Jan Knopf Bertolt Brecht: Leben des Galilei
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Jan Knopf Bertolt Brecht: Leben des Galilei
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Bertolt Brecht: Leben des Galilei Sichtbarmachen des Unsichtbaren Von Jan Knopf
Das Drama Leben des Galilei von Bertolt Brecht gibt es nicht. Bekannt wurde unter diesem Namen die dritte Fassung eines Stücks, geschrieben und nicht endgültig abgeschlossen 1955/56, eine Fassung, die zeitlich am weitesten von dem Text entfernt ist, der als die genuine Bearbeitung des Stoffs angesehen werden kann. Auch dieser Text heißt Leben des Galilei und ist 1938/39 entstanden. Zwischen der ersten und letzten Bearbeitung liegt Galileo, die English Adaption, also in englischer Sprache, die Brecht ab 1944 zusammen mit dem Schauspieler Charles Laughton für eine amerikanische Aufführung (1947) erarbeitet hat. Die englische Fassung des Stücks verschiebt die ursprüngliche Aussage unter dem Eindruck der Atombombe von Hiroshima so entschieden, dass am selben Stoff beinahe konträre Fälle demonstriert werden. Die dritte Fassung, die äußerlich eine »Rückübersetzung« des amerikanischen Textes darstellt, verschärft, diesmal unter dem Eindruck des wegen »Atomspionage« zum Tode verurteilten Wissenschaftler-Paares Ethel und Julius Rosenberg (1953) und des Falls Robert J. Oppenheimer (1954), diese Tendenz noch und rückt das neue Thema eng an die Gegenwart heran. Wer Brechts Galilei interpretieren möchte, muss sich also entscheiden, welchen Text er/sie der Analyse zugrunde legt. Ich umgehe im vorliegenden Fall das Dilemma insofern, als ich zunächst die wichtigsten Unterschiede zwischen den Fassungen darlege und dann ein grundsätzliches wissenschaftstheoretisches Problem erörtere, das in allen
© 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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drei Fassungen gleichermaßen gewichtig und mit fast identischen Formulierungen abgehandelt ist. Im Zentrum des historischen Stoffs steht die Auseinandersetzung zwischen dem mit der wissenschaftlichen Erkenntnis einhergehenden Beginn der Neuzeit und dem Festhalten am traditionellen, anthropozentrischen Weltbild. Galilei, als der Begründer der neuzeitlichen Wissenschaft, ist der erste Forscher, der das bis dahin lediglich durch Gedankenhypothesen vertretene kopernikanische Weltbild mit Hilfe des Fernrohrs »beweisen«, das heißt sichtbar machen kann. Er beansprucht mit seiner Entdeckung eine Gewissheit der Erkenntnis, die – nach der damaligen Anschauung – allein Gott zukam und ihn folglich in Konflikt mit der katholischen Kirche bringen musste. In einem der berühmtesten Prozesse der Geschichte wird Galilei 1633 gezwungen, seinen Überzeugungen abzuschwören und damit seine Wissenschaft öffentlich zu denunzieren. Unter Aufsicht gestellt und mit der Todesstrafe bedroht, falls er seinen Forschungen weiter nachgehen sollte, gelingt es Galilei dennoch, weiterzuarbeiten und heimlich sein Hauptwerk, die Discorsi (1638), zu schreiben sowie über die Grenze zur Publikation im Ausland schmuggeln zu lassen. »Eppur si muovo« (»Und sie bewegt sich doch«, die Erde nämlich, nicht die Sonne) soll Galilei trotzig seinem Widerruf entgegengehalten haben. Insofern ging er als »Märtyrer der Wissenschaft« in die Geschichte ein. Geht man von der üblichen Beurteilung des historischen Falls aus, so liegt es nahe – zumal Galilei nicht nur ein großer Forscher, sondern auch eine herausragende, Sympathie weckende Persönlichkeit war –, den Trotz und die List, die Galilei der übermächtigen Obrigkeit entgegenstellt, im Zentrum des Stoffs zu sehen. Das Thema also ist: Widerstand in der Diktatur; der zeitgenössische Bezug: verdeckter Widerstand von Regime-Gegnern im Deutschland der Nazi-Herrschaft. Bereits in seiner Rede über die Widerstandskraft der Vernunft vom November 1937 hatte Brecht den Widerspruch, in dem sich nicht »gleichgeschaltete« Wissenschaftler in © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Nazi-Deutschland sehen mussten, formuliert: »Der Physiker muß imstande sein, für den Krieg optische Apparate zu konstruieren, die eine sehr weite Sicht gewähren, zugleich muß er imstande sein, Vorgänge für ihn gefährlichster Art in seiner nächsten Nähe, sagen wir an seiner Universität, nicht zu sehen.«1 Die Szene Physiker aus der Szenenfolge Furcht und Elend des III. Reiches (Frühjahr 1938) zeigt bereits, wie zwei Vertreter der nach der nationalsozialistischen »Rassengesetzgebung« »entjudeten« »deutschen Physik« ihre bisherigen Forschungen illegal und listig weiterbetreiben: »der Physiker benützt eben Einstein (laut über die jüdische Physik schimpfend)«.2 Die erste Bearbeitung von 1938/39 stellt entsprechend Galilei als Widerstandskämpfer gegen die durch die katholische Kirche vertretene Obrigkeit der Zeit dar. Galilei widerruft öffentlich, forscht aber trotz Bedrohung heimlich weiter und kann so sein Hauptwerk beenden und verbreiten. Brecht vermeidet es freilich, Galileis List zu glorifizieren und damit ihn selbst zum »Märtyrer« werden zu lassen. Die Tatsache, dass Galilei seine wissenschaftliche Arbeit (mit sozialen Folgen) zerstört und sich als Person korrumpiert hat, kann durch die List, im Verborgenen an der Aufdeckung der »Wahrheit« weiterzuarbeiten, nicht aufgehoben werden. Brecht notiert, als er 1944 das Stück wieder vornimmt: »gerade weil ich hier der Geschichte zu folgen versuchte und keine moralischen Interessen hatte, ergibt sich eine Moral, und ich bin nicht glücklich damit.« Und »mit Unwillen« hält er fest, dass die Interessenten an seinem Galilei glaubten, »ich hätte es für richtig gehalten, daß er öffentlich widerrufen hat, um insgeheim seine Arbeit fortsetzen zu können. Das ist zu flach und zu billig. Galilei zerstörte schließlich, nicht nur sich als Person, sondern auch den wertvollsten Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit«.3 Die Kirche habe ihre Herrschaft mit der Bibel verteidigt, wohingegen das Volk an Galileis Forschungen Interesse gehabt habe, um sich von dieser Herrschaft zu befreien. Die Astronomie sei durch Galileis Widerruf
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lediglich ein Fach geworden, »Domäne der Gelehrten, unpolitisch, isoliert«, während es der Kirche gelungen sei, Wissen und Glauben voneinander zu trennen.4 Parabolisch verdichtet ist der Widerspruch in der Geschichte des Philosophen Keunos, mit der Brecht die Keuner-Geschichte Maßnahmen gegen die Gewalt von 1929 nur leicht variiert in das Stück einbaut: mit der Waage arbeitend. Ich erinnere mich einer kleinen Geschichte. In die Wohnung des kretischen Philosophen Keunos, der wegen seiner freiheitlichen Gesinnung bei den Kretern sehr beliebt war, kam eines Tages während der Gewaltherrschaft ein gewisser Agent, der einen Schein vorzeigte, der von denen ausgestellt war, welche die Stadt beherrschten. Darauf stand, ihm sollte jede Wohnung gehören, in die er seinen Fuß setzte; ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe. Der Agent setzte sich auf einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte, mit dem Gesicht zur Wand, vor dem Einschlafen: wirst du mir dienen? Keunos deckte ihn mit der Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat: vor einem hütete er sich wohl, das war: auch nur ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre um waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Keunos in die verdorbene Decke, schleppte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: nein. (72 f.)5
GALILEI
Während die anderen Schüler lachen, reagiert Andrea mit Kopfschütteln: »Mir gefällt die Geschichte nicht, Herr Galilei.« (73) Denn trotz der inneren Weigerung, trotz des »Nein« am Ende, hat Keunos der Gewalt gedient, sie unterstützt und gemästet. Galilei © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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»bezahlt« seinen Widerruf in der ersten Fassung mit dem Verlust seiner wissenschaftlichen Autorität: »Die Wissenschaft kann Menschen, die es versäumen, für die Vernunft einzutreten, nicht brauchen. Sie muß sie mit Schande davonjagen.« (102) Galileis Wissen wird enteignet; sein Name aus den Reihen der Wissenschaft ausgemerzt, wie Galilei selbst gegenüber Andrea, der ihn in seinem Kerker besucht, äußert: Nur noch einige Außenstehende wie du könnten auf den Gedanken kommen, in einem solchen Schutthaufen nachzugraben, ob sie nicht doch etwas Brauchbares herausfischen könnten. Warum sollte übrigens sonst noch hier und da einer zu mir kommen? Denn an mir selber ist nichts mehr, da ich mich selber zerstört habe. Tatsächlich würde mich solch ein Mann enteignen. Diese Anfänge der neuen Physik, würde er sagen, aus trüber Quelle stammend, habe ich irgendwo gefunden. Der Namen des Verfassers hatte einmal einige Bedeutung in der wissenschaftlichen Welt. Aber er hat sich als Lügner entpuppt. So müssen diese Blätter mit äußerster Vorsicht geprüft werden, denn sie stehen auf nichts als sich selber. (104 f.) Da Galilei dieses Fazit selbst zieht und also weit entfernt ist, seinen Widerruf zu rechtfertigen, bleibt er bei allen Widersprüchen in der ersten Fassung doch eine positive Figur. Diese Einschätzung ändert sich radikal, als die Amerikaner die erste Atombombe auf Hiroshima (6. August 1945) abwerfen. »Das ›atomarische Zeitalter‹ machte sein Debüt in Hiroshima in der Mitte unserer Arbeit. Von heute auf morgen las sich die Biographie des Begründers der neuen Physik anders. Der infernalische Effekt der Großen Bombe stellte den Konflikt des Galilei mit der Obrigkeit seiner Zeit in ein neues, schärferes Licht.«6 Der Fall Galilei wurde nun zum »Sündenfall« der Wissenschaft überhaupt: »Die © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Wissenschaftler nehmen für sich in Anspruch die Unverantwortlichkeit der Maschinen«,7 notierte Brecht bissig. Anstatt daran mitzuwirken, »die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern« (284), hatten die Wissenschaftler dazu beigetragen, gewaltige Vernichtungsmaschinerien herzustellen. Mit dem Widerruf Galileis begann für Brecht nun die verhängnisvolle Entwicklung der Physik zur Geheimwissenschaft, die sich den jeweiligen Machthabern bereitwillig zur Verfügung stellte und ihnen die Anwendung ihrer Ergebnisse überließ. If you give way to coercion, science can be crippled. Your new machines may simply suggest new drudgeries. You may in time discover all there is to be discovered, but if you yield to coercion your progress must be a progress away from the bulk of humanity. The gulf between you and humanity might even grow so wide that the sound of your cheering at some new achievement could be echoed by a universal howl of horror. As a scientist I had an almost unique opportunity. In my day astronomy emerged into the market-places. At that particular time, had one man put up a fight, it would have had wide repercussions. I have formed the opinion, Sarti, that I was never in real danger; for some years I was as strong as the authorities, and I surrendered my knowledge to the powers that be, to use it, abuse it, just as it suits their ends. I have betrayed my profession. Any man who does what I have done must not be tolerated in the ranks of science. (180) Das ursprüngliche Thema »Widerstand« wurde entsprechend aus dem Stück weitestgehend entfernt. So wurde die Keunos-Parabel ersatzlos gestrichen, wurden die sozialen Folgen von Galileis Widerruf durch den Einbau einer neuen Figur, des wissenschaftlich interessierten Linsenschleifers Federzoni, verschärft, und der Konflikt im eigenen Haus, nämlich Galileis gewissenlose »Opferung« seiner Tochter Virginia, © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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wird als unentschuldbarer Frevel gebrandmarkt. Da die Szene in Galileis Haus die wohl interessantesten Änderungen enthält, sei sie exemplarisch etwas genauer betrachtet; es handelt sich in der ersten Fassung um Szene 8, in der dritten Fassung, die ich hier zugrunde legen will (die der amerikanischen Fassung entspricht ihr weitgehend), um die Szene 9. Nachdem die Inquisition die kopernikanische Lehre auf den Index gesetzt hat (1616), hält sich Galilei äußerlich an das Verbot, weitere Forschungen in dieser Hinsicht zu betreiben, obwohl er heimlich die Sonnenflecken beobachtet (Sonnenrotation) und sich dabei die Augen ruiniert; in diesem Zusammenhang erzählt er denn auch die Parabel des Keunos. Offen experimentiert er mit Versuchen über das Schwimmen von Körpern, während Andrea darauf drängt, mit den Sonnenbeobachtungen fortzufahren, da er ein Mittel gefunden hat, die Sonnenflecken durch Projektion des Lichts indirekt und ohne Augenschäden zu beobachten. Virginia ist damit beschäftigt, ihre Aussteuer zur baldigen Heirat herzurichten, als unvermutet Ludovico, der Verlobte Virginias, auftaucht. Er will mit Galilei sprechen, da er gehört hat, dass dieser an einem Buch über die Sonnenflecken arbeite. Galilei, der sich nur in seiner Arbeit gestört fühlt, antwortet mit »Unsinn« und »grob«: »Also, ich schreibe gar nichts«, worauf Ludovico sich bei Galilei entschuldigt und die Hochzeit schon etwas früher ansetzen möchte (74 und 75). Als Galilei schon im Abgehen ist, fängt jedoch Ludovico an, »Klatsch zu berichten«, u. a. davon, dass der Papst im Sterben liege und Kardinal Barberini die besten Aussichten habe, sein Nachfolger zu werden (75). Da Barberini als Wissenschaftler bekannt und mit Galilei freundschaftlich verbunden ist, setzt dieser die neuen Verhältnisse bereits als gegeben voraus und beginnt offen mit der Untersuchung der Sonnenflecken. Ludovico erklärt daraufhin Virginia, dass er sie nicht heiraten könne, »wenn es so kommt. Ich besitze kein Vermögen« (77). Galilei versucht, ohne von © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Ludovicos Lösung der Verlobung zu wissen, bei diesem noch zu vermitteln, und kehrt »dann unschlüssig« (ebd.) wieder an seine Arbeit zurück. Virginia zieht den Ring vom Finger und gibt ihn Ludovico. Während Galilei seine Hypothesen ausbreitet, umarmt Ludovico seine ehemalige Braut und geht schnell weg. Am Ende der Szene – Galilei hat nichts mitbekommen – packt sie die Wäsche in die Truhe. Auch in der ersten Fassung der Szene wird Galileis Desinteresse am Schicksal seiner Tochter durchaus deutlich markiert, auch, dass sie diejenige ist, die seinem Wahrheitsdrang und seinem Forscherpathos Opfer zu bringen hat. Galilei erscheint jedoch gerade durch seine Forschernatur als ein Mensch, der im alltäglichen Umgang eher täppisch und unentschlossen, jedoch keineswegs bösartig ist, und er tritt nicht so auf, dass er merken würde, was er anrichtet. Er wirkt also – trotz allem – sympathisch (ähnlich war sein Verhalten bereits in der Pestszene). In der Neubearbeitung ist Ludovico ein »reicher junger Mann« aus dem Geschlecht der Marsili, das in der Campagna Weinberge besitzt. Durch die neu eingeführte Figur des Linsenschleifers verändern sich die Voraussetzungen der Szene: Zwar beugt sich Galilei dem Verbot der Inquisition (nach außen, wie gehabt), aber die sozialen Folgen seiner Arbeit im Geheimen sind entschieden betont. Galilei sorgt dafür, dass nicht das Lateinische, sondern das Italienische für die Experimente als Wissenschaftssprache verwendet wird, und er kündigt an, zukünftig seine Bücher in der Volkssprache zu schreiben. Ludovico kommt in Galileis Haus nicht mehr von weit her und nicht mit persönlichem Interesse, sondern im Auftrag der Familie (seiner Mutter, der Gutsherrin), die sich eine Verbindung zur Familie eines Ketzers nicht leisten will. Auch hier wird die soziale Begründung verschärft. Ludovico sieht – in ähnlicher Weise wie der kleine Mönch in Szene 8 – die sozialen Folgen von Galileis Forschungen, nur dass er sie im Unterschied zum Mönch im eigenen Interesse fürchtet:
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GALILEI.
Du meinst, deine Bauern werden es von der Heiligkeit der Gutsherrin abhängig machen, ob sie den Pachtzins zahlen oder nicht? LUDOVICO. In gewisser Weise. (255) Und später äußert sich Ludovico abfällig über seine Bauern, die wie »Tiere« seien und mit Gewalt in Abhängigkeit gehalten werden müssten. Die Auseinandersetzung zwischen Galilei und Ludovico ist nun als direkte Konfrontation gestaltet. Galilei fühlt sich auf demütigende Weise durch die Marsili geprüft, begegnet Ludovico von vornherein mit Misstrauen und verfolgt dessen Reaktionen mit gespanntem Interesse, indem er ihn penetrant nach der Güte des Weines befragt, den er ihm vorgesetzt hat. Die Konversation ist steif – Ludovico spricht Galilei mit »Herr« an –, und zeigt beide in äußerster Distanz. Frau Sarti ist jetzt Zeugin des Gesprächs, die merkt, dass Galilei den Eklat sucht, und die ausdrücklich vor den Folgen warnt: »Wenn ich meine ewige Seligkeit einbüße, weil ich zu einem Ketzer halte, das ist meine Sache, aber du hast kein Recht, auf dem Glück deiner Tochter herumzutrampeln mit deinen großen Füßen!« (256) Galilei reagiert jedoch nur »mürrisch« und treibt dann Ludovico regelrecht aus seinem Haus. Virginia ist während der Szene abwesend – sie legt ihr Brautkleid an –, und wird erst am Ende der Szene mit den von Galilei geschaffenen Tatsachen konfrontiert. »Du hast ihn weggeschickt, Vater! Sie wird ohnmächtig.« (259) Was in der ersten Fassung wie ein dummer Zufall einherkommt, ist in den späteren Bearbeitungen in jeder Hinsicht motiviert. Ludovico überbringt die Nachricht, dass der Papst im Sterben liegt, nicht mehr als »Klatsch«, sondern in der vorsätzlichen Absicht, Galileis Reaktion darauf zu überprüfen. Galilei ist der Schwiegersohn aus reichem Haus von vornherein verdächtig, und er provoziert ihn regelrecht, sich abfällig über seine Bauern zu äußern, wohingegen Galilei mit dem Entschluss, in der Sprache des Volkes zu schreiben, gerade in ihnen seine neue Leserschaft sucht. Kurz, die Szene ist so © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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angelegt, dass beíde Seiten die Konfrontation suchen und konsequent keine andere Lösung mehr möglich ist, als dass Ludovico das Haus verlässt und die Verlobung (ohne Virginia nochmals zu sehen) löst. Entscheidend für die Neubearbeitung ist: Galilei wird nicht nur als besessener Forscher, sondern als bewusster Verbündeter des Volkes gezeigt, der einen Ausbeuter als Schwiegersohn ablehnen muss. Er weiß, welche sozialen Folgen seine Forschungen haben können, wenn er sie mit seiner Autorität vertritt. Und so meint er auch, über die Zukunft bzw. das Glück seiner Tochter verfügen zu können und damit eigentlich auch in ihrem Interesse zu handeln. Brecht erreicht damit, dass der Widerruf Galileis nicht mehr zu rechtfertigen ist. Galilei hat bereits dermaßen viel aufs Spiel gesetzt bzw. so viele Tatsachen geschaffen, und zwar bewusst und vertreten durch seine Persönlichkeit und wissenschaftliche Autorität, dass er auch aus persönlichen Gründen nicht mehr widerrufen dürfte. Sein Widerruf erweist ihn folglich in den späteren Fassungen tatsächlich als Verräter an den eigenen Leuten, der ihre Opfer gefordert hat, aber selbst nicht zum Opfer bereit ist, und als den Verbrecher, der die Wahrheit weiß und sie eine Lüge nennt (vgl. 249). Thema ist folglich jetzt die Verantwortung, oder besser gesagt, die Verantwortungslosigkeit der Wissenschaft und ihrer Vertreter. Als Ethel und Julius Rosenberg 1953 wegen sogenannter Atomspionage (Weitergabe von physikalischen Forschungsergebnissen an die Sowjetunion) in den USA auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden und 1954 Robert J. Oppenheimer wegen seiner Weigerung, die Politik der Stärke in den USA durch seine wissenschaftliche Arbeit mitzutragen, vor Gericht gestellt und zum öffentlichen Loyalitätsbeweis gezwungen wird, ist für Brecht die neue Sicht auf den »Fall Galilei« endgültig von der Zeit eingeholt und auf furchtbare Weise bestätigt worden.
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Erneut nimmt er sich das Stück vor, übersetzt die amerikanische Fassung ins Deutsche und verschärft die Verurteilung von Galileis Widerruf weiter. Der Prozess gegen Oppenheimer erscheint ihm geradezu als Wiederholung des Prozesses gegen Galilei und dessen Loyalitätserklärung als erneuter Widerruf und damit als öffentliche Sanktionierung der Unterwerfung der Wissenschaft unter die Politik – und dies in einer Zeit, von der Brecht 1954 konstatiert: Aber das Entsetzliche ist, daß ein Krieg schon nicht mehr nötig ist, die Welt zu vernichten: durch die Entwicklung der Atomphysik genügen die Kriegsvorbereitungen dazu. Auf japanische und amerikanische Städte gehen seit Wochen radioaktive Regen nieder. Mit Furcht betrachtet die Bevölkerung Japans die Fischdampfer, die immer ihre Hauptnahrung gebracht haben. Denn das Meer und die Luft, jahrtausendelang ohne Besitzer, haben nun Herren gefunden, die sich das Recht über sie anmaßen, nämlich das Recht, sie zu verseuchen. Die Gesundheit des Menschengeschlechts ist bedroht auf Jahrhunderte hinaus.8 Der neue Galilei, der nun wieder Leben des Galilei heißt, wird zunächst 1955 in der Reihe der Versuche (Heft 14) publiziert, von Brecht 1955/56 noch einmal für die geplante Aufführung am Berliner Ensemble überarbeitet, eine Arbeit, die Brecht wegen Krankheit und seines frühen Todes am 14. August 1956 nicht mehr abschließen kann. Die Aufführung erfolgt postum am 17. Januar 1957, der Druck des Textes 1957 im Band 8 der Stücke (Frankfurt a. M. bzw. Berlin/DDR). Dieser Druck bildet bisher, wie gesagt, in fast allen Untersuchungen zum Stück die Textgrundlage. Soweit also die wesentlichen Unterschiede und entsprechenden Zeitbezüge der drei Hauptfassungen des Stücks, die zeigen, welche Veränderungen an einem Stoff © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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vorgenommen werden können, ohne deshalb die Fabel und die Grundstruktur des Dramas wesentlich antasten zu müssen. Es sei aber für diesen Teil der Untersuchung abschließend vermerkt, dass die späteren Bearbeitungen des Stoffs mit neuen Widersprüchen zu kämpfen hatten. Da Brecht mit einem Historiendrama ein ohnehin traditionelles Genre verwendet und mit Galilei eine »große« Figur geschaffen hatte, kollidierte die Verurteilung des Forschers und die angestrebte Verkleinerung der Figur zum ›erfinderischen Zwerg, der für alles gemietet werden kann‹ (vgl. 284), mit der ursprünglichen Anlage des Stücks: zwölf Szenen lang wird im Ganzen gesehen eine wirksame, fröhliche und sympathische Figur aufgebaut, die dann in zwei bzw. drei Szenen als Verräter entlarvt und verurteilt werden soll. Das hat – die Wirkungszeugnisse von Aufführungen belegen dies nachdrücklich – nicht geklappt, zumal Brecht die Verurteilung Galilei selbst aussprechen lässt (Selbstanklage). Hinzu kamen in der Regel die großen Darsteller der Figur (Charles Laughton, Ernst Busch, Leonard Steckel u. a.), die die positiven Seiten des Galilei viel stärker als die negativen verkörperten. Arnolt Bronnen schrieb zur Aufführung des Berliner Ensembles über Buschs Leistung: »Das war der Wissenschaftler, wie Brecht ihn sah, wie wir ihn uns alle ersehnen: volksnah, immer den sozialen Zweck seiner Arbeit im Auge, forschend, ›die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern‹. Was man ihm [. . .] nicht ganz glaubte: den Verrat. Den Widerruf. Das Weichwerden.«9 Es bleibt also die Frage, ob es Brecht trotz aller Bemühungen, starke Begründungen dafür zu geben, gelungen ist, »aus dem Helden den Verbrecher herauszuholen«, oder ob nicht doch die Fassung von 1938/39 als die Bearbeitung anzusehen ist, die dem Stoff am ehesten gerecht wird. Neben den politischen und ethischen Fragen behandelt das Stück – in allen drei Fassungen – ein grundlegendes wissenschaftstheoretisches Problem, das ich unter dem Stichwort »Neues Sehen« fassen möchte. Es handelt sich zugleich um ein poetisches Leitmotiv des Dramas, das vielfältige Nuancen aufweist. © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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In der ersten Szene hält Galilei seinem Schüler Andrea, der meint, man »sehe doch, daß die Sonne abends woanders hält als morgens«, vor: »Du siehst! Was siehst du? Du siehst gar nichts. Du glotzt nur. Glotzen ist nicht sehen.« (11) Und er führt Andrea sogleich in einem einfachen Experiment vor, dass durch die Bewegung des Stuhls, auf dem dieser sitzt, gedacht als Erde, der Waschschüsselständer, gedacht als Sonne, ebenso gut von links nach rechts geraten kann, als wenn der Ständer nach rechts getragen würde. Die erstaunte Mutter Andreas: »Was machen Sie eigentlich mit meinem Jungen, Herr Galilei?« erhält die lapidare Antwort: »Ich lehre ihn sehen, Frau Sarti.« (12) Die Möglichkeit, das »Neue Sehen« auch beweisen zu können, erhält Galilei durch das Fernrohr, von dem er Sagredo gegenüber äußert: GALILEI.
Auch die Mönche sind Menschen, Sagredo. Auch sie erliegen der Verführung der Beweise. Der Kopernikus, vergiß das nicht, hat verlangt, daß sie seinen Zahlen glauben, aber ich verlange nur, daß sie ihren Augen glauben. Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muß sie zum Angriff übergehen. Ich werde sie bei den Köpfen nehmen und sie zwingen, durch dieses Rohr zu schauen! (32 f.)
Während Galilei nur an den physikalischen Beweis denkt und sich um seine mögliche weitergehende Bedeutung nicht kümmert, warnt Sagredo vor den Konsequenzen. Er sehe, sagt er, Galilei »auf einer furchtbaren Straße«; es sei »eine Nacht des Unglücks, wo der Mensch die Wahrheit sieht«, und »eine Stunde der Verblendung, wo er an die Vernunft des Menschengeschlechts glaubt«. Denn, so fragt Sagredo Galilei: »Von wem sagt man, daß er sehenden Auges geht? Von dem, der ins Verderben geht.« (33) Die physikalische Frage nach der Wahrheit erfährt eine erste entscheidende Erweiterung. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren – durch das Fernrohr (»Was du © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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siehst, hat noch keiner gesehen«; 29) – bedeutet, nach einer Wahrheit zu streben, die nicht für den Menschen bestimmt ist, wonach folglich alle Versuche, es dennoch zu tun, ins Verderben führen müssen. Erinnert sei ans Volksbuch, an die Historia von D. Johann Fausten (1587), in dem die Tatsache, dass Faustus zum Gestirn auffährt – sozusagen als erster Astronaut mit Mephistos Hilfe – und damit Dinge sieht, die »nicht sichtbarlich« sind, wesentlich dazu beiträgt, dass Faustus am Ende vom Teufel geholt wird. Es handelt sich um das – von Hans Blumenberg so genannte »Sichtbarkeitspostulat«,10 nach dem alles Unsichtbare als »göttliche Sphäre« definiert war und demnach prinzipiell dem Menschen als entzogen galt. Vor dem Urteil der Gelehrten, die in Szene 4 auftreten und sich weigern, ins Fernrohr zu sehen, konnte Galilei ihnen nichts zu zeigen und schon gar nichts zu »beweisen« haben. Als Galilei sie auffordert, doch endlich durchs Rohr zu sehen und »Ihren Augen zu trauen«, antwortet der Mathematiker: »Lieber Herr Galilei, ich pflege mitunter, so altmodisch es Ihnen erscheinen mag, den Aristoteles zu lesen und kann Sie dessen versichern, daß ich da meinen Augen traue.« (42) Galilei – das gilt auch für die historische Person – hat zwei grundlegende wissenschaftstheoretische Konsequenzen seiner Forschungen nicht erkannt. Erstens stand das »Sichtbarkeitspostulat« allen Erweiterungen menschlichen Forschens im Wege, seine Leugnung bedeutete einen radikalen Umsturz des herrschenden Weltbilds, nach dem die sichtbaren Dinge »sinnbildlich« auf Unsichtbares (Göttliches) verwiesen. Der »Himmel« war mit dem Beweis des kopernikanischen Weltbilds tatsächlich abgeschafft. Zweitens verlangte Galilei von den Gelehrten, ihren Augen zu trauen, indem er gleichzeitig behauptete, den Augen sei prinzipiell nicht zu trauen. Die »Umkehrung« des Blicks vom Glotzen zum (Neuen) Sehen bedeutete ja zugleich, die »Evidenz« des bisherigen Weltbilds als Augenschein, folglich als Irrtum, zu deklarieren. © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Wieso sollte dann der Blick ins Fernrohr ein »Beweis« für die Richtigkeit des Neuen Sehens sein, eine Zumutung, die ein aristotelischer Logiker mit vollem Recht als unsinnig zurückweisen konnte. Deshalb schauen er und die anderen Gelehrten gar nicht erst durchs Fernrohr. Brecht führt die Konsequenzen des galileischen Forschens weiter aus und verbindet das Motiv des Neuen Sehens auch mit der sozialen Bedeutung, die es hat. Der »sehr alte Kardinal«, der sich nicht mehr selbst auf seinen Füßen halten kann, deutet in einem grotesken Bild an – er löst sich von dem ihn stützenden Begleiter und tanzt unsicheren Schritts –, welche ideologischen Folgen Galileis Entdeckung hat: Ich gehe auf einer festen Erde, in sicherem Schritt, sie ruht, sie ist der Mittelpunkt des Alls, ich bin im Mittelpunkt, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir und auf mir allein. Um mich kreisen, fixiert an acht kristallenen Schalen, die Fixsterne und die gewaltige Sonne, die geschaffen ist, meine Umgebung zu beleuchten. Und auch mich, damit Gott mich sieht. So kommt sichtbar und unwiderleglich alles an auf mich, den Menschen, die Anstrengung Gottes, das Geschöpf in der Mitte, das Ebenbild Gottes, unvergänglich und . . . Er sinkt zusammen. (233) Das Alte Sehen besteht darin, dass nicht der Mensch sieht, sondern dass er von Gott gesehen wird. Die ganze sichtbare Welt – Natur und Geschichte – ist dem Menschen als dem ausgeleuchteten Mittelpunkt der Welt zugeordnet. Darum aber ist die Welt, und zwar so, wie sie sich den Augen darbietet, Zeichen Gottes und Ausdruck seiner Ordnung. Mit Galilei gingen die Geschlossenheit der Welt, ihr Demonstrationscharakter für göttliche Ordnung und ihr verbindlicher Sinn verloren. So kann der Inquisitor sagen, dass das alte Weltbild gegenüber dem neuen nur ein »Bildchen« sei, das »man um einen so entzückenden Hals wie den gewisser junger Mädchen legen könnte«, während © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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bei dem neuen die Sorge bestünde, dass »auf so ungeheuren Strecken«, die sich mit ihm eröffneten, »ein Prälat und sogar ein Kardinal leicht verloren gehen« könnten, und: »Selbst ein Papst könnte vom Allmächtigen da aus den Augen verloren werden« (63). Konsequent, um die sozialen Folgen anzudeuten, verbindet Brecht das Motiv mit der Schauspielmetapher, nach der das Weltgeschehen ein Theater ist, das die Menschen vor Gott als Zuschauer und Richter aufführen und in dem sich jeder in seiner festgelegten Rolle zu bewähren hat (in der Tradition von Pedro Calderón de la Barcas El gran teatro del mundo, Das Große Welttheater). Der kleine Mönch spricht zu Galilei von den armen Leuten, den Bauern der Zeit: Es ist ihnen versichert worden, daß das Auge der Gottheit auf ihnen liegt, forschend, ja beinahe angstvoll, daß das ganze Welttheater um sie aufgebaut ist, damit sie, die Agierenden, in ihren großen oder kleinen Rollen sich bewähren können. Was würden sie sagen, wenn sie von mir erführen, daß sie sich auf einem kleinen Steinklumpen befinden, der sich unaufhörlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestirn bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender. Wozu ist jetzt noch solche Geduld, solches Einverständnis in ihr Elend nötig, oder gut? Wozu sind die heiligen Schriften noch gut, die alles erklärt und als notwendig begründet haben, den Schweiß, die Geduld, den Hunger, die Unterwerfung, und die jetzt voll von Irrtümern befunden wurden? Nein, ich sehe ihre Blicke scheu werden, ich sehe sie die Löffel auf die Herdplatte senken, ich sehe, wie sie sich verraten und betrogen fühlen. Es liegt also kein Auge auf uns, sagen sie. Wir müssen nach uns selber sehen, ungelehrt, alt und verbraucht wie wir sind? (65) Der kleine Mönch »sieht«, was die gesellschaftlichen Folgen anbelangt, anderes als Galilei, der auf diesem Gebiet »verblendet« ist. Das Motiv des Neuen Sehens ist © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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erweitert um die – noch imaginierten – Projektionen einer radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, und das Motiv ist erweitert um seine »praktische« Konsequenz: Nach sich selber sehen heißt für sich selber sorgen zu müssen, sich nicht mehr in einer vorgefundenen Ordnung arrangieren zu können, sondern selbst für eine neue Ordnung zu sorgen. Nur in der ersten Fassung ist das Motiv schließlich auch noch in Umkehrung seines ursprünglichen Sinns vorhanden. Statt des Auges der Gottheit, das auf dem Menschen im Mittelpunkt der Welt ruht, schaut nun alle Welt auf Galilei als dem neuen Mittelpunkt der Welt, wenn Galilei zu Andrea sagt: »Nach mir sieht man hin, Mensch. Die Erde dreht sich, das bin ich, der das sagt, verstanden? Wenn ich schweige, bleibt sie wieder stehen!« (77) Brecht streicht die Stelle, die Galileis Autorität in besonderem Maße betont, aufgrund der neu eingefügten Begründungen für die sozialen Folgen, die in den späteren Fassungen Galileis Verrat unterstreichen. Von hier aus ist nochmals auf die (scheinbare) Aporie von Galileis Beweisführung zurückzukommen, nämlich die Evidenz außer Kraft gesetzt zu haben und dennoch beim Fernrohr den Augen trauen zu wollen. Die Aporie ist historisch auflösbar, wenn ab Galilei die Geschichtlichkeit jeder Erkenntnis, auch der naturwissenschaftlichen, bedacht wird. Wenn es Unsichtbares gibt, das sichtbar zu machen ist, und zugleich das, was sichtbar ist oder sichtbar gemacht worden ist, sich als bloßer Augenschein erweist oder erweisen kann, dann gibt es keine Gewissheit mehr dafür, dass das Neue Sehen auch zugleich das richtige Sehen ist. Auch dieses Sehen kann sich wiederum als Augenschein erweisen oder als beschränkter Blick, der durch neue Möglichkeiten verändert, erweitert, widerlegt wird. »Wahrheit« ist mit Galilei »vermittelte Wahrheit« geworden, buchstäblich durch das technische Mittel, hier durch das Fernrohr, und theoretisch durch die jeweils von den Forschern erstellten Versuchsanordnungen, die wesentlich voraussetzen, was überhaupt sichtbar gemacht werden kann – bis hin zur © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Aussetzung der Anschauung im mikrokosmischen Bereich. »Der Bruch mit dem Sichtbarkeitspostulat ist in einer Anthropologie fundiert, die ebenso verständlich wie sinnfällig macht, daß der Mensch nur einer Welt gewachsen sein kann, für die er sich selbst die Organe schafft. Jeder Erfolg des Teleskops bestätigt das, was seine Möglichkeit hatte erwarten lassen: den Rückstand der Sichtbarkeit gegenüber seinen Herausforderungen. In dem Maße, in dem das Organmedium sich vervielfältigt, wird unübersehbar, daß die Explosion der Realität, in die vorzudringen es ermöglicht, nicht eingeholt und aufgeholt werden kann. Der instrumentellen Erweiterung ist die von Raum und Zeit stets voraus, obwohl erst eingeleitet und angetrieben durch jene«.11 Von Galilei an kann nicht mehr von »der« Wahrheit gesprochen werden, sondern nur noch von vermittelten Wahrheiten, die nur so lange gelten, als sie sich bewähren, und die durch neue Erkenntnisse außer Kraft gesetzt oder in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt werden. Wahrheit ist damit nicht relativ oder beliebig geworden, wie neuere philosophische Moden immer wieder behaupten, sie ist vielmehr abhängig geworden von demjenigen, der sie erforscht, dem Menschen: Seine Arbeit, seine theoretischen Voraussetzungen, seine gesellschaftlichen Möglichkeiten, sind notwendig, um »Wahrheit« zu erkennen. Wahrheit ist Ergebnis menschlicher Arbeit und nicht etwa als zu entdeckende vorausgesetzt. Bloße Anschauung, bloßes Wahrnehmen genügen nicht mehr; Wahrheit muss »gemacht« und »vertreten« werden. Indem Brecht die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen von Galileis Erkenntnissen über das Motiv des Neuen Sehens unmissverständlich herausarbeitet, stellen sich die Verbindungen zu den sozialen Konsequenzen wie von selbst her: Wie die physikalischen Wahrheiten »gemacht« werden, so muss auch eine neue Ordnung der sozialen Verhältnisse gemacht und vertreten werden. Eines geht nicht ohne das andere. Wenn Galilei also von der Wahrheit seiner Entdeckungen überzeugt ist, so
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muss er auch von ihren ideologischen und sozialen Konsequenzen überzeugt sein; so jedenfalls die Logik des von Brecht angestrebten quod erat demonstrandum. Das Fazit: Umso schlimmer für Galilei. Er begründete die neuzeitliche Wissenschaft und war nicht bereit (oder in der Lage), ihre Folgen zu vertreten. Hier glotzte er nur und sah nicht.
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Anmerkungen 1
Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht [u. a.], Bd. 1 ff. Berlin / Weimar / Frankfurt a. M. 1988 ff. – zit. als: GBA, mit Band- und Seitenzahl –, hier GBA 22,334 f. 2 Vgl. GBA 4,382–384; Brief Brechts an Slatan Dudow, April 1938. 3 GBA 27,183, Aufzeichnung vom 6. April 1944. 4 Ebd. 5 Der Text des Stücks nach den drei Fassungen von 1938/39, 1947 und 1955/56 wird mit bloßen Seitenzahlen hier und im Folgenden zitiert nach: GBA 5: Stücke 5, Berlin [u. a.] 1988, S. 7–289. 6 GBA 24,241. 7 Ebd., S. 252. 8 GBA 23,279 f. 9 GBA 5,381. 10 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975, S. 722. 11 Ebd.
© 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Erstdruck: Interpretationen. Dramen des 20. Jahrhunderts 2. Stuttgart: Reclam, 1996. (Reclams Universal-Bibliothek. 9461.) S. 7–26.
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