Das Buch »Von Singen hatte ich keine Ahnung. Ich sprach Texte zur Musik und war froh, wenn mir das so gelang, daß ich g...
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Das Buch »Von Singen hatte ich keine Ahnung. Ich sprach Texte zur Musik und war froh, wenn mir das so gelang, daß ich gleichzeitig mit der Musik fertig war.« Diese Selbstkritik konnte den späteren Erfolg nicht aufhalten. Lale Andersen sollte mit ihrem Laternenlied eines Tages ein weltweites Echo und eine Massenpsychose auslösen: Solange Lales Lied, nach dem man nicht marschieren konnte, zum Programmschluß vom Sender Belgrad über Afrikas Wüsten erklang, schwiegen auf beiden Seiten der Front die Waffen, vergessen war für wenige Minuten der Krieg, Freund und Feind träumten von der Heimat. - Wer war diese Frau, deren Stimme eine solche Wirkung hatte? Nur wenige kannten Lale Andersen und wußten, daß sie in literarischen Kabaretts und an Boulevard-Theatern tingelte, daß sie von Gläubigern und schließlich von der Gestapo verfolgt wurde und wegen unwürdigen Verhaltens und Wehrkraftzersetzung nicht mehr vor »deutschen Menschen« singen durfte. - Wer dabei war, wie einst ›Lili Marleen‹, wird diese stürmischen Jahre gern nochmals mit Lale nacherleben, und die Jüngeren lernen beim Lesen ihrer Erinnerungen vielleicht jene Zeit besser verstehen, in der ein so sanfter Protestsong wie ›Lili Marleen‹ den Kopf kosten konnte.
Die Autorin Lale Andersen, Tochter eines Bremerhavener Steuermanns, wurde als Chanson-Sängerin weltberühmt. Sie starb am 29. August 1972 in Wien. Den Erfolg ihres Buches konnte sie nicht mehr erleben.
Lale Andersen: Leben mit einem Lied
Deutscher Taschenbuch Verlag
Für Rolf
Scanned by Doc Gonzo
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Ungekürzte Ausgabe 1. Auflage Juli 1974 5. Auflage April 1981: 46. bis 55. Tausend Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Der Titel bei der Erstveröffentlichung lautete: ›Der Himmel hat viele Farben ‹ 51972 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart ISBN 3-421-01625-9 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti unter Verwendung eines Szenenfotos mit Hanna Schygulla aus dem Rainer Werner Fassbinder-Film ›Lili Marleen‹ der Roxy/ Lex/CIP Produktion Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-01003-7
Findet ein Armer ein Rubelchen, ist es bestimmt ein falsches. Aus Rußland
Wir waren um den ganzen See herumgefahren. Ich hatte die Schuhe abgestreift, die Füße auf den Sitz gezogen und den Kopf an das Rückenpolster gelehnt. Die Sterne glitzerten wie die Steine auf dem fliederfarbenen Meßgewand, das Pater Domenicus am Palmsonntag getragen hatte. Von den Wiesen her roch es nach Heu. Der Motor des offenen Wagens surrte so leise, daß man das Zirpen der Grillen und das Quaken der Frösche hören konnte. Der Mann hinter dem Lenkrad warf einen kurzen besorgten Blick auf das rote Saffianleder seines Autos und auf meine nackten Füße. Nachdem er festgestellt hatte, daß sie am fünften Wochentag nicht sauberer und nicht schmutziger waren als bei Leuten aus seinen Kreisen, sagte er mit einer Stimme, die wie das Gurgeln einer verstopften Wasserleitung klang: »Machen Sie es sich nur bequem, Fräulein.« Bequem? Bequem wäre es, jetzt in dem breiten gemütlichen Nußbaumbett der Pension Lindenhof zu liegen, anstatt in diesem Auto zu hocken. Wie oft gedachte der Mann überhaupt noch um den Zürichsee zu fahren, bis er sich im klaren darüber war, was er mit mir vorhatte? Ich betrachtete noch einmal sein Profil. Die Nase war zu klein, und das Kinn war zu groß. Immerhin gewöhnte man sich daran vielleicht eher als an eine zu große Nase und ein zu kleines Kinn. Und die Brille? Durch die plumpe schwarze Hornfassung der Gläser sahen seine Augen aus wie zwei Kondolenzkarten. Im Bett setzte er das Ding ja wahrscheinlich ab, aber die Erinnerung an etwas Düsteres würde mich bestimmt bis in den Schlaf hinein verfolgen. Als fühle er meinen kritischen Blick, wandte der Mann mir einen Augenblick lang sein Gesicht zu. Es genügte, um seufzend zu erkennen, daß ich mich diesen behaarten Wangen und den von Moschus-Pomade mühsam zusammengehaltenen dicken Haaren niemals mit zärtlichen Küssen nähern könnte. Vielleicht be5
gegnete mir ein jüngerer, hübscherer Millionär. Ich war ja noch nicht lange in diesem reichen Land, und seit der Pressevorstellung war es bei uns Abend für Abend ausverkauft. »Paß auf, Eskimo, hier machst du dein Glück«, empfingen mich Herr und Frau Winkelmann oft, wenn ich nach dem Auftritt mit Blumen und Bonbonnieren in die Garderobe zurückkam. Meine norddeutsche Heimat lag in Frau Winkelmanns Vorstellung in Grönland. Sie war der Star des Programms und trat unter dem Künstlernamen Valeska auf. Sie besaß sechs Bühnenkostüme, einen schweren weißen Busen, den sie dank eines Spezialkorsetts bis in Halsnähe hinaufschieben konnte, zwei Schachteln voll Schmuck und einen Partner. Valeska war nicht wie ich zum Theater gegangen — ohne Kleider, ohne Busen, ohne Partner, ohne alles. »Ich habe studiert, mein Kind. Zuerst in Odessa bei meiner Mama, die in ihrer Jugend im Ballett des Zaren Primaballerina war. Später in der Heimat meines Vaters an der Budapester Oper. Mon Dieu, wie viele Ehen habe ich ausgeschlagen, wieviel Glanz und Gloria, alles wegen meiner Kunst.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Und da kommt ausgerechnet in Zürich so ein intellektueller Nichtstuer und schreibt in seiner Kritik sechs Zeilen über dich und nur eine über mich!« Ich schob ihr den Konfektkasten des Vorabends zu. Sie übersah ihn tapfer. »Ich hasse Intellektuelle. Sie sind wie böse Insekten, die ihren Verstand nur zum Zerstören und Verletzen benutzen. Womit ich nichts gegen kluge Menschen gesagt haben will. Kluge Menschen sind solche, die ihr Wissen mit Güte und Herzenstakt weise und behutsam einsetzen.« Sie mußte das irgendwo gelesen und auswendig gelernt haben. Es war in unserer Bekanntschaft bereits das drittemal, daß sie diesen Satz anbrachte. »Du nimmst mich nicht ernst?« Valeska sah mich mißtrauisch an. Ich drückte sie auf den Garderobenstuhl zurück. »Aber ja, Valeska. Ich bin doch froh, gleich im ersten Engagement zwei Kollegen getroffen zu haben, die so viel Erfahrung haben wie du und Franz.« Besänftigt langte Valeska in den Konfektkasten und schob sich zwei Kognak-Kirschen in den Mund. 6
Ich blickte in die bunte Heiterkeit unserer Garderobe, die eng und schmal war wie ein Zigeunerwagen. Die Kleiderhaken bogen sich unter den schweren Kostümen der Winkelmanns. An jedem der drei Schminktische brannten zwei elektrische Kerzen. Ihr weiches Licht strich Vale ska die scharfen Falten fort, die sich von der Nase zum Mund eingegraben hatten. Er sah weich und nachgiebig aus und so, als würde er immer noch gerne küssen. Mit einem »Ungarischen Tanz« eröffnete sie das Programm. Anschließend ging Herr Moser, der Jongleur und Zauberkünstler, auf die Bühne. Valeska kehrte für eine halbe Stunde in die Garderobe zurück. Franz nahm ihr den Ährenkranz aus den Haaren, glättete dessen bunte Bänder und zog die roten Stiefel von Valeskas Beinen. Sie brauchte sich mit nichts anderem zu beschäftigen, als wieder zu Atem zu kommen. »Das hat mit dem Alter nichts zu tun«, wehrte sie meinen mitleidigen Blick ab. »Das ist - ch - ch - mein slawisches Temperament, unser hoher Blutdruck. So was kennen die aus dem Norden nicht, Putschikam.« Franz wandte ihr sein besorgtes Dackelgesicht zu, setzte ihr ein in hohe Falten gelegtes Handtuch aufs Haar und half ihr in eine gelbe Leinenbluse und in einen blaurot gestreiften meterweiten Rock. Der Auftritt war als Höhepunkt des Programms plakatie rt. »Valesca und Franco in ihrer sensationellen Tanz-Schöpfung Caribische Symphonie.« An diesem Abend hatte ich in der Dekoration gestanden und zugesehen. Franz mit Gitarre, die er mehr klopfend als saitenschlagend bearbeitete, läßt sich kniend auf der Bühne nieder. Valeska rast heraus und um ihn herum. Rüschen und Volants wirbeln plötzlich das schwarze Locken-Toupet, das Franz bei diesem Auftritt trägt, in den Zuschauerraum. Schwarze Hornbrille, die sich von einem Gesicht abhebt, umkippende Weingläser, überraschtes altes Ehepaar, Feuervogel, der von der Bühne springt, »geben Sie sofort das Haar meines Partners zurück«, das Toupet dem verdutzten Alten entreißt, es auf die kahle Stirn drückt, sie küßt, »pardon, Cherie, pardonnez-moi, je vous en prie«, weitere Küsse, Sprung zum Orchester, Beratung, von welchem Takt ab der Tanz von neuem 7
beginnen soll. »Die Rechnung bitte«, unterbricht der Brillenträger die eingetretene Stille, hält die Bügel der Wiedergefundenen fest, zahlt und schreitet langsam dem Schild »Sortie« zu. »So ein Hirsch, so ein rücksichtsloser«, jammerte Valeska bei ihrem Abgang. Ich strich tröstend über das erregte Gesicht und ging zu meinem Auftritt auf die Bühne. Als ich zurückkam, hatte sich Valeskas Zorn noch immer nicht gelegt. »Bilde dir auf deinen Applaus nur nichts ein, Eskimo«, fuhr sie mich an. »Solange man jung und unbekannt ist, kann man sich auf den Brettern erlauben, was man will. Das Publikum applaudiert, als sei es nach diesem Neuen fast verschmachtet. Das legt sich schnell, und niemand wird mehr von dir reden, wenn du in drei, vier Jahren wieder hierher ins Engagement kommst. Auch nicht, wenn du es bis dahin zu teuren Auftrittskleidern gebracht hast und zu einem akzeptablen Repertoire. Heute imponiert es ihnen noch, daß du in einem Sweater auftrittst und mit Songs, die kein Mensch versteht. Aber glaube mir, dieser Erfolg wird dich mit der Zeit genauso verlassen, wie dich deine Jugend verläßt.« Sie stand auf, zog mich an ihren warmen, zornbebenden Busen und sagte: »Mach es doch klüger als ich, mein kleiner Eisvogel! Hier in der Schweiz ist jeder zehnte Mann ein Millionär. Nimm dir einen von ihnen, hör auf mich, heirate ihn, pfeiff auf Applaus und Erfolg und auf das harte Artistenleben, das jeden von uns zermalmt wie eine Dampfwalze.« Nachdenklich verließ ich die Garderobe. Vor dem Bühnenausgang stand der »Hirsch« und neben ihm sein Auto. »Sie haben meine Kollegin gekränkt«, sagte ich, als ich in das offene Cabriolet stieg. »Warum haben Sie mit Ihrem Fortgehen nicht gewartet, bis Valeskas Auftritt vorbei war?« »Ich hatte nur eine Brille bei mir. An einem der hinteren, weniger gefährdeten Plätze des Theaters habe ich dann noch Ihre Darbietung angesehen. Sie hat mich für alles entschädigt.« Der Mann sprach genauso verschnörkelt, wie er gekleidet war. Rötlicher Anzug mit weißen Streifen, plissiertes Hemd und weiße Handschuhe, wie sie normale Menschen erst bei fünf Grad minus anziehen. 8
»Haben Sie schon zu Abend gegessen?« »Ich esse immer nach der Vorstellung mit meinen Kollegen im ›Lindenhof‹, Valeska kann herrlich kochen, heute gibt es gefüllte Paprikaschoten.« Der Hirsch schwieg. Nach einigen Kilometern räusperte er sich und sagte: »Widmer.« »Wilke.« »Ist das ein norddeutscher Name?« »Es ist der Name von meinem Mann, einem Maler aus Worpswede. Worpswede ist eine Künstlerkolonie in der Nähe von Bremen.« »Sie sind -?« Herr Widmer räusperte sich, stellte das Radio ein und gurgelte: »Das ischt Radio Monte Carlo, sie bringen jeden Abend ab elf Uhr Tanzmusik.« Pause — neuerliches Räuspern. »Sie haben auch sehr schön gesungen, Fräulein.« Hatte ich ihm nicht gerade gesagt, daß ich eine verheiratete Frau war? Und was bezeichnete er mit »Singen« ? Von Singen hatte ich keine Ahnung. Ich sprach Texte zur Musik und war froh, wenn mir das so gelang, daß ich gleichzeitig mit der Musik fertig war. Wir fuhren an einer Gärtnerei vorbei. Der Nachtwind trug den süßen Duft von Tulpen und Aurikeln herüber. Melancholisch dachte ich an die Liebespaare, die unter bunten Lampionketten in ihren Booten über den Zürichsee schaukelten. Wieviel lieber würde auch ich mit einem hübschen, armen Jungen Kahn fahren als mit einem langweiligen Millionär Auto. ›Sentimental me‹, klang Frank Sinatras Stimme aus dem Radio. Bevor ich Gelegenheit hatte, völlig in Selbstbedauern zu versinken, riß mich eine Geste Herrn Widmers in die Wirklichkeit zurück. Er fuhr den Wagen von der Straße fort in eine hinter Sträuchern versteckte Parkbucht. Ich rutschte in die äußerste Ecke des Wagens. Herr Widmer zog langsam die weißen Wildlederhandschuhe aus und holte dann bedächtig die Brieftasche hervor. Er fragt gar nicht erst, ob ich will, dachte ich entsetzt, sondern zahlt und erwartet die Gegenleistung, und das mitten in der Nacht, und kein Mensch weit und breit - ›Isn't it romantic?‹, versuchte mich vergeblich aus dem Radio die Stimme von Maurice Chevalier zu animieren. Herr Widmer tat ein paar 9
Scheine in einen Briefumschlag und reichte ihn mir. »Wir haben es nicht mehr weit bis zu Ihrer Pension. Würden Sie bitte Ihrer Kollegin morgen hiervon ein paar Rosen kaufen und in meinem Namen übergeben?« Herr Widmer fuhr an und hielt bald darauf vor dem »Lindenhof«. Er half mir die Schuhe anziehen, sah mich mit seinen ernsten, schwarz eingefaßten Augen an und schloß die Haustür auf. »Waren Sie heute abend auch so müde?« fragte ich verlegen. Er gab mir den Schlüssel und das Couvert, lächelte und ging zum Wagen zurück. Winkelmanns hatten mit dem Essen auf mich gewartet. »Der Bühnenportier sagte uns zwar, daß du mit einem Herrn fortgefahren seiest«, prüfender Blick in mein Gesicht, »aber vielleicht hast du im Wiederholungsfall die Liebenswürdigkeit, mich vorher davon zu verständigen mit wem, wohin und wie lange. So jetzt wird gegessen«, entschied Valeska, »und dann erzählst du.« Sie trug beim Kochen einen alten Schminkmantel und Franz eine rote Wachstuchschürze. Auf dem Brustlatz standen die Worte »I'm a genious«. Es gab wirklich gefüllte Paprikaschoten. Der Duft von Tulpen und Aurikeln war vergessen. Hier roch es nach Realität und nicht nach törichten Träumen. Wir aßen schweigend. Dann half ich Valeska beim Abräumen, und Franz braute einen Kaffee. Im gemütlichen Licht der Hängelampe öffnete Valeska das Couvert und sah erstaunt die Fünfzigfrankennoten an. »Er läßt sich entschuldigen, und dafür soll ich dir Blumen kaufen.« »Ein Mann von Format«, berichtigte Valeska ihr Urteil. »Und sonst, Eskimo?« »Sehr langweilig.« »Du tust ihm unrecht. Wäre es dir vielleicht lieber, er wäre zudringlich geworden? Was ich dich übrigens schon immer fragen wollte: bist du noch unschuldig?« »Ich weiß nicht.« »Gib nicht so blöde Antworten, Eskimo. Letzten Endes habe ich auch keine Geheimnisse vor dir. Sicher bist du es nicht mehr. Du könntest sonst auf der Bühne nicht das in der Stimme 10
haben, was du in der Stimme hast. Im Büro sah ich in deinen Personalien, daß du zwanzig bist —« »Müde bin ich wie eine Hundertjährige.« Ich küßte sie und Franz und wollte in mein Zimmer gehen. Valeska hielt mich fest. »Weißt du, daß wir in zwölf Tagen den 30. April haben und daß keinerlei Aussicht besteht, bis zum Ersten noch ein Anschluß-Engagement zu bekommen ? Der Mai war schon immer ein schwarzer Monat für Artisten. Die Varietes und Kabaretts in den Städten schließen, und die Kurtheater sind noch nicht geöffnet. Franz und ich wissen das und haben für diesen Monat immer eine kleine Geldreserve bereit liegen. Aber du - wie soll der Mai für dich aussehen?« »Darf ich morgen darüber nachdenken ?« Valeska gehörte zu den schwierigen Menschen, die nicht - wie ich - abends von Stunde zu Stunde müder, sondern im Gegenteil immer wacher wurden. »Ich habe meine Gründe dafür, diese Sache heute mit dir zu besprechen und nicht morgen. Hast du Eltern, zu denen du fahren kannst, wenn wir hier fertig sind? Nein? Verwandte? Auch nicht ? Einen Freund ?« Ich hatte die Tasse zwischen meine Hände genommen und schlürfte den heißen Kaffee in der Hoffnung, daß er die Müdigkeit verscheuchen und mich für das Kampfgespräch, das mir anscheinend bevorstand, abwehrstark machen würde. Komisch, nach dem Nächstliegenden, ob ich einen Mann hätte, fragte Valeska nicht. Im Zusammenhang mit dem 1.Mai war das allerdings auch überflüssig. Zu Paul und den Kindern würde ich frühestens zurückkehren, wenn mich nichts mehr zwang, zu ihnen zurückzukehren. Das Gefühl finanzieller Abhängigkeit war schwerer zu ertragen als freiwilliger Verzicht auf Essen, Trinken und Garderobe. Die Kinder wußte ich bei meiner Mutter und bei meiner älteren Schwester gut aufgehoben, und Paul war sicher froh, den Problemen eines Familienlebens auf engstem Raum entronnen zu sein, und genoß es, sich von einer seiner reichen Verehrerinnen verwöhnen zu lassen und da zu malen, wo Licht und Landschaft ihn besonders inspirierten — in der Bretagne oder in Dänemark oder Schwe11
den. »Hast du Krach gehabt mit deinem letzten Freund?« Valeska hatte eine Brille aufgesetzt und damit begonnen, einen Strumpf auf den Holzpilz zu ziehen und zu stopfen. Ihr Anblick erheiterte mich. Vor mir saß keine gefeierte Bühnenschöne, sondern eine brave Bürgerin mit strengen moralischen Grundsätzen, die versuchte, eine ihrem Herzen nahestehende junge Kollegin unter die Haube zu bringen. »Er betrog mich.« »Wenn eine Frau einen Mann nicht halten kann, ist es meist die Schuld der Frau.« Damit erzählte sie mir nichts Neues. Das hatte mir der Maler zu seiner Entschuldigung auch erklärt. »Ich weiß«, gab ich achselzuckend zu und ließ mir von Franz eine weitere Tasse Kaffee geben. »Ich bin langweilig im Bett.« Valeska richtete sich auf, legte den Stopfpilz auf den Tisch und sah mich über die Brille hinweg empört an. »Das wiederum ist die Schuld des Mannes. Wenn er es richtig macht, wird es dir nicht lange langweilig sein. Eines steht fest: Ich werde Herrn Widmer schreiben und ihn um eine Unterredung bitten. Ist er unverheiratet und solvent, wirst du an seiner Seite sicher glücklicher als an der eines biederen, dummen Jungen.« Ich war zu müde, um zu erklären und zu widersprechen. Franz verschickte bunte Drucksachen, auf denen Valeskas Können, ihre Schönheit und ihre Einmaligkeit in vier Sprachen angepriesen wurden. Auf die Rückseiten der Karten schrieb er: »Für die nächsten zwei Jahre in besten Häusern ausgebucht, jedoch zufällig zum 1. Mai frei.« Ich durfte die Adressen abschreiben, hatte mir von der Schweizer Zeitung vom 4. April 1933, in der meine gute Sechs-Zeilen-Kritik stand, zwölf Exemplare gekauft, an jedes ein Foto geklammert und sie ebenfalls an Künstleragenturen und Varietedirektoren geschickt. Es war bereits der 26. April, und wir hatten noch kein einziges Angebot erhalten. Herr Widmer hatte Valeska inzwischen wiederholt zum Abendessen eingeladen. »Internationales Format«, erklärte sie Franz und mir, wenn sie aus seiner großen Welt in die kleine 12
unserer Artistenpension zurückkehrte. Sie setzte den weißen Filzhut ab, hängte das blaue Schneiderkostüm und die weiße, gestärkte Bluse auf einen Bügel, zog die Haarnadeln aus dem korrekt aufgesteckten Haar, schlüpfte in ihren alten Schminkmantel, ließ sich von Franz die Beine (»mein Kapital«) auf einen Schemel legen und massieren und einen Kaffee-Kirsch servieren. »An seiner Seite hättest du keine Sorgen mehr«, begann sie mit ihrer Widmer-Werbung. Franz und ich tauschten den Blick von Leidensgefährten aus. »Er ist einer der größten Schweizer Seidenfabrikanten, besitzt in Sankt Gallen zwei Fabriken, in Zürich eine Villa auf dem Dolder und bei Lugano ein Ferienhaus mit Bootssteg und einer großen Jacht. Das mit Eskimo war Liebe auf den ersten Blick, hat er mir gestanden, und wenn du deinen Beruf aufgibst und dich ihm anvertraust, wird er sich sofort scheiden lassen.« Franz riskierte ein Räuspern. »Am 1. Mai will er mit uns nach Biella fahren. Er hat da geschäftlich zu tun. Begreiflicherweise will er dich näher kennenlernen«, redete sie auf mich ein. »Ich habe ihm dein Wesen in den besten Farben geschildert, Eskimo, und natürlich auch vorsichtig deine Nachteile angedeutet. Er ist also vorbereitet.« Ich hörte ihr zu und sie tat mir etwas leid in ihrer Naivität und ihrem Eifer. Obwohl ich nicht wußte, was ich tun würde, wenn wirklich bis zum 1. Mai kein Engagementangebot kam — eines wußte ich, daß ich niemals in Herrn Widmers Armen resignieren und meine Illusionen begraben würde. Da der 30. April auf einen Sonntag fiel, wurde man zur Gagenabrechnung bereits am 29. nach der Vorstellung ins Büro bestellt. Franz hatte sich erboten, meine Gage, die sich durch Vorschüsse ohnehin so gut wie erledigt hatte, mit abzuholen. Valeska und ich gingen langsam voraus, um das Essen vorzubereiten. Nach vier kühlen, regennassen Tagen war das Wetter wieder mild und frühlingshaft. Im Schaufenster der Conditorei »Sprüngli« krochen bereits Schokoladenmaikäfer durch grün gefärbte Holzwolle, und bunt beklebte Papiertüten mit der Aufschrift »Erster Schultag« quollen über von Schokoladenund Marzipankonfekt. Aus unserer liebevollen Betrachtung schreckte uns das Bremsen eines Wagens auf, der hart am Bürger13
steig hielt. Eine Tür wurde aufgerissen, ein sportlich aussehender, junger Mann sprang heraus, zeigte Pferdegebiß und wieherte: »Wir waren in Ihrer Vorstellung, mein Freund Robert und ich. Chöschtlig, chöschtlig - dürfen wir Sie nach Hause fahren?« Ein paar Theaterbesucher blieben stehen. Ich sah Valeska fragend an. Ihr Gesicht hatte den drohenden Ausdruck einer Tierbändigerin, mit dem sie auch, als sei das Theater ein Löwenkäfig, allabendlich die Bühne betrat. »Wir gehen lieber zu Fuß.« Das heitere Fohlen gab noch nicht auf. »Wir wollten Sie zum Abendessen einladen.« »Wir kochen selbst.« »Desto besser.« Er sprang um uns herum, und sein Freund fuhr im Schrittempo neben uns her. »Sie waren sehr komisch«, versuchte das Pferd jetzt sein Glück bei mir, »wer schreibt und komponiert dieses Zeug eigentlich für Sie?« Ich zuckte zusammen. Meine sozialkritischen Chansons komisch? »Robert kann das beurteilen. Für die lange Blonde müssen wir etwas tun, hat er sofort entschieden.« Mein Gönner steckte zur Bestätigung den Kopf zum Wagenfenster heraus und lächelte mir wohl wollend zu. »Er studiert zwar Jura«, glaubte sein Freund erklären zu müssen, »aber seine Leidenschaft sind Musik und Theater und psychologische Experimente mit jungen Mädchen.« Valeska warf mir einen vielsagenden Blick zu, öffnete die Haustür der Pension Lindenhof, schob mich hinein und schloß sie ohne einen Gruß oder eine Geste der Freundlichkeit schnellstens von innen ab. »Und wenn das Millionäre waren?« fragte ich vorwurfsvoll. Valeska legte die Spaghetti ins kochende Salzwasser. »Sind sie sicher, könnte der Dicke sonst solch ein Auto fahren ?« »Der war doch nicht dick.« »Hast du seinen Speck auf Schultern und Schenkel nicht gesehen? Ein richtiges Elefantenkalb.« »Aber die quadratische Figur von Herrn Widmer stört dich nicht ?« 14
Valeska setzte die Schüssel, in der sie Sahne, Tomatenmark und Parmesankäse verrührte, mit Nachdruck auf den Tisch. »Herr Widmer ist außerordentlich gut proportioniert. Außerdem sind bei einem Mann, der so viel im Leben erreicht hat wie er, äußere Dinge nicht entscheidend. Herr Widmer ist Klasse, und die beiden Studenten, falls du es noch nicht mitbekommen hast, waren Intellektuelle. Jawohl, Intellektuelle.« »Intellekt ist doch nichts Negatives, Valeska. Man kann ihn doch auch positiv einsetzen.« »Das wäre mir neu«, brummte sie und beschloß das Thema mit der Feststellung: »Auf alle Fälle fahren wir morgen mit Herrn Widmer nach Biella.« »Wir?« »Da siehst du seine Großzügigkeit. Er hat mich eingeladen, bis Lugano, oder, wenn ich es für richtig halte, auch bis Biella mitzukommen.« Am nächsten Vormittag gab ein Bote ein Paket für mich ab. Es enthielt einen Band mit Francois-Villon-Gedichten und das Buch von Thomas Wolfe ›Schau heimwärts, Engel‹. Auf der beigefügten, weißen Karte stand: »Wir sind heute in der Abschiedsvorstellung — dürfen wir anschließend für Sie kochen?« Ich nahm die Bücher in den Arm, ging in mein Zimmer und begann zu lesen. Abends sah ich die Freunde in der ersten Reihe sitzen. Eine mir bis dahin völlig fremde Unsicherheit meinem Repertoire und meiner Stimme gegenüber kroch mir in die Kehle. Ob Valeska recht hatte? War es vielleicht wirklich nur meine Hilflosigkeit, die Publikum und Kritiker rührte und nachsichtig machte? Zum erstenmal erkannte ich, daß ein Vortragender seinen Atem unter Kontrolle haben muß, wenn er Textphrasen nicht durch plötzliche Atemnot unterbrechen will. Ich schluckte und rang nach Luft und fühlte, wie mir aus Angst und Verlegenheit das Blut ins Gesicht schoß. Und die Hände. Wo hatte ich früher auf der Bühne meine Hände gelassen? Sie waren mir überall im Weg. Ließ ich sie hängen, hatte ich das Gefühl, daß sie groß und schwer wie Backsteine am Gelenk baumelten. Nahm ich sie hoch, wußte ich nicht, was ich mit ihnen tun sollte — 15
sie wie beim Gebet auf der Brust zusammenfalten, sie beschwörend gegen die Bühnendecke ausstrecken? Beim dritten Lied vergaß ich den Text, versuchte stotternd, es sinngemäß zu beenden, stürzte hinter die Kulissen und rief dem Bühnenmeister zu: »Schnell, schnell, rufen Sie Valeska. Meine Dacapos fallen heute weg.« Valeska und Franz stürzten an mir vorbei auf die Bühne. Ich schwankte in die Garderobe. Aus dem Schminkspiegel starrte mir ein verängstigtes Gesicht entgegen. Es war von glatten Haaren eingerahmt, in deren Blond keinerlei interessante rötliche oder goldene Reflexe schimmerten. Fad, wie von der Sonne ausgebleichtes Dünengras, fiel es auf die mageren Schultern. Die Augen waren weder braun noch blau. Sie schwammen in einem stumpfen Grau hinter langen, getuschten Wimpern wie Moortümpel zwischen geteerten Holzgittern. Und warum war ich mit einem so hoch sitzenden Jochbein bestraft, das die Augen schmal machte und sie an den Schläfen in die Höhe schob? Meine Vorfahren kamen doch nicht aus der Mandschurei, sondern aus Friesland. Die Nase? Nichtssagend — weder interessant gebogen noch liebenswürdig gerundet. Der Hals lang und mager wie die ganze Figur. Nur in einem Punkt hatte die Natur Erbarmen mit mir gehabt. Sie hatte mir kräftige, weiße Zähne geschenkt. Aber was nützt das schon - seine Zähne zeigt man, wenn man lacht, und bisher hatte mir das Leben wenig Grund dazu gegeben. Woher hatte ich nur den Mut genommen, dieses Gesicht der erbarmungslosen Helle der Scheinwerfer preiszugeben, mit dieser Figur ein Podium zu betreten, mit meiner kläglichen Stimme zu singen? Mittelklasse. Armselige, schäbige Mittelklasse wie Valeska, wie Franz, wie Herr Moser, erklärte ich illusionslos meinem Spiegelbild. Und wo sind Anzeichen, daß sich das jemals ändern wird ? Siehst du welche ? Mußt du nicht froh sein, daß Herr Widmer sich deiner annehmen will? Daß es einen Menschen gibt, der großzügig all deine Schwächen übersieht? Enttäuschung und Selbstmitleid trieben mir die Tränen in die Augen. Ich wollte sie nicht sehen, löschte das Licht und ließ mich ratlos in das Dunkel der nächsten Wochen fallen. 16
Valeska lag auf den Holzplanken des Bootsanlegers und schien zu schlafen. Ihr Kopf war von einem bunten Tessiner Sonnenschirm beschattet. Eine der schweren, weißen Brüste war dem enggeschnittenen Badeanzug entschlüpft und in die Achselhöhle gerutscht. Neugierig schaute eine große rosa Brustwarze in eine Welt, die ihr sonst im harten Panzer des Korsetts verborgen blieb. Auf den gebräunten Beinen und Schenkeln lag die Vormittagssonne eines Maimorgens, der nur für mich voll dunkler Ahnungen und Wolken hing. Ich kletterte die Strickleiter hinauf und schlich auf Zehenspitzen den Steg entlang zum Bootsschuppen. An seiner Rückwand war eine Dusche angebracht, deren eiskalter Strahl das milde, seifige Seewasser mit einer Kraft von der Haut jagte, daß ich jedesmal nach Luft rang und eine Stunde in der Sonne liegen konnte, bis die blaurot durchfrorenen Glie der sich wieder erwärmten. Ein altes Diener-Ehepaar, seit Jahren in Herrn Widmers Diensten und auf Gäste eingestellt, mit denen er über Spinnstoffe und Sankt Galler Spitzen sprach, hatte sich mit uns und dem Inhalt unsrer Unterhaltungen abgefunden. Valeskas freundliches Angebot: »Falls wir Ihnen zuviel Mühe machen und Sie es von Ihren anderen Besuchern so gewöhnt sind, können wir unsre Betten natürlich auch selbst machen und Ihnen beim Kochen und Geschirrspülen helfen«, wurde überhört. Ein zweitesmal fragten wir natürlich nicht. »Sind wir zwei nicht Glückskinder?« himmelte Valeska. »Ist das nicht ein Leben wie im Paradies, Eskimo? Sollte man aus Dankbarkeit dafür Carlo« - wir mußten Herrn Widmer inzwischen Carlo nennen - »nicht jeden Wunsch von den Augen ablesen?« Soweit dies Valeska anbelangte, war ich durchaus dafür. Leider übersah Herr Widmer weiterhin ihre Bereitschaft und schien beharrlich darauf zu hoffen, meine zu gewinnen. Während der Woche war er in seinen Fabriken in Agno und Biella, und Valeska und ich konnten die Tage und Abende mit Schwimmen, Sonnen, Lesen, Kinobesuchen und Einkäufen verbringen. Valeska hatte ein Heft mit Blankoschecks bekommen, und sie enttäuschte Herrn Widmers Vertrauen nicht und erstand wirklich nur das, was uns ihrer Ansicht nach an Garderobe und Toilettensachen fehlte, um vor Herrn Widmers kritischen Kon17
fektionärsaugen bestehen zu können. Immerhin war sie praktisch genug, jeder von uns auch einen eleganten leichten Lederkoffer zu erstehen. »Bei deinem unbegreiflichen Benehmen kann Carlo natürlich plötzlich die Geduld reißen und die Austreibung aus dem Paradies von einer Stunde zur anderen erfolgen. Da sähe es wohl komisch aus, wenn wir die Privatgarderobe mit den Armen zusammenraffen und zum Bahnhof tragen müßten.« Obwohl sie der Gleichmut, mit dem ich düstere Prognosen dieser Art anhörte, wütend machte, hatte sie inzwischen fünf Vrenelis, funkelnde, kleine Goldmünzen, und drei kräftige blaue HundertFranken-Scheine für mich abgezweigt und sie in ein Seitenfach meiner weißen Lederhandtasche eingenäht. »Damit du nie mehr ohne Notgroschen bist, Eskimo, und dich dann dankbar deiner besten Freundin erinnerst. Solltest du aber doch noch zur Vernunft kommen und Frau Widmer werden, bin ich ja sicher Trauzeugin und wird es eine Kleinigkeit für dich sein, mir mein Geld zurückzugeben.« Wie gut ihr diese sorglosen Wochen bekommen waren! Obwohl sie nicht schwamm, hatte ihre Haut die Scheinwerferblässe verloren. Unter dem orangefarbenen Sonnenschirm mit den bunten Borten und den gehäkelten weißen Troddeln lag eine gebräunte junge Bäuerin und schlief mit entspanntem, glücklichem Gesicht in den Tag hinein. Wovon sie wohl träumte? Von dem bewunderten Carlo oder ihrem geduldigen Franz? Sie rief ihn jeden zweiten Abend an. Franz war mit Noten und Kostümen vorgefahren nach Baden bei Wien, wo die Winkelmanns im Kursaal am 1. Juni ein Gastspiel beginnen sollten. Ob sie Franz und dieses Engagement wohl sausen lassen würde, wenn Herr Widmer zur Einsicht käme, daß ihn in Valeskas weichen, bereiten Armen wesentlich erfreulichere Stunden erwarteten als in meinen unlustigen? Ihre Bewunderung für diesen Konfektionär war ehrlich. Andrerseits würde sie es bestimmt nicht fertigbringen, einen Partner, mit dem sie so viele harte Artistenjahre verbracht hatte, sitzenzulassen. Wahrscheinlich würde er als Morgengabe mit in diese Ehe eingehen und unter Valeskas Schutz als Gärtner, Sekretär oder Chauffeur weiterhin in ihrer Nähe bleiben. 18
Ich holte die goldene Armbanduhr, die Herr Widmer mir beim Einzug in sein Tessiner Eheschlafzimmer aufs Bett gelegt hatte, aus der Badetasche. Elf Uhr zehn. Noch eine gute halbe Stunde, und der Himmel würde sich verfinstern und Carlo zum Lunch und für den weiteren Verlauf des Wochenendes eintreffen. Noch teilte ich das Eheschlafzimmer mit Valeska, aber wenn die jetzige Frau Widmer die Ansprüche bewilligt bekam, von denen sie ihr Einverständnis in die Scheidung abhängig machte, sollte nach Herrn Widmers Wunsch alles ganz schnell gehen: Verlobung, Aufgebot, gemeinsames Bett und Trauung. Er hatte es mit seiner quadratischen Energie sogar geschafft, meinen Maler von den Vorteilen einer Scheidung zu überzeugen, bei der ich - Grund: böswilliges Verlassen - die allein Schuldige sei. Vor drei Tagen war von seinem deutschen Rechtsberater die Nachricht gekommen, daß der Maler eingewilligt habe. Mein Seufzer war so tief, daß er bis in Valeskas Träume drang. Sie blinzelte träge in die Helle des Maimorgens, setzte sich dann mit einem Ruck auf, griff nach meinem Handgelenk und stellte nach einem Blick auf die Uhr diensteifrig wie ein Rekrut, der seinen General zur Inspektion erwartet, fest: »Los, los, in einer halben Stunde müssen wir angezogen sein!« Mit bleiernen Füßen schlich ich hinter ihr her ins Haus. Sammy Sulzer und seine Frau bewohnten während ihrer Semesterferien das Nachbargrundstück. Sie hatten sich beim Medizinstudium in Zürich kennengelernt, waren beide fünfundzwanzig Jahre alt, sahen beide aus, als seien ihre Vorfahren Nilpferde gewesen, und erhielten beide, Senta von ihren Eltern aus Berlin, Sammy von seinen in New York lebenden, Monatswechsel, von denen Valeska ehrfürchtig behauptete, sie seien höher als die Monatsgagen für ein ganzes Variete-Programm. Es schmeichelte ihr, daß Sammy sie oft in seinem Wagen nach Lugano herüberfuhr und sie, nachdem sie eingekauft hatte, auf einen Drink in den Kursaal einlud. Herrn Widmers nachbarliche Gefühle für die Sulzers waren wesentlich frostiger. Man sah ihm an, wie wenig es ihn entzückte, als sie an diesem Abend, jeder eine Flasche Whisky im Arm, in fröhlicher Selbstverständlichkeit über das Mäuerchen 19
sprangen, das ihre Terrasse von unserer trennte. Herr Lorenzini räumte grade das Abendessen ab und stellte Windlichter und Aschenbecher auf den Tisch. Schweigend und anklagend wie ein Schloßgeist, der Migräne hat, setzte sich Herr Widmer in einen Sessel und begann, den Börsen-Kurier zu lesen. Die Sulzers, Valeska und ich spielten Tarock. In der Halle schrillt das Telefon. »Ihr Anwalt aus Zürich«, meldet der Diener. Herr Widmer steht auf, schließt die Flügeltüren hinter sich und bleibt so lange fort, daß wir schon hofften, ihn endgültig vergrämt zu haben und er schlafen gegangen sei. Er erscheint jedoch wieder. Mit ihm der Diener und mit dem Diener ein Tablett, auf dem fünf gefüllte Champagnerkelche stehen. »Ich habe soeben erfahren, daß meine Frau endlich in die Scheidung eingewilligt hat. Darf ich die Anwesenden bitten, mit uns auf das Wohl von mir und meiner Verlobten anzustoßen ?« Die Verlobte war ich. »Also doch« schluchzte Valeska überflüssigerweise und sah mich mit tränenfeuchten Augen an. »Congratulations.« Sammy Sulzer erhob sich etwas schräg und schlug Herrn Widmer auf die Schulter. »O weh, jetzt wird's ernst«, flüsterte Senta mir ins Ohr. »Sind Sie noch zu retten?« pflegte meine Deutschlehrerin in solchen Fällen zu fragen. Sammy und Senta lagen bereits auf dem Badefloß, das zwei Meilen vom Seeufer entfernt vor Anker lag, und winkten mir zu. »Guten Morgen, junge Braut«, grinste Sammy und half mir, die glitschigen Holzplanken zu erklimmen. »Ja, ja, stille Wasser sind tief. Gerade einen Monat in der Schweiz und hat seinen Millionär an der Angel.« »Einen Nußknacker«, berichtigte ich ihn und nahm die Badekappe vom Haar. »Na, schau dir deinen Besitz an, kleine Haselnuß.« Wir blickten zum Haus hinüber. Mit dem tiefgezogenen Dach aus grauen Schindeln, der Gartenmauer aus langen, schmalen Tessiner Granitsteinen, dem zum See herabfallenden Garten 20
und den blühenden, violetten Glyzinen, die an der weißgetünchten Mauer emporrankten, war es wirklich besonders hübsch. »Ja, ohne Herrn Widmer als lästiges Zubehör nähme ich es sofort.« »Sammy ist auch kein Apoll«, lachte Senta, und das Stahlgestell, das einen letzten Versuch machen sollte, ihre vorstehenden Zähne in eine anatomisch logische Stellung zurückzuweisen, blitzte in der Sonne. »Ich will weder einen Millionär noch einen Apoll. Einen, den ich lieben kann, will ich.« »Den hat das Schicksal bestimmt noch zusätzlich für dich in Reserve«, spottete Sammy. »Was glaubst du, welche Anzie hungskraft eine hübsche, junge Millionärsgattin hat! Für die Freitagabende, an denen Senta Bridge spielt, kannst du jetzt schon mich vormerken.« Senta lachte und versuchte, Sammys hundert Kilo vom Floß hinunter ins Wasser zu wälzen, ein aussichtsloser Versuch, wäre ich ihr nicht zu Hilfe gekommen. Wir plumpsten alle drei in den See, hatten Mund und Nase voll Wasser und krochen lachend und prustend auf das Floß zurück. »Funkstille!« befahl Sammy, und wir kamen dieser Aufforderung gern nach, legten uns nebeneinander auf den Bauch und ließen die heiße Maisonne auf den Rücken niederbrennen. »Auf alle Fälle geb' ich dir heute abend die Schlüssel zu Sentas Züricher Studentenbude«, meinte Sammy, »es ist für einen Mann wie Widmer ganz gut, wenn er in Sachen Liebe nicht allzu sicher sein kann.« Als ich ins Haus zurückkehrte, um mich zum Lunch anzuziehen, sah ich Herrn Widmers Anzüge und Toilettensachen in meinem Zimmer. Vom Bad führte eine zweite Tür zu einem Einzelzimmer, in dem der Hausherr bis zu diesem Sonntag geschlafen hatte. Ich öffnete, und meine bange Ahnung bestätigte sich: Valeska saß vor dem Biedermeierspiegel, der auf der Kirschholzkommode stand, und steckte sich die Haare auf. »Ihr seid ja nun offiziell verlobt«, kam sie mir zuvor, »und wahrscheinlich werdet Ihr schon in vierzehn Tagen heiraten. Du mußt doch verstehen, Eskimo, daß wir Carlo nicht länger 21
aussperren können. Seine Frau wirst du so oder so - ob nun ein paar Tage früher oder später, spielt doch wirklich keine Rolle mehr.« Sie kam zu mir und legte den Arm um mich. »Mach es dir doch nicht schwerer, als es ist. Es gibt wirklich Ärgeres als Carlo. Er ist hart und tüchtig als Geschäftsmann, aber bestimmt großzügig und nachgiebig als Ehemann. Gib doch zu, hat er bis heute nicht unvorstellbare Geduld mit dir gehabt? Und wenn ihr heute abend das Bett teilt und du ihn bittest, bis zur Hochzeitsnacht mit dem zu warten, wonach er sich jetzt schon sehnt - ich weiß, er hat Verständnis dafür.« Valeska hatte sich geirrt. Carlo hatte mir ein paar Modejournale auf den runden Tisch gelegt, der neben der Stehlampe stand. »Die neue französische Herbstkollektion. Sehr chice Modelle. Falls dir etwas davon gefällt, wird dein Verlobter mit dir nach Paris fahren und es dir zu Füßen legen. Aber vorher, ha, ha, geht er ins Bad.« Ich ließ die Hefte liegen und trat vor den Spiegel. Es hatte sich nichts geändert. Nach wie vor sah mir ein reizloses, blondes Mädchen entgegen. Über das Nichtssagende des Gesichtes konnte auch die gebräunte Haut nicht hinwegtäuschen. Warum nur fiel es mir so schwer, Valeskas Rat zu folgen und dem Schicksal dankbar zu sein dafür, daß es mir Herrn Widmer als Auffanglösung geschickt hatte. Ohne ihn würde ich wahrscheinlich immer tiefer rutschen und früher oder später als Refrainsängerin in orientalischen Bars landen. Mit Animier-Verpflichtung. Als Frau Widmer aber war ich aller Sorgen enthoben, konnte meine Kinder, Eltern, Geschwister, Verwandten und Schulfreundinnen nach Lugano holen und mich mit ihrer Anwesenheit gegen Ansprüche abschirmen, von denen Herr Widmer vielleicht annahm, daß er sie zusammen mit dem Trauschein erwarb. Nach Selbstbewußtsein und Yardley-Lavendel duftend, kam er in einem rohseidenen Pyjama aus dem Badezimmer zurück. Ließ die Tür geöffnet und fand es sicher sehr witzig, als er, sich verbeugend, in servilem Ton sagte: »Edle Tragödin, die Pferde sind gesattelt.« Ich quälte mir ein kleines Lächeln ab, griff nach meiner 22
Handtasche und dem Päckchen, das das Nachthemd enthielt, und verschwand im Bad. Obwohl ich mir an diesem Abend für die Dusche, das Abfrottieren, die Pediküre und das Zähneputzen mehr Zeit ließ, als ich sonst eine ganze Woche hindurch für diese Dinge verschwendete - mehr als eine Stunde Aufschub ließ sich nicht herausholen. Ich zog das Nachthemd an und setzte mich auf den Badehocker. Zehn Minuten hindurch wartete ich geduldig auf ein Erdbeben. Auch ein Gewitter mit einem Volltrefferblitz in Herrn Widmers Bett wäre mir recht gewesen. Nichts der Himmel schien mich vergessen zu haben. Seufzend öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer. Herr Widmer saß in seinem Doppelbett und hatte ein Glas Champagner in der Hand. Mein hochgeschlossenes Baumwollnachthemd mit den langen Ärmeln, das Senta mir frühmorgens in einem kleinen Vorstadtladen erstanden hatte, schien ihn wider Erwarten statt zu ernüchtern zu animieren. »Die fromme Helene«, lachte er und schob genießerisch sein Nußknackerkinn vor. Er zog mich ins Bett und füllte mir ein Glas Champagner. Ich stürzte es in einem Zug hinunter. »So, nun führ das mal ein«, sagte Herr Widmer, »damit es keine kleinen Eskimos gibt.« Ich nahm resigniert die Packung, die er mir hinhielt, und schob eine der grünen Gummibohnen in den Mund. Herr Widmer griff so unbeherrscht nach der Schachtel, daß der Inhalt herausfiel und unter das Bett kollerte. Dunkelrot vor Wut fuhr er mich an: »Doch nicht oben, potzsternechaib! Unten, unten! Gottfristutz, das ist ja noch schlimmer, als Frau Winkelmann mir's angedeutet hat!« »Glauben Sie vielleicht für mich nicht ?« brüllte ich zurück und fühlte, wie der Zorn mir Kraft und Hoffnung zurückgab. Ich rannte ins Bad, spuckte das Zeug aus, spülte nach und fühlte mich plötzlich stark genug, auch auf Herrn Widmer und seine Millionen zu spucken. Das Nachthemd flog in die Ecke, ich stieg in meine Kleider, griff nach Handtasche und Koffer, schlich durch das Zimmer von Valeska, die, wie ich an ihrem leichten Schnarchen hörte, fest schlief, und rannte auf die Straße. Erst hinter der Biegung, an der ein weiß-blaues Schild die Abzweigungen nach Chiasso-Göschenen anzeigte, blieb ich stehen. Die 23
Schlüssel zu Sentas Wohnung klapperten in meiner Tasche. Nachdem sich in den letzten Stunden ein Schutzengel um mich gekümmert hatte, sendet mir dieser sicher in der nächsten Minute auch noch ein Auto, das Richtung Zürich fährt und mich mitnimmt. Er schickte sogar vier, aber alle fahren ein hohes Tempo und keins hält an. Mittlerweile hatte bestimmt Herr Widmer seine berühmte seelische Balance, von der er so oft voll Selbstbewunderung sprach, wiedergefunden und Valeska und die Lorenzinis geweckt. Es war höchste Zeit, ich mußte hier fort. Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn kommt ein Lieferwagen die Straße heruntergescheppert. Ich stürze ihm entgegen. Der Fahrer bremst. »Brissago?« fragt er mich, gutmütig lächelnd. »Si, si, sempre diritto.« Die dicke, italienische Mamma, die neben ihm sitzt, rückt zur Seite. Ich klettere zu ihr und habe das Gefühl, in den Himmel zu fahren, gleichgültig, ob der in Brissago oder Zürich liegt. Sie haben Bastkörbe mit Gurken und Erdbeeren im Wagen. Die Frau zieht einen Korb heran und läßt mich hineinlangen. Ich hätte ihr gern bestätigt, wie süß und saftig ihre Früchte schmecken, aber mein Italienisch ist zu kläglich. Mit freundlichem Gesicht und südlichem Temperament redet sie auf mich und ihren Mann ein, und plötzlich verstehe ich die Worte: »Passaporte - Brissago Duane.« Mein Paß, wo ist mein Paß ? Ich wühle in meiner Handtasche. Er ist nicht da und liegt wahrscheinlich zwischen meinen Noten in Valeskas Zimmer. Aber sind die eingenähten Banknoten und Geldstücke und die Schlüssel zu Sentas Wohnung im Augenblick nicht viel wichtiger? Mit Gesten und Grimassen gelingt es mir, dem Fahrer verständlich zu machen, er möge in der nächsten Ortschaft halten und mich aussteigen lassen. Ich nestele an dem Zwirnfaden, um ein Vreneli aus dem Geheimfach meiner Tasche herauszuangeln und es ihm zu schenken. Aber ist seine Gefälligkeit, mich ein paar Kilometer mitzunehmen, wirklich so viel wert? Für mich schon, aber das weiß der Mann ja nicht. Berechnende und 24
egoistische Gedanken wie diese hatte es bisher nicht für mich gegeben. Wenn auch verlegen und widerwillig - ich gab ihnen nach. Geld bedeutet Unabhängigkeit, und Unabhängigkeit würde mir vom heutigen Tage an wichtiger sein als alles andere. Als alles. Vor uns tauchen Häuser auf. Die Uhr, die über einer kleinen Bahnstation hängt, zeigt fast Mitternacht. Neben dem Stationsgebäude schwimmen an einem dreistöckigen Haus hinter Milchglas die Worte »Albergo«. Der Wagen hält. Ich steige aus, versuche zu lächeln. Der Obsthändler nimmt mein Gesicht zwischen seine schwieligen Hände, streicht mir scheu über die Haare und sagt: »Benedetta.« »Ciao«, würge ich hervor, »ciao und danke schön.« Das Zimmer, das man mir anbietet, ist spärlich möbliert und das Bett mit kratzender, grob karierter Baumwolle bezogen. Aber daran liegt es nicht, daß ich in dieser Nacht nicht schlafen kann. Es liegt an der Erkenntnis, in letzter Minute den bequemen Weg verlassen zu haben und mich kräftig genug zu fühlen, mit den Hürden und Hindernissen fertig zu werden, die mich auf dem anderen erwarten. Mit dem ersten Zug fahre ich am nächsten Morgen nach Zürich.
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Der Gläubiger hat ein Gedächtnis, der Schuldner ein anderes. Aus Frankreich
Stockholm, 20. September 1933 Lilla Kjaera, bevor ich im Sommer hierher fuhr, um zu malen und anschlie ßend eine Ausstellung in der Galerie Gnadenhjelm vorzubereiten, hatte ich in Bremen zweimal den Besuch eines Anwaltes, der einen Herrn Widmer aus Zürich vertrat und behauptete, daß Du diesen Herrn als Ehemann gegen mich eintauschen möchtest. Ich muß gestehen, daß mich die Selbstverständlichkeit, mit der er mein Einverständnis voraussetzte, verärgerte. Letzten Endes haben wir Kinder, die ich genauso liebe wie Du (oder mehr?) und auf die ich auf keinen Fall verzichten will. Ich weiß, daß die vier Jahre mit mir nicht leicht für Dich waren. Aber hast Du einmal darüber nachgedacht, welche Belastung es für mich war, zu dem siebzehnjährigen Kind, das ic h geheiratet hatte (in der vergeblichen Hoffnung, daß eine Frau aus ihm würde), im Laufe von vier Jahren noch drei weitere Kinder zu bekommen? Trotzdem wirst Du mir zugestehen, daß ich die Lage mit wesentlich mehr Geduld und Fassung ertrug als Du. Oft hatte ich sogar das Gefühl, daß Du Schwierigkeiten ersehntest, weil sie Dir einen Grund gaben, Deiner heimlichen Sehnsucht nach Theater und Schauspielerei nachzugeben. Anstatt bei den Kindern zu bleiben, wenn ich unterwegs war, saßest Du Abend für Abend im Stadttheater und himmeltest alte Mimen und junge Operettenbuffos an. Und schon bevor mir das von diesem unsympathischen Anwalt bestätigt wurde, wußte ich, daß der Grund, warum Du die Kinder und mich verlassen hattest, kein anderer war als der, Dein Glück beim Theater zu suchen. Es wäre töricht, wenn ich als Künstler Dir deswegen Vorwürfe machen würde. Künstler kann man nicht werden. Künstler ist man. Ein Baum kann nicht sagen: ich möchte eine Blume, und ein Löwe: ich möchte ein Kätzchen sein - und so kann auch niemand sagen: ich möchte Künstler werden. Wer aber zum 26
Künstler bestimmt ist, dem bleibt nur eins: sich damit abzufinden. Mit den Ängsten vor Publikum und Kritik, mit der entsetzlichen Nacktheit seines Herzens, seines Geschlechts und seiner Gedanken, die er dem Scheinwerferlicht preisgeben muß. Mit dem Neid, der mit dem Erfolg kommt, und mit der hysterischen Verzückung, die ihn einkreist und ihm das Hemd vom Körper reißt und einen Götzen aus ihm macht, dem man am liebsten auch noch ein Büschel Haare oder einen Fingernagel ausreißen würde, um beides als Reliquie einzurahmen und im Jungmädchenzimmer schluchzend davor in die Knie zu sinken. Und nicht nur Du selbst, auch Deine Familie und Deine Freunde müssen sich damit abfinden, daß Du jemand bist, der in allem anders ist als sie selbst. Ich bin in Deinem Fall bereit dazu und verlange von Dir nur eins: Ehrlichkeit. Und nun spreche ich nicht mehr als untreuer oder gekränkter Ehemann zu Dir, sondern als Vater unserer Kinder. Ich schätze, daß Du, abgesehen davon, daß man das von einem Mädchen Deines Alters auch gar nicht erwarten kann, von Zürich aus die neue politische Situation in Deutschland nur von ungefähr kennst. Sie ist bedrückend. Bleiben unsre Söhne in diesem Land, werden sie auf freies Denken verzichten und sich einer Diktatur beugen müssen. Wahrscheinlich bekommen sie, wenn sie kaum siebzehn sind, ein Gewehr in die Hand gedrückt. Man hofft zwar, daß in der kriegerischen Auseinandersetzung, die Europa durch Herrn Hitler droht, die Schweiz und Schweden neutral bleiben, aber logischer und unauffälliger als eine Übersiedlung der Kinder nach Stockholm wäre es wahrscheinlich, Du würdest sie zu Dir nach Zürich holen. Wie ich hörte, wollen Deine Schwester Simke und Dein Schwager ohnehin Bremen verlassen und sich in den Schutz der Schweizer Grenzen und Berge begeben. Vielleicht können sie nicht nur unsere Tochter, an der sie hängen wie an einem eigenen Kind, sondern auch unsere Söhne mit hinübernehmen ? Ich kenne Deine finanzielle Situation nicht, nehme aber an, allzu rosig wird sie nicht sein. Verlaß Dich darauf, daß ich Dir, soweit das irgend möglich ist, finanziell helfen werde, mit den Buben in der Schweiz zu bleiben, solange es einen Hitler gibt. Streng Dein liebes, einfältiges Köpfchen an und versuch zu verstehen 27
Deinen unvollkommenen Ehemann P. E. W. Ich starrte in die Buchstaben, die eine Hand geschrieben hatte, die ich einmal liebte und die jetzt nach mir schlug. Hitler, Nazis, Deutschland - die Kinder, was ging mich das alles an ? Ich spielte meine zweite Hauptrolle in einem Zürcher Boulevard-Theater und hatte am 1. Oktober mit den Proben für eine literarische Friedrich-Holländer-Revue am Schauspielhaus begonnen. In einer halben Stunde würde mein Schauspiellehrer erscheinen und mit mir arbeiten, und in spätestens einem Jahr würde er mich so weit gebracht haben, daß ich als jugendliche Charakterdarstellerin an ein führendes Theater abschließen konnte. Ich griff noch einmal nach dem Brief. Verärgert über meine Einsicht, daß es richtig war, was der Maler da schrieb, warf ich die vollgekritzelten Seiten auf die Couch. Seit Wochen hatte ich ruhig und mit mir zufrieden hier geschlafen. Niemand und nichts sollte mich daran hindern, es weiterhin zu tun. Ginsberg liebte es, vor dem Unterricht eine Tasse Tee zu trinken. Ich setzte Wasser auf, stellte Geschirr, Kandis und Sahne zurecht und holte die Rollenbücher aus dem Regal. Wir arbeiteten jeweils an einem ernsten und einem heiteren Klassiker und einer modernen Charakterrolle. Ginsberg genoß den heißen Tee. Einen Augenblick lang dachte ich daran, mit ihm über den Brief zu sprechen, ließ es. War dieser Mann nicht schon genügend vollgepackt mit eigenen Sorgen ? Das Zürcher Schauspielhaus war das einzige Theater, an dem aus Deutschland emigrierte Schauspieler in ihrer Sprache spielen konnten und dessen Spielplan ein hohes künstlerisches Niveau hatte. So kamen sie alle her, die Hitler fürchteten: Lindtberg, Härtung, Hirschfeld, Horwitz, Deutsch, Kaiser, Steckel, Beneckendorff, die Giehse, Sybill Binder und viele andere. Die Direktion des Theaters hatte es nicht nötig, für sie Jahresverträge auszustellen. Viele Schauspieler wurden nur für die Dauer eines Stückes engagiert und zitterten bei dem Gedanken, daß sie in ein oder zwei Stücken, die als nächste im Spielpla n auftauchten, unbeschäftigt bleiben könnten, und daß dadurch die kargen Ersparnisse noch mehr zusammenschmolzen. »Lebt wohl, ihr Berge — sprechen Sie nicht gleich weiter«, 28
mahnte Ginsberg, »erst, wenn Ihre Gedanken die Berge erfaßt haben, fahren Sie fort - ihr geliebten Triften - sehen Sie sie? - ihr traulich stillen Täler - wie schön sie sind. Lassen Sie Ihren Blick ausruhen in ihrem Grün, in dem Blumenteppich der Wiesen.« Die Unterrichtsstunde kostete zehn Franken, und ich versuchte mit aller Kraft, von diesem Luxus zu profitieren und mich auf die Rolle zu konzentrieren. Aber meine Gedanken irrten immer wieder zu dem Brief zurück. Ginsberg sah mich prüfend an. »Was ist mit Ihnen? Reden Sie schon. So kommen wir doch nicht weiter!« »Glauben Sie, daß Hitler aus allen deutschen Knaben Soldaten machen wird?« »Nicht nur aus den deutschen.« Ich blickte zum Fenster hinaus auf die belebte Straße, auf die fröhlichen Farben einer Plakatwand, die bunten Kleider der Mädchen, das leuchtende Blau der Trambahnen. »Auch aus den Schweizern ?« »Gott bewahre uns davor«, murmelte Ginsberg. »Das wäre das Ende für uns alle.« »Für mich nicht. Ich habe Herrn Hitler nichts getan.« »Machen wir Schluß für heute«, sagte Ginsberg müde, griff nach seinem Hut, ließ die zehn Franken auf dem Tisch liegen und wollte gehen. »Ich will nicht zu denen gehören, die vom Schicksal immer und immer wieder eins auf den Kopf bekommen und ihn geduldig beugen«, schrie ich verzweifelt und hielt seinen Ärmel fest. »Ich schlage zurück. Ich will nach oben, wo die Erfolgreichen sind!« Ginsberg legte den Arm um mich. »Dann gehören Sie nicht hierher, Wilke. In Zürich sind die Geduldeten, sehen Sie nicht die Dornenkronen, die wir tragen? Wenn Sie die suchen, die heute erfolgreich sind, müssen Sie nach Berlin fahren. Sie sind jung, Sie sind blond, Sie sind begabt, und Sie können hart sein gegen sich und andere. Damit sind alle Voraussetzungen erfüllt, die für eine steile Karriere bei denen notwendig sind.« »Halten Sie mich für begabt?« »Das läßt sich natürlich nicht nach den Rollen beurteilen, 29
die Sie drüben im Corso-Theater spielen. Der Rolle der Maggie im ›Idealen Gatten‹ waren Sie noch weniger gewachsen als jetzt der der Tanja in der ›Quadratur des Kreises‹. Dieses Theater ist eine richtige üble Schmiere. Ich weiß, daß der Besitzer in Sie verliebt ist und Ihnen eine höhere Gage zahlt als mir das Schauspielhaus. Aber ich bin froh, daß Sie im nächsten Monat da aufhören und bei uns begreifen lernen, wie wichtig ein guter Regisseur ist und der Rahmen eines Ensemble s, das zu den besten Europas gehört.« »Es ist dieser Brief, weswegen ich heute so schlecht und unkonzentriert war.« Ginsberg las ihn aufmerksam und meinte achselzuckend: »Wie reich Sie sind. Besuchen Sie uns mal mit den Söhnen, wenn sie hier sind. Meine Frau liebt Kinder. Sie wäre sicher glücklich, wenn Sie sie ihr, während Sie Proben oder Nachmittagsvorstellung haben, anvertrauen würden.« Die Männer hoben den Kopf, als Simke durch die Drehtür kam und sich suchend umsah. Es war nicht nur das Äußere, es war die Art, wie sie den Raum betrat, die Männer zur Krawatte greifen ließ. Wie eine Schauspielerin, für die es selbstverständlich ist, daß ihr Auftritt Aufsehen erregt, tat sie souverän und ohne jede Verlegenheit ein paar Schritte ins Lokal. Ich hatte sie mehrere Jahre hindurch nicht gesehen und starrte sie genauso an wie die umsitzenden Männer. »Ein selten scheußlicher Laden«, stellte sie fest und setzte sich vorsichtig auf einen der ungepolsterten Kaffeehausstühle. »Das ›Odeon‹ ist das Stammcafe von Othmar Schoeck und Honegger und Härtung und Hirschfeld und, wenn sie in Zürich sind, Kästner und Brecht.« »Kommt mir vor wie ein Hinterhof voll schwarzer Raben. Kluger, schwarzer Raben«, versuchte sie, als sie mein entrüstetes Gesicht sah, ihren Vorwurf zu beschönigen. »Außerdem liegen hier sämtliche europäischen Zeitungen aus.« »Meine kleine Schwester liest Zeitungen?« Sie sah mich amüsiert an. »Bei der augenblicklichen Weltsituation wohl eine Selbst30
verständlichkeit.« Simke bestellte sich eine Tasse Schokolade, zog eine goldene Puderdose aus der Tasche, sah in den Spiegel und wischte mit der Quaste aus Marabufedern unbequeme Gedanken fort. »Hans findet deine Pläne bezüglich der Buben kindisch. Ich habe wirklich alles versucht, um ihn dazu zu überreden, auch sie zu uns zu nehmen. Seine Antwort: Er habe seine deutschen Aufsichtsratsposten nicht niedergelegt, um in der Schweiz ein Kinderheim zu eröffnen, sondern einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. An Litta hängt er wie an einem Enkelkind, aber drei Kinder im Haus -« Was überraschte mich eigentlich an seinem Nein? Hätte ich nicht wissen müssen, daß dieser satte Egoist, der sich zehn Pfennige geben ließ, wenn man ihn um eine Briefmarke bat, niemals zu einer Geste bereit sein würde, die ihm persönliche Unannehmlichkeiten machte. Schon um diesem unsympathischen, unechten Großpapa Litta entreißen zu können, muß ich Karriere machen und reich werden, dachte ich rachsüchtig. »Daß du an der Seite eines solchen Mannes leben kannst.« »Seine Schönheit ist sein Geld«, grinste Simke, als habe sie meine Gedanken erraten. »Na, warte es ab. Dann bin ich aus dieser deiner Perspektive heraus vielleicht einmal eine sehr schöne Frau«, deutete ich hintergründig meine geheime Vermögensbildung an. Simke lächelte das nachsichtige Lächeln der großen Schwester. »Du bist erwachsen geworden während der Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben, aber in dem naiven Glauben, ohne Hilfe eines einflußreichen Freundes oder reichen Mäzens Karriere machen zu können, bist du noch ein Kind. Aber du warst ja schon während der Schulzeit in Bremerhaven eins dieser verschlafenen Mädchen, die viel Zeit brauchen, bis sie aufwachen.« »Immerhin weiß ich inzwischen, daß Sex-Appeal kein Kaninchen ist.« Simkes Lachen sprengte das damenhaft unterdrückte Prusten und kletterte dann laut und unbekümmert zwei Oktaven hoch. Ich lachte mit. 31
Bremerhaven, Stadt mit ständig erhöhtem Puls, die aber nie daraufgekommen wäre, sich deswegen krank zu fühlen. Bremerhaven, großes Sieb, in dem all das hängenblieb, wovon die hübsche, reiche Hansestadt Bremen zwar lebte, es aber ungern ungefiltert bei sich aufnahm. In den Häfen und Docks seines proletarischen Vorortes lagen Fischdampfer, den Bauch bis oben hin gefüllt mit zappelnden, silbrig schimmernden Heringen und Kabeljaus, Frachter aus Australien mit von Jutebändern zusammengehaltenen Rohwollballen, grüne Bananenstauden aus Jamaika. Auch die Passagierdampfer des Norddeutschen Lloyd legten in Bremerhaven an. Aber mit denen war es wie mit den anderen: die Besatzungen, weiße, gelbe, braune und schwarze Seeleute aller Nationen blieben in Bremerhaven. Die Passagiere der ersten und zweiten Klasse fuhren, ohne daß ihr elegantes Schuhwerk erst mit dem Schmutz des Hafenpiers in Berührung kam, in Zügen, die auf dem Columbus-Pier bis ans Fallreep der Schiffe fuhren, weiter nach Bremen. Simke, mein kleiner Bruder und ich sahen ihnen mitleidig nach. Wie alle Kinder dieser Hafenstadt liebten wir das Abenteuer, den Lärm der Ladekräne, das vielsprachige Stimmengewirr, den salzigen Wind draußen an den Piers, die bunten Positionslampen der Schiffe und im Herbst und Winter die wie an Nebelschnüren hängenden Hafenlaternen, unter denen in grellfarbigen Kleidern und Stiefeln Mädchen mit unternehmungslustigen Gesichtern standen. Erster Schultag. Während andere Kinder an der Hand der Mutter die Straße entlangtrippelten, schritt ich stolz an Simkes Seite durch das rote Backsteintor, über dem in blankpolierten Messingbuchstaben »Kaiserin Augusta Victoria -Lyzeum« stand. »Du wirst uns hoffentlich mehr Freude machen als deine Schwester«, sagte zur Begrüßung mit säuerlichem Gesicht die Klassenlehrerin und durfte meiner Antipathie vom gleichen Augenblick an sicher sein, »erst vierzehn Jahre und schon mannstoll, igittigitt.« »Ist es meine Schuld, daß der Turnlehrer und der Chemie professor mir bessere Noten geben, als dieser sauren Gurke lieb ist?« ärgerte sich Simke auf dem Heimweg. Vor dem Haus, in dem der Fotograf Tiedemann, Spezialist für Brautaufnahmen, 32
wohnte, blieben wir stehen. Im Ausstellkasten lächelte aus Brautschleier und hochgeschlossenem weißen Kleid, Lilien im Arm, eine Braut neben der anderen furchtsam und unheilahnend dem ungewissen Abenteuer der Hochzeitsnacht entgegen. »Die Lilien sind nicht echt. Die sind aus Wachs.« »Woher weißt du das ?« »Weil er sie mir gegeben hat, er wollte mich mit ihnen fotografieren, ohne Kleid, nur mit den Lilien im Arm.« »Du kennst Herrn Tiedemann?« »Er hat mich letzte Woche in der Strandhalle angesprochen. Ich hätte es nicht nötig, meinen Sexapiel auf einem Tablett vor mir herzutragen wie andere Mädchen, hat er gesagt. Meiner wäre unbewußt und dadurch in seiner Wirkung viel stärker.« Mein sechsjähriger Verstand dachte angestrengt nach, was das sei, wofür Simke, wenn sie es servierte, kein Tablett brauchte. »Genau weiß ich es auch nicht. Es ist sowas Weiches, was man gern streicheln möchte.« »So eine Art Kaninchen ?« »Ich seh' morgen im Lexikon nach und sag' dir's.« Zwei Jahre später flog sie von der Schule. Meines Vaters Schiff war in Australien. Ratlos und geniert stand meine Mutter vor ihrer mißratenen Brut. Ihre Eltern hätten ein großes Sägewerk besessen, und bei Tisch sei französisch gesprochen worden, erzählte sie uns vorwurfsvoll immer wieder. Man habe gleich die schlimmsten Befürchtungen gehabt, als bei einem Kaisermanöver der junge Fähnrich im Haus einquartiert worden sei und zehn Tage später um ihre Hand angehalten habe. »Ach, wie recht meine Eltern hatten«, schloß sie ihre Erinnerungen, und wir senkten, wie wir es unserem Vater versprochen hatten, widerspruchslos die Köpfe. Rittergut bei Lübeck. Simke sollte dort die feinen Dinge des Lebens lernen: Nähen, Sticken, Bügeln, Hausmusik, Blumenpflege, Reiten und Servieren. Nach vier Wochen brachte der Gutsbesitzer sie zurück. Anstatt abends sittsam mit der Frau des Hauses am Piano oder am Stickrahmen zu sitzen, habe Simke in der Gesindestube mit den Knechten gesungen und sich Kartenspiele zeigen lassen. Handelsschule Bremerhaven. Mein Vater war zehn Tage bei 33
uns, und wir bestaunten, was er uns aus der weiten Welt mitgebracht hatte. Kleine Kimonos, japanische Fächer, rotes Korallengestein, eine winzige Elefantenherde aus Elfenbein und einen Kakadu. »Genügen nicht zwei Papageien?« fragte meine Mutter verzweifelt. Er nahm sie in den Arm. »So hat jedes der Kinder einen, du siehst doch, wie sie sich freuen.« Simke mußte versprechen, brav Stenografie und Schreibmaschine zu lernen. »Wenn du mir nach einem Jahr ein Abgangszeugnis mit guten Noten bringst, bringe ich dich bei unserer Reederei als Zahlmeister-Assistentin unter.« »Auf dem gleichen Schiff, auf dem du fährst ?« »Natürlich, ich werde mein hübsches Täubchen doch nicht den anderen überlassen.« Umarmung, Küsse, eine Schale Eiscreme in seiner Kajüte, bevor es hieß: »Leinen los!« und wir von Bord mußten. SousaMarsch der Blaskapelle, Winken, bis das Schiff kleiner und kleiner wurde und der Wind die Musik verwehte. Mißtrauisch überwachte meine Mutter die Ordnung und den Frieden der folgenden Wochen. Wenn Simke mittags aus der Handelsschule kam, kümmerte sie sich um das Essen, spülte und trocknete singend das Geschirr, wusch mir die Haare, versuchte geduldig immer wieder, sie zu Locken aufzudrehen, und klebte, bastelte und bemalte im Dezember bunte Papierketten, glitzernde Sterne und kleine Krippen mit Jesuskindern für den Weihnachtsbaum. Besuch des Leiters der Handelsschule. Ein Werftdirektor habe angefragt, ob Simke nicht als Privatsekretärin zu ihm kommen könne. Sie sei ja eine außerordentlich intelligente Schülerin. Er rede zu. Überrascht und geschmeichelt erklärte meine Mutter sich einverstanden. Der Werftdirektor war beruflich viel auf Reisen. Simke begleitete ihn. Und nicht nur mit dem Stenogrammblock. Wie mein Vater brachte sie meiner Mutter, meinem Bruder und mir von jeder Reise etwas mit. Brief aus Berlin: Sie habe sich beruflich verbessern können und bleibe vorläufig in der Hauptstadt. Verlobungsanzeige mit einem Golftrainer adligen Namens. Einige Wochen später eine mit einem Filmregisseur bürgerlicher Herkunft, von dem wir 34
noch nie gehört hatten. »Laßt sie«, sagte mein Vater, »sie ist wie eine dieser schnittigen, kleinen Jachten, die sich verwegen mit Sturm und Wellengang anlegen, aber nie kentern.« Vermählungsanzeige mit einem Exportkaufmann, mit dem sie auf dem Weg nach Rio de Janeiro sei. Aus Rio dann wochenlang Buntes auf Postkarten, Deckchen, Schals und Blusen. Und eines Tages Simke selbst. In unserer Wohnung wurde wieder gelacht und gesungen, und bei ihrer nächsten Hochzeit durften wir alle dabeisein. »Die andern waren hübscher«, flüsterte die Braut, als wir zur Trauung fuhren und sie meine Enttäuschung über den betagten Bräutigam bemerkte, »aber dieser ist der reichste.« »Um fünf schickt Hans den Chauffeur.« Simke winkte dem Kellner. »Wir machen unseren ersten Besuch im Bund der Auslandsdeutschen. Stimmt es, daß er sehr exklusive Mitglieder hat ?« »Ich hör' durch dich zum erstenmal von diesem Verein.« Ein Paradiesvogel entschwebte. Die Blicke der schwarzen Raben folgten ihm devot und illusionslos und kehrten dann zu den Zeitungen und Schachbrettern zurück. Lindtberg verließ seinen Regiestuhl im Zuschauerraum und kam auf die Bühne gesprungen. Die dunklen Augen in dem blassen, asketischen Gesicht strahlten. »Zwölf Uhr. Zwei Stunden Mittagspause. Kinder, Kinder, seid ihr gut! Am liebsten würde ich euch alle zum Menü drei einladen.« »Doch um mit Brecht und Weill zu reden«, lachte die Giehse, »die Verhältnisse -«, und wir alle fielen im breiten Leierkastenton ein: »— sie sind nicht so.« Nahezu das ganze Ensemble war in ›Höchste Eisenbahn‹ beschäftigt. Nach den vielen Klassiker-Inszenierungen und den Problemstücken der Modernen fühlten wir uns bei den Proben für diese Revue von Friedrich Holländer nicht wie auf Theaterbrettern, sondern wie auf einer federnden Trampolinmatte. Im Erdgeschoß des Zürcher Schauspielhauses, das sich äußerlich in nichts von den benachbarten bürgerlichen Mietshäusern unterschied, war außer einem Blumen- und einem Zigarrenladen das 35
Theaterrestaurant untergebracht. Die Speisekarte empfahl ein erstes, zweites und drittes Menü. Wir hatten uns abgewöhnt, sie zu lesen und zu vergleichen. Das erste war das preiswerteste, und das bestellten alle, die jetzt mit guter Laune und gutem Appetit von der Bühne ins Lokal stürzten. Ich sah mich um. Glücklicherweise hatten auch Erwin Kaiser und Gusti Huber Brote mitgebracht und begnügten sich damit, eine Tasse Kaffee zu bestellen. Mein Sparprogramm war hart und gnadenlos. In jedem Monat brachte ich mindestens zweihundertfünfzig Franken auf mein Bankkonto. Es hatte mittlerweile einen Stand von über viertausend Franken, und ich hatte mir ausgerechnet, daß ich zu Weihnachten meine Söhne in die Schweiz holen könnte, vielleicht auch meine Mutter, damit sie besser versorgt würden, wenn ich auf Proben und gelegentlichen Gastspielabstechern war. Auf alle Fälle war ich zur Verwirklichung meiner Pläne nicht mehr abhängig von Widmers und Kuhlmanns. Wenn ich ging, fühlte ich, daß mein Schritt fest und entschlossen war wie der eines Soldaten, der gegen sich selbst in den Krieg zieht. Aus dem Spiegel blickte mir morgens nach dem Waschen und Kämmen und abends in der Theatergarderobe ein hartes, angespanntes Gesicht entgegen, Augen, die nicht mehr wußten, was Zärtlichkeit war, und ein Mund, der nicht mehr küßte. Glücklich und lächelnd sah mich nur der Bankbeamte, wenn ich ihm Geld brachte und er mir dies in dem hübschen roten Sparbuch bescheinigte. Die Tatsache, daß Sulzers vorläufig nicht aus New York zurückkehrten und ich ohne Sorgen um eine monatliche Miete Sentas Appartement bewohnen konnte, erleichterte natürlich vieles. Der alte Sulzer war im Sommer schwer erkrankt und der ganze Sulzer-Clan von überallher aus der Welt nach New York geeilt. »Sie beherrschen den gesamten Import von chirurgischen Instrumenten«, hatte mir Senta einmal gesagt. Der Stammvater mußte mit Hilfe seiner Nachkommen daher wohl noch viel zu zählen und Rechnungen zu schreiben haben, bevor er den Bleistift für immer aus der Hand legte. Sammy hatte mir vor dem überstürzten Abflug in die Staaten aus Lugano einen Scheck über tausend Dollar geschickt, damit ich seine und Sentas Rechnung im »Bellerive au Lac« bezahlen und ihre Bücher und Kleider in Sentas Wohnung schaffen lassen 36
konnte. Ich hatte mir für den Transport natürlich kein Taxi genommen, sondern einen Kastenwagen geliehen. Allein die Erledigung dieses Sulzerschen Auftrages brachte mir einen Reinverdienst von zweitausendfünfhundertachtundzwanzig Franken. »Wir gehen weiter mit Bild drei«, rief der Regieassistent, »Steckel, Marenbach und Giehse, bitte auf die Bühne!« Ich hatte noch Zeit. Meine Tasse und das Butterbrotpapier waren leer. Hatte ich gegessen, hatte ich getrunken? Ich wußte es nicht, wie ich seit Wochen nicht wußte, ob und was ich aß und trank. »Sag Wilki, hast du es wegen dieser Dinge schon mal bereut, Schauspielerin zu sein?« fragte Gusti Huber und beklopfte lobend die Stelle, an der sie meinen Magen vermutete. »Wann wurde dir zum erstenmal klar, daß du Schauspielerin werden mußt? Bei mir war's an meinem zwölften Geburtstag. Mein Vater hatte mir Karten fürs Wiener Burgtheater geschenkt. Ich sah Käthe Dorsch als ›Maria Stuart‹ und Werner Krauß als ›Kaiser von Amerika‹ und wußte, daß das Theater mein Lebensinhalt werden würde. Und du?« »Wir besuchten mit der Schulklasse im Bremerhavener Stadttheater eine ›Wilhelm-Tell‹-Vorstellung, und ich beschieß, doch lieber Kinobesucherin zu bleiben. Ein paar Jahre später stellte ich fest, daß der Mensch nicht von Träumen und Illusionen leben kann, sondern Geld braucht, um existieren zu können. Zeit, einen Beruf zu lernen, blieb mir nicht mehr, und da erschien es mir immer noch sympathischer, auf der Bühne zu stehen als hinterm Ladentisch oder in einer Fischkonservenfabrik. Statt der dünnen monatlichen Lohntüte hast du als Schauspielerin die Chance, durch einen Zufall zu einer Hauptrolle zu kommen oder zu einem Filmengagement.« »Pfui Teufel, wie prosaisch!« Gusti Huber wandte sich, von Kopf bis Fuß enttäuscht, von mir ab und beschäftigte sich wieder mit ihrem Rollenbuch, auf das plötzlich ein Schatten fiel. Etwas Flanellgraues war ins Lokal geflattert und mit ausgebreiteten Schwingen auf mich losgestürzt. »Wilki — wahrhaftig — und ohne Geleitschutz.« Ich lag an einer Brust, die interessant nach bitteren, getrockneten Kamillenblüten roch. Anpassungsgewohnt, wie es der Schauspieler in ständigem aussichtslosem Kampf mit dem Regisseur wird, hatten wir die 37
Eigenart der schweizerischen Sprache übernommen, die an alles Liebenswerte ein i hängt. So wurde, was meiner Liebe zu ihm besonders entgegenkam, aus dem Franken ein Fränkli, und das Ensemble nannte sich untereinander: Stecki, Lindi, Hirschi, Hubi - und ich war eben Wilki. Aber einem Kollegen gehörte der Brustkorb nicht, der sich da von einer Sekunde zur anderen zwischen mich und alles geschoben hatte, was mir eben noch allein wichtig erschienen war auf dieser Welt. Ich rührte mich nicht, konnte ein Herz gegen meine Schläfe klopfen hören und fühlte, wie meine Gedanken sich durch viele Nebel zurücktasteten in mein erstes Schweizer Engagement. Das Elefantenkalb, fiel mir ein, das Elefantenkalb mit dem Speck auf den Schultern und dem Vornamen Robert! Wo war es gewesen während all der Monate, und wieso war es plötzlich wieder da und umklammerte mich wie ein Schiffbrüchiger einen Rettungsring?« »Wir müssen gleich in die Probe zurück«, rief Gusti Huber. Der Inspizient, der in diesem Augenblick durch die Tür des Theaterfoyers das Restaurant betrat, bestätigte ihre Worte. »Alles, was in Bild fünf, sechs, sieben und acht beschäftigt ist, bitte auf die Bühne.« »Ich gehe mit«, sagte Mendelson, »auf Trennungen irgendwelcher Art lasse ich mich nicht mehr ein. Wer garantiert mir, daß Sie nicht wieder ein halbes Jahr wegbleiben?« »Ich darf niemanden ins Theater lassen, der nicht zum Ensemble gehört. Bei Lindtberg schon gar nicht. Der unterbricht sofort die Probe.« Der große, blonde Inspizient versperrte die Tür. »Um Punkt fünf hören wir heute auf, weil dann die Bühne für den ›Zerbrochenen Krug‹ eingerichtet werden muß.« Punkt fünf kam ich ins Lokal zurück und blickte mich suchend um. Mendelson war nicht da. »Ich atme auf«, sagte Gusti Huber, »und du solltest das auch tun, Wilki. Das sah ja beängstigend nach einer Naturkatastrophe aus, was ich da miterleben mußte. Ein toller Mann, aber nichts für uns. Oder willst du deine Karriere etwa für ein paar Tage Liebe an den Nagel hängen? - Komm, wir trinken im ›Odeon‹ noch einen Grenadine und sehen uns dann im ›Nord-Süd‹ einen Renoirfilm an.« Sie ist eine gute Freundin, dachte ich, und bis auf die über38
flüssige Ausgabe für den Drink und das Kinobillett ist ihr Vorschlag gar nicht schlecht. Ich schielte zu der weißen Uhr mit dem altmodischen Zifferblatt. Fünf Uhr dreißig. »Ich muß heute abend nach Hause und Post erledigen, dringende.« »Na, dann vergiß auch das Studium der Börsenkurse nicht«, spottete Gusti, zahlte und konnte es nicht lassen, mir, bevor sie das Lokal verließ, einen Blick tiefsten Bedauerns zuzuwerfen. Die Mitglieder des Ensembles hatten sich längst in die Garderoben begeben, um sich für die Abendvorstellung umzuziehen und zu schminken, oder waren, soweit sie im ›Zerbrochenen Krug‹ nicht beschäftigt waren, nach Haus gegangen. Die ersten Besucher der Abendvorstellung betraten bereits das Lokal, als endlich auch ich mich zum Gehen aufraffte. Fröstelnd ging ich durch den kühlen Oktoberabend auf der linken Seite der Rämistraße, die aus nichts anderem als einer hohen, tristen Mauer graugrüner Steine bestand, zum See hinunter. Im allgemeinen mied ich diese Straßenseite und benutzte die gegenüberliegende, in der sich mit bunten Auslagen ein Schaufenster an das andere reihte. Aber auf der linken konnte man von entgegenkommenden Wagen besser gesehen werden. — Von den Bäumen, die auf dem kleinen Rondell vor der Postfiliale standen, riß der Herbstwind die gelb und kraftlos gewordenen Blätter und wirbelte sie auf die Straße. In den Baumkronen lärmten Stare. Sie waren auf dem Weg in den Süden und diskutierten vor der Nachtpause Abflugzeit und Reiseroute für den nächsten Morgen. Ich hatte den Odeonsplatz überquert und war zum See hinuntergegangen. Der Geruch von Tang und feuchtem Holz, das Geräusch des Wassers, das gegen die Kaimauer schwappte, und die Lichter am gegenüberliegenden Ufer erinnerten mich an Bremerhaven, an den Weserdeich, an eine Kindheit, die voller Träume und Tränen war. Deprimiert und durchgefroren erreichte ich die Dufourstraße und das Haus, in dem ich wohnte. Schon auf der Treppe hörte ich das Telefon. »Na endlich! Wo waren Sie denn so lange ?« klang es vorwurfsvoll aus dem Apparat. 39
»Und Sie ? Sie wollten mich doch um fünf Uhr im Theaterrestaurant abholen.« »Ich hatte aber bis dahin nichts gefunden, wohin ich mit Ihnen hätte gehen können. Einen Raum, in dem es warm ist und durch den nicht ständig fremde Menschen laufen und in dem ein Braque an der Wand hängt oder sonst etwas Erhebendes, ein Spiegel vielleicht, der Sie mit glücklichem Lächeln in meinen Armen zeigt.« »In solch einem Raum sitze ich, Dufourstraße 334, allerdings ohne Spiegel.« »Wirklich?« klang es ungläubig. »Und — allein?« »Ganz allein.« »Ich bin in zehn Minuten da.« »Mit oder ohne die übliche Verspätung?« Er hatte schon aufgelegt, und ich hatte mir kaum die Haare gebürstet, mich gewaschen und mir eine frische Bluse angezogen, als es läutete und er in der Tür stand. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich die Umarmung und den Kuß eines Mannes als so selbstverständlich empfunden wie diesen, der in der geöffneten Tür begann und eine Ewigkeit später in einer Wolkenschaukel endete. Ich blieb mit dem Kopf auf seiner Schulter liegen, als er aus der Tasche seiner Jacke zwei Zigaretten angelte und sie uns anzündete. »Es war so arg, Wilki, dich nicht zu finden. Du warst so ein Häufchen Malheur an diesem Abend auf der Bühne. ›Der ist jetzt schon mies vor dir‹, hatte Harald geunkt. Wäre nicht direkt hinter dir diese Paprikanudel auf die Bühne gestürzt, wäre ich zu dir in die Garderobe gekommen und hätte dich, wie ein Kind, das vergessen hat, wohin es gehört, in die Arme genommen und getröstet. Aber ich hatte Angst, deine Kollegin noch einmal zu erzürnen. Als ihr Auftritt endlich überstanden war und ich nach dir fragte, zischte sie: ›Kommen Sie morgen mittag!‹ Diese Hexe! Sie wußte genau, daß du mittags Zürich schon verlassen haben würdest. - ›Die sind ins Tessin gefahren‹, stotterte ihr Caballero. Wenn ein Mädchen wie du ins Tessin fährt, kann es nur in Ascona sein. Ich habe dich dort zehn Tage lang gesucht. Ich hatte gerade geerbt. Einundachzigtausend Franken. Nachdem du dich als Fata Morgana erwiesest, habe 40
ich sie meinem anderen Idol geopfert: Toscanini.« »Toscanini ?« »Ja, ich bin ihm fünf Monate lang durch die halbe Welt nachgereist, wohnte in den gleichen Hotels, saß in jedem Konzert, das er gab, und in jeder Oper, die er dirigierte.« »Und dann?« »Dann war das Geld ausgegeben, und ich kam nach Zürich zurück.« Bevor ich mich von dem Schrecken, wieder einmal an einen mittellosen Phantasten geraten zu sein, erholt hatte, sprang dieser auf. »Mit wem wohnst du hier?« »Mit mir und meinen Träumen. Die Wohnung gehört einer Freundin, die aber mindestens noch ein halbes Jahr in New York bleibt.« »Welch liebenswerte Dame!« Er begann, sich in der Wohnung umzusehen. Sein Körper hatte die Vollkommenheit einer griechischen Statue. »Einssiebenundachtzig ?« »Einssechsundachtzig«, Mendelson unterbrach seinen Spaziergang, »wieso ein so gekonntes Augenmaß?« »Ich hatte das gleiche Format schon mal und auch —.« Ich wollte ihn nicht kränken und schluckte herunter, was mich, nachdem ich mir das von Toscanini angehört hatte, noch zusätzlich an den Maler erinnerte. Robert war im Wohnzimmer verschwunden, und ich hörte ihn die Tür zum Kinderzimmer, zur Küche und zum Bad öffnen. »Deine Freundin hat Geschmack. Es fehlt nur eines, und das betrachte ich als groben Stilbruch und amusisches Element: ein Flügel.« Der Flügel war am nächsten Tag da, und als ich aus der Probe kam, saß Robert davor und entlockte ihm Töne von seltener Scheußlichkeit. »Es entsteht gerade Mendelsons Opus Number one«, rief er mir zu, ohne sein Spiel zu unterbrechen. »Hast du den aus eurem Haus herüberschaffen lassen ?« »Nein, er gehört dir und wurde auf deinen Namen geliefert. Es ist erstaunlich, wie kreditwürdig du nach den paar Stücken bist, die du bis jetzt in Zürich gespielt hast. Mach nicht solch ent41
setztes Gesicht! Natürlich werde ich ihn irgendwann bezahlen.« »Wovon denn?« »Ich bin gerade dabei, Musikrezensent der ›Tat‹ zu werden, einen Vertrag zur Klavieruntermalung von alten Stummfilmen abzuschließen, die ein Sammler in einem Vorstadtkino vierzehn Tage lang laufen lassen will, und, falls das alles noch nicht langt, um einen Hausstand zu gründen, gehe ich weiter Bridge spielen. In den privaten Bridge-Zirkeln bin ich so gefürchtet wie beliebt. Es ist unmöglich, nach einem Spiel mit Mendelson nicht um mindestens zwanzig Franken ärmer zu sein.« »Und dein Jurastudium?« »Vier Semester haben genügt. Ich weiß nun alles, was man wissen muß, um von bösen Mitmenschen nicht umgelegt zu werden. Zufrieden?« »Nie schien mir meine Zukunft rosiger.« Das ganze Gespräch hatte mit Musikbegleitung stattgefunden, und musikalisch untermalt verliefen auch die folgenden Wochen und Monate. Um Bruckners aktuelles Theaterstück ›Rassen‹ vorzuziehen, verschob die Direktion des Zürcher Schauspielhauses die Premiere der Holländer-Revue auf den 18. Dezember. Für mich gab es in dem Bruckner-Stück keine Rolle. Im Hinblick auf das Geheimprojekt meiner Vermögensbildung nahm ich diese Nachricht mit gemischten Gefühlen auf. Einen weiteren Dämpfer erhielt mein Optimismus durch einen Brief aus New York. Sammy schrieb, daß Senta und er wegen der drohenden europäischen Kriegsgefahr in den USA bleiben würden und deshalb den am 30. Dezember auslaufenden Mietvertrag für Sentas Wohnung nicht verlängert hätten. Die Möbel könne ich behalten oder verkaufen. Robert war glücklich und hüpfte mit der Elefantenbabys eigenen Grazie durch die Wohnung. »Freu dich doch mit mir, Wilki«, schlug er vor, »endlich brauchen wir wegen dieser schrecklichen Theaterproben nicht mehr mitten in der Nacht aufzustehen.« »Die Proben begannen um zehn.« »Das sag' ich ja. Von jetzt ab können wir in aller Ruhe um 42
zwölf frühstücken, und während du Kaffee kochst und den Tisch deckst, geh' ich an den Flügel und werde dir die Schönheit der Zwölf-Ton-Musik von Tag zu Tag vertrauter machen. Dann legen wir uns aufs Bett und gönnen uns eine kleine Pause, und abends gehen wir mit meinen Kritiker-Freikarten ins Konzert oder in die Oper.« »Und wie soll es werden, wenn meine Söhne kommen?« Weihnachten und somit der Termin, zu dem ich mir vorgenommen hatte, sie nach Zürich zu holen, rückten näher. Leider zerrannen in Mendelsons Nähe nicht nur lobenswerte Vorsätze wie Eiskristalle in der Märzsonne, auch meine Ersparnisse schmolzen mehr und mehr dahin. »So begabte Menschen wie du und ich, Wilki, können während ihrer künstlerischen Entwicklungszeit ruhig Kredite aufnehmen. In wenigen Jahren wird es eine Kleinigkeit sein, sie auszugleichen«, erklärte mir Robert. Die Höflichkeit, mit der man an der Tankstelle, in der Wäscherei und in den Restaurants auf Barzahlung verzichtete und sein liebenswürdiges: »Schreiben Sie's zum andern« befolgte, schien ihm recht zu geben. Sein Vater war einer der angesehensten Zürcher Anwälte gewesen, und die Familie, die inzwischen nur mehr aus Roberts ebenfalls Jura studierendem Bruder Victor und seiner temperamentvollen, hübschen Mama bestand, bürgte für Sicherheit. Ich hingegen spürte eine gewisse Kühle, wenn ich bei Einkäufen in Spielzeugläden, Kinderbekleidungsgeschäften und beim Buchhändler Roberts erfolgreiche Phrase aussprach. Vielleicht übertrug sich meine heimliche Überzeugung, daß die Chance der Bezahlung eine sehr vage war, auf die Geschäftsinhaber. Wenn Robert mich begleitete, war alles leicht, und so verlegte ich meine Einkäufe mehr und mehr auf die Nachmittage, an denen er nicht Bridge spielte und Zeit hatte, mich zu begleiten. Meine Privatgarderobe ließ sich bequem auf zwei Kleiderbügeln unterbringen, und da die Bühnenkostüme vom Theater gestellt wurden, waren mir Kleidersorgen fremd. Das änderte sich in dem Augenblick, in dem ich an allen spielfreien Abenden als Roberts Begleiterin Konzerte und Opernpremieren besuchte. 43
Robert fuhr mit mir in die Bahnhofstraße und wählte mit Geschmack und Leichtsinn das Schönste aus, was in den Modellhäusern zu finden war. Während es mich anfangs verlegen machte, daß er kein Konzert besuchte, ohne die Partitur des Programms mitzunehmen und jeden Takt mitzulesen und mitzudirigieren, hatte ich im Lauf der Wochen gelernt, den Haken und Schwingern seiner rechten Hand so geschickt auszuweichen, daß sie nicht auf meiner Nase landeten. Wir hatten gefrühstückt, und, Robert las die Morgenzeitungen, als ich in der soeben abgegebenen Post einen Brief mit dem Absender: Club der Auslandsdeutschen entdeckte. Er enthielt die auf weißem Büttenpapier gedruckte Einladung zu einem Adventsempfang. Mit der Hand hatte jemand an den Fuß der Karte geschrieben: »Dürfen wir Ihnen in Ihrem Interesse raten, Ihre Beziehungen zu dem Nichtarier R. M. bis dahin endgültig abzubrechen.« Ohne seinen Sinn oder seine Berechtigung zu verstehen, las ich den Satz dreimal. Der Nichtarier R. M. war vom Morgenblatt der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ verdeckt. Alles, was ich von ihm sah, war seine rechte Hand, die hier und da um die Zeitung herumlangte, nach der Kaffeetasse oder einem Stückchen Brioche tastete und wieder verschwand. Dieser Mann, der in Zürich geboren und aufgewachsen und Sproß einer angesehenen Schweizer Familie war und in dessen Klugheit, Humor und Charme nicht nur ich, sondern jeder verliebt war, der ihm begegnete, war für ein paar Leute, die in diesem Land überhaupt nichts zu suchen hatten, ein Nichtarier. Empört über soviel Arroganz, fiel es mir schwer, Robert diesen Brief nicht zu zeigen. »Steckst du mir eine Zigarette an, Wilki?« fragte er hinter seiner Zeitung. Ich stand auf, schob ihm eine seiner geliebten Gauloises zwischen die Lippen und legte meine Stirn gegen seine Schläfe. »Gibt es etwas an dir, Robert, was nicht liebenswert ist?« »Da ich durchaus nicht die Absicht habe, dich während der nächsten sechzig Jahre wieder herzugeben, wirst du schon noch auf das eine oder andre kommen.« Ich warf den Brief in den Papierkorb und zog meinen Stuhl 44
neben seinen. »Was liest du? Was ist los in einer Welt, in der man nicht wie du und ich als Liebende lebt ?« »Eigentlich nichts, was sich zu lesen lohnt.« Robert klappte die Zeitung zusammen und ging zum Flügel. »Könnte ich meine Reise nach Deutschland, wenn ich die Kinder hole, nicht mit einem Kabarett-Gastspiel dort finanzieren ?« »Nur, wenn ich dich als dein Pianist begleiten darf. Welches Repertoire hättest du denn für einen solchen Auftritt? Du weißt, daß du Brecht, Tucholsky und Holländer draußen nicht mehr singen kannst.« »Es gibt wunderhübsche Gedichte von Rilke, Hermann Hesse und Ringelnatz. Wenn du mir davon etwas vertonen würdest.« »Meine Ansprüche an zeitgemäße Musik sind so hoch, Wilki, daß ich fürchte, Mendelson wird nichts schreiben können, was vor Mendelsons Ohren bestehen kann.« »Vielleicht gefällt es mir?« Ich schob ihm ein paar Texte auf das Notenpult und begann damit, das Zimmer aufzuräumen. Robert hatte versprochen, den Hausbesitzer darum zu bitten, den Mietvertrag auf unsere Namen zu überschreiben. Hoffentlich vergaß er es nicht. Ich würde ihn abends daran erinnern. Es war warm und behaglich in der Wohnung. Ein großer gelber Mimosenstrauß, den Robert am vorangegangenen Abend mitgebracht hatte, duftete nach Vorfrühling und Zärtlichkeit. Ich hob die Bücher, Notenblätter und Rollenhefte auf, die links und rechts vom Bett auf dem Fußboden lagen, wischte Staub, spülte das Geschirr, hörte Robert am Flügel nach Melodien suchen und war glücklich. Die Beziehungen zu Mendelson abbrechen? Was für arme Irre waren es, die das von mir verlangten. Genauso gut könnten sie mir vorschlagen, mir einen Arm oder ein Bein abzusägen. Was ich dachte, was ich tat, was ich fürchtete und was ich erhoffte, kreiste um den Namen Robert wie ein Karussell um seine orgelpfeifenverzierte Mittelachse. Ich fuhr mit dem Staubwedel über den Kalender, riß ein Blatt ab und erschrak: 23. November 1933. Anfang Dezember sollten die Proben für die Holländer45
Revue wieder aufgenommen werden. Vorher noch ein Engagement in Deutschland zu suchen, hatte also gar keinen Sinn. Dennoch fuhren wir ein paar Tage später nach München. Ein entfernter Verwandter Roberts war vor anonymen Drohbriefen mit seinem kleinen Sohn in die Schweiz geflohen. Mit seiner langjährigen Buchhalterin war beschlossen worden, daß diese Geld und Aktien seines Besitzes einem Schweizer übergeben sollte, falls sich ein Schweizer finden würde, der sich zu dieser nicht ungefährlichen Freundschaftstat, jüdischen Besitz in die Schweiz zu bringen, bereitfinden würde. Robert sah darin kein Risiko. Sein eidgenössischer Gerechtigkeitssinn empörte sich über jede Ungerechtigkeit Hilflosen gegenüber. Da Kuhlmanns meine Mutter und meine Söhne zu einem Weihnachtsbesuch eingeladen hatten, war vereinbart worden, daß die drei bis München mit der Bahn fahren und die restliche Strecke in Roberts Wagen zurücklegen würden. An einem nebliggrauen Novembernachmittag erreichten wir die Grenze. Die Schweizer Zöllner ließen uns kommentarlos passie ren. Die deutschen begrüßten uns mit »Heil Hitler« und baten uns, auszusteigen und ins Zollhaus zu kommen. Während wir nach dem Grund und der Dauer unseres Aufenthaltes in Deutschland gefragt wurden, durchsuchten draußen zwei deutsche Zollbeamte jede Ecke von Roberts Wagen. »Meine Kollegin will sich für das Jahr 1934 um ein Theateroder Kabarett-Engagement in München bemühen«, erklärte Robert. »Falls wir etwas abschließen können, kommen wir schon heute, sonst aber morgen zurück. Zur Zeit ist die Künstlerin noch an einem Zürcher Theater engagiert.« Das Mißtrauen in den Gesichtern der Beamten verschwand. Einer von ihnen fügte seinem Heil Hitler sogar ein Na-dennviel-Glück hinzu. Als die Straße eine Kurve machte und das Zollhaus vom Rückspiegel verschwunden war, zündete Robert sich eine Zigarette an. Daß er vergaß, auch mir eine zu geben, verriet mir seine Nervosität. »Hast du gesehen, wie diese Burschen jede Ecke meines Wagens durchsuchten?« »Was für Strafe steht denn auf Devisenschmuggel ?« »Ich schmuggle keine Devisen, und deshalb interessiert mich 46
auch die Strafe nicht, die eventuell darauf steht. Ich hole einem Verwandten einen kleinen Teil des Geldes, das er sich in jahrelangem Fleiß erarbeitet hat und um das man ihn betrügen will.« In der Halle des Münchner Hotels erwarteten uns meine Mutter und mein jüngster Sohn. Ich hatte ihn seit dem Frühjahr nicht gesehen und war überrascht, daß aus dem Baby inzwischen ein kleiner Junge geworden war, der mir auf kräftigen Beinen entgegenlief, meine Knie umarmte und mit ausgestrecktem Hals interessiert zu mir heraufschaute. »Ein Gang wie Chaplin und ein Kopf wie ein Weizenfeld«, stellte Robert fest. Er hob Michael hoch und schenkte ihm zwei bunte Tafeln Schweizer Schokolade. Ich wandte mich meiner Mutter zu, die blaß und übermüdet wirkte, machte sie mit Robert bekannt und sah mich suchend nach meinem ältesten Sohn um. »Er ist noch bei seinem Vater in Bremen«, sagte meine Mutter. »Du weißt ja, daß er sehr an seinem Vater hängt, und er wollte ihn nicht ausgerechnet zu Weihnachten in eine unbekannte, fremde Umgebung fahren lassen.« Meine Enttäuschung über diese Nachricht dauerte nur wenige Sekunden. Michaels Anwesenheit würde schon genügend Probleme mit sich bringen. Robert war ja kein gelernter Vater, und sich von einem Tag auf den anderen auf zwei Söhne einzustellen, hätte seiner unkonventionellen Zeiteinteilung und Lebensauffassung natürlich noch mehr Korrekturen abverlangt als die Anwesenheit eines einzelnen unproblematischen kleinen Zweijährigen. Er hatte sich mit ihm an einen der runden Hallentische gesetzt, und ich sah, wie er Michael aus Streichholzschachteln ein Haus baute. »Du hattest gar nicht geschrieben, ob wir heute gleich weiterfahren oder ob ich ein Zimmer nehmen sollte und wir hier übernachten.« Der klagende Unterton in der Stimme meiner Mutter bedrückte mich. »Ich habe selbst noch nicht darüber nachgedacht. Aber ihr seid ja weit gefahren, und du würdest dich sicher gern hinlegen?« Die Frage war eigentlich überflüssig. Die schmale Frau mit den vorgebeugten Schultern schien sich nach nichts anderem zu sehnen als nach einem Bett. 47
»Bedrückt dich etwas Musching?« »Na ja - das -.« Sie blickte zu Robert. »Deine Schwester hat mir von ihm geschrieben.« Also das war es. »Robert ist Schweizer, Mama, das allein gilt.« Sie schwieg, blickte an mir vorbei, und ich sah die Zweifel in ihren Augen. Robert war zur Rezeption gegangen. »Zwei Doppelzimmer«, bestätigte der Empfangschef, und der Portier kam und griff nach unseren Koffern. »Ich würde vorschlagen, die Damen nehmen das eine, die Herren das andere Zimmer«, schlug Mendelson vor. Meine Mutter blickte verlegen zur Seite. Michael hüpfte vergnügt an Roberts Hand in den Lift. Abends besuchten Mendelson und ich Münchens berühmteste Brettl-Bühne, den »Simpl«. Unter den Rauchschwaden, die das überfüllte kleine Lokal durchzogen, entdeckten wir endlich zwei leere Stühle. Scheinwerferlicht, nicht grell und Aufmerksamkeit fordernd, sondern sanft wie eine Petroleumlampe. Bühne nicht erhaben über dem Orchestergraben thronend, sondern eine knappe Treppenstiege hoch, Sänger und Schauspieler, die nicht aus Kulissen auftraten, sondern aus dem Publikum, und es dem kleinen Auditorium überließen, zu erraten, wer hier engagiert oder wessen Auftritt improvisiert war. Brecht und Tucholsky wurden genauso unbekümmert interpretiert wie eigene Verse, Prosa und Aphorismen. Als wir morgens gegen zwei Uhr den »Simpl« verließen, wußte ich, wo ich ein Zuhause finden würde, wenn mich irgend etwas zwingen sollte, Robert und die Schweiz zu verlassen. Die Rückfahrt schien unter guten Sternen zu stehen. Meine Mutter, Michael und ich waren zwei Stunden durch die Stadt gebummelt. Frauenkirche, winziges Gestühl, kniende Zwerge unter himmlischer Höhe des dämmrigen Kirchenschiffs. Viktualienmarkt, duftendes Obst, Eier, die in Bastkörben zwischen Häcksel liegen, Gemüse, Krauter, Blumen aus Bauerngärten. Marienplatz, Rathaus, Menschen, die, als gurgelten sie, mit 48
langgestrecktem Hals auf das mittägliche Glockenspiel warten, das bereits jahrzehntelang auf dem Spielplan steht und beneidenswerterweise dennoch Tag für Tag sein Publikum hat. Bratwurstglöckl, Gerichte auf Zinntellern serviert, Bier in graublauen Steinkrügen, Salzbrezeln und Kümmelstangen aus gewärmten Servietten. »Hier riecht es gut«, stellt mein Sohn fest. »Münchnerisch«, erkläre ich ihm, »nirgendwo anders auf der Welt gibt es diesen herzhaften Geruch von gerösteten Würstchen, Senf, Sauerkraut, Bier und Tabak.« »Laßt euch das von Mr. Hitler nicht nehmen, die goldene bayrische Gemütlichkeit«, sagen zwei Amerikaner. Sie hatten an unserem Tisch gesessen und lächeln uns zu, als sie aufstehen und gehen. »Da machen Sie sich nur keine Sorgen«, antwortete lachend ein kräftiger Mann und prostete ihnen mit seinem Bierkrug zu. »Der macht sei' Sach' scho' recht. Mit dem geht's wieder aufwärts in Deutschland. Die Arbeitslosen sind weg. Die jungen Burschen lungern nicht mehr auf der Straße herum, und unsere Kolonien wird er uns auch zurückholen.« Überall der gleiche Optimismus, die gleiche Sorglosigkeit. Sah man in der Schweiz die Dinge vielleicht doch düsterer und drohender, als sie in Wirklichkeit waren? Durchwärmt und erwartungsvoll gingen wir durch die Theatinerstraße zum Hotel zurück. Vor der Feldherrnhalle standen zwei Wachsoldaten. Sie trugen Stahlhelme und hatten Hakenkreuzbinden auf dem linken Ärmel ihrer Uniformen. Einige Passanten hoben den Arm zum Hitler-Gruß, die meisten aber gingen gleichgültig vorbei. Am Lenbachplatz bot eine Frau heiße Maronen an. Michaels kleine Nase schnupperte interessiert. Ich kaufte eine Tüte und brach ihm und meiner Mutter die heißen Kerne aus der gerösteten Schale. Beglückt stellte ich fest, daß die Müdigkeit und die Unsicherheit des vorangegangenen Abends aus dem Gesicht meiner Mutter verschwunden waren. Sie begrüßte Robert, der uns startbereit vor dem Hotel erwartete, freundlich, drückte dem Hausdiener und dem Pagen ein großzügiges Trinkgeld in die Hand, kontrollierte das Gepäck, lehnte mit liebenswürdiger Energie ab, als ich ihr den Vorderplatz neben Robert überlassen 49
wollte, und setzte sich mit Michael in den Fond des Wagens. Kurz vor Ulm wurde der Nebel, der schon in den Münchner Außenbezirken über den Straßen gehangen hatte, so dicht, daß Robert mit dem Tempo mehr und mehr heruntergehen mußte. Das monotone Geräusch der Scheibenwischer wirkte einschlä fernd. Ich bemühte mich angestrengt, wach zu bleiben und Robert zu unterhalten, fühlte aber, daß er allen Fragen nach dem eigentlichen Zweck dieser Fahrt auswich. Die Uhrzeiger des deutschen Zollgebäudes standen bereits auf zehn, als wir den Grenzübergang erreichten. Zwei Männer in grauen Regencapes öffneten die Wagentür und ließen sich die Pässe zeigen. Es waren nicht die Zöllner des Vortages. Michael war aufgewacht. »Kann man hier aufs Häuschen gehen?« unterbrach er respektlos den amtlichen Vorgang. Die Männer sahen sich an. »Ich muß«, erklärte Michael, der sich nicht verstanden glaubte. »Zweite Tür links«, sagte gutmütig der eine Mann und ging meiner Mutter und Michael voran ins Zollhaus. Der Beamte, der bei uns am Wagen geblieben war, grinste. »Steckt doch schon in einem Dreikäsehoch der Respekt vor der deutschen Uniform. Kaum sehen sie eine, machen sie sich fast in die Hose.« Roberts Hand sagt: Vorsicht, bremst Empörung ab. »So, und nun schnell nach Hause und ins Bett«, sagte der Beamte, der mit Michael und meiner Mutter zum Wagen zurückkam. »Ich habe auch solch dreijährigen Steppke. Aber der dürfte mir nicht mehr so spät durch die Gegend fahren.« »Der Nebel -.« Robert zuckte entschuldigend mit den Schultern, gab Gas und lud zwei Stunden später Michael und meine Mutter vor dem Kuhlmannschen Haus in Küsnacht ab. »Ist alles gut gegangen«, wagte ich, als wir allein waren, endlich zu fragen. Robert nickte. »Wo hattest du das Geld und die Papiere denn versteckt?« »Unter dem Sitz, auf dem deine Mutter saß.« »Robert!« »Ich dachte ja, daß du dort mit deinem Sohn Platz nehmen würdest und die alte Dame sich zu mir gesetzt hätte. Sie muß übrigens mal eine sehr schöne Frau gewesen sein. Was hat sie 50
so müde und resigniert gemacht?« »Die Ehe. Mein Vater fuhr für den Norddeutschen Lloyd. Als er auf der Rückreise nach Deutschland war, wurde er zwischen Melbourne und Java vom Kriegsausbruch überrascht. Die Reederei befahl mit Funkspruch, den nächsten Hafen anzulaufen. Das war Sumatra. Mein Vater und die übrige Schiffsbesatzung arbeiteten auf Kaffee- und Baumwollplantagen. Sie konnten erst 1920 nach Deutschland zurückkehren. Für meine Geschwister und mich war er der gleiche bewunderte, interessante, geliebte Vater geblieben. Meiner Mutter war er fremd geworden. Sie fühlte sich schwach und unsicher neben diesem vitalen, sonnenverbrannten Mann. Die Ungerechtigkeit des Schicksals, das ihr sechs Jahre hindurch nur Entbehrungen und Sorgen aufgebürdet hatte, während mein Vater ihrer Auffassung nach auf der Sonnenseite der Welt leben durfte, hatte sie verbittert. Mein Vater ertrug ihre Unzufriedenheit und die ständigen Klagen über ihr hartes Los mit Humor und Nachsicht. Von dem, was man als harmonisches Elternhaus bezeichnet, war allerdings nichts mehr da. Simke verließ uns. Sie schrieb uns aus Berlin, daß sie dort eine Stelle angenommen habe und nicht mehr zurückkehren würde. Mein Bruder ging zu einem Hamburger Reeder in die Lehre.« »Und du?« »Ich traf den Maler und war glücklich darüber, daß er mich heiraten wollte und ich von zu Hause weg konnte.« »Geliebt hast du ihn nicht?« »O doch, sehr. So wie ein Veilchen den Rittersporn liebt. Demütig, aufschauend, Wunder erwartend.« »Sie kamen nicht?« »Sie kamen in Form von drei Kindern.« »Liebst du mich mehr als den Maler?« »Anders. Bei ihm war ich noch ein Wesen ohne geistige und körperliche Reibungsflächen.« »Wie gut, daß mir diese deine Entwicklungsepoche erspart blieb.« Robert hielt den Wagen an, und wir vergaßen, daß es wenige Meter weiter eine warme, bequeme Wohnung gab. 51
Während der nächsten Tage hatten wir oft Besuch von Menschen mit blassen, ängstlichen Gesichtern. Sie flüsterten mit Robert, und ich sah die Furcht in ihren Augen. Ihre Angst war so groß, daß sie sich auch in der Schweiz nicht sicher fühlten. Sie wollten weiter fort, in die USA, nach Kanada oder Australien. »Wir müssen ihnen helfen«, sagte Robert, und daß er »wir« sagte und mich mit einbezog, beglückte mich. »Diesmal wird es länger dauern und härter sein. Michael war ungewollt ein kleiner Schutzengel, aber ein zweitesmal wollen wir ihn nicht gefährden.« Wir brachten ihn ins Haus meiner Schwester zurück und erzählten wieder die Geschichte mit der Engagement-Suche. Michaels Kinn zuckte verdächtig, als wir uns von ihm verabschiedeten. Er stand zwischen meiner Schwester und meiner Mutter, die glücklich den Arm um seine Schultern gelegt hatte. »Aber hier ist es auch ganz schön«, sagte er dann tapfer. Wir lächelten zurück und fuhren los. Die Werte, die wir den Verjagten und Betrogenen aus Deutschland holten, wurden von Fahrt zu Fahrt größer. Robert verließ sich nicht mehr auf das Versteck unter den Rücksitzen. Er hatte zwischen den Rädern unterhalb des Wagens einen Blechkasten montiert. Kurz vor dem Grenzübergang fuhr er in eine Waldschneise, legte eine Decke unter den Wagen und schob, auf dem Rücken liegend, Papiere und Scheine in den geräumigen Behälter. In der Garage seines Zürcher Elternhauses nahm er die Papierbündel vorsichtig heraus, rief die Leute an, daß alles gut gegangen sei und sie sich beruhigt schlafen legen konnten, und fuhr mit mir in die Dufourstraße. »Geben sie dir eigentlich freiwillig einen Betrag oder hast du eine prozentuale Abmachung?« fragte ich Robert an dem Tag, an dem meine Proben im Schauspielhaus wieder begannen und wir bereits um neun Uhr morgens frühstücken mußten. Er sah mich an, als sähe er mich zum erstenmal, und mich fror in der Kühle und Entrüstung dieses Blickes. »Auch wir müssen ja schließlich existieren«, rief ich wütend, »oder hältst du es für selbstverständlich, daß du anderen zu ihrem Geld verhilfst und wir rund um uns herum Schulden machen? Siehst du eine Chance, daß wir diese Schulden jemals bezahlen können? Was 52
soll aus uns werden, wenn wir am 30. Dezember diese Wohnung verlassen müssen? Wo soll ich hin mit meinen Söhnen? Du kannst wieder in das Haus deiner Mutter ziehen. Aber ich? Was wird aus mir?« Mendelson sagte kein Wort, verließ das Zimmer, und ich hörte, wie die Wohnungstür ins Schloß fiel. Das Geräusch traf meinen Kopf wie ein Eisenklöppel. Ohne mich bewegen zu können, blieb ich am Tisch sitzen und starrte auf Roberts leeren Stuhl. Als ich verspätet auf der Probe erschien, kam mir Gusti Huber entgegengelaufen. »Wir haben noch Zeit«, flüsterte sie und zog mich aus dem Zuschauerraum ins Foyer. »Erzähl, Wilki! Immer noch im siebten Himmel ?« »Gerade heute bin ich mit einem kleinen Umweg durch die Hölle auf die Erde zurückgekehrt.« Die Probe verlangte Konzentration, und ich war froh, daß sie meine Gedanken von Robert ablenkte. Während der Mittagspause blieb ich im Theaterrestaurant, und als ich abends nach Hause kam, glaubte ich, mein seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen zu haben. Ich holte mein Sparbuch aus dem Versteck im Wäscheschrank. Wie gut, daß ich der Versuchung widerstanden hatte, es Robert gegenüber zu erwähnen. Ich hatte zwar in den ersten Wochen unseres Zusammenlebens mehrere hundert Franken abgehoben, es aber von dem Augenblick an, in dem ich mich Roberts Ansicht anschloß, daß Kreditinanspruchnahme das ideale Zahlungsmittel sei, nicht mehr angerührt. Es ließ sich leicht errechnen, daß meine Schulden inzwischen größer waren als meine Ersparnisse. Aber hatte ich den Flügel gekauft? War es meine Schuld, daß der Kleiderschrank voll teurer, unbezahlter Kleider hing? Der Tag, an dem die Gläubiger ihr Geld verlangen würden, kam bestimmt. Mir war es bis dahin hoffentlich gelungen, die Schweiz zu verlassen, und Robert würde einsehen müssen, daß man nicht Freunden helfen und die eigene finanzielle Situation völlig verschlampen lassen konnte. Ich drückte meine Zigarette aus und stellte ärgerlich fest, daß der Aschenbecher bis obenhin voller Kippen war. Auch das ist Roberts Schuld, dachte ich wütend, daß ich wieder zu rauchen beginne und daß wir die Wohnung nicht behalten können, weil er zu spät mit dem Hausbesitzer sprach. Er hätte sie 53
uns auch nicht gelassen, wenn er früher darum gebeten hätte, hatte Robert mir einzureden versucht. Der Mann hatte die Möglichkeit, die Wohnung an ein ruhiges, richtiges Ehepaar zu vermieten. Unsere Wohnungsnachbarn hätten sich ohnehin über das Klavierspiel bei Tag und Nacht beschwert. War ihnen das zu verübeln? Konnte Robert sich bei mir nicht auf Bach und Mozart beschränken und Schönberg und Strawinsky daheim bei seiner Mama spielen ? Beschäftigte er sich überhaupt einmal damit, was gut für mich war ? Vielleicht gab es weibliche Wesen, die es selbstverständlic h fanden, sich männlichem Egoismus unterzuordnen. Eins von ihnen hatte in holder Bescheidenheit wahrscheinlich auch die Bezeichnung »bessere Hälfte« ausgedacht. Ich war keine Hälfte. Ich war ich und wollte es bleiben. Nach langer Zeit nahm ich zum erstenmal wieder anstatt der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ ein Rollenbuch mit ins Bett. Schluß mit dem, was man Liebe nennt. Der einzige zuverlässige Freund einer Frau ist der Beruf. Er ist kein Zweitwesen, dessen Zärtlichkeit dich in den Himmel trägt und dessen Gle ichgültigkeit dich zu einem Bündel Verzweiflung macht. Der Beruf ist ein Teil deiner selbst, und deine Hingabe an ihn wird nie eine andere als eine positive Resonanz haben. Die Eboli, das ist eine Frau, die ihren Verstand richtig einsetzt, dachte ich und vertiefte mich in Schillers ›Don Carlos‹. Ich werde Ginsberg bitten, wieder mit mir zu arbeiten und diese Rolle mit mir zu studieren. Als ich nach dem Telefonhörer griff, um ihn anzurufen, fiel mein Blick auf das Zifferblatt. Fast drei Uhr, stellte ich erschrocken fest. Um acht mußte ich aufstehen, weil ich, bevor ich zur Probe ging, noch ins Theaterbüro wollte, um zu fragen, wie lange ›Towarisch‹ auf dem Spielplan bleiben würde. Am besten bat ich auch gleich darum, mich in einer weiteren Inszenierung nicht mehr zu beschäftigen, weil ich nach Deutschland zurückkehren würde. Ich löschte das Licht, preßte die Augenlider zusammen und beschloß, schnellstens einzuschlafen. Das Kopfkissen roch aufdringlich nach dem Haarwasser, das Robert benutzte. Mit diesem Geruch in der Nase war natürlich an Schlaf nicht zu denken. Seufzend stand ich auf, holte aus dem Wäschefach einen frischen Bezug, warf den erinnerungsverseuchten in die Wäschekiste und gab mir bis zum Versinken in eine Traum54
welt, in der keine Männer existierten, höchstens fünf Minuten. Als es vom nahegelegenen Kirchturm vier schlug, lag ich immer noch wach. Anscheinend blieb es mir nicht erspart, das unbequemste aller Mittel zum Müdewerden anzuwenden: kalt zu duschen. Vorher suchte ich noch jedes Eckchen meines Schminkkoffers und jedes Bord der Hausapotheke nach einem Schlafmittel ab. Natürlich - ein Flügel war da, aber die lebensnotwendigsten Dinge fehlten. Ich zog die Bademütze auf die Haare und ließ mit dem Mut der Verzweiflung das kalte Wasser auf mich herunterprasseln. Die Wirkung war genau das Gegenteil von der, die ich mir erhofft hatte. Mein Kopf war plötzlich klar, und nach einem achtstündigen Schlaf hätte ich mich nicht erfrischter fühlen können als nach diesen zehn Minuten unter der Brause. Ich zog mich an und drehte die Nummer des MendelsonHauses. Robert mußte neben dem Telefon gesessen haben. Schon nach dem ersten Läuten wurde der Hörer abgenommen. »Soll ich das Frühstück für eine oder zwei Personen richten?« »Für zwei, Wilki«, sagte eine Stimme, die verraucht und übernächtigt klang. Während der Wochen, die zwischen dem Ausziehen aus Sentas Wohnung und dem Suchen nach einer anderen lagen, hatte ich endlich wieder einmal Zeit für mich. Robert war zu seiner Mama zurückgekehrt, Michael durfte bei Simke bleiben, und ich lebte in einem tristen, dunklen Pensionszimmer. In Roberts Elternhaus war ich genauso ungern gesehen wie Robert bei meinen Verwandten in Küsnacht. Für Mendelsons war jeder Deutsche ein mehr oder weniger infizierter Nazi, für Kuhlmanns jeder Jude ein von der Hitler-Ideologie Diskriminierter. Ginsberg hatte sich bereit erklärt, wieder mit mir zu arbeiten. In der Komödie ›Towarisch‹, in der ich die Rolle der Lady Carrigan spielte, war er nicht beschäftigt, und die Proben für ›Richard den Dritten‹ hatten noch nicht begonnen. Auch Ginsberg erschrak sichtlich, als er meine düstere Höhle betrat. »Was ist passiert, Wilke?« »Wir mußten die andere Wohnung räumen, und eine neue habe ich noch nicht gefunden.« Meine Antwort schie n ihn nicht zu überzeugen. »Wissen Sie, 55
daß in der Promenadenallee, ganz nah beim Schauspielhaus, ein neuer Wohnblock mit wunderhübschen Appartements entsteht? Meine Frau hat sie entdeckt. Etwas mehr Sicherheit und Erspartes - und ich hätte ihr so gern den Gefallen getan und dort etwas gemietet. Aber —.« »Dieses Aber gilt auch für mich.« Wir begannen, ›Don Carlos‹ zu lesen, und ich spürte schon nach wenigen Minuten Ginsbergs Zweifel daran, daß ich je eine überzeugende Eboli sein könne. Es schien ihm wahrscheinlich verfrüht, dies auszusprechen. Er kannte mich auch zu gut, um nicht zu wissen, daß ich widersprochen hätte. Verbissen las ich weiter. Wir arbeiteten fast drei Stunden. Dann klappte Ginsberg sein Buch zu. »Unsere Auffassungen von der Rolle sind im Augenblick noch sehr unterschiedlich, nicht wahr, Wilke?« Er starrte das dunkle Fensterkreuz an. »Dies Zimmer kommt mir vor wie eine Gruft. Eine Gruft, die alles ausschließt, was zu jungen Menschen gehört: Sommergras, in dem man liegt und den Wolken nachschaut, Vögel, die man zwitschern hört, Birken, deren Blätter im Wind zittern wie das eigene Herz, wenn es an den Geliebten denkt, geöffnete Grenzen fremder Länder und Erdteile, durch die man reisen, in denen man studieren und auftreten kann. Wird es all dies für unsere Generation nicht mehr geben? Werden es nur Dunkelheit und Furcht sein, mit denen wir leben müssen?« hörte ich Ginsberg fragen. »Aber es ist für Sie jetzt sicher Zeit, ins Theater zu gehen. Kommt Mendelson Sie abholen ?« »Ich glaube kaum. Er sitzt freitags immer mit seinen BridgeLadies zusammen.« Ginsberg half mir in den Mantel. »Meine Frau hat ihm ein paarmal zugesehen. Er muß ein enorm geschickter Spieler sein. Auch im Schach. Aber auf welchem Gebiet ist dieser Bursche seinen Mitmenschen nicht überlegen ?« »Leider auf einem sehr entscheidenden. Menschen wie Sie und ich wissen, daß Regen und Schnee vom Himmel fallen. Das ist aber auch alles. Mendelson hingegen leidet an der Wahnvorstellung, auch Geld falle vom Himmel. In seinem sonst so vollkommenen Verstand muß sich da irgendein Konstruktionsfeh56
ler eingeschlichen haben. Oder ist für Sie Respektlosigkeit Geld gegenüber ein Zeichen von Überlegenheit?« »Wahrscheinlich weiß er gar nicht, was finanzielle Sorgen sind.« Ginsberg zerschmolz Roberts Belangen gegenüber in Nachsicht. Mich, die ich mich mit dem Studium schwieriger Rollen abplagte, hatte er mit solchen Gefühlen noch nie bedacht. Ich knallte die Tür ins Schloß und tastete mich ihm voran die schlecht beleuchtete Treppe herunter. »Hat jemand, der musikalisch so begabt ist wie Mendelson und dem eine gütige Fee obendrein noch die Schweizer Staatsangehörigkeit in die Wiege gelegt hat, Veranlassung, sich von seiner vorübergehend vielleicht etwas wackligen finanziellen Situation irritieren zu lassen ?« Die Antwort gab Robert selbst, der vor dem Bühneneingang stand und auf mich wartete. »Ich wollte dir nur sagen, daß ich ein herrliches Geburtstagsgeschenk für dich habe, Wilki. Du wirst vor Freude quietschen wie eine Ankerkette, die nach langer Irrfahrt im Hafen festmacht. So, jetzt muß ich Bridge-Club Nummer drei besuchen. Dann hat auch dieser Freitag hundert Franken gebracht, und ich erwarte euch nach der Vorstellung zum Abendessen in der ›Kronenhalle‹. Bringen Sie Ihre Frau mit, Ernst?« Er drückte mir seine schneenassen Lippen auf die Nase und sprang davon. »Kronenhalle. Der teuerste Laden, den es in Zürich gibt«, knurrte ich. »Also bis nachher«, sagte Ginsberg. »Würden Sie sich übrigens die Erkenntnis eines alten, weisen Mannes zu Herzen nehmen, Wilki?« Er wandte mir sein junges Gesicht zu. »Gegen die Liebe gibt es nur ein Mittel: zu lieben.«
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Bei einer Frau ist alles Herz, auch der Kopf. Stefan Zweig
»Hallo, seid ihr zurück ?« rief ich beim Postplatz an der Rämistraße den Staren zu. Sie saßen zu Dutzenden im kahlen Geäst der Bäume und zwitscherten und lärmten in den blauen Vorfrühlingshimmel. »Falls jemand von euch weiterfliegt an die Nordsee, schöne Grüße an Frau Bunterberg und an den Maler und an einen kleinen Jungen, der Björn heißt; und im Sommer komm' ich auch.« Ein paar Leute blieben stehen und sahen mich besorgt an. »Ich hab' heute Geburtstag«, erklärte ich ihnen über die Schulter hinweg und hüpfte auf einem Bein weiter in Richtung Schauspielhaus. Meine Stimmung war so blau wie der Himmel, der sich, als ich in der Frühe die Vorhänge auseinanderzog, in meine möblierte Gruft gestürzt hatte. Der Pöstel hatte mir einen Brief von Björn, eine Glückwunschkarte von dem Maler, ein Paket mit einem selbstgebackenen goldgelben, köstlich duftenden Kuchen von meiner Mutter und einen großen Blumenkorb von Kuhlmanns gebracht. Außerdem einen Brief von Simke, der in der Art einer Gutschrift aufgesetzt war: »Während einer Hans vom Arzt verordneten Kur in Kissingen, zu der ich ihn begleiten möchte, wirst du hiermit gebeten, im Juli mit den drei Kindern für vier bis sechs Wochen nach Norderney zu fahren.« Somit war ich auch die Unsicherheit darüber los, was ich während der Zürcher Theaterferien beginnen sollte. Ich hatte das Glück gehabt, am Schauspielhaus in drei aufeinanderfolgenden Stücken beschäftigt zu sein, und meine Finanzen waren wieder einigermaßen ins Gleichgewicht gekommen. Die Rolle, die ich in ›Richard dem Drittem spielte, war zwar klein, aber die Probenarbeit ungewöhnlich eindrucksvoll. Inzwischen war auch Albert Bassermann, der seiner jüdischen Frau wegen Deutschland verlassen hatte, nach Zürich gekommen. Er spielte den Richard, Erwin Kaiser Eduard den Vierten, Leonhard Steckel den Sir James Tyrell, Kurt Horwitz den Herzog von Buckingham, und Gustav Härtung führte Regie. 58
Auch wenn ich nichts zu tun hatte, saß ich stundenlang im leeren Zuschauerraum und verfolgte die Proben. Mit Mendelson traf ich mich selten. Er sprach nicht darüber, aber ich hatte das Gefühl, daß er wieder häufiger nach Deutschland fuhr. Wenn wir uns sahen, sahen wir uns zwischen Kollegen und Freunden im Theatercafe oder in der Kronenhalle. Beim Abgeben der Garderobe berührten wir wie zufällig unsere Hände, und wenn wir uns unbeobachtet glaubten, versanken wir in den Augen des anderen, lösten uns aus der Realität und entschwebten ihr, ineinander versunken, für Sekunden wie ein Chagallsches Liebespaar. Daß Robert morgens nicht zum Gratulieren kam, überraschte mich nicht. Ich wußte ja, wie schwer sich diese Nachteule vom Bett trennte. Außerdem fand er meine Gruft nach wie vor — und das mit Recht - scheußlich. »Sie schlägt nieder«, hatte er bei seinem ersten und letzten Besuch festgestellt. »Also, was soll's.« Mit einem schiefen Lächeln und zwei grellfarbigen, häßlichen Stoffblumen in der Hand hatte die Wohnungsinhaberin mich morgens begrüßt, unwirsch gratuliert und mir einen Zettel überreicht. »Nachts um zwei kam der Anruf. Daß er mich aus dem Schlaf riß, schien dem rücksichtsvollen Herrn nichts auszumachen. Sie zu wecken, untersagte er mir. Er erwartet Sie um neun vor dem Bühneneingang.« »Um neun? Die Probe beginnt doch erst um zehn. Haben Sie sich nicht verhört ?« »Um neun. Ich höre noch sehr gut«, sagte sie im Abschlurfen. »Und ich sehe auch noch sehr gut. Was meine Mieter anbelangt, möchte ich hinzufügen: leider.« Nicht Mendelson, Michael wartete vor dem Bühneneingang auf mich. »Herzlichen Glückwunsch, Mami. Robert hat mir gestern abend etwas gezeigt, und das soll ich dir jetzt zeigen.« Er zog mich über die Straße in die gegenüberliegende Allee. Langsam ahnte ich, welcher Art das Geburtstagsgeschenk war, von dem Robert gesprochen hatte. »So, und nun puste mal deine preußische Gewissenhaftigkeit in den blauen Geburtstagshimmel und freu dich«, empfing er mich, nahm mich auf die Arme und trug mich über die Schwelle einer lichtdurchfluteten, hell und fröhlich eingerichteten Woh59
nung. »Und hier wohnen Björn und ich«, sagte Michael, um an seine Anwesenheit zu erinnern, und zog mich in ein farbenfrohes Kinderzimmer. »Frühstücken wir jetzt endlich, Robert?« In der Küche, vor deren Fenster ein vorerst noch kahler kleiner Garten lag, war der Frühstückstisch gedeckt. In seiner Mitte stand ein blauer Bauernkrug mit bunten Freesien. »Ich weiß noch gar nicht, was ich sagen soll.« »Das ist mir auch lieber«, grinste Robert. »Aber weißt du, was das Köstlichste an der ganzen Sache ist? Daß du überhaupt nichts gemerkt hast. Dabei bin ich so oft mit vollgepacktem Wagen am Theater vorbeigefahren und habe Geschirr, Bücher und Teppiche ausgeladen und gezittert bei dem Gedanken, die junge Künstlerin könnte zum Memorieren zufällig ihre Schritte in die Promenadenallee lenken.« Ich goß Michael Kakao und Robert und mir Kaffee ein. »Wer von euch kennt eine Krankheit, die aus zehn Buchstaben besteht, ansteckend ist, aber nicht schmerzt?« Robert tat, als denke er angestrengt nach. »Masern«, riet Michael aufs Geratewohl, und als ich verneinend den Kopf schüttelte, versuchte er es mit dem einzigen, was ihm noch zu diesem Thema einfiel: »Hinfallen.« »Du bist ganz nahe dran, Mischa: Leichtsinn.« »Ich würde das weniger als Krankheit, sondern eher als Ergebnis einer positiven Weltanschauung bezeichnen«, schlug Robert vor. »Darf ich, bevor ich zur Probe muß, noch die weiteren Räume bewundern ?« Eilfertig sprangen beide auf. »Ach ja, du kennst ja das Beste noch gar nicht, ein Abstellkämmerli, in dem ich Borde anbringen ließ, damit wir endlich Platz haben für ein Archiv. Diese Hälfte ist für meine Partituren und diese für deine Rollenbücher. Und hier ist, hellgrau und rosa, das Bad. Das Kinderzimmer sahst du ja schon und den Living-room.« »Und wo schlafe ich ? Auf dem Flügel ?« Michael quietschte vor Wonne. »Wie war's mit dieser Schlafnische?« Robert zog einen weißen 60
Veloursvorhang zur Seite. »Ich schlaf auch hier«, rief mich die Stimme meines Sohnes in die Wirklichkeit zurück. »Das war nur gestern«, berichtigte Robert. »Ich hatte die Schränke im Kinderzimmer noch mal gestrichen, und es roch so stark nach Farbe, daß er Kopfweh bekommen hätte. Um Kuhlmanns nicht zu früh zu wecken, habe ich das Kind schon gestern abend in die Stadt geholt.« »Und jetzt gehen wir Schiffli fahren, gell?« »Jetzt bringen wir ›den Sohn des Clarence‹ ins Theater und gehen, wie ich dir versprochen habe, Schiffli fahren.« Über den Sommerwochen dieses Jahres hatte das gleiche Blau gehangen, in dem mein Geburtstag schwamm. Die ganze Welt schien ein großes, weiches Himmelbett zu sein, in dem Platz war für alle, die träumten und hofften, ganz gleich, welcher Religion oder Rasse sie angehörten. Ich hatte bis zum Mai gespielt, und Robert und Michael legten einen Sandkasten im Garten an und pflanzten Blumen und Büsche, und abends saßen wir auf der Terrasse und blickten in die Baumkronen, in denen der Sommerwind spielte. Dann begannen die Theaterferien, und Robert redete mir zu, einen Chansonabend zusammenzustellen, mit dem ich auf Tournee gehen könne, falls die Hoffnung, auch in der kommenden Theatersaison gut beschäftigt zu sein, sich nicht erfüllen sollte. Wir arbeiteten zwei Monate an dem Programm. Am Vorabend des Tages, an dem ich mit Litta und Michael an die Nordsee fuhr, hatten Kuhlmanns uns zu unserer großen Überraschung zum Abendessen eingeladen. Es verlief konventionell, aber nicht frostig. Anscheinend waren sie, seit es feststand, daß vom Herbst ab auch Björn bei uns leben und wir wahrscheinlich früher oder später heiraten würden, zu einigen Konzessionen bereit. Robert, von dessen souveränem Charme natürlich auch Kuhlmann nicht unbeeindruckt blieb, schien überdies die richtige, neutrale Quelle zu sein, an der mein Schwager sich Ratschläge über das Transferieren seines deutschen Geldes in die Schweiz und über günstige Anlagen in die sem Land holen konnte. »Ich bin wirklich nicht aus rassischen oder politischen Grün61
den in die Schweiz gekommen, sondern nur auf Anraten meiner Ärzte und weil ich den gesellschaftlichen und ehrenamtlichen Verpflichtungen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gewachsen war«, beteuerte er. »Deswegen müssen Sie sich doch bei mir nicht entschuldigen«, sagte Robert. Seit wir uns kannten, war es das erstemal, daß wir so weit voneinander fort waren. Manchmal schien mir das Getrenntsein aufregender und beglückender als das Zusammensein. Die kleinen Banalitäten des Alltags fielen fort. Hast du daran gedacht, Michaels Schuhe zum Schuster zu geben? Du hattest doch fest versprochen, Zigaretten mitzubringen. Mußt du beim Duschen unbedingt immer das ganze Badezimmer unter Wasser setzen ? Schluß jetzt, ich muß schlafen, wenn ich morgen nicht am Stock auf der Probe erscheinen will. Um Gottes willen, da hat ja jemand ein Loch in die Daunendecke gebrannt. Ich war's nicht. Ich vielleicht? Das Geplätscher dieser Gespräche war in der Zürcher Wohnung zurückgeblieben. Wenn wir jetzt aneinander dachten, schien die irdische Unvollkommenheit des anderen sich aufzulösen wie Wellenschaum im Sand. Litta und Michael hatten um unseren Strandkorb einen Sandwall geschaufelt. Trotz der Anstrengung ihrer kräftigen, kleinen Arme war er mehr umfangreich als hoch geraten. »Hochschippen tut ihn dann unser großer Bruder«, hatten sie den anderen Kindern erklärt. »Und so groß muß die Burg sein, weil vielleicht noch unser Vater kommt und Robert und Tante Simke und die Großmama.« »Dat muß ja'n schauerliche! Jedrängel bei eusch werden«, sagte ein dünner, hochaufgeschossener Junge, der von den Kindern bewundert wurde. Er vermietete nachmittags Esel zu Strandritten und holte furchtlos Krebse und Krabben aus dem Schlick, die er an einen pensionierten Fischer verkaufte. Mit der Kindern eigenen, unbewußten Grausamkeit verfolgten sie dann gespannt, wie der das zappelnde graue Schalengetier in kochendes Salzwasser warf, aus dem es rot und appetitlich wieder herauskam und den Kurgästen angeboten wurde. In der zweiten Juliwoche kam der Maler und brachte Björn auf 62
die Insel. Er hatte inzwischen wieder geheiratet, und ich hatte den Eindruck, daß unser Sohn sich gesagt hatte: Wenn ich meinen Vater schon nicht für mich allein habe und mich mit einer Mutter abfinden muß, dann lieber mit der eigenen. »Ist er immer so schweigsam?« fragte ich den Maler. »Das wird sich ändern, wenn er endlich irgendwo Wurzeln schlagen kann. Seit du uns verlassen hast.. .« »Ich euch?« »Seit du uns verlassen hast, schläft er jede Nacht in einem Fragezeichen. Das ist nicht gut für einen so sensiblen kleinen Burschen. Ich liebe ihn sehr, denn er ist dir sehr ähnlich. Oder besser gesagt, er ist dem Mädchen sehr ähnlich, das du einmal warst. Dem scheuen, ungeschickten, gläubigen Mädchen.« Er sah mich an, und ich hatte das ärgerliche Gefühl, daß ich errötete. »Du hast dich sehr verändert, fast könnte ich den Mendelson beneiden.« »Und deine jetzige Frau?« »Kocht sehr gut und erspart mir dank ihres angenehm phlegmatischen Wesens Eifersuchtsszenen.« Die Bewunderung seiner kleinen Geschwister und die Erwartung, die sie in seine Kräfte setzten, blieben nicht ohne Wirkung auf Björn. Der Wall unserer Sandburg wuchs unter seinen energischen Schaufelstichen höher und höher. Bei einem Kinder-Wetturnen am Strand schaffte er es, Erster zu werden und reichte mit vor Aufregung glühendem Kopf den SchokoladenLeuchtturm, den er als Preis bekam, seiner Schwester. Der Strandfotograf eilte herbei, und ein paar ältere Damen seufzten: »Entzückend.« Und nach wie vor färbte sich allmorgendlich der graublaue Horizont mit einem violetten Rot und ein golden glühender Sonnenball trennte Himmel und Meer aus der nächtlichen Umarmung. Die sonnverbrannte Haut der Kinder begann sich durch das Baden im salzigen Meer in kleine Schuppen aufzulösen. Aber kaum hatte ich sie abfrottiert, bräunte eine neue Sonne sie noch intensiver. Simke kam Ende August und war entzückt über das Aussehen der Kinder. 63
Wir schwammen zusammen, und abends, wenn wir die Kinder ins Bett gebracht hatten, gingen wir in den Kuranlagen spazieren oder holten unsere Abendkleider aus dem Schrank, standen vor dem Spiegel, probierten Frisuren aus und gingen Arm in Arm ins Kurhaus, um einem gastierenden Opernsänger zuzuhören oder ein Tanzturnier zu verfolgen. Es gab einfach keinen Mißton in diesem blauen Sommer. »Vielleicht ist es alles gar nicht so schlimm mit Hitler«, sagte ich einmal, als wir nach dem Schwimmen nebeneinander am Strand lagen. »Ich habe auch das Gefühl.« Simke lächelte. »Es würde mich freuen für dich und Robert.« »Fast bei jedem Interview, das man geben muß, wird die Frage gestellt: ›Wenn Sie auf eins von beiden verzichten müßten, was würden Sie leichter aufgeben - Ihren Beruf oder Ihre Familie ?‹« »Und was würdest du antworten ?« »Was gla ubst du ?« Simke dachte nach. »Als wir uns damals in dem Zürcher Cafe trafen, hätte ich geschworen: die Familie. Aber heute bin ich nicht mehr sicher.« »Damals kannte ich Mendelson noch nicht. Ich befand mich meiner Umwelt gegenüber in einer verbissenen Mich-zwingtihr-nicht-in-die-Knie-Verteidigung. Sie war der ideale Zündstoff, um eine Karriere voranzutreiben. Seit ich Robert traf, weiß ich, aus welchem Material man geschaffen sein muß für einen unaufhaltsamen, künstlerischen Höhenflug, und ich weiß auch, daß ich zur Handelsklasse B gehöre, eine Heimchenseele habe, zufrieden mit einem eigenen Nest und glücklich, meine Brut um mich herumhüpfen zu sehen.« Simke schwieg, und ich war froh, daß sie ihre Zweifel an der Richtigkeit meiner Erkenntnis nicht aussprach. »Wie ist Hans eigentlich die Kur bekommen?« fragte ich mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. »Gut. Sehr gut. Allerdings hat der Arzt vom Seeklima abgeraten. Er wäre sonst gern noch für vierzehn Tage mit nach Norderney gekommen.« »Vermißt du ihn?« Simke richtete sich auf, legte die Hand, wie es Schwerhörige 64
tun, hinter das linke Ohr und gab ihrem Gesicht einen einfältigen Ausdruck. Wir mußten beide lachen. Die Kinder kamen herbeigerannt, um nichts zu versäumen. »Was ist denn?« fragten sie neugierig. Simke und ich sahen uns an und begannen erneut zu lachen. »Wenn ihr es uns nicht sagt« — Litta schob beleidigt die Unterlippe vor und suchte vergeblich nach einer Drohung -, »dann zeigen wir euch nicht den Kanal, den wir unten am Wasser gebaut haben«, half ihr Michael. »Und nicht den Krebs, den wir gefangen haben. Einen so großen Krebs habt ihr noch nie gesehen. So groß wie Michaels Kopf.« Michael hob die runden Kinderhände hoch und tastete seine Kopfmaße ab. »Ja, mindestens.« Simke wischte sich die Lachtränen vom Gesicht. Die Kinder drehten sich um und rannten zum Wasser zurück. Es war sicher nicht besonders schmeichelhaft, was sie in diesem Augenblick über die Erwachsenen sagten. Robert versuchte, mit den Kindern den Garten in Ordnung zu bringen. Die Sommersonne hatte den größten Teil der Pflanzen versengt, und in der Sandkiste befand sich nur noch Staub. Sie schleppten in Eimern und Gießkannen Wasser aus der Küche und aus dem Bad nach draußen, und ich hörte ihre Gespräche und war glücklich. Wir waren jetzt eine große Familie, und manchmal überkamen mich Angstzustände bei der Überlegung, wie sich die Pflichten, die sich daraus ergaben, mit den Proben, dem Studium der Rollen und den Vorstellungen vereinen lassen würden. Robert hatte eine bewundernswerte Geschicklichkeit darin, mit Kindern umzugehen. Michael nannte ihn ohnehin längst Papa. Aber auch das spröde Herz meines ältesten Sohnes hatte er sich inzwischen erobert. Wenn die Knaben im Bett waren und wir das Gefühl hatten, daß sie eingeschlafen waren, krochen wir flüsternd in unsere Schlafnische. Ich bezog wieder meine Ausgangsstellung mit dem Kopf auf Roberts linker Schulter und dem angezogenen Schenkel auf seinem Bauch und ließ mich vom Rascheln und Umblättern der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ zu meinen Häupten in den Schlaf schaukeln. 65
Im Schauspielhaus hatte man vorläufig keine Rolle für mich, und ich war überrascht, mit welcher Gelassenheit ich diese Nachricht aufnahm. Den Sommer über hatte ich kein Geld gebraucht, und daß ich jetzt mein Sparbuch herausholen mußte, war kein Grund, wieder den alten Ängsten zu verfallen. Robert würde Karriere machen. Das war mir inzwischen genauso klar wie all den Menschen, mit denen er beruflich zu tun hatte. Er hatte begonnen zu komponieren. Wenn er über seinen Noten saß, saß er in den Wolken. Er bemerkte nicht, wenn ich durch den Raum ging oder wenn das Telefon läutete oder die Kinder durch den Garten tobten. Wie ein Nachtwandler verließ er manchmal für einen Augenblick den Platz am Schreibtisch, um am Flügel den einen oder anderen Takt seiner Komposition anzuschlagen oder zu verändern und glitt dann geistesabwesend wieder hinter seine Notenblätter zurück. Er hatte die Kinder und mich ein paarmal an den Flügel geholt und uns erklärt, wie die Zwölf-Ton-Musik entsteht. Daß sie keine vorgeschriebenen Tonarten kennt, sondern daß der Komponist die Vorzeichen selbst setzt und daß er dadurch die Möglichkeit der herrlichen unkonventionellen Harmonien hat. Oft, wenn Björn über einem Buch saß und las, beobachtete ich, wie Michael, wenn Robert spielte, leise ins Zimmer schlich, sich in eine Ecke auf den Teppich hockte und zuhörte. Von meinen Chansons sprachen wir nicht mehr. Mir waren inzwischen auch Zweifel gekommen, ob ich es auf diesem Gebiet zu wirklichen Erfolgen bringen könne. Die Erinnerung an meine ersten diesbezüglichen Versuche war ja auch wenig ermunternd. In der letzten Septemberwoche wurde es plötzlich kühl. Wir drehten die Heizung an, holten die Gartenstühle von der Terrasse, brachten sie in den Keller und beobachteten betrübt, mit welcher Kraft der Sturm die Blumen und Büsche im Garten zerzauste und die Blätter von den Alleebäumen riß. Der Himmel war grau, und man hatte das Gefühl, der Herbst habe verschlafen und wolle nun pflichtbewußt in einer Woche nachholen, womit er eigentlich schon vor zwanzig Tagen hätte beginnen müssen. »Ich muß noch einmal nach Deutschland«, sagte Robert. »Es 66
geht wieder los mit den Bosheiten. Vielleicht nicht in den großen Städten, aber da ist eine alte Dame illegal über die Grenze gekommen, die in Fulda gelebt hat. Ihr Mann und ihr jüngster Sohn sind für euren Kaiser Wilhelm bei Verdun gefallen. Ihrem anderen Sohn hat man ein Bein abgeschossen. Sie hat es trotzdem geschafft, ihn zur Flucht zu überreden. Nacht für Nacht hat man Steine in die Fensterscheiben ihres Hauses geworfen und David-Sterne und ›Juda verrecke!‹ an die Wände geschmiert. Die Leute, die den beiden den Fluchtweg zeigten, haben ihr alles, was sie in der Handtasche an Schmuck zu retten hoffte, abgenommen. Es gibt einen Weg, ihnen aus Deutschland einen Teil ihres Vermögens, das rechtzeitig nach Ravensburg geschafft wurde, zu holen.« »Begleitet dich jemand?« »Es ist besser, ich fahre allein. In diesem Fall hilft mir das Wetter sehr. Ich glaub' nicht, daß die Zöllner ihren warmen Bau länger verlassen als unbedingt notwendig.« Ich brachte Robert an den Wagen und ging in die Wohnung zurück. Ihre Stille bedrückte mich. Vor Mitternacht würde er bestimmt nicht zurücksein. Auf dem Theaterplan sah ich, daß Bassermann an diesem Abend den ›Lear‹ spielte. Zur Pause vor dem zweiten Akt würde ich noch zurechtkommen. Der Regen prasselte auf meinen Schirm, und obwohl das Theater nur wenige Minuten von der Promenadenallee entfernt war, sahen meine Kleider und Schuhe aus, als hätte ich darin den Ärmelkanal durchschwömmen. Robert hatte recht. Bei diesem Wetter war nicht zu befürchten, daß die Zollbeamten lange um den Wagen herumkrochen. Zu meiner Überraschung war das Restaurant leer. Nur der Dramaturg Kurt Hirschfeld und Herr Rieser, der Direktor des Theaters, saßen in einer Ecke. Ich blieb unschlüssig in der Tür stehen. »Hallo, Wilke«, rief Hirschfeld loyal, »man sieht Sie ja gar nicht mehr. Hauptberuflich Liebende, wie?« »Wer ist das Mädchen?« fragte Rieser. »Stückweise Ihr Ensemblemitglied, Herr Direktor.« »Die? Nie gesehen. Kommen Sie, mein Kind, setzen Sie sich doch . . .« Er musterte mich, putzte mit einem Taschentuch seine rand67
lose Brille, setzte sie auf, zuckte die Achseln und setzte sie wieder ab. »Allzusehr scheine ich Sie nicht beeindruckt zu haben«, wagte ich zu sagen. »Doch, doch, jetzt, wo ich Ihre Stimme höre, weiß ich's. ›Höchste Eisenbahn‹.. Habe ich recht? Die Person müßte singen, nicht spielen, Hirschfeld. Als Schauspielerin ist sie nicht besser und schlechter als andere. Aber wenn die singt - und privat ist sie sogar ganz hübsch. Sie tragen jetzt die Haare anders als vor einem Jahr. Stimmt's? Länger und eine hellere Farbe.« »Verdanke ich der Sonne. Ich war den Sommer über an der Nordsee.« »Nordsee«, sagte Rieser und glotzte mich an. »Nordsee, Ostsee, ja, ja, da gibt es diesen Typ Mädchen zu Dutzenden, Hirschfeld. Da brauchen Sie nur mit dem Finger zu schnackein, und schon kommen sie angesprungen. Mein Schwager, Franz Werfel, hatte auf Hiddensee ein Haus. Waren wir oft. Schöne Zeiten.« »Frau Rieser ist die Schwester des berühmten Dramatikers Franz Werfel« beeilte sich Hirschfeld zu erklären, und Rieser nahm es wohlgefällig zur Kenntnis. An dem angestrengten, starren Blick, mit dem er mich aus meiner Umgebung löste und absteckte wie ein Messerwerfer im Zirkus seine Partnerin, merkte ich, daß er nicht nüchtern war. »Könnte sie nicht die Anna spielen in ›Und sie wissen nicht, was sie tun‹?« »Unsere übernächste Premiere, Wilke. Enorm starkes Stück«, sagte Hirschfeld. »Ach wo, die muß singen. Gehen Sie mal zu Erika Mann, das ist der richtige Platz für Sie. Sie kennen doch die ›Pfeffermühle‹ ?« »Natürlich. Wir sehen uns jedes Programm an. Es gibt kein besseres Kabarett.« »Aber die sind doch ein festes Ensemble, Herr Rieser, Erika, die Giehse, Trösch und Mostar. Ich glaube nicht, daß die Wilke da eine Chance hat«, versuchte Hirschfeld mir zu helfen. »Aber die Anna?« 68
Rieser rückte seinen Stuhl näher zu meinem. »Kommen Sie mal 'rauf in mein Büro. Ich werde Ihnen ein Empfehlungsschreiben an die Mann geben.« Sein Blick verhakte sich an meinem Kleiderausschnitt. »Das hatten Sie vor einem Jahr auch noch nicht.« Ich litt still vor mich hin. Lange konnte es nicht mehr dauern bis zur großen Pause und der Chance, sich dann verabschieden zu können. »Dürfte ich die Rolle der Anna mal lesen?« Hirschfeld kramte das Buch aus dem Manuskriptstoß, der vor ihm lag, und blinzelte mir zu. In diesem Augenblick öffneten sich die Türen des Theaterfoyers, und das Publikum stürzte ins Restaurant. Rieser erhob sich und sagte, indem er mir eine Hand reichte, die sich anfühlte wie ein Stück rohes Fischfilet: »Also, kommen Sie 'rauf zu mir, mein Kind. Wir sprechen in meinem Büro über Ihre Singerei und Ihre Möglichkeiten.« »Aber vorher spielst du die Anna. Tut mir leid, Wilke, aber er hatte drei Pernods getrunken und vertragen tut er nur einen. Schaut Mendelson noch 'rein?« »Ich weiß nicht, Hirschi. Er mußte noch was erledigen. Ich geh' am besten heim. Er freut sich sicher, wenn er bei der Rückkehr keine leere Bude vorfindet.« Hirschfeld lächelte, und ich rannte mit dem Rollenbuch im Arm in die Promenadenallee. Robert war noch nicht da. Natürlich nicht. Aber wahrscheinlich war er schon auf der Rückfahrt und diesseits der Grenze. Ich öffnete leise die Tür zum Kinderzimmer. Die Knaben schliefen fest. Ob Robert überhaupt Zeit gefunden hatte, zu Abend zu essen? Und naß und verfroren würde er sein. Ich richtete in der Küche ein paar belegte Brote und stellte alles bereit, um ihm einen Tee mit Kandis, Rum und Nelken servieren zu können, wenn er kam. Das Stück, das ich mit ins Bett nahm, las sich gut, und die Anna war eine interessante Rolle. In dem glücklichen Gefühl, bald wieder auf der Bühne stehen zu können, schlief ich ein. Als das Geräusch von Roberts Wagen, der über den Kiesweg in die Garage fuhr, mich weckte, war es erst kurz nach Mitternacht. Ich lief in die Küche, um heißes Wasser für den Tee vorzubereiten und die Brote aus dem Kühlschrank zu holen. Überrascht darüber, daß mehr als 69
eine Viertelstunde verging, bis Robert heraufkam, zog ich mir einen Morgenmantel über und wollte zur Garage hinuntergehen. In diesem Augenblick betrat Robert die Wohnung, und sein blasses, entsetztes Gesicht sagte mir, daß etwas passiert sein mußte. »Das Geld ist herausgefallen.« Ohne den Mantel auszuziehen, setzte er sich auf den nächsten Stuhl und starrte mich an. »Hast du eine Zigarette, Wilki?« Ich gab ihm Feuer und goß ihm ein Glas Tee ein. »Herausgefallen? Wo denn? War es viel?« »Alles, was die alte Dame besaß. Hunderttausend Mark.« »Hast du sie denn diesmal nicht in den Blechkanister getan?« »Doch. Wie immer. Ungefähr dreißig Kilometer vor der deutschen Grenze fuhr ich in unsere Waldschneise und verstaute sie. Aber irgendein Geräusch erschreckte mich. Ich glaubte, Schritte zu hören und hab' den Verschluß wohl nicht so sorgfältig verriegelt wie sonst.« »Kam wirklich jemand?« »Nein, wahrscheinlich war es ein Reh oder ein Fuchs, der durchs Gebüsch sprang.« »Und am Zoll ging alles gut ?« »Kaum daß sie die Nase aus dem Zollhäuschen steckten.« Er hielt mir sein Glas hin, und ich goß ihm heißen Tee nach. »Ich muß die Strecke auf der Schweizer Seite noch mal zurückfahren. Ganz langsam. Vielleicht liegt das Paket am Straßenrand.« Ich zog mich an, und wir fuhren mit vollaufgeblendeten Scheinwerfern aus der Stadt heraus in Richtung Winterthur. Kurz vor Baden gaben wir auf. Der Regen war so stark geworden, daß von den Geldscheinen, hätten wir sie gefunden, wahrscheinlich ohnehin nichts übriggeblieben wäre als ein Häuflein aufgeweichtes Papier. »Ich muß irgendwo zwanzigtausend Franken auftreiben und der alten Dame sagen, daß es mir zu riskant erschien, alles Geld auf einmal zu holen. Damit laß ich ihr die Hoffnung. Den Sohn werde ich wohl oder übel informieren müssen.« Während der nächsten Tage blieb der Flügel stumm. Wir lebten wie unter einer Zirkusplane, die zu nieder gespannt ist 70
und unter der man sich nur mit eingezogenem Kopf bewegen kann. Robert war ununterbrochen unterwegs, um bei Bekannten und bei Freunden seines Vaters Geld aufzutreiben. Unbegreiflicherweise schien es ihm wirklich gelungen zu sein, sich zwanzigtausend Franken zu beschaffen. Für mich hatten im Schauspielhaus die Proben begonnen, und da die Mittagspause nicht ausgereicht hätte, um heimzulaufen und ein Mittagessen zuzubereiten, kamen Robert und die Kinder ins Theaterrestaurant, und wir aßen mit mehr oder weniger Appetit das Menü eins. Robert rauchte anschließend eine Zigarette und holte sich vom Zeitungsständer ein paar Blätter, um sich über die Tagesneuigkeiten zu informieren. »Lies das, Wilki«, fuhr er plötzlich hoch und reichte mir den ›Allgäuer Boten‹. »Fachzeitung für Milch- und Kuhhandel ?« Ich mußte lachen und erwartete irgendeinen Scherz. »Holzsammlerin findet Banknotenbündel«, las ich an der Stelle, auf die Roberts Finger zeigte. »In den frühen Morgenstunden des 2. Oktober fand eine alte Frau in einem Waldweg in der Nähe von Ravensburg ein großes Bündel deutscher Banknoten. Da keine Verlustanzeige darüber eingegangen ist, nimmt man an, daß die hunderttausend Mark entweder aus einem Diebstahl stammen oder illegal in die Schweiz gebracht werden sollten.« Mendelson atmete auf und steckte die Zeitung in die Tasche. »Bin ich froh. Jetzt habe ich doch wenigstens einen Beweis für mein Pech. Denn irgendwann muß ich es ja auch der alten Dame sagen, was passiert ist. Fräulein, zwei Himbeergeist und für unsere Söhne zweimal gemischtes Eis.« Schreiben Sie's zum anderen, brauchte er gar nicht hinzuzufügen, wo immer wir während der letzten Tage auftauchten, wußte man, daß diese Phrase unser Zahlungsmittel war. Kurz vor der Premiere des Bloch-Stückes ›Und sie wissen nicht, was sie tun‹ rief Hirschfeld an und sagte, daß er dringend mit uns sprechen müsse. Wir hatten an diesem Abend Freikarten für das neue Programm der »Pfeffermühle« und verabredeten uns bereits eine Stunde vor Programmanfang mit ihm im Niederdorf. »Zwei Pfefferminztee«, sagte ich zum Servierfräulein. 71
Robert zog eine Grimasse. »Hier kennt man uns nicht, und das ist das Billigste, was die Getränkekarte aufweist. Du darfst dich von mir eingeladen fühlen.« Hirschfeld kam mit blaugefrorenem Gesicht und regendurchnäßtem Anzug ins Lokal gestürzt. Durch die Feuchtigkeit waren aus seinen krausen, roten Haaren Hunderte von kleinen Spiralen geworden, die sein Gesicht umtanzten. »Kinder, ich hab' eine ganz große Chance für euch«, begann er atemlos. Die Serviererin trat an den Tisch. »Mir das gleiche«, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf unsere Tassen. »Wenn Sie wüßten, was Sie sich da einhandeln«, grinste Robert schadenfroh. »Also, hört zu. Da gibt es ein phantastisches deutsches Emigrantenkabarett, das unter dem Namen ›Ping-Pong‹ zur Zeit in Holland auftritt. Tolle Erfolge. Tolle Presse. Aber die Holländer konnten ihre Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung nicht nochmals verlängern, und nun möchten sie in die Schweiz. Ich habe sofort an euch gedacht.« »Zu gütig«, sagte Robert. Hirschfeld schien den Spott in seiner Stimme nicht zu hören. »Die Wilke könnte mit in deren Ensemble einsteigen und du hättest die Chance, die Musik für die Programme zu schreiben und zu begleiten. Ich sorge dafür, daß sie zu ganz kleinen Gagen kommen, so daß ihr außer der ethischen, moralischen und künstlerischen auch eine ganz große finanzielle Chance habt.« »Bei dem Eifer, mit dem du dich für die Sache einsetzt, nehme ich an, daß du auch für dich eine errechnest.« »Also, das steht bei mir wirklich nicht im Vordergrund«, schwindelte Hirschfeld, goß sich Tee ein und setzte nach dem ersten Schluck die Tasse angewidert fort. »Trinkt ihr das etwa auch ?« »Emigranten-Champagner«, spottete Robert. »Wo hattest du dir gedacht, sollen diese Kabarettisten auftreten ? Im Schauspielhaus ? Oder unter dem Kiosk-Dach vom Paradeplatz ?« »Schon alles geklärt. Hier im Niederdorf ist nichts zu finden, und die Nähe der ›Pfeffermühle‹ wäre sehr wahrscheinlich auch gar nicht das richtige.« 72
»Das sag' nicht«, widersprach Robert, »da sie jeden Abend ausverkauft ist, könnte unser Laden vielleicht auffangen, was bei der Mann keinen Platz mehr bekommt.« »Ihr kennt doch die Tonhalle, und unter der Tonhalle ist ein Keller, der geheizt ist und früher als Aufbewahrungsort für Orchestermaterial und Instrumente gedacht war. Ein idealer« - er betonte jede Silbe - »Raum für ein Kabarett. Lächerlich kleine Miete. Sagt mal, sind euch diese Zukunftschancen nicht etwas Besseres wert als Pfefferminztee ?«Ich umklammerte mein Portemonnaie. »Wir müssen jetzt leider gehen. In drei Minuten beginnt das Programm der ›Pfeffermühle‹.« »Also dann — ich erwarte euch nach Schluß wieder hier, oder besser, im Theaterrestaurant.« Das neue Programm begeisterte genauso wie die vorangegangenen. Am Flügel saß Tibor Kasics und spielte Atonales. Die Texte trafen Herz und Verstand nicht wie Maschinenpistolen, sondern trotz ihrer Aggression leicht und federnd wie Florettspitzen. Der Zuhörer hatte das Gefühl, daß all das, was er der politischen, deutschen Situation gegenüber empfand, hier klar und begreiflich ausgesprochen wurde. Als der Vorhang fiel, blieb Robert sitzen und trampelte und applaudierte wie die anderen Gäste. »Und wenn Hirschfelds Schützlinge nur halb so gut sind«, sagte Mendelson auf dem Heimweg, »politisches Kabarett ist in der augenblicklichen Situation wichtiger als die ›Zauberflöte‹ und ›Kabale und Liebe‹ und ›La Traviata‹.« »Wir bauen ein Theater«, erzählte Björn aufgeregt seinen Spielkameraden auf der Straße und überließ ihnen großzügig den Schlitten, den Robert ihm aus seinem Elternhaus mitgebracht hatte. Der Schlitten und das Rodeln in einem nahegelegenen Park waren in den letzten Tagen, in denen es ununterbrochen geschneit hatte, das große Entzücken meiner Söhne gewesen. Aber seit wir sie einmal mitgenommen hatten, fanden sie die Arbeit im Tonhallen-Keller weit aufregender. Wir hatten den Raum von Staub und Spinnweben gesäubert, ein Podest gezimmert, eine Scheinwerferanlage montiert und waren jetzt dabei, den Raum mit tomatenrotem Rupfen auszuspannen. Die 73
Lieferanten schrieben es »zum anderen«. Hinter der Bühne hatten wir einen schmalen Gang für die Garderobe freigelassen. Nach den ersten Einnahmen würden wir sie noch etwas komfortabler ausstatten und uns auch einen schwarzen oder weißen Vorhang für die Bühne erstehen. Vorerst aber würden wir es mit Pirandello halten und auf offener Bühne auftreten und umbauen. Robert nannte mich nur noch »Frau Direktor«, und die Knaben griffen diese Bezeichnung begeistert auf. Hirschfeld hatte die Verträge nach Amsterdam geschickt, und sie waren im Handumdrehen unterzeichnet zurückgekommen. Auch die Plakate und Programme waren bereits im Druck, und für den 1. Februar war die Premiere vorgesehen. Da »Frau Direktor« und der musikalische Leiter Mendelson vorerst ohne Bezahlung auftreten würden, war der Gagenetat gar nicht einmal so hoch. Die vier Kabarettisten hatten sich jeder mit täglich fünfzig Franken einverstanden erklärt bei einer Vertragsgarantie von zwei Monaten. Das ergab täglich zweihundert Franken, die sich sogar bei schlecht besuchten Abenden ohne weiteres einspielen ließen. Aber wir rechneten natürlich nicht mit schlechten, sondern mit ausverkauften Häusern. Die Texte des Programmes hatten nicht ganz das Niveau der › Pfeffermühle‹, aber sie waren, wenn man nicht gerade diesen Spitzenmaßstab anlegte, ausgezeichnet und von einer etwas humorvolleren politischen Aggression als die der Konkurrenz. »Es wäre ja auch ganz schlecht, wenn ihr in den Verdacht kämt, die arrivierte ›Pfeffermühle‹ imitieren zu wollen. Der eigene Stil wird unser Haupterfolg bei Presse und Publikum sein«, ermunterte uns Hirschfeld. Er war in diesen Tagen bei Rieser ziemlich in Ungnade gefallen. Zwei Stücke moderner Autoren, die er vorgeschlagen hatte, darunter auch das, in dem ich die Anna spielte, wurden Mißerfolge und mußten nach wenigen Vorstellungen abgesetzt werden. Seitdem erholte er sich in jeder freien Sekunde »seelisch« bei uns. »Übrigens bekam ich heute einen Brief von den ›Ping-Pong‹Leuten, in dem sie euch bitten, ihnen das Geld für die Anreise zu schicken. Na ja, ihr müßt verstehen, Amsterdam-Zürich ist ein ganz hübsches Stück. Sie können ja nicht durch Deutschland, sondern müssen auch noch den Umweg durch Frankreich 74
machen.« Wir sahen uns an und unterdrückten einen Seufzer. Robert stellte die Trittleiter beiseite, legte Nägel und Werkzeug in einen Kasten und meinte: »Also gut, Hirschi, das ist aber auch das Letzte, womit du mir vor den ersten Bareinnahmen kommen darfst. Nun übernimm du es, während ich auf die Suche nach den notwendigen Fränkli gehe, daß wir für geringste aller Mieten morgen ein Klavier und eine einigermaßen Bestuhlung bekommen. Das Klavier muß gut und gestimmt sein; die Bänke halt so ein Mittelding von Polstersessel und Küchenstuhl. Preiswert, vor allen Dingen preiswert. Das Programm wird so gut sein, daß das Publikum nur noch seine entzückten Gehirnzellen spürt und nicht die Popos.« »Ich kann mich ja mit unseren kleinen Couchkissen neben die Kasse stellen und sie vermieten«, schlug Björn vor. »Eine großartige Idee«, sagte Robert, »auf die kommen wir noch zurück.« Im Briefkasten fanden wir abends ein Schreiben der Kantonalen Fremdenpolizei mit der Aufforderung, binnen drei Tagen bei ihr vorzusprechen. »Was wollen die von dir?« »Von mir? Das Schreiben ist doch an Robert Mendelson adressiert.« »Wir haben Hunger, Frau Direktor«, riefen die Kinder, die sich im Bad unter der Dusche den Staub vom Körper und aus den Haaren wuschen. Nachdem wir gegessen und ich sie ins Bett gebracht hatte, rätselten wir noch lange herum, was dieses Schreiben bedeuten könne. »Vielleicht ist das verlorene Geld auf irgendeine Weise in die Schweiz gekommen. Es ist ja möglich, daß man aus den Nummern der Banknoten festgestellt hat, woher es kommt und wer die Besitzerin ist, die es abholen ließ?« Wir schliefen so schlecht in dieser Nacht, daß es uns nichts ausmachte, bereits um sieben aufzustehen, mit den Kindern zu frühstücken, ihnen zu versprechen, sie um zehn abzuholen, und zur Fremdenpolizei zu fahren. Man händigte uns kein Geld aus. Man wollte etwas haben. Eine für unsere Begriffe ungeheuere Summe. Wer als Arbeit75
geber Ausländer ins Land hole, habe den für die Dauer des Arbeitsvertrages zugesicherten Lohn in bar zu deponieren. Seit dem Zustrom deutscher Emigranten in dies Land seien die Vorschriften noch verschärft. Es handle sich nicht um Angestellte, erklärte Robert, bot den Beamten Zigaretten an und strahlte Charme und Wärme aus wie ein Tannenbaum am Heiligen Abend. Man sei ein Kollektiv und die Honorargarantie eben nur eine Geste. Es würde wahrscheinlich viel mehr verdient, und erst nach der Premiere sei geplant, sich zusammenzusetzen und die finanzielle Seite der Sache zu detaillieren. Wichtig sei vorerst mal die lobenswerte Absicht, ein weiteres Kabarett von Niveau nach Zürich zu bringen. »Sie kennen doch Erika Manns ›Pfeffermühle‹? Nein? Die zu besuchen, sollten Sie aber nicht versäumen, und darf ich Sie zu unserer Premiere einladen? An politischer Aggression werden Sie auch bei uns nichts vermissen. Nur anders. International gezielter. Es gibt da ja einige Angriffspunkte, die noch reizvoller sind als der Schnurrbart des Herrn Hitler.« »Sagten Sie, Sie wollen ein politisches Programm bringen?« Roberts Charme war unter den Amtstisch gefallen, und da lag er und ich sah keine Chance, daß er sich von den derben Sohlen, die auf ihm herumtraten, erholen würde. »Politische Programme dürfen in Zürich überhaupt nicht gebracht werden. Strenge Anordnung vom Berner Bundeshaus. Die einzige Ausnahme, die man gemacht hat und die uns schon viel Verdruß und Ärger der Zürcher Bürger eingebracht hat, ist die ›Pfeffermühle‹. Aber bei der Tochter von Thomas Mann - na, da sind eben ein paar dafür zuständige Leute umgefallen. Aber noch so ein Laden? Vorläufig verbinden uns mit den Deutschen noch gutnachbarliehe Beziehungen. Denken Sie wirklich, die lassen wir uns von ein paar unerwünschten Emigranten versauen?« »Das bespreche ich wohl besser mit den zuständigen Herren in Bern und mit meinem Anwalt.« Robert erhob sich, und ich sah erstaunt, daß er trotz dieser zwei Tiefschläge kerzengerade das Amtszimmer verließ. Es blieb uns nichts anderes übrig: Wir mußten versuchen, alle politisch zu aggressiven Stellen zu verwässern oder sie ganz aus dem Programm zu nehmen. Es schrumpfte infolgedessen 76
langsam aber sicher auf eine einstündige Unterhaltung zusammen. »Wie gut, daß du ein so großes Chanson-Repertoire hast«, versuchte sich Robert als Optimist. »Soll ich vielleicht alle paar Minuten als Lückenbüßer an die Rampe treten und ein Lied ins Publikum trällern?« »So leid es mir tut, Wilki, im Augenblick sehe ich keine andere Lösung. Vielleicht erweist sie sich als Lichtblick ?« »Ich fürchte, mit dieser Hoffnung stehst du ziemlich allein da.« »Fändest du es etwa besser, unsere Besucher halten für die große Pause, was in Wirklichkeit bereits Programmschluß ist? Soll ich ihnen nachrufen: Vergessen Sie bitte Hut und Regenschirm nicht, das wäre nämlich bereits alles, was das ›PingPong‹ Ihnen zu bieten hat?« Dumpfe Vorahnungen blieben unausgesprochen. Es gab niemanden, den wir in dieser Woche nicht anpumpten. Als Vorbild führte Robert stets mic h an. Und er hatte recht, ich hatte ernstlich mit den Tränen gekämpft, als ich all meine Ersparnisse abhob. »Na, ein Fränkli lassen wir halt drauf«, lächelte mein Vertrauter hinter seinem Bankschalter. »Und nach dem, wie Sie mir die Sache schildern, ist das Geld ja nicht verloren, sondern nur deponiert.« Diesmal machten wir nicht einmal vor unseren nächsten Verwandten halt. Mein Schwager gab unwillig wenig, meine Schwester heimlich viel. Auch Mama und Bruder Mendelson trennten sich von tausend Franken. Dafür bekamen sie alle Ehrenkarten, und wir hatten zumindest für die Premiere die Garantie eines vollbesetzten Hauses. Das Ensemble traf zwei Tage vorher ein. Reichlich spät, wenn man bedachte, wie viele Textstellen noch neu einstudiert werden mußten. »Da müssen wir aber auch noch das Probengeld besprechen«, maulte ein hochaufgeschossener Jüngling und stellte mißbilligend fest, daß die Garderobe weder fließend Wasser noch ein Künstler-WC hatte. »Schon alles eingeplant«, beschwichtigte Hirschfeld ihn. »Wir fahren Sie jetzt erst mal zu den anderen in die Quartiere, Sie schlafen aus und heute nachmittag treffen wir uns alle'hier 77
zur ersten Probe.« »Das scheint der geschäftliche Leiter des Unternehmens zu sein«, flüsterte er mir zu. »So 'n kleiner Rieser. Diese Typen, die gern selbst Künstler wären, bei denen es aber dann doch nur dafür langt, die Kunst anderer zu verkaufen, sind meistens schwierig.« Wie recht er hatte. Die Kollegen erschienen wirklich um drei zur Probe. Schon bei den ersten Szenen, die wir miteinander sprachen, empfanden wir Freundschaft und Sympathie füreinander. »Komisch, wieviel sicherer man sich hinter den Schweizer Bergen fühlt als in der Nähe der Kuhweiden, die so einladend von der holländischen in die deutsche Landschaft verlaufen«, sagte Leo Weiß, ein sommersprossiges, rothaariges, rundes Bündel Komik. Dora Gerson lächelte und lobte die Intimität und Atmosphäre des Raumes. »Läßt er sich bei allzu starkem Besucherandrang eventuell noch vergrößern, Herr Intendant?« wandte sich Dotz Rethel, ein langer, hagerer Don-QuichotteTyp an Robert, und wir waren uns nicht ganz im klaren darüber, ob die Frage ernst oder zynisch gemeint war. Während der Proben erwies sich Rethel als einer der Einfallsreichsten. Wir waren begreiflicherweise alle dagegen, ein reines Unterhaltungsprogramm zu bringen, und Rethel verstand es herrlich, die verbotenen roten Pointen in rosa umzufärben. Wir lernten und probten bis spät nach Mitternacht. Zwischendurch verabschiedete ich mich für eine Stunde, um meine Brut zu füttern und machte einen großen Berg Brote fürs Ensemble. Ich war froh, auch bei der Rückkehr in den Tonhallen-Keller festzustellen, daß der aggressive »Geschäftsführer« Wolf weiterhin abwesend war. »Ach, der ist sonst ganz brauchbar«, nahm Dora Gerson ihn in Schutz. »Aber er hat sich auf der Reise eine Erkältung geholt. Als ich heute nachmittag in sein Zimmer schaute, hatte er fast vierzig Grad Fieber, und ich hielt es für richtiger, ihn zu Hause zu lassen.« Um Gottes willen, dachte ich, wenn der nun stirbt! Dann müssen wir als Arbeitgeber wahrscheinlich auch noch seine Bestattung bezahlen. 78
»Glauben Sie, daß er bis zur Premiere übermorgen wieder in Ordnung ist?« Robert plagten anscheinend ähnliche Überlegungen. »Hoffen wir's«, meinte Dora Gerson, »sonst müssen wir übrigen um so besser sein. Wölfchen hat ohnehin kaum Ensembleszenen. Er macht nur so eine Art Conference.« Die Gerson war herrlich in ihren Chansons. Ihre Intelligenz war in eine so feminine Ausstrahlung verpackt, daß die Männer sie schluckten wie Kinder schokoladenverpackte Medizin. Die Premiere war ein gewaltiger Erfolg. Unser Publikum bestand zwar in der Hauptsache aus Familienangehörigen mit Kreditgebern, und Karlheinz Wolf lag fiebernd in seinem Hotelzimmer und wurde in seiner Conference durch Robert vertreten, aber zu irgendwelchem Pessimismus schien deswegen keine Veranlassung. Neben Dora Gerson war Robert der absolute Volltreffer dieser Premiere. Er sprang zwischen Klavier und Podium hin und her, stellte zu den einzelnen Szenen kleine Versatzstücke auf die Bühne, trug sie wieder fort und bediente den Scheinwerfer. Zur dritten Vorstellung hatten wir die Presse eingeladen. Obwohl wir einige unserer Bekannten überreden konnten, uns ein zweites Mal zu besuchen und mit dem Applaus so großzügig zu sein wie in der Premiere, war der Raum nur zur Hälfte besetzt. Karlheinz Wolf fühlte sich besser, hatte auf Vertragserfüllung bestanden und konferierte das Programm. Bleich, mit einem zerknüllten Taschentuch in der Hand, das er alle paar Minuten als Tropfenfänger gegen die Nase drückte, sagte er seine einstudierten Sätze auf. Die Stimmung war frostig, die am Morgen darauf erscheinenden Kritiken waren vernichtend. Kritik ist keine Caritas. Man war in Zürich vom Programm der »Pfeffermühle« viel zu verwöhnt, um sich für kabarettistische Harmlosigkeiten erwärmen zu können. Nach vierzehn Tagen waren kaum die ersten zehn Sitzreihen besetzt. In der darauffolgenden Woche erschienen nur noch vom Mitleid getriebene persönliche Verehrer von Dora Gerson. Hirschfeld schlug den »Ping-Pong«-Leuten vor, das Engagement abzubrechen. Er bot ihnen, auch ohne daß sie dafür auftreten müßten, die Gagen für den vollen Monat an (wie recht die Schweizer Behörden hatten, daß sie diese vorher deponieren 79
ließen) und schlug vor, daß man sich zum 1. April um ein anderes Engagement bemühe. »Das hätte ich dir gleich sagen können, daß sie das ablehnen«, sagte Robert. »Und wir würden an ihrer Stelle genauso handeln, Hirschi. Wo sollen sie denn hin, die Armen? Holland gibt ihnen keine Einreise mehr. Nach Deutschland können sie nicht - also gib ihnen den deponierten Gesamtbetrag für die zwei Monate und damit die Chance, vielleicht zum letztenmal in ihrem jungen Leben ein paar Wochen sorglos zu sein.« »Und ihr?« fragte Hirschfeld bekümmert. »Um uns sorge dich nicht. Ich spiele wieder Bridge und arbeite mit Wilki einen Chansonabend aus, den sie im Mai im Studio Fluntern gibt und der bestimmt ein paar hundert Franken bringt. Mit dem werden wir dann auch in anderen Städten gastieren.« Die größere finanzielle Chance hätte für mich wahrscheinlich darin gelegen, nach. Deutschland zu fahren und mich dort nach Engagements umzusehen. Aber für Björn begann im April das erste Schuljahr, und er saß bereits aufgeregt über Heften und Rechenbüchern. Den Gedanken daran, den Kindern schon wieder eine neue Umgebung zuzumuten, schlossen Mendelson und ich aus wie einen Feind. Von den »Ping-Pong«-Leuten hatten wir nichts mehr gehört. »Vielleicht haben sie doch nicht alles Geld abgehoben, und wir bekommen noch etwas zurück?« lachte Robert, als wenige Tage nach Ostern wiederum ein Brief der Kantonalen Fremdenpolizei im Kasten lag. Diesmal war er an mich adressiert. »Kein Wunder, daß sie nach unserem ersten Besuch in ihrem Aktenbehälter dich sympathischer in Erinnerung haben als mich. Ich fahr' dich und warte im Wagen auf dich, und du richtest am besten nicht mal Grüße von mir aus.« Robert lachte nicht mehr, als ich nach zehn Minuten zu ihm zurückkam. »Um Gottes willen, Wilki, was ist geschehen?« »Sie haben mich ausgewiesen.« »Sie haben was ?« Ich ließ meinen Kopf auf seiner Schulter. »... als lästige Ausländerin. Es liegen insgesamt acht Anzeigen von Firmen vor wegen unbezahlter Rechnungen.« 80
»Acht? Das geht ja noch.« Robert schien die Fassung bereits wiedergewonnen zu haben. Vielleicht banalisierte er die Situation auch nur, um dadurch meiner Verzweiflung eine kleine Rettungsleiter zuzuwerfen. »Was bedeuten acht Ungeduldige, Wilki, gegenüber fünfzehn oder zwanzig Eidgenossen, die dir weiterhin ihr Vertrauen schenken ?« Er warf einen erbosten Blick auf die kalte, graue Steinfassade des Amtsgebäudes und drückte empört aufs Gas. Wir fuhren den See entlang, Richtung Meilen und bogen dort links ab ins Zürcher Oberland. »Luft« stand auf einem Transparent, das über dem Eingang zu einem Gartenlokal hing. Die Aprilsonne schien hier oben so warm, daß die Wirtsleute Stühle und Tische ins Freie gestellt hatten. Robert bestellte einen Krug Schlör und Brot und Schüblig. Tief unter uns lag der Zürichsee, blau wie der Frühlingshimmel und umrahmt von den roten und grauen Dächern der Häuser und Türme. »Haben sie gesagt, für wie lange sie dich abschieben wollen ?« »Nein. Sie können ja auch nicht beurteilen, wie lange wir brauchen, bis wir unseren Gläubigern das Geld zurückgezahlt haben, und das ist wohl entscheidend. Vielleicht gelingt es uns bis zu meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag.« »Ich werde dich auch mit weißen Haaren lieben.« »Aber sollten dir deine bis dahin ausgefallen sein, kehre ich sofort wieder um.« »Ich werde ein Vermögen in Haarwasser investieren, um uns das zu ersparen. Ach, Wilki.« Er legte seinen Arm um meine Schultern. Ich schloß die Augen. Wie ist es möglich, überlegte ich angestrengt, daß du dich in den Armen eines Menschen beschützt und geborgen fühlst, dessen Leichtsinn dir den Boden, in diesem Fall den augenblicklich so bedeutsamen Schweizer Boden, unter den Füßen wegzieht? »Der größte Teil unserer Verpflichtungen läuft ja glücklicherweise auf meinen Namen«, hörte ich Roberts Stimme in mein Haar sprechen. »Es muß doch zu schaffen sein, daß wir die Be81
träge aufbringen, mit denen ich dir die Rückkehr ins teure Schweizer Ländli erkaufe.« Er zog Notizblock und Bleistift aus seiner Manteltasche, bestellte, um sich für sein Vorhaben zu stärken, zwei weitere Glas Schlör und zwei Paar Schüblig und begann zu rechnen. »Zwanzigtausend Sühnegeld für die rausgefallenen Scheine aus Fulda, sechstausend ›Ping-Pong‹-Kaution, ungefähr dreitausend für die bewundernswerte Verwandlung des Tonhalle Kellers in ein Theater - das war's eigentlich schon.« »Ich muß dich leider daran erinnern, daß wir einen unbezahlten Flügel, eine unbezahlte Wohnungseinrichtung und Schränke voller unbezahlter Garderobe besitzen.« Das Servierfräulein kam mit Gläsern und Tellern. Robert klappte den Notizblock zu und begann, die geräucherten Würste von der Schale zu befreien und sie mit Senf zu bestreichen. Er schob mir seinen Teller zu und beschäftigte sich intensiv mit dem zweiten Paar. Die Katze des Hauses kam mit anmutiger Lässigkeit den Sandweg entlang und schmiegte sich schnurrend an Roberts Bein. Er warf ihr ein paar Wurstreste zu. »Gall, du, das Leben ist schön«, sagte er, kraulte das glänzende, schwarze Fell und schien wahrhaftig zu erwarten, daß ich ihm diese Feststellung bestätigte. Mit einem Gesicht, als sei er zu einer Einäscherung geladen, stand abends nach Theaterschluß Hirschfeld vor unserer Wohnungstür. »Robert hat mir's am Telefon erzählt — also Kinder, das ist ja wirklich eine teuflische Situation.« Er ließ sich, als beträfe sie ihn persönlich, erschöpft in einen Sessel fallen. »Dagegen ist das, was meiner Freundin im Januar passierte, ja harmlos. Die hat man nicht als lästige Ausländerin abgeschoben. Sie bekam keine Arbeitsbewilligung. Das war der Grund, weswegen sie die Schweiz wieder verlassen mußte. Schade, sie war so eine nette Matratze.« Er schloß die Augen und legte eine Erinnerungsminute ein. »Die sind nämlich selten geworden für uns arme Emigranten.« Robert wartete einen Augenblick und versuchte dann, Hirschfelds Aufmerksamkeit wieder auf unser Problem zurückzu82
lenken. »Glaubst du, daß ein Jahresvertrag ans Schauspielhaus die Wilke vor der Ausweisung bewahren könnte ?« »Abgesehen davon, daß ich das nicht glaube, würde solch ein Vertrag auch nur unter Umständen im Direktionsbüro zustande kommen, die, wie ich dich und deine Freundin kenne, nicht von euch akzeptiert würden. Nein, es gibt nur eins: Du mußt das Geld aufbringen und eure Schulden, soweit sie den Namen von der Wilke belasten, bezahlen.« Robert ging im Zimmer auf und ab. »Das schaffe ich nicht in der Kürze der Zeit«, sagte er, und es war so viel Verzweiflung in seiner Stimme, daß jetzt ich es war, die glaubte, ihn in die Arme nehmen und trösten zu müssen. »Sie geben ihr ja nur drei Tage!« Nun sprang auch Hirschfeld auf und wanderte im Zimmer hin und her. »Das Problem ist ja nicht allein die Tatsache, daß ihr hier kein Geld habt, sondern drüben ebenfalls keines. Also muß die Wilke arbeiten. Wißt ihr, wie gefährlich das ist ? Sie ist durch und durch der Typ, den diese Burschen im braunen Fell lieben. Alles spricht dafür, daß sie Karriere machen wird. Als Nazi-Idol ist ihr aber begreiflicherweise die Rückkehr ans Zürcher Schauspielhaus versperrt. Hinzu kommt, daß die drüben über alles Buch führen - Vater, Großvater, Urgroßvater. Hier werden sich bei ihr keine dunklen Punkte ergeben, aber —.« Hirschfeld machte eine unheilschwangere Pause, blieb stehen, stützte sich auf den Flügel und sah aus wie Ginsberg als Franz Moor. »Aber was glaubst du«, wandte er sich mit finsterem Gesicht an mich, »was glaubst du, was sie mit dir machen, wenn sie herausbekommen, daß du seit zwei Jahren zwischen Emigranten und Kommunisten in Zürich Stücke gespielt hast, die man drüben als antifaschistisch bezeichnet? Ganz abgesehen von der Ungeheuerlichkeit, daß du mit einem Nichtarier zusammenlebst.« Robert schien über diese pathetischen Übertreibungen genauso verärgert wie ich. »Wie lange warst du nicht mehr in Deutschland, Hirschi ?« »Das weißt du doch — seit März 1933.« 83
»Na, siehst du. Aber wir waren noch vor einigen Monaten in München. Im Herbst 1934. Da gibt es ein Kabarett, in dem kein Mensch die Wilki nach dem Woher und Wohin fragen wird.« Obwohl er mit mir noch nicht darüber gesprochen hatte, war es für uns selbstverständlich, daß ich nicht nach Berlin oder Hamburg, sondern nach München fahren und um ein Engagement im »Simpl« bitten würde. »Du kannst dir natürlich nicht den Luxus einer möblierten Bude leisten, mit Vorauszahlung einer Monatsmiete«, sagte Robert. »Nimm dir ein Zimmer in dem ›Regina-Palast-Hotel‹, in dem wir damals wohnten. Ich war inzwischen noch zweimal da, und stets gegen Barzahlung - Ehrenwort. Einem so großen Hotel macht es nichts aus, wenn es, wie in deinem Fall, ein paar Wochen auf die Begleichung der Rechnung warten muß. Eine Zimmerwirtin hingegen würde nach zehn Tagen zu nörgeln anfangen. Der Empfangschef im ›Regina‹ heißt Sedlmair. Netter Junge. Briefmarkensammler. Ich gebe dir den neuen Satz der Pro Juventute für ihn mit. Dann trägt er dich auf Händen.« »Darf ich deinen kriminellen Optimismus noch mal kurz unterbrechen?« fragte Hirschfeld und nahm seinen Rundgang um den Flügel wieder auf. »Kann die Wilki nicht wenigstens unter einem Pseudonym drüben auftreten ? Unter einem Pseudonym, das im Ernstfall jeden Verdacht ausschließt, sie könnte mit der für die Nazis politisch sehr verdächtigen Wilke aus Zürich identisch sein. Oder kennt jemand in eurer Münchner Wunderklause ihren richtigen Namen ?« »Nein.« Robert hatte eine Flasche aus dem Keller und Gläser aus der Küche geholt und genoß schlürfend den ererbten Mosel aus seines Vaters Weinkeller. »Endlich ein Gedanke von dir, über den sich diskutieren läßt. Ich bin zwar überzeugt, daß Künstlerkarrieren im Dritten Reich genauso ihre drei, vier Jahre Vorarbeit brauchen wie überall auf der Welt. Erst dann beginnt eine Begabung die der anderen zu überstrahlen. Aber du hast recht. Safety first.« Er füllte die Gläser nach. »Dies ist der richtige Tropfen für eine Taufe. Fehlt nur der Name.« 84
Wir dachten angestrengt nach. »Wilke ist doch dein Ehename? Auf den darfst du schon mit Rücksicht auf deine Söhne keine braunen Spritzer kommen lassen. Übrigens, die armen Kinder nimmst du doch nicht etwa mit?« »Auf keinen Fall«, riefen Robert und ich gleichzeitig, obwohl wir über diesen schwierigen Punkt noch gar nicht gesprochen hatten. Wahrscheinlich hatte er genau wie ich die Hoffnung, daß sie bis zu meiner Rückkehr bei Kuhlmanns bleiben könnten. »Wie ist denn dein Mädchenname?« »Der geht nicht, den kann niemand behalten.« »Bunterberg heißt sie«, grinste Robert schadenfroh, »Elisabeth, Carlotta, Helena, Eulalia Bunterberg.« Hirschfeld versuchte vergebens, ernst zu bleiben. Aber als Robert meine Namen mit pathetischer Langsamkeit wiederholte, gab er die Rolle des Tragöden auf und lachte ebenfalls so laut und wiehernd, daß ich ärgerlich auf die Tür des Kinderzimmers zeigte. »Müßt ihr mit eurem lächerlichen Getue unbedingt meine Söhne aufwecken?« »Na, was den Vornamen anbelangt, ist die Auswahlkollektion ja groß genug.« Hirschfeld wieherte noch immer, hielt sich aber wenigstens die Hand vor den Mund. »Elisabeth Carlotta ist schon weg. Daraus hat sie Liselott gemacht. Liselott Wilke. Aber Eulalia ist noch frei —« Hirschfeld zeigte Mitleid. »Eulalia Bunterberg - na, das geht wirklich nicht, das ist kein Name, hinter dem man sich verstecken kann, sondern einer, der wegen seiner Schrulligkeit neugierig macht. Wie hat man dich denn als Kind angeredet, doch bestimmt nicht mit der ganzen Liste?« »Als kleines Mädchen nannte man sie Lala «, verriet Robert. Er war ein begeisterter Moselanhänger, und seine glänzenden Augen und seine gute Laune bestätigten die Qualität der Flaschen, die er aus dem Keller geholt hatte. »Weil sie so gern sang und immer so häärzig vor sich hinträllerte.« 85
»Gegen Lala hätte ich nichts«, sagte Hirschfeld gnädig, »aber dazu paßt Bunterberg phonetisch denkbar schlecht.« Er blickte mich grübelnd an, knabberte an seinem Daumennagel und schien auf eine Eingebung zu warten. »Solveig«, sagte er dann triumphierend, »kurz und schlicht: Solveig. Man hat von dieser Figur vielleicht eine etwas weichere, rundere Vorstellung, aber die Haare und das Wesen - eben eine heutige, eine moderne Solveig.« »Du erwartest hoffentlich nicht, daß ich mich zu diesem schwachsinnigen Vorschlag äußere, Hirschi. Das ist ja noch ärger als Eulalia.« »Also einstimmig abgelehnt«, half Robert mir. »Kinder, Kinder, ich hätte nicht geglaubt, daß eine Namensgebung so viel Kopfzerbrechen bereitet.« »Ich schlage vor, wir suchen morgen weiter.« Ich begann die Aschenbecher aus dem Zimmer zu tragen und öffnete die Fenster. Robert brachte die Gläser in die Küche. »Aber da gibt es doch einen Familienzweig bei euch, der Andersen heißt«, erinnerte er sich. Hirschfeld sprang begeistert auf. »Großartig!« rief er, »Andersen. Lale Andersen. Ein Name wie ein Maßanzug. Wie konntest du dich überhaupt jemals anders nennen, Menschenskind! Direkt schade, daß du diesen Schmucknamen nicht hier, sondern da draußen tragen wirst. Wollen wir jetzt mit der fröhlichen Taufe beginnen ?« »Zwei Flaschen von dem Mosel sind noch da.« Robert griff nach dem Weinkellerschlüssel. »Aber den müden, kleinen Täufling bringt bitte vorher ins Bett«, protestierte ich, »sonst fängt er in der nächsten Sekunde an, fürchterlich zu brüllen.« »Na gut«, Hirschfeld griff zu Hut und Mantel, »Fortsetzung morgen in diesem Theater.«
In Herrn Sedlmairs Stimme saß ein Wackelkontakt. Interessiert verfolgte ich die Bemühungen seiner Stimmbänder, Worte aus 86
dem Mund herauszukatapultieren. »Wir werden einen so berühmten Gast doch nicht im Dachgeschoß unterbringen! In der ersten und zweiten Etage haben wir wunderschöne Suiten, aber in der sechsten -.« Jetzt war auch seine Stimme im Dachgeschoß angekommen. Die Stromzufuhr riß ab. Ich nützte den Augenblick aus, um meinen Willen gegen seinen zu setzen. Der Arme konnte ja nicht wissen, daß die Person, die da in lässiger Eleganz und mit einem Koffer aus kostbarem Antilopenleder — Herkunft: Lugano — vor ihm stand, eher das Prädikat »berüchtigt« als »berühmt« verdiente. Und daß sie die Reise von Zürich bis zur Schweizer Grenze mit einem Freifahrschein der Kantonalen Fremdenpolizei zurückgelegt hatte. »Die Lale Andersen, die du nun für ein paar Monate sein wirst«, hatte mich Robert während der letzten beiden Tage unseres Zusammenseins beschworen, »bist nicht du, Wilki. Es ist eine Rolle, und wenn sie dir auch nicht von einem Theaterregisseur anvertraut ist, sondern vom Schicksal, mach das Beste daraus und spiel sie so gut du kannst. Jeder Mensch wehrt sich, wenn er das Gefühl hat, daß ihm Unrecht geschieht. Aber nirgendwo vergibt man so bereitwillig wie in der Schweiz. Wenn die Geschäftsleute, die gegen dich klagten und die Behörden, die diese Klagen vertreten, unsere Bemühungen erkennen, die Schulden abzutragen, lassen sie dich bestimmt bald zu deinen drei Mannsbildern zurückkehren.« »Sagtest du: unsere Bemühungen ?« »Natürlich. Jedes Fränkli, das ich erübrigen kann, bringe ich auf dein Konto.« Der Maler hatte auch versprochen, hier und da Geld für die Kinder zu schicken. Für welchen Herkules hielten mich die Männer eigentlich, daß sie sich einredeten, im Ernstfall würde ich auch ohne männliche Hilfestellung mit meinen Problemen fertig? Herr Sedlmair nahm mir den ausgefüllten rosa Meldezettel ab. »Schon als Kind träumte ich immer von einem romantischen Zimmerchen im Dach, dem Himmel ganz nah und in einer Preislage von höchstens acht Mark pro Übernachtung.« Herr Sedlmair konnte infolge seines Kurzschlusses nichts sagen. Wortlos überreichte er dem Hausdiener den Schlüssel 87
sechshundertdrei. »Sie sind mir doch nicht böse wegen meiner Dachzimmermarotte?« fragte ich, als ich ihm abends die Briefmarken überreichte. Ich wollte mir Theater- und Kabarettvorstellungen ansehen, aber ohne Geld war das schwierig. Vielleicht hatte Herr Sedlmair durch die Aushänge der Theaterspielpläne im Hotelfoyer Freikarten. Vielleicht war er finanziell sogar stark genug, mich einzuladen ? »Mit den Briefmarken haben Sie mir eine ganz große Freude bereitet«, strahlte er, »ein ganz besonders schöner Satz. Richten Sie, bitte, meinen herzlichsten Dank aus an Ihren —«, er suchte nach der richtigen Bezeichnung. »Kollegen. Herr Mendelson ist ein Kollege von mir.« Herr Sedlmair schien sich über diese Formulierung zu freuen. »Ich würde Sie gern zum Abendessen einladen«, sagte er, und seine Stimmbänder flatterten fröhlich, »aber ich habe leider bis acht Uhr Dienst.« »Das stört mich durchaus nicht. Ich gehe bis dahin ein Stündchen spazieren. Vielleicht können wir nach dem Essen noch ein Kabarett-Programm anschauen ?« Wir aßen im Grillraum des Hotels. Als Herr Sedlmair die Rechnung gegenzeichnete, schielte ich aus alter Gewohnheit auf den Block, aber mein Begleiter schrieb deutlich sichtbar seinen und nicht etwa meinen Namen. Wir saßen uns einen Augenblick lang schweigend gegenüber. »Sie sind ein sympathischer Junge«, sagte ich, denn ich fand es an der Zeit, ihm eine Freude zu machen, »Sie erinnern mich an einen guten Bekannten. Er hieß Werner und war ein Wellensittich.« »?« »Eigentlich war es der Vogel meiner Schwester, aber sie hinterließ ihn mir, als sie uns verließ, um zu heiraten. Ich hatte Werner sehr gern. Vielleicht verbindet uns früher oder später die gleiche Sympathie.« Herr Sedlmair griff nach meiner Hand. Sicher hatte er wieder einen Kurzen. Seine Lippen bewegten sich tonlos. »Es ist nicht nur Ihr Gesicht, auch Ihre Stimme erinnert mich an Werner. Sie 88
war auch so komisch und überschlug sich oft. Ich machte täglich Sprechübungen mit ihm. Darf ich Sie Werner nennen? Wäre es Ihnen recht, wenn ich auch mit Ihnen Sprechübungen machen würde? Ich könnte mir vorstellen, daß es in Ihrem Beruf doch angenehm sein muß, wenn man den Stimmbändern dank meiner Unterrichtsmethode einen energischen Klang geben kann.« Bei Herrn Sedlmair flackerten jetzt nicht nur die Stimme, sondern auch die Augen. Er preßte meine Hand fester. »Sie wissen ja gar nicht, Fräulein Andersen, was dieser Vorschlag für mich bedeutet.« Natürlich wußte ich es, und ich erhoffte mir davon, daß Herr Sedlmair es nicht zulassen würde, daß man mich während der nächsten Wochen wegen unbezahlter Rechnungen aus diesem angenehmen Hotel hinausfeuerte. Er hauchte einen schüchternen Kuß auf meine Hand und gab sie frei. »Hier volontiere ich nur noch bis zum Herbst. Dann soll ich die Leitung des elterlichen Hotels übernehmen. Wir haben ein wunderschönes Haus in Garmisch. Hundertzwanzig Betten. Ich bin der einzige Sohn. Wenn Sie es schaffen würden, mich bis dahin aus der Kalamität meiner Stimmschwierigkeiten zu befreien - natürlich nur gegen Honorar -.« »Muß das sein?« sagte ich und überlegte, wie hoch ich gehen konnte. »Und wenn Sie mich vielleicht doch nicht mit dem Namen von dem Vogel anreden würden. Ich heiße Thomas oder Tommy, wenn Sie wollen.« »Gut, Thomas. Wann haben Sie morgen frei?« »Den ganzen Tag. Von mir aus können wir gleich nach dem Frühstück mit dem Unterricht beginnen. Mittwoch ist mein dienstfreier Tag.« Wie unangenehm, dachte ich. Denn vor der ersten Stunde mußte ich mir ja ein paar Fachbücher über das Beheben von Sprachschwierigkeiten anschauen. Da ich aber kein Geld hatte, sie zu kaufen, würde ich eine ziemlich lange Zeit in den Buchhandlungen herumsitzen und mir Notizen machen müssen. »Also, sagen wir, um das Thema zu beenden, erste Stunde 89
morgen nachmittag um vier. Honorar zwanzig Mark, und jetzt würde ich gern noch eine Stunde in den ›Simpl‹ gehen.« »Energie haben Sie«, stotterte Herr Sedlmair, »ich glaube, damit könnte man ein Kraftwerk in Betrieb setzen.« Im Taxi, das uns in die Türkenstraße fuhr, machte Herr Sedlmair sympathischerweise nicht den kleinsten Versuch einer Annäherung. Seine Hände lagen zwischen den aneinandergepreßten Knien wie zwischen einem Schraubstock. Er war der Typ, der in Zürich die Rollen junger deutscher Offiziere gespielt haben würde. Blond, korrekt, pflichtbewußt. Führer befiehl, wir folgen dir! »Wie alt sind Sie, Thomas ?« »Ich werde im Herbst vierundzwanzig. Jungfrau.« »Und weshalb ist die Jungfrau noch kein Soldat ? Man hat mir erzählt, in Deutschland trügen alle jungen Männer Uniform.« »Wenn der Führer mich ruft, würde ich sie sofort anziehen. Obgleich ich der einzige Sohn bin, wäre mir das Vaterland in diesem Augenblick wichtiger als das Elternhaus. Aber vorerst sind Kasernen und Arbeitsdienstlager voll belegt mit Freiwilligen.« War er wirklich so naiv, das zu glauben? Oder hatte er recht und war ich mit meinem in Zürich anerzogenen Mißtrauen zu skeptisch? Das Taxi hielt vor dem »Simpl«. »Ich hätte Sie lieber in ein andres Lokal geführt«, bemerkte Sedlmair, während er zahlte. »Dies hier hat nicht den besten Ruf. Es sollen hier linksgerichtete Kreise verkehren.« »Na und?« Er schlenkerte den Kopf hin und her wie ein Dackel, der Wasser in die Ohren bekommen hat und nicht richtig zu hören glaubt. Nicht sentimental werden, nicht an Robert denken, ermahnte ich mich, als wir uns durch die engen Stuhlreihen schoben. Um die Trennung durchstehen zu können, hatten wir uns versprochen, den Schmerz des Getrenntseins weder mit Briefen noch mit Telefongesprächen zu vergrößern. Der Schriftverkehr sollte einzig und allein aus Zahlen bestehen, aus Zahlen, wer von uns wieviel auf das Konto eingezahlt hatte, von dem aus die Schulden abgetragen werden 90
mußten. Der »Simpl«-Wirt betrat das Podium. »Bevor das Ensemble den Einakter ›Deutsches Gold‹ oder, kurz und schlicht, ›Bernstein‹ spielt«, sagte Theo Prosei, »wird die Simpl-Spezialität serviert, original ungarische Gulasch-Suppe.« Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein und schlängelte sich durch die Tischreihen, um seine Gäste zu begrüßen. Für mich hatte er nur ein kurzes, förmliches Kopfnicken. Anscheinend hatte er mich nicht wiedererkannt. Obgleich ich in Herrn Sedlmairs Gegenwart schlecht über ein Engagement hätte sprechen können, war ich einen Augenblick lang enttäuscht. In Roberts und meinen Gesprächen war die Vorstellung von diesem Wiedersehen gleichbedeutend mit einer herzlichen Umarmung gewesen, einer kurzen Erklärung meinerseits und dem sofortigen Abschluß eines Vertrages, dessen Gagenhöhe zumindest die Hotelrechnung etwas überstieg. Weitere Einnahmen versprachen wir uns von einem Besuch im Rundfunk und der Verpflichtung, dort in Hörspielen mitzuwirken. »Gell, ich hab' recht gehabt«, sagte Herr Sedlmair, der mich beobachtet hatte, »Sie hatten sich etwas anderes vorgestellt unter dem ›Simpl‹. Möchten Sie gehen?« Wir ließen uns die Garderobe geben. Prosei stand am Ausgang und reichte meinem Begleiter und mir die Hand. Hatte ich das vorher nicht bemerkt oder hatte er es sich jetzt erst angesteckt - ich starrte auf die Nadel mit dem Hakenkreuz, die Prosei auf dem Revers seiner Jacke trug. »Haben Sie das gesehen?« fragte ich Herrn Sedlmair auf dem Weg zum Taxistand. »Das Parteiabzeichen? Ja, eine Unverschämtheit. Das trägt der alte Galgenvogel doch nur, um bei Razzien die linksgerichtete Brut zu schützen, der er in seinem Lokal Unterschlupf gibt. Wollen wir bei uns in der Hotelbar noch einen Drink nehmen ?« Das war bestimmt besser, als sich unter dem Eindruck der veränderten Situation schlaflos im Bett hin und her zu wälzen. Als ich die Bar gegen vier Uhr morgens verließ, hatte ich zwei Prinzen, einen Grafen und vier Barone kennengelernt. So was gab es in diesem Münchner Hotel in der gleichen Menge wie am Zürcher Schauspielhaus Emigranten. Hoffentlich hatte kein 91
Spion in der Bar gesessen. Die Respektlosigkeit, mit der die »G'wappelten« über Herrn Hitler gesprochen hatten, stand an Spott der am Schauspielhaus üblichen in keiner Weise nach. Beim Betreten meines Hotelzimmers empfing mich mit der Leere des Raumes auch das Bewußtsein für die Leere, mit der ich mich während der kommenden Monate abzufinden hatte. Da war keine Tür, die ich öffnen konnte, um meine Söhne zur Ruhe zu mahnen oder einen Kuß auf die Stirn der Schlafenden zu tupfen. Und da war kein Robert, dessen Aufmerksamkeit ich vor dem Einschlafen noch ein paar Minuten mit der ›Neuen Zürcher Zeitung‹ teilen mußte. »Wenn du das Gefühl hast, weinen zu müssen, dann sag dir schnell, daß Tränen keinen anderen Ursprung haben als den des Selbstmitleids«, hatte ich ihn einmal zu Björn sagen hören, »und Selbstmitleid ist Schwäche.« Natürlich hatte er recht. Ich kramte mein Taschentuch aus der Handtasche und wischte mir über das nasse Gesicht. Aber um zu trocknen, was da meinen Augen entquoll, hätte ich ein Badetuch gebraucht. Bestimmt würde in Kürze mein Zimmer unter Wasser stehen. Das können nicht nur Tränen des Selbstmitleids sein, sagte ich mir unter der Bettdecke, die ich über den Kopf gezogen hatte, um mit meinem Schniefen und Schluchzen meine Zimmernachbarn nicht zu wecken. Das ist auch die Traurigkeit um die Knaben, die nun wieder ihr Zuhause verloren haben und die sich heute nacht im Kuhlmannschen Gastzimmer genauso einsam fühlen werden wie ihre Mutter in München, und die Verzweiflung darüber, daß jemand, der so klug und begabt war wie Robert, mit der bitteren Erkenntnis fertig werden mußte, daß diese zwei Bevorzugungen des Schicksals bei der Konfrontation mit Rechtsparagraphen überhaupt nichts besagten. Mein armer Geliebter. Hoffentlich weinte er nicht auch in dieser Nacht. Die Tränen, die ich vergoß, reichten ja wirklich für die ganze Familie. Aber glücklich war er bestimmt nicht in der leeren Wohnung, und er würde es noch viel weniger sein, wenn er sie in den nächsten Monaten an irgendwelche Leute für ein halbes Jahr vermietete, arm, abhängig und belastet von der Ungewißheit, wie lange unser Getrenntsein dauern würde. Ich wachte mit brummendem Kopf und einem höchst profanen Hungergefühl auf. Dabei war es erst sieben Uhr. Nach 92
kurzem Zögern griff ich zum Telefon und verlangte den Etagen-Service. »Kann ich schon Frühstück haben?« In der Leitung erklang ein ungeniertes Lachen. »Mit Kaffee, bitte, auf sechshundertdrei.« »Ist das Ihr Ernst? Es ist sieben Uhr.« »Na und? Steht Ihre Köchin etwa erst um zehn Uhr auf?« »Sieben Uhr abends, Madame. A-b-e-n-d-s - Sind Sie noch da ?« Ich hatte aufgelegt. Das war doch unmöglich. Dann hatte ich ja den ganzen Tag verschlafen, den ganzen dienstfreien Tag von Herrn Sedlmair! Und die zwanzig Mark für das Stimmbändertraining waren auch verloren. Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Fenster und riß die schweren Damastvorhänge auseinander. Die Straßenlaternen brannten. Über den anthrazitgrauen Himmel zogen ein paar rosa Wolkenschiffe nach Süden. Mir blieb nichts anderes übrig als zu warten. Wenn es in der nächsten Viertelstunde nic ht heller, sondern dunkler wurde, hatte diese alberne Stimme am Telefon recht. Im gegenüberliegenden Bürohaus flammten über die ganze Fensterfront hinweg die Lampen auf. Wahrscheinlich waren die Putzfrauen gekommen, um zu fegen und zu bohnern. Ich zuckte zusammen, als das Telefon schrillte. »Guten Morgen«, sagte Herr Sedlmair, »ich beginne gerade meinen Nachtdienst und höre, daß Sie auf dem Zimmer frühstücken wollen. Darf ich Ihnen im Namen der Direktion ein paar Blumen mit hinaufschicken?« »Es tut mir so leid.« »Das war doch meine Schuld. Heute abend muß ich Sie eben viel früher ins Bett schicken.« Als ich eine Stunde später in die Halle kam, stand er in seinem korrekten Cutaway hinter dem Rezeptions-Tisch. »Schade, heute kann ich Sie leider nicht ausführen. Was werden Sie beginnen? Soll ich telefonisch versuchen, daß ich noch irgendeine Theaterkarte bekomme?« Ich blätterte in dem Stadtführer, in dem die Spielpläne der Theater, Kinos und Kabaretts aufgeführt waren. »Werden wir morgen an Ihren Stimmbändern arbeiten?« »Es war Ihnen wirklich ernst mit diesem Vorschlag? Ginge es von vier bis sechs? Morgen habe ich nachmittags frei.« 93
»Abgemacht.« Der Prinz von Sachsen und einer der Bar-Barone der vergangenen Nacht betraten die Halle und begrüßten uns mit der Lautstärke, mit der Männer glauben, Bekannte begrüßen zu müssen, mit denen sie eine Nacht hindurch getrunken haben. »Hallo, hallo. Kommen Sie auf einen Drink mit in die Bar?« »Nach dem Frühstück brauche ich immer eine Stunde Sauerstoff«, sagte ich, blic kte mich an der Drehtür noch einmal um und freute mich über die verdutzten Gesichter. Die Kammerspiele waren in der Maximilianstraße. Auch sie waren kein architektonischer Solist, mit breiter Auffahrt vor marmornen Treppen und Säulen, sondern wie das Zürcher Schauspielhaus bescheiden im Parterre eines Geschäftshauses untergebracht. Und genau wie in Zürich hingen hier im Eingangsflur der Wochenspielplan und Szenenfotos und Porträtaufnahmen von Inszenierungen und Schauspielern. Ich studierte alles aufmerksam. Von den Kollegen kannte ich niemanden persönlich, wußte aber von Ginsberg und Hirschfeld, daß Domin, Ambesser, Maria Nicklisch und Paris ausgezeichnete Schauspieler waren. Es müßte schön sein, wieder in der Geborgenheit eines guten Ensembles zu stehen. Viel schöner als auf einer Kabarett-Bühne ohne Regisseur und ohne Partner, ganz sich selbst und den Launen des Publikums überlassen. Im Theater ist dein Zuhörer anonym. Er sitzt in einem dunklen Kreis. Du spürst ihn, aber du siehst ihn nicht. Sowohl für seine als auch für deine, des Schauspielers, Konzentration besteht keinerlei Gefahr der Ablenkung. Im Kabarett hingegen ist der Zuschauerraum genauso wichtig wie die Bühne. Das Publikum hat das Recht, zu trinken, zu rauchen, sich ein Abendessen servieren zu lassen, Gespräche zu führen und zu flirten. Du mußt schon das Glück einer schwer erklärbaren, hypnotischen Begabung besitzen, wenn es vorübergehend auf all dies verzichten und dir zuhören soll. In einer Nebengasse der Maximilianstraße lag wenige Schritte vom berühmten Münchner Hofbräuhaus entfernt das Kabarett »Bonbonniere«. Auch hier Ausstellungskästen mit Künstlerporträts. Statt des Spielplanes allerdings eine Getränkekarte und eine Aufnahme vom Inneren des Raumes. Roter Plüsch, weißer Bühnenrahmen und goldene Engelchen. Bei diesem Anblick 94
überkam mich Sehnsucht nach den verräucherten Wänden des »Simpl«. Auf dem Weg dahin sah ich auf der rechten Seite der Ludwigstraße noch ein Kabarett-Etablissement, »Hofgartenspiele Annast«. Die klassizistische Hausfront und das warme Ocker, mit dem die Mauern getüncht waren, die runde Tordurchfahrt neben dem Haus, die anscheinend in einen Park führte, machten mich neugierig. Ich überquerte die Straße, blickte in das Schaufenster mit den Konterfeis der gastierenden Künstler — und stieß einen Freudenschrei aus: »Valeska und Partner«, las ich, »das internationale Tanzpaar. Im TrocaderoTeil Valeska mit einem original orientalischen Bauchtanz.« Ich lief durch das hübsche, einladende Tor in den Park, holte aus den Blumenrabatten ein paar langstielige leuchtende Tulpen, setzte gewissenhaft die Zwiebeln wieder in die lockere Erde zurück, nahm das hellblaue Band, mit dem ich mir im Nacken die Haare hochgebunden hatte, heraus, hielt die Blumen damit zusammen und klopfte einige Minuten später an Valeskas Garderobentür. Sie wurde einen kleinen Spalt geöffnet. Ich blickte in Franzens fragende Augen. »Eskimo!« brüllte er dann mit sich überschlagender Stimme. »Eskimo!« schrie auch Valeska, bevor sie mich umarmte. Dann war es still in der Garderobe. Ich lag mit geschlossenen Augen an Valeskas Brust, und hätte ich mich, was meinen Vorrat an Tränen anbelangt, nicht so restlos verausgabt, wären es drei Menschen gewesen, die vergebens versuchten, in diesem Augenblick nicht zu heulen. Valeska faßte sich als erste. »Mon dieu, mon dieu, was haben wir uns deinetwegen für Sorgen gemacht! Sämtliche Programme in den Artistenzeitungen haben wir studiert. Nichts, gar nichts. Wir glaubten dich schon entführt oder ertrunken.« Plötzlich bekam ich eine Ohrfeige. »Du hättest uns doch wenigstens eine kleine Karte in den Kursaal nach Baden schicken können. Du wußtest doch, daß wir damals dort Anschluß hatten. Reich mir mein Kostüm, Putschikam.« Ich rieb mir das Gesicht und lachte. »Ist sie noch immer die alte Dampflokomotive? Den feuerspeienden Bauch voll Zorn auf ihre Umwelt?« erkundigte ich mich leise bei Franz. »Was tuschelt ihr da?« Valeska nahm Franz das neue Kostüm 95
ab. »Ich hab' es dir ja immer gesagt, Eskimo, ein Künstler darf nicht stehenbleiben. Er muß ständig an sich arbeiten. Glaub mir, den Bauchtanz der Orientalinnen zu studieren, ist verdammt keine Kleinigkeit.« Sie stand da, die gewaltigen Brüste und den Schoß mit allen möglichen Plättchen und Schnüren bedeckt, und Franz versuchte, die Gummistreifen, an denen all das hing und klapperte, auf Valeskas Rücken und über ihrem Popo mit großen Haken und Ösen zu verschließen. »Wie lange ist es noch bis zu meinem Auftritt ?« fragte Valeska mit der vertrauten Strenge im Ton und blickte über die Schulter hinweg zu Franz herunter. »Noch genau vierzig Minuten«, stellte Franz fest und erhob sich. »Möchtest du etwas trinken, Eskimo?« Seit einer Stunde hatte ich keinen größeren Wunsch. Ohne abzusetzen trank ich das Glas Bier aus, das Franz mir eingeschenkt hatte. »Ich habe gestern ein bißchen gebummelt«, sagte ich entschuldigend und streckte Franz mein Glas entgegen. Er füllte es zum zweitenmal. »Toll siehst du aus, Valeska. Wäre ich ein reicher Ölscheich, würde ich dich zu meiner Lieblingsfrau ernennen.« »Na, wart erst mal, bis ich meine Perücke aufgesetzt hab'«, sagte Valeska geschmeichelt und deutete auf einen Pappkopf, auf dem eine schwarze Mähne befestigt war, die jedem AraberHengst Ehre gemacht hätte. »Und du, Eskimo? Du siehst verändert aus. So-so-« - sie suchte nach einem Wort — »so arriviert. Bist du in München im Engagement?« »In Verhandlungen.« »Nun sag bloß nicht, daß du wieder mal zum ersten Mai ohne Anschluß bist.« Franz und ich lachten. »Ich bin und verlasse mich wieder mal auf eure Hilfe.« Valeska schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich versteh' deinen Leichtsinn nicht. Jemand, der aussieht wie du, hat es doch wirklich nicht nötig, heutzutage in diesem Land auf der Straße zu liegen. Aber vielleicht hast du Glück. Der hiesige Direktor steht auf mich. Gestern abend hat er mir anvertraut, daß er ab 96
Ersten ohne Attraktion ist. Sein Star für Mai und Juni hat den arischen Nachweis nicht erbringen können. Vielleicht ist das eine Chance für dich. Was bringst du denn jetzt? Doch hoffentlich nicht mehr dies gräßliche verquere Zeugs aus Zürich. Gagenmäßig kann ich sicher täglich fünfzig Mark für dich herausholen. Den arischen Nachweis hast du ja?« »Bis jetzt hat ihn niemand von mir verlangt.« Valeska zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Bist du denn in letzter Zeit nur im Ausland aufgetreten?« Was blieb mir übrig, als ja zu sagen. Valeska drehte sich wieder dem Schminkspiegel zu und fuhr fort, mit der Pinzette ihr Zuviel an Augenbrauen auszuzupfen. »Ohne Ariernachweis ist überhaupt nichts zu machen. Du mußt noch heute nacht an das Standesamt, das für dich zuständig ist, schreiben und um Auszüge aus dem Geburts- und Taufregister bitten.« »Jawohl.« »Warte doch ab, Eskimo, und fall mir nicht dauernd ins Wort - aus denen hervorgeht, daß deine Eltern und Großeltern als Arier geboren wurden. Ist das klar?« »Leider nicht. Von Ariern steht bestimmt nichts in den Registern. Höchstens von Christen.« »Das ist doch ein und dasselbe«, fuhr Valeska mich an. »Und nun mach mich bitte nicht kurz vor meinem Auftritt nervös. Reich mir die Haare, Franz.« Sie setzte die Perücke auf. »War ich ungezogen?« fragte ich Franz, als Valeska die Garderobe verlassen hatte. »Das tut mir leid.« Franz seufzte. »Ach wo. Sie ist eben sehr gereizt seit einigen Wochen. Wir hatten viel Aufregungen. Unsre Aufenthaltsbewilligung ist von Mal zu Mal befristet. Du weißt ja, Valeskas Vorfahren sind aus dem Ural und aus Ungarn. Nun bekomme von dort mal die erforderlichen Papiere. Ganze zwei von den verlangten acht konnten wir bis jetzt beibringen. Du kennst ja Valeskas bürgerliche Seele. Nichts ist ihr wichtiger als eine klar überschaubare Zukunft. Und damit scheint es leider aus zu sein.« »Warum besorgst du keine Engagements im Ausland, Franz?« »Wir waren ja ein ganzes Jahr im Orient. Istanbul, Beirut, 97
Kairo. Haben auch sehr gut gemacht und verdient. Aber nirgendwo wird eine Artistin so korrekt behandelt wie in Deutschland. Und nirgendwo sonst bekommst du deine Gage nebst Quittungsblock in die Garderobe gebracht, anstatt ihr tagelang nachlaufen zu müssen.« Franz hatte während unseres Gesprächs damit begonnen, die Garderobe aufzuräumen. Er legte eine Häkeldecke über Valeskas Schminktisch und stellte Abschminktopf und Tücher bereit. »Mach bitte deine Zigarette aus, bevor sie zurückkommt. Du weißt ja.« Ich nahm noch einen tiefen Zug und drückte die Zigarette aus. »War sie damals eigentlich noch lange in Lugano ?« »Um Gottes willen, erwähne diesen Ort nicht. Dieser Widmer muß sich katastrophal benommen haben. Nachdem du fort warst, hat er seine Wut an der armen Valeska ausgelassen. Dabei traf sie doch keinerlei Schuld. Die Arme mußte im Lauf einer Stunde ihre Sachen packen und das Haus verlassen.« Ich konnte mir den erbosten Nußknacker gut vorstellen. »Macht nichts. Nach einem solchen Erlebnis weiß eine Frau den eignen anständigen Mann desto mehr zu schätzen.« »Glaubst du?« zweifelte Franz. »Ich hab' oft das Gefühl, daß ihr nach eurer Zeit in Lugano unser Artistenleben keine rechte Freude mehr macht.« Die Tür wurde aufgerissen, und Valeska betrat klirrend und keuchend die Garderobe. »Geh vor, Eskimo, ich hab' mit der Direktion deinetwegen gesprochen. Man erwartet dich am Künstlertisch. Franz und ich kommen in einer halben Stunde nach.« Ich fuhr mit dem Lippenstift über den Mund, spuckte auf die Wimperntusche, bog mit dem Pinsel die Wimpern nach oben und fuhr mit Valeskas Kamm ein paarmal durch die Haare. Ich wurde engagiert, und ich wurde prolongiert, und ich bekam einen Re-Vertrag. Zwischendurch trat ich im »Simpl« auf, wurde von Otto Falc kenberg an die Münchner Kammerspiele engagiert, leistete mir den finanziellen Luxus, dort als Partnerin von Heinz Rühmann und Axel von Ambesser die Angele in der 98
Komödie ›Ihr erster Mann‹ zu spielen, flüchtete zurück zu den lockenden Kabarett-Gagen, ließ mich von Fred Endrikat, dem kauzigen Ringelnatz-Epigonen an sein Kabarett in Köln engagieren und von Erich von Schipinsky, dem letzten sorglosen Bohemien dieser Jahre, nach Breslau. In jeder Stadt, in der ich engagiert war, stellte ich mich am Tag nach meiner Ankunft in den Besetzungsbüros der Rundfunkanstalten vor, breitete meine letzten Kritiken und meinen Ahnenpaß aus und konnte meistens mit einem Vertrag und einem Rollenbuch im Arm das Haus verlassen. Längst hatte ich mich daran gewöhnt, daß die Menschen statt »Grüezi« »Heil Hitler« sagten, wenn sie sich begegneten, und daß viele Männer Uniformen trugen, in denen sie aussahen wie eine Tube Senf. Manchmal überlegte ich, wie ein Mensch, dessen Gedanken der Zeit ständig vorauseilten, überhaupt Erfolge aus der Gegenwart nehmen konnte. Was immer ich tat, sprach oder sang, ich tat es mit dem Gedanken an das Geld, das es mir brachte. Bis zum Dezember würde ich zwei Drittel meiner Schulden los sein. Ich besaß dann neun Kleider und Pelze, an deren Rocksaum nicht die kleine Bleikette des Unbezahltseins hing, und einen SteinwayFlügel. Dies Instrument hatte sich zu meiner großen Freude sogar als Einnahmequelle entpuppt. Der Mieter unsrer Wohnung an der Promenadenallee, ein am Zürcher Stadttheater engagierter Opernsänger, zahlte monatlich dreißig Franken für seine Benutzung. Wenn die Beamten der Kantonalen Fremdenpolizei wirklich so einsichtig waren, wie Robert behauptet hatte, mußten sie zu Weihnachten eigentlich den Schlagbaum öffnen und mich zu meiner Familie zurückkehren lassen. Auf dem Schweizerischen Konsulat in München, wo ich den Antrag zur Einreise stellte, war man sehr freundlich und vermied es, mir die Gründe dafür zu nennen, daß mein Aufenthalt in Zürich sich auf zehn Tage beschränken müsse. »Vorerst«, sagte der Vizekonsul, als er mein enttäuschtes Gesicht sah. Sie standen auf dem Perron. Ich sah sie, lange bevor sie mich entdeckten. Ohne Mützen laufen sie in dieser Kälte herum, dachte ich besorgt. Es wurde wirklich Zeit, daß ich zu ihnen 99
zurückkehren und nach dem Rechten sehen konnte. Ich setzte den Koffer mit den Weihnachtsgeschenken und die Reisetasche, die meine Sachen enthielt, ab und schob mich durch die Menschen, die am Vorweihnachtstag in die Züge drängten. »Da kommt sie«, brüllte Mic hael und stürzte mir mit ausgebreiteten Armen entgegen. Die Augen in seinem rotgefrorenen Gesicht glänzten wie blaue Weihnachtskugeln. »Na endlich«, sagte Björn, und ich wußte nicht, ob sich diese Bemerkung auf die vergangenen Monate oder auf die verspätete Ankunft des Zuges bezog. Berechtigt war sie auf alle Fälle. Ich nahm sein Gesicht zwischen die Hände und küßte es. »Lauft ihr zu meinem Gepäck, ihr zwei, damit die Sachen, die mir das Christkind für euch mitgegeben hat, nicht im Fundbüro landen? Ihr kennt ja meinen gelben Koffer? Er steht neben einer gelben Tasche drei Waggons zurück bei einer grünen Wartebank.« Die Kinder stürmten davon. Robert hatte die Knöpfe seines Mantels geöffnet. Ich kroch an seine Brust. »Ach, Wilki«, hörte ich ihn seufzen, und die Resignation und die Hoffnung in seiner Stimme sagten mehr, als es hundert Briefe hätten tun können, wie hart auch für ihn die vergangenen Monate gewesen waren. »Seid ihr zu Salzsäure erstarrt?« Björn klappte die beiden Mantelhälften auseinander und zerrte mich von Robert fort. »Nicht mal zu Salzsäulen, mein Schatz. Das ist übrigens ein Ausdruck aus dem Alten Testament, und heut abend werde ich dir die Geschichte erzählen, in der sie vorkommen.« Wir nahmen das Gepäck und trugen es zu Roberts Wagen. »Obgleich es am Heiligen Abend und über Weihnachten überall schön ist, bin ich doch neugierig, wohin ihr mich bringt«, sagte ich und stellte überrascht fest, daß wir nicht, wie ich befürchtet hatte, auf dem Weg zu Kuhlmanns, sondern auf dem zur Promenadenalle e waren. Robert tauschte mit den Knaben vielsagende Blicke aus, und Björn legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Das war wahrhaftig die schönste aller Weihnachtsüberraschungen«, flüsterte Robert, nachdem die Kinder abends schla fen gegangen waren, »als unser Opernsänger mir vor drei Tagen sagte, daß er in all seinen Verträgen die Klausel eines Weihnachtsurlaubs habe und Weihnachten stets bei seiner Mutter 100
in Wien verlebe. Er machte nicht die geringsten Schwierigkeiten, als ich ihn fragte, ob wir während dieser Tage die Räume bewohnen könnten. Er bleibt zehn Tage fort, und bis dahin wird sich schon eine Lösung finden, wo wir anschließend bleiben können.« »Natürlich«, sagte ich und fühlte, wie sich mit Roberts Nähe auch sein Optimismus auf mich übertrug. Seine Worte summten an meinem Ohr vorbei wie Bienen durch einen Sommergarten. »Und weißt du, wen ich in Winterthur traf? Dora Gerson. In letzter Minute haben sie damals ein Engagement nach Basel bekommen. Ihr Erfolg war da viel größer als der bei uns in Zürich. Anschließend ging das ›Ping-Pong‹ nach Bern und Luzern, und im Sommer machten sie eine Tournee durch Schweizer Kurorte. So hat sich unser Opfer doch gelohnt, Wilki. Vier Menschen, die sich schon ausgesperrt fühlten von allem Humanen, glauben wieder an das Leben.« Es gelang Robert nicht, seine heroische Genugtuung auf mich zu übertragen. Die Bälle dieses »Ping-Pong«-Spiels waren Tiefschläge gegen mein Sparbuch gewesen. Alle meine Hoffnungen und Pläne waren von ihnen zerschmettert worden. »Und weißt du, wen ich in München traf? Die Winkelmanns. Das Gesicht vom Franz sieht inzwischen aus wie eine abgestellte Ziehharmonika. Die ausländischen Artisten müssen jetzt nämlich, genau wie die deutschen, eine Bescheinigung darüber vorlegen, daß sie einer einwandfreien Sippe entsprungen sind. Sonst bekommen sie keine Auftrittserlaubnis. Valeska weiß es noch gar nicht, aber mir hat Franz gestanden, daß der Geburtsname seiner Mutter Rachel Löwenstein war.« Robert schien das Los der Winkelmanns genausowenig zu interessieren wie mich das des »Ping-Pong«-Ensembles. »Wenn ich mich recht erinnere, füllt Frau Winkelmann mit ihrer Figur und ihrer Reißzwecken-Stimme die Bühne auch ohne Partner aus«, sagte er. »Wirft sie den Leuten immer noch ihre Requisiten an die Köpfe?« »Aber nein, sie hat mir erklärt, sie sei eine Künstlerin, die ständig an sich arbeite. Sie tritt jetzt orientalisch auf. Als Haremsdame. Dabei drehen sich ihre Hüften und ihr Leib wie ein Elektrobohrer. Ich hab' mir den Trick zeigen lassen. Interessiert er dich ?« 101
»Du verläßt mich während der nächsten sechs Stunden nicht um einen Zentimeter!« »Valeska hat dein Desinteresse nicht verdient. Mir gegenüber war sie immer wie eine Mutter. Mit Ohrfeigen und Tadel und Füttern und Küssen.« »Wollte sie dich etwa auch wieder mit einem Kapitalisten verheiraten ?« »Du tust ihr unrecht, Robert. Es ist doch meine Schuld, daß sie bis heute nicht weiß, daß ich schon einmal verheiratet war.« »Und warum hast du's ihr nicht gesagt?« »Weil ihre Moralbegriffe so streng sind, daß sie ihre Hilfsbereitschaft zwar einer jungen Kollegin, aber nie einer Mutter schenken würde, die Mann und Kinder verlassen hat.« Robert schwieg eine Weile. »Und die Leute von der Partei? Wie -wirst du mit denen fertig?« »Ich halte mich an Bert Brecht: man sieht nur, die im Licht sind . . . Zu denen werde ich nie gehören. Und das ist in unserem Fall auch gut für mich. Künstler, die - wie ich - im Dunkeln bleiben, beachten sie nicht.« Roberts Finger strichen mir die Haare aus der Stirn und von den Schläfen. »Ist es nicht manchmal etwas viel, Wilki, was das Schicksal diesen mageren Schultern aufgepackt hat?« Das Wort Selbstmitleid hatte ich zum Fremdwort erklärt. Seit der ersten Nacht im Münchner Hotelzimmer hatte ich nicht mehr geweint. Verlegen erinnerte ich mich an die damalige Tränenflut. Das durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Schon gar nicht unter Roberts Augen. »Da ich mit niemandem über dich und die Kinder spreche, seid ihr in Deutschland auch gar nicht vorhanden. Für alle, mit denen ich zu tun habe, bin ich eine junge Künstlerin ohne Familienanhang. Meine Schultern sind also viel freier als hier, wo die Sorgen und Ängste um euch mit mir im gleichen Zimmer wohnen.« »Und deine Karriere ? Glaubst du nicht, daß deine Begabung ihnen eines Tages auffällt und dich, um mit Bert Brecht zu sprechen, ins Licht führt?« »Nein. Ich habe festgestellt, daß ich gar nicht begabt bin. Jedenfalls nicht so, wie ich es noch vor einem Jahr wünschte 102
und erhoffte.« Robert richtete sich auf. Ich blickte lächelnd in sein überraschtes Gesicht. »Also gut, Wilki«, verzichtete er auf eine Stellungnahme. »Genug geredet. Für den Rest der Nacht wird es ziemlich gleichgültig sein, wie begabt du als Künstlerin bist.« Mit der Ausrede, noch einiges für den Heiligen Abend besorgen zu müssen, hatte ich mich nach dem Frühstück so schnell von Robert und den Kindern verabschiedet, daß ihnen keine Zeit blieb, Fragen zu stellen. »Ihr könnt ja inzwischen einen Tannenbaum besorgen und schmücken«, rief ich, warf die Wohnungstür zu und lief über die Straße zu den Telefonkabinen neben der Trambahn-Haltestelle am Pfauen. Meine Befürchtung wurde bestätigt: In der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr blieben, genau wie in anderen Ländern, auch die Türen zu den Schweizer Behörden geschlossen. »Die Chance, einen Antrag abzugeben«, sagte die Telefonistin am anderen Ende der Leitung, »oder in einer dringenden Angelegenheit vorgelassen zu werden, besteht nur noch bis heute mittag zwölf Uhr.« »Ich möchte in Zürich bleiben, Herr Büchi«, beschwor ich den Beamten, den ich schon von meinen früheren Bittgängen her kannte. Die Schneeflocken, die Mütze und Kragen bedeckten, schmolzen in der Wärme des Amtszimmers und flössen über mein Gesicht und in meinen Halsausschnitt. Ich versuchte mit dem Handrücken Wimpern, Nase und Ohren von der Nässe zu befreien. Der Beamte stand auf, nahm aus einem Wandschrank ein sauberes Handtuch und betupfte mein Gesicht. Diese Geste machte mich unsicher. Während der letzten Jahre war ich zu der Überzeugung gekommen, daß jeder Beamte ein Feind jedes Zivilisten ist, und hatte eine gewisse Routine darin erworben, diesen Feind zu überlisten oder, wenn mir dies nicht gelang, ihn von meinem Zorn, meiner Verachtung und meinen Rachegelüsten in Kenntnis zu setzen. »Es überkommt Sie wohl bereits das Sentiment des Heiligen Abends, Herr Büchi? Ich brauche nicht Ihr Handtuch - ich 103
brauche ein Stück Papier, auf dem steht, daß ich in Zürich bleiben darf!« Der Beamte hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Er betrachtete abwechselnd mich und den Bleistift, mit dem er kleine Tannenbäume auf seine Schreibunterlage malte. »Ich glaub', Ihr Problem ist weniger der Hitler als das Geld«, sagte er schließlich. Sein Gesicht war großflächig und gebräunt wie das eines Bergbauern. Wahrscheinlich war er auf einer Alm in Graubünden groß geworden oder zwischen Rebenhängen im Tessin. Ich hockte auf meinem Schemel und starrte in seine klaren, blondbewimperten Augen. Warum war es mir nicht möglich, einen braven, unproblematischen Mann wie diesen zu lieben? Warum ließ ich mir von Männern wie dem Maler und Mendelson mein Herz und meine Gefühle zerfetzen und war bereit, den Genuß dieser Qualen mit aller Kraft, die mein einfältiger Verstand und mein törichter Körper aufzubringen vermochten, zu erkämpfen ? »Hab' ich recht?« fragte er, erhob sich, kam um den großen, klobigen Schiefertisch zu mir und reichte mir die Hand. Ich zog mich an ihr empor und ging auf die Ausgangstür zu. »Weder noch, Herr Büchi«, sagte ich beim Hinausgehen, »mein Problem heißt Liebe, falls Sie wissen, was das ist - ganz simpel: Liebe.«
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Armes Haus, in dem es nichts zu stehlen gibt. Aus dem Jemen
Wo bleibe ich, wenn sie mich wegen meiner unbezahlten Rechnungen nicht mehr aufnehmen, dachte ich und betrat unsicher die Halle des Münchner Hotels. Herr Sedlmair hatte Dienst, kam mir entgegen, nahm mir den Koffer ab, ließ sich den Zimmerschlüssel von 603 geben und begleitete mich im Lift nach oben. »Wie schön, daß Sie wieder bei uns sind.« Er drehte die Heizung auf, zog die schweren Vorhänge zu und sah mich prüfend an. »Sie sehen glücklich aus«, log er. »Sicher haben Sie Weihnachten und Neujahr gut verlebt?« »Ich weiß es nicht mehr.« »Werden Sie wieder im ›Simpl‹ singen?« »Es wird mir nichts anderes übrigbleiben.« »Ich hatte immer das Gefühl, als träten Sie gern dort auf.« Wenn ihn etwas überraschte, näherten sich Herrn Sedlmairs Augenbrauen dem Haaransatz. »Der Wirt, die Kellnerinnen, es haben Sie doch alle gern, vom Publikum gar nicht zu reden.« »Sympathien sind kein Zahlungsmittel.« »Wegen Ihrer Hotelrechnung müssen Sie sich nicht sorgen. Sie wurde inzwischen beglichen.« Es schien mir überflüssig zu fragen, von wem. Am darauffolgenden Abend begleitete er mich, und als ich das Podium betrat und die Wärme des sanften Lichtkegels auf meinem Gesicht spürte und den Applaus hörte, durchströmte mich wieder das Gefühl, das ich in Zürich vergeblich suchte, das Gefühl des Geborgenseins. Am Tisch des Simpl-Wirts saß ein rothaariger junger Mann, der mir nach meinem Auftritt linkisch die feuchte Hand reichte und mich mit dem flatternden Blick sehr kurzsichtiger Menschen anlächelte. »Rudolf Zink«, sagte Theo Prosei, »Hindemith-Schüler, sehr begabter Komponist. Hat etwas für dich geschrieben.« Ich schielte von der Gulasch-Suppe, die die »schwarze Anni« als Sofort-Gage nach jedem Auftritt servierte, zu den Notenblät105
tern, die der junge Künstler auf den Tisch legte. »Ich weiß nicht, ob Sie den Gedichtband ›Kleine Hafenorgel‹ von Hans Leip kennen. Ein paar dieser Gedichte hab' ich für Sie vertont. Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie sie singen würden ...« Nachdem der größte Teil der Gäste gegangen war, setzte sich der Rothaarige ans Klavier. Wir vergaßen Zeit und Umgebung. Zinks Musik war genauso unkonventionell wie die von Mendelson. Aber sie war durchsichtiger. Bei den Worten »Wenn sich die späten Nebel drehn« war auch seine Vertonung wie ein Nebelschleier, und wenn es hieß »Deine Schritte kennt sie, Deinen zieren Gang«, hörte man leichte, anmutige Füße über die Straße schweben. Ich lernte die Lieder ›Drei rote Rosen‹, ›Der Feldmohn‹ und ›Lili Marleen‹ noch in der gleichen Nacht und konnte es kaum erwarten, sie am darauffolgenden Abend bei meinem Auftritt zu singen. Applaudierten die Studenten, die dicht gedrängt in dem verrauchten Lokal saßen, wirklich stärker als bei meinen anderen Liedern? Oder bildete ich es mir nur ein? Im Grunde war es mir gleichgültig. Auch wenn sich nur wenige Hände zum Applaus gerührt hätten, wäre ich nicht unglücklich gewesen. »Erst dann, wenn ein Künstler sich den Luxus leistet, eine Rolle, ein Lied oder eine Inszenierung zu seinem eigenen Entzücken zu interpretieren, hat er die Gnade der Unabhängigkeit erreicht.« Diese Worte, die Ernst Ginsberg mir einmal gesagt hatte, fielen mir ein. Kein Weihnachtsgeschenk hätte mich so beglücken können wie diese Lyrik von Hans Leip und die Sensibilität, mit der dieser junge Schwabinger sie vertont hatte. Während der nächsten Wochen lebte ich von der Vorfreude auf die Nachmittage, an denen ich mich mit ihm am Kla vier des »Simpls« traf und er mir weitere Kompositionen einstudierte und auf den abendlichen Auftritt. Auf dem Weg vom Hotel zum »Simpl« und, einige Stunden später, vom »Simpl« zum Hotel zurück, kam ich an einer Kaserne, der »Türken-Kaserne«, vorbei. »Waren hier mal Türken einquartiert?« fragte ich, seit der Begegnung mit Medelson ständig darum bemüht, meine Bildung und mein Wissen zu veredeln, einen der jungen Soldaten, die in diesen nebligen Nächten zähneklappernd ihre Wache schoben. 106
»Fallen bei diesem Sauregen Säue vom Himmel ?« »Grantler.« »Preissin.« Wir lachten, und ich sang ihnen mein neues Lied vor: ›Vor der Kaserne.‹ »Der Text ist gut«, befand der uniformierte Ulli. Vor wenigen Wochen noch war er freier und sorgloser Stammgast im »Simpl« gewesen. »Schade, daß die Musik so kompliziert ist.« »Kompliziert? Da paßt doch jeder Ton zu jedem Wort.« »Vielleicht. Aber sie sollte einfacher sein. So daß man danach marschieren kann.« »Für diese Gelegenheiten habt ihr doch die ›Erika‹ und den ›Westerwald‹.« Ulli zog eine Grimasse. »Glaubst du, Arbeits- und Militärdienst verpflichten zu geistiger Verblödung?« »Verpflichtet mich die Tatsache, daß du unmusikalisch bist, vielleicht dazu, daß ich mein Lieblingslied dir zuliebe umkomponieren lasse?« Ich wandte mich ab. Auf der Uhr an der gegenüberliegenden Straßenecke war es bereits zehn Uhr dreißig. Im Laufschritt erreichte ich den »Simpl«, warf der »schwarzen Anni« meinen Mantel zu, sprang auf das niedrige Podium und sang meine Leip-Lieder mit einer Hingabe, als müsse ich sie rehabilitieren. Theo Proseis Gesicht strahlte Wohlwollen aus. »Da wartet seit einer Stunde ein Agent auf dich. Nach diesem Auftritt bist du zehn Mark mehr wert als gestern. Verkauf dich nicht zu billig und unterhalte dich mit mir, bevor du etwas unterschreibst. Falls es denn unvermeidlich ist, wäre auch ich eventuell bereit, deine Gage etwas aufzubessern.« »Von einem Teller Gulasch-Suppe auf zwei?« Der Agent, der auf mich wartete, war Herr Grünfeld, der auch für Valeska und Franz arbeitete. Ich hatte ihn kennengelernt, als er sie in Zürich besucht hatte. »Wo sind die zwei jetzt?« fragte ich erfreut. »Wie geht es ihnen? Wie heißt die neueste Tanz-Creation unserer PrimaBallerina ?« »Sprechen wir von Ihnen.« Ich wurde stutzig. »Ist etwas nicht in Ordnung ?« 107
Grünfeld merkte, daß mir das durchaus nicht gleichgültig war. »Franz ist ohne Arbeitsbewilligung aufgetreten und hat bei der Vorladung unwahre Angaben gemacht.« »Ja und?« stotterte ich und fühlte, wie mir die Angst in den Hals kroch. »Man hat ihn nach Dachau gebracht.« Ich begriff nicht. »Wohin? Was soll er denn da?« »Ins KZ.« KZ war ein undurchsichtiges, drohend klingendes Wort. »Haben Sie ihn besucht? Ist Valeska bei ihm?« »Liebes Kind, Sie stellen reichlich naive Fragen. Ein KZ ist eine Art Gefängnis, ein Gefängnis für politisch Verdächtige. Valeska geht es gut. Ich habe ihr einen Vertrag als Solotänzerin für Wien, ›Barbarina‹, gemacht.« Valeska ohne Franz - das muß viel ärger sein als für mich die Trennung von Robert. Mir gelang es oft tage- und nächtelang, über dem beruflichen Erfolg die Sehnsucht nach seinen Armen zu vergessen. Für Valeska, die genau fühlte, daß sie das gesetzte künstlerische Ziel nicht erreicht hatte und auch nie mehr erreichen würde, war die Bewunderung ihres Partners das einzige, das sie vor völliger Resignation bewahrte. Ich nahm mir vor, ihr noch in der gleichen Nacht zu schreiben. Doch dann hatte ich einen besseren Einfall: »Könnten Sie mich nicht für den gleichen Laden verpflichten oder mir sonst ein Engagement in Wien verschaffen?« Ich fühlte schon meine Arme um Valeskas Schultern und meinen Kopf an ihrem warmen, brachliegenden Ammenbusen. »Die ›Barbarina‹ ist ein Bums wie die meisten Wiener Nachtlokale. Und die sehr guten, kleinen Brettl-Bühnen spielen nur mit ihrem festen Ensemble. Ich hab' etwas Besseres für dich: Heidelberg.« Er beugte sich zu mir herüber, drückte seine Zigarette aus und griff mit seinen nikotingelben Fingern nach meiner Hand. »Kein voreiliges Nein, bitte. Willst du etwa mit deiner Begabung lebenslänglich für eine Gulasch-Suppe und ein Hotelzimmer in Literarischen Kabaretts herumtingeln? Heidelberg wird dir gefallen. Im Zusammenhang mit der Berliner Olympiade wird es von Ausländern überlaufen sein. Du singst da vor einem internationalen Publikum. Vielleicht wird es für dich zum 108
Sprungbrett in die USA.« Ich fühlte mich von Grünfelds Beschwörungen eingesponnen wie eine Fliege von den Fäden einer Spinne. »Ja, wenn Sie Valeska auch zu einem Vertrag nach Heidelberg verhelfen könnten - ich war' dann nicht so allein in einer fremden Stadt.« »Das läßt sich vielleicht einrichten.« Würde er es wirklich versuchen, oder log er? Meine Unsicherheit machte einen letzten Versuch, ihm zu entkommen. »Was kostet denn von Heidelberg aus ein Zehn-MinutenGespräch nach Zürich? Von München aus krieg' ich's für fünf Mark.« »Du bist doch wohl nicht immer noch mit diesem — diesem.« Die eben noch Güte vortäuschenden Augen des Agenten wurden eng und böse wie die eines gereizten Elefanten. »Außer diesem leben meine beiden Söhne in der Schweiz.« Grünfeld schob mir wortlos die Verträge und seinen Bleistift zu. Gastspiel 1. Mai bis 30. Juni 1936, »Park-Casino Heidelberg«, Tagesgage fünfzig Mark und freie Anreise. Ärgerlich über meine Inkonsequenz schmierte ich unlustig meinen Namen auf die Verträge. »Obstbäume auf den grünen Wiesen links und rechts vom Neckar, mittelalterliche Brücken, auf denen steinerne Brückenfiguren in das sanfte Blau des Himmels lächeln, am Flußufer Hand in Hand Verliebte, sie mit blonden Zöpfen, er mit Samtmütze. Zur Vollkommenheit des Tableaus fehlen nur noch du und ich.« »Solche Dekorationen gibt es noch?« fragte Robert ungläubig, als ich am Abend nach der Premiere anrief. »Und mitten drin meine Wilki, die vor teutonischen Studenten die ›Alte Burschenherrlichkeit‹ und das ›Ännchen von Tharau‹ singt?« Er stöhnte, ich lachte. »Die Studenten sind in den Semesterferien. Im überfüllten Lokal sitzen amerikanische, französische und englische Touristen. Auf Wunsch der Direktion werde ic h schnellstens auch englisches und französisches Repertoire lernen müssen. Hallo, hörst du noch?« 109
»Ich hör' dich nicht nur - ich spüre dich. Als Heidelberger Student würde ich wahrscheinlich sagen: Deine Stimme ist für mich die schönste Musik der Welt.« »Nach Mozart, Mahler und Schönberg.« »Ist das nicht ein schmeichelhafter, vierter Platz? Dennoch kann ich nicht kommen, Wilki.« »Ich zahl' dir das Benzin oder die Rückfahrkarte.« »- weil ich zu Scherchen nach Budapest muß.« »Wer ist Scherchen?« Robert seufzte. »- und einer derart ungebildeten Person bin ich mit Haut und Haaren verfallen. Hermann Scherchen ist einer der größten Förderer und Dirigenten moderner Musik.« »Hast du denn für ihn was zum Dirigieren ?« »Noch nicht. Aber etwas zum Fördern.« Dem konnte ich nicht widersprechen. »Ich werde einen Kurs in Harmonielehre und einen Dirigentenkurs bei ihm belegen.« »Und wer zahlt das ?« fragte ich besorgt. »Der Förderungsfonds der Stadt Zürich, der Stipendien für Studien vergibt, die man in der Schweiz nicht machen kann.« Mein Groll auf die Behörden der Stadt Zürich verspürte eine leichte Irritation. Angestrengt versuchte ich, mir meinen Schulatlas und die Seiten »Balkanländer« vorzustellen. Budapest irgendwo zwischen der Türkei und den Karpaten mußte es sein. Auf alle Fälle weit. Zu weit für eine verschuldete Sängerin. »Und wie lange bleibt ihr da?« »Das steht im Augenblick noch nicht fest. Ich weiß nur, daß Scherchen anschließend nach Wien geht. Wirst du mich da besuchen, Wilki ?« Ich sah auf meine Armbanduhr. Die eingeplante Zeit war schon wieder um zehn Minuten überzogen. »Bittest du die Vorsehung, daß ich es so lange aushalte?« »Du mußt, Wilki, und du wirst.« Für den nächsten Tag hatte der Pianist Taschner, der auch der Leiter der Band war, eine Probe angesetzt. Er war ein ekelhafter Bursche, arrogant und überheblich, als sei er Horowitz persönlich. Aber um in Heidelberg Erfolg zu haben, brauchte ich seine Sympathie. 110
»Na also«, sagte er wohlwollend nach der Probe. »Ich werde Ihnen schon das richtige Repertoire zusammenstellen. Unsere Gäste sind doch in der Hauptsache Ausländer, und die können mit Ihren literarischen Texten nichts anfangen. Die wollen Musik hören.« Er schrieb die Arrangements zu ›Red Sails in the Sunset‹, ›Blue Moon‹, ›Love for Sale‹, und zu den Rodgers-HammersteinNummern ›Bewitched‹ und ›There's a Small Hotel‹. Obwohl man an seinen zerdrückten Hemdenkragen und seinem unrasierten Gesicht sah, daß er nicht aus seinem Bett, sondern aus dem eines der vielen Mädchen kam, die allabendlich in den ersten Reihen des Lokals saßen und ihm mit ergebenen oder verwegenen Blicken ihre Bereitwilligkeit eingestanden, erschien er Morgen für Morgen pünktlich um zehn Uhr zur Probe. Er verbesserte mein Englisch, ließ mich Stimmübungen machen und überzeugte mich davon, daß man nicht nur stehend, sondern auch tänzelnd singen kann. Wenn ich abends den Applaus entgegennahm, tauschten wir das Lächeln von Verschworenen aus. Früher hatte ich meine Lieder mehr gesprochen als gesungen. Durch die Tricks, die Taschner mich gelehrt hatte, wagte ich plötzlich, Schlußtöne mit dem Gottvertrauen einer Wagner-Sängerin in einem vitalen Fortissimo zu singen. »Auf alle Fälle sind Sie keine Blamage mehr für ein Orchester, das Sie begleitet. Interessieren würde mich allerdings, wer der Held Ihrer Lieder ist. An wen denken Sie, wenn Sie mit geschlossenen Augen singen?« »An Sie bestimmt nicht.« Dieser Streuner bildete sich doch nicht etwa ein, daß mich an ihm außer seiner Musikalität sonst noch irgend etwas interessierte. Er blickte mit einem überheblichen Lächeln auf seine Hände, die über die Tasten glitten und eine Melodie aus ›Lohengrin‹ verjazzten. Sollte ich ihm von Mendelson erzählen? Aber Taschner schlug bereits einen Terzenlauf in Es-Dur an, dem ich mit meiner Stimme und meiner Konzentration nachlaufen mußte. Ich blieb bis zum Herbst in Heidelberg. Sämtliche amerikanischen Cook-Büros schienen ihre Reise-Arrangements so getroffen zu haben, daß ihre Teilnehmer vor oder nach dem Besuch der Berliner Olympiade einen Abstecher nach Heidel111
berg machten. Die Straßen und die Hotels quollen über von weißgepuderten, alten Ladies, die auf ihren dauergewellten Frisuren kleine Vogelnester aus Blumen und Spitzen trugen und die ihre, von Business und Existenzkampf nach innen gepreßten Lippen mit dunkelroter Farbe markiert hatten. Ihre Lebenspartner, soweit sie noch nicht auf amerikanischen Friedhöfen lagen, trugen neuerworbene Trachtenhüte, kauften in den Souvenir-Läden Hitlerbilder und Hakenkreuze für die Lieben daheim und sagten vom Führer bewundernd: »That's a guy!« Die internationale Presse berichtete in Schlagzeilen von der imponierenden geglückten Organisation der Berliner Olympiade, und an den hohen, weißen Masten vor dem Hotel »Europäischer Hof« hingen die Fahnen aller Länder der Welt. Die Sommersonne hatte sie ausgeblichen. Nur die blutroten Fahnen des Dritten Reichs hatten ihr widerstanden, symbolisierten: Wir sind stärker als ihr, leuchten noch, wenn eure Größe längst verblaßt ist. Meine Ersparnisse betrugen fast dreitausend Mark. Ich hatte beschlossen, sie nicht zu überweisen, sondern sie der Kantonalen Fremdenpolizei persönlich auf den Tisch zu blättern und zu sagen: Ohne unbegrenzte Aufenthaltsbewilligung keine unbegrenzte Schuldentilgung. Engagement nach Breslau, Engagement nach Köln, Engagement nach Hamburg, Mannheim, wieder nach Heidelberg und nach Konstanz. Der Agent erschien zu jeder Premiere, kassierte seinen zehnprozentigen Anteil aus dem vorangegangenen Vertrag, lobte mich für die besser werdenden Kritiken und sich für die steigenden Gagen, die er für mich herausholte, und erbot sich, mir für das Gastspiel in Konstanz für ein Wochenende meine Söhne an den Bodensee zu holen. Wahrscheinlich hoffte er dadurch die Gefahr auszuschließen, mich könne die nahe Grenze dazu verführen, eines Nachts durch sie hindurchzuschlüpfen und zu Mendelson zurückzukehren. Erwähnt hatte er ihn in unseren kurzen Gesprächen nie mehr, und ich wiederum sah keine Veranlassung, ihm zu sagen, daß Mendelson mit Scherchen unterwegs und für mich unerreichbar sei. Björn und Michael sprangen aus dem Zug und um mich 112
herum wie junge Hunde, die man zu lange an der Leine gehalten hat. Michael konnte zehn Minuten hintereinander reden, ohne in Atemnot zu geraten. »Der spricht ja eine drollige Sprache«, sagten zwei ältere Damen, denen wir auf der Seepromenade begegneten. »Ist wohl ein kleiner Amerikaner?« Es war unverfälschtes Schwyzerdütsch, was Michaels nimmermüden Lippen entströmte. Er erzählte von seinen Freunden im Chnöpfli-Hus, von den beiden Ponies, auf denen die Kinder sonntags reiten durften, und von der elektrischen Eisenbahn, die das Christkind am Heiligen Abend gebracht und im Spielzimmer aufgebaut hatte. »So, und nun verschnauf mal ein bißchen und laß deinen Bruder erzählen.« Björns harte, kleine Knabenhand umschloß meine Finger wie ein Schraubstock. »Björn gefällt es überhaupt nicht im Kinderheim. Er wollte schon zweimal weglaufen.« Ich erschrak. »Ich geh' auch nicht mehr dahin zurück«, sagte mein Ältester. »Ich will da sein, wo du bist.« Er blieb. Als das Konstanzer Engagement abgesungen und abkassiert war, brachten wir Herrn Grünfeld und Michael zum Zug. Von Abschiedstraurigkeit war nichts zu spüren. Michael trat von einem Fuß auf den anderen, und sein kleines Gesicht glühte. »Hat es dir denn nicht gefallen in Konstanz?« fragte ihn überflüssigerweise der Agent. »Doch, doch, aber jetzt war ich lange genug hier. Jetzt muß ich heim.« Der Zug schnaufte in die Halle. »Nun sag deiner Mutter und deinem Bruder brav auf Wiedersehen.« »Ach bloß nicht«, sagte Björn, »der hat ja ganz klebrige Flossen.« »Hast du sie dir denn heute morgen nicht gewaschen? Zeig her.« Ich zog ein Taschentuch aus meiner Handtasche. Michael hob abwehrend die Hände hoch, mit denen er unseren Frühstückszucker aus den letzten beiden Tagen umklammerte. 113
»Der ist für meine Ponies«, brüllte er und schien entschlossen, zuzuschnappen, sollte jemand wagen, ihn ihm zu entreißen. »Ein Glück, daß wir den los sind«, sagte Björn auf dem Weg ins Hotel in edler Bruderliebe. Am Tag darauf kam Grünfeld aus Aegeri zurück, und wir fuhren zu dritt wieder mal in ein Engagement nach Heidelberg. Im Februar 1938 saß der Hausagent vom Berliner »Kabarett der Komiker« in der Vorstellung. Am gleichen Abend überreichte man mir einen Brief von Robert, der den Poststempel Wien trug. »Wollen Sie am 1. März für zwei Monate zu uns nach Berlin kommen? Mit dem gleichen Repertoire und den gleichen Orchester-Arrangements ?« »Ich habe Dir für den 1. März ein Zimmer im Hotel ›Imperial‹ bestellt«, stand in Mendelsons Brief. Von der Vorfreude leicht narkotisiert und der Wirklichkeit enthoben, hörte ich mich aus meiner Wolken-Etage in Engelsgüte sagen: »Mit den Arrangements ist es nicht getan, lieber Herr Weber. Wenn Sie für Berlin den gleichen Auftritt haben wollen wie hier in Heidelberg, müßten Sie die fünf Instrumentalisten mitverpflichten.« Damit hoffte ich sein Angebot erledigt und meinen Weg nach Wien frei. »Ich werde in Berlin mit Herrn Direktor Willi Schaeffers darüber sprechen.« Weber stand auf und verabschiedete sich. »Den werden Sie nie Wiedersehen«, knurrte Taschner vorwurfsvoll. »Dann hat meine Antwort ja ihren Zweck erreicht. Ich möchte ihn auch nicht Wiedersehen. Jedenfalls nicht während der nächsten Wochen. Übrigens - wenn ich akzeptiert hätte, wären Sie mitgefahren ?« »In Ihrem Schlepp? Gott soll mich schützen!« Seine Entrüstung war echt. Er drehte sich noch einmal um. »Falls Sie es nicht wissen sollten, möchte ich Sie immerhin darauf aufmerksam machen, daß ein Gastspiel im Berliner ›Kabarett der Komiken‹ die Krone einer kabarettistischen Karriere ist. Da treten Künstler auf wie Victor de Kowa, Willi Forst, Gustaf Gründgens und Werner Finck.« 114
»Was Sie nicht sagen«, getraute ich mich zu antworten und lief dann schnell davon. Reise meinerseits Ich fahre zu dir. Daß es draußen regnet, kann mich gar nicht irritieren. Ich bin glücklich. Die Regentropfen sind wie Freudentränen, wenn sie durchs offne Abteilfenster verstehend ihre gute Kühle in die unausgeschlafnen Augenlider legen. Die Wolken hängen grau und matt im Wind wie ausgeblich'ne Fahnen, deren Sinn verging wie Hoffnungen Verliebter dann vergehn, wenn sie sich plötzlich hilflos vor Stacheldraht und Grenzen stehen sehn. Ein Baby weint im Abteil nebenan. Ich glaub, ich zieh mir meinen Mantel an. Du liegst im warmen Bett und schläfst und kennst es nicht, wie hart am frühen Morgen die feuchte Holzbank eines Zuges ist. Bald weiß ich auch nichts mehr von ihr, dem Regen und der Ungerechtigkeit. Ich weiß nur noch: ich lieb dich trotzdem sehr und bin für diese Seligkeit — Regen und Räder rauschen mir Applaus zu jeder Konzession bereit. Ich zieh den Mantel wieder aus. Das Wiener Hotel »Imperial« war wie ein altes Opernhaus. Roter Plüsch, roter Damast, vergoldete Rokoko-Ornamente auf weiß getäfelten Wänden. Mendelson mußte noch kurz vor meiner Ankunft im Zimmer gewesen sein. Ein Strauß Schneeglöckchen stand im Wasserglas und - daran gelehnt - ein Zettel: 115
»Bin zwar mit Scherchen auf der Probe im Konzerthaus-Saal, aber mit allen Gedanken bereits bei meiner Isolde. Tristan.« »Wie geht es Madame Mendelson«, fragte er mich eine Stunde später, »laß dich anschauen.« »Es gibt Männer, die diese Frage stellen, bevor sie ihr Opfer völlig zerdrücken und zerknautschen.« Ich machte mich aus seiner Umarmung frei. »Und der Schnauz — was hört man von ihm ?« »Du wirst es nicht für möglich halten, in Heidelberg überhaupt nichts. Wenn nicht vorm Hotel ›Europa‹ und vor dem Casino zwischen den Flaggen der anderen Nationen ein paar schlaffe Hakenkreuz-Fahnen hingen, würde man gar nicht daran erinnert, daß es ihn gibt.« Robert seufzte. »Es ist eine typische Eigenschaft von Kindern, daß sie glauben, wenn sie die Augen vor ihr verschließen, existiere die Gefahr nicht.« »Muß das sein, daß bei jedem Zusammensein mit dir der Hitler in einer dunklen Zimmerecke sitzt ?« »Weißt du, wie beneidenswert du bist, Wilki, daß es Tage, Nächte oder Augenblicke in deinem Leben gibt, in denen er nicht existiert? Millionen anderer Menschen wachen auf und gehen schlafen mit dem Gedanken: Wie lange entkomme ich ihm noch? Nicht mehr der Beruf oder die Liebe entscheiden über das, was sie tun und planen, sondern einzig und allein der Versuch und die Hoffnung, ihm zu entgehen. Das ganze Orchester Musica Viva besteht aus hochbegabten Musikern, die wegen ihrer Rasse aus Deutschland fliehen mußten, und aus Leuten, denen man in Österreich nahegelegt hat, freiwillig auf ihre staatlichen Verträge zu verzichten. Glaubst du, es gibt irgendeine Probe oder irgendein Konzert, in dem der Ungeist nicht in einer dunklen Ecke hockt?« Ich begann, meinen Koffer auszupacken und meine Kleider in den großen Mahagonischrank zu hängen. »Mir scheint, du hast dich auf einen längeren Aufenthalt in Wien eingestellt?« fragte Robert. Endlich lächelte er. Während ich mich für das Konzert anzog und er mir wie in guten alten Zeiten ins Kreuz klopfte und mich ermahnte: »Halt dich gerade, Wilki«, nahm ich mir vor, den Schnauz in unseren Gesprächen 116
aus dieser schönen Stadt fort und in die Hölle zu verbannen. Das Programm enthielt Werke von Schönberg, Strawinsky und Honegger. Ich hatte einen Stuhl in der ersten Reihe, hielt mich aufrecht, drückte das Kreuz durch und versuchte angestrengt, mich an all das zu erinnern, was Robert mir in Zürich über die Größe und Schönheit der modernen Musik gesagt hatte. Er wirkte in diesem Konzert als Klaviersolist mit, blickte manchmal zu mir herüber und war sicher glücklich in der Überzeugung, daß der Abend für mich ein ebenso großes Erlebnis sei wie für ihn und das Orchester und den ausverkauften Saal. Mir fielen die glücklichen Wochen mit den Kindern ein, die Abende im Garten, Björn beim Gießen der Blumenbeete, Michael neben dem Flügel auf dem Teppich hockend, die zurückgeschobene Terrassentür und der Abendwind, der Roberts Klavierspiel zu den Baumkronen trug. Was war nun Episode - diese Zeit des Glücks oder das Getrenntsein voneinander ? Das Getrenntsein, hoffentlich war es das Getrenntsein! Ohne den Glauben an den Tag, an dem wir uns nicht mehr vor Hitler und vor unseren Gläubigern zu verstecken brauchten, wären wir wie Vögel ohne Flügel, wie Bäume ohne Wurzeln. Wir? War Mendelson nicht inzwischen so besessen von der Musik, daß er es gar nicht wahrnehmen würde, wenn die Kinder und ich nicht mehr Gegenwart waren, sondern nur mehr Erinnerung ? Natürlich liebte auch ich meinen Beruf, den Applaus, das Scheinwerferlicht. Aber ich gehörte nicht zu den Genialen, zu den Besessenen, wie Mendelson. Die Musik trug mich wieder in unseren Garten zurück. Ich saß auf einer Schaukel und flog zwischen Robert und den Kindern hin und her, sanft und leicht. Bis plötzlich die Taue rissen und ich auf dem Parkettfußboden des Konzerthaussaales saß. »Das wird uns ein Ansporn sein, unser nächstes Konzert interessanter und weniger einschläfernd zu interpretieren«, tröstete mich Robert. Wir saßen im »Hotel Sacher« und aßen zu Abend. Die Gespräche, die durch den Raum summten, waren genauso vielsprachig wie die in Heidelberg. »Ich hab' jetzt übrigens noch eine dritte Chance, Geld zu verdienen.« 117
»Das ist Musik in den Ohren eines begabten, aber bis jetzt ziemlich erfolglosen Musikanten. Ist deiner Tüchtigkeit ein Examen als Pilotin oder Krankenpflegerin geglückt ?« »Ich kann Refrain singen.« Robert legte das Besteck auf den Teller und sah mich fragend an. »Verstehst du nicht? Außer Theaterspielen oder Auftreten in literarischen Kabaretts könnte ich jetzt auch in einem Tanzorchester Refrain singen. Durch ein Mikrofon. Da klingt meine Stimme wie eine Trompete aus Jericho.« »Entschuldige, Wilki, wenn diese Tatsache mich nicht euphorisch stimmt. Aber wieso muß dein Nordseewellen-Timbre wie eine Posaune — bei dem historischen Jericho-Orchester handelt es sich um Posaunen, nicht um Trompeten — klingen?« »Weil sie sonst das Orchester nicht übertönen kann.« »Und wem verdankst du diese Erfahrung?« »Dem Leiter der Band. Dem war das lieber als dein Vorschlag, in Heidelberg ›Ännchen von Tharau‹ und ›Alte Burschenherrlichkeit‹ zu singen.« Robert winkte dem Kellner und beglich die Rechnung. »Das spricht für ihn. Und wenn du dein Dessert ausgelöffelt hast, mieten wir einen Fiaker und fahren einmal den Ring und einmal die Kärntnerstraße 'rauf und 'runter.« Obwohl Scherchen viel von Roberts Zeit in Anspruch nahm, kamen wir uns vor wie Hochzeitsreisende. Ich hatte das teure Appartement im »Imperial« mit einem Zimmer in Sievering vertauscht. Frau Jedliczek erlaubte mir, in ihrer Küche das Abendessen zuzubereiten und es Robert in ihrer Gartenlaube zu servieren. Auf dem Tisch lag eine bäuerliche, grob gewebte Decke, zwei Windlichter warfen ihr flackerndes Licht auf Mendelsons Gesicht, und in einem Fliederbaum saß eine Amsel und zwitscherte ein Loblied auf diese klaren, milden Wiener Vorfrühlingsnächte. Spanische Reitschule, Konzertproben, Stephansdom, Konzertproben, Prater, Riesenrad, Gespräche, in denen Erinnerung und Zukunft waren, Glück. Eine ganze Woche lang Glück. Am 12. März kamen die Deutschen nach Österreich und brachten ihm den »Anschluß«. Umjubelt von winkenden Men118
schen rechts und links der Straße, zog Hitler im offenen Wagen zwischen Heil-Rufen und einem Meer von flatternden Hakenkreuzfahnen in Wien ein. Die Mitglieder des Orchesters Musica Viva versuchten die Flucht in die Tschechoslowakei oder wurden von Freunden in Wien versteckt. Mendelson war der einzige, der einen Schweizer Paß besaß. Ihm konnte man die Ausreise aus Österreich und die Einreise in die Schweiz nicht verweigern. Er kaufte eine Fahrkarte nach Zürich. »Da sind nun so viele Plätze frei, auf denen man Unerwünschte in die neutrale Schweiz fahren lassen könnte«, sagte er, als er bis zur Zugabfahrt noch einmal zu mir auf den Bahnsteig zurückkam, »aber es ist genau wie damals in Deutschland. Sie glauben, eine genehmigte Flucht, das Aufgeben einer Wohnung mit allem, was man im Laufe der Jahre an liebgewonnenen Dingen in ihr zusammengetragen hat, der Verzicht auf die Sprache, die man spricht und versteht — all das sei eine zu milde Strafe für die Tatsache, ein Jude zu sein.« Der Zugführer gab das Signal zur Abfahrt. »Und wir - was wird aus uns —«, hatte ich noch fragen wollen, aber das Abteilfenster klemmte, und ich sah, wie Robert sich vergeblich bemühte, es zu öffnen. Der Zug rollte aus der Halle. Ein Mann in SA-Uniform trat zu mir. »Sagen's Frailein, war dees need a Itzig, der da eben abg'fahren is? Sie, i geb Eahna an Rat: Sie sollten sich mal a bissei mehr mit da Hitlerschen Rassenlehre beschäftigen!« Den Zorn, den Taschner auf sich selbst hatte, ließ er an mir aus. Die Direktion des »Kabaretts der Komiker« hatte Grünfeld zu überzeugen verstanden, daß es ein besseres Begleitorchester als das »hauseigene« nicht gäbe. Die einzige Konzession, zu der man bereit sei, wäre ein Solopianist für mich. Ich wußte, daß es einen besseren als Taschner nicht gab, und ich wußte auch, daß ein wirklich großer Erfolg in Berlin davon abhing, daß er am Flügel saß. Er atmete, lachte, zögerte und verstummte in der gleichen Sekunde wie ich. Seine Begleitung trug mich von der Bühne fort zu den Küsten und zu den Menschen, von denen ich sang. Sie ließ mich vergessen, daß vor mir im dunklen Rund des 119
Theaters Menschen saßen, die mir zuhörten. Auch Robert war ein guter Begleiter. Aber es war mir in jeder Sekunde bewußt, daß er am Flügel saß. Taschner vergaß ich über der Schwerelosigkeit, die er meiner Stimme schenkte. Der Bühnenbildner Goetz Roethe hatte für meinen Auftritt vor einen dunklen Rundhorizont Dutzende von Fischernetzen gestellt, in die aus der Seitendekoration blaues Scheinwerferlicht fiel. Zwischen Dückdalben und Pollern brannte das verschwommene Licht von Hafenlaternen. Ich trug ein folkloristisches Kleid: bäuerliche weiße Bluse aus grober Spitze, eine nachtblaue Samtweste und einen weiten, mit bunten Borten besetzten weißen Rock. »Bei der Premiere werde ich Sie begleiten. Aber bilden Sie sich nicht ein, daß ich auch nur einen einzigen Tag länger bleibe. Ich in beruflichem Abhängigkeitsverhältnis zu einer Frau? Ich mach' mich doch nicht zum Gespött meiner Musiker!« Taschner saß vor unserem Auftritt in meiner Garderobe, feilte seine Fingernägel und betrachtete im Schminkspiegel immer wieder seine gefurchte Stirn und den entschlossenen Strich seiner schmalen Lippen. Das erste Klingelzeichen schrillte durch das Bühnenhaus. Nach kurzem Klopfen betrat Heinz Erhardt die Garderobe. Sein volles Gesicht, gerötet und zufrieden wie das eines satten Säuglings, näherte sich meinem. Er küßte mich auf beide Wangen und sagte mit seiner, wie von Gummispulen startenden, weichen Stimme mit der baltischen Färbung: »Also klatschen werden sie ja alle, die Bösen mit'm Mund, die Lieben mit'n Händen. Wenn's recht war', benutz' ich meine Patschhändchen zum Daumenhalten.« Die blonde Dorit Kreysler und ihr Sketch-Partner Peter Igelhoff, der dänische Pantomime Henry Lorenzen, der Orchesterleiter Erwin Bootz, alle kamen während des zweiten und dritten Klingelzeichens auf einen Sprung in die Garderobe, um in Richtung meiner Schultern ein toi, toi, toi zu spucken. »Haben Sie gemerkt, wie überflüssig ich hier bin? Nicht ein einziger Kollege ist daraufgekommen, auch mir Glück zu wünschen«, maulte Taschner. »Das sollte Sie eigentlich nicht wundern, wenn Sie dasitzen wie ein Stachelschwein.« 120
Während unseres Auftritts, der kurz nach der Pause lag, zog er die Borsten ein und war auch während der Premierenfeier »Bei Johnny« glatt und liebenswürdig. Er verließ sie als einer der ersten, wenige Minuten nach den Aufbruchsignalen, die Dorit Kreysler ihm mit ihren hübschen Augen zugeworfen hatte. Ich sah es mit Entzücken. Würde er sich verlieben, würde er in Berlin bleiben. Dieser Gedanke war aufregender als der ganze Premierenerfolg. Kurz nach Mitternacht waren Flaschen und Gläser leer, und Trude Hesterberg, die sich die Vorstellung angesehen hatte, lud das Ensemble in ihren »Groschenkeller« ein. Sie hatte diese alte Kutscherkneipe in der Kantstraße gepachtet und ein Künstlerlokal daraus gemacht. »Wenn wir die Braunen wieder los sind und meine Freunde Bert Brecht, Lotte Lenja und Kurt Weil! nach Berlin zurückkommen und den Namen ›Groschenkeller‹ hören, wissen sie gleich, wo sie hingehören«, verkündete sie unbekümmert. Ein hagerer Mann mit einem Narbengesicht unter dichtem, schwarzem Haar kam auf sie zu und zischte im Vorbeigehen: »Szzzt, Gestapo!« »Das ist Sigi, unser Wachhund. Er schielt so begabt, daß er, ohne den Kopf bewegen zu müssen, stets den ganzen Laden und alle Gäste im Auge hat. Zu dem kannst du immer kommen, Kleine, wenn du irgendwelche Schwierigkeiten hast. Ist in Berlin ja kaum zu vermeiden. Und jetzt wollen wir mal sehen, wie weit die drei Verdächtigen an der Theke in der deutschen Literatur zu Hause sind.« Sie ging zum Pianisten und begann zu singen. Unter schweren Lidfalten spöttische braune Augen, hellrot geschminkte Lippen, ein Mundwinkel, in dem Melancholie, einer, in dem Spott und Heiterkeit saßen, kupferfarbene Haare, tiefes Dekollete, Haut wie weißer Samt. Sie sang mit einem hellen Sopran Marketenderinnen-Lieder. Ich beobachtete die Männer an der Theke. In der Begeisterung der anderen schmolzen auch ihre eisigen Gesichter. »Das waren Lieder von Villon, Mehring und Kästner«, flüsterte Trude, als sie an unseren Tisch zurückkam, »Grund für die drei, wenn sie nicht so ungebildet wären, meinen Laden zu schließen und mich in Schutzhaft zu nehmen«. 121
»Schutzhaft?« »Ja, um mich vor der Empörung meiner Mitmenschen zu schützen.« Sie lachte und nahm einen großen Schluck aus ihrem Cognacglas. »Ist eigentlich dein Tastenhengst nicht mitgekommen? Eine Wolke, dieser Junge! Den würde ich gern dazu überreden, hier nach eurer Vorstellung ein paar Stunden zu spielen. Unser alter Pianist braucht dringend mal Ferien.« Die Gunst der hübschen Dorit, das Nachtengagement im »Groschenkeller« — Taschners Selbstbewußtsein blühte auf. Vom Wegfahren war keine Rede mehr. Nach vier Wochen fühlte er sich am Kurfürstendamm so zu Hause, als sei er hier groß geworden. Statt in seinen provinziellen, engtaillierten Sakkos lief er in lässig geschnittenen, grauen Flanellanzügen herum, duzte die Besitzer aller Berliner Künstlerlokale und kannte deren private, politische und berufliche Sorgen. Wenn er mich nach Theaterschluß manchmal mitnahm, hatte ich das Gefühl, mich seinen Bekannten mit den Worten vorstellen zu müssen: »Ich bin die Sängerin, die zu der Begleitung dieses großen Pianisten singen darf.« Wir waren nicht die Sängerin und ihr Begleiter, sondern Taschner und seine Sängerin. In das berufliche Abhängigkeitsverhältnis, vor dem Taschner sich gefürchtet hatte, war inzwischen ich geraten. Aber welche Freuden außer dem allabendlichen Auftritt hatten diese Wochen schon für mich. Keine. Aus dem Schweizer Kinderheim kamen, zusammen mit der Monatsrechnung, jeweils ein paar liebenswürdige Zeilen, Michael gehe es sehr gut. Von Mendelson hörte ich überhaupt nichts, und Taschners Bemühungen, sich mit Björn anzufreunden, waren erfolglos geblieben. Er hatte ihm Kopf, Hände und Füße in den Bauch gestoßen und gebrüllt: »Ich will nicht immer einen neuen Vater haben. Andere Kinder haben auch nur einen.« Brief an den Maler. Antwort in weiblicher Schrift: Er habe inzwischen wieder geheiratet und sie, Schreiberin dieser Zeilen, Tochter des mir sicher bekannten Kapitäns Reimers - womit bürgerlicher Wohlstand angedeutet wurde - und ihr Mann würden sich glücklich schätzen, dem armen, herumgestoßenen Kind wieder ein Zuhause zu geben. Mit einem Schildchen um den Hals, auf dem Namen und »Bestimmungsort Bremen« 122
standen, hatte ich Björn in den Zug gesetzt, tagsüber gelächelt, nachts geheult, wochenlang. Der Himmel hatte sich meiner Verzweiflung angepaßt. Er sah aus wie ein ausgewrungener Trauerflor, aus dem abwechselnd Regen und wäßriger Schnee auf die Berliner Häuser und Straßen tropfte. Da am 24. Dezember keine Vorstellung war, fuhr Taschner bereits in der Nacht vor dem Heiligen Abend zu seinem Vater nach Darmstadt. »Alle meine positiven Seiten habe ich diesem Mann zu verdanken.« Na, das wäre ja nicht weiter verpflichtend gewesen, denn was, außer seiner musikalischen Begabung, war an Taschner schon positiv? Sein Selbstbewußtsein, seine männliche Potenz? »Wenn Sie mitfahren wollen.« Ich zögerte. Vielleicht war es besser, als mutterseelenallein in Berlin zu hocken? Wie weit die Weihnachtsfeste mit Robert und den Kindern schon zurücklagen. Sobald das Engagement im »K. d. K.« beendet war, würde ich versuchen, ein Besuchsvisum für die Schweiz zu bekommen. »Glauben Sie, daß Sie vor unserem Auftritt noch zu einem Entschluß kommen? Anschließend müssen wir nämlich sofort losrennen, um den Zug zu erwischen.« Ich schob die Seitenflügel meines Schminkspiegels vorsichtig so weit zurück, daß ich den auf der Couch liegenden, zeitunglesenden Taschner beobachten konnte. Also hübsch war er wirklich nicht. Liebenswürdig auch nicht. Was aber war es, das den Mädchen und Frauen außer seinem Klavierspiel an ihm gefiel ? Es war schließlich schlecht vorstellbar, daß er während seiner Umarmungen und Zärtlichkeiten eine Hand auf den Klaviertasten ließ, um seine Küsse musikalisch zu untermalen. »Hat die Künstlerin gewählt — Darmstadt oder Berlin —?«, fragte Taschner, ohne den Blick von der Zeitung zu heben. Auf den Briefen an seinen Vater stand: Darmstadt, Moltkestraße 31, 3. Stock. Ich stellte mir die kleine, bürgerliche Mietwohnung vor, die schlecht aufgeräumte Küche des alten Herrn, der seit zehn Jahren Witwer war, die Weinflaschen, aus denen Menschen wie Taschner das Sentiment des Heiligen Abends fortspülten, und versuchte vergebens zu ergründen, was ich mehr fürchtete: die Einsamkeit eines Heiligen Abends in Berlin oder den von Mitleid und von der Menschenliebe der Herren Taschner ver123
edelten in Darmstadt. Die Glocke und das grüne Lichtzeichen über der Tür riefen uns zum Auftritt. Ich sang schlecht und unkonzentriert an diesem Abend. Taschner warf mir einen wütenden Blick zu, und während der Inspizient mich nochmals zum Applausentgegennehmen auf die Bühne schob und mich mit den Worten: das ist jedes Jahr am 23. Dezember dasselbe, das liegt am halbbesetzten Haus, zu trösten versuchte, hatte Taschner seinen Platz am Flügel bereits verlassen, Mantel und Hut aus der Garderobe geholt und war davongeeilt. Auf meinem Schminktisch lagen eine in Weihnachtspapier gewickelte Wärmflasche und ein Brief von Taschner: »Damit Sie morgen keine kalten Füße bekommen. Sollten Sie aber etwas gegen Gummi haben, bin ich nach meiner Rückkehr bereit, Ihre Füße persönlich zu wärmen.« Mit bibberndem Kinn, mein Weihnachtsgeschenk im Arm, schlich ich über den menschenleeren Kurfürstendamm und in das spartanische Eisengitterbett der Pension »Lenz«. Überall in der großen Stadt sprach man von den Studenten des Münchner Kutscher-Seminars, die im Renaissance-Theater unter dem Namen »Vier Nachrichter« mit der literarischen Revue ›Hier irrt Goethe‹ gastierten. Der wache, gewitzte Instinkt der Berliner, der blitzschnell das Gute vom Mittelmäßigen zu trennen verstand, hatte die Begabung der Neulinge sofort erkannt. Helmut Käutner, Bobby Todd, Kurt E. Heyne und Norbert Schultze waren in wenigen Tagen die Lieblinge des Berliner Theaterpublikums. An den Vorverkaufsstellen und in den Portierslogen der großen Hotels flüsterte man: »Haben Sie unsere ›Nachrichter‹ schon gehört? Ich hätte zufällig noch zwei gute Karten.« Man zahlte unterm Tisch für sie das gleiche wie auf der Tischplatte für zwei Plätze in der Staatsoper oder im Schillertheater. Künstler haben einen sechsten Sinn dafür, in welchem Lokal in einer neuen Stadt sie Gleichgesinnte treffen, und so überraschte es niemanden, daß die vier nach Theaterschluß die steinernen Stufen zum »Groschenkeller« heruntersprangen. Trude empfing sie mit ausgebreiteten Armen und servierte ihnen das erste Bier persönlich. 124
Ende Dezember 1938 gaben wir im »K. d. K.« eine Nachtvorstellung. Nahezu alle Berliner Theater veranstalteten einmal im Monat eine solche Soiree, die den Kollegen, die allabendlich selbst spielten, die Möglichkeit gab, den Platz auf der Bühne mit dem im Parkett zu vertauschen. Da saß dann Hans Albers neben Käthe Gold, Johannes Heesters neben Tatjana Gsowsky, Berta Drews neben Heinz Rühmann. Und obgleich man wußte, daß Kollegen kritischer sind als ein anderes Theaterpublikum, liebten wir alle diese Vorstellungen, in denen die Spannung knisterte und Pointen, kaum über die Lippen gekommen, schon von applaudierenden Händen aufgefangen wurden. Am nächsten Vormittag, als ich noch im tiefsten Schlaf lag, schrillte die Türglocke an meiner Dachwohnung in der Lietzenburger Straße so lange, bis ich ächzend und torkelnd aufstand, um zu öffnen. »Ich hab' mir im ›K. d. K.‹-Büro Ihre Adresse geben lassen«, sagte Norbert Schultze und überreichte mir, Sohn aus gutem Hause, einen Rosenstrauß, für den er in dieser Jahreszeit bestimmt eine volle Tagesgage hatte hinlegen müssen. Ratlos blickte ich von den Rosen in sein hübsches junges Gesicht und auf die Luftlöcher in meinen Hausschuhen. »Darf ich in einer Viertelstunde wiederkommen oder darf ich hier auf Sie warten? Oh, da ist ja sogar ein Klavier.« Brummender Schädel versucht vergeblich, in den Besuch, die Rosen und die Worte eine logische Verbindung zu bringen. Vielleicht glückte es, nachdem ich den Kopf fünf Minuten unter kaltes Wasser gehalten hatte. Ich schlurfte durch das Atelier, das sinnloserweise zehn Meter lang war, schnippte im Sinn einer Eintrittsbewilligung über die Schulter hinweg mit dem Zeigefinger und hörte durch das Wasserrauschen die Finger meines merkwürdigen Besuchers über die Klaviertasten tröpfeln. Gekämmt, bekleidet und die Hände an einer Tasse hastig aufgebrühtem Kaffee wärmend, wagte ich mich nach einer Viertelstunde zu ihm zurück. Er erhob sich kurz und korrekt vom Klavierschemel.
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»Man vermutet es im ersten Augenblick vielleicht gar nicht, aber ich bin ein Mann der schnellen Entschlüsse. Und als ich Sie gestern in der Nachtvorstellung im ›K. d. K.‹ hörte, stand bei mir fest: die oder keine.« Der Mann der schnellen Entschlüsse reichte mir ein paar Blätter mit Gedichten. »Nur Sie werden sie so interpretieren, wie ich es mir vorstelle. Lesen Sie bitte mit und hören Sie meine Vertonungen.« Schon nach wenigen Takten unterbrach ich ihn. »Sparen Sie sich die Mühe. ›Lili Marleen‹ und was ich hier sonst noch sehe, ist bereits vertont - die Sachen singe ich schon seit Jahren.« Das war zeitlich etwas übertrieben, aber um das Selbstbewußtsein dieses Jünglings etwas ins Wanken zu bringen, brauchte es sicher doppelte Zündstoffsätze. Der erste blieb dennoch ohne Wirkung. »Vergessen Sie, was war«, sagte er fröhlich, »und hören Sie bitte weiter zu.« Was blieb mir anderes übrig. Ich deckte mein zerwühltes Bett zu, füllte die Kaffeekanne mit Wasser, stellte die Rosen hinein, holte die Milchflasche und das Brötchen aus dem Treppenhaus und stellte widerwillig fest, daß das unglaublich gut war, was da vom Klavier her erklang. Meine Opposition war schon so angeschlagen, daß ich dem nächsten Besuch, der die Drehklingel betätigte und zusätzlich gegen die Tür hämmerte, am liebsten gar nicht geöffnet hätte. Taschner stürzte herein wie ein von Schleusen befreiter Stausee. Ohne von meinem Besuch Notiz zu nehmen, ließ er ein Stück Papier um meinen Schädel kreisen und brüllte: »Ich hab' einen Stellungsbefehl bekommen, Sie müssen sofort zum Wehrbezirkskommando Ecke Uhlandstraße. Wo ist Ihr Mantel?« »Ich soll mich stellen? Haben die auch Damenriegen?« Taschner lief rot an. »Sie müssen hingehen und mich uk stellen lassen. So viel Charme werden Sie ja wohl noch aufbringen. Oder sitzt etwa schon ein Nachfolger auf meinem Stuhl?« Drohender Blick, drohende Schritte in Richtung des vermuteten Nebenbuhlers. Norbert Schultze erhob sich und stellte sich vor. »Ich gehöre zu den ›Vier Nachrichtern‹.« »Bei denen sollten Sie auch bleiben, wenn Sie klug sind. Ein 126
Ensemble ist heute der beste Schutzwall gegen Einberufungsbefehle. Warum mußte ich mich auch in die Abhängigkeit einer Frau begeben.« »Ist denn der Krieg ausgebrochen?« wagte ich zu fragen. »Noch nicht, aber wenn die schon versuchen, friedliebende Menschen wie mich zu Aggressoren zu machen, dann wird es nicht mehr lange dauern.« »Nun mal Ruhe«, schlug der »Nachrichter« vor, »Sie sind bestimmt nicht das einzige Mitglied des ›K. d. K.‹, das in diesen Tagen in die Kaserne gerufen wird. Und wenn Willi Schaeffers einen vorläufigen Gesamtantrag für die Mitglieder seines Theaters stellt, verspricht das viel mehr Erfolg, als wenn Sie die Lale aufs Wehrbezirkskommando schicken. So, und nun bestätigen Sie ihr bitte mal, was für großartige Lieder ich für sie geschrie ben habe.« »- weil die Rökk und die Leander und Rosita es abgelehnt haben, sie zu singen«, ergänzte ich. »- was ich durchaus nicht abstreite.« Wir vergaßen Krieg und Hunger und Müdigkeit und saßen bis zum Nachmittag am Klavier. Abends verteilte Taschner die von ihm und Schultze geschriebenen Orchester-Arrangements, und wieder einmal gab es eine Premiere von vertonten HansLeip-Texten. In der Erinnerung an das mittägliche Gespräch kam mir die Idee, ›Lili Marleen‹ mit den Worten: »Lied eines jungen Wachtpostens« anzusagen. Taschner grinste vom Flügel herüber und steckte kurz die Zunge heraus. Im »Groschenkeller« wartete bereits mein Rosenkavalier auf mich, und wir wiederholten für ihn und die anderen Gäste noch einmal unseren Auftritt. »Die erste Vertonung von ›Lili Marleen‹ war besser, aparter, sphärischer«, befand Trude Hesterberg, »aber die neue Ansage und der Rhythmus, der wie die Schritte marschierender Soldaten klingt - Kinder, das trifft aber wirklich haargenau den Nerv der Zeit.« Die Produzenten der »Electrola«, die Anfang Januar die Vorstellung besuchten und einen Schallplattenvertrag mit mir schlie ßen wollten, waren anderer Ansicht. »Diese Leip-SchultzeSachen sind weder Lieder im Sinn von klassischem Liedgut 127
noch Schlager, von denen man sich einen Erfolg versprechen könnte«, nörgelten sie. »Hören Sie sich doch mal die Platten von Marika Rökk und Rosita Serrano an. So was läßt sich verkaufen.« »Das bezweifle ich gar nicht«, reagierte ich bockig, »aber diese Art Schlager liegen mir nicht. Die würde ich genauso bezie hungslos singen wie Rosita Serrano mein Repertoire.« »Wenn man Sie schon mal allein wohin gehen läßt«, jammerte Taschner, als ich ihm das Ergebnis der Unterredung, das kein Ergebnis war, erzählte. »Sie wissen doch, daß ich Ihnen nur erhalten bleibe, wenn Sie ein richtiger Star werden. Meine uk-Stellung ist auf zwei Monate befristet. Wenn wir Sie bis dahin so weit haben, daß man nicht wagt, Ihnen einen eigenen Manager und Pianisten abzuschlagen, ist die Gefahr gebannt. Und wie weit Sie ohne mich kommen, hat ja wieder mal die Verhandlung mit der Plattenfirma bewiesen.« In den darauffolgenden Tagen getraute ich mich kaum noch, eine Zeitung zu lesen. Überall begegnete ich Taschners hemmungslosen Versuchen, meinen Namen aufzupolieren. »Zwei führende deutsche Schallplattenfirmen bemühen sich, Lale Andersen unter Vertrag zu bekommen.« — »Lale Andersen künstlerischer Mittelpunkt bei einem Empfang des AuslandspresseClubs.« - »Lale Andersen Gast des Reichsarbeitsministers in Potsdam. Die Zuhörer stimmen begeistert in Lales Erfolgslied ›Lili Marleen‹ ein.« Ich litt und schwieg. Wenn es denn schon von mir abhing, ob Taschner das Theater mit dem Kasernenhof vertauschen mußte oder nicht, blieb mir nichts anderes übrig, als mich von ihm als Schutzwand verwenden zu lassen. Darüber, daß er, sollte ich mal in eine schwierige Situation geraten, bedingungslos für mich dasein würde, bestand kein Zweifel. Besorgt stellte ich fest, daß er seine Nächte nicht mehr zum Herumstreunen benutzte, sondern zum Schlafen und bereits um acht Uhr morgens die Aktivität eines frischen Reisigbesens entwickelte, der rücksichtslos durch die Besetzungsbüros und Redaktionen fegt. Um das eingeschlafene Interesse der konservativen »Electrola« zurückzugewinnen, schloß er einen Produktionsvertrag bei »Tele funken« ab, der vorerst für eine Platte galt. Die Titel hießen: 128
›Der Junge an der Reling‹ und ›Liebeslied im Hafen‹. Kaum war der letzte Ton in der Rille, zerrte er mich zur nächsten Bushaltestelle. »Warum bleiben wir denn nicht bei den ›Tele funken‹-Leuten, die viel netter sind als die von der ›Electrola‹?« jammerte ich. »Weil die einen Vertrag mit der Serrano haben und ihren gesamten Werbeetat in diesen Namen stecken.« Rosita: Stimme wie das Jubilieren einer Lerche, das Gurren einer Taube, verwirrend, lockend, und doch ungreifbar wie ein Kolibri. Taschner hatte recht: wo auf die Serrano gesetzt wurde, hatte meine Nebelhorn-Stimme keine Chance.
Meinem Sohn Björn Du warst: eine Geldanweisung am Ersten und eine Fotografie. Gefaltete Hände am Abend und Morgen, eine Kinderlied-Melodie. Im Sommer bin ich aufs Schiff gegangen und fuhr damit zu dir. Du hast mich mit einem Seestern empfangen, und heißen Händen und einem langen Strauß Ringelrosen und frischgebügelten Hosen und sagtest: Tach, Mami, zu mir. Deine Schritte sind so lang wie meine. Das rechte Knie ist aufgerissen. Wenn ich mich etwas niederbeuge, könnte ich deine Haare küssen. Du fragst etwas. Ich bin befangen und denke: großer kleiner Sohn. Ob ich schon mal einen Seestern gefangen? Natürlich, wenn auch mit Hangen und Bangen, als Mädchen hat man ja nicht sehr viel Mut. Du lächelst mir zu und sagst: schon gut 129
und hast sehr viel Nachsicht im Ton. Dann hast du eine Sandburg gebaut und führst mich ernst hinein. In ihren Wänden fühl' ich mich geborgen und wirklich daheim. Und möchte sie nie mehr vertauschen brauchen mit Künstler-Garderoben und fremden Zimmern und weiß doch, bald werde ich mich an sie nur wie ein Märchen erinnern. Die Lebensmelodie hat mir eine glückliche Strophe gesungen, vom Sommer, Meer und Seesterngetier und meinem kleinen Jungen. Jetzt bist du wieder: ein Scheck am Ersten und eine Fotografie. Gefaltete Hände am Abend und Morgen, eine Knabenlied-Melodie. Besuch im Besetzungsbüro des Großdeutschen Rundfunks. Man vermißt Parteiabzeichen an Taschners Jackett, ist kühl, verabschiedet uns mit »Heil Hitler«. Rüber zum Paul-Nipkow-Haus, aus dem die ersten Fernsehversuchssendungen ausgestrahlt werden. Das Parteiabzeichen des Intendanten Hans Nierentz ist aus Gold und groß genug, die fehlenden seiner Mitarbeiter unwichtig zu machen. Er hat uns im »K. d. K.« gesehen, ist liebenswürdig, bittet um Programmvorschläge. »Wer sieht die denn?« Taschner ist vorsichtig, möchte keine Zeit für Unnützes vertun. »Der Post- und einige andere Minister. Ein paar Geräte sind auch in Berliner Postämtern aufgestellt. Wir senden unregelmäßig. Meistens abends zwischen sieben und acht.« Die Minister genügen Taschner. Er geht sofort an die Arbeit. Minister sind wichtig. Minister können helfen. Minister bedeuten Macht. Können ihm Kasernenhof, Soldatenpritsche ersparen. Unsere ersten Sendungen heißen ›Nordisches Bilderbuch - Folklore aus Schweden, Norwegen und Friesland‹, ›Broadway, Boule 130
vard, Tauentzien — Evergreens in drei Sprachen‹, ›Kleine Hafenorgel‹. Ich rase von Probe zu Probe, von einem Kostüm ins andere. Kameraleute, Atelierarbeiter und die Begleitorchester, die Taschner selbst zusammenstellen darf, nennen das Fernsehstudio »Taschners Festsäle«. Nierentz schaut oft herein. Einladung zum Essen, Fahrten in einem großen, weichgefederten Auto, Chauffeur in schwarzer Uniform, auf dem Kopf etwas, das aussieht wie eine aufgeblähte Heidelberger Schülermütze. »Trinken Sie nicht ein bißchen zu viel?« fragt Taschner unseren Gönner. »Was ich auf Deutschland zukommen sehe, ist grauenhaft«, murmelt der in sein Cognacglas, trinkt aus, greift nach unseren Händen. Angst schwimmt in den blauen Seen seiner Augen. Taschner möchte etwas fragen. Sieht die Ohren des Fahrers am Nebentisch. Läßt es. Das Metropol-Theater gab Silvester eine Gala -Vorstellung der ›Fledermaus‹. In die Szene beim Prinzen Orlowsky wurden aus diesem Anlaß Gastauftritte eingefügt. Die Solotänzer der Staatsoper Lieselott Köster und Jockei Stahl tanzen, Rosita Serrano und ich singen. Wenige Tage später ein Empfang bei Minister Ley. Barnabas von Geczy spielt, Helge Rosvaenge singt. Ich versuche ähnliches. Der 30. März 1939 und somit das Ende unseres »K.d.K.«Vertrages rücken näher. Mit hängender Zunge und knurrendem Magen hetzen wir von einem Auftritt zum nächsten. Taschner hat keine Hemmungen, sich jeden einzelnen bestätigen zu lassen. Möglichst mit beigefügtem Lob. Er klebt alles in ein in braunes Kunstleder gebundenes Buch, das die Aufschrift ›Mein Leben als Hitlerjunge‹ trägt. Er hatte es aus einem Mülleimer gefischt, in den irgendeine ihm gleichgesinnte Seele das Album unbenutzt geworfen hatte. Auf der ersten Seite stand: Für Führer und Volk. Meinem lieben Neffen zur Konfirmation. Tante Elfriede. »Besser als das immer gelber und grauer werdende Papier der Schulkladden«, fand Taschner. »Noch ein paar Minister, und um eine weitere Zurückstellung vom Militär ist mir nicht bange.« »Würden Sie sich die Situation nicht erleichtern, wenn Sie der Partei beiträten?« fragte ihn Norbert Schultze. 131
Taschner ging hoch und schäumte wie eine Kurparkfontäne. »Mich zu dieser braunen Meute bekennen ? Zu diesen —« Trude Hesterberg legte ihm die Hand auf die zischenden Lippen. »Ich meine das doch nur als pro forma«, sagte Schultze freundlich, »und nicht als Gesinnungssymbol. Sehen Sie, ich trag' doch auch so'n Ding, wenn auch vorläufig auf der Innenseite des Jacketts.« Taschner sprang auf und zerrte mich die Stufen des »Groschenkellers« hinauf auf die Straße. »Ab morgen bringen wir die Leip-Lieder wieder in der Zink-Vertonung!« Ich hielt es für ratsam, im Augenblick nicht zu widersprechen. Zwischen der Geburtstagspost war eine mit spröder Knabenschrift geschriebene Karte meines Ältesten: »Ich gratuliere Dir. Hol mich bitte wieder zu Dir, Mami.« Absenderort: Debstedt. Wie kam er nach Debstedt? Malte sein Vater dort? Hatte man ihn etwa in ein Kinderheim gebracht ? Über der beruflichen Unruhe der letzten Monate war ich nicht dazugekommen, ihm zu schreiben. Noch acht Tage bis zum 31. März. Dann war ich frei. »Ich muß dann zuerst mal nach Norddeutschland und nach Björn schauen.« Taschner nickte Einverständnis. Eine Karte aus Ascona von Mendelson. Er schrieb unter dem belanglosen Absender »Hans Hefti«: »Habe letzte Woche Deinen jüngsten Sohn in Aegeri besucht. Bewies mir durch stundenlanges Spielen auf der Blockflöte, daß er traditionsbewußt das musikalische Erbe von Mama und Robert zu ehren und zu kultivieren gedenkt. Wünscht sich zu Ostern ein Schlagzeug. Ich wünsch mir Dich. Bin jetzt Schüler vom in Ascona lebenden Meister des Zwölftonsystems Wladimir Vogel. Kommst Du Dich bald von meinen Fortschritten überzeugen? Ich warte auf Dich.« Ihm wird das weniger schwerfallen als Björn, dachte ich lächelnd. Weitere Glückwünsche, und plötzlich ein düster wirkendes Kuvert mit Hoheitszeichen. »Im Sinne der neuen deutschen Devisenbestimmungen kann Ihrem Antrag auf die monatliche Überweisung von dreihundert Franken an das Kinderheim Aegeri nicht mehr entsprochen werden. Es wird Ihnen nahegelegt, Ihren Sohn in einem deutschen Kinderheim unterzubringen.« Folgten die Namen einiger nationalsozialistischer 132
Ordensburgen mit angeschlossenem Schülerinternat. »Zur Erledigung der Formalitäten stellen Sie Antrag auf Aus- und Rückreisegenehmigung usw. usw.« Ich stellte Wasser für den Geburtstagskaffee auf den Spirituskocher und schob Taschner die Postsachen zu. Er las sie und sagte nichts. Schweigend tranken wir Kaffee und stippten den Streuselkuchen 'rein, den mir das Büfettfräulein im Cafe Leon am Abend zuvor geschenkt hatte. Taschner stand auf und zog seinen Mantel an. »Sie wollen schon gehen?« »Aber nein, ich werde doch diese erhebende Geburtstagsfeier nicht vor der Zeit verlassen. Ich finde dies Veranstaltungslokal nur etwas untertemperiert. Das ist alles.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Wie wäre es, wenn Sie Ihre Heizsonne in Betrieb setzen würden?« Obgleich ich mir den Luxus eines solchen Gerätes inzwischen hätte leisten können, die Zeit durch Haushaltsgeschäfte zu laufen und es zu erstehen, hatte ich nicht. Wenn wir unser Tagespensum an Proben, Besuchen, Vorstellungen, Bus-, U-Bahnfahrten und Herumrennen bewältigt hatten, waren die Geschäfte längst geschlossen. Wie ein Tausendfüßler, dessen Vorderteil kein Gefühl mehr dafür hat, ob die rückwärtige Hälfte noch vorhanden ist, fiel ich aufs Bett, war unfähig zu registrie ren, ob der Raum kalt oder warm war, und versank Sekunden später in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Nach der Vorstellung gingen wir nicht in meinen Wintergarten und nicht in den »Groschenkeller«. »Die Entschlüsse, die Sie fassen müssen, besprechen wir am besten nicht vor fremden Ohren, sondern bei mir. Da ich durch eine gütige Schicksalsfügung in ein Haus geraten bin, das einem Kohlenhändler gehört, kann ich Ihnen eine zentralgeheizte Bude bieten.« »Das ist ja eine ganze Wohnung«, stellte ich überrascht fest. »Es ist«, sagte Taschner, »und der Dame, die sie mir überlassen hat, hab' ich versprochen, sie vor Freund und Feind zu verteidigen, bis sie zurückkommen und sie wieder übernehmen kann. Sie kennen sie übrigens. Sie war Harfenistin bei den Philharmonikern, emigrierte mit ihrer Mutter nach Wien und war eine Zeitlang in Scherchens Musica-Viva-Orchester. Harfenistin, 133
Orchester Musica Viva - wußte er etwas von Mendelson? Kurzer fragender Blick in Taschners Augen. Die Unbefangenheit, mit der er mich anschaute, schien dies auszuschließen. »Hübsch ist es hier. Darf ich?« Ich ging durch das hellblaue Schlafzimmer mit der Rosentapete und den rosa geblümten Vorhängen, schaute in das gelbgekachelte Bad, die weiße Küche und kam zurück ins Wohnzimmer, wo Taschner vier dicke rote Wachskerzen angezündet hatte, auf der Couch lag und in die Flammen starrte. »Wer braucht Sie mehr, Ihr großer oder Ihr kleiner Sohn?« »Der große natürlich.« »Es will sehr, sehr gut überlegt sein, was wir jetzt entscheiden.« Er rückte zur Seite, weil er festgestellt habe, daß man das am besten in der Waagerechten könne. Die Durchblutung der Gehirnzellen sei dann eine bessere als in der Senkrechten. Ich lächelte und legte mich zu ihm. »Zum Eingewöhnen könnte Björn einige Tage mit Ihnen hier wohnen.« »Und Sie?« »Das Angebot ist zwar nicht mehr so groß wie in meinen jungen Jahren, aber irgendwo wird sich schon eine Matratze für mich finden. Zur Not bezieh' ich die in Ihrer Atelierwohnung.« Das wäre ein idealer Tausch, dachte ich entzückt und rang mir die höflichen Worte ab: »Man könnte ja auch zu dritt in dieser Wohnung leben.« Taschner schwieg eine Weile, bevor er aussprach, was ihn anscheinend schon den ganzen Abend hindurch beschäftigte: »Werden Sie denn überhaupt nach Deutschland zurückkehren nach dieser, wie ich fürchte, letzten Chance, in die Schweiz zu kommen ?« Wie gut, daß wir uns bei dieser Frage nicht gegenübersaßen und Taschner meine Verlegenheit sehen konnte. Er hatte ausgesprochen, woran auch ich sofort gedacht hatte, als ich das Schreiben der Devisenbehörde las. »Ich werde doch Sie und Björn nicht hier sitzenlassen.« »Ich hab' mich erkundigt, es gibt in Dahlem ein außerordentlich gutes privates Knabeninternat, das ihn aufnehmen würde. Und daß Sie sich meinetwegen keine Gedanken zu machen brau134
chen, wissen Sie. Ich werde dem Beispiel vieler meiner Kollegen folgen und mich freiwillig zu einem Musikzug der Wehrmacht melden. Eine Trompete oder Tambourin trägt sich leichter als ein Maschinengewehr oder ein Granatwerfer.« Als die Kerzen niedergebrannt und verlöscht waren und der graue Himmel hinter den Fenstern einem violetten wich, stand unser Plan fest: Taschner würde am Montag zum Wehrmeldeamt gehen und ich zur Devisen-Bewirtschaftungs- und zur Paßstelle. Wenn die Anträge bewilligt waren, würde ich meinen Ältesten nach Berlin holen, ihn während der Osterferien bei mir behalten, ihn anschließend nach Dahlem bringen, das Internatsgeld für ein Jahr hinterlegen und in die Schweiz fahren. In dieser Nacht, in der ich Taschner zum erstenmal von Robert erzählte und er mir verschwieg, daß er es längst wußte und respektiert hatte, blieb ich bei ihm und schlief in seinen Armen ein.
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Die Leidenschaft ist stets zwei Schritte schneller als die Vernunft.
Alte Mauern, die die violetten Trauben blühender Glyzinien mit der gleichen verschämten Eitelkeit trugen wie die alten Frauen, die unten am See in der Sonne saßen, ihre fransenbesetzten, bunten Seidentücher. Weißer Glockenturm der SanktPietro-Paul-Kathedrale, leuchtend blaues Zifferblatt, über das sich goldene Zeiger so langsam und zitternd bewegten, als sei das Verrinnen jeder Sekunde, jeder Minute schmerzlich. Gärten, in denen Mimosen, Rhododendren und wilde Rosen dufteten, und auf den Stühlen vor dem Cafe an der Piazza lachende, plaudernde Menschen. »Gehen wir im ›Schiff‹ noch einen Grappa trinken, Wilki?« »Hast du keinen zu Haus -?« »Den Grappa schon, aber nicht die überraschten Gesichter meiner Bekannten, die mich wochenlang an der Seite Wladimir Vogels vegetieren sahen. Wie ist es möglich, werden die Blicke fragen, daß da plötzlich etwas Honiggelbes über den Gotthard geflogen kommt und mit sicherem Bieneninstinkt genau in die Arme des armen Mendelson.« »Wenn in den Gedanken des jungen Künstlers eine Assozia tion zwischen dem emsigen Zusammentragen von Honig und dem von Geldscheinchen besteht, muß ich dich ernüchtern meine ersparten 3500 Franken werde ich morgen persönlich in die Zürcher Kantonale Fremdenpolizei bringen.« »Bist du mir böse, wenn ich diese Idee gar nicht besonders gut finde ? 3500 Franken! Wir könnten Michael holen und hier in Ascona ein halbes Jahr davon leben. Bis dahin hat der Schnauz sicher den geplanten Krieg stattfinden lassen, Freund und Feind sind aufgewacht, haben ihm auf die gierigen Diktatorenhändchen geklopft, ihn als einzigen Insassen auf Lebenszeit in eines seiner KZ gebeten, die Grenzen zum alten, schönen Deutschland wären wieder geöffnet, und die Menschen hätten endlich Zeit, sich auf das zu konzentrieren, wofür sie leben möchten, was für dich und mich bedeuten würde: Theater und Musik.« 136
»Mein Vater hatte unter seinen Passagieren mal eine reizende alte Lady. Amerikanerin, Witwe, keine Kinder. Sie war sechzig, und die Ärzte hatten ihr gesagt, daß ihr ihre kranken Nieren höchstens noch zwei Lebensjahre gönnen würden. Na, dann aber Tempo, sagte sich die Lady, buchte für zwei Jahre Luxuskabinen auf den schönsten Passagierdampfern und weitere Kabinen für ihren Gärtner und ihre langjährige Köchin und schaffte es wirklich, ihr Vermögen in zwei Jahren bis auf den letzten Penny loszusein. ›What's wrong‹, fragte sie entrüstet ihre Ärzte. ›Meine Berechnung stimmte auf den Tag und Pfennig, und Ihre?‹ Die Schiffahrtslinie, für die mein Vater fuhr, behielt sie als Stewardeß an Bord. Sie war nett, fröhlich und seefest und« »— und wenn sie nicht gestorben ist, schwimmt sie heute noch über die sieben Meere.« »— und wenn sie den Prophezeiungen der Ärzte gegenüber genauso skeptisch gewesen wäre wie ich euren bezüglich eines Krieges, von dem ihr nun ja schon seit fünf Jahren sprecht, wäre sie auch klüger gewesen. Mich bedrückt es einfach, Schulden zu haben. Je älter ich werde, desto mehr. Ich seh' das anders als du, vielleicht ist es primitiv, vielleicht oldfashioned, aber ich finde es einfach unfair, Leute, die mir vertrauten, aufsitzen zu lassen.« »Wenn du nicht willst, daß ich mich an der hanseatischen Korrektheit deiner Gedanken erkälte, laß uns bitte in die Wärme die ses schönen Tessiner Frühlingsabends zurückkehren.« Wir gingen über die Pia zza und saßen schweigend vor dem Restaurant »Schiff«. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Roberts Bekannte gingen vorüber, nahmen kaum Notiz von dem zerknickten Etwas, das da neben ihm hockte, oder blieben stehen und sagten ein paar belanglose Worte. Ich polkte an meinen Nägeln, und jeder Schluck Grappa, den ich trank, riß mich tiefer in eine Melancholie, wie ich sie seit Monaten nicht mehr gekannt hatte. Das mir zugedachte Leben hieß eben: durchwetzte Schuhsohlen, erhitztes Gesicht, Gespräche, die Wachheit erforderten, Proben, Vorstellungen, Applaus, Hunger, Müdigkeit und traumloser Schlaf. Der heitere Lago Maggiore war nicht für mich gemacht. Das war heute nicht anders als vor sechs Jahren, als er Valeska und mir von Herrn Widmer zum erstenmal vorgestellt wurde. Es war ein Platz für Sorglose, und es spielte keine Rolle, ob diese Sorglosig137
keit berechtigt oder unbegründet war. »Liebende, die so weit voneinander fort leben müssen und noch dazu in zwei so unterschiedlichen Welten, werden immer einige Tage brauchen, bis ihre Gedanken wieder synchron laufen«, versuchte Robert meine trübsinnigen Gedanken zu verscheuchen. Wir lagen mit Ernst Deutsch, Erwin Kaiser und dem Bühnenbildner Theo Otto am Lido, dem Badestrand Asconas, und ließen uns von der Sonne die winterweiße Haut durchwärmen. Es war der 1. Mai und ein spielfreier Tag, und ich war enttäuscht, daß Kurt Hirschfeld nicht mitgekommen war. Von ihm und seiner Fürsprache bei Direktor Rieser hing es ab, ob ich einen neuen Vertrag und somit eine neue Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz bekommen würde. »Und wenn nicht?« »Dann muß sie am 8. Mai mit ihrem Sohn Michael nach Berlin zurück.« »Grauenhafte Vorstellung«, murmelte Ernst Deutsch, »jetzt so kurz vor Kriegsausbruch.« Ich richtete mich auf. »Daß die Welt kurz vor einem Krieg steht, höre ich nun schon seit sechs Jahren.« »Sie glaubt nicht daran«, jammerte Robert. »Sie hat sich ihre Intelligenz draußen schon völlig braun vernebeln lassen. Singt ja bereits vor Bonzen und Gauleitern.« Man rückte von mir ab, als sei ich eine Aussätzige. »Hast du auch den Hitler schon kennengelernt, und Goebbels, und Göring?« Kaiser sah mich an wie ein Kind die Großmutter, die ihm ein Gruselmärchen erzählen soll. »Bis jetzt haben sie von meiner Existenz noch keine Notiz genommen.« Die Neugier war größer als die Abneigung. »Wie sieht es denn überhaupt aus auf den Berliner Bühnen? Wer spielt, wer inszeniert ?« »Gustaf Gründgens, Heinz Rühmann, Heinrich George, Hans Albers, Eugen Klopfer, Käthe Gold, die Hörbigers, Paula Wessely, Maria Bard, die Koppenhöfer, Kurt Meisel, Hilde Körber.« »Die brauchen uns gar nicht«, unterbrach mich resigniert 138
Ernst Deutsch, »Berlin hatte schon immer ein Überangebot bester Schauspieler. Ist Erich Kästner noch da?« »Er versitzt nach wie vor seine Tage im ›Cafe Leon‹. Seine Bücher dürfen nicht mehr verkauft werden. Neue darf er nicht schreiben. Er beobachtet, und sein Verstand notiert.« »Und die Kollegen, sind sie inzwischen alle in der Partei ?« »Außer George und Klopfer wüßte ich keinen.« »Also ist das nicht Voraussetzung, wenn man beschäftigt werden will?« »Nicht daß ich wüßte.« »Und wieso willst du dann nicht in Berlin bleiben?« Kaiser sah mich an, als sei ich ein Kreuzworträtsel. Mendelson legte seinen Arm um meine Schultern. »Du hast schon gescheitere Fragen gestellt, Kalsi.« Alle schwiegen, und in diesem Schweigen war die schmerzende Sehnsucht aller nach Berlin. Am Spätnachmittag packten wir unser Badezeug ein und fuhren mit den anderen nach Zürich. Mein Visum reichte noch für fünf Tage. Fuhr ich dann fort, und der Krieg, von dem sie alle redeten, brach aus, gab es so schnell kein Zurück zu Robert. Blieb ich bei ihm, mußte die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung - ein Wort, das ich langsam zu hassen begann von irgend jemand Einflußreichem befürwortet werden. Wer blieb mir außer der Schauspielhaus-Direktion? Ob Kuhlmanns inzwischen vielleicht Leute kennengelernt hatten, die helfen konnten ? »Das weißt du nicht?« fragte Robert erstaunt. »Die sind doch selbst vom Devisen-Ausfuhrverbot betroffen. Ich sah deine Schwester und Litta im Januar auf der Bahnhofstraße, beladen mit Kuhglöckchen, Konfekt und Kuckucksuhren, und was man sonst seinen Freunden als Schweizer Souvenir mitbringt. Das Haus in Küsnacht haben sie verkauft, und Kuhlmann war mit dem Mobiliar bereits auf dem Weg nach Deutschland.« Hirschfeld hatte bei Rieser nichts erreichen können. Auch Roberts und mein Aufenthalt im Direktionsbüro erledigte sich in drei Minuten. »Woher nehmen Sie die Einfalt für einen solchen Vorschlag«, die Gläser von Riesers Pincenez und seine Jacketkronen funkelten um die Wette, »bin ich ein Caritas139
Unternehmen ?« Noch zwei Tage. Da die Türen von Roberts Elternhaus für uns verschlossen waren und er in Zürich zu bekannt war, um mit mir in ein Hotel gehen zu können, hatte uns Mendelsons Freund Harald sein Zimmer zur Verfügung gestellt. Aus dem hageren, heiteren Fohlen, das einmal in der Bahnhofstraße um Valeska und mich herumgaloppiert war und mich zu meiner Erstbesteigung von Roberts Auto hatte überreden wollen, war ein gesetzter Hengst geworden, der als Assistenzarzt in würdevoller Gangart durch die psychiatrische Abteilung des Kantonspitals trabte. Als nächtlichen Diskussionsplatz für unsere Probleme behielten Robert und ich aber die Seepromenade bei. Im Gegensatz zu Taschners sympathischer Überzeugung, daß produktive Tätigkeit der Gehirnzellen die Waagerechte voraussetze, schwor Mendelson auf das Gegenteil. Wie gut, daß Frauen anpassungsfähige Wesen sind, dachte ich bei seinen Worten: »Also, ich kann zu entscheidenden Entschlüssen unmöglich zusammengerollt im kleinen Kämmerchen kommen, dazu brauche ich ungebrochenen Blick in die Zukunft und Bewegung in den Beinen.« Am See hatten wir beides, aber die Eingebung blieb aus. Die Lichter vom Stadttheater waren bereits erloschen, die letzten Besucher hatten sich zerstreut, und vom Fraumünster schlug es zwölf durch die vom Gesetz der Zürcher Polizeistunde längst leergefegten Straßen. »Die wahrhaft großen Liebenden hatten es schon immer schwer, zusammenzukommen. Denk an Tristan und Isolde, Hero und Leander, Rudolf und Mimi, und Romeo und Julia. Bei allen steigerte, genau wie bei uns, das Ausmaß der Widerstände die Größe der Liebe. Aber eins haben wir ihnen voraus: wir könnten heiraten, ohne daß Königshäuser aus dem Gleichgewicht kämen, Traditionen verletzt und Kriege heraufbeschworen würden. Im Augenblick, in dem du einem Eidgenossen das diesbezügliche Ja gibst, bist du Schweizerin, und niemand kann dich mehr von meiner Seite reißen.« Auf diese Lösung wäre ich nie gekommen. Das Wort Ehe hatte sich noch nie in unsere Gespräche geschlichen, ganz gleich, wie verliebt und zukunftshungrig sie waren. 140
»Dir gefällt der Vorschlag nicht?« Nachdem er geboren, gönnte Robert seinem Kopf und seinen Beinen Ruhe und hatte sich auf eine Bank gesetzt. »So viel Heroismus dreht mir die Stimme ab.« »Ich sehe in unserer Situation keine Möglichkeit, ihn mir zu ersparen.« Wir lachten, räumten die Seepromenade, krochen in Haralds Bett, blickten durch das geöffnete Fenster in den sternenbestickten Himmel und bemerkten endlich, was andere Liebende längst festgestellt haben durften, daß in der Luft der Duft von Flieder und Jasmin hing — daß es Mai, der Monat der Verliebten, war. Am nächsten Morgen saß ich Hirschfeld in seinem winzigen Schauspielhausbüro gegenüber. »Robert möchte, daß wir in Ascona heiraten. Er ist heute morgen vorausgefahren, um alles vorzubereiten. Und dich und Kaiser möchten wir bitten, unsere Trauzeugen zu sein.« Hirschfeld starrte an mir vorbei die Gipsbüste Herrn von Goethes an, als sähe er sie zum erstenmal. Er wandte den Blick auch nicht vom Dichter ab, als er sagte: »Bist du dir im klaren darüber, was es bedeutet, in dieser Zeit einen jüdischen Namen zu tragen und daß du und deine Kinder, solange es einen Hitler gibt, nicht nur nicht nach Deutschland zurückkehren könnt, sondern euch freiwillig in den Flüchtlingsstrom der Verfolgten und Gehaßten begebt? Wer garantiert uns, daß dieser Mensch, wenn er sein Militär und seine Generale einsatzbereit hat, neutrale Grenzen respektiert? Hast du mal die Zeitung ›Stürmer‹ gelesen? Tu es. Dann weißt du, was auf nichtarische Menschen zukommt.« Hagel und Eiskörner schmerzen hinter den Schläfen, in der Brust. Versuch, die Hände auf die Ohren zu legen, mißlingt. Bin unfähig, aufzustehen und wegzulaufen. »Überleg es dir bis morgen, Wilki. Die Leidenschaft ist immer zwei Schritte schneller als die Vernunft. Ich werde auf alle Fälle nach Ascona fahren und auch Robert vor einem unüberlegten Entschluß warnen.« »Vergiß nicht, ihm zu sagen, daß ich auf sein Angebot zurückkomme.« Mein Lächeln mißlang, und ich fühlte, daß die Chance, legitim an Roberts Seite zu bleiben, fürs erste, wenn nicht für immer, dahin war. 141
Das Alpenveilchen Damit ich was Grünes im Zimmer habe, da mir roter Plüsch nicht gefällt, hätt' sie, damit es mein Auge erlabe, ein Alpenveilchen ins Fenster gestellt. Die Wirtin sprach's und ging hinaus und ließ mich mit der Pflanze allein. Aus den Blättern sah eine Knospe heraus blaßrosa, erstaunt, und sehr klein. Sie sah wie ich hinter den Gardinen die hohen Häuser und fernen Himmel. Autogewirr, Drähte, Menschen und Schienen und einen pensionsberechtigten Schimmel. Und plötzlich hör' ich es leise fragen als spräche ein blutarmes Kind: Pardon, können Sie mir vielleicht sagen, wo hier - die Alpen sind ? Taschner war von seinem militärischen Schnellkurs bei der Potsdamer Militärkapelle vorübergehend beurlaubt worden und hatte für die Sommermonate 1939 eine Seebäder-Tournee zusammengestellt, für die er tischgroße Plakate anfertigen ließ, mit dem tomatenroten Aufdruck: »Lale Andersen vom Berliner Kabarett der Komiker, der umjubelte junge Electrola -Star.« »Muß das sein? Es ist doch erst eine Platte erschienen - und wieso Star - ich bin doch noch kein Star.« »Die Mitwelt davon zu überzeugen, überlaß getrost mir.« »Aber gib nachher nicht mir die Schuld, wenn deine Rechnung nicht aufgeht.« »Sie wird.« Wie gleichgültig mir das inzwischen alles geworden war. Der Gedanke an meinen auf Eis gelegten Brautwerber hatte auch mein Herz zu einem Eisklumpen gemacht. Mit grauem Aschermittwochgesicht lebte ich an den Dingen vorbei, über die Taschner und die Kinder sich freuten. Muscheln suchen, Burgen bauen, schwimmen, müde in den Strandkorb kriechen, lesen, sonnen, statt Internatsessen Limonade aus dem Strohhalm sau142
gen und Lakritzen auf den Handrücken pappen und wegschlekken. Natürlich sind die Kinder hier glücklicher als in der Schweiz zwischen der verängstigten, geduldeten, fluchtbereiten Schar der emigrierten Kinder, versuchte ich, mich vor mir selbst zu rehabilitieren. Es mißlang genauso wie der Versuch, mich von dem Brief trösten zu lassen, den Mendelson mir aus Ascona geschrieben hatte: »Hirschi als Ersatzbraut kein Erfolg. Hoffentlich danken Dir Deine Söhne, wofür dankbar zu sein ich mich trotz Hirschis Zureden augenblicklich noch nicht aufraffen kann. Mendelson.« Nach den Sommerferien brachten wir die Kinder ins Internat nach Dahlem. »Ich freu' mich über euren Besuch«, sagte der Heimleiter, der so aussah, wie der alte Fritz ausgesehen haben muß, als er noch jung war, und reichte zuerst Michael die Hand. »Wir werden alles tun, damit es dir bei uns gefällt, denn deine Mama erzählte uns, daß du in einem Schweizer Internat warst, in dem du dich sehr wohl gefühlt hast.« »Schon«, sagte Michael und blickte auf den Spielplatz, der zwischen hohen, grünen Bäumen unter dem Fenster lag, »aber in Aegeri war ich nun lange genug.« »Und nach deiner Mama wirst du auch keine Sehnsucht haben?« Michael blickte vorsichtig zu mir herüber. »Ach, die ist immer so unrastig«, sagte er leise, und lauter: »— kann ich jetzt zu den Jungs auf den Spielplatz gehen?« »Willst du nicht auf deinen Bruder warten ?« fragte lächelnd der Heimleiter. »Ich bleib' noch hier«, nahm Björn ihm die Antwort ab und preßte meine Hand. »Kommst du mich sofort abholen, wenn es mir hier nicht gefällt?« »So lange brauchst du gar nicht zu warten«, versuchte ich ihm den Abschied zu erleichtern, »ich suche uns jetzt eine Wohnung in Berlin und bitte Großmama, zu uns zu kommen und für uns zu sorgen und zu kochen, und dann bleiben wir immer zusammen.« »Willst du das wirklich riskieren ?« fragte Taschner, .als wir in 143
der Stadtbahn saßen und nach Halensee zurückfuhren. Ich wollte. Meine Schulden in der Schweiz waren bezahlt. In Berlin gab es, auch wenn wir nicht im »K. d. K.« beschäftigt waren, genügend Möglichkeiten, das Geld zu verdienen, das ein Familienvorstand, wie Taschner mich manchmal spöttisch nannte, am Ersten für Miete, Speisezettel, Garderobe und Schulgeld benötigte. Da war der Schallplattenvertrag, waren Rollen in HörfunkInszenierungen, gab es Hausfrauennachmittage, die die großen Berliner Zeitungen im Titania -Palast in Steglitz und im Prälaten in Schöneberg für ihre weiblichen Abonnenten veranstalteten und, sobald uns eine neue Idee für eine Sendung eingefallen war, Auftritte in »Taschners Festsälen«, den Paul-Nipkow-Studios. Die Zeit der Geldmisere schien endgültig vorbei. Wenn vorm Einschlafen meine Gedanken über das braune Deutschland und die schneeblauen Alpen zu Mendelson abirrten, schien mir der Einsatz dafür zu hoch. Dachte ich an den Gnadenhafer, den ich wie ein kaum verwendbarer Gaul weiterhin vom Zürcher Schauspielhaus hätte erbitten müssen, war ich glücklich über meinen Entschluß, nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. Und dann, an einem heißen Spätsommertag wurden die jahrelangen, düsteren Prophezeiungen Roberts und der emigrierten Kollegen Wirklichkeit, sozusagen aus heiterem Himmel. Die Septembersonne saß in einer Schaukel aus Lämmerwölkchen, und die Luftbewegung der hin und her schwebenden liebkoste sanft das gelb und rot gefärbte Laub der Bäume. Und unter die sem strahlend blauen Himmel rollten Panzer und Geschütze in Polen ein, zermalmten Kornfelder und sich ihnen entgegenstellende Bauern und Bürger. Hitler hatte Hunderttausende von jungen und alten Männern zu Soldaten gemacht. Sie zu Helden zu machen, war ihm nicht geglückt. Sie kämpften und töteten nicht aus Überzeugung, warum sollten sie. Niemand hatte ihnen etwas genommen, niemand ihre Ehre verletzt. Die Juden, auf die die Hitler-Ideologie den Haß der Deutschen angesetzt hatte, waren verschwunden. Man hatte Angst zu fragen, wie und wohin. Die Programme der Rundfunkanstalten bestanden aus Marschmusik und den Siegesmeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht. Er144
kennungsmelodie : Fanfaren mit dem Lisztschen Prelude. »Wenn der wüßte, wozu man seine Musik mißbraucht«, knurrte Taschner. Die Suche nach einer Wohnung hatten wir aufgegeben. Wohnraum wurde nicht mehr vermietet, sondern registriert. Reichsmarschall Hermann Göring, der aussah wie ein von vielen ordenbehangenen Schnüren zusammengehaltener Fesselballon, verkündete zwar, daß niemals ein feindliches Flugzeug deutsches Hoheitsgebiet überfliegen würde, aber der Berliner Oberbürgermeister Julius Lippert und sein Generalbauinspektor Speer wagten Widerstand, befahlen den Bau von Luftschutzbunkern und Luftschutzkellern und ließen allen (noch) vorhandenen Wohnraum in weiser Voraussicht erfassen. Es dauerte denn auch nicht lange, bis man mehr und mehr zusammenrücken und ihn mit ausgebombten Familien teilen mußte. Glücklicherweise waren die Kinder gern in Dahlem. Es gab keinen Zwang, der Hitlerjugend beizutreten, die Schulaufgaben konnte, wer wollte, nachmittags an den langen Tischen unter den Bäumen machen, und der Erziehung zu Selbständigkeit und eigener Initiative wurde im Lehrplan genauso viel Platz eingeräumt wie dem Unterricht in modernen Sprachen, Geschichte, Physik und anderen Fächern, deren Beherrschung für eine Generation, die zwischen Diktatur und Kriegen heranwuchs, wichtiger war als konventionelles Wissen. Der Heimleiter, Herr v. Trotha, war mit seinen Schülern tagelang in Omnibussen, Tram und Stadt- und U-Bahn durch Berlin gefahren, um sie verkehrssicher und ihnen die Geografie der Stadt verständlich zu machen. Unser Familienleben fand sonntags statt. Bei schönem Wetter fuhr ich nach Dahlem, und wir gingen in den märkischen Kiefernwäldern spazieren oder mieteten ein Boot und schaukelten über den Wannsee. Regnete es, kamen die Kinder in die Stadt, ich besorgte Kuchen und kochte Kakao oder lud meine Söhne ins Kino ein. Inzwischen waren zwar alle Lebensmittel und andere lebensnotwendige Kleinigkeiten, wie Nähgarn, Seife, Wäsche, Schuhe, Kleider und Tabak rationiert, aber da ich nicht rauchte und die Raucherkarten einen besonders guten Tauschkurs hatten, glückten mir zum Entzücken der Kinder immer wieder Sonntagsüberraschungen in Form von 145
Obst oder einer Packung Keks. Der Abschied fand ohne Sentiment und Tränen statt, eine Tatsache, die mich besonders im Hinblick auf die Sensibilität meines Ältesten erstaunte. Obwohl sich das Kriegsgeschehen noch weit fort von Berlin abspielte, fühlte man im Winter 1940 die Angst, die Trauer und den Geruch von Brand und Blut ständig näherkriechen. Ich hatte Taschner nie an einem anderen Instrument gesehen als am Klavier. »Gehört denn auch ein Klavier zu einem Musikzug, oder spielst du noch etwas anderes ?« »Schellenbaum. Aber ich möchte wieder an den Flügel zurück. Könntest du dich nicht um Verträge zur Lazarett-Betreuung oder für eine Wehrmachts-Tournee bemühen ? Dann wären wir wieder zusammen.« Taschner hatte gebadet und saß mir mit angeklatschten Haaren und in seinem Bademantel, der einst himmelblau gewesen war und inzwischen die verschlissene Farbe eines Spültuches hatte, gegenüber. Er zog seine Armbanduhr auf. Zum Zapfenstreich mußte er wieder in der Kaserne sein. Der aggressive Junge aus der Provinz hatte seine Krallen abgewetzt und gab seinen bissigen Spott nur noch flüsternd weiter. Er war nicht Held genug, seinem Abscheu gegen Hitler und dessen blutige Diktatur den Kopf zu opfern, und nicht feige genug, kleiner Vorteile wegen der Partei beizutreten. Es war für mich kein Grund, ihn zu verachten. Millionen Männer dachten wie er. »Wohin muß ich gehen wegen der Lazarett-Betreuung?« Merkwürdig, wie wenig mir von der Selbständigkeit geblieben war, die mich während der Jahre mit dem Maler und mit Mendelson ohne langes Zögern Entschlüsse fassen ließ. Seit dem Tag, an dem ich Taschner begegnet war, hatte er mir die Initiative abgenommen, und mein anfänglicher Widerstand war dem wohligen Entspanntsein gewichen, das ein Stafettenläufer empfindet, wenn er keuchend den Stab an den nächsten weitergibt, den Schritt verlangsamt und in angenehmer Apathie den Anstrengungen seines Team-Gefährten zusieht. Ich ließ die Verdunklungs-Rollos, häßliche schwarze Papierquadrate, herunter, befestigte die ausgeleierten Stellen mit Reiß zwecken am Fensterrahmen, damit der Luftschutzwart nicht 146
wieder mit »Heil Hitler« und »Sie lernen es wohl nie« in die Wohnung drängte, steckte die Wachskerzen-Zuteilung an, drehte den Strom ab, um das erlaubte monatliche Soll nicht zu überziehen, kramte aus meiner Geheimschatulle eine Zigarette heraus, steckte sie Taschner zwischen die Lippen und zog meinen Stuhl neben seinen. Ich hatte viele Kollegen in Berlin, aber nur einen Freund. Der Gedanke daran, ihn an die Kaserne oder an den Krieg zu verlieren, machte mich klein und zaghaft. »Wie alt bist du jetzt?« fragte Taschner und richtete mit dem Zeigefinger den sich neigenden Kerzendocht auf. »Ich? Wie alt ich bin?« wiederholte ich in dämlicher Verlegenheit seine Frage. »Wie kommst du darauf?« »Also doch noch feminine Eigenschaften«, Taschner lächelte, »ich schätze, Ende Zwanzig. Das ist das Alter, von dem man in normalen Zeiten schrieb: Die Künstlerin steht im Zenit ihres Ruhmes. Unter einer Diktatur kommt nur der zu Ruhm, der diese Diktatur anerkennt. Also wirst du auf ihn verzichten müssen.« »Mit meinem Los, zur Mittelklasse gehören zu müssen, hab' ich mich längst abgefunden.« Ich schob meinen Arm durch Taschners ausgefransten Bademantel. Wie weit das zurücklag, daß wir zur illuminierten Heidelberger Schloßruine hinaufschauten, den lichterfunkelnden Kurfürstendamm entla ngschlenderten, die Weihnachtsauslagen am Hamburger Jungfernstieg bestaunten. »Ob das mal wiederkommt, Abende, die nicht wie dunkler Morast sind?« »Es kommt. Und die Generation, die uns folgt, wird es als selbstverständlich hinnehmen.« Ich hatte schon als Kind die Dunkelheit gefürchtet, gezittert, wenn ich Kohlen aus dem Keller holen mußte, und laute Schreie ausgestoßen, um die flackernden Gespenster, die das Kerzenlicht an die Wände warf, zu erschrecken und zu verjagen, bevor sie mich packten. Wenn meine Mutter mich vorm Schlafengehen noch schnell durch winterliche Straßen zum Briefkasten schickte, unterhielt ich mich laut mit dem Schutzengel, von dem meine Tante Helene behauptete, daß er mich immer begleite. Erwartete dennoch beim Anheben der Klappe, daß eine Schlange aus dem Briefkasten herausschnellen würde, warf die Post zitternd ein und rannte, überzeugt davon, 147
ein schwarzer Bär oder ein Löwe verfolge mich und meinen Schutzgeist, zu unserem Haus zurück. Der Schutzengel war wie die Kinderjahre im bla uen Rauch der Vergangenheit versunken. Taschner entsprach zwar nicht den Vorstellungen, die man von einem Engel hatte, erschien mir aber dennoch als dessen Wachablösung. Ohne ihn würde die düstere Welt noch dunkler werden. Ich ließ mir erklären, wohin ich gehen solle, um uns für eine Wehrmachts-Tournee zu melden. »Ob ich das schaffe? Könnten wir es nicht zu zweit versuchen ? Gleich morgen früh nach dem Aufstehen ?« Taschner sah mich an wie jemanden, der im Schnee Ostereier suchen will. »Was kann denn schon passieren, wenn du heute nacht statt in der Kaserne zu Hause schläfst? Wir könnten doch mit deinem Vorgesetzten telefonieren und sagen, was wir vorhaben.« Taschner warf sich stöhnend aufs Bett und ächzte Unverständliches wie »Infantilismus«, »strafwürdige Dämlichkeit« und ähnliches. Herr Müller hatte wie allabendlich seine Heizung vorschriftsmäßig heruntergedreht. Die Kerzen begannen zu kokein und im restlichen Stearin zu ersaufen. »Hast du Verständnis dafür, wenn mich diese Umstände zwingen, zu dir ins Bett zu kriechen?« Taschner rückte zur Seite. Im Frühjahr 1941 bekamen wir unsere Marschbefehle, ReiseLebensmittelkarten für Brot, Margarine, Fleisch und Büchsenmilch, Spinnstoffmarken für ein Auftrittskleid und einen Anzug und einen Akkordeonspieler für Unterkünfte und Säle, in denen kein Klavier vorhanden war. »Wegen des maritimen Charakters Ihrer Darbietungen haben wir Sie für eine Front-Tournee bei der Kriegsmarine eingeplant«, stand in einem dem Marschbefehl beigefügten Brief. »Marine ist gut. Marine ist, wie man mir erzählt hat, eine norddeutsche Trachtengruppe, die den Feind solange unterhält, bis die Luftwaffe eintrifft«, grinste Taschner. Als erster Einsatzort war Kiel angegeben, dann folgten Lübeck, Fredericia, Oslo, Saint Nazaire, Brest, Bordeaux und Toulouse. Die Kollegen im »K. d. K.«, Herr Müller, bei dem wir uns abmelden mußten, die Lehrer in Dahlem - alle bestaunten uns wie Fabelwesen, denen sich die Türen zum Paradies geöffnet hatten. Und von 148
allen nahmen wir Zettelchen mit geheimen Wünschen entgegen, die wir in der Euphorie des Augenblicks zu erfüllen versprachen: Eine Tafel dänische Schokolade, Strickwolle für ein Babyjäckchen, Chanel fünf, ein Päckchen van Houten-Kakao, ein Stückchen französische Badeseife. Wir fuhren, aneinandergeklebt wie Weihnachtsdatteln, in einem überfüllten Wehrmachts-Transportzug mit dem gleichen Hochgefühl unserem Ziel entgegen, wie unsere Eltern und Großeltern nach Karlsbad, Venedig oder Monte Carlo gefahren waren. Taschner, dessen Reisepläne ins Ausland der Krieg gestoppt hatte und der noch nie die deutsche Grenze hinter sich gelassen hatte, blätterte mit angestrengter Stirn in skandinavischen und französischen Wörterbüchern. In Kiel und Lübeck fanden die Vorstellungen in den Offiziersmessen der Kriegsschiffe statt. Applaus, Kutterroller, der bei der Marine trampelnde Füße, dreimal im Takt zusammengeschlagene Handflächen und Abpfiff bedeutete Bilder verteilen und beschreiben, die sich im Spind zu Fotos von Fräulein Braut, Marika Rökk und Ilse Werner gesellten, Blumen, Handkuß der Offiziere. Schwierigkeiten gab es nur bei Erkundigungen nach der Damen-Toilette. »Drei Mann auf dem B-Deck Örtlichkeit freimachen, Wache bis gnä' Frau herauskommt und Örtlichkeit wieder freigeben.« Dänemark. In den Hotels schneeweiß bezogene Betten, Märchenfrühstück mit Bohnenkaffee, Sahne, lockerem Gebäck und goldgelber Butter. Dank gemischt mit Schuldgefühl. Norwegen. Vorstellung in Unterständen der Flak. Taschner mußte die Begleitung Herrn Krause und seinem Akkordeon überlassen. Es war schwer auszumachen, wer darunter mehr litt, die Zuhörer, Taschner, ich oder Krause selbst. »Ob ich in solchen Fällen nicht lieber Gedichte aufsage?« fragte ich Taschner nach einem der ergebnislosen Versuche, mich wenigstens irgendwo in der Melodie oder im Rhythmus mit Krause zu treffen. »Wer ist denn bloß auf die Idee gekommen, Sie seien ein Musiker?« zischte Taschner. Krauses Kopf versank in hochgezogenen Schultern. Mit dem rechten Zeigefinger tippte er an sein ständig zuckendes, rechtes Augenlid. »Ich wurde gar nicht gefragt. Im Lazarett hatten wir ein kleines Kammermusik-Orchester, in dem 149
ich Cello spielte. Der Beckendurchschuß war fast ausgeheilt, als der U. v. D. alle vortreten ließ, die Akkordeon spielen können. Ich hatte mir das gar nicht so schwer vorgestellt und meldete mich. Ich war der einzige. Ehrlichkeit hätte neuen Fronteinsatz bedeutet.« Unsere Empörung wich, wenn auch ungern, Verständnis. »Was sind Sie denn hauptberuflich ?« fragte Taschner. »Astrologe.« »Auch das noch.« »Ja«, gab Herr Krause zu, »das meinte der Unteroffizier auch. Aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte - könnten Sie Ihre Lieder nicht in C- oder G-Dur singen? Diesen Tonarten könnte ich mich leichter anpassen.« Welch verzweifelte Oktavsprünge meinen Stimmbändern durch diese Lösung abverlangt wurden, fragte er nicht. Sie irrten auf der Tonleiter hin und her und wurden durch den begrenzten Umfang meiner Stimme in Höhe und Tiefe so abrupt gestoppt wie auf dem Rummelplatz die Gondeln einer Geisterbahn. Unsere Stimmung war grau wie der riesige Hotelkasten, in dem wir in Oslo wohnten. Grau wie die abweisenden, feindlichen Gesichter der von Hitler überrumpelten Norweger und grau wie die deutschen Kriegsschiffe und Zerstörer, die im Hafen lagen. Das einzige Rot in diesem Grau war die Farbe der Hummer, die uns allabendlich nach dem Auftritt serviert wurden. Vom vierten Abend an lagen sie wie Granitstücke im widerstrebenden Magen. »Gibt es hier denn nichts außer Schalentieren?« stöhnte Taschner. »Stockfisch«, war die bedauernde Antwort eines jungen Leutnants. »Schlimmer kann es auf alle Fälle nicht mehr kommen«, versuchte uns auf der Reise nach Brest Herr Krause aufzumuntern, »mein Horoskop zeigt ab Mitte April 1941 eine außerordentlich günstige Konstellation, was Reisen und Beruf anbelangt. Und da uns die Sterne zu einer Dreieinigkeit gemacht haben, dürfte dies auch auf Sie zutreffen.« Die Konstellation war wohl für Friedenszeiten gedacht. Kaum in Brest angekommen, heulten Dutzende von Sirenen auf und beendeten vorzeitig die uns zugedachte Empfangs-Zeremonie. 150
Den Blumenstrauß, den mir zwei ordenübersäte Marineoffiziere überreicht hatten, in der einen, die Segeltuchhülle mit dem Marschbefehl, in den Ankunftszeit und Einsatzort eingetragen werden mußten, in der anderen Hand, rannten wir hinter den Offizieren her in den nächstgelegenen Luftschutzbunker. Er lag unter einer Küstenflak-Abwehrbatterie neben der Hafeneinfahrt, und die feindlichen Bomber schien dies Ziel vorrangig zu interessieren. Die Erde bebte, die zusammengepferchten Menschen, die man in dem finsteren Betonloch nicht sehen konnte, schwitzten und stöhnten. Herr Krause war uns bei der Hast, ins schützende Loch zu kommen, verlorengegangen. Taschner fühlte ich neben mir. Der Höllenlärm dauerte, wie uns schien, die halbe Nacht. Nahezu taub, hustend und mit schmerzenden Knien und Füßen, krochen wir zu den Klängen der Entwarnung ins Freie und waren dankbar, daß man uns in ein Hotel fuhr, in dem ein Bett und ein Abendessen bereitstanden. Der Wirt servie rte eine kräftig duftende Bouillabaisse, knuspriges Weiß brot und einen würzigen Rose. Auch Herr Krause hatte sich wieder eingefunden, rief, um die Stimmung auf den Höhepunkt zu treiben, »es ist ein Piano vorhanden« und gab sich leiblichen Freuden hin. »Haben Sie das hier öfter?« fragte Taschner den Patron. »Seit vierzehn Tagen fast täglich. Aber noch nie einen so heftigen Angriff wie heute.« »Um der günstigen Konstellation unserer Sternzeichen gerecht zu werden, mußte das sein.« Herr Krause quittierte Taschners bissige Bemerkung mit mildem Lächeln. »Sind Sie nicht wohlbehalten der Gefahr entronnen? Schreiben Sie Ihre genauen Geburtsdaten auf, und ich werde mich in den nächsten Tagen damit beschäftigen und Ihnen beiden ein Horoskop für die nächsten Wochen stellen.« »Nur als Zeitvertreib für Sie gedacht«, murmelte Taschner, als er ihm am nächsten Vormittag einen Zettel überreichte. »Wir sind keine Spökenkieker und glauben nicht an so mittelalterlichen Humbug wie Sterndeuterei.« Auch über Saint Nazaire hing ein kriegsdunkler Himmel, stürzten Fliegergeschwader aufeinander los, heulten die Sirenen Warnung, Entwarnung und wieder Luftwarnung, dröhnten aus 151
den Lautsprechern Liszt-Prelude, Siegesmeldungen. Niedergeprasselt vom Bellen der schweren Flak-Geschütze, begannen wir in einem Kinosaal dreimal mit unserem Programm, brachen ab, liefen in Luftschutzbunker, liefen zurück ins Kino, kamen bis zum vierten Lied und stürzten von neuem in ein Schutzloch. Bordeaux. Der Krieg schien weit fort. Marktplatz unter blauem Vorfrühlingshimmel, Frauen in bäuerlichen Kleidern, die Gemüse, Obst und Blumen verkauften. Vor den Bistros Männer, deren Popo auf den winzigen Sitzen strohgeflochtener Stühle nur halbseitig Platz fand. Türen aus langen Glasperlenschnüren, die raschelten und klirrten, wenn die Kellnerin ins Freie kam, auf dem Tablett Gläser mit grünem Absinth, irdene Schalen mit schwarzem Kaffee und Teller voller Brioches und Croissants. »Na, dann machense erst mal zwei, drei Tage halblang«, sagte der Kapitänleutnant mit dem jungen Gesicht und den weißen Haaren, als wir ihm unseren Marschbefehl überreichten, und fügte in leichtem Spott hinzu: »Sie kommen ja mitten aus dem Großeinsatz. Unangenehme Ecke, die Kanalküste. Fürchte, auch wir werden in den nächsten Tagen hier abgezogen und zur Verstärkung in die Normandie geworfen.« »Haben Sie das gehört ?« sagte Herr Krause beim Abendessen und bat mit dem angefeuchteten Zeigefinger sein aufgeregtes Augenlid zur Ruhe. »Seien Sie bloß wachsam, daß wir hier nicht hängenbleiben, wenn das Militär abzieht. Wir wären dann schutzlos dem Feind ausgeliefert. Ich muß mich laut Marschbefehl sowieso bis zum 1. Juni in Berlin zurückmelden.« »Nach Ihrem Marschbefehl oder Ihrem Horoskop?« spottete Taschner. »A propos Horoskop«, Herr Krause zog aus seiner Notenmappe bekritzeltes Kleinkariertes, wechselte die weitsichtige gegen die kurzsichtige Brille und sah mich an wie ein General, der im Begriff ist, einen Gefreiten zum Ritter der Ehrenlegion zu schlagen. »Ganz groß«, begann er so feierlich, daß ich nahe daran war, aufzustehen und Haltung anzunehmen. »Noch in diesem Jahr beginnt für Sie die ganz große internationale Karriere.« Taschner warf mir einen vielsagenden Blick zu. Das rundherum 152
von empörten Gegnern eingeschlossene Deutschland ist ja auch der ideale Platz, um zu internationalem Ruhm zu kommen, schien er zu denken. Herrn Krauses Blick löste mich aus der Wirtsstube und hob mich auf das Dach der Bonne Auberge. Mir war nicht besonders wohl dabei. Bei seinen nächsten Worten bat er mich aber bereits auf die Erde zurück. Sein Gesicht verdüsterte sich. »Gefahr«, brüllte und wiederholte er so laut, daß mir der Löffel aus der Hand und in die Tomatensuppe fiel und der Patron besorgt herbeieilte. »Hier sehe ich Gefahr. Man mißgönnt Ihnen Ihren Erfolg. Haß und Intrigen bringen Sie in die Nähe des Todes.« »So, nun langt es«, beendete Taschner die Sterndeuterei, »wenn Ihre Beleuchtungskörper sich geeinigt haben, ob der Andersen nun Himmel oder Hölle zugedacht sind, dürfen Sie auf das Thema zurückkommen. Wie wäre es, wenn Sie inzwischen Ihre Zeit statt mit Astrologie mit Akkordeon-Übungen verbringen würden.« Das dumpfe Grollen in Taschners Stimme ließ Herrn Krause verstummen. »Bon appetit«, murmelte er gekränkt, »dann dürfte Sie Ihr eigenes Horoskop wohl auch nicht interessieren ?« »Wie recht Sie haben.« Die Uhrzeiger an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zeigten auf halb fünf. Wir hatten unsere Koffer in der Gepäckaufbewahrung vom Bahnhof Zoo abgegeben und schlenderten durch den warmen Sommernachmittag über den Kurfürstendamm. Taschner machte ein paarmal den Versuch, auszusprechen, was er beim Wiedersehen mit dem heilen, geschäftigen, sonnenbeschienenen Berlin empfand, aber es blieb bei einem einleitenden Räuspern. Ich schob meinen Arm durch seinen und gab mit wackliger Stimme zu: »Mir geht's genauso.« Unter den Sonnenmarkisen vor dem »Romanischen Cafe« saßen Mädchen in hellen Kleidern, während ihre Freunde, wohl weniger mode- als zeitbedingt, überwiegend Graugrün trugen. »Een Pilsna, eene Schoko mit?« fragte der grauhaarige Emil, als habe er uns am Vortag zuletzt bedient, fuhr mit der Serviette über die Tischplatte und wieselte zur Ausgabe. »Een Pilsna, eene Schoko ohne - mit is nich mehr.« Er lächelte, 153
nahm die Getränke vom Tablett und sah mich an. »Nich, det ick ma nich freu, Frollein Andersen, aber lange dürfense nich wechbleiben von Belgrad, sonst fehlt ja abends det Beste vom Tach, Ihr Lili-Marleen-Lied.« Längeres Aneinandervorbeireden. Wir waren auf Fronttournee im Westen, die ganze Küste entlang, von Oslo bis Bordeaux. Sollte das aus Belgrad vielleicht eine Schallplatte sein, ja, auf Platte hab' ich ›Lili Marleen‹ 1939 aufgenommen. Von den Nebentischen blickten drei junge Krankenschwestern herüber, standen auf, legten Notizblock und Ausweiskarten auf den Tisch. »Schreiben Sie bitte nicht Lale Andersen drauf, sondern Lili Marleen.« Ich schrieb es noch auf hundert weitere beschreibbare Dinge. »Darf ich an die Verdunklung erinnern«, erlöste mich die mahnende Stimme des Kellerns. »Wennse noch nach Haus finden wollen, wird's Zeit.« Wir holten die Koffer, fuhren mit dem Einser bis zum Fehrbelliner Platz und fanden an Taschners Wohnungstür in der Cicerostraße eine weitere Überraschung. Sie ließ sich nicht öffnen. Irgend etwas stemmte von innen dagegen. Taschner entdeckte über unseren Namensschildern einen Zettel: »Bitten dringend, nach Ankunft sofort Ihre Post von uns abzuholen. Aufnahme-Volumen unserer guten Stube schon weit überschritten. Ihr Kohlenmaxe.« Diesem gelang es denn auch, dank seines breiten Kreuzes, die Briefe, die unsere Tür blockierten, zurückzuschieben. Verzweifelt blickte ich auf die Papierschwemme. Wie sollte ich daraus Mendelsons Antwort auf meine Briefe herausfinden, die ich ihm in der Hoffnung geschrieben hatte, daß aus Frankreich Post unzensiert in die Schweiz gelangte. »Fast alle an ›Lili Marleen, Sender Belgrad‹ adressiert und durch Feldpost hierher weitergeleitet. Aber auch viele ›Prisonerof-War‹-Absender«, stellte Taschner fest. »Ich fürchte, du wirst dich morgen früh erst mal um einen Bezugschein für zehntausend Autogrammkarten anstellen müssen und um die Zuteilung einer größeren Wohnung, in der du Platz hast, die Gebirgsjäger, U-Boot-Besatzungen und Fallschirmtruppen zu empfangen, die auf ihrem nächsten Heimaturlaub Lili Marleen persönlich kennenlernen wollen und dir ihren Besuch avisieren. Bist du ein154
verstanden, wenn ich noch schnell in den Auslands-Presseclub oder, wie das offiziell heißt: ›Deutscher Auslands-Club‹ fahre und dort ergründe, was hier eigentlich läuft ?« »Das hätte ich Ihnen auch sagen können«, rief Kohlenmaxe ihm nach. Wie ein Schneepflug die winterliche Paßstraße, hatte er mit Handfeger und Küchenblech die Briefe links und rechts beiseite geschoben und einen kleinen, begehbaren Pfad freigemacht, auf dem er unsere Koffer ins Wohnzimmer trug. »Auf ihren immer ausgedehnteren Besuchen in den Ländern rund um Deutschland herum«, begann er dann mit einer Routine, als sei er gelernter Rundfunkreporter, »sind die deutschen Truppen inzwischen auch nach Serbien gekommen. Sie besetzten den Sender Belgrad, und ein paar PK-Jungs, im Zivilberuf größtenteils Journalisten und Musiker, bekamen den Auftrag, für die Truppen der Balkanländer ein deutsches Programm zusammenzustellen und zu senden. Darf man hie r rauchen?« Ich saß ihm gegenüber und sah zu, wie er mit seinen dicken Fingern geschickt eine Zigarette drehte, drei, vier Züge schweigend genoß, den Rest ausdrückte und liebevoll in die Schachtel zurücklegte. »Zweites Drittel nach dem Abendbrot, letztes zum Nachtgebet. - Ja, und weil sich in Belgrad nur Nahöstliches im Plattenarchiv fand, flogen ein Leutnant und zwei Soldaten nach Wien, um im dortigen Sender deutschsprachige Platten zu schnorren. Man überließ ihnen gnädig zwei verstaubte Kisten, die im Keller standen und abgespieltes und aussortiertes Material enthielten. Und dazu gehörte auch Lalekens Aufnahme von ›Lili Marleen‹.« »Ob es die Worte ›Kaserne, Laterne‹ waren«, beendete Taschner, als er kurz vor Mitternacht aus dem Club zurückkam, die seltsame Geschichte, »oder die Musik oder deine Stimme, die ein Franzose im Club mit ›la voix humaine‹ bezeichnete - jedenfalls gab es in Belgrad, als man die Platte, die man zwei Wochen hindurch fast täglich in den Äther geschickt hatte, absetzte, weil sie zu rauschen begann wie ein warmer Landregen, Protest. Protest in Dutzenden von Anrufen und Tausenden von Briefen. Belgrad erbat von deiner Plattenfirma in Berlin Nachschub, und Leutnant Reintgen, der den Sender leitete, schlug vor, die Platte so oft zu senden, bis sie den Hörern zum Alpdruck und ihr 155
Protest sich ins Gegenteil verwandeln würde, nämlich in Drohungen, den Sender in die Luft zu sprengen, wenn das Lied nicht endlich aus dem Programm verschwände. Aber, um mit Krause zu sprechen: Der Mensch denkt, Gott, respektive die Sterne, lenken. Man hatte an den letzten drei Abenden den Hörern gesagt, daß du wieder auf eine Fronttournee gehen und dich mit deinem Lied somit fürs erste von Belgrad verabschieden müßtest. So entstand auch bei vielen die Annahme, du hättest Abend für Abend selbst in Belgrad am Mikro gestanden.« Bei diesem Teil seines Berichtes sei ich nach höflichem Abmurmeln der Worte: Ende gut, alles gut, sanft entschlummert, erzählte mir Taschner am nächsten Morgen beim Frühstück. Was der dünne Kriegskaffee nicht schaffte, bewirkten seine Worte. Nach wenigen Sätzen bekam ich Herzklopfen und dachte flüchtig an Krauses Schlag in meine Tomatensuppe. »Der erwartete Protest in Belgrad blieb aus. Im Gegenteil: Von allen Kriegsschauplätzen zwischen Lettland und Afrika hagelte es Anfragen, wo ›Lili Marleen‹ bliebe. Reintgen und seine Leute resignierten. Verbunden mit Grüßen von der Front an Angehörige in der Heimat und der Durchsage von Familiengrüßen an Soldaten in Lazaretten, an der Front und in Gefangenenlagern, ließ man dich Abend für Abend, sozusagen als Belgrader Wachtposten, aufmarschieren. Deine Popularität ist größer als die all deiner Kolleginnen, und du bist die erste, die sie ohne die Protektion des Propagandaministeriums erlangte. Man ist dort natürlich sehr interessiert, dich seltsamen Vogel kennenzulernen.« Wenn man Radio Belgrad in Afrika empfangen konnte, mußte es doch auch möglich sein, seine Sendungen in der Schweiz zu hören. Das bedeutete, daß Mendelson und meine Kollegen in Zürich mich für eine Überläuferin halten würden. »Anstatt dich über dein Glück zu freuen«, tadelte Taschner, »machst du ein Gesicht, als käme dir jeden Augenblick der Kaffee hoch.« »Tut er«, gestand ich. Die Glocke an der Wohnungstür heulte auf wie eine Autohupe, an der das Kabel verklemmt ist. Ich hörte Taschner mit Fotografen, Journalisten, Postboten und Abgesandten, die um 156
unseren Besuch in Kasernen und Lazaretten baten, verhandeln. Das Stimmengewirr verstärkte sich. Wann können wir denn die Fotos schießen, meine Zeitung braucht unbedingt für die Wochenendauflage ein zweiseitiges Interview, wo finden wir die Künstlerin, soll doch gestern nach Berlin zurückgekehrt In einer Disharmonie, die jeden Zwölftöner entzückt haben würde, beginnt jetzt das Telefon die Oberstimme zur Türglocke zu übernehmen. Taschner und die Wohnungseindringlinge beachten weder das eine noch das andere. »Frau Andersen ist, wofür ich um Verständnis bitte, erst mal nach Dahlem gefahren, um ihre Söhne zu besuchen. Ich werde im Auslands-Presseclub am Potsdamer Platz einen Empfang veranlassen und Sie alle rechtzeitig verständigen«, höre ich Taschner brüllen und vernehme gleich darauf die Stimme meiner Söhne. »Guten Tag, Taschi, habt Ihr uns die Tom-Sawyer-Bücher mitgebracht und die Schokolade ? Was wollen denn all die Leute, der ganze Hauseingang steht noch voll, wir brauchen fürs Internat hundertzwölf Autogramme. Wo ist Mami überhaupt?« »Das erzähl' ich euch, wenn ihr euch gekämmt und die Hände gewaschen habt. Kein Aber, geht sofort ins Bad.« Ich dreh' den Schlüssel um, zieh', hinter der Tür versteckt, die verdutzten Kinder ins Badezimmer und erkläre ihnen flüsternd die Situation. Sie sitzen auf dem Badewannenrand, ich auf dem Wäschekorb. Beide scheinen mir, seit ich sie zuletzt sah, größer und ernster geworden. »Wie sieht es aus in Dahlem?« »Nicht mehr so schön wie im Anfang. Herr von Trotha ist weg. Eingezogen. Die in der Prima sagen, zu einer Strafkompanie.« »Ach, Unsinn.« »Doch«, sagt Björn, »er hat nie mit ›Heil Hitler‹ gegrüßt und hat gesagt, daß er keinen seiner Schüler zwingt, in die HJ zu gehen. Das müßten sie selbst entscheiden.« »Und jetzt seid ihr in der Hitlerjugend?« »Ach wo.« Björn lächelt. »Wir haben gesagt, das müßtest du entscheiden und du seiest auf Front-Tournee.« »Aber heute morgen stand in der Zeitung, daß du zurück bist, und da haben wir für heute schulfrei bekommen, damit wir dich 157
besuchen können«, ergänzte Michael die Worte seines Bruders. »Können wir jetzt endlich deine Koffer auspacken?« »Sobald Taschner die Reporter losgeworden ist.« »Ohne daß sie dich gesprochen haben, gehen die bestimmt nicht«, belehrte mich Björn, als sei er ein alter, erfahrener Theaterkollege, »in Dahlem waren heute früh auch zwei, die Direktor Berg nicht loswurde, ehe sie Mischa und mich fotografieren durften.« Ein Rest Kaffee machte sich bemerkbar und kroch langsam meine Speiseröhre hoch. »Aber ein Interview brauchtet ihr nicht zu geben?« »Doch«, erklärte Michael stolz, »dafür haben sie uns in ihrem Auto ja auch bis Bahnhof Halensee mitgenommen. Die wollten alles wissen. Wie lange wir in der Schweiz waren und wo unser richtiger Vater ist und ob wir schon mal im Theater waren, wenn du gespielt hast.« In der Diele verstummten Telefon und Türglocke und verabschiedete man sich. »Also übermorgen im Presseclub«, rief Taschner dem Pilgerchor der Reporter nach. Er hatte ein Stückchen Gummi in die Klingel der Wohnungstür geklemmt. Der Telefonhörer pendelte wie eine erfolglose Angelschnur über dem Fußboden hin und her. Nachdem die Kinder ihre Reisegeschenke ausgepackt und mit uns zu Mittag gegessen hatten, brachte Taschner sie ins Internat zurück. »Ich habe Herrn von Berg von ungefähr deine Situation erklärt. Er hat sofort begriffen und mir fest versprochen, jede Bitte um ein Interview mit den Kindern in Zukunft abzuschla gen. Den ersten beiden Reportern hat Michael leider schon von Mendelson erzählt. Wie soll solch kleiner Bursche auch Hitlers Rassengesetze kennen. Wichtig ist, daß du, nachdem du jetzt so exponiert bist, alles vermeidest, was darauf hindeutet, daß diese Freundschaft noch besteht.« Ahnte er, daß ich schon seit Stunden überlegte, wie ich Robert die neue Situation erklären könnte ? »Was würde er sagen, wenn er uns jetzt sehen würde?« fragte Taschner, als wir schlafen gegangen waren, an den Dingen vorbei, »und was würdest du empfinden, wenn du wüßtest, daß er mit einem anderen Mädchen zusammenlebt?« »Nichts. Weil das gar nicht möglich ist.« 158
»Gewünscht, du hättest als Künstlerin die Hälfte des Selbstbewußtseins wie als Frau.« »Ich hab' weder — noch. Aber bei Mendelson ist alles vergeistigt. Auch das Rückenmark. Und weil ich weiß, daß sein Verstand mich liebt, sind deine besorgten Fragen völlig überflüssig. Unsere geistige Sehnsucht nacheinander macht alles Körperliche unwichtig.« »Entschuldige, wenn ich dir anatomisch nicht folgen kann«, brummte Taschner und verstummte genauso abrupt wie am Vormittag dieses strapaziösen Tages die Türglocke. Der Presseempfang war genehmigt worden, und eine Wehrmachtstournee hatte die Reichskulturkammer ebenfalls zugesagt. Taschner gestand es zwar nicht ein, aber ich war überzeugt, daß ihm die neue Situation genausowenig behagte wie mir. Eines Tages würde man auf sein fehlendes Parteiabzeichen und den fehlenden Dienstgrad aufmerksam werden. Rund um uns herum waren Freunde den »Pro-forma-Sprüchen« der Anwerber erlegen. Die pausenlosen Vormarschmeldungen, die das OKW durchgab, irritierten und zermürbten auch Künstler, die noch wenige Monate vorher unbekümmert in Garderoben und an Stammtischen über die Wahnvorstellungen eines tausendjährigen Reiches gelacht und gelästert hatten. Manchmal, wenn ich nachts Taschners Gesicht sah, das nicht wie das anderer Schla fender entspannt war, sondern mit gerunzelter Stirn und zusammengepreßten Lippen unsichtbare Gegner ahnen ließ, überlegte ich, ob seine Abneigung gegen Hitler und dessen Krieg seinem ehrlichen Haß auf diese Diktatur entsprang oder ganz primitivem Selbsterhaltungstrieb. Aber was auch immer der Grund war, für mich war er in diesen Tagen ein copain, auf den ich mich verlassen konnte. »Ich hab' dich im Club drei Jahre jünger gemacht. Demnach warst du, als du 1933 nach Zürich gingst, kaum zwanzig. Verschweigen können wir die Schweiz nicht, aber einem noch nicht volljährigen Menschen sieht man politische Unwissenheit leichter nach.« Das war sicher eine gute Überlegung. In welchem Alter ich demnach, anstatt als Siebzehnjährige, mein erstes Kind bekommen hatte, wagte ich nicht nachzurechnen und konnte 159
nur hoffen, daß dies auch andere nicht taten und daß sich nach Hitlers Abgang Lale Andersen in Luft auflösen würde und ich wieder Liselott Wilke sein konnte. In den drei großen, ineinanderlaufenden Räumen des Auslands-Presseclubs wirkte das Journalisten-Aufgebot lange nicht so beängstigend wie in der kleinen Diele unserer Wohnung. Es wurden Whisky und Tee gereicht, ein paar Kameras klickten, und die Auslandskorrespondenten fragten in der Sprache ihres Landes, was ihnen für ihre Leser interessant erschien. Skandinavier, Rumänen, Bulgaren und Italiener erklärten die Faszination des Lili-Marleen-Liedes als ein Mysterium. Wann wurde die Platte aufgenommen? Ach, schon vor Kriegsausbruch? Wie kamen Sie auf dieses Lied ? Stimmt es, daß Marlene Dietrich so begeistert war von Ihrer Platte, daß sie den Text ins Englische übersetzte und das Lied nun für die GIs in den USA singt? Werden die Deutschen einen Film um das Lied drehen ? Wie oft haben Sie es schon gesungen ? Wie ist es, so unerwartet zu Weltruhm zu kommen ? »Bei offenen Grenzen sicher herrlich.« »Sind Sie nicht selbst überrascht über Ihren Erfolg?« Taschner wurde stachelig. »Wieso überrascht? Das Engagement ins ›K. d. K.‹ war ja bereits der Beweis ihrer Begabung, und der Schallplattenvertrag der ihrer Persönlichkeit.« »Aber gefreut hab' ich mich«, lenkte ich ein, »weil dieses Lied schön ist und Substanz hat. Die Worte schrieb kein Schlagertexter, sondern ein Dichter, und die Musik nicht einer, der nach Tantiemen schielt, sondern ein ernst zu nehmender Komponist.« »Na, nach Beliebtheit bei Führer und Reich schielt er aber ganz hübsch«, lachte ein gutaussehender Italiener, »haben Sie seine neuen Märsche schon gehört? Zum Beispiel Görings Lieblingssong ›Bomben auf Engeland‹ ?« »Nein«, gestand ich ernüchtert. Die Gründlichkeit der deutschen Presse, die von den Clubherren eine halbe Stunde später eingeladen war, erforderte eine erheblich größere Konzentration. Taschner gelang es bewundernswert, die Jahre am Zürcher Schauspielhaus zu bagatellisieren und meine ersten erwähnenswerten Auftritte nach Heidelberg und München zu verlegen. Ein bleicher Jüngling, der 160
wahrscheinlich wegen eines Gehörfehlers kriegsuntauglich war und sich als Feuilletonchef des ›Völkischen Beobachters‹ vorgestellt hatte, versuchte dennoch, die Zeit laut und unüberhörbar zurückzudrehen. »Hat Sie als deutsche Frau doch sicher angekotzt, in Zürich zwischen all diesen Kommunisten und Emigranten auf der Bühne zu stehen ?« Ankotzen tun Sie mich mit Ihrem widerlichen Phonem und den taktlosen Fragen. - Was geschähe, wenn ich dies nicht nur dächte, sondern auch ausspräche ? Taschner ließ es nicht so weit kommen. »Wir müssen noch zu einer Titelbesprechung zur ›Electrola‹. Bis zum nächstenmal alles Gute. Wir danken Ihnen, meine Herren.« In der Garderobe stießen wir mit dem Finnland-Korrespondenten Rolf Hoffmann zusammen. Er und Taschner umarmten sich und blickten einander unters Jackenrevers. »Noch undekoriert?« grinste Hoffmann. »Tapfer, tapfer. Dies ist Hans Leuenberger aus Genf, der für Schweizer Gazetten schreibt. Ist eben erst angekommen und wäre untröstlich, wenn Lili Marleen ihm nicht ein paar Minuten schenken würde. Ist noch beneidenswerter Besitzer eines Autos nebst Benzinscheinen. Wo darf er euch hinfahren ?« »Am besten gleich nach Zürich«, sagte ich verklärten Antlitzes. Leuenberger sah aus wie eine Tasse Milchkaffee, sanft, ungefährlich. Anzug, Hautfarbe, Haare und die Augen, die klug und abwägend in die Welt blickten wie die der Edlen auf GoyaGemälden, alles verband ein mildes Braun. »Ich war im letzten Jahr dreimal im ›K. d. K.‹ um Ihren Auftritt zu sehen«, sagte er, als wir im Wagen saßen. »Immer habe ich auf Wiederholungen in Ihren Gesten, Ihren Betonungen gewartet. Sie sangen die gleichen Lieder, aber Sie sangen sie jedesmal anders. Das ist wohl nur mit einem so sensiblen, eingeschworenen Begleiter möglich?« Taschner wurde einen halben Kopf größer. »Wann werden Sie wieder im ›K. d. K.‹ singen?« »Vorerst nicht, aber demnächst in der Berliner ›Scala‹.« Ich drehte mich überrascht zu Taschner um. Hatte er wirklich ein Angebot oder war er wieder mal das Opfer seiner Renommiersucht? 161
»Das würde mich sehr freuen für Sie«, lächelte Leuenberger, »ich sah dort im letzten Monat meinen Landsmann Grock und im Januar Charlie Rivel. Eine herrliche Bühne, und als Engagement sicher angenehmer als eine Front-Tournee?« Während Taschner sogleich wieder in die Opposition ging und die Begeisterung beschrieb, mit der abgelegene Truppeneinheiten deutsche Künstler empfingen, kritzelte ich im Schutz meiner Handtaschenklappe ein paar Zeilen an Kurt Hirschfeld mit der Bitte um Weitergabe an Robert auf ein Blatt Papier und adressierte es ans Zürcher Schauspielhaus. Es versank, als wir uns vor dem Lindströmgebäude verabschiedeten, unbemerkt in Leuenbergers Hand. Seine Augenlider klapperten mir Verständnis zu. Impulsiv umarmte ich ihn. »Die hat einen Eidgenossen-Tick«, erklärte Taschner dem überraschten Hoffmann. Die Dekoration für meinen »Scala«-Auftritt war ein fünf Meter hohes und sieben Meter breites Rundfunkgerät. Der Skalenzeiger stand auf Belgrad, und während der Zapfenstreicheinleitung hatte ich im Rund des Lautsprechers zu erscheinen. Es war im März 1942. Seit dem Herbst 1941 warfen die Engländer Bomben auf Berlin, brüllten Sirenen von den Dächern und Siegesmeldungen aus den Volksempfängern der Übertragungswagen einander an wie wütende Kojoten, wurden die Lebensmittel immer dürftiger und war ich ein konturenloser Strich geworden, der nur dank eines Flanellabendkleides, das die Frau des »Scala«-Direktors Duisberg entworfen und teilweise mit blauen Pailletten hatte besticken lassen, über das erste Parkettdrittel des riesengroßen Varietes hinweg ausgemacht werden konnte. Taschner saß mit säuerlichem Gesicht und in ständiger Fehde mit dem Dirigentenstab Otto Stenzels im Orchesterrund unter der Bühne und war empört, daß Direktor Duisberg seinen Vorschlag, wenigstens zur Schlußapplausentgegennahme neben mir auf der Bühne erscheinen zu dürfen, als lächerlich abgelehnt hatte. Aus dem Internat in Dahlem war, wie auch aus vielen Schulen, ein Lazarett geworden. Vielleicht aus diesem Grund - vielleicht wegen der ›Lili-Marleen‹-Psychose, die sogar Amtsstuben erfaßt hatte und nicht mehr klaren Kopfes entscheiden ließ, teilte man mir am Kurfürstendamm 92 eine zweigeschossige Dachwohnung 162
zu. Bei leichtem Marschtritt brauchte ich, um sie zu durchqueren, von der Eingangstür durch das Berliner Zimmer, den Korridor entlang, an dem Schlaf-, Gästezimmer und Bäder lagen, bis zur Endstation Küche eine halbe Stunde. »Hier werde ich mir meine restlichen Pfunde abrennen«, jammerte ich und beneidete Björn und Michael, die mit ihren Fahrrädern begeistert das Terrain abfuhren, »gab es denn nichts Kleineres?« »Danke mir und dem Himmel, daß du überhaupt eine Wohnung bekommen hast«, war Taschners lieblose Antwort. »In den Deutschen Werkstätten in der Budapester Straße, mit denen du auch die Einrichtung besprechen mußt, nähen sie bereits an 750 Meter Gardinen, Vorhängen und Verdunklungs-Rollos und an 1400 Quadratmetern Spannteppich. Alles in Weiß und Beige. Die Innenarchitektin ist eine Wolke.« »Musiker-Jargon -.« »Plüschzicke -.« Meine Söhne, die noch nie in einer eigenen Wohnung ein eigenes Zimmer besessen hatten, lachten. »Die wo das sauberhalten soll, tut mir jetzt schon leid«, versuchte die Aignerin, »die wo« unsre Wirtschafterin war und ihrer bayrischen Wortgebilde wegen von den Kindern nur »Diewo« genannt wurde, mit düsterem Blick unserm Hochgefühl einen Dämpfer aufzusetzen. Sie war im Jahr 1930 einem Münchner Universitäts-Professor, dem sie seit sechs Jahren diente, von der Isar an die Spree gefolgt, als er eine Berufung nach Berlin erhielt. Im April 1933 hatte er eine Auslandsreise angetreten und der treuen Seele nicht gesagt, daß es eine Reise in die Emigration war. Sie erfuhr erst Wochen später, als sie besorgt in der Universität anrief, daß sie einem »Nichtarier« gedient hatte. Die Überzeugung, daß er zurückkommen würde, nachdem Hitler wieder gegangen war, und daß er sie dann genauso brauchen würde wie früher, hielt sie in der großen Stadt fest. Nach einigen Stellen »neben der Frau«, in denen sich die Damen ihren Anordnungen nicht fügen wollten, sondern im Gegenteil erwarteten, daß die Aignerin ihren Befehlen gehorche, war sie bei uns gelandet. »Aber gell, daß mir koaner ned in irgendwas reinredt.« Wir versprachen es. Der hilfsbereite Björn schlug vor: »Ich male Ihnen ein Schild, 163
das wir in die Diele hängen: Zutritt nur in Strümpfen gestattet.« Er war es dann auch, der aus seinem roten Farbentopf das keusche Weiß des Teppichs entjungferte. Alles atmete auf, daß er uns den Makel dieser Tat abgenommen hatte. Obwohl ich mich nach den »Scala«-Auftritten nur nach einem sehnte, nach meinem Bett, das, da es in der von der Innenarchitektin vorgeschlagenen Größe erst angefertigt werden mußte, vorläufig aus den bereits gelieferten Bettvorlegern und einer Decke bestand, begleitete ich Taschner oft in den AuslandsClub. Aber meine Hoffnung, Leuenberger wiederzusehen und von ihm etwas über Mendelson zu erfahren, erfüllte sich nicht. Als ahne er meine Probleme, versuchte Rolf Hoffmann mich mit Leuten zusammenzubringen, die zwar in Berlin als zuverlässig galten, aber von der Tragödie des Kriegsausgangs bereits überzeugt waren und daran arbeiteten, das Ende zu erreichen, bevor weitere Millionen Menschen verbrannten und verbluteten. »Hanns Arens, quasi Landsmann von Ihnen aus MeldorfHolstein, Stefan-Zweig-Verehrer«, stellte er mir einen zierlichen Mann vor. Basedow-Augen, schmale Nase, weicher Mund. Für den nächsten Abend lud er Taschner und mich zu einer Kaminstunde in seine Wohnung in der Lützowstraße ein. Kerzen und Kristallgläser auf einem niedrigen Eichentisch, großes violettes Sofa, tiefe Sessel, drei Wände vom Fußboden bis zur Decke voller Bücher. Ich wohne wie ein Pferdeknecht, dachte ich. Morgen wird Schluß sein mit dem Anrollen weiterer Stühle, Kommoden, Betten für Gästezimmer und Porzellan, und ich werde Regale in Auftrag geben und Bücher kaufen. Arens half mir. Wir zogen durch die Antiquariate und Buchläden des Tiergartenviertels und der Friedrichstraße. Das Vertrauen zueinander wuchs. »Hätten Sie Mut, im Widerstand zu arbeiten?« Ich konnte mir nichts darunter vorstellen und überließ es ihm, meinen hin und her pendelnden Kopf zustimmend oder ablehnend zu deuten. Einige Abende später - Taschner war nach Potsdam gefahren, um mit den Ärzten eines großen Lazarettes eine Veranstaltung 164
zu besprechen - nahm Arens mich mit zu Günther Weisenborn. Nachdem die Augen sich an die Dunkelheit im großen Atelier hoch über dem Wittenbergplatz gewöhnt hatten, erkannte ich Männer und Mädchen, die auf dem Fußboden hockten und die blaugrünen Augen Weisenborns, die mich prüfend anblickten. Als meine Finger bei der Berührung in seiner warmen, trockenen Hand lagen, fühlte ich mich wie ein Sperling unter den Flügeln eines Adlers. »Ich habe Ihr ›Mädchen von Fanö‹ gelesen. Es ist eines meiner Lieblingsbücher«, stotterte ich. »Du wirst Besseres von mir lesen, wenn ich wieder Zeit zum Schreiben habe«, lächelte Weisenborn. Dann kümmerte sich niemand mehr um mich, und da alle nur flüsterten, kam ich mir ziemlich überflüssig vor und war froh, als endlich ein paar Gestalten aufstanden und die Situation nach Abschied aussah. Ich blickte mich nach Arens um. »Er ist gegangen. Muß vorsichtig sein. Trägt das Parteiabzeichen und ist nur unser Verbindungsmann. Bleib noch«, sagte Weisenborn, »bis Halensee kommst du ohnehin nicht mehr vor dem Alarm.« »Alarm? Meine Kinder schlafen im vierten Stock, und nachts geht der Lift nicht.« »Sie werden Berlin nicht anfliegen, sondern nach Hamburg abschwenken. Ihre nächsten Bomben haben sie für die Industriezentren im Rheinland und in Hamburg bestimmt. Auf unsere Informationen aus dem Westen können wir uns verlassen. Schwierigkeiten haben wir mit dem Osten, und da könntest du uns helfen. Ist Taschner zuverlässig ?« »Ich glaube schon.« »Sag ihm nichts von uns, bevor du nicht sicher bist. Wir möchten wissen, was in Polen geschieht. In den unterirdischen Rüstungsbetrieben, in den KZ, in den Gettos.« »Von mir?« Draußen begannen die Sirenen zu heulen. Ich hatte Angst, vor dem da draußen und vor dem hier drinnen. Weisenborn zog seinen Arm durch meinen und ging mit mir im Atelier auf und ab. »Wir haben gute Kontakte in die Schweiz, und ich weiß, daß du sie brauchst. Wir werden dir helfen, unabhängig davon, 165
ob du uns helfen kannst oder nicht. Es gibt Wehrmachtstourneen in den Osten. Taschner soll versuchen, eine für dich abzuschlie ßen. Wenn es soweit ist, komm zu mir, und ich sag' dir, worauf du achten sollst. Es geht um das Leben hilfloser, schutzloser Menschen. Genügt das?« Draußen jaulte der schrille Ton der Entwarnung auf. Weisenborn rannte mit mir die Treppen hinunter. »Misch dich unter die Leute, die aus dem U-Bahn-Schacht kommen. Falls dich jemand anspricht, sag, du warst in der Oper und hast unterm Wittenbergplatz den Alarm abgewartet.« Er umarmte mich, lächelte und schob mich schnell zur Tür hinaus. Seit wir nicht mehr zusammenwohnten und das Gastspiel in der »Scala« beendet war, sah ich Taschner seltener. Nach Jahren hatte ich zum erstenmal Zeit, mit meinen Söhnen zu spielen und Schularbeiten zu machen. Sie waren so verliebt in die große Wohnung und in ihre Zimmer, daß sie nur an ganz heißen Sommertagen zu einer Fahrt an den Wannsee oder ins LunaparkSchwimmbad zu überreden waren. Lieber Regen und zu Hause bleiben dürfen, gaben sie zu. Unfreiwillige, kleine Vagabunden zum erstenmal im eigenen Nest. Wenn ich sie beobachtete, schien mir der Verzicht darauf, Frau Mendelson zu werden, einen Sinn zu bekommen. Die immer häufiger werdenden nächtlichen Bombenalarme, das ständig magerer werdende Menü gehörten zu den Selbstverständlichkeiten ihrer Generation und bekümmerten sie nicht. Als Ende August Taschner auftauchte, wäre mir jede Ausrede dafür, mein Gluckendasein zu verteidigen und in Berlin bleiben zu können, recht gewesen. Es handelte sich aber nicht um eine Wehrmachtstournee, sondern um einen Auftritt im Wunschkonzert des Großdeutschen Rundfunks und um die Potsdamer Lazarettvorstellung. Dem neuen Auftrittskleid vertrauend, schwarzer Jerseysweater im buntgeblümten Kretonnerock, und den drei Liedern, die Taschner ausgesucht hatte, ›Lyckan‹, schwedisches Volkslied, ›Einmal noch nach Bombay‹ in der Vertonung von Rudolf Zink und ›Lili Marleen‹, fuhren wir in der Stadtbahn nach Potsdam. Im Vorraum des langgestreckten Gebäudes Ärzte in weißen Kitteln, die mitwirkenden Künstler, Schwestern, die die Verwundeten in den Saal begleiteten oder in Krankenstühlen 166
hineinschoben, andere, die Gläser mit Fruchtsäften anboten. Als wir einige Tage später in die Masurenallee fuhren, um unseren Auftritt für das Wunschkonzert zu proben, sah Taschner mich prüfend an. »Du zitterst wie eine Forelle am Freitag. Bist du krank?« »Wenn Angst eine Krankheit ist.« »Wieso hast du Angst? Wovor?« »Vor irgendwas. Ich weiß nicht.« »Du mußt heute sehr gut sein. Das ›Wunschkonzert‹ hört halb Europa. Es ist die Renommiersendung des Propagandaministeriums. Trink das, das haut jedes Lampenfieber runter.« Er goß mir aus einer Reiseflasche ein Glas Cognac ein und vor meinem Auftritt ein zweites. Völlig alkoholentwöhnt schwankte ich auf das Podium, sah den vollbesetzten Sendesaal, in den ersten Reihen ordenüberrieselte, schwarze, braune und graue Uniformen, den Ansager Goedecke, der wie ein Verkehrspolizist beide Arme in die Richtung meines Auftritts gestreckt hatte, sah alles Mögliche, aber kein Mikrofon. Das Orchester hatte begonnen, die Einleitung meines neuen Schallplattenliedes zu spielen ›Und wieder geht ein schöner Tag zu Ende‹. Ich setzte korrekt ein und hoffte, mit aller mir zur Verfügung stehenden Stimmkraft das Mikrofon überflüssig zu machen. »Die hält sich wohl für die Yvogün«, hörte ich ungeniert den Gitarristen den Konzertmeister fragen. Im Applaus verließ Taschner den Flügel, stieß mich ins Kreuz und somit ein paar Meter weiter ans Mikrofon und begann, die einleitenden Takte von ›Lili Marleen‹ zu spielen. Applaus schwoll an und deckte die vorangegangene Blamage zu. Für den folgenden Vormittag waren wir in die Reichskulturkammer bestellt. Schlotternd vor Angst kroch ich hinter Taschner, dessen Gesicht die verbissene Entschlossenheit eines Vaters ausdrückte, der den Fehltritt seiner Tochter zu verteidigen gedenkt, die mit roten Kokosläufern belegten weißen Marmorstufen bergan. Ein junger, schwarzuniformierter Offizier erwartete uns. »Herr Ministerialdirigent Hinkel läßt sich entschuldigen, er wurde soeben in die Reichskanzlei abberufen. Minister Goebbels möchte, daß am nächsten Freitag im Funkhaus eine Wochenschauaufnahme von Ihrem Auftritt als ›Lili Marleen‹ 167
gedreht wird. Außerdem darf ich Ihnen gratulieren, Sie sind für April der Berliner Künstlerfahrt zugeteilt.« Gratulationen setzten Besonderes voraus. Geburtstage, Verlobungen, Geschenke. Handelte es sich bei der Berliner Künstlerfahrt um ein Gartenfest in Glienicke, um eine Kremserfahrt in den Grunewald, um eine Dampferfahrt auf der Havel ? Wir sahen den Schwarzuniformierten genauso erwartungsvoll an wie er uns. »Wohin soll's denn gehen ?« fragte Taschner und versuchte, seiner Frage die Leichtigkeit eines Schmetterlings zu geben. »Der erste Einsatz ist wahrscheinlich in Lemberg, der nächste in Warschau. Sie wissen ja, daß Herr Hinkel diese Gastspiele, und unter der ›Berliner Künstlerfahrt‹ versteht sich die Elite-Truppe der deutschen Künstler, persönlich leitet und ansagt. Im April sind unter anderem dabei«, er zog ein Papier aus dem Ärmelaufschlag, »Marika Rökk, Grete Weiser, Franz Grothe, Helge Rosvaenge, die große Altistin Emmi Leisner, na, und was sonst gut und teuer ist. Am Freitag im Funkhaus gebe ich Ihnen genaue Abfahrtszeiten und Unterlagen.« »Er hat immer nur mich angesehen«, sagte ich mit Klagestimme, als wir das Haus verließen, »der wird doch nicht annehmen, daß ich zwischen all diesen berühmten Leuten ohne dich auftrete ?« »Ich fahre heute abend in den Auslands-Club.« »- und werde ergründen, was hier eigentlich läuft« nahm ich Taschner die vertrauten Worte ab. »Fragst du mal, ob Leuenberger schon zurück ist?« Von zu Hause aus rief ich Arens an. »Er ist nicht hier«, sagte die helle Kolibristimme seiner Frau Odette, »ich glaub', er geht heute abend in die Oper.« Die Oper war der Deckname für das Atelier über dem Wittenbergplatz. Ich kroch die fünf Treppen rauf und war enttäuscht, als eine der Silhouetten sagte, weder Weisenborn noch Arens seien da. Wie immer brannte kein Licht in dem großen Raum. Die Notbeleuchtung hatte an diesem Abend der Mond übernommen, der bleich und rastlos wie ein überfälliges Schloßgespenst durch westwärts ziehende Wolken irrte. »Setz dich«, sagte eine Stimme und drückte mich auf den Fußboden, »ich schick' dir Igor.« »Wird es wieder Alarm geben?« fragte ich die Kontur, die zu mir kroch. 168
»Kann ich nicht sagen«, antwortete sie, »Calais ist heute ganz schlecht zu empfangen, und unser Sender aus Paris überhaupt nicht. Klappt es mit deiner Tournee?« »Wir fahren in einigen Tagen nach Lemberg und Warschau. Vorher soll ich noch für die Wochenschau gefilmt werden.« »Großartig«, sagte Igor und winkte einige der Anwesenden zu sich. »Polen ist gut«, flüsterte jemand, »aber die Wochenschau sollte sie nicht machen. Wer garantiert, daß man sie nicht anschließend in einen politischen Propagandafilm steckt. Und so oder so — jeder Streifen aus dieser Ära kann später gegen sie verwendet werden. Also - kurz vor den Aufnahmen erkrankst du - Schwächeanfall - Grippe - Auswahl ist ja genug. Am Tag vor der Polenreise geht es dir wieder besser. Worüber wir Näheres wissen wollen, weißt du ja von Günther Weisenborn. Aber schreib nichts auf, merk dir alles, komm zu uns und berichte.« An diesem Abend bekam ich von Taschner die erste und einzige Ohrfeige. Er mußte lange vor meinem Haus gestanden und gewartet haben. Hut und Mantel waren regendurchnäßt, sein Gesicht rot und verfroren. Ich nahm ihn mit nach oben, verzichtete auf Ausreden und erzählte ihm, woher ich kam. Er strich mit ungeschickten Fingern über die geschwollene, glühende Gesichtshälfte und schwieg. Das mit den Ausreden hatte nicht geklappt. Im Auftrag des Propagandaministeriums kamen zwei Ärzte mit Strophanthinspritzen, Medikamenten und Inhalationsapparat. Meine schauspielerische Begabung erwies sich erneut als mittelmäßig. Die Beteuerungen: »Wenn ich aufsteh', wird mir sofort übel — und hier zwischen den Rippen sticht es entsetzlich, und dazu das Bohren im Magen, also damit kann ich unmöglich vor eine Kamera treten«, kamen nicht an. Sie packten mich in ihr Auto und fuhren mich ins Funkhaus. Im Sendesaal große Aufregung. Der Regisseur hatte verlangt, daß die Zeiger der Funkuhr, die einen Durchmesser von fünf Metern hatte und über der Bühne angebracht war, auf fünf Minuten vor zehn, also auf die Zeit, in der Belgrad allabendlich ›Lili Marleen‹ sendete, gestellt würden. Die Präzision des Werkes, mit dem alle anderen Uhren 169
des Hauses gekoppelt waren, nach der sich jeder Sendebeginn und -schluß richtete und Millionen Menschen ihre Wecker stellten, war der Stolz des Hausmeisters. Tränenden Auges sah er den Männern zu, die auf Feuerwehrleitern standen und das gute Stück zweckentfremdeten. Vor der Bühne wurden Kabel gelegt und Scheinwerfer aufgestellt, in der Garderobe warteten ein Friseur und ein Maskenbildner auf mich. In ihnen sah ich meine letzte, große Chance. »Ich war drei Tage krank, hab' immer noch Temperatur, bin ganz auf Ihre Hilfe angewiesen, die Landser sollen doch eine hübsche ›Lili Marleen‹ sehen und keine mit angeklatschten Haaren und fieberspröden Lippen.« Hilfesuchender Blick blieb nicht ohne Wirkung. Glatte Haare wurden zu Ringellöckchen, Lippen zu dunkelrotem Kußmündchen, Augen zu dämonischen Medea-Blicken. »Ja, ich weeß nich —«, meinte der Maskenbildner, als er sein Endprodukt betrachtete. »Wunderbar, ein Meisterwerk«, zerstreute ich seine aufkommenden Zweifel. Der Aufnahmeleiter kam angestürzt, zuckte zusammen, trat einen halben Schritt zurück, faßte sich und murmelte: »— darf ich bitten - wir sind drehfertig.« »Das ist die Andersen?«, soll Goebbels bei der Vorführung der Muster gesagt haben. »Das Idol von Millionen Landsern? Ist ja grauenhaft.« Die Wochenschauaufnahme wurde nie gezeigt. Über braunen Ackerschollen, leeren Feldern und immer noch kahlen Bäumen hingen graue Regenwolken. Zwei Soldaten in SS-Uniform traten ins Abteil, knallten die Hakken zusammen und zogen schwarze Rollos herunter. »Kerzen-Mieze zum Dienst antreten«, rief Grete Weiser in den Gang. »Schonn da, Harr Unteroffizier«, lachte Marika Rökk, holte zwei Kerzen aus der Handtasche, stellte sie auf das Klapptischchen vorm Fenster und steckte sie an. »L'heure bleue«, klärte Grete Weiser mich auf, und ihr lustiges, kleines Kaulquappengesicht grinste von einem Ohr bis zum anderen. »Det is Lale, unsere Belgrader Phandorm-Suse«, stellte sie mich Kirsten Heiberg, Will Höhne und Marika Rökk vor. »Also wirklich«, sagte Will Höhne, den die Freude daran, auf 170
Herrenabenden gewagte politische Chansons und auf Hausfrauennachmittagen Minnelieder zur Laute zu singen, vom Würzburger Schloß seiner Vorfahren an den Kurfürstendamm gelockt hatte, »mit Ihrer Ätherstimme schläfern Sie auch die wildesten Krieger ein und machen sie kampfunlustig.« Marika, winziges Naschen, kleiner Mund, Gesichtsoval wie ein Botticelli-Engel, starrte mich mit blauen Glaspuppenaugen an. »Reiß ich mir Arm aus, reiß ich mir Bein aus - tropf ich nach Auftritt von Schwitzen, und sie geht auf Biehne, schreit nicht, tanzt nicht, singt vor sich här und hat mähr Erfolg als wir alle zusammen!« »Bitte, Thema-Vorschläge«, Grete Weiser klopfte an den Fensterrahmen wie eine Lehrerin aufs Katheder. Sie waren alle schon häufiger auf »Berliner Künstlerfahrt« gewesen, und der Reiseablauf ging nach erprobten Riten vor sich. Im Nebenabteil saß die Oper, im übernächsten Hinkel mit der »Reiseleitung«, in den weiteren saßen die Orchestermitglieder. »Michael Raucheisen ist das größte, was es als Begleitpianisten gibt, und das Orchester Otto Stenzel hat Sie ja schon in der ›Scala‹ begleitet«, war mein Versuch, Taschner mitzunehmen, abgelehnt worden. »Schlag ich vor, erzällt jeder tollstes Liebesgäschichte, was erlabt hat«, rief Marika. »Watdenn, watdenn, schon wieda?« lehnte Grete Weiser ab, »det hattenwa doch schon dreimal. Sonst haste wohl nischt im Koppe, wa?« »Kennt Ihr die Geschichte von der jungen Schauspielerin«, fragte Will Höhne, »die in einem Volksstück die erste Sprechrolle hatte und den Sohn des Gutsherrn fragen mußte: ›Was willst du schon wieder?‹ In der Premierenaufregung betonte sie verkehrt und fragte: ›Was, willst du schon wieder?!, Vorhang.« »Wie wäre es, wenn jeder erzählt, was er zuerst tut, wenn der Krieg vorüber ist«, fragte schüchtern Kirsten Heiberg. Sie war mit dem Komponisten Franz Grothe verheiratet, und ihr Pech war es, daß Zarah Leander mit gleichtiefer Stimme, gleichem Akzent und gleicher Begabung zwei Jahre vor ihr nach Deutschland gekommen war. 171
»Ja, det ist hübsch, det nehmwa.« Grete schien bereits angestrengt nachzudenken. »Einverstanden, det ick als Stubenälteste anfang? Also zuerst buddel ick mal im Jarten den Zinnkasten mit meine Preziosen aus, mit meine Kullerkens. Denn vaschinsch ick 'n paar davon, koofe Kartoffeln und Speck und mach mein' Tommy 'ne Riesenpfanne Bratkartoffeln, damit er endlich mal wieder satt wird. Und denn fahr ick zu mein' Sohn und sach: ›Kannst zu Muttern kommen, Waffenruhe, Entwarnung für immer.‹ Ick ha aus meiner ersten Ehe nämlich 'n Sohn, dessen Nasenspitze zur Zeit in Deutschland nich erwünscht is. Ihr vastehtma doch, wa?« Wir verstanden. Die Kerzen waren heruntergebrannt, die Nachkriegsträume erzählt und bei Tee und Rum aus Thermos- und Reiseflaschen Bruderschaft getrunken. »Der Boß«, flüsterte mir Grete zu, als die Abteiltür zurückgeschoben wurde und unter der Notbeleuchtung etwa zwei Meter Uniform standen. »Wie ist das Befinden meiner Stars?« fragte eine seifige Stimme, und ihr Besitzer leuchtete mit einer Riesentaschenlampe unsere Gesichter ab. »Aha, da haben wir ja auch unseren Neuzugang. Heil Hitler.« »Wie war's, wenn Sie mir statt Herrn Hitlers Ihren Namen nennen würden? Andersen«, stellte ich mich vor. Schweigen. »Heil Hitler«, sagte der Riese ein zweites Mal und knallte die Abteiltür wieder hinter sich zu. »Kennste denn den Hinkel nich ?« fragte Grete mit leicht verstörter Stimme. »Nee ? Mann, det is doch die rechte Hand von Goebbels. Sachma, aber wer Goebbels is, det weeßte doch?« Schade, daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, als ich antwortete: »Goebbels? Ist das nicht auch so ein Ansager bei euch?« Aus der Fassungslosigkeit wurde ein Kichern und aus dem Kichern ein Lachen, das lauter war als das Rattern des Zuges. »Fertigmachen zum Umsteigen«, scholl es im Gang, »nächste Station Posen.« Brav wie Internatsschüler folgten wir Hinkel und seinem Stab durch die Unterführung zum anderen Perron. Ein eisiger Ostwind wehte uns Schnee und Hagelkörner ins Gesicht. »Melde gehorsamst, Zug nach Lemberg läuft ein«, der Sta172
tionsvorsteher stand, Hände an der Hosennaht, vor Hinkel. »Sofort von sämtlichen Zivilisten räumen, kapiert?« »Jawoll, Herr Gruppenführer.« Er und Kinkels Stab machten sich ans Werk. Geduckte, graue Gestalten krochen aus dem Zug. Angst in den Augen, Worte in einer fremden Sprache auf den Lippen, standen sie in der Kälte und sahen uns zu, als wir einstiegen, Schminkkoffer in der Hand, Bedrückung im Herzen. Wir hatten gerade Platz genommen, als wir wütende Fäuste gegen eine Tür trommeln hörten. »Aufmachen, sofort rauskommen. Da haben sich doch wahrhaftig zwei Pollacken im Klo versteckt.« »Unser einziger Sohn ist schwerkrank, ein Sterbender ruft uns. Bitte, haben Sie doch Verständnis.« Die weißhaarige, alte Dame mit dem Davidstern auf der gelben Armbinde konnte nicht weitersprechen. Die SS-Männer stießen erst ihren Mann und, als sie versuchte, sich am Türgriff festzuhalten, mit einem Fußtritt auch sie auf den Bahnsteig. Schriller Pfiff der abfahrenden Lokomotive übertönte Schmerzensschreie. Während der zwei Stunden bis Warschau sprach im dunklen Abteil niemand ein Wort. Im ersten Teil des Programms traten Emmi Leisner, SchmittWalter, Rosvaenge und Solisten des Berliner Staatsopernballetts auf. Während der Pause kam Hinkel in die Garderobe und las die weitere Reihenfolge vor. Mein Name stand an letzter Stelle. »Finden Sie das gut, daß ich nach der Grete, Will Höhne und Marika Rökk auftrete und mit zwei melancholischen Liedern die aufgekommene Begeisterung wieder abdroßle?« Hinkel saß rittlings auf einem Stuhl, kalte, grüne Augen tasteten mich ab. Marlene Dietrich hat diese Stellung gekonnter beherrscht, dachte ich. Vierzig Kilo schwere, männliche Oberschenkel sind kein Ersatz für Charme. »Ich würde Ihnen raten, Frau Andersen, diese Dinge jemandem zu überlassen, der etwas davon versteht.« »Also Ihnen?« Die Falten zwischen Nasenflügel und Mundwinkel vertieften sich. »Ja, mir. Mir scheint, Sie sind dieser intellektuelle Typ, der 173
glaubt, immer alles besser zu wissen. Das werden Sie sich bei uns abgewöhnen müssen.« »Aber Hänschen«, lächelte Grete Weiser, »ick war in der Eisenbahn ja Zeuge, daß es bei euch beeden Liebe uff'n ersten Blick war. Aber det nützt allens nischt, hier is Damenjadrobe und Jrete muß sich umziehen.« »Wir essen nach der Vorstellung mit den Offizieren der tapferen Truppe, die morgen in den Einsatz fährt, zu Abend. Abfahrt nach Warschau morgen früh um acht. Nach Ankunft Fahrt durchs Getto und Besichtigung des jüdischen Hospitals und der sanitären Einrichtungen, von denen verlogene Stimmen immer wieder behaupten, sie bestünden gar nicht.« Nach dem Abendessen beugte sich Emmi Leisner zu mir. Brave braune Leghenne, die in dem Augenblick, in dem sie auf die Bühne flatterte, durch das Timbre und den Adel ihrer Stimme zur Nachtigall wurde. »Ich hab' eine große Bitte an Sie, Lale. An der Fahrt ins Getto kann ich nicht teilnehmen. Eine jüdische Familie hat meine Ausbildung bezahlt. Jüdische Ärzte und Wissenschaftler gehörten zu dem kulturellen Berliner Kreis, in dem ich dreißig Jahre gelebt habe. Ich kann mich nicht der Möglichkeit aussetzen, in Begleitung von SS-Leuten einem dieser gedemütigten Freunde zu begegnen. Ich selbst hab' keine Beziehung zu Hinkel. Aber wenn Sie mich bei ihm entschuldigen würden.« Ich gab die Bitte weiter an Grete Weiser und überlegte einen Augenblick lang, ob ich mich nicht auch entschuldigen lassen sollte. Aber dann fiel mir ein, was ich Weisenborn und seinen Freunden versprochen hatte. Berichten konnte ich nur, wenn ich viel sah, viel hörte. »Nischt zu machen«, sagte Grete Weiser bekümmert, »gesamte Künstlertruppe hat morgen anzutreten.« Der Bus fuhr im Zwanzig-Kilometer-Tempo durch eine endlose Straße. An beiden Seiten Siedlungshäuser, verschmutzte Fensterscheiben, an den Hauswänden abgebröckelter Putz, vor den Haustüren Frauen und alte Männer, die kraftlos und apathisch wie Winterfliegen in der blassen Aprilsonne hockten. Kinder mit Greisengesichtern und Kinder, in deren Augen Haß und Trotz und Drohung standen. Hohe Eisengitter trennten 174
Gehsteig und Fahrbahn. Wer von einer Straßenseite zur anderen wollte, mußte über die schmalen Stufen klettern, die in Abständen von fünfhundert Metern errichtet waren und deren Zugang ein SS-Mann bewachte. »Gottes erwähltes Volk. Diesen erhebenden Anblick wollte ich euch doch nicht vorenthalten.« Hinkel sah bei diesen Worten mich an. ›Du läßt dich nicht provozieren‹, hatte Grete Weiser gesagt, und ich hatte es ihr versprochen. Als wir vor dem jüdischen Hospital hielten und Emmi Leisner bat, im Bus bleiben zu dürfen, war das nicht irgendein Vorwand. Mit eingesunkenen Augen, blutleerem Gesic ht und in merkwürdiger Starre saß sie auf ihrem Sitz. »Jeht man loofen«, reagierte blitzschnell die Weiser. »Die Andersen hat ja 'n Kurs in Erster Hilfe jemacht. Wir bleiben im Bus, und bis ihr zurückkommt, hamwa Emmichen wieder uffe Beene. — Mit ihrem Spital können sie vielleicht den einen oder anderen Korrespondenten bluffen, aber uns doch nicht«, schimpfte Grete Weiser und betupfte Emmi Leisner Stirn und Schläfen mit Eau de Cologne. »Aber abgesehen davon, Laleken, muß ich jetzt 'n ernstes Wort mit dir reden. Eigentlich wollte ich dir das Herz nicht zusätzlich schwer machen. Aber du hast Kinder und wohl schon das Wort Sippenhaft gehört. Na siehste. Du weeßt ja, daß Goebbels' Stolz das ›Wunschkonzert‹ ist. Is seine Erfindung und steht unter seinem Protektorat. Daß nun Belgrad diese Sendung an Beliebtheit mehr als überrundete, paßt Juppchen janich. Und auf dein Laternenlied, das muntere Krieger nachdenklich macht, anstatt sie zum Ballern zu animieren und in das verdächtigerweise auch alle beesen Feinde valiebt sind, auf das isser schon völlig sauer. Ick weeß det von Hinkels Freundin und von der Ollen von Norbert Schultze. Leben ja beede in dem holden Wahn, viel bessere Sängerinnen zu sein als du und stricken fleißig an dein' Unterjang. Wenn sich also politisch was jejen dich finden läßt, hat man im jleichen Oojenblick die Chance, den Sender ins Wackeln zu bringen. Denn Belgrad bedeutet ›Lili Marleen‹ und ›Lili Marleen‹ bedeutet Lale Andersen. Bist ja 'n kluges Kind und deshalb braucht Jrete ihr'n Ausführungen wohl nischt hinzuzusetzen.« Wir wußten nicht, ob es Einsicht oder Herausforderung war 175
auf der Programmfolge der Warschauer Veranstaltung hatte Hinkel mir den Platz nach der Pause gegeben. Für viele Landser war der konzertante erste Teil, wie Hinkel es in seiner Ansage angeraten hatte, zwar ein erhebendes Erlebnis, aber der Sinn eines Frontsoldaten trachtet anscheinend mehr nach Unterhaltendem als nach Erhabenem. Als nach der Pause das Berliner Scala -Orchester ein Potpourri der neuesten Schlager spielte, tobte der Saal vor Entzücken, und als Hinkel mich ansagte, erwies sich die ungerechte Tatsache: Ein leichter Vogel hat's leichter, auch bei meinem Auftritt. Nicht vorgesehen war, daß sie respektlos weitertobten, als Hinkel Ursula van Diemen ansagte. Mit drohender Stirn und angeschwollenen Halsadern wiederholte er den Namen und zog die scheue Ursula van Die men, die wie eine Schwester von Jeanette MacDonald aussah und mit zartem, silbernem Sopran Volkslieder und Chansons sang, auf die Bühne. Während ihres Auftrittes rief der Saal weiterhin ›Lili Marleen!‹, und als Hinkel Will Höhne ansagte, war es nicht anders. »Nun sehen Sie ja selbst, wie intelligent Ihr Vorschlag war«, zischte er mich an, »also, gehen Sie noch mal raus.« »Kinder, Kinder, nu muß aber Schluß sein mit Euren Schäkereien, det wird ja imma unjemütlicher«, jammerte Grete, als wir uns in der Garderobe abschminkten und umzogen. Während des Abendessens besserte sich ihre Laune wieder. Was für die in Warschau stationierten Offiziere selbstverständlich war, war für unsere auf karge Lebensmittelrationen ausgerichteten Mägen ein Erlebnis. Es gab polnische Mastgans mit Rotkraut und ostpreußischen Kartoffelknödeln. Jedes Gespräch verstummte. Geruchssinn, Augen, Gaumen — alles erlag dem Gänsebraten. »Berlin ißt und schmatzt«, bemerkte die Weiser kurz in die Stille. Da die Weinvorräte, wie man uns erzählte, ausgegangen waren, wurde mit Slibowitz und Wodka nachgespült. Kurz nach Mitternacht erhob sich »der konzertante Teil«, um schlafen zu gehen. »Ihr Dienst ist noch nicht beendet«, rief Hinkel, der beobachtet hatte, daß ich ebenfalls aufstand. »Ich hab Lale gebeten, mich aufs Zimmer zu bringen, weil mir immer noch nicht wohl ist«, half mir Emmi Leisner. Vom Saal herauf hörte man das Stampfen von Baß und Schlagzeug und, wenn eine Tür geöffnet wurde, Geräuschfetzen 176
von Blech und Holz des Scala -Orchesters. »Trotzdem würde ich nochmal kurz runtergehen, mein Kind«, riet mir Emmi Leisner, nahm meine Finger zwischen ihre großen, mütterlichen Hände. »Darf ich ein bißchen zu Ihnen kriechen ?« Sie schlug die Decke zurück. Ich rollte mich zusammen, und mir war wohl, als läge ich in den Armen von Valeska. Beide hatten keine eigenen Kinder. Merkwürdig, daß solche Frauen oft viel mütterlicher sind als die, die die Schmerzen der Geburten und der Kampf um das Glück ihrer Brut hart und kantig gemacht haben. Finger strichen sanft über meine Haare. »Als ich in eurem Alter war, reiste ein Star mit Zofe und Manager, mit eigener violetter oder schwarzer Bettwäsche und erwarb ein Vermögen, das ihn jeder Zukunftssorge enthob. Und ihr? Durch Goebbels' Gesetz vom Gagenstop reichen eure Honorare ja kaum fürs tägliche Leben, von Rücklagen für die Zukunft gar nicht zu reden. Übrigens hat die ›Künstlerfahrt‹ in drei Tagen schon wieder einen Einsatz. In Stettin. Der Gauleiter von Pommern feiert seinen fünfzigsten Geburtstag.« »Nebbich«, murmelte ich und ergab mich meiner Müdigkeit. Ein rücksichtsloses Geräusch riß mich aus dem Schlaf und aus Emmis Armen. »Befehl vom Gruppenführer. Frau Andersen möchte sofort herunterkommen.« »Die Rückfahrt nach Berlin ist doch erst für elf Uhr vormittags angesetzt. Ist es denn schon so spät ?« Der Versuch, die Augendeckel hochzubekommen und auf die Armbanduhr zu schauen, war erfolglos. »Es ist halb zwei«, sagte Emmi Leisner. »Mittags ?« »Nachts.« »Unverschämtheit. Sagen Sie Herrn Hinkel, ich schlafe. Tief und fest. Und ich dächte nicht daran, während der nächsten Stunden etwas anderes zu tun.« Stille. Trügerische Stille. Der Klopfgeist schien Verstärkung herangeholt zu haben. »Herr Hinkel verbittet sich Befehlsverweigerung«, brüllte ein Trio. »Es ist besser, du gehst für eine halbe Stunde runter.« Emmi schob mich sanft aus dem Bett. »Er fühlt sich sonst provoziert.« 177
Der Saal sah aus wie ein Kinderspielplatz für Erwachsene. Die Tische zur Seite geschoben, auf dem Parkett eine Schlange von Stühlen, auf denen Künstler und Offiziere saßen und »Eisenbahn« spielten, Marika mit Offiziersmütze auf dem Kopf, Hinkel mit der Straußenfeder-Boa um den Hals, die Grete Weiser bei ihrem Auftritt trug, rundherum auf Tischen und auf dem Parkettboden Männer, die eine kleine Schlafpause einlegten. Die noch Wachen sangen mit Kraft und Inbrunst das Lied vom »schönen Westerwald«. Ich war in der Eingangshalle stehengeblieben und sah, wie die Adjutanten zu Hinkel gingen und anscheinend Meldung machten, daß sie ihren Auftrag ausgeführt hätten. Hinkel legte die Straußenfedern ab, schwankte hin und her und dann in geradem Kurs über die gewachste Spielwiese auf mich zu. »Der Liebling der deutschen Wehrmacht gibt uns die Ehre. Zwei, drei, ein Lied.« Seine Stimme torkelte genauso wie seine Knie, als er langsam ›Lili Marleen‹ zu singen begann. »Ich hör nichts«, unterbrach er sich und näherte sein Ohr meinem Mund. Grete Weiser kam angewieselt und bezog ihren Vermittlungsposten. »Singse weich, Laleken«, flüsterte sie, wand ihre Stimme eine Oktave herauf und schrie: »Ruhe im Saal für Lili Marleen.« Grete kannte sich aus in der Sentimentalität, die alkoholgefüllte Männer bei richtig berechneten weiblichen Blicken und Worten ergreift. Das Lied hinterließ Stille und Feuchtigkeit. Grete und ich sahen es mit Genugtuung. »Sie bleiben«, brüllte Hinkel, als ich in der Annahme, mein Soll erfüllt zu haben, gehen wollte. »Oder ist das dämliche Lied, das dem Minister schon lange ein Dorn im Auge ist, alles, was Sie können?« »Wenn du wüßtest, Hänschen, wat die alles uff'm Kasten hat. Aber die is'n Spätzünder, der mußte Zeit lassen.« Gretes Fröhlichkeit hatte etwas Forciertes. Ich quälte mir ein zustimmendes Lächeln ab. »Dabei kann die so hübsch sein, wenn sie mal nicht ein Gesicht wie Stacheldraht macht. Und Zeit haben wir heute genug, der Abend hat ja erst angefangen.« Hinkel griff nach meiner Hand. »Könnwa uns nich setzen? Wenn ick noch lange zu deinen einssiebenundneunzig ruffschielen muß, krieg ich Jenickstarre.« Grete schubste mich an einen Tisch. 178
»Musik!« brüllte Hinkel in den Saal, »Frau Andersen möchte mit mir tanzen.« Hinkel zog mich aufs Parkett. Nachgeben ist hier das klügste, signalisierten Gretes Augen. Brustkorb, der mir die Luft abdrückt, Hand, die die Wirbelsäule zu verbiegen droht, Pathetisches aus Wodka-Mund und plötzlich ein Knall. Wie war ich mit der Hand in diese hehren Höhen gekommen? Grete schoß wie ein Torpedo übers Parkett. »Du hastse wohl nicht alle, wa? Hau ab, jeh unter die Dusche, und in einer halben Stunde biste zurück und entschuldigst dich. Komm Hänschen, jetzt tanzen wir zwee.« Am nächsten Mittag, als die »Künstlerfahrt« noch in den Warschauer Betten lag und schlief, kam ich in Berlin an. Der polnische Nachtportier hatte einen Bruder, der mit seinem Lastwagen Zuckerrüben nach Kutno fahren mußte. Er blätterte im Kursbuch. »Sie müßten da den Frühzug nach Berlin noch bekommen.« Ich löste meine Armbanduhr und schüttete den Inhalt meines Portemonnaies auf den Empfangstisch. »Wir sind doch keine Deutschen, mein Kind, behalten Sie das. Erzählen Sie in Deutschland den richtigen Menschen, was das polnische Volk erdulden muß.« »Sie bringen Hunderte von Juden in Lager, in denen man sie mit Gas oder Genickschüssen umbringt«, erzählte mir der Fahrer, als wir durch den nebligen Morgen fuhren. Er schluchzte. »Ich hab' einmal einen solchen Transport fahren müssen. Es waren auch Frauen dabei und Kinder. Man müßte es das Rote Kreuz wissen lassen, oder den Vatikan. Aber wie ? Die Gestapo zensiert jeden Brief, der aus Polen herausgeht.« Ich starrte auf die Straße und auf die tiefhängenden Regenwolken, die die Morgensonne vergeblich zu zerteilen versuchte. Taschner war weder in seiner noch in meiner Wohnung. Endlich erreichte ich ihn in der Kaserne. »Du mußt sofort weg. Fahr zu einem Herrn Nerking ins Luftwaffenministerium. Die unterstehen Göring und entscheiden unabhängig von Partei und Wehrmacht. Er soll dir sofort einen Einsatz in der LazarettBetreuung außerhalb Deutschlands besorgen. Ich werde versuchen, nachzukommen.« 179
»Kannst du nicht noch heute die Kinder wegbringen? Meine Freundin Elis weiß eine Adresse in Neu-Globsow.« »Befehl wird ausgeführt, Heil Hitler!« schnarrte Taschner, der sich anscheinend beobachtet fühlte. »Sie haben mir von den Vorgängen in Warschau nichts erzählt«, schärfte mir Hans Nerking noch einmal ein, »Sie sind zu mir gekommen und haben sich freiwillig für einen Einsatz in der Lazarett-Betreuung der Luftwaffe gemeldet. Haben Sie Ihren Paß bei sich? Ich trage Ihnen eine Einsatzdauer von zirka sechs Wochen ein. Vielleicht ist bis dahin Gras über die Sache gewachsen. Sie fliegen in einer Stunde mit einer Militärmaschine nach Mailand und werden dort abgeholt und zum ersten Spielort nach Ospedaletti gebracht. Was haben Sie sonst bei sich, Noten, Bühnenkleid ?« »Nichts.« »Ich hoffe, daß das Musikkorps Taschner freigibt, und werde ihn mit den Sachen morgen oder übermorgen hinterherschic ken.« »Er muß vorher noch meine Söhne in die Mark bringen.« »Ich werde mich um alles kümmern.« Zwei Tage nach mir traf Taschner in Ospedaletti ein, und abends war unser erster Auftritt. Wir hatten noch keine Gelegenheit gehabt, allein zu sein. »Sie und Ihr Lied haben enormen Nimbus bei unseren italienischen Verbündeten«, hatte der Oberst bei der Begrüßung gesagt, »wissen Ehre, daß gnä' Frau zu uns gekommen sind, hoch zu schätzen. Müssen damit rechnen, daß morgen die gesamte oberitalienische Presse hie r aufkreuzt. Auch Radio Turin und Radio Milano warten bereits auf Termin.« Mein Gott, dachte ich, und dieser Aufwand um eine Person, die jenseits der Grenzen inzwischen sicher in Acht und Bann gestoßen wurde. Vor dem Hotel stand der Wagen, der uns zum Veranstaltungssaal fahren sollte, und rund um das Hotel stand die Feuerwehr. »Brennt es ?« fragte ich. »Es ist Ihretwegen. Die Leute drohten, das Hotel zu stürmen, und da kein Militär zur Verfügung stand, wurde die Feuerwehr beauftragt, Sie abzuschirmen.« ›Lili Marleen‹, rief die Menschenmenge. Mit einem Einatmer, als gälte es eine Verdi-Arie zu singen, versuchte ich, Straßen180
lärm und die Kommandos des Feuerwehrhauptmanns zu übertönen. Aber in diesem Augenblick wurde es still wie in einem Theater. Ich sah die Lokal-Reporter mit ihren Fotoapparaten auf den Spritzenwagen der Feuerwehr kriechen und Schulknaben auf die Alleebäume. Vielleicht war dies meine letzte Chance, mich in der Begeisterung meiner Anhänger zu wärmen. Als der Beifallssturm aufbrandete, sog ich ihn ein wie die Ampulle eines lebenswichtigen Medikamentes, und um die Reserven zu verdoppeln, begann ich das Lied zu wiederholen. »Tutte le sere il suono quest' fanal«, sang die Menschenmenge mit der Unbefangenheit und angeborenen Musikalität dieser Nation die inzwischen übersetzte Fassung des Liedes mit. »Sie können dir gar nichts tun«, sagte Taschner, als wir zwei Tage später nach Bordighera weiterfuhren, »deine Popularität ist viel zu groß.« Um ihm seinen edlen Optimismus zu lassen, erwähnte ich nichts von dem, was mir Grete Weiser über Goebbels' Wunsch gesagt hatte, den Sender Belgrad zum Verstummen zu bringen. Als wir nach der Vorstellung im Hotelzimmer die Bühnengarderobe auspackten, flatterte ein Zettel aus den Noten. »Attentione - nicht nach Berlin zurückkehren Gefahr.« »Ja, wo ist denn unser lieber Herr Krause«, lachten wir und sahen uns suchend im Zimmer um. Standen uns etwa wieder Auftritte in Unterkünften ohne Klavier bevor ? Aber auch beim Abendessen, das ein Conte Corelli für die Lazarettärzte, Taschner und mich im Hotelrestaurant gab, war von unsrer Unke nichts zu sehen. »Wer kann das geschrieben haben«, sinnierte Taschner, als wir morgens beim Frühstück saßen. »Wer kann hier etwas davon wissen, was in Deutschland vorgefallen ist. Das richtigste wird sein, ich fahre, wenn diese Luftwaffentournee beendet ist, allein vor nach Berlin, und du nimmst die Einladung von Corelli an und bleibst für ein paar Ferientage bei seiner Frau auf Castello Paradiso.« »Mein Visum läuft in vierzehn Tagen ab.« »Bis dahin hast du Nachricht von mir. Aber auch wenn du 181
den Termin überziehst, bei Corellis Freundschaft mit dem Grafen Ciano, mit dem italienischen Botschafter Alfieri und den anderen großen Faschisten, die er gestern erwähnte, um seine eignen Ein-Meter-Fünfzig ein bißchen nach oben zu strecken, ist es bestimmt kein Problem, deine Papiere in Italien verlängern zu lassen. Deck dich übrigens, bevor du von mir aus Berlin grünes Licht zur Rückkehr bekommst, reichlich mit Garderobe ein und vergiß auch nicht einen Anzugstoff für deinen treuen Begleiter. Dieser Corelli ist der größte Textilfabrikant Italiens. Du scheinst für Konfektionäre eine magische Anziehungskraft zu besitzen.« Taschner, dem ich in Berlin einmal kurz von Widmer erzählt hatte, grinste. »Corelli scheint aber, im Gegensatz zu dem eidgenössischen Don Juan, ein geordnetes Familienleben zu führen. Für zwei Tage werde ich dich auf alle Fälle als Gouvernante aufs Castello begleiten und sehen, was da eigentlich läuft.« Ich schnippte mit dem Finger jeglichen Schweizer und italienischen Spinnstoff aus meinen Gedanken fort. Der Weg wand sich auf unzähligen Serpentinen hinauf zum Schloß, das wie eine Hollywood-Dekoration aussah. Säulen, Erker, Türmchen, Springbrunnen, Diener in roter Livree und weißen Handschuhen, die die Tür der vorfahrenden Wagen aufrissen, andere, die ununterbrochen irgend etwas servierten. Gästezimmer mit knarrenden Parkettböden, die nach Salbei und Weihrauch dufteten und die Größe und Höhe von Bahnhofshallen hatten. Wie in einer Mondsichel sitzend, blickte die Contessa unter hohen, schwermütigen Lidern gelangweilt auf das irdische Tun und Treiben ihrer Gäste und ihrer Dienerschaft herab. »Wahrscheinlich auch auf die Flirts und Amouren ihres Angetrauten«, sagte ich sorgenvoll zu Taschner. »Ohne Trittleiter kann der höchstens deine Gürtellinie erreichen«, versuchte er mich zu beruhigen. »Und bis er die angelegt hat, bleibt dir Zeit genug, fortzulaufen oder den Lakaien zu läuten.« Er verabschiedete sich mit dem Versprechen, Weisenborn von dem zu berichten, wozu mir durch das vorschnelle Quittieren 182
meines Dienstes bei der »Berliner Künstlerfahrt« nicht mehr die Zeit blieb. Als die schwere Limousine, die ihn zum Bahnhof fuhr, in einem Waldweg verschwand, war mir, als habe ein Sturm meinen letzten Kameraden vom schlingernden Boot in die Fluten gerissen. Nachdem er abgereist war, krochen die Wochen dahin wie übersättigte Schnecken durch einen Weinberg. Endlich, auf dem Tablett mit dem Frühstück — viel Silber fürs Auge, wenig, was den knurrenden Magen hätte entzücken können -, eine Postkarte Taschners aus Berlin: »In Globsow, in der Oper und in Deiner Wohnung alles in Ordnung.« Die im letzten Satz versteckte Warnung: »Dir rate ich, noch für ein paar weitere, sorglose Ferienwochen auf dem Castello zu bleiben«, verstand ich sofort.
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Kein Fuchs ist so satt, daß er eine Gans verschmäht. Aus Friesland
Der Conte schlich um mich herum wie eine Schlange, die sich überlegt, wann sie am ungestörtesten das in ihren Käfig verirrte Kaninchen umklammern und verschlingen kann. Ich schrieb an Hirschfeld und an Mendelson. Aber es war kein Postkasten am Schloß, und ich wagte nicht, dem Conte die Briefe zur Weiterbeförderung anzuvertrauen. Als er stolz verkündete, daß er einen kleinen Presseempfang und ein Radiointerview in Rom arrangiert habe, sah ich erleichtert die Chance gekommen, die Briefe, in denen ich die Adressaten beschworen hatte, mir irgendeinen, und sei es einen fingierten, Vertrag nach Paradiso zu schicken, ohne Gefahr loszuwerden. Weniger ungefährlich schien es mir, Corelli meinen Paß auszuhändigen und ihn zu bitten, mir mein Visum für Italien von befreundeter Stelle verlängern zu lassen. Ich beschloß, die Sache zu vereinfachen und aus dem eingetragenen 15.6. den 15.9. zu machen. Sehr überzeugend war meine Korrektur nicht gelungen, und auch der Versuch, das durch das Radieren aufgerauhte Papier mit dem Nagel des rechten Mittelfingers zu glätten, war nur begrenzt erfolgreich. Immerhin war ich auf diesem Gebiet ja kein Profi, und wer nicht einen ausgesprochen bösen Charakter hatte, würde mein Gesellenstück sicher anerkennen. Indem er es übersah. Ausgerechnet der Schlafwagenschaffner gehörte zu der bösen Kategorie. Er hatte sich in Turin bei der Abfahrt des Zuges alle Pässe geben lassen. Unterwegs seien oft Kontrollen, und wenn man Fahrkarten und Ausweise bei ihm hinterlege, brauche er nachts nicht deswegen zu stören. »Das macht mir gar nichts aus«, sagte ich, um das Unheil abzuwenden, »ich kann in Zügen sowieso nicht schlafen.« »Wie Signora wünschen.« Der Schaffner schien gekränkt über die Mißachtung seiner bereitwilligen Fürsorge. Sicher war er es auch, der die Kontrolleure, die erst kurz vor der Ankunft in Rom erschienen, auf mich aufmerksam machte. Corelli und ich saßen bereits beim Frühstück im Speisewagen, als sie um unsre 184
Papiere baten. Die Morgensonne hockte genau auf meinem Paß. Blättern, Stutzen, Aufschauen, Geste, die Corelli bat, ihnen in ihr Dienstabteil zu folgen. »An wen muß ich mich wenden, wegen der Verlängerung«, fragte ich, als wir im Taxi ins Hotel fuhren. Meine Stimme flackerte wie eine Kerze, deren heruntergebrannter Docht im Stearin zu ersticken droht. »Oder können Sie das für mich erledigen?« Hatte ich zu leise gesprochen oder schien ich Corelli einer Antwort unwürdig geworden ? Er schleppte sein finsteres Schweigen durch die Hotelhalle, durch unsere nebeneinanderliegenden Luxuszimmer und den Wagen, der uns zur Radiostation abholte. Schwarze Marmorwände, grüne Stechpalmen - das Foyer, in dem Journalisten und Fotografen herumstanden, kam mir vor wie ein Mausoleum, in dem man auf meine Aufbahrung wartete. Die üblichen Fragen. »Wann haben Sie das Lied geschrieben ?« »Nie. Die Autoren heißen Hans Leip und Norbert Schultzc.« »Buchstabieren Sie bitte.« Ich buchstabiere. »Wie gelangten Sie an dies Lied ? Und wann ?« »Ein Münchner Komponist hatte 1938 das Gedicht gelesen, es vertont und mir vorgespielt.« »Und der hieß Schultze ?« »Nein, der hieß Zink. Schultze hat das Lied etwas später ebenfalls vertont, und im Gegensatz zum verträumten Zink wußte er, daß man dazu das schriftliche Einverständnis haben muß. Hans Leip gab es ihm. So war Schultzes Vertonung die vertraglich autorisierte. Sie gefiel übrigens dem Publikum besser, war einfach, ohne banal zu sein, und hatte einen Marschrhythmus ohne antiquiertes ›Gloria Victoria‹. Für deutsche Ohren ist ein Marsch genauso Himmelsmusik wie für österreichische ein Walzer und für italienische eine Tarantella.« »Nicht nur für deutsche.« »Ja, das hab' ich inzwischen auch festgestellt.« »Und dann kamen Sie mit den deutschen Truppen nach Belgrad und haben es da allabendlich gesungen ?« »Ich war nie in Belgrad. Es war die Platte, die da jeden 185
Abend lief.« »Wie erklären Sie sich die Wirkung dieses Liedes auf Freund und Feind?« »Kann der Wind erklären, warum er zum Sturm wird?« In diesem Augenblick beendete Corelli sein abwesendes Schweigen. Nachdem er während des ganzen Mausoleum-Meetings kein Wort gesprochen hatte und vermutlich mit der Überlegung beschäftigt war, ob er das gut arrangie rte Andersen-Unternehmen Biella-Rom-Biella zum Endsieg führen solle oder sich, nach Kenntnisnahme der gefälschten Paßzahlen, daran politisch den Magen verderben könne, öffnete er die schweigenden Lippen. »Schreiben Sie«, begann er und legte, bis alle Anwesenden sich ihm zugewandt hatten, eine Pause ein. Ich sah mich nach einem Notausgang um, war überzeugt, daß er nunmehr von meinem illegalen Aufenthalt sprechen werde, atmete auf, als ich ihn pathetisch verkünden hörte: »Schreiben Sie, was Ihr großer amerikanischer Kollege, John Steinbeck, über die Wirkung von ›Lili Marleen‹ schrieb. Sie lag in der Dreieinigkeit von Stimme, Text und Musik und rief — ein modernes Mysterium — diese weltweite Massenpsychose hervor.« Bleistiftrascheln über Papier, Blitzlicht, Auslöser-Geklicke. Die Aufmerksamkeit, die er auf sich gezogen hatte, benutzte der Miniatur-Cäsar zu einem gekonnten Abgang. »Ich habe jetzt leider einen wichtigen Termin im Ministerium, meine Herrschaften. Verhören Sie meinen deutschen Gast nicht mehr allzu lange.« Er wandte sich mir mit boshaftem Lächeln zu. »Geh ein bißchen shopping, Carina, der Portier wird die Rechnungen auslegen. Wir sehen uns dann um acht in unserem Appartement zum Abendessen.« »Bitte noch einen Augenblick, Conte. Schnell noch ein Foto von Ihnen und Lili Marleen.« Corelli ließ sich einen Hocker bringen. »Etwas näher zusammen bitte. Noch näher.« Er in Napoleon-Pose, ich mit Mater-Dolorosa-Blick Richtung Dachgestühl. Das Interesse der Reporter sprang in Sekundenschnelle von 186
der Laterne fort zum entschwindenden Corelli. »Wie lange kennen Sie sich schon? Man spricht von Scheidung. Sind Sie der Grund?« Eine Journalistin, germanischer Haarknoten, Bluse, die nichts Weibliches erahnen ließ, Gesichtshaut wie gelbes Fensterleder, trat vor und griff nach meiner Hand. »Die Künstlerin hat versprochen, mir anschließend an diesen Empfang zu einem Spezialinterview für das ›Signal‹ zur Verfügung zu stehen.« Ihre Stimme erinnerte mich an die des Baß-Baritons am Bremerhavener Stadttheater. Auf dem sonnenbeschienenen Platz vor der Radiostation hatte sie ihren Fiat geparkt. »Bis Milano macht der es noch«, ermunterte sie mich beim Einsteigen. Wütend darüber, daß man ihn aus seinem Mittagsschlaf gerissen, bockte der Auto-Veteran, zitterte vor Empörung, gab wie ein Tintenfisch, der sich bedroht sieht, Blauschwarzes von sich, resignierte schließlich unter den energischen Händen und Fußtritten seiner Besitzerin. »Sind es große Werte, die Sie hier zurücklassen ?« »Meinen Paß.« »Mit dem kommen Sie ohnehin nicht mehr weit. Sie werden einen anderen brauchen. Und Ihre zurückgelassene Garderobe durch neue zu ersetzen, dem steht ja nach Corellis Aufforderung nichts im Wege.« Auf der Fahrt in die Via Veneto erfuhr ich, daß ich neben Swanewitt Weber aus Husum saß, daß sie die in Mailand lebende Korrespondentin der in sechs Sprachen und Ländern erscheinenden Illustrierten ›Signal‹ sei, aus Rom vor vier Tagen den Auftrag erhalten habe, Lili Marleen zu interviewen und eine telefonische Annullierung dieses Interviews vom Propagandaministerium in Berlin am gestrigen Nachmittag sie stutzig gemacht habe. Es sei wenig ermunternd gewesen, was man da über meine Situation angedeutet habe. Sie wußten also mittlerweile, daß ich in Italien war. »Ich kenne die Affären dieses Corelli. Er wird bösartig, wenn er nicht bekommt, was er haben will. Und wie ich die Sache sehe, wird er Sie nicht bekommen«, sagte die Journalistin zwischen Autofahren, Fremdenführerbemerkungen — da drüben Palazzo Venezia, wo Mussolini auftritt, hier rechts das Kapitol, sollten Sie 187
unbedingt von drinnen sehen, Fontana di Trevi, wenn Sie die Absicht haben, nach Rom zurückzukommen, damit ich Ihnen alles in Ruhe zeigen kann, springen Sie schnell aus dem Wagen und werfen Sie rücklings über die Schulter eine Münze in den Brunnen, meine liegt schon drin, Halten, Weiterfahren, Einkaufen - die Rechnung geht an Conte Corelli, der Portier vom Hotel Excelsior legt sie aus - Einladen, Gas geben. »Ich bringe Sie zu Freunden in Milano, bei denen ich ein Zimmer habe. Sagen Sie nichts, und fragen Sie nichts. Ich könnte es doch nicht beantworten. In zwei, drei Tagen werde ich mehr wissen. Daß irgend etwas mit Ihnen nicht in Ordnung ist, ist uns allen klar, seit Belgrad plötzlich abends nicht mehr ›Lili Marleen‹ spielt.« Als sich der Kofferraum über unseren Einkäufen nur noch mit Gewalt schließen ließ, war es bereits früher Nachmittag. Meine merkwürdige Begleiterin steuerte die Autostrada nach Milano an, konzentrierte sich auf den Verkehr, schwieg. Mußten wir an Straßenkreuzungen halten, sah sie mich mit dem gleichen Ausdruck an, mit dem wir als Schulmädchen unsern Turnlehrer angeschmachtet hatten, wenn er seine muskulösen Schenkel über den Barren geschwungen hatte. »Wie lange brauchen Sie bis Mailand?« fragte ich und fühlte mich nicht nur wegen der abgewetzten Rückenkissen und der Sprungfedern, die sich in mein Fleisch zu bohren versuchten, unbehaglich. »Wir müssen vorm Dunkelwerden da sein. Es ist verboten, mit Scheinwerferlicht zu fahren. Wenn nicht irgend etwas am Motor streikt, schaffen wir das auch.« Es gibt Augenblicke im Leben, die dich zur Passivität zwingen. Im Luftschutzkeller sitzen und warten, ob die Bombe dich oder das Nachbarhaus trifft. Eine Flug- oder Eisenbahnreise, bei der man sein Leben einem Piloten oder einem Zugführer anvertraut. Der Operationstisch, auf dem du in der Narkose liegst. Seit dem April 1933, als ich ohne einen Pfennig Geld in Zürich saß und Valeska die Initiative ergriff und mich wie eine Schachfigur vor sich herschob, war mir Passivität erspart geblieben. Nun war ich ihr wieder ausgeliefert. Was tut ein Mensch in einem fremden Land ohne Papiere, ohne Geld und ohne Freunde. Sofern er es 188
nicht vorzieht, durch Mitarbeit in einem Einbrecherkollektiv zu Geld zu kommen, ist er schutzlos einem Widmer, der Heilsarmee oder einem Corelli ausgeliefert. Die Kollektivarbeit war da immer noch das Sympathischste. Aber würde ich mit meinem schlechten Italienisch die Anordnungen des Bandenchefs verstehen? Wer garantierte ihm, daß ich, wenn er mich als Warnsirene losschickte, nicht vor der verkehrten Bank Schmiere stand ? Auch der chauffierende Januskopf neben mir war wenig geeignet, mich optimistisch zu stimmen. Wollte diese Journalistin mir wirklich helfen ? Oder sah sie in mir nur den Aufhänger für eine Sensationsstory, von der sie sich bei ihrer Redaktionsleitung Erfolg und Honorarerhöhung versprach? Was immer sich herausstellen würde, mir blieb nichts anderes übrig, als es geschehen zu lassen. Die renovierungsbedürftige Villa des Bildhauers, bei dem wir wohnten, lag am Stadtrand und hatte einen großen Garten. Man erlaubte mir, darin spazierenzugehen oder in der Sonne zu liegen. Ihn zu verlassen, wurde mir verboten. »Im Zusammenhang mit den Interviews ist Ihr Foto mehr oder weniger groß in allen italienischen Zeitungen erschienen«, erklärte mir Swanewitt Weber. »Man würde Sie sofort erkennen. Solche Popularität wäre unter normalen Umständen das Ideale, aber in denen, in die Sie sich hineingeschlittert haben, bedeutet sie nichts als Gefahr.« Sie hatte sich bereit erklärt, unter ihrem Absender nach Zürich zu schreiben und unter einer Chiffrenummer »Poste restante« Rat zu erbitten, wann und wie ich in die Schweiz gelangen könne. Um in meine Tage etwas Abwechslung zu bringen, hatte sie mir zugeredet, dem Bildhauer Modell zu stehen. Sie lehrte mich auch, in der Dunkelkammer Filme zu entwickeln, zu wässern, aufzuspannen und zu numerieren. Wir hatten besprochen, daß sie mich im Fall einer Haussuchung als ihre Laborantin ausgeben würde. Da mir überdies die Zubereitung des Abendessens anvertraut war, kam ich mir, im Gegensatz zu den nutzlosen langweiligen Tagen auf dem Castello, allmählich wieder vor wie ein Mensch, der benötigt wird. Natürlich wäre ich abends lieber auf die Bühne gegangen, um zu singen, als in die Küche, um zu kochen, aber 189
diese Chance war wohl für immer dahin. Seit der Zeit, in der ich unter Frau Jedlicskas Ratschlägen in den Frühlingsnächten des Jahres 1938 für Robert gekocht und ihm seine Lieblingsgerichte zwischen Windlichtern in der Gartenlaube aufgetischt hatte, war ich nicht mehr mit einem Herd konfrontiert worden. Swanewitt genoß mit undurchdringlicher Miene, was ich ihr vorsetzte. Daß der Bildhauer es nach drei Tagen vorzog, wieder in ein Restaurant zu gehen, verübelte ich ihm durchaus nicht. Im Gegenteil, wie gern wäre ich mit ihm gegangen. »Warum tut sie das alles für mich?« fragte ich ihn. »Sie sind ihrer Freundin sehr ähnlich, mit der sie drei Jahre zusammenlebte. Im Mai hat Paola uns verlassen. Sozusagen bei Nacht und Nebel. In einem Brief, den Swanie morgens auf der Schwelle ihres Zimmers fand, stand nur, sie könne Diktatoren nicht länger ertragen, ganz gleich, ob sie Mussolini oder Weber hießen. Nach ihr zu suchen sei sinnlos. Sie würde Italien noch in der gleichen Nacht verlassen. Ob ihr das bei den geschlossenen Grenzen geglückt ist? Obwohl ich das bezweifeln möchte, wir haben nie mehr etwas von Paola gehört.« »Ist denn Fräulein Weber für dies System?« versuchte ich endlich zu erfahren. Achselzucken. Erklärung, die weder beruhigte, noch Anlaß zur Sorge gab. »Diese Frau, die beruflich und persönlich genau weiß, was sie will, ist politisch völlig indifferent.« Die bedauernswerteste Kreatur auf dieser Welt ist die unglücklich Liebende. In meinen gewissenhaft gekochten Menüs, im Luxus Tag für Tag servierter Schokoladenpuddings und in kleinen Gedichten und Aphorismen, die ich ihr abends aufs Kopfkissen legte, schien Swanewitt keinen Trost zu finden. Den Pudding aß ich selbst, meine Tätigkeit als Poetin stellte ich ein, abgerissene Knöpfe an Kleidern und Kissenbezügen blieben unangenäht. Aus Sympathie Dunkelkammer und Kochtöpfen gegenüber war Feindschaft geworden. »Mach' ich irgend etwas verkehrt? Ich meine - außer dem Essen?« Gesicht einer Tragödin über Teller mit mißglückten Zucchettis. »Du kannst mir nicht geben, was ich erhofft hatte. Was Paola mir gab.« Vorwurf? Verpflichtung? Ich fühle wieder Stacheln aus den Poren wachsen, wie bei Widmer, wie bei Corelli. 190
»Du mußt doch bemerkt haben, daß ich alles für dich tu, daß ich deinetwegen sogar politische Gefahr auf mich nehme —.« »Dafür gibt es in unserer Zeit auch andre Gründe, Swanie. Du hast mir von deinen nie etwas gesagt.« »Ich habe mich auf deinen Instinkt verlassen. Schade, daß ich ihn überschätzt habe.« Vorwurf, den herunterzuschlucken keine Schwierigkeiten bereitet. Antwort, die mißglückt. »Ich bin gebunden, Swanie.« Albern klang das, antiquiert wie ein altes Opern-Libretto. »An eine Frau ?« »An einen Mann.« Fingerschnippen sagt: Was ist schon ein Mann. Gehört in den Urwald sowas, aber nic ht in die Arme eines modernen weiblichen Wesens. »Ich will dir etwas gestehen«, Baßbariton wird elegisch, »ich auch. So wie Paola werde ich nie mehr einen Menschen lieben. Aber Zärtlichkeit - ein kleines bißchen Zärtlichkeit -.« Die Stacheln wachsen wieder. »Darf ich dein italienisches Lehrbuch und die Grammatik zu mir aufs Zimmer nehmen?« »Aber bitte. Was versprichst du dir davon?« »Einen bestimmten Job.« Die Weber steht auf. »Dann wirst du mich ja heute nicht mehr brauchen? Gute Nacht. Ich muß morgen früh für das ›Signal‹ nach Venedig, Filmszenen fotografieren. Ich hoffe, du hast, bis ich übermorgen zurückkomme, mal über unser Gespräch nachgedacht.« Nachmittags in der Hängematte im Garten stundenlang italienische Grammatik und Vokabeln gelernt. Abends trug der Westwind den Duft von Rosen und Jasmin in mein Zimmer, lockte, flüsterte, zog die Füße durch das rückwärtige Tor in den Nachbargarten und von dort auf die Straße. Der Mond hing wie eine mattgoldene Kugel zwischen den Zweigen alter Bäume. Er kümmerte sich nicht um Verdunklungsvorschriften. In den Straßen war es still. Ich hörte meine Sandalen über das Pflaster klappern. Anscheinend hatte ich die Richtung gewählt, die an einigen Bauernhöfen vorbei auf weite Felder führte. Das Getreide bog sich unter den reifen Ähren. Hier und da war es bereits abgemäht und stand, zu dreieckigen Strohhütten ge191
bündelt, vor dem Dunkel angrenzender Wälder. Diese Stille kann ich in unserem Garten auch haben, dachte ich ärgerlich. Ihretwegen lohnt sich das Risiko nicht, daß der Bildhauer vielleicht entdeckt, daß ich wortbrüchig wurde und das Haus verließ. Als ich mich entschloß, eine andere Richtung einzuschlagen, eine, die wahrscheinlich zu Trambahnen, Autos, BoulevardCafes und Schaufenster-Auslagen führte, hörte ich Musik und Stimmen. Ich ging beidem nach und kam zu einem Dorfgasthof. Unter dem Dach grüner Bäume saßen auf einem Podest ein Akkordeonspieler, ein Geiger und ein junger Mann mit einem Schlagzeug. Getanzt wurde auf einem Lehmboden, den ein quadratischer Holzzaun umgab. Um auf die Tanzfläche zu gelangen, steckte man Centimesstücke in einen kleinen Kasten und setzte damit die hüfthohe Drehtüre in Bewegung, die den Weg auf das Lehmparkett freigab. Ich stand am Zaun und sah den Tanzenden zu. Das Orchester spielte neue Schlager und alte Volkslieder und Lili Marleen. Alle sangen mit. »Permesso Signorina«, ein junger Mann, der Uniform trug, nahm meine Hand. Er tanzte leicht und anmutig, so als trüge er Ballettschuhe und nicht schwere Soldatenstiefel. »Willst du etwas trinken?« fragte er, als das Orchester eine Pause machte. Ich fuhr mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe keinen Durst«, sagte ich und meinte: Ich habe kein Geld. Der Junge lächelte. »Ich lade dich ein.« Wir tranken roten Landwein und tanzten, und Pietro stellte mir seine Freunde vor. Sie lachten über mein schlechtes Italie nisch. »Ich komme aus Deutschland«, sagte ich. »Vom Land?« »Aus der Stadt. Ich lerne Köchin und bin zu Besuch in Mailand bei Verwandten.« »Stupida«, sie lachten wieder und tanzten mit mir und verrieten mir Küchenkräuter, durch die ein Mann jung und kräftig bleibt. Es war sehr spät, als ich mich am Gartentor von Pietro verabschiedete, und ich sah erstaunt, daß im Haus hinter den Vorhängen noch in allen Zimmern Licht brannte. »Der Hauptdarsteller ist in Rom vor seiner Abreise schwer 192
gestürzt. Der Drehbeginn mußte um zwei Tage verschoben werden.« Swanewitt stand mitten im Raum, gebeugt wie die Getreidehalme draußen unter dem Mond und noch blasser als sie. Ihre Lippen zitterten. »Warum stehst du da wie eine Rachegöttin? Warum brüllst du nicht? Hier nimm dies Glas und wirf es gegen die Wand.« Sie stellte das Glas auf den Tisch zurück und holte einen Brief aus dem Schreibtischauszug. »Ich wollte dir das eigentlich nicht zeigen. Er war in der letzten Woche in meinem Schließfach und trägt den Poststempel Berlin. Nach der heutigen Nacht scheint es mir aber doch richtiger, du liest es.« Sie verließ das Zimmer. Gehorsam griff ich nach den bedruckten Blättern. Strafsache gegen den Korvettenkapitän a. D. Heinrich Theede aus Kiel, geboren am 26. Juli 1887 in Segeberg, wegen Wehrkraftzersetzung. Heinrich Theede hat zu Beginn des 3. Kriegsjahres in öffentlicher Gaststätte deutschen Soldaten gegenüber sich schwer defätistisch sogar durch Kritik am Führer als Obersten Befehlshaber unserer Wehrmacht geäußert - und das, obgleich er selbst 20 Jahre lang deutscher Offizier gewesen war. Er ist für immer ehrlos und wird mit dem Tode bestraft. Strafsache gegen den katholischen Pfarrer Dr. phil. Alfons Wachsmann aus Greifswald, geb. am 25. Januar 1896 in Berlin, wegen Wehrkraftzersetzung. A. W. hat als Priester seine Kaplane und auch andere vier Jahr lange mindestens fünfzigmal am Hören des Londoner Hetzsenders teilnehmen lassen und Studenten, meistens Soldaten, gegenüber unsere Wehrmachtsberichte angezweifelt, immer wieder erklärt, wir könnten den Krieg nicht gewinnen und wir wären schuld an ihm. Als Propagandist unserer Kriegsfeinde ist er also unserem kämpferischen Volk in den Rücken gefallen. Er ist für immer ehrlos und wird mit dem Tode bestraft.
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»Es wird nicht mehr lange dauern«, versuchte der Bildhauer mich zu trösten. »In Rußland haben sie sich festgerannt. Amerikanische und englische Flugzeuge bombardieren ununterbrochen deutsche Industriezentren und Rüstungsbetriebe, Rommels Truppen sind geschwächt und müde. Die Niederlage kommt bestimmt. Weinst du ? Deine Tränen sind sinnlos. Sie ändern nichts.« »Ist nicht alles sinnlos ? Gibt es überhaupt etwas, für das diese Jahre gut sind? Also laß mich weinen.« Am 2. September hatte Swanewitt Geburtstag. Sie wurde dreißig Jahre alt. Wir hatten es geschafft, dreißig Kerzen zusammenzubekommen, und ich hatte sie morgens auf dem Frühstückstisch angezündet und um einen Zwetschgenkuchen gestellt, den ic h gebacken hatte. »Du darfst dir auch etwas aus unserer römischen Kleiderbeute aussuchen«, bot ich ihr an, hoffte heimlich auf ein Nein, weil ich jedes dieser Kleider liebte und wußte, daß es mir niemals möglich sein würde, auf legalem Weg noch einmal im Leben etwas so Schönes erstehen zu können. Swanewitt sagte wirklich Nein. Ich umarmte sie und überließ es ihr, den Grund dieser Umarmung zu deuten. Mittags kehrte die Frau des Bildhauers mit ihren Zwillingen, zwei siebenjährigen Mädchen, deren Gesichter aussahen wie die von pausbäckigen Barockengeln, aus den Ferien zurück. Nachmittags saßen wir alle unter den Bäumen im Garten, tranken Geburtstagskaffee und erhoben für ein paar Stunden Swanewitt zum Mittelpunkt des Weltgeschehens. »Ich habe mir lange überlegt«, sagte Swanewitt einige Tage später, »ob ich dir diesen Brief geben soll oder nicht. Eine Vorahnung sagt mir Nein, meine Zuneigung zu dir zwingt mich, dir auch noch dies Opfer zu bringen.« »Darf ich ihn lesen, bevor ich mich dazu äußere, welche deiner Eingebungen die richtige ist?« Der Inhalt der Briefhülle war ein mit verstellter Schrift geschriebenes Kalenderblatt: »Nehmen Sie am Freitag 10 Uhr 43 den Zug nach Meran. Von dort aus alles zur Weiterfahrt in Ihr Schweizer Gastspiel vorbereitet.« »Deine Berliner Freunde müssen Verbindungsleute in Mailand 194
haben. Der Brief trägt den Poststempel Milano«, sagte Swanewitt nachdenklich. »Es kann natürlich auch eine Falle sein.« »Warum sollte es?« Ich war entschlossen, meinen Optimismus gegen die düsteren Vorahnungen meiner Mitmenschen zu setzen. »Warum sollte der Brief von Deutschen geschrieben sein ? Die könnten es doch bequemer haben und mich einfach bei dir verhaften.« Wir schliefen schlecht in dieser Nacht ... »Versuch, bitte, mir schnell eine Nachricht zu geben«, bat Swanewitt, und ihre zitternden Hände warfen die Vase mit den Blumen um, die sie morgens im Garten für mich geschnitten hatte. Ich hob sie auf, wußte, daß sie erwartete, in die Arme genommen zu werden, konnte mich nicht dazu entschließen. Nach den vielen Wochen in meinem Gartenexil kam mir der Sitz in ihrem Fiat vor wie ein Logenplatz im Kino und die bunte Wirklichkeit um mich herum wie eine Märchenbuchillustration. »Betrübt scheinst du nicht darüber zu sein, von mir fortzukommen?« Swanewitt gab einem alten Dienstmann meinen Koffer, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände, landete, weil ich mich abwandte, mit ihren Lippen anstatt auf meinem Mund auf meiner Schläfe. »Geh nicht mit auf den Bahnsteig, Swanie. Ein Abschied am Zug ist immer eine unausgesprochene Anklage: Du gehst - ich muß bleiben.« Hände sanken herab, Augen blickten auf unschöne, flache Schuhe. Ich sah ihr nach, wie sie langsam über den Bahnhofsplatz zu ihrem Wagen ging. Sie blickte sich nicht mehr um. Kein Mensch war außer mir auf dem Perron. Natürlich war ich wieder zu früh. Ob bei Proben, Empfängen, Startplätzen für eine Reise — immer war ich vor dem Orchester, vor dem Gastgeber, vor dem Piloten, Chauffeur oder Zugführer da. Selbst unfähig, einige Minuten zu warten ohne gereizt und ungeduldig zu werden, mutete ich diese Pünktlichkeit auch anderen zu. Aus der dunklen Unterführung traten zwei Männer in das helle Licht des Bahnsteigs. Sicher Deutsche. Italiener waren nicht so groß, und ihre Kleidung hatte nicht diesen preußisch-korrekten Schnitt. 195
Ich ging den beiden ein paar Schritte entgegen. »Sprechen Sie Deutsch?« Man legte die Hand an den Hut. Aha, Offiziere in Zivil, die hauptberuflich Mützen tragen. »Ich fahre nach Meran. Aber anscheinend bin ich auf dem verkehrten Bahnsteig.« »Sie sind auf dem verkehrten Bahnsteig. Wir haben Ihren Dienstmann bereits informiert. Er wartet auf Bahnsteig zwei.« Sie nahmen mich in ihre Mitte, ahnungsloses Schaf, das sich vertrauensvoll zum Schlachthof führen läßt. »Vermeiden Sie bitte jedes Aufsehen. Widerstand wäre zwecklos. Man erwartet Sie nicht in Meran, sondern in Berlin, und wir haben den Auftrag, Sie wohlbehalten dahin zu bringen.« »Wieso, warum. Ich muß zu einem Gastspiel nach Zürich.«
Sie bezahlten den Dienstmann, nahmen meine Koffer und schoben mich in ein Erster-Klasse-Abteil. Der eine zog den Völkischen Beobachten aus seiner Aktenmappe, der andere Kants ›Kritik der reinen Vernunft. Volk der Dichter und Denker. Auch im Dienste der Gestapo. Ob die annahmen, ich säße bis Berlin brav zwischen ihnen, daumendrehend und aus dem Fenster in eine Landschaft starrend, die kahler und grauer wurde, je mehr wir uns dem Brenner näherten ? Swanewitt glaubte mich jetzt sicher schon in Meran. Und in Meran stellte irgend jemand, der helfen wollte, fest, daß ich nicht ankam. War es ein Fremder? War es vielleicht Robert selbst? Beim Gedanken an ihn verschwand endlich das Gelähmtsein in Gliedern und Kopf. Ich sah meine Begleiter an. Deutsches Pflichtbewußtsein gut, aber nebenbei waren sie Männer, und es müßte doch irgendwelche weiblichen Möglichkeiten geben, in dies Pflichtbewußtsein einzubrechen. »Was ist denn eigentlich der Grund dafür, daß ich in Berlin so dringend gebraucht werde?« Man las und schwieg. »Wollen wir etwa die ganze Reise ohne Unterbrechung absitzen ? Hat Ihnen irgend jemand verboten, mit mir zu sprechen ?« Kein Laut, außer dem Rattern des Zuges. Je weiter er mich von Robert forttrug, um so größer wurde der Zorn auf meine Häscher. »Könnten Sie mir nicht wenigstens Ihre Namen nen196
nen? Ich müßte Sie sonst mit Nummer Eins und Nummer Zwei anreden.« Die Herren lasen. »Wenn schon deutsche Philosophen, lesen Sie lieber Schopenhauer, bevor der Kant Sie noch kantiger macht. Schopenhauer hatte wenigstens Witz und Humor.« Kein Interesse. Ich überdachte meine Chancen zum Entrinnen. Toilette aufsuchen und nach einer Station, wenn der Zug langsam anfuhr, Tür öffnen und herausspringen? Übelkeit vortäuschen, solange wir noch in Italien und diesseits der deutschen Grenze waren, und stöhnend darum bitten, in ein Spital gebracht zu werden? Plötzlich fiel mir etwas weniger Gefährliches ein. Ich kramte in meiner Handtasche und lockte mit kleinen Schreckensschreien die Gesichter meiner Begleiter von ihrer Lektüre fort zu mir. »Mein Paß ist nicht da. Wo ist die Notbremse ? Heutzutage kann doch ein Mensch nicht ohne Ausweispapiere reisen.« Keine Reaktion. Lust darauf, ihnen mit dem Fuß gegen Zeitung und Buch zu schlagen. Volltreffer. Beides fiel zu Boden. »Es ist bekannt, daß Sie zu unüberlegten Handlungen neigen«, sagte Nummer Eins. »Das sollten Sie sich abgewöhnen.« Und Nummer Zwei ergänzte: »Ihr Paß ist vorausgefahren nach Berlin und liegt bereits im Propagandaministerium.« Schweigen, bis wir nachts um zwei in München ankamen. »Halten Sie sich morgen ab acht Uhr zur Weiterfahrt nach Berlin bereit.« Sie bezogen die Hotelzimmer, die rechts und links von dem mir zugewiesenen lagen. »Darf ich meine Berliner Wohnung anrufen und sagen, daß ich morgen zurückkomme ?« Ich durfte. Am anderen Ende der Leitung knackte es ein paarmal. »Herberge zur Heimat« meldete sich eine fröhliche Stimme, etwas Hannoversche Gouvernante, etwas Marketenderin, hauptberuflich Kostümbildnerin. Die Jungmann. »Elisabeth? Wie schön. Was treibst du so spät in der Nacht in meiner Wohnung?« »Wir sind gerade aus dem Keller gekommen, trauen aber der Entwarnung nicht ganz und sitzen hier auf unseren Koffern, um beim nächsten Jaulen der Kulturflöten wieder runterstürzen zu können.« 197
»Wer ist wir ?« »Elf Personen, zumeist Kollegen, die wie ich völlig ausgebombt und bei dir untergekrochen sind.« »Wie geht es den Kindern? Sag jetzt keinen Ort. Sind sie noch dort, wo wir sie hinbrachten ?« »Sie sind. Rufst du aus Zürich an?« »Aus München. Ich komme morgen nach Berlin zurück. Hallo, bist du noch da?« »Du willst doch nicht ernstlich hierher kommen, weißt du nicht, was inzwischen passiert ist?« »Ich will nicht, ich werde gezwungen.« »Man redet von Sympathisieren mit dem Feind. Von Spionage.« »Unsinn.« »Es gibt keine Schallplatte mehr von dir zu kaufen. Aus Belgrad wird dein Lied jetzt nicht mehr von dir, sondern abwechselnd von einer Norma Talmadge, den Wiener Sängerknaben und anderen Leuten gesendet.« Es knackte wieder in der Leitung, und die Verbindung brach ab. Die Weiterfahrt nach Berlin wurde von Fliegeralarmen ständig unterbrochen. Die schwersten Angriffe verlebten wir in der Nähe von Schweinfurt und Würzburg. Da uns das Aufheulen der Sirenen auf freiem Feld überraschte, bekamen wir den Befehl, unter den Zug zu kriechen. Mit vom spitzen Schotter zerrissener Garderobe und blutenden Händen erreichten wir Berlin mit so viel Verspätung, daß mein Empfang beim Propagandaminister für den folgenden Morgen umterminiert wurde. Elisabeth hatte den Mut, mir ihre Begleitung anzubieten. »Ob man das nicht als Herausforderung ansehen wird«, kritisierte sie meine Sonnenbräune und meine Garderobe. »Hier, wo alles in Sack und Asche herumläuft.« »Laß es mich erst mal so versuchen. Wenn es nicht ankommt für ein Büßergewand bleibt mir immer noch Zeit genug.« »Wundere dich nicht, wenn Hinkel dein erstes Verhör macht. Goebbels bestellt seine Opfer nämlich nicht in die Schlüterstraße, sondern ins Propagandaministerium am Wilhelmsplatz.« Alles wie für Riesen gemacht. Damit auch dem Einfältigsten 198
klar wurde, hier regiert einer der ganz Großen. Der Hoheitsadler, das Führerbild, der Schreibtisch, dunkelbraun gebeizt wie ein Sarg, in dem Akten und Schicksale von Hunderten Platz hatten, der Stuhl, an dessen meterhohem Rücken Herr Hinkel lehnte. Rechts und links fünf Herren und drei Damen mit Notizblöcken. Angestellte des Propagandaministeriums? Journalisten? Elisabeth hatte man angewiesen, im Vorzimmer zu warten. Hinkel übersah meine zum Gruß ausgestreckte Hand. Sie blieb im Raum hängen wie ein Stück Blei. »Nehmen Sie Platz.« Die Rechts- und Linksflanke setzte sich. Ich blickte mich nach einem Stuhl um, sah keinen, blieb stehen. »Kennen Sie diese Schrift?« Hinkel schwenkte Schriftstücke wie Sieger die Fahnen geschlagener Gegner. Meine letzten Briefe an Mendelson aus Rom, aus Mailand. Wie kamen sie in Hinkels Schlachterhände? Sie griffen nach meinem Paß. »Und dies, wissen Sie, welche Strafe auf Urkundenfälschung steht? Wir verfolgen Ihr verbrecherisches Tun schon seit Monaten. Ihr defätistisches Gesäusel, mit dem Sie die Kampfmoral der deutschen Soldaten zu untergraben versuchen, Ihre Kontakte zu Kommunisten und Juden in der Schweiz. Aber wir sind wachsam. Ihre schmierigen Fetzen wurden fotokopiert.« Er steigerte seine Stimmkraft, als stände er als Vertreter des Führers beim Reichsparteitag im Nürnberger Stadion. Schallwellen, zwischen denen ich nur noch das eine oder andere Schimpfwort verstand, überschwemmten das Zimmer. Auf dem Gesicht des Tobenden wieder der gleiche Regenbogen wie in Warschau. Aus bläulic her Magermilch wurde grünlicher Quark, und aus dem Quark ein merkwürdiges Quittengelb. In den Mundwinkeln der schmalen Lippen weißer Schaum, in den grünen Augen Rachelust. »Hören Sie mir überhaupt zu ?« Ich überließ es ihm, aus einem Schulterzucken ja oder nein zu lesen. Hinkels Lunge war bereits wieder einsatzbereit. »Halten Sie sich in Ihrer Wohnung bereit und richten Sie sich auf eine längere Abwesenheit ein. Wir werden Sie abholen und dahin bringen, wo Sie viel Zeit haben, über die Opfer und Pflichten einer deutschen Frau nachzudenken.« 199
»Das bedeutet KZ«, sagte Elisabeth, als wir den Kurfürstendamm Richtung Halensee gingen. »Wir müssen sofort etwas unternehmen. Helfen kann jetzt nur noch jemand, der noch einflußreicher ist als Hinkel. Wie stehst du zu Goebbels?« »Eine persönliche Bekanntschaft ist mir bis jetzt erspart geblieben.« »Aber wir müssen jemanden finden, Laleken. Die Situation ist ernst. Taschner ist vor vierzehn Tagen an die russische Front gekommen, Weisenborn haben sie verhaftet, dauernd werden Leute hingerichtet nur wegen einiger unvorsichtiger Äußerungen.« Aus einer Telefonkabine in der Uhlandstraße riefen wir Hanns Arens an. »Kehrt gleich wieder um und geht zu Rechtsanwalt Dr. Oscar Merck in die Joachimsthaler Straße. Er hat beste Beziehungen zum Auswärtigen Amt. Ich werde euch sofort telefonisch bei ihm anmelden.« »Herr Dr. Merck erwartet Sie«, sagte das Fräulein im Empfang. Utrillos und ein Sisley an den Wänden, Elefantenherden aus Ebenholz auf dem Schreibtisch, Händedruck eines Mannes, der aussieht wie das Alte Testament persönlich. Hohe kahle Stirn, schwarze Augen, weise und skeptisch, große gebogene Nase, gesundes gelbes Gebiß, dessen obere Zahnreihe wie in einer Schaufel in der unteren liegt. Wenn sich jemand, der so aussieht, einen Ariernachweis besorgen kann, kann er bestimmt auch meine Briefe an Mendelson verharmlosen. »Ich weiß alles«, unterbricht er Elisabeth, als sie zu erzählen beginnen will. »Bis heute abend kann ich nicht mehr viel tun. Aber ich werde erfahren, wohin man Sie bringt, und ich werde Sie herausholen.« Er stand auf. »Und lassen Sie dies hübsche Chanel-Kostüm zu Haus. Man trägt da, wohin man Sie bringen wird, andere Modelle. Nehmen Sie aber Zahnpasta, Bürste und Seife mit. Das sind die einzigen drei Luxusgegenstände, die man Ihnen lassen wird.« »Wir müssen jemand anderen finden«, sagte Elisabeth, als wir wieder auf der Straße stehen. »Oder traust du diesem Typ?« »Ja«, sage ich und bin selbst erstaunt. »Ich vertraue ihm.« In meiner Wohnung erwartet mich Michael, riecht nach Land200
luft und Äpfeln und versteht nicht, warum ich mich über unser Wiedersehen weniger freue als er. »Herr Reuter mußte nach Berlin und hat mich mitgenommen. Ich kann drei Tage bei dir bleiben. Freust du dich denn nicht darüber? Nächstes Mal bringt er Björn mit. Diesmal hat er kein Schulfrei bekommen.« Reuter war der Architekt, in dessen Haus meine Söhne untergekommen waren. Mir fiel der Abend im Bühnenclub ein, an dem ich gesungen und ihn kennengelernt hatte, und mir fiel der Staatssekretär Gutterer ein, unter dessen Protektorat diese Wohltätigkeitsvorstellung gestanden hatte und der anschließend eine Woche hindurch die Fleurop so intensiv bemühte, daß wir mehr Blumen als Vasen in der Wohnung hatten. »Der hilft dir sicher eher als dieser Anwalt«, billigte Elisabeth meinen Entschluß. »Nimm das Kind mit. Mutter und Kind appellieren erfahrungsgemäß fast immer erfolgreich an den männlichen Beschützerwillen.« Sie brachte uns an die Bushaltestelle. Auf der Fahrt zum Reichskanzlerplatz erzählte ich Michael in leicht verzuckerter Form, was vorgefallen war, und schärfte ihm ein, nur zu antworten, wenn er etwas gefragt würde. »Und wenn mich niemand etwas fragt?« »Dann bist du eben ausnahmsweise einmal still.« Meine Ermahnungen erwiesen sich als überflüssig. »Das Kind hat in der Halle zu warten«, sagte ein Adjutant und öffnete die Doppeltüren zum Arbeitsraum des Staatssekretärs. »Der hat so laut gebrüllt, daß ich alles verstanden hab'«, berichtete Michael, als ich nach fünf Minuten 'rausgeflogen war. »Warum ist er denn so böse auf dich und Robert ?« »Weil er ihn für einen schlechten Menschen hält und nicht verstehen will, daß wir zu ihm zurückkehren möchten.« »Der ist ja doof.« »Wer?« »Der Mann, der so gebrüllt hat.« »Wer weiß, was in den nächsten Stunden passiert. Das Kind darf das auf keinen Fall miterleben«, sagte Elisabeth. »Um 201
18.00 Uhr geht noch ein Zug nach Globsow und um 20.30 Uhr einer zurück.« Widerwillig, aber etwas getröstet von den beiden Doolittle-Bänden, die ich ihm mitgebracht hatte, verlie ß Michael an der Hand Elisabeths die Wohnung. Damit sie als hilfsbereite Schlummermutter für ihre ausgebombten Bekannten zwei weitere Zimmer zur Verfügung hatte, begann ich, meine Garderobe und die persönlichen Dinge der Kinder zusammenzusuchen und alles in mein Schlafzimmer zu tragen. Noten, Texte, Mendelson-Briefe und einige Bücher legte ich in einen Koffer, tat ein Namenschild hinein, hängte ein zweites an den Griff und bat Frau Aigner, die stumm und mit anklagender Miene um mich herumschlich, alles in unser Kellerabteil zu tragen. »Ich habe jeden Tag für Sie gebetet, aber allein können es der heilige Antonius und ich auch nicht schaffen. Gell, wie weit Sie ohne den Schutz der Mutter Gottes kommen, sehen Sie jetzt ja selbst.« »Aber Aignerin, glauben Sie denn wirklich, daß für die Millionen Söhne und Väter, die an der Front fallen mußten, nicht gebetet wurde? Und all die Menschen, die uns dankbar sind für einen Platz auf dem Fußboden und etwas Bettzeug, weil ihr eigenes Zuhause zerbombt wurde, glauben Sie, unter ihnen ist kein Gläubiger?'« »Die wo Fräulein Jungmann uns in die Wohnung bringt, gläubig?« Sie nahm den Koffer und wandte sich ab. Zwei Stunden hindurch saß ich in meinem ältesten grauen Kleid - Zahnbürste, Zahnpasta und Kamm in der Hand - auf dem Bettrand. Ich hätte es gern vermieden, einem meiner einquartierten Gäste zu begegnen. Was sollte ich zu ihnen sagen. Etwa: Entschuldigen Sie bitte, ich kann jeden Augenblick abgeholt werden? Um acht Uhr heulten die Sirenen. »Schnell, schnell«, rief die Aigner und hämmerte gegen meine Tür. »Es sind drei Großverbände im Anflug auf Berlin gemeldet, und unser Lift ist wegen Stromersparnis abends außer Betrieb.« Wolldecken über dem Arm, Koffer mit Wertsachen und Aktenmappen mit Thermosflaschen und Notproviant in der Hand, hasteten die Menschen die Treppen herunter. Schon hörte man die ersten Detonationen und das Knattern der Flakabwehr. »Das geht nun schon wochenlang so«, seufzte eine weißhaarige 202
alte Dame. »Ob sie von unserem schönen Berlin denn gar nichts mehr übriglassen wollen?« »Das wird uns der Feind, wenn wir ihn geschlagen haben, bis ihm das Blut aus den Fingern läuft, Stein für Stein mit bloßen Händen wieder aufbauen«, rief der Luftschutzwart. Niemand antwortete. Hatten wir die Entwarnung überhört ? Im flackernden Notlicht von zwei Stearinkerzen sah ich auf der Armbanduhr, daß wir bereits über zwei Stunden im Keller hockten. Für mich bedeutete das eine Gnadenfrist. Ob es nicht das beste wäre, ich versuchte überhaupt hier unten zu bleiben? Wenn sie jemanden abholen, geschieht es immer nachts, hatte Elisabeth gesagt. Der Keller war groß, und es gab bestimmt eine dunkle Ecke, in der ich beim allgemeinen Aufbruch nach der Entwarnung unbemerkt verschwinden konnte. »Gehen Sie vor, und setzen Sie Wasser für einen heißen Tee auf - ich selbst brauch' noch eine Viertelstunde frische Luft und komm' dann nach«, sagte ich zur Aigner. »Alles draußen?« brüllte der Luftschutzwart. Zufallen der schweren Kellertür. Stille. Schadenfroh stellte ich mir Hinkels Beauftragte vor, wie sie an der Wohnungstür läuteten, die Aigner ihnen mit ehrlichstem Gesicht sagen konnte: »Gnä' Frau ist noch ein bißchen spazierengegangen« — und sie erfolglos umkehrten. Sicher hatten sie sich wie Nummer Eins und Zwei in Mailand als harmlose Zivilisten getarnt. Morgen vormittag würde ich noch mal das Alte Testament in der Joachimsthaler Straße anrufen und fragen, ob er sich die Arbeit, mich zu suchen und zu befreien, nicht ersparen wolle und lieber vorher etwas unternehmen. Auch mein Helfer im Luftfahrtministerium fiel mir ein. Daß ich nicht eher an ihn gedacht hatte. Möglicherweise gab mir der Machtstreit um die Kompetenzen zwischen Partei und Luftfahrt zum zweitenmal eine Chance. Trotz des harten Notbettes und der dünnen Wolldecke mußte ich eingeschlafen sein. Erregte Stimmen, Schritte, die über den Betonboden des Kellers hasteten und eine Taschenlampe, die mir ins Gesicht leuchtete. »Nanu, junge Frau, waren Sie schneller als ich?« hörte ich 203
die Stimme des Luftschutzwartes, »oder sindse vom letztenmal Übriggeblieben? Los. los, Herrschaften, ich muß die Schotten dichtmachen, sonst fallen uns noch die abgeschossenen Amis und Tommies in de Jute Stube.« »Wo ist Fräulein Jungmann?« fragte ich die Aigner, als ich sie unter dem schwachen Notlicht zwischen all den anderen Menschen gefunden hatte. »Die ist sicher in Globsow geblieben oder sitzt in irgendeinem Stationsbunker. Das ist ja schon der zweite Großangriff heute nacht. Daß Sie Nerven haben, dabei spazierenzugehen.« »Hat sich in dieser Zeit bei uns Besuch gemeldet?« »Besuch? Wissen Sie, wie spät es ist? Elf Uhr nachts.« »Erst?« Dann bestand ja noch für fünf oder sechs Stunden Gefahr. Diesmal glückte es mir nicht, im Keller zu bleiben. Der Luftschutzwart leuchtete in jede Ecke und trieb mich als letzte aus dem Keller ins Treppenhaus. »Also bis zum nächstenmal.« »Auf gleich«, antwortete müde ein Soldat, der den rechten Arm in einer Binde trug und dessen Hand aus Holz war. In meiner Wohnung sprachen mich ein paar Leute an und bedankten sich dafür, daß sie bei mir unterkommen durften. Dann schlossen sich die Türen, und es war still. Die Zeitungsausschnitte fielen mir ein, die Swanewitt mir in Mailand gegeben hatte: Wegen Abhören eines Feindsenders — wegen Zweifel am Endsieg sie brauchten keine großen Anlässe, Nichtigkeiten genügten ihnen, um ein Todesurteil auszusprechen und vollstrecken zu lassen. Durch das Fenster sah ich den roten Feuerschein brennender Häuser und hörte das Rauschen des Regens. Hatte es eigentlich Sinn, sich an all dies zu klammern ? War es nicht möglich, daß es noch jahrelang so weitergehen würde? Bomben, Trümmer, Hunger, Alter und Tod ? Und im KZ Schreie, die niemand hört, Fäuste, hart und brutal, wie die des Luftschutzwarts. Mein Entschluß, all diesem vorauszukommen, war so schnell und endgültig, daß er mir, bevor ich die zwanzig Schlaftabletten schluckte, nicht einmal die Zeit ließ, Abschiedsworte zu schreiben. »Aber Laleken«, hörte ich die Stimme von Elisabeth, fühlte ihre Hand auf meiner Stirn und sah durch viele Nebel hindurch 204
ihr Gesicht, »jetzt wird ja alles gut, du mußt dich nicht mehr fürchten.« »Ist der Krieg zu Ende?« »Das nicht gerade, aber die Sorge um dich.« Um zwei Uhr nachts seien sie gekommen. Die Aigner habe entrüstet gesagt, so spät empfängt gnä' Frau keine Herrenbesuche, gnä' Frau sei längst schlafen gegangen. Befehl zur Wohnungsdurchsuchung. Klopfen an der Schlafzimmertür, die von innen geschlossen gewesen sei. Öffnen mit Schraubenzieher und Dietrich, Anruf in Moabit, die lebt nicht mehr, jedenfalls kaum noch, Arzt, der Wiederbelebungsversuche anstellen muß, Abtransport unter ein Sauerstoffzelt und dann ein Gerücht, das sich in wenigen Tagen in Berlin herumsprach: BBC London habe durchgegeben, daß Lili Marleen von den Nazis in ein KZ gebracht und dort umgekommen sei. Statt des Senders Belgrad bringe nun der Soldatensender Calais jeden Abend ihre Stimme und ihr Lied. Triumphierendes Dementi von Goebbels: Eine weitere Lüge, wie alles, was vom BBC und dem Feindsender Calais kommt. Die Sängerin sei in Freiheit, es gehe ihr gut und nur eine Erkrankung feßle sie für einige Wochen ans Bett. »Man sagt, daß einer deiner Freunde im Auslandspresse-Club diese Nachricht nach London lanciert hat. Auf alle Fälle verdankst du ihm deine Rettung«, lächelte Elisabeth. »Und der Aigner und dem heiligen Antonius.«
»Was soll ich tun?« Ich sitze Dr. Merck und dem leeren Tapetenfleck gegenüber, an dem der Utrillo hing. »Die Bomben fressen sich immer näher heran. Ich hab' die Bilder in ein Banksafe gebracht. Bleiben Sie noch ein bißchen krank. Sie könnten sonst in einen Rüstungsbetrieb verpflichtet werden oder zu Schanzarbeiten.« Die Aigner verliert kein Wort darüber, daß sie seit drei Monaten kein Gehalt bekommen hat und wovon sie die Lebensmittel bezahlt. In der Wohnung wird ein Notbett nach dem anderen aufgestellt. Elisabeth erklärt meine Situation, und jeder 205
zahlt, so gut er kann, einen Beitrag zur Miete. Die Stellenangebote in Berliner Zeitungen werden seltener. Gemäldehandlung »Unter den Linden« sucht kunsterfahrene Verkäuferin. Ich verzichte auf den Morgenkaffee, renne zur Bushaltestelle, um die erste zu sein. Im Schaufenster Hitler, Goebbels und Göring in Öl, Aquarell, Radierung. »Ich dachte, es handle sich um eine Kunsthandlung.« »Na, erlauben Sie mal, das ist das einzige, was heute gefragt ist. Die artfremde Dekadenz, die der Vorbesitzer dieser Galerie verkaufte - George Grosz, Pechstein, Modersohn, Kollwitz, Corinth usw. - können Sie in der Ausstellung ›Entartete Kunst‹ sehen und nicht bei uns. Das meiste wurde sowieso verbrannt. Wir verkaufen, was heute verlangt wird. Heil Hitler.« Zimmermädchen, Küchenhilfe gesucht. Wenn ich für das Anstellungsformular meinen Namen nenne, Zurückweichen, Miß trauen. Mit der stimmt doch politisch etwas nicht. Bloß die Finger weg von solchen Leuten. Hier ist die Tür. Zu Weihnachten schickt mir Simke Litta. Kuhlmann war gestorben. So, wie man in dieser Zeit eigentlich nicht mehr starb: weißes Krankenbett, Nachtschwester, Sanitätsrat, Medikamente, die aber den Verfall des alternden Organismus nicht mehr aufhalten konnten. Ganzseitige Todesanzeigen. Unser langjähriges verehrtes Aufsichtsratmitglied —. »Wenn Mutti das Haus verkauft hat, holt sie mich hier wieder ab. Wir ziehen dann nach Garmisch. Hoffentlich geht es nicht so schnell. Hier bei dir ist es ja viel lustiger.« Litta steigt über Schlafdecken und Koffer, hilft der Aignerin beim Aufräumen und Kochen, nimmt es ihr ab, bei der Sonderzuteilung von einem Achtelliter Magermilch und hundert Gramm Hülsenfrüchten pro Person über eine Stunde hindurch in einer Menschenschlange anzustehen. Mahlzeiten, die immer unvollkommener und reizloser werden, Kindheit ohne Väter, Nächte im Luftschutzkeller, zerbombte, qualmende Häuser sind für ihre Generation Selbstverständlichkeiten. Der anklagende Blick einer Märtyrerin verdüstert ihre blauen Augen erst, wenn ich ihr zumuten will, für eine Nachmittagsstunde die mitgebrachten Rechen-, Deutsch- und Fremdsprachenhefte aus ihrem Koffer zu holen. »Meine Brüder in Globsow, überhaupt alle Kinder 206
der Welt, haben Weihnachtsferien«, wendet sie sich schutzsuchend an die Aignerin, die ihrer Haushalt-, Kirchgang- und Küchenkameradin natürlich recht gibt. »Über den 30. Januar hinaus akzeptiere ich diese Ausrede nicht«, trete ich den Rückzug gegen die Übermacht an. »Fräulein Weber hofft, daß Sie sie nicht versetzen«, sagt der hübsche sonnengebräunte Leutnant, legt die Hand an die Mütze und übergibt mir den Brief. »Wollen Sie nicht hereinkommen und eine Tasse Tee mit uns trinken?« Hoffentlich sagt er nein. Nichts interessiert mich brennender, als den Brief, der Swanewitts Handschrift trägt, aufzureißen und zu lesen. »Ich möchte Ihnen keine Umstände machen. Aber wenn Sie für mich und meinen Fahrer, der unten wartet, ein Autogramm hätten.« Litta rennt in mein Zimmer, bringt zwei Karten und Bleistift, »Dem Überbringer beglückender Botschaften mit herzlichem Dank«, — eile ich den Tatsachen voraus und gestatte meiner Tochter selbstverständlich, den Hübschen bis zu seinem Wagen zu begleiten. »Das ›Signal‹ hat mich für zwei Wochen nach Seefeld/Tirol geschickt, um eine Reportage über das deutsch-italienische Eistraining zu fotografieren«, schreibt Swanewitt. »Internationales Interesse bringt man Deutschlands Spitzentrainerin Thea Frenssen und ihrer großen Entdeckung, der zwölfjährigen Gundi Busch, entgegen. Ich benötige dringend eine Assistentin. Bitte reisen Sie umgehend an. Die Platonische. ›Hotel zur Post‹, Seefeld.« »Also über Langeweile kannst du als kaltgestellte Sängerin nicht klagen«, stellt Elisabeth fest, als sie mir beim Kofferpacken hilft. »›Die -wo‹ ist allerdings tief unglücklich, daß du des heiligen Antonius und ihres Schutzes wieder entsagst und auch noch das Kind mitnimmst.« »Erklär ihr doch, daß es eine ausgesprochen gütige Fügung des Himmels ist, daß Litta unter meinem Schutz reisen kann und wir sie nicht früher oder später allein zu Simke nach Garmisch schicken müssen. Abgesehen von allen anderen Gefahren, sie beginnt sich für das andere Geschlecht zu interessieren.« »Litta? Unsinn. Wie alt ist sie denn?« 207
»Das fragst du eine von berufsbedingten Altersschwindeleien verwirrte Mutter. Nach ungefährer Schätzung dreizehn. Nach den Blicken, die sie diesem österreichischen Leutnant zuwarf, aber doch etwas mehr.« Swanewitt war nicht auf dem Bahnhof. Warum auch. Fahrplanmäßige Ankunftszeiten gab es im Februar 1943 nicht mehr. Bis nach Garmisch hatten wir es in zwei Nächten und einem Tag geschafft, ich hatte in Simkes behaglicher neuer Wohnung ein Bad genommen, drei Tassen Pfefferminztee durch die ausgedörrte Speiseröhre geschüttet und meinen Koffer geschultert. »Hat man uns unterwegs gezeigt. Trägt sich viel leichter.« »Willst du nicht wenigstens ein paar Stunden schlafen ?« »Kann ich nach Dienstende noch genug, Simke. Ich hab' eine Stelle, Arbeit, werde gebraucht.« »Zimmer dreiundzwanzig«, sagte der Portier und griff nach meinem Koffer. »Fräulein Weber hat schon zu Abend gegessen und ist oben. Nummer zwölf.« Die hölzernen Stiegen knackten. In der Halle prasselte ein Kaminfeuer. Das ganze Haus roch nach Nelken, Zimt, Glühwein und Buchenscheiten. Swanewitt. Von der Sonne ausgeblichener Scholtz-KlinkKnoten, auf der gelben Haut eine leichte Röte, still im Raum stehend wie eine Birke auf der Wiese. »Du lächelst ja, Swanie.« »Wenn jemand, den man für immer verstummt glaubte, singend aus dem Jenseits zurückkommt - und du singst -.« Sie öffnete die Tür. Man hatte meine Platten aufgelegt und ließ sie durch das Haus schallen. »Schließ die Tür, Swanewitt. Sonst lachst von uns beiden nur du, und ich fang' an zu heulen.« Es gab in dieser Nacht so viel zu erzählen, daß wir kaum schliefen. »Wie hast du es erfahren, daß ich statt in Zürich in Berlin bin ?« »Glücklicherweise eine Woche hindurch gar nicht. Ich war froh und ruhig und glaubte dich in Sicherheit. Dann hörte ich BBC und einige Tage später Goebbels' Dementi. Ich versuchte 208
verzweifelt, einen Redaktionsauftrag nach Berlin zu bekommen. Nichts klappte. Dann schickte man mich nach Seefeld, und dieser nette Kurier erbot sich, den Brief an dich mitzunehmen.« »Und Paola?« »Lebt mit jemand anderem. Politische Gründe hätte ich eingesehen, aber dies kann ich nicht verzeihen. Du lachst?« »Du bist so komisch in deiner Entschlossenheit, die Paola bei ihrer Rückkehr zu dir sicher in den Wind bläst wie eine Pusteblume.« Etwas verlegen ließ ich die braungebrannten Sportmenschen, die mich am nächsten Morgen aufgeregt und neugierig begrüßten, in mein bunkerblasses Gesicht starren. »Deine Aufgabe ist es, wenn ich filme oder fotografiere, die Eisfläche von ›Nicht-Professionals‹ freizuhalten«, erklärte mir Swanewitt. Wie immer, wenn sie arbeitete, ein von Energien federnder stählerner Degen. »Kleinigkeit.« Ich folgte ihr wie ein Jagdhund seiner Herrin. Aus dem Lautsprecher erklang die Kürmusik eines italienischen Eislaufpaares. Thea Frenssen, Gesicht wie eine Indianer-Squaw, stand mit einer in rote Wolle verpackten Marzipanpuppe an der Bande und erklärte ihr und Swanewitt Begriffe, die zu begreifen mir nicht gelang. »Doppelter Rittberger, Todesspirale, eingesprungene Waage, Pirouette, einfacher Axel, Doppel-Salchow du filmst die ganze Pflicht bis zur Rechtsschleife. Dann unterbrechen wir. Und denk daran, Gundi, die Kraft für den Schwung, den du für die Spirale brauchst, auch aus den Schultern und den hochschnellenden Armen zu holen.« Die Musik und das italienische Paar liefen aus. »So, jetzt keine Platte«, rief die Trainerin dem Mann im Übertragungshäuschen zu. »Und Eis frei, bitte. Ach so, dafür sorgt jetzt ja Swanies Assistentin.« Sie lächelte mir zu. Swanewitt unterbrach ihre Aufnahmen. »Das kannst du doch nicht mit Rufen und Händeklatschen von der Bande aus machen.« Ärger in der Senkrechtfalte zwischen den Augenbrauen. »Wenn du keine Schlittschuhe mitgebracht hast, laß dir vom Eiswart ein Paar geben, aber beeil dich. Ich habe nichts als grinsende, gaffende Zuschauer im Objektiv.« 209
Es wurden ihrer bald noch mehr. Seit meiner Kindheit hatte ich keine Schlittschuhe mehr an den Füßen gehabt. Jedes Kommando brachte mich aus dem Gleichgewicht, und ich übte mein Ehrenamt mehr aus sitzender und liegender als aus senkrechter Haltung aus. »Gratuliere zum Lacherfolg«, schnappte Frau Frenssen, als wir während der Mittagspause in die »Post« gingen. »Ich hab' heut noch etwas weiche Knie. Die lange Anreise und viel geschlafen habe ich auch nicht. Morgen geht's bestimmt besser.« Am Abend, als Prellungen und Hautabschürfungen mir das Stehen ohnehin leichter machten als das Sitzen, schlich ich mich von den lärmenden, lachenden 'Sportnaturen fort zum Eisstadion. Es war ideales Trainingslicht. Der abnehmende Mond ließ mich zwar Kerben und Unebenheiten im Eis erkennen, machte mich selbst aber für späte Spaziergänger zu einem nicht zu identifizierenden Schemen. Als ich um drei Uhr nachts auf die Nachtklingel drückte, wußte ich, daß ich in den folgenden Tagen Swanewitts Vertrauen und meine Spesen wert war. »Ich mußte noch ein bißchen trainieren«, entschuldigte ich mich bei dem verschlafenen Portier. »Ach Sie sind's. Macht ja nichts. Hab' schon von Ihrem heutigen großen Erfolg gehört. Wenn Sie nun morgen noch dazu singen und Autogramme geben würden.« Das Haus Kurfürstendamm 92 steht immer noch. Es hat links und rechts nichts mehr zum Anlehnen. Noch ein paar Jahre, und es besitzt Museumswert. Und hier, Ladies and Gentlemen, in ähnlichem Gemäuer wie diesem lebten bis zum World War Two etwa fünf Millionen Berliner. Where they are? Asche, die Menschen und die Häuser, look around, nichts als Asche. Die Aigner öffnet mir, klein und verhärmt. Die braunen Haare, die einmal das glänzende Bratapfelgesicht einrahmten, sind grau geworden, die Haut blaß und zerknittert wie der ausgediente Fächer, der in Bremerhaven im Schlafzimmer meiner Eltern hing. Mein Vater hatte ihn aus Japan mitgebracht, und auf einem Turnerball, den sie, jung und verliebt, besuchten, wehrte Mutter mit dem Fächer den Bierdunst seines lachenden Mundes ab. 210
»Wenn ich das nächste Mal in Ihre Heimat muß, nehme ich Sie mit«, verspreche ich schuldbewußt. »Gell, schön ist's da. Man sieht's Ihnen an.« Die Aigner lächelt. Wie alt mag sie sein. Fünfzig, sechzig, siebzig. Wenn man anfängt, zusammenzuschrumpfen und kleiner zu werden, sollte man sich nicht mehr so plagen wie sie. Auf einer Bank am Dorfteich sollte man sitzen, die Enten und ihre Jungen füttern mit Brotrinden, denen die eigenen Zähne nicht mehr gewachsen sind, die Sonne auf die alten Hände scheinen lassen und ein bißchen lästern über die, denen Liebesgegacker und Geldverdienen wichtiger waren als der Kirchgang. Oder auch an der Croisette, die Hände von weißen geklöppelten Zwirnernen und die welke Gesichtshaut von weißem Puder bedeckt. Ein Matrosenhütchen auf der blonden Perücke und einen bunten Sonnenschirm über dem Matrosenhut. Süße, zusammengeschrumpelte, tapfer lächelnde Püppchen. Idol: Coco Chanel. Patisserie, heiße Schokolade mit Schlagrahm und auf dem Nachtkästchen eine Kollektion Arden-Präparate, so sah das Alter aus, von dem Emmi Leisner im dunklen ratternden Zug erzählt hatte. Fünfzig Gramm Fett in der Woche, Hautcreme, was ist das, Nächte im Keller statt im Bett, ein halbes Pfund Dörrobst im Monat, das war das Alter der Aignerin. Irgend etwas muß geschehen, sie muß aufs Land, weg von Berlin. Ich schmierte mir alles, was ich noch an weißer Schminke fand, aufs gebräunte Gesicht. Ob sie es bemerkt haben, daß ich mich zweimal am Montag, wie befohlen, nicht gemeldet habe? Ging mir gar nicht gut, sage ich zu dem Diensthabenden in Zehlendorf. Sie sind freundlicher als in der Sieg-Epoche. Ihre Wachsamkeit geht von der näheren Umwelt fort an die Fronten, die überall rissig sind. Das taktisch brillante Ausweichen vor der Übermacht des Feindes und das elastische Zurücknehmen unserer heldenhaften Truppe, wo sind die, die das ehrfürchtig bewundern. »Aber von jetzt ab montags wieder pünktlich«, sagt der SS-Mann, kaum daß er in meinen Ausweis und in mein Gesicht gesehen hat. »Den Häuserblock in der Cicerostraße, da wo der Herr Taschner drin wohnt, den hat es letzte Woche auch erwischt.« Die 211
Aigner tut mir eine zweite Portion Steckrübengemüse auf den Teller. Irgendwo muß sie getrocknete Zauberkräuter haben, mit denen sie sogar das deutsche Dauergericht dieses Jahres schmackhaft macht. Die arme Harfenistin, nun hat auch sie hier kein Zuhause mehr, wenn sie aus der Emigration zurückkommt. »Wo der wohl sein mag, der Igel. Hat er nie geschrieben?« »Nie. Als er im Sommer aus Italien kam, hat er die Mappe mit Ihren Noten abgegeben und mir seine Lebensmittelkarte geschenkt und gesagt: ›Jetzt haben sie mich auch, Aignerin, jetzt bricht die Front endgültig zusammen. Ist aber auch nicht schade drum‹, und dann hat er sich auf der Treppe doch noch mal umgedreht und mir einen Gruß an den heiligen Antonius aufgetragen, und glauben S' mir, gnä' Frau, der bringt ihn gesund heim.« »Trug er noch Zivil ?« »Ach wo, so einen feldgrauen Anzug und geschorene Haare und ein ganz grimmiges Gesicht hat er gehabt. Greislich haben S' den hergerichtet. Vor dem läuft bestimmt jeder Feind davon.« Wenige Tage später klingelt Taschner bei uns an der Tür. Verdreckt, entstellt — die Aignerin hatte nicht übertrieben. »Heimaturlaub. Bei mir ist kein Stein mehr auf dem anderen. Hast du Platz?« Er starrt mich an. »Da hört man die schrecklichsten Gerüchte, geht vor Sorge um dich fast drauf und du hast ein heiles Haus, lachst und siehst aus, als seist du grad aus dem Wintersport zurückgekommen.« »Wir machen dir etwas zu essen. Wasch dich, zieh meinen Bademantel an und komm in die Küche zum Erzählen.« Fragen, Antworten, die abendliche Stromsperre, verlöschende Küchenlampe, Glücklichsein über die Nähe des anderen. ›»Diese Person wird Sie als Begleiter ohnehin nicht mehr benötigen‹ -, sagte man mir, als ich aus Castello Paradiso zurückkam. ›Vor deutschen Menschen und deutschen Soldaten wird die nicht mehr singen. ‹ Und ohne irgendwelche Rücksprachen mit mir nahm man mir Triangel und Schellenbaum ab, jagte mich in den Kasernenhof und drei Wochen später an die russische Front. Hast du meine Warnkarte nach Paradiso noch bekom212
men? Ja? Und wieso bist du Schnecke dann trotzdem nach Berlin zurückgefahren ?« »Wollte ich ja gar nicht. Ich mußte.« »Aignerin, geben Sie mir noch einen Schlag von Ihrem Delikateßgemüse und dann setzen Sie sich auf meine Knie und legen Ihren Arm um einen müden Krieger, der seit Monaten nichts Weibliches mehr in seiner Nähe hatte.« Als ich von Swanewitt und der Fahrt durch Rom berichte, unterbricht mich der heimgekehrte Krieger. »Wo ist mein Anzugstoff?« Die Aignerin saß auf seinen Schenkeln starr und ergeben wie ein Stück Holz, das darauf wartet, angezündet zu werden. »Kann ich euch zwei einen Augenblick allein lassen?« Ich nahm die Kerze vom Tisch, ging in mein Mehrzweckzimmer, holte den Stoff aus seinem Versteck im Wäschefach und überreichte ihn Taschner. »Du hast wirklich daran gedacht ?« »Nicht ich allein. Die Weber war nicht zu bremsen in ihrem Tun und Treiben als Rachegöttin.« »Hat sie auch was gegen Spinnstoff-Fabrikanten ?« »Gegen Despoten im allgemeinen. Was die fabrizieren, ist ihr genauso gleichgültig wie mir.« »Vielleicht kann ich mich persönlich bei der Dame bedanken. Ich werde nämlich auf zehn Tage meines Urlaubs verzichten und mich morgen freiwillig an die Südfront melden. Sie droht zusammenzubrechen.« »Und das willst du verhindern?« »Ich möchte lieber Engländern und Amerikanern mit aus gebreiteten Armen entgegengehen als Russen. Jazz und Dixieland liegen mir mehr als das Lied der Wolgaschiffer.« Er schlief bis zum nächsten Nachmittag. Die Aignerin hatte seine Uniform desinfiziert, seine Wäsche gewaschen und seine Stiefel gebürstet und gewichst. »Falls dich ein undekorierter Gefreiter nicht geniert - er würde gern, bevor es dunkel wird, einmal wieder mit dir über den Kurfürstendamm schlendern.« »Das Risiko gehst du ein. Um einen Künstler, der politisch 213
kaltgestellt ist, machen Kollegen und Freunde einen großen Bogen. Sie schauen weg oder durch dich hindurch. Es gab auch einige, die ausspuckten, wenn sie mich sahen. Bei vollem Tageslicht zu zweit Spazierengehen - ich weiß gar nicht mehr, wie das ist.« Es war schön, trotz der Ruinen rechts und links und dem Klappern der Sammelbüchsen an jeder Straßenecke. »Winterhilfswerk? Aber der Winter ist doch längst vorbei. Sehen Sie die Märzsonne nicht ?« brachte Taschner eine NS-Frauenschaftlerin in Verlegenheit. Als er drei Tage später mit dem Wehrmachtstransport nach Italien gefahren war, hatte ich ihm vorher versprechen müssen, Hinkel zu schreiben und ihn zu bitten, mich wieder auftreten zu lassen. Ich bereue das Vorgefallene zutiefst. »Das schreibe ich nicht.« »Also schreib es anders. Bitte Hanns Arens, dir zu helfen und im Schutz seines Parteiabzeichens zu Hinkel zu gehen und ihm den Brief zu übergeben. Vor den Deutschen Werkstätten und deinen andern Gläubigern hast du vorerst Ruhe. Ich habe von meinen Ersparnissen das Dringendste bezahlt. Unterschreib mir diesen Schuldschein. Ich nehme an, die Rückzahlung wird dir keine Schwierigkeiten machen. Sterbe ich den Heldentod, zerreiß den Schein. Sollten du und ich überleben, wirst du entweder wieder singen oder Frau Mendelson werden. Bis dahin werden der Förderungsfonds der Stadt Zürich und die Schule Scherchens ja ihre Wirkung gezeigt haben und er ein führender Name in der Musik sein, an dessen Seite du keine Sorgen hast.« »Falls der Platz an seiner Seite noch frei ist.« »Täte es weh, wenn er besetzt ist ?« »Ja. Sehr.« »Der Gedanke, gegebenenfalls Frau Taschner zu werden, hat nichts Tröstliches für dich?« »Kaum, mein Igel. Aber auf der Bühne und in der Arbeit bist und bleibst du ein Stück von mir.« Das Gesicht des Anwalts war nicht entzückt, als ich ihm erzählte, daß meine ersten zwei Briefversionen an Hinkel unbeantwortet geblieben waren. »Sie hätten das vorher mit mir be214
sprechen sollen«, knurrte er. »Man wird mit Recht sagen, wenn die Dame sich kräftig genug fühlt zu singen, ist sie auch in der Lage, Munition zu drehen. Ich habe etwas anderes für Sie eingefädelt. Unser Nachrichtensender in englischer Sprache setzt nach wie vor Ihre Schallplatten ein. Man weiß, daß die Tommies süchtig sind nach dieser Stimme und ihr zuliebe auch unser verlogenes Geschwätz über sich ergehen lassen. Damit man unsere Sendungen abwechslungsreicher gestalten kann, werden Sie ›Lili Marleen‹ und weitere Lieder Ihres Repertoires in englischer Sprache aufnehmen. Das wird Sie wochenlang beschäftigen. Aber singen Sie nur harmlose Titel ein, um Gottes willen nichts Politisches, das könnte uns nach Kriegsende belasten.« Meine Pechsträhne schien vorbei zu sein. Ich hatte mein englisches Repertoire aus der Heidelberger Zeit hervorgekramt, hatte typisch deutsche Schlager, von denen Engländer, die unbegreiflicherweise freiwillig für die deutsche Propaganda arbeiteten, behaupteten, sie seien in England sehr beliebt, übersetzt bekommen, stand am Mikrofon, durfte wieder singen, bekam ein markenfreies Kantinenessen und einen, wenn auch mageren, Honorarbogen, den ich an der Kasse einlöste und in barer Münze Frau Aigner übergab. Besuch von Hanns Arens. Hinkel habe ihn empfangen, und er fände es an der Zeit, einen wirklich reumütigen Brief aufzusetzen. »Das wäre durch und durch verlogen.« Arens zuckte mit den Schultern. »Denk an deine Kinder und denk an deine Aufgabe als Künstlerin. Wir werden sie brauchen in Deutschland, la voix humaine, wenn alles vorüber ist.« »Werde mir nicht pathetisch. Du bist kein Schirach und ich kein Hitlerjunge.« Besuch bei Dr. Merck. »Das hätten Sie sich ersparen können. Außer Wehrmachts- und ›Kraft durch Freude‹-Veranstaltungen gibt es in Deutschland überhaupt keine Auftrittsmöglichkeiten mehr.«
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DER PRÄSIDENT DER REICHSKULTURKAMMER DER GENERALSEKRETÄR
Berlin, den 15. Mai 43 Schlüterstr. 45 EINSCHREIBEN
Frau Lale Andersen Berlin W. 15 Cicerostr. 49
Nur in Berücksichtigung Ihrer familiären Verhältnisse genehmige ich Ihnen - trotz Ihres erwiesenen unwürdigen Verhaltens als deutsche Künstlerin — ab sofort wieder die künstlerische Betätigung in Variete- oder Kabarett-Unternehmen privater Besitzer. Sie tragen die Verantwortung dafür, daß in keiner gedruckten oder mündlichen Propaganda bzw. Ankündigung in irgendwelcher Form auf Ihre frühere Betätigung vor unseren Soldaten am Sender Belgrad usw. Bezug genommen wird. Auch jegliche Verbindung Ihres Namens mit dem SoldatenLied ›Lili Marleen‹ hat in jedem Fall zu unterbleiben. Sie besitzen nicht das Recht, in Veranstaltungen vor Soldaten oder in NSDAP- bzw. KdF.-Veranstaltungen zu erscheinen. Dies gilt auch für Veranstaltungen von Gliederungen der NSDAP und dieser angeschlossenen Vereine und Verbände. Jede Betätigung im Bereich des Großdeutschen Rundfunks ist Ihnen ebenfalls untersagt. Unter der Auflage, daß Sie beabsichtigte Aufnahmen jeweils rechtzeitig zuvor dem unterfertigten Generalsekretär der Reichskulturkammer zur Genehmigung einreichen, erhalten Sie das Recht, Schallplatten-Verträge abzuschließen bzw. Schallplatten herstellen zu lassen. Auch bei diesen Aufnahmen wie innerhalb Ihrer gesamten öffentlichen Betätigung sind Ihnen jene Lieder untersagt, die in irgendeiner Form auf die deutsche Wehrmacht oder auf Angehörige eines Wehrmachtteils Bezug nehmen. Sie werden darauf hingewiesen, daß Sie im Falle eines Verstoßes gegen obige Entscheidungen die entsprechende Bestrafung zu gewärtigen haben. Im Auftrag gez. Hinkel (HINKEL) Ministerialdirektor 216
»Ich riskiere es«, sagte Heinz Hoffmeister. »Bis in die deutschen Randgebiete sind die Gerüchte um Sie nicht vorgedrungen. Beginnen müssen wir zwar wegen der zwei Probewochen in Hamburg. Die Mitglieder des Orchesters Bach wohnen sämtlich in der Hansestadt. Aber anschließend werden wir größtmöglichen Abstand von Berlin halten. Ich denke an Konzerte im Elsaß, Straßburg, Metz, Colmar - und ans Sudetenland.« Die Aigner war einverstanden, während der Zeit meiner Abwesenheit zu den Kindern nach Globsow zu ziehen. »Dort kann man bei Fliegeralarm wirklich im Bett bleiben?« fragte sie ungläubig. »Man kann, Aignerin. Es sind dort weder Rüstungsindustrie noch andere Angriffsziele für feindliche Bomber. In den Wäldern gibt es genügend Brennholz, um im Winter einen warmen Ofen zu haben, und wie ich hörte, sollen dort auch noch die letzten deutschen Hühner leben. Falls Sie sich nicht mehr erinnern - das ist so braunes Federvieh, das Eier legt.« »Die legen nur mit Gegenleistung in Form von Zigaretten, Seife, Bettwäsche, Porzellan und ähnlichem«, belehrte sie mich, nachdem sie die ersten Koffer mit ihrem Hab und Gut in die Mark gebracht hatte. Während ich mein Programm zusammenstellte und vergessene Texte lernte, setzte die Aignerin Tag für Tag ihre Kleintransporte fort. In der Berliner Wohnung wurden Bestecke, Handtücher, Kissen, Glühbirnen und Gläser Mangelware, und als ich eines Abends vergeblich nach den Schnüren tastete, mit denen man Gardinen und Übergardinen zuzog, meinte sie, nur mäßig schuldbewußt: »Die mußten in die Reinigung.« »Ich nehme eher an, ich werde sie an den Fenstern eines märkischen Kuhstalls wiederfinden.« »Besser als verkohlt früher oder später an unserer zerbombten Hauswand.« Der Tourneebeginn mußte verschoben werden. Das Promi hatte Hoffmeisters Gesuch, das Orchester Bach für eine achtwöchige Konzertreise mit mir freizustellen, abgelehnt. Jeder deutsche Mann müsse jetzt für die Verteidigung des Großdeutschen Reiches bereitstehen. »Ich finde eine andere Lösung«, versuchte 217
Hoffmeister mich am Telefon zu trösten. »Es gibt dienstverpflichtete holländische Musiker, die glücklich sein werden, Sie zu begleiten, und diese Verhandlungen gehen über eine mir befreundete Dienststelle und nicht über Herrn Hinkel. Starten werden wir trotzdem im Hamburger Konventgarden.« »Polk nicht an deinen Fingernägeln.« Hannoverscher Gouvernanten-Ton. »Du wirst deine Krallen noch brauchen. Der Hinkel bereut seinen Brief bestimmt schon bitterlich. Mit Heinz Hoffmeister hat er natürlich nicht gerechnet. Deine Rivalinnen werden wieder aktiver werden und ein paar Scheite nachlegen, damit die Empörung über dein undeutsches Verhalten wieder zu glühen beginnt. Man spielt ja allabendlich ›Dame des Hauses‹ im ›Klub der Deutschen Künstler‹ in der Viktoriastraße. In den hättest du dich bei Kriegsanfang einnisten sollen. Goebbels, Gutterer und all unsere Ufa-Stars verkehren da. Zwischen denen wärst du besser aufgehoben gewesen als bei diesen undurchsichtigen Typen im Presseclub.« »Je m'en fiche.« »Pfui Teufel, ordinär auch noch.« Im Oktober war es soweit. Im Hamburger Hotel »Vier Jahreszeiten« wird der Krieg ignoriert. Auf dem Boden meines behaglichen Zimmers kostbare Teppichbrücken, vor den Fenstern keine schwarzen Papierrouleaus, sondern dicke gefütterte Velours-Vorhänge, auf dem Tisch eine Schale mit Obst und nirgends eine Karte: Sie haben hierfür den Abschnitt D und E Ihrer Lebensmittelkarte zu hinterlegen. Daneben ein Blumenstrauß und ein Brief von Hoffmeister: Probenbeginn morgen zehn Uhr im Konventgarden, Orchesterleiter heißt Wittjes, Ihr Reiseleiter Gerstorff. Wird sich im Laufe des Tages bei Ihnen melden. Ich selbst komme am Tag vor der Premiere. Toi-toi-toi. Unter meinem Hotelfenster die Alster, Jungfernstieg, Ballindamm, Boots-Anleger, kleine Fährschiffe in graugrüner Schutzfarbe, so daß sie aus der Luft sicher genauso aussehen wie das Wasser, über das sie jetzt tuckern. Im blauen Oktoberhimmel weiße Wolkenbetten. »Ich mach' einen Spaziergang zu den St.-Pauli-Landungsbrücken. Falls jemand nach mir fragt, gegen 218
acht bin ich zurück.« »Das wäre gut. Jawohl, gnädige Frau, wir richten es aus.« Die Bänke, die unter den herbstlichen Bäumen der Wallanlagen stehen, sind leer. Wer hat schon Zeit, an einem milden Oktobertag wie diesem auf einer Bank zu sitzen. Gesunde Menschen arbeiten. Kinder, Kranke und alte Leute liegen im Bett und versuchen, den Schlaf nachzuholen, den sie in den Kellernächten nicht mehr finden. Die vielen schönen alten Türme mußten ihre Kupferplatten mit der grünleuchtenden Patina Kriegszwecken opfern. Sie tragen irgend etwas Graues, Unschönes. Beschämt wie Könige, denen man die Kronen genommen und eine Zipfelmütze aufgestülpt hat. Landungsbrücken. Der Wind schmeckt wie der Bremerhavener. Nach Salz, Fisch, feuchtem Holz. »Szü da, das ist doch ›Lili Marleen‹.« Ein alter Mann mit verwitterter Steuermannsmütze, der einen beinverwundeten Soldaten stützt, bleibt stehen. »Sie kennen mich noch?« »Na, dat war ja gelacht. Sie haben meinem Jüngsten doch aus Belgrad ein Autogrammfoto mit persönlicher Widmung geschickt. Hast du's bei dir, Dieter?« Dieter holt seine Brieftasche 'raus. Das Foto stimmt, die Unterschrift nicht. »Sie singen ja nächste Woche bei uns in Hamburg. Wir haben schon Karten. Sogar Muttern geht mit, die sonst ab Düsterwerden kein Mensch mehr aus'm Haus kriegt.« »Und ich hatte mir gerade überlegt, wer in dieser Zeit wohl abends noch in den Konzertsaal geht.« »Aber dat ist doch dat einzig Scheune, was uns diese Zeit noch gelassen hat. Die Kirche, die Kinos und die Musik. Eben euch Künstler.« »Darf ich Sie umarmen, Sie und Ihren Sohn?« Ich durfte. »Haben Sie in Hamburg immer so früh Alarm?« »Je früher der Alarm, desto früher die Entwarnung.« Der Kellner räumte das Abendessen, das er mir gerade servieren wollte, wieder ab. Die Hamburger Aalsuppe, die meine entzückte Nase bereits erahnte, schwebte in die Küche zurück. »In der letzten Zeit sind Schlesien und Sachsen dran. Aber 219
Hamburg ist nun mal die Einflugschneise. Hier ist der Weg zum Weinkeller. Getränke werden auch während des Alarms serviert.« Ich hatte den ganzen Tag mit meinen Noten im Konzertsaal gesessen. Kein Reiseleiter, kein Orchester. Drei Stühle zusammengeschoben, Mantel zur Rolle gedreht, unter den Kopf gefaltet, geschlafen. Abends aus dem Hotel rief ich Berlin an: »Als es schon dunkel wurde, geruhten sie endlich zu erscheinen. Verstehst du mich, Elisabeth? Na ja, weil du nichts sagst. Und nicht etwa das ganze Orchester, nur der Dirigent und der Trompeter.« »Wäre mal ein ganz neuer Sound — Dirigent, Gesangsstimme und Trompete.« »Findest du dich komisch? Und der Reiseleiter kam. Hab' sofort gewußt, daß der mir von der Gestapo zur Überwachung geschickt wurde.« »Du weißt, daß dein Apparat überwacht wird.« »Das soll nur jeder hören, daß ich genauso wachsam bin wie sie. Diesen Gerstorff können sie ruhig wieder abberufen. Der bekommt keine Chance, nach Berlin zu melden, sie hat doch ›Lili Marleen‹ gesungen oder einen Lazarettbesuch gemacht, um den gebeten wurde, oder einen Flirt mit einem artfremden dienstverpflichteten Musiker angefangen.« »Wie heißt der, Gerstorff? Ich glaub', den kenn' ich. Wie sieht er aus ?« »Genau der gleiche Typ wie Nummer Eins und Zwei in Mailand.« »Dichte glatte Haare? Blond?« »Ja, so mondscheinähnlich,« »Augen ?« »Wie eine Enzianwiese.« »Alter ?« »Na, eben das Alter, das es gar nicht mehr gibt, weil es an der Front steht und tötet.« »Töten muß. Versuch doch mal rauszukriegen, ob er mit Felicitas Förster befreundet ist.« »Wer ist das ?« 220
»Wenn es der Gerstorff ist, den ich meine, seine Freundin. Nettes Mädchen. Sie ist Nachwuchsschauspielerin bei uns im Studio.« »Habt ihr schon Alarm gehabt?« »Laut Sondermeldung wurde heute das Rheinland angeflogen. Mittags muß Die -wo in Berlin gewesen sein. Sie hat mir sechs Äpfel und zwei Eier aufs Bett gelegt.« »Unsere Gute. Bin ich froh, sie und die Jungens da draußen auf dem Land zu wissen.« Es gelang mir, ausgesöhnt mit dem verlorenen Probentag und diesem Gerstorff, einzuschlafen. »Wollen Sie der Stimme des Volkes nachgehen und ›Lili Marleen‹ als letztes Dacapo singen? Sie trampeln und rufen es schon minutenlang im Chor.« Hoffmeister wischte sich den Schweiß vom strahlenden Gesicht und ließ die Garderobentür weit offen, damit man das Geräusch über den Gang bis in die Umkleideräume höre. Der Saal war ausverkauft. Die Holländer hatten sich als Spitzeninstrumentalisten erwiesen, es hatte keinen Alarm gegeben. Jetzt, jetzt müßten die Sirenen gehen und mir die Entscheidung in dieser schwierigen Situation abnehmen. Sie schwie gen. Hoffmeister redete. »Nun gehen Sie wenigstens noch mal zum Verbeugen 'raus, vielleicht fallen Ihnen ein paar nette Worte ein, oder Sie singen halt doch das Lied.« »Damit Ihr Reiseleiter sich fünf Minuten später ans Telefon hängt und ins Promi meldet ?« »Der Gerstorff?« »Ja, der. Von wem haben Sie sich den überhaupt andrehen lassen ?« »Von niemandem. Er kam nach Mannheim und fragte, ob ich für ihn im Besetzungsbüro oder als Reisele iter Verwendung hätte.« Verärgert über die Einfalt eines Mannes, dessen Mut und Furchtlosigkeit ich bis zu diesem Augenblick bewundert hatte, ließ ich ihn stehen und ging zur Bühne. Ich würde Ihren Wunsch gern erfüllen, werde ich sagen, das Propagandaministerium hat es mir verboten. Machen Sie jetzt bitte nicht Buh, es ist Gestapo anwesend, und Ihre Reaktion könnte Ihnen gefährlich werden. 221
Ich sagte nichts, verbeugte mich immer wieder, versuchte mit bedauerndem Achselzucken und tieftraurigem Blick auszudrücken, was niemand verstand. Enttäuscht schlich ich in die Garderobe und das Publikum aus dem Saal. »Von morgen ab trete ich nur auf, wenn Sie vor der Veranstaltung auf die Bühne gehen und dem Publikum sagen, daß es ein gutes Programm hören wird, aber auf keinen Fall das Lied ›Lili Marleen‹.« Ohne zu fragen, ob es mir recht sei, hatte dieser Gestapo-Mensch sich im Autobus neben mich gesetzt und schien angestrengt zu überlegen, wie meine Aufforderung am besten zu beantworten sei. Da das Reisen mit der Bahn allen möglichen, nie genau vorauszusehenden Schwierigkeiten ausgesetzt war, hatte Hoffmeister für seine Tourneen zwei Busse gekauft. Benzin war ihm nicht genehmigt worden. Die Motoren waren auf Gas umgestellt, und der Reiseleiter hatte die Aufgabe, in jeder Stadt die Behörde aufzusuchen und um Bezugscheine für die Gasplomben zu bitten. »Wenn Sie mitgehen und ein paar Autogramme verschenken würden.« »Die Autogramme können Sie haben.« Koblenz, Trier, Kaiserslautern, Saarbrücken, Metz, Straßburg. Hoffmeister hatte einen großartigen Einfall gehabt. Wenn sich nach den vorgesehenen Dacapos in den Ruf nach ›Lili Marleen‹ leichter Groll über die Schwerhörigkeit der Sängerin mischte, hatte ich zu sagen: »Ich habe dieses Lied so oft für Sie gesungen, wie schön wäre es, wenn Sie es heute einmal für mich singen würden.« Der Trompeter Schobben — Amsterdamer Konzertgebouw-Orchester - blies leise die Zapfenstreich-Einleitung, ich summte ein paar Anfangstakte, und der ganze Saal sang das Lied. Die Wirkung war so stark, daß ihr sogar ein abgebrühter Gestapo-Mann nicht entkam. Ich sah, wie Gerstorff, der in der dämmrigen Dekoration stand, schnell über seine Augen fuhr, bevor er, wie es zu seinen Aufgaben gehörte, auf die Bühne kam und mir nach dem Schlußapplaus einen Blumenstrauß der Konzertdirektion überreichte. In den enzianblauen Augen lag Tau, und er vermied es, mich anzusehen. Die Tage wurden von Woche zu Woche kürzer. Je früher es 222
dunkel wurde, desto früher setzte das Heulen der Luftschutzsirenen ein. Ludwigshafen, Mannheim, Darmstadt, Würzburg, Schweinfurt, Heilbronn, Stuttgart, Regensburg - englische und amerikanische Bomberverbände schienen plötzlich die gleiche Tournee-Route zu haben wie wir. Kaum hatten wir in der neuen Stadt die Hotelzimmer bezogen, zum Malzkaffee aus der Thermosflasche eine Scheibe Kommißbrot mit Sirup oder Steckrüben-Marmelade genossen, ausgepackt und den Bus bestiegen, um zur Vorstellung zu fahren, heulten die Sirenen. Um nach der Entwarnung keine Zeit mehr zu verlieren und gleich mit dem Umziehen und Einstimmen beginnen zu können, fuhren wir trotzdem. Dreimal gelang es, die Stellung auf der Bühne fast eine Stunde hindurch zu halten, in den anderen Städten folgten Alarm, Entwarnung und neue Vorwarnung so schnell aufeinander, daß wir, kaum auf dem Podium, in Keller und Bunker zurückrennen mußten. Staub und Mörtel auf Haar und Kleidern, Brandgeschmack auf den Lippen, aufgerissene Hände, von Schlaflosigkeit entzündete Augen. »Nicht aufgeben«, sagte Nummer Drei. »Nächste Woche sind wir im Sudetenland. Da ist noch alles friedlich. Sie werden wieder mal schlafen können, und der Busfahrer und ich werden bedauerlicherweise am Tag ein Hühnchen anfahren und nachts einen Hasen und beides für Sie in der Hotelküche zubereiten lassen.« Krachen, Dröhnen, Splittern, bebende Kellerwände. Die Musiker zogen die Köpfe ein und umklammerten ihre Instrumente. Die hatten wenigstens das, was sie liebten, im Arm, und sie scheuten sich auch nicht, sich aneinander anzulehnen, wenn das Pfeifen einer niedersausenden Bombe und die Detonation ihr entsetztes Herz zu sprengen drohte. Es muß guttun, in solchen Augenblicken einen Arm um die schlotternden Schultern zu fühlen. Halt dich grade, Wilki, hörte ich in Gedanken Mendelsons Stimme. Rückte noch etwas weiter ab von Nummer Drei und saß in starrer Haltung und mit schmerzendem Rücken die Bunkerstunden ab. Es war fünf Uhr morgens, als wir aus dem Keller krochen. Das Bühnenhaus war eingestürzt, das Glas der hohen Fenster zerbrochen. Der Bus, den der mutige Schorsch, nachdem wir ausgeladen hatten, vor dem Konzert jedesmal aus der Stadt 223
herausfuhr und auf einem Waldweg oder in einem Park abstellte, war wieder einmal davongekommen. »Du treue Seele du«, sagte der Bassist und liebkoste mit seinen runden Händen Motorhaube und Wagentür. Wir überlegten, ob wir uns im Hotel noch schlafen legen oder uns gleich auf den Weg ins Sudetenland machen sollten. »Vorschlag Sudetenland ohne eine einzige Gegenstimme angenommen«, verkündete Gerstorff. Mit ziemlicher Sorge stellte ich fest, daß er sich das Vertrauen der Musiker bereits erschlichen hatte. Er duzte sie, und sie nannten ihn Gerry. Eine Abstimmung, die zugunsten des Hotels ausgefallen wäre, hätte sich als verfehlt erwiesen. Das Hotel stand nicht mehr. Leider gab es auch seit der letzten Nacht kein Rathaus mehr und somit keine Stelle, die uns einen Schein für das Treibstoffgas ausstellen konnte. »Mit unserem Vorrat kommen wir höchstens bis München.« Die rechte Hand des Fahrers wühlte in seinem blonden Kraushaar herum und zog beiläufig zwei Läuse heraus, die er genießerisch zwischen den Fingern zerknackte. »Wenn wir bis München kämen - da hätte ich einen Bekannten, der uns sicher helfen würde. Vielleicht sogar zusätzlich zu einem markenfreien Essen.« Aber auch Herrn Sedlmaier gab es nicht mehr: »Er hat sich vor einem halben Jahr freiwillig gemeldet und ist schon wenige Wochen später gefallen«, sagte der alte Herr in der Rezeption. »Die armen Eltern, er war der einzige Sohn.« »Aber er war einer der wenigen, dem der Begriff ›für Führer, Volk und Vaterland‹ Religion war, der an den Sinn seines Opfers glaubte. Selig sind die Einfältigen, denn sie werden Gott schauen.« Er schlug das Kreuz, führte uns ins Restaurant, das inzwischen auch mehr wie ein Wartesaal dritter Klasse aussah und sprach mit dem Oberkellner. »Während Sie eine Kleinigkeit essen, werde ich wegen der Gasplomben telefonieren.« Die Kleinigkeit bestand aus einer gewaltigen Terrine Erbsensuppe. Die Speckstücke, die in ihr herumschwammen, erwiesen sich zwar später als Maden, aber in unserem Heißhunger und irregeführt durch zwei echte 224
Schweineschwarten, die aus der dampfenden Suppe hervorschauten, hatten wir es nicht gemerkt und sie genießerisch auf der Zunge verschmelzen lassen. »Mit den Bezugsscheinen, die uns der liebenswürdige alte Herr besorgt hat, können wir nicht nur bis ins Sudetenland, sondern bis nach Mannheim zurückfahren«, verkündete Nummer Drei, als wir wieder auf der Landstraße waren. »München.« »Bitte ?« »Ich sage nur: München. Solche Menschen gibt es nur in München.« Wittjes beugte sich vor. »Aber wir werden doch hoffentlich länger im Sudetenland bleiben?« »Von mir aus wochenlang.« Nummer Drei blickte mich an, aber auf einen Kommentar von mir konnte er lange warten. »Vorerst habe ich nur die Termine für Gablonz und Reichenberg. Aber in einem der beiden Orte liegt sicher ein Schreiben von Hoffmeister mit der weiteren Route.« Heile Städte, saubere Dörfer, kleine Mädchen in bunten Trachten, die kreischend und lachend mit dem Schlitten durch den frisch gefallenen Schnee über eine hügelige Wiese sausten. Ländlicher Gasthof am Stadtrand, Wirtsehepaar, das sich verbeugt und Hand küssen will, zwei kräftige rotbackige Mägde, die zuspringen und uns das Gepäck abnehmen, hölzerne Balkendecken, niedrige Fenster, schneeweiße Gardinen, bemalte Holzbetten mit weißbezogenen Kissenwolken. Und vierundzwanzig Stunden Zeit, sich darin auszuschlafen. Wir konnten es gar nicht abwarten, am nächsten Abend gesättigt, glücklich und ausgeruht zur Veranstaltung zu fahren, um all diesem ein Jubilate zu singen. »Wir haben allerdings kein Theater, wie Sie es wahrscheinlich gewöhnt sind. Bei uns finden die Vorstellungen in der Turnhalle statt. Aber der Saal ist sauber und gut geheizt, und die Mädchen der Mittelschule haben zwei Tage lang eine Tannengirlande gebunden, die nun über der Bühne hängt«, sagte die Wirtin zu Nummer Drei und strich verlegen mit den Händen über die Schürze. »So große Künstler wie Sie hatten wir ja auch noch nie hier.« Wahrscheinlich hielt sie Gerstorff für einen deutschen Gary 225
Cooper. Sie hatte recht, so wie der hatte man als Reiseleiter auch nicht auszusehen. »Wir halten den Herd warm, nach der Veranstaltung haben Sie sicher Hunger.« »Für die nächsten vierzehn Tage bestimmt nicht, laufen wir ja schon über«, lachte Joopi, der Bassist.
Führerdienst der Hitlerjugend
Dezember 1943
SPRENGKOMMANDO HJ-BDM
- So ETWAS GIBT 'S AUCH NOCH Diesen Bericht sendet Euch der Bann 631 Reichenberg der HJ mit Grüßen und besten Wünschen: »Eines Tages erreichte uns die Nachricht, daß Lili Marleen in Reichenberg singen sollte. Sofort schmiedeten wir einen Plan, wie wir ihr die Darbietung ihrer schmierigen Lieder bei uns versalzen könnten. Wir kamen zu dem Entschluß, sie einmal richtig auszupfeifen, weil wir es unerhört finden, daß solche »Kunst« noch öffentlich verzapft werden darf. Unsere systematische Propaganda hatte Erfolg, die Karten bei Sollers gingen gut weg und kamen in unsere Hände. Mittwoch hieß es auf einmal, heut singt Lili Marleen in Gablonz. Und wir fanden es angebracht, die ganze Sache dort schon steigen zu lassen, damit sie gleich ihre Reise durch unseren Gau absagt. Im Handumdrehen hatten wir die notwendigen talentierten Leute verständigt, und alle waren mit Pfeifen jeglicher Art ausgerüstet. Zwei von uns waren inzwischen um ein Fahrzeug bemüht, und die brachten es fertig, daß uns am Abend zwei Polizeiautos nach Gablonz brachten. Fragt nur nicht, wie die Fahrt vor sich ging. Auf jedem Platz saßen drei Mädel, und wir sangen auf Teufel komm heraus. In der Gablonzer Turnhalle hatten sich schon viele Männer der Partei eingefunden, die mit uns gemeinsame Sache machen wollten. Wir erkannten sie ja gleich an ihren entschlossenen Gesichtern und den kämpferisch in die Taschen vergrabenen Händen. Obwohl niemand von uns eine Eintrittskarte hatte, kamen wir doch alle nach und nach langsam in den 226
Saal hinein. Dann begann das Konzert mit der herrlichen Jazzkapelle Urwaldorchester. Wir bemühten uns, ruhig zu sein, aber es entschlüpften uns doch immer wieder einige treffende Bemerkungen über den ›kaugummibeinigen‹ Dirigenten, worüber die Umstehenden natürlich lachen mußten, und die Stimmung wurde allmählich erfreulich. Nach diesem schwachen Gedudel kam ›Sie‹ auf die Bühne. Mit billigen Effekten versuchte sie zu imponieren, und der langhaarige Klavierspieler war sehr um den Rhythmus bemüht. Bei dem dann folgenden Trompetensolo ging der erste Sturm los. Auf einmal pfiff einer, und im Nu tobte der ganze Saal. Der Trompeter und der Dirigent erstarrten, und sie zogen mit eingezogenen Schultern ab. Der Vorhang wurde schnell zugezogen, und daraufhin begann sich der Saal wieder langsam zu beruhigen. Da wollte Lili Marleen die Situation retten und erschien nochmals vor dem Vorhang. Das war je doch für uns das Zeichen, und alles war verloren. Es pfiff in allen Tonarten, und die Pausenglocke im Saal tönte mahnend dazwischen. Die ›feinen‹ Leute verließen daraufhin schleunigst den Saal. Der Kreiskulturhauptstellenleiter erklärte das Konzert als beendet, und wir begannen spontan zu singen: ›Es zittern die morschen Knochen.‹ Daß einige mit uns nicht einverstanden waren, ist doch klar, und manche gotteslästerliche Aussprache brauste über uns hinweg. Das konnte aber der Freude über unseren Sieg keinen Abbruch tun. Für uns war entscheidend, daß Lili Marleen für unseren Gau verboten wurde. Strahlend bestiegen wir wieder unsere Polizeiautos, und singend fuhren wir nach Hause. Das ist auch der Grund, warum unsere Widersacher in Gablonz folgendes erzählen: ›Is ganz gutt, doss die Uffriehrer mit dr Polizei gehult wurden.‹ Ein reger Meinungsaustausch folgte der ganzen Angelegenheit. Wir sind der Überzeugung, daß es einmal nur eine Meinung geben wird, die unsere.« Es waren höchstens noch zwei Kilometer bis zum Hotel, als Schobben zum Fahrer ging und ihn bat, anzuhalten. Ich folgte ihm. Wir erbrachen nebeneinander. Konzertgebouw, festlich 227
gekleidetes Publikum, das Orchester im Frack, kristallene Deckenleuchter, die langsam verlöschen, berühmter Gastdirigent, der mit dem Taktstock ans Pult klopft, Schobbens sensibles Gesicht, das den Einsatz erwartet wie ein Rennpferd die Startglocke. Er putzte sich den Mund mit Schnee aus. Das kannte ich noch nicht. Es nahm den Geschmack des Ekels fort. Noch ein Griff in den Schnee, Kopf zurückbiegen, Schnee auf die Stirn und langsam in den Mund träufeln und herunterschlucken. Die Wirtin blickte uns nicht an. Sie wußte bereits alles. Eine der Mägde war in der Vorstellung gewesen. Wenn jetzt nur Nummer Drei nicht mit verlogenem Pathos sagte: Das ist noch nie vorgekommen und wird auch nicht wieder vorkommen. Morgen in Reichenberg ist alles wie sonst. Er sagte es nicht. Es sagte überhaupt niemand ein Wort. Jeder ging in sein Zimmer. Ich hörte, wie sie von innen die Tür zuriegelten. Nummer Drei mußte schon früh aufgestanden sein. »Er versucht seit Stunden, ein Gespräch nach Mannheim zu bekommen,« die Wirtin stellte Frühstückskaffee und Weißbrot auf den Tisch. »Nicht nach Berlin?« »Nach Mannheim.« »Warum telegrafieren Sie nicht?« »Wer weiß, wann die Antwort hie r wäre. Wir müssen ja heute, jetzt gleich, wissen, wo der nächste Spielort ist. Hoffentlich nicht zu weit und hoffentlich ist da ein Spital. Schobben hat fast vierzig Grad Fieber.« »Das hiesige ist zwar Lazarett, aber ungefähr zwölf Betten durften sie für die Zivilbevölkerung behalten.« Schobben allein in diesem Ort lassen ? Die Wirtin mußte sich mit einem empörten Blick als Antwort begnügen. Mittags kam der Kulturwart. Er hatte mit Berlin telefoniert und dann in Mannheim angerufen. Für ihn gab es natürlich keine blockierten Leitungen. »Die Tournee wird abgebrochen. Die Truppe hat auf direktem Weg nach Mannheim zu fahren und das Orchester dann weiter nach Arnheim. Schanzarbeiten. Heil Hitler.« 228
Sie hatten Steine in den Autobus geworfen. Schorsch fegte die Scherben von den Sitzen und warf sie in den Hof. Sobald wir im nächsten Dorf waren, würden wir uns Pappe und Lappen besorgen und die Fenster abdichten. Ein Problem war die eingeschlagene Windschutzscheibe. Niemand würde so schnell einen Ersatz besorgen können. Es würde auch niemand versuchen, solange wir in einet Gegend waren, in der die ›Grenzlandzeitung‹ gelesen wurde, die in Schlagzeilen von unserer Niederlage berichtete. Wir hatten Schobben in alle vorhandenen Mäntel und Decken eingewickelt und auf die Rückbank gelegt. Er wollte, wenn es schon sein müsse, lieber in unserer Nähe im Bus sterben als zwischen den Braunhemden dieser Gegend und hatte dafür unser aller Verständnis. »Hätten Sie nicht besser Ihren Mantel anbehalten?« fragte mich Nummer Drei. »Danke, mir ist nicht kalt.« »Soll ich meinen Arm um Ihre Schultern legen?« »Ich heiße doch nicht Felicitas Förster.« »Sie kennen sie ? Sie ist mein Patenkind. Die Tochter meines gefallenen Schwagers. Möchte Schauspielerin werden. Ein lie bes, braves Mädchen.« »Sie ist Ihre Nichte ? Legen Sie den Arm um mich.« Eine Möwe schwebte um meinen Kopf. Eine merkwürdige Möwe, die nicht kreiste und nicht schrie und deren Flügel immer größer wurden. Ich fürchtete mich und wollte fortlaufen. Sie hielt mich fest. Aus den Flügeln wurde die Haube einer Ordensschwester. »Ich glaub', sie hat die Krise überstanden, Herr Stabsarzt.« Hand auf meiner Stirn, Hand auf meinem Puls. Ich lag nicht mehr auf der Bank im Autobus, den Kopf neben Schobbens Füßen und die Füße neben Schobbens Kopf. »Wo sind meine Kollegen?« »Sie sind gestern weitergefahren. Sie hätten vielleicht gewartet, aber niemand konnte ahnen, daß Sie sich so schnell fangen würden. Auch den Trompeter haben wir dank einiger Spritzen reisefähig bekommen. Er wird dann in einem Amsterdamer Krankenhaus weiterbehandelt. Wir sind hier überbelegt mit 229
Verwundeten.« »Sind wir hier in Traunstein?« Der Arzt sah mich überrascht an. »Ich weiß noch alles. Nach zwei Tagen im Autobus bekam ich Schüttelfrost. Man legte mich zu Schobben auf die Bank, und Schorsch sagte, bis Traunstein müsse es noch gehen, und wenn er dort keine neue Windschutzscheibe bekäme, müßten wir die Reise mit dem Zug fortsetzen.« »Er hat eine aus München geholt und da wohl auch, dank der Verbindungen eines Bekannten von Ihnen, Gasgutscheine bekommen. Mich holte man in unsere Bahnhofswirtschaft, wo Sie mit hoher Temperatur lagen und scheinbar unter den Nachwirkungen eines seelischen Schocks um sich schlugen und phantasierten. Sie haben Kinder, gell ?« »Als wir Sie bei uns im Lazarett hatten«, sagte die Möwe, »riefen Sie immer wieder nach Björn und Michael und Nummer Drei. Haben Sie noch ein drittes Kind?« »Nach einem Robert habe ich nicht gerufen?« »Robert? Nein.« »Dann muß ich wirklich sehr verwirrt gewesen sein.« »Nun wollen wir aber keinen Rückfall heraufbeschwören und noch einmal ganz brav ein paar Stunden schlafen. Hier ist die Glocke, wenn Sie etwas brauchen. Schwester, verdunkeln Sie die Fenster.« »Ist der Reiseleiter auch weitergefahren?« »Herr von Gerstorff bekam aus Mannheim den Auftrag hierzubleiben, bis es Ihnen besser geht. Werden Sie jetzt schlafen?« »Lange. Und glücklich. Und danke schön für alles.«
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Wo du nicht lieben kannst, geh weiter.
Die Sonne funkelte und strahlte, als gelte es Ostern zu begehen und nicht die Weihnachtstage des Jahres 1943: Gerstorff hatte mich bis an die Knie in Wolldecken eingewickelt und mir vorsorglich auch noch eins der rotweißkarierten Kopfkissen in den Rücken geschoben. Sein Liegestuhl stand neben meinem. Himmel - blau wie das Krönungsgewand einer Prinzessin. Verschneite Bergspitzen, zu deren Geflimmer man nur mit blinzelnden Augen aufschauen konnte. Kein Alarm. Kein Brandgeruch. Hinter geschlossenen Augen das Gefühl, daß die Sonne alle Sorgenfalten und ungeweinten Tränen der letzten Wochen wegtupft und zu etwas Vergangenem macht. Gerstorff hatte in der Nähe von Innsbruck ein altes Tiroler Haus gefunden. Bis zu seiner Einberufung zum Militär vor sechs Wochen hatte ein Maler darin gewohnt. Die Buchenscheite, brav vor der Hauswand unter dem hölzernem Umlauf des ersten Stocks aufgeschichtet, die Vorräte an Mehl, Kartoffeln und Zucker und das Federvieh, all das habe er noch für sie zusammengetragen, sagte seine Mutter und fuhr mit den gichtigen Händen über die Augen. Auch eine Absprache mit der Bäuerin auf dem Nachbarhof war getroffen worden, damit sie sich jeden Tag einen Liter Milch holen könne. Sie war froh, Gäste im Haus zu haben und darüber, daß Gerstorff ihr morgens ihren Kräutertee kochte und ans Bett brachte, im Küchenherd und in den beiden dicken Kachelöfen Feuer anzündete, Milch holte, den Hühnern die Eier abnahm, sie zur Belohnung fütterte und ihnen die Stalltür öffnete, damit Sonne, Freiheit und der Hahn ihnen Ansporn zu weiterer Produktivität seie n. Nummer Drei legte seine Hand auf meine, und ich hätte nicht sagen können, was ich als wärmender empfand, die Sonne oder diese Hand. Hand des großen Bruders. »Warum eigentlich kann man Tage wie diese nie ohne ein kleines Schuldgefühl hinnehmen ?« Gerstorff dachte nach. Spontane Antworten waren von ihm 231
nicht zu erwarten. Bevor er sie gefunden und formuliert hatte, gab ich sie mir meistens selbst. »Bleiben Sie nur liegen«, sagte die Bäuerin, die mit ihrer kleinen Tochter vom benachbarten Hof herübergekommen war. »Ich wollte nur fröhliche Weihnachten wünschen und die Milch abgeben und etwas vom Christkind. Mittags bin ich nicht da. Ich besuch' meinen Mann im Lazarett in Mittenwald. Hoffentlich kommt er auf den Hof zurück, wenn seine Erfrierungen verheilt sind, und nicht wieder nach Rußland. Na servus, das wird a Freid werdn im Stall und in der Kammer.« Sie dehnte unbefangen Arme und Brustkorb, gurrte und warf einen hellblauen prallgefüllten Leinensack auf Gerstorffs Schenkel. »Sag den Herrschaften Grüß Gott, Adelheid«, ermunterte sie das Etwas, das sich unter ihrer Schürze verkrochen hatte, wickelte es aus und zog es wie einen Handkarren hinter sich her. »Noch a Maderl laß ich mir nicht ins Nest legen. Jetzt möcht i an Bubn«, rief sie uns über die Schulter zu. »Es sind ja gottlob nur die Fuß erfroren beim Josef. Alles andere ist in bester Ordnung.« Wir hörten ihr Lachen noch, als wir sie nach der Wegbiegung nicht mehr sehen konnten. »Es hat keinen Sinn, Flöte zu spielen, wenn alle anderen auf die Pauke hauen, hab' ich einmal bei Balzac gelesen.« Nummer Drei hatte sich wieder in den Liegestuhl zurückgelehnt. Seine Hand auf meine zu legen, hatte er vergessen. Bezog er Herrn Balzacs Erkenntnisse auf die Bäuerin? »Solange es Menschen gibt, gibt es das Gute und das Böse, das Recht und das Unrecht, den Hunger und den Überfluß.« Seine Stimme hatte die Monotonie eines Weihrauch-Glöckchens. »Wollte man alles Leid auf der Welt miterleiden, würde man zusammenbrechen. Sie hatten das Glück, mit Ihrem Lied und Ihrer Stimme Millionen Trost und Hoffnung zu geben. Es muß Sie nicht bedrücken, wenn Sie in dieser dunklen Zeit mal einen kleinen Zipfel Sonne und Sorglosigkeit erwischen.« Seine Hand war wieder da. »Ich werde es versuchen. Wer weiß, wie das Weihnachten 1944 aussieht.« »Falls wir uns überhaupt danach sehnen sollten, es noch zu erleben, so schön wie dieses bestimmt nicht.« 232
Am Heiligen Abend hatte ich die Maler-Mutter zur Christmette begleitet. Auch in Tirol waren es nicht mehr die alten Kirchenglocken, die zur Ehre Gottes läuteten. Sie waren zur Ehre des Großdeutschen Reiches abmontiert und zu Kriegsmaterial entehrt worden. »I mag die Mißtönerne schon gar nimmer hören«, stöhnte die Maler-Mutter. »Horchen's einmal«, wir blieben stehen, »das klingt doch mehr wie der Ruf des Satans, als der vom Gottvater.« Gerstorff war zu Haus geblieben. Er empfing uns mit einem gedeckten Tisch, einem Tannenbaum, an dem eine Kerze brannte, und einer heißen Milchsuppe. In dem Stoffsäckchen der Bäuerin war außer Äpfel und Nüssen eine Pergamenttüte mit Gänseklein gewesen. Wir hatten es nachmittags vorbereitet und wärmten es jetzt auf. Die alte Frau sprach das Tischgebet, und dann genossen wir schweigend die Köstlichkeiten, die den solcherlei entwöhnten Gaumen entzückten. Früher war Weihnachten ein Fest, an dem eine Familie zusammenfand. Im Krieg suchten am Heiligen Abend Menschen die Nähe des andern, die nichts miteinander verband als ein Zufall. Die Gedanken der alten Frau suchten sicher ihren Sohn in einem Schützengraben oder Unterstand, und verloren ihn wieder in der fernen russischen Weite. Meine waren in Globsow und stellten sich vor, wie die Kinder mit Aignerin, Reuters und Elisabeth, die sicher während ihrer freien Tage aufs Land gefahren war, Weihnachtslieder sangen und sic h gegenseitig feierlich und mit großen Gesten kleine Päckchen überreichten, die irgendeine Nichtigkeit enthielten. Mendelson zu suchen, hatten sie aufgegeben. Ich mußte mich mit der Gewißheit trösten, daß ihm im Schutz der neutralen Schweizer Berge wenigstens vom Krieg keine Gefahr drohte. Und mit der Hoffnung, daß seine Musik ihn so beanspruchte, daß sie ihm keine Zeit ließ für die Lockrufe irgendwelcher unsympathischer Nebenbuhlerinnen. Nummer Drei blickte in die langsam herunterbrennende Kerze. Bei wem seine Gedanken wohl waren? Ich hatte noch nicht herausfinden können, ob seine Schweigsamkeit dialektische 233
Trägheit war oder die menschliche Bescheidenheit, seine eigenen Belange für zu unwichtig zu halten, um darüber zu sprechen. Als die Maler-Mutter schlafen gegangen war, setzten wir uns auf die Ofenbank, lehnten den Rücken an die warmen Kacheln, und Gerstorff holte eine Wolldecke und tat sie um meine Füße. »Wie ein großer Bruder.« Nummer Drei sah mich nachdenklich an. »Wollen Sie als Weihnachtsüberraschung heute nicht mal aussprechen, was Sie sonst immer nur denken? Sie wissen inzwischen alles von mir. Daß ich eine verabscheuungswürdige Person bin, die man auspfeift und vor der man ausspuckt. Irritiert, ratlos, unbrauchbar. Ich weiß von Ihnen gar nichts.« Das Weihnachtslicht ist heruntergebrannt. Die Beleuchtung hat der Mond übernommen, rund und golden, wie es früher einmal Christbaumkugeln waren. »Ihr Haar muß aus Mondstrahlen sein. Ich hab' noch nie so unwirkliche Haare wie diese gesehen.« Nummer Drei blickt auf seine Hände. »Auch die sind eine Sonderanfertigung vom lieben Gott. Und Ihr Gang, und Ihre Größe. Aber das Unwirklichste ist die Farbe Ihrer Haare und Ihrer Augen. Wem gehört das alles ? Bei wem waren Ihre Gedanken, als wir aßen und die Kerze brannte?« Ich rede wie ein Jüngling zu seiner Angebeteten, denke ich ärgerlich. Aber irgendwie muß man ja versuchen, Schweigende zum Reden zu bringen. Vielleicht wäre Alkohol zu diesem Zweck geeigneter? »Haben wir gar nichts zum Trinken im Haus ?« »Möchten Sie einen Tee ?« Gerstorff springt auf. »Tee? Ich dachte an etwas Härteres.« Ratlosigkeit in den Enzianblauen. »Also lassen wir es. Setzen Sie sich wieder.« Im Laufe der Nacht befreit er sich dann doch noch von meinem Verdacht, er arbeite für den SD, den Sicherheitsdienst, oder die Gestapo. In einem langen Monolog erfahre ich, daß er im Diplomatischen Dienst gewesen sei, im Frühjahr 1943 vor die Wahl gestellt wurde: Fronteinsatz oder innere Aufgaben. Er habe letzteres vorgezogen. Worin sein Dienst bestand? Gauleitern beizubringen, wie man Austern, Artischocken und Hummer ißt, deren Töch234
tern das Unentbehrlichste an Fremdwörtern beizubringen und den Ehegattinnen, daß Frans Hals kein Sänger, Rembrandt kein Dichter und Schiller kein Maler war. Durch seine Nichten sei er dann mit Theaterleuten zusammengekommen, habe erfahren, daß Hoffmeister eine Tournee des Wiener Burgtheaters vorbereitete, sich in Mannheim vorgestellt und als Organisator dafür beworben. Da die Terminplanung noch nicht abgeschlossen war, sei er zwischenzeitlich zu mir nach Hamburg geschickt worden. »Tut es Ihnen leid?« »Ich wüßte niemanden, der in seiner augenblicklichen Situation einen Beschützer so notwendig hat wie Sie.« Meine Umarmung und mein Gute-Nacht-Kuß morgens um drei waren nicht unbedingt schwesterlich. Die Sonne, die sich bereits seit einer Woche von keiner Wolke verdrängen ließ, enthob uns jeder Sorge, was wir mit diesem Tiroler Pausenzeichen, das sich da überraschend in unseren Lebensablauf gezwängt hatte, anfangen sollten. Vormittags krochen wir in die Liegestühle, nachmittags schwankten wir sonnetrunken in den Schatten des Hauses, kippten mit brummendem Schädel aufs Bett, schliefen postwendend ein und trafen uns um vier zur »Brotzeit« mit Muckefuck oder heißer Milch. »Mei Bua hot mi immer Schnufi gnannt«, schniefte die MalerMutter. »Wie er nur auf den Namen kommen ist? Aber jetzt würd i ihn das so gern wieder einmal sagen hören. Sie dürfen mich auch so nennen, wenn Sie mögen.« Nachdem die Sonne die rotgoldenen Scheinwerfer von den Bergspitzen genommen und mit ihnen verschwunden war, wurde es von einer Stunde zur anderen bitter kalt. Nur widerwillig löste ich mich am Spätnachmittag aus der Wärme der Stube, kroch in Jacken und Mantel und trabte hinter Nummer Drei her hinunter ins Dorf. »Bewegung muß sein. Wenigstens einmal am Tag.« »Aber gleich so weit. Der Weg hinab dauert eine halbe Stunde, und wenn man ihn wieder heraufsteigt, fast das Doppelte«, versuchte ich ein Entgegenkommen auf einige Kilometer. Nummer Drei wies auf seine Ohrenschützer, um vorzutäu235
schen, daß er nichts verstanden habe, und zog mich herzlos in die Kälte. Nach dem Abendbrot blieben wir am Tisch sitzen und lasen. Gerstorff überließ der alten Frau und mir großzügig den ›Tiroler Boten‹, den wir aus dem Dorf mitgebracht hatten. Schnufi vertiefte sich in den lokalen Teil, die Todesanzeigen und die Tauschangebote. Guterhaltene Garderobe meines gefallenen Mannes, Größe 48, zu tauschen gesucht gegen zwei Leghühner. Wer sucht Lesebrille und gibt dafür Säuglingswäsche und Jäckchen. Kranke Kriegerwitwe gibt täglich einen Liter Milch dem, der ihre drei Kühe melkt, da Knecht eingezogen. Ich entnahm der ersten Zeitungsseite, daß die Front in Rußland wieder einmal erfolgreich begradigt worden war, daß die Amerikaner 100 km hinter der deutschen Front bei Nettuno gelandet seien, der Feind seine barbarischen Bombenangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung fortsetze, das deutsche Volk aber dennoch in unerschütterlichem Vertrauen hinter seinem Führer stehe. Nummer Drei las Ganghofer. So weltvergessen hatte er sich als Kind wahrscheinlich auch in Karl May vertieft. Auf dem kleinen Bücherregal von Schnufis Sohn, der so malte, wie Ganghofer schrieb - verschneite Wälder, röhrende Hirsche, Dorfkirchen mit Zwiebeltürmchen -, waren nur zwei Schriftsteller vertreten: Ganghofer und Anzengruber. Da wir die Bücher aus unserem Tourneegepäck längst ausgetauscht und gelesen hatten und es im Dorf keinen Buchladen gab, würde auch ich mich früher oder später mit Ganghofer abfinden müssen. Am letzten Tag des Jahres brachte der Postbote das Weihnachtspaket von Hoffmeister, aufgegeben am 20. Dezember in Mannheim. Es enthielt für mich fünfzig Rollen »Atemglück«. Wahrscheinlich hatte ein Hoffmeister-Ensemble den Herstellerbetrieb auf einer Weihnachtsfeier ehrenhalber bespielt und war statt mit Gage mit einigen Großpackungen seiner Erzeugnisse entlohnt worden. Das erste »Atemglück« verbrannte mir fast den Hals. Mit krebsrotem Gesicht würgte ich es wieder herauf und in den Papierkorb. Das Zeug mußte für die Kehlen starker Zigarrenraucher und priemender Seeleute gedacht sein. Da war das Geschenk, das für Nummer Drei im Päckchen lag, schon 236
ungefährlicher: das Feuerzeug einer Automobilfirma, das, da benzinangetrieben und dieser Stoff ein Fremdwort geworden war, ohnehin Warteliste hatte. Am Boden des Pakets eine Karte: Beste Weihnachtsgrüße. Nach dem Krieg machen wir weiter. Hoffmeister. An die Karte war die Kopie eines Briefes an Nummer Drei beigefügt, ebenfalls vom 20. 12. 1943 datiert und anscheinend verlorengegangen. »Sie sollen am 2. Februar in Berchtesgaden bei der Pianistin Carola Engström sein und sie auf einer Tournee begleiten.« Ich reichte ihm den Brief. Beim Gedanken daran, Nummer Drei wieder hergeben zu müssen und noch dazu an eine andere Künstlerin, tat ich mir schrecklich leid. So stolz ich auf meine Selbständigkeit und die Unabhängigkeit meiner Entscheidungen war, kaum begegnete ich einem männlichen Wesen wie Taschner oder Nummer Drei, schon wurde ich zur lahmen Taube, selig darüber, die Verantwortung dem Stärkeren, dem Auerhahn über mir, überlassen zu können. Und nun sollte schon wieder Schluß damit sein? Was dachte sich der Mannheimer eigentlich, was aus mir werden würde, wenn er mir Gerstorff wegnahm? Sollte ich in dieser Tiroler Einsamkeit langsam von meinen Kindern und der Mitwelt vergessen werden, allein gelassen mit Schnufi, Postkartenbildchen, Ganghofer und Anzengruber ? Wie kam ich ohne einen Hoffmeisterbus und Gerstorff als Schutzpatron jemals hier fort? »Sie haben doch selbst gesagt, daß niemand auf der Welt Sie so nötig braucht wie ich.« In den Enzianblauen Warten auf eine Eingebung. Als ich hinter ihm her ins Dorf schlurfte, schicksalsgebeugt und alt wie die Maler-Mutter, waren seine Überlegungen so weit, ausgesprochen zu werden. »Natürlich sind Sie hier besser aufgehoben als in Berlin. Ich bin überzeugt, daß sich die Engström-Tournee hauptsächlich im österreichischen Raum bewegt. In Deutschland gibt es ja kaum noch heile Konzertsäle. Da könnte ich an spielfreien Tagen doch jeweils hierher kommen und mich um Sie kümmern.« Als wir aus dem Dorf zurückkehrten, den ›Tiroler Boten‹ und die Silvester-Zuteilung von dreiprozentigem Punsch im Arm, fing es an zu regnen, und der aufkommende Südwind 237
war so stark, daß ich ächzend, Kopf und Oberkörper vorgebeugt, die Enden von Gerstorffs Regencape umklammernd, den schmalen Pfad hinter ihm bergan stieg. Dies wenigstens würde mir erspart bleiben, wenn er weg war. Ich würde die warme Ofenbank nicht mehr verlassen, langsam austrocknen und zu Staub werden.
»Nun rede dir doch bitte aus, Mami, daß meine Einberufung irgendwie mit dir zusammenhängt. Auch Schulfreunde von mir haben Stellungsbefehle bekommen, und die sind auch erst sechzehn und siebzehn Jahre alt.« Der Junge im grauen Soldatenanzug und mit kurzgeschorenen Haaren, der mir im Eßraum der Kaserne gegenübersitzt, legt ungeschickt seinen Arm um meine Schultern. »Wie lange lernt ihr denn, bis - bis -« das Wort Fronteinsatz bleibt an meinem Gaumen kleben. »Von hier aus kommen wir zur weiteren Ausbildung noch nach Dänemark. Vielleicht ist dann der Krieg schon zu Ende. Seit die Alliierten im Juni in der Normandie gelandet sind, geht es ja sehr schnell mit unserem Rückzug.« Ich sehe mich ängstlich um. Björn lächelt. »Keine Angst. Das mit unserem Endsieg glauben doch nur noch Narren.« »Aber Hitlers Kasernen sind doch Brutstätten für eben diese Leute«, flüsterte ich besorgt. »Besuchszeit zu Ende. Kantine räumen«, brüllt ein Unteroffizier. In der Schar alter und junger Frauen gehe ich zur U-Bahn. Wie mager und verhärmt alle aussehen in ihren formlosen Kleidern, ein Kopftuch um die glanzlos gewordenen Haare. Als sie noch bunt und fröhlich durch Sommertage wie diese gingen, waren sie Mädchen und Frauen. Jetzt haben sie für Hitler deutsche Mädchen und Frauen zu sein, stolze Germaninnen, sich ihrer Pflicht bewußt, für die Erhaltung der nordischen Rasse zu gebären und zu kämpfen. Was der Schnauz wohl sagen würde, sähe er das Ergebnis seiner Ideologie. Aber er sah ja nichts als die schützenden Betonmauern seines Führerbunkers. 238
In meiner Wohnung erwartete mich die Jungmann. Sie war mit einem Ufa-Team sechs Wochen in Prag gewesen. In den Berliner Filmateliers hatte sich nicht mehr arbeiten lassen. Einige waren Bombenschutt, in den anderen mußte wegen der Alarmsirenen so oft abgebrochen werden, daß die Produktion dem befohlenen Endtermin um Wochen hinterher hinkte. »Aber Prag war auch kein Honigschlecken. Diese drohenden, feindlichen Gesichter der Tschechen rund um dich herum - also da möcht' ich das Kriegsende nicht erleben.« Die Jungmann sah sich liebevoll in der Wohnung um. »Mit wie vielen seid ihr hier denn jetzt?« »Keine Ahnung. Auf alle Fälle ist kein Mann mehr darunter.« »Wie schrecklich. Nur Weiber?« Elisabeth drehte sich eine Zigarette und zündete sie an. Ihr beizender Duft jagte mir die Tränen in die Augen. »Was rauchst du denn da?« »Eine Edelmischung aus getrocknetem Kartoffelkraut und Heu. Du weißt gar nicht, um welche Genüsse du dich bringst seit du nicht mehr qualmst.« »Ich warte lieber, bis der Feind kommt und uns in Siegerlaune mit Camel und Lucky Strikes überschüttet.« »Dein Optimismus in Gottes Gehörgang. Aber wie das wirklich werden soll, wenn der Krieg zu Ende ist -« Die Jungmann versank in Trübsinn. »Da kommen doch tausend Frauen auf einen Heimkehrer. Grinse nicht. Du hast ja deine Reserve in der Schweiz. Aber ich?« »Wie ich dich kenne, werden mit Ausnahme von dir 999 leer ausgehen.« Die Jungmann lachte ihr heiseres Lachen. »Ich werde nichts unversucht lassen, damit du recht behältst.« Sie blickte sich um. »Wo ist dein Radio ?« »In Globsow. Seit ich aus Tirol zurück bin, bin ich meistens draußen.« »Dann stell heut abend gegen zehn mal Belgrad ein.« »Wozu? Mit wem bringen sie denn jetzt ›Lili Marleen‹?« »Du wirst es nicht erraten - mit dir. Ende Mai, kurz bevor ich nach Prag mußte, kam einer vom Belgrader Sender und 239
wollte dich besuchen. Ich sagte ihm, daß ich ihm von dir nur das Bett anbieten könne, und als wir drinlagen, erzählte er mir folgendes: Der Leiter des Senders, ein Leutnant Reintgen, hatte die enttäuschten Briefe, die nach wie vor in Riesenkörben in seinen Dienstraum getragen wurden, satt! ›Kann es nicht passieren, daß man aus Versehen nach einer falschen Scheibe greift, zum Beispiel nach der Andersen-Aufnahme ?‹ hat er seinen Plattenaufleger gefragt. Der spurte sofort! ›Kann passieren, Herr Leutnant‹, sagte er strahlend. Abends warst du es, die wieder auf Soldatenohren losgelassen wurde. Man wartete ab. Keine Reaktion aus Berlin. Das Versehen mit der Platte wiederholte sich, und seit kurzem läßt du wieder jeden Abend die späten Nebel dreh'n.« »Es ist vielleicht töricht«, sagte ich zur Aigner, als ich wieder in Globsow war. »Aber seit die Platte läuft, habe ich das Gefühl, wieder existenzberechtigt zu sein.« Ende August 1944 kam ein Feldpostbrief von Gerstorff. Die geplante Tournee mit dem Wiener Burgtheater sei trotz wochenlanger Vorbereitungen dann doch nicht durchführbar gewesen. Er habe nach Mannheim einen Stellungsbefehl erhalten und säße nun nach vier Wehrdienstwochen in Wilhelmshaven in einer kleinen Flak-Batterie auf der Nordseeinsel Langeoog. Wie er gehört habe, würden inzwischen in Berlin auch Vierzehn- und Fünfzehnjährige zum Volkssturm eingezogen. Ich verstand die Warnung zwischen den Zeilen. Der Aignerin vertraute ich meinen Entschluß an. Sie nickte unter Tränen Einverständnis. Michael, der einen Plan wie meinen nie länger als eine Stunde für sich behalten würde, erfuhr erst abends, kurz vor unserem Aufbruch, von ihm. Zu meiner Überraschung zeigte er keinerlei Abschiedsschmerz. »Na endlich ist mal wieder was los.« In seinem Gesicht Abenteuerlust. Er klemmt unser Gepäck in die Kofferklappe seines Fahrrads. »Ob uns das nicht im Weg sein wird auf unserer Reise ? Wir können das Rad doch nicht zu Fuß bis an die Nordsee schieben, und die Züge werden so überfüllt sein, daß es da keinen Platz hat.« »Aber bis wir bei einem Zug sind, ist es doch besser, ein Rad zu haben, als die Koffer zu tragen. Was hast du denn einge240
packt ?« »In den einen Wäsche, Schuhe und warmes Zeug für den Winter. In den anderen deine Schulbücher und meine Noten. Nicht die ganzen Orchesterpartituren, nur die jeweiligen Klavierstimmen.« Die Briefe von Mendelson gingen ihn ja schließlich nichts an. »Na, ob die Schlepperei des zweiten Koffers lohnt?« »Wart es ab, mein Sohn. Es wird sich herausstellen«, beschloß ich das Thema und hatte das Gefühl, den unerwünschten Koffer besonders gut im Auge behalten zu müssen. Gepäck und Fahrrad erreichten trotz einiger Gefahrenmomente Langeoog genauso unbeschadet wie wir. Am zweiten Tag wurde es dort gestohlen. Am dritten Tag lehnte wieder ein Rad an der Hauswand. Genauso klapprig und angerostet wie das Berliner. »Wo hat es sich denn wieder gefunden ?« »Meins? Gar nicht. Dies da lehnte einsam an einem Zaun. Und da stell' ich's auch wieder hin, wenn man mir mein geklautes zurückbringt.« Kriegsmoral. Erkämpfe dein Recht. Dein Stück Brot. Deinen Becher Milch. Der Staat wird dir nicht helfen. Für ihn ist der Begriff Recht zu Staub und Asche geworden. »Wie habt ihr es überhaupt geschafft, bis auf die Insel zu kommen?« fragte Nummer Drei, als er uns abends in seinem Blechbehälter einen Schlag Eintopf aus der Militärküche brachte. Wir saßen in einem hellen hübschen Zimmer, das nunmehr seit drei Jahren vergebens auf Kurgäste wartete. Untergehende Septembersonne vor den geöffneten Fenstern, heiles weißes Geschirr, dampfendes Steckrübengemüse, das fast so gut schmeckte wie das der Aignerin, eine Vase mit Dünen-Stiefmütterchen vor uns auf dem weißgestrichenen Tisch. »Ziemlich abenteuerlich.« »Nachts haben wir uns aus Globsow weggeschlichen«, Michael war selig, daß sein Redefluß, an dessen Unterdrükkung er auf der Reise fast erstickt war, wieder lossprudeln konnte. »Sie waren ja schon in unserer Klasse und haben uns für den Volkssturm vorgemustert. Tagsüber hätten sie mich bestimmt nicht mehr fortgelassen.« Gerstorff und ich blickten 241
uns an und bemühten uns, nicht zu lächeln bei der Vorstellung daran, daß ein Vierzehnjähriger unentbehrlich sei für die Verteidigung eines Landes, dessen Grenzen Zehntausende von Gegnern bereits überschritten hatten. »Auf dem Bahnhof in Stendal waren Scharen von Menschen, die aus Ostpreußen geflohen waren. Sie waren eingeteilt nach Bremervörde und Lüneburg und Oldenburg. Der Bestimmungsort stand auf gelben Karten, die sie um den Hals trugen. Mami ging mit einem Schulheft von mir aufs Bahnhofsklo und malte uns zwei Schilder mit Oldenburg drauf. Mit etwas Bindfaden von unserem verschnürten Gepäck hängten wir sie uns um den Hals. Der Zug fuhr aber nur bis Wittenberge. Dann war die Lokomotive kaputt, und wir mußten aussteigen und wurden in große Scheunen gebracht. Alte Männer und Frauen und Kinder. Und alle so eng nebeneinander, daß man sich nachts nicht mal umdrehen konnte. Das Stroh, auf dem wir lagen, stank und piekte, und wir mußten drei Tage da bleiben, bis eine neue Lokomotive kam. Und während der ganzen Zeit durfte ich nicht sprechen, denn es kam immer mal ein SA-Mann oder eine von der NS-Frauenschaft in die Scheune, und wir durften ja nicht auffallen.« Klopfen an der Tür. Stimme wie Lerchengezwitscher. »Dürfen wir schnell unsere Gäste begrüßen?« Neben der blonden, freundlichen Frau der Herr Kapitän. Rotblondes Haar. Hageres Gesicht. Helle Augen, die durch Seenebel, Schneestürme und Menschen hindurchblicken konnten. Störtebeker. Ein paar Meter größer als seine Mitmenschen, auch wenn er nicht von der Schiffsbrücke auf sie heruntersah. »Tante Ida«, stellte er uns seine Frau vor. »Och Hannes.« Mädchenhaftes Kichern. Ellenbogen in seine Rippen. »So nennt sie das ganze Dorf. Und ich gehör' doch zum Dorf?« Die Hoffnung darauf, mein Sohn würde mir infolge Gaumenermüdung einen gekürzten Schlußrapport ermöglichen, erwies sich als trügerisch. Schon ratterte er wieder los. »Als wir endlich eine heile Lokomotive hatten, kam der Bahnhofsvorsteher und sagte, ich soll das Rad in den Packwagen stellen. Und dann ging ein SA-Mann durch den Zug und schrie, wem das Rad gehöre, auf der nächsten Station flöge es 242
raus, und ich sagte, dann würde ich auch aussteigen. Und statt sich zu freuen, daß es etwas mehr Platz gibt, verlangte er unsere Ausweise, und die konnten wir ihm ja nicht zeigen, weil wir nicht aus Ostpreußen waren, und Mami sagte, wir hätten sie verloren, wahrscheinlich seien sie in der Scheune aus ihrer Jackentasche gerutscht.« »Und dann?« Gerstorff tat interessiert, als sei der Bericht meines Sohnes ein Ganghoferbuch. »Dann kam wieder einmal einer der Augenblicke, in denen man dankbar ist für einen Fliegeralarm«, versuchte ich die Geschichte zu beenden. »Alle mußten 'raus aus dem Zug und in einen nahegelegenen Wald rennen.« »Sie flogen aber über uns weg, und als wir zurückdurften, sind wir in den Packwagen gestiegen, in dem sowieso kein Gepäck war, sondern lauter Menschen. In Lüneburg mußten alle aussteigen, und wir wurden entlaust und mußten zu Fuß zu unseren Bestimmungsorten marschieren. Und da war Mami glücklich, daß wir mein Rad hatten. Ihre Sohlen waren nämlich schon nach zwei Tagen durchgelaufen, und ihre Füße bluteten, und sie war froh, daß wir uns abwechselnd auf das Fahrrad setzen konnten.« »Uff«, sagte Nummer Drei, als mein Sohn im Bett war und wir zum Strand hinuntergingen. »Dagegen klingt das Knattern eines Maschinengewehrs ja wie die Arpeggien einer Harfe. Aber der wird sich zu behaupten und durchzusetzen wissen im Leben. Und das ist für seine Generation wohl entscheidend.« Die Nordsee schwappte in spätsommerlicher Trägheit an den Strand, bestickte ihn mit Algen und Muscheln und rollte selbstzufrieden wieder zurück. Abendwind, sanft und zärtlich wie die Hände junger Verliebter. Nach den Tagen und Nächten in dichtem, schwitzendem Menschenknäuel, in dem du das Gefühl hast, dich nie mehr aus ihm herauswickeln zu können, scheint dies alles unwirklich, eine Traumlandschaft, durch die du schwebst. Nur Nummer Drei ist Wirklichkeit. Prinz-vonHomburg-Gesicht, Schultern gütig zum kleineren hinuntergebeugt, sein Arm in deinem. »War unter Ihren Vorfahren ein Indianer?« 243
»Glauben Sie, daß auf märkischen Gütern Indianer lebten?« »Wenn ich Ihre Nase betrachte: ja. So kühn geschwungene Nasen haben nur Indianer.« Er lacht. Weihrauchglöckchen verläßt die Monotonie, springt kleine Terzen hinauf und hinunter. Er hatte keine Flügel, von denen du ständig befürchten mußt, daß sie sich ausbreiten und in Höhen verschwinden, die für dich unerreichbar sind, hinter denen du herflatterst, aufgibst, beschämt zur Erde zurückplumpst. Gerstorffs Flügel sind ohne Ehrgeiz, sind Schwingen, unter die du kriechen kannst, beschützt und geborgen. Von einem solchen Mann hatte ich geträumt, bis Mendelson kam und dies Idol in Scherben schlug. Langer, milder Herbst. Champignons suchen auf grünen Weiden hinter den Deichen, Hagebutten pflücken von den wilden Rosenhecken, die jedes Inselhaus umgeben, und Sanddornbeeren in den Dünen. Das Kapitäns-Ehepaar zeigt mir, wie man das Gepflückte zu Marmelade und Saftvorrat für den Winter einkocht. Unsere kohl- und steckrübengewohnten Bäuche erleben Wunder, werden wieder straff, sind im Badeanzug keine entstellenden Kugeln mehr. »Im nächsten Frühjahr geh' ich mit dir Möweneier suchen«, sagte Störtebeker zu Michael. »Die sind so lecker, daß du darüber jedes Schokoladen-Osterei vergißt. Und in ein paar Wochen, wenn die Jagd offen ist, gibt es jeden Sonntag einen Dünen-Hasen im Bratofen.« Auf der Insel hatte man noch Freude am Essen, das für die Menschen in den Städten inzwischen nichts anderes mehr war als unvermeidbares Muß. Sogar der Eintopf, den Nummer Drei uns allabendlich brachte, wies Variationen auf, und wenn wir nach dem Essen im Garten saßen und Tante Ida den starken friesischen Tee vom Stövchen nahm und auf den knisternden Kandis in durchsichtige Porzellantäßchen goß, war das Leben so, wie es eigentlich vom lieben Gott gedacht war. Ruhe ist der Arbeit Lohn. »Wer gefällt dir eigentlich besser, Robert oder Onkel Gerry?« fragte mich Michael einmal, als wir Nummer Drei zum Zapfenstreich in seine Miniatur-Kaserne mit der gewaltigen 244
Belegschaft von vierundzwanzig Fla k-Soldaten gebracht hatten. »Und dir?« »Robert war lustiger, aber Onkel Gerry ist geduldiger.« »Wieso geduldiger?« »Oder hast du ihm schon einmal einen Kuß gegeben?« Es schien mir ratsam, das Thema zu wechseln. »Wie geht es denn inzwischen in der Schule ?« »Na, so langsam spuren die Kinder, wenn ich etwas sage.« »Ist das nicht Sache der Lehrerin?« »Ach, die ist ja mindestens achtzig Jahre alt und ist froh, wenn ich ihr die Arbeit abnehme.« »Sagen wir sechzig, und daß sie den eingezogenen Lehrer vertritt, ist doch sehr lobenswert.« »Gestern habe ich fast den ganzen Unterricht allein übernommen. In der Erdkunde mußte ich erklären, wo die Schweiz liegt und daß in Bern der Bundesrat sitzt und Zürich das beste Theater der Welt besitzt. Und was eine Demokratie ist. Die Kinder hier kennen nur die Namen der Länder, die die Deutschen besetzt haben, und die, die gegen Deutschland kämpfen, und in der Geschichtsstunde nur Hitler und die anderen und den Tag der Machtübernahme und den vom Kriegsanfang und so —.« »Und wovon hast du ihnen erzählt?« »Na, von Alexander dem Großen und Napoleon und ändern, die für ihre Eroberungssucht bitter bestraft wurden.« Ich mußte am nächsten Tag in die Schule gehen und die Lehrerin bitten, ihren Platz hinter dem Pult vor Michaels pädagogischen Gelüsten zu verteidigen. Andererseits entzückte mich der Gedanke daran, daß es in meiner Familie vielleicht einmal ein männliches Wesen geben würde, das nicht nach den Sternen griff, sondern nach Wissen und einem Lehrstuhl. Je kürzer die Tage wurden, desto früher flogen die Bomberverbände ein. Und noch immer, wenn wir bei unseren abendlichen Spaziergängen am Strand das näherkommende Brummein hörten, warfen Michael und ich uns auf den Boden oder rannten los, um uns in der nächsten Dünenmulde zu verstecken. »Ihr seid doch nicht mehr in Berlin«, sagte Nummer Drei kopfschüttelnd. »Unser Insel-Kommandant ist ein vernünftiger 245
Mann. Er würde nie Flak-Einsatz befehlen, solange die Geschwader so hoch fliegen, daß wir sie ohnehin nicht erreichen können. Der einzige Erfolg, den man sich davon versprechen könnte, wäre wohl auch eine kleine Verwarnungsbombe. Die könnte aber ausreichen, das ganze Insel-Dorf zu zermalmen. Ihr braucht euch wirklich nicht zu fürchten.« »Was tut ihr denn eigentlich den ganzen Tag in der Kaserne, wenn ihr kein Flakschießen übt ?« wollte Michael wissen. Nummer Drei übersah die Warnsignale meiner Augen. »Augenblicklich nur zweierlei. Die Pessimisten warten auf ein Telefongespräch aus Wilhelmshaven, das sie zum Schluß doch noch zu direktem Fronteinsatz ruft, und die Optimisten machen Aufstellungen und Pläne, was am Tag der Kapitulation mit dem noch prall gefüllten Lebensmitteldepot und den Häusern, die der Wehrmacht gehören, wird.« »Und was wird daraus ?« »Militärgeheimnis«, lächelte Gerry. »Laß dich überraschen, Michael.« »Wie lange dauert es denn noch bis dahin?« »Das könntest du dir eigentlich selbst ausrechnen, wenn du überlegst, daß die Alliierten bereits den Rhein überschritten und die Russen sich bis an die Oder vorgekämpft haben. Ich an deiner Stelle würde auf alle Fälle den Kofferträger am Rad reparieren. Wir haben auch Kakao, Zucker und Obstkonserven in den Magazinen.« Am nächsten Nachmittag Besuch des Ortsgruppenleiters. Er habe Michael auf dem Weg zur Schule getroffen und mit »Heil Hitler« begrüßt. Die unglaubliche Antwort des Knaben: Diesen Gruß solle er sich lieber abgewöhnen, die Siegermächte, wenn sie demnächst die Insel besetzten, würden das sicher nicht gern hören. Mein Lächeln, mit dem ich die Sache zu banalisieren versuchte, mißlang. »Die Berliner Kinder sind durch das BombenElend, zwischen dem sie in den letzten Jahren leben mußten, alle etwas ruppig geworden. Das wird sich, je länger Michael auf dieser schönen, friedlichen Insel ist, sicher mehr und mehr geben. Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir?« Innerlich brodelte ich mehr als das Teewasser. Jetzt zwang mich mein redseliger Sohn auch noch, einem Goldfasan - und 246
Herr Koschke, im Privatberuf Bauarbeiter, zeigte sich nie ohne senfbraune Amtsleiter-Uniform - einen Tee zu servieren. »Die Klavierlehrerin, Frau Melzer und ich haben übrigens beschlossen, in vierzehn Tagen in der Schulaula ein kleines Konzert zu geben, gratis natürlich, zu dem wir die Insulaner und die Soldaten einladen wollten.« »Es wäre mir lieber, Sie würden sich für das eine oder das andere entscheiden. In der Militär-Dienststelle sitzen auch einige Leute, die mir politisch sehr verdächtig scheinen. Angefangen beim Kommandanten, dem das Wort Pflichtgefühl seinem Führer gegenüber scheinbar fremd ist, bis zu dem dicken versoffenen Koch.« Macht- und Kompetenzkämpfe zwischen Partei und Wehrmacht wie bei rivalisierenden Opern-Primadonnen. Nicht nur in Berlin und Belgrad, auch auf diesem winzigen Eiland. »Wie sind Sie eigentlich auf diese Insel geraten? Nach Ihrer Sprache müssen Sie doch aus dem Spreewald oder aus Sachsen sein?« »Birna, aus'm scheenen Birna. Parteimitglied seit 1933. War bei Kriegsausbruch mit meiner Firma gerade in Wilhelmshaven, Kasernenbau. Da auf den Inseln kein zuverlässiges Menschenmaterial war, wurden wir bewährten Pgs abkommandiert, den sturen Ostfriesen beizubringen, daß Deutschlands Aufbruch zur Weltmacht begonnen hatte. Womit ich es verdient hab', nicht nach Norderney, Borkum oder Wangerooge, sondern auf diesen trostlosen Sandhaufen abgestellt zu werden — wahrscheinlich, weil hier ein Mann meines Formats besonders notwendig war. Drückeberger der von mir angesetzten politischen Schulungskurse hatte ich auch sofort heraus. Die brauchten auf einen Stellungsbefehl dann nicht mehr lange warten.« Der Mann von Format streckte mir wortlos die Teetasse entgegen, ließ sich eingießen, zog eine kleine Rumflasche aus der Uniformjacke, mischte, kippte alles in einem Zug hinunter, erhob sich, zog sein Koppel zurecht, liebkoste seine Dienstpistole, reckte den muskulösen Oberarm zum deutschen Gruß und verabschiedete sich mit den charmanten Worten: »Sagen Sie Ihrem Sohn, daß nicht der Militärkommandant, sondern ich die alleinige Befehlsgewalt auf dieser Insel habe. Und erinnern Sie ruhig auch einige andere Elemente daran.« 247
An diesem Tag schloß ich meinen Sohn vom Abendspaziergang aus. »Gerade heute«, jammerte er, »wo so viel Holz angeschwemmt ist. Wir wollten den Leiterwagen mitnehmen und ihn dir und Tante Ida bis obenhin gefüllt zurückbringen. Sag doch mal was, Gerry.« Der strich über weizengelbes Blondhaar, umarmte zuckende Knabenschultern, murmelte: »Deine Mutter wird schon recht haben, Michael. Du solltest wirklich mal einen Abend hindurch nachdenken, in welche Gefahr du dich und auch uns bringst, wenn du nicht lernst, vorsichtig zu sein. Sei lieb und tu, was Mami gesagt hat. Schreibe so lange den Satz: ›Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‹ in dein Schulheft, bis du das Gefühl hast, daß er ganz fest in deinem Kopf sitzt.« »Seine Schuld ist es ja nicht, daß er in einer Zeit feiger Verlogenheit lebt«, sagte Nummer Drei, als wir eine Zeitlang schweigend nebeneinander den Strand entlanggegangen waren. »Wie sympathisch ist im Grunde genommen sein wacher kleiner Verstand und seine spontane Reaktion auf das, was um ihn herum geschieht.« Ich schwieg, ärgerlich darüber, daß er recht hatte und daß ich gezwungen war, meinen Sohn zu Mißtrauen und Vorsicht zu erziehen. »Lange kann es ja nicht mehr dauern, bis Hitler kapituliert. Wir haben gestern abend BBC gehört.« »Hm -«, ermunternd war Gerstorffs Antwort nicht gerade. »Nachdem Hitler den Befehl ausgegeben hat: Verteidigung bis zum letzten Mann. Jeden abknallen oder am nächsten Baum aufknüpfen, wer diesem Befehl Widerstand leisten will -.« Mit der aufkommenden Flut kam von Nordwest her ein kühler Wind, spielte mit dem feinen Sandstaub, warf ihn in die Haare und, wenn man sie nicht rechtzeitig zusammenkniff, in die Augen, prickelte über die Gesichtshaut. »Haben Sie schon überlegt, was Sie tun werden, wenn wirklich endlich alles vorbei ist?« Im Weihrauchglöckchen ein leichtes Moll. Überlegt? Ich dachte schon nächtelang nur an das eine: mit Michael und seinem Fahrrad - er hatte inzwischen sein richtiges entdeckt und es ohne große Formalitäten gegen das requirierte ausgewechselt — nach Zürich zu Mendelson trampen. »Schienen und Straßen werden bis dahin völlig zerstört sein, und ich fürchte, man wird noch einige Monate auf der Insel 248
bleiben müssen.« Ich nicht, dachte ich. Ich muß zu Mendelson, erklären, fragen, erzählen, kämpfen, falls ihn mir jemand wegnahm oder wegnehmen wollte.
Im Februar brachte die Post einen Brief von der Jungmann. Ich betrachtete gerührt die Flecken und Knitterfalten auf dem Umschlag, Tapferkeitsnarben eines Briefes im Jahre 1945 auf dem mühsamen Weg von Berlin nach Langeoog. »Liebe Möwe, unser Haus steht immer noch. Man glaubt sich allmählich wegen dieser Bevorzugung fast entschuldigen zu müssen vor den benachbarten Bewohnern, die dankbar sind, wenn ihnen der Keller geblieben ist, in dem sie hausen können. Beruflich nähe ich keine Kostüme mehr für Christina Söderbaum — menschlich ein Schatz —, Hilde Krahl — ein noch größerer —, Grete Weiser — Humor-Reserven wie ein RiesenGasometer — und für Goebbels jeweilige Favoritinnen, sondern, dienstverpflichtet, für die Wehrmacht. Als Maßanzüge kann man diese Uniformen nicht bezeichnen, aber um darin zu - nee, brieflichen Kommentar hierzu laß ich wohl lieber. Mein größter Wunsch ist augenblicklich, mein eigenes Enkelkind zu sein. Ob die wohl je ermessen können, welche Seligkeit es ist, in Freiheit und in einer Welt ohne Grenzen zu leben? Beim Gedanken daran, daß sie das für selbstverständlich halten, könnte ich vor Zorn unser restliches Geschirr gegen die Wand knallen. Aber das Vorhandene würde dafür wohl kaum reichen, denn Deine Die-wo hat mittlerweile alles Meißener nach Globsow geschleppt. Da sitzt sie übrigens weiterhin, verpackt für eine Fabrik Verbandsmull und Binden und wartet wahlweise auf Dich und auf ihren Professor. Trägt schon rote VorfreudenBäckchen und blanke Augen. Taschner schrieb zu Weihnachten aus Italien, macht dort Truppenbetreuung. Na, und als Glückskind können wir wohl Björn bezeichnen. Neugierig wie ich gar nicht bin, konnte ich es natürlich nicht lassen, beiliegenden Brief von ihm zu öffnen.« Erst jetzt sah ich den Brief mit dem Stempel »Prisoner of War« 249
näher an. Da meine Adresse in Druckbuchstaben geschrieben war und nicht in der vertrauten, verträumten Schrift meines Ältesten, hatte ich ihn nicht näher betrachtet. »Ein Brief von Björn«, rief ich ins Haus, und Michael, der im Garten mit Störtebeker Brennholz gespalten hatte, kam die Treppe heraufgestürmt. »Lies mal vor, Micha.« Ich schniefe, suche nach einem Taschentuch. »Er ist in Ägypten, in englischer Gefangenschaft. Wo in Ägypten, schreibt er nicht, nur die Nummer vom Camp.« »Lies richtig, Michael, genauso wie es im Brief steht.« »Also zu uns jungen Kriegsgefangenen sind die Engländer besonders nett. Zu den älteren, die noch Herrn Hitler gewählt haben könnten, weniger. Mir vertraute man schon nach einer Woche die Ausgabe der Post und die Zuteilung der Zigaretten an die Mitgefangenen an. Auch ein Soldatentheater durften wir einrichten. Dabei stellte sich heraus, daß Du alle Begabung für Dich behalten hast und mir nicht einmal soviel vererbtest, daß es für die Rolle der ›Salome‹ langte. Ich hätte sie nicht einmal singen müssen, weil wir die Musik von einer Schallplatte abspielten und ich nur zu mimen und zu tanzen brauchte. Obwohl ich nach Ansicht des Regisseurs, der auch hauptberuflich im Stadttheater Olmütz einer ist, von der Figur her die Idealbesetzung war, nahm man mir die ›Salome‹ wieder weg. Beim Tanz mit den sieben Schleiern versagte ich kläglich. Auch fehlt meiner Stimme, wie der Regisseur feststellte, jede Sinnlichkeit. Aber als herauskam, daß die Stimme von Lili Marleen die Stimme meiner Mutter sei, war alles vergeben und vergessen. Ich wurde sogar zum Colonel bestellt, und er lud mich zu einem Whisky ein und wollte alles von Dir wissen. Sie stellen hier Abend für Abend Belgrad ein, um Dich zu hören. Ich glaub', wenn der Krieg aus ist, bekommst Du ein Paket von der Campleitung. Ob es Dich wohl noch in unserem Berliner Haus erreicht ? Oder seid Ihr inzwischen auch ausgebombt ? Ich schreibe diesen Brief am 28. Dezember und sitze dabei auf einer Bank in der Sonne. Das Klima hier ist herrlich. Kennst Du das Lied: I love those dear hearts and gentle people, living in my home town? Lern es und sing es den Engländern vor, wenn sie nach 250
Germany kommen. Text und Melodienoten lege ich bei. Love, Björn.« »Darf ich mir den Text und die Noten abschreiben? Ich möchte es den Schulkindern einstudieren, und wir könnten zum Hafen gehen und es mit dir singen, wenn die Engländer hier anlegen.« Michael las die Melodie von den Noten ab und summte sie mir vor. »Hübsch.« »Ja, ein bißchen Ahnung von Musik scheint mein Bruder mittlerweile doch zu haben«, stellte er gnädig fest. »Das mit dem Vorsingen hat er sicher nicht so ernst gemeint. Das war wohl mehr für die Zeit gedacht, in der ich wieder auftrete.« Mein Sohn war ganz in die Noten vertieft. »Morgen werde ich den Inselkindern erst mal von Ägypten erzählen. Wetten, daß sie nicht mal wissen, wo das liegt?« »Und woher weißt du es ?« Entrüsteter Blick. »Erstens hast du mich auf gute Schulen geschickt - Aegeri, Dahlem, und die in Globsow war auch nicht schlecht. Und außerdem hab' ich ja Freunde wie Robert und Gerry, die mir alles, was ich wissen will, beantworten.« »Sag mal, mein kluges Kind, könntest du dir vorstellen, Lehrer zu werden?« Lechzen nach einem Wunder in dieser Familie, nach einem Ja. Grübeln unterm Weizenfeld. »Ich werde das mal mit Gerry besprechen.« Als Nummer Drei abends mit seinem Eßnapf erschien, Vogelmutter, die ihre hungrige Brut füttert, zeigte ich ihm die Briefe. Freude in seinem Gesicht, als beträfen sie ihn persönlich. »Anscheinend ist es einem ganzen Postwaggon geglückt, von Berlin bis an die Nordsee durchzukommen. Ich erhielt auch zwei Briefe. Einen von meiner braven früheren Sekretärin, der weniger erfreulich war — meine Wohnung im Sächsischen Palais hat es nun auch erwischt, nichts mehr vorhanden als Bombenschutt — und einen von meinem Patenkind. Nachdem das Ufa-Studio geschlossen wurde, machte sie einen Dolmetscherkurs in russischer Sprache und hat ihn mit der Note Eins bestanden.« 251
»Gratuliere. Den Jungen scheint es ziemlich klar zu sein, daß jetzt Wissen ihre einzige Chance ist.« »Ich möchte zu diesem Thema auch mit dir sprechen, Gerry«, Michael erhob sich und schien mit einer längeren Rede beginnen zu wollen. »Wie wäre es, wenn wir damit bis nach dem Spaziergang warten. Im Augenblick ist es noch trocken, aber ich fürchte, mit der Flut kommt Regen.« »Ich hol' den Leiterwagen«, Michael wickelte sich in das Fragment eines Mantels und seinen Wollschal ein. »Überlaß das angeschwemmte Holz heut mal den ändern. Ich möchte durchs Dorf gehen und euch etwas zeigen.« Was gibt es in dieser Jahreszeit schon zu sehen, schien mein Jüngster zu denken. Keine Beeren, keine Pilze, keine Möweneier. Da war das angeschwemmte Strandgut ja viel interessanter. Mürrisch trabte er hinter uns her. Nach dem letzten Haus bog Nummer Drei zum Strand ab. Vor einer Wehrmachtsbaracke blieb er stehen. »Sie wurde auf den Fundamenten eines alten Fischerhauses errichtet. Wenn sie statt des Wellblechdachs wieder eins aus Reet bekäme und man die Holzwände umklinkern und weiß verputzen würde —.« »Wer wohnt denn jetzt darin?« »Niemand. Sie war als Schreibstube eingerichtet und als Not-Funk-Stelle. Ist nur der Form halber tagsüber noch besetzt.« »Könnte man mal reingehen?« Michael und ich strichen um das Haus herum. Ich richtete es bereits ein: Teppich aus weißer Schafwolle, alte flämische Schränke und Kommoden, das tomatenrote behäbige Sofa aus der Berliner Wohnung, Kupferkram unter den dunklen Deckenbalken, Inselgarten voll bunter Blumen. »Könnte man sich denn einfach reinsetzen in das Haus, ohne jemanden zu fragen?« »Ich habe bereits gefragt.« Zukunftsglanz in blauen Augen. »Von den Insulanern ist niemand interessiert. Sie haben ja alle ihre Häuser. Und bis feststeht, wem das Haus, nachdem es keine deutsche Wehrmacht mehr gibt, gehört, singen Sie sicher wieder 252
und können es kaufen.« »Und Sie?« »Oh, es gibt viel Arbeit, bis nichts mehr an die Wehrmacht erinnert, und im Haus und im Garten alles so ist, daß unsere Vagabundin sich danach sehnt, zurückzukommen und vielleicht eines Tages ganz hierbleibt.« »Wie findest du die Idee, Michael ?« Nachdenklicher Blick in mein Gesicht. »Hm, wenn man mal so alt ist wie du, sollte man vielleicht einen Mann und ein Haus haben. Und dann ist es einem wohl auch gleichgültig, ob in einer interessanten Stadt oder auf einer kleinen Insel.« »Erinnere mich daran, daß ich dir morgen etwas zum Begriff Ritterlichkeit Damen gegenüber erzähle.« »Lieber nicht, Gerry«, grinste mein Sohn und begab sich auf den Heimweg. »Der tut, als ob ich hundert sei. Dabei bin ich höchstens Anfang Dreißig«, protestierte ich und kroch trostbedürftig in Gerstorffs Arm. »Und davon muß man die fünf verlorenen Kriegsjahre noch abziehen. Mit meiner Karriere kann ich doch jetzt erst richtig beginnen.« Verständnisvolles.Nicken. »Der Junge ist in einem schwierigen Alter. In ein, zwei Jahren gibt sich das.« »Waren Sie auch mal so lieblos zu Ihrer Mutter?« »Jeder Junge erlebt diese Zeit zwischen Knaben- und Jünglingsalter. Meine Opposition richtete sich damals gegen meinen Vater. Ich hatte ihn immer geliebt, aber plötzlich empfand ich ihn als Despoten.« »Leben Ihre Eltern noch ?« Augen, die Gewesenem nachblicken. »Meinen Vater verlor ich, als ich fünfzehn war, ohne Trauer, glücklich darüber, daß meine Mutter mich ihm gegenüber nicht mehr verteidigen mußte.« Wir gingen noch immer vor dem Haus auf und ab. In meinen Gedanken war es bereits mein Haus, hatte ein ReetDach, leuchtenden Messingknauf an himmelblau gestrichener Tür, allen geöffnet, die ich wiederzusehen hoffte: Robert, Taschner, Kinder, Mutter, kleiner Bruder, große Schwester, Valeska und Franz, die Aignerin, das »Alte Testament«, die Jungmann. 253
»Und Ihre Mutter ?« »Verlor ich als Siebzehnjähriger. Es war, als sei für immer die Sonne untergegangen. Ich schaffte das Abitur nicht, wollte fort vom Gut, da sein, wo mich nicht alles an sie erinnerte. Konnte nicht. Wußte auch nicht, wohin. 1917 riß mich die Einberufung zum Militär fort. Fort von ihrem Zimmer, ihren Büchern, der kleinen Vitrine, in der ererbtes Porzellan neben altem Silber und den Fotos ihrer Kinder stand. Bauch auf dem Bärenfell, angestrengtes Genick mit Riesenkopf, erster Schultag, Ranzen auf dem Rücken, Zuckertüte im Arm, Kopf perspektivisch wieder normal.« »So sehr geliebt möchte ich von meinen Kindern eigentlich nicht werden, daß der Tag, an dem ich sie verlassen muß, sie so schmerzt und ratlos macht.« Nummer Drei lächelte. »Michael wird sicher damit fertig. Er lebt ohnehin mehr im Morgen als im Heute. Aber was Sie mir von Ihrem Ältesten erzählten -.« »Vielleicht bleibt mir noch so viel Zeit zum Leben, daß er bis dahin Frau und Kinder hat. Und wenn nicht, werden Sie ihm ein Freund sein ?« »Ich verspreche, es zu versuchen.« Bevor wir uns vom Ostwind durchs Dorf zum Kapitänshaus blasen ließen, umwanderte ich noch einmal meins. Ich wollte es haben, auch wenn es nur für die Sommermonate wäre und ich in der übrigen Zeit des Jahres an Roberts Seite Gäste empfing, Konzerte besuchte, Rezensionen sammelte, wieder nach Frie densrezepten kochen lernte. »Und wenn ich nun doch früher als erwartet zur Kasse gebeten werde?« »Die Gründlichkeit der deutschen Behörden braucht ohnehin viel Zeit, und bis die Sieger die Amtsstuben von allen Führerbildern und allem Braun gesäubert haben, werden Jahre vergehen.« Was Respektlosigkeit dem Geld gegenüber anbelangt, war Nummer Drei also auch nicht besser als der Maler und Mendelson. Es war der erste Fehler, den ich an ihm entdeckte. Abschied vor der Haustür. In dieser Nacht war ich froh, daß wir nicht unter dem gleichen Dach wohnten und schliefen. 254
Um Unbedachtes aus dem Mund meines Sohnes rechtzeitig aufzufangen und Gefahren, bevor sie sich entzündeten, zu löschen, hatte ich mir angewöhnt, ihn mittags von der Schule abzuholen. Kurzer Frageblick zur Lehrerin, Lächeln aus verständnisvollen Augen, Aufatmen, Nachhauseweg mit dem Umweg über den Strand. Wenige Tage nach meinem Geburtstag öffnete Störtebeker die Tür zu seinem Zimmer. Kopfbewegung, die uns zum Hereinkommen aufforderte. »Wir haben eben BBC gehört. Die Engländer sind bereits in Cloppenburg. Da nirgends Widerstand ist, dürften sie morgen an der Küste sein. Ich fahre das Fährschiff mit der Flut 'rüber. Sobald die Tommys da sind, ruf ich unseren Inselkommandanten an. Der muß zuerst den Sachsen festsetzen und dann die Türen zum Lebensmitteldepot öffnen. Jeder Insulaner soll so viel nach Haus tragen, wie ihm Zeit dazu bleibt. Natürlich werde ich die Überfahrt zur Insel hinauszögern, und vielleicht hilft mir der Umstand, daß gerade Ebbe ist und ich sowieso nicht ablegen kann. Aber ich muß Mißtrauen vermeiden. Michael, du sorgst dafür, daß auch ein armer diensttreuer Kapitän ein paar Konserven vorfindet, wenn er zurückkommt« — der Angeredete strahlte — »und vergiß den Tabak nicht. In Tante Idas Leiterwagen liegt eine Feldplane, die ihr diskret über die Beute legt, wenn ihr sie nach Hause rollt. Onkel Gerry und deine Mutter sollen ihren Anteil gleich in die Militär-Schreibstube bringen. Der Kommandant läßt sie heute mittag schon ausräumen, damit ihr abends rüberziehen könnt. Drei Feldbetten, Decken, Wäsche und Geschirr findet ihr ja vor. Was sonst noch getan werden muß, um bei einer Hauskontrolle der Sieger einen armen, aber sauberen Familienbetrieb vorzutäuschen, überlaß ich deiner Phantasie.« Die stand bei Michael, der verklärten Gesichts dem Kommenden entgegensah, bereits in voller Blüte. »Gibt es denn auch Teppiche und Stoffe im Militär-Depot ?« »In einem Hamsterbau, zu dem Koschke die Schlüssel hatte, halte ich alles für möglich. Aber vielleicht schenkt dir auch Tante Ida aus ihren leerstehenden Fremdenzimmern das eine oder andere ?« Nickendes Einverständnis. »Aber erst wird gegessen.« Aus den Pellkartoffeln und dem Quark wurden beim Vorge255
schmack auf das Mittagessen des nächsten Tages bereits Rindsrouladen und Rosenkohl, aus dem säuerlichen Sandbeerenkompott Vanillepudding. Wir waren nicht am Bootsanleger, als sie kamen, und sangen kein Willkommenslied. Bis zum letzten Augenblick klapperten die Handwagen durch das Dorf. Erst als Störtebeker draußen im Hafen anlegte, den besprochenen dreimaligen Warnpfiff durch den Schiffschornstein jagte, die Kirchenglocken, wie abgemacht, in Bewegung gesetzt wurden, was der Feind gerührt auf sich beziehen mochte, für den Ortskommandanten aber das Zeichen dafür war, daß die Schotten zum Proviantbunker geschlossen werden mußten, wurde es still im Dorf. »Die Tommys werden sich ja was zum Essen mitbringen«, sagte eine alte Frau am Gartenzaun zur Nachbarin. »Und wenn nicht, verhungern brauchen sie dennoch nicht. Der Lagerschuppen ist ja noch halb voll.« Wassereimer entluden sich auf weiße Spuren, die geplatzte Weizenmehlsäcke in den Straßen hinterlassen hatten, HitlerBilder und die unangenehmen Parteiabzeichen flogen auf den Düngerhaufen. Stille. Abwartende Gesichter hinter den Gardinen. Michael begann seine Zeit als Nachrichtenvermittler zwischen dem Dorf und unserem abseits gelegenen »Eigentum« hinter den Dünen. Es waren keine Engländer. Man hatte einen Trupp Kanadier auf die Insel geschickt. Die Offiziere bezogen das Rathaus, die Soldaten das Inselhotel. »Sie sprechen mit niemandem«, berichtete Michael. »Was tun sie denn so?« »Dasselbe wie vorher die deutschen Soldaten. Sie essen und schlafen. Heute waren drei von ihnen bei uns in der Schule und haben uns englische Bücher und Schokolade geschenkt. Da merkte ich, daß sie überhaupt kein Deutsch können, und ein paar Frankokanadier nicht mal richtig Englisch. Da hat man es nicht leicht als Dolmetscher.« »Bist etwa du der Dolmetscher?« »Wer denn sonst, Mami ?« 256
»Und du beschränkst dich aufs Übersetzen? Oder hast du ihnen wieder bereits eine komplette Familienchronik serviert?« »Es hat sie natürlich interessiert, wieso ich Englisch und Französisch kann.« Dieser Knabe zwang mich noch zum Ankauf eines Maulkorbs. »Und wer ich bin, hast du ihnen natürlich auch erzählt?« Ich wußte von der Lehrerin und Tante Ida, daß er jeden Laden, in dem er einen Bleistift, ein Heft oder sonst etwas zu bekommen hoffte, mit den Worten betrat: »Ich bin der Sohn von Lale Andersen.« Wahrscheinlich begann er auch jede Bekanntschaft mit diesem Satz. »Ich wollte, aber sie glaubten es mir nicht. Weißt du, was sie sagten? Ich sei ein netter Junge, und es wäre eigentlich schade, wenn ich der Sohn einer Hochstaplerin wäre. Lili Marleen hätte noch bis vor wenigen Wochen, bis zur Übergabe des Senders an die Siegermächte, in Belgrad gesungen und nicht auf diesem damned island gelebt. Sie sei eins der interessantesten Kriegsbeutestücke, und man beneidet jetzt schon den Verbündeten, dem sie in die Hände falle. Also wenn du mich fragst, Mami, sei für die lieber nicht Lili Marleen und bleibe bei uns. Der Kapitän und ich gehen morgen für dich die ersten Möweneier suchen, zu essen haben wir in der Vorratskammer jetzt auch genug, und Tante Ida hat mir gesagt, daß sie dir Ostern ein Lämmchen schenkt. Wenn das groß ist, kannst du es melken. Dann haben wir jeden Tag Milch, und die schmeckt nach Sahne und Nüssen und viel besser als Kuhmilch.« Ich warf mich gegen seinen Redestrom. »Ich fleh dich an, Michael, komm zur Pointe.« »Na ja, kurz gesagt: das alles ist doch schöner, als wenn sie dich wegschleppen und du in ihren Kasernen und Kasinos nichts anderes tun mußt, als ›Lili Marleen‹ singen.« »Ich danke dir für deine väterlichen Worte.« »Gern geschehen«, sagte mein Sohn. Im Zimmer war nichts als der Duft englischer Zigaretten. Seit fünf Jahren überkam mich zum erstenmal wieder Raucherverlangen. »North State« stand auf der geöffneten Packung, die den 257
Schreibtisch zierte. Ich starrte sie an, sah mich um. Der Raum war leer, die Tür geschlossen. Das war also das Kraut, von dem man erzählte, es mache Hitlers stolze Germaninnen zu AmiGeliebten und deutsche Männer zum Verräter am Freund. »Der Schmidt? Weiß ich genau, daß der Pg war.« - »Like another cigarette?« — »Tänkju. Dr. Maibach? Nichts hat der getan, als im Gefangenenlager Typhus ausgebrochen war. Verrecken hat er sie lassen, jawoll, Sir.« - »Maibach sofort verhaften. Zu den ändern in den Schuppen.« Nach dem »Organisieren« hieß das neue deutsche Gesellschaftsspiel »Entnazifizieren«. Es hatte auch auf dem Zettel gestanden, der gestern abend an der Gartenpforte hing: »Sie haben sich morgen früh acht Uhr zwecks Entnazifizierung mit Ihren Papieren im Rathaus einzufinden.« »Wait here«, hatte der kanadische Wachsoldat gesagt. Auf dem Türschild stand: Major Dunham. Fünf Jahre hindurch darauf gedrillt, sich militärischen Befehlen zu ducken und sie zu befolgen, kam dies deutsche Training nun den Siegern zugute. Ein Zivilist ist nichts, ein Uniformträger alles. Ich wartete bereits zwei Stunden. Das mußte doch einen Grund haben, daß sie mich hier so lange herumhocken ließen, mit nichts anderem konfrontiert als mit einer einladend geöffneten Packung »North State«. Wahrscheinlich war irgendwo in der Wand ein Loch, hinter dem man stand und auf den Augenblick wartete, in dem ich die Packung in meiner Manteltasche verschwinden ließ. Ich riß mich von ihrem Anblick los und klammerte mich an das kolorierte Foto des »King of England«. Der Gipsrahmen mußte noch vom Schnauz sein. Ich sah es an dem herausgebrochenen Hoheitsadler, der anscheinend Widerstand geleistet und ein paar goldbronzierte Federn hatte lassen müssen. »Eine Zigarette ist nichts, ein nikotin-unabhängiger Mensch alles«, sagte ich zum King, »zumindest bis wir Ihre Siegersoldaten wieder los sind.« Eisgefrorenes im Gesicht. »Hoheit sind mit seinen Gedanken wohl auch ganz woanders als in diesem Rathauszimmer? Well, sollte Ihr Major Dunham noch jemals erscheinen, werde ich ihm sagen, daß ich ihm die ersten produktiven Wartestunden meines Lebens verdanke. Sie ließen mir Zeit, meinem Verstand einen unwiderruflichen Entschluß 258
einzuhämmern: Nie mehr zu rauchen.« Schritte auf dem Korridor. Man kömmt, pflegt man in solchen Augenblicken in Theaterkreisen grinsend zu sagen. Soldatenköpfe, militärischer Bürstenschnitt, einer auf kleinem drahtigem Körper, einer auf langem, griesgrämig herumschlenkerndem. Zwei Soldatenstiefel, die auf den Schreibtisch schnellen und neben den »North State« in Ruhestellung gehen, versperren die Sicht. Ich verrenke den Hals, um um die Stiefel herum das Gesicht des Fragenden zu sehen, rutsche vom Stuhl, steh wieder auf. »Sorry.« »Hast du dein Radio und deine Waffen abgegeben ?« »Nein.« »Schreib«, kaut er den Schlenkernden an. Der zieht Stuhl an die Querseite des Tisches, versucht diesen zwischen die Beine zu bekommen, schafft es nicht ganz, wirft das Gebein ebenfalls auf die Schreibplatte. »Jedes Haus hat den Befehl erhalten, binnen drei Tagen Waffen und Radios bei uns abzuliefern. Dein Haus auch.« »Ich hab' weder das eine, noch das andere. Und warum eigentlich abliefern. Waffen kann ich verstehen. Aber Radios? Die Menschen sind doch froh, endlich wieder Nachrichten zu hören, die stimmen, und statt Marschmusik eure Schla ger.« »Deine Papiere.« »Habe ich auch nicht. Die haben sie mir in Berlin abgenommen und nie neue gegeben.« Vielsagender Blick zum Streichholz-Beinernen. »Du bist im September 44 hierher gekommen und hast diesen stupid fishermen erzählt, du seist Lili Marleen.« »Nie. Ich bin Lale Andersen.« Zweiter Blickaustausch. »Like a cigarette ?« »Ein großer Augenblick«, bedanke ich mich und leg die »North State« vorsichtig in meine Handtasche. Nummer Drei wird staunen. Hoffentlich wiederholt sich dies Angebot im Laufe des Gesprächs noch ein paarmal. »Wir haben den Parteimann Koschke vernommen, wir wissen von ihm alles über die Leute hier. Auch über dich.« 259
Erwartet der Stiefel Geständnisse ? Ich kann ihm nichts bieten als einen Frageblick. »Du bist bei ihm gewesen und hast um Ausweispapiere gebeten auf den Namen —« der Knochenmann schiebt ihm Gekritzeltes zu - »auf den Namen Liselott Wilke.« »Ja, stimmt. Wenn ich in die Schweiz zurückkehre, und das muß ich schnellstens, kann ich ja wieder Liselott Wilke sein. Alles andere war Tarnung, you know?« »Da haben Sie aber Glück gehabt, daß ich Sie nicht mit dem nächsten Fährschiff ans Festland bringen muß zum Weitertransport nach Osnabrück«, sagte Störtebeker, als ich nachmittags endlich mit ihm und Tante Ida beim Tee sitze. »Osnabrück?« »Sitz der nächsten für uns zuständigen Klapsmühle.« »Die Absicht besteht sicher. Aber vorher wollten sie mir noch einreden, ich heiße Gerstorff und wohne mit Mann und Kind im Dünenhaus, und für Samstagabend verlangten sie grinsend den Beweis, daß ich Sängerin sei. Ich muß im früheren Lesesaal eine zweistündige ›Show‹ bieten. Am Flügel begleitet mich die Klavierlehrerin.« »Ich sehe auch für mich eine ›North State‹ winken«, Störtebekers Blicke ruhten schmachtend auf meiner Handtasche, in der die Teure, nachdem er kurz daran riechen durfte, wieder verschwunden war. Wir hörten Michaels Fahrrad vorfahren. Auch ohne den Miß ton der pausenlos betätigten Klingel war das Gescheppere unüberhörbar. »Gerry ist entnazifiziert und darf ab morgen wieder auf die Straße«, verkündete mit windgeröteten Backen unser Meldereiter, »und eventuell kann er ab Sonntag ganz nach Haus. Das entscheidet sich Sonnabend. Was ist dir diese Nachricht wert, Mami ?« »Im Augenblick kann ich dir nur einen Kuß bieten. Sonntag kommt vielleicht noch etwas anderes hinzu.« Arme um meinen Hals, lockendes Augenblau auf Zentimeternähe. »Und wenn du vor Neugierde platzt, mein Sohn, vor Sonntagmorgen kein Kommentar.« 260
»Ich hab' aber noch eine Meldung.« Michael wartete gespannt auf Angebote, für die er sie preisgeben würde. Abwarten beiderseits. Überzeugtsein, daß die gewohnte Wortexplosion zwischen seinen Lippen nur noch Sekunden auf sich warten lassen würde, erwies sich überraschenderweise als Irrtum. »Ich biete zwei Möweneier.« Der Knabe besaß wahrhaftig die Kraft, den Kopf abwartend hin und her zu schaukeln. »Dazu gibt es ein Glas Milch und ein Butterbrot.« »Darf ich unter Butter Margarine oder echte Bunker-Butter verstehen ?« Tante Ida rannte in die Küche. »Also«, kam es nach einem großen Schluck aus dem Milchglas, »Berlin hat aufgegeben. Der Schnauz und Goebbels sind tot.« »Gefallen ?« Mitleidiger Blick zu Tante Ida. »Die gefallen? Das würde ja bedeuten, daß sie gekämpft hätten. Das überließen sie anderen. Gemütlich sind sie, wie jeden Abend, mit ihren Familien ins Bett gegangen und haben in ihren Schlummertrunk ein bißchen Gift geschüttet. Auf alle Fälle ist der Krieg jetzt nicht nur hier, sondern überall in Deutschland zu Ende.« Ehrfürchtiges Schweigen. »Und woher weißt du das alles?« »Im Insel-Hotel ließen die Kanadier ganz laut ihr Radio laufen.« »Und du bist überzeugt, dein Englisch ist so gut, daß du dich nicht verhört hast ?« Gekränkt beschäftigte sich Michael mit dem zweiten Möwenei, stand auf und sagte im Hinausgehen: »Ich muß in die Schule, englischen Unterricht geben. Fräulein Droge kann nichts als Deutsch und ein bißchen Französisch. Übrigens sind bei mir gegen eine kleine Gebühr auch Erwachsene zugelassen.« »Hm«, meinte Störtebeker. »Aber von einem darf man wohl überzeugt sein: Krieg und Diktatur haben bei seiner Generation keine Chancen.« Nummer Drei in Zivil, ein Glas Bourbon und eine englisch bedruckte weißblaue Zigarettenpackung vor sich auf dem Tisch, Duft von wilden Rosen. Gartenmöbel, Leihgabe von Tante Ida. »Wie damals in Tirol« 261
»Eigentlich noch schöner«, eine Hand warm und trocken wie der Juni-Wind nimmt wieder Platz auf meiner. »Das Schuldgefühl, glücklich zu sein, während andere erfrieren und verbluten, ist verflogen, und die Angst vor dem nächsten Abschied voneinander.« »Gerry? Sie wissen, daß ich nach Zürich muß, sobald es wieder heile Straßen und Züge gibt ?« Enzianblaue blicken Lerchen nach, Kehlkopf im offenen, weißen Hemd zuckt. »Es muß sein. Vielleicht wartet Mendelson auf das Wiedersehen genauso wie ich. Wenn nicht, komme ich sofort zurück.« Tröstender Nurse-Ton. Unausgesprochene Hoffnung, das erstere würde der Fall sein. Englisches Walki-talki kommt den Dünenweg herauf. »This damned no-fraternisation«, grinst Major Dunham. »Hey, Lili Marleen.« Der Mürrische murrt nicht mehr. »Können wir einen Augenblick ins Haus gehen ?« »Ich hab' drinnen aber keinen Tisch für Ihre Füße.« Dunham grinst. »Ich lasse morgen die erste Ladung Klinkersteine anfahren. Vergiß nicht, einen Tisch dazuzustellen, Dave.« Im Haus fliegen ohne Kommentar Schokolade, Zigaretten und ein Toast-Brot auf mein Feldbett. »Die Boys möchten, daß du den Abend wiederholst. Ist dir Sonntag recht? Lange können wir nicht mehr warten. Seit Hamburg weiß, wen wir hier erobert haben, kämpfen BFN und das Welfare-Service um das exciting pleasure, dich abholen zu lassen.« Einstimmen der Instrumente, Orchesterproben, Korrepitie ren, Singen, die Gedanken flogen mir voraus in die Hamburger Musikhalle, wo British Forces Network sich niedergelassen hatte und den ganzen Tag über Musik und Nachrichten in den Äther schickte. »Bis Michael nicht aus Berlin zurück ist, möchte ich eigentlich nicht fort.« Gluckenherz flattert, wenn es an sein Küken denkt. »Don't worry about Mike. Er ist ein furchtloser fröhlicher Boy, und was ihr Erwachsenen kaum zu denken wagt, ist für ihn selbstverständlich. ›Ich möchte sehen, ob mein Bruder schon zu 262
Haus ist und ob unser Berliner Haus überhaupt noch steht‹, hat er zu Dave gesagt, ›und unsere Möbel verpacken und nach hier verladen lassen und Die -wo fragen, ob sie nicht mitkommen will. Wie weit kann mich ein Jeep von euch mitnehmen?‹ ›Bis nach Hannover, Sir‹, hab' ich gesagt und die Hand ans Käppi gelegt«, der Mürrische lacht alle Falten weg, »und er fand es selbstverständlich, sagte ›Okay, ich werde mit Mami sprechen‹, schwang sich auf sein Klappergestell und strampelte von dannen.« Straße, auf die die Augustsonne herunterbrennt, Ruinen, wo einmal Häuser standen, Läden, noch leerer als zu Hitlers Zeiten. Wo schlief der Junge, wo bekam er etwas zu essen. Dunham kroch mit seiner Leica, die er irgendwo auf dem Vormarsch »gefunden« hatte, um mich herum, drehte am Objektiv, schien nicht zufrieden, versuchte aus dem Profil Erfreulicheres herausholen zu können, gab auf. »Mit dem Gesicht kann ich dich weder an die ›Sunday Evening Post‹ noch an die U. S. ›Stars and Stripes‹ verkaufen. Be sure, Mike geschieht nichts. Ich habe ihm Reisegenehmigung - Reisezweck : dringend benötigte Noten für seine Mutter, Lili Marleen, zu holen, gut? - und Proviant für drei Tage mitgegeben. Hitlers Opfer waren die hilflosen Juden, eure tapferen Männer vom Widerstand, die dieser Teufel martern und aufknüpfen ließ, und die Kinder. Kein Alliierter wird einem deutschen Kind etwas tun. Sie sollen einmal die Freunde unserer Kinder werden. Und wenn man bedenkt, was Mikes Generation entbehren und schuften muß, bis aus dem deutschen Schrotthaufen wieder Städte und Bahnhöfe und Straßen und Fabriken werden, good gracious —.« »Sie hatten eine Flak-Batterie auf unserem Hausdach errichten lassen, drei Tage vor Schluß haben schwere Artillerie und Bomben unser Haus dann noch bis in den Keller umgelegt.« Etwas zerkratzt, verdreckt und schmal, aber selig darüber, daß alles bewundernd um ihn herumsaß und er endlich die Chance hatte, zu reden, ohne von verständnislosen Erwachsenen einen Schlußpunkt gesetzt zu bekommen, genoß mein heimgekehrter Sohn seine große Stunde. Störtebeker, Tante Ida, Gerry und ic h koch263
ten ihm einen zweiten Topf Kakao, servierten Brote und Möwenei nach, mahnten nicht, langsamer zu essen, empfanden im Gegenteil jede Unterbrechung, die sein Reisebericht durch zu langes Kauen erfuhr, als quälende Steigerung der Spannung, mit der wir an seinen Lippen hingen. Seit dem Kriegsende ohne Radio, ohne Zeitung, war uns Berlin so fern erschienen wie der Mond. »War Taschner zurück?« Mitleidiges Kopfschütteln. »Können Steine sprechen, Mami ? Wen sollst du fragen ? Der Kurfürstendamm besteht nur noch aus kahlen Eisenträgern und Mauerresten.« »Und Björn?« »Sagte ich doch schon. Ich hab' sofort ein Schreiben an seine Camp-Leitung absenden lassen, man möchte ihn nicht nach Berlin, sondern nach Hamburg entlassen, und da soll er sich im Funkhaus bei dir melden. Neben Bahnhof Charlottenburg ist ein Haus stehengeblieben, in dem haben die Tommys so eine Art Büro, und die haben den Brief sofort losgeschickt.« »Und du bist überzeugt, du hast das nicht geträumt?« Unterlippe schiebt sich vor. »Wenn ihr mir nicht glaubt. -.« Störtebeker greift ein. »Bei dem Haß der Kriegsgegner noch vor wenigen Monaten muß uns das doch alles wie ein Wunder vorkommen, Michael.« Ich streichle über das Weizenfeld. »Und unsere Die -wo ? Bist du zu ihr gefahren ?« »Es gibt weder Schienen noch Lokomotiven. Gegangen bin ich und hab' ihr aus Gärten, die verlassene, ausgebrannte Häuser umgaben, einen großen Rosenstrauß mitgebracht.« »Was sagte sie?« »Gar nichts. Zuerst hat sie nur geweint. Sie hat ganz weiße Haare und liegt im Bett. In den letzten Kriegstagen hat Fräulein Jungmann bei ihr gewohnt. Aber dann sind die Russen gekommen, und sie ist weggelaufen. Die Russen wollten sich nämlich alle mit deutschen Mädchen verloben und sie dann mit nach Haus nehmen. Zwei wollten sogar noch Die -wo haben, und einer hat sie so stark umarmt, daß alles gebrochen ist in ihr. Sie hat es mit selbst erzählt. Deshalb liegt sie auch im Bett. In Globsow ist noch fast alles heil bis auf die Kirche und die Schule. 264
Die Russen sitzen im Stadthaus, und der Kommandant hat mir versprochen, daß Die -wo in ein Krankenhaus kommt, und wenn sie wieder gesund ist, schickt er sie nach Langeoog. Hoffentlich hört sie bis dahin auf zu heulen.« Meine arme kleine Aignerin. Auch in mir weinte etwas. Anstatt mich ihm näherzubringen, schoben mich die Ereignisse immer weiter fort von Mendelson. Deutschland war gevierteilt. Nur in einem waren sich die Sieger einig: no fraternisation. Demütigt dies Volk, wo und wie immer es nur möglich ist. Laßt es hungern, frieren, schuften, laßt ihm Zeit, monatelang, jahrelang, bis es eingesehen hat, wie verabscheuungswürdig es in der ganzen Welt durch seinen Hitler geworden ist. Langeoog und Hamburg gehörten zur britischen Zone. Um der Schweizer Grenze näher zu sein, hätte ich in der französischen oder amerikanischen Zone leben müssen. Die französische reichte bis zum Bodensee, die amerikanische bis zur österreichischen Grenze. Aber Türen, die für Deutsche von einer Zone in die andere führten, gab es nicht. Wen die Franzosen entnazifiziert hatten, galt deshalb noch lange nicht bei den Russen als durchleuchtet und für gut befunden, und in einem EntnazifizierungsAusweis der Engländer waren die Amerikaner überzeugt, doch noch den einen oder anderen Fleck zu entdecken. Zonenwechsel, soweit überhaupt möglich, bedeutete also ein zweites Mal Vordrucke mit Frage-Gebirgen zu überwinden, Unterlagen für die Richtigkeit und Aussagen makelloser Zeugen herbeizuschleppen. Für die meisten Deutschen bedeutete es Resignation. Schon die Strapazen einer einzigen Sauberwaschung standen die ausgemergelten Menschen kaum durch. Alles noch ein zweites Mal ? Da bleiben wir eben, wo wir sind. Nummer Drei, Michael und mir fiel das gar nicht einmal so schwer. Dank der Hilfe der Kanadier waren die Holzwände hinter roten Klinkersteinen verschwunden und ließen weder Regen noch die kalten Nord-, Nordost-Stürme ins Haus, knisterte in einem Küchenherd und drei Kanonenöfen behagliches Holzfeuer, hatten wir ein pensionsreifes englisches Radio bekommen und repariert und zu Weihnachten ausgelesene englische Zeitungen und Pocket Books bekommen, gaben uns das Meer und die Insel je nach Saison Fische, Beeren, Pilze, Dünenhasen und Möweneier und Meta, 265
das Schäfchen, das zum Schaf geworden war, Milch. Neben der Volksschule gab es wieder eine Oberschule. Michael hatte, schweren Herzens, seinen Platz hinter dem Katheder zwei jungen, von der Front zurückgekehrten Lehrern überlassen müssen und saß wieder da, wo er hingehörte, auf der Schulbank, und Nummer Drei lud, wenn die Flut zurückging, angeschwemmtes Holz auf den Leiterwagen, versuchte bei Ebbe aus brauchbaren Latten einen Gartenzaun, Küchen- und Bücherborde zu zimmern und im Inselgarten Dünen-Stiefmütterchen und wilde Nelken zu veredeln. Als ich im November erwartungsvoll den Jeep bestieg, der auf dem Festland bereitstand, um mich nach Hamburg mitzunehmen, wußte ich nicht, daß ich ein Paradies verließ. Wo Engländer waren, mußte man nicht frieren — in der Musikhalle während der Live-Sendung und den Musikproduktionen, im Funkhaus, das unter britischer Kontrolle wieder ein deutsches Programm brachte, in den Officer-Clubs, in denen man in der pantry oder Küche auf den Auftritt wartete - Singen ja, Fraternisation nein. Das Gefühl des Verlassenseins, das Zähneklappern begann erst in dem Zimmer, in das man mich eingewiesen hatte. Ursprünglich das eichenholzgetäfelte Speisezimmer des Hauses, bestand die Holzumkleidung nur noch aus zersplitterten Resten. Der größere Teil war herausgebrochen und verheizt worden, Zimmereinrichtung — einem Lagerhaus ähnlicher als einem Wohnraum. Büfett ohne Geschirr und Glas, französisches Bett, dessen Ausmaße das halbe Zimmer beanspruchten, unbezogen, mit verstaubten Matratzen, Rasenmäher, dessen Zweck ich vorerst nicht ergründen konnte, zwölf Eßzimmerstühle, Bezüge verschlissen, schöner deckenhoher Barock-Ofen, kalt. Tisch, Kleiderschrank, Lampen: keine. Der grauhaarige Hausherr, Sproß einer alten Reeder-Familie, der aussah, als befände auch er sich schon im Aufbruch zu seinen Vorfahren, reichte mir seine von Frostbeulen bedeckte rotblaue Hand. »Geheimrat Klenck. Wären Sie vor fünfzehn Jahren in mein Haus gekommen, hätte ich Sie so begrüßt, wie es Ihnen zukommt. Heute - in den Personalzimmern Flüchtlinge, ebenfalls im Zimmer meiner 266
verstorbenen Frau und in dem meiner Töchter — für Sie blieb nur dies. Wäsche besitze ich auch nicht mehr. Das Wollplaid habe ich für Sie aus meinem Zimmer geholt. Mir hat man wenigstens noch ein Federbett gelassen. Sie wickeln sich zum Schlafen am besten in das Plaid und in Ihren Mantel ein. Eine Waschmöglichkeit ist in der Anrichte neben dem Speisezimmer, Pardon, Ihrem Zimmer.« Husten, Zögern, wieder Husten. »Und wenn Sie das alles gar zu traurig macht, ich wohne eine Treppe über Ihnen und habe ein MarionettenTheater. Alle Puppen selbst geschnitzt und angezogen. Wir spielen für Sie, nehmen Sie mit in die Vergangenheit. Da ist es schöner als hier.« Tränen in müden Augen, Handkuß, Abgang. Im Januar hatte ich Nummer Drei geschrieben. Bin unterwegs, hatte er geantwortet. Decken, Wäsche, Eingemachtes, Reis und Kakao mitgebracht. Bot sich an, Ofen zu sein. »Man kann auch in Hamburg zu Heizmaterial kommen«, wich ich aus. »Nicht so ungefährlich wie am Langeooger Strand, aber alle, die nicht frieren wollen, ›beziehen‹ so. An unbewachten Stellen zwischen weiter auseinander liegenden Ortschaften springen nachts zwei Männer auf die Güterzüge, die Kohlen für die Engländer nach Hamburg bringen. Werfen einen Teil der Ladung rechts und links vom Zug auf den Bahndamm und bekommen von den Leuten, die sie aufsammeln und in mitgebrachte Jutesäcke stopfen, jeder zwei Säcke davon als Dank.« Schon drei Tage nach Gerstorffs Ankunft verströmte der Barocke wohlige Wärme, wenn ich abends aus dem Funkhaus kam. »Man kann ihn noch anders füttern.« Die Enzianblauen strahlen. »Hier in der Gegend sind überraschend viel englische Clubs. Kohlen und Holz sind teilweise nicht im Keller, sondern liegen einladend unter den Garten-Veranden hinter den Häusern. Zwischen zwei und vier Uhr nachts trifft man dort keinen Menschen mehr. Höchstens ein paar, die ebenfalls mit Jutesack im Arm einen nächtlichen Spaziergang machen und mit denen man Tips austauscht. Wenn Sie einverstanden wären, daß ich nachts das Feuer ausgehen lasse und daß ich es dann für ein paar Stunden übernähme, Sie zu wärmen, würde mein Gesammeltes sogar für den Ofen des Geheimrats reichen.« 267
Ich war einverstanden. Es gibt zwei Dinge im Leben, die mich zu einem Bündel Verzweiflung machen, werde ich zu Robert sagen, Schlaflosigkeit und Kälte. Und das war die Wahrheit. Im Radio Hamburg durfte ich Programme zusammenstellen: ›Autoren, die schweigen mußten‹, ›Der Lyriker Hans Leip‹, ›Tucholsky und Kästner für Liebende‹, durfte ich Maria Wimmer, Gustav Knuth, Werner Hinz und andere Schauspieler, die in Hamburg auf eine spielbereite Bühne warteten, engagieren, vertraute Mister Alexander Maass, dem Leiter der Abteilung Wort und Musik, an, wie gern ich einmal in München oder Baden-Baden arbeiten würde. Maass, aus politischen Gründen im Jahre 1933 aus Deutschland geflohen, lächelte aus klugen hellen Augen. »Zuerst werden Sie aber mal nach London geflogen. Die Eighth Army feiert ein großes Heimkehrerfest und verlangt nach Lili Marleen. Sollten wir nicht überhören. Sie war es ja schließlich, die von den Rommel-Truppen zuerst Ihr Lied übernahm. Es hat Tausenden von Soldaten das Leben gerettet. Denn wenn in den deutschen Stellungen abends gegen zehn Belgrad eingeschaltet wurde und die Lautsprecher durch die klaren Wüstennächte Lili Marleen zu den Engländern hinübertrugen, war für einige Stunden der Krieg zu Ende. Ihr Lied machte allen seine Sinnlosigkeit klar, machte aus Soldaten Menschen.« »Begleitet mich jemand?« »Man wird Sie in London empfangen wie ein Staatsoberhaupt.« »Sie vergessen: no fraternisation. Schweigen bis zum Auftritt, zu dem du in letzter Minute aus irgendeiner Keller- oder Küchenecke herausgelassen und auf die Bühne gejagt wirst. Jubel und Applaus, nur solange man im Scheinwerferlicht steht. ›Gagen-Übergabe‹ durch schweigende Hosteß, Abtransport im Wind und Regen preisgegebenen Jeep zur Unterkunft oder zurück nach Hamburg.« »No fraternisation habt ihr euch nur für Germany eingebrockt. In England spielt die Staatsangehörigkeit keine Rolle. Außerdem sind Sie als Lili Marleen internationales Eigentum. Woran denken Sie?« 268
»Sie erinnern mich an den Dichter Günther Weisenborn.« »Ich werde es ihm sagen. Er liest nächste Woche bei uns im Funk. Hoffentlich kränkt ihn der Vergleich mit mir nicht.« »Weisenborn lebt?« »Wie er das nach jahrelanger Haft im Zuchthaus Luckau geschafft hat, weiß ich auch nicht. Er liest aus seinem neuen Buch ›Memorial‹. Dabei werden wir es erfahren.« Vielleicht erfuhr ich dann auch, wie weit ich ihm und seinen Freunden die Informationen nach Mailand zu verdanken hatte und die Bemühungen um die Chance, über Meran nach Zürich zu kommen. »Wie tröstlich, daß einige der guten Mutigen, von denen man annahm, daß sie für immer dahin sind, wieder auftauchen und immer mehr von denen, die sich tausendjährig glaubten, verschwinden.« »Leider sind die letzteren in tausendfacher Überzahl.« Maass stand auf. »Was produziert meine Mitarbeiterin denn heute ?« »Vertonte Lyrik. Von Goethe über Rilke bis zu Weinheber. Musik von Rudolf Zink.« Er drückte auf einen Knopf und gab der Telefonzentrale grünes Licht. Erbost über das lange vorausgegangene RotZeichen rasselten beide Tischapparate los. »Ich schau nachmittags mal 'rein ins Studio und darf darauf hinweisen: mit höchsten Erwartungen.« Lächeln, Kopfnicken, Entlassensein.
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Lach nicht, Brüderchen, über die fremde Schwester, auch deine ist noch nicht unter der Haube. Aus Rußland
»Ich erfuhr es erst vorgestern«, entschuldigte ich mich bei dem englischen Agenten, der mich auf dem Flughafen abgeholt und durch die Mauer von Fotografen und Journalisten, »smile, honey, smile«, zum Taxi gedrängt hatte. »Die Zeit reichte nicht mehr, einen Spinnstoffantrag zu stellen und einen Mantel und ein Kleid nähen zu lassen.« »Man sieht es«, knurrte Mr. Levy. »In einer Stunde gibt dir der Peter Maurice Verlag eine press-reception, wie du sie noch nicht erlebt hast. Das sind die Leute, die so clever waren, 1942 das world Copyright für Lili Marleen zu proklamieren, ohne daß bis heute ein direkter Vertrag zwischen den deutschen Autoren und ihm besteht. Und das Geld, das er mit diesem Lied scheffelte, bleibt wahrscheinlich unkontrolliert und verschwindet im Begriff ›Wiedergutmachung‹. Dreihundert Journalisten aus ganz England, alles erste Garnitur, erwarten dich. Ist das Kleid, das du unter diesem Mantel trägst, auch so alt wie der?« In der Hoffnung auf milde Beurteilung schlug ich den Mantel zurück. »My goodness. Ist das aus Kartoffelsäcken gemacht? Nie von Dior und vom New Look gehört? Turn left«, brüllt er den Taxifahrer an, »Regent Street, hurry, hurry.« »Hast du andere Schuhe im Gepäck ?« »Mein Gepäck ist hier.« Ich gab meine Notenmappe frei. Zweiter Herzinfarkt drohte. »Geben Sie uns ein langes Kleid, so lang, daß es die Marschstiefel der Dame bedeckt. Wir haben nicht auch noch Zeit, in einen Schuhladen zu fahren. Glotzen Sie nicht, Miß, hurry, hurry.« Die Verkäuferin flatterte davon wie vor einem Hahn, der für ihren Hühnerstall nicht zuständig war, trug Weißes, Schwarzes, Geblümtes herbei. »Marvellous, beautiful«, tröstete ich sie. »Wo kann ich anprobieren?« Mr. Levy rang nach Luft. »Ist es die richtige Größe? All right. Dann packen Sie das Weiße ein. Weiß trägt auf, macht ein biß 270
chen voller, hurry, hurry.« Nur zweimal in acht Jahren hatte ich die Chance gehabt, Garderobe kaufen zu können. Warum mußte ich, damals in Rom, heute in London, zusammenraffen, anstatt entzückt vor hohen Spiegeln unter dem verschönernden Licht von rosa Seidenschirmchen vergleichen und probieren zu können, Zeit und Alltag vergessend ? »Sobald Sie merken, daß ich Ihnen keine Rückendeckung geben kann, bleiben Sie in Tuchfühlung mit den Wänden«, zischte Mr. Levy, als wir die festlich erleuchteten Räume im PeterMaurice-Building betraten. »Vorn ist das Kleid plissiert, hinten nicht. Man kann alles sehen. Haben Sie denn nicht mal einen Unterrock?« Ich war froh, daß mir das Zimmermädchen ein Paar weiße Schuhe geborgt hatte, eine Nummer zu klein zwar, aber sie enthoben mich der Sorge, mit meinen braunen Kriegsstiefeln in den Saum des langen Kleides zu treten. »Ist es meine Schuld, daß Sie mir keine Zeit ließen, das Kleid zu probieren und festzustellen, daß hinten was fehlt ?« »Smile, honey, smile«, knurrte es hinter meinem Rücken. Fragen wie gehabt. Wie an das Lied geraten? Wann die Platte eingesungen? Wie kam die Platte nach Belgrad? Warum wurde sie 1942 plötzlich nicht mehr gesendet ? Wie kam es zu dem Gerücht, die Sängerin sei im KZ umgekommen? England hat einen Film darüber gedreht. Lucie Mannheim spielt darin Lale Andersen. Wissen Sie, daß Marlene Dietrich, um das Lied auch singen zu können, für sich eine großartige Übersetzung ins Englische geschrieben hat? Darf man in diesem Verlagshaus ja gar nicht laut sagen, aber den soldiers gefällt Marlenes Version viel besser als die copyright-geschützte englische. Hunger, wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme, kippe ich um. Zu lächeln gelang mir erst, als ich abends vor den Soldaten der Eighth Army stand und sang. Applaus, Begeisterung, Händeschütteln, Herzlichkeit. Wieder zu Zivilisten gewordene Männer in einfachen Anzügen, Offiziere in Uniformen mit breiten, bunten Ordensbändern. Nach dem Sandwich-Buffet, Mr. Levy unermüdlich meine Rückseite abschirmend, Bitten: »Noch einmal, bevor Sie gehen, bitte the lamplight.« Sie hörten schweigend zu. Dem Applaus nachgebend, noch ein drittes Mal ›Lili 271
Marleen‹. Kleine ermunternde Armbewegung, die Kristalleuchter an der Decke zitterten, der ganze Saal vibrierte, tausend Männerstimmen sangen mit. Zehnmal frontales Abgehen, zehnmal erneutes Verbeugen. »Kennen Sie das Lied ›I love those dear hearts‹ ?« Schon begann das Orchester, schon brauste es wieder durch den Saal. »Du mußt schnellstens eine England-Tournee machen. Das mit den Dear Hearts war eine großartige Idee.« Mr. Levy trank in der Hotelhalle noch einen Scotch. In den Augen Optimismus, die strapazierten ausgerenkten Abschirm-Schultern entspannt im Sessel. »Aber erst, wenn man in Deutschland wieder Schuhe und Unterkleider kaufen kann«, sagte ich und dachte: Aber erst, nachdem es mir endlich gelungen ist, nach Süden und an die Schweizer Grenze vorzustoßen. Zurück in die Hamburger Kälte. Der weiße Barocke steht verhärmt in der Ecke. An den Fensterscheiben Eisblumen, auf dem Tisch ein Brief mit der Handschrift von Nummer Drei. Dein Ältester ist vorgestern zurückgekehrt. Brauchte Wärme, Schlaf und viel zu essen. Da weder im Funk noch über das Army Welfare Service herauszufinden war, wie lange Du in London bleibst, bringe ich ihn erst einmal nach Langeoog. Bitte, verständige mich über Dunham, sobald Du wieder in Hamburg bist. Mein Großer war zurück. Ich rannte ein paar Runden um das Bett-Monstrum herum. Aber der wahre Freudentanz war es nicht. Warum mußte ich ausgerechnet auf englischem Boden sein, wenn Björn deutschen betrat. Fängt bereits wieder an, die Mißgunst des Künstlerberufes auf privates Glück. Sommer, Norderney, Simke, alle drei Kinder, wenn ich mich entscheiden müßte: Beruf oder Familie, ich würde den Beruf in den Wind pusten. Warum tue ich es nicht wirklich, maulte ich mit mir auf dem Weg ins Funkhaus. In der Halle schwebt der Dirigent Kurt Wege auf mich zu, Gesicht gotisch, Hände gotisch, Stimme wie das hohe Register einer Kirchenorgel. Ich breite die Arme aus, hab' das Gefühl, diese hundert Pfund Ethik auffangen zu müssen. »Ich hörte von Maass«, klingt es sphärisch, »daß Sie nächste 272
Woche in einen amerikanischen Club nach Heidelberg gebracht werden. Ein Army-Autobus kommt Sie abholen. Mein Konzertmeister hat seine Mutter in Heidelberg und mein Pianist seine Braut in Bad Mergentheim.« »Soll ich die Damen mit nach Hamburg bringen?« »Die amerikanischen Stars treten doch nur mit eigenem Begleitorchester auf. Es würde bestimmt niemanden wundern, wenn auch Sie darauf bestehen.« »An wie viele unentbehrliche Begleiter haben Sie denn gedacht?« Kurt Weges Adamsapfel springt auf und ab. Seine Nase wird weiß. Tiefes Luftholen. »Wir möchten natürlich alle gern einmal wieder eine heile Stadt sehen — und die Amis sollen mit ihren Zuteilungen von Zigaretten und Essen ja enorm großzügig sein.« »Und für wie viele Ihrer Herren ist das ein Grund, zwei Tage Autobusfahrt auf sich zu nehmen ?« »Für das ganze Orchester.« Weges Gesicht verklärt sich, als stände die Kreuzfahrt auf einem Luxusdampfer zur Diskussion. »Alle zweiunddreißig.« Maass sieht mich nachdenklich an. »Wissen Sie, was schlimm ist? Daß ihr Deutschen gar nicht mehr merkt, wie sehr man euch demütigt, wie sehr ihr euch erniedrigt.« »Besser ehrlich vor dem Hunger, den euer Racheprogramm von uns verlangt, als feige vor Hitlers Diktatur.« Griff zum Telefon. »Ich werde wegen der Orchester-Begleitung mit Heidelberg telefonieren.« Die sogenannte »Kleine Besetzung«, zwölf Solisten und Wege als Dirigenten, bewilligte man wirklich. Sonderproben, in denen ein zweistündiges Programm von Bach über Debussy bis Gershwin vorbereitet wurde. »Man muß den Geschmack dieser Menschen ja erst mal ertasten«, wisperte Kurt Wege, »und sofort variationsfähig sein.« Der zum Bersten volle Saal enthob ihn jeglicher RepertoireProbleme. Kaum hatte das Orchester das mit Micky-Maus-Bildern, Pin-up-girls und künstlichen Blumen umsponnene Podium betreten, die Schöße der Leib-Fracks angehoben und die Sitzflächen feierlich den Stühlen genähert, brüllte es ›Lili Marleem. 273
Wege schwebte zum Dirigentenpult, klopfte ab, legte mit gütigem Blick ins Publikum Zeigefinger auf die Lippen. Das Gebrüll der dicken uniform-verpackten Säuglinge verstärkte sich. »Der erste Orchesterteil wird ungefähr dreißig Minuten dauern«, hatte der Gotische gesagt. »Dann lassen wir langsam den Applaus ausklingen, und ich sage Sie an. Englisch natürlich.« Es dauerte nicht mal eine Minute. Weges gequältes: »Also, well, meine Herren, then sings Lale Andersen eben first and we bring our orchester-part after her«, versank im Lärm. Er gab etwas mehr Stimme: »And here ist Lili Marleen and she sings zuerst three songs aus Hans Leips ›Kleine Hafenorgel‹.« Die Köpfe der Säuglinge färbten sich rot, Zornesfalten schwollen, das Gebrüll wurde drohend. Erst als Wege den Einsatz zum Trompeten-Signal gab, wurde es ruhig. ›Lili Marleen‹ hatte die Wirkung eines Schnullers. Bis auf etwas Rülpsen und Schmatzen Ruhe in der Kinderstube. Ende des Liedes war wie Wegnehmen des Gummipfropfens. Das Gebrüll nahm wieder zu. Nachdem ich die Laterne dreiundzwanzigmal gesungen hatte, der Schlagzeuger hatte es mit Strichen auf seinem Notenblatt archiviert, in Deutsch, in Englisch, in Italienisch, von hinten nach vorn, von vorn nach hinten, ohne Mitsingen des Säuglingschors, mit Mitsingen, schliefen die ersten ein, sowohl im Publikum als auf der Bühne. Nach zwei weiteren Wiederholungen schnarchten alle. Die zu meinen Füßen ließ ich schlafen, die Kollegen weckte ich auf. »Bloß zurück zu den Tommys«, stöhnten sie beim Einpacken ihrer Instrumente. »Sandwiches und Getränke sollen hier zwar reichlicher und gehaltvoller sein, aber was nützt es, wenn die Seele Schaden leidet.« »Ihr vergeßt, daß wir übermorgen noch einen Auftritt im Officers Club in Garmisch haben.« »Vergessen Sie bitte, daß wir Ihnen einreden wollten, daß zu Ihrer Begleitung ein gutes, gediegenes Orchester nötig sei.« »Vielleicht können Sie Klavier und Konzertmeister überreden, noch zwei weitere Leidenstage anzuhängen?« Obwohl auch seinem Gesicht die Enttäuschung über die 274
Mißachtung der GIs einem edlen Orchester-Vorhaben gegenüber anzusehen war, bemühte sich Wege als einziger um Verständnis für mich und meine ausgewrungenen Stimmbänder. Zwei mit Sandwich-Pyramiden, Salatschüsseln, Coca-ColaFlaschen, Bier und Zigarettenstangen beladene fahrbare Tische, die in den Umkleideraum gerollt wurden, machten uns wieder zum Kollektiv. Wie ein Heuschreckenschwarm auf eine Wüstenoase, stürzten wir uns auf das Angebot und ließen uns auch von zwei Offizieren, die die Garderobe betraten, von unserem verzückten Freßrausch nicht ablenken. »It was a big show«, sagte der Meistdekorierte. Und der mit der kleineren Leistungsschau auf der Uniform fügte hinzu: »'t was a big, big show.« »Dürfen wir das Kompliment zurückgeben«, gelang es Kurt Wege todernst zu sagen. Da man vergessen hatte, Quartiere zu besorgen, ließen wir uns im Autobus nieder, kippten wie prallgefüllte Kartoffelsäcke auf die Sitze und schliefen mitten im Gemeinschaftsgesang ein: »It was a big, big show.« Garmisch. Ausgegebene Parole: Ohren zu, Blick stier auf die Sandwiches gerichtet. Wir fielen ihnen gleich mit ›Lili Marleen‹ ins Haus. Nach zwei Wiederholungen abwartendes Schweigen. Von uns. Vom Publikum. Der Gotische ans Mikrofon. »Do you etwa want ein paar Stücke of my Orchester? It is the famous studio band von Radio Hamburg.« Applaus sagte: yes. Wir brachten das ganze Programm, so wie wir es in Hamburg einstudiert hatten. »Na siehste«, sagte einer der Musiker zu Wege. »Alles Nervensache.« »Das muß ein völlig anderer Stamm gewesen sein als der gestrige«, sinnierte der Gotische. Zum Dinner wurden wir in eine Sergeant-Mess gebeten. Es wurde nicht stehend aus Papierservietten genossen, sondern warm aus weißen Schüsseln, von weißen Tellern, weißgedecktem Tisch. Heuschrecken-Gehabe war vergessen, wir benahmen uns auch wie ein edler Stamm. Ami kommt. Umfang, Fell und Pranken wie ein junger Braunbär. Bemüht sich, im Gegen275
satz zu anderen deutschen Emigranten, gar nicht erst, sein Deutsch amerikanisch zu färben. »Guten Appetit, Ricky Mandelbaum vom APN Munich«, stellt er sich vor. »Hätte Sie gern morgen oder auch für länger in München. Sind Sie alle entnazifiziert?« »Yes, Sir«, brüllen wir, auf die Beantwortung dieser Frage bestens dressiert. Einige holen gewohnheitsgemäß die entsprechenden Bestätigungen aus der Tasche. Dieser Ricky sieht aus, denke ich, als würde er mein Verlangen nach Zürich und Eidgenossen verstehen. Er wird mich, bis ich das Reise-Permit habe, nicht mehr loswerden. »Vor dem Bühnenausgang warten zwei Supergirls auf Sie.« »Auf mich ?« »Auf Sie. Ich hoffte auch, ich hätte mich verhört«, grinst er. »Vielleicht haben Sie? Wollen wir es gemeinsam feststellen?« »Augenblick, und was wird aus uns ?« In Weges Stimme die Angst des zuverlässigen Deutschen. »Maass hat uns doch nur bis Sonntag beurlaubt. Montag haben wir wieder Dienst im Rundfunk.« »Bis dahin sind Sie längst wieder in Hamburg.« Ricky blickte auf seine Armbanduhr, als seien darauf nicht nur Stunden und Minuten angegeben, sondern auch Wochentage. Wir wagten uns näher. »Zeigt sie vielleicht auch Wettervoraussagen an?« Unklar, wer wen nicht ernst nahm. »Man ist dabei, eine solche zu konstruieren. Verspricht sich von dem Augenblick an, an dem die Deutschen wieder feste Währung haben, bedeutende Umsätze.« Ricky streckte uns lässig sein Handgelenk entgegen. Auf dem Zifferblatt waren außer der Zeit wahrhaftig Tage und Monate angegeben. »Aus Amerika?« fragt Wege ehrfürchtig. »Aus der Schweiz.« »Waren Sie selbst da?« »Sure, wonderful country.« Hoffnung rast durch meine Blutbahn. Der Gedanke, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt zu sein, erzeugt leichten Wonneschwindel. Versuch, beim Thema Schweiz zu bleiben, scheitert an Verabschiedungszeremonie. »So«, sagt Ricky, »und jetzt schlafen Sie erst mal aus. Morgen 276
zum Lunch schau ich zu Ihnen 'rein. Man hat Sie in der Pension Tannenhof untergebracht. Hübsches Haus, voll desinfiziert.« Besorgnis ergreift uns. »Wohnten vorher Pocken-Verdächtige drin oder — oder Neger ?« »Deutsche«, sagt der Bär, verwundert, daß wir nicht selbst darauf gekommen sind. »Flüchtlings-Deutsche.« Das größere der Supergirls war Litta, das ungeduldigere Simke. Beide im New Look, beide der Mode entsprechend von Ringellöckchen eingerahmt. »Woher wußtet ihr? Ich wollte doch erst morgen als Frühstücks-Schreck bei euch läuten.« »Von deinem Gastspiel erfuhr ich schon Montag. Ich arbeite vormittags als Stallknecht in einem Officers Reitclub. Prima Job. Abgesehen davon, daß ich selbst reiten darf, gibt es so reichlich zu essen, daß ich all meine Lebensmittelkarten Simke überlassen kann. Das Ergebnis seht ihr: ich werde immer größer, Simke immer kleiner.« »Nice girl«, stellt Ricky fest. »Hat genauso weiße Zähne wie Sie. Könnte Ihre Tochter sein.« »Es ist meine Tochter.« »Wollen wir noch lange hier herumstehen?« fragte Simke. »Gibt es in Garmisch einen Laden, der nicht off limits ist?« »Unsere Wohnung«, grinste Litta. »Ich glaub', die bittersten Nachkriegsfeinde seid ihr Deutschen untereinander.« Ricky kaut am rechten Daumennagel und blättert in meiner Akte. »Da sind zwei Deutsche im Sender, die fest behaupten, Sie wären doch in Belgrad gewesen. Außerdem Mitglied von Goebbels' Elite-Truppe, der ›Berliner Künstlerfahrt‹, die bis kurz vor Kriegsende mit Durchhalte-Parolen für Bonzen und Offiziere im Einsatz gewesen ist. Glauben Sie mir, honey, ich hätte Ihnen das Reise-Permit nach Lindau gern gegeben, und vielleicht wären Sie an der Schweizer Grenze einem ähnlich netten Menschen wie mir begegnet, der Ihnen ein eintägiges Besucher-Visum für die Schweiz gegeben hätte«, sein linker Daumen löst den rechten, an dem es nichts mehr zu knabbern gibt, ab, »aber solange noch Verdachtsmomente vorliegen und Sie nicht überzeugend reingewaschen sind -.« 277
»Aber Sie haben doch selbst mit Mendelson telefoniert und ihm gesagt, daß ich morgen um sechzehn Uhr in Lindau am Bodensee-Schiff stehe und auf ihn warte.« »Nu na, wird er ein paar Tage länger da stehen müssen.« »Ricky, ich flehe Sie an. Muß ich denn übrigens, wenn mich Ihr Sanitätswagen bis Lindau mitnimmt, ein Reise-Permit haben? Ich kann ihn doch ein paar Kilometer außerhalb Münchens als Anhalter stoppen und er sich einer Zusammenbrechenden erbarmen.« »Könnte er -.« Zwei Sprünge um den Schreibtisch herum. Umarmung. »Einen Kuß ist Ihnen das nicht wert?« »Wenn ich zurück bin, Ricky.« »Just a moment, honey. Und wenn alles nicht mehr so ist zwischen Ihnen und Ihrem boy friend? Dann brauchen Sie doch einen neuen. Ich habe beste Referenzen für den Job des Trostspenders.« »Falls ich einen brauch', laß ich mir die Referenzen zeigen. Aber ich bin überzeugt, es erübrigt sich.« »Oh, these stupid german girls« — Mitleid im fröhlichen Vollmond-Gesicht. »Okay, good luck, darling, and remember me if something is going wrong.« Raus aus dem Office, Treppe herunter, ins nahegelegene Hotel am Bahnhof, weißes London-Kleid aus dem Schrank geholt, Saum bis kurz unters Knie abgeschnitten und damit die indiskrete Rückseite gefüttert, Gesichtskontrolle im Taschenspiegel. Er hat dich ja immer wegen deiner inneren, nicht wegen äußerer Schönheit geliebt, ermuntere ich mich. Und glatte Haare haben ihn auch nie gestört. Waschen, natürlich waschen muß ich sie noch. Daß es in diesen Quartieren für Deutsche, die mehr verschonte Ruinenreste als Zimmer sind, auch keine Spie gel gibt. Im Londoner Peter-Maurice-Building gab es eine ganze Wand davon. Ich erinnere mich, daß das Weiße darin sehr hübsch ausgesehen hat. Mit Abendschuhen, Lippenstift und Puder hatte mich inzwischen eine burschikose Hosteß in einem englischen Club bei Steinhude beschenkt. »Such a famous singer and such a poor girl«, befand sie, als sie sich am Nachmittag mein Auftrittskleid für den Abend zeigen ließ, fuhr ins P.X., einen 278
der Läden, die für Deutsche Paradiese mit Vorhängeschloß waren, und kam mit weißen Schuhen, die wirklich paßten, einer Schachtel mit Hautcreme, Zahncreme, Make-up-Wundern und einem Nachthemd mit Rüschen und Seidenschleifen zurück. Selbst wenn Ricky wieder mitleidig sein schwarz umkraustes Haupt geschüttelt hätte, ich hätte das gerüschte Seidene mitgenommen an den Bodensee. »Bitte ans Telefon«, poltert es an die Tür. »Is a Ami am Apparat.« »Ich wollte nur sagen, daß der Sanitätswagen morgen vormittag gegen zehn Uhr durch die Landsberger Straße fährt.« »Danke, Ricky.« »Wie Sie zurückkommen, ist allerdings nicht meine Sache.« Wie konnte der in solchem Augenblick an Zurückkommen denken. »Da sind zwei Clubs in Aschaffenburg und in Nürnberg, in denen Sie nächste Woche singen sollen. Mögen die sich den Kopf über das Transportproblem zerbrechen.« »Ich schreib' Ihnen eine Postkarte aus Zürich.« »Arme, blöde Gans. Kommen Sie noch schnell zum Abendessen 'rüber in die Funkhaus-Kantine ?« Der Gedanke an das dekolletierte Seidene läßt mich ja sagen. Vielleicht gelingt es, es durch eine kräftige US-Mahlzeit noch etwas aufzupolstern. Mit dem Orange-juice und der Vorspeise wird mir ein Zettel serviert: »Kennst Du mich nicht mehr oder willst Du mich nicht mehr kennen?« »Valeska!« Das Tablett mit dem Hauptgang fliegt Ricky um die Ohren, ich an Valeskas Busen. Nach kurzem Aufschauen und zur Pistole Greifen, wendet sich die Aufmerksamkeit der Umsitzenden wieder der Atzung zu. »Tun Sie Ihre Arbeit, Miss. In Ihrer Freizeit kommen Sie in mein Zimmer. Mrs. Andersen wird dort auf Sie warten«, knurrt der Bär. »Familien-Zusammenfindung«, sagt jemand. »Nie liebten sich in Deutschland Verwandte so wie nach dieser Trennung durch den Krieg.« Man lacht, scheint diese Szenen gewohnt zu sein. Valeskas Dienst dauerte bis zum Abendessen. Ricky hatte ihr ausrichten lassen, daß ich vor dem Funkhaus auf sie warten 279
würde. »Kann ich bei dir schlafen? Bist du im Engagement?« »So kann man es auch nennen.« »Na, endlich einmal. Und wieso ißt du dann nichts?« Runder Zeigefinger beklopft meine Rippen. Es klingt wie das Klopfen , eines Spechts an einen Baum. Bis ich nach Franz zu fragen wage und Valeska von meiner Rotation erzähle, vergeht fast eine Stunde. »Ich war ja bis Kriegsende in Wien.« Valeska macht das enge Bett zu einem Backofen. Schweiß rinnt mir in die Augen, läßt Schenkel und Beine schwimmen wie Norderneyer Krabben im Siedekessel. So etwas hätte ich in Hamburg gebraucht. »Sie waren da sehr nett, die Sieger. Ich muß meinen Franz suchen. Er war zuletzt in Dachau. Reiseerlaubnis, Sonderzuteilung Reise-Lebensmittel-Karten.« »Hast du denen deine unveränderte Bavaria -Figur zu verdanken ?« »Meiner Intelligenz, wenn du gestattest, Eskimo. Armselig umwickelte Knochengestelle wie dich gibt es im Überfluß. Selbst wenn ich als Tänzerin ein bißchen aus dem Training bin, mein Fleisch und meine Formen werden mein Erfolg sein. Darum hab' ich gar nicht erst nach Beschäftigung im Army Welfare Service geschielt, sondern nach einem Job in der Nähe von Kochtöpfen. Ich bin in wöchentlicher Abwechslung Serviererin und Beiköchin.« »Deine gefüllten Paprika-Schoten -.« »Kannst du demnächst wieder haben. Könntest sie brauchen. Franz stand auf der Liste der Überlebenden, die Amis brachten ihn in ein Lazarett, und von da aus ist er sechs Wochen später auf seinen Wunsch nach Budapest entlassen worden. Sucht mich da sicher genauso wie ich ihn hier. Aber sie haben ja einen großartigen Suchdienst aufgebaut, die Amis und die Deutschen. Ich rechne jeden Tag damit, daß er vor unserer Personal-Baracke steht und ›Valeska, Putschikam‹ ruft. Und dann werden wir den Amis mal zeigen, was eine getanzte Star-Show ist.« Kampfbereites Gesicht, Dompteuse, wilder Feuervogel. »Is noch amal der Ami am Apparat«, klopft es an die Tür. »Was ist los, Ricky? Wie spät ist es denn schon?« 280
»Gleich elf. Ist das Servierfräulein noch bei Ihnen ? Schicken Sie sie weg, das ist kein Umgang für Sie. Die klaut.« »Meine Freundin klaut?« »Sie läßt fast täglich etwas mitgehen aus der Küche. Wenn sie nicht so gut in ihrer Arbeit wäre, hätten wir sie schon gefeuert.« »Und was denkt sich der?« Valeskas Brüste erzittern wie Schaumpudding. »Was denkt sich dieses Vollmondgesicht, wovon Franz wieder zu Kräften kommen, was er essen und trinken soll, wenn wir wieder zusammen sind?« »Er meinte wohl nur, daß du dein Vorhaben etwas diskreter ausführen solltest. Ist nämlich ein netter, hilfsbereiter Junge, dies Vollmondgesicht. Verhilft mir auch dazu, daß ic h morgen früh nach Zürich fahren kann.« »Mon dieu«, Valeska schwamm enttäuscht aus dem Bett. »Ist etwa immer noch nicht Schluß mit diesem Elefantenkalb ?« »Es soll grade wieder beginnen.« »Du bist eine so nette Person, Eskimo, aber was diesen Snob anbelangt —« Abschiedsumarmung leicht unterkühlt, Blick auf meine Rippen und beim Verlassen des Zimmers die rügenden Worte: »Du kannst ihm übrigens sagen, daß Herr Widmer mir, kaum daß ich ihm nach Kriegsende geschrieben und ihm meine Adresse mitgeteilt habe, jeden Monat ein Care-Paket geschickt hat.« Zum zweitenmal in dieser Nacht hörte ich die Worte: »Arme dumme Gans.«
Um zwei Uhr nachmittags erreichte die Gans in strahlendem weißen Gefieder den Schiffsanleger in Lindau. Um vier Uhr sollte das Schweizer Schiff anlegen. Ein paar Lokale wiesen ab: Off limits. Mantel zum Kissen gerollt, auf eine Bank gelegt, Gesicht und Arme der Julisonne zum Bräunen angeboten. Sie war nicht off limits und mit ihrem Goldstaub in diesen Jahren das einzige und preiswerteste Schönheitsmittel. Tuten und Quietschen der herunterrasselnden Fährschiffbrücke wecken mich auf. Gesichtshaut brennt, das weiße Ge281
fieder ist zerdrückt, das Lippenrot, wie mir der Taschenspiegel vorwirft, eingetrocknet. Die ersten Passagiere verlassen bereits das Schiff. Ich zieh' Lippen nach, den Kamm durch die Haare, das Kleid glatt. »Deine Nerven haben, wie ich erfreut feststelle, während der letzten Jahre nicht gelitten«, sagt die Silhouette, die vor der Sonne steht. »Robert!« Sprung um seinen Hals. Zu hoch, zu unbequem, Arme rutschen herunter, umklammern die Taille, den Bauch. Unter dem weißen Hemd riecht es nicht mehr nach bitteren Kamillen. Haut verströmt etwas weniger Natürliches, Französisches, Arriviertes. »Würdest du dich entschließen können, diese Bank zu verlassen und mit mir in ein schattiges Cafe zu gehen ?« »›Goiim naches‹ hast du es genannt, wenn ich in Zürich stundenlang in der Sonne liegen konnte.« »Auch Jiddisch hast du nicht verlernt, nur's bitzli die Aussprache. Laß dich anschauen. Du hast dich überhaupt kaum verändert.« Ich blühe auf, gehe mit ihm zu den Häusern. »Die Cafes sind leider alle offlimits.« »Was heißt das?« »Ich darf da nicht 'rein. Es sind dauernd Ami-Kontrollen, und die würden mich 'rauswerfen.« Nachdenklicher Blick. »Sie lassen euch sehr gründlich büßen, was der Schnauz euch eingebrockt hat, gell?« Nach ein paar Minuten Unentschlossenseins: »Das Schiff geht in fünf Minuten nach Rorschach zurück. Da haben wir Schatten, einen Kaffee, Kirsch und Patisserie, bist du immer noch so verfressen nach Süßigkeiten? Und Zeit genug, uns zu unterhalten.« »Wie komm' ich auf das Schiff? Ich hab' keine Fahrkarte.« »Geh schon vor«, sagt Mendelson unter den Augen des Fahrkarten-Kontrolleurs. Ich drängel mich zwischen die Einsteigenden, Ohren nach hinten gerichtet. »Ach, jetzt habe ich doch nicht beide Fahrkarten. Bringe die meiner Begleiterin gleich vorbei.« Kette wird hochgezogen, Schiff legt ab, Servierfräulein setzt Kaffee, Geschirr, Gläser und Flasche auf den Tisch, zweites 282
kommt mit Kuchentablett. Schweizer Kuchen sind anders als deutsche. Sie sind klein, graziös, haben grünen Zuckerguß, auf dem mit Schokoladenschrift »Pistazien« steht, und gelben mit »Zitrone« beschrifteten. Im plissierten Manschettchen ruht Maronen-Gekräusel wie Möwen-Hinterlassenes am Langeooger Strand. Hypnotisiert weist mein Zeigfinger vier- bis fünfmal auf das Angebotene. Um mich herum Menschen in heilen Anzügen und hübschen Kleidern. Aus sorglosen Gesichtern klingt Schwyzer-Dütsches. Komme mir vor wie ein Kellerkind, das zum erstenmal den Salon reicher Verwandter betritt. Schaue, kaue, bin plötzlich unsicher. »Dieser Ricky scheint ein netter Bursche zu sein«, höre ich Mendelson sagen. »Du glaubst, daß das Aussteigen drüben genauso leicht sein wird wie das Einsteigen?« »Was machen unsere Söhne?« »Bist du immer noch bei Scherchen, oder hast du jetzt ausgelernt ?« »Obwohl auch die Schweizer Abend für Abend Belgrad eingestellt und Lili Marleen gehört haben, verbindet man das Lied und somit leider auch dich mit den Nazis.« »Hat Hirschfeld inzwischen geheiratet?« »Das erste, wonach die GIs fragen, wenn sie zu holidays in die Schweiz kommen, ist die Lili-Marleen-Platte. Welch Glück für sie, daß ein ›Vater‹ und eine ›Mutter‹ zur Holding Company deiner Plattenfirma nach London und Madrid kamen, bevor Goebbels Befehl gab, die Berliner Original-Matritze abschleifen zu lassen.« »Wie geht es den Kollegen am Schauspielhaus? Haben sie jetzt feste Verträge?« »Am ärgsten hat es wohl Berlin getroffen. Ich hab' Fotos gesehen. Warst du beim Kriegsende noch da?« »Lebst du jetzt wieder ganz in Zürich oder noch in Ascona?« Wovon reden wir, denke ich, fühle Kuchen statt im Magen in der Kehle, blicke mich um nach Schild: Für Damen. »Eine Treppe tiefer«, sagt das Servierfräulein. Sehe Inschrift rechts »Herren«, links »Frauen«, hatte vergessen, daß in der Schweiz Damen Frauen sind, erreich' es nicht mehr, biete Kuchen dem 283
Bodensee und den Möwen an, starre ins Wasser. Ich spring 'rein, denk' ich. Wenn er nicht während der nächsten Viertelstunde sagt, daß er mich noch liebt, springe ich 'rein. Mit einem nervösen Magenleiden wird man ohnehin nicht alt, und scheinbar hab' ich eins. Damals, als sie mich im Sudetenland auspuffen, fing es an. Heute ist der zweite Anfall. Sicher kommen jetzt in immer kürzeren Abständen immer weitere. Schiffsglocke läutet. Menschen gehen zum Ausgang. Soll ich mit ihnen gehen? Will ich überhaupt noch nach Zürich? »Wir haben angelegt«, sagt der Karten-Kontrolleur zu Mendelson. »Die junge Dame hat drüben ihren Handkoffer vergessen. Wir fahren noch mal nach Lindau zurück«, Mendelson gibt dem Mann zwanzig Franken. »Rest für Sie«, lächelt er, nimmt die Billetts und steckt sie ein. »Wann legen Sie wieder ab?« »In einer halben Stunde«, sagt der Blaubemützte. »Dann geht's von drüben noch mal nach Rorschach zurück, und um acht ist Feierabend und 's Pappeli geht zum Kegeln.« Tür schließt sich, Büfett-Dame ist auch aufs Deck gegangen. Alleinsein, Stille, Umarmung, Lippen auf meinen Lippen. Ich wag' mich nicht zu bewegen, bin schwindlig vor Glück, vor Nähe, vor Na-endlich-Gefühl. Wie damals, wie vor - wie lange ist das her — wie vor ungefähr fünfzehn Jahren beim ersten Kuß in der Dufourstraße. Hände umschließen mein Gesicht, blaue Gewitter-Augen tasten es ab. »Meinen törichten Entschluß damals in Ascona trägst du mir doch nicht mehr nach?« »Du hast nie im Leben einen weiseren getroffen, Wilki. Inzwischen weiß ich, daß ich mit der Musik verheiratet bin. Ich wäre ein schlechter Ehemann gewesen.« Das mußte ich ihm sofort ausreden. »Vielleicht im Sinn von Familienvater -.« »Nein, überhaupt.« »Aber du brauchst doch jemanden, der für dich kocht, der Ordnung in deine Partituren und Bücher bringt, deine Hemden zählt und zur Wäscherei schafft —.« 284
»Für diese Kleinigkeiten findet sich immer die eine oder andere unbelehrbare Idealistin. Das sind doch keine Aufgaben für einen Singvogel, der alle Chancen für eine internationale Karriere hat. Dein Nimbus und ein cleverer amerikanischer Manager —.« Ich laß mich nicht wegschieben, gla ub' nicht mehr an Märchen, will den müden Schädel abends nicht mehr auf ausgebeulte Kapokkissen legen und auch nicht auf damastbezogene in Luxushotels. Auf dem Brustkorb möchte er endlich wieder einschlafen, der früher nach Kamillen roch und in ausgeblichener Baumwolle steckte. Daß ihn jetzt Seide bedeckt und ein Monogramm ziert, das diskret die Personalien andeutet, damit würde ich mich schon abfinden. »Hast du wieder einmal geerbt?« »Ich bin wohldotierter Leiter der Musikabteilung von Radio Beromünster.« »Mein liebendes Herz schlägt höher vor Stolz und Freude.« »Und wenn der Fahrstuhl wieder funktioniert und die Fensterscheiben ausgebessert sind und es euch glücken sollte, sechzig Spitzenmusiker zu sammeln, die kein Parteiabzeichen trugen, übernehm ich die Musikabteilung des Hamburger Rundfunks. Das Vertragsangebot liegt schon auf meinem Schreibtisch.« Robert in Hamburg, ich in Hamburg. Was mir in der nächsten halben Stunde auf der Bodenseefähre nicht gelang - in Hamburg glückte es mir bestimmt. »Und weißt du, wer zu meinen ersten Solisten gehören wird? Die Wilki mit den plattdeutschen Volksliedern. Ich hab' sie ja nie verstanden, und doch gerieten mein Herz und mein Verstand aus dem Gleichgewicht, wenn du sie in Zürich sangst.« Büfettfräulein kommt zurück, Servierfräulein wechselt Aschenbecher, wedelt mit Serviette über Tischplatte, Fahrgäste strömen ins Schiffsrestaurant. Ich will das alles nicht sehen, krieche unter Roberts Jackett, beschwöre den Gedanken an den Großen Sendesaal zurück, Robert auf dem Dirigentenpult, ich am Mikrofon. »Geliebt hast du niemanden in der Zeit, in der wir getrennt waren? Ich meine, so wie wir uns liebten?« Habe ich die Antwort überhört? Ich lockere einen Spalt des Jacketts, das meine Hände über meinen Ohren zusammenhalten. Der Angeredete blickt zum Fenster hinaus. Zorn über meine törichte Frage, Ver285
zweiflung, daß ein lautes entrüstetes Nein sie nicht Sekunden später überflüssig, ungefragt macht. »Meine Wilki wird ja auch nicht acht Jahre in Askese verbracht haben?« Mein Fuß stirbt ab, meine Hand. »Es lag an der Kälte, nur wenn ich es vor Kälte nicht mehr aushielt.« »Es soll viele kalte Kriegswinter in Deutschland gegeben haben.« »Ich hab' sie alle allein durchgestanden. Aber in der Schweiz saß man doch in heilen Häusern und hatte das Notwendigste an Strom und Feuerung?« »Es muß nicht unbedingt die Angst vorm Erfrieren sein, Wilki, die einen Mann in die Arme eines Weibes treibt.« Ich frag' nicht weiter, will das nicht hören, sei still Bauch, fang nicht wie der mit den Krämpfen an. »Schau Wilki, was du und ich lieben, ist doch nicht das Heute, es ist die Erinnerung an eine Liebe, die für mich, abgesehen von Herrn Toscanini, die größte meines Lebens war und wahrscheinlich immer bleiben wird. Sie ist mir auch zu schade zu Rekonstruktionsversuchen, und ich bin so froh, daß ich von dir nicht die Weibchen-Worte ›Laß es uns noch einmal versuchen hören werde. Warum einer Resignation, die uns in zwei, drei Jahren bestimmt umschleicht, nicht zuvorkommen? Einer der größten Augenblicke in einer Liebe ist der, in dem Liebe zur Freundschaft wird. Ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe.« »Haben Sie noch einen Wunsch?« wagt sich das Servierfräulein an unseren Tisch. »Wir legen in fünf Minuten an.« »Haben Sie einen Magenbitter oder zwei ?« »Sofort, Madame.« »Sag nichts mehr, Robert. Laß mich noch ein bißchen an deiner Schulter kleben.« Wir gehen als letzte vom Schiff, stehen auf dem großen, leeren Parkplatz. Die Sonne ist untergegangen, der Wind kühl. Ich zieh' mir den Felddecken-Mantel an. Das Päckchen mit dem Gerüschten fällt heraus. Soll ich es mit einem Tritt in den Bodensee befördern ? Langeoog, Hamburg, Enzianblaue, Hände, die für mich nageln, streichen, Holz klauen, London, New York. Das Seidene fliegt nicht in den Bodensee. Mit deinem 286
Nimbus und dem richtigen Manager —. »Wo übernachtest du denn?« »Ich muß morgen früh in München sein.« »Und wie kommst du da hin?« Ich zeig' ihm die amerikanische Patentlösung bei Beförderungsproblemen. Rechten Arm hoch, rechten winkenden Daumen in Zielrichtung. Gehe los. Nachtwind trägt mir Roberts Stimme nach. »Wenn du auf deine Laterne setzt, setzt du bestimmt richtiger als auf mich«, verstehe ich noch und dann, schon weit fort, zerrissen von einem Möwenschrei, geplatzt wie eine im Nachtwind verirrte Seifenblase: »Ach, Wilki.«
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Lili Marleen Vor der Kaserne, Vor dem großen Tor Stand eine Laterne. Und steht sie noch davor, So wolln wir uns da wiedersehn, Bei der Laterne wolln wir stehn Wie einst, Lili Marleen. Unsere beiden Schatten Sahn wie einer aus. Daß wir so lieb uns hatten, Das sah man gleich daraus, Und alle Leute solin es sehn, Wenn wir bei der Laterne stehn Wie einst, Lili Marleen. Schon rief der Posten: Sie blasen Zapfenstreich, Es kann drei Tage kosten. — Kamerad, ich komm' ja gle ich. Da sagten wir auf Wiedersehn, Wie gerne wollt' ich mit dir gehn, Mit dir, Lili Marleen. Deine Schritte kennt sie, Deinen zieren Gang; Alle Abend brennt sie. Mich vergaß sie lang. Und sollte mir ein Leids geschehn, Wer wird bei der Laterne stehn Mit dir, Lili Marleen? Aus dem stillen Räume, Aus der Erde Grund Hebt mich wie im Traume Dein verliebter Mund. 288
Wenn sich die späten Nebel drehn Werd' ich bei der Laterne stehn Wie einst, Lili Marleen. Hans Leip
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