Werner Schneyder
Krebs
Eine Nacherzählung
LangenMüller
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Werner Schneyder
Krebs
Eine Nacherzählung
LangenMüller
Besuchen Sie uns im Internet unter: www.langen-mueller-verlag.de 1. Auflage Januar 2008 2. Auflage Februar 2008 3. Auflage Februar 2008 © 2008 by LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel Umschlagfoto: getty images, München Herstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten Druck und Binden: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-7844-3127-7
Es ist Krebs. Was fängt man mit diesem Befund an? Lebt man weiter im Bewusstsein, dass er ein Todesurteil ist? Oder ergreift man jede noch so kleine Chance? Werner Schneyder erinnert sich in diesem Buch an den Ausbruch der Krankheit bei seiner Frau, an ihren Verlauf, an das Ende. Persönlich, offen, ohne Pathos, aber mit der tiefen Verzweiflung desjenigen, der dem geliebten Menschen beim Sterben zusehen muss, erzählt Werner Schneyder von letzten zwei gemeinsamen Jahren. Ein Leben, eine Lebenspartnerschaft werden der Medizin überantwortet. Er stellt die Fragen, die in Momenten der Normalität kaum jemand auszusprechen wagt: Welche Maßnahmen sind überhaupt sinnvoll? Welche nur Quälerei? Ist Leben um jeden Preis wirklich noch Leben? Haben wir zu sterben verlernt? Seine Nacherzählung ist in ihrer literarischen Brillanz nicht nur schonungslose Krankengeschichte, sondern auch kritische und fragende Reflexion über die verschiedenen Möglichkeiten des Arzt-Patienten-Verhältnisses, über die Verhältnismäßigkeit von Therapien, über Grenzsituationen der Existenz. Werner Schneyders Buch ist auch eine letzte Liebeserklärung, ein Plädoyer für Partnerschaft.
Ich habe lange gezögert, mich zu vagen oder präzisen Erinnerungen zu zwingen. Aber jetzt möchte ich erzählen, weil ich es dir erzählen möchte. Wenn ich jetzt dir, mit der ich noch Leben vor mir habe und von der ich genau gekannt sein möchte, erzähle, spreche ich über den Tod, dessen Abwehr durch Medizin, deren Beherrschung oder Nichtbeherrschung durch Ärzte. Da sind Erfahrungen dabei, die ich gerne öffentlich machen möchte. Nicht als Anklage, nicht als Polemik. Als Feststellungen. Und vor allem als Fragen. Ich werde dir den Hergang so erzählen, dass ich die Freunde, sofern sie eingreifen, bei ihren echten Vornamen nenne, die vielen Freundinnen und Freunde – du kennst die meisten schon – nur als Gruppe. Andere Namen werde ich nur den Ärzten geben. Ich denke mir die Namen nicht aus, ich suche sie auch nicht im Telefonbuch, ich entnehme sie meinen Schachbüchern. Sie haben mit Siegen und Niederlagen, gelungenen oder irrigen Analysen zu tun, auch gutem oder schlechtem Benehmen, mit Genie und Wahnsinn. Insofern scheint mir der Namensmissbrauch legitim. Die Zuordnung ist absichtslos und zufällig. Weißt du, ich wünschte mir auch, dass der eine oder andere Arzt diesen Text liest und sich bewusst, bewusster macht, vor welchem Hintergrund er seine medizinischen Entscheidungen trifft. Natürlich ist von Ärzten nicht zu verlangen, Privates zu recherchieren, um Entscheidungen in Relation zu Lebenssituationen setzen zu können. Aber sie sollten aus dem Verhalten von Patienten Schlüsse ziehen, wenigstens versuchen, sich in die Situation der Kranken zu projizieren, statt mechanische Exekutoren ihres medizinischen Credos zu sein. Mach dir keine Sorgen, dass ich mich verbeiße. Im Gegenteil. Ich löse den Starrkrampf meines Kiefers, wenn von
Onkologie die Rede ist. Ich werde versuchen, so kühl zu bleiben wie möglich. Die Hand soll beim Tippen so ruhig sein wie die mit dem Messer des Krebschirurgen. Das ist ein Vorsatz. Ob er gelingt, ist offen. Rothenthurn, drei Jahre danach.
1.
Wir sehen aus der Küche das Auto des Arztes kommen. Ich habe Krebs, sagt sie. Der Arzt wohnt eine Autostunde von unserem Haus und – wie ich immer sage – unserem See. Er hätte angerufen, wenn es nicht etwas zu sagen gäbe, was man einem nur ins Gesicht sagen kann. Habe ich Krebs?, fragt sie pro forma. Ja. Es ist ein ganz aggressiver Tumor, sagt der Arzt. Er heißt Rainer und ist ein Freund. Jetzt sagt er, er, der ihr so oft und oft das Rauchen verboten hat: Jetzt rauchst du erst einmal eine. Ja, sagt sie und saugt. Die Frage, ob dieser Rauch an allem Schuld trägt, stellt keiner. Wozu noch? Es ist später Abend. Durch die breite Glastür des Wohnzimmers sehe ich hinter dem Balkon den nächtlichen See. Den See unserer vielen Sommer. Im Haus unserer Liebe zum See. Du bist morgen um sieben Uhr in der Früh im Krankenhaus angemeldet, sagt Rainer, ich habe alles bestellt. Er meint das eine weitere Autostunde entfernte Krankenhaus der Landeshauptstadt. Das kommt nicht in Frage, sage ich. Sie muss auf die Universitätsklinik. Sie muss zum – und jetzt fällt mir der Name des Krebspapstes nicht ein, der immer im Fernsehen diskutiert hatte, als es galt, einen von seinen Wahnideen besessenen Wunderheiler in die Schranken zu weisen. Rainer akzeptiert meinen Einspruch nicht: Ich würde sie in einige Abteilungen dieses Krankenhauses nicht schicken, aber der Primarius der Urologie ist ein Ausnahmekönner. Da kommen Leute von
überall her, um sich von dem operieren zu lassen. Es ist ein Blasenkrebs. Sie raucht. Wir schweigen. Der See gluckst wie immer. Die Lichter vom anderen Ufer spiegeln sich wie immer. Ich denke, wie das alles kam. Wie sie im Winter ihren runden Geburtstag gefeiert hatte, im großen Kreis ausgesuchter Freunde, in einem unvergesslich schönen Fest, wo gesungen wurde, musiziert, rezitiert, geredet. Wo sie eine kleine Rede hielt, die erste in der von mir überblickbaren Zeit von etwa vierzig Jahren, und wie sie die Rede hielt, so als hätte sie nie etwas anderes getan. Wo mir so klar war, wie viele sie lieben und warum. Ich denke, wie ich damals die fahle Haut unter der Schminke sah und fühlte: Sie hat allen Grund zur Freude und sie freut sich auch. Doch die Freude strengt sie an. Es geht ihr nicht gut. Liegt das an meiner Sentimentalität? Ich möchte immer noch und immer wieder das schöne Mädchen sehen, durchschimmern sehen, das sie war und das sie jetzt, genau jetzt, in diesem Mischlicht wieder ist. Aber sie ist eben nicht jünger geworden, wie ich auch. Welche Sorgen mache ich mir? Dann war der Sommer gekommen. Wir schwammen, lasen und tranken in der prallen Sonne. Die Haut wurde braun. Nichts deutete auf eine Krankheit hin. Oder doch? Manchmal die Erschöpfung, wenn Freunde nach Suff und Völlerei gegangen waren, eine vordem nie gekannte Erschöpfung, verbunden mit der Freude darüber, dass die nächsten Tage nichts los sein würde. Wir werden alt, dachte ich, warum auch nicht, es stimmt doch, man kann darüber nicht hinwegsehen, wozu auch? Aber dann war sie eines Tages leichenblass vom Klo gekommen und hatte von mörderischen Blutungen erzählt. Blutungen, von denen sie für sich geklärt hatte, es könnten keine gynäkologischen gewesen sein. Du rufst sofort den Arzt an, sagte ich. Ich meinte den Freund, der seit Jahren die Fragen beantwortet hatte, wenn dieses oder
jenes Krankheitsbild eine erste Auskunft verlangte. Der Arzt hielt eine sofortige Untersuchung bei dem in der nahen Kreisstadt niedergelassenen Urologen für unerlässlich, fixierte unverzüglich einen Termin. Wir standen vor unserem Haus. Der Sommervormittag war strahlend. Fassungslos, ja wütend, bemerkte ich, dass sie mit ihrem eigenen Auto fahren wollte. Ich sagte ihr, das würde ich auf keinen Fall erlauben. Wir rufen – ich hatte das Autofahren ein Leben lang nicht erlernen wollen – sofort ein Taxi. Nein, sagte sie, ich fahre selbst. Das war diese Bestimmtheit, diese Selbstbestimmtheit, der ich viel zu verdanken hatte. Natürlich auch Schmerz. Mit Schweißperlen auf der Oberlippe stieg sie ins Auto. Ich rief unseren Sohn an. Seit Jahren gab es zwischen uns nur eine uneingeschränkt vertrauensvolle Partnerschaft: unsere Beobachtung ihres Wohlbefindens. Es fielen die in solchen Situationen üblichen Worte: Es wird schon nichts Ernstes sein, oder so ähnlich. Dann saß ich auf dem Balkon. Unfähig, etwas anderes zu tun, als Szenarien durchzuspielen. Grauenhafte. Tröstliche. Immer wieder die Frage, was ich denn hier allein täte, wenn. Dann wieder der Befehl zum Wegschieben aller Horrorszenarien. Und der Vorwurf, mehr um sich selbst zu zittern als um sie. Nach zwei Stunden war sie wieder da. Aus dem Auto stieg eine Tote. Das hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen: eine stehende, sprechende Tote, an ihr Auto gelehnt. Sie erzählte, der niedergelassene Urologe sei ein grober, unhöflicher Mensch gewesen, hätte die Untersuchung bald abgebrochen mit der Begründung, die Blutung sei so stark, da könne er mit den Möglichkeiten seiner Praxis nichts sehen und erkennen, eine Untersuchung im Krankenhaus der Kreisstadt sei erforderlich. Dort war der Mann extern für Urologie zuständig.
Es gäbe nachmittags auch schon einen Termin, sagte sie. Auf der Fahrt nach Hause hätte sie zweimal einfach nicht mehr weitergekonnt, hätte sie stehen bleiben müssen. Du fährst am Nachmittag auch nicht mit dem Taxi, da bringt dich die Rettung hin, die ich jetzt sofort bestelle, da fahre ich auch mit, sagte ich zu der Toten, die es ganz langsam aufhörte zu sein. Ich wollte sie auf den Balkon führen, ein beruhigendes Glas Rotwein einschenken, sie aber fragte, ob es in der Zwischenzeit einen wichtigen Anruf gegeben hätte. Sie wird mich noch vom Totenbett aus fragen, ob ich nicht vergessen hätte, heute nur die halbe Tablette zu nehmen, dachte ich mir. Sie wird sich um mich kümmern, solange sie atmet. Was kann ich für sie tun? Freilich, ich habe immer etwas getan für uns, für unser beider Leben. Ich war fleißig, bald auch erfolgreich, ich habe Geld verdient, wir konnten wunderbar leben. Aber all das hatte ich für uns getan. Was für sie? Nein, es hätte keinerlei Fax, keine Anrufe gegeben, gab ich als Auskunft. Die Welt respektiert unsere Sommerpause. Jetzt trinken wir ein Glas Rotwein. Ich sah an ihr vorbei ins blaue Wasser, sah unseren Steg, die Wiese davor, und dachte immer wieder, was sollte ich hier alleine? Und dann schoss es mir ein: Du spinnst! Sie lebt! Nichts ist endgültig, nichts ist unheilbar. Warum projizierst du dich in eine Katastrophe? Es gibt keinerlei Befund! Du bist ein präventiv wehleidiges Arschloch. Ich streichelte sie. Die Rettung kam pünktlich. Das Mitfahren verbot sie mir. Ich wartete. Die Filme liefen ab. Die im Freundeskreis schon zu Tode erzählte komische Geschichte des Kennenlernens, die Momente der Verwirrung, der Posen, der zu lang verzögerte Abschied von einem anderen Mädchen bis zum entscheidenden Satz. Zwei Mädchen gingen in Richtung Kino, dahinter Freund Leopold und ich. Und ich sagte zu Leopold, mit Blick auf sie: Die heirate ich. Auf seine Frage: Warum?
antwortete ich: Weil ich mir später einmal nie verzeihen könnte, sie nicht mehr zu kennen. Ja, so war’s. Oder so ähnlich. Die Rettung brachte sie wieder. Nein, der niedergelassene, aber auch für das Krankenhaus zuständige Urologe habe keinerlei Hinweise auf Krebs gefunden. Es müsse sich um eine geplatzte Ader oder irgendetwas anderes handeln, zur Sicherheit werde er aber – wie in solchen Fällen üblich – eine Gewebeprobe ins Labor einschicken. Wir verständigten Freund Rainer. Der hatte natürlich längst schon mit dem Urologen gesprochen. Rainer meinte auch, jetzt sei einmal der erlösende Befund des Labors abzuwarten. Bis dahin Schonung, diese oder jene Therapie und so. Es vergingen zehn Tage. Ihr ging es nicht gut. Aber ich sagte immer wieder, es ist kein Krebs, der Urologe mag dir nicht angenehm gewesen sein, aber er wird sein Geschäft schon verstehen. Jetzt sitzen wir da mit unserem Arzt und Freund. Der See gluckst unbeteiligt. Sie saugt an der Zigarette. Blasenkrebs ist bei Rauchern weit häufiger, sagt Rainer, so wie Lungenkrebs. Ich bin unfähig zur Wut. Zur Wut über die Vergeblichkeit des Bittens und Forderns. Noch einmal erklärt Rainer uns, dass sie schon morgen um sieben in die besten Hände käme. Dann fährt er. Wir beginnen zu planen. In der Landeshauptstadt leben meine Schwester und mein Schwager. Bei denen würde ich wohnen können, um ständig in der Nähe der Kranken zu sein. Ich bin Hotels gewöhnt, mag sie sogar, würde unter normalen Umständen lieber dort wohnen. Aber sie hat recht, wenn sie sagt, dort wirst du wahnsinnig. Ich gebe zu, es wird einen Menschen geben müssen, bei dem ich Angst haben, weinen, hoffen, essen, trinken und auch Schach oder Klavier spielen kann. Das ist meine Schwester. Es ist zu spät, um anzurufen. Morgen werden wir im Morgengrauen wegfahren, zunächst zu Schwester und
Schwager, um Bescheid zu geben, dann ins Krankenhaus, um das für sie bestellte Bett zu beziehen, und dann, ja, was dann. Wir sind kühl wie vor einer Studienreise. Dies mitzunehmen wäre sinnvoll, dies nur unnötiger Ballast. Das würde sie gerne im Krankenhaus haben, das ich bei meiner Schwester. Wir packen. Wir tragen alles zum Auto. Es ginge ihr gut, sagt sie. Sie wird selbst fahren. Sie fände es unerträglich, nicht selbst zu fahren. Irgendwann sagen wir, es wäre sinnvoll, ein wenig zu schlafen. Wir haben getrennte Zimmer. Nicht nur hier im Sommerhaus. Auch in unserer Stadtwohnung. Das mag Freunde verwundert haben, hat aber eine ganz einfache Geschichte. In der Gargonniere, in der wir erstmals zusammengezogen waren, gab es im einzigen Zimmer eine breite, gläserne Doppeltüre auf einen Balkon. Links an der Wand stand mein Bett. Es füllte den Raum zwischen Balkontür und Wand aus. Schon ein breiteres Bett hätte das Betreten des Balkons, das Öffnen der Glastüre, unmöglich gemacht. Also musste ein zweites Bett auf die andere Seite. Zwei junge, sich zu lernen versuchende Menschen gewöhnten sich daran, sich zu besuchen und zu verlassen. Das prägt. Schlafen kann man eines Tages nur mehr allein. Dazu kam, dass ich schon bei Nennung des Begriffs Schlafzimmer an das meiner Eltern und an die sich dort abspielende Ehe denken musste, manchmal heute noch muss. Das hat immer ein kurzes Schaudern zur Folge. Daran denke ich jetzt nicht. Zwischen unseren über einen Balkon verbundenen Zimmern ist nur eine dünne Wand. Wir hören unser Wachsein. Immer wieder einmal presse ich meinen Kopf in das Polster. Sie soll mein Weinen nicht hören. Der Wecker läutet gänzlich sinnlos. Wir sind beide wach. Der See schickt uns seine nächtlichen Wassergrüße. Wir sind geschäftsmäßig nervös, wie einst vor einer Uni-Prüfung. Sie startet das Auto.
In der ersten Kurve dreht sie den Kopf in Richtung See und sagt: Ob ich den noch einmal sehe?
2.
Sie fährt in der noch fast dunklen Nacht die Kurven der Waldstraße weg vom See. Sie kann diese Kurven blind fahren. Auch heute. Im Tal angekommen, entscheidet sie sich nicht, wie sonst immer, für die Bundesstraße, um dann erst später auf die Autobahn aufzufahren. Heute fährt sie auf dem kürzesten Weg auf die Autobahn. Wir fahren an dem großen See vorbei, an dem ich meine Jugend verbracht habe. Vor mir läuft mein Leben ab, als ob ich es beende. Ich möchte ihr Geschichten erzählen. Aber gibt es eine, die ich noch nie erzählt habe? Und davon, die Worte herauszubringen, könnte nicht die Rede sein. Die Stadt taucht auf. Die Stadt, in der ich zu einem Menschen wurde, gemacht wurde, den sie retten musste. Den sie gerettet hat. Das klingt wahnsinnig dramatisch, aber das ist so. Die Gründe und Nuancen tun jetzt nichts zur Sache. Ich hätte mich vom Totenbett aus gerne bei ihr bedankt. Jetzt sollte ich lieber das Maul halten. Besser, ich spotte über die vertrottelte Trassenführung der Autobahn, die diesen See – im Unterschied zu unserem – bleibend ruiniert hat. Schwester und Schwager sind völlig verstört, wie wir so plötzlich und unangemeldet zu einer unerklärbaren Zeit auftauchen. Ich habe Artikulationsschwierigkeiten. Wir bitten, das Auto hier vor dem Haus parken zu dürfen, für einige Zeit, wir müssten nämlich gleich weiter, ins Krankenhaus. Ich ersuche, einige Zeit hier wohnen zu dürfen, um in ihrer Nähe zu sein. Wie Schwester und Schwager alles begriffen haben, wie Diagnose und das Bevorstehen einer schlimmen Operation sich übermittelt haben, gibt es kein Problem. Wir werden ins
Krankenhaus gefahren, erledigen die Aufnahmeformalitäten. Ich frage, ob es sich um ein Einzelzimmer handelt. Ja und nein, erfahre ich. Zunächst wäre die Patientin jedenfalls allein, aber es sei ein zweites Bett im Zimmer und es sei denkbar, dass es gebraucht und daher belegt werde. Sofort beginnt der medizineigene Klassenkampf nach unten, mein Versuch, den Promistatus auszunützen. Da gibt es keinen Anflug von schlechtem Gewissen. Das zweite Bett muss raus. Es wird so sein, sagt man mir zu. Das Zimmer ist bezogen. Wann der Herr Primar zum Aufnahmegespräch da sein wird? Das wird mir ziemlich exakt gesagt. Wir sehen uns um. Das Krankenzimmer ist sehr klein. Das zweite Bett hätte angegrenzt. Der Neubau dieses Krankenhauses ist seit vielen, vielen Jahren in Planung. Jetzt steht er bevor. Dann wird alles ganz anders sein. Das dann interessiert mich aber nicht. Sie hat schon den Bademantel an. Wir gehen auf den Balkon hinaus. Man sieht über die Stadt. Nicht über deren schönere Teile, aber es ist die Stadt, die ich liebe, sie hingegen nie sehr leiden konnte. Jetzt schauen wir über die Dächer. In dieser so begreiflichen, aber von mir nicht begriffenen Situation. Ich umarme sie und fahre zum Haus meiner Schwester, um mich dort einzurichten. Bis jetzt war meine Hysterie gefroren. Man hätte meinen können, ich bewahre kühlen Kopf. Jetzt beginnt alles zu tauen, wie ich im geräumigen, für Nichte und Großnichte stets bereiten Gästezimmer meine Sachen einräume. Dann sitzen wir auf einer kleinen, weinverwachsenen Terrasse vor dem Haus in der Sonne, trinken Kaffee und der Schwager, ein Arzt in Ruhe, redet. Es ist immer beruhigend, wenn einer redet, der das Seine im Berufsleben gesehen, mit der aktuellen Sache aber nichts zu tun hat. Die Schwester ist liebevoll. Der Bruder merkt ihrem Mitgefühl mit dem Los der Schwägerin die Vorbehalte
gegenüber einem ganz anderen Typ von Frau nicht mehr an. Zu verschieden waren sie, um ganz enge Freundinnen zu werden, geworden sein zu können. Jetzt zählt die Verschiedenheit nicht mehr. Ob ich, bevor ich wieder ins Krankenhaus fahre, nicht kurz im Pool baden möchte? Zur Erfrischung? Morgen werde ich das tun. Gleich nach dem Aufstehen. Das bin ich von meinem See so gewöhnt. Und danach werde ich mich immer, weil mir das Poolwasser zu warm sein wird, kalt duschen. Jetzt muss ich unseren Sohn verständigen. Das wird sehr schwer sein. Aber er wird ruhig bleiben. Das hat er von ihr. Schwester und Schwager wollen nicht, dass ich mir jetzt ein Taxi nehme. Sie sehen die Kosten für ein Taxi nicht ein, wenn es in der Familie Autos gibt und Menschen, die sie fahren können. Ich sehe nicht ein, warum jemand einen anderen fahren lässt, wenn er sich ein Taxi leisten kann. Es wird sich schon irgendwie einspielen. Natürlich bin ich lange vor dem Erscheinungstermin des Primars bei ihr. Sie hat mittlerweile schon mit unserem Sohn telefoniert. Wir reden über ihn, über Hoffnungen auf richtige Karriereschritte. Wir wiederholen Themen, die wir längst schon besprochen haben. Die Zeit muss vergehen. Dann kommt der Primarius Dr. Steinitz. Du merkst auf, es ist der erste Mensch, dem ich einen Namen gebe. Das muss für mich so sein, das ist nach der Exposition die erste handelnde Person des eigentlichen Dramas, das Krebs heißt. Dr. Steinitz hat nichts von einer Erscheinung, die an großes Schicksal denken lässt. Ein kleiner, schlanker, abgearbeiteter Mann in reiferem Chefalter, mit der sachlichen Freundlichkeit eines nicht unangenehmen Beamten. Meine Hoffnung, er könnte vielleicht sagen, na ja, diese Diagnose wird wohl noch zu überprüfen sein, dieses Labor arbeitet nicht immer verlässlich, macht er sofort zunichte.
Es handle sich um einen Tumor der höchsten Aggressionsstufe, er nannte eine Zahl, auch deren Stellenwert, die Blasenwand sei wahrscheinlich zerfressen, daher die Blutungen. Zwei Tage lang gäbe es jetzt die nötigen Vor- und Durchuntersuchungen, am dritten Tag würde er operieren, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er zum radikalsten der möglichen Eingriffe raten. Aber das wird alles noch genau besprochen werden. Dies fürs Erste. Ich halte ihre Hand. Telefone. Alle sind informiert, informieren einander. Immer wieder werde ich gerufen, stehe mit dem Handy der Schwester am Poolrand, versuche sachlich zu bleiben, heule aber nach kurzer Zeit, vor allem, wenn man mich fragt, ob mir das Sprechen schwer fiele. Wieder mit dem Taxi zu ihr. Worüber reden? Irgendwann bleibt nur die Frage: Warum? Warum ich? Aber dann sagt sie: Einer von fünfen hat es, also warum nicht ich? Ich weiß mittlerweile mehr über das Verhältnis von Rauchen und Blase. Immer wieder ziehen die vielen Versuche in verschiedenen Lebensabschnitten, in verschiedenen Tonlagen, sie von der Sucht abzubringen, durch mein Hirn. Aber ich sage kein Wort. Sinnlos, daran zu erinnern. Zu oft habe ich mir ein Und du trinkst zu viel eingefangen. Im Gang zu ihrem Zimmer treffe ich einen Bekannten aus der Jugendzeit, einen Eishockeyspieler, einen athletischen Sportler. Jetzt ist er ein alter Mann. Versöhnlich zeigt er in Richtung seiner Lenden und sagt: Alles weg. Es schwingt mit: Na und?, die Sache hat das Ihre hinreichend geleistet. Die diversen Untersuchungen sind durchgeführt. Ich wusste von jeder den Namen, ungefähr auch den Sinn. Alles, was ich nicht weiß, lasse ich mir von meinem Schwager oder – am Telefon – von unserem Arztfreund erklären. Jede Bestätigung der Richtigkeit oder Notwendigkeit baut Misstrauen ab. Am Klavier von Schwester und Schwager
spiele ich die ewig gleichen Standards. Wenn sie zu sentimental werden, muss ich abbrechen. Der Tag, die Stunde der Schlusserklärung des Primars ist da. Dr. Steinitz spricht von zwei Möglichkeiten. Die eine: das Zusammenbasteln einer Ersatzblase im Körper, aus körpereigenem Material. Die verwirft er. Er würde so verfahren, sagt er, wenn wir drauf bestünden. Aber er rät ab. Er zählt die Gründe für sein Abraten auf. Wir glauben ihm. Gleichzeitig frage ich mich, welche Chance oder welche Berechtigung ein Laie haben soll, nicht zu glauben. Das ist ein seltsames Spiel, eine fachmännische, dirigistische Entscheidung mit einer QuasiAuswahlmöglichkeit zu verbinden. Natürlich glauben wir dem Dr. Steinitz. Die zweite Möglichkeit ist die des künstlichen Ausgangs mit einer plastischen, außen getragenen Blase. Ich versuche mir das vorzustellen an ihrem immer noch schönen Körper, ich will mit ihr als Frau fühlen, aber da hat sie sich schon für diese Variante entschieden. Der sachlich und trocken argumentierende Dr. Steinitz nickt wohlwollend. Dann beginnt er zu zeichnen. Er zeichnet den Unterbauch, alles, was heraus muss, um das Risiko des Wiederentstehens möglichst klein zu halten. Es muss alles heraus. Absolut alles. Der Darm würde danach unendlich viel Platz haben, was zu Komplikationen führen kann. Nicht muss. Dr. Steinitz spricht über Verengung oder Verkürzung der Vagina, über die Möglichkeit, durch operatives Nachbessern Geschlechtsverkehr wieder zu ermöglichen. Ich atme ein, um zu antworten, aber da hat sie meinen Text schon gesagt: Das spielt keine Rolle mehr. Dr. Steinitz hakt diesen Punkt wortlos ab. Er zählt noch einige Zwischenfälle auf, die während der Operation denkbar sind, einige Umstände, die eine Nachoperation erforderlich machen könnten. Als unser Schrecken am höchsten ist, sagt er, das kann passieren, aber es wird nicht.
Sie sind in guten Händen. Wir wissen das, sagen wir. Wie Dr. Steinitz sich verabschiedet, fragt sie: Werde ich schwimmen können? Ich halte den Atem an. Von der Antwort hängt der Sinn der Operation entscheidend ab. Er bejaht ohne Einschränkung. Sie ist froh. Sie muss die Blase auch gar nicht am Körper haben, erfährt sie. Sie kann sie ruhig vorher herunternehmen. Die paar Tropfen, die da in den See rinnen, sind doch zu vernachlässigen. Eine Infektion der Öffnungsstelle ist auch nicht zu befürchten. Nein, Schwimmen ist unbedenklich. Es gibt viele Möglichkeiten, sein Leben, seine Lebensfreude an etwas festzumachen. Bei ihr ist es das Schwimmen. Im Wasser vor dem eigenen Haus. Ich verstehe das nur zu gut. Unser Sohn hat sich beruflich freigemacht. Ich habe ihn allein zu seiner Mutter gehen lassen. Er ist lange bei ihr geblieben. Jetzt, wie wir über alles reden, raucht er eine Zigarette nach der anderen. Er raucht nicht. Er frisst den Rauch. Ich kann ihm nicht helfen. Ich kann mir nicht helfen. Ich habe es nie gekonnt. Das war ein schlimmer Abend, damals, als ich erfuhr, zwei Jahre lang betrogen worden zu sein. Zwei Jahre vor diesem Abend hatte unser Arzt ihr das Rauchen verboten. Ihrem Vorschlag, wenig oder hie und da eine, hatte er widersprochen. Nein, Sie werden nie wieder rauchen! Ich habe keine Ahnung, welcher Befund ihn zu dieser Entschiedenheit veranlasst hatte. Jedenfalls, sie gab das Rauchen auf. Von einem Tag auf den anderen. Ich war gebläht vor Stolz. Allen, die es hören wollten oder nicht, erzählte ich: Sie hat das Rauchen aufgegeben! Und jetzt nahm mein Sohn, von dem ich absolut sicher war, er würde nie mit dem Rauchen beginnen, nach dem Abendessen auf der Veranda eine Zigarettenschachtel heraus und sagte: Ich habe diese Komödie satt. Zwei Jahre schon hatte er mit ihr wie pubertierende
Schüler auf dem Klo, hinter dem Haus oder sonst wo geraucht. Ich Trottel hatte es nicht bemerkt. Jetzt steht er vor mir, wirft die letzte Kippe in einen Busch und sagt: Pass gut auf auf sie. So nahe waren wir uns bisher noch nie. Es ist der Vorabend der Operation. Früh um sieben wird sie beginnen. Für halb zwei hat der Operateur seinen Anruf zugesagt. Wir sind allein. Ich weiß nichts anderes zu reden, als den guten, den kompetenten Eindruck zu loben, den der Primarius Dr. Steinitz gemacht hat. Sie ist auch dieser Meinung. Es entsteht eine seltsame Art von Zufriedenheit. Irgendeinmal muss ich sie dann verlassen. Vor dem Lift steht der Primarius mit zwei Schwestern. Ich steige zugleich mit ihm ein. Noch ist meine Frau nicht zerschnitten. In mir kommt hoch, was ich immer trompetet habe: Ich lasse kein Messer an mich heran. Ich trage die Sache aus. Wenn es Schmerzen gibt, wird etwas dagegen unternommen. Wenn sie zu stark werden, beende ich die Sache. Ich bedanke mich noch einmal bei Dr. Steinitz für seine ruhige Interpretation der beiden Möglichkeiten. Und dann sage ich: Und von der dritten halten sie nichts? Von welcher dritten? Gar nicht operieren. Das hieße: sicherer Tod. Der Lift ist unten angekommen. Was sind das für Nächte gewesen, die letzten, was ist das heute für eine Nacht? Bilder. Nur Ohnmacht. Der unaufhaltsam ins Tor kollernde Ball. Die unerreichbare Schulballpartnerin. Die Unmöglichkeit, den Vater zu stellen. Die im Seniorenheim verwesende Mutter. Premierenfieber. Textangst. Dazwischen immer sie. Als Mädchen. Als Frau. Die Situationen, die man gut machen möchte. Angst. Wahnsinnige Angst, allein zu bleiben. Und dann – unvermeidlich bei mir – die heroische Phantasie. Ich stehe vor einem, der sagt: Sie können mit Ihrer Frau tauschen. Ich tausche. Ja, ich bin mir sicher, dass ich tauschen würde. Ich weiß auch, warum. Erstens, ich will sie nicht verlieren. Zweitens: Mir kann ich
helfen, ihr nicht. Mir kann der Krebs nichts anhaben. Mir kann überhaupt nichts etwas anhaben. Mir gelänge, was immer in der Zeitung steht, nämlich den Krebs zu besiegen. Ihr kann das nicht gelingen. Aber hat nicht Freund Hans-Peter, der Erfolgsmensch, gesagt: Wenn’s eine schafft, dann sie. Der könnte doch recht haben. War das nicht eine beschissene Jugend. Sie hat mich herausgeholt. Auch aus mir heraus. Unsere Badesommer in Italien. Ich heule zu leicht. Immer schon. Im Kino. In der Oper. Meine Phantasien rühren mich. Wie konnte sie auf einen Arsch meines Kalibers hereinfallen? Wie schön, dass sie auf mich hereinfiel. Wie spät ist es? Vier. Vielleicht schaffe ich doch eine Stunde Schlaf. Im Garten der Schwester höre ich Vögel. Keine Ahnung, wie sie heißen. Warum weiß ich nicht, welche Vogelstimmen zu welchen Vögeln gehören? Ist aber nicht von Belang. Beim Frühstück auf der Veranda mit dem wilden Wein, dessen Trauben nie groß werden, weil die Vögel sie vorher abfressen, tun wir so, als wäre es ein normaler Tag. Ein schöner, normaler Spätsommertag. Nach dem Mittagessen werden wir erfahren, alles ist gut gegangen. Worüber habe ich mich so aufgeregt? Es ist eine Operation. Nichts weiter. Ich gehe im Garten auf und ab. Ich kann das. Ich mache das immer. Vor Vorstellungen gehe ich im Garderobengang auf und ab. Unbeirrbar. Ich gehe auf und ab. Manchmal rund um den Pool. Dann in der Gegenrichtung. Hie und da fällt ein Wort zwischen Schwester und Schwager. Ich verstehe nichts. Ach so, mir wird etwas angeboten. Kaffee. Nein, danke. Lieber ein paar Tempi im Pool. Dann kalt duschen. Unter der Gartenbrause. Lange. Bis ich blau bin. Der Anruf des Dr. Steinitz kommt nicht zum angekündigten Zeitpunkt. Es ist jetzt sieben Stunden nach dem geplanten Beginn. Niemand spricht mehr ein Wort. Oder sagt der Schwager, so eine Operationsdauer sei nicht exakt vorhersehbar? Das stimmt
sicher. Nur, ich begreife es nicht. Der Sohn ruft an. Ich weiß noch nichts. Ich werde mich sofort melden, wenn ich was weiß. In der Sekunde, in der ich schon zu erschöpft bin, um zu warten, läutet das Telefon. Dr. Steinitz erklärt ruhig, verabredungsgemäß anzurufen, leicht verspätet, weil es da doch im Darmbereich einige Komplikationen gegeben hätte. Die Operation sei sehr gut verlaufen, wegen des Besuches solle ich gegen Abend die Stationsschwester anrufen, die wird mir sagen, wann mein Erscheinen möglich und auch sinnvoll sein würde. Ich bedanke mich. Noch bevor Dr. Steinitz das Gespräch beenden kann, frage ich, fragt es aus mir: Herr Primar, hat sich über die Erstdiagnose hinaus noch etwas herausgestellt? Seine Antwort kommt leicht verzögert: Ihr Arzt hat mir zwar gesagt, ich soll es Ihnen nicht sagen, aber da Sie mich so direkt fragen und ich ein Freund von offenen Worten bin: Ihre Frau hat mit nach meiner Erfahrung an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch einen Magenkrebs. Der wäre aber in einem Operationsvorgang mit dem Blasenkrebs nicht operabel gewesen. Mit dieser Sache wird man sich nach angemessener Erholungszeit zu befassen haben. Ich bin irgendwas zwischen bewusstlos und völlig ruhig und klar. Er hat also vor mir Rainer angerufen, sage ich mir. Der muss mir die Diagnose bestätigen. Ja, ich weiß es schon, sagt Rainer. Jetzt nur keine Panik. In Ruhe abwarten. Sie muss sich erholen. Er spricht von mindestens vier Wochen. Dann muss man sich das ansehen. Abklären, sagte er, abklären. Ich rede mit Schwester und Schwager. Ich rufe den Sohn an. Dem sage ich es nicht ganz so direkt. Ich sage so etwas wie, es ist möglicherweise noch nicht alles ganz ausgestanden. Aber er soll bei nächster Gelegenheit kommen, sie besuchen und mit mir alles Weitere besprechen.
Ein Nachmittag im Spätsommer. In der Stadt meiner Kindheit und Jugend. Man hat mir mitgeteilt, meine Frau ist verloren. Der Tumor war also nicht isoliert, so auch nicht für immer, nur für einige Zeit, entfernbar. Der Körper ist schon verseucht. Alle diese Ausdrücke hat keiner gebraucht. Ich gebe das Bulletin aus. Mit meinen Worten. Ich will keinen Wein. Ich würde erbrechen. Viel früher als von Dr. Steinitz empfohlen frage ich die Stationsschwester, ob ich schon kommen darf. Ich darf natürlich nicht. Aber dann doch. Sie liegt im Viertelschlaf, erkennt mich, ist froh, mich zu sehen. Ich sehe den Infusionsschlauch nicht. Auch sonst nichts. Nur ihr Gesicht. Es zeigt keine Spuren von großen Schmerzen, überstandenem Leid. Es drückt eher ein erleichtertes Vorbei aus. Die Erleichterung geht auf mich über. Ich vergesse offenbar die nachgelieferte Diagnose. Ich vergesse das, was ich für ein Todesurteil halten muss. Die Operation ist gut gelungen, gut überstanden. Sie hat keine Blase mehr. Na und? Viel mehr Menschen als man glaubt haben die nicht. Erst in der Nacht pendelt das Bewusstsein zwischen Weiterleben und dem Verlauf zum nächsten Tod. Aber es war ja schon der erste Tod keiner. Ich wälze mich im Bett. Die vielen Male kommen mir hoch, wo ich gelächelt habe, wenn von einem oder einer gesagt worden war, nach überstandener Krebsoperation wäre er oder sie wieder gesund. Krebs kommt wieder, habe ich ohne jede Legitimation verkündet. Sie wird sich daran erinnern, wenn ich jetzt auf positiv machen werde. Wird sie mich leicht spöttisch anlächeln, wenn ich ihr sage, alles bleibt gut? Schon wieder habe ich vergessen, dass der zweite Krebs ja schon da ist. Ich bekomme zum Frühstück, was ich haben will. Ich will Joghurt und viel Kaffee. Nein, nicht mit Sahne, mit Milch. Ich kann Kaffeesahne nicht ausstehen. Da liegt ein Mensch zerschnitten da, wird wohl bald noch mehr zerschnitten werden
müssen, aber das ist kein Grund, nicht Milch zum Kaffee zu wollen, gewohnheitsmäßig. Ich beginne an mir Verhaltensforschung zu betreiben. Das lenkt ab.
3.
Der Aufwachraum ist ein Provisorium. Die Frischoperierten sind durch Tücher getrennt. Man darf nur ganz leise sprechen. Unterbrochen von Stöhnen und Schmerzenslauten, die sich nicht an den angestrebten Pegel halten. Ich weiß, das Krankenhaus, der Neubau, ist in Planung. Ich weiß es ja. Es wird alles einmal viel besser sein. Wir reden. Sie erzählt schon leise, wo sie was spürt, wo es spannt, wo es zieht, wo alles so merkwürdig anders ist. Das ist gut, wenn sie etwas feststellt, denn dann kann ich sagen, das ist ganz normal, das war doch ein großer Eingriff, das wird sicher noch eine Zeit anhalten, da muss man Geduld haben, nach der Genesung ist man ja ein neuer Mensch. Zwischendurch sagen wir beide nichts. Sie ist müde. Wir wollen nur unsere Hand spüren. Die Schwester winkt mir. Der Oberarzt möchte mich sprechen. Den hatte ich schon gesehen. Ein jüngerer Mensch – Blödsinn! Wer ist in meinen Augen eigentlich kein jüngerer Mensch? Doch nur mehr wenige – ein sympathischer Schüler seines Meisters. Er sagt: Ich muss Ihnen eine schreckliche Mitteilung machen, geben Sie sie bitte an Ihre Frau nicht weiter, das wäre in dieser Phase ein zu großer Schock. Bevor ich mir ausmalen kann, wie viel Tumore und Metastasen noch aufgetaucht sind, sagt er etwas, was diese englische Autorin der schlimmsten Fernsehschnulzen nicht zu schreiben wagen würde: Unser Chef ist tot. Gestern Abend. Sekundenherztod. Dann fielen Worte wie Überarbeitung, Workaholic und so. Weißt du, da braucht man eine Zeit lang, bis man das glaubt. Da setzt das reale Leben dramaturgische Pointen, die sich der
spekulativste Schmierfink verbietet. Das Leben ist nicht nur der größte Künstler, es ist auch der größte Kitschist. Der Dr. Steinitz, der Primar, der Urologe, der Operateur, der gestern am späten Mittag mit mir telefoniert hat, lebt nicht mehr. Sie war seine letzte Patientin auf dem Operationstisch. Muss man das glauben? Man muss. Der erste Gedanke, bevor ich zu ihr zurückgehe: Zum Glück ist es nicht während der Operation passiert. Hätte der Oberarzt übernehmen können? Wenn ja, hätten seine Nerven gehalten? Ich bin wieder bei ihr und sage ganz beiläufig: Wundere dich nicht, dass der Primar heute nicht kommt, er hat einen Autounfall gehabt, es ist aber nichts passiert. Also nichts Größeres. Ich habe mich schon gewundert, sagt sie. Wenn du was willst, der Oberarzt vertritt ihn. Den mag ich eh sehr. Dann lasse ich sie schlafen. Rundum Fassungslosigkeit. Schwester und Schwager wollen mich beruhigen. Sie haben wohl schon den Verdacht, dass ich durchdrehe. Ich rufe Rainer an. Der weiß schon von der Sache, der war bei seinem Erkundigungsanruf mit dem Oberarzt verbunden worden. In meinem Kopf rührt sich der Krebs, den ich mit mir herumtrage, diese Diagnose Magentumor, die Formulierung Mit nach meiner Erfahrung an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Hat er was gesehen? Was getastet? Ich kann den Dr. Steinitz nicht mehr fragen, wie relativ seine Erfahrung sein kann, ich kann nicht mehr fragen, welche Unsicherheit in diesem Grenzbereich zur Sicherheit noch möglich ist. Täglich zwei Besuche. Erst am dritten Tag mute ich ihr die Information vom Tod des Dr. Steinitz zu. Es bestand ja schon die Gefahr, dass sie es einem der Gespräche an den Nebenbetten hätte entnehmen können. Das hätte sie mehr aufgeregt als meine um Komik bemühte Darstellung meines Schocks, unterschnitten mit kunsttheoretischen
Fragestellungen, inwieweit sich Kitsch und Schundroman in die Realität einmengen dürfen. Freundinnen, Freunde, Paare rufen an. Ja, morgen kommt sie wieder auf ihr Zimmer. Da kann sie besucht oder angerufen werden. Es ist lästig, dass sich so viele melden, aber es macht froh. Unglaublich, wen die Rundumpost informiert hat und wie sich alle, aber auch schon alle kümmern. Sie geht den mechanischen Teil der neuen Situation so an, wie sie immer alles angegangen ist: Ich will es können. Ich werde es beherrschen. Was ist das beste Modell? Sie lernt in erstaunlicher Manier, mit der Prothese zu leben. Bald wird sie an ihren See fahren können. Sich dort weiter erholen. Und das bewilligte Schwimmen sofort versuchen, genießen. Der Sohn führt sie zum See. Er hat eine klare Sicht der Dinge: Sie hat es geschafft. Sie hatte Krebs und jetzt hat sie keinen mehr. Ich habe in meiner Tasche aber das Entlassungspapier. Ich habe es niemandem gezeigt. Es enthält die Krankengeschichte, die Operationsbeschreibung und hinter einem Doppelpunkt die Diagnose: Verdächtiger Magentumor. Oder wie war die Formulierung? Wohl etwas lateinischer. Aber dem Sinn nach unmissverständlich. Der Oberarzt hatte beim Aushändigen des Papiers keinen Bezug darauf genommen. Er kommentiert den Ausgang der Operation nur mit dem Satz: Wir haben eine Chance. Diesen Satz saugte ich auf. Aber da stand doch diese zweite Diagnose. Daher musste ich fragen: Wie kam Dr. Steinitz dazu? Hat er es Ihnen erklärt, oder waren Sie dabei, haben Sie selbst auch was gesehen? Nein, erfahre ich, er war bei der Operation nicht dabei und er hatte auch keine Gelegenheit mehr, mit Dr. Steinitz darüber zu sprechen. Daher schien mir die für ihn neue Diagnose außerhalb seiner Kompetenz und außerhalb seines Interesses zu sein. Aber er hatte diesen wunderbaren, nicht unglaubwürdig positiven Satz gesagt: Wir haben eine Chance.
Der griff bei mir. Dennoch machte ich den Versuch, irgendetwas Konkretes mitzubekommen, was ich wann zu tun hätte. Wieder hieß es nur, das müsse eben nach angemessener Erholungszeit abgeklärt – das Wort löst schon einen Reiz aus – werden. Wir kommen zu unserem See. Sie sieht ihn wieder. Nichts darf das Wunder des Wiedersehens trüben. Der Altweibersommer ist noch herrlicher als sonst. Es ist unmöglich, nicht an einen meiner Lieblingstexte des Kurt Tucholsky, »Die fünfte Jahreszeit«, zu denken. Oder an Lenau. Mein Sohn kocht die Pasta. Ich hole den Rotwein. Sie brät den ersten von uns gefangenen Fisch. Sie ist wieder da. Wir sind wieder da. Endlich ergibt sich eine Situation, in der ich mit meinem Sohn allein bin, in der ich ihm alles erklären kann. Wir sitzen nebeneinander auf dem Balkon und ich sage: Es ist leider alles ganz anders. Sie ist offenbar verloren. Ich zeige ihm die Diagnose. Diesmal beginnt er zu weinen. Wir brauchen lange, bis wir sachlich werden. Dann wird Programm gemacht. Er muss – zurück in der Hauptstadt – sich von Fachleuten den besten Magenkrebsspezialisten nennen lassen. Ich kläre mit Rainer, wie viele Tage wir sie am See lassen dürfen oder können, ab wann eine Untersuchung des Magens sowohl zumutbar als auch nötig ist. Wir werden sie nicht informieren. Wir werden sie anschwindeln, es wäre unverantwortlich, sie mit der neuen Bedrohung zu konfrontieren. Ich werde ihr sagen, die hätten mir im Krankenhaus den Termin für die erste Kontrolluntersuchung, nur eine postoperative Routine, genannt. Aber ich schlage vor, diese Kontrolluntersuchung gleich von unserer Stadtwohnung aus machen zu lassen. In der Hauptstadt würde dann sowieso die ganze Nachsorge stattfinden, zumal es den Operateur hier ja nicht mehr gibt. Das wird sie mir glauben, sage ich zu meinem Sohn. Der verlässt uns, ruft bald darauf an. Er hat sich umgehört, hat sich den –
nach Ansicht eines verlässlichen Informanten – besten Magenspezialisten nennen lassen und mit dem schon gesprochen. Es gibt auch schon einen Termin. Mitten in ihr Hochgefühl, den See wieder zu besitzen, sage ich ganz beiläufig, sehr lange werden wir nicht bleiben können, es ist ja die Kontrolle vorgeschrieben und der Sohn hat auch schon Ort und Zeit fixiert. Ihr Widerstand ist schwach. Einerseits will sie noch länger hier bleiben, andererseits ist sie mit ihrer Prothese noch nicht ganz zufrieden, in der Hauptstadt wird sie bei der berühmten Firma eine noch geeignetere bekommen. Wir haben noch einige Tage. Groteskes passiert mit mir. Ich beginne mich nützlich zu machen. Ich koche den ersten Kaffee meines Lebens. Ich serviere. Ich räume ab. Tätigkeiten, die ich bei Männern immer als Eingeständnis permanent schlechten Gewissens definiert habe, kommen mir nicht mehr lächerlich, nur mehr selbstverständlich vor. Wieder einmal ein Beispiel, dass fällige Selbstregulierungen dieser Menschheit nur über die Katastrophe passieren, denke ich mir. Wir verlassen den See. Sie in der elementaren Vorfreude, ihn im nächsten Jahr wiederzusehen. Ich sitze daneben. Ärgerlicherweise regnet es nicht. Die Stadtwohnung wird wieder bezogen. Wir gehen durch die Zimmer. Wir sehen uns die Bilder an. Wir freuen uns, sie an den Wänden zu haben. Die einzelnen Bilder liebt jeder für sich. Aber in ihrer Gesamtheit sind sie uns eine Bestätigung unserer Partnerarbeit. Wir haben alles richtig gemacht. Wir hatten Erfolg. Ja, wir. Oft im Leben habe ich, wenn verbiesterte Äußerungen über das Rollenverhalten gemacht wurden, mein Beispiel von den beiden Parterreakrobaten erzählt, die sich Die zwei lustigen Matrosen oder Los Pimpinellos oder so ähnlich nennen. Da entscheiden sich zwei Artisten, miteinander eine Nummer zu erarbeiten und damit zu reisen. Sie entscheiden sich nicht aus
Zwang, sondern freiwillig. Dann klären sie, wer nach Anlage oder Neigung mehr der Untermann ist und wer durch die Luft fliegt. Ist diese Entscheidung gefallen, muss der eine Muskeln aufbauen, darf der andere nicht zunehmen. Wenn einer von beiden sich nicht rollengerecht verhält, nützt er zwar seine Freiheit. Nur, die Nummer gibt es halt nicht mehr. Erfolg in der Partnerschaft. Sie hatte, als wir in einer anderen Stadt in der Parterrewohnung eines alten Hauses, umgeben von einem prächtigen Garten, gewohnt hatten, einmal einen furchtbaren Satz gesagt. Sie hatte ziemlich ultimativ, unterstützt von der weiblichsten aller Erpressermethoden erklärt, sich auf Dauer ein Leben mit einem erfolglosen Partner nicht vorstellen zu können. Ich habe damals tief durchgeatmet, wie vor einem Auftritt. Und habe sie später, als ihr bewusst werden musste, welche nicht so himmelblaue Folgen Karriere mit sich bringt, des Öfteren an dieses Gespräch erinnert. Durchaus in revanchistischer Absicht. Sie schafft Platz für die Utensilien ihres neuen Lebens. Alles, was an sinnvoller Rehabilitation möglich ist, wird disponiert. Daneben läuft eine zweite Handlung ab. Ich lerne den Magenspezialisten Prof. Dr. Kann kennen. Das ist ein sonniger, freundlicher Mensch, leicht dicklich, seiner Kompetenz total sicher. Ich zeige ihm das Entlassungspapier, erzähle von dem Tod des Operateurs, der hatte sich in Ärztekreisen aber schon herumgesprochen, und treffe mit ihm eine Vereinbarung: Dr. Kann, was auch immer Sie bei Ihrer Untersuchung sehen, geht meine Frau zunächst nichts an, das sagen Sie nur mir und dann besprechen wir, wie weiter vorzugehen ist. Das findet er selbstverständlich, er kann mich da ganz beruhigen. Der Untersuchungstermin ist da. Wir haben das geschickt gemacht. Sie ist sich ganz sicher, dass es sich um eine
Narbenkontrolle mit ein wenig Rundumschau handelt, eine gänzlich harmlose Routine, nur um der Normalität der Heilung ganz sicher zu sein. Die Untersuchung wird eineinhalb Stunden dauern, hat mir der Dr. Kann gesagt, dann wird er zu mir auf den Gang vor dem CT-Raum in der Universitätsklinik kommen und mir sagen, was zu sagen ist. Die gigantische Universitätsklinik ist optisch, in ihrer Gliederung, in ihren logistischen Versuchen, Orientierungen herzustellen, eine völlig verunglückte Heilfabrik, der Inbegriff des Inhumanen. Ein Bahnhof, an dem Kranke in die Genesung anreisen und andere Kranke ab in den Tod. Wo die Fahrpläne Makulatur sind, weil die Züge kommen und fahren, wann sie wollen. In fernen Zeiten, wenn sich Medizinhistoriker mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befassen, wird man dieses Gebäude, besser: die Gesinnung, die hinter seiner Planung stand, als Beweis für den Irrweg einer der doch menschennähesten Wissenschaften anführen. Das denkt man sich noch nicht, wenn man in Befürchtung schlechter Nachrichten das Haus betritt. Das denkt man sich, wenn man sich erinnert. Schon die Erinnerung macht krank.
4.
Jetzt sitze ich da. Im Gang. Auf einem von ein paar Wartestühlen. Die Angst ist unerträglich. Es gehen die blödesten Gedanken durch den Kopf. Bebilderungen und Textversionen der Szene, in der man die Wahrheit wird sagen müssen. Die Wartezeit ist untätig nicht durchstehbar. Immer auch die Frage: Ist Dr. Kann wirklich die erste Adresse? Hatten die Leute, die ihn meinem Sohn genannt haben, überhaupt die Kompetenz? Aber Rainer, den ich natürlich angerufen hatte, hatte gemeint, den Namen hätte er schon gehört und keineswegs negativ besetzt. Auf einmal schießt es mir ein: Hier, in dieser Universitätsklinik ist doch auch die absolute Kapazität, Prof. Petrosjan, Leiter einer Abteilung. Der Krebspapst. Diese Bezeichnung hat er sicher nicht erfunden, es wird ihm wohl auch nicht recht sein, dass sie strapaziert wird, nehme ich an, aber es gibt sie nun einmal. Warum versuche ich nicht, ihn zu sprechen? Ich kenne ihn ja, das heißt, ich habe ihn einmal kennen gelernt bei einem Abendessen im Hause meines Freundes Georg, eines konsequenten Bestsellerautors. Wir haben doch sehr nett miteinander geplaudert, auch mit seiner Frau, nicht der ersten des smarten Frauentyps, die ich wiederum schon aus dem Fernsehen kannte. Ich geh zu dem, ich weiß nicht genau warum, aber schon, dass er vom Schicksal meiner Frau weiß, er, die erste Instanz, der Krebspapst, wäre mir eine Beruhigung. Eine intellektuelle Analyse dieses Gefühls ist mir nicht möglich. Ich muss zu ihm. Ich finde mit dem Lift seine Krebsstation, das ist in der Verwirrung nicht einfach, ich finde sein Büro oder wie das in
einem Krankenhaus heißt. Das Vorzimmer des Büros zunächst. Die Sekretärin erkennt mich. Ja, der Professor ist hier und für Sie auch gleich zu sprechen. Ich bin stolz. Da holt er mich auch schon zu sich. Professor Petrosjan ist ein sehr eleganter Mann mit dem Stil des Salons, im besten Sinne des Wortes. Er lässt sich von mir, wie in einem Privatgespräch, die Situation erzählen und erfährt – plötzlich weiß ich, warum ich da bin –, ich wäre glücklich, würde er sich die Nachuntersuchungsergebnisse ansehen, würde er sozusagen die Oberaufsicht über alles Kommende übernehmen. Selbstverständlich sei er dazu bereit und er könne mich auch beruhigen, was die eben stattfindende Untersuchung anbelangt. Prof. Kann – er nennt ihn ohne Titel, aber mit Vornamen – sei immer wieder in enger Verbindung mit ihm, ja, er würde sich alles ansehen, alles besprechen. Wir hoffen, einander zu einem schöneren Anlass in privatem Kreis wieder einmal zu sehen. Ich registriere: Sie ist ab jetzt, für alles, was noch kommt, Patientin der Kapazität. Es mag eine Stunde vorbei sein. Ich sitze wieder im Gang. Kurze Zeit bin ich richtig stolz auf den Einfall, Prof. Petrosjan miteinbezogen und damit quasi alles getan zu haben. Dann schnürt mir die Angst wieder die Luft ab. Der vierschrötige Magenspezialist Prof. Kann steht vor mir. Er sagt emotionslos, gemütlich: Also, ich kann Ihnen nur sagen, was der verstorbene Operateur gesehen haben will, ist mir gänzlich schleierhaft. Ihre Frau hat im Magen gar nichts. Dann meint er noch, die Operation sei offenbar ganz erstklassig durchgeführt worden. Die Nötigkeit der vierteljährlichen Routinekontrollen sei mir wohl bekannt. Im Augenblick kann ich die Information nur entgegennehmen und mich bedanken. Das Ausmaß der Erleichterung wird einem in Etappen bewusst. Man kann nicht losjubeln. Man muss Schicht um Schicht abtragen.
Wir sitzen im Taxi. Sie weiß nicht mehr, als dass alles in Ordnung ist. Sie ist zufrieden. Ich sage ihr, ich bin dagegen, direkt nach Hause zu fahren. Wir hätten nämlich was zu feiern. Ich erzähle ihr die ganze Geschichte vom Entlassungsbefund bis zur Erlösung durch Prof. Kann. Ich kann nichts für mein Naturell. Sofort polemisiere ich. Der Dr. Steinitz scheint also doch nicht der große Durchblicker gewesen zu sein, für den ihn alle gehalten haben. Aber sei es, wie es sei, die Erde werde ihm leicht. Wir fahren ins Restaurant mit dem neuen, jungen Meisterkoch. Es gibt keinen freien Tisch. Aber dann eben doch. Einen besonders schönen sogar. Mit direktem Ausblick auf einen Platz, auf dem sich das Leben so abspielt, wie wir es in der Stadt lieben. Einmal sind wir zwei, drei Tage vor dem 24. Dezember in einem Erker dieses Restaurants, gleich hinter dem Fenster, gesessen. Weihnachtsdekoration, Stände und die vielen Lichter waren frisch verschneit. Die angebotenen Weihnachtsbäume sahen wie echte kleine Nadelwäldchen aus. Die Menschen stapften hin und her durch das Schneetreiben. Wir waren so glücklich, in dieser Stadt zu leben. Ja, das ist es, zu leben. Immer wieder fragt sie nach den Details unserer Intrige. Ich lobe die Rolle, die ihr geliebter Sohn gespielt hat. Wir stoßen an. Nicht mit Champagner, das fänden wir zu banal. Mit einem südsteirischen Sauvignon. Fest steht jetzt: Den einen Krebs hat sie nicht mehr. Den anderen Krebs hat sie nie gehabt. Sie ist gesund. Ich sage ihr nicht, dass ich mittlerweile einen Krebs habe. Keinen organischen. Einen im Hirn, also in der Psyche. Er hat sich in den Tagen der großen Angst festgesetzt und ich weiß nicht, wie ich ihn loskriegen soll. Den ganzen Herbst, den ganzen Winter leide ich anfallsweise. Die Vorstellung, bald allein zu sein, hat Überlegungen ausgelöst: Das
Frühstückszimmer hinter der Küche, mit dem kleinen Kaffeehaustischchen und den Thonetstühlen, der Platz unseres Frühstücks zu zweit oder der schnellen Mittagspasta darf auf keinen Fall so bleiben. Das hielte ich nicht aus. Mein Bett würde ich an den Platz verlegen, wo jetzt ihres steht. Mit der überperfekten Küchenausstattung könnte ich überhaupt nichts anfangen. Da müsste alles weggegeben werden, was mich überfordert, wo ich mich nicht auskenne, auch das viele Besteck wäre unsinnig und was nicht noch alles. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich vor mir geschämt habe? Aber wie reißt man sich einen Hirnkrebs heraus? Mich fasziniert ihre Emanzipation vor der Prothese, ihre totale Souveränität. Unser Leben geht seinen Gang. Das einzig Unnormale ist die Notwendigkeit der Kontrolle. Sie verläuft ohne jeden Befund. Sie zeigt das Ergebnis mit allen Daten dem Prof. Petrosjan, kommt glücklich nach Hause und wiederholt seinen Satz: Sie sind gesund. Das ist vor dem Hintergrund aller Ereignisse ein großer Satz. Er frisst sich ein. Sie sind gesund. Im Frühjahr gibt es in Berlin die Uraufführung meiner Komödie Galanacht, mit mir in der Rolle, die ich für mich geschrieben habe. An der Entstehung dieser Komödie hatte sie einen kleinen, aber entscheidenden Anteil. Eigentlich nur durch einen Satz. Also, das ist jetzt verwirrend, daher erzähle ich es ordentlich. Mein Kabarettpartner Dieter Hildebrandt, der – es ist mir unmöglich, das nicht zu erwähnen – den Krebstod seiner ersten Frau drei Jahre lang begleitet hatte – war mit mir auf Tournee, als wir im Bus die Idee hatten und weiterspannen, einmal, im richtigen Alter, miteinander die Komödie Neil Simons »Sunshine boys« spielen zu wollen. Dazu war es nun vor ein paar Jahren tatsächlich gekommen. Ich arbeitete gewissermaßen zum ersten Mal als richtiger Theaterschauspieler, war – sagte man – gut und fühlte mich
vor allem auch so. Du hast die Vorstellung gesehen, wir waren danach miteinander essen, du kannst es bezeugen. Nach einhundertvierzig Vorstellungen machten wir zum Entsetzen des Tourneeunternehmers Schluss. In mir aber war die unendliche Lust eingepflanzt, Theater zu spielen. Ich suchte nach einem Stück, das ich, so wie den Neil Simon für uns, für mich bearbeiten könnte. Ich hatte Ideen, verwarf sie wieder, wälzte die Sache hin und her, da sagte sie: Sag einmal, warum schreibst du es dir eigentlich nicht selbst? Damit löste sie aus, was bei mir da, aber blockiert war. Da ich eines lange zurückliegenden Tages beschlossen hatte, kein Bühnenautor zu sein, gab es eine Sperre, das nach vielen Jahren zu widerrufen. Diese Sperre fand sie unsinnig. Und bald ich auch. Ich wollte mein wie immer ziemlich chaotisches, mit Filzstift verschmiertes, mit Klebestellen verunstaltetes Manuskript einem Schreibbüro geben, damit eine Computerfassung hergestellt wird. Sie aber sagte, ich schreibe das ab. Sie hat immer alles von mir ins Reine geschrieben, sie hat immer widersprochen, wenn ich gemeint hatte, mein Schreibmaschinenschriftbild sei – fotokopiert – durchaus aus der Hand zu geben. Wie sie bei der Arbeit saß und ich an ihr vorbeiging, hob sie den Kopf und sagte – mag sein, weil ich mir einen ziemlich demontierten Typ geschrieben hatte –: Ich habe seit Jahren nichts mit einem derartigen Vergnügen abgeschrieben. Dann begleitete sie mich nach Berlin, schwamm während der Probenzeiten im Hotelpool, hatte eben auch im Hotelleben kein Problem mit ihrer Behinderung, saß in der Premiere und genoss den Erfolg. Dann ist der Sommer da. Der Sommer am See. Der erste, sagen wir es jetzt einmal laut, mit der außen getragenen Blase. Sie trägt sie. Sie fragt sich nicht panisch, sieht man es im einteiligen Badeanzug oder sieht man es nicht? Sie weiß, man sieht es, wenn man genau hinsieht, wenn nicht, dann nicht. Ich
weiß, wie man einen Sommer am See genießen kann. Aber diese Intensität von Etwas-in-sich-Hineinziehen ist ohne Beispiel. Die Freunde, die kommen, mit uns schwimmen, essen, trinken und reden, sind begeistert von dieser Art des Bewältigens einer Situation. Der einzige Mensch, der schlecht schläft, der schlecht träumt, bin ich. Der okkulte Hirnkrebs lässt mich immer fragen: Und wenn es der letzte Sommer ist? Darauf deutet überhaupt nichts hin. Aber kann es denn sein, dass der aggressivste der Tumore wirklich radikal und keimlos entfernbar war? Was ist denn, wenn sich, als einziger der bis jetzt mit der Sache befassten Ärzte, der Primarius Steinitz nicht geirrt hatte? Er hat den Körper doch als Einziger geöffnet gesehen. Der spätsommerliche Abschied vom See ist doppelt belastet. Denn irgendetwas hat sich gewölbt. Das muss man – es ist zum Hasswort geworden – abklären. Dr. Kann, über das gesunde Aussehen hocherfreut, konstatiert einen Narbenbruch. Mir fällt ein, den hatte der Dr. Steinitz als eine der Möglichkeiten für die Notwendigkeit einer Nachoperation erwähnt. Die Kleinigkeit wird erledigt. Rundherum ist alles in Ordnung. Sie macht für sich, was möglich ist. Sie schwimmt regelmäßig, lässt sich massieren, der Bauch ist flach und schön. Es grassiert ein Grippevirus, ein Darmgrippevirus. Wir fangen ihn uns parallel ein. Wir laborieren etwa drei Wochen. Wir nehmen beide ab. Zu meinem Leidwesen nehme ich danach sofort wieder zu. Sie nicht. Sie hat Schmerzen. Sie spricht von Unwohlsein, von Schwächeanfällen. Es muss also ein Blutbild gemacht werden. Die Werte sind katastrophal. Ich rufe Freund Rainer an, auch meinen Schwager, den Arzt in Ruhe. Der sagt einen lieb gemeinten, aber mich durchrüttelnden Satz: Die müssen sich geirrt haben. Sie haben sich nicht geirrt. Natürlich gehen wir jetzt nur mehr zum Krebspapst, zu Prof. Petrosjan. Aber nicht mehr in die Universitätsklinik. Irgendwann einmal hat der liebe und
besorgte Prof. Petrosjan gesagt, lassen Sie sich im Labor die Werte machen und kommen Sie damit zu mir in die Praxis. Diese Lebensqualität im Kampf gegen den Tod will man natürlich nicht missen. Man legt bei der eleganten Empfangsdame pro regelmäßiger Begegnung einen erstaunlichen Betrag ab, um sich über sein Befinden unterhalten zu können oder sich Werte von einem Laborblatt vorlesen zu lassen, die man im Grund auch selbst lesen und sogar bewerten könnte, zumal die Normwerte da stehen und die Abweichungen telefonisch übermittelbar wären. Aber Überlegungen dieser Art verbieten sich, wenn man Angst hat. Wenn man keine hat, stellt man sie nicht an. So erklärt sich der unveränderbare Graubereich zwischen der ärztlichen Betreuung im Krankenhaus und in der Privatpraxis von ein und demselben Arzt. Prof. Petrosjan verordnet schwere Antibiotika. Freund Rainer sagt mir am Telefon, die hätte er auch gegeben. Nach einer Woche werden die Werte wieder kontrolliert. Sie sind nicht besser. Aber, das hätte ich jetzt beinahe zu erzählen vergessen, der Tumormarker ist im grünen Bereich. Es handelt sich also, erfährt sie von Prof. Petrosjan, nur um eine Entzündung. Die Frage: welche? wird eine genaue Untersuchung erfordern. Dafür wird eine Einweisung in die Privatklinik mit Hotelkomfort empfohlen. Wir sind wohlhabend und gut versichert. Können es uns leisten. Für uns, denke ich mir oft und male mir aus, wie wir dastünden, hätte ich keinen Erfolg – du erinnerst dich, den von ihr eingeforderten – gehabt. Die Tage in der Privatklinik bringen keinerlei Erkenntnisse, auch keine wesentliche Besserung. Ich stehe vor einer Tournee mit meiner Galanacht. Ich frage Prof. Petrosjan, ob ich sie allein lassen kann, darf. Er sagt, ihr Zustand ist unbedenklich. Man werde die Darmentzündung sicher in den Griff kriegen.
Beim Abschied halte ich ihre Hand zu lange. Das könnte ihr Angst machen, denke ich und lasse los.
5.
Ich bin auf Tournee. Wir sind getrennt. Diese Trennungen, wir haben sie schon oft und oft durchlebt, sind eine ganz besondere Art des Zusammenseins. Die Telefonrechnungen steigen ins Gigantische. Aber sie sind nichtig vor der Gewissheit, eine Basis zu haben. Das ist natürlich nur meine Perspektive, das weiß ich schon. Was ist ihre? Ich habe sie nie gefragt, ich kann nur vermuten. Es muss auch schön sein, etwas in einer Umlaufbahn zu haben, von dem man weiß, es landet wieder. Diese Tournee unterscheidet sich aber von allen bisherigen. Ich telefoniere nicht so häufig mit ihr, dafür pausenlos mit unserem Sohn. Ich habe Angst, meine Angst zu übertragen. Bei ihrem Geburtstag wird sie nicht allein sein, ich meine jetzt nicht den Freundeskreis, ich meine die Familie. Der Sohn kommt rechtzeitig vom Skifahren zurück. Zum Geburtstag der Freundin ist sie eingeladen. Sie geht aber nicht hin. Sie hat ständig Durchfall, sagt sie mir. Sie wagt sich nicht aus dem Haus. Sie hat auch Magenweh. Ich will sie beruhigen, Prof. Petrosjan hat wörtlich gesagt, ihr Zustand hat mit ihrer Primärerkrankung nichts zu tun. Das sei durch den Tumormarker gesichert. Der Bus rollt. Ich bin beim besten Willen nicht in der Lage, vor mir zu begründen, warum ich im Bus sitze. Wie kann man etwas tun, was man so sinnlos findet wie ich zurzeit das Theaterspielen? Wird sie zu mir herfliegen können? Immer wieder frage ich am Telefon, ob sie abgenommen hat? Immer warte ich auf ein Nein. Ich höre es aber nicht. Manchmal sagt sie, sie wäre seit Tagen nicht auf der Waage gestanden. Ich weiß, dass sie lügt. Der Sohn hat erfahren, dass der Nachbar
am See einen Baum gefällt hat, ohne uns zu fragen. Ich bin wehrlos. In einem umfassenden Sinn. Das also auch noch? Und schon regt sich mein Hirnkrebs? Würde ich das Haus am See, ihr Lebenswerk, allein bewältigen können? Halten können? Es überträgt sich telefonisch: Es geht ihr gar nicht gut. Sie kommt nach Hamburg. Sie war im Flugzeug auf dem Klo. Sie muss im Flughafen schon wieder. Wir haben uns jetzt zwei Wochen nicht gesehen. Sie sieht spitz aus. Zum Erschrecken. Wir gehen zum angeblich besten Chinesen der Stadt. Sie isst nichts. Abends fährt der Bus eine Stunde zur Gastspielbühne. Sie will unbedingt mitfahren, die Vorstellung sehen. Sie hat aber Angst vor der Stunde. Sie wird aufs Klo müssen, sagt sie. Sie fährt. Die Vorstellung gefällt ihr sehr. Sie genießt den Erfolg. Ich bin froh. Die Abwesenheit wäre doch überhaupt nicht zu rechtfertigen, wäre man nicht mit Qualität unterwegs. Sie will zwei Nächte bleiben. Aber schon die erste Nacht ist eine Höllennacht. Sie muss ununterbrochen aufs Klo. Ich höre Geräusche. Habe immer das Gefühl, es handelt sich um Erbrechen. Sie beruhigt mich, fast heiter, es handle sich nur um braunes Wasser. Am Morgen hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie nähme mir den Schlaf. Das ist kaum zu ertragen. Es ist Sonntag. Ich rege an, schon heute heimzufliegen, um morgen früh sofort zum Arzt gehen zu können. Sie ist erleichtert über meine Initiative. Wir beschaffen ein Ticket, verständigen den Sohn von der verfrühten Heimkunft. Wir bleiben den ganzen Tag im Bett. Wir reden nicht viel. Ich streichle sie ununterbrochen. Dabei ertappe ich mich plötzlich wieder bei der Idee, das Klavier in die Bibliothek zu stellen. Scham. Schweißausbruch. Im Taxi zum Flughafen sagt sie: Das nächste Mal ist es anders. Welche Bedeutung einfache Worte haben können: Das
nächste Mal. Anders. Vor der Vorstellung noch ein Anrufversuch. Es klappt. Sie ist gut gelaunt. Der Sohn hat sie abgeholt. Sie wird nach der Vorstellung noch einmal anrufen und mir die Wahlergebnisse durchgeben. Der Sohn die der Eishockeyliga. Wir leben miteinander. Noch zwei Wochen Tournee. Am nächsten Tag ruft sie am Nachmittag an. Ob ich den Mittagsschlaf schon hinter mir habe? Natürlich. Morgen legt sie sich in die Universitätsklinik. Sie war bei Prof. Petrosjan in der Praxis. Die Kapazität hat die Einweisung angeordnet. Ihr Zustand gefiele ihm nicht mehr, hat er gesagt. Das verstehe ich nur zu gut. Heute hat sie Zeit, ihr Köfferchen in Ruhe zu packen. In welcher Ruhe? Im Packen hat sie schon Routine. Ich sage, sie muss mich morgen früh anrufen, bevor sie geht. Ich muss ihr alles Gute wünschen. Also das Wunder wünschen. Das wird aber schon sehr früh sein. Na und? Werde ich mich beherrschen können? Oder werde ich verstummen, aus Angst, meine Stimme könnte mich verraten? Jetzt heule ich, während ich dies denke. Ich sitze im Tourneebus auf der Fahrt vom Hotel ins Theater. Sie packt jetzt. Sie bringt alles in Ordnung. Ich glaube nicht, ich weiß: Sie macht den Safe auf. Sie überprüft, ob alles so aufgeschrieben ist, dass ich mich auskenne. Für den Fall, dass. Damit ich mich zurechtfinde. Wo die Reinigung ist, wird sie mir nicht aufschreiben. Sie weiß ja, dass ich es weiß. Ich war schon mit ihr dort. Aber ich habe vergessen, wo die Reinigung ist. Werde ich irgendwo eine Rechnung finden? Oder eine Eintragung im privaten Telefonregister? Spinne ich? Bin ich wahnsinnig? In zehn, nein: acht Tagen bin ich bei ihr, kann ich sie alles fragen. Sie wird leben. Sie wird sogar wiederhergestellt werden von den vielen Kapazitäten, die Prof. Petrosjan in der Universitätsklinik um sie versammeln wird. Sie wird auch den nächsten Sommer am See noch genießen.
Mindestens den. Es wird die bisher schwerste Vorstellung. Hemma, die Partnerin, muss doch die roten Augen bemerken. Und wenn schon. Das Publikum ist am Ende besonders frenetisch. Heute hätte sie dabei sein müssen, denke ich mir. Dann rinnt der Wein in mich hinein. Am Morgen das Telefon. Der Sohn kann sie nicht in die Klinik bringen, er ist in der Redaktion unabkömmlich. Sie fährt allein. Das macht mich wahnsinnig. In der Universitätsklinik wird sie nicht den Komfort des Klinikhotels haben. Aber sehr viele Ärzte. Da wird ein etwaiger Irrtum einer einzelnen Kapazität gar nicht möglich sein. Man hat eine Stuhlprobe gemacht. Rainer, dem ich davon berichte, begreift nicht, warum erst jetzt. Aber immerhin. Es gibt einen Befund. Der ist wie eine Erlösung. Es handelt sich um eine ganz schwere Darmentzündung. Verursacht durch einen bestimmten Keim. Der ist selten und tückisch. Aber alles ist reparabel. Es ist höchste Zeit für einen Rundruf bei allen Freunden. Die sind erleichtert. Sie haben schon geglaubt, dass sie ihren Zustand schönt oder die Ärzte ihr nicht die Wahrheit sagen. Das von Prof. Petrosjan ursprünglich angeordnete Antibiotikum war für diesen Keim ungeeignet. Das steht fest. Jetzt nehmen wir ein ganz anderes. In ein paar Tagen müsste alles gut sein. Ich fühle mich erleichtert, erzähle dem Ensemble von der Frohbotschaft. Es ergibt sich eine kleine Siegesfeier. Warum traue ich tief drinnen dem Frieden nicht? Zwei Tage darauf der Zusammenbruch. Sie hat die schwerste Krisennacht hinter sich. Jede halbe Stunde braunes Wasser. Unter Krämpfen abgesondert. Sie zwingt sich zum Frühstück. Erbricht es sofort. Verzweiflung. Ich habe noch neun Vorstellungen. Täglich der Kampf gegen meinen Hirnkrebs. Werde ich kochen lernen? Wieso werde? Wenn schon, dann würdet Nein. Ich käme mir idiotisch vor. Die heilige Stätte der
Weltmeisterin entweihen? Niemals. Herr, oder wer auch immer, lasse die letzten drei Tage vorbeigehen. Für die Bekämpfung des Keims, dessen wohl lateinischen oder sonst komplizierten Namen ich vergessen habe, ist nun eine aus einer anderen Abteilung zugezogene Frau Professor zuständig. Die hält es durchaus für möglich, dass dieses neue Antibiotikum den Darm angreift. Dessen Anwendung sei aber geboten. Sie hält den weiteren Aufenthalt in der Universitätsklinik nicht für sinnvoll, denn die Antibiotika könne man ja auch zu Hause einnehmen. Die Patientin wird entlassen. Die Werte werden nicht besser. Die Schmerzen lassen nicht nach. Wenn ich heimkomme, wird alles gut, sage ich. Der Tourneeabschlussrausch könnte eine erfolgreiche Zeit feiern, aber er löscht nur das miese Gewissen und das Leiden an der täglichen Hilflosigkeit, nicht neben ihr sein zu können. Ich komme nach Hause. Der Komödiant ist gefordert. Ich darf nicht eine Zehntelsekunde erschrecken, ein mageres, altes Mädchen vor mir zu sehen. Ich darf ihren Anblick nicht durch übertriebene Lockerheit überkompensieren. Ich darf ganz einfach nicht bemerken, wie anders sie aussieht. Das kann ich für sie tun. Sonst nichts. Sie mag nicht essen. Sie erbricht. Sie hat pausenlos Stuhldrang. Aber immer ohne Ergebnis. Ihr Anus wird wund. Die Nächte setzen sich aus zehnminütigen Schlafversuchen zusammen. Ich liege im Zimmer daneben. Die Türe ist offen. Ich muss hören, wie sie aufsteht. Ich muss wissen, wie sie zurückkommt. Manchmal frage ich. Manchmal nicht. Ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass der Dr. Steinitz, der Urologe in der Provinz, recht gehabt haben muss. Aber dieser Verdacht ist objektiv nicht zu rechtfertigen. Sie hat mir erzählt, dass Prof. Petrosjan beim letzten Besuch in der Praxis beinahe ungehalten war, als sie selbst diesen Verdacht äußerte. Sie haben keinen Krebs!, hatte er
wortwörtlich und mit einer kleinen Schärfe gesagt und diese Aussage mit den letzten von Prof. Kann gelieferten Werten begründet. Die Computertomografie zeigt nichts Verdächtiges, der Tumormarker ist einwandfrei. Da fällt mir ein, was sie mir erzählt hat von dem Tag, an dem sie zur großen Durchuntersuchung in die Universitätsklinik gegangen war. Da hatte sie im Gang den Prof. Kann getroffen und der hat in aller Jovialität gefragt: Was machen Sie denn da? Sätze dieser Art sind Glückssache. Die Nächte sind ein Grauen. Die Tage bestimmt durch ihr verzweifeltes, trotziges Bemühen, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Ich soll Gäste einladen. Sie will endlich wieder einmal kochen. Was geschieht medizinisch? Wir warten auf neue Blutwerte. Auf die Auswertung neuer Stuhlproben. Die Freunde ängstigen sich. Deren Obsorge ist für sie ein wundersames, schmerzstillendes Narkotikum. Aber der Zustand ist unhaltbar. Freunde empfehlen alle möglichen Ärzte. Meine Schwester gar irgendeine Alternativmedizin. Ich habe Mühe, mich zu beherrschen. Wenn Naivität wüsste, wie zynisch sie oft sein kann. Gibt es nichts, was ihr Freude macht? Doch. Der Sohn lässt sich scheiden. In solchen Lebenslagen nimmt man alles. An Schlafen ist nicht mehr zu denken. Die Nächte sind makabrer Slapstick, eine perverse Scheißhausgroteske. Jetzt beginnt ein Ablauf, der für diese Stadt charakteristisch ist. Eine Freundin ruft an. Der hat eine andere Freundin gesagt, sie kenne den Chef der Städtischen Krankenhäuser. Der hätte schon vielen geholfen. Ich frage nicht einmal, ob der Mann Arzt ist, oder falls, mit dem Fach Orthopädie oder Kinderheilkunde. Ich rufe einfach an, damit irgendetwas geschieht. Der Mann – ein Internist – hört sich alles an. Dann meint er, seiner ganz persönlichen Meinung nach sei auf dem Gebiet der Onkologie der Prof. Lasker im Magdalenen-
Krankenhaus der beste Mann. Den kenne er persönlich auch sehr gut, den werde er anrufen und der würde sich dann sicher bei mir melden. Ich bedanke mich. Einige Zeit später erreicht mich der Anruf des Prof. Lasker. Der Mittelsmann scheint ihm meine Lage sehr genau wiedergegeben zu haben. Ja, er hätte ein Einzelzimmer mit freiem Bett. Sie solle sofort kommen. In der Klassenmedizin ist der Promistatus segensreich. Ich habe schon bekannt, ihn ohne Scham zu nützen. Aber mit Wut, dass er nützt. Dennoch halte ich – nach alledem mehr denn je – die Bekämpfung der Klassenmedizin für nötig. Das Einzige, was mich jetzt als Genießer von Privilegiertheit entlastet, ist der Verdacht, sie müsse, was das medizinische Ergebnis betrifft, nicht immer nützen. Ich bringe sie ins MagdalenenKrankenhaus. Prof. Lasker ist ein schlanker, leiser, sensibler Mann. Meine Nervosität oder Überintensität bringen ihn nicht aus seinem ruhigen Tonfall. Das ganze Umfeld dieser Klinik ist nicht so bedrohlich wie das der Universitätsklinik. Hier gibt es Zwischenräume. Bäume. Bänke. Wege. Hier ist es menschlicher. Wenn man mit dem Wort Mensch mehr verbinden will als eine Patientennummer. Es sei durchaus denkbar, sagt Prof. Lasker, dass die schrecklichen Zustände von diesem bewussten Keim verursacht seien. Dessen Vorhandensein ist eine schwere Erkrankung. Man werde dagegen etwas unternehmen. Sie ist nur mehr Haut und Knochen. Aber jetzt wird alles gut. Ich präge mir die U-BahnLinie, den Umstieg und den Fußweg ein. Seltsam. Die idiotische, vorgeblich bürgerliche Erziehung verschuldet immer noch ein flaues Gefühl, sich vor Autoritäten nicht so zu verhalten, wie die es kraft ihrer Autorität zu erwarten haben. Wird die erste Kapazität beleidigt sein, weil ich mich jetzt an eine zweite Kapazität gewandt habe? Der Prof. Petrosjan, immer gnadenlos an erster Stelle, wenn auflagenheischende Publikationen das Ranking der Promiärzte
veröffentlichen, war für sie da, hat sich um sie gekümmert. Es gibt die Götter in Weiß nicht mehr. Und doch bin ich vor ihnen unemanzipiert. Ich frage mich besorgt, wie ich den neuen Arzt vor dem alten Arzt begründen werde. Reicht die Angst vor dem Tod nicht aus? Der Prof. Petrosjan hat wortwörtlich zu ihr gesagt: Wir wüssten nicht, wo wir noch suchen sollen! Damit hat er sie mit ihrem Leiden allein gelassen. Sich für nicht mehr zuständig erklärt, ganz einfach aufgegeben. Ich fürchte, ich kann meinem Vorsatz, nicht wütend zu werden, nicht entsprechen. Denn vor welcher Situation stehen wir: Eine Kapazität erklärt, sie hätte keinen Krebs, er wüsste nicht, wo man noch nachschauen könnte, sie hätte nur Keime, die man antibiotisch behandeln muss. Gut. Man schickt sie nach Hause. Im in der Klinik doch unübersehbaren Wissen, dass sie kreatürlich leidet wie ein angeschossenes Tier. Nur weil die Koordinaten der Kapazitäten nicht eins zu eins anwendbar sind, lässt man sie in einer Verfassung ziehen, die nach, wenn schon nicht Therapie, dann doch Behandlung, Narkotikum schreit. Sie, die in den allerbesten Händen ist, ist in gar keinen. Soll ich das tatenlos hinnehmen? Ich schreibe ihm einen Brief. Meine Frau könne den nächsten Praxistermin bei ihm nicht wahrnehmen, weil wir zunächst einmal die Sache mit dem Keim geheilt wissen wollen. Danach würde sie sich melden. Ich denke, dass sie das, komme, was wolle, nicht tun wird.
6.
In meinen Mittagsschlaf läutet das Telefon. Es meldet sich das Sekretariat des Prof. Lasker. Wenn ich meine Frau heute noch besuche, soll ich den Entlassungsbefund, das Entlassungsprotokoll mitbringen. Was? Welche? Die aus dem Krankenhaus, wo die erste Operation stattgefunden hat. Also die mit dem Magenkrebs. Die mit der Unterschrift des Mannes, der noch am selben Abend starb. Ich sitze bei ihr in dem nicht schönen, aber freundlichen Zimmer. Mit diesem Zimmer können sich Hoffnungen verbinden. Ich verkünde die Stunde null. Ab jetzt wird kuriert. Sie erzählt mir, der Prof. Lasker finde sich mit den nach wie vor miserablen Blutwerten nicht ab. Er wisse allerdings durchaus, wo er noch suchen soll. Es wird ein Becken-CT gemacht und ein Knochen-CT. Oder muss es heißen eine? Vor der Medizin sind wir auch grammatikalisch hilflos. Es geht einfach um den abermaligen Check: kein Krebs. Ihr Essen kommt. Gemüsereis. Sie entschließt sich, nimmt einen Löffel. Denn ab jetzt geht es aufwärts. Sie erbricht in derselben Sekunde. Das neue Zimmer im neuen Krankenhaus hat seine Unschuld verloren. Ich spreche mit Prof. Lasker auf dem Gang. Ob das Schlimmste zu befürchten sei, will ich wissen. Er sagt, bevor wir jetzt in Panik ausbrechen, ist eine Reihe von Untersuchungen nötig. Ich werde nahezu zornig. In der Universitätsklinik sind doch alle gemacht worden! Er sagt nicht: Wie bitte? Er denkt es sich. Sehr höflich zählt er einige auf, die er für ein Gesamtbild für unerlässlich hält. Ich, in meiner ohnmächtigen Wut auf die Universitätsklinik, auf den Krebspapst, nehme mir vor, sie mir zu merken. Bis auf
Magnetresonanz gelingt mir das nicht. Dann gibt es auch etwas ganz Neues, offenbar nur hier. Warum das so ist, erfahre ich nicht. Jeder Versuch einer fairen Wertung ist für den Laien nicht möglich. Er kann glauben oder nicht. Er kann Ärzte sympathischer oder vertrauenswürdiger finden oder nicht. Was er nicht kann: beweiskräftig urteilen. Es regnet. Der Weg zur U-Bahn ist zu lang. Ich bin schon ziemlich nass. Ich halte ein Taxi auf. Ich will zum Hauswirt. Denn sie hat gesagt: Du musst was essen! Sie mir. Sie hat erwogen, welches unserer Stammlokale heute das Richtige wäre. Sie hat sich für den Hauswirt entschieden. Die Kellnerin fragt freundlich, aber ich empfinde es als inquisitorisch: Sind Sie allein? Ja, ich bin allein. Aber noch nicht ganz. Ich bin der mit der kranken Frau. Diesen Satz denke ich mir, weil es vor vielen, vielen Jahren geheißen hat: Das ist der mit der netten Frau. Der tschechische Kellner fragt im Vorbeigehen: Alles gut? Die Geschäfte? Das ist das Wichtigste. Ich widerspreche nicht. Das sind die Tage, an denen Fußball im Fernsehen und Wein im Kühlschrank einen nie gekannten Stellenwert haben. In der Nacht der Gang auf das Klo. Ich trete ganz leise auf. Ich schließe die Tür lautlos. Wozu? Sie ist ja gar nicht hier. Ich bin doch allein in der Wohnung. In der viel zu großen Wohnung. Der Hirnkrebs arbeitet. Die Funktionen von Räumen werden noch einmal vertauscht. Die wesentlichen Bilder umgehängt. Aber was ich mir auch ausmale, die Wohnung wird für mich allein nicht bewohnbar sein. Oder doch? Ich müsste nur… Ich gehe dennoch leise. Sie ist ja hier. Sie ist ja noch hier. Aber sie hat mir gesagt, sie hätte Messer im Bauch. Also hat sie Magenkrebs. Der Prof. Lasker wird ihn finden. Und dann? Werden sie sie mir zerschneiden? Werden sie das müssen? Ist das endgültig? Gestern hat einer vom See angerufen. Ein Weg
soll verlegt werden. Ob ich einverstanden bin. Wird sie ihn noch befahren? Ich höre in der Nacht Windgeräusche aus dem Innenhof, dem Lichtschacht. Hat jemand dem See das Wasser ausgelassen? Ich wache schweißgebadet auf. Ich hole mir den Schachcomputer ins Bett. Ich verliere auf der ersten Stufe jede Partie. Am Morgen fahre ich zu ihr. Sie hat wieder Hoffnung. Sie war nur einmal auf dem Klo. Man hat ihr Opiumtinktur gegeben. Ich frage mich, wird das eine Dauerlösung sein müssen? Wann kann sie endlich wieder etwas Festes essen? Es geht rauf und runter. In das wechselseitige Hoffnungmachen wieder das Erbrechen. Danach die Erheiterung, weil ich erzähle, wie ich das Geld für die Scheidung des Sohnes auf ein paar auszuhändigende Sparbücher verteilt habe. Dann wieder das Ergebnis ihrer Selbstbeobachtung: Es wird immer weniger. Ich soll alte Röntgenbilder mitbringen. Werde ich die finden? Natürlich werde ich sie finden. Wenn man muss, findet man alles. Zu Hause ein Blick auf den Schreibtisch. Da hat sich allerhand angehäuft. Ich habe Scheu, die Papiere durchzusehen. Der Anrufbeantworter mahnt zugesagte Glossen an. Ich kann sie nicht schreiben. Beim besten Willen nicht. Wir hatten einen Flug zu Freunden nach Ibiza geplant. Ich frage die nette Dame im Reisebüro, ob sie die Tickets zurücknimmt. Der nächste Tag beginnt mit einem Frühtelefonat. Sie hat eine gute Nacht gehabt. Ich hole sie von einer Lymph-CT ab. Wir gehen zu Fuß. Die Sonne scheint. Der Frühling kündigt sich mächtig an. Wir sind übermütig. Die Visite kommt. Der besonders gewinnende Prof. Lasker mit einem eher introvertierten jungen Oberarzt, einer schönen jungen Ärztin und der üblichen begleitenden Gruppe. Sie gibt an, dass es ihr besser geht. Das freut den Prof. Lasker. Aber übermorgen wird er noch eine wichtige Untersuchung durchführen lassen. Deshalb übermorgen, weil
es da erst den ersten möglichen Termin gibt. Andere warten also zwei Monate, denke ich mir sofort. Ich stehe unschlüssig im Gang. Ich habe das Gefühl, mit dem Prof. Lasker reden zu müssen. Er hat das Gefühl auch. Er kommt und bittet mich in die Sitzgarnitur. Ich sage, sollte sich etwas Böses herausstellen, bitte sagen Sie es nur mir. Nur mir. Er nickt. Sie halten es also bereits für möglich? Er bejaht. Aber der Tumormarker war doch o.k. Der ist nicht beweiskräftig. Außerdem, mittlerweile steigt er ständig. Aber er glaubt nicht an die Diagnose des toten Operateurs. Es ist kein Magenkrebs. Den könnte der Magenspezialist bei der Gastroskopie gar nicht übersehen haben. Es ist ein anderer Krebs. Mich dreht es. Ich entschuldige mich im Geist bei Prof. Kann für den Vorwurf der Blindheit und bei Prof. Petrosjan, was seinen Glauben an die Befunde des Prof. Kann betrifft. Aber Moment! Wofür entschuldige ich mich denn? Sie hat ja einen Krebs. Und hat der Prof. Petrosjan nicht zwei Sätze wortwörtlich gesagt?: Ihr Zustand hat mit Ihrer Primärerkrankung nichts zu tun. Wir wüssten nicht, wo wir noch suchen sollen. Besonders den zweiten Satz begreife ich angesichts der hier stattfindenden Aktivitäten überhaupt nicht. Es ist Krebs. Wir sind zu dritt im Zimmer. Sie, die Psychologin Ilona und ich. Ilona ist die Frau des vor der Abberufung stehenden Chefs der gemeindeeigenen Krankenhäuser, also jenes Mannes, der mich an Prof. Lasker vermittelt hat. Ilona war uns von Anfang an eine Lichtfigur. Sie hat erklärt, getröstet, getratscht. Wir bereden die Lage. Plötzlich eine jähe Erkenntnis meiner Frau. Laut stößt sie sie heraus: Jetzt bin ich eine ganz normale Krebspatientin! Sie umklammert mich und heult. Ilona heult sofort mit. Dieses normal hat eine furchtbare Bedeutung. In der U-Bahn trachte ich ganz vorne, in der ersten Reihe zu sitzen. Es würde
die Menschen verwirren, dass sich da ein massiger älterer Herr dauernd die Augen auswischt. Der Produktionsleiter einer TV-Show hat angerufen. Er muss die Flüge fixieren. Eine längst ausgemachte Lesung in Deutschland steht auch an. Ich werde das nicht machen können. Aber sie kennt doch diese Termine alle. Ich darf nicht an ihrem Bettrand sitzen bleiben. Das vermittelt ihr doch, dass es ganz ernst um sie steht. Ich weiß, dass sie es weiß. Sie weiß, dass ich weiß, dass sie es weiß. Wir werden uns das eingestehen. Aber noch nicht. Noch lange nicht. Ich werde zurückrufen und alle Termine zusagen. Und dann, allein in der Wohnung, der rastlose Hirnkrebs. Was von den Möbeln kann der Sohn brauchen? Wie baue ich um, dass mich die Räume nicht mehr zur ständigen Erinnerung zwingen? Die Bibliothek hat sie umgestaltet und zu ihrem Lieblingsraum gemacht. Die muss ich rückbauen. Oder versetzen. Fieber: Ich beginne sie zu fragen, wohin ich was stellen soll, wenn sie nicht mehr da ist? Ich hau mir aufs Hirn. Man muss doch diese Panik beherrschen können. Es ist doch unerträglich, dass ich fürchte, mir mehr Leid zu tun als sie. Dass mich mein Weiterleben mehr beschäftigt als ihr Nichtmehrweiterleben. Unser Sohn ist bei ihr. Wir blödeln zu dritt durchs Telefon. Ich hatte seine Hochzeit beim Heurigen bezahlt. Jetzt seine Scheidung zum horrenden Betrag X. Ich sage, ich konnte mir einen Heurigen um Summe X leisten. Wann stünde der nächste an? Ich treffe einen Journalisten. Der will von mir wissen, was ich demnächst und danach mache. Es macht Mühe, sich zu konzentrieren. Es darf in meine Antworten nichts einfließen, was mit dem Untertext zu tun hat: Wenn ich dann wahrscheinlich allein bin. In den Mittagsschlaf ein Triumphanruf. Die Todgeweihte hat erfahren, dass dieser schreckliche Keim weg ist. Sie ist nicht
mehr in Quarantäne. Ich juble mit. Wir freuen uns. Wir führen wieder das Es-geht-aufwärts!-Gespräch. Tage des Stillstands. Der Professor ist in Rom. Auf einem Kongress. Ich pendle gewohnheitsmäßig hin und her, hin und her. Sie sagt, da ist was im Bauch. Sie drückt auf dem Bauch herum. Sie diagnostiziert sich. Ich habe einen Auftritt im Konzerthaus vor mir. Die Vorbereitung darauf verwehrt mir den Alkohol. Das ist wahrscheinlich ganz gut. Dieser Fluchtweg darf nicht ununterbrochen offen sein. Mein Sohn weiß noch nichts von ihrer Wahrnehmung im Bauch. Erst wenn der Professor wieder zurück ist, erst wenn irgendetwas Offizielles gesagt wird, werde ich ihm den neuesten Stand sagen. Einstweilen ist nur der Keim besiegt. Ich verbringe viel Zeit bei ihr. Zum Glück äußert sie schon Wünsche nach dieser oder jener Delikatesse. Ich bringe sie mit. In dieser hässlichen, zum Krankenhaus hin leicht ansteigenden Straße gibt es eine Anzahl von Läden, die davon profitieren, dass es den Patienten vor der Krankenhauskost graut. Ein Feinkostladen gibt sich anspruchsvoll. Da kann man auswählen. Das macht mich ziemlich verzweifelt. Ich kann mich irren. Ich habe mich schon geirrt. Wie konnte ich einen Pfefferschinken kaufen? Warum habe ich nicht gewusst, dass sie den noch nie gemocht hat? Sie war ungnädig, weil verletzt. Ich war mir keiner Schuld bewusst. Heute muss ich das Richtige wählen. Ihr Gesicht wird immer schöner, immer mädchenhafter. Es hat so große, dunkle Augen. Durch das Schwinden der Wangen werden sie immer größer. Nur die Falten am Hals kennzeichnen ihr Alter. Ich sitze stumm bei ihr. Plötzlich streift sie meine Handoberfläche und sagt in die Stille: So ein treuer Gefährte. Unglaublich. Das ist ein Satz wie aus dem Jenseits. Denn sie meint nicht diese Treue. Auch nicht ironisch. Das Thema ist längst besprochen. Jedenfalls von mir.
Als es eines Tages Anlass zur Befragung gab, wurde alles gesagt. Von mir. Sie hat geschwiegen. Hat sie verschwiegen? Gab es Revanche? Oder ein anderes, vielleicht sogar großes Gefühl? Welche Fragen vor ihrer Situation! Was auch war, sie hat sich für mich entschieden. Wir haben miteinander gelebt. Es gibt für mich gar keine Berechtigung, jetzt noch darüber nachzudenken. Warum ist mir das ein Satz wie aus dem Jenseits: So ein treuer Gefährte! Es ist das Wort Gefährte. Das hat sie in ihrem Leben noch nie gesagt, nie verwendet. Das ist nicht ihr Sprachschatz. Gefährte ist für uns Pathos. Pathos, wie er erst zwischen da und drüben entsteht. Ich habe mir neue, sehr dunkle Sonnenbrillen gekauft. Das ist zweckmäßig in der U-Bahn.
7.
Am Sonntag hat sie Heimurlaub. Sie geht durch die Wohnung. Immer wieder. Wie ihre eigene Todesgöttin. Sie prüft, ob alles schön ist. Die Wohnung besteht. Ich werde gelobt. Ich sei ordentlich gewesen. Vor Jahren waren wir durch das prächtige Stadtzentrum gebummelt und haben uns – noch in Deutschland lebend – gefragt, wo wir alt werden wollen. Wir hatten uns angesehen und gleichzeitig hier gesagt. Bald darauf begann die Suche nach unserer letzten Wohnung. Wir hatten schon hinreichend oft gewechselt. Diese Wohnung bekam in unserer Beziehung einen besonderen Stellenwert. Die hatte ich gefunden. Es war meine Entscheidung, sie nach der ersten Inspektion und der Begehung der Infrastruktur rundum für ideal zu halten. Als ich meiner Sache sicher war, ging ich zum Telefon, rief sie an und sagte, flieg sofort her, ich habe die Wohnung. Sie ist nicht nur wie für uns geschnitten, sie ist auch in einem Zustand, der so gut wie keine Investitionen erfordert. Sie war sofort hergeflogen, hat die Wohnung begutachtet, war, was die Räume anlangt, ganz meiner Meinung. Meine Feststellung, Investitionen wären so gut wie nicht nötig, ließ sie hellauf lachen. Das Gegenteil war der Fall. Das sieht sie sich jetzt an. Dann liegt sie müde auf dem Bett, dirigiert die Ablagen in die Steuermappe. Sie sagt mir, wo was hingehört. Mein Hirnkrebs meldet sich: Muss ich mir alles merken. Das werde ich alles einmal ohne Anleitung tun müssen. Aber ich werde es doch nicht können, nie, fürchte ich. Am Abend fahre ich sie mit dem Taxi in ihr Krankenhaus.
Das Taxi muss an einer Barriere halten. Den restlichen Weg geht sie. Ich warte stehend, bis sie beim Tor ist. Sie dreht sich noch einmal um. Wir winken. Jeder Abschied hat für mich so etwas Endgültiges. Wie oft kann man sich zum letzten Mal verabschieden? Idiotisch. Mein Auftritt im Konzerthaus, morgen, ist exponiert. Die Plakate kündigen sozusagen einen Klassiker an. Ich weiß oder erwarte, dass viele mir wichtige Leute kommen werden, die sehen oder auch überprüfen wollen, ob ich es noch draufhabe, nach langer Pause. Mein Pianist Christoph kommt zur Probe. Alles lang her, was wir da morgen machen werden. Ohne Rhythmiker. Das wird nicht so einfach. Aber es klappt auf Anhieb erstaunlich gut. Angst habe ich nur vor dem Zustand meiner Nerven. Für Montagvormittag war das Ergebnis der letzten Untersuchung angekündigt worden. Es ist nicht eindeutig, sagt Prof. Lasker. Am Mittwoch wird es eine Sonografie – was immer das ist – geben. Dann wird man mehr wissen. Fest steht allerdings, die Lymphknoten sind vergrößert. Einer soll als Probe herausgeschnitten werden. Wenn Sie einverstanden sind. Wie soll sie nicht einverstanden sein? Ich verstehe ja, dass diese Fragen sein müssen. Aber sie sind widersinnig. Wenn ein verwirrter Mensch in ein fahrendes Auto zu rennen scheint, käme ich mir blöd vor zu fragen: Gestatten Sie, dass ich Sie zurückreiße? Nein, ich möchte kein Krebsarzt sein. Es wird also ein Lymphknoten herausgeschnitten werden. Bedeutet das, das Zerschneiden beginnt? Das werde ich nicht zulassen. Sie darf mir nicht zerschnitten werden. Am Nachmittag machen wir noch eine Klavierprobe. Wiederholen wir die Fehler von gestern? Nein. Vor dem Umziehen versuche ich zu schlafen. Das geht aber nicht. Ich wasche mir die Augen aus. Am Telefon das letzte toi, toi, toi. Ich soll sie schon in der Pause anrufen.
Wir haben großen Erfolg. Nach dem Auftritt verbindet mich mein Sohn mit ihr. Er hat ihr schon gesagt, wie es gelaufen ist. Sie ist überglücklich. Jetzt weint sie hemmungslos, weil sie nicht dabei sein konnte. Da kann auch ich mich schon wieder nicht beherrschen. Betrunkene Auflösung im Freundeskreis. Peter, ihr Trauzeuge, ruft mich an. Er hat sie gestern besucht und ist erschrocken. Der Verfall sei so sichtbar. Wem sagt er das? Prof. Lasker hat nichts von einem Krebspapst. Ich denke mir auch das Wort Kapazität nicht mehr. Er ist nur mehr Arzt. Er sagt mir, bei der Sonographie hat man im Magen nichts gesehen. Es deutet alles auf ein Rezidiv hin. Soll heißen, der Blasenkrebs hat weitergearbeitet. Man wird noch einen Lymphknoten entfernen. Mir wird alles zu verwirrend. Ich habe noch den Satz im Ohr: Ihr Zustand hat mit der Primärerkrankung nichts zu tun. Ich rufe Rainer an. Er soll bitte so nett sein und mit Prof. Lasker reden. Und mir dann alles erklären. Er weiß, ich begreife, wenn man es mir begreiflich macht. Lange rede ich am Telefon mit Ex-Partner Dieter. Ich lasse mir von ihm viel erzählen, wie das damals war mit dem Krebs seiner ersten Frau, wie er sie im Rollstuhl geschoben hat, wie er ohnmächtig zusehen musste, wie sie unter dieser Chemotherapie litt und verweste. Freund Hans-Peter, der sonst nie Zeit hat, ruft mich gegen Abend an. Wir sollten miteinander essen gehen. Freudig sage ich zu. Als wir im Lokal sind, erwähnt er ganz beiläufig, er hätte mit Rainer, der ist auch sein Arzt, gesprochen, der würde mit mir reden wollen und Hans-Peter hätte ihm gesagt, ich wäre über sein Handy erreichbar. Der Anruf kommt. Ich bin noch nicht angetrunken. Rainer sagt, er hat mit Prof. Lasker gesprochen. Es steht fest: Sie hat keine Chance. Es ist nur mehr eine Sache von vier, fünf Monaten. Ich bringe eine
Frage heraus: Und was bringt eine Chemotherapie? Rainer spricht von sinnloser Verlängerung. Er nennt einen maximalen Zeitrahmen. Ich bin mir nicht mehr sicher, welchen, daher gebe ich ihn nicht wieder. Aber er schien mir kein Weiterleiden zu rechtfertigen. Das weiß ich noch genau. Ich habe für die Zeit des Sommers am See eine Inszenierung zugesagt. Traditionsreiche, sommerliche Komödienspiele stehen seit Jahren unter der Leitung meines Freundes Peter Pikl. Dem habe ich einen Oscar Wilde für deren spezifischen Spielstil eingerichtet und er hatte gemeint, den müsse ich aber auch selbst inszenieren. Nun bestand aber ein vor dreißig Jahren gegebener Eid, im Sommer, außer an der Schreibmaschine, nichts zu arbeiten, denn sonst wären Kauf und Besitz des alten Hauses am See unsinnig. Ich habe diesen Eid gehalten. Ich wollte ihn weiter halten, aber sie sagte, in ihrer neuen Lebenssituation wäre es ihr gar nicht unangenehm, mich nicht immer um sich zu haben. Sie würde mich entbinden. Also hatte ich zugesagt. Jetzt, da ich weiß, die Inszenierung liefe parallel zu ihrem Sterben, beschließe ich die Absage. Hans-Peter sagt erregt, der Effekt dieser Absage wäre verhängnisvoll. Das sehe ich ein. Ich sitze im Gasthaus, habe eine Leibspeise vor mir und weiß jetzt, ihr Tod ist beschlossen, terminiert. Hans-Peter begleitet mich nach Hause. Wir schweigen. Ich finde es schön von ihm, dass er mit mir geht. Erst Monate später wird mir klar werden, dass dieser Abend durchgeplant war. Rainer wollte mir die Nachricht in einem Moment sagen, von dem er wusste, ich bin nicht allein. Und Hans-Peter ließ mich nicht allein, bis er wusste, ich bin zu Hause und in der Lage, die Nachricht zu verarbeiten. Ich bin in der Wohnung, rufe den Sohn an. Der ist wunderbar beherrscht. Schwester und Schwager spreche ich auf Band. Der Schwager ruft zurück. Natürlich frage ich ihn, den Arzt in Ruhe, was er riete. Keinesfalls zu einer Chemotherapie, sagt er und gibt eine
Reihe abschreckender Beispiele aus seinem Bekannten- oder ehemaligen Patientenkreis. So denunziatorisch ich mir auch vorkomme, ich muss es sagen: Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Erzählung hat mein Schwager Krebs und ist von den Ärzten aufgegeben. Zu meiner Schwester haben sie gesagt: Das kann jetzt sehr rasch gehen. Ihm aber haben sie eine Chemotherapie angeboten und er hat sie genommen. Es ist eben doch so, dass alles, was wir vor dieser Lebenssituation sagen, müßig ist. Angesichts des Todes entsteht offenbar ein neues Bewusstsein. Man kann es auch anders sagen: Die Menschen – die unserer Zivilisation – haben zu sterben verlernt. Was tue ich jetzt? Es bleibt nur Schach gegen den Computer. Ich wache sehr früh auf. Ab jetzt hat jede Tätigkeit, vor allem die des Kaffeekochens, eine neue Endgültigkeit. Ich bewege mich in einem irrealen Raum. Ich werde dem Professor sagen, er muss ein Hinüberdämmern veranlassen. Aber geht denn das? Darf er das? Sie sagt beim morgendlichen Telefonat: Was werden wir zu Ostern machen? Sie ist voller Sorge, dass sie nichts wird essen können. Wir haben zu Ostern immer gebackenes Kitz gegessen. Sie will das Ritual vor ihrem Zustand verteidigen. Am Vormittag stoße ich auf dem Gang auf den Professor und den ganzen Visitenschwanz. Im Vorbeigehen sage ich: Es hat sich also was ergeben. Ja, sagt er. Näheres später. Ich gehe hinein zu ihr, beginne mit dem Osterthema. Ich versuche die Kurve in den Ernst zu kriegen. Da ist die Visite aber schon da. Der Professor Lasker ist wie immer ganz ruhig. Er holt zu einer indirekten Darstellung des zu Sagenden aus. Sie schreitet ein. Sie ersucht sehr bestimmt um eine ungeschminkte Darstellung ihrer Lage. Der Professor entspricht ihrem Ersuchen. Wenn ich jetzt wiedergebe, was er gesagt hat, kann
es durchaus sein, dass der Begriff Tumormarker nicht stimmt. Aber, was gemeint ist, muss klar sein. Also: Der histologische Befund der entfernten Lymphknoten ist identisch mit dem des aus der Landeshauptstadt angeforderten Präparates der ersten Blasenkrebsoperation. Das heißt, sie hat verbreitete Metastasen jenes aggressiven Tumors. Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Chemotherapie, ja oder nein? Bevor ich diesen Entscheidungsprozess in eine logische Abfolge zu bringen versuche, habe ich etwas nachzutragen: Die eben erwähnte Anforderung des Präparates von der Erstoperation. Denn, frage ich mich, wieso ist man in der Universitätsklinik nicht schon auf die Idee dieses Vergleiches gekommen. Das ist doch unfassbar! Und dann muss ich noch überliefern, dass die Leute in der Landeshauptstadt das Präparat zunächst nicht herausgeben wollten. Da mussten erst Namen genannt, Druck ausgeübt werden. In welcher Welt leben wir? Wir sind mit der Frage Chemo allein. Sie hat sich – Auge in Auge mit mir – Bedenkzeit ausgebeten. Der Arztfreund Rainer hat schon gesagt: sinnlos. Er ist dagegen. Der Schwager ist dagegen. Ich war immer dagegen und bin es mehr denn je. Sie war immer dagegen. Aber, wenn sie jetzt kämpfen will, könnte ich abraten? Es darf doch nicht sein, dass mir aus schierer Selbstsucht ein Ende mit Schrecken lieber ist als ein Schrecken mit hinausgeschobenem Ende. Sie beginnt den Sommer am See zu disponieren. Was ich einzukaufen hätte, was der Zugehfrau für den großen Saisoneröffnungsputz aufzutragen wäre. Ilona, die Psychologin, aber eben längst schon Freundin, führt viele Gespräche mit ihr und mit uns beiden. Sie weiß, es belastet nicht, wenn man über medizinische Fehler spricht, es erleichtert, ja erheitert geradezu. Die Versäumnisse und Unbegreiflichkeiten der Universitätsklinik werden aufgearbeitet. Was natürlich einfach ist, wenn die Beschuldigten nicht zu Wort kommen. Aber, sagt
sie, die uns eben immer auch weitergibt, was die Ärzte hier untereinander sprechen, was sie mithört, der erste kardinale Fehler ging schon von der Erstoperation in der Provinz aus. Man hätte den Tumormarker – und jetzt folgt eine ZahlenBuchstabenkombination oder etwas Präzisierendes in der Art – mitgeben und in dreimonatigem Abstand Kontrollen auf dessen Vorhandensein oder Wiedererstehen anordnen müssen. Der in der Universitätsklinik ermittelte Tumormarker sei gänzlich unspezifisch gewesen. Ich kann das nur zur Kenntnis nehmen. In der Position eines Idioten. Viele, manchmal alle Freundinnen und Freunde, reden ihr zu, die Chemotherapie zu machen. Die Geschichten von Fällen, die mit Gesundheit, mit Besiegen geendet hätten, häufen sich. Ich habe die Gespräche mit Rainer im Ohr. Die Fragestellung: Lebenserwartung X, Lebensverlängerung Y. Rechtfertigt Y den ungeheuren Lebensqualitätsverlust in X? Ich kenne sie. Für sie wäre die Kahlköpfigkeit eine unerträgliche Folter. Mit welchem Recht will ich über ihre Entscheidung verfügen? Ich denke viel über das auf mich gekommene genetische Erbe nach. Ich stamme von zwei Menschen ab, zu deren wesentlichsten Eigenschaften ständig triefendes Selbstmitleid gehört hat. Ich kann also nichts dafür. Oder? Sind alle Menschen so mies oder nur ich? Diese Selbstgeißelung ist doch sinnlos. Der Karsamstag ist da. Wenn mich etwas nicht interessiert, dann ist es die Leidensgeschichte Christi. Ich faxe eine Änderung meiner Wilde-Bearbeitung weg. Noch einmal telefoniere ich ausführlich mit Rainer. Wieder rät er von der Chemotherapie in diesem Fall radikal ab. Der Professor muss ihm wohl ihren Status aktuell und ausführlich dargestellt haben. Rainer weiß, es sind nicht nur die Lymphknoten befallen. Die ganze Bauchhöhle ist voll von Metastasen. Das ist kein Karzinom, erfahre ich, sondern – ich höre ein mir neues Wort – eine Karzinose.
Meine Laieninterpretation heißt: über und über verseucht. Es wird nicht widersprochen. Wir besprechen die ärztliche Betreuung am See. Sie wird bald Wasser im Bauch bekommen und dann geht es sehr schnell. In der U-Bahn fasse ich den Entschluss, die Empfehlung des Arztfreundes zu meiner Anordnung zu machen: keine Chemo. Auf einmal glaube ich, ich darf es sagen. Ja, ich muss. Ich sage es ihr. Sie will den Grund wissen. Ich versuche die Aufrechnung mit Lebenserwartung, Lebensverlängerung und Lebensqualität. Wie groß ist die Lebenserwartung?, will sie wissen. Ich sage, ich weiß es nicht, lüge also, aber irgendwie doch nicht, denn was heißt denn hier: wissen? Und die Ärzte werden ihr, jedenfalls offiziell, keinen Zeitraum nennen. Ich sage, die Entscheidung kann nur deine sein. Ich muss dir nur sagen, was ich denke. Sie entwirft Szenarien der Termine, ihren Lebensstil als Patient. Sie sagt, ich mache keine Chemo. Dann weinen wir. Wange an Wange. Was ich alles zurücklasse, sagt sie. Meint sie das materiell, meint sie unsere Art zu leben, das Leben überhaupt? Man kann einem sterbenden Menschen keine Fragen mehr stellen, die den Bereich des Hast du Schmerzen? wesentlich verlassen. Zwischen zehn und elf Uhr hat sich Professor Lasker zu einem Dreiergespräch angesagt. Sie und ich sagen nichts von unserem Entschluss, also von ihrem Entschluss. Ich stelle die Frage mit X und Y. Seine Antwort macht mich sofort wieder unsicher. Er argumentiert vorsichtig, aber doch sehr zielführend im Sinne seiner ethischen Position. Es würde ihr im Zeitraum X nicht besser gehen, wenn sie nicht chemisch therapiert wird, sodass Y, die Lebensverlängerung, in jedem Falle ein Gewinn ist. In diesem Gespräch erfahre ich im Übrigen, um vollends in den Irrsinn getrieben zu werden, diese als gesicherte Diagnose übermittelte Karzinose sei noch eine Annahme, noch ist nichts bewiesen. Es ist an ihr, dem
Professor zu antworten. Sie hat sich ihre Gegenargumente schon zu Eigen gemacht. Sie sagt ganz klar, sie will den Frühling, den Sommer, den Frühherbst am See nicht durch regelmäßige medizinische Aktionen geschändet wissen. Das ist ihr Stilgefühl, ihre Ästhetik. Dass sie nicht akzeptiert, kahlköpfig gemacht zu werden, fließt wie nebenbei ein. Da meint der Professor nun, es gäbe auch die zweite Möglichkeit einer weicheren Chemotherapie, mit weniger Nebenwirkungen, zum Beispiel mit nur geringem Haarschwund, aber durchaus auch wirkungsvoll. Als eine dritte Möglichkeit erwähnt er Bestrahlen. Ich habe den Eindruck, hier äußert sich ein medizinisches Prinzip, das offenbar verbietet, nichts zu tun. Das geht mir aber nicht ins Hirn, wenn sich therapeutische Vorschläge keine Sekunde lang mit der Chance auf Genesung oder Erleichterung verbinden. Wir ergänzen die Optionen um die vierte, nämlich nichts zu machen, was so viel heißt, Schmerzen, wenn sie kommen, zu dämpfen. Sie behält sich eine Frist bis Dienstag vor. Bis dahin wird sie sich entscheiden. Der Professor Lasker gibt ihr seine private Telefonnummer. Er ist jederzeit für sie zu erreichen. Sie hat über den Tag Krankenhausurlaub. Ich gehe in ihr bevorzugtes Delikatessengeschäft in der Innenstadt und kaufe sinnlos viel ein. Aber Vielerlei. Etwa alle möglichen Salate. Wir müssen ausprobieren können, was ihr schmeckt. Vielleicht der besonders gute, von Hand geschnittene Beinschinken. Den werden wir uns auch für Ostern vorbestellen. Sie kommt mit dem Taxi. Sie ergreift sofort von der Küche Besitz. Wir decken den Tisch. Es ist alles, wie es immer war. Bis auf ihre erschreckende Magerkeit. Es schmeckt ihr ein bisschen. Vor allem der Eiersalat. Wein bringt sie keinen Schluck hinunter. Sie versucht es, er widert sie an.
Sie sagt, wir müssen jetzt eine kleine Wohnung kaufen. Denn die wirst du nicht bewältigen. Sie disponiert über den Tod hinaus. Das hat mir auch unser Sohn gesagt: Du wirst sehen, sie wird alles in Ordnung bringen wollen. Mein Hirnkrebs ist ertappt. Ich könnte ja widersprechen. Ich könnte meine oft und oft durchdachten neuen Raumaufteilungen und Funktionen als Spontaneinfälle verkaufen. Ich kann das. Das gehört zu meinem Beruf. Aber alles in mir wehrt sich gegen diese Unanständigkeit. Ich sage, das ist unsere letzte Wohnung, und was auch geschieht, mich bringt hier nichts und niemand hinaus. Aber sie ist für dich zu groß. Ich werde sie verkleinern. Sie hat Geld in irgendeiner Lade und will es in den Safe geben. Ich soll ihr dabei zusehen und endlich einmal lernen, wie man diesen Safe öffnet. Ich weigere mich. Nach dem Mittagsschlaf sitzen wir wie Philemon und Baucis vor dem Nachmittags-Fernsehen. Es gibt doch auch einen Grund, sich zu freuen. Unser Sohn ist mit seiner ganzen Clique auf einem Bauernhof. Mit dem hat es eine Bewandtnis. Mein Freund Thomas, an einem Sekundenherztod verschieden, nachdem seine Frau Erika durch einen Gehirntumor nebst Metastasen vorausgegangen war, hatte vor vielen Jahren einen alten, aufgelassenen Vierkanter gekauft und in unbeschreiblich stümperhafter und daher besonders reizvoller Weise renoviert. Dort trafen sich zu bestimmten Anlässen immer Freundinnen und Freunde zu Suff und Fraß. Jetzt machen die Kinder, alle schon längst erwachsenen Kinder dieses Freundeskreises, die Treffen weiter. So etwas freut einen. Man hat ihnen etwas zeigen können, was die genaue Nachahmung wert war. Sie fährt mit dem Taxi zurück in ihr Krankenhaus. Ich glotze in ein Fußballspiel. Im Tiefkühler befindet sich ein SkekelyGulyas. Sie hat mich daran erinnert und es zum Auftauen herausgenommen. Sie hat sich vergewissert, dass ich mit der
Mikrowelle schon umgehen kann. Ich schiebe das Geschirr mit der unüberbietbar gekochten Speise hinein. Während der Wartezeit tobt der Hirnkrebs. Wer soll sich mit diesen viel zu vielen Pfannen auskennen? Das muss alles raus. Denn hier wird niemand mehr kochen. Na ja, ein Steak zu braten kann doch nicht unerlernbar sein. Was wird mit unserem Weihnachtskarpfen? Wird sie ihn noch einmal panieren? Das Abspielen von CDs ist gefährlich. Da kommt es zu schrecklichen Stellen. Da singt der jetzt so populäre junge Tenor die Blumenarie aus Carmen. Er singt sie französisch. Ich kenne aber den deutschen Text. Und ewig dir gehör ich an. Scheibenwechsel. Ich spiele meine geliebten Four Freshmen. Was singen sie sehr bald? What are you doing for the Rest of your Life? Scheibenwechsel. Das Telefon läutet pausenlos. Die Freundinnen wollen wissen, ob sie sich für die Chemo entscheidet oder doch nicht. Ich habe schon einige Male erklärt, wie sie argumentiert und warum sie ablehnt. Ich müsste es schon emotionslos aufsagen können. Aber von Mal zu Mal schaffe ich es nicht ohne Kieksen. Morgen oder übermorgen wird sie es dem Professor sagen. Ich sitze bei ihr. Wir sprechen leise miteinander. Wie wohl der Professor reagieren wird? Da ist sie wieder, diese Nichtemanzipation vor der Medizin. Man hat beinahe ein schlechtes Gewissen, den Arzt durch die Ablehnung seiner Heilbereitschaft zu enttäuschen. Vorerst erscheint der junge, immer leicht blasierte, aber offenbar sehr intelligente Oberarzt mit irgendeinem Präparat. Bis jetzt hat dieser Mann kaum Meinungen von sich gegeben. Er schien immer Schüler seines Meisters zu sein. Er antwortete auf Fragen nur, wenn sie nicht zu final wurden. Da sagte er immer: Das wird Ihnen der Prof. Lasker dann auseinandersetzen.
Plötzlich sagt sie überraschenderweise zum Oberarzt, dass sie die Chemotherapie ablehnt. Will sie sich bestärken lassen? Oder gegen einen Einspruch bestehen? Sie sagt, sie wisse, wie das mit der Chemo so abläuft. Das bin dann nicht mehr ich, sagt sie. Ich liebe diese Haltung, Fremdbestimmtheit auch angesichts des Todes nicht zuzulassen. Der Oberarzt hört sich alles ruhig an, nickt ein paar Mal und sagt dann: Ich respektiere Ihre Entscheidung. Ich höre ganz genau heraus, dass dieses respektiere für halte ich für richtig steht. Er verlässt das Zimmer. Sie sieht mich an. Das war doch in Ordnung, oder? Der Prof. Lasker ist heute nicht im Haus. Dem wird sie es morgen sagen. Vielleicht sagt es ihm der Oberarzt auch schon vorher. Die Erste, die es vom Oberarzt erfährt, ist die Psychologin Ilona. Sie kommt und argumentiert dagegen. Da ist Routine dabei, das höre ich, aber auch sehr viel von einer echten Frauenfreundschaft. Ilona plädiert für neuerliches Nachdenken.
8.
Mir gefällt meine ganze Wohnung nicht mehr. Sie ist der Nährboden meines Hirntumors. Alles muss weg, beschließe ich. Alles. Aber auch alles. Ich muss an einer Sitzung der Gesellschaft, die die Rechte der Autoren und Komponisten verwaltet, teilnehmen. Ich höre nicht, was geredet wird. Ich bin nicht in der Lage, die diskutierten Probleme als Probleme zu erkennen. Am nächsten Morgen sagt sie: Heute waren sie sehr früh da. Aber irgendetwas haben sie mir verschwiegen. Es kann sich nur um das Ergebnis einer Gewebeuntersuchung vom Stoma handeln, denn die war zuletzt gemacht worden. Am Abend sagt sie: Ich habe den Ärzten gesagt, ich glaube, ich habe Wasser im Bauch. Sie haben das für möglich gehalten. Rainer hatte mir gesagt: Sie wird Wasser im Bauch bekommen. Und dann geht es sehr schnell. Es ist also so weit. Vor eineinhalb Jahren hat der Primar Dr. Steinitz in der Provinz gesagt, Nichtoperation sei der sichere Tod. Jetzt ist er da. Eineinhalb Jahre später. Trotz Operation. Ich fürchte grausamer. Oder doch nicht? Am nächsten Vormittag wird das Warten auf die Visite lang. Der Professor ist von einer Vortragsreise zurück. Jetzt steht er im Raum. Dass noch andere herumstehen, ist kaum wahrzunehmen. Er spricht. Er macht das außerordentlich ruhig und eindrucksvoll. Er meint, unser Arzt, offenbar hat Rainer im kollegialen Gespräch seine Meinung gesagt, sei sicherlich ein guter Mann, aber er hätte auf diesem Gebiet nicht die Erfahrung, die man hier hat. Der Professor ist für Chemo. Er
definiert weder eine Chance auf besiegen noch das mögliche Maß der Lebensverlängerung. Er sagt nur, es könnte einem einmal Leid tun, nicht alles versucht zu haben. Er sei einverstanden, nicht die ganz scharfe Therapie zu machen, sondern die, bei der man Haare behält. Sie schaut mich an: Er hat mich irritiert. Es ist für eine noch so starke Patientenpersönlichkeit unmöglich, einer medizinischen Autorität mit unleugbarem, menschlichem Charisma zu widerstehen. Der Professor und alle seines Schlages wissen nicht, dass diese, nennen wir sie Auseinandersetzung, nicht fair ist, nicht fair sein kann. Es ist kein Gespräch auf Augenhöhe. Er hat noch ein Argument. Sie könne, wenn sie diese Therapie nicht ertrüge, wenn das Das-bin-nicht-mehr-ichGefühl zu stark wird, jederzeit abbrechen. Er sagt das nicht mit dem Zitat ihrer Formulierung. Aber er meint, was sie so formuliert hatte. Für mich ist da ein Denkfehler dabei. Einzusehen, dass man sterben muss und den Tod würdevoll und von Erleichterungen begleitet zu erwarten, ist keine Selbstaufgabe. Das Abbrechen einer Therapie aber ist eine. Ich wage nicht, das zu äußern. Ich darf nicht beeinflussen. Alle, die ich befragt habe, haben mir gesagt, mach das auf keinen Fall. Sie willigt ein. Die Chemotherapie wird begonnen. Kaum ist der Entschluss gefasst, wird er als neue Chance begriffen. Ich spiele mit. Du bist sehr ernst geworden beim Zuhören. Du hast viele Jahre deines Lebens in Krankenhäusern verbracht. Du meinst, was ich über Selbstaufgabe sage, ist falsch. Ich hätte nicht Recht, sagst du. Das ist nicht mein Anspruch. Mein Anspruch ist zu berichten, was war. Also auch, was ich gedacht habe und denke. Schon der erste Tag nach der ersten Anwendung der Therapie – es fällt mir schwer, das Wort nicht in Anführung zu setzen – bringt die Euphorie. Vom Wieder gesund werden ist die Rede. Ich habe vor aller Welt ein miserables Gewissen. Denn ich
hatte ja, wohl immer auf Befragung, aber eben doch, nur negative Prognosen von mir gegeben. Gegründet auf ganz klare Aussagen meines Arztes. Sie ist wohl unter Schmerzen aufgewacht, hat aber ein starkes Mittel bekommen. Bald darauf hat sie sich auf das Trimmrad gesetzt. Ich sehe von hinten, wie sie strampelt. Ich sehe die spitzen Schultern, deren Anblick schmerzt. Mein Hirnkrebs meldet, sie will dem Tod davonstrampeln. Aber ein Trimmrad bewegt sich nicht. Jetzt bin ich mir nicht sicher: War der Anblick auf dem Trimmrad nicht zu Hause? Die Bilder springen hin und her. Ich bin beruflich unterwegs. Neuerdings mit Handy. Geschworen hatte ich mir, diese Demontage meiner Persönlichkeit nie zuzulassen. Aber der Sohn hat mich überzeugt, dass ich es jetzt brauchen werde. Es stimmt, jetzt brauche ich es. Ich habe sie am Hörer. Zwölf Minuten hätte sie heute schon geschafft, sie spricht vom Trimmrad. Ich gratuliere. Ist das anständig, frage ich mich, wenn Genesung und Aufbau simuliert werden? Ist es hilfreich? Ist es mitmenschlich? Ist es niederträchtig und würdelos? Es gibt keinen Menschen, den man fragen kann. Ich meine, wenn man eine gültige Antwort erwartet. Sie bereitet die Zeit am See vor. Wer wird uns besuchen? Wen möchte sie, wie alljährlich, unbedingt zu Gast haben? Wer wäre, bei aller Liebe, eher entbehrlich, jetzt, wo sie vielleicht doch nicht ganz so rasch wieder im Vollbesitz ihrer Kräfte sein wird? Ob ich den Rasenmäher wohl schon zum Service gegeben habe? Ich rufe einen Freund an, dem ich gesagt habe, sie wird den See wohl nicht mehr sehen. Ich widerrufe. Sie wird ihn sehen. Die geschiedene Frau des Sohnes zieht aus seiner Wohnung aus und nimmt Mobiliar mit. Ich sage meinem Sohn, er solle nichts kaufen. Er fragt erstaunt, warum? Ich bringe den Text meines
Hirnkrebses nicht heraus: Weil du dir bald bei mir vieles abholen wirst können. Ich höre ihn sagen: Ich würde nichts nehmen. Sie ist wieder zu Hause. Soll heißen, sie pendelt zwischen Zuhause und Krankenhaus. Sie nimmt wieder an allem Anteil. Hört zufrieden eine CD eines vor vielen Jahren mitgeschnittenen Chansonabends ab. Sie hat Freude dran. Ich erzähle ihr nicht, dass ich ein Lied, eine persönliche Version eines französischen Chansons, habe herausschneiden lassen. Im letzten Moment war mir eingefallen, in diesem »Begräbnis-Tango« gibt es die Zeilen, wo ich frage, was man zur Witwe angesichts meiner Beerdigung sagen wird. Die sind nicht mehr sinnvoll. Die Darmprobleme werden wieder unerträglich. Sie leidet, stöhnt, ächzt, krümmt sich. Sie muss ununterbrochen. Das Stöhnen dringt durch die Türe. Sie spricht von Presswehen. Ich komme von einem Abstecher zurück. Zu Mittag. Sie ist leichenblass, depressiv. Sie hat sich im Lift angeschissen. Ich kann mich nicht erinnern, dieses Wort je von ihr gehört zu haben. Nicht, weil Rudimente einer damenhaften Erziehung da waren, nein, weil es nicht ihr Stil ist. Langsam, aber konsequent beginnt sie auf Stil zu scheißen. Es tut ihr alles weh. Es ist wohl so, dass die Erosion des Körpers die des Stils bedingt. Die Nacht vor der dritten Anwendung der ersten Chemotherapie ist die Hölle. Irgendeinmal frage ich sie, ob ihr schlecht ist. Sie reagiert aggressiv. Sie findet die Frage berechtigterweise zu blöd. Ich verfüge, dass ich mit ihr zur Chemo fahre. Im Taxi hat sie Angst. Sie klammert sich an mich. Sie hat Angst vor dem, ja, Anscheißen. Erwartungsgemäß sagt der anwesende Oberarzt, wir werden Sie dabehalten. Zu mir sagt er: Wir werden alles tun, was in diesem Zustand nötig ist. Mich trifft sein geradezu kollegialer Blick. Er meint also Morphium, denke ich. Gott sei Dank. Sie
wird wieder an einen Tropf gehängt. Zum Glück hat sie schon lange einen Port sowieso, also einen Einlass, wo man immer was hineinrinnen lassen kann. Mit der Visite kommt der Professor. Er erkundigt sich nach Ringschmerzen und nach – ich glaube – hinteren Rippen. Da sind also medizinische Details an mir vorbei besprochen worden. Ich kenne mich nicht aus. Auch dass es ein größeres Hautproblem gibt, ist mir neu. Aber da wird am Nachmittag der Dermatologe zugezogen. Das mit dem Darm kriegen wir in den Griff, ist sich der Professor sicher. Oder sagt er das nur so? Sie jedenfalls erklärt, es ginge ihr schon besser. Hat das Morphium so rasch gegriffen? Nach meinem Mittagsschlaf kommt ihr Anruf. Der Dermatologe war nicht so entsetzt, wie sie befürchtet hatte. Es wird keine große Sache sein, dieses Ekzem oder diesen Befall – was weiß denn ich? – wegzubringen. In einer Woche will sie mit dem Sohn zum See. Sie will nicht warten, bis ich keine Termine mehr habe. Sie spürt, es geht aufwärts. Umzingelung durch Krebs. Eine Freundin ruft aus Deutschland an. Sie muss am Dickdarm operiert werden. War das ein Abschiedsanruf? Der Bruder meines Ex-Partners ist gestorben. Mein kleiner Bruder, sagt er traurig. Er hat ihm einst die erste Abtreibung bezahlt. Wir reden über die immer schöner werdenden Augen. Auch der Ex-Partner selbst steht vor einer zweiten Operation. Natürlich nichts Bösartiges. Ich erlebe eine gespenstische Nacht. Ich wache in ihrem Bett auf. Ich sehe aber, ich habe auch meines benutzt. Ich habe also in der Nacht das Bett gewechselt. Habe ich geglaubt, ich bin im Hotel? Habe ich mich in der Wohnung nicht mehr zurechtgefunden, weil mein Hirnkrebs sie schon so oft umgestellt hat? Hat mir mein tiefstes Unterbewusstsein einen gemeinen Streich gespielt? Sonntägliches Morgentelefonat. Die Schleimhäute sind gereizt. Sie hatte Blut im Stuhl. Es
könnte eine Hämorrhoide geplatzt sein. Oder es ist etwas anderes los. Sie hat Schmerzen im After. Gleichzeitig ist auch eine Vene verstopft. Du weißt, sagt sie, das ist wie bei der Schaufensterkrankheit der älteren Herren. Es muss etwas geschehen. Neben der Chemo. Zur Chemo dazu. Aber was? Bei jeder Besprechung ihrer Leiden frage ich mich: Stammt das Leid vom Krebs oder von der Behandlung? Jeder Nichtanalphabet weiß, es gibt keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Eine Arznei löst die Dringlichkeit einer zweiten aus. Ich starre in meine Bücherwand. Da steht viel Literatur, die beweist, die Menschen haben nie leben gekonnt, aber sterben konnten sie. Kennst du den Brief des Matthias Claudius an seinen Sohn? Ich muss mir wieder einmal einen Kaffee kochen. Ich habe mir seit Tagen keinen Kaffee gekocht. Es ist mir zuviel Aufwand. Ich trinke zuviel. Alkohol ist die Chemotherapie des Hirnkrebses. Er entspannt, erleichtert, deformiert, ruiniert. Er ist keine Lösung. Sie fährt mit Sohn und zwei seiner Freunde zum See. Sie muss ihn sehen. Sie muss die Vorfreude auf den Sommer am See genießen. Die Buben – es sind von ihrem Leben schon gezeichnete Männer – haben Hechte gefangen. Die werden tiefgekühlt. Sie hat das Boot ausprobiert. Ihr Boot. Sie hat so furchtbare Schmerzen beim Stuhlgang. Wenn sie wieder da ist, wird sie mit dem Professor reden, ob man nicht doch etwas machen kann. Da ist immer noch ein Glauben an die Wiederherstellung. Oder ist das ein leerer Automatismus? Wenn ich bei Abendgesellschaften bin, kommen die Fragen, wie es ihr geht? Manche fragen auch schweigend. Ich bin der Mann mit der Frau mit dem Krebs. Ich bin bei Freunden eingeladen. Die Hausfrau, die nicht kochen kann oder will, hat raffiniert beim Partyservice bestellt. Ein richtig bürgerliches Drei-Gang-Essen. Dass es nicht hausgemacht ist, ist so gut wie
unmerkbar. So werde ich es auch machen, sagt der Hirnkrebs. Sie ist wieder da. Jetzt ist der Sommer exakt vorgeplant. Es wurde auf Vorrat eingekauft. Und im Herbst will sie dann nach Portugal, zu ihrer ältesten Freundin, der Frau meines alten Freundes, eines Anwalts, der vor fast dreißig Jahren den Kauf unseres Hauses am See abgewickelt hat, der also an unserem Leben wesentlich beteiligt ist. Sie hat damals den Mut gehabt, das nach und nach Wiederherstellen des Hauses in Angriff zu nehmen. Ich hätte ihn nicht gehabt, ich hatte Angst vor den finanziellen Verpflichtungen, vor dem verwahrlosten Zustand des Hauses. Sie sagte: Wir kaufen nicht das Haus. Wir kaufen den Platz. Dieser Satz hat ein Leben gestaltet. Also, nach Portugal will sie. Sie ist doch zu intelligent, um nicht zu wissen, dass diese Reise nicht möglich sein wird? Oder lebt sie schon in einer Sphäre, in der Ratio nicht mehr vorkommt? Sie stöhnt. Sie windet sich. Sie kann beim Frühstück nicht mehr sitzen. Sie ist wund vom Stuhlgang. Sie hat Tropfen, die sie davor präventiv nehmen soll. Aber sie kann sie nicht präventiv nehmen, weil sie nie genau weiß, wann es losgeht. Der Hirnkrebs fragt: Was macht diese Fremde in meiner Wohnung? Mein Mitleid und meine Zärtlichkeit sind grenzenlos. Der erste Tag der zweiten Chemo. Zuerst nehmen sie ein winziges Melanom vom Haaransatz weg. Wozu?, frage ich, bis das gewachsen ist? Aber ich weiß, das sind unzulässige, verwerfliche Gedanken. Was nützt es, dass ich das weiß? Sie kann nicht mehr gehen. Die Venen sind verschlossen. Daher wird man eine Magnetresonanz durchführen. Danach wird man einen Eingriff, eine Dehnung anordnen. Gegen alles geschieht etwas. Nur gegen die Darmfolter sind sie machtlos. Sie nimmt ab und ab und ab. Ich phantasiere. Ich würde mein Leben hergeben für ihre vollständige Gesundung. Aus Liebe? Wohl eher, um den Rausch zu genießen, der Tollste zu sein. Ein
Augenblick gelebt im Paradiese, ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt. Wo steht das? Meinen Nervenzustand kann ich kontrollieren. Ich spiele Schach. Ich stelle die Dame in die offene Läuferlinie. Der Computer sagt nicht, nimm den zurück. Er schlägt. Ich erschrecke. In knapp vier Wochen beginne ich bei den Komödienspielen nahe dem See zu inszenieren. Wenn sie da in der Stadt im Bett liegen müsste, würde ich wahnsinnig werden. Aber alle haben geraten: Ja nicht absagen! Danach werde ich für die nächste Arbeit einen riesigen Text zu lernen haben. Der Hirnkrebs fragt: Wird meine Garderobe in ihrem Wandverbau Platz haben, wenn ich mein Archiv vom See in meine ehemalige Garderobe überstellt haben werde? Ich frage: Wenn sie zu Hause liegen muss, wer wird sie pflegen? Eine Organisation oder unsere wunderbare, ihr seit Jahren sehr verbundene Zugehfrau? Auf der Straße fragen Bekannte auch einmal: Wie geht es dir? Sie sehen mir den Hirnkrebs an. Sie steht im Krankenhaus vor mir. Die Windel in der Unterhose. Die Blase außen. Abgemagert zum Skelett. Verzweifelt versucht sie, ein Zäpfchen einzuführen. Sie will nicht, dass ich ihr helfe. Noch nicht? Wenn der Hirnkrebs wütet, wenn ich mir überlege, ob mir die Zugehfrau bleiben wird, ob ich der Steuerberaterin die Belege werde vorordnen können, habe ich den Verdacht: Ich bin ein Haufen Scheiße. Aber dann kommt es zur Notwehr: Nicht nur ich. Alle. Die Menschen. Und dann sage ich: Nein, sie nicht. Das wäre eine mögliche Definition von Liebe: Die Bereitschaft, einen Menschen auszunehmen. Ihr Leben besteht aus Stöhnen, Ächzen und Weinen. Eine Stunde Versuch eines Stuhlgangs bedeutet eine Stunde Jammer. Ich stehe vor einem eintägigen Abstecher. Sie sagt, ich soll nicht schon wieder die Haarbürste vergessen.
Morgen muss sie wieder hinein. Sie soll ausgeschwemmt werden. Eine Darmsanierung steht an. Wenn ich komme, erzählt sie, sie hat den Einlauf verweigert. Wegen der unerträglichen Schmerzen. Sie hat Betäubung vorgeschlagen. Man hat ihr gesagt, das geht nicht. Dann gab es Rücksprachen. Es ginge doch, die Reinigung sei auch in Narkose möglich. Ich begreife nicht, dass sie sich noch wehren, sich ärztliche Maßnahmen erzwingen muss. Sie studiert die Fahrpläne See – Hauptstadt – See. Sie disponiert die Weiterführung der Chemotherapie. Sie will nicht immer wieder in den Zug steigen, fünf Stunden hinfahren, die Prozedur über sich ergehen lassen und geschlaucht wieder zum See fahren. Das Krankenhaus in der Kreisstadt hat doch einen angesehenen Primar auf der Internen. Unseren Freund Gerhard. Den kann man doch fragen, ob seine Abteilung nach den Vorschriften des Prof. Lasker die Chemo nicht durchführen kann? Auf ihre Veranlassung wird mit Gerhard telefoniert. Natürlich könne man das, sagt der Internist, man wird die Anweisungen genau durchführen. Prof. Lasker ist einverstanden. Sie ist glücklich. Die zwanzig Minuten mit dem Taxi sind ihr weniger Schrecken, wenn sie nachher nur bald wieder beim Wasser sein kann. Ich frage mich, warum sie es sein musste, die diesen Anspruch auf einen Rest von Lebensqualität angemeldet hat. Mir ist diese Idee nicht gekommen und den Ärzten schon gar nicht. Wir sollten uns schämen. Vor dem See muss noch eine Venenoperation durchgeführt werden. Vor der hat sie Angst, denn man hat ihr gesagt, es sei nicht sicher, ob sich nicht während der Operation herausstellen wird, dass sie gar nicht mehr möglich ist. Nach dem Gelingen ist sie zur Freude nicht mehr fähig. Sie ist schon zu zerschunden. Aber es scheint doch so zu sein, dass die Chemotherapie greift. Der Tumormarker ist besser geworden. Mit dieser
Information fahren wir zum See. Dort sieht sie der Internist nach einem Jahr wieder. Er sagt zu mir: Es geschehen auch Wunder. Ich weiß, was das heißt.
9.
Der See hat in diesem Jahr um diese Zeit noch keine Badetemperatur. Das kann ihr nichts ausmachen. Sie geht hinein. Nichts kann ihr so beweisen, dass sie lebt. Sie ist selig. Die Pastalade ist vollgefüllt. Der Weinkeller in einem sonst funktionslosen Pumpenhaus ist gut sortiert. Die Stückzahlen reichen für Jahre der Reifung. Alles sieht nach langewährend aus. Die erste leichte Bräune verwandelt die elende Magerkeit in die abgezehrte Physis eines Dauerleistungssportlers. Dazu passt, dass sie trotz ihrer Knochigkeit die Sauna benutzt. Ich könnte gegen Wände rennen. Mein Hirntumor ist nicht betäubbar. Wenn ich die Garderobe doch in der Garderobe lasse, könnte ich den Wandverbau nicht in das Büro verwandeln? Der grüne Schrank muss heraus, der grüne Bauernschrank, gekauft in jener Zeit, als alte Bauernschränke teuer waren, weil man sie haben musste. Er war das allererste von uns, für eine damals schmerzliche Summe gekaufte Möbelstück. Er hat für sie ihre Partnerwahl symbolisiert. Er muss weg. Vielleicht nicht ganz weg. In die Wohnung eines Freundes am besten. Ihn dort zu sehen, fände ich schön. Plötzlich habe ich Probleme mit meinem rechten Knie. Ich bin beunruhigt. Ist das irreparabler Verschleiß? Ich bin hier die Kranke, sagt sie lächelnd. Dann beginnt sie sich um mein Knie zu sorgen. Merkt sie, welche Angst ich habe? Die Angst, dass ich, käme es zu einer Krise bei ihr, flach liege. In ihren Beinen staut sich Wasser. Immer mehr. Rainer hat gesagt, wenn sie Wasser im Bauch bekommt, ist es bald vorbei. Sie hat es in den Beinen. Besagt das auch etwas? Immer wieder lässt sie unter sich. Aber sie wehrt sich. Ein
kleines, kaum je benutztes Gästezimmer wird geräumt. Ein Massagebett kommt hinein. Die wöchentliche Massage tut ihr gut, sagt sie. Die Meridiane – was auch immer das ist – werden frei. Sie lässt sich beim Arztfreund den Zeckenschutz kontrollieren. Er ist noch ausreichend. Aber ich kann meinen Hirnkrebs nicht hindern. Er stellt die Frage: Wozu? Man kann sich an den Anblick einer Todkranken im Badeanzug gewöhnen. Vor allem, wenn sie ihren Anblick so selbstverständlich findet. Die Haare sind weniger und dünn geworden. Der Haarschnitt ist dennoch schön. Aber die Friseurin hat beim Anblick der lange nicht geschnittenen Haare gesagt: Wie sehen denn Sie aus? Das hat sie missverstanden. Das hat eine Depression ausgelöst. Die Verdauung ist eine Höllenpein. Kaum ist sie fertig, muss sie schon wieder. Und kommt zu spät. Tag für Tag. Die Psychologin sagt am Telefon, solange sie die Chemo hat, wird sich da nichts ändern. Was heißt das? Es wird sich also nie etwas ändern. Denn welchen Grund gäbe es, die Chemo zu beenden? Immer wieder stelle ich mir die von mir und offenbar auch von der gesamten Welt der Medizin unbeantwortbare Frage: Rinnt sie wegen der Krankheit aus oder wegen der Therapie? Ich bereite die Oscar-Wilde-Komödie vor. Das ist vor dem Hintergrund unserer Situation natürlich aberwitzig. Nicht zu rechtfertigen. Denn es ist nichts von mir, es gibt keinen ökonomischen Druck, ich muss das nicht machen. Sie sagt, ich soll. Sie wird ganz einfach froh sein, sich in ihren grauenhaft grotesken Zuständen nicht dauernd beobachtet zu wissen. Meine Probenzeiten sind für sie Auszeit. Die Kniekehlen und die Oberschenkel werden auch schon dick. Steigt das Wasser von unten in den Bauch? Ich frage keine Ärzte mehr. Ich habe keinen Mut. Denn die Antworten sind für den Schicksalsbeteiligten nicht anwendbar.
Ich weiß, was du jetzt denkst. Das, was du mir schon an der einen oder anderen Stelle meiner Erzählung gesagt hast. Es besteht die Gefahr, hast du gemeint, dass Leute sagen werden, er schreibt über sie, aber, was für ihn typisch ist, doch nur über sich. Ich kann und will mich gegen den Vorwurf nicht wehren. Der Tod, besonders in dieser krassen Form der Entstehung, spiegelt sich im Leben. Ich sehe mich außerstande, ihn zu beschreiben, beschriebe ich nicht die Szenerie. Deren Zeuge bin ich. Als Person. Die Hilflosigkeit meines Lebens vor ihrer Hilflosigkeit ihres Sterbens. Es geht nicht um laienhaft wiedergegebene ärztliche Bulletins und medizinisch objektivierbare Verfallsphasen. Es geht um den Aberwitz des Auseinanderdriftens und die dramaturgische Position der Heilkunst. Der Hochsommer ist da. Der Sohn und ich fangen Fische. Am selben Tag Hecht und Schleie. Doch, sie wird sie braten oder dämpfen, wie wir es lieber haben. Auf die ständigen Befragungen der Treuen und Lieben sage ich nur mehr, es geht ihr gut. Diese Unaufrichtigkeit ist keine, denn wenn etwas Status wird, über eine Zeit so bleibt, nimmt man es als gegeben hin. Man ist in seiner Wertungsfähigkeit deformiert. Sie selbst meint, die Verdauungsschmerzen ließen nach. Das kann angesichts ihres Rennens und sich Krümmens nur Gewöhnung sein. Den immer wieder unterbrochenen Schlaf holen wir über den Tag in kleinen Etappen nach. Mein Knie muss operiert werden. Das ist eine harmlose Routineangelegenheit. Aber der Hirnkrebs verzichtet auf keinen trüben Gedanken. Werde ich, wenn ich allein bin, nicht mehr richtig gehen können? Das Wetter spielt eine nie gekannte Rolle. Uns waren Regentage immer egal. Mir geradezu willkommen. Aber immer haben wir scheinheilig die Urlauber bedauert, die gerade diese, von der Sonne nicht verwöhnten vierzehn Tage
gebucht hatten. Jetzt leidet sie unter jedem nicht idealen Badetag. Ihr Leben hat den letzten Sommer gebucht. Weiß sie, dass sie sterben wird? Natürlich weiß sie es. Sie sagt es mir nicht direkt. Sie sagt einen Satz, der eine Vorgeschichte hat: Ich hab’s mir auch leichter vorgestellt. Die Vorgeschichte ist die: Der Kabarettdirektor und Manager Sammy litt an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich besuchte ihn in seinem Haus. Er versuchte, noch eine halbe Banane zu essen, er brachte sie nicht hinein. Er war am Verhungern. Ein paar Tage später – ich war zum See gefahren – rief ich ihn an. Ich wollte schon fragen: Wie geht es dir?, da wurde mir klar, wie idiotisch diese Formulierung angesichts seines Zustandes war. Daher fragte ich: Wie schaffst du’s? Er sagte: Ich hab’s mir leichter vorgestellt. Vier Tage danach war er tot. Diese Geschichte habe ich, wenn über diesen Mann gesprochen wurde, und das wurde sehr oft, immer wieder einmal erzählt. Ich hab’s mir leichter vorgestellt war für mich zu einem Synonym für würdevolles Sterben geworden. Jetzt sagt sie den Satz. Ergänzt durch ein auch. Ich brauche nicht mehr rückzufragen. Die Proben der Komödienspiele beginnen. Ich muss mich zwingen, wichtig zu nehmen, was ich da tue. Aber es gelingt, weil es mir hilft und vor allem ihr. Ilona ruft in regelmäßigen Abständen an. Sie weiß, sie muss trösten. Denn die Schmerzen der morgendlichen Verdauung sind kaum zu ertragen. Die Prozedur – Pressen, Duschen, Sitzbad, Cremen – dauert drei Stunden. Die Psychologin sagt, das bleibt so quälend, solange du diese Antibiotika nimmst. Setz sie ab! Aber genau das hat der Oberarzt verboten. Der hat gesagt, sie darf auf keinen Fall eine Infektion bekommen. Daher ist der antibiotische Begleitschutz unerlässlich.
Also was jetzt? Entweder unsagbar leiden oder durch ein Absetzen den Zeitpunkt einer finalen Krise selbst bestimmen. Ist es Sinn der Medizin, eine Kranke vor diese Entscheidung zu stellen, sie mit dieser Entscheidung allein zu lassen? Sie sagt, ihre Brauen, die so schön geschwungenen, würden ausgehen. Ich bestreite das. Aber ich sehe, sie wird auch oben kahl. Hoffentlich beugt sie sich vor dem Spiegel nicht vor, denke ich. Ich probe. Sie will eine Probe sehen. Ich will, dass sie eine Probe sieht. Aber sie sagt, sie muss auf einen Tag warten, an dem sie keine Angst vor längerem Sitzen hat. Heute müsste es gehen, sagt sie. Ich habe als Abendprobe den Durchlauf des ersten Bildes angesetzt. Sie kocht uns am Nachmittag eine phantastische Thaipfanne. Jetzt müsse sie etwas essen, denn nachher wird das nicht mehr möglich sein. Es gefällt ihr. Sie sagt, ich solle nur aufpassen, dass… Der soll nicht zuviel machen, die, von mir eingebremste, nicht zu wenig. Der sollte das Tempo nicht überziehen. Ich weiß das alles selbst. Aber es tut so gut, es bestätigt zu bekommen. Von ihr. Es war falsch zu glauben, sie müsse nach der Probe sofort nach Hause. Sie schafft noch die italienische Weinstube. Dort hört sie zum hundertsten Mal die ewig gleichen Theateranekdoten. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ist das alles, was ich ihr bieten kann, in der restlichen Zeit? Der nächste Morgen. Wimmern. Ächzen. Jaulen. Von allen Medikamenten nimmt sie Überdosen. Dann folgt ein Erschöpfungsschlaf mit leisen Schmerzlauten. Warum gibt man ihr kein Morphium? Die Recherche ergibt, sie hat es ja. Aber dann kann doch die Dosis nicht reichen. Soll ich mich einmengen, wegen der Dosis? Soll ich mit den Ärzten reden? Sie ist doch noch Herrin ihrer selbst. Sie will es doch noch selbst sagen können. Der Hirnkrebs denkt: Wäre ich ein gläubiger Christ, würde ich mich fragen, ob ich soviel Strafe Gottes verdient habe. Wäre ich ein gläubiger Christ, müsste ich
– nach kurzem Nachdenken – mit einem klaren Ja antworten. Aber ich bin kein gläubiger Christ. Von verdient haben kann also nicht die Rede sein. Ich begehre auf. Eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier. Christoph wird fünfzig. Das ist mein langjähriger Pianist, von der Hochschule zum Kabarett gekommen, mit mir etwas geworden, unsere Partnerschaft ist ein Stück Biografie. Da müssen wir hin. Sie kann diese Zugfahrt unmöglich durchhalten. Das ist kein Leben, sagt sie. Da scheiß ich drauf. Dieses Wort gebraucht sie jetzt oft. Wenn ich zu deiner Premiere auch nicht kommen kann… Wie ich im Zug sitze, auf der Fahrt zu der Geburtstagsfeier, frage ich mich immer wieder: Hätte ich absagen sollen? Hätte ich absagen sollen? Ilona, die Psychologin, kommt zu Besuch. Sie sieht das Leid. Sie erlebt die Verkrampfung aus Angst vor dem immer nötigen Klogang. Ilona hört, wie sie sagt, es gäbe keinen Lohn für den Kampf gegen die Windmühlen. Die morgendlichen Schmerzen werden immer unerträglicher, wenn da eine Steigerung überhaupt noch beschrieben werden kann. Ich muss mich einmengen. Ich verfüge, sie muss das Opiat, das Schmerzmittel, den Magenschoner grundsätzlich vorher nehmen, um den Gang schon entspannter und schmerzfreier antreten zu können. Ich bin unsicher, ob das therapeutisch zu vertreten ist. Da ruft aus Deutschland die Frau eines befreundeten Publizistikprofessors, eine Ärztin, an. Ich erzähle ihr von meiner Initiative. Sie sagt, es sei internationaler Konsens, bei Tumorerkrankungen keinen Schmerz zuzulassen. Das Hirn würde den Schmerz speichern. Das wegen der Schmerzen ausgeschüttete Adrenalin den Tumor begünstigen. Sie solle dreimal täglich die Mittel präventiv nehmen. Ich hätte völlig recht.
Ich sage ihr das. Sie bekommt einen Wutanfall, bis zur Grenze dessen, was ihre Kraft noch möglich macht. Warum hätten ihr das die behandelnden Ärzte nicht gesagt? Sie ändert die Anwendung der Medikamente. Der erste Tag scheint etwas zu bringen. Der zweite ist abermals eine Katastrophe. Sie kommt vom Markttag zurück. Sie wollte ihn auf keinen Fall versäumen. Sie fällt keuchend, völlig entkräftet auf das Bett. Es ist der gleiche Anblick wie vor zwei Jahren: eine Tote. Ein gebräunter Tod. In München liegt mein Freund, der Journalist, im Koma. Sollte er nach einem Bauchhöhlenaneurysma noch einmal wach werden, wäre er lebenslänglicher Dialysepatient. Seine Nieren sind hin. Mit ihm wären mir bis auf meinen Partnerfreund alle wichtigen beruflichen Weggefährten weggestorben. Ich probe den Wilde. Die brillante Komödie um Korruption und deren Rechtfertigung reicht in unsere Tage. Es soll gut werden. Wird sie die Premiere sehen? Wird sie sie mögen? Ich muss beginnen, einen Text zu lernen. Meine Freundin Erika Pluhar hatte einen Roman geschrieben, Verzeihen Sie, ist das hier schon die Endstation? Den fand ich nicht nur berührend, da er den Asthmatod ihrer Tochter verarbeitet, sondern auch formal sehr interessant, da er ausschließlich aus Dialogen und wechselseitiger Erzählung von zwei Personen besteht. Ich lobte die Dialoge. Da sagte Erika eines Tages: Kannst du dir eine Bühnenfassung vorstellen? Ich sagte, die hielte ich für nicht möglich. Damit war mir klar, dass ich es zu versuchen hatte. Die Fassung gefiel der Autorin. Die eine Rolle wollte sie natürlich selbst spielen. Der männliche Partner wurde gesucht. Ich machte Vorschläge. In dieser Zeit sah sie mich in meiner eigenen Komödie. Danach meinte sie, sie sei sich sicher, ich müsse den Mann spielen. Das wurde mir Anreiz und Verpflichtung. Jetzt sitze ich da und lerne den
Text. Es ist der erste zu lernende, den ich nicht selbst oder mir jedenfalls in die Schnauze geschrieben habe. In der Annahme, ein normaler Schauspieler würde ihn lernen, habe ich den Stil der Autorin gewahrt, den sprachlichen Duktus ganz und gar nicht meiner Art zu sprechen angepasst. Ich muss ihn ins Hirn und in die Schnauze kriegen. Diesen Mut zum Muss verdanke ich der Todkranken, die mich jetzt von Zeit zu Zeit abhört, also überprüft, ob ich schon sicherer werde. Sie kontrolliert das Entstehen von etwas, das möglicherweise, oder: wahrscheinlich?, über ihre Tage hinausreicht. Ich zwinge mich, ihr zu zeigen, dass ich es ohne sie nicht schaffen würde.
10.
In einer Lebensphase dieser Übersteigerung werden kleine Katastrophen zu Höllen. Sie ist am zweiten Tag der vierten Chemotherapie in das Krankenhaus gefahren. Ich habe mir für elf Uhr das Taxi zur Probe bestellt. Sie hat gesagt, bis dahin wird sie längst wieder da sein. Sie ist nicht nur nicht da, sie ruft auch nicht an. Schweiß auf der Stirn, erzähle ich das meinem Taxifahrer. Sie konnte mich auch nicht anrufen, sagt mir der, weil ich wahrscheinlich den Hörer nicht ordentlich aufgelegt hätte. Bei mir sei es immer besetzt gewesen. Daher hat sie in der Taxizentrale angerufen und mir ausrichten lassen: Es ist was los. Näheres später. Ich probe unter Strom. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ihr Handy ist auf Auftrag. Endlich erreicht sie mich. Nichts Beunruhigendes, sagt sie. Sie wird mich von der Probe abholen. Ich warte vor dem Gebäude. Sie parkt hinten. Wir finden uns. Sie war also bei der Chemo. Ich bekenne zwischendurch: Das ist auch ein Hasswort geworden. Also, sie war bei der Chemo. Da hat sie dem Primar, dem Landarzt, wie er sich immer nennt, erzählt, sie hätte am Vortag kaum mehr gehen können, auf der Treppe stehen bleiben müssen. Ich habe es dir gesagt. Erinnerst du dich?, behauptet sie. Und bei der Hitze hätte sie gefröstelt. Gerhard hat sofort eine Magnetresonanzuntersuchung angeordnet. Wir stellen die Frage nicht, ob eine andere verschoben werden musste. Ergebnis der Untersuchung: Die Baucharterie ist über eine große Strecke – dreimal so lang wie damals die in der Leiste – zu. Man hat den Befund sofort an Prof. Pachmann von der
Tiergarten-Klinik geschickt. Ach ja, das hatte ich zu erzählen vergessen: Als es die Venengeschichte gab, hat Prof. Lasker entschieden, nicht im eigenen Haus zu bleiben, sondern den Spitzenkönner auf diesem Gebiet, eben Prof. Pachmann, zu betrauen. Dass es sich da um ein anderes Krankenhaus gehandelt hat, fiel nicht ins Gewicht. Obwohl es Samstag ist, gehen die Telefonate hin und her. Prof. Pachmann ruft an. Es muss ein Bypass gemacht werden. Oder heißt es gesetzt? Das geht aber nicht. Wegen der Chemo. Also ist eine Rücksprache mit Prof. Lasker nötig. Nach der wird sich Prof. Pachmann wieder melden. Zwei Glücksfälle werden zu Tragik. Ein jagender Nachbar schenkt uns ein Rehbeuschel. Ein jagender guter Bekannter liefert ein Schmaltier. Sie will kochen. Jus, Beuschel. Sie will einfrieren. Sie kann aber nicht mehr. Ich unterbinde die Versuche. Sie wehrt sich. Ich versenke Knochen im See. Nach dieser Nacht sagt sie beim Frühstück: Es ist aus. Ich spür’s. Es geht nicht mehr. Ihre Oberarme sind nur mehr Haut. Dunkelbraune Haut. Das sind die Arme, die im Mixed-Doppel gegen mich geknallt haben. Nie war sie so gut, wie wenn sie mir gegenübergestanden ist. Entfesselt war sie manchmal. Jetzt kann sie kein Racket mehr halten. Sie ist am Ende. Ich weiß, ich habe das mit verschiedenen Worten schon des Öfteren behauptet. Aber ich muss erkennen: Es ist nichts so katastrophal, so erschütternd, so marternd, dass es nicht noch schlimmer werden kann. Ich verstehe deine Frage: Warum lasse ich nichts, aber auch schon gar nichts an Katastrophalem aus? Warum wiederhole ich Superlative bis zum Erbrechen? Ich beantworte das gerne. Aber noch nicht. Die Depression ist eine totale. Sie packt ihren Koffer. Damit sie bereit ist, wenn der Abruf kommt. Sie fürchtet, dann länger in der Hauptstadt bleiben zu müssen, die
Premiere zu versäumen. Ich sage, die Premiere ist völlig uninteressant. Es gibt einen Termin für eine TV-Aufzeichnung. Da ist ihre Anwesenheit viel wichtiger. Der Anruf aus der Tiergarten-Klinik kommt. Es muss sofort etwas geschehen. Man wird es mit einer Durchspülung versuchen. An einem Montagmorgen fahre ich mit ihr zum Bahnhof. Sie kann nur mehr ganz langsam über die Stufen steigen. Der Sohn hatte selbstverständlich eine Abholung angeboten. Die hat sie verweigert. Auch mein Angebot, eine Probe ausfallen zu lassen und mitzufahren. Ich winke. Sind das wieder einmal die letzten Tränen? Wie viele Abschiede gibt es? Wie viele hält man aus? Stündliche Telefonate. Wird die Spülung gelingen? Morgen wird sie gemacht werden. Eine Schauspielerin fragt mich, wie es mir geht. Sieht sie mir etwas an? Das wäre nicht gut. Ich telefoniere mit Prof. Pachmann. Er meint, ob die Sache ein Erfolg wird, kann man erst am Tag danach sagen. Übrigens, der Oberarzt des Prof. Lasker war strikt gegen ein Aussetzen bei der Chemo. Mittwochmorgen. Sie kann schon wieder die Zehen bewegen, sagt sie. Der Fuß ist auch nicht mehr blau. Dass er das war, erfahre ich erst jetzt. Sie hat doch die Hoffnung, am Samstag bei der Premiere dabei sein zu können. Am Freitag soll sie die kleine Chemo noch in Wien machen. Dann fährt der Sohn sie am Samstag mit dem Auto. Auch der ruft mich an. Er erzählt, er hat sie aufgerichtet. Vor allem mit der Mitteilung, er hätte eine neue Partnerin. Mein erster Gedanke: Wird die etwas gegen exzessive Lebensgewohnheiten unternehmen? Mein Hirnkrebs mengt sich wehleidig ein. Wenn seine Mutter einmal nicht mehr da ist, werde ich zu ihm sagen: Hoffentlich bin ich vor dir hin. Weil täglich ins Krankenhaus halte ich kein zweites Mal aus.
Der Sohn bringt sie zum See. Sie ist also wieder gesund. Es ist unbegreiflich, wie das langsame Sterben der Sprache jede Logik nimmt. Sie hat die dritte Anwendung der vierten Chemotherapie hinter sich. Oder die vierte der dritten? Ich weiß es nicht mehr. Sie hat auch ein neues Blutverdünnungsmittel bekommen. Aus der Tiergarten-Klinik erzählt sie die unglaublichsten Geschichten. Dort herrschen Chaos und Anarchie. Sie ist sich sicher, dass dort in Gängen liegende Patienten für immer vergessen werden. Die Herausgabe eines Arztbriefes durch eine ungnädige Oberschwester bedurfte des Anrufes des Chefs aller Gemeindekrankenhäuser. Es ist nicht zu fassen. Die Anwesenheit des Sohnes nimmt der täglichen Tragödie ein wenig das Quälende. Er nimmt wahr, was ich schon seit einiger Zeit feststelle. Ihre Reizbarkeit und damit Ungerechtigkeit gegenüber den Gesunden. Aber ich verstehe das nur zu gut. Zu lange schwerstkrank zu sein, ohne Hoffnung auf Genesung, aber ununterbrochen von Gesunden betreut, befragt, getröstet, belogen zu werden, muss reizbar machen. Schon der Versuch, mich in ihre Situation zu projizieren, macht mich zum Amokläufer. Die Premiere ist ein schöner Erfolg. Sie hat sie von einem seitlich dazugestellten Stuhl aus gesehen. Den hatte sie beantragt, um die ganz nahe liegende Toilette erreichen zu können, wenn. Sie gratuliert mir. Ich geniere mich. Ich finde, die Gewichte sind nicht im Lot. Aber wie wären sie im Lot? Bei der Premierenfeier sieht sie in ihrer fließenden Garderobe mit dem Tuch um den Hals, das nur das ganz schmale Gesicht freigibt, wunderschön aus. Ein angereister Freund sagt zu mir: Sie schafft es! Ich sage nichts. Der tägliche Kampf mit dem Darm. Der tägliche Kampf gegen das Abnehmen. Eine schon einmal abgeheilte Gürtelrose stellt sich wieder ein. Was muss sie noch alles ertragen? Erika wird kommen und mit mir den
Text für die Endstation durchsprechen. Sonst darf niemand mehr kommen. Sie will niemanden sehen, weil sie von niemandem gesehen werden will. Seit langer Zeit nimmt sie gegen das Abmagern ein appetitanregendes Medikament. Jetzt, nach einem Nachkauf, liest sie zum ersten Mal den Beipackzettel. Das Mittel ist gefährlich bei Blutgerinnung, es verursacht Blutgerinnsel. Sie schreit auf. Das hat keiner gemerkt? Keiner gesagt? Sie schmeißt das Mittel in den Mist. Die Medizin erstickt sich ab einem gewissen Zeitpunkt selbst. Jeder für irgendetwas zuständige Arzt verordnet lege artis einen Wirkstoff. Das gilt vom Papst bis zum Mesner. Wie sich diese Wirkstoffe aufheben oder wechselseitig gefährlich machen, kann keiner mehr überblicken. Die Leute sind – in bester Absicht – verantwortungsimmun. Zwei aus meiner Maturaklasse wollen mit uns einen Ausflug machen. Es gibt eine wunderschöne Ausstellung einer kunsthistorisch bedeutsamen Malerschule. Wir waren sechzehn, als wir uns trennten. Jetzt sind drei davon tot, einer verschollen, einer krank, einer asozial. Aber wir waren immer noch eine Schulklasse, wenn wir uns in großen Zeitabständen getroffen haben. Sie will mit in die Galerie. Sie kann dort aber nicht mehr stehen. Sie spielt den Freunden intensives Betrachten eines einzigen Bildes vor, um ihr langes Sitzen auf einem Stuhl zu begründen. Der Animator der Ausstellung, ein Radiologe in Pension, empfiehlt ein Lokal mit Gastgarten. Er hätte dort schon mehrfach wunderbar gegessen. Der Gastgarten liegt an einer viel befahrenen Autostraße. Das Essen ist touristisch. Sie droht, ungnädig zu werden. Ich mache alle blöden Witze, die mir einfallen, um die Situation zu überspielen. Ich will nicht, dass sie etwas ausstrahlt, das nicht das wahre Ihre ist. Die Persönlichkeitsveränderung ist nicht schicksalsbedingt, sondern therapeutisch hergestellt.
Ich weiß, es ist lächerlich, aber gerade deshalb darf ich nicht vergessen es zu erwähnen. Der kunstsinnige Radiologe hat mittlerweile eine radikale Tumoroperation hinter sich. Wieder eine Irrsinnsnacht. Noch und noch Fehlalarme. Dann das Anscheißen. Sie bricht zusammen. Diese Würdelosigkeit!, sagt sie. Mehrfach sagt sie es. Das ist das Wort, von dem ich mit dem Prof. Lasker gesprochen hatte, als es um Chemo oder nicht ging. Ich hatte ihm gesagt, das Schlimmste, was man ihr antun kann, ist eine Lebensverlängerung mit Würdeverlust. Aber Würde ist keine medizinische Kategorie. Sie kommt von einer Chemo nach Hause. Ihre Aufgeräumtheit hat etwas Irres. Die Werte sind zwar schlechter, aber doch irgendwie auch nicht. Was kommt? Warten. Wird ein Organ versagen? Ein Mittel für das Blutbild ist zu teuer. Es wird also von den Ärzten abgesetzt. Ilona ruft an und sagt, sie muss es unbedingt weiter nehmen. Wir sollen es privat kaufen. Natürlich machen wir das. Erika ist da. Wir proben. Erika hat aufgrund von Magenproblemen das Rauchen aufgegeben. In mir steigt Hass hoch. Warum sie nicht? Nie hat sie aber auch nur einen Hauch von Verzicht leisten wollen, wenn es um ihre Befriedigung ging. War das nicht maßloser Egoismus? Der Hirnkrebs höhnt: Haben wir plötzlich eine Liebeskrise? Das Stück, das wir proben, erzählt von wechselnden Partnern. Ich erinnere mich an meine Tourneegewohnheiten. Habe ich Grund zur Reue? Nein und noch einmal nein! Das wäre der Gipfel der Verlogenheit, jetzt, im Nachhinein, einen Lebensstil in Frage zu stellen. Nach der zweiten Anwendung der fünften Chemo gibt es zur Abwechslung ein neues Wort: verätzt. Ich vergesse über all dem Grauen, dass sie jede Minute des Sonnenscheins konsumiert. Sie liegt reglos am Steg, manchmal liest sie, meist döst sie. Der Rest ihres Körpers will nur Sonne spüren. Sie hat
keinen Badeanzug mehr, der nicht an ihr nur herumhängt. Es ist ihr egal. Sie schwimmt, sonnt sich, schwimmt. Bis sie wieder rennen muss. Wahrscheinlich raucht sie. Das sehe ich nicht mehr. Die Komödienspiele wollten von mir eine Lesung. Ich stelle eine nostalgische Textfolge zusammen: Als ich noch Kabarettist war. Sie hört sich die Lesung an. Natürlich trägt sie, wie längst bei jedem Ausgang, eine Windel. Wie ich da so lese, springen alle unsere Stationen ein. Auch die Situation am Ursprung: die Einforderung der Karriere. Mag sein, dass es sie stolz macht. Der Erfolg ist ihr Erfolg. Die Urfreundin Ingrid, die mit dem Haus in Portugal, ruft an. Ob es beim Erholungsurlaub an der Algarve bleibt? Ich sage, es lässt sich zurzeit noch nicht genau planen. Intendant Peter will nach dem Erfolg des Wilde im nächsten Jahr mit mir als Regisseur weitermachen. Er nennt mögliche Titel. Ich sperre mich noch gegen Planungen über einen unbekannten, aber unvermeidlichen Tag hinaus. Der Hirnkrebs nicht. Was werde ich machen, wenn ich einen Installateur brauche? Einen Elektriker? Wie heißen die, die damals da waren? Wo stehen Telefonnummern? Leopold wird mir sagen müssen, wo ich das Geld abholen soll für mein Monatsbudget. Die vielen Gegenstände. Welche dienen einer Frau? Welche einem Paar? Was sind die Funktionen? Was soll ich mit Körben, Glasflaschen, Kerzenleuchtern? Das sind alles Signale eines anderen Lebens. Die Leica muss weg. Ich werde nie mehr fotografieren. Das Angelzeug muss weg. Wozu soll ich fischen? Sie wankt, wenn sie ein Brot streicht. Sie muss sich am Tisch festhalten. Sie atmet extrem flach, kaum mehr merkbar. Die Magenschmerzen setzen nur mehr ganz selten aus. Meine Partnerin aus Galanacht, Hemma, meldet sich mit einem sommerlichen Kontaktanruf. Wie es mir denn so ginge
bei diesem prächtigen Wetter? Sie erinnert mich an die Herbsttournee. Fünf Wochen Abwesenheit. Die Verträge sind, wie in diesem Gewerbe üblich und unumgänglich, vor eineinhalb Jahren unterschrieben worden. Ich muss da raus. Gar keine Diskussion. Der Tourneeunternehmer ist ein nobler Mann. Der wird das einsehen, wenn ich für das Jahr darauf für noch mehr Termine unterschreibe. Die Kollegen natürlich, die werden verzweifelt sein. Die kriegen nichts mehr für diesen Herbst. Aber ich kann nicht fünf Wochen nicht bei ihr sein! Was ist, wenn in dieser Zeit die Krise da ist? Je näher der Tag der Abreise vom See kommt, desto mehr missfällt die geplante Wohnungsumstellung dem Hirnkrebs. Der ist inoperabel. Ich könnte mich betrinken bis zur Bewusstlosigkeit. Meine Entwicklung zur hilflosen Kreatur läuft – auf einer anderen Ebene – parallel zu ihrer. Wir sind am See eingeladen. Wir tuckern mit dem alten Elektroboot in der Nacht retour. Wie immer sagen wir uns, dass es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als in einer Sternennacht über den dunklen See zu gleiten. Die Rückfahrt wird, wie die Hinfahrt, etwa dreißig Minuten dauern. Plötzlich wird sie unruhig. Es geht ihr zu langsam. Ich weiß natürlich, warum. Sie muss es mir nicht sagen. Sie sagt es aber. Ich kann aber nicht schneller fahren. Der Elektromotor leistet nicht mehr. Das haben wir immer angenehm gefunden. Jetzt entsteht eine Aggression. Die schaukelt sich hoch. Bis ich – zum ersten Mal und nach der Scham auch zum letzten Mal – den grauenhaften Satz sage: Ich kann nichts dafür, dass du krank bist. Am nächsten Morgen entschuldigt sie sich. Wir küssen und streicheln uns. Du bist der letzte Mensch, gegen den ich aggressiv sein dürfte.
Das wird nicht immer zu vermeiden sein. Sie steht im Bademantel vor mir auf der Wiese. Plötzlich verzerrt sie ihr Gesicht. Vor mir hockt sie sich nieder und presst. Ihr wunder Blick sagt: Bitte, sieh’s nicht. Bitte. Ich drehe mich blitzartig weg. Ich spüre, wie sie hinter mir einen kleinen Batzen Kot entfernt. Ich warte mit dem Umdrehen. Du brauchst jetzt gar nicht zu sprechen. Ich sehe dir an, was du sagen willst, sagen musst. Warum erzählst du auch das? Warum ziehst du sie so aus? Ich antworte dir: Weil ich ausziehen möchte, was sie auszieht. Weil ich zeigen möchte, wie mit dem Versuch der Demontage einer lebensbedrohenden Krankheit das Gelingen der Demontage des Menschen gesichert ist. Ich erzähle es, weil sonst kein Arzt erfährt, dass eine Frau sich vor ihrem Mann nackt hinhocken und in die Wiese scheißen musste. Ich will auch darüber nachdenken lassen, dass es Frauen gibt, denen das weniger ausmacht, und Frauen, die dabei seelisch sterben.
11.
Zum ersten Mal liegt diese grauweiße Seide über dem Grün des Waldes. Sätze aus Die fünfte Jahreszeit kommen hoch. Es ruht. Traudl, die alte Freundin, ist da mit ihrem Sohn Rene, dem Autor, dem besten Freund meines Sohnes. Ich soll seinen Roman lektorieren. Da soll man nicht schwerst melancholisch werden. Da sind die Kinder gerade erst im Sandstrand an der Adria herumgekrabbelt und jetzt legt einem eines den zweiten oder dritten Roman hin. Das ist in diesem Licht so unwirklich. Die Komödienspiele gehen zu Ende. Peter, der Intendant, fragt mich abermals, ob ich nicht auch in der nächsten Saison was machen möchte, und nennt einen Titel. Der ist wegen der Schwierigkeit nicht uninteressant. Aber das ist nicht im Zentrum, wenn ich drüber nachdenke. Kalt nachdenke. Und jetzt denkt nicht der Hirnkrebs meiner Charakterdefekte, sondern mein schlichter Überlebenswille. Ich werde im nächsten Sommer allein sein. Es gibt keine medizinische Äußerung, die daran zweifeln lässt, die auch nur auffordert, daran zu zweifeln. Ich werde dankbar sein, in diesem nächsten Sommer im Team, mit Menschen arbeiten zu können. Ich bitte mir noch Bedenkzeit aus. So wie ich das tue, ist es schon eine Zusage. Angsttraum. Sie durchleidet die schrecklichsten Phasen und ich bin irgendwo unter Vertrag. Rasch erwachen und schwimmen gehen. Der Anrufbeantworter des Telefons ist defekt. In diesem Jahr lasse ich ihn nicht mehr richten, sagt sie. Die liebe Masseurin kommt zur letzten Massage. Der Hirnkrebs meldet sich. Wird sie im nächsten Jahr nur wegen mir noch kommen? Wird sich die Anfahrt für sie rechnen, für
nur eine Massage? Mein letzter Seetag. Nicht ihrer. Ich muss weg. Die szenischen Proben für die Endstation müssen beginnen. Den Text kann ich. Sie hat sich, Erikas Rolle lesend, noch einmal davon überzeugt. Der Sohn kommt mit der neuen Freundin. Die mag sie. Die mag ich. Die mögen wir. Das macht sie froh. Froh macht sie auch, dass Sohn und Vater, für sie ständig spürbar, ein neues Verhältnis zueinander haben. Wie oft habe ich mir gedacht, wie viel Anteil das bisherige Verhältnis Vater-Sohn an ihrem Krebs gehabt haben mag. Sie wird jetzt mit mir fahren, aber dann noch einmal zum See fahren, um alles zuzumachen. Sie fürchtet sich vor der Endgültigkeit. Sie schiebt sie hinaus. Ich verfüge, dass das nur sein darf, wenn der Sohn bei ihr sein kann. Das wird einzurichten sein. Das muss einzurichten sein, denn sie darf beim Verlassen des Sees auf keinen Fall allein sein. Auf gar keinen Fall. Sie wird sich im Wasser festkrallen wollen. Sie darf nicht allein sein, wenn sie einsehen muss, dass das bei Wasser nicht möglich ist. Summer in the city. Immer noch. Sie fährt ins Krankenhaus. Zum Check. Zur Chemo. Sie hat Prof. Lasker am Telefon gesagt, wie furchtbar ihre Darmzustände sind. Da wird der Tumormarker nicht viel besser geworden sein, hat der gemeint. Aber wenn er stabil bleibt, ist es auch in Ordnung. Heißt das, dieser Zustand soll von Dauer sein? Sie hört ihr Stöhnen selbst nicht mehr. Es mischt sich in den normalen Atem. Sie nimmt Medikamente nach wie vor erst, wenn die Schmerzen da sind. Nicht prophylaktisch. Nicht sofort nach dem Aufwachen. Das kann nur einen Grund haben: eine unterbewusste Hoffnung, dass die Schmerzen sich heute nicht einstellen werden. Aber sie weiß doch?… Wer kann wissen, was ein Mensch in diesem Zustand weiß. Sie wird immer weniger. Wir treffen uns zweimal mit Freunden beim Hauswirt um die Ecke. Sie muss nach Hause gebracht werden. Aber sie
schließt aus, energisch, unansprechbar, dass sie nicht noch einmal zum See fährt. Die Vorstellung, sie allein vom Balkon auf das Wasser starren zu lassen, im Bewusstsein, es wird nie wieder sein, ist für mich nicht aushaltbar. Aber hofft sie nicht doch? Sie sagt ganz überraschend, sie sei dagegen, dass ich im nächsten Sommer wieder inszeniere. Wer weiß, wie’s mir geht? Was ist, wenn ich im Krankenhaus bin? Am Vortag vor ihrer Fahrt zum See ruft sie von der Kosmetikerin an. Es ginge ihr so halbwegs. Daher möchte sie die Probe sehen. Erika und ich proben auf deren, an eine wunderbare alte Villa zwischen vielen Bäumen angebauter, weiß gestrichener Holzveranda. Für viele meiner Lieblingsstücke könnte man kein schöneres Bühnenbild erfinden. Unseres, ein Heurigentisch mit vier Stühlen, hat hier Platz. Auf einem fünften Stuhl sitzt die Regisseurin. Ein anderer wird für den Besuch bereitgestellt. Sie hat sich für die Probe angezogen wie für eine Premiere. Wieder verhüllen die weichen, weiten Stoffe den Körper afrikanischer Hungeropfer, wieder umschmeichelt ein Tuch den schlaff hängenden Hals und gibt nur das frisch, aber ganz leicht geschminkte Gesicht mit den großen Augen frei. Erika wird später einmal sagen, sie wäre an diesem Tag unvorstellbar schön gewesen. An die Wahrheit erinnert nur, dass sie sich einen Polster geben lässt, um das Sitzen zu ertragen, dass sie sich einen zweiten Stuhl erbittet, um die Beine hoch lagern zu können. Ihr Äußeres drückt einen Stolz aus, den sie nicht mehr leben kann. Die Gefahr des In-die-Hose-Machens besteht für mich. Ich spiele um mein Leben. Wir zeigen ihr nur, was wir schon perfekt können, etwa drei Viertel des Stückes. Wir sagen, damit für die Premiere noch etwas bleibt. Ihre Zeit am See ist begrenzt. Eine Darmuntersuchung ist angesetzt. Sohn und Freundin sind mit ihr. Die Stimmung sei
gut, sagen die mir. Es ist vielleicht besser, dass die beiden um sie sind und nicht ich, denke ich mir. Ich würde mich durch Lockerheit und Heiterkeit verraten. Am Tag der Abreise ruft sie mich in der Früh an. Es ist etwas im Bauch. Das muss heraus. Es wird wohl noch eine Operation geben. Panisch starre ich in den Kalender. Zwischen der Try-out-Premiere von Endstation in der so genannten Provinz und einigen Folgevorstellungen dort und dem Tourneebeginn von Galanacht liegt nur eine Woche. Dann bin ich fünf bis sechs Wochen weg. Das kann nicht sein. Was wäre, wenn. Ich habe nachzutragen, dass unser Sohn mich ganz massiv gebeten hat, die Tournee nicht abzusagen. Mein Bleiben, meine Anwesenheit müsse sie als Urteil, als Erwarten des Todes interpretieren. Das dürfe nicht sein. Der Freundeskreis, von mir befragt, bestätigt das. Wir sind Opfer unserer Unaufrichtigkeit. Indirekte Signale sind gegeben und durch optimistische Anwandlungen wieder relativiert worden. Die Unaufrichtigkeit der Medizin pflanzt sich in uns fort. Falsche Rücksichten errichten ein Lügengebäude. Ängstlich warten wir, wir vor dem Sterben Unemanzipierte, auf dessen Zusammenbrechen. Der Hirnkrebs ist an Zyne nicht mehr zu überbieten. Zwischen Ende November und Mai, dem Beginn eines langen Gastspiels, wäre das Finale günstig. Ich hasse mich. Die Disposition meiner Existenz ist nicht abstellbar. Wieder konfrontiere ich mich mit meinen Eltern. Analysiere ich den genetischen Fluch. Ich bin nicht bei ihr, aber ich schicke mit ihr die letzten Blicke auf den See. Ich durchlebe mit ihr, dass es endgültig und unveränderbar die letzten Blicke sind. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich würde gerne erbrechen. Sie kommt an. Der Sohn sagt mir, sie sei während der Zugfahrt pausenlos auf dem Klo gesessen. Nahezu die ganze
Zeit. Sie sei in einem erbärmlichen Zustand gewesen. Später einmal sagt er, er hätte nicht geglaubt, dass sie die Fahrt überlebt. Der Bauch ist unförmig angeschwollen. Die Nacht wird aus den bekannten Gründen durchwacht. In der Früh die Telefonate. Es wird für ein Bett gesorgt. Ich bringe sie ins Krankenhaus. Das Bett steht in einem Bad. Sie sind überbesetzt. Dann gibt es doch ein Zimmer. Der Professor wird kommen. Prof. Lasker verfügt eine sofortige Notoperation. Es ist Samstag. Der Primar der Chirurgie, der Prof. Keres, ist nicht im Hause, erfährt Prof. Lasker. Er hat über das Wochenende frei. Wer hat Dienst, will Prof. Lasker wissen. Er hört einen Namen. In seinem gänzlich reglosen Gesicht steht: Der geht nicht. Der bringt sie um. Ich gebe zu, das ist meine Interpretation. Vielleicht hat er auch nur gedacht, ich möchte den Kollegen mit dieser Aufgabe nicht überfordern. Er kündigt an, Prof. Keres privat anzurufen. Kurze Zeit später erfahren wir, Prof. Keres wird wegen der Dringlichkeit seinen freien Abend opfern. Er wird gegen dreiundzwanzig Uhr mit der Operation beginnen. Wie schon oft sind wir Nutznießer des Optimums, des Maximums, im Grunde der Nicht-Normalität. Wäre es eine anonyme Notaufnahme, denke ich, wäre sie morgen tot. Würde sie aus der Narkose nicht mehr aufwachen. Ich kann im Geiste noch so an Wände rennen, ich hielte das für einen gnadenvollen Gang der Dinge. Dienstag früh. Ilona, die Übermittlerin vom Dienst, ruft an. Die Operation ist vorbei. Soviel sie weiß, ist fast der ganze Darm weg. Man spricht im Haus von einer außerordentlich schwierigen und meisterlich ausgeführten OP. Sie wird sicher wieder hochkommen. Die Chemotherapie wird weitergehen müssen. Eine Information könnte mich um den Verstand bringen, wäre er noch vorhanden. Der Primar Dr. Steinitz, der
Operateur des Blasenkrebses vor zwei Jahren, ist in meiner Wertungsskala als sehr guter Mann etabliert. Jetzt höre ich, der Prof. Keres hätte während der Operation fachliche Anklagen gegen Steinitz ausgesprochen. So würde heute kein Mensch mehr operieren, wie der operiert habe. Die Unterlassung der Nachbehandlung wäre zudem ein Skandal gewesen. Ein Vorwurf, der, wenn, den beerbenden Oberarzt zu treffen hätte. Aber wie dem auch sei. Mir ist kein Vertrauen mehr möglich. Das ärmste Schwein ist der um den Patienten bangende Laie. Ich habe mein Potenzial an Verwerfung auf die Universitätsklinik, auf die Herren Petrosjan und Kann fokussiert. Jetzt kommt Steinitz dazu. Alles dreht sich. Dann frage ich mich: Wozu werten? Es ist doch scheißegal, wer was verschuldet hat und wer was nicht. Ich besuche sie in der Intensivstation. Sie ist lieb. Total verschwollen, sie spricht ganz langsam. Ich beginne. Der Rest vom Darm wird funktionieren. Lügst du mich an? Beim Gehen weine ich. Nicht weinen. Ich weine nicht aus Angst. Ich weiß. Dann sagt sie noch etwas, das nur mir gehört. In der U-Bahn sitzt mir ein interessanter Mann gegenüber. Er mustert mich kurz, dann zögert er nicht mehr: Sie sind doch –? Mein Name ist Keres. Ich habe Ihre Frau operiert. Ich reagiere automatisch: Ich danke Ihnen sehr, Herr Professor! Sie müssen ja ein wahres Wunderwerk vollbracht haben. Man hat mir gesagt, die Virtuosität dieser extremen Operation hätte unter den Kollegen die Runde gemacht. Prof. Keres berichtet, ohne jeden Anflug von Eitelkeit. Ich habe Blut geschwitzt. Sechs Stunden lang. Sie können sich nicht vorstellen, wie das ausgesehen hat. Ich habe so etwas – ehrlich gesagt – noch nie gesehen. Er scheint bei mir medizinische Kenntnisse zu vermuten, denn er deutet an, was er noch irgendwie mit was anderem zusammengeflickt hat. Ich frage nicht: Wozu? Ich danke nur.
Fast tut er mir leid, für so einen Horroreingriff aus dem Wochenende gerissen worden zu sein. Wäre ich neben ihm gestanden, als die Bauchhöhle geöffnet wurde, hätte er mir sagen können, was das bedeutet, was wir da vor uns sehen, hätte ich ihn gefragt, ob wir nicht lieber zunähen. Jetzt, nachher, erübrigt sich jede Frage. Eine chirurgische Meisterleistung ist vollbracht worden. Ich erkundige mich doch nach der mutmaßlichen Haltbarkeit des organischen Flickwerks, das ich natürlich nicht so nenne. Seine Reaktion ist nur mimisch, aber eindeutig. Es kann jederzeit eine finale Komplikation auftreten. Als wir uns trennen, habe ich das sichere Gefühl, dass der Mann mich bedauert. Es beginnt das große Warten. Wird der Darm wieder annähernd normal zu arbeiten beginnen oder wird er nicht? Die Ärzteschaft ist uneins. Soll man weniger Schmerzmittel geben, wegen der Darmanregung, oder die Patientin mehr Schmerzen ertragen lassen? Von Prof. Lasker gibt es auch die Frage an sie, warum sie denn diese Qualen ertragen hat, warum sie nicht viel früher gekommen ist? Sie sagt: Ich wollte nicht weg vom See. Die Medizin kann den Eindruck von Sicherheit nicht mehr vermitteln. Dankbar nehme ich zur Kenntnis, dass man das große Bescheidwissen auch nicht simuliert. Soll man mit dem Entwässerungspräparat entwässern? Chef und Oberarzt sind konträrer Meinung. Sie macht einen Essversuch mit Suppe. Sie erbricht Galle. Es sieht aus wie verdorbener Cremespinat. Sie spricht schwer. Sie wird gegen das Pflegepersonal gereizt. Ich versuche, sie zu ermahnen, nicht ungerecht zu sein. Aber die Kriterien haben sich verschoben. Mein Journalistenfreund Hans ruft aus München an. Er ist aus dem Koma erwacht, von einem Arzt gerettet worden. Er hofft, eines Tages auch noch von der Dialyse wegzukommen. Ich versuche, mir bestätigen zu lassen, dass diese Hoffnung berechtigt ist. Aber seine
Schwägerin sagt: Nein. Hans war schon hinter dem Sarg seines Bruders Herbert, einer der anerkannten Edelfedern des deutschsprachigen Journalismus hergegangen. Der hatte an Lungenkrebs gelitten, stand vor der zweiten Chemotherapie, als ihn ein Gang zum Kühlschrank mit einem blitzartigen Herztod erlöste. Dieses Glück hat nicht jeder. Ich bin von Tod umzingelt. Oft im Leben habe ich schon gemerkt, kaum ist ein Mensch an einer seltenen Krankheit erkrankt, erfährt man, wer diese Krankheit noch hat oder gehabt hat. Man gewinnt den Eindruck, diese Krankheit ist eigentlich die allerhäufigste. Mit dem Tod ist es genauso. Ich soll Rechnungen schreiben. Ich kann das aber nicht. Die Post stapelt sich. Mein Sohn fordert mich auf, gegen eine weitere Chemotherapie Einspruch zu erheben. Ich weiß, er hat recht. Aber auch ich bin zermürbt. Die Kraft, lieber Gott zu spielen, ist nicht mehr da. Sie hat Angst, die Premiere von Endstation nicht sehen zu können. Sie hat Erika und mich in einem Fernsehgespräch gesehen. Es hat ihr gefallen. Sie nimmt noch Anteil. Ich besuche sie am Vormittag. Ein Arzt hat Banane erlaubt. Auch die erbrochene Banane ist grün. Ich kann auch einem Magenkranken Chili con Carne erlauben, denke ich mir. Das Kotzen wird allerdings unvermeidbar sein. Prof. Keres besucht sie. Er stellt sich als der Mann vor, der sie operiert hat, erkundigt sich nach ihrem Befinden. Sie weiß, dass er Großes geleistet hat. Sie sagt: Dann sind Sie also schuld, dass ich die OP überlebt habe. Ich kenne sie. Sie meint es genau so. Nicht ironisch. Nicht anklagend. Sie stellt es fest. Dieser Mann ist schuld, dass sie noch lebt. Ich werde nie wissen, was sich der Arzt beim Anhören des Satzes gedacht hat. Beim Wort schuld.
12.
Jetzt hat sie auch Fieber. Ich telefoniere eine Stunde lang mit meinem Sohn. Auch er sieht die Sache absolut final. Er äußert seine Besorgnis, dass ich den kommenden Dingen nicht gewachsen sein könnte. Das bewegt mich. Er denkt auch an mich. Was die medizinischen Fragen anlangt, hat er sich ein völlig unsinniges Konstrukt ausgedacht. Dummerweise war die Information, Prof. Keres hätte die Operationsmethode des Dr. Steinitz disqualifiziert, zu ihm gedrungen. Er ist aber nicht auf diesen böse, sondern auf unseren Arztfreund Rainer, weil der den Dr. Steinitz empfohlen hat. Trauer setzt logisches Denken außer Kraft. Unter Alkoholeinfluss erzählt unser Sohn die abenteuerlichsten Geschichten über faustgroße Tumore und deren Bekämpfung durch abwegige Naturheilmethoden. Es ist verzeihlich. Er ist im Begriffe, seinen Lebensmenschen zu verlieren. Aber ich muss die Dinge zurechtrücken. Er tut nicht nur dem Mann unrecht, der seiner Mutter das Rauchen ultimativ verboten hat, sondern auch dem Mann, der seinem Vater schon einmal das Leben gerettet hat. Auch bei ihm regt sich ein Hirnkrebs. Wie auch nicht, denke ich mir, er ist mein Sohn. Die Zukunft des Hauses am See ist ihm und seinen Freunden schon ein Gesprächsthema. Am Morgen darauf fahre ich sehr früh zu ihr. Ihr Dösen wird durch Schmerzen unterbrochen. Wehmütig fragt sie: Glaubst du, dass ich je noch einmal schmerzfrei sein werde? Ich nicke. Gleichzeitig schäme ich mich. Sie muss merken, dass ich schlecht lüge.
Die Medizin hat ihre komischen Seiten. Bei der Visite sagt der sichtlich aufgeräumte Oberarzt: Ja, das sind jetzt viele Köche. Da ich die Fortsetzung des Satzes kenne, will ich Genaueres wissen. Wer wird was wie verderben? Ich spreche ihn auf dem Gang an, mit der Bitte, jetzt endgültig keinen Schmerz mehr zuzulassen. Er sagt: Der Anästhesist sagt so, der Internist so, der Chirurg so, der Chef so. Wir müssen da irgendeinen sucus herausfiltern. Sie wird von der Chirurgie in die Onkologie rückgeführt. Die Schwester sagt: Willkommen zu Hause! Ich würde den Satz gerne stumm, nur für mich, kommentieren. Aber ich bringe keinen Kommentar zustande. Einen Tag lang erbricht sie nicht. Das bedeutet sofort Hoffnung. Am Tag darauf wird alles erbrochen. Auch das Nichtgegessene. Beim Entgegennehmen eines Anrufs erbricht sie in den Hörer. Die Kraft, Vater und Sohn wissen zu lassen, wie glücklich sie über deren gutes Verhältnis ist, hat sie noch. Noch einmal treffe ich den Operateur Prof. Keres. Er zeigt sich beeindruckt von ihrer Leidensfähigkeit und Stärke. Er weiß mittlerweile, dass die Darmfunktion nicht mehr in den Griff zu kriegen ist. Er sagt, es gäbe theoretisch noch die Möglichkeit einer Verbindung von Magen und Darm. Aber angesichts der Histologie hält er eine weitere Operation nicht mehr für sinnvoll. Sie ist also aufgegeben. Aber das Sterben hat seine perverse Logik. Täglich kommen sehr nette Physiotherapeutinnen und machen sie mobil Sie kneten an ihr herum. Sie lassen sie drei, vier Stufen steigen. Von Fortschritten ist die Rede. Sie sagt zum Sohn: Diesmal wird die Reha länger dauern. Der Sohn wird aktiv. Er sucht das Gespräch mit Prof. Lasker. Er sagt, rascher wäre besser. Es gibt keinen Widerspruch, aber
auch keine Bestätigung. Sie will nicht mehr besucht werden. Die Zunge ist schwer. Ilona sagt, sie spricht wie ein Junkie. Ich weiß nicht, wie Junkies sprechen. Sie will von den Ärzten wissen, wann die Chemo beginnt. Einer Anruferin sagt sie, sie muss mindestens noch vierzehn Tage im Krankenhaus bleiben. Der Premierentag von Endstation ist da. Ich bringe den üblichen Mittagsschlaf nicht zustande. Der Hirnkrebs stellt den Fernsehapparat ins Nebenzimmer. Der Sohn hat sich eine Tiefkühltruhe gekauft. Er wird unseren Tiefkühler von allen Sachen befreien, mit denen ich nichts werde anfangen können. Das Sterben beginnt zu leben. Die Frau, die in reifen Jahren wunderbar proportionierte zweiundsiebzig Kilo gewogen hat, wiegt jetzt knapp über fünfzig. Sie erbricht und erbricht. Sie will Termine wissen. Wann kann ich nach Hause? Mein Tourneetermin rückt näher. Sie nimmt Erikas und meinen Premierenerfolg wahr, aber – erstmals in ihrem Leben – scheint er keine Bedeutung mehr für sie zu haben. Es ist nicht mehr auch ihrer. Ich sitze vor einem neuen Anrufbeantworter. Mir rinnt der Schweiß herunter. Kein Mensch sagt mir, wie man den Text aufspricht. Ihr Blutdruck spielt verrückt. Er geht rauf und runter. Sie schläft. Der nackte Steißknochen ragt durch die alte Haut. Sie, die immer Stilbewusste, hat überhaupt kein Verhältnis mehr zu ihrer Nacktheit. Sie nimmt nicht mehr wahr, dass das verrutschte Hemd vor der Visite ihre Scham zwischen zwei Zündholzschenkeln freigibt. Die Professoren kommen nacheinander. Prof. Keres will die Naht einer nicht heilen wollenden Wunde noch einmal machen. Danach sieht er – aus chirurgischer Sicht – für sie keinen Grund mehr, nicht nach Hause zu gehen. Prof. Lasker spricht von der Gefahr eines Spitalkollers. Hat sie den nicht schon lang?, frage ich mich. Er erkundigt sich nach den Möglichkeiten häuslicher Pflege. Wir haben schon
Vorgespräche mit unserer Zugehfrau Anna geführt. Ja, die würde unbegrenzt zur Verfügung stehen. Sie fühlt sich der Kranken über die Jahre sehr verbunden. Mit diesem Besprechen der Möglichkeit des Heimkommens dreht sich die Stimmung total. Rational ist nichts mehr fassbar. Man geht nach Hause, weil es besser sein wird. Tags darauf ist alles aus. Jede zweite Stunde muss sie aufs Klo. Sie schafft den Gang aber körperlich nicht mehr. Sie will nichts mehr essen. Niemanden mehr sehen. Ich interveniere bei Prof. Lasker. Er wird kommen. Er wird etwas veranlassen. Was? In die rabenschwarze Tragödie bricht ein bisschen Lebenskitsch ein. Sohn und Freundin absolvieren eine Beziehungskrise. Der arme Bub, sagt sie ganz leise. Ich weiß nicht, wie sie die Sache mitgekriegt hat. Die letzte Vorstellung der Endstation. Ein Schauspieler ruft an. Er ist neu im Tourneeensemble von Galanacht. Er hat mit dem Regisseur geprobt, will mir sagen, wie sehr er sich auf die Rolle und die Tour freut. Ich kämpfe verzweifelt mit meinem Hirnkrebs. Der überlegt sich, ob nicht ein Sterben noch vor der Tour die beste Lösung wäre. Der Operateur hat eine zweite Naht angebracht, damit sich die Wunde schließt. Eine österreichische Autorin erhält den Nobelpreis für Literatur. Ich habe überhaupt keine Veranlassung, diese Wahl aus literarischen Gründen so oder so zu finden. Ich mache etwas ganz anderes. Ich sehe die Kranke vor mir, wie sie in der Mitte ihres Lebens vor mir dastand. Die gefeierte Autorin hätte alles an ihr abgelehnt, denke ich mir. Die Eleganz, die Souveränität, das Bekenntnis zum eigenen Geschlecht, das Begreifen des Partnerlebens, des damit verbundenen Rollenverhaltens. Diese Erkenntnis enthebt mich jeder anderen kritischen Wertung. Eine bunte deutsche Sonntagszeitung meldet, Ex-Partner Dieter sei todkrank. Ich kenne die Methoden dieser Art von
Journalismus. Wahrscheinlich hat er zweimal ins Telefon gehustet, denke ich mir. Das reicht diesen Leuten. Aber dann meldet sich der Hirnkrebs. Was ist, wenn die ausnahmsweise einmal recht haben? Wenn er wirklich während der Tour stirbt? Er hat mir einmal gesagt, ich soll die Rede halten. Ich habe mir damals vorgenommen, sollte es dazu kommen, würde ich nur ihn aus seinen Büchern zitieren. Soll ich die also auf die Tour mitnehmen? Langsam frage ich mich, ob man schon von Geisteskrankheit sprechen kann. Die Visite kommt. Sie sagt ganz entschieden, sie will nicht mehr. Es gibt nichts mehr, was nicht schmerzt. Sie sagt: Ich möchte mich auflösen. Der Oberarzt ordnet eine Spritze an. Eine begleitende Ärztin fragt zurück: Eine ganze? Diese Rückfrage ist nicht harmlos. Sie ist nicht fachlich gemeint. Sie ist weltanschaulich oder religiös begründet. Sie hat etwas Böses. Wahrscheinlich ist das eine Dosis, die Sucht auslösen könnte. Daher unter normalen Umständen nicht zu verantworten. Diese Frau zieht also allen Ernstes in Betracht, die Halbtote könnte süchtig werden. Wahrscheinlich geht der Oberarzt vor dieser Kollegin ein Risiko ein, wenn er jetzt auf ihre Frage: Eine ganze? sehr scharf antwortet: Ja, eine ganze! Ich könnte ihn für diese Bestimmtheit umarmen. Die Spritze wirkt. Eine seltsam glückliche Frauenstimme sagt mir am Telefon, sie hätte so schön von unserer Wohnung geträumt. Ich weine. Am Abend gehe ich in eine Kabarett-Premiere. Viele Frauen sind da. Ich würde gerne auf Blicke reagieren. Ich kann nicht. Am nächsten Morgen der Anruf. Ich soll erst später kommen. Sie schieben sie in die CT. Um zu sehen, ob sie tot ist? Dazu brauchen sie einen Computer? Sie wird auch noch in den PET geschoben. Was immer das sein soll. Jedenfalls etwas Wichtiges. Denn die Sache wird vier Stunden dauern. Ihr hat man den Grund auch nicht gesagt. Ilona, die sonst immer zu
befragen ist, war nicht zu erreichen. Aber ich erfahre etwas anderes. Das gebe ich an Schwester und Schwager per Fax weiter. Schwester und Schwager wollten mehrfach wissen, ob sich ihre Schwägerin der Todesnähe bewusst ist. Jetzt kann ich ihnen einen Satz übermitteln, den sie zur Psychologin gesagt hat: Solange er auf Tournee ist, sterbe ich nicht. Sie will es noch in der Hand haben, das beeinflussen zu können. Ich werde der Welt zu erzählen haben, was Partnerschaft bedeutet. Der letzte Tag vor dem Abschied. Noch eine dramaturgische Groteske. Um halb fünf Uhr morgens tanzt im Nebenraum das kleine Licht eines Einbrechers. Ich springe auf. Weg ist der Schatten. Die Eingangstür ist aufgebrochen. Es ist Sonntag. Der Rund-um-die-Uhr-Schlüsseldienst kommt erst nicht, dann bringt er das Sicherheitsschloss nicht zustande. Ich will noch zu ihr. Mit dem gepackten Tourneekoffer. Die Leute werden und werden nicht fertig. Ich telefoniere mehrfach und erfinde Gründe für die Verzögerung. Vom Einbruch will ich ihr nichts sagen. Die letzte Stunde bei ihr. Immer mit Blick auf die Uhr. Wegen des Abflugs. Wir versuchen, uns einen normalen Tourneeabschied vorzuspielen. Das kann nicht gelingen. Zur Wahrheit haben wir keinen Mut. Es ist unbegreiflich, aber es ist so. Sie wird bald nach Hause kommen und dort kann sie sich langsam, in Ruhe, in vertrauter Umgebung, von Sohn und Frau Anna mit Liebe und Sorgfalt umgeben, erholen. Zu meinem schlechten Gefühl wegen des farcenhaften Verhaltens kommt das schlechte Gewissen wegen der Abreise. Aber wie ich mein Hirn auch zerlege, ich habe keine Chance. Das farcenhafte Verhalten ist von der Medizin erzwungen. Wie kann ich einer ärztlichen Betreuung in den Rücken fallen, die ihr täglich Therapeutinnen schickt oder anmerkt, die
Möglichkeiten chemischer Anwendungen seien noch nicht vollständig ausgeschöpft. So gerne würde ich sagen, ich weiß, du willst nicht sterben, solange ich auf Tournee bin, aber wir wissen, es könnte doch so sein. Ich möchte nicht in dem Bewusstsein reisen, mich nicht, für den Fall des Falles, für immer von dir verabschiedet zu haben. Sagen wir uns Auf Wiedersehen, in der Hoffnung, dass es eines gibt, aber gestehen wir uns ein, es kann sein, dass wir unsere Gesichter zum letzten Mal sehen. Alles Widersinn! Die Tournee ist nicht abgesagt worden, weil das Leben weitergehen muss, weil ein Sterbetag durch mein Zuhausebleiben nicht angekündigt sein darf. Eigentlich schicken sie mich weg. Wofür der Hirnkrebs nicht undankbar ist. Sie will, dass ich fahre. Sie will, dass es mir egal ist, wenn Außenstehende dazu eine negative Meinung haben. Sie will in ihrem Entschluss, nicht zu sterben, solange ich auf Tournee bin, nicht irritiert sein. Auch der Sohn schickt mich weg. Alles in ihm will zeigen, ich bin für sie verantwortlich. Ich werde beweisen, es sein zu können. Ich sitze im Flugzeug, so elend wie noch nie in meinem Leben. Der Einbruch fällt mir ein. Meine Wohnung ist entehrt. Ich bin mit ihr vergewaltigt. Das ist nicht mehr mein Heim. Alles löst sich auf.
13.
Die schnellen und knappen Wiederaufnahmeproben. Da muss von der Tourneeleitung durchgesickert sein, was ich dem Tourneeunternehmer gesagt habe. Meine Frau ist in einem finalen Zustand, es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit während der Tourneetermine zur Katastrophe kommen. Ich möchte ihn vorwarnen, dass dann Vorstellungen ausfallen. Der Mann nimmt das professionell und nobel zur Kenntnis. Er muss dem Ensemble über die Information durch einen Partner die Situation schon vorher mitgeteilt haben. Mir kommt bei der Begrüßung sehr viel Herzlichkeit, Dankbarkeit und zum Glück taktvolles Schweigen entgegen. Aus dem Bett erkundigt sie sich am Telefon nach dem Probenverlauf. Sie sagt ein klares toi, toi, toi. Dieses Stück ist noch ihres, es ist das – ich habe es erzählt –, das sie mit dem größten Vergnügen seit Langem abgeschrieben hatte. Für diesen Text will sie bis zum Ende zuständig sein. Die Befunde nach den beiden letzten Untersuchungen sind sehr, sehr schlecht, höre ich. Es gibt einen Therapiewechsel. Tabletten oder so ähnlich. Sie wird immer weniger, sagt der Sohn. Stiegen konnte ich heute nicht mehr steigen, sagt sie. Sie spricht von einem Rückfall? Sind alle wahnsinnig geworden? Rückfall von wo wohin? Wann war denn keiner? Quälende Tage. Während der Busfahrten mache ich Notizen auf einen Schreibblock. Ich kann diese Bilder, diese Situationen nicht ununterbrochen durchspielen. Ich muss notieren, was mir einfällt, sonst platzt der Schädel. Ich muss
den Ablauf wiederherstellen. Das ist das, was ich für mich tun kann. Für sie nichts. Tournee, das ist das Defilee von Wegweisern nach. Mit den Städtenamen verbinden sich Erinnerungen an verschiedene Programme, an verschiedene Lebensphasen. Damit an verschiedene Jahre, Wohnungswechsel, Glücksmomente und Krisen. In mir ist der Druck da, einen autobiografischen Roman schreiben zu wollen, in dem es zwei Hauptfiguren gibt. Aber ich will mir das nicht erlauben. Auch jetzt nicht, wenn ich dir erzähle. Denn ich will von nichts anderem erzählen als von ihrem Sterben und der frontalen Begegnung mit den verschiedenen Gesichtern der Medizin. Immer wenn mich beim Notieren Scham überfällt, weil ein Schreiber ein Schicksal benutzt, entschuldige ich mich mit dem festen Entschluss, diese Notizen nie zu einem Buch zu verbinden. Aber jetzt, mitten im Weiterleben, ertrage ich es nicht, die Fragen nicht laut auszusprechen. Glaub mir, es fällt mir nicht leicht zu entscheiden, was an Information zu diesen Fragen gehört, was ihre Wichtigkeit verstärkt und was nicht. Ärzte, sofern sie nachdenken, müssten vor ähnlichen Selbstzweifeln stehen. Dann Entscheidungen treffen. Und den Kopf hinhalten. Es ist ein Freitag, an dem ich nach dem täglichen Schwimmen im jeweiligen Hotelpool erfahre, dass sie am kommenden Dienstag nach Hause gehen darf. Oder soll. Seit einer Woche, also seitdem ich weg bin, arbeiten alle an einer Lösung. Der Hausdienst dieser bekannt segensreichen christlichen Vereinigung ist bestellt. Es wird einen Schlüsseltresor an der Türe geben. Ein direktes Alarmsystem. Frau Anna und deren Tochter werden täglich da sein. Der Sohn sowieso. Ich frage Ilona, was die Ärzte sagen. Die sagen, sie können nichts mehr für sie tun. Sie sagen es nicht so. Sie sagen, sie würde hier nicht mobiler, nicht gesünder.
Dass das bedeutet, sie geht jetzt nach Hause, um zu sterben, sagt man nicht. Auch nicht, dass man ihr damit die Würde zurückgibt. Mir sagt sie, sie hält das Krankenhaus nicht mehr aus. Und sie habe Angst gehabt, ich könne Zweifel an der Richtigkeit des Entschlusses haben. Wie kannst du glauben, dass ich gegen etwas bin, was du jetzt für das für dich Richtige hältst, antworte ich. Jetzt resigniert die Medizin. Werde ich je einen der wichtigen Ärzte mir gegenübersitzen haben und mit ihm darüber sprechen können, ob das nicht um quälende Zeitspannen an Martyrium zu spät ist? Mein Sohn ruft spätabends an. Er hat mit einem Freund ein Rund-um-die-Uhr-Konzept ausgearbeitet. Mein Hirnkrebs meint, den Schlüsseltresor außen sollte ich mir behalten. So was kann man bald einmal selbst brauchen. Ich gehe in ein feines Lokal essen. Ich möchte ihr morgen berichten können, dass ich nicht im Hotelzimmer sitze und zittere. Während des Essens und natürlich auch längeren Trinkens will ich von mir wissen, ob ich auf flehentliches Verlangen die letzte Spritze geben würde. Meine Antwort ändert sich im Minutentakt. Der Sohn erzählt mir Genaues von der Gegensprechanlage zum Chefarzt der karitativen Vereinigung. Sie ist ein Spitzenwerk der Technik. Die Orthopädiefirma hat eine Gehhilfe geliefert. Auch die wird ihr das Leben sehr erleichtern. Alles ist für ihre Heimkunft perfekt vorbereitet. Mein Hirnkrebs freut sich für sie, dass sie die Wohnung noch einmal so sehen wird, wie sie ist, denn später wird die dann anders aussehen. Der Sohn ruft jetzt oft an. Auch mitten in der Nacht. Es ist ihm bange. Gut, dass wir miteinander reden können. Er wird versuchen, die ersten ein, zwei Nächte in meinem Bett zu schlafen. Sie wird es nicht wollen, meint er, aber er wird es versuchen.
Ich sage ihm, dass ich ihm traue. Seiner Sensibilität, seinem Feingefühl, seiner Liebe zu seiner Mutter. Ich weiß, das tut ihm gut. Er weiß, dass ich es so meine. Am Tag ihres Heimkommens ruft mich meine Schwester an. Sie will wissen, ob ich Bescheid weiß und das Heimgehen billige. Ich bejahe das. Und ich sage dazu, dass sie sich tatsächlich einen psychologischen Schub erhofft. Das Gegenteil wird der Fall sein, meint die Schwester. Und wünscht mir noch eine erfolgreiche Tournee. Ich telefoniere mit ihr. Sie spricht schwer. Sie muss stark sediert sein. Wir sagen uns Sätze wie vor dreiundvierzig Jahren. So, jetzt ist sie zu Hause. Ich lasse mir alles genau schildern. Die Wohnung ist eine kleine Klinik geworden. Frau Anna hat darauf bestanden, täglich bei ihr zu schlafen. Ich sorge mich um unseren Sohn. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm der nahe Verlust keinen zu starken Schnitt zufügt. Ich habe Angst vor seinen Kompensationen. Die Schizophrenie der Existenz. Das hat jetzt nichts mit dem Lache-Bajazzo-Klischee zu tun, wenn ich sage, die Tournee läuft großartig. Auch der Tischlermeister würde in seine Auftragsbücher schauen und sagen, der beste Umsatz seit Jahren. Erfolg wird zu gelebter Trauer. Sicher kann man auch tot trauern. Ich nicht. Sie wird jetzt künstlich ernährt. Die Medikamente stehen auf dem Klavier. Wenn ich heimkomme, sagt man mir, wird Frau Anna weiter in meinem Bett schlafen müssen. Da werde ich dann wohl ins Hotel gehen. Der Hirnkrebs sagt laut und deutlich: Herr, lass sie vorher sterben. Sie ist am Telefon aus Verzweiflung böse. Sie bringt keinen Bissen hinunter. Daher die künstliche Ernährung.
Wieder denke ich mir, ich kann nichts dafür. Da fällt mir ein, Sammy, der Manager, hatte die künstliche Ernährung abgelehnt. Er resignierte mit der halben Banane in der Hand. Er ist verhungert. Habe ich schon erzählt. Immer wieder die Ausbrüche des schlechten Gewissens, nicht bei ihr zu sein. Der Sohn sagt, das Gegenteil ist sinnvoller. Sie ist froh, dass du sie so nicht siehst. Das Ensemble sitzt nach den Vorstellungen zusammen. Man redet über Kinder, Beziehungen und dergleichen. Ich sitze dabei. Mich fragt keiner was. Ich bin für Partnerinnen und Partner ein Unberührbarer geworden. Wir sind vor der Fahrt in die deutsche Großstadt, in der wir zwei Wochen spielen werden. Drei Tage danach ist die Tour zu Ende. Grauer kann ein November nicht sein. Es ist ein passenderer Monat für das Sterben als der August oder September. Aber soll das die Rechtfertigung der chemischen Körperverletzung sein? Rechtfertigt das die sinnlos meisterhafte Notoperation? Wäre es nicht gnädiger gewesen, den Darmverschluss Darmverschluss sein zu lassen, die Schmerzen zu betäuben und das Einschlafen so zuzulassen wie es jetzt, um zwei oder drei Monate verschoben, vor sich geht? Wer spricht mit mir? Sie ruft an. Sie will mir sagen, sie hat in dieser Nacht nicht geschlafen. Sie weiß aber nicht warum. Schmerzen können es nicht gewesen sein, denn sie hat keine mehr. Endlich. Neben dem Bett steht ein Galgen. Und sie kann mit einem Fingerdruck etwas Hineinrinnendes abrufen, das die Schmerzen nimmt. Sie schlafen lässt. Aber sie konnte nicht schlafen. Wieder habe ich nicht den Mut zu fragen, ob sie an das Ende denken musste. Im Hotel gibt mir der Portier deinen kleinen Brief. Du warst in der Premiere des Gastspiels, bist in der ersten Reihe gesessen und möchtest wissen, ob ich dich absichtlich nicht gesehen habe. Ich sage dir am Telefon, ich
habe dich natürlich nicht absichtlich übersehen. Wir treffen uns. Ich bin froh, jemandem meine Situation erzählen zu können, der mich gut kennt. Du findest die richtigen Worte. Du tust mir gut. Ich rufe sie an. Ich weiß aber nicht mehr, was wir reden sollen. Alles ist mehrfach beschrieben. Nichts ändert sich mehr. Mir fallen die Premierenkritiken ein. Sie sind wunderbar. Würden die sie noch freuen? Oder ist es eine grauenhafte Verkennung der Relationen, ihr Interesse für diese Information zuzumuten. Ich mute zu. Ich weiß, wie es um sie steht, wenn sie Freude nicht mehr glaubhaft artikulieren kann. Sie kann es nicht mehr. Sie sagt, sie freut sich. Der Untertext lautet, was geht mich das an? Das Sterben gehört ihr allein. Der Sohn sagt, der Bauch schwillt an. Sie teilt froh mit, es geht mir so gut. Sie ist hörbar unter Drogen. Ein nächstes Mal sagt sie, sie steht neben sich. Dem Sohn erzählt sie, sie sieht sich in einer Gartenszene, ist sich aber nicht sicher, ob von Monet oder von Renoir. Ist das nicht eine glücklichere Medizin? Der Tourneeunternehmer schreibt mir einen Brief mit einem Angebot für den nächsten Herbst. Ich bin nicht einmal in der Lage, den Brief zu lesen. Mein Sohn sagt, er hätte darunter gelitten, als ich von einer Sache von vier bis fünf Monaten gesprochen hatte. Aber jetzt sei er sich sicher: Es dauert nur mehr achtundvierzig Stunden. Er hat im Krankenhaus angerufen. Mit Lasker oder mit Keres gesprochen. Man hat einen Platz angeboten. Der Sohn hat abgelehnt. Denn die Beurteilung der Lage lautet: Nichts geht mehr. Sie erzählt mir von ihrer wunderbaren Morphiumpumpe. Die ist groß. Gott sei Dank habe ich nur große Handtaschen. Wenn ich dann ins Theater gehe. Nach der Nachmittagsvorstellung ist der Abend spielfrei. Ich gehe in eine Vorstellung des Opernhauses. Mein Hirnkrebs
regt sich: So einen Dreck muss sie nie mehr sehen. Noch zehn Tage Gastspiel. Auf der Straße erreicht mich ein Anruf des Sohnes. Er habe etwas Furchtbares gemacht. Oder auch nicht Furchtbares. Er bittet mich jedenfalls um Verständnis. Sie hat zu ihm irgendetwas gesagt, was sie vorhat, wenn sie wieder mobil ist. Da hat er den Schleier zerrissen. Sie braucht uns nichts mehr vorzumachen, wir wissen, sie wird nicht mehr mobil, wir wissen, dass sie es weiß. Er will meine nachträgliche Zustimmung. Es ist mehr als das. Ich umarme ihn für den Mut zur Befreiung. Jetzt ist die Würde endgültig wiederhergestellt. Er hat getan, wozu ich zu feige war. Er meint, es ist Zeit, kurz nach Hause zu kommen. Aufstehen um halb fünf. Taxi zum Flughafen. Dichter Verkehr schon um diese Zeit. Ich lebe, weil ich frage: Was sind das für Menschen, die um diese Zeit schon auf die Autobahn müssen? Die sich gefallen lassen, das zu müssen. Sie liegt tatsächlich in einer Klinik. Rings um sie sind Geräte: Fahrgestell. Infusionsgalgen. Zimmerklo. Überall Medikamente. Sie ist ein Wrack. Ein Rest vom Rest. Noch zum Atmen verdammt. Das tut sie ganz flach, ganz leise. Die Hand tastet sich zur Pumpe. Damit die Krake nicht schmerzt. Sie sagt, wenn ich heimkomme, muss ich ein Bett kaufen und in das Esszimmer stellen. Auf die Frau Anna kann ich nicht verzichten. Ich werde ins Hotel gehen. Sie protestiert, wie es ihr noch möglich ist. Auf einmal sagt sie – ich erzähle das, weil es die Welt wissen muss, weil ich es nicht für mich behalten darf –, ich soll bei meinen blauen Hemden die Kragen erneuern lassen. Die Medizin regt sich noch einmal. Eine sonst sehr liebe Ärztin kommt und erklärt mir – im Gegensatz zu ihrem Chef, wie ich weiß –, sie dürfe die Pumpe nicht nach Belieben
bedienen, denn da wäre dieses oder jenes auch noch drin und das wäre dann zu viel. Das will ich nicht mehr kommentieren. Ich muss zum Flieger. Es ist der letzte, der wirklich letzte der vielen Abschiede. Ich merke, ich darf nur ganz leise küssen. Berührungen schmerzen. In zehn Tagen bin ich wieder zu Hause. Bis dahin muss ich durchhalten. Du musst gar nichts. Der Sohn fährt mich zum Flughafen. Wir müssen uns rasch trennen. Ohne Zurückschauen. Schon in der Theatergarderobe erreicht mich sein Anruf. Die Ärztin schließt aus, dass sie die zehn Tage übersteht. Ich erzähle einem Kollegen den Tag. Mit irgendjemandem muss ich reden. Ich habe tobende Kopfschmerzen. Hänge schon zu Beginn. Fange mich mühsam. Am nächsten Morgen ihr Anruf: Mir geht’s schon viel besser! Der Sohn sitzt am Bettrand. Zwei Nächte lang. Sie will sterben, schafft es aber nicht. Sie will noch ein Glas Wein. Der Sohn holt ihr den besten, den wir haben. Er hat aber Angst, er wird ihr nicht schmecken. Er hat recht. Ihr Mund ist nicht mehr genussfähig. Der Wein schmeckt ihr nach Salzsäure. Es ist Morgen. Ich konnte wenig schlafen. Schläft der Sohn? Im Stuhl? Auf der Bank? Oder ist er in seine Wohnung gefahren. Frau Anna ist jedenfalls da. Ich träume, die Nachrichtenagenturen hätten ihren Tod gemeldet. Ich wache auf. Ich weiß nicht mehr, wann mich der Anruf des Sohnes erreicht. Sie hat aufgehört zu atmen, hat ihm die Frau Anna mitgeteilt. Eine Katastrophe ist nicht kleiner, wenn sie erwartet eintritt. Ich gehe auf der Straße auf und ab. Dann ins Hotel und schreibe einen Brief, den ich sechsmal kopieren lasse. Liebes Ensemble! Wer sie gekannt hat, hat sie lieb gehabt.
Wer sie nicht gekannt hat, soll mir glauben, er hätte sie lieb gehabt. Wir spielen heute eine Gedächtnisvorstellung. Der Tourneeunternehmer erreicht mich: Sie spielen tatsächlich? Ja, sage ich, nur so bin ich für sie der, mit dem sie gerne gelebt hat.
Ich könnte dir noch viel erzählen. Von einem Brief, den mein Sohn, hinten an ihr Testament geklebt, gefunden hat. In dem hatte sie sich schon zwei Jahre vor Eintreten der Krankheit von uns verabschiedet, für den Fall, dass. Als ihn Peter, der Burgschauspieler, auf der Verabschiedung in der Einäscherungshalle auf mein Ersuchen hin verlas, kam er nicht ohne Würgen drüber. Ich könnte dir erzählen von einem sehr schönen Brief, den der Prof. Lasker mir geschrieben hat. Der aber nichts, was war, in Frage gestellt hat. Ich könnte dir erzählen, wie ich die ganze Nacht vor der Verabschiedung Möbel geschoben habe und wie der Hirnkrebs sie immer fragen wollte, ob sie es so gut findet. Nein, ich breche ab. Unsinn, der Tod bricht ab. Nicht ohne dir zu danken, dass ich immer ein paar Seiten vorlesen konnte. Allein hätte ich das Aufschreiben nicht durchgestanden. Aber jetzt noch ein letztes Mal zur Beantwortung der Frage: Warum überhaupt? Wenn die Annahme, Ende Februar oder Anfang März, es wird sich nur mehr um vier, fünf Monate handeln, gestimmt hat, dann hat diese Chemotherapie ihr Leben um maximal drei Monate verlängert. Die Frage, ob dieses von mir deshalb so genau geschilderte Übermaß an Leiden dadurch gerechtfertigt war, muss gestellt sein. Man kann einwenden, sie hat noch einen letzten ihrer geliebten Sommer am See erleben dürfen. Ich sage: erlitten.
Hätte sie von Beginn der Schmerzen aufgrund des zunächst nicht erkannten, ja nicht einmal gesuchten Rezidivs hinreichend Narkotika anwenden dürfen, wäre sie am Ufer ihres Sees, so wie später in der Wohnung, friedlich hinübergeglitten. Ich glaube nichts. Aber ich schließe auch nichts aus. So glaube ich eben auch nicht an das Nichts. Daher: Wenn es denn möglich sein sollte, dass man vom Leben auf diesem Planeten einen Nachgeschmack mitnehmen kann, dann wäre die Erinnerung an den ersten Sommer nach der Blasenkrebsoperation eine gute. Die Prothese, in Relation zur dadurch noch geschenkten Lebenszeit, hatte Sinn. Der Umgang mit dem mörderischen Rezidiv wohl nicht. Ich habe viel von mir berichtet, um die Berechtigung nachzuweisen, meine Meinung zu haben. Man wird Gegenbeispiele nennen. Die sind für ihr Schicksal nicht beweiskräftig. Wenn Medizin genormt ist, wenn sie auf den Einzelfall nicht eingehen mag, läuft sie Gefahr, das Gegenteil dessen zu sein, was sie sein will: human.
Ich sitze auf dem Balkon und schaue auf den See. Die fünfte Jahreszeit ist in mir. Die Zeit zwischen Verlust und Ende. Die kann sehr schön sein.