann die Basis auch für intimes, wohltuendes Schweigen sein. Einem zu begleitenden Kranken gegenüber bietet sich eine wohldosierte Annäherung an, was diesen hoffen, vertrauen oder auch fürchten lässt. Zu Würde, Respekt, Güte und Humanität gehört, die Ressourcen und Deutungen des konkreten Menschen in einer jeweils einzigartigen Begegnungssituation wahrzunehmen und wertzuschätzen. Wert- und Sinnfragen am Lebensende sollten nicht mit letzter Reifung hin zur großen Transzendenz oder Ähnlichem überfrachtet werden. Ein buddhistischer Meister sagte in einem Spiritualitätskurs, seine Religion bestehe schlicht darin, sich auf dem Sterbebett nicht schämen zu müssen.
Die Bedeutung von Symbolen Wo religiöse Transzendenz war, soll Anthropologie werden – auch indem für Riten religionsübergreifende, humane und natürliche Symbole verwendet werden. Dazu gehören Kerzen, Blumen, Steine, vielleicht auch das Ying-Yang-Zeichen, gar der lächelnde und meditierende Buddha oder mentale Sammlungsübungen, Andacht, Klanginstrumente, Schweigen. Und das Kreuz als in unserem Kulturkreis allgemein gebräuchliches Todeszeichen? Als Atheisten und Humanisten sollten wir uns davor hüten, als eifernde Gegner christlicher Symbole aufzutreten. Doch am besten keine Distanz zur Kreuzestheologie zu erkennen geben, weil man ja schließlich liberal und zudem höflich ist? Das hieße wohl, das Christentum gar nicht mehr ernst zu nehmen. Der Gottessohn soll infolge denkbar schlimmsten, unmenschlichen Leidens uns Menschen mit seinem Blut von Sünden reingewaschen haben. Solche neutestamentarischen Winkelzüge 156
waren mir selbstverständlich verborgen, als ich – völlig unbefangen – mit Beginn der Schulzeit erstmalig den gekreuzigten Jesus an der Wand erblickte. Dass man an der Erstickungsqual durch Aufgehängtsein der Arme stirbt, war mir noch unbekannt. Ich fühlte den Schmerz um die Dornenkrone und sah zu meinem grenzenlosen Entsetzen Handflächen und auch Füße, die mit Nägeln – wohl mithilfe eines Hammers? – durchstoßen worden waren. Dieses Religionssymbol zu meiden, erscheint tief menschlich verständlich und unmittelbar einleuchtend. Als Modell für ein gutes Sterben ist es zumindest denkbar ungeeignet. Die Entfaltungskraft des Christentums, sich selbst zu Fall bringend, macht auch davor nicht Halt. Dies ist etwa dem Film Es gibt keinen Gott – Atheisten machen mobil vom Dezember 2009 zu entnehmen. An der Universität in Marburg, so wird dort geschildert, war dank des evangelischen Theologieprofessors Robert Bultmann das geistig-christliche Leben stark von Tendenzen zur »Entmythologisierung« geprägt. Bultmann hatte sich bereits mitten im Zweiten Weltkrieg gegen die »primitive Mythologie« des Opfertodes, der Erlösung verheißen soll, gewandt. So stellte er 1941 in seinem Werk Neues Testament und Mythologie die unabweisbar einleuchtende Frage: »Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff?« Wir Nicht-Christen dürfen uns getrost vom Märtyrertum des Gottessohnes abwenden. Christen hingegen müssen wohl oder übel ihre Kreuzestheologie weiter aushalten, um ihre ethischen und geistigen Werte aufrechtzuerhalten. Was würde sonst von ihrem Glauben übrig bleiben? Spiritueller Humanismus? Vielleicht.
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Caritas Führer
Leben ohne Gott?
n einem Alter, da mir die Einsicht noch verschlossen war, dass man auch ohne Gott leben kann, machte ich eine Erfahrung, die sich mir bis heute fest eingeprägt hat. Aufgewachsen im Pfarrhaus, umgeben von der Liebe Gottes und der meiner Eltern und Geschwister, nahm ich die Gewissheit von Gottes schützender Gegenwart in mich auf wie die Haferflockensuppe am Morgen und die Mettwurstschnitte am Abend. Die Gebete am Tisch, Segen und Küsse vorm Einschlafen, Mutters Lieder am Klavier, Vaters Liebe zur hebräischen Bibel und die kindlichen Gespräche über den bedauernswerten Judas und den eingebildeten Pharisäer im Spielzimmer, das alles gehörte so selbstverständlich zu meiner Welt, dass ich mich vorbehaltlos eingehüllt fühlte vom Glauben an Gott wie in eine warme schützende Decke. Ich war knapp fünf Jahre alt, da erkrankte ich schwer und wurde wegen Ruhrverdachts ins Kreiskrankenhaus gebracht. Isoliert in einem kleinen Einzelzimmer, verlebte ich langweilige Tage mit Bauchschmerzen, Durchfällen und fader Diät. Mein grünes Köfferchen mit der Puppe und dem Malzeug hatte man mir weggenommen und zur Desinfektion gebracht, von der es einfach nicht wiederkehrte. Besuche waren verboten. Ich war völlig verwirrt über dem, was mir da geschah. Am schlimmsten aber war der Tagesbeginn. Schon beim Einschlafen plagten mich Ängste vorm Erwachen und sorgten für böse Träume. Denn genau um vier Uhr morgens knipste die Nachtschwester das Licht an und verkündete mit lauter Stimme, dass ich jetzt ins Bad gehen müsste. Und jedes Mal wurde ich, kaum dass ich einige Schritte gegangen war, ohnmächtig und fand
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mich in einer blauen Kinderwanne wieder, die man in die gusseiserne Badewanne gestellt hatte. Das Erwachen aus der kurzen Bewusstlosigkeit ging einher mit einer quälenden Übelkeit, die von der barschen Schwester als Wehleidigkeit ignoriert wurde. Ich weinte still vor mich hin, immer fürchtend, dass ich mich übergeben müsste, bis ich abgetrocknet und frisch eingekleidet wieder im Bett lag. Wenn dann das Frühstück erschien, fühlte ich, wie mir langsam besser wurde. Alle anderen Schwestern, die im Laufe des Tages mein Zimmer betraten, waren umgänglicher, verrichteten aber lediglich kurz angebunden ihre Tätigkeiten, indem sie mir den Blutdruck maßen, Blut entnahmen, mich ins Ohrläppchen stachen oder mich auf den Topf setzten. Ich litt so entsetzlich unter der fehlenden Zärtlichkeit und Wärme meines Elternhauses, dass ich dachte, ich müsste sterben oder käme zumindest nie mehr nach Hause zurück. Alles, was mir geblieben war, war Gott, von dem ich wusste, dass er mich immer hört und immer bei mir ist, auch wenn ich ihn nicht sehen kann. Also machte ich es genau so, wie ich es von zu Hause kannte: Ich dankte ihm vorm Essen und bat ihn gleichzeitig um bessere Speise; ich klagte ihm morgens, wie gemein ich die Nachtschwester fand, und bat ihn, mir eine andere zu schicken; und abends betete ich namentlich für jedes Mitglied meiner Familie und darum, dass ich gute Träume hätte und bald nach Hause dürfte. Diese Regelmäßigkeit der eingeübten Rituale gab mir einen inneren Halt und die Kraft, jeden neuen Tag durchzustehen. Das Schlimmste aber sollte noch kommen, nachdem ich etwa zehn Tage im Einzelzimmer zugebracht hatte. Schreckliche Albträume hatten mich wieder gequält: Ich war um mein Leben gerannt, in einer klebrigen Masse stecken geblieben und aufgewacht. Draußen war es noch dunkel, woraus ich schloss, dass es noch mitten in der Nacht sein musste. Gerne wäre ich wieder eingeschlafen, aber es ging nicht. Mein Bauch schmerzte und etwas aus dem Traum war noch da – die klebrige Masse. 159
Ich fühlte sie an den Füßen, ertastete sie an der Wand, spürte sie unter der Decke und am Schlafanzug. Siedend heiß wurde mir bewusst, was mit mir passiert war. Wie ein Baby, das Windeln braucht, hatte ich mich benommen. »Eingekackt« nannte man das in der Kindersprache. Meine Scham war so groß, dass mir auch nicht der leiseste Gedanke an meine Krankheit kam noch daran, dass, wer krank ist, nichts dafür kann, wenn ihm so etwas geschieht. Ich wollte nur noch eins: in einer Fußbodenritze verschwinden, bevor die Nachtschwester kam, oder sofort bei meiner Mutter sein. Da ich natürlich wusste, dass beides nicht möglich war, blieb mir nur noch Gott. Er musste mir helfen und er würde mit helfen! Er hatte Daniel aus der Löwengrube geholt und die drei Jungs aus dem Feuerofen, Lazarus aus dem Grab und Petrus aus dem Gefängnis. Also! Mein Vertrauen war grenzenlos! Und da ich erst fünf war und noch nicht wusste, dass Gott souverän zu handeln pflegt, sagte ich ihm auch gleich noch, was er zu tun hätte. Ich betete: »Lieber Gott, ich mache jetzt die Augen zu und zähle ganz langsam bis zwanzig und dann ist alles wieder wie vorher. Bitte!« Das musste doch machbar sein, da war ich ganz sicher. Es gab Engel, die unsichtbar solche Arbeiten für Gott verrichteten. Man sah sie nicht, aber sie waren da. Ich kniff die Augen fest zusammen und legte die gefalteten Hände darüber. Ich zählte. Ich wagte nicht zu fühlen. Ich hielt die Luft an. … zwanzig. Bevor ich unter die Decke schaute, wusste ich es schon: Er war nicht da gewesen. Ich versuchte es noch einige Male, aber ich wurde immer mutloser. Gott tat nicht, worum ich ihn bat. Und seltsamerweise, daran erinnere ich mich ganz genau, bewirkte das bei mir nicht, dass ich mich nun etwa enttäuscht von Gott abwandte. Eher war es, als käme eine tiefe Ruhe über mich. Ich lag einfach nur noch still da und wartete. Ich wartete und tief in mir drin spürte ich, dass alles gut ausgehen würde, auch wenn ich vorm Eintritt der Nachtschwester eine Angst verspürte, die sich nicht in Worte fassen lässt. 160
Heute kann ich die Frau, die eine Nachtschicht hinter sich hatte und nach Hause wollte, besser verstehen in ihrem Zorn. Aber damals war es die Hölle. Als sie im Licht der Lampe erkannt hatte, in welchem Zustand ich mich befand und mit mir das Bettgestell, die Wäsche und die Wand, fing sie an zu schreien und mich zu schütteln und mit Ausdrücken aus der Tierwelt zu beschimpfen. Sie riss mich angewidert aus den Laken und stellte mich hin, um mich notdürftig abzuputzen, und in diesem Augenblick kam die morgendliche Ohnmacht zum ersten Mal als gütige Fee und hüllte mich in barmherziges Schweigen. Diesmal freute ich mich, im warmen Seifenschaum zu erwachen, auch wenn die Frau mich hart anpackte und mit dem Zetern nicht aufhören konnte. In dieses Bett könne ich jetzt nicht zurück, meinte sie, denn nun hätte sie erst einmal zu tun, um die ganze Schweinerei wieder zu beseitigen. Ich wartete geduldig auf einem Stuhl und irgendwann kam eine andere Krankenschwester und trug mich behutsam in einen großen Saal mit acht Betten, aus denen sich neugierige Kinder aufreckten. Und während ich noch stumm dalag und auf das Frühstück wartete, das auf einmal aus leckerer Puddingsuppe und Milchbrötchen bestand, fiel die Antwort Gottes gleichsam und völlig plausibel vom Himmel auf mich herunter und erfüllte mich mit Staunen. War das hier nicht um vieles besser als das, was ich erbeten hatte? Hatte sich nicht mein Alltag völlig ins Gegenteil verkehrt, heraus aus der Einsamkeit in die Heiterkeit eines Kinderzimmers, von ekliger Diätkost zu köstlichem Sonntagsessen, vom dunklen Zimmerchen in den großen Raum mit den hohen Fenstern? Mein Herz floss über vor Dankbarkeit und Staunen über diesen Gott, der alles so viel besser wusste und besser machte, als ich es ausdenken konnte. Es scheint ein Schlüsselerlebnis gewesen zu sein, denn so klein ich noch war, hatte ich Entscheidendes über Gott und übers Gebet gelernt. 161
Am Abend sollte dieses Erlebnis noch eine liebevolle Bestätigung erfahren. Die Tür ging auf, eine lachende junge Schwester trat ein und sagte uns ihren Namen. Sie sei die Nachtschwester für diese Woche. Einzeln fragte sie uns, wie wir hießen. Dann ging sie von Bett zu Bett, um jedem Kind Gute Nacht zu sagen. Schließlich kam sie zu mir. Sie beugte sich herunter, so tief, dass ich meine Arme um ihren Hals hätte schlingen können, und fragte mich leise, ob ich die Tochter von Pfarrer Böttrich sei. Ich bejahte. Sie kam noch dichter heran und flüsterte an meinem Ohr: »Du weißt ja, dass Gott auch hier ganz nahe bei dir ist. Vergiss nicht dein Abendgebet.« Ich nickte. Ich winkte hinter ihr her, bis sie verschwunden war. Ich hatte keine Angst vorm Aufwachen. Die folgenden Wochen waren nicht leicht. Im Bett nebenan starb ein Kleinkind, und auch wenn das vor uns Kindern nicht thematisiert wurde, wussten wir alle, was geschehen war. Die Eltern kamen zur Besuchszeit, aber sie durften nur draußen am Gartenzaun stehen und herüberschauen, während wir uns die Nasen an der Scheibe platt drückten und wilde Zeichen machten. Unter Tränen zwang ich mittags das verhasste Möhrengemüse hinunter. Und im Dunkeln weinte ich vor Heimweh die Kissen nass. Doch dann, eines Tages, wurde ich nach Hause gebracht. Alles war wieder gut. Rückblickend denke ich, dass zu diesen ersten gravierenden Erfahrungen mit Gott nichts Wesentliches dazugekommen ist. Was ich damals in meinem Herzen noch unreflektiert verstanden habe, hat sich in meinem ganzen weiteren Leben fortgesetzt. Dass Gott da ist und mich hört, kann mir niemand beweisen, ebenso wenig, wie ich es jemandem beweisen kann. Ich kann nur immer wieder die Erfahrung machen, dass es so ist. Ich bete und erlebe, dass er ganz eigene Ideen hat, wie er mir helfen will. Mitunter habe ich den Eindruck, dass er mich alleine lässt, um dann kurz darauf zu erfahren, dass sich etwas überraschend 162
verändert. Er erspart mir nicht die Erfahrungen von Einsamkeit, Krankheit, Leid und Schmerzen. Auch mutet er mir zu, die negativen Gefühle meiner Mitmenschen auszuhalten und Unrecht zu ertragen. Verzweiflung und Dunkelheit machen keinen Bogen um mich. Dass ich ihm vertraue und mit ihm rede, bedeutet nicht, dass es mir von da an besser geht als anderen. Und doch gehört es auch zu meinen Erfahrungen, dass plötzlich ein Engel auftaucht, der sich zu mir hinunterbeugt. Der mir Mut macht und mich tröstet. Ich erlebe, dass die Zeit des Leidens ein Ende hat und ich nach Hause zurückkehre. Ich glaube, dass es alle diese Erfahrungen sind, die mich an Gott dranbleiben lassen. Der Psychologe Piaget sagt, dass Kinder von Erfahrungen lernen und dass sie nach jeder Erfahrung gierig sind nach einer weiteren. So ungefähr muss es mit mir gegangen sein. Immer mehr will ich von Gottes Wirklichkeit in meinem Leben sehen, immer mehr. Wenn ich anderen von meinen Erlebnissen mit Gott erzähle, dann nur deshalb, weil ich in ihnen diese Sehnsucht wecken will, selbst Erfahrungen mit Gott zu machen. Ich weiß, dass man niemanden überreden kann (und soll), an Gott zu glauben. Aber das Verlangen wecken, diesem Gott zu begegnen, das ist legitim. Und es birgt keinerlei Risiko, denn Gott selbst erlaubt uns, ihn zu prüfen, zu testen. Ein Test, bei dem niemand durchfallen kann.
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Frieder Otto Wolf
Zwei Überlegungen zur Gottesfrage »Ohne Gott« – was kann das bedeuten? enn jemand mich fragt, ob der Gedanke an Gott in meinem Leben eine Rolle spielt, dann muss ich das verneinen. Dieser Gedanke spielt darin einfach keine Rolle. Nicht einmal in der abgeschwächten Form des »Heiligen« oder auch »göttlicher Mächte«. Wenn einer meiner Philosophielehrer glaubte, bei der Kieler Woche zöge der Gott Apollon unter den teilnehmenden Seglern am – in aller Regel – dunstigen Horizont herauf, konnte ich allenfalls kunstvoll in meinen Gedanken rekonstruieren, was er wohl damit meinte, aber die Idee, so etwas etwa selbst zu erleben, kam mir gar nicht. Das macht es mir schwer, darüber zu reden oder auch zu schreiben, was es für mein eigenes Leben bedeutet, ohne so etwas »Heiliges« und erst recht ohne Gott zu sein. Denn es gibt da gar keine Lücke, nicht einmal einen Ersatz, in meinem Leben. Ich weiß zwar noch, dass ich als Kind an den Gott der Christen geglaubt habe, an den meine Eltern auf ihre sehr persönliche Weise glaubten – die eigentümliche Art und Weise, wie unsere Kirchengemeinde vom »marianischen Flügel« des Protestantismus unter Propst Asmussen geprägt war, habe ich wohl nur intellektuell mitbekommen. Ich kann heute nicht mehr wirklich nachvollziehen, was das damals für mich bedeutet hat. Nur zwei Überzeugungen sind mir erinnerlich: Zum einen, dass ich den »katholisierenden« Zug »meiner Kirche«, wie ihn Pastor Kraft durchaus beredt vertrat, gut fand, und zwar nach dem Motto »wenn schon, denn schon«. Also wenn schon ein kirchlich organisierter Glaube, dann auch mit zumindest einem Minimum an kirchlichem Gepränge. Und zum anderen, dass ich die harte,
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augustinische Position zur Gnadenwahl – »ohn’ all Verdienst und Schuldigkeit« – ungerecht und letztlich so unerträglich fand, dass ich gleich nach der Konfirmation auf Distanz zum Glauben meiner Kindheit gegangen bin. Aber diese Reminiszenzen helfen mir nicht dabei, zu bestimmen, was es für mein Leben über fünfzig Jahre später heißt, ohne Gott und ohne Götter zu sein, ja nicht einmal überhaupt etwas als heilig zu verehren. Es fehlt einfach nichts, es gibt keinen Bruch, keine Flickstelle, die mich an Gott denken lässt, wenn ich nicht entsprechend gefragt werde. Wenn ich allerdings danach gefragt werde und entsprechend in meinem Denken herumsuche, stoße ich auf drei Zusammenhänge, in denen ich doch, wenn auch ganz indirekt, irgendwie‚ mit Gott zu tun habe: Das ist erstens die Philosophie, die zu betreiben mein Beruf geworden ist; zweitens der »organisierte Humanismus«, in dem ich mich engagiert habe, und drittens der interkulturelle Dialog, in den ich immer wieder gerate. In allen drei Fällen möchte ich aber betonen, dass es eigentlich dabei gar nicht um Gott geht, auch und erst recht nicht um »das Numinose«, oder einen ähnlichen Ersatzbegriff aus einer um ihren Gegenstand verlegenen Religionswissenschaft, sondern um ganz andere Fragen, mit denen ich in meinem Leben auch sonst zu tun habe. Davon in diesem Text zu sprechen, hat also nur die Funktion, nachvollziehbar zu machen, warum es für mich auch in diesen Zusammenhängen nicht um Gott geht – so dass letzten Endes das »ohne Gott« des Buchtitels völlig leer und bezugslos bleiben muss. Wie ein stehen gebliebener Wegweiser, der auf gar keinen Weg mehr hinweist. Der Gott der Philosophen
Ich glaube den Religiösen, die darauf hinweisen, dass der Gott der Philosophen nicht der ihre ist. Was seit Parmenides, Platon und Aristoteles die Philosophen unter der Kategorie des Gött165
lichen beschäftigt, hat mit dem Gott der Offenbarungsreligionen oder auch den Göttern der Polytheismen in seinem Grunde, »prinzipiell«, einfach gar nichts zu tun. Es geht den Philosophen darum, die Einheit des Seins, die Kohärenz der Wirklichkeit oder auch die Konsistenz von Praxis konsequent zu denken. Erzählungen von Gott, von Offenbarung oder von Jenseits kommen darin nicht vor und sind damit auch nicht wirklich vereinbar – den heroischen Anstrengungen zum Trotz, wie sie seit den Kirchenvätern nicht nur von christlichen Philosophen unternommen worden sind. Die Lektüre von Augustinus, Origines, Anselm von Canterbury, Thomas Aquinas oder Duns Scotus konfrontiert mich zwar mit Versuchen, das doch noch kompatibel zu machen, aber ihr Scheitern auf hohem Niveau bringt mir die Gedanken über Gott, die sie artikulieren, nicht wirklich näher. Das bleibt auch bei ihnen völlig vergleichbar mit dem eindrucksvollen Bericht eines wirklich Gläubigen über seinen Glauben – der durchaus auch ohne besondere intellektuelle Zutaten auskommen kann. Sofern die Philosophen geglaubt haben, ist das für mich auch nicht mehr als der sprichwörtliche »Köhlerglauben«, den ich als solchen achte, ohne ihn deswegen mit zu vollziehen oder gar seinen Forderungen zu folgen – und den ich vor allem ohne zusätzliche intellektuelle Ausschmückungen doch eher eindrucksvoll finde. Ein analytischer Philosoph, Norman Malcolm, hat 1960 in einem berühmt gewordenen Aufsatz im Ausgang von der Sprachspiel-These des späten Wittgenstein durchaus triftig dafür argumentiert, dass wir etwa Anselm von Canterbury nicht schlichtweg »logische Fehler« vorwerfen können, wenn er seine Widerlegung der Atheisten vorträgt. Sein Gottesbeweis gehört in ein anderes »Sprachspiel«, zu dem eine andere »Lebensform« gehört – und in diesem Sprachspiel ist es offenbar nicht logisch fehlerhaft, aus der Eigenschaft der zum Äußersten gesteigerten Perfektion auf die Existenz dieses ens perfectissimum zu schließen. Dieses Argument Malcolms ist vermutlich unwiderleg166
bar. Aber es folgt keineswegs daraus, dass es irgendwelche Gründe dafür gäbe, sich diesem Sprachspiel anzuschließen und sich die damit verbundene – mittelalterlich-mönchische – Lebensform zu eigen zu machen, wenn jemand nicht schon in ihr lebt. Und um das noch zuzuspitzen: Nicht einmal für Anselm selbst ergibt sich ein Grund dafür, dass er etwa bei diesem Sprachspiel und dieser Lebensform, in der er lebte, auch bleiben sollte. Er kann das zwar durchaus tun; er könnte sich aber auch daraus lösen – dazu hat diese Art von analytischer Philosophie nichts weiter zu sagen. Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis bleibt im Übrigen für alle diejenigen triftig, die an der üblichen Logik unserer gewöhnlichen Alltagssprache festzuhalten geneigt sind, wie sie die sogenannte »formale Logik« in ihren Grundzügen zu rekonstruieren vermag. Alles das ist für mich als Philosophen zwar gleichsam fachtechnisch von Interesse – aber das hat damit, dass es hier um Gott ginge, gar nichts zu tun. Die organisierten HumanistInnen und Gott
Seit ich im Rahmen der organisierten HumanistInnen arbeite, die sich als eine Weiterentwicklung der agnostisch bis atheistisch geprägten Freidenkerbewegung begreifen, habe ich vielleicht doch etwas öfter mit Gott zu tun – jedenfalls überall dort, wo sich diese HumanistInnen in Abgrenzung vom »Gott der Kirchen« definieren. Ich denke allerdings, dass dies eine Täuschung ist – wenn auch eine, die auch bei vielen meiner humanistischen MitstreiterInnen wirksam zu sein scheint. Denn auch hier geht es nicht wirklich um Gott, sondern um das Verständnis der Welt, das säkular aus dem Schatten der Ewigkeit, weltlich aus dem Schatten des Himmels oder auch diesseitig aus dem Schatten des Jenseits treten soll. Dieses Verständnis der Welt bezieht sich eigentlich gar nicht auf Gott. Es bezieht sich auf die Welt, wie sie ist, ohne weitere Zutaten, wenn auch unter Ein167
schluss ihrer realen Möglichkeiten. »Eine Welt, die viele andere Welten enthält« haben die Zapatisten diesen Zusammenhang angesprochen. Auch in diesem Verhältnis von Einheit und Vielheit braucht von Gott keineswegs zwingend die Rede sein. Es geht einfach darum, die wirkliche Welt und ihre Möglichkeiten zu denken, ohne sich etwas vorzumachen. Selbstverständlich können das auch Christen, Muslime oder Juden. Ich will nicht einmal pauschal behaupten, dass sie dies prinzipiell schlechter könnten als Menschen, die ohne den Glauben an Gott auskommen. Aber ob und wie weit ein Mensch das wirklich kann, steht in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Glauben an Gott. Da kann ich mich damit begnügen, mit dem humanistischen Selbstverständnis unseres Verbandes ganz schlicht festzuhalten, wie wir uns im Leben orientieren können, ohne dass Gott dabei überhaupt vorkommt: »Humanistinnen und Humanisten wissen, dass es bei allen Erkenntnissen über Natur, Mensch und Gesellschaft keine letzten Gewissheiten gibt und dass Antworten auf Fragen der Lebensführung stets auch sozial und weltanschaulich bestimmt sein müssen. Humanistische Lebensauffassungen werden im Streit der Meinungen erarbeitet.« Der Gott der Anderen
Im interkulturellen Dialog oder besser Polylog der Kulturen der Menschheit begegnet uns EuropäerInnen, die vermutlich inzwischen mehrheitlich ohne Gott leben, anscheinend vielfältig Gott. Huntingtons These vom Clash of Cultures, dem angeblich unvermeidlichen Zusammenstoß der Kulturen beruht geradezu auf der Überlegung, dass sich im Kern jeder Kultur eine bestimmte Gottesvorstellung findet, die mit anderen Gottesvorstellungen letztlich unvereinbar ist. Diese Überlegung geht aber von falschen Tatsachenbehauptungen aus: Erstens gibt es wichtige Religionen, in denen die Vorstellung von Gott keine wich168
tige Rolle spielt – etwa alle Varianten des Buddhismus, des Konfuzianismus oder auch des Shintoismus, um nur die wichtigsten ostasiatischen Beispiele zu nennen. Aber auch in animistischen und polytheistischen Vorstellungen, wie sie im Übrigen in Asien, Indien und Afrika verbreitet sind, spielt diese Vorstellung einfach keine Rolle. Zweitens ist es in den meisten Kulturen – selbst in den USA der Gegenwart – wenig plausibel, in der mehrheitlich praktizierten Religion das eigentliche Zentrum der lebendigen Gegenwartskultur zu erblicken. Und keine Kulturgeschichte – schon gar nicht die europäische – belegt eine durchgängige zentrale Bedeutung der Religion für die Kulturentwicklung. Literatur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Ökonomie und Technologie sind schon lange eigenständige Mächte in den historischen Veränderungsprozessen der Kulturen. Deswegen ist es in aller Regel auch gar nicht der Fall, dass wir heute noch den kulturell Anderen primär als Träger einer besonderen Gottesvorstellung, als AnhängerIn Jehovas, Allahs oder der Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist begegnen. Wir begegnen ihnen vielmehr zunächst immer dort, wo wir uns sinnvoll austauschen können – bis hin zum »liebenden Streit«, eben weil wir Wichtiges miteinander teilen und in unserem Polylog immer wieder auch gemeinsame Bezüge entdecken. Das sind meist nicht unsere Vorstellungen von Gott, die übrigens nur die Christen seit den Kirchenvätern unter Zuhilfenahme der Philosophie zu einer Theologie ausgearbeitet haben – was, genau genommen, sowohl den jüdischen Talmudschulen als auch den islamischen Rechtsschulen völlig fremd geblieben ist. Diese christliche Theologie hat zwar inzwischen – in der Perspektive und Praxis ihrer weltweit betriebenen Missionierung – differenzierte Vorstellungen von den Gottesvorstellungen der Anderen ausgearbeitet und gesammelt. Aber das sind immer wieder nur umständliche Versuche, die Kultur der Anderen vom Maßstab und Modell der christlichen Theologie aus zu begreifen. 169
Wer diese Kulturen der Anderen wirklich verstehen will, sollte jedoch nicht den Umweg über die christliche Theologie nehmen: Denn dieser Umweg macht es erforderlich, deren kulturelle Vorstellungen und Praktiken, erstens, auf ihre Religiosität zurückzubeziehen und diese Religiosität dann, zweitens, nach dem Modell der christlichen Theologie zu rekonstruieren. Ich denke, hier haben HumanistInnen, die sich nicht dazu verleiten lassen, mit Menschen aus anderen Kulturen primär über Gott zu reden, und die auch offen dafür bleiben, welche nicht-religiösen und nicht-theologischen Orientierungen in anderen Kulturen wirksam sind, eine sehr viel bessere Chance, ein wirkliches Verstehen zu erreichen. Aber was lehrt uns das?
Ohne polemisch zu werden, muss ich wohl doch darauf eingehen, dass ein derartig offenes Bekenntnis zu einem Leben ohne Gott, in dem, genau genommen, nicht einmal mehr dieses »ohne« wirklich vorkommt, traditionell Vorbehalte auslöst, die vielleicht berechtigt sein könnten, aber die ich allerdings doch im Kern für bloße Vorurteile halte. Da ist erstens der Vorbehalt, wer so redet, müsse ein Zyniker sein, der alles für beliebig halte. Dafür gibt es zumindest keinen Grund: Denn für wen Gott nicht der letzte Grund ist, der kann sehr wohl gute und feste Gründe für seine Überzeugungen und Haltungen haben – und hat dies in der Regel auch. Vielleicht sollte das Vorurteil zurückgegeben werden: Was ist eigentlich von der Tragfähigkeit der Orientierungen von jemandem zu halten, der es immer gleich nötig hat, auf seinen Gott als letzten Grund zu rekurrieren? Zweitens könnte der Vorbehalt geltend gemacht werden, wer so redet, der müsse doch in einer Menschheit, die wohl überwiegend – wenn auch nur noch mit einer eher knappen Mehrheit – an Gott glaubt, hochmütig und arrogant sein. Dieses Argument 170
übersieht jedoch, dass für den modernen praktischen Humanismus diese Gottesfrage keine besonders wichtige Angelegenheit ist. Daher kann auch der Anspruch, in dieser eher randständig bedeutungsvollen Frage gegenüber der Mehrheit der Menschen recht zu haben, keine besonders ausgeprägten Überlegenheitsgefühle auslösen – von Arroganz ganz zu schweigen, wie sie ohnehin nur in autoritären Verhältnissen und unter ihren Trägern vorkommen kann. Viele Menschen sind in ganz anderen Fragen so eindeutig politisch, moralisch oder auch ästhetisch überlegen, dass ihnen gegenüber doch eher Bescheidenheit angesagt ist, selbst wenn sie im Übrigen an Gott glauben. Die Vorstellung, irgendwie eine erwählte Gruppe (das ist ja die Wortbedeutung von »Elite«) zu bilden, ist eine Kernvorstellung der sogenannten »abrahamitischen« Religionen und kommt jedenfalls nicht aus den Reihen der Menschen, die hier und heute im umrissenen Sinne ohne Gott leben, auch ohne dass dies für sie besonders wichtig wäre.
Gott als Katastrophe? Die Lektüre von Büchern wie Richard Dawkins Gotteswahn mobilisiert bei mir keinen besonderen Widerspruch. Sein Plädoyer gegen einen übernatürlichen Gott ist gut argumentiert, konsequent und überzeugend. Seine weitere These allerdings, dass Atheismus bereits ein Zeichen geistiger Gesundheit sei, finde ich gar nicht einleuchtend. Zumindest unter den abfälligen Gläubigen fallen mir durchaus Gegenbeispiele ein. Außerdem lese ich mit noch größerer Zustimmung, weil es um weniger Elementares, um nicht zu sagen Triviales, geht, die Bücher von sehr religiös gläubigen Befreiungstheologen wie Enrique Dussel, Ulrich Duchrow, Franz Hinkelammert oder auch Kuno Füssel. Ist das nun ein Widerspruch in meinem Kopf, also eine Art von Denkschwäche? 171
Wenn es denn richtig ist, dass hinter den gegenwärtig sich anbahnenden ganz realen Katastrophen – ich erspare dem Leser hier die Aufzählung – die anhaltende und sogar erneut entfesselte Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise steckt, dann muss hier ein Schlüssel für dieses Problem liegen. Dann wäre es ein Problem, das nicht in meinem Denken liegt, sondern sich aus der Struktur der gegenwärtigen Wirklichkeit ergibt. Selbstverständlich ist diese Struktur nicht als ein geschlossenes System zu denken – auch nicht als totale Determinante, deren Ergebnisse auf eine Weise feststehen, die von einer theologischen Prädestinationslehre nicht wirksam zu unterscheiden wäre. Aber doch als real existierende materielle Bedingungsstruktur, die festlegt und vorgibt, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen die Menschen ihre Geschichte »selber machen« können. Und diese Struktur der heutigen historischen Wirklichkeit erschließt sich offenbar nicht so einfach dem sich auf die Naturwissenschaften berufenden Modell einer empirischen Untersuchung, wie dies Dawkins vertritt. Mit einem einigermaßen paradoxen Ergebnis: Nicht nur empiristische ökonometrische Untersuchungen der gegenwärtigen Kapitalakkumulation, sondern auch reflektierte soziobiologische Untersuchungen über Wettbewerb und Kooperation nehmen den Charakter von quasi-theologischen Projektionen an. Zugleich produzieren explizit theologisch argumentierende Untersuchungen wichtige Erkenntnisse über die Wirklichkeit, wie die von Enrique Dussel vorgenommene Rekonstruktion des Marx’schen Kapitals überzeugend zeigt. Nur vor diesem Hintergrund ist auch zu begreifen, dass Theodor W. Adorno, obwohl er viele der methodologischen Argumente Karl Raimund Poppers einfach ignorierte, vielleicht auch gar nicht verstehen wollte, dass er in einem derart metaphysisch anmutenden Werk wie seiner Negativen Dialektik so viel Mehr und Tieferes über die zeitgenössische deutsche Wirklichkeit erkennen ließ, als dies etwa Helmut 172
Schelsky in seinen Untersuchungen über die angebliche Skeptische Generation gelungen war (die sich dann zum Teil als die tragende Generation der 1968er entpuppen sollte). Dawkins und die »neuen Atheisten«, die ihm folgen, verschließen die Augen davor (bzw. sie sind in der Hinsicht einfach im Wortsinne ahnungslos), dass das Kapital in seiner über den freien Markt – den Verkauf und Ankauf der Ware Arbeitskraft – vermittelten Struktur in seiner Wirklichkeit theologische Mucken aufweist, d.h. Paradoxien und Widersprüche, die sich einem an den Naturwissenschaften geschulten (und spontan von liberalen Lebenserfahrungen einer über eigenes Vermögen verfügenden Mittelschicht geprägten) common sense entziehen. Demgegenüber stehen geschulte Theologen, die hier offenbar in der Lage sind, ihre Fähigkeit, mit Widersprüchen umzugehen (Dawkins äußert sich zu dieser Begabung nur ganz abfällig), in den Dienst einer triftigen Kritik an diesen paradoxalen Verhältnissen zu stellen. Dabei bleibt selbstverständlich ein Problem: Wenn Wolf Biermann seiner Oma Meume den Stoßseufzer »Ach Gott, lass DU den Kommunismus siegen!« in den Mund legte, brachte er damit eigentlich schon das historische Scheitern dieses politischen Projektes zum Ausdruck. Denn eine Befreiung der Menschen von der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise, die nur dadurch zustande kommt, dass ein höheres Wesen ihnen die Aufgabe des »Selbertuns« abnimmt, kann gar keine wirkliche Befreiung sein. Dass dieser Stoßseufzer überhaupt so formuliert werden konnte, lässt bereits erkennen, dass in der Fassung eines radikalen Befreiungsprojektes, wie sie dem Kommunismus, auf den sich Biermann bezog, zugrunde lag, irgendetwas falsch war. Aber auch, wenn das nur methodologisch gelten sollte, also nur die (kontrafaktische) Gotteshypothese benötigt würde und nicht die Intervention eines übernatürlichen Wesens, wäre dies selbstzerstörerisch: Die Selbstaufopferung der menschlichen Vernunft in der Unterwerfung unter eine derartige Hypothese, für die in der Tat gar 173
nichts spricht (wie Dawkins dies aktualisierend zusammengefasst hat), kann jedenfalls auf Dauer kein geeigneter Ausgangspunkt für eine radikale Politik der Befreiung sein – auch wenn es manchmal von Nutzen ist, sich dem Sog des herrschenden common sense einfach dadurch zu entziehen, dass Menschen sich auf höhere Wahrheiten beziehen. Dieses Problem muss dringend bearbeitet werden. Dazu ist vor allem zu klären, wie sich die theologischen Mucken der kapitalistischen Wirklichkeit kritisch begreifen lassen, auch ohne sich dabei selbst theologischer Krücken zu bedienen. Die weltweit in dem letzten Jahrzehnt erneut einsetzende Lektüre von Marx’ Kapital ist schon dabei, hierzu wichtige Klärungen zu produzieren. Diese geben beispielsweise Aufschluss über ein Verständnis von kritischer Sozialforschung, das über empiristische Modelle hinausgeht, wie sie (übrigens durchaus zu Unrecht) aus den Naturwissenschaften legitimiert werden, und erläutern ein sowohl explizites als auch hinreichend komplexes (und selbstverständlich als solches widerspruchs- und theologiefreies) Verständnis einer materialistischen Dialektik, die mit realen Widersprüchen produktiv umgehen kann. Auf diese Weise wäre es dann völlig rational denkbar, sowohl etwa an Dawkins’ Aktualisierung von Atheismus und Materialismus als auch etwa an Enrique Dussels theologisch gestützter »Philosophie der Befreiung« theoretisch begründet Gefallen zu finden. So könnte eine Erneuerung der kritischen Wissenschaften von Geschichte und Gesellschaft vorangetrieben werden, die weder hinter das methodologische Selbstverständnis der zeitgenössischen Naturwissenschaften zurückfällt, noch die reale Struktur kapitalistischer (bzw. auch patriarchalischer, industrialistischer oder imperialer) Herrschaftsverhältnisse in ihrer Theoriebildung und ihren Untersuchungsmethoden verfehlt. Und das können wir wirklich in Angriff nehmen – auch ganz ohne Gott. 174
Manfred Lütz
Der Atheismus aus christlicher Sicht
in merkwürdiges Verhältnis haben die Christen zum Atheismus. Die ersten christlichen Theologen, die sogenannten Kirchenväter, brachen mit der religiösen Tradition der Antike und all ihren abstrusen Göttergeschichten. Sie sahen ihre geistigen Vorfahren in Philosophen, die als Atheisten verschrien waren. Sokrates schätzten sie, der wegen jugendgefährdendem Atheismus zum Giftbecher verurteilt worden war. Und auch Jesus selbst lag im Dauerstreit mit den Frommen. Als diese ihm die alles entscheidende Frage stellten, wie man denn in den Himmel kommen könne, war seine Antwort eine einzige Provokation. Er sagte nicht, dass man dazu fromm sein müsse, noch nicht einmal rechtgläubig, schlimmer noch: Jesus erzählte die Geschichte vom barmherzigen Samariter, den sich der aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene Arbeiter-Samariter-Bund zum Vorbild genommen hat. Diese berühmte, von Jesus als Bildrede erfundene Geschichte, die zum Fundament der europäischen Kultur gehört, ist schnell erzählt: Auf der Straße von Jerusalem nach Jericho liegt ein verletzter Mann, von Wegelagerern ausgeraubt, im Staub. Ein frommer Priester kommt des Wegs und – geht vorbei. Ein geschäftiger Tempeldiener kommt vorbei und – lässt ihn liegen. Und dann nähert sich ein Samariter. Die Samariter galten den Juden wie Atheisten. Sie kamen aus einem Landstrich, wo die Leute den Tempel nicht besuchten. Doch dieser Mann hält an, ihn ergreift schlicht menschliches Mitleid. Er verbindet dem Verletzten die Wunden, bringt ihn in die nächste Raststätte und lässt dem Wirt für den ihm ganz unbekannten Mitmenschen noch Geld für die Pflege da.
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Es sind solche Geschichten, die Jesus ans Kreuz gebracht haben. Denn er sagt ganz klar und unmissverständlich: Dieser Samariter, der noch nicht einmal die Bibel kennt, der aber uneigennützig handelt, kommt in den Himmel – obwohl gar nicht sicher ist, ob der Samariter überhaupt an den Himmel glaubt. Auch in Deutschlands Osten besuchen die wenigsten Leute die Kirchen, die meisten kennen die Bibel nicht und glauben nicht an den Himmel. Gerade in diesem Landstrich habe ich bei Atheisten eine berührende Mitmenschlichkeit erlebt und echte interessierte Fragen nach der Existenz Gottes. Ich schäme mich dann manchmal fast ein bisschen, diese Fragen zu beantworten, weil der Eindruck entstehen könnte, ich bildete mir ein, als Christ ein besserer Mensch zu sein als diese Atheisten da. Und dabei unterlaufen mir selbst ja immer wieder skandalöse Situationen wie dem Priester und dem Tempeldiener auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. Soll man daher nicht am besten auf Mission ganz verzichten? Soll man nicht die vielen liebenswürdigen östlichen Samariter Samariter sein lassen? Es gibt manche weichgespülte Theologen und müde gewordene Christen, die diese Auffassung vertreten. Ich finde diese Meinung arrogant. Wenn ich persönlich erlebe, dass der christliche Glaube eine innere und äußere Freude und Zuversicht gibt, die mein Leben über alle düsteren Phasen hinwegträgt. Wenn ich aus der Überzeugung heraus leben kann, dass Mitmenschlichkeit nicht bloß Einbildung ist, nicht bloß aus hormonell gesteuerten und evolutionär nützlichen Hirnreflexen in einem sinnlosen und gleichgültigen Weltall besteht, sondern wenn ich Mitmenschlichkeit und Liebe als unmittelbar sinnvoll erleben kann in einer sinnvollen Schöpfung, die in den Händen eines liebenden Gottes ruht und in der Gemeinschaft einer weltweiten Kirche, wenn ich also glauben kann, dass es Wahrheit und nicht bloß Durchsetzungsfähigkeit gibt, dann schenkt mir das ein Glück, das ich doch anderen Menschen weitergeben muss, wenn ich nicht unglaublich herzlos bin. Mission hat also überhaupt 176
nichts damit zu tun, die Zahl der Vereinsmitglieder mit geschickter Mitgliederwerbung hochzutreiben. Mission ist in diesem Sinne die Konsequenz aus dem selbstverständlichen Respekt eines Christen seinen Mitmenschen gegenüber. In der Bibel heißt es, dass jeder Christ jedem Mitmenschen gegenüber Rechenschaft abzulegen hat über seinen Glauben. Es wäre arrogant, aus Bequemlichkeit einfach anderen von einem beglückenden Glauben nichts mitzuteilen. Beim Weltjugendtag in Köln waren indonesische Mädchen in Düsseldorf im Rotlichtviertel untergebracht. Wenn sie abends von den gottesdienstlichen Begegnungen zurückkehrten, kamen sie immer an einer Prostituierten vorbei, der sie begeistert von ihren Erlebnissen bei diesem internationalen Christentreffen erzählten. Am letzten Tag aber fingen sie plötzlich hemmungslos zu weinen an. Die Prostituierte fragte, was denn los sei, und da sagten sie, sie seien so traurig, dass sie, die Prostituierte, diese Freude des christlichen Glaubens nicht erleben könne. Wir wissen diese Geschichte nicht von den Indonesierinnen, die waren in ihre ferne Heimat zurückgekehrt, wir wissen sie von der Prostituierten, die wenig später bei einem Priester anrief und fragte, wie man Christin werden könne. Es sei das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass Menschen ihretwegen geweint hätten. Gewiss, so einfach wird es nicht jedem fallen, zum Glauben zu gelangen. Da ist die Meinung, Glauben sei schließlich weniger als Wissen und die Wissenschaft habe den Glauben an Gott widerlegt. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Noch im 19. Jahrhundert konnte es so aussehen, als störe ein Gott, der in die Schöpfung eingreift und Wunder wirkt, den nach notwendigen Naturgesetzen uhrwerkartig ablaufenden Gang der Welt. Ernst Haeckel hatte noch die Hoffnung gehabt, den Tag zu erleben, da alle Naturgesetze gefunden sind und man mithin die Zukunft mit Notwendigkeit voraussagen kann. Doch da kam im Jahre 1900 die Quantentheorie und das alte deterministische 177
Weltbild war naturwissenschaftlich nicht mehr zu halten. Im atomaren Bereich gab es zufällige Quantensprünge, die nur mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen waren. Nicht mehr Wahrheit, nur noch statistische Wahrscheinlichkeit beanspruchten Physiker herausfinden zu können. Der Quantenphysiker Pascual Jordan erklärte, ob die Himmelfahrt Jesu stattgefunden habe, könne er natürlich nicht sagen, aber gegen die Naturgesetze würde sie nicht verstoßen. Entweder sei es quantentheoretisch gesprochen ein statistischer Ausreißer oder relativitätstheoretisch konnte man es als eine Umwandlung von Masse in Energie beschreiben. Das sind natürlich eher physikalische Spielereien und mit der christlichen Vorstellung von Wundern hat das noch nicht sehr viel zu tun, doch es war klar, dass der Zusammenbruch des klassischen Determinismus, der seit Demokrit 2500 Jahre lang ein wesentliches Argument des Atheismus war, weltanschauliche Konsequenzen hatte. Daher durfte die Quantentheorie lange Jahre in der großen Sowjetischen Enzyklopädie nicht erwähnt werden, da sie den staatlich verordneten Atheismus durcheinanderbrachte. Die Relativitätstheorie mit ihrer Äquivalenz von Masse und Energie widersprach einem simplen Materialismus, und mit der Urknalltheorie wirkte die uralte atheistische Vorstellung von der Ewigkeit der Welt, die mit einem Schöpfergott unvereinbar schien, plötzlich antiquiert. Gewiss, das alles bewies nicht Gott. Doch der Atheismus bekam durch diese Entwicklung der modernen Naturwissenschaft ein erhebliches argumentatives Problem und musste sich im 20. Jahrhundert neu erfinden, wenn er nicht in den Ländern des Staatsatheismus mitunter konservativ an alten, längst widerlegten Ladenhütern festhielt. Demgegenüber stehen bis zu dem neuesten Buch des Philosophen Robert Spaemann eine Fülle von Argumenten für die Existenz Gottes. Freilich sind Gottesbeweise wie Liebesbeweise: Sie sind nicht zwingend, aber es sind vielleicht die wichtigsten Beweise unseres Lebens. 178
Doch dann ist da die Kirchengeschichte mit all den schrecklichen Untaten der Kirche. Wenn das Christentum tatsächlich eine einzige Blutspur durch die Menschheitsgeschichte gelegt hätte, ich jedenfalls könnte kein Christ sein. Freilich hat auch da die neueste Forschung Erstaunliches zutage gebracht. Gewiss, es gab in 2000 Jahren Christentumsgeschichte auch Untaten, wer wollte das bestreiten. Doch wer so mutig ist, seine bisherigen Urteile über die Geschichte des Christentums dem hellen Licht wissenschaftlicher Aufklärung auszusetzen, der lese von Arnold Angenendt das jüngst erschienene Buch Toleranz und Gewalt – Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Nach Lektüre dieses brillanten Werkes, das von den Kreuzzügen über die Hexenverfolgung und die Inquisition alle Topthemen enthält und in dem man unter anderem erfahren kann, dass es das Christentum war, das die Sklaverei abgeschafft und in einer heidnischen Umwelt, die die Sorge um die Schwachen in der Gesellschaft nicht kannte, das Mitleid erfunden hat, fragt man sich, wie es eigentlich zu dem realitätsfernen Zerrbild der Kirche gekommen ist. Mir fiel da der Wahlkampf ein. Wenn man bedenkt, wie viel Unsinn die gegnerischen Parteien in wenigen Monaten über die jeweils andere Seite in die Welt setzen, dann kann man ermessen, wie viel da in 2000 Jahren Gegnerschaft gegen das Christentum von seinen Feinden – im 20. Jahrhundert 70 Jahre lang sogar mit Unterstützung der Staatsmacht – in die Welt gesetzt wurde und bis heute weitergebetet wird. Das Christentum glaubt daran, dass Gott Mensch geworden ist: in Jesus von Nazareth. Und dieser Jesus hat gesagt, dass man in jedem Menschen Gott begegnen kann. Die Ehre Gottes und die Würde des Menschen feiern Katholiken in der heiligen Messe. Für den humanistischen Atheisten mag das bezüglich des respektvollen Miteinanders nicht weit von seiner Überzeugung entfernt sein. Doch ist die Zusage Gottes, dass er selbst es ist, der alle Menschen zum Glück führen will, etwas ganz anderes, als in einer sinnlosen Welt unbeirrt Sinnvolles zu tun. Auf diese 179
Zusage Gottes vertrauen zu können, heißt glauben. Das ist viel mehr als bloß wissen. Wenn Ihre Frau Ihnen sagt, Sie könnten ihr vertrauen, und Sie antworten, Sie würden aber gerne genau wissen, ob das Vertrauen gerechtfertigt sei, dann werden Sie nichts zu wissen bekommen und das Vertrauen und die Liebe zerstören. Denn Sie haben nicht gemerkt, dass Vertrauen viel mehr ist als Wissen. Es ist eine Gewissheit, die wie die Glaubensgewissheit ein Leben trägt. Und wie die Liebe nach christlicher Überzeugung auf die Verbindlichkeit der Ehe ausgerichtet ist, so der Glaube auf die Verbindlichkeit der Kirche. Es ist nicht gleichgültig, ob man getauft ist oder nicht. Bleibt die Frage, warum Gott das Leid zulässt. Nicht nur ich, auch Papst Benedikt XVI. hat in seinem berührenden ersten Lehrschreiben Gott ist die Liebe angedeutet, dass das wohl die erste Frage sein wird, die er nach Ende seiner irdischen Existenz dem allmächtigen Gott stellen will. Es gibt darauf nicht die perfekte Antwort. Der Philosoph Robert Spaemann hat auf die Frage »Wo war Gott in Ausschwitz?« geantwortet: »Am Kreuz!« Auch für mich wäre ein Gott, der bloß ein kühl allmächtiger wäre, nicht glaubwürdig. Ich kann nur dann an einen guten Gott glauben, wenn er ein mitleidender Gott ist, und daran glauben die Christen. Das Böse in der Welt ist der Preis für die Freiheit des Menschen. Ein Gott, der mir nicht die Möglichkeit zubilligen würde, wirklich böse zu sein, wäre ein Marionettenspieler, der mit mir zum Zeitvertreib spielt. Eine abstoßende Vorstellung. Gewiss, nicht alle Menschen im Osten Deutschlands sind barmherzige Samariter. Doch nach vielen berührenden Erlebnissen mit diesen Menschen in den vergangenen Wochen nötigen sie mir hohen Respekt ab. Ohne an ein Leben über den Tod hinaus zu glauben, leben sie uneigennützig und ehren dadurch, dass sie ihrem Gewissen folgen, in dem der Ruf Gottes an sie ergeht, Gott besser, als ich selbst es oft tue, wenn ich gedankenlos so lebe, als gäbe es Gott nicht. Der Papst hat in Gott ist die Liebe, 180
das eine für jedermann verständliche Einführung in das Christentum ist, den barmherzigen Samariter ganz in den Mittelpunkt gestellt. Vielleicht können unsere atheistischen Mitbürger uns Katholiken in Deutschland die Enzyklika des Papstes besser verständlich machen, und vielleicht können wir ihnen dann, von ihnen so belehrt, unseren Glauben besser erklären, denn das sind wir ihnen schuldig. Es wäre eine menschliche Katastrophe, wenn nur der kalte Kapitalismus des Westens nach Osten vordringen würde und nicht auch eine Ahnung von der wärmenden christlichen Seele Europas.
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Fiona Lorenz
Gott gibt es nicht
ott gibt es nicht. Schon als (konfirmierte) Jugendliche, als ich mich erstmals bewusst und aktiv dieser Frage zuwandte, kam ich nach einigen Wochen zum Ergebnis: Es gibt keinen Gott. Mittlerweile bin ich der Meinung, selbst wenn es einen Gott gäbe – was sollte ich mit ihm anfangen? Es gibt viele Dinge in dieser Welt, mit denen ich nichts anfangen kann. Ich esse zum Beispiel keine Schnecken, obwohl manche Menschen genau diese für Delikatessen halten. Geschmolzene Knoblauchbutter mit Brot aufzutunken, schmeckt mir jedoch wirklich gut! Ebenso schwören viele Menschen auf Homöopathie – diese gibt es, aber ich glaube nicht an ihre Wirksamkeit, halte sie gar für Humbug. Stattdessen erlebe ich immer mal wieder Momente, in denen ich fassungslos bin angesichts der Tatsache, dass viele Menschen an etwas zu glauben scheinen, das es überhaupt nicht gibt. Sie sind sogar noch stolz darauf und verkünden es in aller Öffentlichkeit. Und auf diesem Etwas, das überhaupt nicht existiert, basiert ein riesiges Macht- und Menschenbeherrschungsinstrument, eine milliardenschwere Geldscheffelmaschine: Kirche, Religion, Heilsverkünder und sonstige Quacksalber. Das ist wahre Alchemie: Aus Nichts Gold machen. Das soll denen mal jemand nachmachen! Jeder Mensch, jedes Lebewesen (selbst eine nervige Wespe oder Stechmücke) ist wertvoll, das steht für mich unabhängig von der Frage, ob ich seinen Glauben respektiere oder nicht, fest. Für mich hört das Wohlwollen allerdings da auf, wo ich die Intoleranz anderer (und ihr Bedürfnis, mich zu pieksen) tolerieren soll. Und Evangelikale oder radikale Islamisten haben zum
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erklärten Ziel, meine Menschenrechte und das Recht auf Selbstbestimmung jedes Menschen einzuschränken – wie die katholische Kirche übrigens auch, was im Katechismus der katholischen Kirche nachzulesen ist. Wer sich zum Beispiel je die Frage gestellt hat, wie ein Priester Abtreibung und Sterbehilfe verdammen und im nächsten Moment einen Panzer segnen kann, sollte hier innehalten. Darin liegt kein Widerspruch! Jedenfalls nicht, wenn man religiöser »Logik« folgt. Denn es geht in diesen Fragen stets um das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Es geht Religionen aber nicht nur um, es geht ihnen gegen das Selbstbestimmungsrecht. Wo kämen wir denn hin, wenn Menschen selbst bestimmen dürften, ob sie Kinder bekommen wollen, wann sie sterben und ob sie ihr Leben im Dienst des Vaterlandes opfern wollen? Viele Gläubige fühlen sich scheinbar allein durch die Tatsache unangenehm berührt, dass jemand äußert, nicht gläubig zu sein. Selbst wenn ich als Ungläubige meine Kritikpunkte milde formuliere, treffe ich zuweilen auf erbitterte Resistenz. Denn wer glaubt, darf ein bisschen kritisieren, das ist erlaubt und heutzutage sogar in Maßen erwünscht. Auch die Kirche darf in Bausch und Bogen verdonnert werden. Wer aber gar nicht glaubt, stellt das gesamte System infrage, das ganze absurde Des-Kaisers-neue-Kleider-System des Glaubens daran, dass irgendwo eine irgendwie geartete »höhere Instanz« uns beobachtet und über uns wacht, unsere Gebete erhört, uns prüft und straft, uns dabei aber eigentlich wohlgesonnen ist und doch liebt. Und dieses Prinzip infrage zu stellen, ruft starke Ressentiments hervor. Für mein Buch Wozu brauche ich einen Gott? habe ich mich erstmals intensiv mit Religion auseinandergesetzt und Argumente gesammelt. Insgesamt habe ich mit über 70 Ungläubigen und Abtrünnigen gesprochen, die sich aus unterschiedlichen Gründen vom Glauben verabschiedet haben oder noch nie gläubig waren. Neben den Standardwerken wie dem Manifest des evo183
lutionären Humanismus von Michael Schmidt-Salomon, Sam Harris’ The End of Faith (Das Ende des Glaubens) oder Richard Dawkins’ The God Delusion (Der Gotteswahn) habe ich mittlerweile A year of living biblically (Die Bibel und ich. Vom einem, der auszog, das Buch der Bücher wörtlich zu nehmen) von A. J. Jacobs gelesen, der sich unvoreingenommen der Bibel genähert und wirklich alle Protagonisten des Glaubens besucht hat, einschließlich Kreationisten. Und eine Folge der Serie Bullshit! von Penn & Teller über Versuche von Kreationisten in den USA, die Evolutionstheorie in US-Schulen zu verbieten, habe ich mir angeschaut. Ich habe einen Vortrag über Kreationismus in Luxemburg besucht, bei dem Anne Brasseur, eine eher konservative Europaabgeordnete, auf dem Podium war. Sie hatte im Herbst 2007 entsetzt einen Brief des Vatikan publik gemacht, in dem konservative Europaabgeordnete aufgefordert wurden, die Gesetzesvorlage bezüglich der Verbannung des Kreationismus aus den Schulen in Europa zu unterbinden. Schließlich werden Kindern in vielen Gegenden auch Deutschlands sowohl im kirchlichen Kindergarten als auch in der Grundschule biblische Geschichten erzählt, ohne sie zu relativieren oder zu diskutieren. Einfach serviert. Meine kleine Tochter hatte etliche Diskussionen mit den Erzieherinnen im katholischen Kindergarten, die letztlich darauf hinausliefen, dass man einfach glauben soll. Eine kritische Auseinandersetzung war nicht möglich. In der Grundschule meiner Tochter hat eine Klassenlehrerin täglich mit den Kindern religiöse Lieder gesungen! Papst Ratzinger hat irgendwann erklärt, es gebe die Evolution, jedoch beträfe diese nur Tiere und Pflanzen. Der Mensch sei, da ja Ebenbild Gottes, schon immer so gewesen, wie er jetzt ist. Als Letztes schaute ich noch den Film Religulous an, in dem Bill Mahey, ein amerikanischer Schauspieler und Talkmaster, weltweit der Frage nach Religiosität nachgeht und Skurriles bis Bizarres zutage fördert. Fast unerträgliche Einblicke in dieser Hinsicht gewährt im Übrigen der Film Jesus Camp. 184
Es geht also um Glauben statt Wissen. Und um kirchliche Machtansprüche, Definitionsmacht, Indoktrination von Kindern etc. Man muss sich vorstellen: In den USA und in der Türkei glauben mehr Menschen an die Schöpfungsgeschichte als an die Evolution! Ich jedoch halte mich eher an überprüfbare Theorien, an wissenschaftliche Herangehensweisen an die Welt. Die Urknalltheorie beispielsweise mag ihre Lücken haben, ebenso wie die Evolutionstheorie, jedoch ist das den beteiligten Wissenschaftlern klar und sie versuchen, diese Lücken zu schließen. Sollte eine andere, wissenschaftlich fundierte Theorie zum Beispiel den Urknall widerlegen, so werden Wissenschaftler weltweit darangehen, diese zu überprüfen und gegebenenfalls zu übernehmen. Das ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen. Vierjährige Kinder lernen im Kindergarten, dass man (glaubens-)kritische Fragen nicht stellen darf. Darum aber geht es: um Neugier, Zweifel, Infragestellen. All dies sind Vorgänge, die von Gläubigen in Bezug auf den Glauben abgewehrt werden, für die Wissenschaft aber erforderlich sind. Letzten Endes hat meine Auseinandersetzung mit Gläubigen und Religion in mir ein Engagement geweckt, welches ich mir vorher nicht hätte vorstellen können, da mir das Thema relativ egal war. Inzwischen habe ich den Humanistischen Verband Deutschlands, Rheinland-Pfalz gegründet und stehe ihm als Landesvorsitzende vor, ich bin Förder- und Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung und schreibe für den Humanistischen Pressedienst hpd.de. Denn Religion ist meiner Meinung nach nicht nur überflüssig, sondern kann gefährliche Auswirkungen zeitigen – von der gewollten Verdummung kleiner Kinder bis zum Selbstmordattentat. Überdies ist der Einfluss religiöser Gemeinschaften in unserer Gesellschaft einfach zu groß. Deshalb versuche ich, Alternativen dazu aufzuzeigen und aufzubauen. Mich selbst als Atheistin zu bezeichnen, ist dabei eine Hilfskon185
struktion, die ich anwenden werde, bis der Begriff »Humanistin« oder »Naturalistin« ins gesellschaftliche Allgemeinvokabular eingeflossen ist und klar sein wird, was ich damit meine. Denn mich als A-Theistin zu bezeichnen heißt ja, mich ex negativo von Theistin zu definieren und damit Theismus als Norm zu setzen. Ebenso gut könnte ich Gläubige als A-Rationalisten, A-Naturalisten oder A-Humanisten bezeichnen. Auch diese nutzlose Sinnsuche – was soll das? Es gibt keinen Sinn! Das Leben an sich hat keinen Sinn und mein Leben hat den Sinn, den ich ihm gebe. Ich kann meine Talente für mich und die Welt nutzen oder ich kann es bleiben lassen. Ich habe das Glück zu leben, was ich dem Umstand verdanke, dass ein bestimmtes Spermium meines Vaters auf ein bestimmtes Ei meiner Mutter traf, dass während der Schwangerschaft keine chromosomale Aberration auftrat, die zur Fehlgeburt geführt hätte, und dass meine Mutter mich austrug. Seither habe ich diverse Gefahren umschifft und lebe. Irgendwann werde ich tot sein. Worin der Sinn in dieser Ansammlung zufälliger Ereignisse liegt – die Frage ist überflüssig. Um wieder persönlich zu werden, da gerne das Argument gebracht wird: »Wenn du alt wirst, wenn du dem Tod nahekommst, dann, ja dann fängst du an zu glauben!« Ich hatte in den vergangenen acht Jahren schon mehrmals Krebs. Ich habe jetzt gerade Krebs, und zwar mehrere große Metastasen in meinem Brustkorb. Vor einigen Tagen hatte ich meine vierte Chemotherapie, meine Haare sind fast komplett ausgefallen und ich bin zwar zuversichtlich, aber nicht sicher, dass ich diesmal meine Krankheit überstehen, d.h. überleben werde. Die Frage »Warum ich?« – die Sinnfrage also – habe ich mir in den vergangenen Jahren niemals gestellt. In meiner Welt werden Menschen krank, weil sie körperlich und psychisch dazu veranlagt und die Umwelteinflüsse ungünstig sind. Manche bekommen ein Magengeschwür, andere einen Herzinfarkt, Diabetes oder aber Krebs. Was sollte ich in einer solchen Situation mit Gott anfan186
gen? Wäre ich gläubig, müsste ich darin eine Prüfung für meinen Glauben sehen und mich zu allem Überfluss auch noch damit auseinandersetzen, dass »mein lieber Gott« mir so etwas antut. Da ich ungläubig bin, würde er mich für meinen Unglauben strafen und deshalb wäre ich krank. Die »Argumente« werden also verbogen, damit sie passen. Ich vertraue jedoch lieber auf die Medizin und auf meine Selbstheilungskräfte, die ich mit Bewegung und verbesserter Ernährung, mehr Ruhe und Schlaf sowie weniger Stress zu unterstützen versuche. Außerdem habe ich gute Freunde, die für mich da sind, und liebevolle, fantastische Kinder. Was will ich mehr?
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Karl Giebeler
Oma Bertha geht heim
hr fielen das Geschirrtuch und der Teller aus der Hand. Sie sackte in sich zusammen. Ein Stöhnen war zu hören und ich konnte sie gerade noch halten, bevor sie auf den Boden der kleinen Küche glitt. Wir hatten gemeinsam das Geschirr abgewaschen. Sie hatte für mich gekocht. Etwas Schönes. Etwas, was ich mochte, denn ich war bei der Bundeswehr, hungrig und auf Besuch daheim. Mein Schrei klang durchs Haus. Meine Mutter und ich konnten Oma Bertha noch auf die Couch ziehen. Als endlich der Arzt kam, war sie bereits längst tot. Heimgegangen, wie man so sagt. Für meine Oma väterlicherseits war das keine Floskel. Der Tod war in den letzten Jahren ihres Lebens das zentrale Thema. Sie wurde 87, fast 88 Jahre alt und ihr Mann hatte sie, wie sie es sagen würde, schon viele Jahre vorher »verlassen«. Sie sehnte sich geradezu danach, endlich »heimzukommen«. Wieder vereint zu sein mit ihrem geliebten Mann, meinem Opa, an den ich nur Kindheitserinnerungen habe. Ein Mann, der auch in den 50er-Jahren mit seinem Kaiser-Wilhelm-Bart noch so aussah wie Männer auf Bildern aus dem Ersten Weltkrieg. Der ständig Pfriem kaute und den rötlichen Tabaksud überall ausspuckte, wo es ihm passte, auch in das Abwaschbecken in der Küche. Der Oma damit nervte, sich aber einen Dreck darum scherte, was sie oder andere von ihm dachten. Heim zu ihrem Mann. Vereint mit dem, der ihr Leben war. Vereint aber vor allem mit dem wahren Vater, mit Gott.
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Wenn der kleine, kahlköpfige Mann mit dem einen Arm und der Holzkiste vor dem Bauch, in dem er sein Sortiment an Bürs188
ten durch die Dörfer trug, früher an unserem Haus vorbeikam und meine Oma im Fenster lehnen sah, rief er Jahr für Jahr denselben Satz: »Ach Gott, Bertha, lebst du denn immer noch!?« Ja, sie lebte noch und das lange. Sie war Jahrgang 1880, zwei Jahre älter als ihr Mann, was für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war. Sie war klein, rundlich, später weißhaarig. Die Haare streng am Kopf zu einem Knoten gebunden. Immer in einer Kittelschürze, die nach Arbeit aussah. Sie war nicht gebildet, aber klug, ja schlau. Sie war energisch, streng und dominant. Für meine Mutter eine schwierige Schwiegermutter, die ihr das Leben auch zur Hölle machen konnte. Mein Vater war der Jüngste. Ein Nachzügler, ihr kleiner Junge ein Leben lang. Sie verteilte ihre Liebe ungleich und nach Gutdünken auf ihre Enkelkinder. Bevorzugte mich, vernachlässigte meine drei jüngeren Brüder. Warum man ihr Liebling war, entzog sich jeder Logik. Sie liebte, wie Liebe eben ist: ungerecht. Als ich in der Ausbildung war, kochte sie jeden Mittag für mich meine Lieblingsgerichte, »damit etwas aus dir wird«, vermutlich aber auch, um der Schwiegertochter zu zeigen, wie gerne ich bei ihr aß. Nach der Grundausbildung in der Bundeswehr kaufte sie mir mein erstes Auto, einen VW-Käfer, Baujahr 63. Blau, mit Textilfaltdach, abgesägtem Schaltknüppel und vor allem mit Gürtelreifen. Damit ich möglichst oft nach Hause kommen könne, vermutlich aber auch, um meinen Eltern zu demonstrieren, wie man sich richtig um sein Kind kümmert. Oma Bertha war eigen, ja eigenwillig. Nicht nur nett. Hinter dem äußeren Bild einer Oma, wie man es nur aus Bilderbüchern kennt, verbarg sich eine harte Frau, die nicht nur ihren Mann kujonierte. Sie war aber auch gläubig, ja fromm, obwohl ich sie nie in der Kirche oder im »Vereinshaus«, dem Versammlungsort der pietistischen Gemeinschaft, gesehen habe. Sie war kein »Mucker«, wie die Strenggläubigen im Dorf von den Nichtstrenggläubigen abschätzig genannt wurden. Dafür war sie zu eitel. Zu wenig demütig. Hielt sich für etwas Besseres. Kam 189
aus einer angeseheneren Familie als der, in die sie geheiratet hatte. War sie im heutigen Sinne religiös? Sie betete für sich. Sie las in der Bibel für sich. Gemeinsam beteten wir vor und nach dem Essen. Dankten für die Speisen. Erflehten den Segen für unsere Körper und die Kraft der Nahrung für die Arbeit auf dem Feld im Tischgebet. Wenn ein Gewitter aufzog, löschte Oma Bertha alle Lichter im Haus. Zündete eine Kerze an. Faltete die Hände und forderte uns auf, uns zu ihr zu setzen, nicht zu sprechen. Den Zorn Gottes im Gewitter ruhig und demütig abzuwarten, bevor der Alltag wieder einzog. Ihr Weltbild war in mancher Hinsicht noch magisch. Gott in der Natur und in Wetterphänomenen anwesend und erlebbar. Immer gab es für sie zwei Leben: das irdische, sichtbare und ein anderes, unsichtbares, jenseitiges. Das Leben hier, auf der Erde, war für sie ein Durchgangsstadium. »Und ob ich schon wanderte durchs finstere Tal.« Das war dieses, das irdische Leben. Ein finsteres Tal. Kein Zuckerschlecken. Geprägt von Arbeit, Tod, Kindergebären, Krankheiten. Das Leben war für sie Mühe, Last. Vor allem aber ein Übergang, heute würde man sagen, eine »Transition«. »Dermaleinst«, wenn wir dort sind, wo unser wirkliches Zuhause, unsere wahre Heimat ist, dann … Doch wo war das? Was war das? »Ach Gott, Bertha, lebst du immer noch!?« Ja, sie lebte noch hier, im Jammertal. Wo das Leben Kampf, Schrecken und Entsagung war. Sie hatte zwei Weltkriege erlebt und überlebt. Sie hatte mehr Kinder geboren, als überlebt hatten. Sie hatte immer nur gearbeitet. Muße war ein Fremdwort. Es gab immer etwas zu tun. Es gab kein Ausruhen. Außer am Sonntag und bei Gewitter. Selbst Familienfeste bestanden für sie vorwiegend aus Arbeit, damit es genug zu essen und trinken für die Gäste gab. Ein Begriff wie »Freizeit haben« war nicht nur für sie damals unbekannt. 190
Gleichzeitig lebte sie aber auch immer, und im Alter zunehmend, in einer anderen Welt. In ihrem Kopf, ihrem Herzen sehnte sie sich nach zu Hause. Und dieses Zuhause war nicht das alte, große Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert. War nicht das Dorf. War nicht die Familie, nicht die Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft. Ihr Zuhause lag im Jenseits, von dem sie nur sagen konnte, dass es ihr Daheim sei. Dort lag der Sehnsuchtsort. Dort war ihr Mann schon angekommen. Dort wartete er auf sie. Wo das sei? Diese Frage verstand sie nicht, denn es handelte sich nicht um einen geografisch zu bestimmenden Ort. Dieser Ort war wohl eher ein Zustand. Eine Seinsart. Eine neue, andere Form der Existenz. Davon war sie überzeugt: Dort würde sie gemeinsam mit ihrem Mann und all den Verstorbenen existieren und sein. Nie sprach sie von diesem Ort als Himmel. Immer hieß es nur: »Ich freue mich darauf heimzugehen«. Diese Vorfreude war echt. Nicht aufgesetzt, nachgebetet, auswendig gelernt. Sie dachte und glaubte wahrhaftig so. Als meine Oma Bertha starb, heimging, war ich 20 Jahre alt. Es war 1968 und ich hatte viel im Kopf, nur nicht den Tod, letzte Dinge oder Spekulationen über das Jenseits. Das Leben im Hier und Jetzt war viel zu aufregend. Der politische, gesellschaftliche Wandel auch auf dem letzten Kuhdorf spürbar. Die Gegenwart verheißungsvoll. Ihr Überdruss am irdischen Leben hatte in den Jahren seit dem Tod ihres Mannes ständig zugenommen. Die Veränderungen auch im familiären und dörflichen Alltag änderten daran nichts. Im Gegenteil. Der erste Fernseher im Haus blieb für sie ein Teufelszeug. Die »Negermusik« der Beatles grauenhaft. Sie war wohl lebenssatt. Nicht, dass sie deshalb faul wurde. Sie wirkte auch nicht resigniert. Sie flüchtete sich nicht in Krankheiten, auch wenn es an der Tagesordnung war zu klagen. Sie konnte ihren Tod erwarten, ihm entgegensehen als etwas, das auch eine Erlösung für sie war. Nicht von Krankheiten oder dem Schick191
sal, das hatte es nicht so schlecht mit ihr gemeint. Es war die Erlösung von dieser vorläufigen Existenz.Von dem uneigentlichen Leben. Das eigentliche Leben war dort, wo ihr wahres Daheim war. Meine Brüder und ich machten uns lustig über sie. Wir waren ja so clever und so ganz diesseitig. Den Jüngsten von uns beeindruckten ihre Sehnsüchte, ihre Erzählungen über das Leben, das ihr bevorstand. Wenn ich ehrlich bin, fand ich das, was sie erzählte, naiv. Abergläubisch. Ein Jenseits, eine andere, neue Heimat, wo auch immer, konnte oder wollte ich mir nicht vorstellen. Kinderglaube! Dennoch haben sich ihre Worte und ihre Haltung tief in mich eingegraben. Dieser unerschütterliche Glaube. Diese irrationale Vorstellung von einem jenseitigen Ort, der ein Zuhause sein soll. Diese Sehnsucht nach einer Existenzweise, die ein wirkliches Ankommen im Leben, mitten im Tod, für sie darstellte. Nie haben wir darüber gesprochen, woher sie diese Gewissheit nahm. Es gab dafür keine intellektuelle Begründung. Geblieben ist bei mir die Sehnsucht danach, mit einer solchen Unerschütterlichkeit leben und glauben zu können. Geblieben ist das Erstaunen darüber, wie man ohne jede Angst dem Tod entgegensehen, ja ihn herbeisehnen kann. Geblieben ist, mit zunehmendem eigenem Älterwerden, der Versuch, den Tod als zum Leben dazugehörig zu betrachten. So wie sie, Oma Bertha, es ganz selbstverständlich tat. Oma Bertha wurde, wie es damals im Dorf üblich und möglich war, im Hausflur aufgebahrt. Offen. Dort war es dunkel und kühl. Eine Aussegnungshalle auf dem Friedhof gab es nicht. Der Sarg wurde von einem Pferdegespann durchs Dorf auf den Friedhof gefahren. Die Glocke läutete während der ganzen Fahrt bis zum Grab. Sie wurde an der Seite ihres Mannes in einem Doppelgrab beigesetzt. War sie jetzt schon bei ihm? War sie schon daheim? War sie angekommen? Ich kann mich nicht daran erinnern, traurig gewesen zu sein. 192
Nicht nur, weil sie alt war. Nicht nur, weil sie nicht gelitten hatte, sondern an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben war. Nicht nur, weil ich bei ihrem Tod dabei war und mich von ihr verabschieden konnte. Vermutlich haben mich ihr Glaube, ihre Vorstellung einer anderen Welt, einer neuen Existenzweise, ihre belächelte Vorstellung von Heimat und Heimkommen an einen Ort der Sehnsucht getröstet und mir mehr bedeutet, als mir damals bewusst war. Für sie war ihr eigener Tod kein Grund zur Furcht. Meine eigene Lebensgier wäre ihr fremd gewesen. Wenn ich mich dabei erwische, wie ich zu einem personenhaften Wesen bete, obwohl ich doch »weiß«, dass es dieses als Gott nicht gibt, als Wesen an einem bestimmten Ort nicht geben kann, dann entdecke ich einen Widerspruch in mir, der meiner Oma Bertha vollkommen fremd gewesen wäre, wenn wir je darüber gesprochen hätten. Das unterscheidet uns und macht mir, dem studierten Theologen, den Glauben um so viel schwerer als meiner Oma. Sie konnte sozusagen ungebrochen glauben. Mein Glaube ringt beständig mit meinem Wissen, meiner Logik, meinen rationalen Überzeugungen. Mein Kinderglaube will nicht hören, dass Gott vielleicht nur eine Projektion meiner Ängste und Sehnsüchte ist. Mein Kinderglaube will nicht sehen, dass es keinen Gott als Wesen, als Person, sondern vermutlich nur als Erfahrung, als Prozess, als Geschehen gibt. »Ich bin, der ich sein werde« oder »Ich bin, der ich bin«. So definiert sich Gott gegenüber Moses, als der ihn fragt, was er seinem Volk in der ägyptischen Gefangenschaft sagen soll, wer ihn zur Befreiung schickt. Kann man zu einem Geschehen, zu einem Prozess, beten? Kaum. Das Gebet als Akt der Kommunikation braucht ein Gegenüber. Einen Jemand, nicht ein Etwas. Im Gebet – ob als Bitte um Bewahrung oder Dank für Gutes, ob als Wut über Erlittenes oder Anbeten gegen die Angst – siegen immer das Kind und der Kinderglaube über den abgeklärten Erwachsenen. 193
Im Konfirmandenunterricht wurden wir traktiert mit den 129 Fragen und Antworten aus dem Heidelberger Katechismus von 1563, dem Standardwerk der reformierten Kirche, in meiner Heimat 1581 zum christlichen Unterricht verbindlich eingeführt und vermutlich bis heute gültig. Er enthielt zu allen wichtigen Glaubensfragen ein Frage- und Antwortspiel, zum Beispiel zum ersten Teil des Katechismus »Von des Menschen Elend« die Frage 3 »Woher erkennst du dein Elend?«. Der Pfarrer stellte die Fragen. Wir hatten die Antworten auswendig zu lernen und natürlich zu glauben. »Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?« So die vielleicht bedeutsamste Frage 1 des Heidelberger Katechismus. Für Oma Bertha war die Antwort klar und einfach: Nach dem Leben und dem Sterben im Tod anzukommen. Heimzukommen. Dort war die wahre Heimat, das wirkliche Leben. »Ach Gott, Bertha, lebst du immer noch?« Wer weiß.
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Stefan Seidel
Zwischen den Welten Stationen einer persönlichen Gottessuche
angsam öffne ich die schwere Doppelflügeltür. Ich reiche kaum heran an die mächtige Türklinke. Dahinter: eine andere Welt. Irgendwie ist sie auch meine. Kühl-modrige Luft, harte Holzbänke, dickwandige Mauern, ein weißbetuchter Altar, ein Kreuz, ein Gekreuzigter, eine Kanzel. Unverständlichvertrauter Gesang. Das gehört zu den frühen Bildern meines Lebens. Es hat sich mir eingebrannt. Dass es Gott gibt, war klar. Das wurde mit der Muttermilch mitgegeben. Früh schon wurde ich unterwiesen: »Hör besonders auf die dritte Strophe: ›Seht ihr den Mond dort stehen, / er ist nur halb zu sehen / und ist doch rund und schön. / So sind wohl manche Sachen, / die wir getrost belachen, / weil unsere Augen sie nicht sehn.‹« Ja, so sei das mit Gott. Den gibt es, auch wenn es ihn irgendwie scheinbar nicht gibt. Doch dass es ihn wirklich gibt, dafür standen die mächtigsten Zeugen, die es für ein Kind gibt: Vater, Mutter, Großvater, Großmutter. Und diese merkwürdig-ehrwürdige Zeugin: Die alte Kirche. Als gut geimpftes Gotteskind trat ich meinen Weg in die Welt jenseits dieser Kirche an. Ich blieb gehüllt in mein unsichtbares Mäntelchen der Gotteskindschaft. Dafür waren mir die weltlichen Hüllen verwehrt: Pionierhemd und Halstuch, Fackelabzeichen und Pionierehrenwort, Neptunkostüm und Fußballtrikot. Es gab eine Welt mit Gott. Und es gab eine Welt ohne Gott. Ich trug die Welt mit Gott in die Welt ohne Gott. Ich fühlte mich bedacht mit einem geheimnisvollen Wissen. Ich wusste, wenn es darauf ankommt, gehöre ich zu der Welt mit Gott.
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Früh brachen die großen Menschheitsfragen in mein Leben. Der Brudermord Kains – Schuld, Tod, Versagen. Die knapp vereitelte Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham – Gottesgehorsam, Zwiespalt, Abgrund. Das Goldene Kalb – Gottvergessenheit, Goldversessenheit, Strafe. Das Leben und Sterben und Auferstehen Jesu – Entscheidung, Angst, Todesüberwindung. Von alldem hatte ich mehr eine dunkle Ahnung denn ein weises Wissen. Gott gehörte zu meinem Leben. Und ich fühlte mich als einer von ihm. Und ich wusste auch, dass genau das mich unterschied von den meisten anderen in der Welt jenseits der alten Kirche. Es blieb schwierig, die Welten zu verbinden. Und einmal, da tat sich der Riss zwischen den Welten schmerzhaft auf. Mit meiner Schulklasse fuhr ich in der Straßenbahn. Wir passierten das Stadion. Dort war Kirchentag. Riesige Fahnen mit lilafarbenen Kreuzen wehten im Wind. Ein Schüler fragte spöttisch: »Was is’n da Komisches los?« Und ich schwieg. Obwohl ich die andere Welt erklären wollte, blieb ich stumm. Kein Wort kam mir über die Lippen. Ich konnte sie nicht erklären, diese andere Welt, die sich an diesem Tag aus den alten Gemäuern herausgewagt hatte und mir nun wie ein Prüfstein begegnete. Die Straßenbahn fuhr weiter. Das Interesse meines Mitschülers verflog. Und ich fühlte mich schuldig. Als hätte ich Gott verraten, indem ich ihn verschwieg. Petrus, der Verleugner, Judas, der Verräter, tanzten vor meinem inneren Auge. Das Mäntelchen der Gotteskindschaft wurde bleischwer. So weit schien es mit meinem Dazugehören zu Gottes Welt nicht her zu sein. Ich war nicht einmal in der Lage, etwas so einfaches wie einen Kirchentag zu erklären. Das änderte sich. Von einem Gotteskind wurde ich zu einem Gotteskrieger, einem Verfechter Gottes in der Welt ohne Gott. Ob es vermeintlicher Satanismus in der Rockmusik, Golfkrieg oder Sex vor der Ehe war. Ich meinte, dass sich die Welt Gottes auf diesen Gebieten entschied. Ich wollte die Welten zusam196
menführen. Vielleicht, um das Versagen in der Straßenbahn wiedergutzumachen. Vielleicht, um die vagen Ahnungen von Gott in feste Gewissheiten zu verwandeln. Ich las die Endzeitreden Jesu, die Offenbarung des Johannes, grübelte über das Leben nach dem Tod, bewunderte christliche Märtyrer. Und die Wolke der Zeugen stand um mich wie ein Mann. Kurz vor seinem Tod überreichte mir mein Großvater, ein tiefgläubiger Christ, sein Buch. Der Titel: Zeugenschaft. Ich wollte dazugehören. Ich fühlte mich verpflichtet und ermutigt von all den Vermächtnissen der alten und neuen Zeugen. Ich wollte auch diesen Weg mit Gott gehen. Da konnten mir die Versuchungen der Welt nichts anhaben. Und jeder Widerspruch, jede Anfechtung machte mich noch sicherer. Doch manchmal blickte ich sehnsüchtig auf die Welt ohne Gott, die Welt mit den unvergrübelten Freuden. Doch ich wollte sie letztlich doch nicht eintauschen gegen die bergende Sicherheit meiner Welt mit Gott. Ich bin unheil geworden unterwegs. Der Riss zwischen der Welt mit Gott und der Welt ohne Gott ging mitten durch mich. Alte Gewissheiten sind zerronnen. Die schwere Doppelflügeltür der Kirche hat sich geschlossen. Und ich stand draußen. Ich wollte die gute Welt. Ich wollte Gott in der Welt. Ich wollte die reine Welt. Am Ende von viel Grübeln, Glühen, Glauben stehen Leere, Müdigkeit, Schwäche. Und die Frage: Wer bin ich und wer soll ich sein? Der einst bergende Mantel des Gotteskindes ist verloren. Vertraute Worte, felsenfeste Gewissheiten, unverrückbare Ideale erweisen sich als unvertraut, brüchig und verrückbar. Alte Antworten taugen nicht mehr. Mühsam erbaute Gedankengebäude tragen nicht mehr. Eine radikal verfochtene Ethik zieht nicht mehr. Es ist so viel geerbt gewesen. Es ist so vieles bloß in den Mund, in den Kopf gelegt worden. Es ist ein gut gemeinter Sternenmantel um mich geschnürt worden, ohne dass ich eigene Hüllen hätte entwickeln oder finden können. Unter dem Mantel hat 197
sich nicht getrostes Leben entwickelt. Unter dem Mantel wurden gezüchtet Ängste und Zwänge. Ich bin mir fremd geworden. Ich habe mich verfehlt. Es gab viele Worte, viel Wissen, viele Bilder, viele Vorbilder. Doch es gab nicht mich. Vielleicht war es noch eine ganzheitliche Erfahrung, als an meinem Kinderbett Mutter und Vater die Engel Gottes herbeigebetet haben und ich mit einem Amen auf den Lippen die Dunkelheit angenommen habe. Vielleicht berührte mich noch das Heil, als ich die erste Hostie empfing. Vielleicht war für mich Gottes Welt noch mit dieser Welt verwoben, als mir einmal die Tränen kamen, die Bibelworte hörend, dass Gott einmal alle Tränen abwischen wird und kein Tod mehr sein wird. Doch ich bin unheil geworden unterwegs. All die klugen Thesen und Theorien über Gott und die Welt sind zerstoben. Ich bin zurückgeworfen worden auf mich selbst. Ich erkenne: Die Antworten für mein Leben können nicht geborgt, nicht übernommen werden. Die Hüllen um mich herum, die ich brauche, um nicht zu zerbrechen an den Ängsten und Grenzen und Fragen dieses Lebens, muss ich selber finden. Ich bin leer geworden bei dem Versuch, die Fülle zu ergreifen. Leer geworden sind die vielen Worte, die ich gehört habe über Gott. Ich wollte dabei bleiben. Ich wollte verstehen. Ich hing an den Lippen vieler Lehrer. Ich kopierte ihre Worte. Ich führte den Streit der Meinungen. Ich dachte, es könne ewig so weitergehen: Ich als Teil der Welt von Gott und gleichzeitig irgendwie als Teil dieser Welt. Ich tat vieles, um beide Welten zusammenzuhalten, Gott plausibel zu machen, die Tür der alten Kirche offen zu halten. Doch ich habe mir die Wahrheiten nur geborgt. Über dem Studieren und Agitieren, über dem Kopieren und Kapieren, über dem Verfechten und Verteidigen von Wahrheiten ist mir Gott entschwunden. Wahr, wahr ist der Satz Sören Kierkegaards: »Du bist ersoffen in der Tinte deiner Theologen, lieber Gott.« 198
Zunächst war das nur ein Gefühl, aber ein beharrliches und erdrückendes Gefühl, dass der Wahrheitswahn der Religion Gott vertreibt. Nach einem Gespräch zwischen zwei Zeugen Jehovas und einem Pfarrer, dem ich beiwohnen musste, notierte ich in mein Tagebuch: »Ich fragte mich die ganze Zeit: Was ist Religion eigentlich für ein Phänomen? Sie bringt Menschen dazu, sich bis auf ’s Messer zu streiten. Wie oft fiel das Wort Gott in einer Vereinnahmung, die nicht zum Aushalten war. Oh, wie verstehe ich die Mystiker, die lieber schwiegen als redeten. Religion klebt – das war meine Empfindung bei diesem Gespräch. Religion ätzt, dachte ich nur. Sie treibt Keile zwischen Menschen. Sie bringt Menschen in den gefährlichen Zustand der Rechthaberei. Religion verbaut die Begegnung von Mensch zu Mensch.« Ich ließ los. Gott, wer bist du? Irgendwie schön und sicher war es, als ich meinte, dir in deinem Wort zu begegnen. Irgendwie gut war es, sich in den Gesängen, Gebeten, Gemeinden zu bergen – deine Welt inmitten dieser Welt. Irgendwie war auch noch alles klar, als ich dich entdeckte als Anwalt der Schwachen, Unterdrückten, Benachteiligten. Doch immer nur Geborgtes. Geborgter Gott statt Geborgenheit in Gott. Gott, wer bist du? Garant einer höhreren Gerechtigkeit? Bist du im Besitz einer Religion? Bist du die Brücke zwischen den Welten? Warum erscheinst du hier, in dieser Welt, mit so viel Ballast beladen? Warum ist da, wo du angeblich bist, so viel Bewerten und Beurteilen, Verstoßen und Verurteilen, Belauern und Bekämpfen? Ich frage mich: Ist ein Leben ohne Gott leichter? Ich werde leer. Viele Worte ziehen aus. Viel Eifer, viel Zwang, viel Sicherheit verlassen mein Seelenhaus. Das Gotteskind wird erwachsen. Der Gotteskrieger streckt die Waffen. Diese Welt entfaltet ihre Schönheit und Fülle. Ich muss nichts mehr verteidigen und verurteilen. Ich öffne mich. Ich werde weit, ich werde leer, ich werde erfüllt. 199
An die Stelle des Gottesmäntelchens treten eigene Seelenhautschichten. Ich erkenne mich in anderen. Ich genieße. Ich werde leicht. Ich werde beschenkt mit dieser Welt, mit diesem Leben. Ich bin dem Geheimnis der Liebe näher auf der Spur denn je. Und Gott? Der Draht zu ihm bleibt. Die Antenne ist da. Vielleicht war der Sender nur falsch eingestellt. Das fast geheime, eher gefühlte Wissen um die andere Dimension, um Gott, ist da, fast voller und tiefer denn je. Ich bin gespannt, welche Entdeckungen noch kommen werden. Ich ahne, dass Gott dort beginnt, wo man fertige Wahrheiten losgelassen hat und sich selbst gefunden hat. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Mystiker recht hatten: Je leerer ich bin, desto mehr kann ich erfüllt werden. Ich kann mich versöhnen mit meinem Weg. Mit verbrannten Händen kann ich wieder die schwere Doppelflügeltür der alten Kirche öffnen. Ich betrete einen Raum, der sich geweitet hat, der sinnbildlich für die Weitung aller Grenzen steht, auch der letzten Grenze im Leben. Ich bin froh um diese Dimension. Ich muss mir trotzdem Worte leihen, um das, was »Gott« meint, auszudrücken. Doch es sind nun Worte jenseits des Donnerns, Worte ohne Eifer, Worte, die Liebe und Weite atmen. In Christoph Schlingensiefs Tagebuch seiner Krebserkrankung finde ich Sätze, die meinem Tasten nach der anderen Welt, meinem Tasten nach Gott Ausdruck verleihen: »Wenn man in solchen Situationen steckt, ist es das größte Glück, Momente der Emotionalität und Spiritualität zu erleben. Mich beschäftigen diese Verbindungen zur Welt über mir, sie wühlen mich auf, und ich spüre, dass da in mir wieder etwas auftaucht, was ich vergraben hatte. Und deshalb will ich diese Momente nicht missen.« Und einstimmen kann ich in seinen Gedanken: »Man müsste das Gottesprinzip viel stärker als frohe Botschaft etablieren, als frohen Gedanken, als Freiheitsgedanken, als Friedensgedanken.«
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Alexander Garth
Kein Gott – eine gute Nachricht? Atheismus auf Missionstour
m Mai/Juni 2009 fuhr ein Werbebus durch Deutschland. Seine Botschaft: »Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott.« So stand es draußen groß dran. Ist das eigentlich eine gute Nachricht? Zunächst ist dieser Satz ein Glaubensbekenntnis und als solches nicht einfach wissenschaftlich verifizierbar, auch wenn einige Anhänger dieser Aktion glauben, sich auf die reine Wissenschaft berufen zu können. Aber gibt dieses Bekenntnis Anlass zur Freude und zur Hoffnung? Nun, das ist wie bei allen Glaubensbekenntnissen eine Standortfrage. Atheisten glauben mit vielen soliden Argumenten, dass Religion generell den Menschen verdumme und ihn an der Entfaltung eines selbstbestimmten und guten Lebens hindere. Religion sei wissenschafts- und fortschrittsfeindlich, weil sie die Realität verzerre, indem sie eine Scheinwelt herbeifantasiere. Der Mensch werde auf ein wie auch immer geartetes Jenseits vertröstet und verliere damit den Drive, das Diesseits positiv zu verändern. Wer an den Himmel glaube, finde sich eher mit einer defizitären Welt ab. Religion gelte als die Quelle des Bösen schlechthin. »Gott ist ein perverser schädlicher Gedanke. Er gehört ausgerottet«, verkündet der Evolutionsbiologe Richard Dawkins. Eine glückliche Menschheit sei nur ohne Religion denkbar. Eine hoffnungsvolle Zukunft und Atheismus gehören sozusagen zusammen. So erscheint es nur folgerichtig, wenn einige Enthusiasten des Atheismus für die Befreiung des Menschen vom schädlichen Gottglauben aufrufen, um endlich jede Religion vom Angesicht der Erde zu tilgen. Ihre Wortfüh-
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rer sind kluge, wissenschaftlich gebildete Leute. Sie nennen sich »neue Atheisten« und denunzieren Religion als etwas Dummes und Böses. Tut man sich in ihren Schriften um, so springt einem ein Missionseifer entgegen, der den Charme von russischen Agitatoren der 20er-Jahre hat, die einem alten Mütterlein den Glauben an den lieben Gott ausreden wollen. Woher kommt nur diese Beflissenheit, fragt man sich?
Glaube contra Glaube War es in den letzten Jahrzehnten – abgesehen von kommunistischen Ländern – ziemlich ruhig gewesen um das Thema Atheismus, so flammt in unseren Tagen eine Leidenschaft zum Missionieren für ein Leben ohne Gott auf. Noch in den 1980erJahren waren sich die Atheismus-Freunde sicher, dass sich das Phänomen Religion mit der Zeit von selbst erledigen werde, wenn die Menschheit nur genügend mit Bildung und Wohlstand versorgt sei. Diese Hoffnung hat sich als Trugschluss erwiesen. Gerade Gesellschaften, die stark im Aufschwung sind (wie zum Beispiel Südkorea oder China), öffnen sich dem christlichen Glauben in einem für Europäer unvorstellbaren Maß. Der Atheismus befindet sich weltweit auf dem Rückzug. Religion ist angesagt. Davon spüren wir im alten Europa nicht viel. Aber der globale Trend in Richtung Glauben ist eindeutig. Könnte es sein, dass angesichts einer sich selbst bei uns vorsichtig anbahnenden religiösen Renaissance einige streitbare Atheisten in Panik geraten, dass der Glaube im Kampf mit der Säkularisierung doch Sieger bleiben könnte? Dabei bekommt gerade im englischsprachigen Raum die Diskussion eine aggressive Dynamik. Der Auslöser dafür liegt sicher nicht nur im weltweiten Erstarken von Religion. In den USA gibt es einen rechtslastigen christlichen Fundamentalismus, der auch viele Christen beunruhigt. Fast überall auf der Welt kann man eine Radika202
lisierung und Fundamentalisierung von Religion beobachten. Von diesem Trend ist auch der Atheismus als quasireligiöse Ideologie erfasst. Der Glaube, dass es »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Gott gibt«, ist eben auch ein Glaube, wenn man unter Glauben in atheistischer Lesart eine fragwürdige Annahme versteht. Es gehört schließlich ein großer Glaube dazu, dass sich ganz von selbst aus grünem Urschleim ein die Zauberflöte komponierender Mozart entwickelt hat. Da erscheint es schon einsichtiger, an einen unendlich intelligenten Weltenschöpfer zu glauben.
Eine Gesellschaft ohne Glauben? Wäre eine atheistische Gesellschaft wirklich die bessere? Bedeutet Atheismus eine Verbesserung der Lebensqualität und der Zukunftsaussichten der Menschheit? Hier melden sich heftige Zweifel. Jürgen Habermas, der vielleicht wichtigste Denker der Gegenwart, eine Ikone atheistischer Philosophie, gibt in seiner Diskussion mit Joseph Ratzinger, damals noch Kardinal, zu bedenken, »dass einer zerknirschten Moderne nur noch die religiöse Ausrichtung auf einen transzendenten Bezugspunkt aus der Sackgasse verhelfen kann«. Das kann man auch einfacher ausdrücken: Die Moderne hat sich in Illusionen verrannt. Der Ausweg ist der Glaube an Gott. Was Habermas hier einräumt, gleicht für nicht wenige einem Verrat am gottfreien Denken. Aber genau das führte uns in die Sackgasse. Eine Gesellschaft ohne Gott verlässt den Boden, auf dem Werte gedeihen können. Wo sollen denn die Werte herkommen, ohne die eine Gesellschaft zugrunde geht, weil sie keine gemeinsamen Ideale für das Zusammenleben der Menschen mehr entwickeln kann? Von der Wirtschaft? Vom Staat? Von der Philosophie? Die Zukunftsfähigkeit unserer abendländischen Kultur hängt entscheidend davon ab, inwiefern sie eine Rückbesinnung auf die Wurzeln des 203
christlichen Glaubens mit seinen Kraftquellen, seiner Spiritualität, seinem Humanismus, seinen Werten und Tugenden vollzieht. Der Atheismus bekennt sich zum abendländischen Humanismus. Aber der ist ohne seine christlichen Wurzeln, ohne den barmherzigen Samariter als Modell für Nächstenliebe, ohne die Zehn Gebote, ohne die Bergpredigt überhaupt nicht denkbar. Trennt man ihn von seinen Wurzeln, dann verliert er seine Lebendigkeit und seine Potenz. Beraubt man ihn seiner transzendenten Quellen, dann verkommt er zum Utilitarismus, zum bloßen Nützlichkeitsdenken und zum Hedonismus, der Genuss zum obersten Prinzip erhebt. Das Tun des Guten hat keinen dem Menschen vorgegebenen Sinn mehr. Es ist nur noch gut, weil es dem Menschen irgendwie nützlich ist und Genuss verschafft. Das Ende von good life ist meistens auch das Ende von good will. Es gibt keine wirkliche Richtschnur mehr für Gut und Böse. In grauenvoller Einsamkeit gibt sich der Mensch sein eigenes Gesetz. Das war das Lebensthema des genialen atheistischen Vordenkers Friedrich Nietzsche. Gibt es keinen Gott, dann gibt es letztlich keine Moral. Der Mensch vergötzt sich selbst. Was ihn treibt, ist der durch kein Sittengesetz mehr domestizierte Wille zur Macht und zum Genuss. Diese Selbstvergötzung des Menschen hat in der Geschichte dort, wo Gott abgeschafft wurde, schreckliche Konsequenzen gezeitigt: die Vergötzung von Rasse, Blut, Boden und Nation durch die Nationalsozialisten, der neue sozialistische Mensch eines Mao, Lenin, Stalin und Pol Pot. Den Vätern des Grundgesetzes war der Bezug auf Gott in der Präambel von größter Wichtigkeit: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen.« Die Erwähnung Gottes ist keine religiöse Dekoration, sondern Gott ist der Garant der unantastbaren Würde des Menschen. Wir haben in unserer Geschichte schmerzlich erfahren, dass die Würde des Menschen fürchterlich antastbar wird, wenn der Mensch seine Würde durch Rasse und Nation definiert. Es 204
gibt keine radikalere Begründung der Gleichheit jedes Menschen als der christlich-jüdische Gedanke der Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Wenn der Mensch Gott abschafft, dann besteht die Gefahr, dass der Mensch auch den Menschen abschafft. Wenn wir die Würde und den Wert des Menschen abhängig machen von Rasse, Nation, Herkunft, Einstellung oder Nützlichkeit für das Gemeinwohl oder die neue kommunistische Gesellschaft, dann sind die Tore weit dafür geöffnet, dass ganzen Gruppen von Menschen oder gar Völkern das Recht zum Leben abgesprochen wird. Die Nazis sprachen von »lebensunwertem« Leben. Ein Begriff, der Gott ins Angesicht schlägt. Es rächt sich fürchterlich, wenn wir die Existenz des Menschen von einem Schöpfergott abschneiden. Der Mensch wird beliebig manipulierbar, weil er jeden Maßstab für Gut und Böse verloren hat. Es ist leichter, Zufallsprodukte einer mechanistischen Evolution umzubringen als von Gott geliebte Geschöpfe. Man muss schon einen gründlich verstellten Zugang zur Wirklichkeit haben, wenn man übersieht, dass die Beseitigung Gottes mehr Elend und Leid über diese Welt gebracht hat als alle Religionen zusammen. Nicht nur Kirchenleute warnen vor den Folgen einer glaubenslosen Gesellschaft. Selbst ein Sozialist wie Gregor Gysi wird bei der Aussicht auf eine gottlose Gesellschaft von Grauen gepackt. In einem Gespräch mit Johannes B. Kerner sagte er: »Eine gottlose Gesellschaft, das heißt eine Gesellschaft ohne jede Orientierung, eine Gesellschaft des reinen Pragmatismus, wo man heute das denkt und morgen jenes denkt und überhaupt keine moralisch einigermaßen verbindlichen Maßstäbe mehr hätte.« Dem Atheisten graut es vor der Gottlosigkeit und ihren Folgen. Ich kenne viele Atheisten, die sehr feine und durchaus edle Menschen sind. Einige sind meine Freunde. Bei aller Sympathie für sie und allem Respekt vor ihrer Weltanschauung, halte ich den Atheismus für keine gute Nachricht. Mir graut es vor dem autonomen Menschen, der sich selbst und den Abgründen, die 205
sich in jedem auftun, ausgeliefert ist. Wenn ich diese Bedenken mit meinen atheistischen Freunden teile, geben sie mir recht. Sie sagen: »Eigentlich macht uns eine Welt ohne Gott, die steuerlos auf eine ungewisse Zukunft zurast, Angst. Es wäre schön, wenn du recht hättest mit deinem Gott und deinem Glauben. Es wäre schön, wenn es einen Gott gäbe, der alles in der Hand hält und durch den ganz am Ende eben doch alles gut wird.« Und dann bedauern sie, dass sie leider nicht glauben können.
Die Sinnfrage Ohne Gott gibt es keine sinnvolle Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Ich habe viel mit jungen Menschen zu tun und merke, wie viele die Frage »Wofür lebe ich eigentlich?« und »Was ist der Sinn meines Lebens?« umtreibt. Die gängigen Antworten, dass der Sinn des Lebens in der Weitergabe von Leben besteht, genügt nur Flachdenkern. Wie kann die Weitergabe von etwas, dessen Sinn nicht geklärt ist, sinnvoll sein? Die andere populäre Ansicht, dass der Sinn des Lebens im Genuss besteht, ist noch öder. Was ist mit den Millionen von Menschen, denen echter Lebensgenuss versagt bleibt, weil sie entweder krank, behindert oder ausgebeutet sind? Ist deren Leben sinnlos? Was ist mit dem alten Menschen, der im Altersheim liegt und nur noch sein Sterben vor sich hat? Ist sein Leben sinnlos? Der atheistische Glaube hat keinen sinnvollen Beitrag zu den Themen Leid und Tod. Es gibt Menschen, welche die Absurdität des Lebens ganz gut verdrängen oder philosophisch à la Jean-Paul Sartre veredeln. Und es gibt Menschen, die daran zerbrechen. Vor einigen Jahren bat mich eine alte Dame um ein Gespräch. Ihre 14-jährige Enkeltochter war aus dem Fenster gesprungen. Gott sei Dank konnte sie gerettet werden. Auf ihrem Schreibtisch fand man einen Abschiedsbrief. Darin standen die Worte: »Ich sehe keinen Sinn im Leben.« 206
Vom Ziel des Lebens Der atheistische Philosoph Michel Onfray antwortete in einem Interview auf die Frage nach dem Woher und Wohin menschlichen Lebens: »Vom Urknall über die Evolution bis heute wirkte eine Art Mechanik materialistischer Kausalität. Und wohin gehen wir? In Richtung unseres Verschwindens. Die Kritik der reinen Vernunft, Beethovens Fünfte – nichts wird bleiben.« Das säkulare Weltbild macht den Menschen zu einem Wanderer ohne Ziel. Sein Leben ist eine Reise ohne Ankunft. Wir gleichen Kindern, die den Weg nach Hause nicht wissen. Wenn wir kein großes Ziel haben, ist unser Leben immer von Sinnlosigkeit bedroht. Dann müssen wir eines Tages, wenn wir nur noch den Tod vor Augen haben, in ein dunkles, unheimliches Nichts blicken. Atheismus ist das Nirwana der Seele, weil er kein Ziel kennt. Der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) schrieb am Ende seines Lebens: »Nur Gott kann uns noch retten. Wenn Gott als der übersinnliche Grund und das Ziel aller Wirklichkeit tot ist, dann bleibt nichts mehr, woran der Mensch sich halten und wonach er sich richten kann. Der Nihilismus, der unheimlichste aller Gäste, steht vor der Tür.« Ich bin als Pfarrer oft in Altersheimen. Dort habe ich den Unterschied zwischen denen, die nicht an Gott glauben, und denen, die ihn kennen und lieben, gesehen. Ich habe die Hoffnungslosigkeit in den Augen alter Menschen, ihre Verzweiflung und Bitterkeit über ein nun leeres, zielloses Leben gesehen. Und habe in die leuchtenden Augen derer geblickt, die das Ziel ihres Lebens kannten, weil sie an Gott glaubten. Wir verkennen die Tiefendimension menschlichen Lebens und verengen den Blick auf seine physische Existenz, wenn wir die Gesamtheit menschlicher Existenz aus den Augen verlieren und sie nur noch als irdische wahrnehmen. Wir verlieren uns in einer dumpfen Diesseitigkeit. Unsere Wesensbestimmung kommt eben nicht in diesem Leben zur letztgültigen Bestimmung. Das 207
ist eine fundamentale Erkenntnis der menschlichen Geistesentwicklung. Der Mensch findet das Ziel und die Erfüllung seines Daseins eben nicht nur in diesem Leben. In allen menschlichen Kulturen finden wir diesen Gedanken. Nur der Materialismus der Moderne reduziert den Menschen und seine Bestimmung auf seine irdische Existenz. Der Mathematiker und LiteraturNobelpreisträger Bertrand Russell sagt: »Solange man nicht annimmt, dass es einen Gott gibt, bleibt die Frage nach dem Ziel des Lebens sinnlos.« Ein letztlich zielloses Leben aber ist keine gute Nachricht. Müssen wir dann nicht alles aus dem bisschen Leben herausholen? Ist dann nicht eine unersättliche Lebensgier mit schrecklichen Folgen unser ständiger Begleiter?
Der Triumph des Bösen Das säkulare Weltbild ist unmoralisch. Wenn es keinen Gott gibt, dann würde am Ende das Böse siegen. Es gäbe keine letzte Rechenschaft, die der Mensch für die Früchte seines Lebens vor einem Gott ablegen müsste. Die Ausbeuter und Herrscher, die Todes- und Verderbensbringer der Geschichte, die Hitlers und Stalins dieser Welt würden am Ende recht behalten. Es gäbe keinen ewigen Richter, der sie mit den Früchten ihres Lebens konfrontiert und sie das Verderben ernten lässt, das sie gesät haben. Es würden die recht behalten, die lebten, weil andere krepierten; die sich bereicherten, weil andere Mangel litten; die im Luxus schwelgten, weil andere im Elend schmachteten; die sich ihre fetten Bäuche vollschlugen, weil andere hungerten. Das Unrecht dieser Welt würde vergeblich zum Himmel schreien, denn kein Gott würde es hören und richten. Menschen wie Sophie Scholl oder Dietrich Bonhoeffer, die für das Gute gestorben sind, wären Dummköpfe und Verlierer der Geschichte. Dass es keinen Gott gibt, der das Böse richtet, ist keine gute Nachricht. Atheismus bedeutet die ins Unendliche verlängerte Ungerechtigkeit. 208
Kein Gott, der mich hält Wenn es keinen Gott gibt, dann wäre der Mensch völlig auf sich selbst gestellt in einem kalten und sinnlosen Universum. Er wäre den Abgründen in sich und der Bosheit dieser Welt hilflos ausgeliefert. Es gäbe keinen Gott, der die Herzensschreie von Menschen erhört. Niemand spräche zu uns: »Du lebst, weil ich dich will! Du bist da, weil ich dich liebe!« Wir wären nichts weiter als Produkte eines paranoiden Zufalls, in ein kaltes, sinnloses Leben geworfen, verurteilt, um uns selbst zu kreisen, um unsere kleine Ego-Welt. Das Leben wäre eine belangloser Kreislauf von Bedürfnisbefriedigung. Ohne Gott gibt es keine Antwort auf die Fragen, woher ich komme, wozu ich da bin und wohin ich gehe. Das Herz friert und die Seele dürstet. Da ist keine Liebe, die uns Menschen ins Leben rief, die uns begleitet und uns ein Ziel setzt. Das Leben wäre ein Tanz auf der Falltür zum Nichts. Der Mensch hätte nichts zu hoffen, außer das, was er unmittelbar vor Augen hat. Atheismus ist die Falltür ins Nichts. Das ist keine gute Nachricht.
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Jakob Hein
Wirklichkeitserschließung – Sinnsuche – Gottesfrage Zum Dialog von Kunst und Theologie
er Begriff der Aufklärung geht auf das lateinische clarus zurück und bedeutet mithin, Helligkeit beziehungsweise Deutlichkeit in eine Sache zu bringen. Und doch sind durch die rationalen Erklärungsansätze, die spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung prägenden Einfluss auf die Kultur der Auseinandersetzung in der westlichen Welt gewonnen haben, auch eine Vielzahl neuer Fragen entstanden, die so lange vernachlässigt worden sind, dass sie nun mit zunehmender Dringlichkeit beantwortet werden wollen. Die durch die Aufklärung gebahnte nüchterne Herangehensweise der Naturwissenschaften an die Welt hat unsere Erkenntnis derselben zweifellos auf großartige Weise vorangebracht. Die tiefsten Meere, die höchsten Berge, der absolute Nullpunkt der Temperatur und die höchste mögliche Geschwindigkeit konnten erforscht werden. Es konnte gezeigt werden, dass die Stoffe nicht nur aus Atomen, sondern sogar die subatomischen Partikel ihrerseits wiederum aus winzig kleinen Bausteinen zusammengesetzt sind, deren physikalische Eigenschaften die Existenz von elf statt der uns vertrauten drei Dimensionen belegen, sodass es als sicher gelten kann, dass in einem gebührenden Abstand in der Zukunft die Menschen unser heliozentrisches und dreidimensionales Weltbild ebenso belächeln werden wie wir das geozentrische Weltbild mit der zweidimensionalen Vorstellung von der Erde als einer Scheibe. Durch einen beispiellosen Sprung der Medizin konnte die Le-
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benserwartung der Menschen mehr als verdoppelt, konnten Krankheiten ausgerottet werden. Auf derselben Erde, auf der noch vor wenigen Hundert Jahren weiße Flecken zu finden waren, kann man heute von denselben Orten seine Mutter anrufen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, mit einem Telefon, das nur ein paar Hundert Gramm wiegt und mit dem man gleichzeitig Termine speichern und Fotos machen kann. Der Fortschritt ist, im übertragenen und häufig auch im wörtlichen Sinne, atemberaubend. Und doch bleiben Fragen offen. »Kein Problem!«, rufen die Rationalisten munter aus ihren Labors heraus. »Schreibt die Fragen einfach auf, steckt sie in den Briefkasten vom Institut und wir schicken euch morgen die Antwort. Lediglich der Mangel an Zeit und natürlich an Geld ist schuld daran, dass wir noch nicht alle Fragen beantwortet haben. Wenn aber genug Zeit vergangen ist, werden wir auch alle Antworten präsentieren können. Philosophie, Theologie und sowieso Psychiatrie, das alles ist doch bloß schlechte Neurologie. Wenn wir endlich alles darüber herausgefunden haben, wie das Gehirn funktioniert, dann werden alle Geisteswissenschaften in der Neurologie aufgehen.« Es ist gut, es ist sogar zwingend notwendig, dass es Menschen mit solchen Ansichten gibt. Ständige Zweifel an der Machbarkeit, das Äußern von Einsprüchen und das bedenkliche Wiegen des Kopfes waren nicht die Motoren der menschlichen Entwicklung. Aber jede gute Maschinerie braucht neben dem Motor auch eine funktionierende Bremse, damit Ersterer nicht, völlig überhitzt, sich kaputt läuft. Im Übrigen ist das auch eine wichtige Erkenntnis der Neurowissenschaften der letzten zwanzig Jahre, dass im Nervensystem ausgeklügelte Bremssysteme dominieren und Leistung durch das kontrollierte Lösen solcher Bremsen funktioniert. Jede Entwicklung kann mit der Bewegung eines Pendels verglichen werden. Nachdem eine Seite stark dominierte, schlägt das Pendel besonders heftig zur anderen Seite aus. Ein harmo211
nisches Gleichgewicht wird dann erreicht, wenn das Pendel mit sanften Bewegungen leicht um den Schwerpunkt schwingt. Das ist kein Stillstand, sondern der Zustand, auf dem auf das Pendel von allen Seiten mit gleich großer Kraft eingewirkt wird.
Wissenschaft Mein Lehrer der Embryologie, ein ausgezeichneter Pädagoge, der zu Beginn seiner Vorlesungen stets einen winzig kleinen Zettel auf sein Pult legte und dann zwei Stunden lang die Entstehung des menschlichen Körpers von der Zeugung bis zur Geburt referierte und dabei zeitgleich die riesigen Tafeln unseres anatomischen Hörsaals mit druckreifen, vierfarbigen Kreidezeichnungen bedeckte – waren alle der sechs verschiebbaren Tafeln voll mit Zeichnungen, eilte der Vorlesungsassistent nach vorn, um die erste abzuwischen –, dieser ausgewiesene Kenner der Embryologie hielt eines Tages kurz in seiner Vorlesung, in der es um die Entstehung des menschlichen Gehirns und die Migration der berühmten kleinen grauen Zellen vom Inneren der Hirnanlage zu deren Äußerem ging, inne und sagte, während wir Studenten uns wie immer abmühten, seine Zeichnungen in unseren Heftern nachzuvollziehen: »Ich sage Ihnen das alles, aber ich sage Ihnen auch: Was immer über diese Dinge herausgefunden werden wird, so ist es doch klar, dass es auch ein Wunder ist.« Die Wahrheit dieses Satzes liegt auf vielen Ebenen. Der alte Professor Schulz war kein religiöser Mensch und er meinte diesen Satz nicht in einem christlichen Sinne. Entstehen und Geburt des Menschen sind, auch wenn sie uns als eine solche Selbstverständlichkeit erscheinen, dass wir darüber nur noch selten grundlegend nachdenken, physikalisch gesehen unwahrscheinliche Vorgänge. Die thermodynamische Größe der Entropie ist ein Maß für die Unordnung eines Systems. Erhöht sich durch 212
einen Prozess die Unordnung eines Systems, ist der Prozess irreversibel, bleibt die Entropie gleich, so ist der Prozess umkehrbar. Soweit die Physik, derzufolge Tod und Zerfall des menschlichen Körpers viel wahrscheinlichere Prozesse sind als Zeugung und Geburt. Ja, genau genommen sind letztere Prozesse sogar nicht möglich, weil sie die Entropie des Weltalls vermindern, ein System weitaus höherer Ordnung entsteht als die Essensteile, Getränke und der Sauerstoff, aus denen es sich letztendlich zusammensetzt. Und doch geschehen sie täglich und sind somit, rein rational betrachtet, ein Wunder. Dennoch gelingt es uns nicht, die Entropie gänzlich zu verlachen, da wir ahnen, dass Tod und der Zerfall unserer Körper tatsächlich sehr wahrscheinliche und sehr unumkehrbare Prozesse dieser Welt sind. So verbringen wir einige flüchtige Tage zwischen dem Wunder unserer Geburt und der Gewissheit unseres Todes. Auch wenn wir diese Zeit durch Investitionen in Medizin erheblich verlängern konnten, so werden wir diesen Spannungsbogen doch niemals aufheben können. Wo finden wir Antworten für dieses Dilemma unserer Existenz?
Fortschritt Durch unser Interesse für unsere Umwelt und deren Veränderbarkeit sind wir wahrhaftig zu den Beherrschern der Welt geworden, haben wir uns über den Rest des Tierreichs erhoben. Doch auch diese Medaille um unseren Hals hat zwei Seiten. Mithilfe unseres überragenden Verstandes ist es uns gleichzeitig gelungen, systematisch, zielgerichtet, regelmäßig und ohne äußeren Anlass mittels Mord, Krieg, der Verschiebung von Ressourcen auf unserer überreichen Erde und anderen Methoden unsere eigenen Artgenossen töten. Mit Faszination betrachten wir die Gottesanbeterin, eine Insektenart, bei der das Weibchen nach dem Paarungsakt das Männchen verzehrt. Doch welche 213
Bedeutung hat dieses genetisch programmierte und biologisch erklärbare Verhalten im Vergleich zu unserer Art, die es geschafft hat, die Vernichtung eigener Artgenossen in einem industriellen Maßstab zu betreiben? Denn schließlich, was machen wir mit unseren Erkenntnissen von der Welt und unseren Möglichkeiten, selbst wenn wir unsere grausamsten Erfindungen wie Krieg und die Vernichtung des Planeten, auf dem wir leben, einmal außer Betracht lassen? Je höher wir entwickelt sind, desto weniger müssen wir noch körperlich arbeiten. Diesen Luxus haben wir jedoch nicht für ein großartiges Gleichgewicht zwischen Arbeit und Erholung genutzt. Stattdessen ist die verbliebene Arbeit sowohl global als auch lokal völlig ungleichmäßig verteilt. Während in einem Wohlstandsstaat die einen nichts mehr zu tun haben und darüber ihres Sinns im Leben verloren gehen, versetzen die anderen mittels ihres Kopfes ihre Körper in einen solchen Stresszustand, als würden sie sich auf einer tödlichen Jagd ums eigene Überleben befinden. Dabei haben fast alle immer satt zu essen, wohltemperierte Wohnungen, gute Kleidung und alles andere, was wir zum Leben brauchen. Dennoch können wir nichts davon genießen, weil uns jedes erreichte Ziel allein schon durch das Erreichen zu wenig ist. Während Tiere satt in der Sonne liegen können, obwohl bösartige Raubtiere ein paar Hundert Meter von ihnen entfernt liegen, sind wir niemals mehr entspannt. Die Hormone für Flucht oder Kampf pulsieren ständig im Körper und rauben uns den Schlaf selbst in unseren sicheren Wohnungen. Eine interessante Frage, die leider wissenschaftlich nicht exakt zu untersuchen ist und deren Antwort nur bei weitgehender Genauigkeit von Wert und Interesse wäre: Wie ist das Verhältnis von Lebenstagen, welche die Menschheit sich geschenkt hat durch Medizin und Arbeitsteilung, gegenüber den Lebenstagen, welche die Menschen einander gestohlen haben? Intuitiv drängt sich die Antwort null auf. Als es nur Armbrüste gab, steckte auch 214
die Medizin noch in ihren Anfängen, heute, im Zeitalter von Intensivstationen und Rettungshubschraubern, Robotern und wirksamen Impfungen gegen Dutzende Erkrankungen, gibt es auch Atom- und Neutronenwaffen, biologische und chemische Kampfstoffe sowie die globale Erwärmung. Sollte also unter dem Strich eine Null stehen oder wäre die Bilanz sogar negativ, welchen Sinn hat es dann gehabt, dass wir von den Bäumen stiegen und uns die Erde untertan machten? Wäre es für unsere Art und in der Tat für den gesamten Planeten nicht besser gewesen, wir hätten nichts aus unseren Daumen und der gefältelten Großhirnrinde gemacht? So streben, schwanken, stolpern wir beständig unter dem Banner der naturwissenschaftlichen Weiterentwicklung voran, obwohl unsere Weiterentwicklung bei streng naturwissenschaftlicher Betrachtung möglicherweise einen Rückschritt in der Entwicklung unserer Welt bedeuten könnte. Wo finden wir Atempausen, Orte, um auszuruhen von diesem rasanten Lauf?
Verstehen Das menschliche Zentralnervensystem teilt den überwiegenden Teil seiner Eigenschaften mit den Zentralnervensystemen anderer Tierarten. Von hier aus werden Atmung, Nahrungsaufnahme, Erhaltung der Art und Selbsterhaltung koordiniert. Der wesentliche Unterschied ist die hoch entwickelte, zum Zwecke der Oberflächenvergrößerung kompliziert gefältelte Hirnrinde. Von hier aus kann der Mensch über alle möglichen Dinge reflektieren, am häufigsten tut er dies im Übrigen über solche Dinge wie Nahrungsaufnahme, Erhaltung der Art und des Selbst. Aber irgendwo in diesem unvergleichlich komplexen System hat sich beim homo sapiens sapiens noch eine weitere, gänzlich artspezifische Grundeigenschaft eingeschlichen, die dennoch so essenziell, so unausweichlich, so wenig abstellbar 215
wie das Atmen und die Nahrungsaufnahme für ihn sind: das Verstehen. Der Schriftsteller Kurt Vonnegut, der leider zu humorvoll war, um in seiner wirklichen Größe wahrgenommen zu werden, hat dies in einem Gedicht unübertrefflich dargestellt: Der Vogel muss fliegen Der Tiger muss jagen Der Mensch muss Warum? Warum? sich fragen. Der Tiger kann schlafen Der Vogel kann landen Der Mensch kann sich sagen, er hat es verstanden. Zwar sind wir im Schlaf von dieser conditio humana befreit, aber wir können kaum ins Bett gehen, ohne unsere Welt verstanden zu haben. Es ist keine Entscheidung, kein Wollen, wir müssen unsere Welt verstehen. Die Entscheidungen der Politiker, die Entscheidungen unseres Vermieters, die Entscheidungen unserer Kollegen, die Entscheidungen unseres Ehepartners und vor allem natürlich unsere eigenen Entscheidungen, den ganzen Tag reden und denken wir, diese Entscheidungen in unsere Welt so einzubetten, dass wir sie verstehen. Naturkatastrophen, das heutige Wetter, die Lebensmittelpreise, die Alkoholabhängigkeit unseres Nachbarn, das alles meinen wir zu verstehen. »Zwanghaft« wäre ein gutes Wort an dieser Stelle, aber psychopathologisch setzt der Begriff des Zwanges die eigene Einsicht in die Unsinnigkeit der ausgeführten Handlungen oder Gedanken voraus. Es ist kein Zwang, dieses Gebot des Verstehens, die Unfreiheit des Nicht-Verstehens ist eine fest verdrahtete, unausweichliche Eigenschaft des menschlichen Geistes. Mit Sicherheit ist es neben der Opposition des Daumens diese Eigenschaft, die uns vorangebracht hat, wie keine andere Tierart dies geschafft hat. Wie jede Generation vor uns haben wir uns die Welt auf bislang unvorstellbare Art erschlossen. Die Lichtgeschwindigkeit ist heute der Maßstab, an dem Informati216
onsübertragung gemessen wird, erwiesenermaßen die schnellste erreichbare Geschwindigkeit überhaupt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen holen wir uns Informationen vom anderen Ende der Welt, mit einer Tagesreise fahren wir selbst dorthin. Orte, die früher eine Tagesreise voneinander entfernt lagen, sind heute nur noch zwei hintereinanderliegende Abfahrten, die wir auf der Autobahn innerhalb von Minuten passieren. Aber was fangen wir an mit dieser unermesslichen Menge von Information? So schwer diese Frage auf den ersten Blick erscheint, so einfach ist sie zunächst zu beantworten: Wir verstehen sie, denn so sind wir beschaffen. Wir müssen immer alles verstehen, bloß dass das Verstehen mit zunehmender Informationsfülle zunehmend schwieriger wird. Während die meisten Menschen früher eine kleine Dorfgemeinschaft von wenigen Dutzend Menschen überblickten, die in aller Regel aus dem gleichen geografischen und kulturellen Zusammenhang kamen, spricht man heute gern und mit einigem Recht vom globalen Dorf. Schon in den früheren Dörfern war nicht alles zu verstehen, aber mit etwas Mühe konnte man sich vielleicht nach einiger Zeit doch der Wahrheit um einiges nähern. Aber es ist mit Sicherheit unmöglich, die ganze Welt zu verstehen. Einer der Gründe dafür mag schlicht darin liegen, dass die Welt nicht zu verstehen ist. Sie ist eine wundervolle Konstruktion aus Tausenden verschiedenen Welten, losen Zusammenhängen und bunten Gegensätzen. Sicherlich gibt es einige Gemeinsamkeiten, beispielsweise, dass alle Organismen aus Zellen bestehen oder erhitztes Wasser irgendwann kocht. Aber solche Erkenntnisse, so zentral sie auch sein mögen, bedeuten natürlich noch lange nicht, die Welt rational zu begreifen. Selbst wenn man über immense, scheinbar unerschöpfliche Mittel verfügt, scheint es nicht möglich zu sein, auch nur einen Ausschnitt der Welt ausreichend zu verstehen, wie man an den politischen Fehlentscheidungen ganzer Imperien ablesen kann. Allein dieser Umstand, dass die Welt selbst bei Strafe des eigenen Unterganges nicht 217
ausreichend zu begreifen ist, wenn man mehr Geld, mehr kluge Köpfe, mehr Macht als der Rest der Welt zusammengenommen hat, ist ein Mysterium an sich. Doch trotz dieser Schwierigkeiten geben die Menschen nicht auf. Sie wollen, sie müssen verstehen. Darum blühen überall Verschwörungstheorien, Zeitungen, die sich mit allem anderen als mit Politik beschäftigen, und nationalistische Weltbilder. Vom Blickwinkel der Ideologie aus hat man schon verstanden, bevor man noch das Problem gehört hat. Aber wo können wir unseren Wunsch nach Verstehen jenseits von Ideologien befriedigen?
Versuch eines Fazits Wo die Antworten auf die skizzierten Fragen liegen könnten, ist wohl offensichtlich. Sie liegen jenseits von Naturwissenschaft und Sachverstand dort, wo das Ideelle, Nicht-Rationale seinen Platz hat. Die wichtigsten dieser Orte sind wohl Kunst und Religion. Beide begründen sich auf nicht Beweisbares und erfüllen tief verwurzelte Bedürfnisse der Menschen. Merkwürdigerweise scheint es beiden Ausdrucksformen der menschlichen Seele momentan schlecht zu gehen. Viel diskutiert ist natürlich der angebliche Verlust des Religiösen. Zwar ist es ein Fakt, dass die traditionellen Kirchen in Deutschland seit der Aufklärung massiv an Mitgliedern und Einfluss verloren haben. Das ist ganz selbstverständlich, weil der Geist der Aufklärung ja gerade gegen die Erklärungsmodelle und Gebote der Kirche gerichtet war. Dennoch muss man nur mit geschärftem Blick umhergehen, um überall die Yoga-Tempel, die spirituell ausgerichteten Kuren, die Horoskope in den Zeitungen, die nicht-wissenschaftlichen Heilmethoden sowie natürlich die Götzen von Markenmode und Statussymbolen als spirituelle Befriedigungen zu entdecken. 218
Ebenso scheint die Kunst in der Krise zu sein. Bildende Kunst und ernsthafte Bücher werden kaum noch rezipiert, ganz zu schweigen von den Opern oder Theatern, die nur noch in einem eigenen Biotop jenseits der Öffentlichkeit überleben. Der Film wird dominiert von der amerikanischen Industrie, die Produkte mit allen Vor- und Nachteilen einer Fließbandproduktion hervorbringt, und wirklich wahrgenommen wird vor allem das Fernsehen, das Fernsehen und abermals das Fernsehen. Neu entwickeln sich computergebundene Kunstformen wie Spiele oder Kunst im und mit dem Internet, die derzeit ähnlich belächelt werden wie seinerzeit die ersten bewegten Bilder, jedoch jetzt schon von einer nicht zu unterschätzenden Vielzahl von Benutzern wahrgenommen werden und auf diese Menschen also auch einen Einfluss ausüben. Die Fragen der Menschen werden bleiben, solange es Menschen gibt. Insofern wäre es ein Fehler von Kunst und Religion, die Spiritualität hinter sich zu lassen und sich hinauszubegeben auf das Terrain von Naturwissenschaft. Dort können sie nur untergehen, wie eine Taube kein Autorennen gewinnen kann. Die Regeln des Spiels sind andere, die notwendigen Voraussetzungen sind andere, so kann man nur verlieren. Die Kunst der Medizin hat sich auf das Terrain der Naturwissenschaft begeben. Das hat ihr riesengroße Gewinne eingebracht, aber doch erkennbar den Verlust der ihr einst innewohnenden Kunst, ein Verlust, dessen Probleme erst jetzt langsam ins Bewusstsein rücken. Der Boom alternativer Heilmethoden in der westlichen Welt spricht davon Bände. Kunst und Religion sollten sich selbstbewusst auf das Spirituelle konzentrieren, das ist ihre Stärke und Chance. So können sie die Antworten entwickeln, die derzeit vielleicht ähnlich unpopulär sind wie einst das heliozentrische Weltbild. Wenn sie wahr sind, werden sie sich durchsetzen.
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Uwe von Seltmann
»Ach Gottchen, sprach Lottchen«
ch Gott – mit diesen beiden Worten ist eigentlich schon alles gesagt. Ach Gott – in diese Worte kann jeder hineindeuten, was er möchte, gleich, ob er Gott als Schöpfer oder als Geschöpf des Menschen sieht, ob er an Gott glaubt oder nicht: Verzweiflung und Erleichterung, Dank und Bitte, Klage und Anklage, als Stoßseufzer herausgepresst oder achtlos als Alltagsfloskel dahingesagt. Damit könnte man es bewenden lassen, sich wieder vor die Glotze setzen oder ins Theater gehen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Wäre da nicht diese Stimme tief im Inneren, die den Menschen vom Tier unterscheidet und ihn – je nach Standpunkt und Stimmung – dazu befähigt oder verdammt, über sich selbst hinauszufragen und darüber zu sinnieren, ob es nicht doch so etwas wie ein höheres Wesen gibt. Den Begriff »höheres Wesen« benutze ich höchst ungern: Seit der Begegnung mit einem Straßenevangelisten, der in einer Fußgängerzone eine Leiter aufstellte, diese Leiter bestieg und sich ein Schild um den Hals hängte mit den Worten »Ich bin ein höheres Wesen«, sehe ich immer einen missionierenden Vollbart in einem karierten Holzfällerhemd vor mir, wenn von einem »höheren Wesen« die Rede ist. Und seitdem muss ich, wenn in einem Gespräch – und sei es noch so tiefsinnig – ein »höheres Wesen« zur Sprache kommt, erst einmal breit grinsen. Das geschieht jenseits meiner Kontrolle und kann zu Missverständnissen und Verstimmungen führen. Ich gehe also lieber umgekehrt als Heinrich Bölls Dr. Murke vor, der den Auftrag bekommt, das Wort »Gott« durch »jenes höhere Wesen, das wir verehren«, zu ersetzen, und tausche jenes höhere Wesen gegen
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Gott. Dass Gott nicht der rauschebärtige Opa ist, so wie ihn Julius Schnorr von Carolsfeld unnachahmlich und Generationen prägend in seiner Bilderbibel dargestellt hat, setze ich mal als bekannt voraus. Ach Gott – diese Worte wären meinem alten Deutschlehrer nicht über die Lippen gekommen. Dieser Dr. H., der Tacitus und Seneca ebenso freihändig zitieren konnte wie Goethe und Schiller, pflegte stattdessen zu sagen: »Ach Gottchen, sprach Lottchen«. Das, was als doppelte Verniedlichung so pädagogisch wertvoll erscheinen mag, war jedoch alles andere als harmlos und kindgerecht. Oberstudienrat Dr. H. legte in diesen Satz alle Verachtung, die er einem unwissenden Siebtklässler zumessen konnte – die Höchststrafe gewissermaßen, einer Hinrichtung gleich. Wer mit »Ach Gottchen, sprach Lottchen« bedacht wurde, der wusste: »Ich habe versagt und werde mich niemals den deutschen Dichtern und Denkern als würdig erweisen.« Gegen die Lieblingswendung von Dr. H. empfand ich stärksten Widerwillen. Zum einen, weil ich aus einem sehr frommen Elternhaus stamme, in dem das Gebot »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen« streng eingehalten wurde – nicht einmal »Ojemine« oder »ach herrje« durfte man sagen. Es kam mir also einer Gotteslästerung gleich, wenn Dr. H. den heiligen, ehrfurchtgebietenden Gott zu einem Gottchen, zu einer Witzfigur, erniedrigte. Vor allem, wenn es an meiner Reihe war, mit dem Verdikt belegt zu werden, erhoffte ich ein sofortiges Dazwischenfunken Gottes. Doch meine Stoßgebete um eine unmittelbare Bestrafung Dr. H.s wurden nicht erhört und der Kelch ging nicht an mir vorüber. Womöglich bekam in seinen Deutschstunden mein kindlicher Glaube, dass Gott einem jederzeit und überall zur Seite steht, erste Risse. War Gott wirklich der Allmächtige, »der alles so wunderbar regieret«, wenn Dr. H. ihn ungestraft lästern und zugleich seine Geschöpfe erniedrigen und peinigen durfte? Zum anderen empfand ich »Ach Gottchen, sprach Lottchen« 221
als unwürdig für Dr. H. selbst, als unter seinem Niveau. Wie konnte sich dieser hochgebildete Humanist und streng gescheitelte Katholik einer solch platten Phrase bedienen? Aber damals hatte ich noch nichts von Kurt Tucholsky und seinem Lottchen gehört, dieser ewig plappernden, etwas leichtlebigen Dame der späten 1920er-Jahre. »Ach du liebes Gottchen, behüte unser Lottchen vor Hunger, Not und Sturm und vor dem bösen Hosenwurm«, heißt es in Tucholskys Sommerroman Schloss Gripsholm. Die Vorstellung, dass Dr. H., dieser Erzreaktionär, Tucholsky gelesen haben könnte, scheint mir allerdings auch heute noch, über 30 Jahre später, eher unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich scheint mir, dass die Mutter von Dr. H. ihm als Kind den folgenden Reim vorgetragen haben könnte: »Ach Gottchen, / sprach Lottchen. / Sieben Kinder und kein Mann! / Die Kinder haben Läuse / und ich keinen Kamm!« Dafür war die Familie H. dann doch zu katholisch. Ach Gott – ist die Frage, aus welchen Gründen Dr. H. aus Gott ein Gottchen gemacht hat, nicht eher marginal? Ob er dafür beim Jüngsten Gericht zur Rechenschaft gezogen wird, ist da schon von größerer Bedeutung. Denn eines ist todsicher: Mit dem Gehirn hat uns Gott nicht nur den »Zwang eingepflanzt, ihn sich zu denken« (Peter Noll), sondern auch den Zwang, ständig an den Tod zu denken. Je älter man wird, desto öfter geschieht das, denn mit jeder Sekunde rückt das unausweichliche Ereignis des Sterbens näher. Wir können uns noch so sehr dagegen sträuben, aber es hilft nichts: Irgendwann trifft es jeden, ausnahmslos jeden. »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden«, mahnt die Bibel (Psalm 90, Vers 12). Und was kommt danach, nach dem letzten Gang, den jeder für sich und alleine gehen muss und dem keiner entfliehen kann? Himmel, Hölle, Fegefeuer? Ein Paradies mit tausend Jungfrauen? Das himmlische Jerusalem oder das ewige Nichts? Doch kündet es nicht eher von einem hohen Grad an Verdrängungskunst als von Klugheit, zu glauben, dass nach dem Tod 222
alles aus ist? Beweist nicht schon die tägliche Lektüre der Zeitung, dass es irgendwie irgendwo irgendwann noch eine andere, eine bessere Welt geben muss? Unser irdisches Dasein hat niemand treffender geschildert als Arthur Schopenhauer: »Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswert das Gewünschte war: so täuscht uns bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben, so war es, um zu nehmen.« Und so etwas wie Glück gibt es schon mal gar nicht: Es »liegt stets in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer dunklen Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: Vor ihr und hinter ihr ist alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten.« Zum Leben, auch wenn es »eine fortwährende Täuschung und Enttäuschung« ist, gibt es aber bedauerlicherweise keine Alternative, denn, so Schopenhauer, »wer würde im Leben ausharren, wie es ist, wenn der Tod minder schrecklich wäre?« Ach Gott – hat Claude Simon, der französische Dichter, also recht, wenn er feststellt: »Das Leben ist eine absurde Angelegenheit, die durch eine andere Absurdität, den Tod, beendet wird«? Claude Simon hat den Nobelpreis für Literatur bekommen, war also jemand, über dessen Leben nicht nur die Schopenhauersche Schattenwolke geschwebt ist. Und dennoch kommt auch er zu einem vernichtenden Urteil, das Gott, wenn man ihn denn als Schöpfer von Himmel und Erde annimmt, in keinem guten Licht erscheinen lässt. Schopenhauer und Simon verkünden jedoch nichts sensationell Weltbewegendes, denn ähnliche Gedanken sind schon in der Bibel zu lesen – es gibt schließlich »nichts Neues unter der Sonne«. Kohelet, auch Prediger Salomo genannt, hat bereits vor bald 2500 Jahren eine Philosophie des Absurden gelehrt, die – warum auch immer – in die Heiligen Schriften von Juden und Christen Aufnahme gefunden hat. Es ist also unverbrüchliches 223
Wort Gottes, wenn wir lesen: »Windhauch, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch« (Kapitel 1,Vers 2). Alles ist Luftgespinst, eitel, vergänglich, nichtig, Haschen nach dem Wind, und was geschehen ist, wird wieder geschehen, und was man getan hat, wird man wieder tun – Nietzsches Ewige Wiederkehr des Gleichen lässt grüßen. Ja, Kohelet geht so weit, »die Toten zu preisen, die schon gestorben sind, und nicht die Lebenden, die noch leben müssen«. Der Tod ist bitter, kein Zweifel, aber bitterer noch als er ist eine »Frau, die ein Fangnetz ist und Stricke ihr Herz und Fesseln ihre Hände« (Kapitel 7, Vers 26). Ach Gott – Kohelet, dieser Frauenfeind! Aber abgesehen davon, dass Kohelet einem patriarchalischen Weltbild verhaftet war: Ist seine Schilderung des irdischen Daseins bis heute überzeugend widerlegt worden? Auch 2000 Jahre Christentum haben nicht für paradiesische Zustände auf Erden geführt, bestenfalls haben einige Christen Barmherzigkeit geübt und das Leid der Mühseligen und Beladenen gelindert – zumindest vorübergehend. Die christliche Religion ist kein Argument gegen Kohelets Pessimismus oder Nihilismus, der ihm gerne vorgehalten wird. Die anderen Religionen seien mit einem Mäntelchen des Schweigens bedeckt – sie sind und waren keinen Deut besser. Und über das Unheil, das die innerweltlichen Ideologien, die Ismen aller Art, über Gottes weites Erdenrund gebracht haben, sind an anderer Stelle Worte zu verlieren. Kohelets ungeschminkte, illusionslose Beschreibung des Lebens ist – je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir – der Grund, warum ich noch immer an Gott glaube. Denn bei allem Unbill, das der Mensch auf Erden erdulden muss, lässt Kohelet doch keinen Zweifel daran, dass Gott existiert. Der Glaube gegen jeden Augenschein, das Dennoch in aller Absurdität, das fast trotzige Festhalten an der Gewissheit, dass es Gott ist, der »dir das eitle Leben unter der Sonne gegeben hat« (Kapitel 9, Vers 9) – das ist freilich eine Kunst, die es ein Leben lang zu erlernen gilt. 224
Und so ist der Glaube stets voller Zweifel, denn Glaube und Zweifel sind keine Gegensätze, sondern sie gehören untrennbar zusammen. Ich glaube, also zweifle ich – ich zweifle, also glaube ich. Zweifeln heißt zu fragen: Verhält es sich wirklich so, wie du es vermittelt bekommst? Ist es wirklich wahr, was du, mit dem Anspruch, Wahrheit zu sein, zu hören, zu lesen und zu spüren bekommst? Dieser Zweifel macht einigermaßen immun gegen Heilsversprecher, Jenseitsvertröster und Weltverbesserer aller Couleur – egal, ob sie mit oder ohne Gott auf ihren Fahnen, Geldscheinen oder Koppeln das Alleinseligmachende verheißen. Kohelet macht Mut, das Leben zu nehmen, wie es ist – alles hat eben seine Zeit: Geborenwerden und Sterben, Pflanzen und Ernten, Weinen und Lachen, Aufbauen und Niederwerfen, Steinesammeln und Steinezerstreuen. Gleichwohl habe ich mit Gott ein Problem. In den Leitlinien der Anonymen Alkoholiker oder ähnlicher Selbsthilfegruppen ist – wertneutral formuliert, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt – von einer »Macht, größer als wir selbst« die Rede. Und damit schließt sich der Kreis und wir sind wieder am Anfang angekommen: beim sogenannten »höheren Wesen«. Mit Wesen, die höher sind als ich, habe ich zeit meines Lebens Schwierigkeiten: Warum soll ich mich einem Wesen unterordnen, nur weil es höher ist als ich und von mir verlangt, dass ich mich ihm unterordne? Das konnte ich schon bei Dr. H., diesem Möchtegern-Gottchen, nicht einsehen und das ist bis heute so geblieben. Und hört auch bei Gott nicht auf – nicht unbedingt zu meinem Nutzen. Ach Gott – »ich glaube, hilf meinem Unglauben!«, hatte der ungläubige Thomas gebeten. Verhält es sich mit Gott nicht so wie mit einem, sagen wir, anstrengenden tucholskyesken Lottchen? Ohne Dich kann ich nicht leben, aber mit Dir auch nicht. Oder anders: Ich kann mit Dir nicht leben, aber auch nicht ohne Dich. Was also tun, wenn das Gottvertrauen nicht so ausgeprägt ist, wie es wünschenswert wäre? Gott für tot zu erklären, ist kei225
ne Lösung, sich ihm, dem gestrengen Herrn, unterzuordnen, geht nicht. Und Nietzsche auf dem Weg in die Verzweiflung zu folgen, ist ebenfalls kein erstrebenswertes Lebensziel. Ach Gott – vielleicht hilft es ja, Kohelet zu lesen und seinen Rat zu befolgen: »So geh hin und iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut, denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen« (Kapitel 9, Vers 7).
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Horst Groschopp
Ein ostdeutscher »Volksatheist«
ie alle Menschen auf dieser Welt, so wurde auch ich als Atheist geboren. Wäre ich im alten Griechenland zur Welt gekommen – eine evolutionsbiologisch unmögliche Variante, aber eine gedanklich durchaus fassbare Idee –, hätten mir, sofern ich in die Sklavenhalterklasse hineingestellt worden wäre, meine Eltern sicher Zeus nahegebracht. Nie wäre ich da wohl auf den Einfall gekommen, mir fehle Jesus Christus oder Mohammed. Vielleicht hätte mir ein Jude in der Bekanntschaft von Moses erzählt. Wenn ich im späten alten Rom geboren worden wäre und meine Eltern den verwegenen Gedanken gefasst hätten, sich der Christensekte anzuschließen, wäre ich vielleicht in diesem Sinne religiös erzogen worden. Das hätte aber nicht nur einigen Mut erfordert, sich diesen Atheisten – als solche wurden sie von den herrschenden Kultbetreibern gesehen – zu widmen; es hätte besonders meiner Mutter (der imaginierten Römerin, wohlgemerkt) eine pragmatische Haltung in Glaubensfragen abverlangt. Ohne die sehr weltlichen Mütter wäre wohl damals das Christentum nie »siegreich« geworden. Besonders die römischen Frauen, folgt man dem 1856 erschienenen achten Band der Römischen Geschichte des Historikers Theodor Mommsen, hatten ihre liebe Not mit der damaligen Vielgötterei, die unterhalb des obligatorischen Staatskultes blühte. Für jede Überraschung des Lebens waren Götter verfügbar und zuständig: vor der Geburt, bei der Geburt und unmittelbar danach; solche fürs frühe Kindesalter, fürs Laufenlernen und das Sprechenlernen; diejenigen, die für die Bildung der Kinder sorgen, und andere, die man in der Not anruft, die die Ehe schützen usw. Eine andere Kategorie von Göttern besaß
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die Zuständigkeit in Geschäftsdingen, bei Ackerbau und Viehzucht (und hier wieder für jedes Tier extra). Da konnte sich die Frau des Hauses leicht verirren. Nur noch Kenner, also Priester, kannten sich einigermaßen aus. Das wiederum konnte teuer werden, denn alles kostete Geld: in die Opferstätte hineinzukommen, das Opfertier teilen zu lassen, Weihen und Bußgelder aller Art … Vielleicht hätte meine imaginierte römische Mutter schon deshalb zu Jesus gegriffen, weil da nur noch einer, aber dafür für alles zuständig war. Ich wurde jedoch in der Sowjetischen Besatzungszone im Jahr der DDR-Gründung geboren. Meine Mutter war (ist noch) sehr weltlich und in allen Glaubensdingen, zu denen sie auch die politischen Überzeugungen rechnet, sehr pragmatisch. Eine religiöse Erziehung fand nicht statt, aber eine Werteerziehung durchaus. Dadurch kann ich nicht mit einer »Abkehr vom Glauben« dienen. Diese Erfahrung blieb mir erspart. Ich war und blieb im Grundsatz atheistisch. Dennoch: Ich bin evangelisch getauft, weil das so üblich war und 1949 auch in der SBZ noch zur Kultur gehörte. Ich wurde demzufolge in die Kirche eingetreten. Diesen Vorgang würde ich – unter der aktuellen Debatte über Kinderrechte betrachtet – einen zwar rechtlich zulässigen, aber ethisch verwerflichen Abschluss eines Rechtsgeschäftes durch Erziehungsberechtigte für einen minderjährigen Schutzbefohlenen nennen. Tatsächlich fiel mir diese unbewusste Mitgliedschaft im Jahr 2000 auf die Füße. Ich wurde im Zuge der evangelisch-kirchlichen »Rasterfahndung nach Kirchensteuerflüchtigen« als einst in Zwickau Getaufter mithilfe des staatlichen Finanzamtes in Berlin gefunden. Klar, ein Austritt war nicht zu belegen. Es fiel Kirchensteuer an, die ich Anfang 2001 ordentlich drei Monate gezahlt habe, bis der Austritt wirksam wurde. Der Humanistische Verband Berlin, nun wirklich das ganz krasse Gegenteil von »kirchennah«, war gerade mein Brötchengeber geworden und führte die Kirchensteuer ordnungsgemäß ab. Die Kirche selbst 228
jedoch trat nach der Taufe nie direkt in mein Leben. Auch im Jahr 2000 hatte sie auch nur ein fiskalisches Interesse an mir, kein religiöses. Die Kirche machte keinerlei Anstalten, mich behalten oder gewinnen zu wollen. Ich bin in einem Bergarbeiterhaushalt aufgewachsen, erst Wismut, dann Kohle. Unter den sächsischen Bergleuten gab es zwei Grundhaltungen: Entweder die Kumpel waren konsequent atheistisch (die Mehrzahl) oder sehr gläubig und dann meist, bis auf die katholischen Aussiedler, in einer der zahlreichen freikirchlich-evangelischen Gemeinden des Westerzgebirges organisiert. Wären nicht Schulkameraden und eine von mir umworbene Schönheit gewesen, wäre ich in meiner Kindheit, weil auch die Schulen vom Staat religionsabstinent gemacht wurden, nie mit Menschen zusammengetroffen, die mit einem Gott rechnen. Ich bin auch hier ein Produkt des »ostdeutschen Volksatheismus«. Es ist mir auch nicht erinnerlich, ob jemand in der weitläufigen Verwandtschaft religiös war, außer mein Onkel Willy, der aus Ostpreußen stammte und mit meiner Tante bald ins Ruhrgebiet zog und dort in die Kohle ging. Er war jedenfalls Kirchenmitglied und sehr sauer, als vor etwa zwanzig Jahren seine Enkelin austrat. Alte Fotos zeigen, dass meine Eltern 1948 in der Marienkirche, im Zwickauer Dom, kirchlich getraut wurden. Es war der 7. Oktober, der spätere »Republikgeburtstag«, an dem es immer Paraden bis zum Ende der DDR gab. Eine Tante väterlicherseits heiratete 1953 als Letzte im Familienkreis kirchlich, ebenfalls in Zwickau, obwohl schon damals das Paar keineswegs religiös, aber noch in der Kirche war. Als vierjähriger Junge trug ich bei ihrer Hochzeit einen zu einem Horn geflochtenen Behälter und streute Blumen vor der Moritzkirche aus, einem Ziegelbau aus dem späten 19. Jahrhundert, errichtet für den Stadtteil Pölbitz, in dem damals viele Arbeiter wohnten. Alle Männer trugen aus feierlichem Anlass Zylinder. Mir hatten sie auch einen aufgesetzt. 229
Spätere Hochzeiten kamen in der weitläufigen Verwandtschaft ohne kirchlichen Beistand aus, wurden aber ausgiebig mit sehr weltlichen Ritualen gefeiert. Anfang der 1950er-Jahre trat mein Vater aus der Kirche aus, wohl nach einem Blick in seine Lohntüte; meine Mutter kurze Zeit später. Meine Eltern vergaßen, mich mit aus der Kirche zu nehmen. Sie meinten, das sei mit ihrem eigenen Austritt erledigt. Die Folge all dieser Ereignisse war: Von Gott nirgends eine Spur in meinem Lebenslauf. Ostern war immer Frühlingsfest, Pfingsten Sommeranfang und Weihnachten kam der Weihnachtsmann – und kein Christkind, obwohl per Radio und später per Fernsehen vor allem der Bayerische Rundfunk in die Wohnung kam. Der Weihnachtsmann verdankt im Übrigen seinen Triumph im Osten dem Umstand, dass übereifrige Kulturfunktionäre in der DDR zunächst versuchten, aus der großen roten Sowjetunion das »Väterchen Frost« zu importieren. Das wollten die Leute nicht. So kam der rote Mantel des Weihnachtsmannes (Rot galt als Farbe der Arbeiterbewegung, wenngleich zuerst der Weihnachtsmann von Coca Cola einen roten Mantel trug) sehr gelegen. Er kam hinfort im Dezember in jeden Kindergarten und jede Brigade. So beförderte der Weihnachtsmann den Abschied vom »Heiligen Abend« und die Säkularität. In Amerika würde man das, was man hierzulande feiert, »Thanksgiving« nennen, ein Familientreffen außerhalb des religiösen Kalenders – kein Christkind, keine Krippe, fast nirgends. Meine erste kirchenpolitische Entscheidung traf ich zum damaligen Entsetzen meiner Mutter allein. Nur dadurch ist mir dieses Ereignis in Erinnerung geblieben. Mitte der 1950er-Jahre war es noch üblich, dass Pfarrer in die Schulen durften, um für den Religionsunterricht zu werben, der in den Gemeinden stattfand. Einige Tage vorher waren Formulare nach Hause mitgegeben worden. Der arme Pfarrer stand neben der Klassenlehrerin und ein Kind nach dem anderen sagte Nein und gab den Wisch ab. Ich hatte vergessen, das Ding zu Hause vorzulegen, und als 230
ich dran war, sagte ich, dass ich nicht möchte und dass meine Eltern das wüssten und den Zettel zerrissen hätten. Das war mehr als eine glatte Lüge. Als ich dann zu Hause beichtete, rief meine Mutter: »Junge, wie willst du aus der Schule kommen? Dann gibt es ja keine Konfirmation!« Da ich bei den Jungen Pionieren war (auch ein eigenwilliger Schritt), erklärte ich ihr, die ja vor allem eine schöne Feier wollte, dass es in wenigen Jahren überall Jugendweihen gäbe. Davon hatte sie noch nichts gehört. Jedenfalls war es noch weit hin. Meine Jugendweihe fand dann am 10. März 1963 bei bestem Sonnenwetter, im guten Anzug und mit erstem größeren Alkoholkonsum im Klassenverbund statt. Fünf meiner Klassenkameraden in der Grundschule, davon zwei engere Freunde zu der Zeit, gehörten (und gehören, wie sich beim Klassentreffen 1995 herausstellte) freien, aber verschiedenen Christengemeinden an. Auch zwei Katholiken waren darunter. Alle litten, wie sie mir 2009 erzählten, unter ihrem Glauben und wurden – mal schulisch ganz direkt, mal durch die gesellschaftliche Hintertür – behindert, kamen nur über Winkelzüge, z.B. über die Berufsausbildung mit Abitur, zum Abitur. Dennoch haben alle studiert. Wenn sie kirchliche Termine hatten, fehlten sie bei unseren Freizeitvergnügen und teilweise in der Schule. Sie bekamen frei oder die Eltern erfanden Gründe für das Wegbleiben. Bei den Pionieren machten sie nicht mit, die damals noch stark – mithilfe der Lehrerschaft – weltanschaulich wirkten. Auch an der Jugendweihe, am KZ-Besuch, an der Gerichtsverhandlung, an der Gefängnisbesichtigung, am Theaterabend und anderen organisierten Veranstaltungen nahmen sie später nicht teil. Ich habe dies zu der Zeit nicht, jedenfalls nicht bewusst, als Teilung in verschiedene Bekenntnisse wahrgenommen – schon gar nichts wusste ich damals von der Hetze gegen die Jungen Gemeinden. Beschäftigt hat mich das Thema Glauben erst – wenn auch noch immer eher nebenbei – in der Oberschule. Die Hinwendung 231
war mit einem wachsenden Interesse an Kirchengeschichte verbunden. Immerhin war Thomas Müntzer in Zwickau Prediger gewesen. Die Wartburg war nicht weit. Wir fuhren mit der Klasse dorthin und sahen das Zimmer von Martin Luther. Werke von Cranach gehörten nicht nur zum Kunstunterricht, sondern auch zur Heimatkunde. Der Bauernkrieg war ein wichtiges Thema im Geschichtsunterricht. So trat Kirchen- und (christliche) Religionsgeschichte vor allem als Reformation und Ketzergeschichte in mein Leben. In Glaubensdingen war mein Vater verbal abstinent; meine Mutter, wie gesagt, pragmatisch. Drei oft gesagte Sprüche blieben in meiner Erinnerung: »Wer zu viel wagt, kommt nach Waldheim.« (Die Justizvollzugsanstalt Waldheim, in dem auch viele Politische einsaßen, lag etwa 60 Kilometer nordöstlich von Zwickau und war das größte Zuchthaus Sachsens sowie eines der ältesten in Europa.) – »… erschossen wie Robert Blum.« (Der 1848 vor Wien ermordete freireligiöse Demokrat war am Zwickauer Theater gewesen.) – »Wenn es nur Leberwurst gibt, glaubst du mit der Zeit, es gibt nur Leberwurst.« Besonders der letzte Spruch blieb mir stets gegenwärtig. Er war ein Zitat, das meine Mutter von einem ihrer Onkel kolportierte. Dieser war zunächst bei der SA gewesen und hatte dann bei der Volkspolizei Karriere gemacht. In der Familie wurde der Satz oft zum Besten gegeben, wenn es um Überzeugungen aller Art ging. Die Leberwurstgeschichte fiel in die Zeit meiner frühen politischen Pubertät, die durchaus in der Zeit um die Jugendweihe einsetzte. Kristallisationsfigur war ein Neulehrer, »der dicke Becher«, der auch »Kommunisten-Becher« hieß. Er unterrichtete Staatsbürgerkunde und kam, so jedenfalls die Legende, aus dem antifaschistischen Widerstand. Das wurde nicht dementiert. Seine Pädagogik war unterhaltsam. Wir gaben ihm kräftig Paroli. An allem Bösen, was in der Welt geschah, war seiner Ansicht nach der Kapitalismus im Westen schuld. Das Gute kam aus der Sowjetunion. Da aber seine Partei, die SED, sich nach 1956/57 232
unter Chruschtschow von Stalin distanzierte, der ihm eine Art Ersatzgott war, und wir uns auch nicht sehr einsichtig zeigten – auch weil zu Hause der Bayerische Rundfunk lief –, fing er an, über die Maßen zu »bechern«, bis er als Lehrer untragbar war, entfernt wurde und ein Langweiler seine Position einnahm. Die letzten Berichte über ihn sagten, dass er mit einem Karussell durchs Erzgebirge zog. Mein erstes kirchliches (oder wie man will, atheistisches) Erweckungserlebnis hatte ich im Dezember 1962 in der 8. Klasse. Rückblickend gesehen wirkte dieses Ereignis bei mir wie eine Weichenstellung. Wie viele meiner Klassenkameraden war auch ich hinter der schönen und schon sehr entwickelten Brunhilde her. Wir waren rettungslos verliebt – aber sie kam nicht zu uns Pionieren, sondern war Methodistin und ging in ihre Junge Gemeinde, wo gerade die Jugendstunden vor der Konfirmation stattfanden. Um einen Vorsprung gegenüber den anderen Bewerbern herauszuholen, wollte ich sie in die Gemeinde begleiten. Ich kam aber nicht rein, weil ich nicht auf der Liste stand, und musste wieder abziehen. Dann hörte ich von Bruni, dass es einen offenen Tag für uns Ungläubige geben werde. Da ging ich mit, weil da die Bibel für Anfänger erklärt werden sollte. Von der Bibel wusste ich nicht viel. Wir hatten zu Hause keine. Das Buch hatte bei uns Schülern eine geheimnisvolle Aura, weil einige Freunde sagten, es läge neben ihrem Bett und ihre Mutter lese ihnen daraus vor. Das waren die Nicht-Pioniere. Das Ganze roch nach Opposition. Das war ein weiterer Grund, da hinzugehen. Da sich der offene Tag herumgesprochen hatte, fanden sich noch zwei bis drei weitere Bruni-Verehrer ein. So saßen dann etwa zwanzig Halbwüchsige, junge Männlein wie Weiblein, erwartungsvoll vor dem Pfarrer in einem abgedunkelten Raum, mühsam erleuchtet durch elektrische Kerzen an den Wänden, auf dem massiven Tisch vorn eine dicke grüne Decke und eine brennende echte Kerze darauf. 233
Der Pfarrer beging dann, was meine Person betrifft, einen schwerwiegenden Fehler, der mich endgültig von meinem Erkundungstrip in die religiöse Glaubenswelt ab- und dem Gedankengut von Marx aufschloss. Ich war bis dahin bereit gewesen, der schönen Bruni wegen, mich geistig der anderen Welt eines Gottes zu öffnen. Das ging schief. Der Pfarrer, im Alter meiner Eltern, begrüßte uns alle recht freundlich. Die Gemeindekinder beteten – damit wir, wie er sagte, erkennen könnten, »wie schön das ist«. Dann etwas Gesang, dann der Fehler: Er hielt eine Bibel hoch und in der anderen Hand Marx’ Kapital Band 1 (wie ich heute vermute, sicher die damals gerade bei Dietz erschienene Ausgabe der MEW [MarxEngels-Werke, 23]; in den Zeitungen wird darüber berichtet worden sein). Der Pfarrer wog ab, mal links rauf, mal rechts – und ließ urplötzlich Marx mit einem Knall auf den Tisch fallen. Danach sagte er, bei Marx ginge es nur um den Mehrwert, deshalb sei die Bibel mehr wert, wie alle Gläubigen wüssten. Ich wusste nicht. Und so sehr ich Gefallen an dem Wortspiel fand, ich kannte weder Marx noch die Bibel. Obwohl ich mich meldete, wie ich es aus der Schule und von den Pionieren gewöhnt war, ließ der Pfarrer keine Debatte zu. »Wieso«, begehrte ich lautstark, »ist der Marx Mist? Sie können doch nicht einfach ein Buch wegwerfen ohne Erklärung …«. Die Antwort: »Das wissen wir durch unseren Glauben!« Dem folgte eine längere Tirade von Bekenntnissätzen, wovon ich kein Wort verstand. Mit einer ziemlich frechen Bemerkung soll ich, erzählten mir andere später, die Versammlung demonstrativ verlassen haben. In der Folge musste ich von Bruni lassen, weil sich in der Gemeinde mein ungehöriges Benehmen herumgesprochen hatte und ihre Eltern es ihr verboten, mit irgendeinem dieser Ungläubigen, schon gar nicht mit mir, etwas anzufangen (die Wohnungstür fiel nicht nur symbolisch zu). Und für Kirche war ich ab da endgültig verloren. Was blieb und mich trieb, war das Ver234
langen, mehr über Marx und die Bibel zu wissen. Doch ehe ich mich daranmachte, fand ich zur Literatur und las, was mir unter die Augen kam. So auch den schulischen Pflichtstoff Wie der Stahl gehärtet wurde. In diesem Buch eilt ein tapferer Held wie in einer Märtyrergeschichte im frühen Sowjetrussland der Bürgerkriegszeit von einem revolutionären Gebietskomitee zur nächsten Entlarvung des Klassenfeindes. Die Frauen, die er trifft und für die er erglüht und die ihn lieben wollen, verlässt er eine nach der anderen seiner höheren Mission wegen –, ein letztlich wenig atheistisches, aber sehr puritanisches Buch, wie ich heute meine. Das erste politische Buch, das ich mir vornahm, war um die Jugendweihe herum Lord Russel of Liverpools Geißel der Menschheit. Eine kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen. Das Buch wurde in der DDR 1956 veröffentlicht. Mein Vater hatte es irgendwann vom Betrieb als Auszeichnung bekommen und es war wie üblich bei mir gelandet. Mein erstes philosophisches Buch war Robert Havemanns Dialektik ohne Dogma. Es war 1964 bei Rowohlt in Hamburg erschienen und mir im Sommer 1967 in Budapest von einem alten ungarischen Kommunisten, Juri Markov, geschenkt worden. Das geschah mit dem Hinweis, ohne dies gelesen zu haben, könne man kein ordentliches Parteimitglied werden. Die erste Philosophie-Vorlesung an der Universität hörte ich 1968 bei Herman Ley. Zwei Semester las er über den kritischen Rationalisten Karl Popper und dessen Irrtümer aus marxistischer Sicht. Dass Ley nebenher an einer Geschichte des Atheismus und der Aufklärung schrieb, erfuhr ich erst viel später. In Religions- und Kirchengeschichte führte mich mein Lehrer Dietrich Mühlberg im Rahmen der Kulturgeschichte ein: von Benedikts Ora et labora bis zur Quadragesimo anno 1931 von Papst Pius XI. Die »praktische Theologie« – eine Form der Kulturarbeit, wie ich es interpretierte – hat mich nie wieder losgelassen. Als dann 1988/89 in der DDR die Freidenker gegründet wurden und ich am Konzept für deren Kulturarbeit saß, 235
lagen neben mir Lehrpläne für Theologen: Wenn man den Gott da herausnahm, blieben Formen von Lebenshilfen übrig. Und die Bibel? Ich besitze die (von mir) viel gelesene Heilige Schrift nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, herausgegeben von der Evangelischen Haupt-Bibelgesellschaft in Berlin 1961. Sie kam über meine Frau in die Familie. Diese Bibel las ich erst nach meinem Studium, während der (durch den Wehrdienst unterbrochenen) Arbeit an der Dissertation, als mich die Nationale Volksmarine 1974/76 für anderthalb Jahre als Kraftfahrer holte. Irgendwie wollte ich in dieser ganzen kasernierten Geisttöterei und Skatseligkeit etwas als Kulturwissenschaftler symbolisch vorzeigen. Die Bibel bot sich an wegen des Stachels. Zum einen war ich schon Genosse. Zum anderen zogen die »Spatensoldaten« jeden Tag an unserer Einheit vorbei. Wer in der DDR – wie zahlreiche Christen – den Waffendienst verweigerte, musste entweder ins Zuchthaus oder als vielen Drangsalierungen ausgesetzter Arbeitssoldat mit grauem Spaten statt Gewehr in die Kasernen einrücken. Gerade war 1975 Gott und die Götter von Walter Beltz erschienen. Darin wird erzählt, wie die Idee des einen Gottes entsteht und sich in der Bibel spiegelt. Meine Bibel ist deshalb voll mit Beltz entnommenen Hinweisen auf deren Entstehung – eine doch recht säkulare Beschäftigung mit einem Stoff, der anderen heilig ist. Dennoch: Der Eifer, mit dem heute mitunter meine politischen Freunde Religionen als falsches Denken entlarven, wird mir aufgrund meiner Biografie immer fremd bleiben.
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Harald Krille
Jenseitsvertröstung oder Diesseitströstung?
er Glaube an Gott, mehr als eine Projektion meiner Sehnsucht? O Gott, wie leicht hätte ich noch vor einigen Jahren diese Frage beantwortet. Wie flammend habe ich als Jugendlicher (und auch noch später) Apologetik betrieben. In einer »konfessionsverschiedenen« Familie aufgewachsen (meine Mutter war Christin, mein Vater Atheist und SED-Genosse), habe ich im Zusammenhang mit der Konfirmation – parallel nahm ich an der sozialistischen Jugendweihe teil – und nachfolgend mit dem Besuch der Jungen Gemeinde eine bewusste Entscheidung für den Glauben an Gott getroffen. Mit welcher Überzeugung konnte ich ein damals bekanntes Lied mitsingen, in dem es hieß: »Antwort auf alle Fragen gibt uns dein Wort …« Freilich habe ich auch oft im Leben Erfahrungen gemacht, die diesen Glauben bestätigten. Habe ich in der Bibel Ermutigung und Trost gefunden, genauso wie Herausforderung zum konkreten Tun. Natürlich lief nicht alles glatt und einfach. Aber in der Gesamtsumme blieben stets das Gefühl und die Überzeugung von Getragensein und Geborgenheit. Mal mehr die Überzeugung, mal mehr das Gefühl, letztlich aber doch immer wieder beides zusammen. Wie sagte es der große evangelische Theologe Karl Barth am Abend vor seinem Tod am 9. Dezember 1968 in einem Telefongespräch mit seinem Freund Eduard Thurneysen? »Ja, die Welt ist dunkel … Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Las-
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sen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert!« Diese Überzeugung, oder besser diese gewisse Zuversicht war es, die mir und meiner Frau immer wieder Mut und Hoffnung gegeben hat. Sie hat uns zum Beispiel auch keinen Ausreiseantrag aus der DDR stellen lassen. Nicht, weil wir dieses System so liebten oder weil wir heimlich ahnten, dass es enden werde. Wohl aber, weil wir wussten und vertrauten, dass Gott auch in den Umständen der DDR Glauben und Leben ermöglicht. Weil wir den Satz von Jesus »ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« unter den Bedingungen der »Diktatur des Proletariats« buchstabieren lernten. Allerdings hat sich mein (und unser) Gottesbild, hat sich unsere Art zu glauben im Laufe der Jahre verändert. Das Leben und die Menschen und ihr Tun sind eben nicht in Schwarz und Weiß einzuordnen, wie es uns manche Prediger sowohl aus dem sogenannten liberalen wie dem sogenannten evangelikalen Lager manchmal einreden wollen. Wir haben in all den Jahren gelernt, dass es Grautöne und Schattierungen gibt, die nicht immer ins fromme Schema passen, die das Leben aber interessant machen. Vor allem aber haben wir gelernt, mit offenen Fragen zu leben. Antwort auf alle Fragen gibt eben auch die Bibel nicht. Zunehmend misstrauen wir deshalb den allzu selbstsicheren Vertretern des Christentums. Ja, wir haben die erschreckende Beobachtung gemacht, dass es manchmal gerade die selbstsicheren und missionarisch besonders eifrigen Christen sind, die durch ihr Auftreten und ihre oft verkürzte Glaubensbotschaft anderen Menschen den Zugang zum Glauben verstellen, sie geradezu für das Evangelium immunisieren können. Doch es gibt Punkte, da helfen weder gute Erfahrungen der Vergangenheit noch ein aufgeklärter und kritischer Glaube weiter. Wie ein Hammer brach für uns im vergangenen Jahr die Krise 238
herein. »Es wird regiert« – wie schwer ist das zu glauben, wenn Krankheit und Leid im Umfeld des engeren Familienkreises junges Leben zu zerstören drohen und die große unbeantwortbare Frage nach dem Warum am Herzen nagt. Schnell hört man dann den gut gemeinten Rat mancher Christen, man dürfe eben nicht die Frage nach dem Warum stellen, sondern nach dem Wozu. Aber die Frage nach dem Leid wird mit dem Wozu doch nur noch schlimmer: Ist Leiden etwa die Eintrittskarte für den Himmel? Braucht Gott etwa, um Gutes für uns oder andere zu vollbringen, das Böse, das Leiden in dieser Welt? Was ist das für ein Gott, bitte schön? Wie Hohn klingen dann solche Aussagen, wie sie der Apostel Paulus im Römerbrief im Neuen Testament macht, »dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen«. Was also tun? Die Sache mit Gott an den Haken hängen, nach dem Motto »Ohne Hoffnung kein Leiden«? Wir haben bis heute keine Antwort auf unsere Fragen. Aber wir finden uns wieder in einer Geschichte des Neuen Testaments, im Evangelium des Johannes, Kapitel 6. Da sind auch Leute von diesem Jesus enttäuscht. Nicht irgendwelche Leute, mit denen er ob seiner Lehre oder seines Lebensstils sowieso schon lange im Clinch lag, nein, es sind Menschen, die als seine Jünger bezeichnet werden, die ihm nahestanden. Dennoch wenden sie sich resigniert oder verärgert ab. In dieser Situation fragt Jesus seinen engsten Freundeskreis: »Wollt ihr auch gehen?« Und einer, Petrus, antwortet: »Herr, wohin sollen wir denn gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens …« Ja, wäre ein Leben in der Leugnung jeder Transzendenz wirklich eine Alternative? Wäre Atheismus eine Antwort, eine Lösung der Frage nach dem Leid? Nein, für mich nicht. Deshalb halten wir am Glauben fest. Trotz aller Fragen und Zweifel. Weil es durch den Gottesglauben in und für dieses Leben eine Ewigkeitsperspektive gibt. Weil es die Verheißung einer neuen Welt ohne Leid, Schmerz und Tränen gibt. Vertröstung auf das Jenseits? Nein! Tröstung im und für das Diesseits. 239
Johanna Martin
Hat es je einen Mann ohne Mutter gegeben? Über Madonnen und Jungfrauen
or einigen Jahren wurde ich als Nichtgetaufte gebeten, in einem kleinen Kirchlein in Glambeck im Landkreis Barnim eine Ausstellung zu machen. Als ich mir den Kirchenraum ansah, in dem zu dieser Zeit Landschaftsmalerei hing, ging mir vieles durch den Kopf, so auch die Frage: Ist Gott hier zu Hause? Ich konnte es mir sogar vorstellen. Die Landschaften, die hier hingen, waren so paradiesisch schön wie die realen draußen vor dem Kirchportal. Das grau gestrichene Gestühl und ein schwarzbraunes Holzkreuz ließen keinen Moment einen Zweifel daran, dass dies kein üblicher Ausstellungsraum war. Sollte ich einfach meine Nackten hier aufhängen? Die Erde ist ein Planet neben sieben anderen, die unsere Sonne umkreisen. Dass sich hier irgendwann Atome zu Molekülen verbanden und schließlich die erste Zelle bildeten, ist das Zufall? Vielleicht war einfach nur genug Wasser da und die Temperatur stimmte. Ob es einen Gott gibt, da oben im Himmel? Was für eine Frage. Im selben Himmel, den Flugzeuge durchschneiden wie Schwerter, soll ausgerechnet der Allmächtige seinen Thron aufgestellt haben? Oder hätte er ihn wegen Ruhestörung längst geräumt und wäre zu anderen Himmeln aufgebrochen? Oder hätte er nicht wenigstens den Himmel räumen lassen von unserem Satellitentand? »Menschenbilder im Zwischen« – das sollte der Titel der Ausstellung werden. Das Hin- und Herpendeln zwischen mehreren Beschäftigungen, Orten und Bestimmungen war damit ge-
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meint. Der Ausstellungsort, die Kirche, ist neben seiner Funktion als Gotteshaus zugleich Konzertveranstaltungsort, Treffpunkt für Radfahrer und Präsentationsraum für Kunst. Auch hier ist nicht mehr nur eines genug. Es zeigt sich im Kleinen ein wesentliches Attribut unserer Zeit. Es reicht nicht mehr, nur eines zu tun bzw. zu beherrschen. Der Turbokapitalismus hat sich längst selbst überholt und erfordert es, dass wir ständig auf Veränderungen reagieren. So hetzen wir angeblichen Notwendigkeiten hinterher und sind rastlos auf der Suche. Die Fremdbestimmung erleben wir meist als Einschnitte in Freiheit oder Lebensqualität. Das Zwischen aber wollte ich im Bild konkret werden lassen. Geht das überhaupt? Dieser Gedanke ließ mich hin und her schwanken, doch wo zwischen? Zwischen Deutschland und Spanien, wo meine halbe Seele heimisch ist? Zwischen der Abgeschiedenheit des kleinen uckermärkischen Ortes Arnimswalde, wo ich seit meiner Kindheit ein Zuhause habe, und dem Zentrum Berlins, wo ein wesentlicher Teil meines Lebens stattfindet? »Menschenbilder im Zwischen« – diesen Titel hatte ich der Organisatorin am Telefon mitgeteilt, die einen Buchstaben anders verstand. So wurde aus dem Titel ein anderer: »Menschenbilder inzwischen«. Das warf mich an den Anfang zurück und ich fragte mich: Wo ist mein Menschenbild inzwischen? Das klingt, als hätten sich da Worte aus der realsozialistischen Vergangenheit unbemerkt einen Platz verschafft und das ausgerechnet in Sachen Kunstausstellung in der Kirche. Ohne mich jetzt darüber auslassen zu wollen, ob das mir anerzogene »sozialistische Menschenbild« noch seine Gültigkeit haben kann oder ob es inzwischen diffamiert, verteufelt, verkommen oder vergessen in den Tiefen meines Selbst vor sich hindümpelt, fühlte ich mich durch die Verwechslung eines einzigen Buchstabens in einer Weise auf mich selbst zurückgeworfen, dass ich beschloss, meinen ganzen bis dahin zurechtgelegten Gedankengang über Bord zu werfen und noch einmal von vorn anzufangen. Von ganz vorn. 241
Die ältesten Kunstwerke sind Kultgegenstände, die zur Ausübung unterschiedlichster Rituale und Kulte dienten. Hier hat das Wort »Kultur« seinen Ursprung. Aus kultischen Verehrungen und Handlungen wurden unsere heutigen Religionen. Bei uns steht das Christentum in Form des Kirchengebäudes im Zentrum fast eines jeden Ortes. Die alten Kunstgegenstände hatten eine konkrete Bestimmung und wurden nach festgelegten Regeln verwendet. Das lässt sich auch auf die vielen verschiedenen Madonnenfiguren übertragen, die in katholischen Kirchen stehen. In Spanien hat jede Kirche ihre Madonna bzw. Jungfrau, die auch einen eigenen Namen trägt. Es handelt sich hierbei um Holzfiguren, die zum Teil mehr als 500 Jahre alt sind. Den Figuren werden mitunter wunderliche Dinge nachgesagt. So hat zum Beispiel, wer sie bei der Prozession berührt, einen Wunsch frei. Viele Bräuche dieser Art sind überliefert und werden gelebt. Die Figur selbst ist nicht die Göttin, aber sie wird doch wie eine verehrt. Von der Marienfigur »La Blanca Paloma« (die weiße Taube) aus den 13. Jahrhundert sagt man sich, sie sei eines Morgens im Schlick des Mündungsdeltas des Guadalquivir gefunden worden und habe die Kraft, Krankheiten zu heilen und Wunder zu vollbringen. Später baute man am Fundort »El Rocio« (der Morgentau) eine Kapelle, die weit über die Grenzen Spaniens bekannt ist. Millionen Menschen pilgern jedes Jahr zu Pfingsten in das kleine abgelegene Dorf und feiern ein Fest voller wilder Ursprünglichkeit. Maria und die Marienverehrung bringen eine weibliche Komponente in das patriarchale Gepränge der monotheistischen Religion. Das Bild von Maria mit dem Kind ermöglicht eine direkte Anbetung der Schöpfung, als einen Akt, der sich immer wieder aufs Neue reproduziert. Auch steckt in ihr die Urmutter verschiedenster vorchristlicher Glaubensansätze. Darum kann ich mit ihr mehr anfangen: Sie umfasst alles. Sie hält ihren Sohn in den Armen und schließt so auch das männliche Prinzip mit 242
ein. Hat es denn je einen Mann ohne Mutter gegeben? Das hat nicht einmal Jesus Christus geschafft. Den Spaniern kommen im Übrigen unsere Kirchen meist leer vor. Ich erzähle ihnen dann von der Reformation und dem Bildersturm und mir wird klar, dass uns mit den Bildern vielleicht doch mehr als die Vorherrschaft des Papstes abhanden gekommen sein könnte. Ich beschloss also, das kleine Glambecker Kirchlein zu füllen. Mit neuen Madonnenbildern, die in ihrer Mannigfaltigkeit über die Beschränkung einer einzig gültigen Vorstellung hinausgehen. Mit ihnen führe ich Kunst in der Kirche auf einen lebendigen Kult zurück, denn in der Huldigung der Maria steckt außer der Verehrung der Mutter Gottes auch die Anbetung jeder einzelnen Frau. Inspiriert von den üppig geschmückten Darstellungen, die ich in Spanien an den verschiedenen Orten gesehen hatte, gestaltete ich meine Madonnen und Jungfrauen unter Verwendung handelsüblicher Spitzendeckchen aus Papier und Kunststoff und zitierte dabei die Ikonen, ohne jedoch von meiner Malweise abzuweichen, die Spontaneität und Zufall mit einschließt. Wie Reliquien setzte ich die zarten Papiere in einen Glaskasten und enthob sie so ihrer Vergänglichkeit, um hiesige Sehgewohnheiten auf die Probe zu stellen. Nachdem ich 27 Bilder mit zum Teil stark verhüllten Frauen gemalt hatte, deren Darstellungen sich auf elementare Lebensbereiche beziehen, rappelte etwas in mir und wollte heraus. Und so lässt die Frau auf dem letzten und größten Bild die Hüllen fallen, als würde sie alle Fesseln abstreifen. Alle Vorurteile hinter sich lassend, zeigt sie sich in ihrer irdischen Vollkommenheit. Das Bild heißt »Madonna, die Welt«. In der Ausstellung kam es neben dem Altar zu hängen und erhielt aufgrund der Reihenfolge der Hängung zufällig die Nummer 21 – diese Nummer trägt auch die gleichnamige Karte im Tarot. Zufall oder göttliche Fügung? (Unter www.johannamartin.de kann man das Bild betrachten). 243
Die Ausstellung kam beim Publikum gut an und die Organisatorin vom Förderverein war erfreut, dass sie und ihr Kirchlein mich zum Malen von 28 Madonnenbildern animiert hatten. Im Anschluss zeigte ich meine Madonnen zu Allerheiligen 2007 in Berlin und im letzten Jahr in der Gemeindescheune in Greiffenberg. Ich trage mich mit dem Gedanken, weitere solche Motive zu malen. Vielleicht ist dann auch mal ein Christus dabei, aber sicher nicht einer am Kreuze.
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Angelika Obert
Herausgerufen
ch habe immer mit Gott und ohne innere Sicherheit gelebt. Darüber Rechenschaft zu geben, fällt mir schwer. Es rührt an ein Inneres, das sich dem Zugriff entzieht. So wenig ich direkt in die Sonne gucken kann, so wenig scheint es mir möglich, ins Wort zu bringen, wie Gott mit mir ist. An Erörterungen über das Sein oder Nicht-Sein Gottes oder gar darüber, ob wir ihn brauchen oder nicht brauchen, mag ich mich gar nicht beteiligen. Sie kommen mir ein bisschen wie mentale Turnübungen von Menschen vor, die vor den Türen ihres Herzens wohnen. Aber es gibt grandiose geistige Turner! Ich mag das kritische Denken. Ich bewundere Friedrich Nietzsche. Ich lese Peter Sloterdijk immer mit Gewinn. So ist es nicht, dass ich den Gottesleugnern gram wäre. Es soll ja alles gedacht werden, was Menschen denken können, und Zuneigung denen, die es mit hohem Einsatz tun! Doch für Gott zu streiten – das finde ich heikel. Denn es ist ja auch eine Art, mich seiner zu bemächtigen. Sein Dasein zu bezeugen, bedeutet für mich vor allem, ihn in mir da sein zu lassen. Bedeutet, selber da zu sein so weit nur möglich. Dem Menschen, der mit gerade begegnet, Aufmerksamkeit zu schenken und Freundlichkeit. Nicht nachzulassen im Gespür für Recht und Wahrheit. Mich infrage stellen und korrigieren zu lassen. Auch dankbar zu sein. In der Spur der Bibel von ihm zu sprechen. Aber die Gottesfrage erörtern? Eher nicht. Als ich zur Welt kam, war wohl mein Großvater für mich so etwas wie Gott. Er hatte das Format, in der Familie zu bestimmen, was gut und was böse ist. Er setzte den Rahmen, einen guten Rahmen, dem ich viel verdanke. Nur konnte ich im Wertege-
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füge meines Großvaters kein willkommenes Kind sein. Ich war vielmehr eine große Peinlichkeit. Das bestimmte mein Lebensgefühl. Aber wenn mein Großvater auch gottgleich wirkte, war er doch einer, der die Seinen auf den Vater im Himmel hinwies. So machte er es irgendwie denkbar, dass sein Wort nicht das letzte sein müsste. Und es gab auch schon in den frühesten Kindergebeten eine Ahnung, dass Etwas oder Einer über den unausweichlich prägenden Mächten meines So-Seins steht und für mich ansprechbar ist. Nicht in dem bleiben zu müssen, was mich im Anfang umfing, das danke ich Gott. Ich stelle mir vor, dass es auch für Kinder, die unter einem glücklicheren Stern geboren werden, gut wäre zu wissen, dass es ein Jenseits der inneren Bestimmungen gibt. Als evangelisches Mädchen habe ich früh gelernt, dass wir »allein aus Gnade gerechtfertigt« sind. Ich erinnere mich, wie viel Kopfzerbrechen mir das gemacht hat. Schließlich gehörten die Sünde und der Glaube ja auch dazu. Und das Gefühl, hässlich, dumm und mit aller Welt zerfallen zu sein, blieb dem Teenager trotz aller Glaubensübungen erhalten. Dennoch vermute ich, dass der Gedanke an das unverbrüchliche Ja Gottes mich auch damals schon getragen hat, als er noch nicht ganz bei mir angekommen war. Irgendwann muss es bei mir eingeschlagen haben wie ein Blitz, Gottes Wort an Abraham. »Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.« (Genesis 12,1) Dass ich gehen darf und soll und muss, immer wieder aufbrechen und mich aufbrechen lassen, ist mir wohl das Wichtigste. Der Gott, der mir in der Bibel begegnet, ruft mich immer aufs Neue ins Freie und Offene. Heraus aus den Festlegungen meines Lebens, die Irrtümer werden, wenn ich an ihnen hafte. Es gibt nicht nur den einen Aufbruch aus dem Vaterhaus, um dann in irgendeinem Erwachsenenleben anzukommen. Es gibt kein Steckenbleiben im 246
Erreichten und Gewordenen, in den eigenen Richtigkeiten. Denn Gottes Stimme ruft: »Geh raus!« Die Möglichkeit, mich zu lösen von dem, was die Herkunft gebietet, was mir die herrschende Meinung ins Hirn spült, was im gewählten Milieu sich von selbst versteht, die Möglichkeit, auch das schönste eigene Bewusstsein und die tiefste eigene Angst für überschreitbar zu halten – sie kommt von Gott.Vor Augen stand mir oft das Bild einer dicken Zwiebel, in deren Schalen ich mich herumtreibe und die alle durchschritten werden wollen auf dem Weg ins »Land, das ich dir zeigen werde«. Doch mehr und mehr will mir scheinen, dass der Weg von außen nach innen führt. Lange Zeiten gibt es, da führt gar nichts. Gott wird mir abwesend. Ich finde nicht heraus aus dem, was mich quält. Und keinen Trost. Aber in dem großen Schweigen vernehme ich dann doch etwas wie einen Windhauch, der mich einlädt, loszulassen ins Ungewisse. Aufbruch – es bricht ja auch etwas, unter Schmerzen. Bin ich zu tief ins Persönliche geraten? Die Frage nach Gott ist immer auch und nie nur persönlich. Die Stimme, die Abraham zum Aufbruch ruft und Israel aus Ägypten führt und schließlich auch die Jünger Jesu »in alle Welt« – sie meint die ganze Schöpfung. Darum wird die Welt auch heute und morgen mehr und anderes sein als bloß ein Innenraum des Kapitals. Darum werden wir bis an das Ende aller Tage nie bloß definiert sein durch die Verhältnisse, die wir selbst herstellen und ausforschen können. Aber je mehr sie wuchern, die menschlichen Welt- und Selbstbeherrschungskünste, um so aufdringlicher wird der Gedanke, es sei kein Gott. Die Menschheit ausgeliefert an sich selbst. Vieles, was geschieht, bleibt unfassbar. Viel zu viele Menschenleben allzu gequält. Es sieht nicht danach aus, als sei da jemand, der den Engeln befiehlt, ein Menschenleben zu schützen, dass es seinen Fuß nicht an einen Stein stoße (Psalm 91). Und schließlich die Shoah. Sie bleibt der Abgrund, an dem meine Gewiss247
heit über den Gott der Bibel aufhört. Wenn es nicht auch in den Vernichtungslagern Menschen gegeben hätte, die ihn nicht losgelassen haben – dürfte ich dann an ihn glauben? Und, um es nun wieder ganz ins Persönliche zu führen: Es ist vorgekommen, einige Male, in meinen eigenen Betrübnissen, dass ich mitten in großer Finsternis ein sehr helles Licht gesehen habe. Es ging in mir auf und das Leben wurde fraglos. Etwas in mir hofft, dass dieses Licht noch viel größer ist, als ich ahne, und dass es auch die Geschundenen in die Herrlichkeit führt. Dass Ostern allen so wirklich ist wie mir. Ich kann nicht über das hinausgehen, was der Apostel Paulus geschrieben hat. Für mich kommt es darauf an zu verstehen, dass der Auferstandene in der Welt die Gestalt des Gekreuzigten hat. Gott ist nicht nur ein bisschen anders. Was von ihm kommt, durchkreuzt wirklich alles. Alle unsere menschlichen Regeln, die psychischen wie die sozialen, die politischen wie die ökonomischen. Gott gibt sich zu erkennen im Verworfenen und Ausgestoßenen. Er ist mit dem, der nichts mehr ist. Er offenbart sich im Schwächsten und Kleinsten, im Allerschwächsten und Allerkleinsten. Darum liegt der Kern meines Lebens nicht in dem, was mir auf Erden widerfährt und was ich aus mir mache. Darum fängt meine Menschwerdung da an, wo ich mich schwach weiß. Darum sollen meine Aufmerksamkeit, mein Respekt und, wo möglich, meine Liebe denen gelten, die in unseren Gesellschaften als nicht-zugehörig oder als gescheitert gelten oder die als Fremde und Andere die Rolle des Sündenbocks zu tragen haben. Menschwerdung – das ist uns aufgegeben um des Mensch gewordenen Gottes willen. Schön und schwer. Ein Loslassen der inneren und äußeren Panzerungen – im Großen wie im Kleinen. Ein Leben ohne Furcht vor der Schwäche. Ein Bereitsein, einander zu erreichen und wahrzunehmen. Und natürlich aufzuhelfen ins Freie, in die Freude. Auch das Dunkel mitzutragen. Und das alles: im Leibe. In dem atmenden Organismus, der ich 248
hier auf Erden bin. Mein Gewicht, meine Kontur, des anderen Gewicht, des anderen Kontur, unser Zusammenspiel, Auseinanderspiel – es will ja um Gottes willen genossen sein, dass wir Leib, Seele, Leben sind. Es scheint, als geschähe in diesem dritten Jahrtausend nach Christus gerade das Gegenteil. Als wüchsen wir nicht tiefer ins Menschliche hinein, sondern seien eher seiner Auflösung ausgesetzt. Eingebunden in zahlreiche Virtualitäten, immer besser konditioniert, sieht es so aus, als würden sich die Individuen in ihrem wunderbaren leiblichen Eigengewicht, in ihrer je einzigartigen Kontur aus Licht und Schatten eher verlieren. Als liefen wir einer Welt von lauter reparierbaren kleinen Ichs entgegen, die nichts wollen als im Strom des Ganzen funktionieren, sich nur ein bisschen fühlen und ein bisschen was meinen müssen, ohne je ganz beim anderen oder bei sich anzukommen. Oder sind sie schon lange unterwegs, die neuen Menschen mit den neuen spirituellen Erfahrungen, die sich im Geistigen verbinden ohne die schwerblütige Mühsal einer biblischen Theologie? Mir ist es viel und genug und unverzichtbar, was die Bibel aufgibt. Ohne sie zu gehen, kommt mir gefährlich vor. Denn verirren auch im vermeintlich Spirituellen kann man sich doch leicht. Wo wir zu wissen meinen und nicht mehr Herausgeforderte sind, drohen die Irrtümer. So sehr es heute nötig ist, das Verbindende zu suchen, weiß ich nicht, ob es guttut, an einem alle umschließenden, gemeinsamen religiösen Nenner zu arbeiten. Ob wir nicht immer noch besser daran täten, in unseren je eigenen Kulturen unsere je aufgegebenen Wege ganz zu gehen. Ob es nicht das ernsthafte Gehen ist »ins Land, das ich dir zeigen werde«, das Menschen über die Grenzen hinweg verbindet. »Ich bin da« – so offenbart Gott seinen Namen in der Bibel. Zuzeiten ist das bloß ein Satz. Und in manchen Momenten eine große Freude. Weil dann auch ich ganz da bin. Aber immer ist in diesem Dasein auch ein Werden. 249
Manja Präkels
Im Trüben
Ich versteh das nicht. Wat ? Was die alle mit Gott wollen. Wer will denn wat von Gott? Hat bei dir schon einer gebissen? Nee. Gott ist tot. Sicher. Das weißt du, das weiß ich. Eigentlich die meisten, die ich kenne. Mhhhh, die meisten. Würd ick ooch sagen. Mist, abgefressen. Dein Klumpen war zu groß. Meinste? Mhhh. Kennst du den Pfaffen hier, den Schmidt? Schon mal jesehn hab ick ihn, ja. Kennen wäre zu viel jesagt. Guck! Ich glaub, es geht los.
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Quatsch, sind nur kleene Ükel. Siehste? Schon vorbei. Mist. Bleib ruhig. Dit kommt. Netter Typ, der Schmidt. Ach, ja? Von dem kann man was lernen, dachte ich. Der versteht was vom Handwerk. Weißt du, der kommt immer zu uns in die Werkstatt, weil er da rauchen kann. Und keiner ihn verpfeift. Na und? Is doch lustig. Ja, aber heut fängt der von Bernd an. Da hab ich ihn zum ersten Mal von Gott reden hörn. Und mir ist klar geworden, wie abgefahren das ist, dass dieser Typ Pfarrer ist. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es unmöglich sein kann, dass so einer an Gott glaubt. Das ist doch, als wenn dir’n Physiker vom Weihnachtsmann erzählt. Quatsch. Wat hast´n du jedacht. Dass eener, der an Gott gloobt, den janzen Tach uff Knien rumkriecht? Nein. Du verstehst nicht. Der ist von der seltenen Sorte Mensch, die wissen, wovon sie reden. Dachte ich. War mein Eindruck. Und heut hab ich ihn von Gott reden hörn und zum ersten Mal gedacht: Du lügst. Na und? Wenn´s so wäre, ooch nich schlimm. Muss er doch behaupten, wenn er seinen Job behalten will. Wie? Na denkste wirklich, die sind alle gläubig, die in der Kirche sind, die Ämter haben? Wie willst´n dit prüfen, Mann? Hauptsache, die füllen ihre Rollen aus. Pfaffen sind ooch nur Schauspieler. So wie’n 251
juter Lehrer dir vermittelt, er kennt die Antworten auf deine Fragen. Stimmt nicht. Die, die zweifeln, fand ich viel interessanter. Und wie sieht´s mit deren Autorität aus? Warste bei deinem Zweifler besonders fleißig oder wat? Jetzt regnets auch noch. Is doch jut, bisschen Niesel. Meinste? Mhhhh. Und was, wenn die sich nur nicht trauen, sich vorzustellen, dass es keinen Gott gibt? Weil sie so erzogen worden sind? Und wat, wenn du dir nur nich traust, an Gott zu glooben, weil’ de so erzogen bist? Ich hab einen! Ick fass et nich. Och nee. Du musst dir besser konzentrieren und nich so viel quatschen. Weißt du, dass es Gott nicht gibt, find ich überhaupt nicht schlimm. Der ist ja nun schon lang genug tot. Daran sind wir quasi seit Generationen gewöhnt. Der fehlt mir echt nicht. Aber was mir richtig Angst macht: Dass es keine Menschen mehr gibt. Hä? Na, ja. Manchmal kommt mir alles da draußen ziemlich menschenleer vor.
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Ach du Scheiße, wie bist´n du druff? Du weißt genau, wovon ich rede. Denk mal dran, was dem armen Bernd passiert ist. Der war doch einer von uns, auch wenn er zuletzt in der Garage gelebt hat. Klar, rein faktisch sind das da draußen Menschen. Genau wie wir. Aber die haben keine Idee vom Menschen. Gar nicht. Mann, da tritt eene arme Wurst die noch ärmere kaputt und du sagst, der is keen Mensch, weil er keene Idee hat? Der flippt doch nich aus Mangel an Ideen aus! Und wenn doch? Wie erklärst du dir denn sonst, was sie mit ihm gemacht haben? Ich kann doch nur in einen reintreten wie in eine alte Mülltonne, wenn ich den auch als Mülltonne wahrnehme. Mann, muss dit jetz sein? Du imma mit deine Stänkerei. Super Angelwetter und du kriegst’n Depri! Und du? Immer schön alles wegspülen. Schnauze halten. Am Tresen auf die nächste Katastrophe warten und dann abfeiern, wenn’s so weit ist. Ey, jetzt beruhig dir mal wieder. Wat du vasuchst, is nich auszuhalten. Ick kann mir doch nich imma und imma bewusst machen, dass Kinder in Blumentöppen vergraben werden. Und von wegen, Gott is tot. Die meisten uffer Welt sind irgendwie religiös. Ebendarum. Ja, genau. Lass uns Bernd vergessen und beten für ihn und Kevin-Justin und all die andern armen Schweinchen. Mann, ich guck auch Nachrichten! Was sieht man da: Die Orthodoxen erobern den Osten zurück, pflastern bis raus nach Sibirien jede lumpige Butterblumenwiese mit neuen Kirchen zu. Frustrierte Schulabbrecher pilgern nach Pakistan, weil ihre Eltern keine Waffen im Schrank bunkern. Die deutsche Hausfrau trinkt Morgenurin aus Klangschalen und dann noch … 253
Alter, wir angeln! Ebendrum! Ist doch die einzige Tätigkeit, bei der man noch ungestraft laut nachdenken kann! Nee, ohne mich! Fisch is Fisch. Mann, ick hab die Schnauze voll. Ick jeh gleich. Die Kneipe, dit is unsa Paradies. Mein Apfel hängt da einsam rum und wartet, dass ick ihn in Korn tauche. Ich hab einen! Dit kann doch nich wahr sein! Ich lass den wieder frei. Hä? Hopp hopp, alter Schleimer. Nichts für ungut. Was tust du? Mensch, hat sich echt gelohnt heute! Warte mal. Erst schmeißt du den Fisch weg und dann hauste ooch noch ab? Hab noch einen Termin. Wat´n für´n Termin? Einweihungsfeier in Buchholz. Da haben wir so einem reichen Spinner die ehemalige Kirche saniert. Der wollte Internet bis hoch in’ Glockenturm. Und die Fische? Sind auch nur Menschen. Petri Heil!
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Die Autoren
Schwester Lea Ackermann, geboren 1937 in Völklingen, trat 1960 in die Gemeinschaft der »Missionsschwestern unser lieben Frau von Afrika« ein. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin gründete 1985 die Hilfsorganisation SOLWODI (Solidarity with Women in Distress), die in zahlreichen Staaten Afrikas Projekte zur Unterstützung von Frauen unterhält. Henryk M. Broder, geboren 1946 in Kattowitz, Polen, ist deutscher Journalist und Buchautor, der als Freigeist kein Blatt vor den Mund nimmt. Für rege Diskussionen sorgten seine Publikationen über Israel, den Antizionismus in Deutschland wie auch über den Islam. Caritas Führer, geboren 1957 in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), ist gelernte Porzellangestalterin (Manufaktur Meißen) und studierte am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Nach ihrer Arbeit als Dozentin an einer theologisch-pädagogischen Fachschule ist sie als freischaffende Schriftstellerin tätig und engagiert sich seit Jahren in Straßenkinderprojekten. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Söhnen. Alexander Garth, geboren 1958 in der Oberlausitz, ist evangelischer Pfarrer und Buchautor. 1999 gründete er in einem Plattenbauviertel in Berlin-Hellersdorf die »Junge Kirche Berlin«, die sich vor allem an Menschen richtet, die durch traditionelle kirchliche Arbeit nicht erreicht werden. Karl Giebeler, geboren 1948 in Unglinghausen im Siegerland, ist Coach für Führungskräfte und Systemischer Organisationsberater in 255
der »Akademie für Führung und Verantwortung« der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seit 1985 ist er ehrenamtlicher Vorsitzender des Vereins »Haus Unterm Regenbogen – Verein Eine Welt & Erinnerungsarbeit Herrlingen e.V.«. Horst Groschopp, geboren 1949, ist als habilitierter Kulturwissenschaftler Direktor der Humanistischen Akademie Deutschland und war 2003–2009 Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD). Er publizierte zur historischen Arbeiterkultur, zum Kultursystem der DDR, zur Kulturgeschichte der deutschen Freidenker sowie zur Theorie und Geschichte des modernen Humanismus. www.horst-groschopp.de Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, zog 1972 mit seinen Eltern nach Berlin. Er studierte Medizin in Berlin, Wien, Stockholm und Boston und promovierte anschließend. Seit 1998 ist er Mitglied der »Reformbühne Heim und Welt« und lebt mit seiner Familie in Berlin. Walter Homolka, Jahrgang 1964, ist liberaler Rabbiner und seit 2002 Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam. Zuvor war er u.a. Kaufmännischer Direktor bei Bertelsmann und Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland. Hanns Dieter Hüsch (1925–2005) war einer der produktivsten und erfolgreichsten deutschen Kabarettisten des 20. Jahrhunderts. Das »schwarze Schaf vom Niederrhein« wurde für sein literarisches Kabarett mit ungezählten Preisen ausgezeichnet, u.a. 2000 mit dem ökumenischen Predigtpreis. Karsten Krampitz, geboren 1969, ist Betriebswirt, Historiker und Schriftsteller. Als Atheist glaubt er fest daran: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. So erhielt er 2009 für die Novelle Heimgehen den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb sowie 2010 das Stipendium der Stiftung Brandenburger Tor. Außerdem ist Krampitz 2010 Stadtschreiber in Klagenfurt. Noch dazu arbeitet er an einer Dissertation zur SED-Kirchenpolitik, die mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert wird. 256
Andreas Krenzke wurde 1971 in Berlin, Hauptstadt der DDR, geboren. 1996 hob der Facharbeiter für BMSR-Technik die Berliner Lesebühne »LSD – Liebe Statt Drogen« mit aus der Taufe. 2000–2009 war er bei den »Surfpoeten« dabei. Er ist Mitinitiator des 2. Mai, des internationalen Kampf- und Feiertages der Arbeitslosen (bislang nur in Berlin). Bisher erschienen von ihm zwei Kurzgeschichtensammlungen und Beiträge in diversen Anthologien. 2009 gewann er den Kabarettnachwuchspreis »Stuttgarter Besen in Silber«. Harald Krille wurde 1956 im thüringischen Greiz geboren. Der gelernte Zerspanungs-Facharbeiter machte noch zu DDR-Zeiten eine Diakonenausbildung. Seit 1991 ist er als Journalist tätig. Seit einigen Jahren leitet er die Mantelredaktion der mitteldeutschen Kirchenzeitungen Glaube und Heimat (Weimar) und Der Sonntag (Dresden). Markus Liske, geboren 1967 in Bremen, studierte Publizistik an der FU Berlin und behauptet sich als Satiriker, Veranstalter von KunstSpektakeln, Herausgeber, Vorleser, Regisseur und Autor diverser Theater- und Hörstücke. Seine Satiren erschienen in bislang drei Bänden: Deutschland. Ein Hundetraum, Freier Fall für freie Bürger und Weltmeister wie wir. Seit 2002 ist Liske Teil der Band Der Singende Tresen. 2009 gründete er mit Manja Präkels die »Gedankenmanufaktur WORT & TON«. www.markusliske.de Fiona Lorenz, Jahrgang 1962, promovierte im Fachbereich Pädagogik an der Universität Trier. Sie engagiert sich in der Giordano-BrunoStiftung wie auch im Humanistischen Verband Deutschlands (HVD), verfasst regelmäßig Beiträge für den Humanistischen Pressedienst hpd.de und ist seit Juli 2009 dessen stellvertretende Redaktionsleiterin. Im Januar 2009 erschien ihr Buch Wozu brauche ich einen Gott? Gespräche mit Abtrünnigen und Ungläubigen, illustriert von Ralf König. Christoph Ludszuweit, geboren 1954 in Nienburg/Weser, ist promovierter Germanist, Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Internationalen B. Traven-Gesellschaft. Er war als Lektor für deutsche Sprache, Literatur und Landeskunde an der University of Nigeria/ Nsukka (1983–1988) sowie an der University of Namibia in Wind257
hoek (1995–1999) tätig und leitete zeitweise die Sprachabteilung beim Goethe Institut Nairobi in Kenia. Derzeit arbeitet er als Bewerbungstrainer und Sprachlehrer in Berlin und ist nebenbei u.a. als »Travenologe« publizistisch tätig. www.btraven.com Manfred Lütz, geboren 1954 in Bonn, ist katholischer Theologe, Arzt, Psychotherapeut und Autor mehrerer erfolgreicher Bücher. Seit 1997 leitet er das Alexianer-Krankenhaus in Bonn. 2007 erschien sein Bestseller Gott – eine kleine Geschichte des Größten. Johanna Martin wurde 1968 als Tochter der Schriftstellerin Brigitte Martin und des Regimekritikers Robert Havemann geboren. Unfreiwillig avancierte sie im August 1968 zum jüngsten Staatsfeind der DDR, da ihre Mutter das damals vier Monate alte Baby in einem Kinderwagen mit der Aufschrift »DUBCˇEK SVOBODA« in Ostberlin spazieren fuhr. So wurde ihre Kindheit von Stasiverfolgung überschattet. 1990–1996 studierte sie Bildhauerei an der kleinen Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Heute ist sie eine Künstlerin, die es liebt, ihren Ideen vielseitige Formen zu geben. www.johannamartin.de Tilmann Moser, Jahrgang 1938, ist Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut. Er praktiziert seit 1978 in Freiburg im Breisgau und ist Verfasser zahlreicher Bücher, unter ihnen der Bestseller Gottesvergiftung. Heinrich Missalla, geboren 1926 in Wanne Eickel, ist katholischer Priester und promovierter Theologe und war Dekan der Universität Essen. Er ist Mitbegründer des »Bensberger Kreises«, der Zeitung Publik-Forum und der Initiative »Kirche von unten«.Von ihm erschienen zahlreiche Publikationen zu theologischen, religions- und friedenspädagogischen Fragen. Burkhard Müller, geboren 1959, studierte Deutsch und Latein in Würzburg und promovierte mit einer Arbeit über Karl Kraus. Heute arbeitet er als Journalist im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung sowie als Dozent für Latein an der TU Chemnitz. Im Jahr 2008 wurde ihm der Alfred-Kerr-Preis verliehen. Sein letztes Buch heißt Lufthun258
de. Porträts der deutschen literarischen Moderne, sein nächstes B wie Bundesstraße. Eine deutsche Reise. Gita Neumann, geboren 1952 in Dinslaken am Niederrhein, studierte Sozialwissenschaften in Bochum sowie Philosophie und Psychologie in Berlin (West). Sie arbeitet als Referentin für Lebenshilfe im Humanistischen Verband Deutschlands, LV Berlin. Seit 1995 ist die diplomierte Psychologin Mitglied der Akademie Ethik in der Medizin (Göttingen), seit 2004 Mitglied der Kommission »Patientenautonomie am Lebensende« des Bundesministeriums der Justiz. Axel Noack, geboren 1949 in Biesnitz bei Görlitz, war von 1997 bis 2009 evangelischer Bischof in Magdeburg. Seitdem hat der Theologe eine Arbeitsstelle im Fach Kirchengeschichte an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg und beschäftigt sich mit der Aufarbeitung der Kirchengeschichte in der Zeit der DDR. Angelika Obert, geboren 1948 in Berlin, ist evangelische Pfarrerin, Leiterin des Evangelischen Rundfunkdienstes und Rundfunk- und Filmbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg schlesische Oberlausitz. Sie ist zudem Autorin für verschiedene Hörfunksender. Armin Pfahl-Traughber, geboren 1963 in Schwalmstadt, studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Duisburg und Marburg und war nach seiner Promotion ab 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz. 2004 wurde er Professor an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung (FH Bund) in Brühl und Swisttal-Heimerzheim. Seit 2007 ist er zudem an der Universität Bonn tätig. Pfahl-Traughber ist Herausgeber des Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung und Mitherausgeber der Philosophie-Zeitschrift Aufklärung und Kritik. Außerdem gehört er seit 2009 dem Expertenkreis Antisemitismus des Bundesministeriums des Innern an. Manja Präkels, geboren 1974 in Zehdenick/Mark, studierte Philosophie an der FU Berlin und war bis 1998 Lokaljournalistin für die Mär259
kische Allgemeine Zeitung. Sie ist Komponistin, Sängerin und Autorin diverser Theater- und Hörstücke und veröffentlichte mit ihrer Band Der Singende Tresen bislang vier CDs. Dafür erhielt sie verschiedene Auszeichnungen. Mit ihrer Lyrik-Sammlung Tresenlieder bekam sie 2005 das Alfred-Döblin-Stipendium. 2009 gründete sie mit Markus Liske die »Gedankenmanufaktur WORT & TON«. www.manjapräkels.de Christine Preißmann lebt in Dieburg und ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Sie arbeitet derzeit in Teilzeit im Suchtbereich einer psychiatrischen Klinik in Südhessen. Im Alter von 27 Jahren erhielt sie die Diagnose Asperger-Syndrom, seither möchte sie durch ihre Referate und Publikationen autistische Störungen in der Öffentlichkeit bekannter machen und so zu einem besseren Verständnis für die betroffenen Menschen beitragen. Bodo Ramelow, geboren 1956 in Osterholz-Scharmbeck, ist deutscher Politiker (Die Linke). Seit 2009 hat er – wie bereits 2001–2005 – den Fraktionsvorsitz seiner Partei im Thüringer Landtag inne und ist damit Oppositionsführer. Zuvor gehörte er von 2005 bis 2009 dem 16. Deutschen Bundestag als stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion an. In dieser Zeit war er religionspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Donata Rigg, geboren 1976 in Konstanz, studierte Theaterwissenschaften, Neuere Deutsche Literatur und Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. 2007 schloss sie zudem ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig mit einem Diplom ab. Sie arbeitete als Drehbuchlektorin sowie als Regieassistentin und Dramaturgin am Theater. Im Oktober 2010 wird ihr erstes Buch Weiße Sonntage erscheinen. Sie lebt in Hamburg. Claudia Schattach studierte Literaturwissenschaft, Französisch und Soziologie in Bayreuth, Berlin und Lyon. Sie lebt als freie Autorin in Berlin. 2006 gab sie mit der Novelle Kann man deshalb schon von Liebe sprechen ihr literarisches Debüt.
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Michael Schmidt-Salomon, geboren 1967, ist promovierter freischaffender Philosoph und Schriftsteller sowie Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Jenseits von Gut und Böse, Manifest des evolutionären Humanismus, Wo bitte geht‘s zu Gott? fragte das kleine Ferkel und Susi Neunmalklug erklärt die Evolution. www.schmidt-salomon.de Stefan Seidel, Jahrgang 1978, hat Theologie studiert und lebt als Masterstudent der Psychologie und journalistischer und literarischer Autor in Leipzig. Uwe von Seltmann, Jahrgang 1964, hat evangelische Theologe studiert, ist aber nicht Pfarrer geworden, sondern Journalist. Er war knapp sieben Jahre Chefredakteur von Kirchenzeitungen, hat mehrere Bücher verfasst und herausgegeben und lebt als freier Autor in Krakau und Leipzig. www.uwe-von-seltmann.de Sibylle Sterzik, Jahrgang 1963, ist seit ihrem Theologiestudium als Redakteurin der Kirchenzeitung in Berlin tätig. Als ausgebildete Psychologische Familienberaterin arbeitet sie nebenberuflich in einer evangelischen Beratungsstelle. Arzu Toker, geboren 1952 in Halfeti/Türkei, lebt seit 1974 in Deutschland. Sie ist Mitbegründerin von vielen Medieninitiativen und Kulturprojekten und war über zehn Jahre Mitglied im WDR Rundfunkrat bzw. stellv. Vorsitzende des Programmausschusses. Seit 25 Jahren ist sie als Journalistin und Autorin tätig. 1996 erhielt sie den türkischgriechischen Abdi-Ipekci-Preis für Frieden und Völkerverständigung. Matthias Vernaldi, geboren 1959 in Pößneck/Thüringen, ist Theologe und von Geburt an durch eine Muskelkrankheit schwerstbehindert. Seit 1996 leistet er Öffentlichkeitsarbeit im Bündnis für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen, seit 1999 ist er Vorstand bei »ambulante dienste e.V.« (größter Anbieter Persönlicher Assistenz für Behinderte in Berlin) und seit 2007 Redakteur und Autor bei Mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen. 2000 gründete er die Initiative Sexybilities – Sexualität und Behinderung. Er lebt in Berlin. 261
Frieder Otto Wolf, Jahrgang 1943, ist seit November 2006 Honorarprofessor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Seit 1998 engagiert er sich der zweifache Vater im Humanistischen Verband Deutschlands und ist Gründungsvorsitzender des »Koordinierungsrates Säkularer Organisationen« (KORSO). Er publizierte zu Fragen der Metaphilosophie, der politischen Philosophie sowie zu philosophischen Fragen der Politik und der Sozialwissenschaften. www.friederottowolf.de
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Foto: Susanne Schleyer autorenarchiv.de Foto: Gabriela Maciejowska
Karsten Krampitz, Jahrgang 1969, schreibt als Historiker und Journalist für verschiedene deutsche Tageszeitungen. Er ist Stadtschreiber von Klagenfurt 2010, für seine Novelle Heimgehen erhielt er 2009 den Publikumspreis des Ingeborg-BachmannWettbewerbs. Der Autor lebt und arbeitet in Berlin.
Uwe von Seltmann, Jahrgang 1964, studierte evangelische Theologie und war von 2002 bis 2008 Chefredakteur von evangelischen Wochenzeitungen. Heute lebt er überwiegend in Krakau und ist als Autor und Journalist tätig.
Natürlich existiert Gott, sagen die einen – alles Unsinn, meinen die anderen. Ist Gott der Schöpfer oder selbst nur eine findige Schöpfung? Die Frage beschäftigt den Menschen seit alters und ist doch aktuell wie nie. Denn gerade in unserer durchrationalisierten Welt suchen viele nach dem tieferen Sinn ihres Daseins. Karsten Krampitz und Uwe von Seltmann sind überzeugt, dass man über Gott reden und vor allem streiten kann. Dazu sammelten sie unterschiedlichste Stimmen zum Thema »Gott« quer durch unsere Gesellschaft. Das Resultat: Eine originelllebhafte Debatte über Glück und Elend des Menschen, mit und ohne Gott zu leben.
Mit Beiträgen von Lea Ackermann, Henryk M. Broder, Jakob Hein, Fiona Lorenz, Manfred Lütz, Bodo Ramelow, Michael Schmidt-Salomon u.v.a.
ISBN 978-3-7766-2645-2
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