Christian Schwarz
Krieg der Amulette Professor Zamorra Hardcover Band 33
ZAUBERMOND VERLAG
Was passierte wirklich, ...
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Christian Schwarz
Krieg der Amulette Professor Zamorra Hardcover Band 33
ZAUBERMOND VERLAG
Was passierte wirklich, als Merlins Stern die sechs anderen Amulette bezwang? Wie war es möglich, dass dieser Kampf die Spiegelwelten vernichtete? Und welche Rolle spielte dabei das geheimnisvolle Siegelbuch? Warum war Merlin gezwungen, eine Tafelrunde ins Leben zu rufen? Auf welch unglaubliche Weise diese Dinge miteinander verwoben sind, erfährt Professor Zamorra in einer atemberaubenden Geschichte, die im Abgrund der Zeiten beginnt und in Myrrian-ey-Llyrana endet. Dabei war der Meister des Übersinnlichen doch nur nach Prag gekommen, um einen Ghul zu jagen …
1. Merlin, Fürst der Finsternis Abgrund der Zeiten Merlin, Fürst der Finsternis, stand auf einem schroffen Berg. Unbewegt, die Arme vor der Brust verschränkt, starrte er auf die Ebene der ewigen Schreie hinab. Das düstere Stück Land, das aus graugrünen, ständig blubbernden Sümpfen bestand und über das sich ein giftgelber Himmel spannte, sah nicht allzu groß aus. Selbst wer ganz unten stand, sah die Ebene schon weit vor der Horizontlinie enden und wiederum in die schroffen, steilen Berge übergehen, von denen sich auch Merlin einen als Aussichtsplatz erwählt hatte. Die Ebene der ewigen Schreie irgendwo in den Weiten der Schwefelklüfte war also eine Art Kessel, denn die Berge zogen sich rundum. Wer allerdings so leichtsinnig war, sich zu weit auf die Ebene vorzuwagen, sah sich schon bald tödlichen Gefahren ausgesetzt. Selbst hochrangige Dämonen mussten dann feststellen, dass ihre Magie plötzlich nicht mehr richtig funktionierte. Und wer einen bestimmten Punkt erreicht hatte, der bewegte sich plötzlich ewig, ohne die Ebene je wieder verlassen zu können. Das hieß, er war rettungslos verloren, denn helfen konnte ihm dann niemand mehr. Nach einer unbestimmten Zeit verschwanden diese Unglücklichen plötzlich. Und bisher hatte niemand feststellen können, ob sie unsichtbar weiterexistierten oder in ein anderes Universum versetzt wurden. Ob diese Phänomene mit den Dämonengeistern zusammenhingen, die hin und wieder über der Ebene gesichtet wurden, wusste ebenfalls niemand. Man wusste ja nicht einmal, um wen es sich bei diesen Furcht erregenden Wesenheiten überhaupt handelte, selbst die teuflischen Archivare besaßen keinerlei Aufzeichnung darüber. Zwölf dieser Dämonengeister waren bisher gezählt worden, jeder von ihnen mindestens drei Mal so groß wie Lucifuge Rofocale, aber von schlanker, sehniger, fast dürrer Gestalt. Borstiges Fell schien
ihre Haut zu bedecken, aus den Mäulern der viel zu kleinen Köpfe mit den selbst für höllische Verhältnisse unglaublich grausamen Gesichtern ragten mächtige Hauer. Das Allerschlimmste aber war die Aura absoluter Macht, die sie ausstrahlten, wenn sie wie schwarz leuchtende Schemen über der Ebene erschienen, eine Art geisterhaften Tanz aufführten und dabei seltsam klagende Schreie ausstießen, die selbst Erzdämonen das schwarze Blut in den Adern gefrieren ließen. Lucifuge Rofocale, Satans Ministerpräsident, nahm an, dass es sich um Erzdämonen handelte, die selbst bei seiner Geburt schon Legende gewesen waren und deren magisches Potenzial so unendlich groß gewesen sein musste, dass es sich dem Begreifen der heutigen Dämonen schlichtweg entzog. Immer wieder hatte der höllische Adel versucht, mit den Geistern in Kontakt zu kommen. Sie hatten nie geantwortet. So war auch jeder Versuch, sie vor irgendeinen Karren zu spannen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Keine Magie hatte sie bisher zwingen können. Merlins Gedanken konzentrierten sich wieder auf die Gegenwart. Dämonenhorden brachen zwischen den Felsen hervor. Asmodis' Horden! In breiter Front wurden sie von den nachrückenden Legionen Plutons auf die Ebene hinaus gedrängt. Feuerbälle flogen, Blitze zuckten, ein Dutzend Zentauren, die steigend und tänzelnd mit Armbrüsten schossen, ging plötzlich in Flammen auf. Merlin konnte seinen Bruder inmitten eins Pulks von Skelettreitern ausmachen, der sich mit schwarzen Blitzen gegen Plutons Elitetruppe wehrte. Jede der lichterloh brennenden Riesenspinnen überragte die Skelettreiter und auch Asmodis um das Doppelte. Während sie die schwarzen Blitze gut wegzustecken schienen, attackierten sie mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen und Ausweichmanövern. Immer wieder gelang es ihnen, einen der Skelettreiter mit ihren Zangen zu zerschneiden. Doch genügte bereits eine Berührung, um ihn sofort in Flammen aufgehen zu lassen. Asmodis selbst schaffte es noch, den Spinnen auszuweichen, aber er schien müde zu sein. Den Kampf gegen Plutons siebenmal sieben Legionen hatte er von vorneherein nicht gewinnen können, denn seine Kämpfer waren weit in der Unterzahl. Nun würde sich Asmodis' Leichtsinn, den viel mächtigeren
Pluton herauszufordern, wohl rächen. Aber Merlin war fest entschlossen, seinen Bruder ins Verderben laufen zu lassen. Er hatte es sich schließlich selbst zuzuschreiben. Andererseits war Asmodis schon immer schlauer als die meisten anderen gewesen. Gerade bei ihm musste man vorsichtig mit vorschnellen Beurteilungen sein. Zwischen den Felsen schob sich eine brennende Spinne hervor, die drei Mal so groß wie die anderen war, ein richtiggehendes Monstrum. Auf ihrem Rücken saß Pluton, der Erzdämon, in seiner flammenumkränzten humanoiden Gestalt. Er schwang eine lange Flammenpeitsche. Die Höllischen, die nicht schnell genug aus ihrer Reichweite kamen und getroffen wurden, zerfielen auf der Stelle zu schwarzem Staub. Merlin wusste, dass die Entscheidung dicht bevor stand. Pluton wollte Asmodis stellen, jetzt und hier, um ihn im Zweikampf zu töten. Doch Asmodis drehte sich um und floh ein Stück weit in die Ebene hinaus. Der Fürst der Finsternis runzelte nun doch die Stirn. In seinen schwarzen Augen begannen kleine Feuerräder zu rotieren. Was hatte sein Bruder vor? Wollte er Selbstmord begehen? Nein. Es handelte sich wohl eher um eine seiner Listen. Aber was sollte das werden? Merlin vermochte es nicht abzusehen. Noch war sein Bruder nicht an jenem Punkt angelangt, an dem er für immer verloren sein würde. Das sah auch Pluton. Er trieb seine Feuerspinne mit mächtigen, abgehackt wirkenden Sätzen dicht an Asmodis heran. Die Flammenpeitsche wand sich wie eine Schlange über seinem Kopf. Asmodis fiel auf die Knie. Winzig klein wirkte er vor dem Feuerberg auf sechzehn brennenden Beinen. Blitzschnell malte er magische Symbole in die Luft, rezitierte mit rauer Stimme einen Zauberspruch. Merlin verfiel plötzlich in Panik ob der unheimlichen Macht, die sein Bruder hier beschwor. Eine Macht, die nur ihnen beiden zugänglich war. Eine Macht aber auch, die einen hohen Tribut forderte, wenn man sie benutzte. Ein Tribut, den keiner von ihnen zahlen wollte. Deswegen hätte er im Traum nicht daran gedacht, dass Asmodis sie anwenden würde! Die Alte Kraft!
»Nein, Bruder, nicht! Wir haben uns geschworen, sie niemals wieder zu benutzen!« Es war längst zu spät. Etwas kam aus dem Nichts, manifestierte sich um Pluton herum. Der Erzdämon sah schwarz leuchtende Schemen, die ihn wie Nebel einhüllten, er blickte in die schrecklich verzerrten Fratzen der Dämonengeister. Sie schrien, aber sie tanzten dieses Mal nicht. Stattdessen fixierten sie den Flammenumkränzten aus tückischen Augen, ließen die furchtbare Angst vor dem ORONTHOS in ihm hochsteigen – und löschten mit einer einzigen Berührung das Feuer, das ihn umwaberte. Dann verschwanden sie wieder im Nichts. Die Kämpfe zwischen den Dämonen waren schlagartig zum Erliegen gekommen. Merlin zitterte nun. Er fühlte sich plötzlich unendlich schwach, konnte sich nur noch mit größter Mühe auf den Beinen halten. Er wankte. »Das … das ist doch nicht möglich«, flüsterte er. »Nicht einmal mit der Alten Kraft hätte ich das für möglich gehalten. Bruder, was hast du da gerade getan?« Die Beine der Feuerspinne knickten ein. Gräulich und tot krachte sie auf den Boden. Pluton rutschte von ihrem Rücken. Er war viel zu geschwächt, um noch Widerstand zu leisten. Das mit schwarzer, lederner Haut überzogene Teufelsgesicht schaute zu Asmodis hoch. Pluton zuckte und erwartete den Todesstoß des Feindes. Doch Asmodis tötete ihn nicht. »Ich lasse dich leben, wenn du mir ewige Treue und Gefolgschaft schwörst, Pluton. Mehr will ich gar nicht.« »Du hast die Dämonengeister bezwungen«, wimmerte der Erzdämon. »Du bist also mächtiger als ich. Viel mächtiger. Und so schwöre ich dir ewige Treue und Gefolgschaft.« »So sei es. Dann sollst du weiterleben. Ich erkläre unsere kleine Auseinandersetzung hiermit für beendet. Zieh also deine Legionen wieder zurück, Pluton.«
Merlin ließ sieben Jungfrauen von der Erde entführen. Die Kräfte ihres Blutes, durch magische Behandlung verstärkt, ließen ihn langsam weder regenerieren. Nachdem er weitgehend der Alte war,
stellte Merlin seinen Bruder. Er fand Asmodis auf einer der Seelenhalden vor. »Knie nieder vor deinem Fürsten, du Wurm!«, donnerte Merlin und sein weißes Gewand und seine langen, weißen Haare flatterten in den heißen Winden, die über die Halde zogen. Einen Moment lang lauschte die mächtige Teufelsgestalt dem Brüllen der auf ewig Verlorenen und verfolgte mit seinen Blicken eine Schar Peinteufel, die sich allesamt um eine bestimmte Seele kümmerten. Dann sank Asmodis auf die Knie, ohne jedoch den Kopf zu senken, wie er es eigentlich hätte tun müssen. »Was willst du von mir, Fürst?« Das klang alles andere als unterwürfig. »Du kannst dich wieder erheben.« Asmodis erhob sich. »Du hast Pluton herausgefordert, um ihn besiegen und dir unterwerfen zu können«, sagte Merlin und der Zorn drehte wieder die Feuerräder in seinen Augen. »Du suchst also wichtige Verbündete und willst gleichzeitig Macht demonstrieren. Dazu schreckst du nicht einmal davor zurück, die Alte Kraft einzusetzen. Warum tust du das?« Asmodis schwieg. »Bruder«, fuhr der Fürst der Finsternis eindringlich fort. »Wir haben uns geschworen, die Alte Kraft niemals wieder einzusetzen. Denn wir können sie nicht beherrschen. Sie beherrscht vielmehr uns, denn sie schwächt uns nicht nur, sondern raubt uns auch jedes Mal einen winzigen Teil unserer Seele. Und sie kettet uns dadurch, dass sie immer dem jeweils anderen die Kraft entzieht und nicht dem Nutzer, auf Gedeih und Verderb aneinander. So könnte einer den anderen von uns töten. Aber was wird dann sein? Da die Alte Kraft uns aneinander bindet und auf ewig eins sein lässt, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Schicksal des einen immer auch den anderen betrifft.« Merlin schnaubte. Blitze fuhren aus seinen Nasenlöchern. »Aber das alles weißt du so gut wie ich, Bruder. Deswegen frage ich dich nun: Willst du, indem du Macht demonstrierst, Verbündete gewinnst und mich ganz gezielt schwächst, selbst Fürst der Finsternis werden? Willst du meinen Thron?«
Asmodis kicherte höhnisch. »Das also glaubst du, Bruder? Nein, ich will deinen Thron nicht. Pluton hat mich beleidigt. Ich musste es ihm zeigen. Und ich wollte einfach nur wissen, ob es nicht doch möglich ist, mit den Dämonengeistern der Ebene in Verbindung zu treten. Selbst um den Preis, dass die Alte Kraft uns weiter schwächt. Das ist alles.« »Du bist in den letzten Jahren sehr oft im Multiversum unterwegs. Mehr als sonst. Man munkelt, dass du dabei auch den Kristallplaneten der Dynastie der Ewigen besucht hättest.« »Das ist Unsinn. Ich schaue mich einfach in der Schöpfung um. Mehr steckt nicht dahinter.« »Du schwörst mir also Treue? Jetzt und hier?« »Ich schwöre sie dir, Bruder. Fürst der Finsternis.« »Auf ewig?« Asmodis lachte laut. »Was bedeutet schon ewig? Ewigkeit, wie wir sie verstehen, ist nur ein winziger Moment im Lauf der Welten. Keiner von uns weiß, was die Ewigkeit wirklich ist. Aber gut, ich schwöre dir ewige Treue, Fürst der Finsternis. Und du weißt, dass ich nicht lüge, dass ich noch niemals gelogen habe.« Merlin wob ein magisches Muster in die Luft. Als ob ein unsichtbares Messer am Werk sei, öffnete sich ein Riss an Asmodis' Unterarm. Schwarzes Blut quoll hervor. Merlin saugte es an. Es verschwand in seinem Mund. »Gut. Damit ist dein Treueschwur aufs Neue besiegelt.« Merlin verschwand und materialisierte im Thronsaal des Fürsten der Finsternis. Ja, du lügst nie, Bruder, dachte er, als er auf dem Knochenthron saß. Aber du warst schon immer listig undurchsichtig und bist deiner eigenen Wege gegangen. Ich traue dir also trotz deines Schwurs nicht. Und da vorbeugen schon immer besser als heilen war, werde ich nun etwas unternehmen müssen. Ich bin der Stärkere von uns beiden. Du bekommst meinen Thron nicht. Niemals. Oder erst dann, wenn ich Satans Ministerpräsident geworden bin.
2. Die erste Tafelrunde 32. Jahr der neuen Zeitrechnung, Wüste bei Jerusalem Der groß gewachsene, düster wirkende Mann mit den stechend schwarzen Augen stand auf einem hohen Berg neben einer Flammensäule. Sein schwarzer Burnus wehte im trockenen, heißen Wind. Unverwandt starrte er in die sonnenverbrannte, staubige, von bizarren Felsformationen dominierte und nur von wenigen dürren Büschen bestandene Negev-Wüste hinunter. Die am Horizont vorbeiziehende Kamelkarawane interessierte ihn nicht. Derjenige, dem seine ungeteilte Aufmerksamkeit gehörte, saß viel näher zu ihm, im Schatten einer steil aufragenden Felswand auf einem runden Stein, die Beine breit gestellt, die Fäuste darauf abgestützt, den Oberkörper ein wenig gebeugt. Trotzdem hätte kein Mensch auf diese immer noch enorme Distanz mehr als einen winzigen schwarzen Punkt ausmachen können. Dem Düsteren entging jedoch nicht das kleinste Detail; nicht, dass der Einsame die Augen geschlossen hielt und in sich hinein zu lauschen schien und auch nicht, dass sich seine Atemfrequenz dabei stark verlangsamt hatte. Der Kerl meditierte, was er im Übrigen ziemlich häufig tat. »Na, dann wollen wir mal«, sagte der Beobachter und stieß ein leises, meckerndes Lachen aus. Er murmelte einen Zauberspruch, drehte sich drei Mal blitzschnell um seine Längsachse und verschwand in einer Wolke stinkenden Schwefels. Eine Winzigkeit später tauchte er ganz in der Nähe des in sich Gekehrten wieder auf. Ein Leopard, der sich über dem Schwarzäugigen auf einem Felsvorsprung gesonnt hatte, erschrak gehörig. Er stieß ein ärgerliches Fauchen aus; einige Augenblicke später schlug der Ärger in blanke Furcht um. Das Tier warf sich herum und floh in weiten Sätzen. Erneut stieg ein leises Kichern aus der Kehle des Teleporters. Dann führte er den linken Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger an seiner
Hüfte entlang bis hoch zum Hals. Entlang dieser Bewegung entstand ein knorriger Wanderstab aus dem Nichts. Der Düstere nahm ihn in die rechte Hand, zog sich die Kapuze seines Burnus' tief ins Gesicht und wanderte los. Dabei schaute er, dass er gebeugt ging und auf dem linken Fuß ein wenig hinkte. Kurze Zeit später bog er um den Felsen, vor dem der Meditierende saß. Für einen Moment verharrte er. Der Sitzende schlug die Augen auf und sah ihn prüfend an. Der Wanderer trat daraufhin näher. »Schalom«, sagte er mit kratziger Stimme und hustete ein paar Mal. »Ich bin viele Tage durch die Wüste gewandert, ohne auch nur eine einzige Menschenseele gesehen zu haben, denn ich habe die Karawansereien, Oasen und Handelsstraßen gemieden, weil ich mit mir ins Reine kommen wollte. Jetzt aber bin ich froh, wieder jemanden zu treffen, mit dem ich einige Worte wechseln kann. Darf ich mich eine Weile zu dir gesellen, Bruder? Ich hoffe nur, dass du kein Schweigegelübde getan hast, denn sonst lasse ich dich in Ruhe und ziehe weiter nach Jerusalem. So lange werde ich's sicher noch aushalten.« Sein Gegenüber kleidete sich in einen roten Burnus und einen darüber liegenden blauen, ärmellosen Mantel. Dichte, braune Haare fielen bis weit über die Schultern und waren, ebenso wie der lange Vollbart, vom tagelangen Aufenthalt in der Wüste strähnig und staubig. Zudem rochen die Kleider nach Schweiß. Das tat dem ungeheuren Charisma des Mannes, dem sich selbst der Ankömmling nicht völlig entziehen konnte, jedoch keinen Abbruch. Die ungewöhnlichen hellblauen Augen, die aus dem wettergegerbten Gesicht leuchteten, schienen die Ausstrahlung noch zu verstärken. Sie wirkten auch jetzt wieder so sanft und gütig, dass unwillkürlich Ärger in dem Düsteren hochstieg. Er hasste diese Augen. Er hasst dieses Gesicht. Er hasste den ganzen Menschen! Der sanfte Ausdruck der blauen Augen wich einem spöttischen Funkeln. »Nein, ich habe kein Schweigegelübde abgelegt«, erwiderte der Mann mit angenehm klingender, tiefer Stimme und richtete den Oberkörper auf. »Tritt also ruhig näher und leiste mir Gesellschaft.« Die Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Im Übrigen weißt du das ganz genau. Du brauchst dich nicht zu verstellen –
Satan. Ich habe dich gleich wiedererkannt, auch wenn du erneut dein Erscheinungsbild gewechselt hast. Ich würde dich immer erkennen, egal, hinter welcher Verkleidung du dich auch zu verbergen suchst.« Der Düstere schlug die Kapuze zurück. In den schwarzen Augen blitzte es grellrot auf. Dann glitt ein maliziöses Lächeln über das bartlose, schöne Gesicht. »Und du lädst mich trotzdem ein, mit dir zu sein, Jesus von Nazareth? Warum?« Der Nazarener machte eine weit ausholende, einladende Geste mit dem rechten Arm. Der Dämon setzte sich ihm gegenüber auf den bequemen Stuhl, zu dem sich der Wanderstock plötzlich verformt hatte. »Vielleicht weil ich neugierig bin, was du nun wieder vorhast? Deine beiden ersten Versuche, meine Fähigkeiten auszuloten, haben mir durchaus eine gewisse Freude bereitet, auch wenn sie leicht zu durchschauen waren«, antwortete Jesus, der die Zaubertricks seines Gegenübers amüsiert zur Kenntnis nahm, bereitwillig. »Dummerweise weißt du immer noch nicht, ob ich diese Steine in Brot verwandeln kann, um meinen Hunger zu stillen. Du weißt auch nicht, welche Hilfstruppen mich retten, wenn ich von der höchsten Zinne des Tempels springe und ob überhaupt. Wie willst du mich also dieses Mal testen – Asmodis?« Kreisende, schnell größer werdende Feuerräder erschienen in den Augen des Dämons. Die Konturen seines Gesichts verschwammen. Für einen winzigen Moment kam die hässliche, schwarze Fratze eines gehörnten Teufels durch. Dann stabilisierten sich die menschlichen Züge wieder. Asmodis lachte laut. »Ah, du kennst also meinen Namen, Nazarener. Den kann dir nur Merlin gesagt haben. Was hat er dir noch über mich erzählt?« Jesus blieb völlig ruhig. »Nachdem du mich zwei Mal hier heimgesucht hast, hat mich Merlin in seine himmlische Burg geholt, um mich vor dir zu warnen. Er sagte mir, dass ihr beide Brüder seid und dass ihr einst auf derselben Seite standet, auf der der finsteren Mächte. Doch Merlin, mein großer Mentor, ist schon vor langer Zeit ins Licht gewechselt und kämpft nun für die guten Mächte. Du aber bist der Fürst der Finsternis und einer der mächtigsten Dämonen
überhaupt, wenn auch nicht Satan selbst. Entschuldige also, wenn ich dir vorhin bei meiner Anrede zuviel der Ehre antat.« »So, das hat er dir also alles erzählt.« Asmodis war derart verblüfft, dass er im Moment vergaß, sich über die unerträgliche Arroganz dieses Stinkers zu ärgern. »Und da wird immer behauptet, dass LUZIFER der König der Lügen sei. Aber mein sauberer Lichtbruder«, er lachte höhnisch, »stellt den KAISER glatt in den Schatten. Sei versichert, dass Merlin mitnichten für das Gute arbeitet. Damit macht er sich lediglich seine armen, einfältigen Vasallen, so wie du einer bist, gefügig.« »Bezeichne mich immerhin als armen, einfältigen Vasallen, Asmodis. Es stört mich nicht. Du kannst mich nicht provozieren. Aber eines würde mich schon interessieren. Warum ist Merlin damals auf die Seite des Guten, Gerechten gewechselt und du nicht?« »Bekomme ich deine Seele, wenn ich dir antworte?« Der Nazarener lächelte. »Oh, ich glaube nicht, dass dir das gut bekommen würde. Du würdest dich möglicherweise an ihr verschlucken. Meint jedenfalls Merlin.« Der Fürst der Finsternis sah den judäischen Prediger, der zum Haupt der verfluchten Essener aufgestiegen war und seither wirres Zeug über ein angebliches Reich Gottes faselte, nachdenklich an. »So, so, meint er das.« Gleichzeitig versuchte er, in Jesu' Gedanken zu schnüffeln. Zu seiner Überraschung gelang ihm das nicht mehr. Asmodis kniff für einen Moment die Augen zusammen. »Nun, ich bin gekommen, um dir ein konkretes Angebot zu machen, Nazarener. Schau.« Mit dem rechten Zeigefinger malte er ein großes, imaginäres Dreieck in die Luft, dessen Ränder sofort zu brennen anfingen. Innerhalb des flammenumkränzten Dreiecks, das gut doppelte Mannshöhe besaß, begann es zu flimmern. Bewegte Bilder schälten sich daraus hervor. Jesus betrachtete die Szenen interessiert. Weltentore platzten auf und spuckten unüberschaubare Horden abgrundtief hässlicher Dämonen aus. Sie überrannten überall auf der Welt bis in den Himmel gewachsene Städte und Dörfer, ergossen sich wie eine gigantische Flut in sie, metzelten brüllend und kichernd sich verzweifelt wehrende Menschen nieder, legten Brände, schleuderten magische Blitze
und nichts und niemand konnte sich ihnen entgegenstellen. Schrill schreiende Priester wurden enthauptet, zitternde Magiekundige von der Masse erdrückt und in der Luft in Fetzen zerrissen. Und schließlich, als Satans Horden gesiegt und den letzten Menschen von der Erde getilgt hatten, erschien LUZIFER in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit über dem Horizont. Als unbegreifliches Wesen inmitten einer strahlend roten Aura sank er zur Erde nieder und ließ sich von den frenetisch jubelnden Dämonen huldigen, die menschliche Schädel auf ihre Lanzen gesteckt hatten. Tiefe Finsternis kam mit ihm und löschte das Licht, das die Erde bis dahin beschienen hatte, auf ewig aus. »Aha«, sagte Jesus und gähnte ausgiebig, ohne die Hand vor den Mund zu halten. »Was soll das sein?« »Der große Kampf am Ende aller Zeiten«, zischte Asmodis. »Ich habe dir soeben die Zukunft gezeigt. Du hast gesehen, dass wir siegen werden. Ich gebe dir also die Chance, dich rechtzeitig auf die richtige Seite zu schlagen. Wähle die Seite der Sieger, Jesus. Knie vor mir nieder und bete mich an. Und ich verspreche dir, dass ich dich über die ganze Welt herrschen lasse. Du wirst der König der Erde. Und das ist das konkrete Angebot, das ich dir mache. Allerdings nur ein Mal und so musst du dich hier und jetzt entscheiden.« Asmodis hielt einen Moment inne. »Na, wie gefällt dir das?«, säuselte er dann. »Gar nicht.« Jesus stand geschmeidig von dem Felsen auf und funkelte den Höllenfürsten an. Die Sanftheit in seinen Augen war brennender Leidenschaft gewichen. »Ich glaube ja, dass du und deinesgleichen euch an solchen Illusionen festhalten müsst, wenn ihr nicht verzweifeln wollt. Denn den Triumph des Bösen wird es nicht geben. Nicht am Ende aller Zeiten und auch nicht jetzt und nicht in naher Zukunft. Wir werden ihn zu verhindern wissen, denn wir siegen selber.« »Ach ja? Das wollen wir doch mal sehen, du kleiner arroganter Mistkerl.« Asmodis' Augen leuchteten grellrot auf. Aus seinen Fingerspitzen flossen tiefschwarze Energien. Sie formten sich zu einer faustgroßen Kugel. Viel schneller, als der Geist des Nazareners den Vorgang überhaupt begreifen konnte, verließ die Kugel Asmodis'
Hand und schoss auf Jesus zu. Der Fürst der Finsternis erwartete, dass sich der Dunkle Tunnel um das Haupt des Predigers legen würde und dass sich die Peinteufel, die durch das künstlich geschaffene Höllentor kamen, Jesus' Seele durch dessen Kopf ergreifen und mit ihr triumphierend auf die Seelenhalden zurückkehren würden. Stattdessen legte sich ein grünes Leuchten um den Nazarener, das seine Körperkonturen eng umfloss. So schnell, dass der Dunkle Tunnel davon abgeblockt wurde. Er prallte auf das grüne Leuchten – und wurde von diesem aufgesogen! Asmodis erstarrte. »Was ist das?«, flüsterte er. Fasziniert beobachtete er, wie ein gutes Dutzend Peinteufel aus dem Höllentor gezerrt wurde. Wild um sich schlagend und schrill schreiend vergingen sie in der grünen Barriere. Die Energie des Dunklen Tunnels floss auseinander, vermischte sich großflächig mit der fremden Magie, wurde immer durchscheinender und schließlich von dem Leuchten vollständig assimiliert. In gespenstischer Lautlosigkeit griff Jesus von Nazareth in den Halsausschnitt seines Burnus' und holte ein handtellergroßes, silbernes Amulett hervor. Asmodis betrachtete es fasziniert. Es besaß einen stilisierten Drudenfuß in der Mitte, um den sich ein Kreis mit den Symbolen der Tierkreiszeichen zog. Den äußeren Rand bildete ein Silberband mit magischen Zeichen. »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé«, zitierte Jesus Merlins Machtspruch. Drei silberne Blitze schossen aus dem Zentrum des Amuletts. Darauf nun war Asmodis vorbereitet. Längst war neue schwarze Energie aus seinen Fingerspitzen geflossen und bildete nun ein dünnmaschiges, weit verästeltes Netz, das die silbernen Blitze abfing. Dort, wo sie auftrafen, zogen sich die Maschen gedankenschnell zu einem undurchdringlichen Gewebe zusammen. Der Fürst der Finsternis keuchte. Was war das? Das silberne Licht überflutete die Knoten, fraß sich langsam in die Maschen des Schwarzen Netzes vor. Gleichzeitig spürte er weißmagische Schläge im ganzen Körper. Das Schwarze Netz wirkte als Brücke für die tödliche Energie! Asmodis war uralt und erfahren und wusste genau, wann es besser war, das Feld zu räumen. So unterließ er es, weitere
Energie in das Schwarze Netz zu pumpen; er nutzte sie lieber für die Flucht. Als er nach dreimaligem Drehen um seine Achse im Nichts verschwand, wurden die Reste des Schwarzen Netzes endgültig von dem silbernen Licht vernichtet. Gleichzeitig erlosch das grüne Leuchten um den Nazarener. Er blieb stehen und starrte noch eine ganze Weile wortlos über die Wüste hinweg. Dann schob er das Amulett, das er an einer Schnur um den Hals hängen hatte, wieder unter den Burnus zurück. »Heiliger Vater von Kemran«*, flüsterte er schließlich. »Mit deiner Hilfe werden wir diese Brut aus Höllentiefen zurückschlagen und schließlich besiegen. Ich bin nun zuversichtlicher denn je, da Merlin mir wahrlich eine mächtige Waffe an die Hand gegeben hat.«**
Diese Worte hörte Asmodis bereits nicht mehr. Der Fürst der Finsternis war zu seinem ursprünglichen Ausgangspunkt zurückteleportiert. Neben der Flammensäule fiel er aus dem Nichts. »Und, wie ist es gelaufen?«, fragte Pluton, der wie üblich in seiner flammenumkränzten Gestalt auftrat und wegen seiner Gerissenheit schon seit langer Zeit als Berater des Höllenfürsten fungierte. »Mich deucht, dass ich ein unbekanntes Leuchten wahrgenommen habe, so grün wie der Schleim der Ghule. Und ein paar der silbernen Blitze waren auch dabei.« Asmodis fauchte. Die Konturen des düsteren Mannes verschwammen, die Gestalt zog sich blitzschnell in die Länge und Breite. Innerhalb eines Lidschlags hatte der Fürst der Finsternis eine fast vier Meter große Teufelsgestalt mit mächtigen Hörnern, einem ledrigen, faltigen Gesicht und einem mächtigen Schlagschwanz angenommen. Letzteren ließ er über den Boden peitschen und schoss dabei einige faustgroße Steine durch die Gegend. Sofort wuchs auch die Flammengestalt Plutons. Der Erzdämon liebte es, groß und mächtig zu *Kemran ist der Name des Planeten, auf dem der »Wächter der Schicksalswaage«, Merlins Auftraggeber, haust **Diese Ereignisse fanden später, wenn auch deutlich verfälscht, als die »drei Versuchungen Jesu durch den Teufel« Eingang in die Bibel.
erscheinen, musste aber immer ein Fingerbreit kleiner als der Herr der Hölle bleiben. Niemand durfte in Asmodis' Gegenwart mächtiger an Gestalt daherkommen als er, Lucifuge Rofocale einmal ausgenommen. Da verstand der Fürst der Finsternis zurzeit keinen Spaß. Trotzdem stand Plutons düstere Majestät der des Höllenfürsten in nichts nach. »Ich befürchte, dass es mein Lichtbruder Merlin tatsächlich ernst meint mit dieser seltsamen Tafelrunde, die er mit dem Nazarener als Anführer als Bastion gegen das Böse gründen will«, sagte Asmodis und in seinen Augen begannen wieder grellrote Feuerräder zu rotieren. »Dieser Jesus ist eine durchaus charismatische Erscheinung, aber bisher war er keine Gefahr für uns.« »Dann ist er jetzt zu einer geworden. Oder er entwickelt sich gerade dazu.« »Eine unglaubliche Gedankenleistung«, höhnte Asmodis in all seiner Ungnade. »Das zeigt mir in beeindruckender Weise, warum ich ausgerechnet dich zu meinem Berater gemacht habe.« Plutons Flammenmantel leuchtete kurz auf. Der Erzdämon sagte aber nichts. Er war derlei Attacken des Höllenfürsten gewöhnt. Sie beeindruckten ihn nicht im Geringsten. Er wusste nur zu genau, dass Asmodis tatsächlich große Stücke auf ihn hielt und hin und wieder sogar auf ihn hörte; und das war etwas, das in den von Neid und Missgunst geprägten Schwefelklüften sonst so gut wie nie vorkam. »Ja, du hast recht«, fuhr Asmodis fort. »Wir dürfen den Nazarener ab jetzt nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen.« »Dann hat Merlin ihm also das vierte Amulett an die Hand gegeben?« Asmodis spreizte den Zeige- und den kleinen Finger der linken Hand zum Zeichen der Zustimmung. »So haben wir es vermutet und es ist tatsächlich so. Das vierte Amulett, das Merlin geschaffen hat, sieht exakt wie seine drei Vorgänger aus. Aber es ist um ein Vielfaches stärker. Hm. Es hat Funktionen, die ich bei den drei anderen Amuletten noch nicht bemerken konnte. Das grüne Leuchten, das du gesehen hast, ist ein Schutzschirm, mit dem das Amulett den Nazarener selbstständig gegen meinen Angriff abgeschirmt hat.
Gleichzeitig hat es mich mit den silbernen Blitzen angegriffen, die wir schon von den drei ersten kennen. Allerdings waren sie nun so stark, dass ich meine ganze Kraft gebraucht habe, um sie abzuwehren. Ich musste mich sogar zurückziehen, sonst hätte es böse enden können. Diese Silberscheibe kann also bereits einem Erzdämon gefährlich werden.« Pluton wunderte sich, wie offen der Fürst der Finsternis seine Grenzen eingestand. Das vierte Amulett, für das Merlin erneut eine Sonne vom Himmel geholt hatte, so munkelte man zumindest, schien ihn ziemlich stark zu beeindrucken. »Das heißt, dass wir Jesus jetzt nicht mehr so ohne weiteres angreifen können. Wir hätten ihn töten sollen, als es noch möglich war.« Pluton wies damit süffisant auf seinen Ratschlag hin, den er Asmodis schon vor vier Flammenwallungen gegeben, den der aber brüsk zurückgewiesen hatte. »Spar dir deine Bemerkungen, sonst kannst du demnächst mit dem Titel Ex-Berater des Fürsten der Finsternis hausieren gehen«, fuhr ihn Asmodis an. »Es war durchaus richtig, den Nazarener leben zu lassen – bis jetzt jedenfalls. Denn an seiner Person können wir studieren, welche Anstrengungen mein Lichtbruder tatsächlich unternimmt, um diese Tafelrunde zu gründen. Die ersten Versuche waren ja nicht so viel versprechend und eher halbherzig. Ich konnte übrigens bei unserem erneuten Zusammentreffen die Gedanken des Nazareners nicht mehr lesen, was bei unseren ersten beiden Begegnungen noch ganz anders war. Merlin hat ihm einen Mentalblock eingepflanzt. Zudem hat er ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert, was gewisse Verwandtschafts- und Herrschaftsverhältnisse anbelangt. So etwas macht man nur einer äußerst wichtigen Person gegenüber, von der man sich eine Menge verspricht.« Asmodis lachte meckernd. »Wir können also so langsam die Strategie erkennen, die Merlin verfolgt. Er baut tatsächlich einen starken Kämpfer auf der Erde auf. Mit Jesus scheint er ihn nun gefunden zu haben. Und er stattet ihn mit großer Macht aus. Mit viel mehr Macht, als er sie einem Menschen bisher zugestanden hat. Hätten wir das erkennen können, wenn wir ihn gleich getötet hätten?« »Nein«, gestand Pluton ein, ohne sich den leisen Spott in seiner
Stimme verkneifen zu können. »Dein weises und vorausschauendes Handeln ist wie immer überragend, mein Fürst. Dumm ist nur, dass wir unser Wissen enorm erweitern konnten, nun aber einen starken weißmagischen Gegner am Hals haben, der uns vielleicht einiges an Verdruss bereiten wird.« »Du solltest wirklich vorsichtiger mit deinen Äußerungen sein.« Wie eine Peitsche zuckte Asmodis' Schwanz nach vorne und traf den Erzdämon im Gesicht. Starke Funkenentladungen folgten, es zischte und knisterte. Pluton schrie auf, als wasserkalter Schmerz durch seinen Körper raste. Er ging auf die Knie. »Ich höre und gehorche, mein Fürst«, ächzte er. Zum Zeichen der Vergebung legte Asmodis seine beiden Zeigefinger waagrecht übereinander. »So ist's schon besser, mein Böser. Noch einmal in Kurzfassung, damit es selbst ein so simpler Geist wie du kapiert: Hätten wir den Nazarener zu schnell erledigt, hätten wir Merlins Pläne nicht mehr genau einschätzen können. Jetzt aber wissen wir, was er vorhat. Und wir wissen, dass wir auch künftig ein Auge auf dieses Tafelrunden-Projekt haben müssen, denn es scheint ihm so wichtig zu sein, dass er sicher nicht gleich aufgibt, wenn wir den Nazarener beseitigen.« »Was sollen wir nun tun?« »Ich muss also meinen Berater beraten«, erwiderte der Fürst der Finsternis hämisch. »So weit ist es schon gekommen. Aber gut. Wir werden jetzt, da die Zeit reif ist, ein Zeichen der Stärke setzen und Merlin zeigen, dass er sich ja keinen Schwachsinn einbilden soll. Der Nazarener muss weg. Wenn es durch rohe Gewalt nicht mehr geht, dann muss eben List und Tücke her.« »Da könnte nun ich dich wieder beraten. Ich habe nämlich in der Phalanx der Menschen, die Jesus gerade um sich schart und die ja wohl das Personal für die Tafelrunde darstellen soll, einen Schwachpunkt ausgemacht. Dieser Judas scheint ziemlich empfänglich für die Schönheiten des Materiellen zu sein. Hier könnten wir eventuell einen Hebel ansetzen. Mit einigen Intrigen müsste es uns tatsächlich gelingen, den Nazarener vor den Römern zu diskreditieren. Wenn wir's schon nicht schaffen, dann soll er eben von seinesgleichen erledigt werden.«
»Das, mein Böser, ist gar keine so schlechte Idee.«
3. Ein Geschenk für Dragur April 1994, Stadtteil Josefstadt, Prag, Tschechien Der unscheinbare, schmächtige Mann im etwas abgewetzten, braunen Anzug ließ sich im Strom der Touristen und Einheimischen treiben. Aber die Blicke, die er hin und wieder pflichtschuldig auf die reich verzierten Prachtbauten und Türme der Josefstadt warf, um wenigstens ein bisschen interessiert zu erscheinen, prallten daran ab. Yoann Gouffran hatte völlig andere Dinge in seinem kaum noch behaarten Kopf, den er wegen des leichten Nieselregens mit einem eleganten Hut bedeckte. Der Franzose, der eine Aktentasche in der Hand trug, tigerte zum wiederholten Mal die Maiselgasse auf und ab. Eine Schulklasse blockierte gerade das Trottoir vor dem jüdischen Rathaus. Und weil auch die schmale Straße von einigen Autos verstopft wurde, war Gouffran gezwungen, dem Fremdenführer zuzuhören. Der Mann sprach Deutsch. Gouffran verstand diese Sprache, er hatte über 20 Jahre in Köln gelebt. Wie lange ist das schon wieder her? 130 Jahre? Wie doch die Zeit vergeht … »Wie Sie sehen, handelt es sich bei dem jüdischen Rathaus um ein wunderschönes, zierliches Spätbarockpalais mit einer reich gegliederten Fassade und viel Stuck. Es wurde 1763 bis 65 errichtet …« Blablabla. Geht's auch ein bisschen witziger, als nur den Reiseführer herunterzuleiern? Nun komm schon zum Ende, dachte Gouffran und warf einen nervösen Blick auf die beiden Wachen vor dem Eingangstor des Rathauses. Nicht dass er Angst vor ihnen gehabt hätte; im Ernstfall hätten sie nicht einmal mehr gemerkt, dass sie starben, so schnell wäre es gegangen. Aber Gouffran wollte kein Aufsehen erregen. Nicht gerade jetzt. Und deswegen war klar, dass er die Maiselgasse nun verlassen musste, denn die Wachen, die den Sitz der jüdischen Prager Gemeindeverwaltung vor Anschlägen und Vandalismus
schützten, hatten ihn bereits auf dem Kieker. Vielleicht war er einmal zu oft an ihnen vorbeigegangen und sie fragten sich nun, was er wohl in seiner Aktentasche hatte. Keine Bombe, nein. Etwas, das noch weitaus brisanter war. Wenn auch nicht für die Kerle da, die die Brisanz seines Schatzes nicht einmal erkannt hätten. Aber der, den er bald treffen würde, der würde sie erkennen. »Die Uhr mit dem hebräischen Zifferblatt, die Sie dort auf dem kleinen Giebel des Rathauses sehen, läuft übrigens verkehrt herum, falls das schon mal jemand aufgefallen ist.« Ja, ja. Verdammt, wann ist denn diese beschissene Straße endlich frei? Na endlich … Gouffran drückte sich zwischen zwei haltenden Autos durch, umkurvte die Schulklasse, die längst nicht mehr zuhörte und bog unter den misstrauischen Blicken der Rathauswachen in die Hrbitova-Gasse ein. Die linke Seite der Gasse wurde von einer rund vier Meter hohen Mauer gebildet, an der kleine, hölzerne Verkaufsstände mit Schrägdächern wie an der Perlenschnur aufgereiht waren. Die Händler boten den üblichen Krimskrams für Touristen an, Postkarten, Bilder, Schmuck, eigentlich alles, was sich irgendwie als Andenken verscherbeln ließ. Gouffran interessierte es nicht. Sein Blick galt ausschließlich der Mauerkrone, auf der ein eiserner Gitterzaun angebracht war. Dahinter sah er, zwischen Bäumen und hohen Gräsern, wunderschön gearbeitete, steinerne, uralte Grabsteine aufragen. Yoann Gouffran blieb an einem der Stände stehen und gab vor, sich für ein paar kitschige Kasperle-Marionetten zu interessieren. Doch was ihn wirklich interessierte, befand sich einige Meter hinter der Mauer, zwölf Lagen hoch und in wunderbar duftende, feuchte Erde eingebettet. Allerdings erweckten die beinernen Objekte ausschließlich sein Interesse, aber keinerlei wohlige Schauder, keine Erregung, die seine Nervenbahnen brennen ließ und unstillbaren Appetit in ihm weckte. Zu lange ruhten sie bereits in der Erde hier, als dass noch Fleisch an ihren Knochen gewesen wäre, wunderbares, seifiges, sich bereits zersetzendes Fleisch, dessen Wohlgeruch ihn fast wahnsinnig werden ließ vor Gier. Nein, das gab es hier nicht mehr. Denn auf dem alten jüdischen Friedhof Prags war der letzte Tote vor mehr als 200 Jahren beigesetzt worden.
Damals, ja, da muss der Friedhof tatsächlich noch ein Paradies für meinesgleichen gewesen sein, als Dragur, unser Ahnvater, vor vierhundert Jahren hier angefangen hat. So viel Futter. Kein Wunder, dass sich Dragur einst ausgerechnet diesen Platz ausgesucht hat. Aber auch heute soll ja noch genügend für uns alle da sein. Und bald schon werde ich daran teilhaben dürfen. Ich bin sicher, dass ich die nötige Eintrittskarte zum ewigen Festmahl habe … Unwillkürlich drückte er die Aktentasche an sich. Dann ging Gouffran weiter, an der Klausen-Synagoge und an der jüdischen Zeremonienhalle, die mit ihrem Rundturm wie ein kleines Schlösschen wirkte, vorbei. Zwischen den beiden Gebäuden befand sich der Ausgang des Friedhofs. Das Gittertor spuckte gerade eine größere Gruppe japanischer Touristen aus. Ja, ja, ihr findet den Friedhof sicher interessant, aber eure Eindrücke sind nicht mehr als, hm … oberflächlich. Wir hingegen sind eher die Spezialisten für das Innenleben dieser wunderbaren Anlagen … Gouffran kicherte leise vor sich hin. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es nun bald so weit war. Reichlich eine Viertelstunde noch, dann musste er sich wieder in der Pinkas-Synagoge einfinden. Dragur liebte es nicht, wenn man ihn warten ließ. Er ging auf die andere Seite des jüdischen Friedhofs und dann durch die Siroka-Gasse. Auch hier wurde der riesige Grabhügel durch eine lange Mauer begrenzt. Die gotischen Grabsteine eines aufgelassenen Friedhofs in der Prager Neustadt, die man 1866 in die Umfriedung hier eingemauert hatte, konnte er deutlich erkennen. O ja, Yoann Gouffran hatte sich gründlich über die Geschichte seiner neuen Heimat informiert, denn darauf legte Dragur größten Wert. Er liebte Geschichte, denn viel länger als die anderen seiner Rasse war er Teil von ihr, hatte sie sogar mitgeprägt und tat das wohl noch immer. Am Ende der Umfriedung tauchte die Pinkas-Synagoge auf. Das wie ein Landhaus wirkende Bauwerk diente gleichzeitig als Eingang zum Friedhof. Yoann Gouffran reihte sich in die Schlange der wartenden Touristen ein. Noch hatte er etwas Zeit. Das kleine Mädchen vor ihm drehte sich plötzlich um und verzog das Gesicht. »Mama, der Mann stinkt«, quengelte sie, während sie sich am Rock ihrer Mutter festhielt. Die Frau drehte sich nun ebenfalls um und muster-
te Gouffran kurz. »Ja, du hast Recht, Kleines«, erwiderte sie auf Deutsch, in der Annahme, dass er es nicht verstand. »Da siehst du mal, wie wichtig es ist, dass man sich jeden Tag wäscht. Wollen wir uns ab jetzt jeden Tag waschen und du machst fleißig mit? Damit du nicht auch so komisch riechst wie der Mann.« Gouffran verzog keine Miene. Na warte, dein Gesicht merk ich mir. Und wenn du erst gestorben bist, dann fress ich dich höchstpersönlich auf … Aber es ist wahr, ich muss aufpassen, dass ich meinen Geruch im Griff behalte. Es ist wohl die Erregung, gleich den großen Dragur zu treffen … Mit einem Zauberspruch behob er seine kleine Unachtsamkeit wieder. »Mami, jetzt riecht der Mann plötzlich nach Parfüm. Aber er hat gar nichts gemacht, ich hab's genau gesehen.« Die Frau in dem kleinen Kiosk, die die Eintrittskarten verkaufte, lächelte ihn an. »Ah, Pan Gouffran. Schön, dass Sie pünktlich sind. Ihr persönlicher Fremdenführer steht nun für Sie bereit. Sie finden Pavel Stein in der Eingangshalle.« Gouffran bedankte sich und ging ins Innere der Synagoge. Unter den etwa 20 Menschen, die hier standen, witterte er seinen Artgenossen problemlos heraus. Stein ging es nicht anders, denn der Mann mittleren Alters mit dem bereits ergrauenden Haarkranz steuerte direkt auf ihn zu. Steins Gesicht nahm ein geschäftsmäßiges Lächeln an. »Sie müssen Pan Gouffran sein, nicht wahr? Ich freue mich, Ihnen diese Anlage ganz persönlich zeigen zu können. Sie sind Franzose?« Gouffran zauberte ein breites Grinsen auf sein Gesicht. »In Frankreich geboren und aufgewachsen, ja. Aber ich war seither viel unterwegs. Schön, dass man neuerdings auch die Länder des Ostblocks problemlos besuchen kann.« »Ja, nicht wahr? Schließen Sie sich mir also an.« Gouffran nickte und umklammerte den Griff der Aktentasche fester. Er versuchte herauszufinden, wie viele seiner Rasse sich hier herumtrieben. Aber außer der Kartenverkäuferin und Stein bemerkte er niemanden mehr. Stein führte ihn durch die kleinen Hallen und Räume der Synagoge, die momentan für die Öffentlichkeit gesperrt war. Über ein Dut-
zend Männer und Frauen waren, zum Teil auf Leitern und Gerüsten stehend, damit beschäftigt, rund um den Toraschrein Namen in die Wände zu ritzen. Sie schauten kurz auf, als die beiden Männer an ihnen vorbeikamen. »Wegen Hochwasserschäden werden momentan die rund 78.000 Namen der im Zweiten Weltkrieg umgekommenen tschechischen Juden erneuert«, erläuterte Stein pflichtschuldigst. »Die sind hier überall, alphabetisch nach Familien und Orten geordnet, aufgeführt.« Ja, der Zweite Weltkrieg. Das war eine tolle Zeit, noch besser als nach dem Ersten. So reichlich war der Tisch für uns nie wieder gedeckt. Nicht davor und nicht danach. Fast unter jeder Erdaufschüttung konnte man Dutzende frischer Leichen finden. Köstlich … Gouffrans Schwärmerei von längst vergangenen Tagen währte nur einen Moment. In einem kleinen, leeren Seitenraum blieb Stein stehen. »Komm nun mit mir in die Welt unter der Welt, in das wahre Leben, Bruder«, zischte er. Plötzlich wurden seine Konturen seltsam unscharf und zerflossen in einen Berg zähen, grünen Schleims. Nur noch zwei pechschwarze Augen funkelten daraus hervor. Gouffran folgte Steins Beispiel. Auch er verwandelte sich in einen gelblich schimmernden Schleimberg. Die Aktentasche war darin eingeschlossen. Noch mehr als in seiner menschlichen Tarnexistenz witterte Gouffran nun die feuchte Erde, die sich unterhalb des Steinbodens befand. Der starke, betörende Geruch kam hauptsächlich aus dem breiten Spalt zwischen zwei Bodenfliesen. Stein zog mit einer Krallenhand, die er aus seiner Körpermasse formte, ihre Kleider an sich. Dann bewegte er sich auf den Spalt zu, verformte sich zu einer Art flachem Fladen und sickerte in die Unterwelt ein. Die Kleider zog er hinter sich her. Gouffran folgte ihm. Er musste die Aktentasche dabei magisch verkleinern, sonst hätte sie nicht durch gepasst. Das schaffte er, auch wenn seine magischen Künste ansonsten eher bescheidener Natur waren. Gleich darauf standen sie in uralten, muffigen Gewölben. Gouffran stöhnte wohlig, denn diese Umgebung war Balsam für seine schwarze Seele. »Nur noch kurz, dann wirst du Dragur gegenüberstehen. Und ich
rate dir, sei demütig und ehrfurchtsvoll, sonst wird er erst gar nicht mit dir reden.« Gouffrans gelber Schleimkörper pulsierte zum Zeichen der Zustimmung. »Da, in der Aktentasche, hast du darin dein Geschenk?« Wieder pulsierte Gouffran. »Gut. Folge mir nun also, Bruder. Ein wenig wird's schon noch dauern, aber dann lernst du schon mal etwas von dieser wunderschönen Stadt kennen. Du wirst sie gleich mögen, davon bin ich überzeugt. Weniger überzeugt bin ich allerdings davon, ob du tatsächlich hier bleiben darfst.« »Warum?« »Warum? Weil Dragur schon seit vielen Jahrzehnten niemanden mehr aufgenommen hat, egal, welche Geschenke ihm auch immer angeboten wurden. Der Mutterkuchen hat nicht unbegrenzt viele Gewebekrümel, wie wir hier sagen. Immerhin, du musst ihn mächtig beeindruckt haben, sonst wärst du nicht mal eingeladen worden. Hoffentlich kannst du das, was du versprochen hast, auch halten. Was immer es sein mag.« Stein lauerte allem Anschein nach darauf, etwas darüber herauszubekommen. Aber Gouffran hütete sich, auch nur ein Wort verlauten zu lassen. Sein Geschenk war ganz alleine für den Ahnvater bestimmt. Da er nichts sagte, setzte sich Stein in Bewegung, nachdem er die Kleider in sich eingeschlossen hatte. Die beiden Schleimklumpen wälzten sich ein Stück durch die Katakomben, sickerten in einen Mauerspalt ein und bewegten sich durch enge, steil abwärts führende Erdgänge. Sie bildeten schon hier unter dem Friedhof ein weit verzweigtes Netz. Hin und wieder sah Gouffran abgenagte Knochen, aufgebrochene Schädel und vermoderte Zipfel von Begräbnistüchern und Kleiderresten aus den Wänden ragen. Er registrierte die Überreste, mehr nicht, denn sie gaben schon längst keinen Leichengeruch mehr ab. Durch U-Bahnschächte und die Kanalisation führte sie ihr Weg schließlich erneut in ein Netz weit verzweigter Erdgänge und Höhlen. Nun war Gouffran plötzlich hoch erregt. Aus zahlreichen Ne-
benstollen duftete es nach Leiche. Manchmal nach frischer Leiche! Aus einem der Gänge schoss plötzlich ein Artgenosse. Er zerrte ein Stück menschlichen Körper mit sich. Als er Stein und Gouffran bemerkte, fletschte er die messerscharfen Zähne und fauchte drohend. Im momentanen Zustand der Fressraserei würde er seine Beute gegen alles und jeden verteidigen, da war es besser, wenn man ihn in Ruhe ließ. Schnell verschwanden Stein und Gouffran in einem Seitenstollen. Die schmatzenden Geräusche, die er hinter sich hörte, sprachen nun auch die Instinkte des französischen Ghuls an. Am liebsten hätte er alles stehen und liegen lassen, um in den nächsten Leichenstollen einzudringen oder notfalls selbst einen zu graben, um an das köstliche Fleisch zu kommen. Allein der Gedanke an Dragur hielt ihn davon ab. »Wo sind wir denn … hier?«, fragte er mühsam. »Unter dem Olsany-Friedhof. Das ist der größte Friedhof in Prag. Jetzt sind wir in Dragurs Paradies angelangt. Unser aller Paradies. Hier werden jeden Tag frische Leichen angeliefert. Ich bevorzuge allerdings die schon etwas länger liegenden. Wie auch immer die Geschmäcker so sind, Prag ist für uns ein einziges Fünf-Sterne-Restaurant.« Yoann Gouffran hatte sich wieder etwas beruhigt. »Dann gibt es also genug zu fressen hier für alle unsere Brüder und Schwestern?« »Ja.« »Gut zu wissen. Wie viele von uns sind hier?« »Das weiß nur Dragur genau. Aber es sind mehrere hundert, da bin ich mir sicher.« Stein wand sich an einem Holzbrett vorbei, das den fast senkrecht nach oben führenden Gang bedeckte. Gleich darauf standen sie wiederum in uralten Katakomben. »Wir sind da. Nimm deine Kleider, verwandle dich in einen Menschen und zieh sie an, während ich dich anmelde. Dragur möchte, dass du ihm in Menschengestalt gegenüber trittst. Warte hier, bis ich zurück bin.« Yoann Gouffran befolgte die Anweisung. Kurze Zeit später wurde er in einen großen, aus Steinziegeln erbauten Raum geführt. Wie schon in den Gängen herrschte hier das Licht der Ghule, also extreme Finsternis, denn in dieser nahmen die Leichenfresser ihre Umge-
bung am besten wahr. Überall hingen frische Leichenteile an Schnüren von der Decke und sorgten für angenehmen Raumduft. In der Raummitte stand eine menschliche Gestalt, die ähnlich unscheinbar wie seine eigene wirkte. Aber das ungeheure Charisma, das von ihr ausging, zwang Gouffran unwillkürlich auf die Knie. Vor ihm stand Dragur! Der Ghul, den sie alle als ihren Ahnvater verehrten. Er besaß die Ausstrahlung eines Dämons und wahrscheinlich war er auch einer. Denn er schaffte es seit Jahrhunderten, dass die Ghule von den Dämonen weitgehend in Ruhe gelassen wurden, obwohl sie die Leichenfresser verachteten, ja manchmal sogar regelrecht hassten. Aber nicht nur gegen die Dämonen schützte Dragur die Seinen, sondern auch gegen die Menschen. Wer trotzdem verfolgt wurde oder einfach in der Finsternis des Ahnvaters leben wollte, konnte sich bei ihm einkaufen. Mit einem Geschenk, das allerdings zu seiner Zufriedenheit ausfallen musste. Yoann Gouffran begann einen Moment lang zu zittern, als er daran dachte, dass sein Geschenk, das er so großspurig wie geheimnisvoll angekündigt hatte, um den Ahnvater neugierig zu machen, vielleicht doch nicht gut genug sein könnte. Denn Dragur galt einerseits als großzügig, andererseits als gnadenlos und unberechenbar, wenn er sich von jemand belästigt fühlte. »Komm wieder hoch«, befahl Dragur mit kratzender Fistelstimme. Der französische Leichenfresser erhob sich. »Ahnvater«, flüsterte er. »Ich bin erschüttert vor Glück, dir gegenüberstehen zu dürfen.« Dragur kicherte böse. »Ist das wahr. Als Mensch nennst du dich Gouffran. Wie heißt du richtig?« »Kruul. Ich heiße Kruul, Ahnvater.« »Also gut, Kruul. Du möchtest, dass ich dich in Dragurs Paradies aufnehme, weil du in Frankreich von Dämonenjägern verfolgt wurdest.« »Ja, Ahnvater. Ich hatte mein Heim zuletzt auf dem Friedhof von Marseille. Zusammen mit fünf anderen unserer Brüder und Schwestern. Da ist plötzlich ein Mensch aufgetaucht, der sich Pater Aurelian nannte. Der örtliche Pfaffe muss ihn geholt haben, weil sich
wahrscheinlich eine unserer Schwestern unvorsichtigerweise beim nächtlichen Fressen an der Erdoberfläche beobachten ließ. Dieser Aurelian ist ein mächtiger Dämonenjäger, denn er hat uns in eine Falle gelockt und alle unsere Schwestern und Brüder mit Blitzen, die aus seiner Brust schlugen, getötet. Nur ich konnte entkommen. Aber weil Aurelian meine Flucht bemerkte und weiter nach mir suchte, wurde mir der Boden zu heiß. Ich wollte unbedingt weg aus Frankreich, dorthin, wo ich mich sicher fühlen kann, also in deine Finsternis, Ahnvater. Ich will künftig als einer deiner Auserwählten in Dragurs Paradies leben, wo ich keine Furcht mehr haben muss.« »Pater Aurelian, so, so«, erwiderte Dragur und seine Augen wuchsen plötzlich auf doppelte Größe. »Ich kenne ihn vom Namen her. Er gehört zur Clique dieses beschissenen Professors Zamorra. Du hast gut daran getan, ihn nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wärst du geblieben, hätte er dich früher oder später auch erwischt.« Dragur kicherte erneut. »Eher früher.« »Ja, Ahnvater.« »Dann zeige mir jetzt dein Geschenk, mit dem du mir das Maul so wässrig gemacht hast, Kruul. Aber ich warne dich. Sollte es nicht meinen Erwartungen entsprechen, kannst du sofort wieder abreisen. Dann hast du deine Berechtigung, hier zu sein, für alle Zeiten verspielt.« Kruul senkte demütig den Kopf. »Ich weiß es, Ahnvater.« Er öffnete die Aktentasche und holte mit zitternden Fingern ein uraltes Buch hervor. Es war in dickes, braunes Rindsleder gebunden. Das Pergament, das davon zusammengehalten wurde, wies dunkle Flecken auf. »Was ist das?« Dragur verzog abfällig das Gesicht. »Asmodis' Memoiren?« »Nein, Ahnvater.« Kruul erklärte es ihm. Daraufhin starrte Dragur ihn an. »Gib es mir«, sagte er herrisch und streckte die Hand aus. Da das Buch ziemlich unhandlich war, ließ er es mit einigen Handbewegungen vor sich in Brusthöhe in der Luft schweben. Fast ehrfürchtig betrachtete er die ersten Seiten. »Das ist … wunderbar«, flüsterte er schließlich, nachdem er weitere Seiten betrachtet hatte. »Unglaublich.«
Kruul atmete auf. »Ich wusste, dass es dir gefallen wird, Ahnvater.« Dragur nickte. »Ja, es gefällt mir und ich danke dir. Doch es muss ein Geheimnis bleiben, dass ich dieses Buch nun besitze.« »Natürlich wird es ein Geheimnis bleiben, Ahnvater. Ich werde niemandem je davon erzählen.« Aus den Fingerkuppen Dragurs, die er wie zufällig auf Kruul gerichtet hielt, lösten sich schwarze Blitze, vereinten sich zu einem Strahl und schlugen in Kruuls Körper. Der Ghul kam nicht einmal mehr zum Schreien. Es reichte immerhin noch zu einem ungläubigen Blick, bevor er in dunklen Flammen stand. »Natürlich nicht«, murmelte Dragur, während sich Kruul im Todeskampf zurückverwandelte, auseinander floss und schließlich rückstandslos aus dieser Existenz verschwand.
Mai 1994, Château Montagne, Frankreich Der einsame Wanderer atmete schwer. Er hielt inne und setzte sich am Hang dicht unterhalb von Château Montagne auf einen Baumstumpf. Ein zufällig vorbeikommender Mensch hätte in dem alten Mann unmöglich den mächtigsten Dämon der Schwefelklüfte erkennen können. Vielleicht hätte er sich gefragt, warum die Vögel in der näheren Umgebung panisch aufflatterten und flüchteten, aber er hätte mit seinen Vermutungen die Wahrheit nicht einmal gestreift. Doch es kam niemand vorbei. Lucifuge Rofocale, der Amulettsammler, hatte seine Tarngestalt möglichst harmlos gewählt – eine Allerweltserscheinung, auf die niemand besonders achten würde. So weit konnte Satans Ministerpräsident noch denken. Ansonsten war es mit seiner geistigen Unversehrtheit aber nicht mehr zum Besten bestellt. Seit er im Besitz der ersten sechs Amulette Merlins war, unterwarfen sie ihn der Sucht, sie immer wieder und in immer größerem Stil zu benutzen. Und er tat es auf vielfältige Weise, auch wenn er in den wenigen klaren Momenten, die er in seiner immer wirrer werdenden Welt
noch hatte, nicht im Ansatz begriff, warum das so war. Und nun würde er die M-Abwehr von Château Montagne angreifen. Ein ungeheuerliches Vorhaben, das den vollsten Einsatz aller sechs Amulette erforderte. Lucifuge Rofocale konzentrierte sich. Erste Energien flossen und brandeten gegen die weißmagische Schutzkuppel an. Minuten vergingen, ohne dass etwas Sichtbares geschah. Das dauerte dem Teuflischen zu lange. Er fädelte sich in den Energiefluss der handtellergroßen silbernen Scheiben ein, um zu sehen, ob das alles überhaupt Erfolg versprach. Er erhielt eine schwache Rückkopplung. Sie war fünffach gestaffelt. Lucifuge Rofocale schnaubte triumphierend, denn er erkannte, dass die M-Abwehr tatsächlich schwächer wurde. Es funktionierte also! Und zwar nur, weil die Kraft der Amulette nicht schwarzmagisch, sondern neutral war. Ob Merlin je an eine solche Möglichkeit gedacht hatte? Lucifuge Rofocale beendete seine Anfrage an die sechs Amulette. Darauf, dass die Rückkopplung nicht sechsfach gewesen war, achtete der Teuflische nicht. Ein kleiner Drache erschien auf den Zinnen der Châteaumauer. Fooly! Das Biest erkannte ihn und er machte es mit einem gezielten Steinwurf unschädlich. Der Drache kippte bewusstlos von der Zinne. Kurze Zeit später erschien Zamorra, sein Feind. Er schoss mit dieser engelsgesegneten Laserwaffe auf ihn. In diesem Moment wurde die M-Abwehr unter dem ständigen magischen Ansturm der sechs Amulette durchlässig. Gleichzeitig bildeten die Silberscheiben einen machtvollen Schutzschirm um den Erzdämon, in dem sich der Laserstrahl verfing. Lucifuge Rofocale nahm sein wahres Aussehen an. Gleich darauf hing eine riesenhafte, brennende Teufelsgestalt im Himmel über Château Montagne. Und Zamorra hatte bisher nicht begriffen, dass die M-Abwehr nur noch in Resten vorhanden war. So brach er unter dem magischen Schlag des Erzdämons zusammen. Lucifuge Rofocale brüllte triumphierend. Die fünf Amulette vor seiner Brust strahlten in grellem Licht. Dass das sechste fehlte, bemerkte er in seinem Fieber nicht. Denn nun war der Weg zum siebten Amulett frei. Zu Zamorras Amulett. Es befand sich irgendwo dort drinnen in den weitläufigen Fluchten Château Montagnes; der Meister des Übersinnlichen war nicht mehr dazu gekommen, es zu
rufen. Das vertagte die Entscheidung aber nur um einige Minuten. Denn gleich würde es ebenfalls in seinem Besitz sein. Und dann erfuhr er, ob die Legenden stimmten – ob die ersten sechs Amulette gemeinsam das siebte bezwingen konnten. Oder eben nicht. Eine lange Flammenlohe schlug aus dem Maul des mächtigsten Wesens der Schwefelklüfte. Lucifuge Rofocale machte auch noch Nicole Duval unschädlich. Satans Ministerpräsident eroberte Château Montagne.
Das WERDENDE spürte, dass der Zeitpunkt jetzt gekommen war. Der jüngste Energieschub, gespiegelt aus der Energie der pausenlos eingesetzten ersten fünf Amulette lieferte ihm mehr Kraft, als ES tatsächlich benötigte. Aber ES nahm den Überschuss gern entgegen. Je mehr Energie ES in diesem Stadium seiner Entwicklung zugeführt bekam, desto stärker würde ES anschließend sein. Der entscheidende Moment war da. Das WERDENDE, das sich in vielen Jahrhunderten im sechsten Amulett Merlins entwickelt hatte und aus den gespiegelten Energien der ersten fünf Amulette genährt worden war, trennte sich endgültig von seinem Wirt. Das WERDENDE war geworden und war nun – Shirona. Shirona besaß jetzt keinen Körper aus dünnem Metall mehr, sondern einen menschlichen. Den einer Frau. Aber Shirona war weit davon entfernt, ein Mensch zu sein. Auch wenn sie aus sich selbst heraus einen menschlichen Körper nachgebildet hatte, blieb sie doch etwas Unbegreifliches – ein Wesen aus reiner Magie nämlich. Aber Shirona fand diesen Körper mit dem wallenden, blonden Haar, der schlanken Gestalt mit den wogenden Brüsten und dem roten Overall, der wie eine zweite Haut um diese Gestalt lag, vorteilhaft. Denn ab jetzt würde sie sich dauerhaft in dieser Welt aufhalten, in der die herrschende Spezies Mensch hieß. Mit ihrer menschlichen Erscheinung würde sie sich unerkannt unter den Menschen bewegen können. Das wusste sie, denn sie hatte den Körper schon öfters benutzt, nachdem es ihr gelungen war, das sechste Amulett zum ersten Mal zu verlassen. Doch bis heute war sie nicht stark genug gewesen, um die Inkarnation außerhalb des Amuletts dauerhaft auf-
recht zu erhalten. Immer wieder hatte ihr Bewusstsein deswegen zurückkehren müssen. Doch nun würde der sechste Stern von Myrrian-ey-Llyrana sie niemals wieder an sich ketten. Sie war frei! Nein, noch nicht ganz. Nicht, bevor das siebte Amulett zerstört war. Ihre diesbezüglichen Versuche waren noch nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Aber die Zeit der Zaghaftigkeit und des Zauderns war vorbei. Diesem überlebenswichtigen Vorgang würde nun ihr ganzer Einsatz gelten. Shirona stand vor den hoch aufragenden Mauern des Châteaus. Langsam bückte sie sich und hob das sechste Amulett auf, das von Lucifuge Rofocale unbemerkt zu Boden gefallen war, in dem Moment, als der wahnsinnige Satan sich in die Lüfte erhoben hatte, um Château Montagne anzugreifen. Er hatte auch nicht gemerkt, dass Shirona geworden war. Obwohl er durch den vermehrten Einsatz der ersten fünf Amulette entscheidenden Anteil daran besaß. Nun, eigentlich hätte Shirona dem Erzdämon dankbar sein müssen. Denn dermaßen viel Energie, wie er in der letzten Zeit über die fünf Amulette freigesetzt hatte, war nie zuvor aktiv geworden. Das hatte den Prozess des Werdens in seiner letzten Phase noch gewaltig beschleunigt und Shirona war viel früher als eigentlich geplant der Enge des sechsten Amuletts entwichen, das sie immer nur als Gefängnis angesehen hatte – obwohl sie daraus entstanden war. Shirona hob den Kopf und strich sich durch das Haar. Dann strichen ihre Fingerkuppen zärtlich, fast behutsam, über die handtellergroße Silberscheibe. Mit raschen Bewegungen ihrer Finger wob sie ein magisches Muster. Eine Halskette entstand. Sie hakte das Amulett daran fest. Es hing jetzt wie ein Schmuckstück zwischen ihren Brüsten. Shirona erinnerte sich, dass auch Zamorra sein Amulett so zu tragen pflegte. Das siebte! Das verhasste! Das, das sie unbedingt zerstören musste! Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie es schon einmal versucht, als sie für kurze Zeit in diesem Körper über die Welt gewandelt war. Sie hatte das siebte Amulett zerbrochen, das Haupt des Siebengestirns von Myrrian-ey-Llyrana.
Das Haupt! Pah. Sie selbst war die Krone der Schöpfung, nichts durfte über ihr stehen. Deswegen musste das siebte Amulett weg. Leider hatte sie es im ersten Anlauf nicht geschafft, denn die Bruchteile hatten sich wieder zusammengefügt. Doch nun war sie viel stärker und würde das Werk jetzt und hier vollenden. »Nicht mehr lange«, flüsterte sie. »Nicht mehr lange …« Shirona spürte, dass das siebte Amulett ganz in der Nähe war. Ihr Todfeind. Sie setzte sich in Bewegung, um Château Montagne zu betreten.
Shironas Existenz war keineswegs einmalig. Denn auch im siebten Amulett, das Merlin einst aus einer entarteten Sonne geschaffen hatte, stand ein künstliches Bewusstsein kurz vor der Vollendung. Es nannte sich Taran. Und Taran geriet im Moment ganz schön in Panik. Denn es spürte die nahende Gefahr. Eine zweifache Gefahr. Allerdings beunruhigte ihn Satans Ministerpräsident weitaus weniger als Shirona, die sich nun manifestiert hatte und ebenfalls im Anmarsch war. Taran begann zu rasen. Verzweifelt suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit, wenn er schon keine geeignete Waffe hatte. Aber noch saß er – im Gegensatz zu Shirona – in der Silberscheibe fest. Selber lenken konnte er sie nicht. Also war er Shirona hilflos ausgeliefert. Die Angst in Taran wurde immer größer, je stärker er Shironas Präsenz spürte. Denn mit ihr kam der Tod immer näher. Die Entität des sechsten Amuletts war skrupellos und ging ohne Gnade vor. Shirona würde ohne Bedenken töten, um einzigartig und vor allem erhaben zu bleiben. Denn sie wusste genau, dass sie minderwertiger war als Taran. Nicht umsonst hatte Merlin nach dem sechsten noch das siebte Amulett geschaffen und erst dieses war vollkommen geworden. So war auch nur eines der beiden Bewusstseine, die daraus entstanden waren, vollkommen. Und das war nicht Shirona. Dass dies stimmte, sah Taran schon daran, dass die niederen Instinkte in ihr die Oberhand gewannen, dass sie in der Lage war, um ihres Vorteils willen zu töten. Taran hingegen war anders. Er scheute die Auseinandersetzung und würde deshalb immer versuchen, der Killerin auszuweichen.
Wenn er überhaupt noch die Möglichkeit dazu bekam. Natürlich konnte Shirona selbst das siebte Amulett nicht zerstören, denn als Inkarnation des sechsten war sie dazu nicht stark genug. Aber sie hatte den Amulettsammler in der Hand. Der Erzdämon war schon lange nur noch ein Werkzeug, das von Shirona über die Kraft der ersten sechs Amulette benutzt und gelenkt wurde. Ein Glücksfall für sie, denn selbst Lucifuge Rofocale war der geballten Macht der Amulette nicht gewachsen. Aber er war unter Umständen stark genug, um das siebte Amulett zu zerstören. Wenn dem so war, musste ihm das Shirona nur befehlen. Und dann gab es kein Entkommen mehr.
Lucifuge Rofocale stand im Château Montagne. Er hatte die Bastion seines Erzfeindes geknackt! Eigentlich hätte er nun feiern und das ganze Schloss dem Erdboden gleichmachen müssen. Eigentlich hätte er nun Zamorra und Duval, die nur bewusstlos waren, weil der letzte Rest der M-Abwehr den magischen Angriff des Erzdämons abgeschwächt hatte, töten und deren Seelen genüsslich schlürfen müssen. Es interessierte ihn nicht. Er war im Moment einzig und allein auf den Verbleib des siebten Amuletts fixiert. Dass hier noch immer Shironas Befehl nachwirkte, weil eigentlich sie es war, die so schnell wie möglich an Merlins Stern* herankommen wollte, begriff er nicht. Für ihn war sein Handeln ganz natürlich. Der Erzdämon witterte. Schon nach kurzer Zeit wusste er, wo er fündig werden würde. Die riesige Teufelsgestalt stampfte und flog die Haupttreppe hoch und dann den Korridor entlang, wobei sie beträchtliche Verwüstungen anrichtete. Schließlich stand er vor der Tür des Raumes, in dem das Amulett auf ihn wartete. Lucifuge Rofocale lachte wild. Erneut sprühten Flammen aus seinem Rachen und ließen die Holzvertäfelung im Flammen aufgehen. Es kümmerte ihn nicht. Sollte das Château doch brennen! Satans Ministerpräsident ging einfach durch die Tür. Als er im Zimmer stand, verharrte er einen Moment in Ehrfurcht. Merlins Stern lag vor ihm auf einem kleinen Tischchen! Verlockend. Zum *Nur das siebte Amulett wird so bezeichnet.
Greifen nah. Er streckte die riesige Klaue aus, um das Amulett an sich zu bringen …
»Die Finger weg!«, rief eine herrische Stimme. Satans Ministerpräsident hielt inne. Langsam wandte er sich um. Hinter ihm war eine Bewegung. Noch jemand betrat das Zimmer, nachdem diejenige mit einer Handbewegung die lodernden Flammen gelöscht hatte. Nun erstarrte der Dämon vollends. Er sah die blonde Frau vor sich, die er aus Visionen kannte und die irgendwie mit dem sechsten Amulett in Verbindung stehen musste. Nun trug sie es vor der Brust. Lucifuge Rofocale registrierte es mit Bestürzung. Wann hatte er es verloren? Sekundenlang durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass er nicht mehr Herr über seine Sinne und seine Umwelt war. Und er registrierte, dass nicht die blonde Frau es gewesen war, die ihn gerade angesprochen hatte. Im Zimmer gab es noch ein drittes Wesen! Ein Mann? Er musste sich im Bereich der Tür befunden haben. Der Dämon hatte ihn, da er ganz auf das Amulett fixiert war, einfach übersehen. Aber war er wirklich ein Mensch? Eher nicht. Denn er erschien dem Höllenherrscher auf seltsame Weise unscharf, eher wie ein Geist. Oder ein magisches Wesen, das materialisieren wollte, es aber nicht vollständig konnte. Nein. Es war weder noch. Es war irgendetwas, das er nicht begreifen konnte, dessen Strukturen ihm völlig fremd waren. »Wer bist du?«, murmelte er. »Du darfst mich Taran nennen«, sagte der Ätherische mit einer Stimme, die weder männlich noch weiblich klang. »Und du darfst unverzüglich die Flügel ausbreiten und von hier verschwinden. Aber bitte ohne das Amulett. Ansonsten werde ich dir diese Flügel stutzen.« »Verdammt«, mischte sich nun die Frau ein. »Du nimmst den Mund ziemlich voll, mein Freund.« »Nenn mich bloß nicht deinen Freund«, blaffte Taran. »Freunde waren wir nie. Und jetzt geht – beide.« Er hoffte, dass dieses zur Schau stellen von Souveränität und Lässigkeit funktionierte, denn
dahinter verbarg sich die pure Angst vor Shirona. »Ihr kennt euch?«, fragte der Dämon misstrauisch. Er machte einen weiteren Schritt auf Merlins Stern zu, konnte ihn jetzt mit seinen Krallen fast berühren. »Lass es liegen«, warnte Taran noch einmal. »Das ist besser für dich, Schwefelmann.« Aber Lucifuge Rofocale konnte es nicht liegen lassen. Nun hatte ihn bereits wieder die Amulettsucht im Griff. Und Shironas Befehl, Merlins Stern an sich zu bringen. Bevor Shirona, die sich gerade eben bewegte, handeln konnte, schlug er mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht zu.
Es kam zu einer Art Explosion. Von einem Moment zum anderen war das Zimmer plötzlich ein einziger Feuerball. Der Tisch, auf dem Merlins Stern lag, zerfiel zu Asche, während der Erzdämon das siebte Amulett mit seiner Klauenhand umschloss. Dann verließ er blitzschnell das Zimmer – und das Château. Shirona schrie. Und Taran hob inmitten des flammenden Inernos die Hände. Er saugte das Feuer in sich auf. Mit seinem ganzen Körper! Es verschwand regelrecht in der ätherischen Gestalt mit den hüftlangen, silbernen Haaren. Das Feuer erlosch innerhalb von Sekunden. Nur noch winzige Flämmchen tanzten über Tarans Hände. Shirona starrte ihn an. »Du hast es also doch geschafft«, zischte sie hasserfüllt. »Aber vielleicht … lässt es sich noch nachträglich ändern. Du scheinst nicht gerade sehr materiell geworden zu sein.« Tarans Furcht steigerte sich, aber auch jetzt zeigte er sie nicht. Gewiss, sie hatte Recht, er musste ja nur auf seine Hände und Arme starren. Andererseits, als er durch die enormen Kräfte, von seiner Panik freigesetzt, förmlich aus Merlins Stern heraus geschleudert worden war, war er noch wesentlich durchscheinender gewesen. Das magische Feuer hatte ihn materieller werden lassen – ohne dass er nun völlig existent erschien. Ich bin noch nicht so weit. Es ist viel zu schnell gegangen … Es gab keine Möglichkeit, ihr auszuweichen. Früher hatte er es einfach durch »Abschalten« von Merlins Stern versucht, eine Fähigkeit,
die neben ihm nur noch der finstere Leonardo de Montagne, Zamorras Vorfahr und früherer Besitzer des siebten Amuletts, beherrscht hatte. Und Taran hatte dem Meister des Übersinnlichen sogar mit dauerhafter Verweigerung gedroht, sollte er ihn noch einmal in die Nähe Shironas bringen. Aber das war nun vorbei. Beide waren sie stofflich geworden und konnten nicht mehr in ihre Silberscheiben zurück – selbst wenn sie es gewollt hätten. »Ich kann deine Angst riechen.« Shirona lachte höhnisch. »Kennst du die alte Prophezeiung auch? Die Macht der sechs Amulette bricht die Macht des siebten.« Langsam näherte sie sich ihm. Der Raum, der Taran noch blieb, wurde immer enger. Shirona führte den Erstschlag. Plötzlich fühlte sich Taran von einer gewaltigen unsichtbaren Kraft gepackt. Von einer Magie, die seiner verwandt schien, die aber dennoch versuchte, ihn zu durchdringen, ihn zu assimilieren, denn er bestand, wie Shirona auch, aus nichts anderem als manifestierter Magie, in der irgendwann ein Bewusstsein erwacht war. Und das war, wie fast jedes Bewusstsein, mit starken Überlebensinstinkten ausgestattet. Taran schlug zurück! Und spürte sofort, dass er Shirona gar nicht so unterlegen war, wie er befürchtet hatte.
Merlin schrak zusammen, denn er spürte das Unbegreifliche. Was passierte mit den Amuletten? Bekämpften sie sich etwa? Nein. Es mussten die beiden ungeheuerlichen Wesen sein, die im sechsten und siebten Amulett entstanden waren. Warum das so war, entzog sich seinem Begreifen. Ich muss nach Château Montagne. Sofort. Retten, was noch zu retten ist. Shirona darf Taran nicht umbringen, die Amulette dürfen sich nicht bekämpfen … Merlin erreichte Château Montagne kurz nachdem Zamorra und Nicole wieder zu Bewusstsein gekommen waren. »Du hier?«, fragte der Meister des Übersinnlichen verblüfft. »Was bedeutet das?«
»Wo ist Lucifuge Rofocale?«, fragte Nicole und versuchte, ihr zerknittertes Kleid wieder gerade zu streichen. Der Zauberer von Avalon legte den Kopf leicht schräg. »Er ist wieder fort. Nicht mehr hier. Aber die beiden anderen. Nein, nicht, Shirona«, keuchte er plötzlich. »Ich kann es nicht mehr verhindern. Es ist zu spät.« Es war Zamorra, als sinke Merlin in diesem Moment regelrecht in sich zusammen, als resigniere er völlig. Verwirrung stand plötzlich in den Augen des Weißhaarigen. »Zu spät wofür?« »Was?« »Zu spät wofür?«, fragte Zamorra nochmals eindringlich. »Um zu verhindern, dass Shirona Taran tötet«, flüsterte der uralte Mann, der erst in diesem Moment wieder zu sich gekommen war. »Vielleicht sollte auch ich endlich sterben«, fuhr er nun noch kaum vernehmbar fort. »Es ist zu viel, all das. Ich kann es nicht mehr länger kontrollieren, es entgleitet mir. Ich bin meiner Aufgabe nicht mehr gewachsen, es sollte ein Ende haben.« Zamorras Augen wurden schmal. Wurde Merlin nicht auf seltsame Weise durchscheinend? Löste er sich auf? Starb er etwa tatsächlich? »Scheiße!«, schrie der Professor. Da sich Merlin aber nicht weiter auflöste, sondern einfach niedersank, war er erstmal beruhigt. Aber wo konnten sich Shirona und Taran befinden? »Im kleinen Kaminzimmer«, schlug Nicole auf Zamorras dementsprechende Frage vor. »Dort hast du das Amulett liegen lassen.« Das klang logisch. Shirona, diese rätselhafte Frau, kannte er in der Zwischenzeit. Sie hatten bereits das Missvergnügen gehabt. Denn Shirona hatte versucht, Merlins Stern zu zerstören. Also war das nicht der schlechteste Anhaltspunkt. Zusammen mit Nicole stürmte Zamorra ins Hauptgebäude. Seine Gedanken überschlugen sich. Wer war Taran? Bisher hatte er diesen Namen noch nicht gehört. Trotzdem stieg eine dumpfe Ahnung in ihm auf. War damit dieses seltsame Amulettbewusstsein gemeint, das sich in Merlins Stern entwickelte? Gleich darauf standen sie vor dem Kaminzimmer. Der E-Blaster flog Nicole förmlich in die Hand. Mit einem Fingerdruck schaltete
sie ihn von »Laser-Modus« auf »Betäubung« um. Zamorra hieb derweil auf die Klinke, stieß die Tür auf und hechtete ins Innere des Kaminzimmers. Über ihn hinweg löste Nicole die Strahlwaffe aus dem Arsenal der Dynastie der Ewigen aus. Ein flirrender, bläulicher Schockstrahl raste in den Raum, verästelte sich zu einem Netz, erzielte aber keine Wirkung – obwohl sich im völlig zerstörten Zimmer tatsächlich zwei Wesen gegenüber standen! Shirona. Und ein halb durchsichtiges Etwas, das wie eine Schwarzweißprojektion wirkte. Taran? Keines der beiden Wesen reagierte auch nur im Geringsten auf Zamorras und Nicoles Anwesenheit. Sie standen sich in völliger Erstarrung gegenüber, irgendwie zeitlos, wie zwei ungleiche Statuen. Dass sie das nicht waren, zeigte das energetische Gewitter, das zwischen ihnen tobte. Die magischen Entladungen prallten allerdings nicht aufeinander und verursachten dabei ein Gewitter an zuckenden Strahlen, sie wirkten eher wie eine flirrende Brücke. Nicole schaltete ihre Waffe auf Laser um. »Sofort aufhören!«, schrie sie. Nichts passierte. Zur Warnung feuerte sie den Blaster ab. Aber selbst auf den nadelfeinen, blassroten Strahl reagierten die Kämpfenden nicht. »Sie bemerken uns überhaupt nicht«, murmelte Zamorra verwundert. »Es ist, als würden wir für sie nicht existieren.« »Sie bringen sich gegenseitig um. Wir müssen was tun, um sie daran zu hindern.« Nicole trat vor, bevor Zamorra sie aufhalten konnte, schritt auf Shirona zu, berührte sie. Wie elektrisiert zuckte sie zurück. Zamorra glaubte Funken sprühen zu sehen. Irritiert betrachtete Nicole ihre Hand. »Verletzt?« Sie schüttelte den Kopf. Hilflos standen sie da und beobachteten das seltsame Geschehen.
Taran hatte Shirona schon immer gefürchtet. Sie war ein Amulettwesen wie er, gewiss. Aber er hatte sich entwickeln müssen, ohne auf gespiegelte Energien zurückgreifen zu können. Zwar war das siebte Amulett das mächtigste. Aber Shirona hatte sich durch die
Möglichkeit der Spiegelung schneller entwickelt. Und weil sie fühlte, dass sie momentan noch einen Kräftevorsprung besaß, hatte sie bisher alles daran gesetzt, das siebte Amulett zu vernichten, um einzigartig zu bleiben. Doch nun konzentrierten sich ihre Bemühungen auf ihn. Einzigartig, das waren sie doch beide. Sie anders als er. Deswegen verstand Taran sie nicht. War das überhaupt der wahre Grund? Es war egal. Im Moment jedenfalls. Jetzt galt es, sich dagegenzustemmen. Shirona hatte schon früher einen solch seltsamen Körper gebildet und darin agiert. Er jedoch besaß noch keinerlei derartige Erfahrungen. Das war ein zusätzlicher Vorteil für sie. Aber war es das wirklich? Shirona griff ihn mit aller Macht an. Aber sie verausgabte sich an seinem Widerstand, denn sie verpulverte weitaus mehr Kraft, ihn zu brechen, als Taran für seine Verteidigung aufwenden musste. Begriff sie nicht, dass sie sich schlussendlich selbst tötete, wenn sie ihn ermordete? Oder ging ihr Hass so weit, dass sie selbst die Zerstörung ihrer eigenen Existenz dafür in Kauf nahm? Dann musste sie wahnsinnig sein. Taran sah, wie die schwarze Sonne loderte.
Shirona glaubte zu verstehen, dass sie Taran deswegen nicht vernichten konnte, weil ihr die Unterstützung der ersten fünf Amulette fehlte. Sechs zusammen würden das siebte und damit Taran bezwingen, nicht das sechste allein. So hielt er immer noch stand, obwohl er um ein Vielfaches schwächer war als sie. Aber im gleichen Maße, in dem sie ihn niederzwang, das spürte sie nun deutlich, verlor sie selbst an Kraft. Nein, nicht in gleichem Maße. Viel mehr sogar. Noch war sie stärker als Taran, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis diese Kraftverhältnisse zu seinen Gunsten kippten. Sie musste aufhören, solange sie es noch konnte. Jetzt und hier war es unmöglich, Taran auszuschalten. Vielleicht würde sich eine andere Gelegenheit ergeben. Vielleicht konnte sie ihn in eine Falle locken. Aber dazu musste sie mehr über ihn erfahren. Denn sie war einmalig und sie wollte einmalig bleiben. Irgendwo, tief in ihrem Unterbewusstsein, signalisierte ihr allerdings etwas, dass ihr Verlan-
gen, Taran zu töten, völlig irrational war. Aber sie konnte sich diesem Drang nicht widersetzen. Im Moment allerdings schon. Shirona beendete den Kampf.
4. Merlins Fehler 466. Jahr der neuen Zeitrechnung »Uther Pendragon, was tust du?«, schrie Merlin auf. In den ewigkeitsjungen Augen des Zauberers funkelte es empört. Der Alte, der eine weiße, kapuzenlose Kutte mit breitem Gürtel samt goldener, darin steckender Sichel und flammendrotem Umhang trug, starrte in die riesige Bildkugel. Sie schwebte über einem Sockel genau im Zentrum des gigantischen Saals, dessen Wände aus Kristallen aller Größen und Formen bestanden. Der Saal des Wissens lag exakt im Zentrum von Merlins unsichtbarer Burg Caermardhin und war einer der gigantischsten Wissensspeicher in diesem Teil des Multiversums. Fast alles, was Merlin wissen musste, fand er in den Kristallen. Aber eben nur fast alles. So verriet ihm der Saal des Wissens nicht, wo sich das vierte Amulett momentan befand. Das war äußerst bedauerlich, denn Merlin benötigte es dringend. Sicher sagen konnte der Zauberer nur, dass er das Amulett nicht auf dem blauen Planeten finden würde. Denn in der Bildkugel konnte der Magier jeden Ort, jede Person und jeden Gegenstand auf der Erde beobachten. Ein einfacher Gedankenbefehl genügte, um die magische Kugel auf das Gewünschte auszurichten. Weil sie aber seinen Wunsch, ihm das vierte Amulett zu zeigen, hartnäckig mit weißem Flimmern beantwortete, musste nun Uther Pendragon selbst ran, um sich seiner ersten großen Bewährungsprobe zu stellen. Merlin hatte den Feldherrn des britannischen Großkönigs Ambrosius auserwählt, Anführer der zweiten Tafelrunde zu sein. Uther war zwar ein Wüstling, in dessen Nähe sich keine Frau sicher fühlen durfte, aber er war auch intelligent, mutig und mit einem inzwischen großen Wissen um magische Zusammenhänge gesegnet.
Denn als einer der wenigen christlichen Führer tat er die von den keltischen Priesterinnen praktizierte Avalon-Magie nicht als heidnischen Humbug ab, sondern versuchte, sie in den christlichen Glauben zu integrieren und sie im verzweifelten Abwehrkampf gegen die in Britannien einfallenden Sachsen, Pikten, Jüten und andere wilde Völker zu nutzen. Wenn Ambrosius demnächst starb, denn er war schwer krank, würde Uther hoffentlich zum nächsten Großkönig gewählt werden. Denn er war am ehesten der Mann, unter dem sich die britannischen Königreiche und Herzogtümer zusammenschlossen, um sich vereint gegen die immer massiver anrennenden Feinde zu verteidigen. Merlin würde die Wahl Pendragons unterstützen, denn es machte vieles einfacher. Waren die Sachsen erst besiegt, konnte Uther die Kraft des vereinten britannischen Reiches nutzen, um sich den finsteren Mächten entgegenzustemmen, deren Macht stündlich wuchs. Die Dämonischen reckten sogar schon ganz unverhüllt ihre hässlichen Häupter empor, auch wenn Merlin nach wie vor rätselte, warum dies so war, da er die Prophezeiung des Boten nicht verstand. Auf jeden Fall war der Ansturm aller Feinde zusammengenommen nicht mehr als ein laues Lüftchen inmitten eines brüllenden Sturms gegen die ungeheure Bedrohung, die gerade aus den Schwefelklüften erwuchs. Und um dieser herkulischen Aufgabe gerecht zu werden, war es unabdingbar nötig, dass Uther Pendragon das Amulett bekam, das Merlin einst für dessen gescheiterten Vorgänger Jesus von Nazareth geschaffen hatte. Pontius Pilatus hatte es dem verratenen und gefangen gesetzten Jesus abgenommen und seither verlor sich die Spur der mächtigen magischen Waffe im Strudel der Zeiten. Möglicherweise hatte Asmodis das Amulett an sich und mit in die Schwefelklüfte genommen. Denn Merlin wusste, dass sein dunkler Bruder entscheidend an den Intrigen beteiligt gewesen war, die zum Tod seines ersten Auserwählten geführt hatten. Über 400 Jahre hatte Merlin seine Wunden geleckt, doch nun brannte ihm die Zeit auf den Nägeln. Er musste dringend den nächsten Versuch unternehmen, eine mächtige weißmagische Bastion gegen das Böse zu gründen. Ihm war gar keine Wahl geblieben, als sich nach einem geeigneten Führer für die zweite Tafelrunde
umzuschauen, auch wenn er sich gerne noch etwas mehr Zeit gelassen hätte. Der Bote war erneut aufgetaucht und hatte ihn nachdrücklich an seine Pflicht erinnert. Aber mit Uther Pendragon, dem Kopf des Drachen, schien er eine durchaus zufriedenstellende Wahl getroffen zu haben. Zumal ihm der blonde Ritter mit den grauen Augen sofort die ewige Treue geschworen hatte. Merlin hatte den Pendragon mit einem Spezialauftrag bedacht. »Sieh hier, Uther, ich überlasse dir hiermit zwei Ringe, die so kostbar sind, dass du sie wie deinen Augapfel hüten sollst. Der mit dem blau funkelnden Stein ist ein Ring, mit dem du in die Zukunft reisen kannst, der mit dem rot funkelnden Stein führt dich in die Vergangenheit. Nehme den Ring mit dem roten Stein und reise damit in jene Tage, als die Leiden Jesu Christi begannen, nachdem er von den Römern verhaftet worden war. Begib dich in die Nähe des Pontius Pilatus und schaue, was aus dem Amulett wird, das Jesus bei sich trug. Nimm aber das Amulett, so du es findest, auf keinen Fall an dich, sondern begnüge dich mit dem Wissen, wer es in seinem Besitz hat. Es ist dir nicht bestimmt, das Amulett in der Vergangenheit zu erhalten, sondern erst in der Gegenwart. Die Zeiten könnten sonst durcheinander kommen. Aus diesem Grunde musst du auch Folgendes beachten: Wenn du mit dem roten Ring in die Vergangenheit reist, dann benutze auch ihn, um wieder hierher zurück zu kommen. Nicht aber den blauen. Und all das, was du in die Vergangenheit mitnimmst, musst du ebenfalls wieder in die Gegenwart zurückbringen. Andererseits darfst du nichts aus der Vergangenheit in die Gegenwart mitnehmen. Das gilt für alle Dinge, nicht nur für das Amulett.« Und nun war Uther Pendragon wieder aus der Vergangenheit aufgetaucht, wie ihm die Bildkugel zeigte. In den Gewölben seiner Burg Camelot, genau an dem Punkt, an dem er seine abenteuerliche Reise angetreten hatte. So weit so gut. Aber der Pendragon hatte eindeutig den Zukunftsring für die Rückreise benutzt! Merlin sah es am intensiven Funkeln des blauen Steins. Zudem trug er römischen Goldschmuck um den Hals, den er beim Antritt seiner Reise noch nicht besessen hatte. Dafür fehlte ein Teil der knielangen, römischen
Toga, mit der Uther Pendragon ins Ungewisse gestartet war. Merlin bedauerte es in diesem Moment bitter, dass er den Zeitreisenden in seinem Auftrag immer nur beide Ringe gemeinsam aushändigen konnte, denn einer alleine funktionierte nicht. Der andere musste sich immer in der Nähe des gerade aktiven befinden. Der Zauberer versetzte sich in einen kleinen, unscheinbaren Raum irgendwo in den Randbereichen Caermardhins. Er nannte ihn Sternenkammer. Hätte ein Unbefugter einen Blick hineingeworfen, er hätte nichts als kahle Steinwände gesehen, sicher keinen zweiten Blick mehr riskiert und sich über den angeblichen Namensunsinn gewundert. Dabei war dieser Raum tatsächlich der Dreh- und Angelpunkt von Merlins gesamtem Machtbereich. Denn in ihm schnitten sich all jene Dimensionen des Multiversums, in die die Burg hineingebaut und für die Merlin auf Geheiß des Wächters der Schicksalswaage verantwortlich war. Merlin stellte sich in den Mittelpunkt der Sternenkammer und murmelte seinen Machtspruch. »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé«, kam es über seine schmalen Lippen. Sofort verschwamm die Umgebung und machte einem unglaublichen Funkeln vor tiefster Schwärze Platz, einem Funkeln, das selbst Merlin jedes Mal aufs Neue in andächtiges Staunen versetzte. Das Multiversum! Doch der Zauberer nahm mehr als nur die vordergründige Schönheit wahr. Er sah die inneren Strukturen, aus denen diese unglaubliche Schöpfung bestand. Und er bemerkte etwas, das ihm die Sorgenfalten auf die Stirn trieb. Dabei hatte er genau das erwartet und doch so sehr gehofft, dass es nicht eintreten würde. Seine Hoffnung wurde deswegen nicht allzu sehr enttäuscht. Merlin sah, wie die Raumzeitstruktur aufriss, sich erweiterte und ein Stück tief schwarzes, leeres Universum schuf. Damit hätte er ja noch leben können, doch dabei blieb es nicht. In der Schwärze tauchten plötzlich die Konturen einer Sonne auf. Zart wie ein durchscheinender Schleier, aber kräftig pulsierend und stetig massiver werdend. Es wirkte, als stärke jeder einzelne Puls den Energiehaushalt der materialisierenden Feuerkugel. Sie war ein genaues Ebenbild des gelben Sterns, um den die Erde kreiste. Der Herr von Caermardhin wusste es genau. Zu oft
hatte er ähnliche Vorgänge bereits beobachtet. Die Sonne wirkte nun innerhalb der Schwärze relativ fest und voll. Mächtige Protuberanzen schossen bereits in den umgebenden Raum. Nur ein unbegreifliches Wesen wie Merlin konnte feststellen, dass die Sonne noch lange nicht vollständig materialisiert war und Tendenzen zeigte, wieder im Nichts zu verschwinden, was sie durch ständiges Pulsieren, das wie das Schlagen eines Herzens wirkte, anzeigte. Im gleichen Zustand befand sich auch die neue Erde mitsamt den anderen Planeten und Monden, die auf identische Art und Weise erschaffen worden waren. So instabil wie Sonne und Planet zeigte sich im Übrigen der gesamte Minikosmos, in dem nun Milliarden weitere Sonnen und Planeten materialisierten. Dem Wächter der Schicksalswaage sei Dank besaß das neu entstandene Gebilde, das Merlin Spiegelwelt nannte, auch wenn es sich eher um ein Spiegeluniversum handelte, einen entropischen Wert von etwa 67 Prozent. Der Zauberer atmete auf. Er hatte schon befürchtet, dass erneut eine Spiegelwelt wie Myrrian-ey-Llyrana entstand. Die besaß nach wie vor, obwohl sie schon sehr alt war, einen durchschnittlichen Entropiewert von 52 Prozent. Das war zu viel, um sich wieder zu verflüchtigen, aber auch zu wenig, um dauerhaft stabil zu werden. Denn Energien wandelten ihren Zustand ständig. So entstanden Dimensionen oder Universen aus einer zuvor völlig anderen Energieform heraus. Und nur dann, wenn die Energiemenge, aus der sich diese kosmischen Gebilde entwickelten, groß genug war, konnten sie sich stabilisieren und ihre Existenz dadurch wahrscheinlich machen. Wenn das benötigte Energievolumen auf Dauer aber nicht aufgebracht werden konnte, bildete sich die neue Dimension wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurück, sie verflüchtigte sich also bildlich gesprochen im Nichts. Merlin befürchtete, dass gerade Myrrian-ey-Llyrana deswegen ein höchst gefährlicher Faktor für das Raumzeitgefüge in diesem Abschnitt des Multiversums war. Denn sein Schwebezustand sorgte anhaltend für eine dauerhafte Instabilität des gesamten Raumabschnitts, was rund 100.000 Spiegelwelten betraf. Wenn es dumm lief, konnte deswegen schon das kleinste Raumbeben für eine Katastrophe unabsehbaren Ausmaßes sorgen. Ich muss mir dringend etwas einfallen lassen, um diesen fürchterlichen
Zustand wieder zu beheben. Wenn ich nur wüsste, was … Merlin dachte nur ungern daran, dass er für die allermeisten der neu entstandenen Spiegelwelten höchstpersönlich verantwortlich war. Nach dem Abschied aus der Hölle hatte er als Diener des Wächters der Schicksalswaage zahlreiche Zeitreisen unternommen, um fatale Entwicklungen bereits an der Wurzel zu korrigieren, sie also erst gar nicht eintreten zu lassen. Dazu hatte er sich die Zeitringe geschaffen. Mit diesen war er fröhlich in den Zeitabläufen vieler Welten herumgereist und hatte unbeabsichtigt jede Menge offener Zeitkreise hinterlassen. Erst viel später war ihm aufgefallen, was er damit anrichtete. Die Energie, die in diesen offenen Zeitkreisen wirkte, wandelte sich in einen jeweils neuen Minikosmos um, der dem Vorbild, aus dem er stammte, weitgehend glich. Diese Spiegelung galt auch für die meisten Lebewesen, die den Ausgangskosmos bevölkerten. Und da sich die Erde als größter Brennpunkt herausgestellt hatte, existierten von ihr auch die meisten Spiegelwelten. Merlin hatte zusehen müssen, wie sich Spiegelwelten zuerst stabilisiert hatten und dann wieder mit all ihren Lebewesen vergangen waren. Dank seines Leichtsinns war er also ganz direkt für furchtbare Dramen gigantischen Ausmaßes verantwortlich gewesen. Und war es noch immer, denn bis heute konnten anscheinend stabile Spiegelwelten plötzlich wieder im Nichts vergehen. Merlin hatte reagiert und die Zeitringe magisch so gepolt, dass sich die Zeitkreise wieder schlossen, wenn der Zeitreisende immer nur einen Ring verwendete. Der Nachteil bestand darin, dass man mit dem einen Ring, den er mit einem roten Stein versah, im ersten Schritt nur in Richtung Vergangenheit reisen konnte, mit dem anderen, blauen, nur in Richtung Zukunft. Erst wenn sich Zeitkreise geöffnet hatten, konnten sich die Ringe daran orientieren und nun auch den entgegengesetzten Weg einschlagen, um sie wieder zu schließen. Das erforderte allerdings die strengste Disziplin der Reisenden, an die sich nicht immer alle hielten. Uther Pendragon war so ein Kandidat! Merlin verließ die Sternenkammer wieder und materialisierte in den Kerkern von Camelot. Der Ritter, der sich gerade den blauen Ring vom Finger streifte, fuhr herum, als er den Luftzug spürte. Sei-
ne Hand fuhr zum Schwert, das er am Gürtel hängen hatte. »Ah, Ihr seid es, Merlin«, seufzte er erleichtert. Sein nach römischer Art glatt rasiertes Gesicht blieb ernst. Es war von den Strapazen seiner Reise gezeichnet. Dicke Tränensäcke unter den rot unterlaufenen Augen kündeten davon. »Wie konntest du entgegen unserer Abmachung den blauen Ring zur Rückreise benutzen, Uther Pendragon«, zischte Merlin ohne Gruß. »Ich dachte, dass ich mich besser auf dich verlassen könnte. Nun hast du mit dem roten Ring einen Zeitkreis geöffnet und mit dem blauen einen zweiten, die du jeweils offen hinterlassen hast. Das ist ein Spiel mit dem Feuer.« Der blonde Ritter fiel auf die Knie und neigte den Kopf. »Verzeiht mir, edler Merlin, aber ich war in Eile. Ich hatte herausgefunden, dass ein römischer Senator namens Pluton das Amulett von Pontius Pilatus erbeten und wohl mit nach Rom genommen hatte. Doch durch mein Interesse fiel ich auf und plötzlich wollten mich Legionäre verhaften, als ich gerade einem Weibe beilag. Ich nehme an, dass Pilatus dies auf Geheiß des Senators Pluton tat, denn die beiden steckten wohl unter einer Decke. Die Soldaten ließen mich in meine Toga steigen und so kam ich in die Nähe meiner Ausrüstung. Ich lieferte ihnen einen leidenschaftlichen Kampf, musste dann aber doch in aller Eile flüchten, um meinen Kopf zu retten, denn schließlich verlangt Ihr Nachricht von mir, edler Merlin. In der Eile konnte ich mich weder von dem Schmuck trennen, den das Weib mir umgehängt hatte, noch besaß ich die Zeit, den versehentlich ergriffenen blauen Zeitring gegen den roten auszutauschen. Verzeiht Eurem unwürdigen Diener, der auf diese schändliche Art und Weise versagt hat. Wenn Ihr wollt, werde ich mich umgehend vom Burgsöller oder in mein Schwert stürzen.« »Nein, ich will es nicht. Du hast richtig gehandelt und so verzeihe ich dir.« Merlin war wieder einigermaßen besänftigt, denn die Geschichte hörte sich plausibel an. Pluton also. Das machte Sinn. Asmodis war in diese Geschichte verstrickt und somit war sicher auch sein Berater Pluton nicht weit. Also musste er das vierte Amulett jetzt wie bereits vermutet in der Hölle suchen. Dazu hatte er weder Zeit noch Lust, denn das war
selbst für ihn nur äußerst schwierig zu bewerkstelligen, wenn auch kein Ding der Unmöglichkeit. Aber die Suche würde Zeit kosten und die besaß er momentan nicht. »Du hörst wieder von mir.« Merlin verschwand grußlos. Nun, da meine ehemaligen Freunde aus den Schwefelklüften im Besitz des vierten Amuletts sind, bleibt mir nichts anderes übrig, als ein fünftes zu schaffen, das noch stärker und besser sein muss, denn vielleicht wird es das vierte zwingen müssen, wenn Asmodis seine Kräfte nutzt. Ich werde dafür wieder eine Sonne vom Himmel holen müssen. Gebe die Schicksalswaage, dass dies gelingt …
467 – Jahr der neuen Zeitrechnung Uther Pendragon war sich der Wirkung seines Auftrittes wohl bewusst. Absichtlich hatte er abgewartet, bis der Gottesdienst begonnen hatte. Nun schritt der große, breitschultrige, aber dennoch schlanke und sehnige Ritter, um dessen Schultern der dicke, grob gewebte Umhang der Männer aus dem Norden lag, durch den Mittelgang der kleinen Kirche, die aus Strohlehm und Flechtwerk errichtet war. Fünf Soldaten folgten ihm. Neben der ersten Bank, auf der Platz für ihn und sein Gefolge frei gehalten wurde, hielt er inne und entblößte sein Haupt. Mit einem knappen Kopfnicken und ernster Miene begrüßte er Großkönig Aurelius Ambrosianus, der im purpurroten Mantel neben dem Altar saß und die Begrüßung gar nicht bemerkte, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, trübe vor sich hin zu starren. Wahrend der Priester ungerührt weiter die Messe las und die Ministranten mit ihren Weihrauchtöpfen wedelten, fing sich Uther einen verweisenden Blick des Diakons ein. Und er war sicher, dass auch die Führer der anderen britannischen Königreiche hinter ihm sein Tun missbilligten, ob es nun Lot von Orkney, Gorlois, der Herzog von Cornwall oder all die anderen waren. Doch dieser Auftritt war weniger ein Zeichen an sie und die anderen Christen als vielmehr an die Menschen jenes Britanniens, das
immer noch neben dem christlichen her existierte – das Britannien der Großen Göttin, der Feen, der Druiden und der heiligen Insel Avalon. Das Land, das Uther Britannien nannte, nannten die Kelten Albion. Albion, diese wunderbare Welt voll Sinnlichkeit, Zauber und Magie lag nun im Sterben, wurde von der nüchternen der Christen immer mehr verdrängt. Aber noch waren Albions Kinder so zahlreich, dass Uther sie unbedingt brauchte, wenn er als neuer Großkönig eine einheitliche Front gegen die Sachsen bilden sollte. Und er benötigte die Priesterinnen der Feeninsel, um mit ihrer Hilfe die heimliche Invasion zurückzuschlagen, die neben dem Sachsensturm das Land bedrohte – die der Dämonischen nämlich. Dadurch, dass er zwar zum Gottesdienst ging, aber dessen strenge Regeln missachtete, demonstrierte er Albions Kindern seine Offenheit ihrem Glauben gegenüber. Er wusste, dass Söhne und Töchter der Heiligen Insel anwesend waren. Der einflussreichsten ihrer Töchter würde er hoffentlich nach dem Gottesdienst vorgestellt werden. Uthers Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Als die christliche Gemeinde die Kirche im Herzen Londiniums verließ, stolperte er fast über die Beine des Herzogs von Cornwall. An der Seite des hässlichen, alten Kriegers, dessen Nase so kühn wie die eines Adlers gebogen war, ging eine junge, ausnehmend hübsche Frau mit hüftlangen, dunklen Haaren, die wie ein Vlies über ihren Rücken fielen und mit Apfelblüten geschmückt waren. Den Pendragon durchzuckte es wie ein Blitz, als er in ihre sinnlichen, großen Augen blickte, die voller Unschuld in die Welt zu sehen schienen. Der Ansatz ihrer Brüste, der aus dem fein gewebten rosaroten Kleid drückte, verursachte ihm sofort Spannung zwischen den Beinen. Dich will ich haben, um jeden Preis, dachte er. Gorlois, mit dem zusammen er schon einige Schlachten gegen die Sachsen geschlagen hatte, stellte ihm seine Gemahlin Igraine vor. »So oft habe ich bereits Gutes von Euch gehört, Herzogin«, begrüßte Uther sie galant. »Aber bisher war es mir noch nicht vergönnt, Euch kennen lernen zu dürfen. Es stimmt tatsächlich, was man mir berichtete, wie schön und anmutig an Gestalt Ihr seid.« Igraine verneigte sich höflich, mit einem kleinen Lächeln, während
Uthers Worte und Blicke ein irritiertes Stirnrunzeln bei Gorlois verursachten. Die Führer Britanniens hatten sich auf die Bitte des Aurelius Ambrosianus' hier in Londinium versammelt, um den nächsten Großkönig zu wählen. Denn der schwer kranke Herrscher wollte Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers nehmen. Auch er favorisierte, wie so viele, seinen Feldherrn Uther. Von Merlin wusste der Pendragon, dass auch die Dämonischen Einfluss auf die Wahl nehmen wollten, weswegen sie mit Sicherheit einen oder mehrere Vertreter in der Versammlung platzieren würden. Mit dem zauberkräftigen Amulett, das er vor Halbjahresfrist von seinem Mentor erhalten hatte und das er offen über seiner dunklen römischen Toga trug, sollte er auf Merlins Geheiß hin versuchen, die Schwarzblütigen, die sich hier herumtrieben, aufzuspüren, zu vertreiben oder wenn möglich gar zu eliminieren. Denn der Zauberer von Avalon befürchtete, dass sie sonst Uthers als einigermaßen sicher geltende Wahl verhindern und Lot von Orkney zu Amt und Würden verhelfen würden. Wohl, indem sie Aurelius Ambrosianus auf ihre Seite zogen und ihn in ihrem Sinne beeinflussten. Deswegen hatte Merlin den Pendragon gebeten, sich ständig in der Nähe des Großkönigs aufzuhalten, um ihn nötigenfalls mit dem Amulett zu schützen. Eine zweifellos wichtige Aufgabe, dachte Uther, dem seine Mission in diesem Augenblick in den Kopf kam, aber wie soll ich sie erledigen, wenn ich nicht mehr klar denken kann, da der Druck in meinem Gemächte immer stärker wird? O holde, anbetungswürdige Igraine, ich muss dich besitzen und mich in dir befriedigen, wenn ich je wieder an etwas anderes denken will … »Das Amulett, das Ihr tragt, edler Uther, ist es gegen das Sommerfieber?«, fragte Igraine mit weicher Stimme und lächelte ihn einen Moment scheu an, bevor sie die Blicke senkte. »O nein, Herzogin«, erwiderte er. »Es ist eher eine Waffe gegen das widerlichste Geschmeiß, das wir kennen.« »Die Sachsen?« Uther lachte. »Nein, die meine ich keineswegs.« »Wen auch immer, das Amulett ist schön. Es gefällt mir.« »Wollt Ihr es anfassen?« Er trat nahe an sie heran. Wie wunderbar
ihr Haar duftete! Spätestens jetzt ging Gorlois dazwischen. »Verzeiht, dass ich Euer vertrautes Gespräch unterbrechen muss, aber ich möchte meine Gemahlin dem Großkönig vorstellen.« Lächelnd, aber innerlich enttäuscht sah Uther zu, wie der Herzog von Cornwall seine Frau am Oberarm packte und sie in Richtung Aurelius Ambrosianus' zog, der unter dem großen Kreuz des Priesters Hof hielt. Sein Herz hüpfte, als sich Igraine kurz umdrehte und nach ihm sah. Später gab der Großkönig in den weitläufigen Hallen seiner Burg ein Fest für alle Edelleute. Uther hielt sich von Igraine fern, hatte aber Uriens, den König von Nordwales gebeten, tüchtig mit Gorlois zu zechen, um diesen betrunken zu machen. Uriens, der ohnehin gerne dem Weine zusprach, tat nichts lieber als das. Und so dauerte es nicht lange, bis der Herzog von Cornwall von seiner Gemahlin und einigen Dienern betrunken in seine Räume geleitet wurde. Uthers Rechnung ging auf. Schon kurze Zeit später kehrte Igraine zurück und er lud sie zu einem Spaziergang in die weitläufigen Gärten ein. Lächelnd sagte sie ja. Die Sonne war bereits gesunken und hatte einem milden Sommerabend Platz gemacht. Sie lustwandelten auf den schmalen Wegen zwischen den alten Eichen, den Blumenbeeten und den Büschen. Uther wusste es so einzurichten, dass sie dabei kaum jemandem begegneten. Er sprach mit ihr über den Gott der Christen und die Große Göttin Ceridwen, die die Kinder Albions anriefen und er beeindruckte Igraine durch sein Wissen, ließ aber auch sie zu Wort kommen und tat so, als interessiere es ihn, was ein Weib zu sagen hatte. Neben der Statue eines Bären nahm er plötzlich Igraines Hand, streichelte sie und zog sie an sich. »Ihr seid tatsächlich die schönste und begehrenswerteste Frau, die ich kenne, Herzogin«, flüsterte er heiser. »Ich verzehre mich nach Euch und kann nicht länger warten.« Enttäuschung und leichter Zorn schlich sich in Igraines Gesicht. Sie entwand sich ihm. »Das denkt Ihr also von mir, Uther? Dass ich die Sorte Frau bin, die sich davonstiehlt, um sich mit einem Fremden im Gebüsch zu paaren? Ich muss gestehen, dass Ihr mir gefallt, dass ich Eure Bildung und Eure Rede schätze. Aber ich bin keine
Eurer Lagerdirnen, die sich Euch willig hingibt, wann immer Ihr es wünscht. Man hat mich vor Eurem schlechten Ruf gewarnt, der es einer ehrbaren Frau verbieten sollte, sich auf ein vertrauliches Gespräch mit Euch einzulassen. Ich tat es dennoch und muss sagen, dass Euer schlechter Ruf mehr als gerechtfertigt ist. Ich denke, dass wir uns nicht mehr sehen sollten, Uther Pendragon. Gorlois ist mein Gemahl und ich betrüge ihn nicht.« Sie hielt einen Moment inne. »Ein Fehler war es dennoch nicht, Euch näher kennen zu lernen.« Sie drehte sich abrupt um und ging. Uther Pendragon starrte ihr mit brennenden Augen nach. »Ich will dich und ich bekomme dich, kleine keltische Hexe«, flüsterte er. Am nächsten Tag kam es zu einem fürchterlichen Streit zwischen Igraine und ihrem eifersüchtigen Ehemann. Gorlois war berichtet worden, dass sie mit Uther in den Gärten verschwunden war und der fanatische Christ beschuldigte sie nun des Ehebruchs, egal, mit welchen Worten sie sich auch immer verteidigte. Nachdem er sie mehrere Male geschlagen hatte, schickte er sie in Begleitung ihres Gefolges nach Cornwall zurück. Obwohl Uther Pendragon glaubte, in König Bendigreid Vran einen Dämon auszumachen, weil sich sein Amulett in dessen Nähe leicht erwärmte, ging er diesem ungeheuerlichen Verdacht nicht nach. Er hatte nur noch Igraine im Kopf. Zu seinem Bedauern musste er am nächsten Tag noch einige Gespräche führen, ohne dass er wirklich bei der Sache gewesen wäre. Frühabends ließ er dann sein Pferd satteln und ritt hinter Igraine her. Aber er erreichte sie erst in Gorlois' riesiger Burg Tintagel, die auf steilen Küstenfelsen direkt an der cornischen Küste lag. Zwischen den Felsen nahm Uther das Amulett Merlins in die Hand und verschob ein paar Hieroglyphen des äußeren Kreises. Dazu murmelte er einen Zauber. Schlagartig veränderte sich sein Aussehen. Herzog Gorlois stand plötzlich zwischen den Steinen! Uther stieg zum Meer hinab und betrachtete in den ruhigen Wassern einer kleinen Bucht sein Spiegelbild. Er lachte leise und sein Herz schlug hoch oben im Hals. »Danke, Merlin, für deine Hilfe. Du bist wirklich der großartigste und mächtigste aller Zauberer. Ich wünschte, ich hätte nicht nur dieses fünfte Amulett, sondern auch
die vier vorhergehenden. Gleich bin ich am Ziel, gleich …« Der Pendragon ritt zum Burgtor und wurde von den Wachen respektvoll begrüßt. Die Zugbrücke senkte sich für ihn und er lenkte sein Pferd in den Hof. Mit der erneuten Hilfe von Merlins Amulett fand er den direkten Weg zu Igraine. Erstaunt, aber auch mit Hass und Verachtung in den Augen, sah sie ihm entgegen. »Ihr, mein Gemahl? Was tut Ihr schon wieder hier? Ich dachte, Ihr müsstet Uther und Lot daran hindern, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen?« »Ich bin auf schnellstem Wege zu Euch geeilt, meine Gemahlin, um mich bei Euch zu entschuldigen. Denn ich sprach mit Uther und er versicherte mir auf das Kreuz Jesu Christi, dass er sich niemals mit dem Weibe eines treuen Gefolgsmannes einlassen würde. Ich glaube es ihm und erbitte Eure Verzeihung.« Selbst seine Stimme war die Gorlois'. Obwohl Igraine seine Entschuldigung nicht annahm und mit silbernen Handspiegeln und anderen Gegenständen nach ihm warf, zerrte er sie aufs Bett und riss ihr die Kleider vom Leib. Die Herzogin gab irgendwann jeden Widerstand auf und duldete regungslos, was er mit ihr anstellte. Uther war dies mehr als recht, denn er war es nicht gewohnt, mit Frauen zu schlafen, die gleichrangig waren und vielleicht sogar Forderungen stellten. Denn auf seinen vielen Kriegszügen befriedigten ausschließlich Huren seine Lust. Sie taten widerspruchslos, was er von ihnen verlangte und wollten anschließend auch keine nervenden Gespräche führen. Es wurde ein kurzes Vergnügen für Uther Pendragon, für das er insgesamt fünf Tage opferte. Denn nachdem er seinen Willen gehabt hatte, verlor er jegliches Interesse an Igraine und ritt nach Londinium zurück. Merlin schäumte vor Wut, als er Uthers Amulettmissbrauch in seiner Bildkugel beobachtete. Und er schäumte noch mehr, als er sah, wie ein Dämon zur selben Zeit, als der Pendragon Igraine beilag, den Großkönig Aurelius Ambrosianus tötete und dessen Seele raubte. Merlin höchstselbst war gezwungen, das zu tun, was eigentlich Aufgabe seines Helfers gewesen wäre: nämlich mit den Dämonen in Londinium aufzuräumen.
5. Schrödingers Katze Juli 2005, Prag Im Erotic-Club »Darling Cabaret« in der Prager Innenstadt herrschte Hochbetrieb. Obwohl die großzügigen Räumlichkeiten auf zwei Etagen vielen hundert Besuchern Platz boten, war momentan kaum ein Durchkommen. Jarmila Novákova und Marek Benes saßen in einer der beiden Bars im ersten Stock. Während Marek interessiert auf die eine Etage tiefer liegende Bühne starrte, auf der sich gerade eine Wasserstoffblonde mit prallen Brüsten unter lauter, aggressiver Musik und im Gewitter bunter Blitze an der Stange abmühte, gab sich Jarmila keine Mühe mehr, ihre rapide schlechter werdende Laune zu verbergen. Sie war öfters hier im »Darling« und schaute sich die Table-Dancerinnen selbst gerne an. Und sie hatte auch nichts dagegen, wenn ihr männlicher Begleiter das tat. Aber Marek kotzte sie sekündlich mehr an. Natürlich hatte sie gewusst, dass ihr Ex-Freund sie den ganzen Abend langweilen würde. Sie hatten sich schon vor einem Jahr, als sie auseinander gegangen waren, nichts mehr zu sagen gehabt. Trotzdem hatte sie den Mistkerl angerufen und um ein erneutes Date gebeten. Weil sie Marek für diesen Abend benutzen wollte! Auch wenn Marek nur Mittel zum Zweck war, reichte es nun doch so langsam. Jarmila warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz vor elf Uhr nachts. Jetzt würde Johanka sicher wieder zurück sein. Grund genug, dem grausamen Spiel allmählich ein Ende zu machen. Jarmilas Finger mit den langen, grün lackierten Nägeln klopften einen nervösen Takt auf dem halb leeren Cocktailglas. »Die ist geil, was«, sagte Marek und drehte kurz den Kopf. Dazu nickte er und grinste. Absolut blöde, wie Jarmila fand. Sie zwang sich zurückzulächeln. Das war genau das Niveau, das Marek drauf hatte – wenn er überhaupt mal was redete.
Wie habe ich es mit diesem Kotzbrocken nur vier Monate aushalten können? Dafür müsste ich mich noch heute jeden Tag zwei Mal schlagen … Jarmila fühlte plötzlich Übelkeit in sich hochsteigen. Bitte nicht schon wieder. Was ist das bloß? Bisher war mir doch nie schlecht. Und jetzt schon zum vierten Mal in zwei Tagen. Puh. An dem Drink kann's also nicht liegen. Aber ein Grund mehr, schnellstens von hier zu verschwinden … Sie schüttelte den Kopf, ohne damit die Übelkeit abstreifen zu können. Dann fixierte sie Marek aus ihren grünen Augen giftiger, als sie eigentlich beabsichtigte. »Lass uns gehen«, sagte sie. Marek drehte sich erneut um. »Was ist?« »Lass uns abschieben, hast du nicht verstanden? Ich will nach Hause.« Wieder schlich sich dieses Grinsen, das Jarmila so aggressiv machte, in sein markantes Gesicht. »Kein Problem, Baby, ich bring dich nach Hause.« »Von mir aus.« »Ja, klar. Und dann komm ich noch mit dir rein.« »Mal sehen.« »Natürlich komm ich mit rein. Du hast mich doch angerufen, weil du mal wieder 'ne richtig heiße Nummer schieben willst, oder? Und ich bin auch schon scharf auf dich, hab's mir heute extra den ganzen Tag aufgehoben.« »Also los, dann komm.« Jarmila strich ihre grüne Bluse und dann ihre hautengen Jeans glatt und machte Anstalten, in ihrer Handtasche nach dem Geldbeutel zu suchen. »Kann ich mir schon vorstellen, dass du's mal wieder richtig brauchst.« Marek setzte nun sein schmieriges Grinsen auf. »Ich weiß doch, dass dirs Jan nicht richtig besorgen kann, der Angeber. Wer 'ne riesige Karre fährt wie der, hat nichts in der Hose.« O Gott, hast du auch noch ein anderes Thema als das? Jarmila bezahlte, was Marek ohne Widerspruch geschehen ließ, denn das »Darling« war eines der teuersten Pflaster in Prag. Dann schoben sie sich durch die Menge. Marek drückte sich dabei von hinten an sie. Sie spürte seine Erektion und explodierte fast vor Wut. Aber noch musste sie es dulden, noch hatte Marek seine Schuldig-
keit nicht ganz getan. Mit diesem Date wollte sich Jarmila nämlich an ihrem Verlobten Jan rächen. Der hatte sie böse versetzt. Und da er ziemlich eifersüchtig war, würde es ihn treffen, wenn er erfuhr, dass sie Marek »reaktiviert« hatte. Als Warnung sozusagen. Denn Jan sollte sich nicht einbilden, dass sie sich einfach so beiseite schieben ließ. Auch wenn sie ihn liebte, durfte er nicht alles mit ihr machen. Niemals! Allerdings hatte Jarmila damit gerechnet, dass Johanka, mit der sie eine WG teilte, zu Hause war, wenn Marek sie abholte. Als Augenzeugin sozusagen, denn ihre Mitbewohnerin mochte Jan ebenfalls und würde es ihm brühwarm erzählen, um vielleicht selber zum Zug zu kommen. Dummerweise hatte Johanka weg gemusst. Und so war Jarmila nun gezwungen, Marek nochmals als lebendes Beweisstück mit nach Hause zu nehmen. Zumindest bis an die Haustür. Ihn danach loszuwerden, würde allerdings ein gehöriges Stück Arbeit werden. Ich sage ihm dann einfach, dass mir übel ist. Stimmt ja auch. Und wenn er ausflippt, vertröste ich ihn. Das wäre gar nicht mal so schlecht. Dann glaubt Johanka, dass ich ihn tatsächlich wiedersehen will … Sie holten ihre Jacken und gingen nach draußen. Marek hatte seinen BMW auf dem nahen Wenzelsplatz geparkt. Als er den Zündschlüssel drehte, passierte gar nichts. Auch nach mehreren Versuchen dachte der Wagen gar nicht daran, anzuspringen. »Verflucht.« Marek Benes schlug seine Fäuste aufs Lenkrad. »Was ist denn das nun wieder für eine Scheiße.« Da er keine Ahnung vom Innenleben eines Autos hatte, sparte er es sich, die Motorhaube zu öffnen. »Sieht wohl so aus, als ob wir die Straßenbahn nehmen müssten«, sagte Jarmila. »Du begleitest mich doch trotzdem. Oder?« »Aber klar, Baby. Glaubst du, ich lass dich unbefriedigt einschlafen? So gut kennst du mich, dass ich das nicht mach. Niemals.« Mist. Jetzt wird's noch schwieriger, ihn rechtzeitig wieder loszuwerden. Aber er muss unbedingt noch mit. Na ja, irgendwie kriege ich das schon hin. Sie gingen schweigend nebeneinander her den Wenzelsplatz hoch. Jarmila wehrte Mareks Versuche, seinen Arm um sie zu legen, ab. »Auch recht. Dann eben ohne Vorspiel«, sagte er. Die brennenden
Augen, die ihnen aus der Dunkelheit eines Hauseingangs nachstarrten, bemerkten beide nicht. Wie auch. Auf dem lang gestreckten »Václavák«, dem Herzen Prags, waren noch immer viele hundert Nachtschwärmer unterwegs. Hinter dem Nationalmuseum stiegen Jarmila und Marek in die Nachtlinie 51 und fuhren die Ausfallstraße Vinohradská entlang. Direkt vor dem Olsany-Friedhof stiegen sie aus. Von hier mussten sie ein Stück zu Fuß gehen, denn Jarmila wohnte zwei Häuserblocks hinter dem neuen jüdischen Friedhof, der sich direkt an den Olsany-Friedhof anschloss und von diesem nur durch eine breite Straße getrennt war. »Komm, wir gehen durch den Friedhof«, schlug Jarmila vor. Das Schaukeln der Straßenbahn hatte ihre Übelkeit noch verstärkt, aber jetzt, an der frischen Luft, ging es wieder. Marek blieb stehen und starrte sie an. »Über den Friedhof? Spinnst du? Bei Nacht?« »Ja, und? Du wirst doch nicht etwa Angst haben? Stell dir vor, ich hab keine. Direkt über den Friedhof ist es kürzer und ich gehe da immer. Ich liebe diese gruselige Atmosphäre. Wir müssen nur über die Mauer steigen.« »Also gut, wenn du meinst. Ich hab ja auch keine Angst. Ich hab nur gemeint, damit man uns nicht mit Satanisten oder so was verwechselt. Komisch, ich hab nie gemerkt, dass du so was magst, als wir noch zusammen waren.« Weil ich dich immer einen Dreck interessiert habe. Ich hingegen weiß genau, dass du Schiss vor nächtlichen Friedhöfen hast … An einer dunklen Ecke stiegen sie über die etwa zwei Meter hohe Mauer. Jarmila erwies sich dabei als äußerst sportlich und gewandt, während sich Marek eher umständlich anstellte. Doch schließlich standen beide innerhalb der Umfassungsmauer. Durch den Vollmond, der groß und rund am Himmel hing und sein silbernes Licht über die Stadt verstrahlte, erlebten sie den Friedhof als unwirkliche Landschaft, in dem sie fast jedes Detail deutlich erkennen konnten. So bemerkte Jarmila, wie nervös Marek plötzlich war. »Also los, komm.« Jarmila ging voraus. Sie kannte den Weg durch die parkähnliche Anlage genau. Zwischen Bäumen und Büschen, in denen es geheimnisvoll knackte und rauschte, bewegte sie sich
traumhaft sicher an den dicht stehenden, teilweise windschiefen Grabsteinen und Mausoleen vorbei. Immer wieder flackerten vereinzelte Grablichter auf den Gräbern. Jarmila blieb plötzlich stehen. »Das sind so genannte Jahrzeitkerzen«, flüsterte sie dicht an Mareks Ohr. »Die Juden stellen sie immer am Jahrestag der Verstorbenen auf die Gräber. Damit wollen sie verhindern, dass die Toten wieder aus den Gräbern kommen. Das sollen sie gerade an den Jahrestagen besonders gern tun.« Die beiden letzten Sätze waren frei erfunden und dienten lediglich dazu, Mareks Angst noch zu schüren. Das gelang ihr vorzüglich. Plötzlich hörten sie ein lautes Knacken hinter sich. Marek fuhr zusammen. Auch Jarmila spürte, wie ihr Herz plötzlich hoch oben im Hals klopfte und ihre Handflächen feucht wurden. Sie riss die Augen weit auf. Direkt hinter Marek bewegte sich etwas! Ein bizarrer Schatten wuchs hinter einem Grabstein empor und näherte sich blitzschnell. Er hob etwas über den Kopf. Ein Gurgeln löste sich aus Jarmilas Kehle. Marek hatte ihre Reaktion gesehen. Erschrocken fuhr er herum. Dadurch entging er dem furchtbaren Schlag, der genau seinen Hinterkopf getroffen hätte. Dass der Prügel stattdessen mit voller Wucht auf seine Schulter krachte, machte die Sache nicht wirklich besser. Es knirschte durchdringend, als Mareks Schlüsselbein brach. Er schrie und brach in die Knie. Wahnsinnige Schmerzen tobten durch seinen Körper, während rote Nebel vor seinen Augen wallten. Sofort erfolgte der zweite Schlag. Er traf genau da, wo schon der erste hätte sitzen sollen. Wieder knirschte es hässlich. Marek Benes sank lautlos zusammen und blieb verkrümmt liegen. Jarmila stand unter Schock. Erst, als Marek sich nicht mehr rührte, kam Bewegung in sie. Die junge Frau wollte schreien, sich umdrehen, fliehen. Stattdessen legte sich eine klobige, eiskalte Hand auf ihren Mund. Auch der Körper, an den sie plötzlich gedrückt wurde, fühlte sich an, als bestünde er aus einem Block Eis. Es roch plötzlich widerlich nach Moder und Verwesung. Jarmila kratzte, biss und versuchte verzweifelt, sich aus dem stahlharten Griff des Mannes zu befreien. Vergeblich. Dabei musste sie mit ansehen, wie sich die Gestalt, die Marek angegriffen hatte, über
ihn schob. Die schmatzenden Geräusche, die plötzlich ertönten, ließen Jarmila die Haare zu Berge stehen. Gleichzeitig verstärkte sich der widerliche Geruch ins Unermessliche. Die Angst brachte sie nun fast um den Verstand. Was war das? Auch direkt an ihrem Ohr hörte sie nun dieses Schmatzen. Der Kerl, der sie festhielt, stieß es aus! Jarmila konnte ihr Wasser nicht mehr halten. Das war das Letzte, was sie bewusst spürte, bevor sie in eine gnädige Ohnmacht fiel.
Václav Novák packte sein Redemanuskript zusammen und machte sich auf den Weg in den Stadtteil Nusle. Dort, im Prager Kongresszentrum, würde er heute Abend zum ersten Mal sein neues Buch vorstellen und daraus lesen. Der Prager Ratsherr hatte schon immer ein Faible für die Geschichte der Stadt gehabt und rollte sie nun aus seiner Sicht neu auf. Mit Anekdoten und Geschichten, die ihm sein Vater und Großvater hinterlassen hatten, zum Teil schriftlich, zum Teil als Erzählungen. Diese bildeten einen nicht unwesentlichen Bestandteil des amüsant geschriebenen Buches, denn wie er waren seine Vorfahren Größen der Prager Stadtverwaltung gewesen, sein Großvater Bedrich sogar deren Oberbürgermeister. Damals, als Bedrich Novák Stadtchef geworden war, so munkelte man noch heute, sollte er seinen Rivalen Frantisek Nedved denunziert und mit anderen unsauberen Mitteln zum Verzicht gezwungen haben. Nedved war kurz vor der Wahl wie vom Erdboden verschwunden. Seine Anhänger hatten Bedrich Noviks Version, Nedved sei ein westlicher Spion gewesen und wieder in den Westen geflüchtet, weil ihm der Boden kurz vor seiner Entlarvung zu heiß geworden sei, niemals geglaubt. Vaclav Novák glaubte sie auch nicht. Er wusste, dass es anders gewesen war. Aber die wahre Geschichte konnte er der Öffentlichkeit unmöglich erzählen. Deswegen würde er seinen Lesern wieder die übliche Spion-Version auftischen. Allerdings nur noch kurz, denn diese unselige Geschichte musste nach so vielen Jahren nun endlich aus der Weltgeschichte verschwinden. Dass er damit, auch heute Abend, den einen oder anderen enttäuschen würde, war ihm klar. Da um die 1000 Zuhörer erwartet wur-
den, konnten es sogar noch ein paar mehr sein. Aber schließlich hatte er auch viele Neuigkeiten zu bieten und so war er sicher, dass die meisten zufrieden wieder gehen würden. Vaclav Novák stieg in seinen Lada und fuhr zum Kongresszentrum. Im Společenský-Saal, dem zweitgrößten, der über 1000 Besuchern Platz bot, war bereits alles für ihn hergerichtet. Der Mann mit dem weißen Haarkranz und dem runden, freundlichen Gesicht seufzte zufrieden. Ganz kurz dachte er an seine Tochter Jarmila, die seinen Vortrag heute gerne gehört hätte. Aber nun war sie mit ihrem Verlobten nach Paris unterwegs. Auch recht. Jarmila, nach dem Tod seiner Frau sein Ein und Alles, war unsterblich in Jan verliebt und der stolze Papa billigte die Verbindung nur zu gerne. Jan Čech war nicht nur ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann, sondern gleichzeitig noch ein überaus netter Kerl mit überdurchschnittlich viel Grips. So langsam strömten die Besucher. Vaclav Novák begrüßte viele persönlich, denn er war überaus populär in seiner Heimatstadt. Die Leute mochten ihn wegen seiner offenen, witzigen Art und hörten ihm gerne zu, da er zudem spannend erzählen konnte. Dass der Saal aber irgendwann wegen Überfüllung geschlossen und einige Besucher abgewiesen werden mussten, das hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt. Nach dem fast dreistündigen Vortrag, der mit viel Applaus belohnt wurde, setzte sich der Ratsherr noch vor den Saal, verkaufte und signierte die ersten Exemplare seines Werkes. Das gehässige Funkeln in den Augen eines groß gewachsenen, schlanken Mannes, der sich im Schatten eines Pfeilers aufhielt und ihn längere Zeit anstarrte, sah er nicht. Edita Pivonkova hatte schlechte Laune. Sehr schlechte Laune sogar. Die halbe Nacht hatte sie nicht geschlafen. Und nun ging sie am vormittäglichen Olsany-Friedhof entlang, weil sie vor einer Stunde von einem anonymen Anrufer einen heißen Tipp bekommen hatte. Die junge, ausnehmend hübsche Frau hatte sich, obwohl es schnell gehen musste, die langen, blonden Haare doch zu einem Pferdeschwanz gekämmt, ein Stirnband aufgezogen und sich kurz geschminkt.
Wahrend aber draußen nun alles einigermaßen hübsch geordnet war, herrschte in ihrem Kopf das reinste Chaos. Denn sie glaubte dem Mann, es war wohl ein Mann gewesen, nicht. Wichtigtuer gab es genügend. Und irgendwie hatte er wie einer geklungen. Andererseits hoffte und betete sie inständig, dass sie sich irrte und der Anrufer keinen Mist erzählt hatte, denn sie befand sich in einer Zwangslage. In einer, in der sie bereits nach jedem rettenden Strohhalm griff. Seit zwei Jahren arbeitete Pivonkova als Reporterin für die Boulevardzeitung »Blesk«. Die Geschichten, die sie brachte, waren noch einen Tick sensationeller, reißerischer und skrupelloser als die der anderen. Und so hatte ihr Chefredakteur Pierre Lykoff vor zwei Monaten nicht nur eine saftige Gehaltserhöhung in Aussicht gestellt, sondern auch den Posten der Chefreporterin. Doch seit drei Wochen lief es plötzlich nicht mehr. In diesem Zeitraum hatte Pivonkova nicht eine halbwegs brauchbare Story mehr geliefert. Erst gestern Morgen hatte sich die groß von ihr angekündigte Geschichte, der Prager Oberbürgermeister habe eine Affäre mit einem zwielichtigen Model, in Luft aufgelöst. Nichts aber auch gar nichts war dran gewesen an der Mitteilung eines ansonsten zuverlässigen Informanten. »Als Sie noch eine gute Journalistin waren, hätten Sie gerochen, dass Ihnen der Kerl Käse erzählt«, hatte Lykoff sie gestern Abend in der Redaktion vor anderen Kollegen angemacht und einen knallroten Kopf dabei bekommen. Kein gutes Zeichen. Denn danach brüllte er meistens los. Und genau das hatte er dann auch getan. »Glauben Sie etwa, ich bezahle Sie dafür, dass Sie mir laufend unbrauchbaren Mist bringen, Pivonkova? Wenn Sie nicht ganz schnell wieder die gewohnte Qualität liefern, können Sie sich gerne nach einem anderen Job umschauen. Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht damit, was gestern war. Das können Sie von mir aus dem letzten Dinosaurier erzählen. Heute und morgen und übermorgen müssen die interessanten Geschichten im Blatt stehen. Die exklusiven Geschichten. Das ist der Anspruch, den unsere Leser an uns haben. Dafür schütte ich Sie mit Geld zu.« Die Attacke hatte Pivonkova tief getroffen. So skrupellos, wie sie
anderen gegenüber war, so sensibel zeigte sie sich, wenn es um ihre eigene Person ging. Am liebsten hätte sie auch jetzt noch den ganzen Weg über geheult, als sie daran dachte. Aber die Tränen waren ihr bereits mitten in der Nacht ausgegangen. Und in ihre schlechte Laune drängte sich zunehmend der Jagdinstinkt. Edita Pivonkova verließ den Olsany-Friedhof und wechselte über den Zelivského-Boulevard zum neuen jüdischen Friedhof hinüber, der heute offen hatte. Nachdenklich starrte sie über die Grabsteine hinweg. Hm, wenn der Anrufer mich verarscht hat, muss ich irgendwas anderes machen. Hier waren doch schon länger keine Satanisten am Werk. Vielleicht könnte ich ja ein paar Bekannte dazu überreden, hier eine schwarze Messe zu feiern. Sie müssten ja bloß so tun, als ob. Und ich hätte einige sensationelle Bilder … Der Gedanke gefiel ihr. Schwarze Messen und Grabschändungen speziell auf den jüdischen Friedhöfen elektrisierten die Leute. Bei so etwas stieg die Auflage immer sprunghaft an. Und sie wusste auch schon, wen sie fragen konnte. Sie kannte drei, vier Jungs, die für Geld alles machten. Oder für eine schnelle Nummer mit ihr. Auch darüber würde sie mit sich reden lassen, warum nicht … Durch die Grabreihen hindurch sah die Reporterin bereits die Umgrenzungsmauer. Plötzlich blieb sie stehen, als sei sie gegen eine Wand gelaufen. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Hatte der Anrufer, der sich als begeisterter »Blesk«-Leser geoutet hatte, also doch nicht gelogen? Aus dem Gebüsch neben ihr ragte ein blanker Unterschenkelknochen! Teile des ebenfalls skelettierten Fußes hingen noch daran. Edita Pivonkova schluckte schwer. Sie spürte ihr Herz plötzlich hoch oben im Hals klopfen. Vorsichtig sah sie sich um. Der Friedhof hatte erst vor kurzem geöffnet, sie sah weit und breit keinen Menschen. Allerdings auch kein geöffnetes Grab, aus dem dieser makabre Fund stammen konnte. Für einen Moment überkam sie der beunruhigende Gedanke, es hier doch mit dem bösen Scherz eines »Blesk«-Hassers zu tun zu haben, also lediglich mit Knochen aus Plastik oder so was. Doch als sie sich bückte und die Knochen vorsichtig anfasste, verwarf sie den Gedan-
ken sofort wieder. Die Knochen waren echt! Und zwischen den Ästen und Zweigen hindurch sah sie weitere Gebeine. Hüftknochen, Rippen, einen Schädel – und Reste von Kleidern. Die Reporterin fühlte es eiskalt den Rücken hinunter laufen. Das sah absolut nicht danach aus, als hätte jemand die Gebeine aus einem Grab geholt. Es sah aber danach aus, als würde es irgendwo einen Zeitungsgott geben, der es gut mit ihr meinte. Wer sonst hätte sie so schnell anrufen und ihr die Geschichte liefern können, die sie so dringend brauchte? Edita Pivonkova erholte sich bereits wieder von dem Schrecken, der ihr in alle Glieder gefahren war. Sie zog die kleine Digitalkamera, ohne die sie nirgendwo hinging, aus der Tasche. Noch einmal vergewisserte sie sich, dass sie alleine war. Dann begann sie das seltsame Skelett von allen Seiten zu fotografieren. Sie arbeitete sich sogar ein Stück in die Büsche vor, um alle möglichen Details zu fotografieren, wohl wissend, dass sie damit eventuelle Spuren zerstörte. Dabei bemerkte sie dunkle Flecken auf einer braunen, zerrissenen Jacke. Sie roch daran. Ja, es war wohl Blut, so wie sie vermutet hatte. Erst als Edita Pivonkova fertig war, alarmierte sie anonym die Polizei. Beschwingt machte sie sich auf den Weg in die Zerotinova 32. Alle ihre Probleme gehörten mit einem Schlag der Vergangenheit an. »Blesk« würde morgen exklusiv mit sensationellen Bildern aufmachen. Denn wenn die Polizei erst einmal den Tatort abgesperrt hatte, würde sie keine Kollegen mehr vorlassen. Dann waren die Medien auf das Bildmaterial angewiesen, das die Polizei freigab. Und das dauerte erfahrungsgemäß mehrere Tage. Danke, mein unbekannter Retter, vielen herzlichen Dank …
Major Vladimir Brabec von der Mordkommission der Prager Kriminalpolizei schüttelte gegenüber seinem Assistenten Pavel Hasek den grau behaarten Kopf, als die Untersuchungsergebnisse des seltsamen Skelettfundes auf dem neuen jüdischen Friedhof vor ihm lagen. Der Bericht besagte eindeutig, dass die Knochen echt waren – was er
ohnehin nicht bezweifelt hatte. Sie schienen aber nicht vom Friedhof selbst zu stammen, da sie mit Sicherheit noch nicht in der Erde gelegen hatten. Und sie gehörten wahrscheinlich einem jüngeren Mann. Gut, die sterblichen Überreste wiesen schwere Schlagverletzungen am Kopf und an der Schulter auf. Schwer genug, um als Todesursache in Frage zu kommen und zumindest die Theorie in Betracht zu ziehen, die Mafia könnte etwas damit zu tun haben. Was dem Polizeimajor aber wirkliches Unbehagen bereitete, waren die Kratz- und Bissspuren, die bei der Analyse an jedem einzelnen Knochen festgestellt worden waren. Es sah so aus, als wäre das Skelett abgenagt worden. Brabec verzog den Mund und klopfte mit einem Kugelschreiber auf der Fläche seines Schreibtischs herum, auf der ein paar Akten fein säuberlich gestapelt lagen. Die Kratz- und Bissspuren waren von den Spezialisten mit denen gängiger Raubtiere abgeglichen worden; vom Tiger bis zum gemeinen Fuchs und Marder. Nichts davon passte. Es musste sich also um ein bisher unbekanntes Raubtier handeln. Der Major seufzte, nachdem er die ersten Erkenntnisse mit Hasek durchgegangen war. Ein unbekanntes Raubtier. Und das mitten in Prag. Da würde er seine Leute erst mal auf die beiden Zirkusse hetzen müssen, die sich momentan in der Stadt aufhielten. Erneut warf er einen Blick auf die Titelseite des »Blesk«, der ganz oben auf dem Aktenstapel lag. Dieses Mal hatte der »Blitz« seinem Namen alle Ehre gemacht und noch schneller als ein solcher eingeschlagen. Brabec mochte das reißerische Boulevardblatt mit den großen Lettern und noch größeren Bildern, das die Schweizer hier gleich nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs auf den Markt geworfen hatten, ganz gerne. Das galt allerdings nicht für die Pivonkova, deren Name unter der heutigen Titelgeschichte stand. Er hasste das penetrante, vorlaute Weib, das schon mehrmals seine Versprechen gebrochen hatte, geradezu. Und dass die Pivonkova ganz eindeutig noch vor der Polizei von dem Leichenfund informiert worden war, passte ihm gar nicht, wie er Hasek gegenüber ganz deutlich machte. So konnte sie bereits einen Tag später wirklich sensationelle Fotos unter die Leute bringen. Er gönnte ihr diesen Erfolg absolut nicht. Aber
was sollte er machen? Brabec schüttelte erneut den Kopf. Mit ihrer Spekulation, dass Satanisten eine jüdische Leiche ausgegraben, die Knochen wieder zusammengesetzt und dann eine schwarze Messe gefeiert hätten, lag sie zwar völlig daneben. Er wusste aber, dass Pivonkova mit voller Absicht die Sensationslust des Mobs bediente. Das tat sie immer. Mit der Frage, die den Artikel beschloss, wurde es dann vollends wahnwitzig. Diese blöde Kuh spekulierte nämlich weiter, ob die Satanisten, die sie plötzlich Kabbalisten nannte, versucht hätten, einen neuen Golem zu schaffen. Einen positiven Aspekt würde diese unsägliche Geschichte aber vielleicht doch haben, meinte Hasek. Eines der Fotos zeigte nämlich die Kleider, die neben dem Skelett gefunden worden waren. Das konnte die Identifizierung der Leiche enorm beschleunigen. Bis die offiziellen Polizeibilder an die Medien gegangen wären, hätte es sicher noch zwei, drei Tage gedauert. So ist es, dachte Brabec zufrieden.
Juli 2005, Château Montagne »Du, Zamorra, wie ist das eigentlich mit Schrödingers Katze?« Zamorra sah von der Zeitung auf, die er gerade las. »Ach, dem gehört die also.« Er grinste breit. »Schön, dass ich das endlich weiß. Wo wohnt der Typ? Sag mir doch bitte mal seine Adresse, damit ich bei ihm vorbei gehen und ihm die Meinung geigen kann. Monsieur Schrödinger soll gefälligst besser auf sein Vieh aufpassen, damit es nicht immer wieder hier auftaucht und uns die letzten Haare vom Kopf beziehungsweise die Wurst vom Croissant frisst. Ansonsten kommt der Wurstdieb irgendwann noch selber in die Wurst.« Der zwölfjährige Rhett Saris, der die Frage gestellt hatte, sah den Meister des Übersinnlichen ratlos an. Er saß auf dem Bärenfell des Kaminzimmers und hatte sein Physikbuch aufgeschlagen, während Zamorra bequem in einem Sessel seitlich des Kamins saß und schau-
te, was es Neues in der Welt gab. Nicole und Lady Patricia, Rhetts Mutter, saßen etwas abseits an einem kleinen Tisch und spielten Rommé. Nicole kapierte im Gegensatz zu Rhett sofort, worauf Zamorras Scherz abzielte. Das Siegelbuch! Immer, wenn wieder ein Siegel geöffnet werden sollte, tauchte plötzlich aus dem Nichts eine schwarze Katze mit weißen Pfoten auf und strich im Château herum. War die Aufgabe erledigt, die der seltsame Foliant forderte, verschwand auch die Katze wieder. Sie hatte Zamorra schon zwei, drei Mal fast zur Weißglut gebracht. Ganz speziell, als sie sich bei seinem morgendlichen Erwachen auf seiner Brust zusammengerollt oder ihm eben die Wurst vom Croissant geklaut hatte. Vor einigen Wochen hatte ihr Lebensgefährte und Brötchengeber rein zufällig ein uraltes Buch in der Bibliothek gefunden. Ein Buch, das so viel schwarze Magie enthielt, dass der Druide Gryf vor der Aura der Bösartigkeit, die es verstrahlte, Angst bekommen hatte. Gryf glaubte es zu kennen, es vor langer Zeit einmal bei Merlin gesehen zu haben. Aber er war sich nicht sicher. Ganz sicher jedoch war, dass der große Foliant mit dem Blut eines Dämons auf dessen gegerbter Haut geschrieben und mit letzterer auch eingebunden war. So weit so schlecht. Nun aber wurde es erst so richtig verrückt. Denn der Foliant enthielt nicht nur die Texte aus Dämonenblut; sie hatten gleichzeitig 13 versiegelte Kapitel dazwischen gefunden. Kapitel, deren Seiten zuerst wie verschweißt schienen, die jedoch von Zamorra geöffnet werden wollten. Diesen Eindruck hatte Nicole auf jeden Fall. Fünf Kapitel des Siegelbuchs, wie sie es nannten, hatte der Professor bereits entsiegelt. Und war dadurch jedes Mal in ein lebensgefährliches Abenteuer gezwungen worden. Es schien so, als solle er Aufträge für die finstere Macht erledigen, die hinter oder in dem Siegelbuch steckte. Was aber noch weitaus verrückter erschien, war der ganz und gar unglaubliche Zusammenhang, den das Buch mit Zamorras Amulett hatte. Auf den ersten Blick begannen die versiegelten Seitenpakete mit Schriftreihen, die mit absolut fürchterlichen Zeichnungen verse-
hen waren – Mord, Folter, Perversitäten, Monstrositäten; alles, was man sich in dieser Beziehung vorstellen konnte, gab es hier. Unheimlicherweise bewegten sich die Zeichnungen und vollzogen in aller Grausamkeit das, was sie darstellten. Nicole weigerte sich allerdings standhaft, in diesem Zusammenhang das Wort »leben« für diese magischen Vorgänge zu verwenden. Gryf hatte dann als erster herausgefunden, dass einige der Schriftzeichen denen auf Merlins Stern glichen. Als er über einem von ihnen die ähnlich erscheinende Amuletthieroglyphe mit den Fingern in die Luft gemalt und einen Zauberspruch gemurmelt hatte, waren Schriftzeichen und sich bewegende Zeichnungen plötzlich verblasst. An ihrer Stelle war eine Art Seiten füllendes Siegel erschienen, hatte sich emporgehoben und sich dreidimensional stabilisiert. Es war die Hieroglyphe gewesen, mit der sich auf dem Amulett durch leichtes Verschieben die Zeitschau aktivieren ließ! Dann hatte das Siegel plötzlich gebrannt und war in die Eindimensionalität des Pergaments zurückgesunken. Und es war zum Gipfel der Verrücktheit gekommen: Das Siegel hatte sich verkleinert, während gleichzeitig die beweglichen Zeichnungen wieder aufgetaucht waren. Dann war es einem der seltsamen Bilder zugestrebt. Wie suchend hatte sich die dargestellte Figur umgeschaut, um dann ihr Gesicht plötzlich dem Dämonenjäger zuzuwenden. Und Zamorra sah sich selbst! Die Figur bildete tatsächlich seine Wenigkeit ab, zwar etwas fahrig gezeichnet, aber doch deutlich zu erkennen. Sogar die Kleider, die er im Moment trug, waren skizziert, so, als säße hier ein Zeichner, der sein Werk im Moment vollendet hatte. Sein skizziertes Abbild hatte zum Meister des Übersinnlichen gesprochen, nichts Staatstragendes, eher einfältige Sinnsprüche, und danach war das Siegel mit dem Amulett verschmolzen, das die Zamorra-Zeichnung vor der Brust trug. Anschließend hatten sich die zuvor versiegelten Seiten öffnen lassen, aber auch nur weitere Texte und bewegliche Zeichnungen enthalten. Zamorras Aufträge waren dann – in bisher fünf Fällen, in denen sich das Geschehen immer so oder so ähnlich abgespielt hatte – eher indirekt gekommen, durch Träume oder andere Hinweise. Verhindere, dass sich die Tore zu den Ash-Welten schließen! (Was
Zamorra gelungen war.) Besiege dich selbst! (Was mit dem Tod von Zamorras bösem Doppelgänger aus einer der Spiegelwelten geendet hatte.) Erwarte das Abbild des Drachen! (Was mit der Beseitigung der Drachen Gardir und Olang geendet hatte, die Fooly für ihr verbrecherisches Tun hatten töten wollen.) Rette die letzten Sauroiden aus dem Einflussbereich der giftig strahlenden Sonne Deneb! (Was in einer Katastrophe, mit dem Tod der Echsen, geendet hatte.) Hindere den Dämon an seinem Tun, der in Australien die Traumzeit der Aborigines manipulieren will! (April Hedgeson und Shado, ihre beiden alten Freunde, hatten das hinbekommen und den namenlosen Dämon in der Traumzeit vernichtet.)* Seit zwei Tagen waren Zamorra und Nicole wieder aus Australien zurück. Zwei Tage, in denen der Meister des Übersinnlichen mehrfach versucht hatte, das sechste Siegel zu öffnen. Schon in Australien hatte er davon gesprochen, aber Nicole hinderte ihn bis jetzt erfolgreich daran. Trotzdem nahm ihre Sorge deswegen stündlich zu. Denn dieses verdammte Siegelbuch hatte Zamorra regelrecht süchtig gemacht! Er war nun geradezu besessen davon, ein Siegel nach dem anderen zu öffnen – ohne genau zu wissen, was passierte, wenn das Gesamtkunstwerk vollendet wurde. Nicole glaubte zu wissen, dass es nichts Gutes war. Zumal Zamorra von dem Buch suggeriert wurde, dass es sich um die »13 Siegel der Macht« handelte. Und wenn das Siegelbuch so darauf drängte, dass die Siegel so schnell wie möglich geöffnet wurden, dann steuerte das mit ziemlicher Sicherheit auf ein bestimmtes Ereignis hin. Immerhin, momentan hielt sich Zamorra tapfer, schien er der Sucht einigermaßen trotzen zu können. Nicole war aber sicher, dass dies kein dauerhafter Zustand war, dass es sich höchstens um Tage handelte, bis er sich dann doch über das sechste Siegel hermachte. Auch wenn sie es sich nicht eingestand – sie fürchtete sich ganz allmählich vor dem, was am Ende stehen würde. Vor allem auch deswegen, weil das Siegelbuch sie alle zu manipulieren schien. Es widersetzte sich nämlich bisher erfolgreich einem Entfernen vom *siehe Zamorra-Hefte 800 – 821
Château und einer Zerstörung erst recht. Darin wurde es von Zamorra unterstützt, der fuchsteufelswild und sogar richtig aggressiv wurde, wenn jemand derartiges auch nur andeutete. Sein Argument war, dass er durch das Buch eine Menge über die Funktionsweise des Amuletts lernen könne. Eine These, deren Beweis er bisher schuldig blieb, auch wenn tatsächlich alle bisher geöffneten Siegel identische Hieroglyphen auf Merlins Stern gehabt hatten. Und noch etwas machte Nicole Angst: Wie konnte es sein, dass eine durch und durch schwarzmagisch-böse Entität, so wollte sie das Buch einmal bezeichnen, innerhalb des magischen Schutzschirms, der um das Château lag, existieren konnte? Selbst jeden Erzdämon hätte es innerhalb der Schutzkuppel sofort zerbröselt, wäre er irrtümlich hier drinnen gelandet, Asmodis einmal ausgenommen. War das Siegelbuch also viel mächtiger als jeder Erzdämon? Oder war alles ganz anders? Nicole hatte in den letzten Tagen intensiv nachgedacht. Bisher wussten sie nicht genau, welch schreckliches Wesen hinter dem Buch steckte. Ihr Gespräch, das sie vor drei Tagen im Hotelzimmer in Australien geführt hatten, fiel ihr wieder ein. »Vor allem ist es wichtig, dass die Aufgabe erledigt wurde, die das fünfte Siegel uns auferlegt hat«, sagte Zamorra. »Dir auferlegt hat«, korrigierte sie. »Wie auch immer. Die Aufgabe wurde zwar sicher nicht erledigt, wie eigentlich gedacht, und vielleicht auch nicht im Sinne dessen, der diese Siegel einst geschaffen hat. Aber es ist eben erledigt. Das Siegelbuch, es ist doch vor sehr langer Zeit geschrieben worden …« Geschaffen wäre vielleicht das bessere Wort … »Wie konnte der Macher damals schon wissen, was heute geschieht?« Sie hatte diese Frage für völlig unwichtig erklärt. Trotzdem ging sie seither ebenfalls mit ihr um. Was, wenn es sich bei diesen Siegelkapiteln gar nicht um Blicke in die Zukunft handelte? Was, wenn die Siegel auf aktuelle Vorgänge reagierten? Gingen sie also von falschen Voraussetzungen aus? Und was, wenn es sich bei dem unbekannten Macher tatsächlich um Merlin handelte? Gryf hatte den König der Druiden ins Spiel ge-
bracht. Wenn man nun die enge »Verwandtschaft« von Siegelbuch und siebtem Amulett in Betracht zog, dann sprach einiges für diese Annahme. Beide waren aber nicht nur verwandt, sie schienen auch miteinander zu interagieren. Dieser seltsame Vorgang, dass die Siegel im Amulett des gezeichneten Zamorras verschwanden, schien das zu beweisen. Und die Tatsache, dass Merlin einst der Hölle angehört hatte, machte das Ganze auch nicht gerade unwahrscheinlicher. Denn so ließ sich die schwarze Magie erklären, die in dem Buch wirkte. Und vielleicht auch der Umstand, dass dieses Teufelsding innerhalb der M-Abwehr existieren konnte, weil beide Magien eng verwandt, wenn auch nicht von derselben Farbe, waren. Nicole legte ihre Rommé-Karten auf den Tisch. »Darf ich kurz deinen Junior unterstützen, Patricia? Der Herr Professor scheint gerade indisponiert zu sein und nur Unsinn im Kopf zu haben, anstatt einem ernsthaft fragenden, jungen Mann weiterzuhelfen. Zudem glaube ich nicht, dass er mit Schrödingers Katze etwas anfangen kann. Da reicht das Allgemeinwissen eines durchschnittlich gebildeten Professors bei weitem nicht mehr aus.« Zamorras Grinsen verstärkte sich. »Na, dann los, du Physikgenie. Ich bin schon mal gespannt, wie du uns die Unmöglichkeiten der Quantenmechanik einigermaßen plausibel machen willst. Aber ich warne dich gleich mal vorab: Sollte es dir nicht gelingen, musst du auf der Stelle meine goldene Kreditkarte zurückgeben. Sämtliche Lyoner Boutiquen sind ohnehin schon viel zu reich und ich werde immer ärmer.« »Pfff. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass morgen ein voll beladener Vierzigtonner hier eintrifft, der meine neue Perückenkollektion bringt? Die Spedition hat übrigens angefragt, ob wir hier einen starken Mann hätten, der dem Fahrer abladen helfen könnte. Ich habe Pascal Lafitte angerufen. Ist dir das recht, Cheri?« Sie bedachte Zamorra mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Rhett hob den Arm. »Ich will ja nicht drängen. Aber könnte mir so langsam mal jemand meine Frage beantworten? Ich muss noch mehr lernen heute.« »Ach so, ja.« Nicole räusperte sich. »Also, mein lieber Lord Zwerg, das ist so: Die Quantenmechanik sagt, dass jedes Teilchen gleichzei-
tig in zwei verschiedenen Zuständen existiert. In einem Massezustand und dann nochmals als Welle. Das kann man messen.« Rhett machte es sich im Schneidersitz bequem und kratzte sich an der Nase. »Bis jetzt hab ich's noch verstanden, auch wenn ich's nicht begreife.« »Na, immerhin. Ich gehe jetzt sogar noch weiter und sage dir etwas, was selbst unsere besten Wissenschaftler nicht wissen. Womit sie dann eigentlich eher Unwissenschaftler wären. Aber die haben auch keinen Merlin, der ihnen solche Sachen nahebringen könnte. Zamorra und mir hat er mal erzählt, wie sich das alles verhält, allerdings habe nur ich mir das behalten können.« »Jetzt mach doch Zamorra nicht immer so nieder. Das tut ihm sicher weh.« »Da siehst du mal«, meldete sich der Meister des Übersinnlichen. »Sogar dem Kind fällt das schon auf. Hör also auf Rhett.« Nicole war nur mäßig beeindruckt. Sie hatte im Gegenteil Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. »Also, mein lieber Lord Zwerg, es ist so: Jedes Teilchen existiert nicht nur doppelt, sondern gleich dreifach. Es hat nämlich auch noch einen magischen Zustand. Und jeder dieser Zustände befindet sich in einem eigenen Universum.« »Wow. Das heißt also, dass jedes einzelne Teilchen in drei Universen zu Hause ist.« »Könnte man so sagen, ja. Wenn also so ein Teilchen noch in drei verschiedenen Zuständen existiert, dann überlagern sich diese. Diesen Überlagerungszustand nennen die Wissenschaftler Superposition. Nun passiert aber etwas ganz Eigenartiges, wenn jemand das Teilchen bewusst beobachtet. Dann entscheidet es sich nämlich blitzschnell für einen der ersten beiden Zustände. Es wird entweder zu Materie oder zu einer Welle. Der magische Zustand bleibt davon immer unberührt, egal, für was sich das Teilchen nun entscheidet. Deswegen gibt es ein sehr stabiles Magisches Universum, in dem sich all das abspielt, was wir als Zauberei und Magie bezeichnen. Na ja, auf jeden Fall ist ein Teilchen, das sich dafür entscheidet, Materie zu werden, wesentlich stabiler und kraftvoller als eines, das zur Welle wird.« »Klingt ziemlich blöd, finde ich. Woher will das Teilchen wissen,
dass es gerade beobachtet wird? Und warum soll es dann sagen, hach, ich werde gerade beobachtet, da muss ich mich in einem bestimmten Zustand präsentieren? Und weil ich heute nicht so gut drauf bin, gehe ich jetzt einfach mal als Welle. Wäre ich besser drauf, dann würde ich einen auf Materie machen.« Zamorra lachte herzlich. »So sieht's aus. Aber das sind Dinge, an deren Begreifen wir mit unserem menschlichen Verstand lediglich kratzen können. Ganz durchblicken werden wir da nie.« »Na toll. Aber ich soll mit dem, was ohnehin kein Schwein begreift, eine gute Note schreiben.« Rhett drehte sich zu Patricia. »Da kann ich dir gleich mal sagen, dass das garantiert nichts wird, Mom. Und deswegen werde ich dieses Mal auch kein Fernsehverbot akzeptieren.« »O doch, mein Sohn, du wirst.« Patricia stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du sollst ja das schreiben, was allgemein für richtig gehalten wird, nicht das, was kein Schwein begreift. Begriffen?« »Ja, ja«, murrte Rhett. »Ihr Erwachsenen haltet euch immer für superschlau. Pass bloß auf, dass ich dich nicht plötzlich beobachte, Mom. Sonst entscheiden sich deine Teilchen noch dafür, zur Welle zu werden. Und schon bist du weg.« Er stutzte. »Aber was hat das Ganze jetzt mit Schrödingers Katze zu tun?« »Ganz einfach«, übernahm nun wieder Nicole das Gespräch. »Wir gehen zurück ins Jahr 1935. Da wollte ein Physiker namens Erwin Schrödinger, wenn mich nicht alles täuscht, war er Österreicher, demonstrieren, wie unvollständig diese angebliche quantenmechanische Gesetzmäßigkeit ist, dass sich Teilchen für einen Zustand entscheiden, sobald sie beobachtet werden.« »Aha, ich wusste es. Die haben also alle Blödsinn gequatscht. Mom, du bist vorerst vor dem Wellendasein gerettet.« Nicole lächelte. »Blödsinn gequatscht, das kann man so nicht sagen. Das eigentlich Dumme an der Sache war, dass man diese Zustandsveränderung bei kleinen Teilchen beobachten konnte, aber eben nicht bei alltäglichen Gegenständen, wie wir sie kennen, also zum Beispiel bei einem Auto oder einer Katze. Denn diese Gegenstände bestehen ja ebenfalls aus Teilchen wie Atomen, verharren aber trotzdem nicht ständig in einer Superposition. Das hat Schrö-
dinger mit seinem Gedankenexperiment darzustellen versucht. Dazu steckte er eine Katze zusammen mit einer geringen Menge radioaktiver Substanz in eine undurchsichtige Kiste. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines der radioaktiven Atome nach einer Stunde zerfällt und dadurch einen Hammer auslöst, der dann eine Kapsel mit Giftgas zerschlägt, das die Katze tötet, betrug 50 Prozent.« »Gibt's das auch mit 100 Prozent? Und wo kann man diese tolle Apparatur kaufen?«, meldete sich Zamorra. »Ich nehme sie sofort. Damit lösen wir das Problem mit der schwarzen Katze ruckzuck.« »Elender Tiermörder«, wies ihn Nicole in die Schranken. »Lass mich doch bitte einfach mal zu Ende reden, Cheri, ja? Also, auf jeden Fall steht nun nach einer Stunde ein Beobachter vor der Kiste und fragt sich: Ist das Atom in der Kiste zerfallen und die Katze tot? Oder ist es nicht zerfallen und sie lebt noch? Die Katze befindet sich also in diesem Moment in einem Überlagerungszustand. Sie ist tot und lebendig zugleich. Und erst, wenn der Beobachter die Kiste öffnet und nachschaut, entscheidet sie sich für einen Zustand. Dann ist sie entweder tot oder lebendig.« Rhett seufzte schwer. »Das ist doch wirklich riesiger Mist. Als ob die Katze sich bei Beobachtung entscheidet, ob sie tot oder lebendig sein will.« »Da habe ich mich vielleicht etwas missverständlich ausgedrückt. Nicht die Katze entscheidet das, sondern das komplette System.« »Ja, klar. Und wenn der Beobachter eine Stunde wartet, dann bleibt die Katze eine Stunde in der Superposition oder was? Und das System entscheidet sich erst dann, wenn der Beobachter kommt? Also bitte, das ist doch Käse. Wenn das Atom schon vor einer Stunde zerfallen ist, dann ist die Katze seit einer Stunde tot. Egal, ob sie nun beobachtet wird oder nicht.« Nicole grinste. »Eben. Genau das wollte Schrödinger demonstrieren. Wir haben noch nie irgendetwas in einer Superposition angetroffen und können sie uns also auch gar nicht vorstellen. Logisch, denn bei komplexeren Gegenständen gibt es das nicht, wie gesagt. Deswegen sagen die Wissenschaftler nun, dass ein einmal beobachtetes oder gemessenes System die Fähigkeit des Überlagerungszustandes verloren hat und ewig in dem Zustand verbleibt, für den es
sich entschieden hat. Das nennt man Kohärenz. Also wird's tatsächlich nichts damit, deine Mutter zu verwellen.« »Ja klar. Und wenn so ein System von wem auch immer niemals beobachtet wird, dann bleibt es immer in einer Superposition«, warf Rhett ein. »Das kann doch nicht sein.« »So ist es auch nicht. Von Merlin wissen wir, dass die Systeme ihren endgültigen Zustand nicht durch Beobachtung, sondern durch Wechselwirkung mit der Umwelt einnehmen, auch wenn das viele Jahrtausende dauern kann. Denn je nach Größe und Komplexität des Systems müssen viele Wechselwirkungen mit der Umgebung da sein, bevor es in einen endgültigen Zustand gleitet.« »Hm.« Rhett überlegte. »Das heißt, dass tatsächlich alle Systeme erst einmal in einem Überlagerungszustand sind. Wenn sich nun ein System in einer Superposition, sagen wir die Katze, für den Zustand entscheidet, der sich nicht in unserem Universum befindet, also für den Wellenzustand, wenn ich das richtig verstehe, verschwindet sie dann daraus?« Nicole nickte. »Natürlich, ja, scharf gedacht. Das tut sie. Dann lebt sie im anderen Universum. Im Wellenuniversum, das wir nicht verstehen würden, denn wir sind das Teilchenuniversum. Wenn wir also genau diesen Moment des Entscheidens beobachten würden, würden wir sehen, wie die Katze aus unserem Universum plötzlich verschwindet, da sie ja im Überlagerungszustand noch Teil desselben war.« Rhett streckte die Arme über den Kopf, dehnte sich und gähnte. »Ich weiß schon, warum ich Physik hasse wie die Pest. Aber wisst ihr, was mich ungemein beruhigt?« »Was denn?«, fragte Zamorra. »Dass ich als Rhett existieren kann, ohne dass mich meine Mom ständig beobachten muss.« Nicole kicherte, während Patricia empört schnaubte. »Als ob ich dich je beobachten würde.« »Sage ich ja auch gar nicht. Ich sprach von nicht müssen.« Er schaute seine Mutter triumphierend an. »Wenn ich dein Lehrer wäre, würde ich dir auf jeden Fall eine glatte 20 geben, mein lieber Lord Zwerg. Du scheinst das mit der
Quantenmechanik voll kapiert zu haben.«* »Danke, Nicole. Aber jetzt raucht mir der Kopf. Ich mache Pause und suche Fooly. Dem hab ich sowieso versprochen, dass wir heute noch was zusammen machen.« Rhett stand auf und ging aus dem Zimmer. »Ein aufgeweckter Junge, unser Erbfolger«, meinte Zamorra. »Mal sehen, wann seine ersten magischen Erinnerungen durchbrechen. Lange dürfte das ja nicht mehr dauern.« Wahrend sich die Frauen wieder aufs Rommé konzentrierten, blätterte Zamorra weiter die Zeitung durch. Dabei stieß er auf einen höchst interessanten, mit dementsprechenden Bildern illustrierten Artikel. In Prag war vor fünf Tagen auf dem neuen jüdischen Friedhof das Skelett eines Mannes gefunden worden, vollkommen blank, obwohl es laut Polizeibericht nicht aus einem der Gräber stammte. Es sollte einem gewissen Marek B. gehören, der noch am Abend vor dem Auffinden lebendig gesehen worden war. In Zamorra klingelten sofort sämtliche Alarmglocken. Die vorsichtig geäußerte Theorie, der Mann sei von der russischen Mafia in Salzsäure aufgelöst worden, hielt er für wenig glaubhaft. Das sah verdächtig nach dem Werk eines Ghuls aus! Zamorra überlegte ernsthaft, ob er nach Prag reisen und nach dem Rechten sehen sollte. Aber so richtig konnte er sich nicht dafür entscheiden. Ich kann schließlich nicht das Leid der ganzen Welt auf meine Schultern laden, dachte er, ohne sich einzugestehen, dass der eigentliche Grund der war, sich dann vom Siegelbuch entfernen zu müssen. Am nächsten Vormittag, als Zamorra gerade aufgestanden war und mit Nicole brunchte, erschien plötzlich Butler Williams vornehm-steifes Gesicht auf der Bildsprechanlage des Frühstückszimmers. »Guten Morgen, die Herrschaften, ich habe hier gerade einen Telefonanruf entgegengenommen. Ein Monsieur Čech aus Prag wünscht Sie, Monsieur Zamorra, ganz dringend zu sprechen. Darf ich ihn durchstellen oder wünschen Sie momentan nicht gestört zu werden? Dann sage ich ihm, er soll später nochmals anrufen.« Prag! Zamorra, ein Honigbrötchen kauend, ahnte bereits, was es *In Frankreich wird nach einem Notensystem von 0 bis 20 bewertet, wobei 20 perfekt ist.
mit dem Anruf auf sich hatte. Genau das soll er, wieder anrufen, wollte er gerade sagen und hätte am liebsten gleich noch ein Am besten erst wieder nächstes Jahr hinzugefügt, als ihm Nicole in den Rücken fiel. »Stellen Sie durch, William. Ich bin mir sicher, dass das irgendwas mit diesem seltsamen Skelettfund zu tun hat, von dem ich heute Morgen in der Zeitung gelesen habe.« »Sehr wohl, Mademoiselle.« Williams Gesicht verschwand. »Hast du das mit dem Skelett auch gelesen, Cheri?« »Hab ich«, konnte er gerade noch missmutig zurückgeben, bevor es in der Bildsprechanlage, dem sogenannten Visofon, knackte. Da der Teilnehmer am anderen Ende nicht ebenfalls ein Bildtelefon besaß, war nun eine stilisierte Zeichnung von Château Montagne auf dem Visofon zu sehen, während es im Äther leicht rauschte. »Mister Zamorra, sind Sie da?«, fragte eine ruhige, sympathisch klingende Stimme in mittlerer Tonlage und in nicht sehr gutem Englisch. »Guten Tag, Mister Čech. Ja, ich bin Professor Zamorra. Was kann ich für Sie tun?« Der Meister des Übersinnlichen wäre am liebsten beim Englischen geblieben, denn er ärgerte sich noch immer. Aber dann hätte er seine plötzliche schlechte Laune vor Nicole rechtfertigen müssen, was er nicht wollte. So antwortete er dem Anrufer in dessen Muttersprache, die er wie fast alle Sprachen der Erde perfekt beherrschte. »Sie sprechen Tschechisch, Pan Professor? Das freut mich zu hören und macht sicher vieles einfacher. Mein Name ist Jan Čech. Und ich rufe aus Prag an. Wenn irgendwie möglich, würde ich ganz gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.« »Hm, mal sehen. Geht es um diesen seltsamen Skelettfund?« Čech am anderen Ende schwieg einen Moment verblüfft. »Tatsächlich, ja. Woher wissen Sie das?« »Ich habe davon gelesen.« »So, dann hat das also auch die internationale Presse aufgegriffen. Hätte ich mir eigentlich denken können.« »Sie glauben an das Übersinnliche? An Geister und Dämonen, Pan Čech?«, fragte Zamorra unvermittelt. »Äh, ja, natürlich. Ich verstehe Ihre Frage. Denn wenn ich das
nicht tun würde, hätte ich Sie ja wohl nicht angerufen. So gesehen können Sie sich die Frage auch gleich selbst beantworten.« Čech lachte leise. »Wissen Sie, meine Mutter stammt aus einem kleinen, abgelegenen Dorf in der Hohen Tatra in den Karpaten. Dort sind Geister und Dämonen Teil des täglichen Lebens. Es wird sogar zum größten Teil danach ausgerichtet und dementsprechend viel habe ich mitbekommen. Ich weiß, dass es die jenseitige Welt gibt, auch Geister und Vampire. Und – Ghule natürlich auch.« »Womit wir beim Thema wären«, brummte der Professor. »Sie haben bereits ähnliche Überlegungen angestellt?« »Natürlich, Pan Čech. Wenn man um die Existenz dieser Dinge weiß, dann kommt man gar nicht daran vorbei.« »Eben. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Ghul Marek Benes getötet und aufgefressen hat.« Zamorra nahm einen Schluck Kaffee. Sein Jagdinstinkt erwachte so langsam. Der Gedanke an das Siegelbuch spielte plötzlich nur noch eine untergeordnete Rolle. »Wie können Sie sich da so sicher sein, Pan Čech?« Ein Räuspern war zu hören. »Nun, Professor, da muss ich ein wenig ausholen. Wissen Sie, nachdem damals der Eiserne Vorhang gefallen ist, habe ich mich entschlossen, Geschäftsmann zu werden. Nun ja, wie soll ich sagen, ich habe mir ein paar Objekte in Prag gekauft und betreibe sie. Hotels, Restaurants, Nachtbars, diese Dinge, Sie wissen schon. Und da ich Jude bin, habe ich mich auch um die Vermarktung des alten jüdischen Friedhofs bemüht. Nun, was soll ich sagen, ich habe sie bekommen. Das ist ein lukratives Geschäft, denn der Friedhof zieht jährlich viele tausend Touristen an. Und da war es für mich selbstverständlich, dass ich mich auch an den immer wieder nötigen Reparaturarbeiten an den umliegenden Synagogen und an der Zeremonienhalle beteilige. Mit den bescheidenen finanziellen Mitteln, die ich eben beisteuern kann. Nun, wie Sie vielleicht wissen, Pan Professor, wurde in den Gewölben der PinkasSynagoge, die direkt neben dem alten Friedhof liegt, eine mittelalterliche Mikwe ausgegraben.« »Hm. Das ist doch ein rituelles jüdisches Tauchbad.« »Ja, genau. Auf jeden Fall haben wir, als wir einige Nebenräume
abstützen wollten, seltsame Erdgänge gefunden, die weit in den Friedhof hinein führen. Wir haben diese Gänge zum Teil mit einer Kamera erkundet, wie sie Rohrreiniger benutzen und festgestellt, dass diese Gänge direkt bei verschiedenen Gräbern enden.« Wieder lachte Čech leise. »Nun, ich weiß nicht, wie gut Sie über den alten jüdischen Friedhof hier in unserem goldenen Prag Bescheid wissen, Pan Professor. Es ist auf jeden Fall so, dass auf dem relativ beengten Raum die Toten über Jahrhunderte weg in insgesamt zwölf Schichten übereinander bestattet wurden. Schätzungsweise liegen hunderttausend bis zweihunderttausend Tote hier. Das weiß keiner genau. Auf jeden Fall ist der Boden geradezu gespickt mit Gebeinen und Sargresten. Irgendwie ist es da logisch, dass diese Gänge immer irgendwo zu Grabstätten führen. Nun, was soll ich sagen, deswegen habe ich das Ganze auf sich beruhen lassen. Auch aus dem Grund, weil der letzte Tote namens Moses Beck bereits 1787 hier beigesetzt wurde und die Gänge mit hoher Sicherheit ziemlich alt waren, da es auf dem Friedhof ja schon lange nichts mehr für Ghule zu holen gab.« »Ich verstehe. Aber inzwischen sieht die Sache anders aus.« »So ist es, Pan Professor. Wissen Sie, wenn man als Geschäftsmann ein wenig Erfolg hat, nun, wie soll ich sagen, da bleibt es nicht aus, dass man auch über die eine oder andere nützliche Verbindung verfügt. Deswegen kenne ich auch den Untersuchungsbericht der Polizei. Und da steht drin, dass die Gebeine des Toten Biss- und Kratzspuren aufweisen, die keinem bekannten Tier zugeordnet werden können.« »Interessant.« »Nicht wahr?« »Gut, Pan Čech, das hört sich also tatsächlich nach Ghul an. Aber wenn ich mich recht erinnere, ist das Skelett auf dem neuen jüdischen Friedhof gefunden worden. Der ist doch ein ganzes Stück weg vom alten, stimmt's?« »Ja, stimmt.« »Und Sie rufen mich nun an, weil Sie auf Grund des Polizeiberichts und Ihrer eigenen Entdeckungen sicher sind, dass Ghule in Prag ihr Unwesen treiben.«
»Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen, Pan Professor. Sie sind sehr scharfsinnig. Sie denken nämlich, dass es für mich auf Grund des Skelettfundes zunächst einmal keine Veranlassung gegeben haben dürfte, die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchung einzusehen. Denn das Opfer lag nicht in der Erde und Ghule fressen ja nur das, was im Boden liegt.« »So ungefähr, ja.« »Nun, Pan Professor, Sie haben völlig Recht. Es besteht meinerseits, nun, wie soll ich sagen, ein privates Interesse. Sehen Sie, ich bin seit zwei Wochen verlobt. Mit der schönsten und besten Frau, die Sie sich vorstellen können.« »Wieso, ich kenne den Typ doch gar nicht«, flüsterte Nicole. »Meine Verlobte heißt Jarmila. Und ich hatte ihr versprochen, dass wir am vergangenen Wochenende unsere Verlobungsreise nach Paris machen. Es war schon alles gebucht und sie war schon sehr aufgeregt, da sie immer schon nach Paris wollte. Nun, was soll ich sagen, einen Tag vor unserer Abreise rief mein Onkel an, dass es ihm schlecht gehe. Er sei sehr krank, meinte er, und er wolle mich unbedingt sehen, da er nicht wisse, ob er die Krankheit überlebe.« »Hat er überlebt?« »Ja, Pan Professor. Wissen Sie, mein Onkel übertreibt manchmal. Aber er hat mich großgezogen und viel für mich getan. Wenn er mich braucht, dann kann ich nicht anders, dann gehe ich zu ihm. Das bin ich ihm schuldig.« »Hm. Und deswegen haben Sie dann den Paris-Trip mit Ihrer Verlobten platzen lassen, richtig?« »Ja, genau so war es.« Nicole verzog das Gesicht und machte den Scheibenwischer. »Sie können sich vorstellen, dass meine Jarmila ziemlich ungehalten war. Sie warf mir vor, dass mir mein Onkel, der alte Hypochonder, wichtiger sei als sie. Ich versuchte sie zu besänftigen und bot ihr an, mich zu begleiten. Ich versprach ihr, dass wir die Reise in zwei, drei Monaten nachholen. Aber was soll ich sagen, meine Jarmila ist sehr stolz. Sie ging nicht mit und hat stattdessen geschmollt. Ich war ja froh, dass sie die Verlobung nicht gleich wieder gelöst hat. Wie ich dann aber herausgefunden habe, ist sie an dem Abend, als ich
abgereist war, mit ihrem ehemaligen Freund ausgegangen. Ganz sicher, um mir einen Denkzettel zu verpassen. So ist sie eben. Nun, es war sicher nichts Ernstes. Denn sie hasste Marek Benes wie die Pest. Sie muss also einen ganz schönen Zorn auf mich gehabt haben. Nun, in der Nacht vor dem Skelettfund wurden Jarmila und Marek noch zusammen im ›Darling Cabaret‹ gesehen. Und dann war Marek tot und Jarmila ist seither verschwunden.« Čechs Stimme wurde plötzlich drängend. Sie zitterte zudem leicht. »Pan Professor, ich mache mir die größten Sorgen, können Sie das verstehen? Bitte, bitte helfen Sie mir. Ich möchte meine Jarmila wiederhaben. Und wenn sie … wenn sie, Sie wissen schon, dann will ich, dass die dämonischen Mörder zur Rechenschaft gezogen werden.« Čechs mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung brach nun wie ein Kartenhaus zusammen. Sie hörten beide, dass er schluchzte. »Kein Problem, Pan Čech. Natürlich helfe ich Ihnen. Meine Lebensgefährtin und ich kommen mit dem nächstmöglichen Flug nach Prag.«
6. Das Buch der 13 Siegel Abgrund der Zeiten Merlin materialisierte auf dem Hochplateau. Rings um ihn erhoben sich schroffe Bergriesen, deren Gipfel und Abhänge mit Schnee bedeckt waren. Der Fürst der Finsternis wartete. Kurze Zeit später erschien ein mächtiger Schatten auf dem Schneefeld und schob sich über ihn. »Ich grüße dich, Randir«, sagte er, ohne hochzublicken. Der etwa fünf Meter lange, lederhäutige, panzerbewehrte Drache mit dem Hornkamm, der von der Schnauze über den Kopf bis zur Schwanzspitze führte, landete vor ihm auf seinen zwei mächtigen Säulenbeinen. Er schlug dabei mit den weit ausladenden Flügeln. Schnee stob auf. Dann verschränkte er seine Arme vor der Brust, so wie es Menschen und Dämonen zuweilen taten. Dabei kratzte er sich mit den langen, messerscharfen Krallen seiner Klauen seitlich am Brustkorb. Ich grüße dich auch, Merlin, Fürst der Finsternis. Du bist pünktlich, erwiderte er den Gruß in der telepathischen Art, in der sich die Drachen normalerweise verständigten. Merlin musterte Randir. Er war einer von etwa 400 Drachen, die auf der Erde lebten. Damit beherbergte der blaue Planet mehr dieser mächtigen Wesen als jede andere Welt außerhalb des Drachenlandes. Nur dort, in der Heimat, waren einige tausend von ihnen zu finden. Während die meisten Drachen ihre Heimat aus Abenteuerlust verließen, um irgendwann wieder zurückzukehren, war Randir vom Rat der weisen Geschuppten auf ewig aus dem Drachenland verbannt worden. Er hatte nicht nur zwei Drachen getötet, sondern darüber hinaus enorme magische Fähigkeiten, die der Rat fürchtete. Denn sie unterschieden sich deutlich von dem, was Drachen normalerweise konnten. Zudem war Randir machtbesessen und schreckte vor nichts zurück. Keine Kombination also, die ihm langen Verbleib im Drachenland garantiert hätte. Doch auch auf der Erde war Ran-
dir ein Außenseiter unter den Drachen, seit er versucht hatte, die Macht über sie zu gewinnen. So hatte er sich der Dämonensippe der Or angeschlossen, die sich hier auf der Erde niedergelassen hatte und herrschte nun über sie. Hast du meinen Auftrag erledigt, Randir? Ein Feuerstoß kam aus den Nüstern des Drachen und schmolz den Schnee vor ihm. Ja, ich habe ihn erledigt, auch wenn du mir wenig Zeit gelassen hast. Du wirst zufrieden sein, Merlin. Doch bevor ich dir mein Werk übergebe, frage ich dich noch einmal: Stehst du zu deinem Wort, dass ich dein Berater und Stellvertreter in den Schwefelklüften werde? Ja. Wenn ich zufrieden bin. Dann sieh her. Randir murmelte einen Zauberspruch. Ein großer Foliant, der bisher unsichtbar unter dem linken Flügel gesteckt hatte, gewann an Konturen. Plötzlich schwebte er frei vor dem Drachen in der Luft. Merlin spürte sofort die absolute Bösartigkeit, die davon ausging. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber ein Buch sicher nicht. So schwieg er erst einmal. Dies ist das Buch der Macht, das ich mit meinen Fähigkeiten sowie dem Blut und der Haut eines starken Dämons namens Achatuk angefertigt habe, damit das wirken kann, was du von mir gefordert hast. Denn bei der Größe der Aufgabe hätte meine besondere Magie alleine nicht mehr gewirkt und so musste ich sie mit der Kraft des Dämons verstärken. Mit meiner Sensormagie sollte ich dir ein Instrument schaffen, das dich warnt, wenn dein Bruder Asmodis wieder auf bestimmte Art und Weise, die dir schaden könnte, im Multiversum aktiv wird. Dieses Buch ist dieses Instrument. Und es ist ein Buch geworden, weil ich Bücher über alles liebe. Ich habe über zehntausend mögliche Szenarien, wie Asmodis aktiv werden könnte, mit eingearbeitet, also alle, die du mir genannt hast. Auf jede einzelne dieser Möglichkeiten spricht das Buch nun an. Und zwar in dem von dir gewünschten Umkreis, in allen von dir genannten Universen. Denn so weit reicht meine Sensormagie, die nun auch dieses Buch beseelt. Insgesamt dreizehn Mal wirst du es nutzen können. Dann kann sich die darin enthaltene Magie nicht mehr in ausreichendem Maße erneuern, weil sich das unterstützende Dämonenblut verbraucht hat. Aber dreizehn ist eine ausreichende Menge, um zu erkennen, ob Asmodis dir schaden will oder nicht. Ist das richtig?
Merlin machte ein Zeichen der Zustimmung. Gut. Ich und mein Helfer, einer der Or-Dämonen, haben uns dafür entschieden, dreizehn einzelne Kapitel anzulegen. Jedes Kapitel kann nur einen einzigen magischen Vorgang melden, den es sich allerdings selbst aussucht. Das ist vorteilhaft. Denn so ist es unmöglich, dass die Sensormagie des Buches auf zwei oder mehrere Vorgänge reagiert, die kurz hintereinander oder durch Raum-Zeit-Verzerrungen sogar gleichzeitig stattfinden könnten und diese dann durcheinander wirft. Das würde außerdem zu viel magische Kraft brauchen, was auf Kosten anderer Kapitel ginge. Zudem kannst du niemals zwei Kapitel gleichzeitig öffnen, sondern nur eines nach dem anderen. Das ist eine reine Sicherheitseinrichtung denn auch so werden die magischen Strukturen des Buches nicht wissentlich oder unwissentlich überfordert. Du musst wissen, dass sich nach jeder Kapitelöffnung die Magie des Buches erst wieder erholen muss, wie ich bereits angedeutet habe, um bereit für den nächsten Vorgang zu sein. Das braucht eine gewisse Zeit. Erst dann lässt sich das nächste Kapitel öffnen. Randir kicherte. Und noch etwas will ich dir berichten. Mit dem Blut des toten Dämons Achatuk ist ein Teil seines Bewusstseins mit in das Buch geraten. Dieser Bewusstseinsteil ist ständig von großer Wut und Zorn beseelt, da er in dieser Gefangenschaft große Qualen erleidet, wie du ja auch unschwer an der wunderbar bösartigen Ausstrahlung des Buches feststellen kannst. Das Bewusstsein des Dämons wird erst wieder daraus befreit, wenn das Dämonenblut verbraucht, also das letzte Kapitel geöffnet ist. Dann besteht sogar die Chance, dass sich Achatuk um seinen Bewusstseinsteil noch einmal erneuern kann. Deswegen versucht er, bei dem Benutzer eine Art Sucht zu erzeugen, damit die Kapitel so schnell wie möglich geöffnet werden. Es ist aber sicher kein Problem für dich, dieser Sucht entgegenzuwirken. Du bist stark genug Fürst. Natürlich. Und woher weiß ich nun, wann Asmodis aktiv wird? Denn wenn ich es richtig verstehe, wäre jedes Kapitel vergeudet, das ich grundlos öffne. Ja, das ist richtig. Deswegen wird sich das Buch der Macht bei dir mel den, wenn etwas passiert. Du wirst ein leises Sehnen, einen Drang verspüren, es zu öffnen. Tust du es nicht, so wird es zunächst den Drang verstärken und wenn du ihm nicht nachgibst, den Vorgang so lange speichern, bis du ihn abrufst und erst dann nach dem nächsten suchen. Aber momentan ist es inaktiv. Wenn es mit der Suche anfangen soll, musst du es ein einzi-
ges Mal aktivieren. Aha. Ja. Und noch etwas, Fürst, das du beachten musst. Solltest du tatsächlich zu lange mit dem Öffnen eines Kapitels warten, nachdem es sich gemeldet hat, werden die Bilder, die es dir liefert, nicht nur undeutlich, sie können sich sogar zu völlig neuen Szenarien zusammensetzen. Um die richtigen Bilder zu sehen, gibt es dann nur noch eine Möglichkeit. Du musst die Zeitschau anwenden, mit der du in die Vergangenheit des jeweiligen Ereignisses gehen kannst. Dann siehst du wieder, was wirklich geschah. Zeitschau? Du verfügst wahrlich über eine sehr starke und außergewöhnliche Magie, Randir. Aber ich werde es berücksichtigen. Ich bin sicher. Weil nun die einzelnen Kapitel nur von dir und von keinem anderen geöffnet werden sollen, habe ich sie magisch gesichert. Jedes Kapitel lässt sich nur mit einem bestimmten magischen Zeichen öffnen. Diese mächtigen Zeichen, die Teil meiner besonderen Magie sind überlasse ich dir, Merlin. Und zwar mental, so dass nur du sie benutzen kannst. Wenn du eines dieser Zeichen, egal welches, über den Kapiteln in die Luft malst, werden sie sich öffnen und ihr Wissen preisgeben. So kann niemand, der die Zeichen nicht kennt, die Kapitel je öffnen. Ich verstehe. Gut gemacht. Danke. Ich habe sogar noch mehr getan. Sieh es dir an … Der Umschlag öffnete sich wie von Zauberhand. Ich habe die dreizehn Kapitel inmitten anderer Zaubersprüche und Aufzeichnungen versteckt, so dass das Buch auf den ersten Blick wie ein ganz normales Zauberbuch wirkt. Und wie du siehst, habe ich es mit kleinen, beweglichen Bildern versehen, die dich bereits beim Aufschlagen erfreuen sollen. Merlin nickte. Ich denke, das werden sie tun. Ja, das werden sie. Schau her, Fürst der Finsternis, hier habe ich noch etwas. Unter den lebenden Bildern schälte sich eine Figur hervor und drehte sich langsam. Merlin sah sich selbst, genau so, wie er gerade hier stand. Du wirst von dir selbst begrüßt werden, wenn du das Siegelbuch benutzt, Fürst der Finsternis. Und zwar mit den besten Weisheiten aus der Welt der Drachen, die dich auf das einstimmen, was kommt. Merlin dankte und nahm das Buch entgegen.
7. Die zweite Tafelrunde Jahr 502 der neuen Zeitrechnung, Sachsenküste, Britannien König Artus stand auf dem Leuchtturm von Portus Dubris* und beobachtete über die steilen Küstenfelsen hinweg die fast 50 sächsischen Langboote, die sich der britannischen Küste näherten. Seine rechte Hand umklammerte den Griff seines Schwertes Excalibur und es sah aus, als wolle er es jeden Moment ziehen. Aber noch war es viel zu früh. »Sie sind zahlreich wie die Sandkörner am Strand«, sagte Lancelot, der neben ihm stand und seine Fäuste auf die steinernen Zinnen stemmte. »Mehr, als wir erwartet haben. Bisher sind nie mehr als fünfzehn, zwanzig Boote auf einmal gekommen. Horsa und Hengist scheinen nun endgültig ernst zu machen.« Artus nickte, als er kurz an die beiden mächtigen Sachsenfürsten dachte. Zu gerne hätte er einen oder gar beide von ihnen vor sein Schwert bekommen, denn »Pferd« und »Hengst«, so die Bedeutung ihrer Namen, hatten in den letzten Jahren mehr Unheil über Britannien gebracht als all die anderen wilden Völker zusammen. Und nun würde es also weitergehen … Artus' langes, blondes Haar, das er von seinem Vater Uther Pendragon geerbt hatte, flatterte im kalten Küstenwind. Die Boote glitten über den grauen, kaum bewegten Oceanus Britannicus daher. Laute Kommandos wurden vom Wind herüber zum Kastell getragen. Rhythmisch tauchten die Ruder ins Wasser und Artus ertappte sich dabei, dass er den Rhythmus mitzählte. Es waren allesamt große Boote, die größten, die die Sachsen bauten. Und so brauchte der britannische Großkönig nur hochzurechnen, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun haben würden. 45 sächsische Krieger samt Aus*Hafenstadt von Dubris, das heutige Dover
rüstung gingen in eines der flachen, breiten Schiffe, die ohne Segel, ausschließlich von Ruderern fortbewegt wurden. In gut einer halben Stunde würden sich über zweieinhalbtausend Barbaren auf die heilige Erde Britanniens ergießen. Viel zu viele für seine rund 1000 Soldaten. Die kämpften zwar tapfer, waren aber noch nicht so gut ausgebildet und erfahren, wie Artus es gerne gehabt hätte. Bei den meisten Soldaten seines Heers handelte es sich um Bauern und Tagelöhner, denen das Waffengeschäft von Grund auf beigebracht werden musste, denn in seinem verzweifelten Abwehrkampf brauchte er jeden Mann. Gewiss, sie waren willig und folgten ihm, ihrer Lichtgestalt, bedingungslos, aber sie waren eben auch in ihren Möglichkeiten beschränkt. Und die immer stärkeren Angriffe der Sachsen machten es nötig, dass seine Männer oft nur mit einem Minimum an Ausbildung in den Kampf ziehen mussten. Dass seine Britannier die Sachsen aber bisher immer wieder ins Meer zurücktreiben und ihnen empfindliche Verluste beibringen konnten, hing mit den Befestigungsanlagen an der so genannten Sachsenküste zusammen. Bereits im zweiten Jahrhundert hatten die Römer entlang der Süd- und Südostküste Britanniens eine Kette stark befestigter Militärlager und Flottenstationen errichtet. Die Litus Saxonicum hatte dazu gedient, schon damals einfallende Sachsenstämme und Seeräuber abzuwehren. Auch wenn die Römer längst wieder aus Britannien abgezogen waren, so kamen ihre Hinterlassenschaften nun dem britannischen Großkönig zugute. Artus hatte sich schon öfters als begnadeter Feldherr erwiesen, der den Wall noch immer intakter Festungsanlagen geschickt zu nutzen wusste. Und natürlich die rund 300 Liburnen, die die Römer ebenfalls hinterlassen hatten. Die leichten, wendigen, mit nur zwei Ruderreihen versehenen Kriegsschiffe waren die Überreste der Classis Britannica, jener Flotte also, die einst den reibungslosen römischen Schiffsverkehr zwischen Britannien und Gallien gewährleistet und zudem den Vormarsch der römischen Legionen in Britannien unterstützt hatte. Später waren die Liburnen dann an der Sachsenküste zur Unterstützung der in den Kastellen stationierten Truppen eingesetzt worden. Eine Taktik, die sich seit mehreren Jahren auch Artus zunutze machte.
»Wir dürfen sie nicht landen lassen, mein König«, sagte Lancelot mit drängender Stimme und fuhr sich durch seine schütteren, schwarzen Haare – so wie er es immer tat, wenn er aufs Äußerste angespannt war. »Wir müssen sie mit unseren Liburnen bereits auf dem Wasser stellen und ihnen schon dort hohe Verluste beibringen. Nur wenn sie bereits auf dem Wasser ein Drittel ihrer Männer verlieren, werden wir ihnen an Land gewachsen sein.« »Das wäre falsch«, widersprach Mordred, Artus' Neffe. Er widersprach Lancelot grundsätzlich, denn Artus' bester Freund war sein direkter Konkurrent, wenn es darum ging, wer dem König irgendwann auf den Thron Britanniens nachfolgte. Der finster aussehende, untersetzt wirkende Ritter, der mit Vorliebe schwarze Rüstungen wählte, wusste, dass Artus ein Liebling des Zauberers Merlin war. Und nicht nur das: Auf Merlins Veranlassung hatte ein geheimnisvolles Wesen, das sich »Erbfolger« nannte, den Großkönig zu einem mystischen Ort namens »Quelle des Lebens« geführt. Artus hatte Wasser daraus getrunken und war nun relativ unsterblich. Das bedeutete, dass er ewig lebte, wenn niemand ihn tötete. In diesen Zeiten allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Mordred, der dieses Geheimnis in einem Gespräch Artus' mit seiner Gemahlin Guinevre erlauscht hatte, machte sich also trotzdem Hoffnungen auf Britanniens Krone. Vor allem auch deswegen, weil er Artus' Ableben trotz des magischen Lebenswassers in dessen Adern durchaus nachhelfen konnte. Aber zuerst musste Lancelot weg. »Es wäre falsch«, wiederholte er, als ihn die anderen Ritter in Artus' Gefolge, elf an der Zahl, anstarrten. Lancelot, der Größte unter ihnen, funkelte ihn an. »Und warum, mein Lieber, meint Ihr, dass es falsch wäre?« »Seht Ihr nicht, dass kleine, dünne Rauchfahnen von den Schiffen aufsteigen? Die Sachsenhunde können nicht ganz verbergen, dass sie Feuer in ihren Kesseln gemacht haben. Warum, glaubt Ihr wohl, haben sie das Holz entzündet? Sie warten nur auf unsere Liburnen, um sie dann mit Brandpfeilen zu beschießen. So schnell und wendig unsere Schiffe auch sind, den Brandpfeilen können sie nicht entkommen.« Lancelot wand sich unbehaglich. »Ritter Mordred liegt nicht so
falsch, denke ich«, murmelte Galahad. »Wo haben wir nur unsere Augen und unsere Gedanken gehabt?« Artus regte sich indessen nicht. Mordred wandte sich direkt an Artus. »Mein Onkel, König, begreift Ihr denn nicht? Die Sachsen sind keine Wilden, sondern sie verstehen es, geordnet zu kämpfen und aus ihren Niederlagen zu lernen. Sie wollen uns hier und jetzt mit unseren eigenen Waffen schlagen, indem sie unsere Liburnen, von denen sie zweifellos wissen, aus den Verstecken locken.« Artus sah ihn mit seinen grauen Augen durchdringend an. »Und welches Vorgehen schlagt Ihr stattdessen vor, Ritter Mordred?« »Lassen wir sie auf dem Strand landen und greifen wir sie dann mit unserer Kavallerie an. Die Sachsen verehren zahlreiche Pferdegötter, wie wir in der Zwischenzeit wissen. Sie werden also nicht mit aller Kraft und Leidenschaft gegen Pferdesoldaten kämpfen, sondern sich vielmehr zurückhalten, vielleicht sogar verwirrt sein, denn die Pferde sind heilige Wesen für sie. Das ist es, was wir tun müssen.« Die Ritter Gawain und Erec nickten entschlossen. »Das hört sich richtig an, mein König«, sagte Gawain. »Wir sollten es so machen, wie Ritter Mordred es vorschlägt.« Artus nickte, obwohl er sichtlich daran knabberte, seinem besten Freund Lancelot einen Korb geben zu müssen. Aber hier und jetzt ging es nicht um persönliche Freundschaften. Und Mordred hatte sich schon einige Male als kluger, scharfsinniger Kopf hervorgetan, der zudem mit selten klarer Weitsicht gesegnet war. Nicht nur einmal war eingetroffen, was er vorausgesagt hatte. Und hätte Artus nicht eine derartige Abneigung gegen seinen bei aller Brillanz äußerst intriganten Neffen gehegt, er hätte ihn sicher längst zu seinem persönlichen Ratgeber gemacht. Die völlig unwahren Gerüchte, die am Hof von Camelot umgingen, dass nämlich Guinevre, seine über alles geliebte Frau, ihn mit Lancelot betrog, waren sicher von ihm gestreut. Aber das konnte Artus bisher nicht beweisen. »Wir tun also, was Ritter Mordred uns geraten hat«, sagte Artus nach kurzem Zögern. »Doch wir werden den Sachsenhunden zuvor noch ein wenig einheizen. Ritter Gawain, Ihr werdet eilen und alle
drei Kavallerieabteilungen beim Felsendom zusammenziehen. Ritter Erec, Ihr übernehmt hier oben auf der Festung das Kommando über die Feuerschleuderer. Sobald alle Sachsen am Ufer stehen, deckt ihr sie tüchtig ein. Zusätzlich sollen sie mit einem Hagel unserer Pfeile überschüttet werden. Wenn genügend Verwirrung herrscht, galoppieren wir an der Spitze unserer Soldaten in den Hafen hinab und dezimieren die Sachsenhunde tüchtig. Und wenn wir die Überlebenden ins Meer zurückdrängen, dann schneiden ihnen unsere Liburnen den Rückzug ab.« Für Artus und seine Ritter wäre es niemals infrage gekommen, den Kampf Mann gegen Mann zu meiden. Er musste am Ende stehen, egal, was zuvor auch immer an Kriegslist angewandt worden war. Ihre ritterliche Ehre ließ keine andere Handlungsweise zu. Selbst jetzt, wo Artus relativ unsterblich geworden war, konnte er nicht anders. Und es war der Grund, warum Erec ziemlich missmutig nickte. Auch er hätte lieber sächsische Krieger direkt vor das Schwert bekommen. Aber er fügte sich in den Willen seines Königs. Die Ritter eilten nach unten. Gut versteckt warteten innerhalb der alten römischen Hafenanlagen die britannischen Soldaten. Artus hielt kurze, flammende Reden vor den einzelnen Abteilungen, schwor sie auf sich ein, segnete die bunten Standarten und gab den Kommandanten entsprechende Anweisungen. Dann begab er sich mit seinen Rittern in das alte Lagergebäude für Getreide, wo seins und die Pferde seiner Ritter warteten. Die mit Leder gepanzerten Tiere schnaubten und scharrten ungeduldig mit den Hufen. Sie ahnten bereits, was kam. Artus setzte seinen prächtigen, aus Silber- und Bronzeblech hergestellten und mit zahlreichen goldenen Verzierungen versehenen Spangenhelm auf, ordnete den Nackenschutz aus Kettengeflecht und warf sich schließlich den weißen Umhang mit dem roten Drachen darauf über die Schulter. Im Gegensatz zu den Helmen der anderen Ritter, die lediglich einen Nasenschutz besaßen, bedeckte Artus' Helm dessen ganzes Gesicht. Nur die Augen, der Mund und die Atemlöcher des nachgebildeten Nasenrückens blieben frei. Wenn der König so auf seine Feinde zusprengte, wirkte es, als käme ein furchtbarer Rachegeist aus der Unterwelt auf sie zu. »Wir werden
eine besondere List anwenden«, sagte er plötzlich und löste damit hoffnungsvolle Blicke bei seinen Rittern aus. Eine halbe Stunde später landeten die ersten Schiffe der Sachsen. Die wild aussehenden Männer, die sich im Gegensatz zu vielen anderen Germanenstämmen nicht nackt in den Kampf stürzten, sprangen unter dem Absingen markerschütternder Lieder auf den Strand und zogen die Schiffe weiter aufs Trockene, um sie dort zu vertäuen. Ein Teil der Krieger bildete jedoch sofort eine Schutzphalanx gegen die Felsen hin. Bald darauf waren alle Schiffe gelandet. Am Strand herrschte ein unüberschaubares Gewimmel. Krieger setzten ihr Gepäck auf den Rücken und suchten ihre Einheiten, um sich ihnen anzuschließen. In diesem Moment war ein seltsames vielstimmiges Pfeifen zu vernehmen. Von der hoch auf einem Felsen liegenden Festung zischten gleichzeitig hunderte von brennenden Geschossen heran, zogen lange Rauchbahnen hinter sich her und schlug mitten zwischen den Sachsen ein! Die brennenden Pechkränze, aus hölzernen Kernen und darum gewickelten, pechgetränkten Schnüren gemacht, schafften es kaum, Verwirrung unter den Landungstruppen zu stiften. Daran änderten auch die starke Rauchentwicklung und die vielen schrillen Schreie nichts, die dort ertönten, wo das brennende Pech in Gesichter oder auf andere Hautteile traf und Bärte und Kleider in Brand setzte. Insgesamt zielten die britannischen Schützen an den Katapulten aber schlecht, denn mindestens zwei Drittel der Geschosse flogen viel zu weit. Der Pfeilhagel, der folgte, war zwar wesentlich besser platziert, aber die Sachsen fingen den Großteil der Geschosse mit ihren Schilden ab. Laute Kommandos ertönten. Die Krieger stürmten zu den weiter hinten liegenden Hafengebäuden, um dort Deckung zu suchen. In diesem Moment brach die Kavallerie der Britannier zwischen den Felsen hervor. Bunt gewandete Ritter preschten der breiten Front voran, über der sich ein Wald langer Speere und wehender Standarten erhob. Martialisches Kriegsgebrüll, geboren aus Wut und Todesangst, übertönte das lauter werdende Hufgetrappel. Die Eindringlinge,
ihre Saxe* bereits zum Kampf erhoben, zögerten plötzlich, als sie erkannten, dass kein Stück Leder die Pferdeleiber schützte. Artus und seine Ritter prallten in vorderster Front auf die Sachsen. Schwerter klirrten, erste Todesschreie ertönten. Leiber wurden von gesenkten Lanzen aufgespießt oder wirbelten durch die Luft, Körper wurden von Pferdehufen zermalmt, Reiter fielen von ihren Pferden. Schon bald war das gesamte Schlachtfeld ein einziges Durcheinander aus Brüllen, Pferdewiehern, Klirren, Kampf und Sterben. Artus' kleine List zeigte tatsächlich durchschlagenden Erfolg. Die Sachsen kämpften nur mit halber Kraft, da sie sich fürchteten, die ungeschützten Pferde zu verletzen oder gar zu töten. Deswegen kamen sie schon bald in Nachteil. Erste sächsische Trupps zogen sich in Richtung ihrer Schiffe zurück. Artus, dessen Schwert Excalibur die Feinde wie Butter durchschnitt, zwang sein steigendes Pferd zu einem der sächsischen Anführer hin. Lancelot, vom Blut der Feinde am ganzen Körper rot, kämpfte dicht an seiner Seite. Mit einem Zügelruck wendete er sein Pferd hart auf der Hinterhand, um einen von hinten kommenden Feind zu erschlagen, den er aus den Augenwinkeln gesehen hatte. Er erwischte den Mann am Hals – und erstarrte, als sein Blick auf die nahen Klippen fiel. »Da! Der Tod!«, brüllte er entsetzt. Artus begriff den seltsamen Ausruf zuerst nicht. Wer anders als der Tod war momentan ihr engster und vertrautester Begleiter? Doch dann sah er auch andere Kämpfer innehalten; egal, ob sie seinen eigenen Soldaten oder den Feinden angehörten. Einige Schwerter klirrten zu Boden. Sächsische wie britannische Kämpfer drehten sich plötzlich um und begannen schreiend in Richtung Wasser zu rennen. Dabei stolperten sie über die zahlreichen Leichen und Verwundeten, wenn es ihnen nicht gelang, über sie hinwegzusetzen. Nun zog auch Artus sein Pferd herum. Eiskalt lief es ihm über den Rücken. Er riss die Augen auf und schluckte schwer. Auf einer Klippenkante, nahe dem Kastell, standen sie und starrten auf das Schlachtfeld herab. Vier riesenhafte Reiter. Ihre Pferde waren so ausgerichtet, dass Artus sie im Halbprofil sehen konnte, die beiden lin*Kurzschwert, gleichzeitig Namensgeber dieses germanischen Volksstammes
ken nach links und die beiden rechten nach rechts gerichtet, der jeweils äußere etwas nach hinten versetzt, so dass sie wie die Form einer Pfeilspitze gegeneinander gekehrt standen. Der Linke saß auf einem pechschwarzen Pferd, war ebenfalls von schwarzer Farbe und trug eine riesige Sense an einem speerlangen Schaft in der Hand. Sein Nebenmann hielt ein mächtiges Schwert mit breiter Klinge in der Rechten. Der Arm mit dem Schwert baumelte locker neben dem Bein des Reiters, das er dicht an den Pferdekörper gepresst hielt. Pferd und Reiter schimmerten so rot wie das Blut, das den Strand von Portus Dubris tränkte. Der Dritte im Bunde wirkte mitsamt seinem Reittier so weiß wie die Felsen von Dubris, die ganz in der Nähe in die Wasser des Oceanus Britannicus abfielen. Der Dämon stemmte mit beiden Armen ein Gefäß über den Kopf, das greller als eine weiße Sonne leuchtete. Trotzdem blendete das Licht den Großkönig nicht. Der vierte der Reiter schließlich trug einen schwarzen Mantel und hatte sein Haupt, ähnlich wie ein Mönch, in eine weite Kapuze gehüllt. Sie ließ nichts von seinem Gesicht sehen. Sein Pferd hingegen, aus dessen Stirn zwei mächtige Kampfhörner ragten, war von fahler, blasser Farbe. Das Entsetzliche an ihnen allen aber war, dass sie pures Grauen unter allen Menschen hier verbreiteten. Denn die Reiter bestanden, genau wie ihre Pferde, nicht mehr aus Fleisch, sondern nur noch aus blanken Knochen. In den Augenhöhlen der Reiter loderte ein unheimliches rotes Höllenfeuer und auch aus denen der Pferde schlugen rotgelbe Flammen. In die Reiter kam Bewegung. Die Knochenpferde bäumten sich auf machten einen mächtigen Satz über die Klippen! Unwillkürlich erwartete Artus, sie in die Tiefe stürzen zu sehen. Aber die unheimlichen Reiter blieben in der Luft. Sie galoppierten lautlos, auf einer schrägen, nach unten gerichteten Bahn auf ihn zu! In ihrem Schlepptau tauchten plötzlich hunderte von geisterhaften Skelettkriegern auf, die ebenfalls auf der unsichtbaren Bahn nach unten stürmten. Wild schwangen sie ihre Waffen. Die Knochenmünder der durchscheinenden Gestalten waren zu Kampfschreien aufgerissen. Weil
aber kein Laut daraus hervor drang, wirkte der Angriff der wilden Jagd noch gespenstischer. Artus handelte entschlossen. Er umklammerte Excalibur, das magische Schwert, das er von seinem Mentor Merlin erhalten hatte. Wenn er es auch im Kampf gegen ganz normale Gegner einsetzen konnte, so diente es doch eher der Abwehr schwarzmagischer, dämonischer Wesen. Zu diesem Zweck hatte Merlin auch das Amulett geschaffen, das Artus auf der Brust trug und das er mit den fliegenden Fingern seiner Linken unter der Tunika, die er unter dem Kettenhemd trug, hervorkramte. Eine grellrote Aura legte sich um die dämonischen Reiter und ihr Gefolge. Sie waren nun fast da. Während die Reiter Seite an Seite auf Artus zupreschten, schwärmten die Geistersoldaten aus und kamen in breiter Front über Sachsen und Britannier gleichermaßen. Wie eine Flut fuhren sie unter die entsetzten Männer. Sie schwangen Schwerter, Äxte und Keulen. Jeder Schlag fällte einen Menschen, während die wenigen, die sich wehrten, durch die Geister hindurch schlugen. Mit lautem Gebrüll zog Ritter Gawain vom Rücken seines Pferdes aus das Schwert durch den Knochenhals eines durchscheinenden Lanzenträgers. Da die Waffe auf keinen Widerstand traf, wurde Gawain vom Schwung fast heruntergerissen. Noch bevor er sich wieder fing, ragte plötzlich ein geisterhafter Speer aus seiner Brust. Gawain zuckte zusammen, ächzte, ließ das Schwert fallen und versuchte stattdessen, den Speer zu umklammern, der plötzlich grell aufleuchtete. Doch es trafen sich nur seine Hände. Trotzdem war der Speer aus dem Zwischenreich absolut tödlich. Blut quoll aus Gawains Mund, während er mit brechenden Augen vom Pferd kippte. Artus, der Zeuge dieses Todes wurde, brach es fast das Herz. Doch er musste sich auf die hauptsächlichen Feinde konzentrieren. Die dämonischen Reiter blieben im Gegensatz zu den Geistersoldaten zwei Speerlängen* über dem Boden. Sie kreisten den Großkönig ein. Die Skelettpferde bockten und stiegen, schlugen mit den Hufen und stießen noch stärkere Feuerlohen aus ihren Augenhöhlen und jetzt auch aus ihren Nüstern, während die grausam verzerrten Ske*eine Speerlänge = zwei Meter
lettfratzen auf Artus herunterschauten. Gut zweieinhalb Speerlängen hoch mochte jedes Reiterpaar sein und Artus kam sich für einen Moment so winzig und verloren vor wie eine Maus vor vier Katzen. Sein Pferd bäumte sich schrill wiehernd auf. Er sprang herunter, um beweglicher zu sein. Panisch stob das Tier davon. Der schwarze Dämon beugte sich am Pferdeleib vorbei nach unten. Die Sense, die er am äußersten Ende des Stiels gepackt hielt, sauste schräg von oben heran. Artus schrie. Innerhalb eines Lidschlags zog er sein Schwert nach oben. Es prallte auf die schwarze Sense. In diesem Moment flammte Excalibur auf. Weißes Licht umfloss die Klinge. Gleichzeitig legte sich der grüne Schutzschirm, den das Amulett produzierte, um den britannischen König. Artus spürte einen mächtigen Schlag im Handgelenk. Doch er konnte Excalibur halten. Stattdessen wirbelte die schwarze Sense über den Kampfplatz. Dabei drehte sie sich blitzschnell um sich selbst. Galahad, der nicht weit entfernt stand, um Artus hilfreich zur Seite stehen zu können, wurde von der heransausenden Waffe, deren Klinge drei Mal so groß war wie er selber, am Arm geritzt. Die leichte Schramme, die durch das aufgerissene Lederhemd entstand, wäre nicht tödlich gewesen. Doch die schwarze Energie, die dadurch in Galahads Körper gelangte, verbrannte den Ritter blitzschnell von innen heraus. Innerhalb eines Lidschlags stand er in hellen Flammen. Bevor er auch nur einen Schrei tun konnte, rieselte schwarze Asche vom Pferderücken herab. Artus sah, dass sich ein leuchtendes Schemen aus der Asche löste, zum Himmel schwebte – und von der schwarzen Klinge aufgesogen wurde! Galahads Seele! Der brave Ritter fuhr soeben zur Hölle … Artus brüllte vor Schmerz und Wut. Während die Sense sich auflöste und im selben Augenblick wieder in der Knochenhand seines Besitzers erschien, gab der König dem Amulett gedanklich den Angriffsbefehl. Silberne Blitze zuckten hervor und schlugen in die Brust des Sensenmannes ein. Die Wucht schleuderte ihn rückwärts vom Pferd, während die Sense oben blieb und nun in der Luft über dem Knochenpferd schwebte. Lautlos fiel der Reiter zu Boden, wo er drei Sachsen und
zwei Britannier unter seinen Knochen zermalmte. Der Schwarze schlug mit abgehackten Bewegungen um sich. Zwischen seinen Rippenbögen tobte die Amulettenergie. Sie floss zäh wie silberne Lava auseinander, denn die Magie des Schwarzen versuchte sie daran zu hindern. Doch das Silberne schien stärker zu sein. Es breitete sich immer weiter aus und erreichte Kopf und Becken. Die missliche Lage des Schwarzen spornte seine dämonischen Brüder nun erst so richtig an. Der zweite schwarze Dämon, der auf dem fahlen Pferd saß, schlug seine Kapuze nach hinten. Statt eines Knochenschädels kam eine von Pestnarben und -beulen fürchterlich entstellte Fratze hervor. Die Unterlippe war stark zerfressen, die Oberlippe fehlte ganz. Aus dem, was man nur mit viel gutem Willen als Gesicht bezeichnen konnte, lösten sich Milliarden kleiner schwarzer Partikel und flogen auf Artus zu. Magische Pestbakterien! Sie verfingen sich in dem grünen Leuchten um Artus' Körper und ließen es gefährlich aufflackern. Sofort stellte das Amulett von sich aus die Angriffe mit den silbernen Blitzen ein. Artus spürte, dass es fast seine ganze Kraft brauchte, um die Boten des Schwarzen Todes zu eliminieren. An einigen Stellen zogen sich die schwarzen Partikel zusammen und bildeten größere Cluster. Grell leuchtete das Grün an diesen Stellen auf. Artus hatte das Gefühl, als schafften es die Pestpartikel, den Schirm wenigstens für Sekundenbruchteile entscheidend zu schwächen. Er lag nicht falsch damit. Die Reiter spürten es wohl ebenfalls. Der Weiße öffnete das leuchtende Gefäß über seinem Kopf. Weiß leuchtende Kugeln, deren Farbe über ihre wahre magische Natur hinwegtäuschte, zischten daraus hervor. Sie prallten ebenfalls gegen den Abwehrschirm. Für einen Moment spürte Artus eine schreckliche, kaum tragbare Furcht vor dem Versagen, vor Niedergang und Tod und davor, dass seine Seele in der Hölle landen und für alle Zeiten verdammt sein würde. Er wollte das Schwert senken, einfach aufgeben, denn Widerstand gegen die mächtigste Kraft der Schöpfung war ohnehin zwecklos. Ja, gib auf, Artus, denn du tust gut daran, flüsterten plötzlich die toten Seelen, die so zahlreich waren wie die Tropfen im Oceanus Bri-
tannicus, und das Wispern war überall um ihn her, gib dich geschlagen und dir wird es gut ergehen. Wir sind glücklich hier in der Hölle, teile unser Schicksal. Wir warten auf dich … Die Furcht ging in grenzenloser Euphorie unter. Artus wendete bereits Excalibur gegen sich, um sich hinein zu stürzen und auf geradem Wege in die wunderbare Hölle zu gelangen. In diesem Moment schaffte es das Amulett, den Schutzschirm wieder zu schließen. Die schlimmen Einflüsterungen waren mit einem Schlag weg. Voller Zorn brüllte Artus auf und richtete Excalibur wieder gegen die Feinde. Das Pferd des Blutroten machte einen mächtigen Satz auf den König zu und sank dabei um eine Speerlänge ab. Der blitzschnell erfolgte Schwertschlag war so stark, dass er einen Ungeschützten durchs halbe Universum geschleudert hätte. Doch der grüne Schirm eliminierte die Wucht und brachte seinerseits wieder die Kraft auf, zwei silberne Blitze zu schleudern. Der rote Reiter wurde ebenfalls nach hinten aus dem Sattel geschleudert. Gleich darauf saßen alle vier wieder auf ihren Pferden. Von allen Seiten drangen sie auf den stark keuchenden Artus ein, der wie ein grünes Fanal stand und wild mit dem grell aufleuchtenden Excalibur um sich schlug. Immer wieder sausten Sense und Schwert der Dämonischen heran, glitten aber am Schutz des Amuletts ab. Auch die weißen Kugeln und die Pestparasiten fanden jetzt keinen Durchgang mehr. Trotzdem schafften sie es, die grüne Farbe zu trüben, sie an einigen Stellen dunkler oder schwärzer werden zu lassen. Artus, dessen Arm immer schwerer wurde und der sich immer elender fühlte, kämpfte verzweifelt um seine Existenz. Er wusste, dass es nur noch eine Frage von Minuten sein würde, bis er zusammenbrach und die Macht des Amuletts endgültig erlosch. Denn er spürte längst, dass sich die magische Waffe an seinen Körperkräften bediente, um sich gegen die furchtbaren Reiter behaupten zu können. Seine Schläge kamen immer langsamer, zeitlupenhafter. Schließlich bekam er den Arm gar nicht mehr hoch, er sah seine Umgebung nur noch wie durch einen wässrigen Schleier. Mit einem Seufzen sank er auf die Knie, während Excalibur in den Sand fiel
und erlosch. Auch der grüne Schutzschirm wurde nun immer schwächer. Die Dämonen hielten kurz inne, um zur finalen Attacke auszuholen. Die schwarze Sense war bereit, um Artus' Lebensfaden zu durchschneiden und seine Seele aufzusaugen. Da erschien der weißhaarige, bärtige Mann wie ein Geist auf dem Felsen. Er trug eine weiße Kutte und einen flammend roten Umhang. Seine Arme hielt er hoch über den Kopf erhoben, in seiner rechten Hand lag eine goldene Sichel. »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé!« Merlin brüllte seinen Machtspruch geradezu. Gleichzeitig verschwand die Sichel aus seiner Hand – und materialisierte zwischen den Reitern! In diesem Moment schloss der Zauberer seinen Machtspruch ab – und die Sichel flog auseinander. Jedenfalls sah es so aus. Eine Kugel goldenen Lichts breitete sich explosionsartig aus und hüllte die Dämonischen genauso ein wie Artus. Der sterbende König hörte plötzlich grässliche Schreie und registrierte irgendwo ganz weit hinten in seinem Bewusstsein, dass es die dämonischen Reiter waren, die sie ausstießen. Und er glaubte, dass die Knochen der Reiter und Pferde in der Flut des goldenen Lichts plötzlich durchsichtig wurden und dass er darin die Schatten sich windender und zuckender Würmer sah. Die Reiter wurden nach allen Seiten weggeschleudert, verschwanden wie Geschosse im Himmel und fingen sich erst irgendwo über dem Horizont wieder. Sie suchten und fanden sich und galoppierten dann steil in den Himmel hinauf, wo sie hoch in den Wolken inmitten eines plötzlich auftauchenden grellroten Glühens verschwanden. Von der Geisterarmee war hingegen gar nichts mehr übrig geblieben. Artus kippte zur Seite und blieb im Sand liegen.
8. Ein Fluch erfüllt sich Juli 2005, Prag Nur langsam erwachte Jarmila Novákova wieder aus ihrer Ohnmacht. Seltsam verschwommene Formen und Farben tanzten vor ihrem Gesicht und nahmen erst allmählich feste Konturen an. Jarmila stöhnte. Sie zitterte bis in ihr Innerstes, denn jeder einzelne Knochen schien extra schockgefroren worden zu sein. Es gelang ihr kaum eine Bewegung, so steif war sie. Zudem spürte sie einen Geschmack im Mund, als habe sie eine komplette Müllhalde verspeist. Und ihre Zunge schien ein einziger dicker Klumpen zu sein. Da war doch etwas gewesen? Der Überfall! Schlagartig tauchte die Erinnerung aus der Schläfrigkeit ihrer Gedanken und half ihr, wieder zu sich zu kommen. Plötzlich sah sie, wo sie sich befand. In einem Verlies. Die Wände bestanden aus Ziegelsteinen, die Fugen waren teilweise mit Moos und Gras ausgestopft. Von der Decke hing an einem dünnen Draht eine Petroleumfunzel und spendete trübes Licht. Immerhin waren ihre Kidnapper so nett gewesen, sie auf ein paar Büschel Heu und Stroh zu legen. In einer Ecke stand ein leerer Kübel. Jarmilas Herz schlug hoch oben im Hals, als ihr die Gefährlichkeit ihrer Lage vollends bewusst wurde. Nur mit Mühe schaffte sie es, aufkommende Panik zu unterdrücken. Was hatten die Kerle mit ihr vor? hoffentlich nicht das, was sie glaubte. Langsam begann sie sich zu bewegen, sich wieder etwas geschmeidiger zu machen. Der kalte Schweiß klebte ihr wie ein Panzer auf der Haut, sie fühlte sich grässlich. Zudem plagte sie nun, da ihr Kreislauf so langsam in Schwung kam, immer stärkeres Kopfweh. Das mochte auch von den extremen Verspannungen herrühren, die
sie im Rücken- und Nackenbereich hatte. Außerdem knurrte ihr Magen wie ein ganzes Löwenrudel. Und die halbe Moldau hätte sie auch austrinken können. Mindestens. Irgendwann konnte sie sich wieder so weit bewegen, dass sie auf die Beine kam; wenn auch erst im dritten Anlauf. Die knallenge Hose wirkte nun als Hindernis und Jarmila überlegte für einen Moment, ob sie sie ausziehen sollte. Nein, bloß nicht … Sie schaute zufällig auf ihre Armbanduhr mit Datumsanzeige. Jarmila erschrak erneut. Ihr Blick fraß sich förmlich auf dem Zifferblatt fest. Konnte das sein? Wenn es stimmte, was sie sah, dann war sie fast vier Tage lang bewusstlos gewesen! Sie taumelte auf die schwere Holztür an der Stirnseite zu. Abgeschlossen. Wenn sie Näheres wissen wollte, musste sie sich also bemerkbar machen. Ein Vorhaben, vor dem sie andererseits Angst hatte. Sie wusste schließlich nicht, was passierte, wenn die Tür aufging. Trotzdem musste sie es tun. So gut es ging, klopfte sie mit ihren immer noch klammen Fäusten gegen die Tür. Das Holz fühlte sich so hart wie Beton an und sie glaubte nicht, dass sie besonders laute Geräusche erzeugte. »He, aufmachen, bitte«, rief sie also, aber auch ihre Stimme versandete im Kläglichen. »Bitte, aufmachen. Ich will wissen, wo ich hier bin …« Ein Hustenanfall beendete ihre Bemühungen. Sie brach wieder in die Knie und musste sich erstmal setzen. Nun stiegen auch noch Wellen von Übelkeit in ihr hoch. Hätte sie etwas im Magen gehabt, hätte sie sich nun erbrochen. So kam nichts außer etwas Schleim, als sie würgte. Aber Jarmila war erfolgreicher, als sie gedacht hatte. Plötzlich rumpelte es an der Tür. Ein schwerer Riegel wurde zurückgezogen. Dann öffnete sie sich mit lautem Quietschen. Auf dem Hintern robbte Jarmila ein Stück zurück. Dann saß sie da, die Beine angezogen, und starrte mit angstvollem Blick auf die Öffnung. Wer immer auch gleich kam, er schob zuerst einmal eine Welle unerträglichen Gestanks vor sich her. Er erreichte Jarmilas Nase und verursachte wiederum starken Würgereiz, noch ehe ihre tränenden Augen etwas wahrnahmen. Dann jedoch trat ein Mann
durch die Tür und musterte sie unverhohlen. Er war mittelgroß, hatte Hängebacken und eine überaus schlechte Haltung. Ein schwarzes T-Shirt mit aufgedrucktem Totenkopf spannte sich über seinen mächtigen Bierbauch. Am auffallendsten jedoch war sein kräftiges Gebiss. Die großen scharfen Zähne glichen eher denen eines Hais. Bei einem Menschen hatte Jarmila solche Zähne noch nie gesehen. Was sie zu der Frage brachte, wen oder was sie da tatsächlich vor sich hatte. Eine zweite, ähnlich aussehende Gestalt erschien. Eine Frau mittleren Alters dieses Mal. Das trug jedoch keineswegs zu Jarmilas Beruhigung bei, denn die Frau sah ähnlich ungepflegt aus, strähnige Haare, Typ ungewaschene Schlampe, und starrte sie womöglich noch mitleidloser an als der Dicke. Oder war es Gier? Gier wonach? »Bitte, wo bin ich hier? Was … haben Sie mit mir vor?« Jarmilas Stimme war fast nicht zu verstehen, so zitterte sie. »Wenn Sie Geld wollen, kein Problem. Mein … mein Verlobter wird sicher be… bezahlen, er … hat genug.« Die beiden starrten sie nur weiter an. »Wir wollen kein Geld, Herzchen. Am liebsten würde ich deinen Körper haben«, zischte die Frau plötzlich und kicherte höhnisch. Jarmila schauderte. Es wäre schon schlimm genug gewesen, von einem Mann oder mehreren vergewaltigt zu werden, aber von dieser stinkenden Alten? Der wahre Sinn dieser Worte indes entging ihr noch. Hätte sie ihn auch nur geahnt, sie hätte jede Vergewaltigung, gleich welcher Art, als das weitaus kleinere Übel betrachtet. Etwa zwei Minuten später betrat ein weiterer Mann das Verlies. Er war groß und dick, hatte einen dichten Schnauzbart, Vollglatze und Triefaugen. Auch er wirkte ungepflegt. Ein Stich ging durch Jarmilas Herz. Sie glaubte, den Mann zu kennen. Irgendwo hatte sie ihn schon mal gesehen. Aber wo? Und in welchem Zusammenhang? War das mit Jan gewesen? »Haben Sie mich entführen lassen, Pan? Was wollen Sie … von mir? Bitte lassen Sie mich frei.« »Das wird leider nicht möglich sein«, erwiderte der Mann mit einer seltsamen Fistelstimme. »Würde ich dich jetzt wieder frei lassen,
hätte ich dich gar nicht erst zu entführen brauchen.« Er grinste böse. »Doch ich versichere dir, dass dir nichts passiert, wenn du dich an die Regeln hältst. Eigentlich ist es nur eine Regel. Und die lautet: kein Fluchtversuch. Dann bekommst du genügend zu essen und zu trinken und meine Leute werden dich in Ruhe lassen. Die Toilette hast du auch auf dem Zimmer …« Er deutete auf den Eimer. »Aber … warum das alles?« Verzweiflung stieg in Jarmila hoch. »Kannst du dir das wirklich nicht denken?« »Nein.« Der Dicke deutete auf Jarmilas Bauch. »Wegen ihm«, sagte er. Die junge Frau erstarrte für einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Was … meinen Sie damit?« »Bist du schwer von Begriff? Es geht um dein Kind.« »Aber … aber ich habe doch gar kein …« Es durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. Ihre Übelkeitsanfälle. Und die drei tollen Liebesnächte hintereinander mit Jan. Es konnte hinkommen. »Ich bin schwanger?«, fragte sie etwas einfältig. »Wenn du's nicht weißt, ich weiß es sicher.« »Nein … nein …« Jarmila schüttelte den Kopf. »Mein Kind. Was wollt ihr damit?« »Das geht dich nichts an. Oder findest du, dass dich das etwas angehen sollte? Ach übrigens, es wäre gut, wenn du dich trotzdem an die Regel hältst. Solltest du das nämlich nicht tun, dann kann es schlimm für dich werden. Hm. Damit du weißt, wer wir sind, habe ich extra für dich ein kleines Schauspiel inszeniert.« Wieder grinste er gemein. »Ganz so gut wie in der Laterna Magika * ist es natürlich nicht. Aber du wirst sehen, dass meine Leute trotzdem ganz schön beeindruckend sind.« Der Mann sagte etwas zu der Schmuddligen in einer Jarmila unbekannten Sprache. Es hörte sich ein wenig wie Schweinegrunzen an. Kommentarlos begann sie sich zu verwandeln. Die Konturen ihres Leibes verschwammen, überflossen und fielen dann in sich zusammen. Die Frau … das Monster … war plötzlich nur noch halb so groß! Und nicht mehr als ein Schleimberg mit Augen und einem *zauberhaftes Theater ohne Worte in der Prager Neustadt
Raubtiergebiss. Der Mann, der zuerst hier drinnen erschienen war, tat es ihr gleich. Nun zuckten zwei grüne Schleimberge vor Jarmila auf dem Boden. In beiden steckten zwei gegeneinander verschobene, rot glänzende Augen und je ein Maul, aus dem jetzt gefährliche Hauer ragten. Jarmila schlug die Hände vor den Mund und schrie sich mit weit aufgerissenen Augen die Seele aus dem Leib. Sie schrie noch, als sich die Monster längst wieder in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelt hatten. Erst ein gemeiner Tritt des Wortführers, der sie an der Hüfte traf und umkippen ließ, ließ sie wieder verstummen.
Zamorra kam am späten Nachmittag auf dem Prager Flughafen Ruzyně an. Allein. Denn Nicole war unter allerlei fadenscheinigen Argumenten zu Hause geblieben. Der Meister des Übersinnlichen wusste allerdings genau, warum. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, in aller Ruhe das Siegelbuch zu zerstören. Nun, sie würde keinen Erfolg haben, da er es für die Zeit seiner Abwesenheit gut versteckt hatte. Sollte sie es also ruhig versuchen. Dieser kleine Denkzettel würde sie künftig sicher davon abhalten, weitere Dummheiten in Bezug auf das wunderbare Buch zu begehen. Jan Čech empfing den Meister des Übersinnlichen in der Ausgangshalle. Čech war ein groß gewachsener, schlanker, durchtrainierter Kerl im grauen, modischen Anzug. Dichte, kurz geschnittene, blonde Haare rahmten ein markantes Gesicht mit wasserblauen Augen. Zamorra fielen sofort seine geschmeidigen Bewegungen auf. Čech wirkte Vertrauen erweckend und er fand den Geschäftsmann wider Erwarten sofort sympathisch. Auch, weil ihm Čech kräftig die Hand schüttelte, sich vielmals bedankte und es sich nicht nehmen ließ, Zamorras kleinen Kleiderkoffer zu tragen. Seinen Einsatzkoffer gab der Meister des Übersinnlichen allerdings nicht aus der Hand. Die beiden Männer fuhren mit Čechs Mercedes in den Stadtteil Strašnice. »Das Quality Hotel dort gehört nämlich auch mir«, erläuterte Čech. »Klein und bescheiden nur, aber ich habe dort für die Dauer Ihres Aufenthalts ein Zimmer für Sie reserviert, Pan Professor. Was soll ich sagen, natürlich umsonst, das ist klar. Natürlich
könnte ich Sie in einem weitaus besseren meiner Häuser einquartieren. Aber das Quality hat den Vorteil, dass es nicht weit vom neuen jüdischen Friedhof entfernt ist. Man kann sogar problemlos dorthin zu Fuß gehen.« Das »Quality Hotel« erwies sich als rosarot gestrichene Bettenburg in ruhiger Lage. Zamorra wollte erst einmal duschen. Und weil Čech noch kurz einen wichtigen Termin wahrnehmen musste, verabredeten sich die beiden für halb neun Uhr abends, um sich den Fundort des Skeletts anzusehen. »Dann haben wir unsere Ruhe, Pan Professor«, sagte Čech. »Denn um diese Zeit hat der Friedhof schon geschlossen. Aber das ist kein Problem, da auch die Friedhofsgärtnerei mir gehört. Ich darf auf dem Friedhof also jederzeit ein- und ausgehen.« Der Geschäftsmann verspätete sich fünf Minuten. Zamorra erwartete ihn mit offen vor der Brust hängendem Amulett. »Das ist aber ein wunderschönes Stück«, sagte Čech, der nun eine leichte braune Lederjacke trug und seinen Anzug gegen Jeans und Hemd eingetauscht hatte. »Darf ich's mir mal ansehen?« Zamorra nickte, hakte Merlins Stern von der Kette los und legte ihn in die Hand des Geschäftsmanns. Čech begutachtete das Amulett von allen Seiten. »Sieht aus, als ob man damit zaubern könnte«, meinte er schließlich. »Wie kommen Sie darauf?« Er lächelte. »Nun, Pan Professor, ich habe Ihnen ja erzählt, dass meine Mutter aus der Hohen Tatra kommt. Sie trug immer allerlei Abwehramulette gegen das Böse bei sich. Darauf waren so ähnliche Zeichen.« Zamorra kniff für einen Moment die Augen zusammen. »Tatsächlich? Das interessiert mich aber. Ihren Worten entnehme ich, dass Ihre Mutter nicht mehr lebt?« »Ja. Sie ist schon vor fast zehn Jahren gestorben. War eine schwere Zeit damals.« »Hat Ihre Mutter Ihnen vielleicht eins dieser Amulette vererbt? Oder auch mehrere?« »Leider nicht. Man hat sie ihr auf ihren Wunsch hin alle mit ins Grab gegeben.«
Der Professor nickte. »Hm. Gibt es noch mehr Leute in diesem Dorf, die diese Magie kennen?« »Keine Ahnung. Fahren Sie doch einfach mal hin und finden Sie's raus. Ich schreib Ihnen den Namen auf und wie Sie hinkommen, Pan Professor.« »Danke. Aber das hat noch Zeit. Also, brechen wir auf.« Auch Zamorra hüllte sich in eine schwarze Lederjacke, während er Merlins Stern wieder unter dem Hemd verschwinden ließ. Das Amulett hatte sich nicht erwärmt, Jan Čech war also definitiv kein schwarzblütiges Wesen. Er hatte auch keinerlei Angst davor gezeigt. Zamorra war zufrieden. Jahrzehntelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, zunächst einmal ein gesundes Misstrauen gegen jeden Fremden zu hegen. Zamorra steckte den E-Blaster unter die Jacke. Sie verließen das Hotel zu Fuß und gingen die Černokosteleclá hinunter. Auf dem Boulevard, auf dem auch mehrere Straßenbahnlinien fuhren, war noch eine Menge los, obwohl ein empfindlich kühler Wind wehte. Nach etwa zehn Minuten erreichten sie den neuen jüdischen Friedhof. Die Friedhofsgärtnerei, ein unscheinbares Gebäude mit einer Glasfront, war direkt an die seitliche Einfriedungsmauer angebaut. Vor dem Haus stand ein Angestellter und schichtete Kränze und Buketts auf ein Wandregal. Als er die beiden Männer bemerkte, hielt er inne und schaute ihnen entgegen. Je näher sie dem Mann kamen, desto stärker erwärmte sich Zamorras Amulett. Der Angestellte war zweifellos ein schwarzblütiges Wesen! Ein Ghul? »Vorsicht, Pan Čech, wir haben bereits einen vor uns«, zischte Zamorra. »Kennen Sie den Mann?« Jan Čech blieb stehen. Er schaute den Meister des Übersinnlichen aus großen Augen an. »Was denn, Sie meinen, dass Jiri einer … einer von denen ist?« »Ganz sicher. Das Amulett zeigt es mir an. Kein Zweifel.« Den Geschäftsmann schauderte es. Er schluckte schwer. »Und nun? Was sollen wir tun?« »Hat dieser Jiri eine leitende Funktion?« »N-nein. Baranek, so heißt er, ist nur ein ganz gewöhnlicher Arbeiter. Antonin Cerny leitet die Gärtnerei.«
Zamorra nickte. »Ist Cerny noch da? Ich würde ihn gerne mal unter die Lupe nehmen.« »Ja, ich … denke schon. Antonin arbeitet immer bis spät in die Nacht hinein. Ich frage mal.« »Ich habe so etwas Ähnliches fast schon erwartet. Ghuls tarnen sich sehr oft als Friedhofsangestellte. Das erleichtert ihnen die Dinge ungemein.« Sie gingen zu Jiri Baranek hin. »Hallo Pan Čech, hallo Pan«, begrüßte sie der mittelgroße Mann mit Hängebacken, einem Bierbauch und schlechter Haltung. Er schnaufte schwer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Misstrauisch starrte er Zamorra an. Der Meister des Übersinnlichen glaubte plötzlich Angst in seinen Augen zu erkennen. Jiri Baranek schob noch rasch einen Kranz auf das Regal. »So, Schluss für heute«, sagte er dann in einer Hast, die in völligem Gegensatz zu seinem bisherigen Verhalten stand. »Bin sowieso schon spät dran. Muss jetzt gehen.« »Weißt du, wo Antonin ist?«, fragte Jan Čech. Baranek zog die runden Schultern hoch, schaute zu Zamorra und dann die Straße hinab, so, als suche er bereits einen Fluchtweg. »Hab ihn … ihn schon länger nicht mehr gesehen. Muss wohl irgendwo in der Gärtnerei sein. Oder auf dem Friedhof.« »Also gut, wir gehen ihn suchen.« »Ja, gut.« Baranek wollte sich schnellstens aus dem Staub machen. »Bitte bleiben Sie, Pan Baranek. Wir haben noch etwas mit Ihnen zu besprechen«, hielt ihn Zamorra mit scharfer Stimme zurück. Der Schwarzblütige stoppte tatsächlich. Unsicher sah er Čech an. »Pan Zamorra hat Recht. Bleib noch hier, Jiri.« »Also … also gut. Wird ja nicht so lange dauern, oder?« »Nein, nicht lange«, bestätigte Zamorra. Wenn Ghule brennen, geht das meistens sehr schnell … »Kommen Sie einfach mit uns.« Zamorra und Čech gingen in die Gärtnerei. Dabei achtete der Meister des Übersinnlichen darauf, dass er den immer mehr schwitzenden Baranek immer im Auge behielt. Merlins Stern hatte sich jetzt, da er sich in unmittelbarer Nähe des Schwarzblütigen befand, ziemlich stark erwärmt. Da das Amu-
lett allerdings nicht angriff, handelte es sich um keinen starken Dämon. Mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit um einen Ghul, wie Zamorra dachte. Überall in der Gärtnerei standen Blumenvasen und Gebinde. »Antonin, bist du da?« Keine Antwort. Jan Čech öffnete die Tür zu den hinteren Räumen. Sie traten ein. Zamorra bemerkte, dass sich die Gärtnerei noch ein Stück weit ins Friedhofsgelände hinein erstreckte. Čech, der vor ihnen ging, warf immer wieder ängstliche Blicke auf Baranek und schaute, dass er ihm nicht zu nahe kam. Er öffnete mehrere Türen zu irgendwelchen Geräte- und Lagerräumen. Auch hier hielt sich niemand auf. »Jetzt müssen wir auf den Friedhof, Pan Professor. Wenn Sie so nett sein wollen, eine Kopfbedeckung aufzusetzen?« Čech langte nach einer weißblauen Kippah mit aufgedrucktem siebenarmigem Leuchter und dem Judenstern, dem kleinen kreisförmigen Hütchen, das jüdische Männer an allen Gebetsorten aufsetzten oder doch zumindest aufsetzen sollten. Zamorra nickte und befestigte die Kippah mit einer Metallklammer an seinen Haaren. Das Käppchen saß so perfekt auf seinem Hinterkopf, als wäre es eigens für ihn angefertigt worden. Čech setzte ebenfalls eine auf. Danach gingen sie auf das Friedhofsgelände. Die riesige Parklandschaft mit dem Meer aus Grabsteinen und den hohen Bäumen lag friedlich im Licht der untergehenden Sonne. Vögel sangen, das durch die Äste und Zweige brechende Licht sorgte für geheimnisvolle Muster. »Antonin!« Neben einem prächtig gestalteten Sarkophag erhob sich ein Mann. Groß, dick, mit einem dichten Schnauzbart, Triefaugen und Vollglatze. Jetzt, da er alleine auf dem Friedhof war, hatte er die Kippah abgesetzt, was bei Čech ein deutliches Stirnrunzeln verursachte. An Cernys Arbeitskleidern und den Händen klebte frische Erde. Zamorra sah es selbst auf 30 Meter Entfernung. »Ah, Antonin, da bist du ja. Komm doch bitte mal rüber, da ist ein Herr, der dich sprechen will.« Antonin Cerny verharrte. Zamorra glaubte, dessen Augen plötzlich brennen zu sehen. Der Dicke hob blitzschnell die Arme und
malte ein paar magische Zeichen in die Luft. Der Grabstein neben ihm leuchtete in schwarzem Feuer auf. Ein Blitz schoss daraus hervor. Er schlug in das grüne Leuchten des Amuletts, das noch greller flammte als sein schwarzes Pendant, während es des Professors Körperkonturen umfloss. Ein silberner Blitz aus dem Amulettzentrum schlug in das schwarze Feuer und brachte es mit einer grellen Explosion zum Erlöschen. Cerny erreichte er nicht mehr, da der Kerl mit Aufflammen des schwarzen Feuers im Gräberfeld verschwunden war. Übergangslos erlosch Zamorras Schutzschirm. Diesen Moment nutzte Baranek und griff an. Schneller als das menschliche Auge schauen konnte, verwandelte sich der Mann in einen braunen Schleimberg. Der katapultierte sich gegen Zamorras Oberkörper und legte sich auf sein Gesicht! Zamorra taumelte, fiel und knallte auf den Rücken. Die stinkende Masse auf seinem Gesicht nahm ihm nicht nur den Atem, die Säure, die darin enthalten war, begann sein Gesicht zu verätzen. Er verfiel dennoch nicht in Panik. Während er die Luft anhielt und die Augen schloss, tastete er nach dem E-Blaster. Er zog ihn unter der Jacke hervor, schaltete per Daumendruck blitzschnell auf Laser, obwohl der Schleim ihn dabei behinderte, presste den Abstrahlpol in den Angreifer und drückte ab. Der nadelfeine, blassrote Laserstrahl durchdrang die braune Masse, schlug fast senkrecht in einer Baumkrone ein und setzte diese in Brand. Der Ghul jedoch brüllte so markerschütternd hoch, dass Zamorra glaubte, sein Gehör zu verlieren. Feuer, das über zwei Meter hoch schlug, verbrannte den Schwarzblütigen innerhalb einer Sekunde. Zamorra prustete, schnappte nach Luft, schlug sich ein paar brennende Fetzen aus dem Gesicht, wälzte sich zwei Mal über den Boden und stand dann wieder auf den Beinen. Jan Čech schaute ihn fassungslos an. Er zitterte wie Espenlaub. Der Professor verzog das Gesicht. Die Brandwunden brannten höllisch. »Wird schon wieder, keine Sorge. Ich schnapp mir Cerny. Und Sie verlassen umgehend den Friedhof, Pan Čech. Hier sind Sie allein nicht sicher.«
»J-ja.« Er bewegte sich nicht. »Na los, machen Sie schon. Das erledige ich allein. Aber dabei kann ich nicht die ganze Zeit Kindermädchen für Sie spielen«, blaffte der Professor. Erst jetzt kam Bewegung in den geschockten Geschäftsmann. Er taumelte mehr als dass er rannte zur Gärtnerei zurück. Zamorra ging währenddessen zu dem halb in den Boden gesunkenen Grabstein hinüber, den Antonin Cerny missbraucht hatte. Zalman Ben Bendit Emmerich Gumperez stand darauf. »Als ob's nicht schon schlimm genug wäre, dass Satanisten die jüdischen Gräber schänden. Jetzt benutzt auch noch ein Dämon dein Grab als magische Angriffswaffe«, murmelte Zamorra. »Aber ich versprech's dir hoch und heilig, mein lieber Gumperez, dass ich den Mistkerl kriege und ihn dorthin schicke, wo er eigentlich hin gehört.« Blind zwischen die Grabsteine zu rennen hätte nichts gebracht. Cerny konnte sonst wo sein. Also aktivierte der Professor die Zeitschau. Er verschob die entsprechende Hieroglyphe auf Merlins Stern und versetzte sich gleichzeitig in Halbtrance. So konnte er in unmittelbarer Umgebung des Amuletts 24 Stunden in die Vergangenheit schauen. Allerdings liefen die Bilder dabei rückwärts. Sofort begann das Amulettzentrum zu flimmern. Winzige Szenen waren darin zu sehen. Gleichzeitig wurden sie aber lebensgroß in Zamorras Kopf projiziert. Er steuerte die Bilder ein paar Minuten in die Vergangenheit zurück, so lange, bis Cerny plötzlich hinter einem Baum auftauchte und rückwärts auf den schwarz leuchtenden Grabstein zu hüpfte. Natürlich war er in Wirklichkeit vom Grabstein weg gelaufen und hinter dem Baum verschwunden. Am Baum nahm Zamorra die Spur erneut auf und schaffte es so, den flüchtenden Dämon zumindest im schnellen Schritt zu verfolgen, da er das Amulett entsprechend einstellen konnte. Hätte es jetzt nicht automatisch umgestellt, Zamorra hätte jedes Mal, wenn der Verfolgte aus dem Einflussbereich der Zeitschau rannte, diese ungefähr eine Sekunde in Richtung Zukunft nachjustieren müssen. Zu seiner Erleichterung spürte er, wie das Wasser des Lebens, das in seinen Adern floss, seine Gesichtsverbrennungen bereits wieder heilte.
Er ging auf einen großen Geräteschuppen zu. Dort sah er den Dämon rückwärts aus der Tür kommen. Also war er darin verschwunden. Zamorra verharrte einen Moment vor der Tür und drückte dann sein Ohr dagegen. Er hörte nichts. Dann atmete er tief durch – und trat mit einem kräftigen Tritt die Tür ein. Es krachte, das altersschwache Holz splitterte. Mit gezogenem E-Blaster sprang Zamorra in das Halbdämmer. Er nahm zahlreiche Gartengeräte und zwei Schubkarren wahr – und sah in den Augenwinkeln eine Bewegung! Den Schwung mitnehmend, drehte sich Zamorra zur anderen Seite weg. Die Spitzhacke zischte knapp an seinem Hals vorbei. Er spürte noch den Luftzug. Sofort hob er den Blaster. »Keine Bewegung!«, brüllte er. »Sonst schieß ich dich über den Haufen!« Ein Schleimberg fiel plötzlich von der Decke! Er krachte auf Zamorra und riss ihn zu Boden. Ein Laserschuss genügte, um den Ghul in Brand zu setzen. Vier, fünf weitere der Schleimmonster waren plötzlich um ihn herum. Sie griffen alle gleichzeitig an. Aber dem E-Blaster waren sie nicht gewachsen. Es dauerte nur Sekunden, bis sie alle unter schrillen Schreien verbrannt waren. Zamorra atmete tief durch. Er spürte das wilde Pochen seines Herzens im Hals und im Kopf. Aber er beruhigte sich sofort wieder. Die akute Gefahr schien gebannt. Der Meister des Übersinnlichen erhob sich, rückte die Kippah zurecht und aktivierte erneut die Zeitschau. So sah er schließlich, dass Antonin Cerny an den bereits wartenden Ghulen vorbei gelaufen war, ihnen etwas zugerufen und sich gleichzeitig in einen mächtigen Schleimberg verwandelt hatte, der dann durch die Bodenbretter gesickert war. »Mein lieber Herr Gesangverein, sind die Biester vielleicht eklig«, murmelte der Meister des Übersinnlichen. »Und stinken tun die immer noch gleich wie früher. Pfui Deibel. Da trete ich doch lieber gegen ganze Horden knackiger Dämonen an als gegen solche Schleimer. Aber was hilft's. Dann wollen wir doch mal sehen.« Zamorra schaute sich im Schuppen um. In einer Ecke lehnten ein paar Schaufeln und ein Spaten. Den nahm er, setzte ihn an und wuchtete die entsprechende Bodendiele hoch. Währenddessen machte er sich so seine Gedanken über Merlins Stern. Der hatte ihn in letzter Zeit immer mal wieder aus unerfindlichen
Gründen im Stich gelassen, so wie auch jetzt wieder. Es war schon seltsam gewesen, dass das Amulett nach dem Angriff auf den schwarz lodernden Grabstein abgeschaltet und Baraneks anschließenden Angriff nicht abgewehrt hatte. Und jetzt hätte es mich eigentlich gegen die Ghule hier im Schuppen schützen müssen. Hätte mich der eine mit der Spitzhacke getroffen, wäre ich hinüber gewesen. Du hättest mich zumindest mit dem grünen Schutzschirm warnen können. Was ist nur los mit dir, du blöde Blechscheibe? Wenn du so unzuverlässig wirst, dann ist's wahrscheinlich besser, ich entsorge dich … Zamorra war das Ganze rätselhaft. Mit Tarans Verschwinden aus dem Amulett hing es garantiert nicht zusammen, wie er kurzzeitig mal vermutet hatte. Denn schon, als das Amulettbewusstsein noch Teil der Silberscheibe gewesen war, hatte es sich und damit den Amulettdienst gelegentlich verweigert; immer dann nämlich, wenn Taran Angst gehabt hatte, es könnte ihm bei einer magischen Auseinandersetzung vielleicht selbst an den Kragen gehen. Nun, da der Feigling verschwunden war, hielt die Unzuverlässigkeit des Amuletts trotzdem an. Das war der Grund, warum der Meister des Übersinnlichen bei seinen Einsätzen immer auch noch andere magische Waffen bei sich trug. In seinem Einsatzkoffer hatte er jede Menge davon gehortet. Natürlich leistete ihm auch der E-Blaster hervorragende Dienste. Es knirschte. Mit den Händen riss der Professor die Bodendiele vollends weg und warf sie auf den Boden. Danach musste er noch eine zweite entfernen. Dann hatte er tatsächlich einen Gang frei gelegt, der in einem stumpfen Winkel in die Erde hinein führte. Er leuchtete mit der kleinen, leistungsstarken Taschenlampe, die er mitgenommen hatte, hinein, den Blaster schussbereit in der Rechten. Noch einmal wollte er sich nicht überraschen lassen. Zamorra konnte den Ghulgestank, der aus dem Gang kam, förmlich riechen. Aber ein weiterer Angriff erfolgte nicht. Er hatte sich wohl genügend Respekt verschafft. In den Gang eindringen konnte er aber auch nicht, weil der viel zu schmal war. »Also gut, dann beenden wir hier die erste Runde. Auch wenns noch kein K.O. war, habe ich sie immerhin deutlich nach Punkten
gewonnen.« Zamorra passte die Holzplanken wieder ein und ging zu Jan Čech zurück.
In der Zwischenzeit betrat dieser schwer atmend die Gärtnerei. Er durchquerte einige Räume. Dann stand er in einem, in dem es nach Wald roch. Hier lagerten kistenweise Tannenzweige, die für Kränze und Buketts verwendet wurden. Čech spannte alle Muskeln an. Nervös schaute er sich um. Sein Instinkt warnte ihn. Etwas war hier nicht in Ordnung. Plötzlich standen sie da. Vier weitere Gärtnereiangestellte. Čech kannte sie alle, hatte sie zumindest schon mal gesehen. Allerdings nicht so! Bozidar Koller, Cernys Stellvertreter, hielt eine Schrotflinte in der Hand, die er nun auf den Geschäftsmann richtete. Weitaus schrecklicher war aber das, was auf Kollers Hals saß. Es handelte sich nämlich nur noch zur Hälfte um das hagere, stets glatt rasierte Gesicht, das Čech kannte. Genauer um die rechte Hälfte. Zur linken hin lösten sich die menschlichen Konturen etwa ab der Nase auf und gingen stattdessen in einen Ballen grünlichen Schleims über, aus dem ein rotes, tückisches Auge schaute. Der Schleim ersetzte auch die linke Schulter und einen Teil des Oberarms, während der Unterarm ab dem Ellenbogen wie ein Fremdkörper aus der Masse hervor ragte. Lange, dünne Fäden lösten sich aus dem Schleim und hingen teilweise bis zum Boden hinab. Zudem lösten sich ständig Tropfen. Es zischte, wenn sie auf den Boden schlugen. »Nein … nein … bitte«, flüsterte Čech und hob die Arme schützend vor das Gesicht. Er zitterte nun endgültig wie Espenlaub. Seine Zähne schlugen so stark aufeinander, dass das Klappern deutlich zu hören war. Er schwitzte Blut und Wasser. »Das … ist doch ein Albtraum. Ich träume. Lieber … Gott, lass mich bitte … aufwachen …« Kollers dämonische Gesichtshälfte begann von unten nach oben zu schwabbeln, so als würde sie eine starke Welle durchlaufen. Gleichzeitig verzog sich der menschliche Teil zu einer Fratze aus Wut und Hass. »Sag so was nie wieder«, zischte es aus der menschlichen Mundhälfte. »Sonst machen wir dich gleich hier alle.« »Was … wollt ihr von mir? Was habt ihr … mit mir vor?« Čechs
Stimme wurde schrill und überschlug sich am Ende fast. »Das wirst du schon sehen. Los, mitkommen.« Die Leichenfresser rückten näher und bildeten einen undurchdringlichen Halbkreis um den unglücklichen Čech. Der Gestank, den sie nun verbreiteten, ließ ihn verzweifelt nach Luft japsen. Dann fiel er auf die Knie und flehte Koller mit gefalteten Händen an. »Nein, bitte nicht, Pan Koller, bitte. Ich will nicht … Lass mich gehen. Ich sage auch nicht, was ich hier gesehen habe … Bitte!« Koller versetzte dem Geschäftsmann einen so starken Fußtritt, dass Čech zur Seite kippte. Dann zog der kommandierende Leichenfresser den Menschen brutal hoch. An dessen Haaren! Jan Čech schrie, ergab sich dann aber in sein Schicksal. Von der Leichenfresserbrut flankiert, stolperte er in eine kleine Halle, die voll alter Grabsteine war. In langen Reihen standen die steinernen Zeugen irdischer Vergänglichkeit da, hintereinander gestellt und halb geneigt, zum Teil auch einfach hingeworfen. Zwei der Ghule hievten mit spielerischer Leichtigkeit drei Grabsteine in einem Eck zur Seite. Der Steinboden war aufgebrochen, erdiger Untergrund kam zum Vorschein. Die Leichenfresser buddelten mit mächtigen Schaufeln, zu denen sich ihre Hände plötzlich verformten. Sie legten ein paar Bretter frei, die einen Gang abdeckten. Sieben gemauerte Stufen führten in die Tiefe. Čech musste hinabsteigen, nachdem Koller vorausgegangen war. Zwei der Leichenfresser hielten sich hinter dem Gefangenen. Der dritte blieb zurück. Auf dem Boden angekommen, ging es waagrecht weiter, in einem Erdgang, der so hoch war, dass der Gekidnappte bequem aufrecht gehen konnte. Da es hier unten noch finsterer als in einem Kuhhintern war, stolperte Čech immer wieder, wurde aber von den Ghulen rechtzeitig gepackt und am Fallen gehindert. Koller, der vorausging, wuchtete eine Stahltür auf. Der Gefangene hörte es plötzlich rauschen. Die Kanalisation! Der seltsame Trupp bewegte sich über schmale, einsturzgefährdete Simse und ein Stück weit durch das schnell fließende Wasser, in dem Berge von Fäkalien schwammen. Čech, der nun gegen ständigen Brechreiz ankämpfen musste, stieß immer wieder ein lautes Stöhnen aus, wenn irgendet-
was Festes gegen ihn prallte. Manchmal schlug er panisch danach oder versuchte sich wegzudrehen. Den Rest des Weges wimmerte er nur noch vor sich hin. Es ging über schmale Eisenbrücken, bevor sie die Kanalisation endlich wieder verließen. Čech musste sich durch eine Öffnung zwängen, die etwa in halber Mannshöhe angebracht war. Jetzt ging es wieder in Erdgängen weiter. Koller malte einige magische Zeichen in die Luft. Das sah der Gefangene zwar nicht, aber gleich darauf konnte er wieder besser atmen. Gierig sog er die Luft in seine Lungen. Das höhnische Kichern hinter ihm bekam er gar nicht mit. Die erdigen Wände wurden plötzlich von steinernen abgelöst. Sie gingen nun durch von Menschenhand angelegte Gänge. Čech konnte wieder sehen, da das Flackern alter, rostiger Karbidlampen die Schwärze erhellte. Sie gingen auf eine stabile, uralte Eichenholztür zu. Zwei der Leichenfresser stießen sie auf. Die anderen beiden nahmen den Gefangenen an den Armen und stießen ihn unsanft in den Raum dahinter. Čech taumelte, stolperte und fiel der Länge nach hin. Als er den Kopf hob, stockte ihm der Atem.
»Bei Merlins hohlem Backenzahn«, murmelte Zamorra, der die Gärtnerei nach Jan Čech absuchte, ihn aber bis jetzt nicht gefunden hatte. »Da wird doch nichts passiert sein?« Noch während er sich das fragte, trat er in den Raum, in dem die Tannenzweige lagerten. Intensiver Modergeruch schlug ihm entgegen. Sofort hob er den Blaster. Aber die, die diesen Geruch abgesondert hatten, gab es hier nicht mehr. Zamorra beschlich das ungute Gefühl, dass Čech einem oder mehreren Ghulen in die Hände gefallen war. Er aktivierte erneut die Zeitschau. Und sah, dass er nur allzu Recht hatte. Immerhin beruhigte es ihn etwas, dass sie Čech nicht gleich umgebracht hatten. Die Grabsteine in der Ecke! Darunter also waren sie mit ihm verschwunden. Und der vierte, zurückgebliebene Leichenfresser hatte alles wieder gerade gerückt, um danach ebenfalls zu verschwinden. Zamorra musste zugeben, dass die Tarnung perfekt war. Ohne die Hilfe des Amuletts hätte er den Zugang zur Unterwelt niemals gefunden.
Vier rasche Schritte brachten ihn zu den Steinen. Zamorra stutzte. Er glaubte nicht richtig zu sehen, als er den obersten Stein betrachtete. Unter dem Namen und dem Sterbedatum, das etwa 100 Jahre in die Vergangenheit reichte, hatte jemand ein Der hat richtig gut geschmeckt eingeritzt. Dass Ghule Sinn für rabenschwarzen Humor entwickeln konnten, war ihm bisher neu gewesen. Seinen Sympathiefaktor für diese Wesen erhöhte das aber dennoch nicht entscheidend. Zamorra zog die Jacke aus, krempelte die Ärmel hoch und wuchtete die Grabsteine beiseite. Erneut versank er in die Zeitschau. Und da Merlins Stern durch das Verschieben einer Hieroglyphe zugleich sein grünliches Leuchten verstrahlte, ohne ihn dieses Mal einzuhüllen, konnte er den Weg des Ghultrupps problemlos verfolgen. Nach etwa einer Stunde erreichte er ziemlich verdreckt die Eichenholztür. Als er in den Raum stürmte, sah er Jan Čech verkrümmt am Boden liegen. Zamorra beugte sich über ihn. Gott sei Dank war der Mann nur bewusstlos. In der Zeitschau sah er, dass Čech vor einem riesigen Ghul gekniet hatte – dem größten Schleimberg, dem der Professor jemals begegnet war – und dass ein anderer der Leichenfresser in den Raum gestürmt war, um die Anwesenden vor dem herannahenden Zamorra zu warnen. Der riesige Ghul hatte daraufhin einen schwarzen Blitz auf Čech geschleudert, der im wahrsten Sinne des Wortes wie vom Blitz getroffen zusammengesunken war. Danach waren die Leichenfresser durch eine schmale Geheimtür verschwunden, die so geschickt in die Ziegelwand eingepasst war, dass Zamorra auch diese ohne Amuletthilfe niemals gefunden hätte. Der Meister des Übersinnlichen wollte Merlins Stern auf Jan Čechs Schädel pressen. In diesem Moment erlosch das grüne Leuchten! »Ich krieg hier gleich die Krise«, murmelte Zamorra. »Das gibt's doch nicht, du Haufen Schrott.« Während er das sagte, stöhnte der Bewusstlose und kam wieder zu sich. »Pan Professor«, krächzte er. »Sie hier, der heiligen Jungfrau sei Dank. Sind die … diese Monster weg?« »Im Moment ja. Aber wir müssen aufpassen.« »Dieser riesige Schleimberg, dieser Dragur, auch?« Čech richtete
sich langsam wieder auf. »Ja. Sagten Sie Dragur? Hat Ihnen der Kerl tatsächlich seinen Namen genannt?« »Hat er. Oh Mann, habe ich ein … Schädelweh. Kann ich nochmals das Amulett haben, Pan Professor? Ich glaube, die Kräfte haben mir gut getan.« Zamorra nickte und gab ihm Merlins Stern, obwohl das Amulett gerade mal wieder Auszeit hatte. Čech presste ihn sich fest auf die Stirn. Ein Seufzer der Erleichterung stieg aus seiner Kehle. »Danke. Es wird tatsächlich gleich viel besser.« Typischer Placebo-Effekt …, dachte Zamorra. »Und auch danke dafür, dass Sie mich befreit haben. Wie konnten Sie mich nur so schnell finden?« »Ich habe so meine Mittel. Aber was ist mit diesem Dragur? Erzählen Sie mir davon.« Zamorra starrte misstrauisch zu der Geheimtür, behielt aber auch die ganze Umgebung im Auge. Denn die Ghule konnten buchstäblich aus jeder Ritze kommen. »Ja …« Jan Čech erzählte so plastisch, dass Zamorra die Zeitschau nicht mehr bemühen musste: Als Jan Čech, auf dem Boden liegend, den Kopf hob, erstarrte er. Vor ihm, vom Licht schwarzer Kerzen beschienen, quoll eine Art Schleim aus dem Boden und türmte sich zu einem fast vier Meter hohen Klumpen auf. Die riesigen Augen darin schimmerten einmal rot und im nächsten Moment schon wieder tiefschwarz. Das schief sitzende Maul wurde von scharfen, spitzen Zähnen dominiert, die in mehreren Reihen hintereinander saßen. Dazwischen hingen jede Menge Speisereste. Jan Čech wollte sich gar nicht vorstellen, um was es sich dabei handelte. Der Mann rappelte sich mühsam hoch. Als er stand, wurde er von zwei Ghulen auf die Knie zurückgedrückt. »Wer … wer bist du?«, murmelte er kläglich. »Was willst du … von mir?« Du willst wissen, wem du deinen Tod zu verdanken hast?, erwiderte der Schleimberg auf telepathischem Weg. Aber natürlich. Dann wirst du mir noch um einiges besser schmecken. Ich bin Dragur, der Ahnvater aller Ghule. Vor mehr als 400 Jahren schon habe ich Prag zu meiner Hei-
mat erkoren, denn hier gibt es besonders viele Friedhöfe auf engstem Raum. Ein Paradies. Dragurs Paradies. Und seit ich hier bin, lasse ich die Meinen an diesem Paradies Anteil haben. Vor allem die, die fliehen müssen und einen sicheren Platz auf Erden suchen, nehme ich zu mir und gewähre ihnen Asyl. Ich sammle sie um mich, denn ich habe Spaß daran, gemeinsam mit ihnen zu tafeln oder ihnen zuzusehen, wie es ihnen schmeckt. Gibt es Schöneres als das ratschende Geräusch, wenn Fleisch und Sehnen lustvoll von Knochen gezogen werden? Hmmmm. Jan Čech musste würgen. Nur mit Mühe konnte er verhindern, dass er sich erbrach. Erst nach einer halben Minute beruhigte er sich wieder. »Habt ihr auch … etwas mit dem Verschwinden meiner Verlobten … zu tun?«, röchelte er. Ja. Sie befindet sich in meiner Hand und ist momentan in einer ähnlich unangenehmen Lage wie du. Im Gegensatz zu dir hat sie aber gute Überlebenschancen. Zumindest die nächsten acht Monate … Dragur kicherte höhnisch. »Was soll das heißen?« Du wirst Papa, hast du das nicht gewusst? Aber das Kind hat niemals dir gehört, auch wenn du es gezeugt hast. Es ist meins. Und das Erste, was es kurz vor seiner Geburt tun wird ist, seine Mutter aufzufressen. Von innen natürlich. Čech begann unkontrolliert zu schluchzen. »Warum tust du das?« Weil sich nun endlich ein Fluch erfüllt. Nach siebenundvierzig endlosen Jahren. Der Fluch meiner Rache. Plötzlich ging die Tür auf. Ein Leichenfresser in Menschengestalt erschien und redete in einer fremden Sprache auf Dragur ein. Danach sah Jan Čech einen schwarzen Blitz auf sich zu rasen, der ihn in tiefe Finsternis stürzte. »Ja. Und was soll ich sagen; das Nächste, was ich gesehen habe, waren dann wieder Sie, Pan Professor. Dafür danke ich der heiligen Jungfrau aufs Herzlichste.« Am liebsten hätte Zamorra Dragurs Verfolgung aufgenommen und nach der gefangenen Jarmila gesucht. Aber mit dem angeschlagenen und zitternden Čech im Schlepptau war das keine allzu gute Idee. Der Geschäftsmann musste erst einmal in Sicherheit gebracht wer-
den. Außerdem war es auch für ihn gefährlich, stundenlang in verzweigten Ghul-Labyrinthen umherzuirren. Vor allem, da es hier eine unabsehbare Zahl dieser Kreaturen zu geben schien. Es war schon vorgekommen, dass zu viele Hasen des Jägers Tod wurden. Der Meister des Übersinnlichen hatte bereits eine Idee, wie das anders zu bewerkstelligen war.
9. Das Licht der schwarzen Sonne Jahr 502 der neuen Zeitrechnung Mit unbewegtem Gesicht sah Merlin zu, wie das goldene Licht der Sichel die vier Apokalyptischen Reiter vertrieb und das goldene Instrument danach wieder in seiner Hand materialisierte. Das war der Erfolg, den er erhofft hatte, denn zu töten waren diese schrecklichen Gestalten ohnehin nicht. Niemand wusste genau, wer oder was sie eigentlich waren, selbst Lucifuge Rofocale nicht, obwohl der Ministerpräsident der Hölle als Einziger über sie gebieten konnte. Nur ihm gehorchten die Reiter, keinem sonst. Denn nur er konnte sie aus einer Art Zwischenreich beschwören, das keinem Dämonischen zugänglich war. Das wusste Merlin aus der Zeit, als er selbst noch ein Dämon gewesen war. Und er wusste, dass Lucifuge Rofocale für jeden Einsatz der Apokalyptischen einen hohen persönlichen Preis zu zahlen hatte, weswegen er sie so gut wie nie bemühte. Wenn er es nun doch getan hatte, so zeigte dies deutlich, wie ernst es die Hölle damit meinte, Merlins Tafelrunde bereits im Keim zu ersticken, noch bevor sie sich richtig etabliert hatte. Immerhin hatte es der Zauberer von Avalon geschafft, die vier Reiter zu vertreiben, auch wenn es ihn extrem viel Kraft gekostet hatte. Wie gut, dass er sich zu Höllenzeiten ein wenig mit ihrer seltsamen Existenz auseinandergesetzt hatte. Doch er war sicher, dass die Hölle weitere starke Machtmittel einsetzen würde, um doch noch zu vollenden, woran die Apokalyptischen gescheitert waren. Und weil er nicht immer zur Stelle sein konnte, würden es die Dämonen aus den Schwefelklüften irgendwann schaffen. Denn das fünfte Amulett hatte sich gerade als nicht stark genug erwiesen. Merlin beobachtete, wie die überlebenden Sachsen in ihre Boote sprangen und kopflos davonruderten. Die Britannier flüchteten dagegen wie die Hasen ins Hinterland. Nur die Ritter Mordred und
Bors behielten kühlen Kopf und kümmerten sich um Artus, der nur bewusstlos war und sich wieder erholen würde. Ausgerechnet Mordred, den Merlin im Verdacht hatte, für die Schwefelklüfte zu arbeiten. Aber beweisen konnte er es nicht. Asmodis, sein dunkler Bruder, arbeitete mit allen Mitteln und die waren den seinen oftmals ebenbürtig. Das mochte auch daran liegen, dass sie sich beide inund auswendig kannten und über die Stärken und Schwächen des jeweils anderen genauestens Bescheid wussten. Merlin verharrte noch eine Weile auf dem Felsen, bereit, sofort einzugreifen, falls Mordred dem König etwas antun sollte. Aber der schwarze Ritter hatte nichts dergleichen vor. Er benetzte Artus' Gesicht so lange mit Wasser, bis dieser hustend und keuchend wieder erwachte. Vom Kastell her ergossen sich nun weitere Ritter und Soldaten auf den Strand und eilten auf Artus und Mordred zu, Ritter Erec an der Spitze. Als Merlin sicher war, dass dem geschwächten König nichts passierte, entmaterialisierte er und tauchte im Saal des Wissens in seiner Burg Caermardhin wieder auf. Sein erster Weg führte ihn in die Regenerationskammer, denn er fühlte sich schwach und elend. Der magische Schlag gegen die Apokalyptischen Reiter hatte ihn tatsächlich fast seine gesamte Substanz gekostet. Ächzend legte sich der Zauberer auf die flache Liege inmitten des ansonsten völlig leeren und kahlen Raums. Und während er seine Kräfte aus der magischen Substanz Caermardhins regenerierte, sammelte er zugleich seine Gedanken, indem er sie schweifen ließ und die Ereignisse der letzten Jahrhunderte noch einmal überdachte …
Die Luft flimmerte zwischen den Bäumen nahe der Mardhin-Grotte. Merlin kehrte auf seine Burg zurück. Der Zauberer war froh, wieder hier zu sein. Denn er hatte ein paar Tage der Erholung dringend nötig. Merlin fühlte sich nicht nur verwirrt, sondern auch seltsam instabil. Ihm schien, als existiere er einige Male gleichzeitig nebeneinander, übereinander, ineinander. Wenn er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, zerfaserte er in drei, vier verschiedene Impulse, die sich nicht richtig zusammenfügen ließen.
Trotzdem schaffte es Merlin, seine Regenerationskammer aufzusuchen. Es dauerte drei Tage, bis er wieder einigermaßen klar denken konnte. Obwohl er lange wusste, welch katastrophale Folgen seine Zeitreisen hatten, war er doch wieder aus Atlantis in die fernste Vergangenheit aufgebrochen, um das Land vor der Herrschaft des finsteren Dämons Soggoth zu bewahren, indem er dessen Übergang auf die Erde verhinderte. Es war ihm gelungen; aber obwohl Merlin auch für die Rückreise den Vergangenheitsring benutzt hatte, hatte er doch wieder einen offenen Zeitkreis hinterlassen, zumindest einen, der sich nicht ganz geschlossen hatte. Jedes Mal, wenn das der Fall war, hatte der Zauberer mit dieser Zerrissenheit zu kämpfen. Es war ihm dann, als müsse er ein Stückchen seiner Kraft, seiner Existenz, in diesen Zeitkreisen zurücklassen, Kraft, die sich nicht mehr erneuerte. Nur so war es zu erklären, dass er trotz voller Zeit in der Regenerationskammer immer ein wenig schwächer herauskam als er es zuvor gewesen war. Auch mit Phasen geistiger Verwirrtheit, in denen er nicht mehr wusste, was er tat oder sagte und Dinge und Personen durcheinander warf, hatte er seit neuestem zu kämpfen. Kurz nachdem Merlin die Regenerationskammer wieder verlassen hatte, entstand ein grünliches Flirren fünf Schritte vor ihm in der Luft. Dem Zauberer war es wohl bekannt, auch wenn er es schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. Und das war gut so, denn wenn er es sah, bedeutete es meist nichts Gutes. »Ich grüße dich, Bote des Wächters der Schicksalswaage«, sagte Merlin und neigte kurz das Haupt. »Hast du einen Namen, mit dem ich dich ansprechen darf?« Das grüne Flirren verstärkte sich für einen Moment. »Nenne mich Kern oder denk dir einen anderen Namen für mich aus, es ist egal«, erwiderte der Bote mit wohlklingender Stimme. »Ich komme mit einem Auftrag für dich, Merlin.« »Ich habe es mir fast schon gedacht«, seufzte der Zauberer. »Immer, wenn sich der Wächter der Schicksalswaage über einen von euch direkt an mich wendet, sind es Aufträge von existenzieller Bedeutung. Ich nehme an, dass es auch dieses Mal nicht anders sein wird.« »Du hast Recht, Merlin, Zauberer, König der Druiden, Machtvoller des Multiversums.« Täuschte sich Merlin, oder hörte er tatsächlich so etwas wie Spott her aus?
»Die Werdung LUZIFERS steht bevor. Deswegen drohen die Mächte des Bösen so stark überhand zu nehmen, dass das Gleichgewicht der Kräfte in diesem Teil des Multiversums zu ihren Gunsten kippen wird. Das aber musst du rechtzeitig verhindern, Merlin. Du weißt, dass der Wächter der Schicksalswaage dir weitgehend freie Hand in deinem Tun lässt. Noch. Doch dieses Mal erteilt er dir einen guten Rat. Schaffe einen machtvollen Kreis des Guten auf dem blauen Planeten namens Gaia, der sich den erstarkenden Mächten des Bösen mit Vehemenz und vor allen Dingen erfolgreich entgegenstemmt. Nur dann kann das Gleichgewicht der Kräfte gehalten werden. Solltest du versagen, wird das Gute vom Bösen unter Umständen überrannt und total vernichtet. Sei also sorgfältig in der Wahl deiner Kämpfer. Die Existenz der gesamten Menschheit hängt davon ab.« Merlin erschrak. »Die Werdung LUZIFERS? Was bedeutet das, Kern? LUZIFER existiert doch. Ich habe ihn gesehen. Damals, als ich die Hölle verlassen habe.« »Erfülle deine Aufträge, Merlin, und rühre nicht an Dingen, die dich nichts angehen. Du hast eine Zeitspanne von ungefähr 3000 Erdenjahren zur Verfügung, um eine starke Bastion des Lichts auf dem blauen Planeten zu bauen. Mach dich also unverzüglich an die Arbeit, denn es wird keine leichte Aufgabe sein.« »Natürlich, Kern. Aber warum gerade auf der Erde oder auf Gaia, wie du sie nennst?« »Hast du noch immer nicht bemerkt, dass dieser Planet eine zentrale Rolle in diesem Teil des Multiversums innehat?« Der Zauberer nickte. Seine Schultern schienen gebeugt unter der neuerlichen Last, die ihm dieses unglaubliche Wesen namens Wächter der Schicksalswaage aufbürdete. »Doch, ja, ich habe es zumindest geahnt. Aber ich wollte es aus deinem Mund hören.« »Nun hast du es gehört. Handle also.« »Gestattest du mir noch eine Frage, Kern?« »Ja.« »Du sagtest, der Wächter der Schicksalswaage gewährt mir noch alle Freiheiten. Warum noch?« »Du gehörst nach wie vor zu den besten Dienern des Wächters. Aber deine schweren Fehler häufen sich, Merlin. In einem Maß, das bald nicht mehr tragbar sein wird, wenn es dir nicht gelingt, sie wieder abzustellen oder sie doch zumindest auf ein Minimum zu begrenzen.«
»Du redest von den Zeitreisen«, flüsterte der Zauberer und fühlte zum ersten Mal seit Äonen ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch. »Ja, auch davon rede ich. Durch deine Reisen hältst du die Kräfte des Schicksals nur vordergründig im Gleichgewicht. In Wirklichkeit destabilisierst du weite Bereiche des Multiversums und beraubst dich selbst deiner Macht. Höre und handle.« Noch bevor Merlin zu einer weiteren Frage ansetzen konnte, war der Bote wieder verschwunden. Merlin materialisierte im Saal des Wissens. »Die Werdung LUZIFERS. Wie seltsam. Was meint er nur damit?« Der Zauberer versank mit seinem Geist in die Kristallwände des Saals und rief das gesamte Wissen ab, das darin steckte. Aber es machte ihn nicht schlauer. Die Prophezeiung des Boten blieb ein Rätsel.*
Merlin fing an, mit verschiedenen Menschen zusammen zu arbeiten, die er für geeignet hielt, um dem Bösen machtvoll entgegenzutreten. Er stattete über einen langen Zeitraum hinweg insgesamt sechs Männer und zwei Frauen mit starken Waffen aus – mit Amuletten, die er aus Sonnen schuf und in denen er gewaltige magische Kräfte verankerte. Alle seine Kandidaten erwiesen sich aber letztendlich als zu schwach. Erst gut 600 Jahre nach dem schicksalhaften Gespräch mit dem Boten fand Merlin Jesus und baute ihn tatsächlich zum Anführer des Widerstandskreises auf den er Tafelrunde nannte. Der Nazarener erfüllte als erster seiner Kandidaten alle Voraussetzungen, um der mächtige, umsichtige Führer zu werden, den Merlin benötigte. Aber die erste Tafelrunde wurde trotzdem durch Verrat und andere Intrigen von Asmodis und Genossen gesprengt. Auch, weil Merlin in der entscheidenden Phase nicht zur Stelle war, um das Projekt zu retten. Dummerweise war er wieder mal in einer plötzlich auftretenden Phase *Und das bleibt so. Denn bis an sein Lebensende weiß Merlin nichts von dem Fluch, dem der Höllenkaiser LUZIFER ausgesetzt ist – im Gegensatz zu seinem dunklen Bruder Asmodis. Dem hat sich LUZIFER einst offenbart und ihm erzählt, dass er sich alle 100.000 Jahre in einem unbekannten Wesen namens JABOTH erneuern muss. Schafft er es nicht, geht er mitsamt der ganzen Hölle unter. Nachzulesen im Zamorra-Heft 902: »Das Erbe der Hölle«
schwerer geistiger Verwirrung gefangen. Es dauerte weitere 400 Jahre, bis Merlin den Kandidaten für den zweiten Versuch lokalisieren konnte – Uther Pendragon nämlich. Doch bald schon musste der Zauberer feststellen, dass er mit dem Großkönig der Britannier auf das falsche Pferd setzte. Uther war viel zu sehr mit der Weiberjagd beschäftigt, um den Kampf gegen das Böse ernsthaft betreiben zu können. Im Zweifelsfall war ihm ein erbeuteter Rock wichtiger als ein erlegter Dämon. Vor allem, als er älter wurde und sich beweisen musste, dass er nichts an Anziehungskraft beim anderen Geschlecht eingebüßt hatte. Selbst die »heilige Aufgabe«, mit der Merlin ihn beauftragte, um ihn von den Weibern abzulenken, fruchtete nicht. Uther Pendragon sollte nämlich zusammen mit seinen Rittern das verschollene vierte Amulett suchen. Da es einst Jesus gehört hatte, wurde es bald als »heiliger Gral« verbrämt. Finden konnte es, so der schlaue Kniff des Zauberers, jedoch nur jemand, der »reinen Herzens« war. Da der Pendragon diesen Zustand jedoch keine drei Wochen durchhielt, entsagte er der Aufgabe leichten Herzens und beauftragte nur noch seine Ritter damit. Es war etwa drei Monate nach dem Zeitpunkt, als Uther Pendragon der unglücklichen Igraine beigelegen und sie geschwängert hatte, als das verschollene vierte Amulett unerwarteterweise wieder auf der Erde auftauchte. Pluton hantierte damit. Schließlich konnte Merlin es zurückerobern, allerdings erst nach schwerem Kampf weil der Erzdämon seine Beute mit Klauen und Zähnen verteidigte. Sollte ich ein sechstes Amulett schaffen müssen, werde ich es mit einer Ruffunktion ausstatten. Das wird vieles leichter machen … Ein halbes Jahr später kam Pendragons Bastard auf die Welt. Igraine, jetzt verwitwete Herzogin von Comwall, da Gorlois in einem erbitterten, hasserfüllten Zweikampf mit Uther gefallen war, taufe ihren Spross auf den Namen Artus. Und Merlin stellte mit Verwunderung fest, dass der Sohn Uthers viel besser für die schwere Aufgabe der Tafelrunde geeignet zu sein schien als der Vater. Große magische Veranlagungen ruhten in ihm. Merlin höchstpersönlich erzog den Jungen. Als Artus das 14. Lebensjahr erreichte, stellte ihn der Zauberer auf die Probe und ließ ihn das magische Schwert Excalibur aus einem Stein ziehen. Artus schaffte es und wurde nach Uthers Tod einstimmig zum neuen Großkönig Britanniens gewählt. Mit zahlreichen Siegen gegen die Sachsen nährte der charismatische
König die Hoffnung der Menschen, ihnen ein freies Britannien zu erhalten und ihnen künftig ein friedliches Leben zu schenken. Doch Artus' Hauptaufgabe war der Kampf gegen die Schwarzblütigen, deren Macht sich, wie der Bote prophezeit hatte, tatsächlich vergrößerte. Der vorläufige Höhepunkt diese Auseinandersetzungen war das Auftreten der Apokalyptischen Reiter …
Nach diesem Fiasko, das Artus beinahe das Leben gekostet hätte, versank der König in Depressionen. Zum einen, weil er beim Großangriff der unheimlichen Reiter gleich vier seiner Tafelrunden-Ritter verloren hatte, zumal zwei, die er wie Brüder geliebt hatte, zum anderen, weil er sich minderwertig fühlte, da er die Reiter nicht einmal mit Hilfe des starken fünften Amuletts, das ihm Merlin vor Jahren aus dem Nachlass des im Kampf gefallenen Uther Pendragons überließ, hatte besiegen können. Die Niedergeschlagenheit des Königs wurde so groß, dass Merlin gezwungen war, ihm und den teilnehmenden Rittern das Gedächtnis an diesen unheilvollen Überfall zu nehmen. Erst danach fand Artus wieder zu sich selbst zurück. Merlin war nach wie vor davon überzeugt, dass er mit Artus die richtige Wahl getroffen hatte. Aber er sah, dass er ihn mit einer noch stärkeren Waffe ausstatten musste. Also beschloss er, nachdem ein gutes Jahr ins Land gegangen war, Artus diese Waffe zu verschaffen. Und mehr noch: Der König sollte, wenn auch nur zum Schein, in den Schöpfungsakt eingebunden werden. Denn wenn Artus glaubte, originärer Bestandteil dieses unglaublichen Vorgangs zu sein, würde er seine künftigen Anstrengungen als Haupt der Tafelrunde verdoppeln und verdreifachen. Der Zauberer, der seinen Schützling fast einen Monat nicht gesehen hatte, begab sich nach Camelot. Eine Weile beobachtete er Artus aus dem Unsichtbaren heraus. Der König stand auf den Zinnen der Burg und machte sich Gedanken über einen Drachen, den Lancelot in den Wäldern erschlagen und dessen Klaue er mit nach Camelot gebracht hatte.* *siehe Zamorra-Heft 551: »Im Licht der schwarzen Sonne«
Das sah der König, dessen Wappen ein roter Drache schmückte, als unheilvolles Omen an. Aber auch das Verhältnis Lancelots zu seiner Frau Guinevre trieb die Gedanken des Königs um. Obwohl ihm der Betrug der beiden unverblümt nahe gebracht worden war, weigerte er sich, der Tatsache ins Auge zu sehen. Merlin konnte seine Gedanken lesen, weil er ihm bis jetzt noch keinen Mentalblock verpasst hatte. Ein Versäumnis, das seinem gelegentlich wirren Geist geschuldet war, das er aber so schnell wie möglich nachholen würde. Artus wünschte sich, Merlin käme endlich von seiner jüngsten Reise zurück. Mit ihm hätte er über all die Dinge reden können. Das kannst du haben. Und noch mehr … Merlin stand weit über diesen Dingen. Im Gegensatz zu jedem anderen war er in dieser Hinsicht nicht befangen. Denkst du vielleicht. Warum glaubst du wohl, habe ich in der Vergangenheit ebenfalls Andeutungen gemacht? Schick Guinevre in die Verbannung und kläre die Sache so schnell wie möglich mit Lancelot, denn eine Frau darf keine Zwietracht unter den Mitgliedern der Tafelrunde säen … Artus entsann sich der seltsamen Andeutungen Merlins, die er immer zurückgewiesen hatte. Na siehst du … Doch der Zauberer war nicht greifbar. Der König seufzte. Ein Ruck ging durch seine Gestalt. Der weiße Umhang mit dem roten Drachen flatterte leicht im Wind. Artus wandte sich um. Er wollte noch einmal mit Lancelot sprechen. Aber nicht über Guinevre, sondern darüber, wie das Unheil, das der erschlagene Drache für die Zukunft des Landes bedeutete, abgewandt werden konnte. Möglicherweise konnten ihnen ja die Priesterinnen von Avalon helfen. Aber Lancelot musste den schwierigen Übergang auf die Feeninsel auf sich nehmen, da er das Unglück ja heraufbeschworen hatte. Der König prallte zurück und griff nach Excalibur. Unvermittelt stand Merlin vor ihm. Er steckte das Schwert zurück. »Ich freue mich, dich zu sehen, Myrrdhin. Aber erschrick mich nie wieder auf diese Art und Weise, sonst steche ich dir dein eigenes Schwert in den Wanst.« »Ich verspreche mich zu bessern.« Merlin lächelte. Wie immer trug
er sein weißes Gewand mit dem breiten Gürtel, hinter dem die goldene Sichel steckte. Um seine Schultern hing der bodenlange, rote Mantel. Der weißbärtige Mann, im Augenblick ewigkeitsjung und dynamisch wirkend, hob grüßend die Hand. »Du warst lange fort«, stieß Artus hervor. »Ich werde auch jetzt nicht lange bleiben«, erwiderte Merlin. »Meine Wege führen mich zuweilen sehr weit fort von hier. Doch dieses Mal will ich dich mitnehmen.« »Wohin?« »Du wirst es erleben. Beschreiben kann ich es nicht. Du würdest mir nicht glauben.« Artus lächelte. »Komm zunächst du einmal mit mir. Das Willkommensfest heute Abend wird umso größer, denn auch Lancelot kehrte heute heim. Doch zuvor muss ich mit dir reden, Myrrdhin Emrys.« Denn die Sache mit der abgeschlagenen Drachenklaue lässt mir keine Ruhe … »Das hat Zeit bis später«, sagte Merlin bestimmend. »Ich werde dir etwas zeigen, dich an etwas teilhaben lassen, das kein Mensch zuvor schaute.« Artus stutzte. »Was soll das, Myrrdhin? Diese Eile? Du bist gerade erst gekommen. Ruh dich aus, lass es dir gut gehen.« »Es geht mir gut. Aber du scheinst jener, der Probleme mit sich trägt. Wir reden später darüber. Nun folge mir.« »He, nun warte doch.« Artus streifte die Hand des Zauberers ab, der nach ihm gegriffen hatte. »Was soll das? Benutzen wir wieder einen deiner merkwürdigen magischen Wege? Wohin? Wie lange wird es dauern? Ein paar wichtige Angelegenheiten harren meiner und …« »Vielleicht werden sie dir danach nicht mehr ganz so wichtig erscheinen. Ich habe über vieles lange nachgedacht. Ich weiß jetzt, dass die richtige Zeit gekommen ist. Begleite mich nunmehr.« Artus verzog das Gesicht. »He, Myrrdhin, ich bin kein kleiner Junge mehr, den du nach Belieben herumkommandieren kannst. Denke daran, dass ich der König bin – auch dein König, solange du dich in meinem Land aufhältst.« Er lachte leise. »Ach, vergiss es, väterlicher Freund. Trotzdem solltest du mir erst kundtun, worum es geht und
was der Grund für deine unheilige Eile ist. Jeder andere wäre froh, zurückgekehrt zu sein und das Wiedersehen mit alten Freunden zu genießen.« »Gib mir deine Hand.« Artus seufzte. Er sah eine Katze, die sich mit einer toten Maus im Maul über den Burginnenhof bewegte. »Wenn es wirklich nicht lange dauert.« »Keinen Lidschlag lang«, behauptete der Zauberer. Und die Umgebung verschwand. Noch im selben Moment umfing Artus tiefste Schwärze, so intensiv, wie er sie auch in tiefster Nacht und im tiefsten Verlies niemals empfunden hatte. Alles um ihn herum war verschwunden, er fiel in ein endloses Nichts, ohne sehen zu können, was sich um ihn herum befand. Da war kein Boden mehr unter seinen Füßen, da war keine Mauer mehr neben ihm, nach der er greifen und sich daran festklammern konnte. Unwillkürlich zog er den Dolch aus der Gürtelscheide. Er bedauerte, dass er Excalibur nicht bei sich trug. So wenig er das Zauberschwert mochte, weil es seiner Ansicht nach die Schwarzblütigen geradezu magisch anzog – er gebrauchte diesen Vergleich sehr oft und musste dann jedes Mal über dieses Wortspiel schmunzeln – so sehr vermisste er es in diesem Moment. Mit dem Dolch allein fühlte er sich den Gefahren nicht gewachsen, die vielleicht auf ihn lauerten. Eigentlich rechnete er fest mit irgendwelchen Gefahren, denn die gab es fast immer, wenn Merlin etwas von ihm wollte. Und so beruhigte es ihn keineswegs, dass es der Zauberer von Avalon war, der ihn in diese Lichtlosigkeit gerissen hatte. Gewiss, er hatte schon oft magische Reisen mit dem Magier erlebt, auch früher schon, als er noch ein Kind gewesen war. Doch niemals war es so gewesen wie jetzt. Artus' Gedanken wirbelten wild durcheinander. Lancelot, Guinevre, Merlin … Konnte er überhaupt noch jemand trauen? Wenn die verschiedenen Einflüsterer mit ihren dezent gestreuten Hinweisen Recht hatten, wenn Merlins Andeutungen von früher stimmten, wenn also sein bester Freund und seine Frau ihn hintergingen, war das vielleicht nur der Anfang? Hatte Lancelot den Drachen vielleicht
in voller Absicht erschlagen, um Unglück über ihn, Artus, zu bringen? Damit er sich nicht die Finger schmutzig machen musste, um Guinevre ganz für sich allein haben zu können? Und was, wenn auch andere ihn hintergingen, wenn alles, was er aufgebaut hatte, von Verrat und Betrug überschattet wurde? Zogen die Schwarzblütigen bereits auf Camelot ihre Fäden? Und wenn ja, konnte er sie so in die Schranken weisen, wie Merlin das von ihm erhoffte? In diesem Moment der Hilflosigkeit fühlte sich Artus unfähig, nicht stark und klug genug, um eine derart herkulische Aufgabe stemmen zu können. Vielleicht war ja auch Merlin ein Verräter an den hehren Werten des Christentums und am Guten und stürzte ihn soeben in den Tod. War das hier der Tod? Beunruhige dich nicht, klang Merlins Stimme direkt in seinem Kopf auf. Ich bin kein Verräter, du wirst es noch bemerken. Auch, dass die Selbstzweifel an deiner eigenen Stärke unberechtigt sind. Um diese endgültig zu beseitigen, deshalb sind wir hier. Wenn es jemanden gibt, der dich nicht betrügt, bin ich es. Es hätte keinen Nutzen für mich. Du musst mir vertrauen, das ist wichtig – für dich und auch für mich. Es ist gleich vorüber. Merlin sprach die Wahrheit. Eine Flut grellen Lichts blendete Artus plötzlich. Aber etwas stimmte nicht damit. Es war nicht das Licht, das Artus kannte, denn es erschien ihm viel dunkler, düsterer. Er schien sich nun in einer zähen Masse zu bewegen und das düstere Licht besaß genau den blauen Schimmer, den er bei seinen wenigen Besuchen auf Caermardhin in der Mardhin-Grotte bemerkt hatte, jener Felsenhöhle am Berghang unterhalb von Merlins Burg, in der die Wände aus funkelnden Kristallen waren und in der zwei leere Sarkophage standen. Das Licht wurde schwächer. Dämmerung kam rasend schnell, verdichtete sich erneut zu Finsternis. Sie entlockte dem König einen erleichterten Seufzer, denn nun sah er glitzernde Sterne am Nachthimmel. Da störte es ihn im Moment nicht, dass er diese Sternbilder noch niemals zuvor gesehen hatte. »Ich will dich nun etwas Einmaliges erleben lassen«, sagte Merlin, der an seiner Seite auftauchte und dessen weißes Gewand in der dunkelblauen Nacht fast so stark leuchtete wie der hellste Stern am
Himmel. »Schau dir die Sterne an.« »Sie sind überall«, staunte Artus. »Nicht nur am Himmel, sondern auch um uns herum, unter meinen Füßen. Dieses Funkeln und Glitzern, es … es ist mir unheimlich. Bring mich sofort zurück in meine Welt, Merlin.« Noch während er diese Worte sprach, wusste er, dass er es eigentlich nicht wirklich wollte. Zu sehr faszinierte ihn diese Umgebung neben den ganzen Schrecken her, die sie in ihm verbreitete. Er legte seinen Kopf in den Nacken. Dort, direkt über ihm, bewegte sich da nicht etwas düster Schwarzes zwischen den Sternen? Es schien zwischen ihnen zu schwimmen. Und die zähe Masse, die immer noch um ihn war und ihn in seinen Bewegungen hemmte, schwamm er etwa auch in ihr? Schwimmen? War das hier Wasser? Von einem Moment zum anderen spürte er, wie es in Mund und Nase drang und in seinen Augen schmerzte. Er schrie und schluckte dabei noch mehr, krümmte sich zusammen. Ein Erstickungsanfall packte ihn. Die Panik kam gleich hinterher. Merlin, du bist doch ein Verräter. Du hast mich in eine Unterwasserwelt gebracht und löschst nun den Zauber, der mich bis jetzt vor dem Ertrinken bewahrt hat. Nun muss ich den furchtbaren Wassertod sterben … Artus strampelte und versuchte instinktiv nach oben zu gelangen. Er war kein besonders guter Schwimmer und schon gar kein Taucher. Seine Überlebensinstinkte trieben ihn lediglich dazu, die Oberfläche dieses Wassers zu durchstoßen, um wieder atmen zu können, auch wenn ihm eine Stimme ganz weit hinten in seinem Gedankenchaos sagte, dass dies sowieso keinen Wert haben würde. Bilder seines Lebens zogen an dem Ertrinkenden vorbei und mischten sich mit Visionen. Da war Guinevre, seine geliebte Frau, die vielleicht nie erfuhr, wie er hier gestorben war. Und dann seine Ritter, die Kämpfe gegen die Sachsen und gegen das Böse an sich, der erhabene Moment, als ihm Merlin, der Verräter, das fünfte Amulett überreicht hatte. Er sah einen roten Drachen mit glühenden Augen, der ihn mit seinen Klauen am Auftauchen hinderte. Und darunter einen Schatten der Feeninsel Avalon, die längst der Welt entrückt war. Eine Totenbarke glitt auf den Schatten zu und er sah
sich selbst in der Barke liegen. Frauen beugten sich über ihn, die Priesterinnen der Großen Göttin Ceridwen. Sie brachten ihn nach Avalon und versuchten plötzlich verzweifelt, das Amulett, das auf seiner toten Brust lag, zu lösen, denn es verfärbte sich tief schwarz. Sie schafften es nicht. Artus schrie voller Entsetzen. Er sah Guinevre durch das Wasser schwimmen. Sie kam direkt auf ihn zu. Und über ihr wurde ein Licht immer größer, immer gewaltiger – ein unheimlich fremdartiges Leuchten, wie er es selbst auf dieser Wasserwelt bisher nicht gesehen hatte. Denn es war schwarz. Ein schwarzes Leuchten! Wie war das möglich? Er konnte es sich nicht erklären. Und auch nicht, warum er immer noch lebte und schreien konnte, obwohl er jetzt mit jedem hechelnden Atemzug Wasser in die gequälten Lungen pumpte.
Während Artus gegen die Dämonen seines Geistes ankämpfte, bereitete sich Merlin auf das Gewaltigste, Ungeheuerlichste vor, das er jemals getan hatte. Er wollte erneut eine Sonne vom Himmel holen. Allerdings keine normale, so wie er es jeweils für die Amulette eins bis fünf getan hatte. Um dem sechsten Amulett die ungeheure Kraft und die vielfältigen Funktionen geben zu können, die er sich vorstellte, musste er eine entartete Sonne zwingen. Denn in der ungeheuren Verdichtung eines Neutronensterns schlummerten derart gigantische Energien, dass sich Merlin bis jetzt nicht daran gewagt hatte. Doch nun sah er eine reelle Chance. Urplötzlich schwebten die fünf Amulette vor Merlin in der Luft. Durch Handbewegungen wies er ihnen ihren Platz zu. Er wollte, dass sie im Kreis um seinen Kopf schwebten. Willig bewegten sie sich an ihre Plätze. Der Zauberer sah nicht mehr, was im Moment mit seinem Reisebegleiter passierte, denn er hatte genügend mit sich selbst zu tun. Uralte Zaubersprüche flossen in einem monotonen Singsang über Merlins Lippen. Ein blau leuchtender Strahl entstand zwischen seiner Stirn und dem ersten Amulett. Über diese mentale Brücke verband er seine Kräfte mit denen
der Zauberscheibe. Danach zwang er auch die vier anderen auf gleiche Weise in den magischen Verbund. Die fünf blauen Bahnen, die Merlin wie Strahlen eines Heiligenscheins umgaben, erloschen plötzlich. Der Zauberer atmete auf, denn der erste Teil seines Planes schien geklappt zu haben. Die fünf Amulette bildeten jetzt eine Einheit mit ihm, er konnte über ihre gesammelten Kräfte verfügen. Es blieb aber auch weiterhin ein extrem gefährliches Unternehmen, auf das er sich viele Monate durch das Kombinieren verschiedenster Zaubersprüche vorbereitet hatte – so lange, bis er zu einer für ihn befriedigenden Lösung gekommen war. Ob die Theorie und das Üben an schwächeren Objekten der Praxis hier standhielt, würde er sehen müssen. Wenn nicht, gehörte der Zauberer Merlin wahrscheinlich demnächst der Geschichte an. Doch das waren Gedanken, die sich Merlin im Vorfeld dieses Unternehmens gemacht hatte. Momentan musste er sich mit der ganzen Kraft seines Geistes auf den magischen Amulettverbund konzentrieren. Schließlich fühlte er sich reif dafür, seine Aufgabe zu vollenden. Und er konzentrierte sich auf den größten der Neutronensterne, die er in diesem seltsamen Universum finden konnte. Seltsam deswegen, weil sich der Zauberer in einer Dimension befand, die sich nach wie vor nicht dafür entscheiden konnte, ob sie sein wollte oder nicht, wenn man es denn einmal so anschaulich ausdrücken wollte. Denn Merlin hatte sich für die Schaffung des sechsten Amuletts Myrrian-ey-Llyrana ausgesucht. Noch immer besaß die gefährlichste aller Spiegelwelten, deren Namen »Unvollendete Schöpfung« bedeutete, einen Entropiewert von nur etwa 52 Prozent. Und weil sie – warum auch immer, wahrscheinlich war es lediglich eine Laune der Natur – innerhalb des fragilen Gebildes aller Spiegelwelten dauerhaft eine zentrale Position einnahm, wirkte sich ihr Wohl oder Wehe ganz direkt auf die anderen aus. Und zwar auf ganz und gar negative Weise. Denn die Schockwellen, die dieses Spiegeluniversum ausstrahlte, begannen bereits, sogar fest existierende benachbarte Spiegeluniversen mit einem Entropiewert von über 87 Prozent zu destabilisieren. Die Katastrophe, über die Merlin beim Entstehen Myrrian-ey-Llyranas spekuliert hatte, kam schneller als erwartet auf ihn zu. Und so musste er dringender denn je etwas
unternehmen. Mit dem Entfernen des größten Neutronensterns aus Myrrian-ey-Llyrana glaubte er, diesem Spiegeluniversum endlich zu dauerhafter Existenz verhelfen und damit zwei Dämonen mit einem Blitz treffen zu können. Denn das Problem, das Myrrian-ey-Llyrana plagte, hatte Merlin im magischen Teil seiner halbgaren Existenz ausgemacht. Bekanntlich existierte jeder Gegenstand in drei Zustandsformen gleichzeitig: als feste Materie, als Welle und als magischer Imprint, wobei jede Zustandsform in einem eigenen Universum angesiedelt war. Im Magischen Universum Myrrian-ey-Llyranas erschien nun der Neutronenstern, den sich Merlin ausgeguckt hatte, als tief schwarze Sonne; ein Phänomen, das er bis dahin noch nirgendwo gesehen hatte. Und umso seltsamer, da der Grad der Entartung in den anderen beiden Zustandsformen auch nicht größer war als bei vergleichbaren kollabierten Sternen. Die Magie, die diesem Neutronenstern innewohnte, war aber dennoch nicht schwarz, sondern eher neutral, doch der Zauberer von Avalon war sicher, dass es die schwarze Sonne war, die Myrrian-ey-Llyrana am endgültigen Werden hinderte. Merlin atmete tief durch. Er schaute die schwarze Sonne Myrrian-ey-Llyranas zum ersten Mal bewusst an. In diesem Moment gab sie ihre Superposition auf und entschied sich, den Zustand einer Welle anzunehmen. Und wäre Artus nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, hätte er staunend festgestellt, dass der am hellsten leuchtende Stern am Himmel urplötzlich verschwand. Denn Gegenstände, die in der Zustandsform einer Welle existierten, waren für Menschen unsichtbar. Nicht aber für Merlin, der die Sonne nach wie vor in ihrer magischen Existenz sah – als leuchtend schwarze Scheibe nämlich. Der Zauberer von Avalon streckte die Hand nach der schwarzen Sonne aus. Der blaue Strahl, der zuvor schon den Amulettreigen berührt hatte, spannte nun eine Brücke hoch zu den tobenden Gewalten dieses unglaublichen Objekts und fraß sich daran fest. Jetzt, jetzt war der entscheidende Moment! Merlin empfand keinerlei Angst – aber nur, weil seine ungeheuer starke Konzentration es nicht zuließ. Sofort, als das blaue Leuchten
und die schwarze Sonne sich berührten, stürzte sich ein gigantischer Strom stärkster magischer Kräfte in den Strahl und sauste daran herunter. Merlin und der Amulettverband bildeten längst eine magische Einheit. Die Kraft eines Zauberers und von fünf Sonnen stemmten sich der brüllenden, tobenden, schwarzen Wand entgegen, die auf sie zuraste. So jedenfalls empfand Merlin das, was da auf ihn zukam. Mit seinen Zaubersprüchen koordinierte er die Kräfte des magischen Verbandes und setzte sie so ein, dass es ihm gelang, das brodelnde magische Chaos nicht nur zu stoppen, sondern auch wieder zurückzudrängen. Der blaue Strahl, der matt geworden war, leuchtete nun heller als zuvor. Und er zog die schwarze Sonne Stück um Stück heran! Gleichzeitig schrumpfte sie immer weiter. Als sie über Merlin schwebte, besaß sie nur noch die Größe eines Medizinballs. Und als der Zauberer die schwarze Sonne zum ersten Mal berührte, als er sie in Händen hielt, veränderte sie sich jäh, schrumpfte weiter und wurde zu einer dünnen, silbrig glänzenden Scheibe mit seltsamen Verzierungen! Das sechste Amulett war geschaffen. Nein, noch nicht ganz. Merlin schickte seinen Geist mit Hilfe des Amulettverbunds erneut in das brüllende schwarze Chaos hinein. Er erfasste, dass niemand diese unglaublichen Energien alleine durch die Macht seines Geistes oder das Verschieben der Hieroglyphen auf dem äußeren Band gezielt einsetzen konnte. Es brauchte eine Hilfe. So löste Merlin einen winzigen Teil der Kraft, die vom Amulettverbund und seinem Geist gebildet wurde, ab und installierte sie als Steuerungselement im sechsten Amulett. Mit dem Effekt, dass nun alle sechs Amulette sowie Merlins Mentalsplitter magisch untrennbar miteinander verbunden waren. Danach machte Merlin das sechste Amulett mit einem Zauber sichtbar, denn für Menschen wäre es sonst auf Grund seines Wellencharakters unsichtbar geblieben. So hatte er es auch schon bei den ersten fünf Amuletten gehalten, die ebenfalls alle Wellencharakter aufwiesen. Und wenn ab jetzt eines der ersten fünf Amulette eingesetzt wurde, floss die gleiche Menge an magischer Energie, die für den Einsatz verwandt wurde, über das alles verbindende Steuerungselement dem sechsten Amulett zu. Denn die schwarze Sonne, die das Amulett eigentlich war, existier-
te ihrem Wesen nach nur als Abbild einer tatsächlichen Sonne und war lediglich durch einen seltsamen Zufall in die Schöpfung gespiegelt worden. Sie hatte also schon immer aus gespiegelten Energien bestanden. Und die wegen der nur 52-prozentigen Existenzwahrscheinlichkeit allmählich schwindende Kraft des sterbenden schwarzen Sterns konnte, um die Schlagkraft des sechsten Amuletts zu erhalten, nur durch gespiegelte Energien ersetzt werden, durch keine anderen sonst. Dass dies geschah, entzog sich allerdings für eine sehr lange Zeit Merlins Kenntnis. Und auch die Tatsache, dass aus seinem winzigen Geistsplitter innerhalb des Steuerungselements eine unbegreifliche Wesenheit aus reiner Magie, die sich das WERDENDE nannte, erwuchs, bekam er nicht mit. Zu sehr wurde der Zauberer von anderen Dingen abgelenkt. Aber die sechs Amulette waren nicht nur untereinander verbunden, sondern über die schwarze Sonne auch mit deren Spiegeluniversum, denn diese Verbindung konnte Merlin nicht auflösen, was immer er auch anstellte. So sah er mit wachsender Sorge, dass sich Myrrian-ey-Llyrana nach wie vor nicht stabilisierte oder wieder verschwand denn die schwarze Sonne – oder jetzt besser das sechste Amulett – blieb ein unverrückbarer Bestandteil von ihm, egal, wo es sich gerade befand. Doch diese Dinge waren noch Zukunftsmusik. Im dem Moment, als die schwarze Sonne medizinballgroß über Merlins Haupt schwebte und das Schlimmste überstanden war, bekam der Zauberer die Nöte seines Begleiters mit. »Narr«, murmelte er, als König Artus wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte. »Was hast du nur für eine Fantasie? Bekämpfe deine Albträume! Sieh die Wirklichkeit! Siehst du nicht die blühende Landschaft, in der du stehst? Wovor hast du Angst, Artus?« Vor dem Verrat. Davor, in einem Sumpf zu versinken, von den Wellen des Bösen überdeckt und ertränkt zu werden. Er sah Merlin nicht, er hörte ihn nur. Und das Wasser wurde zu einem noch zäheren Morast als zuvor. Er umschloss seinen Körper. Und dann waren es Guinevres Arme, die ihn umschlangen und nicht mehr frei geben wollten, und die Sonne brannte kochend heiß und tief schwarz leuchtend auf ihn nieder und zerfraß seine Seele, brannte ihm das Fleisch von den Knochen …
Merlin sah, dass sich Artus nicht aus eigener Kraft helfen konnte. Zu sehr war er in seinen Ängsten gefangen. Er hängte sich das Amulett um den Hals, sammelte die anderen fünf ein und griff nach Artus' Hand. »Es ist genug. Komm mit mir zurück in deine Welt.« Diese Worte klangen seltsam in Artus nach … in deine Welt … Gerade so, als wäre das nicht auch die Welt Merlins.
Übergangslos fand Artus sich auf der Wehrmauer von Burg Camelot wieder. An exakt derselben Stelle, von der aus er mit Merlin gestartet war. Die Rückreise hatte der König nicht bewusst erlebt, vielleicht hatte ihm Merlin dieses endlose Fallen durch einen finsteren Raum aber auch gänzlich erspart. Doch es hatte zur Folge, dass Artus noch immer verzweifelt nach Luft rang und um sich schlug und trat, um diesem verdammten Sumpf zu entkommen. Merlin nahm ihm mit einer Handbewegung die Angst. Artus keuchte und atmete durch. Als er seiner vertrauten Umgebung gewahr wurde, beruhigte er sich sofort wieder. Und es schien nicht viel mehr als die Zeit dreier Wimpernschläge vergangen zu sein, denn Artus sah wieder die Katze mit der Maus im Maul, noch fast an derselben Stelle wie vor seiner unglaublichen Reise. Merlin, der sich nach der ganzen Aktion etwas schwach fühlte und kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, versuchte dennoch die des Königs zu lesen. »Sagte ich dir nicht, dass es keinen Lidschlag lang währen würde?«, murmelte er. »Du musst verzweifelt sein, Artus. Was hast du in der anderen Welt gesehen? Du warst im Sterben. Aber dort kann niemand sterben, schon gar nicht du. Du bist ein Auserwählter.« »Was bedeutet das?« »Du … nun, wirst es eines Tages erfahren«, wich Merlin aus, der sich aus seinen zerfließenden Gedanken heraus nur noch schwer konzentrieren konnte. »Doch nun … lass uns ein wenig ausruhen, die Reise zum Silbermond war beschwerlich. Ah, waren wir da überhaupt? Ich … bin wirklich müde, ich melde mich wieder.« Merlin verschwand und erschien noch im selben Augenblick auf Caermardhin wieder. Dort legte er das neue Amulett beiseite und ruhte
sich aus. Währenddessen stieg Artus von der Wehrmauer. Er war noch immer verwirrt über das Geschehene und zornig, dass ihn Merlin ohne Erklärungen zurückgelassen hatte. Doch einen Tag später tauchte der Zauberer wieder auf und tat so, als ob nichts geschehen wäre. »Was ist auf dieser fremden Welt geschehen, Myrrdhin?«, drängte Artus. »Ich ertrank im Wasser, ich erstickte im Morast. Ich sah, wie die Priesterinnen meinen Leichnam in der Totenbarke nach Avalon brachten. Merlin, was hat das alles zu bedeuten? Was hast du mit mir angestellt?« »Ich habe gar nichts mit dir angestellt«, erwiderte der Zauberer und sah seinen Schützling nachdenklich an. »Ich habe dich nur überschätzt. Denn ich konnte nicht ahnen, dass du die Strukturen dieser Welt so missverstehen würdest. Alles, was du zu sehen glaubtest, existierte nur in deiner Fantasie. Du wolltest Wasser und Morast und die Totenbarke sehen, also gab es das alles auch. Hättest du stattdessen Camelot sehen wollen, du hättest es gesehen. Weißt du, was dein Problem ist? Du bist zerfressen von der Angst vor Verrat, von der Unsicherheit. So warst du früher nie. Du schaffst dir deine eigenen Albträume.« »Vielleicht gibt es einen Grund dafür«, konterte der König mit düsterem Blick und dachte vor allem an Mordred, der ihm immer wieder einflüsterte, von Verrätern umgeben zu sein. Merlin verlangte nach einem Becher Wein und bekam ihn kredenzt. »Und nun will ich endlich alles wissen«, nahm Artus das Thema wieder auf. »Myrrdhin, was ist das für eine schreckliche Welt gewesen, die Träume und Fantasie Wirklichkeit werden lässt? War es diese Welt, die du mir unbedingt zeigen wolltest, die kein Mensch zuvor je gesehen hat?« »Du warst so von deiner Angst umfangen, dass du das eigentliche Wunder gar nicht mitbekommen hast.« Merlin leerte seinen Weinbecher und füllte ihn gleich selbst wieder auf, indem er mit dem Zeigefinger daran hochfuhr. »Myrrian-ey-Llyrana ist ein Universum, das existiert und doch wieder nicht. Deswegen können dort auch keine Naturgesetze gelten und jeder, der dieses Universum betritt, macht sie sich selber. Durch die Macht seiner Gedanken. Myrrian-ey-Llyra-
na nimmt diese Gedanken an und lässt sie durch Umformung der Materie Wirklichkeit werden. Doch fast jedes Wesen, das Myrrian-ey-Llyrana von außerhalb betritt, ist wirklicher als dieses Universum und die Sterne und Welten darin, denn seine Existenz ist längst gesichert. So kann aber alles, was Myrrian-ey-Llyrana nach den Gedanken fest existierender Wesen formt, nur eine Scheinwirklichkeit sein, die sich sofort wieder umformt, wenn man an etwas anderes denkt.« »Ich glaube zu verstehen«, murmelte Artus. »Die Materie Myrrianey-Llyranas, aus der die neue Umgebung geformt wird, ist nur zur Hälfte existent und dadurch nicht so stark wie Materie, deren Existenz gesichert ist, also meine zum Beispiel. Deswegen konnten mir das Wasser und der Morast auch nicht wirklich gefährlich werden.« Er nickte. »Und die Totenbarke wird es also auch nicht schaffen.« Merlins Gesicht hellte sich auf. »Du bist wahrlich nicht auf den Kopf gefallen, König der Britannier. Vielleicht habe ich dich doch nicht überschätzt. Du begreifst Dinge, die für dich eigentlich unbegreiflich sein müssten, schnell.« »Das mag sein. Aber ich scheine dafür Dinge, die das ganz alltägliche Leben betreffen, nicht zu begreifen, Myrrdhin. Vielleicht will ich sie aber auch einfach nicht begreifen. Was war nun das Wunder, das ich verpasst habe?« Merlin hob die Hand. Ein Amulett materialisierte darin. Artus staunte. »Ich wusste nicht, dass es … dass es einfach so auftauchen kann.« Er tastete nach seinem eigenen und fand es immer noch vor seiner Brust hängen. »Meines ist es also nicht. Ist es eines der vier ersten?« »Nein.« Merlin lächelte. »Es ist tatsächlich das Wunder, das du verpasst hast. Das sechste nämlich. Und viel stärker als alle anderen zuvor. Es kann zudem Dinge, die die anderen nicht können. Während du mit dem Ertrinken kämpftest, habe ich einen entarteten Stern in Myrrian-ey-Llyrana vom Himmel geholt und es daraus geformt.« Artus kniff die Augen zusammen, lehnte sich auf dem mit rotem Samt überzogenen Diwan zurück, glättete seine Tunika und spielte dann mit dem juwelenbesetzten Dolch, den er immer im Gürtel
trug. Er war ein Geschenk seines Freundes Lancelot. »Du hast für jedes Amulett einen Stern aus Myrrian-ey-Llyrana vom Himmel geholt?« »Ja.« »Du bist ein großer Zauberer, Myrrdhin Emrys und so glaube ich dir. Aber …« »Was meinst du, König?« »Wenn die sechs Amulette aus Materie von Myrrian-ey-Llyrana bestehen, dann sind sie nicht wirklich existent.« Merlin nickte. »Du denkst logisch und normalerweise hättest du auch Recht. Aber dadurch, dass sie sich nun in fest existierenden Universen befinden und auch dort eingesetzt werden, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit ihrer Existenz ebenfalls, denn beide Existenzebenen versuchen sich aneinander anzugleichen, wobei aber immer die stärkere einen Vorteil hat. Die Existenzwahrscheinlichkeit der sechs Amulette in diesem vitalen Universum ist bereits so hoch, dass sie nicht wieder verschwinden werden. Aber sie ist noch nicht so hoch wie die der Welt, die die Amulette umgibt. Bis sie diesen Zustand erreichen, kann es noch lange dauern.« »Dann hieße das, dass ein Amulett, das du aus der Sonne einer fest existierenden Welt erschaffst, noch sehr viel stärker wäre.« »Ja. Wenn es sich um eine entartete Sonne handelt. Die Möglichkeiten wären praktisch unbegrenzt, die Macht seines Besitzers gigantisch. Aber momentan bin ich noch nicht in der Lage, die Energien einer fest existierenden entarteten Sonne zu bändigen, egal, ob sich nun aus Teilchen oder Wellen besteht. Vielleicht werde ich es niemals sein.« Artus sah seinen Lehrmeister spöttisch an. »Du gibst zu, dass du nicht allmächtig bist, Myrrdhin?« »Meine Macht ist so groß, dass du sie niemals begreifen würdest. Aber auch deine Macht wird von nun an sehr groß sein, denn ich habe das sechste Amulett für dich geschaffen, König der Britannier. Du wirst es anstelle des fünften erhalten, um gegen die gewappnet zu sein, die dein Reich mit mächtigeren Waffen als dem Schwert bekämpfen. Und du wirst ab nun auch die Ritter deiner Tafelrunde, die du auf zwölf ergänzen musst, magisch ausbilden und sie zu
Kämpfern des Lichts machen.« Artus zögerte einen Moment. »Wozu?«, fragte er dann schulterzuckend. »Reicht es nicht, dass ich Excalibur besitze? Bisher hat es mir noch gegen jeden Schwarzblütigen geholfen, also ist es machtvoll genug.« Vom Angriff der Apokalyptischen Reiter wusste er nach wie vor nichts mehr. »Und mit ganzen Armeen sind die Dämonen der Schwefelklüfte auch noch nicht aufgetreten, warum sollte ich also meine Ritter magisch ausbilden?« »Weil ich es so will«, zischte Merlin. Artus lachte laut, fast zornig. »Du weißt, dass ich deinen Rat schätze, Myrrdhin, aber ich mag deine magischen Tricks nicht leiden. Es ist eine üble Kunst, die der menschlichen Natur zuwider spricht. Ich aber bin ein Mensch. Menschen können nicht zaubern. Auch die, die als Zauberer auf den Jahrmärkten auftreten, gaukeln dem Publikum nur etwas vor. Sie zaubern nicht wirklich, wie du es manchmal tust. Und ich will es nicht.« »Du wirst nicht umhin können, wenn du dein Reich behalten willst.« Artus' Oberkörper zuckte wie eine zustoßende Schlange nach vorne. Er stützte seine Arme auf den Oberschenkeln ab. »Dann verliere ich es lieber.« Aus Merlins Augen schienen Blitze zu schlagen. »Du weißt nicht, was du sagst. Höre mir nun gut zu. Du hast nicht die Freiheit, mein Geschenk abzulehnen, König der Britannier, Artus, Auserwählter. Jeder hat eine Bestimmung, der er folgen muss. Deine ist es, als Haupt der Tafelrunde eine Bastion des Lichts im ewig währenden Kampf gegen das Böse zu sein. Auch wenn du es jetzt noch nicht wahrhaben willst.« Er streckte ihm das sechste Amulett entgegen. »Nimm es also, gibt mir das fünfte zurück und erlerne seine Magie. Ich werde dir dabei helfen, wenn du es wünschst. Und du wirst seine wundersamen Fähigkeiten bald noch schätzen lernen, das garantiere ich dir.« Artus griff nur zögernd danach. Als er die Silberscheibe berührte, schien es zwischen seinen Fingern zu kribbeln. Tatsächlich fühlte sich das sechste Amulett anders an als sein Vorgänger. Tatsächlich? Vielleicht war es lediglich eine Täuschung, durch Merlins Worte
hervorgerufen, dass es sich um etwas ungleich Stärkeres handelte. In diesem Moment begriff Artus, dass er Angst vor der Macht hatte, die darin steckte. Er war tatsächlich kein Zauberer und so würde sie ihn irgendwann vernichten. »Ich will es nicht«, flüsterte er. »Ich werde es Lancelot geben.« Merlin erhob sich und ging erregt im Zimmer auf und ab. »Das wirst du nicht tun. Ich habe es für dich geschaffen, nicht für Lancelot. Er ist ein eitler Blender. Er hat nicht deine Ideale und er ist kein Auserwählter. Wenn du es Lancelot gibst, wird er es missbrauchen, so wie schon dein Vater Uther Pendragon das fünfte Amulett missbraucht hat. Dabei könnte Lancelot sterben. Willst du das?« Artus schüttelte den Kopf. Dann gab er Merlin das fünfte Amulett zurück und hängte sich das sechste um. Ich werde es niemals benutzen, niemals … »Deine Gedanken sind zu dunkel«, giftete Merlin, der momentan die absolute Kontrolle ausübte. »Du bist noch nicht reif genug. Gib es mir also zurück.« Artus starrte ihn an. »Du bist aber rasch anderen Sinnes«, erwiderte er und verspürte den Impuls, es behalten zu wollen. Jetzt erst recht … Aber dann gab er das Amulett doch wieder zurück und verspürte große Erleichterung. Das fünfte Amulett, das Merlin ihm zurückwarf, fing er auf und hängte es sich um den Hals. »Reife zuerst, dann komme ich wieder. Ein wenig kann ich noch warten. Bis dahin wirst du begriffen haben, was deine Bestimmung ist und dich nicht länger weigern.« Der Zauberer verschwand. Merlin machte die Rechnung ohne den Wirt, beziehungsweise seine dämonischen Freunde. Asmodis hatte mit Mordred eine schlagkräftige Speerspitze in Artus' Nähe platziert. Als sich der König auf einem Eroberungsfeldzug gegen die Pikten befand, nahm der schwarze Ritter unter dem Vorwand, Artus sei gefallen, Guinevre zur Frau und nannte sich nun selbst König Britanniens. Bei Camlann trafen die Heere der nun erbitterten Feinde aufeinander und Artus forderte den Verräter zum Zweikampf. Der legitime König fiel unter Mordreds Streichen und wurde tödlich verwundet. Aber der Verräter, von Excalibur getroffen und von Asmodis nicht ausreichend geschützt, wurde in ein Zwischenreich geschleudert, aus dem er sich
immer wieder lösen konnte, um für kurze Zeit auf der Erde zu wandeln und zu morden.*
*siehe Zamorra-Heft 777: »Die dritte Tafelrunde«
10. Intrigen Juli 2005, Prag Edita Pivonkova schrieb ihren Artikel fertig. Zufrieden war sie nicht. Die Geschichte um den sich ewig verzögernden Neubau des Stadions von Slavia Prag hatte zwar eine neue Entwicklung zu bieten; aber die Tatsache, dass der Verein den Neubau, entgegen eigener Versicherungen, noch immer nicht finanziert hatte, war nicht einmal den Aufmacher im Sportteil wert. Immerhin hatte Chefredakteur Pierre Lykoff sie nun wieder einigermaßen lieb, denn die ganze Woche über hatte sie es geschafft, die Skelettgeschichte mit immer neuen Spekulationen durch das Blatt zu ziehen und »Blesk« so hohe Auflagenzahlen zu bescheren wie schon lange nicht mehr. Nun aber war das Thema endgültig ausgelutscht. Die Reporterin machte Schluss für heute. Sie verabschiedete sich von den Kollegen, verließ das riesige Verlagsgebäude und fuhr in ihre Wohnung, die nicht weit von der Karlsbrücke auf der Kleinseite lag. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, noch irgendwo etwas zu trinken, aber sie fühlte sich verschwitzt und müde und wollte erst einmal duschen. Edita Pivonkova konnte sich das unbehagliche, seltsam beklemmende Gefühl nicht erklären, das sie mit dem Betreten ihres gemütlich eingerichteten Appartements beschlich. Es wurde sogar so stark, dass sie jeden Raum kontrollierte und dabei in jede Ecke und hinter jeden Vorhang sah. Aber da war nichts. Vielleicht sollte ich mal wieder Urlaub nehmen. Ich fühle mich so richtig scheiße. Lykoff, dieses Arschloch, muss ihn mir dieses Mal einfach geben. Sonst stelle ich mich zum ersten Mal so richtig auf die Hinterbeine … Pivonkova wusste genau, dass sie es wieder nicht tun würde, auch wenn sie im Moment wild entschlossen war. Dazu fürchtete sie Lykoff einfach zu sehr. Sie seufzte, ging ins Bad, zog sich aus, löste ih-
ren Pferdeschwanz und ging danach unter die Dusche. Das warme Wasser spülte auch ein paar der schlimmsten Sachen mit weg, die sie Lykoff wünschte. Und das beklemmende Gefühl. Als sie sich abtrocknete, fühlte sie sich wenigstens ein bisschen entspannter. Jetzt auf die Wohnzimmercouch legen, noch etwas fernsehen und dann wegdämmern, um bis in den späten Vormittag hinein tief zu schlafen, darauf freute sie sich wie ein kleines Kind … Pivonkova setzte sich das Stirnband wieder auf, um ihre Haarpracht zu zügeln, schlüpfte in ihr Nachthemd und legte sich dann auf die Couch. Sie schaltete den Fernseher ein, ließ das Licht aber aus. So war das Wohnzimmer gleich darauf in das kalte blaue Licht getaucht, das das Fernsehbild verstrahlte. Licht und Schatten wechselten mit den Schnitten des Fernsehbildes und veranstalteten eine Art künstliches Wetterleuchten im Zimmer. Die Reporterin schaute mäßig interessiert auf den wie immer überdreht wirkenden Moderator einer Musiksendung und fühlte, wie die Schläfrigkeit sie überkam. Plötzlich fuhr sie hoch. Aus der Ecke hinter dem Fernseher schob sich ein Schatten! Er manifestierte sich neben dem Fernseher, hatte eindeutig menschliche Konturen. Pivonkova fühlte Panik in sich hochsteigen, ihr Herz schlug plötzlich wie verrückt. Das beklemmende Gefühl war mit einem Schlag wieder da. Nun legte es sich allerdings wie eine eiserne Faust um ihr Herz und drückte langsam zu. Die Reporterin bekam plötzlich keine Luft mehr. »Wer … wer sind Sie?«, röchelte sie dennoch. Der Schattenriss kam näher. Und obwohl nun das Fernsehlicht auf ihn fiel, blieb er doch ein Schatten. Der Schatten einer – Frau? »Wer ich bin, tut nichts zur Sache«, ertönte eine Stimme, die Pivonkova weder einem Mann noch einer Frau zuordnen konnte. »Ich bin hier, um dir die Story deines Lebens anzubieten. Denn ich erzähle dir nun, was wirklich hinter dem Skelettfund auf dem Friedhof steckt.« Edita Pivonkova schluckte. »Tat… sächlich?« »Tatsächlich.« Der Schatten bewegte sich. Es sah aus, als sei er völlig schwerelos.
Zamorra klemmte sich hinter das Steuer von Čechs Mercedes und fuhr los in Richtung Neustadt. »Bei Merlins hohlem Backenzahn«, sagte der Professor. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurde Ihre Verlobte entführt, weil das Baby Dragurs Rachefluch erfüllt. Einen, der vor siebenundvierzig Jahren seinen Ursprung hat. Nun müssen wir also schnellstens rauskriegen, was vor siebenundvierzig Jahren hier passiert ist. Haben Sie eine Idee, wen wir da befragen könnten?« Jan Čech nickte. Er hatte noch immer Mühe, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. »Ja, Pan Professor. Wir könnten es bei meinem zukünftigen Schwiegervater …« Er stockte. »Ja, ich meine, ich hoffe, dass er's noch wird. Also, was soll ich sagen, bei dem könnten wir's zuerst versuchen. Vaclav Novák ist nämlich Ratsherr hier im Stadtparlament, aber er interessiert sich auch sehr für die Geschichte der Stadt. Und er hat jetzt erst ein Buch darüber geschrieben.« »Na ja, versuchen können wir's ja mal.« »Das klingt nicht allzu überzeugt.« »Für Geschichtsforscher ist die Materie denn doch ein wenig zu speziell.« Zamorra drehte kurz den Kopf in Richtung Beifahrersitz und lächelte. »Deswegen.« Čech schüttelte den Kopf. »Da kennen Sie aber den alten Vaclav schlecht. Was soll ich sagen, Professor, er beschäftigt sich durchaus auch mit den Sachen, die im Untergrund vor sich gehen. Und er hat eine ganze Menge Bücher über Geister und Gespenster und dieses Kroppzeug im Regal stehen.« »So? Na ja, versuchen können wir's allemal. Zumal es ja auch seine Tochter ist, die entführt wurde. Wenn ich's mir recht überlege, könnte dieser Fluch auch die Familie ganz direkt betreffen. Also gut, ab jetzt bin ich optimistisch.« Zamorra grinste, während er den Wagen nun über die Anglicka in Richtung Stadtzentrum steuerte. »Aber das Ganze ist ohnehin nur Lösung 1b. Ich beabsichtige nämlich, den ollen Dragur ganz direkt zu befragen.« »Ach ja? Und wie wollen Sie das anstellen, Pan Professor?« »Ich stelle, glauben Sie mir. Da der Kerl so dumm war, seinen Namen zu verraten, ist das kein großes Hexenwerk mehr. Sozusagen
das kleine Einmaleins der magischen Beschwörungen.« »Aha.« Als sie sich ihrem Ziel bereits näherten, erklang vom Nebensitz ein Räuspern. »Ich möchte Sie bitten, Pan Professor, heute bei mir zu übernachten. Was soll ich sagen, irgendwie möchte ich heute nicht alleine bleiben. Wissen Sie, das ist schon ein Schock, wenn man so was … so was sieht und man von solchen Wesen entführt wird und derart schlimme Sachen erfährt. Und dann stellen sich auch noch die eigenen Leute, die man kennt und das schon seit Jahren, als widerliche Monster heraus. Die wissen, wo ich wohne. Vielleicht wollen die sich ja rächen, weil ich entkommen bin. Immerhin hat mir dieser Dragur Dinge erzählt, die er mir sicher nicht anvertraut hätte, wenn er gewusst hätte, dass ich wieder frei komme.« Da war was dran, fand Zamorra. »Kein Problem«, erwiderte er deshalb. »Es ist übrigens völlig normal, dass Sie noch immer durch den Wind sind. So was lasst sich nicht so leicht verkraften, glauben Sie mir. Auch wenn Sie wirklich einen Mordsdusel gehabt haben. Dragur scheint übrigens kein sehr mächtiger Dämon zu sein, denn sonst hätte der schwarze Blitz Sie spielend getötet.« »Mir hat's auf jeden Fall gereicht.« Zamorra parkte den Mercedes in einer privaten Tiefgarage. Der Geschäftsmann bewohnte die komplette obere Etage eines eleganten Stadthauses direkt an der Moldau. Sie konnte nur über einen eigenen Aufzug erreicht werden, dessen Tür elektronisch gesichert war. Gleich darauf schaute sich Zamorra in verschwenderisch, fast prunkvoll eingerichteten Räumen um. Sein Stil war es nicht, aber auch hier galt seine Devise, dass jeder nach seiner eigenen Facon selig werden sollte. Die Männer verschwanden erst mal unter der Dusche. Zamorra durfte sich aus einer gut bestückten Garderobe bedienen, die fabrikneue, noch original verpackte Sachen für Čechs Gäste enthielt. Dessen Angebot, noch ein paar Prostituierte kommen zu lassen, um besser entspannen zu können, lehnte der Professor entschieden ab. Das Angebot befremdete ihn umso mehr, als dass der Geschäftsmann um das Leben seiner Verlobten und seines Kindes bangte und Zamorra überall aufgestellte Fotos von Jarmila und
Čech sah. Auf allen strahlten sie glücklich. Einen Drink nahm Zamorra immerhin an. »Darf ich dabei sein, wenn Sie Dragur beschwören?«, fragte Čech, nachdem er sich drei doppelte Wodkas genehmigt hatte. Zamorra nippte an seinem Whisky. Er war nicht schlecht, aber mit dem Islay Single Malt, den er bevorzugte, konnte er nicht mithalten. »Wenn Sie glauben, dass Sie das aushalten, habe ich nichts dagegen. Ich würde es gerne noch diese Nacht tun, aber ich brauche freie Bodenfläche, die ich bemalen kann.« »Kein Problem. Sie können das hier im Wohnzimmer vor dem Kamin machen. Reicht Ihnen das?« Zamorra nickte. Die freie Fläche vor dem offenen Kamin war in der Tat ausreichend groß. Da sich unter den Sachen aus dem Einsatzkoffer auch magische Kreide befand, hatte er nicht mehr in sein Hotelzimmer zurückgemusst. Nachdem er seinen Whisky ausgetrunken hatte, rief er im Château Montagne an. Nicoles Begrüßung fiel ein wenig frostig aus und er wusste genau, warum. Trotzdem schaute sie für ihn nach, ob Daten über den Dämon Dragur und vielleicht sogar ein Sigill vorlagen. »Da haben wir leider Pech, Chef«, flötete Nicole, als sie etwa eine halbe Stunde später wieder zurück rief. »Dragur ist in keiner Dämonologie verzeichnet und auch sonst nirgendwo. Jedenfalls nicht in denen, die wir vorliegen haben. Somit fällt auch ein Sigill flach. Der Typ hat sicher nie eins gehabt. Aber vielleicht könnte ich ja mal im Siegelbuch nachschauen? Du müsstest mir nur verraten, wo du es versteckt hast.« »Lass gut sein, Nici. Ich habe es zu eurem eigenen Besten versteckt. Nicht, dass noch etwas passiert, wenn Papa Zamorra aus dem Haus ist.« Er würgte Nicoles Proteste mit einem kurzen »Bis bald, freue mich auf dich« ab. Dann zog er den Teppich beiseite und begann, auf dem Parkett drei ineinander liegende magische Kreise zu ziehen. Indem er sich mental mit Merlins Stern kurzschloss, schaffte es Zamorra spielend, die Linien kreisrund zu bekommen. Das Amulett führte ihm sozusagen die Hand. In den Zentrumskreis malte er ein Sator-Quadrat, indem er das viereckige Feld in jeweils fünf Felder quer
und längs einteilte. In diese schrieb er untereinander die Worte SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS »Was ist das?«, fragte Čech voller Neugier. »Ein magisches Quadrat mit enormer Beschwörungskraft«, erläuterte der Meister des Übersinnlichen. »Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie, dass es sich bei dieser Beschwörungsformel um ein vierfaches Palindrom handelt, also um eine Wortkette, die horizontal, vertikal sowie vorwärts und rückwärts gleichermaßen gelesen werden kann. Die Bedeutung des lateinischen Satzes, also etwa: Der Sämann führt mit Mühen die Räder des Pflugs ist dabei nicht wichtig. Wichtig ist die magische Kraft, die sich mit dieser Anordnung beschwören und nutzen lässt. Da ich leider kein Sigill von Dragur habe, also ein persönliches magisches Siegel, mit dem man jeden Dämon zwingen kann, muss ich eben durch die Hintertür kommen. Mit dem Sator-Quadrat lassen sich niedere Dämonen auch ohne Sigill problemlos beschwören.« »Spannend«, flüsterte Jan Čech. »Und dann erscheint tatsächlich ein Dämon hier? Ich weiß nicht, ob ich das aushalte.« »Wenn nicht, gehen Sie ins Nebenzimmer.« »Mal sehen.« Zamorra vollendete den Beschwörungskreis, betrachtete sein Werk zufrieden, freute sich, dass Merlins Stern wieder mitmachte und kniete sich dann in den mittleren Kreis, in den er eine Reihe magischer Symbole gemalt hatte. Dabei achtete er darauf, die Linie zum Zentrumskreis nicht zu berühren. Zamorra schloss die Augen, hob die Arme so, dass die offenen Handflächen dem Zentrumskreis zugekehrt waren und begann, in einem monotonen Singsang Beschwörungsformeln zu intonieren. Sofort spürte er, dass er Zugriff zum Magischen Universum bekam, dass sich die beschworenen Kräfte in Raum und Zeit ausbreiteten und ein Weltentor schufen. Durch dieses würde in wenigen Augenblicken Dragur materialisieren. Er hatte keine Chance, sich dem Höllenzwang zu entziehen.
Tatsächlich spürte Zamorra, wie sich eine dämonische Präsenz unter starkem Widerstand näherte. Plötzlich flammte Merlins Stern in dem sattsam bekannten grellgrünen Leuchten auf. Ein silberner Blitz löste sich aus dem Amulettzentrum, schlug in das pulsierende Sator-Quadrat und löschte mehrere Buchstaben aus. Sofort fiel die Kraft, die von dem magischen Quadrat ausgegangen war, in sich zusammen. Das Weltentor erlosch. Zu Zamorras Glück, der plötzlich einen starken Zug am gesamten Körper verspürt hatte und sonst wohl hineingesogen worden wäre. So kippte er nur nach vorne und fiel bäuchlings auf die Reste des Sator-Quadrats. Blitzschnell rollte er sich zur Seite weg – man wusste ja nie – und kam geschmeidig wieder auf die Beine. Er klinkte das Amulett von der Kette ab, hob es vors Gesicht und betrachtete es fassungslos. Was war denn das gerade für eine Nummer, du blöde Blechscheibe, dachte er, denn Čech musste das nicht unbedingt mitbekommen. Du hast mir die ganze Beschwörung versaut. Drehst du neuerdings total durch? Du gehst mir momentan so was von auf den Zeiger, weißt du das? Ich warne dich. Gleich morgen schaue ich nach der nächsten Schrottpresse. Und ich will nicht mal Geld für dich haben. Keine Krone, keinen Euro, nichts. »Wo ist jetzt der Dämon?«, fragte Jan Čech und streute damit Salz in die Wunden des Professors. »Dragur muss mächtiger sein, als ich gedacht habe«, erwiderte der Meister des Übersinnlichen und legte dabei das Amulett wieder an die Kette. »Er lässt sich allein mit dem Sator-Quadrat nicht mehr beschwören. Weil der von mir gezeichnete Schutzkreis deswegen unter Umständen nicht gewirkt hätte, hat das Amulett hier die Beschwörung selbstständig abgebrochen, um uns beide zu schützen.« »So was kann die Silberscheibe?« Das Staunen in Čechs Gesicht war greifbar. »Kann die denken? Ist das ein Lebewesen? Oder wie funktioniert das?« »Reine Magie«, antwortete Zamorra mit einem Satz, der alles oder nichts bedeuten konnte. Čech gab sich vorläufig damit zufrieden. »Dann greift nun also Plan 1b. Auf zu Vaclav Novak. Am besten gleich morgen vormittag, Pan Professor. Bis zehn Uhr ist Vaclav immer erreichbar.« Zamorra lag noch eine ganze Weile wach. Er konnte einfach nicht
fassen, was das Amulett da gemacht hatte. Anstatt ihn zu unterstützen, boykottierte es ihn. Das grenzte fast schon an offene Rebellion! Denn es war reiner Unsinn, dass das Amulett die Beschwörung zu Schutzzwecken abgebrochen hatte. Selbst einen Erzdämon hätte es nämlich mit ein paar Silberblitzen vernichten können. Was zum Asmodis geht hier vor?
Am nächsten Morgen, nach einem hastigen Frühstück, fuhren Zamorra und Čech in die Hradschin-Stadt unterhalb der Prager Burg. Der seit langem verwitwete Vaclav Novák wohnte mit seiner Tochter in einem schmucken Renaissance-Palais. Der Geschäftsmann klingelte. Kurze Zeit später knackte es in der Gegensprechanlage. »Ja bitte?« »Hier ist Jan Čech, Pan Novak. Darf ich Sie sprechen?« »Moment.« Ein Summer öffnete die Tür. Zamorra folgte Čech durch eine kleine Eingangshalle. Eine breite Treppe führte nach oben. Dort erschien ein älterer Mann. Vaclav Novák! Ein ganz und gar übernächtigt aussehender Ratsherr starrte ihnen entgegen. Die Sorge um seine Tochter hatte sich tief in seine Züge gegraben. Trotzdem wirkte sein rundes Gesicht mit dem weißen Haarkranz noch immer einigermaßen freundlich. »Guten Morgen, Jan«, sagte er. »Wen haben Sie denn da mitgebracht? Haben Sie Neuigkeiten von Jarmila?« »Wollen Sie uns nicht erstmal herein bitten, Pan Novák?« »Entschuldigung, natürlich. Bitte verzeihen Sie, auch mein Aussehen, ich schlafe momentan kaum noch.« Sie setzten sich ins Frühstückszimmer, einen kleinen, hellen Erker mit Blick auf die Stadt. Čech stellte Zamorra vor. »Ein privater Ermittler aus Frankreich? So, so …« Der Ratsherr starrte den Professor einen Moment ungeniert an. »Vielleicht ganz gut, dass Sie Hilfe von außen geholt haben, Jan«, polterte er dann los. »Unsere Polizei macht absolut nichts. Dieser Major Brabec von der Kripo hat sich nur einmal hier sehen lassen. Ich rufe täglich bei ihm an, aber in der Zwischenzeit lässt er sich verleugnen und ruft auch nicht zurück.« Novak schluckte schwer. Tränen standen ihm
plötzlich in den Augen. Er wischte sie mit dem Handrücken weg. »Entschuldigen Sie, Pan Professor. Aber nun möchte ich doch gerne wissen, warum Jan gerade Sie hinzugezogen hat. Und vor allem: Wissen Sie etwas von Jarmila?« Der Professor nickte und lächelte beruhigend. »Wir wissen, dass Ihre Tochter lebt und es ihr den Umständen entsprechend gut geht.« Vaclav Novák schlug die Hände vors Gesicht. Seine Schultern zuckten, als er seine Erleichterung herausweinte. Čech rückte seinen Stuhl neben ihn und legte seinen Arm um Nováks Schultern. Eine halbe Minute später hatte sich der ältere Mann wieder gefangen. »Ich danke Gott und vor allem Ihnen für diese Nachricht. Aber was ist mit meiner Tochter? Ist sie entführt worden?« »Leider ja«, erwiderte Zamorra. »Die Entführer haben sich bei Pan Čech hier gemeldet. Sie sagen, dass Ihre Tochter wegen eines Vorfalles entführt wurde, der siebenundvierzig Jahre zurückliegt. Wir müssen nun wissen, was damals passiert ist. Können Sie uns da vielleicht weiterhelfen?« Nováks Gesichtszüge verhärteten. Er starrte für einige Momente auf die wunderschöne Standuhr an der Wand, in der sich zwei goldene Gewichte in einem gläsernen Schaukasten nach unten bewegten. Dabei schluckte er ein paar Mal schwer. »Siebenundvierzig Jahre, sagten Sie?« »Ja.« Die Hände des Ratsherrn zitterten plötzlich. »Da brauche ich nicht lange zu überlegen, Pan Zamorra. Und nun wird mir auch klar, warum Jan einen Dämonenjäger engagiert hat, den berühmtesten dazu noch. Geahnt habe ich es, als ich Ihren Namen gehört habe, aber ich wollte es nicht wahrhaben.« »Normalerweise überrascht mich nichts so leicht. Aber jetzt bin ich's. Sie kennen mich, Pan Novak?« »Natürlich. Wer sich wie ich über viele Jahre hinweg mit dem Übersinnlichen, Dämonischen beschäftigt, der stolpert irgendwann zwangsläufig über Ihren Namen. Und ich bin sehr froh, dass ich jetzt offen reden kann. Dragur ist wieder aufgetaucht, nicht wahr?« Čech starrte seinen künftigen Schwiegervater fassungslos an. »Sie … Sie wissen von diesem Monster? Das ist … unglaublich.«
»Ja, ich weiß von Dragur. Und ich weiß auch, was vor siebenundvierzig Jahren passiert ist. Mein Großvater Bedrich hat es meinem Vater erzählt und der wiederum mir. Wissen Sie, mein Großvater war damals, im Spätsommer 1948, im Wahlkampf um das Amt des Primators. In Frankreich würden Sie wohl Oberbürgermeister sagen. Bedrich hatte die nicht sehr feine Angewohnheit, seine Gegner mit Hilfe eines befreundeten Mediums auszuspionieren, um eventuelle Schwachstellen herauszufinden. Dabei kam er einem furchtbaren Geheimnis auf die Spur. Sein Konkurrent Frantisek Nedved war in Wirklichkeit ein Dämon namens Dragur, der nun auch die Herrschaft über das oberirdische Prag übernehmen wollte. Die über das unterirdische Prag hatte er schon längst, denn Dragur war ein mächtiger Ghul, der seit vielen Jahrhunderten unsere Friedhöfe plünderte. Mein Großvater wusste, dass er nur mit Hilfe des Mediums nicht gegen dieses unfassbare Wesen ankommen würde. Und so holte er sich, ähnlich wie Jan jetzt, einen bekannten Dämonenjäger zu Hilfe, wenn auch aus Russland.« »Wie hieß der Mann?« Zamorra hing förmlich an Nováks Lippen. »Pavel Kiwibin. Er war seinerzeit der Chef-Dämonenkiller der UdSSR. Kiwibin kam tatsächlich und schaffte es, Dragur eine schwere Niederlage zuzufügen. Doch der Ahnvater der Ghule, wie er sich selbst nennt, konnte trotzdem entkommen. Zuvor hat er jedoch noch einen schrecklichen Fluch gegen unsere Familie ausgestoßen. Die erste Frau unter Bedrichs Nachkommen werde kein Kind, sondern einen Dämon gebären, sagte er.« »Ty vole«, schrie Čech außer sich. »Ist Jarmila etwa diese erste Frau?« »Ja. Ich fürchte ja.« Vaclav Novák hatte plötzlich Gänsehaut am ganzen Körper. »Ist meine Jarmila schwanger?« »So ist es wohl«, bestätigte Zamorra. »Wir müssen also davon ausgehen, dass Dragur Jarmilas Kind haben und es unter Umständen großziehen will, warum auch immer. Aber diese Suppe werden wir ihm gehörig versalzen. Pan Novák, ich bitte Sie, unternehmen Sie vorerst nichts und lassen Sie mich das machen. Dann haben wir eine gute Chance, Ihre Tochter zu finden.« Als die beiden Männer Nováks Haus wieder verließen, stieg gera-
de eine ausnehmend hübsche Blondine aus einem Porsche. Sie schaute herüber, zögerte und kam dann geradewegs auf sie zu. »Will die etwas von uns?«, fragte Čech. »Sieht so aus. Jetzt winkt sie uns auch noch. Kennen Sie die Dame?« »Nein. Aber von der Bettkante stoßen würde ich die auch nicht.« Leicht keuchend blieb die Frau vor ihnen stehen. »Guten Morgen. Sie sind doch Pan Čech, nicht wahr?« Der Geschäftsmann runzelte die Stirn. »Ja, bin ich. Und wer sind Sie bitte? Müsste ich Sie kennen?« Die Frau im knappen roten Kostüm lächelte geschäftsmäßig, ohne die geringste Wärme im Blick. Die Handtasche, die sie über der Schulter hängen hatte, beulte leicht aus. »Nein, müssen Sie nicht«, erwiderte sie, nachdem sie Zamorra von oben bis unten gemustert hatte. »Wir sind uns noch nie begegnet. Ich bin Edita Pivonkova vom ›Blesk‹.« »Ah, die Frau, aus deren Artikeln das Blut immer literweise tropft.« Jan Čech kratzte sich am Kopf. »Ich muss sagen, so jung und hübsch hätte ich mir Sie nicht vorgestellt. Sie haben doch dieses Skelett gefunden, nicht wahr?« »Ja. Eigentlich wollte ich gerade zu Pan Novak, um ihn zu befragen. Aber da ich Sie hier nun treffe, möchte ich die Gelegenheit nutzen und Ihnen ein paar Fragen stellen. Ist das in Ordnung, Pan Čech?« »Hm, ja, ich weiß nicht. Natürlich. Wollen wir uns nicht irgendwo reinsetzen?« Sie suchten das nächste Café auf. Pivonkovas Augen blitzten. »Ich weiß, dass Marek Benes, dessen Skelett ich gefunden habe, in der Nacht, als er starb, mit Ihrer Verlobten unterwegs war, Pan Čech. Mit Jarmila Novákova.« »Ach ja? Und woher wissen Sie das so genau?« »Meine Kontakte reichen bis in die höchsten Polizeikreise.« Pivonkovas Blick war jetzt kalt und erbarmungslos. »Ich weiß, dass Major Brabec Sie verdächtigt, Ihre Verlobte entführt und umgebracht zu haben. Aus Wut, dass sich Jarmila mit ihrem Ex-Freund getroffen hat. Mit Benes eben. Die Polizei weiß, dass Sie, Pan Čech, zuvor
einen heftigen Streit mit Ihrer Verlobten hatten. Und sie weiß auch, dass Sie Kontakte zur tschechischen und russischen Mafia pflegen. Die sollen doch gerne mit Säure arbeiten.« »Das ist eine unverschämte Lüge.« Der Geschäftsmann lächelte nun ebenso kalt. »Dieser Brabec spinnt sich da etwas zusammen. Sagen Sie jetzt nur nicht, Sie wollen das morgen in Ihrem Schundblatt veröffentlichen. Sonst haben Sie schneller eine Verleumdungsklage am Hals, als Sie muh sagen können.« Die Reporterin verzog das Gesicht. »Ich fürchte mich jetzt schon zu Tode. Aber warum denn so aggressiv, Pan Čech? Ich wollte doch nur mal fragen, was Sie zu dieser Theorie sagen. Ich selbst muss ja noch lange nicht der Meinung der Polizei sein.« »Und welcher Meinung sind Sie, Pani Pivonkova?«, fragte Zamorra. »Nun, wenn ich das noch kurz vorausschicken darf, die Polizei weiß auch, worum es bei dem Streit mit Ihrer Verlobten ging, Pan Čech. Pani Novákova war nämlich sauer, dass Sie ein Urlaubswochenende haben platzen lassen, weil Ihr Onkel krank war. Angeblich krank war. Denn er war gar nicht krank. Und er hat auch nicht bestätigt, dass Sie an jenem Abend bei ihm waren. Wo waren Sie aber dann?« Čech starrte sie an. Wut stand plötzlich in seinem Gesicht. »Das ist der größte Blödsinn, den ich bisher gehört habe. Sie wollen mich wohl provozieren und zu irgendwelchen unüberlegten Aussagen verleiten, was? Schön, dass ich jetzt mal einen Einblick bekomme, wie ihr immer euer Revolverblatt macht.« Pivonkova war nur mäßig beeindruckt. »Major Brabec hängt momentan noch bei einigen Details fest. Warum zum Beispiel haben Benes und Ihre Verlobte den Bus benutzt, obwohl Benes' Auto auf dem Wenzelsplatz stand und nachweislich keinen Schaden hatte? Und warum weisen die Knochen des Skeletts Biss- und Kratzspuren unbekannter Herkunft auf? Das lässt sich mit der Mafia-Säure-Theorie kaum in Einklang bringen. Auch dass Pani Novákova seither wie vom Erdboden verschluckt ist, macht ihm zu schaffen. Brabec weist die Annahme, Sie könnten auch Ihre Verlobte beseitigt haben und verschwinden lassen, nicht mehr ganz ins Reich der Fabel. Wegen
dieser Dinge gewährt er Ihnen noch eine Gnadenfrist, bevor er zuschlägt. Das kann morgen oder übermorgen oder in vier Tagen sein.« Zamorra fixierte die Frau. »Ich beginne Ihre Taktik zu verstehen, Pani Pivonkova. Sie versuchen Pan Čech in Panik zu versetzen. Wenn er sich nun überstürzt absetzt, hätten Sie den Beweis, dass er Dreck am Stecken hat. Und eine neue sensationelle Story. Wahrscheinlich ist nur die Hälfte von dem, was Sie gerade behaupten, wahr.« »Nicht ein Wort«, sagte Jan Čech. »Aber Sie haben uns noch immer nicht gesagt, was Sie eigentlich glauben«, hakte Zamorra nach. Verwundert spürte er, dass die Reporterin, von Čech unbemerkt, ihm plötzlich etwas in die Jackentasche steckte. »Ich glaube, auf Grund der Details, die nicht zusammenpassen, dass etwas ganz anderes hinter der Geschichte stecken muss.« Sie kniff die Augen leicht zusammen. »Was, weiß ich noch nicht. Ich habe gehofft, dass Sie, Pan Čech oder Ratsherr Novak mir vielleicht weiterhelfen könnten. Ist Ihre Verlobte möglicherweise entführt worden? Haben sich die Erpresser bei Ihnen gemeldet? Wollen sie an Ihr Geld?« »Ich muss mal kurz für Königstiger«, meinte Zamorra. »Aber bitte nicht gegenseitig zerfleischen, bis ich wieder zurück bin.« Er ging zu den Toiletten und entfaltete den Zettel. Muss Sie dringend sprechen, Pan Zamorra. Alleine!!!!! Sehr wichtig stand darauf. Und eine Handynummer. Als der Professor zurückkam, verschwand die Reporterin soeben durch die Tür, ohne sich noch einmal umzuschauen. »Ich hab ihr verboten, meinen Schwiegervater aufzusuchen«, schnaubte Čech. »Das wird wenig nützen, fürchte ich. Die Dame hat nicht so ausgesehen, als hätte sie übermäßige Angst vor Ihnen.« »Dieses verfluchte kleine Miststück. Wenn sie mir derart ans Bein pissen will, soll sie's bloß versuchen. Die mache ich jederzeit fertig.« »Nur ruhig Blut. Immerhin hat sie gesagt, dass sie an die Theorien der Polizei nicht glaubt. Und ich weiß ja, was wirklich los ist.« »Ja, klar.« Er lächelte gezwungen. »Deswegen weiß ich aber noch lange nicht, was morgen in diesem Scheißblatt steht. Es reicht schon,
wenn sie diese blödsinnigen Theorien bringt. Dann bin ich bei einigen Leuten unten durch. Irgendwas bleibt immer hängen und wenn die Behauptungen noch so falsch sind. Das sind doch gewissenlose Typen, die gehen über Leichen. Hauptsache, die Auflage stimmt. Wie gehen wir nun vor?« »Ich gehe auf den neuen jüdischen Friedhof und steige ein wenig in die Unterwelt ab. Alleine. Denn wenn ich Ihre Verlobte suche, kann es da unten ziemlich hoch hergehen. Da kann ich wirklich nicht auch noch auf Sie aufpassen, Pan Čech.« »Ja, verstehe ich. Bringen Sie sie mir gesund wieder, ich flehe Sie an. Und dann müssen wir schauen, dass aus dem Dämon in ihrem Bauch ein normales Kind wird. Das schaffen Sie doch, oder, Pan Professor?« »Schauen wir mal«, murmelte Zamorra düster. Das Ich glaube allerdings kaum, dass das möglich ist. Höchstwahrscheinlich werde ich das Kind vernichten müssen sparte er sich im Moment. Čech fuhr Zamorra zum Quality-Hotel. Dann trennten sie sich. Auf dem Bett liegend wählte Zamorra die Nummer auf dem Zettel. Fast sofort ging die Reporterin ran. »Ich habe schon auf Ihren Anruf gewartet, Pan Zamorra«, flüsterte sie aufgeregt. »Können wir uns bitte treffen? Es ist sehr wichtig.« »Wenn Sie wollen, kommen Sie zu mir ins Hotel. Ich warte auf Sie.« »Gut. Ich bin in einer Viertelstunde da.« Sie schaffte es in neun Minuten. Zamorra bot der plötzlich verängstigt aussehenden Frau einen Drink aus der Minibar an. Sie nahm ihn dankbar entgegen. »Ah, das tut gut, obwohl ich sonst tagsüber keinen Alkohol trinke. Sie müssen entschuldigen, Pan Professor.« Pivonkova lächelte nun und entspannte sich ein wenig. »Mein ganzer Auftritt vorhin diente nur dem Zweck, Ihnen diesen Zettel zuschieben zu können. Denn sonst hätte ich kaum mit Ihnen alleine reden können. Čech hat Sie ja nicht mehr aus seinen Klauen gelassen.« »Was wollen Sie mir also sagen?« »Ich weiß viel mehr, als Sie glauben, Pan Professor.« Sie schaute ihn fast beschwörend an. »Benes ist von Ghuls gefressen worden,
das ist sicher. Ich weiß auch, wer Sie sind und dass ich Ihnen das nicht weiter erklären muss. Pan Professor, ich glaube zu wissen, dass es massenweise Leichenfresser unter unseren Friedhöfen gibt. Sie werden von einem Monster namens Dragur angeführt. Und ich weiß, dass Čech ein falsches Spiel mit Ihnen treibt. Er ist einer von denen …« Sie atmete tief durch. »Vielleicht sogar Dragur selbst.« Zamorra beugte den Oberkörper nach vorne. »Was Sie nicht sagen. Wer sind Sie wirklich, Pani Pivonkova? Und woher wissen Sie das alles? Oder glauben es zu wissen?« »Ich bin eine sehr gute Reporterin mit sehr guten Verbindungen. Belassen wir es einfach dabei.« »Hm.« Er streckte seinen Arm nach oben und rief das Amulett. Merlins Stern materialisierte übergangslos in seiner Hand. Noch während Pivonkova große Augen machte, warf er ihr die Silberscheibe zu. Reflexartig fing sie sie auf und starrte sie an. »Was war das gerade für ein Zauberkunststück, Pan Professor? Ein äußerst seltsames Schmuckstück. Oder ist das eine Ihrer Waffen?« Zamorra lächelte. Er stand auf, zog die Pivonkova am Arm hoch und presste sie an sich. »Pan Professor«, flüsterte sie, ohne irgendeinen Befreiungsversuch zu machen. »Daran denken Sie jetzt?« »Tu ich nicht. Entschuldigen Sie bitte.« Er löste sich wieder von ihr. »Ich habe Sie nur gerade getestet, ob nicht Sie vielleicht zur Fraktion meiner Leichenfresserfreunde gehören.« »Und? Habe ich den Test bestanden?« »Ja, beide. Den mit dem Amulett. Und auch den mit der magischen Gürtelschließe.« Dass er den zweiten Test mit der sehr stark weißmagisch aufgeladenen Gürtelschließe nachgeschoben hatte, weil er Merlins Stern nicht mehr traute, verschwieg er. Zamorra schenkte sich nun ebenfalls einen Drink ein. »Wollen Sie auch noch einen?« »Ja, bitte.« »Gut. Warum glauben Sie, dass Čech ein falsches Spiel spielt? Er hat mich immerhin hierher geholt. Das macht für mich keinen Sinn. Ich meine, ohne Not die Katze ins Mäusenest zu holen.«
»Ich weiß es nicht, ehrlich. Aber ich weiß, dass mein Informant zuverlässig ist. Und er sagte mir, dass wir Čech nicht trauen sollen.« »Ihren Informanten würde ich gerne mal kennen lernen. Aber lassen Sie mich mal raten: Es gibt schätzungsweise drei oder vier Leute, die von der Existenz der Ghule und vor allem Dragurs wissen. Höchstens. Vielleicht auch weniger. Vielleicht nur einen. Ist Ihr Informant Vaclav Novák?« »Was denn, der weiß auch von Dragur?« »Hm. Wenn das jetzt geschauspielert war, war das eine sehr gute Leistung.« Sie lächelte. »Danke. Aber es war nicht geschauspielert. Mein Informant ist definitiv jemand anders. Darf ich mal kurz Ihre Toilette benutzen?« »Natürlich.« Als Edita Pivonkova zurückkam, verabschiedete sie sich relativ rasch. »Ich muss noch zu einem dringenden Termin, den ich nicht aufschieben kann. Wir bleiben in Verbindung, ja?« »Ja.« »Sie können mich jederzeit auf meinem Handy erreichen.« Damit war sie auch schon wieder draußen. Zamorra ging ins Badezimmer. Auf der Toilette lag erneut ein Zettel. »Jetzt schlägt's dem Fass aber den Boden aus«, schnaubte er. Er konnte kaum glauben, was er da las.
11. Merlins Fall Abgrund der Zeiten Merlin starrte auf die Front der Erzdämonen, die sich vor ihm aufgebaut hatte. Er sah Pluton, Abbadon und Grohmhyrxxa in vorderster Reihe stehen. Baal und Astaroth hielten sich etwas im Hintergrund. Astardis, der wie üblich nur einen feinstofflichen Doppelkörper sendete, um sein geheimes Versteck in der Hölle nicht verlassen zu müssen, führte das Sextett der Meuterer an. Das war ungewöhnlich, auch wenn Astardis der erste Leidtragende war, dass nun Randir, der Drache, seit einigen Tagen den Fürsten der Finsternis beriet. Denn diese einflussreiche Position hatte zuvor er innegehabt. Trotz seines extrem feigen Charakters war Astardis nämlich ungemein verschlagen und weitsichtig und Merlin war durchaus mit seinen Diensten zufrieden gewesen. »Hat es dir die Sprache verschlagen, Fürst?«, fragte Astardis, der als große, schwarze Spinne auftrat. »Ich wiederhole es gern: Der Hohe Rat der Schwarzen Familie ist einstimmig dafür, dass du als Fürst der Finsternis abdankst.« »Und warum?« Merlin beugte sich auf dem Knochenthron nach vorne. Aus seinen Augen zuckten kleine schwarze Blitze. Randir, der neben dem Thron stand, wedelte bedrohlich mit den Flügeln. Dampf stieg aus seinen Nüstern. »Warum? Weil wir mit deiner Führung nicht zufrieden sind, Fürst. Du bist zu schwach, um die Schwarze Familie durch diese bösen, unsicheren Zeiten zu fuhren. Ein Angriff der Ewigen auf die Schwefelklüfte steht kurz bevor. Auch die Drachen sind uns feindlich gesonnen. Und du hast nichts Besseres zu tun, als einen von ihnen – den da – zu deinem Berater zu machen. Das erachtet der Hohe Rat als offenen Verrat an den Interessen der Hölle.« »Ihr redet Blödsinn!«, donnerte Merlin. Am liebsten hätte er den
ganzen Haufen mit einem Blitzschlag vernichtet, aber das war unmöglich. Diese sechs Erzdämonen zusammen bildeten ein Machtpotenzial, dem er nicht gewachsen war. Wenn sie tatsächlich auf ihrer Forderung bestanden, war er erledigt, das wusste er genau. Und wie es aussah, würden sie genau das tun. »Du solltest den Hohen Rat nicht so abqualifizieren, Fürst«, zischte Astardis. »Auch das spricht im Übrigen dafür, dass du die Realitäten nicht mehr richtig einschätzen kannst. Wir sind also gekommen, um dir unseren Entschluss zu überbringen, Fürst. Entweder, du dankst bis morgen ab oder du findest dich vor dem Tribunal wieder. Und dann hast du das Todesurteil zu erwarten.« »Und wer … wer von euch will nun den Thron des Fürsten der Finsternis besteigen, falls ich mich zu diesem Schritt entschlösse?« Merlin konnte sich nur mühsam beherrschen. Zorn und Furcht drohten ihn gleichermaßen zu zerreißen. Er brauchte Zeit. »Keiner von uns, Fürst. Wir sind der einhelligen Meinung, dass Asmodis der Richtige ist, um uns durch diese schrecklichen Zeiten zu führen. Er hat bewiesen, über welche Macht er verfügt.« »Mein Bruder hat betrogen. Ich habe diese Macht auch.« Astardis kicherte. »Dunkel ist deiner Worte Sinn. Aber wir haben deine Macht bisher noch nicht gesehen, Merlin, Fürst. Noch-Fürst. Doch selbst wenn es so wäre, die Sache ist beschlossen und besiegelt. Denn dieser hier« – er deutete auf den Drachen – »hat dir das Genick gebrochen.« »Trotz eurer Macht hat immer noch Lucifuge Rofocale das letzte Wort.« Wieder kicherte Astardis. »Glaubst du, wir sind so dumm, ohne das Einverständnis des Ministerpräsidenten zu dir zu kommen?« Die schwarze Spinne warf etwas in die Luft. Lucifuge Rofocales Sigill erschien. Die Linien brannten. Sie verformten sich zum stilisierten Gesicht des Ministerpräsidenten. »Es sei, was der Hohe Rat beschlossen hat. Asmodis ist ab nun der künftige Fürst der Finsternis.« Merlins Welt brach von einem Moment zum anderen total zusammen. »Du … du hast mich betrogen«, fauchte nun auch noch Randir. Der Qualm aus seinen Nüstern verstärkte sich. Merlin war sicher,
dass er gerade den finalen Feuerstoß für ihn vorbereitete. Blitzschnell aktivierte er eine der mächtigen Sicherheitseinrichtungen. Ein schwarzes Netz fiel über Randir und zog sich blitzschnell zusammen. Der tobende Drache darin hatte keine Chance mehr. In dem Maße, in dem es sich zusammenzog, wurde Randir zusammengequetscht. Knochen splitterten und knackten, Sehnen rissen, ein letzter schriller Schrei ertönte. Dann fiel ein extrem verrenkter Haufen Fleisch und Schuppen aus dem Netz. Selbst den Zeugen des Dramas fiel es schwer zu glauben, dass das einmal ein Drache gewesen sein sollte. Merlin wusste, dass er nun endgültig verspielt hatte. Seine letzte Chance, den Drachen von sich aus zu töten, war von diesem zunichte gemacht worden. Denn nun war es nur Notwehr gewesen und die zählte nicht als Anerkennung seines guten Willens. Damit war nun alles zu Ende. Wider Willen zollte Merlin seinem Bruder Respekt. Asmodis hatte seinen Treueschwur ihm gegenüber nicht brechen müssen, um doch Fürst der Finsternis zu werden. Denn wenn ihn der Hohe Rat offiziell dazu bestimmte, war er verpflichtet, diese zweitmächtigste Position, die die Schwarze Familie zu vergeben hatte, anzunehmen. Asmodis hatte geschickt intrigiert, um dahin zu kommen, musste sich nun nicht die Klauen schmutzig machen und konnte trotzdem die Früchte seines Verrats ernten. Denn Verrat blieb Verrat, ob er nun direkt oder indirekt begangen wurde.
Merlin sah der Inthronisation seines Bruders anscheinend teilnahmslos zu. Doch in diesem Moment entschloss sich der vor Ehrgeiz brennende Dämon, der Hölle den Rücken zu kehren. Er ertrug es nicht, dass sein Bruder nun mächtiger war als er. Und er wollte schon gar nicht jeden engelsgesegneten Tag daran erinnert werden. Lucifuge Rofocale zu stürzen, war im Moment ohnehin utopisch, denn der war viel zu stark. Etwas anderes aber hielt Merlin nicht mehr in den Schwefelklüften. Macht, wahre Macht, konnte er nur noch woanders erringen. Als er dem neuen Fürsten der Finsternis seinen Entschluss mitteilte, stimmte Asmodis zu. Er war schlau genug zu wissen, dass ihm
mit seinem Bruder auf Dauer ein unangenehmer Gegner erwachsen wäre. Doch dann geschah etwas, was Merlins Entschluss beinahe noch einmal ins Wanken gebracht hätte. LUZIFER, der KAISER meldete sich nämlich höchstpersönlich und versuchte ihn zum Bleiben in der Hölle zu überreden. Ein ganz und gar ungeheuerlicher Vorgang, den es so seit Äonen nicht gegeben hatte, zumindest war nichts in dieser Richtung bei den teuflischen Archivaren verzeichnet. Doch da LUZIFER seine Drohungen eher sanft hielt und auch auf jeglichen Nachdruck verzichtete, blieb Merlin bei seinem Entschluss. Als er unter den guten Wünschen seines Bruders die Hölle verließ, befand sich unter seinen Halbseligkeiten auch das Siegelbuch. Er nahm es mit, obwohl er es nicht mehr brauchte. Denn er wollte das machtvolle Buch keinem seiner Gegner überlassen, obwohl diese die Siegel niemals hätten öffnen können. Das vermochte außer ihm niemand zu tun. Merlin richtete sich eine Bleibe auf der Erde ein und nannte die Burg Caermardhin. Der Verstoßene fand Spaß daran, über die bewohnten Welten des Multiversums zu wandern. Und es freute ihn diebisch, mit seiner nach wie vor großen Macht Bedrängten zu helfen, vor allem, wenn er damit den Verhassten aus den Schwefelklüften eins auswischen konnte. Das ging Jahrhunderte so. Dann trat unvermutet ein Wesen an ihn heran, das sich als Bote des Wächters der Schicksalswaage zu erkennen gab und bot ihm eine Position als dessen Helfer an. Und da dies mehr Macht beinhaltete, als sogar Lucifuge Rofocale sie besaß, stimmte Merlin sofort zu. Unverhofft kommt oft. Endlich war er am Ziel! Er behielt Caermardhin als seinen Stammsitz auf der Erde bei. Doch dank der Magie, mit der der Wächter der Schicksalswaage ihn ausstattete, konnte er die Burg gleichzeitig mit vielen anderen Welten im Multiversum vernetzen. So konnte er seiner Aufgabe, die Kräfte des Guten und Bösen in seiner Einflusssphäre einigermaßen im Gleichgewicht zu halten, wesentlich einfacher nachkommen. Auf dem Silbermond, dessen Bewohner er ebenfalls von einer finsteren Bedrohung befreien konnte, wurde er sogar zum König der dortigen Druiden ernannt.
Das Siegelbuch aber vergaß Merlin im Laufe der Zeit, auch, weil ihn immer wieder Phasen großer geistiger Verwirrung oder Depressionen packten. Es fristete ein weitgehend unentdecktes Dasein in den Mauern Caermardhins. Nur Gryf, einer der letzten überlebenden Silbermonddruiden, entdeckte es einmal und schauderte vor der finsteren Bösartigkeit, die es noch immer verstrahlte. Asmodis war es dann, der das Siegelbuch erneut aufstöberte, als er Merlin als Helfer des Dieners der Schicksalswaage vertrat. Morgana le Fay, die Zeitlose, hatte den König der Druiden in einen Kokon aus gefrorener Zeit eingespannt und für lange Zeit in Stasis versetzt; Asmodis, der der Hölle zu dieser Zeit bereits den Rücken gekehrt hatte, sprang für seinen Lichtbruder ein, wenn auch äußerst widerwillig. Immerhin hatte die Vertretung auch etwas Gutes. Asmodis ließ das Siegelbuch mitgehen, nachdem Merlin wiederhergestellt war. Er wollte es studieren, denn er empfand es als äußerst interessant, zumal er glaubte, dass etwas von sich selbst darin steckte und dass es einen Bezug zu Merlins Amuletten hatte. Doch andere Aufgaben waren wichtiger. Und so machte ihm Lucifuge Rofocale unversehens einen Strich durch die Rechnung. Als Satans Ministerpräsident begann, die Amulette zu sammeln und sie immer und immer wieder zu benutzen, kam es zu einer Art magischem Kurzschluss zwischen dem sechsten Amulett und dem Siegelbuch. Und Lucifuge Rofocale entdeckte das Buch und nahm es an sich.
12. Enthüllungen Prag Juli 2005 Zamorra drehte den Zettel in der Hand. Dann starrte er zum zweiten Mal darauf. Die entführte Jarmila befindet sich nicht mehr in den Gängen unter dem neuen jüdischen Friedhof. Dragur hat sie aus Sicherheitsgründen, da er Sie und das Amulett fürchtet, in ein Gewölbe unter dem alten jüdischen Friedhof bringen lassen. Es befindet sich nicht weit von der Mikwe entfernt. Handeln Sie schnell! Der Meister des Übersinnlichen schnaubte. »So langsam werde ich böse, böse, böse. So langsam kommt mir der Verdacht, dass mich hier jemand für ein übles Spiel missbraucht. Aber da habt ihr euch geschnitten, ihr Schleimer. Ich bin als Schachfigur völlig ungeeignet, ich bin nämlich der geborene Spieler. Ha!« Der Meister des Übersinnlichen schaute in den Badezimmerspiegel und musste sich eingestehen, dass der »geborene Spieler« im Augenblick einen ziemlich hilflosen Eindruck machte. So legte er sich erst einmal entspannt aufs Bett. Also, versuchen wir's einfach mal mit Köpfchen. Wer ist diese Reporterin wirklich? Sie weiß auf jeden Fall viel mehr, als sie zugibt. Sehr viel mehr. Und zwar Dinge, die sie nur wissen kann, wenn sie direkt etwas mit diesem Dragur zu tun hat. Warum hat sie mir die letzte Nachricht heimlich auf dem Klo hinterlassen? Hm. Vielleicht, weil ihr klar war, dass ich sie dann sofort in Dragurs Nähe rücke und sie weiteren Tests unterziehe, die sie vielleicht nicht mehr besteht. Also lieber schnell weg. Ist die Pivonkova also selbst ein Ghul? Unwahrscheinlich. Sonst hätte sie spätestens bei der Berührung mit der Gürtelschnalle in Flammen aufgehen müssen. Und warum versucht sie mir Dragur auf dem Tablett zu servieren? Will sie Ahnvater anstelle des Ahnvaters werden? Na ja, eher Ahnmutter, aber das passt auch nicht, da sie ja wohl kein Ghul ist. Mann, wenn das so wei -
ter geht, beiße ich noch in die Bettdecke vor lauter Wut. Ist das, was mir die Pivonkova bezüglich Čechs erzählt hat, plausibel? Nein, würde ich sagen. Ich habe ja in der Zeitschau gesehen, dass er tatsächlich von den Schleimern entführt wurde und nur mit viel Glück dem Tod entgangen ist. Außerdem lag Čech vor Dragur auf dem Boden. Sie sind also nicht ein- und dieselben. Dass ich das alles gesehen habe, weiß Pivonkova aber wohl nicht. Sie glaubt, dass ich mich nur auf die Aussagen Čechs verlasse. Nein, wie ich es auch drehe und wende, es passt nicht. Noch weiß ich zu wenig. Deswegen werde ich nun trotzdem unter dem neuen jüdischen Friedhof anfangen. Falls mich die Pivonkova unter dem alten in eine Falle locken will, dann hat sie sich ganz schön geschnitten … Zamorra erhob sich und steckte ein gutes Dutzend äußerst wirksamer Waffen ein. Vor allem die Kugeln, die wie bunte Kaugummis aus dem Automaten aussahen, hatten es in sich. Mit dem Aufzug fuhr er hinunter in die Hotellobby. Dort traten ihm zwei unauffällige Männer mit Hüten und Mänteln entgegen. »Pan Zamorra?«, fragte der eine. Der Meister des Übersinnlichen nickte. »Ja, der bin ich. Und mit wem habe ich das Vergnügen?« »Es wird sich noch herausstellen, ob es ein Vergnügen für Sie wird.« Der Mann zeigte einen Ausweis, der ihn als Oberleutnant Hasek von der Prager Kriminalpolizei auswies. »Ich möchte Sie hiermit ersuchen, uns ins Hauptquartier zu begleiten, Pan Zamorra. Major Brabec möchte nämlich gar zu gerne ein paar Worte mit Ihnen wechseln.« »Aha. Gut. Und wenn ich nicht mitkommen möchte?« »Dann müssten wir Sie ganz offiziell vorladen und gleich mitnehmen. Wenn Ihnen das lieber ist, gerne.« Hasek schaute so kalt wie ein Fisch. »Nein, ist mir nicht lieber. Ich begleite Sie also gerne. Können Sie mir wenigstens sagen, um was es geht?« »Das werden Sie vor Ort erfahren. Also, gehen wir. Doch zuvor darf ich Sie bitten, mir Ihre Schusswaffe zu übergeben. Sonst müsste ich Sie wegen unerlaubten Waffenbesitzes auf der Stelle festnehmen.« Zähneknirschend übergab Zamorra den Blaster an Hasek. Dabei
streifte er ihn mit der Gürtelschließe. Nichts geschah. Hasek war also kein Ghul. Trotzdem wurde das Ganze immer undurchsichtiger. Woher wussten die Polizisten von der Strahlwaffe? Hasek steckte den Blaster kommentarlos unter seinen Mantel. In einem unauffälligen Lada fuhren die Männer zur zentralen Polizeistation in der Jungmannovo. Der Meister des Übersinnlichen durfte all seine magischen Waffen behalten, als er die Sicherheitsschleusen durchquerte. Das beruhigte ihn etwas und er verzichtete darauf, jemanden aus der französischen Botschaft zum Gespräch hinzuzuziehen. Um den Blaster machte er sich keine Sorgen. Spätestens, wenn er seinen Sonderausweis des britischen Innenministeriums vorzeigte, der ihm praktisch unbegrenzte Polizeivollmacht im Commonwealth gewährte, würde er ihn zurückbekommen, da war er sich vollkommen sicher. Die Polizisten begleiteten Zamorra durch lange Gänge, in denen es vor Polizisten geradezu wimmelte, in den Trakt der Kriminalpolizei. In einem kleinen, verrauchten Büro, auf dessen Schreibtisch sich einige Akten fein säuberlich stapelten, wurde ihm Platz angeboten. »Warten Sie bitte. Major Brabec wird jeden Moment hier sein.« Es dauerte etwa eine Minute, bis der Major das Büro betrat, in seinem Gefolge zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Uniformierte. Sie nahmen Aufstellung und richteten ihre Waffen auf den Professor. »Alles, was Sie bei sich tragen, auf den Tisch legen, Zamorra«, kommandierte der grauhaarige Major. »Los, machen Sie schon. Wenn Sie nur eine falsche Bewegung machen, schießen meine Männer sofort.« Zamorra hob die Hände ein wenig an und zeigte die leeren Handflächen. »Was wird mir vorgeworfen, Major? Sie sind doch Major Brabec, nicht wahr?« »Ja. Und Sie sind ein gefährlicher Schwerverbrecher. Ein Auftragskiller, der aus Frankreich eingereist ist, um Friedhofsbedienstete umzulegen. Warum, werden wir schon noch rausbekommen. Und nun wissen Sie auch, was Ihnen vorgeworfen wird. Los, die Sachen auf den Tisch.« »Das ist doch blühender Unsinn«, erwiderte Zamorra scharf, legte
aber all seine magischen Waffen, inklusive des Amuletts, auf den Tisch. »Holen Sie bitte Pan Jan Čech her, der bürgt für mich.« »Das war nun die völlig falsche Antwort. Čech haben wir ebenfalls festgenommen. Als Auftraggeber, wissen Sie.« »Was? Ich bin wohl hier im falschen Film.« Der Major machte eine Kopfbewegung. Einer der Männer ging zum Tisch, stellte einen Korb darunter und schob mit der Linken die daliegenden Gegenstände hinein, während er die MP nach wie vor auf Zamorra gerichtet hielt. Dann musste der Meister des Übersinnlichen aufstehen und wurde von oben bis unten abgetastet. »Los, abführen. Er kommt erstmal in eine Zelle.« Ein Beamter legte Zamorra Handschellen an. Dann wurde er in den Zellentrakt geführt und in eine Einzelzelle gesteckt. »Ich will sofort jemanden von der französischen Botschaft sprechen. Das ist mein gutes Recht!«, brüllte er. Keiner der Männer reagierte darauf. Als Major Brabec die Stahltür hinter sich schloss, warf er Zamorra noch ein hämisches Grinsen zu. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sich die Zellentür erneut öffnete. Major Brabec trat ein. In seinem Gefolge befand sich – Jan Čech! Der Geschäftsmann richtete sofort eine Pistole auf den Professor und schob sich in den Vordergrund, während der Polizist hinter ihm stehen blieb. »Ah, da sitzt er nun also wie eine Maus in der Falle, der famose Meister des Übersinnlichen«, sagte Čech und kicherte hämisch. Gleichzeitig verschwammen seine Körperkonturen. Kopf und Schultern verwandelten sich in die schleimige Masse eines Ghuls. »Also doch«, sagte Zamorra und sprang von der Pritsche auf, auf deren Rand er gesessen hatte. »Sie sind Dragur, Čech, nicht wahr?« Damit landete der Professor zumindest einen Körpertreffer. »Sie … sie wussten das bereits?«, kam es aus dem zahnbewehrten Ghulmaul. Zamorra glaubte leichte Unsicherheit heraus zu hören. »Woher?« »Nenn es Intuition oder wie immer du willst, Dragur.« Während er sprach, rief er das Amulett. Doch es kam nicht. Zamorra wurde es flau im Magen, als seine geöffnete Rechte leer blieb. Noch viel flauer wurde es ihm allerdings, als Merlins Stern plötzlich in Dragurs noch
immer menschlicher Hand materialisierte! Er stieß einen Laut des Entsetzens aus und spürte gleichzeitig schon lange nicht mehr gekannte Schwäche in den Beinen. »Wolltest du gerade das hier rufen, Zamorra?« Dragur kicherte. »So ein Pech aber auch. Merlins Stern folgt dir ja gar nicht mehr, sondern plötzlich mir. Was ist denn da nur los?« »Das … das gibt's doch gar nicht.« Zamorra musste an sich halten, um das aufkommende Zittern zu unterdrücken. »Wie ist das nur möglich?« Dragur lachte brüllend los. »Genau deswegen bin ich hierher gekommen, um dieses blöde Gesicht zu sehen. Danke, dass du mich nicht enttäuschst, Meister des Übersinnlichen. Allerdings bist du momentan ein ziemlich trauriger Meister. Und bald wirst du ein toter Meister sein. Schon komisch, was? Dann ist einem kleinen Ghul gelungen, woran sich Legionen von Erzdämonen die Zähne ausgebissen haben.« Zamorra ließ ihn reden. Dragur schien so mitteilungsbedürftig zu sein, dass er das, was er wissen wollte, sicher gleich zu hören bekommen würde. Es war immer das Gleiche, bei Dämonen wie bei Menschen: Sie mussten ihren vermeintlichen Triumph darstellen, um sich dadurch zu erhöhen und gleichzeitig ihr Opfer zu quälen. Zamorra spekulierte richtig. »Es begann damit, dass einer meiner Artgenossen, der lange Zeit in Frankreich gelebt hatte, um Aufnahme in meinem Paradies hier bat. Yoann Gouffran, so nannte sich der Ghul, hatte ein ganz besonderes Geschenk für mich dabei. Eines, nach dem sich vielleicht sogar die Erzdämonen die Klauen lecken würden, wüssten sie nur davon. Gouffran präsentierte mir ein uraltes Buch. Ein ganz besonderes Buch. Es enthielt nämlich die magischen Aufzeichnungen Leonardo de Montagnes!« Der Professor erschrak noch mehr. Mit allem hätte er gerechnet, damit jedoch nicht. Vor vielen Jahren hatte er schon einmal mit diesem Buch zu tun gehabt.* Irgendwann musste es diesem Gouffran in die Hände gefallen sein. »Ah, ich sehe, du bist gehörig beeindruckt. Gut so.« Dragurs *siehe Zamorra-Heft 396: »Leonardos Zauberbuch«
Schleim warf Wellen, wahrscheinlich ein Zeichen von Begeisterung. »Ich habe natürlich sofort gemerkt, was ich da wirklich für einen Schatz in Händen halte und Gouffran zum Dank getötet und gefressen, damit ich keinen Mitwisser mehr habe. Elf Jahre ist das nun her. In dieser Zeit habe ich mich ausgiebig mit Leonardos Magie beschäftigt, vor allem aber damit, wie er Stück für Stück in die Geheimnisse von Merlins Stern drang und wie das Amulett zu bedienen ist.« Zamorra zitterte nun für einen Moment. Nur die Eröffnung, dass Nicole ihn verlassen wolle, hätte ihn noch mehr mitgenommen. In diesem Moment wurden ihm schlagartig einige Dinge klar. Dragur kicherte erneut. »Weißt du, Zamorra, jetzt nach elf Jahren fühle ich mich reif, wie einst Leonardo über das Amulett zu gebieten. Sicherer, als du es kannst. Ich weiß nun Dinge, die dir auf ewig verborgen bleiben werden. Und so müsste eigentlich ich der Meister des Übersinnlichen sein.« »Deswegen hast du also den Amuletttest bestanden«, flüsterte der Professor. »Du hast es einfach abgeschaltet, nicht wahr?« »So ist es, genau so ist es. Weißt du, mein böser Zamorra, vor nunmehr siebenundvierzig Jahren, als ich in meiner menschlichen Existenz als Frantisek Nedved auch über das obere Prag herrschen wollte, machte mir Bedrich Novak einen Strich durch die Rechnung. Mit diesem dreimal engelsgesegneten Russen Kiwibin zusammen dezimierte er meine Ghule und schlug mich schwer verletzt in die Flucht. Ich konnte aber noch einen Fluch aussprechen.« »Novaks erster weiblicher Nachkomme soll einen Dämon gebären. Den meinst du doch.« »Was soll ich sagen, so ist es. Mit Flüchen aller Art ist das nun aber so eine Sache. Manche wirken, manche nicht. Ich kam irgendwann zurück und machte mich in meiner schon seit vielen Jahren gepflegten Existenz als Jan Čech an Jarmila heran und zeugte ein Kind mit ihr. So wollte ich dem Fluch ein wenig nachhelfen und hoffte, dass das Kind tatsächlich ein Dämon wird.« Er hob die Arme in einer Art bedauernden Geste. »Aber was soll ich sagen, das Kind ist normal, es wird kein Dämon. Ich will aber, dass der Fluch wirksam wird. So habe ich beschlossen, mein Wissen zu nutzen und dich hierher zu holen, Zamorra. Zuerst habe ich mit dem abgenagten Skelett von Be-
nes für internationales Aufsehen gesorgt und dich zur Sicherheit dann noch höchstpersönlich hergebeten, Zamorra. Mit der Entführung Jarmilas, die ich ein wenig magisch beeinflusst habe, so zu handeln, wie sie gehandelt hat, hatte ich ja für ein hübsches persönliches Motiv gesorgt. Ich brauche nämlich das Amulett, um den Fluch doch noch wirksam werden zu lassen.« »Was? Das funktioniert niemals.« »Glaubst du? Ich bin anderer Ansicht.« »Warum hast du es nicht einfach gerufen, Dragur? Das kannst du ja anscheinend.« »Hätte ich es nur so gerufen, dann hätte ich doch niemals deine überaus reizende Bekanntschaft gemacht, Meister. Und ich könnte dich nicht zur Hölle schicken und so meine und die Machtposition der Ghule in der Höllenhierarchie ausbauen und festigen. So kann ich zwei Leichen in einem Sarg fressen. Zudem, das muss ich zugeben, war ich mir nicht ganz sicher, ob ich das Amulett gleich so benutzen kann, wie ich mir das vorstelle. Das wollte ich in Ruhe testen. Hätte ich es dir aus deinem Schloss geholt, hätte ich diese Möglichkeit nicht gehabt, weil du es immer dann, wenn ich es eingesetzt hätte, wieder hättest zurückholen können. So aber konnte ich dich in aller Ruhe animieren, es zu benutzen und ich habe gleichzeitig damit experimentiert.« Zamorra schluckte. Jetzt war alles vollkommen klar. Die plötzlichen Amulettversager auf dem Friedhof. Die Manipulation des Sator-Quadrats; er hatte Dragur nicht beschwören können, weil der hinter ihm gestanden und die Beschwörung mit den Amulettkräften manipuliert hatte! Was kam noch alles? »Nun, was soll ich sagen, da ich wusste, dass du mit dem Amulett auch die Zeitschau aktivieren kannst, habe ich mich möglichst stilecht von meinen Ghulen entführen lassen, um meine Tarnung noch etwas länger aufrecht zu erhalten und dich gehörig an der Nase herum zu führen. Das gelang auch, indem mein Stellvertreter, den du als Bozidar Koller kennst, so massereich wie ich selbst auftrat, denn das beherrscht er wie ich. So musstest du glauben, dass Čech und Dragur nicht ein- und derselbe sein können.« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
»Allerdings ist ab jetzt Schluss mit lustig, Zamorra. Ich weiß nun, dass Merlins Stern mir so gehorcht, wie ich mir das vorstelle. Und da ich nicht mehr viel Zeit habe, das Kind doch noch zum Dämon umzufunktionieren, muss es jetzt sein. Meine rechte Hand Brabec wird dich erstmal hier festhalten, bevor ich mich dann um dich kümmere. Bis dahin wird Jarmila längst einen Dämon im Bauch haben. Und du kannst ja so lange hier über deine größte Niederlage nachdenken, Meister.« Die beiden verschwanden wieder. Vor Wut schlug sich Zamorra die Handflächen an der Tür wund. Erst als ihm ein Beamter die Zwangsjacke androhte, ließ er es. Mit hängendem Kopf saß er auf der Pritsche.
13. Magische Brüder 1099. Jahr der neuen Zeitrechnung, Universum von Myrrian-ey-Llyrana Merlin befand sich mit Professor Zamorra auf der Welt innerhalb des Universums von Myrrian-ey-Llyrana, auf die er einst schon König Artus geführt hatte. Zamorra, dessen Zeit erst 900 Jahre später kommen würde, hatte es auf einer Zeitreise hierher ins Jerusalem der Kreuzzüge verschlagen. Hier waren sie sich begegnet, der potentiell Unsterbliche, der allerdings noch nicht an der Quelle des Lebens gewesen war, und der größte aller Zauberer. Diese wunderbare Begegnung empfand Merlin als ein Zeichen. Aus Zamorras Gedanken wusste er, dass er den Mann, der in seiner Zeit Meister des Übersinnlichen genannt wurde, einst als Führer der dritten Tafelrunde auserwählen würde. Denn es war nicht schwierig, Zamorras Mentalblock zu umgehen, den er ihm selbst eingepflanzt hatte, nein, erst noch einpflanzen würde, was auch immer. Um Zamorra nicht kundtun zu müssen, dass er dessen Gedankensperre geknackt hatte, schwadronierte Merlin herum und behauptete, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen zu kennen. Zudem führte Zamorra ein Amulett mit sich, das Merlin noch nicht kannte. Der Professor nannte es Merlins Stern und es war das siebte in der Reihe, ungleich stärker als seine sechs Vorgänger, nahezu perfekt. Merlin hatte aufgeatmet, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte er es sich nicht zugetraut, dieses Wunderwerk doch noch zu schaffen. Nun aber wusste er, dass es gelingen würde. Und er wusste, dass er nicht länger zögern durfte, denn die Zeichen standen günstig wie nie. Im Moment besaß Myrrian-ey-Llyrana einen Entropiewert von 73 Prozent! Das war so hoch wie nie zuvor, hieß aber noch lange nicht, dass sich die Spiegelwelt nun endlich stabilisierte. Schon morgen konnte das wieder ganz anders sein. Und auch wenn Zamorra das
siebte Amulett erst in 900 Jahren benötigte, so musste er es ihm dennoch heute schaffen. Ja, diese unverhoffte Begegnung war ganz sicher einer höheren Macht zu verdanken, um ihm, Merlin, seine Mutlosigkeit zu nehmen und zu entschlossenem Handeln zu zwingen. Trotz dreiundsiebzigprozentiger Existenzwahrscheinlichkeit war die Welt, auf der sie standen, noch immer durch Gedanken formbar. Und so bekam Zamorra ungefähr die gleichen Probleme, wie sie auch Artus gehabt hatte. Doch dieses Mal machte der Zauberer seinen Reisegefährten umgehend darauf aufmerksam, um zu verhindern, dass auch Zamorra das Entstehen seines Amuletts nicht mitbekam. Merlin war noch immer der Ansicht, dass sich jemand, der sich als Teil des Entstehungsprozesses fühlte, viel besser motivieren ließ. Artus hatte sich nicht als dieser Teil gefühlt und deswegen schon von vorneherein an seiner Mission gezweifelt. Das sollte nicht wieder passieren. Und es passierte nicht. Zamorra war die Aufmerksamkeit in Person. Merlin suchte sich erneut den größten Neutronenstern aus. Er war nicht ganz so groß, wie die schwarze Sonne es gewesen war, dafür aber nun, durch seine deutlich erhöhte Existenzwahrscheinlichkeit, wesentlich energiereicher als diese. Der Zauberer von Avalon ließ einen Arm sinken und richtete den anderen auf einen ganz bestimmten Punkt des herrlich funkelnden Firmaments. So jedenfalls musste es Zamorra vorkommen, denn er konnte das Zielobjekt mit bloßem Auge noch nicht erkennen. Magie floss. Der Stern, der bisher in einer Superposition verharrt hatte, »entschied« sich beim Aufprall der magischen Kräfte durch die entstehenden gigantischen Wechselwirkungen mit der Umwelt einen festen Zustand anzunehmen. Doch dieses Mal ließ ihm Merlin keine Wahl! Er war erfahrener als beim letzten Mal. Und so zwang er die entartete Sonne blitzschnell, Teilchencharakter anzunehmen! Funken tanzten auf Merlins ausgestreckter Hand, kleine, bläulich glimmende Pünktchen, die hin und her zuckten, aufblitzten und langsam wieder verloschen. Ein bläuliches Lichtfeld baute sich um die Hand auf. Es wurde zu einem Strahl, der sich auf die entartete Sonne zuschob, immer tiefer in den Raum, immer schneller. Als er sie erreichte, leuchtete auch sie in einem kalten bläulichen Licht.
Und Merlin begann, sie langsam heranzuziehen! Hätte er gewusst, welch gigantische Energien er hier tatsächlich bändigen wollte, er hätte von vorneherein die Finger davon gelassen. Es kam ihm so vor, als sei das energetische Toben der schwarzen Sonne nur ein Kinderspiel dagegen gewesen. Aber nun musste er es durchziehen. Der Zauberer konzentrierte sich, auch wenn er am liebsten schreiend davongelaufen wäre. Und das Energiemonstrum kam näher. Beugte sich seinem Willen, den unablässig fließenden magischen Kräften und schrumpfte. Schrumpfte immer weiter. Bis sie als medizinballgroße Kugel direkt über Merlin hing. Er griff mit der freien linken Hand zu und zog die Sonne zu sich herunter. Zamorra staunte. Er fragte sich, ob er nicht träumte und gleich im Schlafzimmer von Château Montagne erwachte. Immer noch strahlte der Stern wie eine kleine Sonne, blendete Zamorra dabei jedoch nicht. Merlin drehte ihn derweil in seinen Händen hin und her. Schweigend vollführte der Zauberer dabei Bewegungen, die der Meister des Übersinnlichen nicht zu deuten vermochte. Wie auch! Merlin verfügte seit Äonen über die seltsame Magie Randirs. Aber erst vor wenigen Jahren hatte er ihre komplizierten Strukturen wirklich bis in alle Einzelheiten begriffen. Es war ein langwieriger Prozess gewesen, in dessen Verlauf er erst andere Magien und Zusammenhänge hatte kennen lernen müssen. Doch nun, da er diese überaus faszinierende und mächtige Magie beherrschte, wandte er sie an, um dem siebten Amulett im Zusammenhang mit der extremen Energiedichte bisher nicht möglich gewesene, überragende Eigenschaften zu verleihen wie zum Beispiel die Zeitschau oder das spontane Öffnen von Weltentoren, einer absoluten Drachenspezialität. Auch das sensorische Tasten nach bestimmten Ereignissen im Magischen Universum verankerte er darin. Es gab praktisch nichts, was man mit Merlins Stern nicht anstellen konnte. Und als Hilfestellung, damit der Benutzer die extremen Kräfte überhaupt in zielgerichtete magische Energie umwandeln konnte, versenkte Merlin wiederum einen winzigen Bewusstseinssplitter in dem tobenden Chaos. Das alles machte sich auch im äußeren Erscheinungsbild bemerk-
bar. Auf der Silberscheibe, die sich plötzlich aus dem sonnenhellen Leuchten in Merlins Hand schälte, erschienen die magischen Zeichen, die der Drache Randir einst für das Siegelbuch verwendet hatte. Das, was das Siegelbuch gekonnt hatte, konnte nun auch Merlins Stern. Denn die beiden magischen Gegenstände waren so eng verwandt wie Brüder! Aber auch zu den ersten sechs Amuletten bestand eine magische Beziehung, denn sie alle waren Teil des Universums von Myrrian-ey-Llyrana. In dem Moment, als das siebte Amulett, das Haupt des Siebengestirns von Myrrian-ey-Llyrana, existierte, wandelten die ersten sechs ihr äußeres Aussehen und glichen ihm nun wie ein Ei dem anderen – ohne allerdings auch nur annähernd seine Fähigkeiten erreichen zu können. Merlin bemerkte es nicht. Dass er mit seinem Handeln nun auch anderen Wesen außer ihm einen möglichen Zugang zum Siegelbuch schuf, begriff er in diesen Momenten ebenfalls nicht. Zu groß war seine Verwirrung, die durch drei sich überlappende Zeitparadoxa entstand, in denen er sich bewegen musste. Denn auch der Asmodis, der zu Zamorras Zeit existierte, hatte Dämonen hierher in die Vergangenheit geschickt, die das Entstehen von Merlins Stern verhindern sollten. Zudem existierte das siebte Amulett, nachdem er es geschaffen hatte, nun für einige Zeit doppelt. In dieser Konstellation verlor sich sogar so ein mächtiger Zauberer wie Merlin.
14. Im Licht der Ghule Juli 2005, Prag Jarmila Novákova saß apathisch in ihrem Verlies. Schmutzig, stinkend, ausgekühlt. Sie erhob sich fast nur noch um zu essen oder um gegenteilige Bedürfnisse zu verrichten. Ansonsten hatte sie sich längst aufgegeben und brütete nur noch in dumpfen Fieberfantasien vor sich hin. Denn nicht einmal mehr die Gebete, die sie anfangs so inbrünstig aufgesagt hatte, konnte sie noch herunterleiern. Zwar sorgten die Leichenfresser dafür, dass es ihr an nichts fehlte, dass es dem Kind an nichts fehlte, und so lagen auch warme Decken über ihrer Schulter. Aber gegen diese furchtbare Kälte, die von innen kam, hätten auch modernste Thermoanzüge nichts ausrichten können. Die Tür quietschte in ihren uralten, rostigen Angeln. Jarmila hob nicht einmal mehr den Kopf. Zwei Ghule in Menschengestalt traten ein. Sie packten sie an den Armen und zerrten sie hoch. »Los, mitkommen«, zischte die verwahrloste Frau, die zu einer Art Dauerwächterin geworden war. Jarmila ließ sich widerstandslos in die Finsternis mitschleifen. In das Licht der Ghule. Sie half nicht mit, indem sie das Gehen einfach verweigerte. Eine Tür öffnete sich in ein riesiges Gewölbe. Hunderte von Leichenfressern, teils in Menschen-, teils in ihrer wahren Gestalt, warteten bereits. Ehrfurchtsvoll traten sie beiseite und machten Platz für die Ankömmlinge. Der Weg, der sich wie ein Keil durch die wogende Ghul-Masse zog, führte zu einem mächtigen Podest. Auf dem Podest stand ein viereckiger Quader, eine Art Altar. Ein paar Decken lagen darauf. Die Ghule führten Jarmila gemessenen Schrittes bis hinauf, zerrten ihr die Kleider vom Leib und legten sie dann rücklings auf die Decken. Nun kam doch wieder etwas Leben in die junge Frau. Sie stöhnte,
zuckte und wollte sich aufrichten. In diesem Augenblick wuchs Dragur als riesiger Schleimberg hinter dem Altar empor. Er malte mit seinen Klauen ein paar magische Symbole in die Luft über Jarmila. Sofort wurden ihre Arme und Beine nach unten gedrückt und magisch fixiert. Dann schnippte er mit zwei Klauen seiner Linken etwas in die Luft. Merlins Stern! Direkt über Jarmilas Bauch, dem man die Schwangerschaft im Übrigen noch nicht ansah, blieb er in der Luft hängen. Ein ehrfurchtsvolles und gleichzeitig wohliges Stöhnen ging durch die Reihen der Leichenfresser. »Nun, meine Freunde, ist es so weit!«, donnerte Dragur. »Nun wird der Fluch, den ich einst über den engelsgesegneten Bedrich Novák sprach, doch noch seine Vollendung finden. Und ihr alle sollt Zeuge dieses unglaublichen Vorgangs werden. Unglaublich deshalb, weil ich Zamorras stärkste Waffe, das Amulett Merlins, dazu benutze. Und danach werdet ihr, meine ausgewählten Freunde, Zeugen sein, wie ich Zamorra töte und damit uns Ghulen unsterbliches Ansehen und Macht in der Hölle sichere. Wahrhaft historische Momente also. Genießt sie, so gut ihr …« Eine rot leuchtende Kugel entstand an der Gewölbedecke und verstrahlte fahles Licht in den Raum. »Vielleicht hat der ja was dagegen, der Zamorra, dass du ihn kalt machen willst!«, donnerte der Meister des Übersinnlichen gleichzeitig. Schlagartig trat lähmende Stille ein. Ungläubig starrten die Leichenfresser auf den Professor, der in einer abgelegenen Ecke stand. In einer Ecke ohne Zugang. Niemand konnte sich erklären, wie ihr größter Feind dort hingekommen war. »Zamorra!«, brüllte Dragur voller Entsetzen. Er ahnte, dass hier gerade etwas vollkommen schief lief. Gleich darauf war die Hölle los!
Der Professor spürte einen Luftzug. Und sah aus dem Augenwinkel eine Gestalt in der Zelle materialisieren. Blitzschnell sprang er auf und ging in Abwehrstellung. Als er Edita Pivonkova erkannte, ent-
spannte er sich wieder etwas. »Ich wusste doch gleich, dass mit dir etwas ganz und gar nicht stimmt«, sagte er. »Du beherrschst also den zeitlosen Sprung. Wer bist du wirklich? Sid Amos in Tarngestalt? Nein, dann würde es jetzt nach Schwefel riechen. Oder eine Inkarnation Merlins? Oder eine Druidin?« »Quatsch hier keine Opern«, fuhr ihn Pivonkova an. Noch immer trug sie ihr enges rotes Kleid. »Wir müssen uns beeilen. Sonst kommt Dragur doch noch ans Ziel. Hier, ich habe dir alle deine Waffen wieder besorgt.« Sie warf ihm eine nach der anderen zu, ohne dass Zamorra hätte sagen können, wo sie so plötzlich herkamen. »Also, komm.« Pivonkova trat an Zamorra heran und berührte ihn an der Hand. Im nächsten Moment waren die beiden aus der Zelle verschwunden – und materialisierten in einem riesigen Gewölbe unterhalb des alten jüdischen Friedhofs! Völlige Finsternis herrschte. Der Professor konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Aber es stank so penetrant, dass er sofort einige Ghule in nächster Nähe vermutete. Einer war zumindest ganz sicher hier. Er schwang nämlich gerade eine Rede in Ghulsprache. Zamorra kannte das Grunzen mit den kurzen Pfeifund Zischlauten nur zu gut. Dragur! Zamorra wob ein paar magische Zeichen in die Luft und murmelte einen Zauberspruch. Schlagartig verstand er, was der Ahnvater sagte. Gleichzeitig spürte er, dass Pivonkova wieder entmaterialisierte. Mit einem weiteren Zauberspruch schuf er die rote Lichtkugel und sich damit den Überblick. Lautstark unterbrach er die Rede Dragurs. Die unüberschaubare Masse an Ghulen nahm er nur am Rande wahr. Seine Konzentration galt der Szene am Altar. Merlins Stern hing direkt über der unglücklichen Jarmila Novákova! Und dahinter wabbelte Dragur herum. Zamorra rief das Amulett erst gar nicht. Stattdessen holte er ein paar der kaugummigroßen Kugeln aus der Tasche und warf sie unter die Ghule. Die ersten wurden von den Wurfgeschossen berührt. Vier grelle, lautlose Explosionen nahmen Zamorra für einen Augenblick die Sicht. Silbernes Feuer raste durch das Gewölbe, verschlang das rote Licht und steckte die Ghule in Brand. Lichterloh schlugen
die Flammen in die Höhe. Innerhalb von Sekunden verbrannten die Leichenfresser. Keiner von ihnen konnte den weißmagischen Bomben entkommen, die ihre Kraft bei der ersten Berührung mit etwas Schwarzmagischem entfaltet hatten. Nur ein Ghul brannte nicht. Dragur. Eine unsichtbare Mauer hielt das silberne Licht von ihm ab. Als es erlosch und wieder dem roten Platz machte, sah Zamorra den Ahnvater unversehrt vor dem Altar stehen. Er streckte die Hände nach dem Amulett aus, versuchte es wohl zu rufen. Aber es materialisierte nur kurz in seiner Klaue. Dann verschwand es wieder, irgendwo hin. Meine Chance! Zamorra rief Merlins Stern. Aber auch bei ihm erschien er nicht. So zog er den Blaster, schaltete mit einem Daumendruck auf Lasermodus und schoss auf Dragur. Der Ahnvater quiekte panisch. Doch der Laserstrahl, der auf seinen Kopf gezielt gewesen war, nahm plötzlich eine geringfügig andere Richtung. Knapp fuhr er an ihm vorbei und schlug in die Gewölbedecke. Es krachte. Ziegel rauschten herab. Dragur nutzte das Überraschungsmoment, um sich im wahrsten Sinne des Wortes in einer Bodenritze zu verdünnisieren. Bevor der erstaunte Zamorra erneut schießen konnte, war er bereits weggesickert. »Verdammter Mist«, murmelte der Meister des Übersinnlichen. Dragur war wohl erst mal weg. Das war der schlimmste Fall, den er sich vorstellen konnte. So musste er fürchten, dass ihm der Ahnvater irgendwann wieder das Amulett rauben würde. Zu seinem Erstaunen erschien es nun doch in seiner Hand, als er es rief. Diesen Umstand galt es zu klären. Unter allen Umständen. Doch im Moment musste er sich erst mal um die geschundene junge Frau auf dem Altar kümmern.
Voller Panik floh Dragur durch die Erdstollen. Die Situation war ihm vollkommen entglitten. Er verstand nicht, was schiefgegangen war. Er verstand auch nicht, warum er Merlins Stern plötzlich hatte nicht mehr rufen können. Er verstand aber, dass der Boden hier unter diesen Umständen entschieden zu heiß wurde und er so schnell
wie möglich fliehen musste. Allerdings nicht ohne Leonardos Schriften! Den Fluch konnte er nun vergessen. Aber das Amulett würde er sich holen. Irgendwann. Und er würde es dann noch besser kennen. Dragur floh durch zersplitterte Särge und schob dabei jede Menge zerbrochener und abgenagter Knochen beiseite. Es ging weiter durch die Kanalisation und die U-Bahn. Irgendwann erreichte er den Friedhof Olsany. Durch die Leichengrube und einen senkrecht nach oben führenden Schacht schob er sich ins Innere einer prächtigen Marmorgruft, die über den letzten Ruhestätten einer reichen Familie thronte. Er schob die Blende eines Sockels, auf dem ein prächtiger Engel sein Schwert über einem gefallenen Teufel schwang, zur Seite und griff hinein. Gleich darauf hielt er Leonardos Zauberbuch in der Hand! In diesem Moment tauchte eine Frau neben ihm auf. Edita Pivonkova! Erschrocken fuhr Dragur zurück. Er konnte jedoch nicht mehr verhindern, dass sie ihm das Buch aus der Klaue riss. Entsetzt stöhnte er auf. Dann verwandelte sich die Frau. Dragur sank zusammen. »Lucifuge Rofocale, Herr«, röchelte er. »Lass deine Finger künftig von diesem Buch und von Zamorras Amulett!«, donnerte die Teufelsgestalt. »Das alles ist eine Nummer zu groß für dich. Solltest du noch einen Versuch unternehmen, töte ich dich sofort.« »Ja, Herr. Natürlich, Herr.« Die Teufelsgestalt verschwand. Und der Ahnvater floh, so schnell er konnte, aus der Stadt. Dragurs Paradies gab es nicht mehr. Es war zur Hölle geworden.*
Shirona lachte wild! Sie stand auf dem Dach des Pulverturms, presste Leonardos Buch an sich und schaute noch einen Moment über Prag hinweg. Seit vielen Monaten schon hatte sie sich in der Nähe *Das Schicksal Dragurs erfüllt sich in Zamorra Heft 925: »Geburt eines Dämons«
von Merlins Stern aufgehalten und Zamorra beobachtet, weil sie möglichst viel über das siebte Amulett lernen wollte. Denn nur, wer den Feind kannte, konnte ihn schließlich besiegen. Shirona war überzeugt, dass auch Taran sterben würde, wenn es ihr gelang, das Haupt des Siebengestirns von Myrrian-ey-Llyrana zu besiegen. Vor zwei Tagen nun hatte sie mit Erstaunen festgestellt, dass es einem kleinen Ghul spielend leicht gelang, das so unendlich verhasste siebte Amulett nach Belieben zu manipulieren und Zamorra zum Narren zu halten. Shirona war elektrisiert gewesen. Gab es hier eine Möglichkeit, tiefer in die Geheimnisse von Merlins Stern zu dringen, vielleicht sogar einen Schwachpunkt zu finden? Shirona, die sich äußerlich in jedes beliebige Wesen verwandeln konnte, hatte eine ungepflegt aussehende Ghulin getötet und ihr Aussehen angenommen. Trotzdem hatte sie nicht herausfinden können, wie Dragur das anstellte, woher sein Wissen stammte. Als er aber Zamorras Amulett mehrere Male manipuliert hatte, hatte sie die vom Ahnvater verwendete Magie um ein Haar entschlüsselt. Aber eben nur fast. Weitere Auseinandersetzungen mussten her, in denen Dragur das Amulett manipulierte, am besten ein direkter Kampf gegeneinander! Und so hatte Shirona die Reporterin Edita Pivonkova getötet, ihre Gestalt angenommen und Zamorra mit ihren Hinweisen, wer Dragur wirklich war, auf diesen gehetzt. Auf der Polizeistation hatte Shirona dann unverhofft das Geheimnis erfahren und es hatte ihr ganz und gar den Atem verschlagen. Sinnbildlich, denn das Amulettwesen, das aus reiner Magie bestand, atmete nicht wirklich und simulierte die Atembewegungen ihres jeweiligen menschlichen Körpers magisch. Wo zum Teufel versteckte Dragur Leonardos Schrift? Zu einer Aussage zwingen wollte sie ihn nicht, denn Shirona befürchtete, dass er auch sie besiegen könnte, wenn er in der Lage war, Amulettmagie zu manipulieren. Da die Zeit eilte, hatte sie ihren ursprünglichen Plan umgesetzt, indem sie Zamorra kurzerhand aus seinem Gefängnis befreite und ihn Dragur doch noch auf den Hals hetzte. Mit der alles entscheidenden Option versehen, den Ahnvater aus dem Chaos entkommen zu lassen, denn dann würde er sicher nicht ohne das Buch fliehen. Shirona hatte alles getan, um Dragur tatsäch-
lich in die Flucht zu zwingen. Unter Einsatz all ihrer magischen Kräfte hatte sie ihn daran gehindert, Merlins Stern in die Hand zu bekommen, indem sie das Amulett für Sekunden in eine künstlich geschaffene Mini-Dimension umgeleitet hatte. So war es auch für Zamorra nicht mehr erreichbar gewesen. Anschließend hatte sie den Laserstrahl auf Dragur leicht ablenken müssen. Und der Ahnvater war tatsächlich geflohen. Und hatte sie zu Leonardos Buch geführt. Ich liebe es, wenn Pläne funktionieren … Shirona konnte ihr Glück kaum fassen. Was für einen unglaublichen Schatz hatte sie da unverhofft in die Hände bekommen. Nun konnte sie lernen und erfahren, wie das siebte Amulett zu manipulieren war. Wie es besiegt werden konnte!
15. Das Ende von Myrrian-ey-Llyrana 1994 – 2008 Lucifuge Rofocale triumphierte. Mit dem Siegelbuch schien ihm ein ungeheurer Schatz in die Hände gefallen zu sein. Es hatte irgendetwas mit den Amuletten zu tun und animierte ihn, sie alle in seinen Besitz zu bringen. Er schaffte es, doch die Amulette zwangen ihn, sie immer wieder zu benutzen. Nachdem er vergeblich versucht hatte, Zamorras Château zu stürmen und auch noch Merlins Stern zu erobern, konnte er sich aus dem Bann der Amulette lösen und schleuderte sie ins Multiversum. Von diesem Moment an beschäftigte er sich auch nicht mehr mit dem Siegelbuch. Zu gefährlich erschien es ihm. Es ruhte in seinem Thronsaal in einer magischen Nische. Viele Jahre später legte sich Lucifuge Rofocale mit dem Dunklen Lord an und wurde von diesem getötet. Weitere Jahre vergingen. Dann erschien ein Doppelgänger Lucifuge Rofocales, der aus einer der Spiegelwelten stammte, in den Schwefelklüften. Zunächst immer nur kurz, um die Lage zu peilen, die hiesige Hölle kennen zu lernen und im Nachlass seines Vorgängers zu stöbern, von dem er wusste, dass er tot war. Dabei fiel ihm auch das Siegelbuch in die Hände. Lucifuge Rofocale sah sofort, dass es irgendetwas mit den Amuletten des verhassten Professors zu tun hatte. Und so versenkte er seinen Geist in das Buch. Der Bewusstseinsteil des toten Dämons Achatuk erwachte sofort aus seinem Schlummer. Endlich, endlich, interessierte sich wieder jemand für das Buch! Vielleicht konnte er ja den mächtigen Geist dort draußen, den er als Lucifuge Rofocale erkannte, animieren, die Siegel zu öffnen! Mit irgendeinem Unsinn, den er sich aus den Fingern saugen musste. Ich bin das Buch der Macht, flüsterte er deshalb dem Ministerpräsi-
denten zu. Öffne die dreizehn Siegel der Macht. Mit jedem geöffneten Siegel wird das Böse in dir stärker, deine dunkle Kraft größer. Und wenn das dreizehnte Siegel geöffnet ist, besitzt du die Macht, das siebte Amulett mit den sechs ersten zu zwingen, was dir die absolute Macht über alle Welten des Multiversums garantiert. Bringe deshalb die ersten sechs Amulette in deinen Besitz, bis das letzte Siegel geöffnet ist und die Macht wird dein sein. Lucifuge Rofocale war fasziniert. Ich würde die Siegel gerne öffnen. Doch wie kann ich das tun, Buch der Macht? Ich finde keinen Zugang dazu. Den Schlüssel zu den Siegeln findest du in Merlins Geist. Oder auf den Amuletten, die er schuf. Ich kenne sie. Die Zeichen auf ihnen sind die Zeichen, die die Siegel öffnen. Da Lucifuge Rofocale sich aber in erster Linie um die Machtübernahme in den hiesigen Schwefelklüften kümmern wollte, verfiel er auf die geniale Idee, Zamorra das Siegelbuch unterzuschieben und diesen die Arbeit für sich machen zu lassen. Schließlich war er derjenige, der das geeignete Werkzeug dafür besaß! Auf Nachfrage bestätigte ihm der Geist des toten Dämons, dass Lucifuge Rofocales Macht auch wachse, wenn er einen Vasallen die Siegel öffnen lasse. Denn wer die Öffnungen veranlasse, bekomme die Macht über die Amulette und die Welten. Der Geist des toten Dämons hätte alles bestätigt, wenn nur endlich jemand begann, diese engelsgesegneten Siegel zu öffnen und ihn von seiner Qual zu erlösen! Der Ministerpräsident war zufrieden. Er kam nicht mal ansatzweise auf die Idee, gerade Opfer eines Betrugs zu werden. Bei der »Operation Höllensturm«* gelang es Lucifuge Rofocale, das Buch mit List und Tücke in Château Montagne einzuschmuggeln. Zamorra fraß den Köder! Der Druide Gryf aktivierte das Siegelbuch. Und die Sensormagie des schon vor Äonen getöteten Drachen Randir begann, das Multiversum zu durchforschen. Doch da sich die Verhältnisse lange geändert hatten, fand die Magie keine der möglichen 10.000 Konstellationen in Bezug auf Asmodis mehr vor, die ihr Randir einst »einprogrammiert« hatte. So meldete sich das erste Kapitel auch nicht bei Zamorra. Die Sensormagie streifte wei*siehe Zamorra-Heft 781: »Unternehmen Höllensturm«
ter durch die Weiten des Multiversums und würde das wahrscheinlich ewig tun, bis sie eine mögliche Kombination erfasste. Der Geist des toten Dämons, der in den zurückliegenden Jahrtausenden immer mehr Macht über das Siegelbuch gewonnen hatte, tobte. Achatuk musste die Sache selbst in die Hand nehmen! Über das siebte Amulett, mit dem das Siegelbuch magisch verbunden war, konnte er aktuelle Ereignisse im Multiversum abrufen. Er schaute, welche dieser Ereignisse sich einigermaßen mit Angaben aus den 10.000 Kombinationen deckten und präsentierte diese Zamorra als Aufgaben von größter Wichtigkeit! Der Professor löste die Aufgaben unverzüglich, ohne dass dies einen höheren Sinn ergeben hätte außer dem, den Geist des toten Dämons so schnell wie möglich zu befreien. Denn er konnte sich nicht gegen die Suchtmagie Achatuks wehren und wollte deswegen in großer Eile zum nächsten Siegel kommen. So öffnete er die ersten elf Siegel. Über Merlins Stern bekam Achatuk auch mit, dass Lucifuge Rofocale gemäß seiner Prophezeiung begonnen hatte, die Amulette einzusammeln. So langsam wurde es Zeit, dass jemand den Ministerpräsidenten aus der Welt schaffte, bevor das 13. Siegel geöffnet war und es für Achatuk unangenehm werden konnte, wenn Lucifuge Rofocale einsehen musste, dass er betrogen worden war. Und so zeigte Achatuk dem Meister des Übersinnlichen im 12. Kapitel die ersten sechs Amulette – was möglich war, weil einige der 10.000 Kombinationen Merlins im Siegelbuch mit Lucifuge Rofocale zu tun gehabt hatten. Die Amulette tanzten einen magischen Reigen auf der Buchseite. Aus dem Hintergrund voller Sterne tauchte eine riesige Klauenhand auf. Sie tastete suchend nach den Amuletten, bekam das erste zu fassen, dann das zweite. Eins nach dem anderen. Nur konnte Zamorra nicht erkennen, wem diese schwarze Klaue gehörte. Ihn plagte aber so eine Ahnung, dass es sich um Lucifuge Rofocale handeln könnte. Achatuk verstärkte diese Ahnung. Finde den Sammler, bevor er dich findet!, suggerierte er dem Meister des Übersinnlichen. In der Hoffnung, dass Zamorra den Erzdämon aus dem Weg räumen würde. Wenn er dich findet, wird er alle sechs Amulette haben und sie in den Kampf gegen das deine zwingen!
Diese Botschaft, die sich auch in allen sieben Amuletten manifestierte, schreckte Taran und Shirona gleichermaßen auf. Beide waren immer noch auf magische Weise mit ihren Amuletten verbunden. Die Amulettwesen erschienen auf Château Montagne. Taran erkannte, dass die gefährlichen Impulse, die die Amulette aufeinander hetzen wollten, vom Siegelbuch ausgingen. Da er diese Auseinandersetzung nicht suchte, wollte er das Siegelbuch zerstören. Shirona, die nun endlich ihre Zeit gekommen sah, wollte diesen Kampf aber unbedingt. Das siebte Amulett musste endlich weg! Taran musste weg! Sie stritten sich um das Buch und zerstörten es; das war möglich, weil ihre magischen Strukturen eng verwandt waren. Dabei starb das Restbewusstsein des unglücklichen Achatuk, anstatt frei zu kommen und sich wieder erneuern zu können. Ungefähr zu dieser Zeit schaffte es auch Lucifuge Rofocale durch einen mächtigen Zauber, das Raumzeitgefüge aufzureißen, hindurchzugreifen und die ersten sechs Amulette allesamt an sich zu bringen. Er versenkte seinen Geist in sie und spürte eine gewaltige Macht, die ihn einen Moment hinwegriss und ihn fantasieren ließ. Er glaubte, er habe die Machtübernahme über sämtliche Spiegelwelten des Multiversums bereits seit Jahrtausenden akribisch geplant, was natürlich Unsinn war. Nur schwer löste er sich wieder aus diesem Rausch. Aber er schaffte es! Jetzt galt es nur noch, die Entscheidung herbeizuführen. Und dafür brauchte der Erzdämon Shirona. Sie sollte den letzten Kampf für ihn führen. Den Kampf um die Macht! Das Amulettwesen befand sich sogar schon an Ort und Stelle, in unmittelbarer Nähe Zamorras! Wie praktisch. Lucifuge Rofocale schlug zu. Über das sechste Amulett übernahm er die Kontrolle über Shirona. Und er sandte ihr die sechs Amulette zu. Von einer Sekunde zur anderen befanden sie sich nicht mehr in seinen, sondern in Shironas Händen. Aber dadurch verlor er sie nicht. Sie gehörten immer noch ihm und mit einem Gedankenbefehl an Shirona konnte er sie jederzeit wieder zurückholen. Er befahl Shirona den Angriff. Und sie handelte umgehend. Luci-
fuge Rofocale lachte dröhnend. Der Kampf um die Macht hatte begonnen. Und es gab nun keinerlei Zweifel mehr für ihn, wie er ausgehen würde. Sechs Amulette würden das siebte bezwingen. Denn in Shironas Gedanken hatte er gesehen, dass Merlins Stern zu bezwingen war. Leicht sogar. Sehr leicht …
Zamorra stellte die beiden Amulettwesen, nachdem sie das Buch der 13 Siegel vernichtet hatten. Taran stand frontal zu ihm, Shirona drehte ihm den Rücken zu. »He, was soll das?«, rief er. In diesem Moment erfolgte der Angriffsbefehl. Langsam drehte sich Shirona zu Zamorra um. Er erschrak. Ihr Gesicht war verzerrt, es wirkte dämonisch. Und in ihren Händen hielt sie Amulette! Sechs Stück zählte er. Dem Meister des Übersinnlichen wurde schlagartig klar, dass die Entscheidung dicht bevor stand. Die alte Frage, ob die ersten sechs das siebte Amulett besiegen konnten, würde beantwortet werden. Hier und jetzt. Und Zamorra erkannte, dass sie keinen freien Willen besaß, dass sie vielmehr gesteuert wurde. Von dem, dessen Gesichtszüge sie mehr und mehr annahm. Von Lucifuge Rofocale. Also doch … Kann ich diesen Kampf überhaupt gewinnen, wenn der Erzdämon die Fäden zieht? Aber wenn er eine Stellvertreterin für sich kämpfen lässt, kann ich das doch auch. Luci, du hast nicht das Privileg, dich ganz alleine hinter die Front verkrümeln zu dürfen … Zamorra sah Taran an. Dann warf er ihm Merlins Stern zu. »Das schaffen wir nur zu zweit! Ich …« helfe dir, hatte er noch sagen wollen. Da drehte das Amulett in der Luft um und kehrte zu ihm zurück. Er konnte es gerade noch auffangen. Taran aber war verschwunden! Hilf mir!, schrie stattdessen das Amulett in Zamorras Geist. Lass nicht zu, dass sie mich vernichtet! Taran, der Feigling, hatte sich in der Stunde größter Gefahr auf der Flucht vor Shirona sozusagen an Mutters Brust verkrochen. Er war wieder in Merlins Stern zurückgekehrt! »Es nützt euch nichts, so zu verschmelzen«, höhnte Shirona. Die Amulette in ihren Händen begannen zu leuchten. Ein ungeheuerliches Energiepotenzial baute sich auf.
Zamorra keuchte. Er aktivierte nun seine Silberscheibe ebenfalls. »Ja, tu es nur«, schrie Shirona. »Es nützt dir nichts. Ich war es damals, die in Prag Leonardos Zauberbuch gestohlen hat! Ich habe es studiert und kann dein Amulett nun nach Belieben manipulieren!« Zamorra erschrak. Er wollte zum Angriff übergehen. Nein!, schrie Taran in höchster Panik. Es ist zu riskant. Flüchte! Der Meister des Übersinnlichen zögerte einen kurzen Moment. Merlins Stern begann sich schwarz zu verfärben!
Zamorra konnte es nicht sehen, Lucifuge Rofocale auch nicht. Aber der eigentliche Kampf zwischen den Amuletten spielte sich im Magischen Universum von Myrrian-ey-Llyrana ab, in dem alle sieben Amulette noch immer verankert waren! Im Weltraum des noch immer instabilen Spiegeluniversums erschien ein riesiges Gesicht, das sich vor zehntausende von Sonnen schob. Es war verzerrt, von blonden Haaren umrahmt. Shirona! Über ihrem Kopf strahlte plötzlich eine Sonne in grellem Schwarz. Sie pulsierte wie ein schnell schlagendes Herz. Doch die schwarze Sonne stabilisierte sich nicht vollständig, blieb verschwommen. Ebenso wie die drei gelben Sterne, zu denen sich noch ein roter und ein grünlicher gesellte. Die magischen Abdrücke der sechs Amulette gruppierten sich als Kreis um den riesigen Kopf. Finstere Strahlen zuckten aus der schwarzen Sonne und verbanden die sechs tanzenden Sterne untereinander. Ungefähr zur gleichen Zeit erschien, unendlich weit weg und doch wieder ganz nah, Tarans Kopf im Raum. Angst lag in den männlichen Zügen, die von langen Silberhaaren umrahmt wurden. Eine unglaublich grell strahlende gelbe Sonne schob sich vor sein Gesicht, verschmolz mit diesem. Auch diese Sonne pulsierte. Ihre Pulsschläge brachten abwechselnd Tarans Gesicht und die brodelnde Sonnenoberfläche zum Vorschein. Dieses seltsame Gebilde wirkte um ein Vielfaches materieller als der Sonnenverbund um Shirona! Shirona konzentrierte sich. Ein Gitter an Blitzen zuckte um ihren Kopf und durch ihn hindurch. Gleichzeitig baute sich eine machtvolle Kraft um sie auf, die aus allen sechs Sonnen gespeist wurde.
Schockwellen liefen durch den Raum, Risse entstanden. An einigen Stellen riss das Raumzeitgefüge auf. Sonnen und Welten wurden in die Abgründe hineingewirbelt oder explodierten. Die Explosionen gingen jedoch in der Lichtflut der Amulettsonnen völlig unter. Shironas Mund öffnete sich lautlos. Gleichzeitig schoss eine mächtige Protuberanz aus der schwarzen Sonne und griff nach Merlins Stern. Wie eine riesige Woge brandete die schwarze Energie gegen das grünliche Feld, das sich blitzartig um die gelbe Sonne gelegt hatte, floss nach allen Seiten daran ab, wurde noch durchsichtiger und schließlich von dem grünen Leuchten aufgesogen. Bis das geschah, zuckten immer wieder Blitze Lichtjahre weit in den Raum hinein, lösten neue Beben und Risse aus, die weitere Welten verschlangen. Tarans panische Angst war nun kaum noch zu steigern. Die Augen verdrehten sich so stark, dass nur noch das Silbrige zu sehen war; zudem riss er seinen Mund so weit auf, dass nicht mehr viel vom übrigen Gesicht zu sehen war. Shironas Mund formte einen Zauberspruch. Gleichzeitig erschien ihre Hand im Raum. Sie schnippte mit zwei Fingern – und schaltete Merlins Stern einfach ab! Sofort erlosch das grüne Leuchten. Auch die machtvollen Feuersäulen, die zuvor weit in den Raum hinausgeschossen waren, blieben nun auf der Sonnenoberfläche. Wieder schoss ein schwarzer Strahl heran – und schlug mit verheerender Wucht in die gelbe Sonne! Vom Einschlagsort breitete sich die schwarze Energie langsam aus. Die magischen Energien von Merlins Stern waren durch den magischen Befehl gelähmt, er konnte sich nicht gegen den Sechserverbund wehren. Shirona lachte brüllend. Sie wähnte sich bereits am Ziel ihrer Träume. Vor allem, da Taran bewusstlos zu sein schien. Für einen Moment glaubte sie Zamorra zu sehen. Er schrie Taran an! Der Feigling schreckte hoch. Und riss sich zusammen! Er musste Zamorra irgendeinen Befehl übermittelt haben, denn der verschob ein paar Hieroglyphen auf seinem Amulett. Eine ganz und gar unbegreifliche Kraft stieg mit dem Pulsieren der gelben Sonne an die Oberfläche. Wie eine Explosion schossen die Energien in den Raum, wischten die Kraft, die sie bisher blockiert hatte, förmlich weg. Sie überfluteten zugleich den Sechserver-
bund. Natürlich! Auch Taran konnte das siebte Amulett abschalten und wieder aktivieren! Shirona fand sich in einer Feuerhölle wieder. Sie schrie grässlich, aber die Energien waren nicht stark genug, sie ganz zu vernichten. Immerhin implodierten zwei der Amulettsterne, der grüne und ein gelber, die das dritte und fünfte Amulett gewesen waren. Die Erschütterungen, die durch Myrrian-ey-Llyrana rasten, nahmen nun bedrohliche Ausmaße an. Weitere Materie verschwand durch die Risse, andere wurde hereingesogen. Sonnen schossen durch den Raum, prallten mit anderen zusammen, gingen in stecknadelkopfgroßen Feuerbällen auf oder implodierten. Ein schwarzes Loch entstand und begann, Materie anzusaugen. In diesem Moment wurde Shirona bewusst, warum sie Taran und das siebte Amulett immer so gehasst hatte. Dessen Kräfte waren anders. Merlins Stern und damit auch Taran besaßen Teilchencharakter, während sie selbst und die schwarze Sonne aus den viel schwächeren Wellen bestanden, sichtbar in dieser Welt nur durch Merlins Zauber! Ein unvereinbarer Gegensatz, den sie als die Schwächere leidenschaftlich bekämpft hatte, weil sie instinktiv Angst vor dieser vielfach überlegenen Kraft hatte. Shirona glaubte, mit dem Amulettverbund in diesen entscheidenden Augenblicken trotzdem noch siegen können. Sie wandte nun an, was sie aus Leonardos Schriften gelernt hatte. Sie befahl Merlins Stern, ein mächtiges Weltentor zu öffnen. Während es zwischen den Energiegewittern orange zu flimmern begann, befahl sie dem siebten Amulett, die Zeitschau zu aktivieren. Weitere, widersprüchliche Befehle erfolgten. Merlins Stern geriet tatsächlich ins Stocken, pulsierte unregelmäßig. Shirona befahl der schwarzen Sonne, sich aus dem Viererverbund zu lösen und dem siebten Amulett als gigantische magische Bombe den finalen Schlag zu versetzen. Die schwarz leuchtende Kugel löste sich tatsächlich, beschleunigte und prallte mit Merlins Stern zusammen. Das war der Moment, in dem Zamorra wieder die Kontrolle über sein Amulett gewann. Erneut erfolgte ein gewaltiger Energieschlag. Die schwarze Sonne wurde von den Fluten zerrissen und
teilweise auf die restlichen Amulette und Shirona zurückgeschleudert. Der Verbund brach zusammen. Die Sonnen wurden von der energetischen Gewalt förmlich zerrissen. Shirona hielt einige Augenblicke länger stand. Sie schrie unglaublich schrill, in allerhöchster Todesangst. Doch ihre Schreie hörte nur Zamorra auf Château Montagne. Gerade eben noch hatten sich die Amulette in ihrer Hand geschwärzt und verformt, waren zusammengeschrumpft und schließlich verschwunden. Nun begann auch sie sich in Nichts aufzulösen, während sie in Myrrian-ey-Llyrana einfach aus dem Universum gepustet wurde. Die alte Frage war entschieden. Die ersten sechs Amulette hatten nie eine Chance gegen das siebte gehabt. Dadurch, dass das siebte Amulett Teilchencharakter besaß, war er vom Energieniveau und deswegen auch von seinen magischen Möglichkeiten her den anderen, die allesamt Wellencharakter gehabt hatten, schon hoch überlegen gewesen. Turmhoch überlegen war es aber deswegen, weil es geschaffen worden war, als Myrrian-ey-Llyrana für seine Verhältnisse hoch energetisch aufgeladen gewesen war. Die ersten sechs hatte Merlin dagegen nur aus sehr viel schwächerer Energie schaffen können, da der Entropiewert bei nur 52 Prozent gelegen hatte. Merlins Stern war ein Gigant! Und Myrrian-ey-Llyrana starb! Die gigantischen Energiemengen, die noch immer darin tobten, waren zu viel für das schwächelnde Universum. Es wurde förmlich auseinander gerissen, obwohl es jetzt eigentlich die Energiemengen zur nötigen Stabilisation gehabt hätte. Weil die »Unvollendete Schöpfung« aber noch immer einen Knotenpunkt innerhalb des Spiegelweltengebildes darstellte, pflanzte sich der Tod in die anderen Spiegelwelten fort. Millionen von Planeten explodierten, darunter jede Menge parallele Realitäten der Erde. Die Intelligenzen, die dabei starben, waren ungezählt und würden es für alle Zeiten bleiben. Die Schockwellen, die das Raumzeitgefüge zerrissen, verliefen sich erst, als sämtliche Spiegelwelten aus der Schöpfung getilgt waren. Merlins sieben Amulette waren einst aus ihnen heraus entstanden und hatten sie deswegen nun in den Ab-
grund gerissen. Der Zauberer von Avalon wäre an dieser Katastrophe, die er zum großen Teil mitverschuldet hatte, sicher zugrunde gegangen. Er musste sie nicht mehr miterleben, denn kurz zuvor hatte ihm Lucifuge Rofocale im Zweikampf mit der eigenen Sichel die Kehle durchgeschnitten und ihn tödlich verletzt. Vor Zamorras Augen wurde es schwarz. Als er wieder erwachte, wurde er von den Seinen umringt. Von Fooly, der es spüren konnte, erfuhr er vom Weltensterben. Es schockierte ihn zutiefst. Zamorra weinte. ENDE