Martin Benedek
Krieger aus der Hölle Version: v1.0
Ein heiseres Brüllen zerriss die Stille. Larry Saint wirbe...
19 downloads
809 Views
677KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Martin Benedek
Krieger aus der Hölle Version: v1.0
Ein heiseres Brüllen zerriss die Stille. Larry Saint wirbelte herum und sah, dass sich der Mann ein weiteres Mal verwandelt hatte. Seine Bizeps wurden zu riesigen Muskelbergen, über die Haut wuchs ihm schwarzes, borstiges Haar. Und sein Gebiss mutierte zu einer geifernden Waffe. Eine Stimme ertönte und kicherte. »Dieses Mal wirst du Blut lecken.«
Larry brachte sich in Position. Er wusste, dass es nicht einfach werden würde. Bisher hatte er den Kampf dominiert und den Mann mit seinen Tritten gegen die Wände des großen Saales getrieben. Doch jetzt hatte sich alles verändert. Vor ihm stand kein Mensch mehr, sondern ein Monster, das danach lechzte, ihm die Innereien aus dem Körper zu reißen und ein Festessen zu veranstalten. Das Brüllen wiederholte sich und ließ den schweißgetränkten Holzfußboden erzittern. Das Monster fletschte noch einmal das Gebiss und stieß ein gieriges Gurgeln aus. Im nächsten Augenblick sprang es nach vorne und flog in hohem Bogen durch den Saal. Larry atmete tief ein und wartete. Erst im letzten Moment ging er blitzschnell in die Knie, machte einen Salto nach vorne und tauchte unter dem Monster hindurch. Sofort war er wieder auf den Beinen. Aber auch das Monster war sicher gelandet und ließ seine Fäuste durch das Dämmerlicht sausen. Larry wich aus, ging erneut in die Knie und katapultierte sich aus dem Stand fast zwei Meter nach oben. Als würde er von einem unsichtbaren Faden gehalten, blieb er eine endlose Sekunde lang in der Luft hängen, ließ das rechte Bein vorschnellen und versenkte den Fuß krachend im Maul des Monsters. Es jaulte auf und riss seine Pranken vor das Gesicht. Larry landete weich auf beiden Füßen, federte sofort wieder nach oben und hämmerte dem Monster beide Knie unters Kinn. Das Monster taumelte heulend rückwärts. Larry setzte nach und wollte den schutzlosen Körper mit weiteren Tritten in die Ecke treiben. Aber obwohl er genau zielte, trafen seine Füße nur leere Luft. Die Umrisse des Monsters flackerten und wurden unscharf. »Tut mir Leid, Saint«, ertönte wieder die Stimme. Sie kam aus den Lautsprechern, die reihum in die Wände des Saales eingelassen waren. »Schluss für heute mit dem Training. Der Big Boss ist vor
einer halben Stunde eingetroffen und möchte dich sprechen.« Das Bild des Monsters wurde immer wässriger und verschwand schließlich. Gleichzeitig bewegte sich eine Wand des Saales summend zur Seite. Hart und grell bohrten sich die Strahlen der Mittagssonne in das Dämmerlicht und Larry musste seine Augen für einen Moment gegen die Helligkeit abschirmen. Wie immer wartete er, bis die Wand ganz zurückgefahren war und er durch das große Panoramafenster einen Blick über die Berge werfen konnte. Der Saal lag mehrere tausend Meter über dem Meeresspiegel, hoch oben zwischen den schneebedeckten Gipfeln der Rocky Mountains. Und auch nach all den Jahren konnte er sich an der eindrucksvollen Kulisse noch immer nicht satt sehen. »Nette Animation, Kleiner«, sagte er zu einer der Kameras, die an der Decke des Saales hingen. »Die kannte ich noch nicht.« In den Lautsprechern kicherte es. Larry grinste und stellte sich vor, wie der fette Gary zwischen seinen Bildschirmen saß und sich freute, dass seine Überraschung gelungen war. »Für dich nur das Beste, Saint«, sagte die Stimme. »Aber jetzt solltest du dich beeilen. Du weißt ja, der Big Boss hasst es zu warten.« Larry öffnete den Reißverschluss Kampfanzuges. »Ich bin unterwegs.«
seines
schwarzen
* »Larry Saint. Engel X‐11. Ich habe einen Termin.« Der Erkennungscomputer fiepte zweimal und die Glastür öffnete sich. Larry trat in eine sonnendurchflutete Halle. Niemand war zu sehen. Die gepolsterte Tür an der gegenüberliegenden Wand war geschlossen und Larry beschloss zu warten, bis man ihn hereinbitten würde.
Langsam wanderte er durch die Halle und besah sich das Relief, dass in die Mitte des Marmorfußbodens eingelassen war. Es zeigte eine Reihe ineinander verschachtelter Gebäude, die an den Hang eines zerklüfteten Bergmassivs gebaut waren und Larry erinnerte sich an den Nachmittag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Nach einem mehrstündigen Hubschrauberflug durch die Einsamkeit der Rocky Mountains waren sie vor ihm aufgetaucht wie ein geheimnisvoller Tempel. Kurz darauf hatte er in dieser Halle gestanden. Und am nächsten Morgen hatte er mit dem Training begonnen, das ihn zwei Jahre später zu einem Schwarzen Engel machen sollte. Larry erreichte die Wand, an der die Gemälde der Gründungsväter hingen. Der Milliardär Walter S. Lloyd hatte die Schwarzen Engel vor über hundert Jahren gegründet. Sein Sohn hatte sie weitergeführt, ebenso wie dessen Sohn. Am Anfang hatte die Truppe aus kaum mehr als einer Hand voll Mitglieder bestanden. Es waren Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die zusammengekommen waren, um ihre Kräfte in den Dienst der Menschheit zu stellen. Und das hatte sich bis heute nicht geändert. Bei den Schwarzen Engeln gab es Menschen mit telepathischen Fähigkeiten. Hellseher. Geniale Erfinder. Spezialisten für übersinnliche Phänomene. Menschen, die mit den Toten sprechen konnten. Und Kämpfer … Larry wusste noch genau, wann er zum ersten Mal von den Schwarzen Engeln gehört hatte. Es war in einer schmierigen Sporthalle am Ventura Boulevard gewesen, nach einem Kampf, bei dem er seinen Gegner in die Bewusstlosigkeit getreten hatte. Damals hatte er für ein paar Dollar jeden Kampf angenommen. Er war zornig und wild gewesen – ein Straßenjunge mit einem stetig
anwachsenden Vorstrafenregister – und hatte nicht gewusst, was er mit seiner Begabung anfangen sollte. Bei jedem Kampf hatte er diese seltsamen Visionen. Sekunden, bevor der andere angriff, sah er voraus, was passieren würde und konnte jeden Angriff mit Leichtigkeit parieren. Der Mann, der ihn damals angesprochen hatte, war in den nächsten Wochen immer wieder gekommen und hatte ihn beobachtet. Und am Ende hatte Larry von einer Gruppe Menschen erfahren, die wie Engel hinab in die großen Städte flogen und das Böse bekämpften. Zuerst hatte er gelacht und es nicht glauben wollen. Doch dann war seine Neugier größer als seine Arroganz gewesen und er war mit in die Einsamkeit der Berge geflogen … »Larry Saint?« Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Die gepolsterte Tür am anderen Ende der Halle hatte sich geöffnet. Ein Mann stand im Gegenlicht und schaute zu ihm herüber. Larry nickte und ging hinüber in das Büro von Zacharias Lloyd …
* »Setzen Sie sich.« Zacharias Lloyd trat hinter seinen Schreibtisch und wies auf den Sessel davor. Die Mittagssonne fiel warm durch die großen Scheiben des Büros und ließ Lloyds blonde Haare golden schimmern. Wie so oft konnte sich Larry der magischen Kraft seines Lächelns nicht entziehen. Es war, als würde die Welt plötzlich anfangen zu leuchten. Alles schien möglich zu sein und Larry spürte, wie eine Welle aus Zuversicht und Tatendrang durch seinen Körper schoss. Beide Männer setzten sich gleichzeitig und Lloyd kam ohne
Umschweife zur Sache. »Es ist nichts Großes«, sagte er und ließ sein Lächeln ein paar Sekunden in der Luft hängen. »Nur ein kleiner Gefallen für einen alten Freund. Aber wie ich hörte, hatten Sie schon lange keinen Auftrag mehr und sind dabei, etwas einzurosten.« Larry lächelte zurück. Ja, das stimmte. Er platzte geradezu vor aufgestauter Energie. Sein letzter Job lag fast vier Monate zurück. Garys Trainingsanimationen waren zwar anregend, aber allmählich fing er an, sich zu langweilen. Er sehnte sich nach einer richtigen Aufgabe. Außerdem hatte er nach all der Stille hier oben Sehnsucht nach dem Lärm und Gedränge einer Großstadt … »Richtig, Sir«, sagte er. »Ich will mich nicht beklagen, aber ein bisschen Bewegung würde mir gut tun.« »Dachte ich mir.« Lloyds Augen blitzten. »Deshalb habe ich Sie ausgewählt. Und weil ich mir vorstellen kann, dass Sie Ihrer Heimatstadt gerne mal wieder einen Besuch abstatten.« »Los Angeles?«, vergewisserte sich Larry. Zacharias Lloyd nickte und schob eine Mappe mit Zeitungsausschnitten über den Schreibtisch. Larry blätterte sie durch. Mit schnellem Blick hatte er das Wichtigste erfasst. Es waren Berichte über einen Serienkiller. Irgendein Verrückter zog nachts durch die Straßen von L. A. und säbelte anderen Leuten die Köpfe ab. »Uh«, stöhnte Larry. »Er trennt sie wirklich ganz ab?« »Mit einem Schwert«, sagte Lloyd. »Und anschließend ritzt er ihnen ein blutiges Zeichen in den Körper.« Er langte über den Schreibtisch und zog ein Foto aus der Mappe. »Haben Sie das schon mal gesehen?« Die Fotografie zeigte die nackte Brust eines toten Mannes. Das Zeichen war mit großer Genauigkeit in die Haut geschnitten worden und Larry erkannte einen Drachen mit zwei mächtigen gezackten Flügeln.
»Es ist lange her«, sagte er leise. »Seltsam, dass das heute noch jemand kennt.« »Sie wissen, was das ist?«, hakte Lloyd nach. »Das Zeichen eines alten Samurai‐Clans«, sagte Larry. »Sie nannten sich die Krieger des fliegenden Drachens und haben vor vielen Jahrhunderten für die japanischen Kaiser gekämpft. Sie waren loyal und skrupellos. Wenn der Kaiser es verlangte, haben sie ganze Dörfer ausgerottet. Aber soweit ich weiß, ist der Clan seit langem ausgestorben.« Lloyd nickte. »Das deckt sich ungefähr mit dem, was Jack mir erzählt hat.« »Jack?« »Jack Fleming, der Polizeichef von Los Angeles. Er ist ein alter Freund von mir und fragt mich manchmal um Rat.« Er zeigte auf das Foto. »Die Mordkommission hat bereits vermutet, dass der Killer alte Rituale benutzt. Ihre Experten haben herausgefunden, dass dieses Zeichen immer dann hinterlassen wurde, wenn sich die Samurais auf einem Rachefeldzug befanden.« »Das stimmt«, sagte Larry. »Dieser Killer scheint sich gut auszukennen. Das Abtrennen des Kopfes ist eine alte Methode, um Verräter zu brandmarken.« Er zögerte und wollte noch etwas hinzufügen. Doch der Gedanke, der plötzlich in ihm aufgestiegen war, hatte sich sofort wieder verflüchtigt und er wusste nicht mehr, woran ihn das Zeichen erinnert hatte. »Inzwischen sind es schon sechs Tote.« Lloyd trommelte mit den Fingern ungeduldig auf die Schreibtischkante. »Die Los Angeles Police ist in heller Aufregung. Sie kommen einfach nicht weiter und Jack hat mich um Unterstützung gebeten. Was meinen Sie, Saint? Würden Sie sich der Sache annehmen?« Larry zögerte nicht eine Sekunde. Er schaute Lloyd in die Augen und spürte, wie ihn das Lächeln des Milliardärs durchströmte wie
warmes Licht. »Okay«, sagte er nur. »Wann?« »Sofort«, antwortete Zacharias Lloyd. »Sie haben anderthalb Stunden, um zu packen.« Larry stand auf und die Männer schüttelten sich die Hand. Und plötzlich fiel ihm ein, wonach er in seiner Erinnerung gesucht hatte. Es war eine alte Geschichte. Der letzte Samurai der fliegenden Drachen war in Amerika gestorben. Vor fast fünfzig Jahren. In Los Angeles, der Stadt der Engel …
* »Sechs Morde in drei Monaten. Und die Abstände verkürzen sich. Wenn nicht bald was passiert, verliert der Bürgermeister die nächste Wahl. Und mir geht es an den Kragen.« Chief Jack Fleming hob die Hände und ließ sie resigniert in der Luft hängen. Er war ein rundlicher Ire mit widerspenstigen ergrauten Haaren, die er nur mit Mühe in Form brachte. Larry kannte sein Bild aus den Zeitungsausschnitten. Fleming seufze. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass sich die Schwarzen Engel um die Sache kümmern. Meine Detectives kommen einfach nicht weiter und ich fürchte …« Er unterbrach sich und schaute mit erschrockenem Gesicht durch die Fensterscheibe, die sein Büro von den Schreibtischen seiner Mitarbeiter trennte. Larry folgte seinem Blick. Er lehnte am Fensterrahmen und hatte gedankenverloren über die smogverhangende Silhouette von Los Angeles geschaut. Jetzt drehte er sich um und sein langer schwarzer Ledermantel knarzte leise. Eine Frau kam durch das Großraumbüro auf sie zu.
Larry maß sie unbeteiligt. Blond. Energischer Gang. Der strenge, dunkelblaue Anzug kaschierte eine frauliche Figur. Und in ihren Augen lag Ärger. Eine Menge Ärger … Fleming wischte sich hastig über sein gerötetes Gesicht. »Ich rede zu viel«, japste er. »Nicht dass Sie einen falschen Eindruck bekommen, Mr. Saint. Meine Detectives leisten großartige Arbeit. Ich habe die Leitung der Ermittlungen einer jungen Kollegin anvertraut. Eine große Begabung, allerdings ist sie frisch von der Akademie und etwas unerfahren. Sie …« Wieder konnte der Chief seinen Satz nicht beenden. Die Tür des Büros wurde so heftig aufgestoßen, dass sie krachend gegen die Wand knallte. Die Frau in dem dunkelblauen Anzug blieb mitten im Raum stehen und funkelte Fleming wütend an. »Bei allem Respekt, Sir!«, rief sie. »Aber das geht zu weit! Heißt das, Sie vertrauen mir nicht mehr?« Fleming erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl. Er wollte etwas erwidern, doch er kam nicht dazu. Die Frau redete einfach weiter. »Mir einen Schwarzen Engel vor die Nase zu setzen! Wir machen seriöse Polizeiarbeit! Einen Volltrottel mit Wünschelrute kann ich dabei nicht gebrauchen!« Glücklicherweise musste sie kurz Luft holen und Fleming nutzte die Chance. »Darf ich vorstellen«, sagte er mit einem entschuldigenden Grinsen zu Larry. »Karen Resnick. Leiterin der Sonderkommission.« Die Frau wirbelte herum und Larry spürte ihren Blick wie ein Stück glühendes Eisen, das sich in seine Stirn brannte. Sie schaute an ihm herunter, als hätte er gerade einen Drugstore überfallen. »Und das ist Larry Saint«, sagte der Chief und seufzte. »Tut mir Leid, Karen. Eigentlich sollten Sie es von mir persönlich erfahren. Mister Saint ist Spezialist für asiatische Kampftechniken. Er wird
Ihnen bei Ihren Untersuchungen als Experte zur Seite stehen.« Karen schnaufte verächtlich durch die Nase. »Unsinn!«, zischte sie. »Ich habe genug Experten. Außerdem wissen Sie, was ich von den Schwarzen Engeln halte, Sir. Die Privatarmee eines durchgeknallten Milliardärs hat in den Straßen von Los Angeles nichts zu suchen.« »Ich werde mich bemühen, Ihre Arbeit nicht zu stören«, sagte Larry. Er kannte die Ablehnung, die viele Polizisten gegenüber den Engeln empfanden. »Sie sind der Boss, Miss Resnick. Ich bin nur ein Schatten, der Ihnen ab und zu über die Schulter schaut.« Karen warf ihre blonden Haare schwungvoll nach hinten und setzte eine angriffslustige Miene auf. Doch Larry hatte ihr mit seiner Bemerkung den Wind aus den Segeln genommen. Zum ersten Mal schaute sie ihm direkt in die Augen und er merkte, wie sich die ablehnende Härte ihres Gesichtes für wenige Sekunden auflöste. Hübsch und klug, fügte er seiner Merkmalliste hinzu. Versucht ihre Unsicherheit zu verbergen. Starker Charakter … Larry kam nicht dazu, die Liste zu Ende zu führen. Das Telefon klingelte und Fleming nahm den Hörer ab. Sein breiter Körper erstarrte und das Gesicht wurde dunkelrot. »Danke«, krächzte er schließlich und legte den Hörer zurück. Anschließend blickte er von Larry zu Karen und wieder zurück und wollte etwas sagen. Aber Larry hatte bereits verstanden und sprach es als Erster aus. »Ein weiterer Mord«, sagte er ruhig.
* Das Blut war überall. Der weiße Teppich aus dicker Wolle, auf dem die Leiche lag, war vollkommen davon durchtränkt und selbst an der Decke klebten dunkelrote Flecken.
»Was will der hier?«, fragte ein Mann mit öligem Haar und blutverschmierten Plastikhandschuhen und stellte sich Larry Saint in den Weg. »Lass ihn durch, Rico«, sagte Karen. »Er ist mein neuer Babysitter. Der Chief will, dass er von jetzt an immer dabei ist.« Der Mann trat widerwillig zur Seite und Larry folgte Karen Resnick bis zur Leiche. Die Nachmittagssonne fiel durch die großen Scheiben des Penthouses und ließ die Haut der Leiche so lebendig erscheinen, als würde sie im nächsten Moment aufstehen und davon spazieren. Nur das der Kopf abgetrennt war und auf der entblößten Brust prangte blutig das Zeichen des fliegenden Drachens. »Der Kopf ist wie immer unauffindbar«, sagte der Mann, den Karen Rico genannt hatte. »Scheint so, als wollte sich dieser Verrückte eine kleine private Sammlung anlegen.« »Es ist ein Rachefeldzug«, sagte Larry nachdenklich und kniete sich neben die Leiche. »Die Samurai nahmen die Köpfe der getöteten Verräter mit sich, um sie dem Kaiser als Beweis zu bringen. Und weil sie von ihm pro Kopf bezahlt wurden.« Rico zog die Augenbrauen hoch und schaute Karen köpf schüttelnd an. »Wovon redet der Schlaumeier da?« Karen zuckte mit den Schultern. Sie kniete sich ebenfalls neben die Leiche und Larry bemerkte ein leichtes Zittern ihrer Unterlippe, als ihr der süßliche Geruch des Blutes entgegenschlug. Ein weiches Herz, ergänzte er seine Liste. Gepanzert mit Stahl. Karen warf Rico einen kurzen Blick zu. »Sei nett zu ihm. Das ist Larry Saint. Ein Schwarzer Engel aus den Bergen. Er glaubt, dass der Killer die Tötungsmethoden eines ausgestorbenen Samurai‐ Clans imitiert.« »Ach, wie niedlich.« Rico lachte. »Das ist ja eine ganz neue Erkenntnis.«
»Nun ja«, sagte Larry und stand wieder auf. »Das wäre die eine Möglichkeit.« Er musterte Rico und sah einen arroganten, selbstgefälligen Mann, der sich beim ersten Anzeichen einer Gefahr in die Hose pinkeln würde. »Ein Verrückter fühlt sich wie ein Samurai und lebt seine Gelüste aus.« Rico lachte weiter. »He, Mann, glauben Sie, wir sind bescheuert? Das haben wir schon vor Wochen rausgefunden. Die Frage ist nur, warum er es macht. Und wann und wo er dem nächsten Opfer die Rübe absäbeln wird.« Karen stand ebenfalls wieder auf. Sie unterbrach Ricos Redefluss mit einer Handbewegung und schaute Larry interessiert an. Es war das erste Mal, dass er in ihren Augen etwas anderes als Abwehr erkannte. »Und die andere Möglichkeit?«, fragte sie. »Die ist, dass der Clan des fliegenden Drachens niemals aufgehört hat zu existieren«, antwortete Larry langsam. »Es gibt einen Nachfahren des letzten Samurai. Und der hat aus irgendeinem Grund mit einem Rachefeldzug begonnen.« Rico prustete los. »Das glauben Sie doch nicht im Ernst, oder? Sie glauben, irgendein schwachsinniger Japaner fuchtelt nachts mit seinem verrosteten Samuraischwert herum und will seine Urahnen rächen? O Mann, ihr Engel seid ja sogar noch blöder, als ich dachte!« Larry ignorierte ihn. In einer anderen Situation hätte er ihn mit einem schnellen Schlag zum Schweigen gebracht. Jetzt verriet nur das leise Knistern des Ledermantels die Anspannung seines Körpers. »Wissen Sie schon, wer das ist?«, fragte er Karen und zeigte auf den verstümmelten Körper. Die Leiche trug einen blutdurchtränkten Bademantel, Boxershorts und Segeltuchschuhe. Karen blickte fragend zu Rico. »Calvin Hoffman«, antwortete Rico und fügte grinsend hinzu: »Hat mit Samurais nichts am Hut, Schlaumeier. Er hat ein paar
Bestseller geschrieben. Schwülstige Liebesromane für die Frau ab vierzig. Sein Apartment ist voll von teurem Klunker, aber es scheint nichts zu fehlen.« »Gibt es irgendeine Verbindung zu den anderen Toten?«, fragte Larry. »Bisher führen alle Spuren zu W. C. Reeves«, sagte Karen. Der interessierte Blick in ihren Augen war nicht wieder verschwunden und Larry stellte fest, dass der Panzer, der sie umgab, ein wenig dünner geworden war. »Vier der bisher sechs Leichen standen mit ihm in Verbindung.« »Reeves?«, fragte Larry. »William Carlos Reeves, Schlaumeier«, sagte Rico. »War vor einem halben Jahrhundert mal ein großer Gangster und hat damals die halbe Stadt kontrolliert. Inzwischen ist er fast neunzig und sitzt seit über dreißig Jahren im Calico‐Gefängnis.« Reeves. Natürlich. Der letzte Gefangene von Calico. Larry hatte mal was über ihn gelesen. Wegen irgendeinem bürokratischen Hin und Her wurde Reeves nicht verlegt, damit das Gefängnis endlich geschlossen werden konnte. Aber das war es nicht, was ihn bei dem Namen aufhorchen ließ. Er hatte ihn noch in einem anderen Zusammenhang gehört. Doch so sehr er auch überlegte, es fiel ihm nicht ein. »Ricos Lieblingstheorie«, sagte Karen und grinste. »Es war kein Serienkiller, sondern eine Bande Ghettokids, denen Reeves die Geschäfte vermasselt hat. Bis vor ein paar Jahren war der alte Herr nämlich noch sehr rege und hat vom Gefängnis aus einen illegalen Schmuggelring dirigiert.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber wenn Sie mich fragen, ist das zu einfach. Ghettokids geben sich beim Töten selten so viel Mühe. Die ballern ihren Opfern ein paar Kugeln ins Hirn und Schluss.« Larry nickte abwesend. Reeves …, dachte er immer wieder. Wo hatte er den Namen schon einmal gehört? Als ein Mitarbeiter der
Spurensicherung Karen und Rico für einen Augenblick zur Seite zog, nutzte er die Gelegenheit und ging hinaus auf die große Terrasse. Er blieb regungslos stehen und atmete tief ein. Die Stadt der Engel lag unter ihm im flirrenden Licht des Nachmittags und er erinnerte sich an die langen Sonntage vor vielen Jahren, in denen er in der aufgeheizten Luft eines Hinterhofs stundenlang trainiert hatte. Seit er nach Los Angeles zurückgekehrt war, hatte er daran gedacht. Bisher hatte er noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Doch jetzt war es endlich an der Zeit. Er würde IHN besuchen. Denn ER war der Einzige, bei dem er Antworten finden würde …
* Die kleine Wäscherei lag in einer schmalen, dunklen Seitenstraße. Dort, wo früher die anderen Geschäfte gewesen waren, gab es nur noch mit Pappe verklebte Schaufenster, vor denen sich der Müll stapelte. Larry Saint ging die Straße langsam hinunter. Jeder Schritt, den er machte, führte ihn um Jahre in die Vergangenheit zurück. Und als er die Tür der Wäscherei erreicht hatte, fühlte er sich wieder wie der wilde, zornige Junge, der er einmal gewesen war. »Kann ich Ihnen helfen?«, wurde er begrüßt. Er kannte das junge Mädchen hinter dem Tresen nicht. Aber sonst war noch alles genauso wie damals. Der Dampf hing in dichten Schwaden in dem engen, mit Wäschekörben voll gestopften Raum. Und als Larry nach oben zu dem vertrauten Platz schaute, fand er es sofort wieder. Das alte Schwert mit dem verzierten Elfenbeingriff hing noch immer über der Tür zum Hinterhof, als hätte er erst vor
wenigen Tagen damit trainiert. »Ist Meister Lin da?«, fragte er das Mädchen, das ihn skeptisch – und ein wenig ängstlich – anblickte. »Meister …?«, setzte sie irritiert an. Dann begriff sie. »Ach, Sie meinen Opa Lin! Ja, der ist da.« Sie blickte ihn misstrauisch an. »Aber wieso fragen Sie? Gibt es ein Problem?« Larry lächelte und die Wirkung seines Lächelns brachte das Mädchen dazu, sich zu entspannen. »Keine Sorge. Würden Sie ihm einfach ausrichten, dass ein Engel auf ihn wartet und ihn sprechen möchte?« »Ein Engel?« Das Mädchen kicherte überrascht. Doch als sie merkte, dass Larry es ernst meinte, zuckte sie mit den Schultern und ging nach hinten. Wenige Sekunden später war sie wieder da und winkte Larry um die Theke herum. »Kommen Sie, Mister. Opa Lin wartet im Hof auf Sie.« Larry folgte ihrer Aufforderung. Als er das Schwert erreichte, blieb er kurz stehen und blickte nach oben. Es war, als würde ihn ein heller Lichtstrahl mitten ins Gesicht treffen. Die alte Kraft drang wie ein warmer Strom in seine Blutbahnen und er hätte das Schwert am liebsten sofort von der Wand genommen. Aber dann besann er sich und ging an dem Mädchen vorbei in einen dunklen Gang. Als er den Hinterhof betrat, war die Nachmittagssonne bereits hinter den Hauswänden verschwunden und der Hof lag im Schatten. Larry machte ein paar Schritte nach vorne und blieb stehen. »Meister? Sind Sie da?« Aber es war niemand zu sehen. Gerade wollte sich Larry umdrehen und in die Wäscherei zurückkehren, als er von links einen Luftzug wahrnahm. Er hatte kaum mehr als den Bruchteil einer Sekunde Zeit. Schnell ging er in die Knie, drückte sich gleichzeitig mit einem Bein vom Boden ab und wirbelte mit einem Salto nach hinten.
Als er sich wieder aufrichtete, stand dort, wo er eben gestanden hatte, ein kleiner alter Mann. Er bewegte sich nicht – so als hätte er sich seit Stunden nicht bewegt. Nur am Zittern seines dünnen weißen Bartes war zu erkennen, dass er eben wie ein Pfeil durch die Luft geflogen war. »Ich freue mich, dass du noch immer im Besitz deiner alten Kräfte bist, mein Sohn«, sagte der Alte und sein Bart verzog sich bei einem Lächeln. »Meister Lin!« Larry lachte laut auf. »Sie alter Halunke! Noch immer der gleiche Witzbold, was?« Er ging auf ihn zu und verbeugte sich. Der Meister erwiderte die Verbeugung. Sie berührten sich nicht, obwohl Larry den alten Mann gerne umarmt hätte. Doch als er sich wieder aufrichtete, sah er, wie die Augen seines alten Lehrers vor Freude glühten. »Was führt dich zu mir, mein Sohn?«, fragte Meister Lin mit einer wachen, jungen Stimme, die so wenig zu seinem mit Falten übersäten Gesicht passte. »Ich nehme an, dass du nicht nur zum Teetrinken gekommen bist?« Larry schüttelte den Kopf. »Leider nein, Meister. Ich bin hier, weil ich Hilfe benötige. Es geht um einen Auftrag. Das Zeichen des fliegenden Drachens ist wieder aufgetaucht und ich habe die Befürchtung, dass mehr dahinter steckt, als die Polizei bisher vermutet.« Der Alte nickte. »Ich habe davon gehört. Es stand überall in den Zeitungen.« »Ich erinnere mich undeutlich an eine alte Geschichte«, sagte Larry. »So weit ich weiß, ist der letzte Samurai des Clans hier in L. A. gestorben. Aber ich kann die losen Enden nicht zusammenfügen. Vielleicht können Sie mir helfen, Meister.« Wieder nickte der Alte. In die Freude, die seine Augen noch immer zum Leuchten brachte, hatte sich ein schwarzer Schatten gemischt.
»Kennen Sie William Carlos Reeves?«, fragte Larry. »Ich vermute, er hat mit der Sache zu tun.« Der Alte nickte ein drittes Mal. Dann zeigte er auf die Tür, die nach drinnen führte. »Komm, mein Sohn. Ich werde dir erzählen, was ich weiß.«
* »Mann! Die Lady wohnt wirklich feudal!« Rico steuerte den Wagen durch die grünen Hügel von Beverly Hills und schaute mit großen Augen auf die mit Palmen umsäumten Villen. Karen saß neben ihm. Doch sie hatte keinen Blick für die Schönheiten der Architektur. Mit ernstem Gesicht erzählte sie Larry vom neusten Stand der Ermittlungen. »Reeves rückt damit endgültig ins Zentrum«, schloss sie. »Wir wissen inzwischen, dass alle Opfer mit ihm in Verbindung standen. Oder um es genau zu sagen: Obwohl sie andere Namen tragen, gehören sie alle zur selben Familie. Sie sind auf unterschiedlichste Weise miteinander verwandt.« Larry saß auf der Rückbank und hörte ihr zu. Der gestrige Abend klang noch in ihm nach wie ein Traum. Nachdem sie geredet und gegessen hatten, hatte der Meister das Schwert von der Wand geholt. Und so wie früher hatten sie in der Dunkelheit des Hinterhofs trainiert … Inzwischen wurde es wieder Abend. Der Himmel über Beverly Hills färbte sich rot und in den Villen gingen die Lichter an. »Es scheint sich tatsächlich um eine Art Rache zu handeln«, sagte Karen. »Jemand versucht, die Familie von Reeves systematisch auszulöschen. Die Frage ist nur, warum er es auf so komplizierte Weise tut.« Sie schüttelte den Kopf. »Und warum dieses alte Samurai‐Zeichen? Reeves Familie ist schottischer Herkunft. Sie hatte
niemals irgendetwas mit fernöstlicher Kultur zu tun.« »Das stimmt nicht ganz«, sagte Larry. Und als Karen ihn überrascht anschaute, fügte er hinzu: »Ich habe mir erlaubt, eigene Nachforschungen anzustellen. Es gibt eine interessante Verbindung zwischen Reeves und dem Clan des fliegenden Drachens.« Rico pfiff durch die Zähne. »Wow. Der Schlaumeier legt sich ja richtig ins Zeug. Was ist es denn? Japanische Geister auf der Suche nach einem neuen Körper?« Karen warf ihm einen genervten Blick zu. Dann wandte sie sich wieder Larry zu. Im roten Licht der frühen Abenddämmerung sah sie noch hübscher aus als sonst und Larry spürte ein angenehmes Kribbeln, als sie ihn vorsichtig anlächelte. »Ja?«, fragte sie. »Es war etwa vor fünfzig Jahren«, erzählte Larry. »Reeves befand sich auf dem Höhepunkt seines Ruhmes als Gangster. Damals hatte er Probleme mit einer Bande junger Chinesen. Sie fingen an, ihm in seine Geschäfte zu pfuschen und sein Imperium begann zu wackeln. Er musste etwas tun. Aber die Chinesen kämpften mit neuen Methoden, fielen wie eine Horde wild gewordener Kung‐Fu‐ Kämpfer über Reeves Transporte her und waren wieder verschwunden, bevor seine Jungs ihre Tommy‐Guns überhaupt angefasst hatten.« Der Meister hatte sich sofort an die alte Geschichte erinnert. In der Straße, in der sich seine Wäscherei befand, hatte es damals zwei illegale Wettclubs gegeben und er hatte W. C. Reeves mehrmals gesehen, wie er Zigarre rauchend aus dem Fond seines Lincoln Continental gestiegen war. »Reeves beschloss, die Chinesen mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen«, fuhr Larry fort. »Auf die Empfehlung eines Geschäftspartners reiste er nach Tokio und schaute sich nach einem Killer um, der es mit den Chinesen aufnehmen konnte. In einem Kloster fand er das letzte Mitglied des Drachen‐Clans.«
Auch der Meister hatte ihn damals kurz gesehen. Sein Gesicht hatte ausgesehen wie in Stein gehauen. Und an seinem Gürtel trug er ein Schwert, das angeblich mehrere Jahrhunderte alt gewesen war – weitervererbt von Samurai zu Samurai … »Sie meinen, Reeves hat diesen Samurai nach Amerika geholt?«, fragte Karen. »Genau«, sagte Larry. »Er hat für Reeves in den Straßen von Los Angeles gekämpft und einen Chinesen nach dem anderen getötet. Am Ende hatte Reeves sein Imperium wieder unter Kontrolle.« »Und was ist aus dem Samurai geworden?« »Das wusste mein Informant nicht genau«, sagte Larry. »Der Samurai ist hier in L. A. gestorben, aber warum und unter welchen Umständen ließ sich noch nicht herausfinden.« Das stimmte. Der Meister hatte immer angenommen, dass der Samurai nach Japan zurückgekehrt war. Aber er hatte Larry versprochen, sich umzuhören und nach dem Ausgang der alten Geschichte zu forschen. »Wir sind da«, sagte Rico plötzlich und drosselte das Tempo. »Das da vorne ist die Villa von Gloria James.« Larry schaute ihn überrascht an. »Gloria James? Sie meinen doch nicht den Filmstar, oder?« »Doch, Schlaumeier.« Rico kicherte und steuerte den Wagen quer über die Straße auf die Auffahrt zu. »Du kannst schon mal deinen Autogrammblock zücken. Gloria James heißt eigentlich Melanie Reeves und ist eine Cousine dritten Grades. Sie könnte die nächste auf der Liste sein.«
* Als nach dem dritten Klingeln noch immer niemand öffnete, zog Karen eine Pistole aus dem Schulterhalfter und nickte Rico zu. Er
verschwand ohne ein weiteres Wort nach rechts um die Hausecke. »Vielleicht schläft sie nur ihren Rausch aus«, sagte Karen leise. »Aber eigentlich weiß sie, dass wir kommen. Deshalb will ich lieber auf Nummer sicher gehen. Sie bleiben hier, Saint?« Larry nickte. Sofort drehte sich Karen um und lief um die linke Hausecke. Larry blieb stehen und lauschte. Gloria James’ goldene Jahre waren lange vorbei und sie verließ ihre Villa nur noch selten. Karen hatte Recht. Es wäre ein seltsamer Zufall gewesen, wenn sie gerade an diesem Abend ausgegangen wäre. Saint schaute an der Außenwand empor und sah, dass ein Giebelfenster halb offen stand. Er ging in die Knie und sprang aus dem Stand die Wand nach oben. Seine Hände bekamen einen Mauervorsprung zu fassen und er kletterte wie eine Spinne in drei, vier schnellen Bewegungen bis zum obersten Stock der Villa. Lautlos schlüpfte er durch die Fensteröffnung und blieb in der Dunkelheit eines parfümgeschwängerten Zimmers stehen. Mit leisen Schritten schlich er zur Tür. Gerade wollte er sie einen Spalt öffnen, als plötzlich ein Schrei durch die Stille des Hauses gellte. Larry stürzte aus dem Zimmer nach draußen und fand sich auf einer Galerie wieder. Der Schrei wiederholte sich. Larry beugte sich über die Balustrade der Galerie und blickte hinunter in die große Eingangshalle. Niemand war zu sehen. Aber durch eine geöffnete Tür, die von der Halle in eines der Zimmer führte, nahm er eine Bewegung wahr. Schatten fielen nach draußen auf den Steinfußboden und tanzten zuckend hin und her. Der Schrei endete in einem kläglichen Röcheln. Larrys Muskeln spannten sich. Er spürte eine dunkle Energie, die ihm entgegenflog und sah als Vision vor seinem inneren Auge die Klinge eines Schwertes, das singend die Luft zerschnitt. Ohne zu Zögern sprang er in die Tiefe.
Die Enden seines Ledermantels breiteten sich wie schwarze Flügel hinter ihm aus. Er landete weich und ohne ein einziges Geräusch auf dem Boden der Halle. Die Energie verdichtete sich und wurde zu einem heißen Brennen, das ihm wie glühender Atem ins Gesicht schlug. Vor seinem inneren Auge hatte das Schwert die Luft bereits zerschnitten und drang jetzt in nackte, blutende Haut ein. Er rannte zu der geöffneten Tür. Doch als er das Zimmer betrat, sah er, dass es bereits zu spät war. Gloria James kniete auf dem Teppich in der Mitte des Raumes, als hätte sie sich zum Beten niedergelassen. Hinter ihr stand ein Mann, umklammerte mit einer Hand ihre blond gefärbten Haare und bog ihren Kopf zur Seite. Im selben Moment wurde die Vision, die Larry wenige Sekunden vorher gehabt hatte, Wirklichkeit. Das Schwert sauste auf den Hals der Filmdiva nieder und trennte ihren Kopf vom Rumpf. Blut spritzte in einer roten Fontäne über den Teppich und der kopflose Körper sackte zuckend zusammen. Larry erstarrte. Vor ihm stand ein Monster aus der Vergangenheit. Ein lebender Toter, der zurück an die Erdoberfläche gekrochen war … Das Wesen trug einen weiten, zerrissenen Umhang. Ein verbeulter Panzer schützte seine Brust und Larry erkannte das Zeichen des fliegenden Drachens, das vorne in das verrostete Metall graviert war. Doch am Schlimmsten war das Gesicht. Die Haut sah aus wie von Maden zerfressen. Durch riesige, vereiterte Löcher schimmerten die nackten Knochen hindurch und der Mund war nicht mehr als eine zahnlose Öffnung. Lange schwarze Haare hingen in einem verklebten Zopf auf den Rücken hinab und die Arme, die das Schwert hielten, bestanden nur noch aus rohen Muskelsträngen, die zitternd gegen die verwesten Hautfetzen pulsierten. Der Untote riss der kopflosen Leiche das Kleid vom Körper und
wollte gerade anfangen, den fliegenden Drachen in die sterbende Haut zu ritzen. Da zuckte er plötzlich mit einem heiseren Krächzen zurück und starrte Larry aus toten Augen an. Larry machte einen halben Schritt nach vorne, winkelte die Arme an und brachte sich in Kampfposition. Der Mann stieß ein wütendes Gurgeln aus. Speichel spritzte durch die Luft und ein bestialischer Gestank breitete sich wie eine giftige Wolke im ganzen Raum aus. Larry beschloss, nicht länger zu warten. Er sprang mit einem langen Satz nach vorne und wollte dem Mann mit voller Wucht ins Gesicht treten. Aber sein Gegner war schneller. Eine Hundertstelsekunde, bevor Larry ihn erreichte, bog er den Körper so weit nach hinten, als bestünden seine Knochen aus flüssigem Metall. Larry flog an ihm vorbei, drehte sich in der Luft um 180 Grad und wollte im Rückwärtsfliegen mit dem anderen Bein nachtreten. Doch wieder pendelte der Mann zur Seite wie eine Birke im Wind. Gleichzeitig holte er mit seinem Schwert aus, um Larry noch im Flug zu treffen. Noch immer in der Luft, blieben dem kaum Ausweichmöglichkeiten. Zwar konnte Larry der Klinge im letzten Moment entgehen. Aber dafür krachte er auf den Rücken und brauchte länger als gewöhnlich, um wieder auf die Beine zu kommen. Der Samurai nutzte seine Chance. Das Schwert zischte erneut durch die Luft, die Spitze ritzte die Haut über Larrys Brustbein – und verharrte! Saint wagte nicht mehr, sich zu bewegen. Ein einziger Stoß hätte genügt und er wäre tot gewesen. Doch das Wesen zögerte und beäugte ihn neugierig. Speichel tropfte zäh auf Larry hinab und der Gestank, der aus dem zahnlosen
Schlund herausströmte, nahm ihm beinahe das Bewusstsein. Der Mann grunzte und krächzte und es schien Larry fast, als wollte er etwas zu ihm sagen. Ihre Augen begegneten sich. Das Gesicht des Mannes sah aus wie das eines Toten, doch irgendwo hinter den stumpfen Pupillen erkannte Larry einen letzten flackernden Rest menschlichen Lebens. Schüsse zerrissen hart die entstandene Stille. Eine Kugel traf den Mann am Kopf und riss ein Stück Fleisch weg. Die beiden anderen drangen in seinen Körper und stießen ihn zurück. Larry reagierte sofort. Kaum hatte sich die Spitze des Schwertes von seiner Brust gelöst, rollte er zur Seite und sprang auf die Beine. Karen Resnick jagte zwei weitere Kugeln in den verwesten Körper des Mannes. Auch sie trafen ihr Ziel – und blieben genauso wirkungslos wie die anderen drei. Der Mann blutete nicht. Die Kugeln flogen einfach durch seinen Körper hindurch, rissen schwarze, verfranste Löcher in seine Haut und blieben hinter ihm in der Holzvertäfelung stecken. Ein wütendes Brüllen brachte den großen Kronleuchter an der Decke zum Klirren. Der Untote riss noch einmal das Schwert in die Höhe. Dann drehte er sich um und stürmte aus dem Raum. »Rico!«, rief Karen. »Hinterher!« Ihr Kollege, der nach ihr durch die Terrassentür ins Zimmer getreten war, rannte dem Mann mit gezücktem Revolver hinterher. Karen ging zu Larry und berührte ihn am Arm. Ihr Gesicht war besorgt. »Alles in Ordnung? Ich dachte, er würde Sie umbringen!« Larry erkannte die Angst in ihren Augen und lächelte ihr beruhigend zu. Die Rolle der eiskalten Polizistin war endgültig von ihr abgefallen. Die Aufregung hatte ihre Wangen gerötet und ließ ihr Gesicht wunderschön leuchten. »Verlieren wir keine Zeit«, sagte er mit einem Nicken. Kurz darauf traten sie auf die Straße.
»Weg!«, jammerte Rico und lief über den Rasen der Auffahrt. »Als hätte er sich in Luft aufgelöst!« Larry blieb stehen und atmete tief ein. Er merkte, wie die dunkle Energie, die er noch bis eben deutlich gespürt hatte, allmählich verschwand. Der Killer war weg. Abgetaucht im Labyrinth der Gärten, die in der einsetzenden Dunkelheit versanken. Karen schob ihre Pistole zurück ins Hohlster. »Wer war das?« »Der letzte Samurai des fliegenden Drachen«, antwortete Larry.
* Meister Lin winkte ihnen durch den Dampf der Heißmangel zu und sie folgten ihm in eine kleine Küche im hinteren Teil der Wäscherei. »Tee?«, fragte er mit einem höflichen Lächeln. Karen nickte. Larry zeigte auf den Küchentisch und sie setzten sich. Währenddessen entzündete der Meister den alten Gasherd, füllte den Wasserkessel und holte Tassen. »Sie haben ihn gesehen?«, fragte Meister Lin und schüttelte besorgt den Kopf. »Das heißt, dass meine schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit geworden sind.« Karen schaute ihn fragend an. Doch der alte Chinese sagte nichts weiter und konzentrierte sich auf die Zubereitung des Tees. Larry machte Karen ein Zeichen und bedeutete ihr zu warten. Bei dem Meister hatte alles seine eigene Zeit. Wenn er bereit war zu sprechen, würde er anfangen zu erzählen. Doch bis dahin mussten sie sich in Geduld üben. Seit der Begegnung mit dem Samurai waren kaum zwei Stunden vergangen und Larry konnte in Karens Gesicht lesen, dass sie noch immer wie unter Schock stand. Sie konnte nicht verstehen, was sie gesehen hatte und hatte Mühe, das Vorgefallene einzuordnen.
Es widersprach allem, was ihr in ihrer bisherigen Polizeiarbeit begegnet war. Und trotzdem war es wahr. Immerhin hatte sie es mit eigenen Augen gesehen … »Es ist gut, dass ihr sofort gekommen seid«, sagte Meister Lin und goss das heiße Wasser über den Tee. »Ich habe die fehlenden Teile der Geschichte inzwischen zusammengesetzt. Ich fürchte, das Massaker wird bald seinen Höhepunkt erreichen.« »Das Massaker?« Wieder schaute Karen fragend zu dem Alten. Und wieder erhielt sie keine Antwort. Larry lächelte und dachte an die vielen schweigsamen Stunden, die er vor vielen Jahren an diesem Küchentisch verbracht hatte. Manchmal war er vor Ungeduld geplatzt. Und hatte am Ende durch das Schweigen mehr gelernt als in mancher Trainingsstunde draußen auf dem Hof. Endlich stellte der Meister den Tee auf den Tisch und setzte sich. Ohne Übergang fing er an zu erzählen. »William Carlos Reeves hatte den Samurai gerufen und mit seiner Hilfe den Kampf auf den Straßen von Los Angeles gewonnen. Aber anschließend wurde er ihn nicht wieder los. Er hatte sich mit den verfeindeten Chinesen in einer geheimen Konferenz geeinigt. Doch der Samurai fühlte sich an das Wort seines Herrn gebunden und mordete weiter, obwohl Reeves bereits Waffenstillstand geschlossen hatte.« Der Meister machte eine Pause, nahm einen Schluck Tee und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Die Chinesen forderten den Tod des Samurais. Oder sie würden wieder anfangen, Reeves illegale Spielhallen zu überfallen. Reeves musste eine Entscheidung treffen. Und so beschloss er, den Chinesen ein Geschenk zu machen.« Meister Lin schwieg erneut und schlürfte seinen Tee. Doch dieses Mal konnte Karen nicht mehr an sich halten. »Das heißt, er hat den Samurai ans Messer geliefert?«, fragte sie hastig. Der Alte nickte langsam. »Reeves lockte ihn in eine Falle. Er
bestellte ihn zu der entlegenen Müllhalde, auf der der Samurai immer seine Aufträge entgegen genommen hatte. Doch statt Reeves warteten dort die Chinesen.« Larry schaute den Meister zögernd an. »Sie haben ihn einfach so erschossen?« »Nein, mein Sohn.« Meister Lin schüttelte traurig den Kopf. »Sie haben ihn gefoltert und jeden ihrer getöteten Brüder an seinem Körper gerächt. Erst nach langen qualvollen Stunden haben sie ihn mit ihren Kugeln durchsiebt und unter einem Müllberg verscharrt.« »Und seine Leiche wurde nie gefunden?«, fragte Karen. »Nie«, bestätigte der Meister. »Später wurde der Müllberg planiert. Ich glaube, man hat einen Golfplatz daraus gemacht.« »Meinen Sie etwa den Golfplatz in den Hollywood Hills?«, fragte Karen. »Der war früher eine Müllhalde. Für viele Gangster ein beliebter Ort, um unliebsame Geschäftspartner verschwinden zu lassen.« Als Meister Lin nickte, fügte sie hinzu: »Aber soweit ich weiß, ist die Halde inzwischen umgegraben worden. Dort wird jetzt ein Einkaufszentrum gebaut.« Wieder nickte der alte Chinese, schwieg und trank seinen Tee. Karen und Larry blickten sich an und Saint bemerkte die leichte Erregung in sich, die er immer spürte, wenn ein Job plötzlich anfing, sich aufzuklären. Es war so, wie er vermutet hatte. Der letzte Samurai war aus seinem Grab aufgestiegen! »Sie meinen, er wurde durch die Bauarbeiten aufgeweckt wie eine Art Zombie?« Karen hatte den gleichen Schluss gezogen wie Larry. Es klang absurd, war aber nicht von der Hand zu weisen. »Und jetzt rennt er rum und bringt alle Mitglieder der Reeves‐Familie um, weil er Rache will für den Verrat?« Larry nickte. »Sein Herr hat sein Wort gebrochen und ihn über die Klinge springen lassen. Deshalb muss der Samurai so lange töten, bis das letzte Blut des Verräters für immer beseitigt ist.«
»Und die Köpfe?«, fragte Karen. Larry blickte Meister Lin fragend an. Der Alte seufzte, stellte seine Teetasse ab und blickte Karen an. »Wenn er alle Köpfe zusammen hat, dann wird er sie seinem Herrn als Todesmahl bringen«, sagte Meister Lin leise. »Und ihm als Letztem den Kopf abschlagen.« »Sie meinen Reeves?«, vergewisserte sich Resnick. »Aber der sitzt doch im Gefängnis. Wie soll denn der Samurai …« Karen unterbrach sich und Larry sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Sie hatte es ihm auf dem Weg hierher selbst gesagt. W. C. Reeves war schon sehr alt und seine Familie nur noch sehr klein. Gloria James alias Melanie Reeves war der letzte noch lebende Nachkomme gewesen. Jetzt blieb nur noch Reeves selbst. Karen Resnick stand plötzlich auf. »Kommen Sie, Saint. Wir müssen sofort zu Reeves ins Gefängnis. Ich habe den Eindruck, dass wir unseren halbtoten Freund dort bald wieder treffen werden.« Larry stand ebenfalls auf und wollte mit ihr hinausgehen. Doch Meister Lin hielt sie zurück. »Warte, mein Sohn«, sagte er und verschwand. Einen kurzen Moment später war er wieder da und hatte das alte Schwert von der Wand genommen. Als er es seinem ehemaligen Schüler in die Hände legte, fühlte Larry, wie die Energie der geschliffenen Klinge in seinen Körper strömte. »Nimm es!«, sagte der Meister. »Du wirst es brauchen …«
* Die Stimme des Nachrichtensprechers wurde von den kahlen Betonwänden quer durch den leeren Raum geworfen. Der Wachmann zog den Schlüssel aus der Tür und ließ Karen, Rico und
Larry in den großen, dämmrigen Raum treten. »So geht es schon seit Wochen«, seufzte der Wachmann. »Seit die Mordserie begonnen hat, hängt er stundenlang vor dem Fernseher.« Der Speisesaal war einmal für Hunderte von Gefangenen gebaut worden. Doch inzwischen hatte man alle Tische und Stühle entfernt. Nur an der hinteren Wand stand noch ein Fernseher. Davor saß ein Mann zusammengesunken in einem Rollstuhl, neben sich auf einem Klapptisch einen Plastikteller mit Abendbrot, das er nicht angerührt hatte. »Reeves?«, forderte der Wachmann Aufmerksamkeit und bewegte sich langsam auf den Alten zu. »Sie haben Besuch. Die Polizei von Los Angeles möchte Sie sprechen.« Karen nickte Rico zu und er postierte sich neben der Tür. Sie und Larry folgten dem Wachmann. Kurz bevor sie den Rollstuhl erreicht hatten, drehte ihn Reeves mit einer geschickten Bewegung herum und starrte sie an. »Ich habe Sie bereits erwartet«, krächzte er mit brüchiger Stimme und ein schwaches Grinsen huschte über sein eingefallenes Gesicht. »Freut mich, dass Sie die Ersten sind.« Larry blieb neben Karen stehen und hielt dem misstrauischen Blick des Alten stand. Er erinnerte sich an die Fotos des jungen Reeves, die er sich aus dem Polizeiarchiv besorgt hatte. Damals war Reeves ein schneidiger, gut aussehender Mann mit einem schmalen Oberlippenbärtchen gewesen, der Macht und Arroganz ausstrahlte. Doch davon war nicht mehr viel übrig. Der alte Mann, der vor ihnen saß, war dem Tod schon sehr nahe. Sein Körper war bis auf das Skelett abgemagert und das maskenhafte Gesicht wirkte wie mumifiziert. Der Samurai ist im allerletzten Moment zurückgekehrt, dachte Larry. Ein paar Monate später und der Untote hätte das Objekt seiner Rache nicht mehr lebend angetroffen.
»Der Fluch steht kurz vor seiner Erfüllung«, krächzte der Alte. »Damals, als die Chinesen den Samurai auf der Müllkippe gepeinigt haben, stand ich ganz in der Nähe und habe zugesehen. Ich habe jedes seiner Worte verstanden.« Er lachte hohl. »Seitdem konnte ich keine Nacht mehr ruhig schlafen. Selbst in diesem Gefängnis hatte ich immer Angst. Fünfzig Jahre lang Todesangst!« Er schrie das letzte Wort fast heraus, bekam einen Hustenanfall und sackte mit einem heiseren Röcheln im Rollstuhl zusammen. Karen schaute den Wachmann an, doch der zuckte nur mit den Schultern. »Keine Sorge, Miss«, sagte er. »Der ist nicht tot. Reeves ist zäh wie Leder. Seit Jahren warten wir darauf, dass er stirbt.« Er kratzte sich an der Stirn. »Aber er will uns den Gefallen einfach nicht tun.« Reeves schlug plötzlich die Augen auf. »Jetzt ist es endlich so weit«, flüsterte er. »Ich fühle es. Er wird bald kommen und mich holen. Deshalb habe ich so lange gelebt. Mein Schicksal wird sich endlich erfüllen.« »Wir sind hier, um das zu verhindern«, sagte Karen. »Warum?«, kreischte Reeves und seine schrille Stimme überschlug sich. »Er soll ruhig kommen! Doch bevor er sich meinen Kopf holt, kratze ich ihm die Augen aus und zerfetzte ihm das Gesicht!« Wie eine Kralle schnellte seine rechte Hand nach vorne und blieb zitternd in der Luft hängen. Wieder sackte er atemlos zusammen und blieb mit geschlossenen Augen in seinem Rollstuhl hängen. Die Kralle fiel leblos auf seinen Schoß. »Bereiten wir alles vor«, sagte Karen. »Die Sondereinheit, die ich angefordert habe, müsste bald hier sein.« Sie nickte Larry entschlossen zu. »Dann müssen wir nur noch warten, bis der Samurai auftaucht.«
* Der Samurai kam in den frühen Morgenstunden. Im Gefängnis von Calico war es still geworden. Der Wind, der die ganze Nacht um die verwitterten Mauern geheult hatte, war endlich zur Ruhe gekommen. Die Männer der Sondereinheit warteten müde neben den Eingängen und Fenstern, die sie bewachten und glaubten nicht mehr daran, dass in dieser Nacht noch etwas passieren würde. Und selbst Reeves hatte seinen Fernseher inzwischen leise gestellt und starrte apathisch auf die Bilder seiner getöteten Verwandten, die noch immer durch die Nachrichtensendungen geisterten. »Er ist da«, behauptete Larry Saint plötzlich. Karen und er befanden sich tief im Innern des Gefängnisses, auf einem ihrer Rundgänge von Posten zu Posten. Karen hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, die ganze Operation abzubrechen. »Schnell!«, flüsterte Larry. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit! Er ist bereits im Gebäude!« »Aber woher wissen Sie …?«, begann Karen. Doch sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden. Saint war schon losgelaufen und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm hinterher zu rennen. Sie erreichten das Treppenhaus und betraten kurz darauf die kleine Halle, an deren gegenüberliegender Wand sich die Tür des alten Speisesaals befand. Larry war froh, dass Karen die Frage nicht hatte zu Ende stellen können. Wie hätte er es ihr auch erklären sollen? Plötzlich war eine Vision vor ihm aufgetaucht. Er hatte gesehen, wie der Samurai durch die Luft sprang und sein Schwert zum Singen brachte. Und er hatte sein Energiefeld gespürt. Wie immer bei seinen Visionen war dies ein Bild aus der Zukunft gewesen. Seitdem war Zeit vergangen. Larry wusste, dass der Samurai bereits gesprungen war. Aber sein inneres Auge projizierte
noch kein weiteres Bild. Nur das Energiefeld wurde immer stärker. Er hatte das Gefühl, als würde er mitten in einem elektromagnetischen Sturm stehen, der ihm die Eingeweide aus dem Körper blies. »Rico!«, rief Karen. »Er ist weg!« Durch die Fenster fiel milchiges Morgenlicht. Larry sah jetzt auch, dass Rico seinen Posten vor der Tür des Speisesaales verlassen hatte. Karen rannte durch die Halle, riss die Pistole aus dem Hohlster, blieb stehen und drehte sich – die Waffe im Beidhandanschlag – einmal um sich selbst. Larry folgte ihr und lief in das Energiefeld des untoten Samurai. Ein Stöhnen ließ Karen zusammenzucken. Rico taumelte aus einer Ecke der Halle und presste sich die Hände vors Gesicht. Blut tropfte zwischen den Fingern hindurch. »Verfluchter Dreck!«, heulte er. »Jemand hat mir eins übergezogen! Ich habe nicht einmal ein Geräusch gehört und plötzlich gingen die Lichter aus!« »Der Samurai«, stellte Saint fest. »Aber warum hat er Rico nicht getötet?«, fragte Karen atemlos. »Sind Sie sich wirklich sicher, dass es der Samurai war? Vielleicht …« »Nein«, unterbrach Larry sie. »Ein Samurai tötet nicht ohne Grund. Es sei denn, er wird angegriffen. Ansonsten tötet er nur die, die ihm vorherbestimmt sind.« Im selben Moment traf ihn die nächste Vision wie ein Schlag. Das Schwert des Samurai durchtrennte einen Hals, Blut spritzte. Larry reagierte sofort und stieß die Tür zum Speisesaal auf. Noch während er hindurch schritt, zog er das Schwert, das ihm Meister Lin anvertraut hatte. Karen und Rico traten hinter ihm in den Speisesaal. Und erstarrten mitten in der Bewegung.
»Sie hatten Recht«, flüsterte Karen tonlos. »Der Samurai ist längst da …« Reeves saß mit dem Rücken zu ihnen vor seinem stummen Fernseher. Seine Krallenfinger hielten die Räder des Rollstuhls umklammert, als wollte er davonfahren, wäre aber vor Schreck wie gelähmt. Vor ihm, in einem Halbkreis, lagen die abgeschlagenen Köpfen seiner getöteten Familie. Larry hielt inne. In seiner Vision hatte gesehen, wie das Schwert einen weiteren Kopf abgetrennt hatte. Doch Reeves schien unversehrt. Langsam ging Larry auf ihn zu, blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um und hielt seine eigene Waffe bereit. »Mister Reeves, alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er laut. Er spürte, dass der Samurai sehr nahe war. Das Energiefeld summte in seinen Ohren wie ein Orkan. Larry schaute rasch zur Decke. Aber auch dort war nichts zu sehen. »Mister Reeves?«, wiederholte er. Schließlich hatte er den alten Gangster erreicht. Er streckte die Hand aus und berührte ihn an der Schulter. Reeves Oberkörper kippte schlaff nach vorne. Sein Kopf fiel ihm vom Hals und knallte mit einem hässlichen Geräusch auf den PVC‐Fußboden. Er rollte noch eine kurze Strecke und blieb dann zwischen den anderen Köpfen liegen. Rico stieß einen hohen Schrei aus, Karen stöhnte und auch Larry machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Reeves Kopf schien zu grinsen und in seinen toten starren Augen war beinahe so etwas wie Erleichterung zu erkennen. Larrys Vision war also richtig gewesen. Der Samurai hatte den Fluch, den er auf der Müllhalde vor seinen Schlächtern ausgesprochen hatte, endlich erfüllt. Der Mann, der ihn verraten hatte, war tot und seine Familie ausgelöscht … Doch Larry spürte, dass der Kampf noch nicht zu Ende war. Vor
seinem inneren Auge sah er plötzlich einen dunklen Schacht, in dem der Samurai hockte wie in einer Falle. Er würde sich seinen Weg freikämpfen müssen, wenn er wieder aus dem Gefängnis herauskommen wollte. Der Schwarze Engel lächelte grimmig und ließ sein Schwert spielerisch durch die Luft sausen. Seine Vision zeigte ihm, wie der Samurai senkrecht nach unten aus dem Schacht herausrutschte. Schnell schaute Saint zur Decke und entdeckte sofort die Gitter, hinter denen sich die Luftschächte befanden. Da hallte ein Krachen durch den Saal. Der Samurai brach eines der Roste heraus und sprang mit gezücktem Schwert ins Freie. Saint machte einen gewaltigen Satz zurück, um sich in eine bessere Position zu bringen. Der untote Krieger sprang sofort nach der Landung auf Larry zu. Sein Schwert zerschnitt die Luft. Der Schwarze Engel atmete tief ein und wartete – bis seine konzentrierte Kraft aus ihm hervorbrach. Für Karen und Rico, die dem Kampf mit offenen Mündern verfolgten, geschah das Unfassbare. Saint war noch schneller als der Samurai. Zwei verwaschene Schemen huschten aufeinander zu – und erstarrten. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten. Das Schwert des Untoten hing in der Luft, aus dem zahnlosen Maul drang ein atemloses Röcheln. In seiner Brust steckte Meister Lins Waffe, die Larry mit lang ausgestrecktem Arm hielt. Plötzlich kam wieder Bewegung in Saint und er sprang mit einem schnellen Satz nach hinten. Der Samurai stieß einen gellenden Schrei aus. Flammen züngelten aus seinem zerstörten Herz. In wenigen Sekunden verwandelte er sich in eine Feuersäule.
Larry entspannte sich und schob das Schwert des Meisters zurück in die Scheide …
* Als Karen, Rico und Larry aus dem Rathaus von Los Angeles traten, wurde die große weiße Treppe von Reportern verstopft. Ein Inferno aus Blitzlichtern prasselte auf sie nieder. Mikrophone wurden ihnen ins Gesicht gehalten und die Journalisten bombardierten sie mit Fragen. »Kein Kommentar«, sagte Karen und wollte weitergehen. »Wir haben der Erklärung der Pressekonferenz nichts hinzuzufügen.« Rico versuchte, eine Gasse zu schaffen. Aber die Masse war einfach zu erdrückend und schließlich blieb Karen stehen und beantwortete die dringlichsten Fragen. »Ja, der Mörder hat sich selbst verbrannt«, sagte sie und wiederholte die Geschichte, die man als offizielle Version verbreitet hatte. »Ja, er war geistig verwirrt. Ein ehemaliger Geschäftspartner von Mister Reeves, der Rache nehmen wollte. Nein, sein Name wird vorerst geheim gehalten.« Die Wahrheit war sofort in den Polizeiakten verschwunden. Nicht einmal der Bürgermeister wusste, was wirklich im Gefängnis von Calico geschehen war. »Wer ist der Mann an Ihrer Seite, Miss Resnick?«, wollte eine Reporterin wissen. »Man erzählt sich, dass er zu einer geheimnisvollen Spezialeinheit gehört, die der Polizei gelegentlich unter die Arme greifen.« Sie lächelte Larry Saint gewinnend an. »Stimmt das, Mister …?« Der Schwarze Engel lächelte ebenso freundlich zurück. »Kein Kommentar. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Miss Resnick und ich haben noch einen wichtigen Termin.«
Er nahm Karens Arm und ging einfach weiter. Eine unsichtbare Kraft schien die Reporter zur Seite zu drücken. Plötzlich machten sie Platz und ließen Karen, Larry und Rico weitergehen. Ein Wagen wartete bereits. Kurz darauf saßen sie hinter getönten Scheiben und fuhren der Meute davon. »Termin?«, fragte Karen und blickte Larry überrascht an. »Ich wusste gar nicht …« »Ach, das war doch nur ein Vorwand«, wehrte Saint ab. »Aber …« In diesem Moment meldete sich sein Handy. Er wollte es erst ignorieren, nahm den Anruf schließlich aber doch entgegen. »Ja?« »Zacharias Lloyd«, sagte eine Stimme am anderen Ende. »Ich brauche Sie, Saint. Am Flughafen steht ein Hubschrauber für Sie bereit. Sie haben eine Stunde, um ihn zu erreichen.« Larry Saint zögerte nicht eine Sekunde. »Ich bin unterwegs.« ENDE